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German Pages 527 [528] Year 2022
Achim Aurnhammer Stefan George in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts
Achim Aurnhammer
Stefan George in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts Aneignung – Umdeutung – Ablehnung
De Gruyter
Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer 181750155 – SFB 948 Projektnummer 190376163 – GRK 1767
ISBN 978-3-11-077932-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-077937-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-077945-5 Library of Congress Control Number: 2022930259 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Coverabbildung: Stefan! Aquarell von Anselm Kiefer (1974). ©Anselm Kiefer. bpk Berlin / The Metropolitan Museum of Art, New York. Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Vorwort „Nonum prematur in annum“ – ‚bis ins neunte Jahr möge ein Schriftwerk zurückgehalten werden‘: diesem Horazischen Diktum wird die Publikation vorliegender Geschichte der poetischen Rezeption Stefan Georges in der deutschen Literatur gerecht. Sie reicht zurück in das Jahr 2012, als ich für das dreibändige George-Handbuch den Artikel zur „Poetischen Rezeption“ verfasste. Bei der schmerzlichen Straffung der überlangen Ausführungen auf Handbuch-Format ermunterten mich die Mitherausgeber, allen voran Wolfgang Braungart, zu einer monographischen Ausarbeitung. Was das bedeutete, ahnte ich damals noch nicht: Ein Gang durch quantitativ weites und unwegsames Gelände und qualitativ, in nautischer Bildlichkeit, eine Fahrt über tiefes, oft genug aber auch seichtes Gewässer. Zu danken habe ich vielen Menschen und Institutionen, die das langwierige Vorhaben durch Zuspruch, Hinweise, Kritik und Förderung erleichterten und ermöglichten. Dem „Freiburg Institute for Advanced Studies“ (FRIAS) danke ich für einen einsemestrigen Forschungsaufenthalt im Anschluss an ein Forschungsfreisemester der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), das mir Bibliotheks- und Archivreisen nach Marbach (Deutsches Literaturarchiv) und Stuttgart (Stefan George-Archiv) ermöglichte. Ein ideales Forum, das Buchprojekt voranzutreiben, bot schließlich meine Mitarbeit in der Verbundforschung des Sonderforschungsbereichs 948 („Helden – Heroisierungen – Heroismen“) in allen drei Förderphasen. Sowohl mein erstes Teilprojekt „Ästhetischer Heroismus: Heroisierungskonzepte Stefan Georges und seines Kreises“ als auch das Nachfolgeprojekt „Heldenhaftes Warten – Erwartete Helden. Heroischer Attentismus in der deutschen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts“ vertieften meine Kenntnis von Georges Dichtung sowie seiner heroisierenden Selbstinszenierung als auch der Fremdsicht auf seine Person und sein Werk, die von Verehrung über Entweihung zur Anni hilation reicht. Der SFB 948 unterstützt überdies die Drucklegung der Arbeit durch einen namhaften Zuschuss. Neben FRIAS, DFG und SFB 948 gilt mein Dank den vielen hilfreichen Vertretern der Institutionen, namentlich Maik Bozza (Stefan George-Archiv), Gunilla Eschenbach, Caroline Jessen, Ulrich Raulff (alle DLA Marbach) und Matthias Reifegerste (UB Freiburg). Marcus Böhm, Eva Locher und Monika Pfleghar (alle De Gruyter-Verlag) haben die Herstellung des Bandes umsichtig betreut. https://doi.org/10.1515/9783110779370-201
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Vorwort
Für kritischen Zuspruch danke ich herzlich Freunden, Kollegen, Schülern und Studenten; genannt seien Franziska Aderbauer, Martin Beichle, Ann-Christin Bolay, Emma Louise Brucklacher, Nicolas Detering, Cornelia Heinsch, Alexandra Hertlein, Julia Ilgner, Dieter Martin, Frédérique Renno und Helene Weinbrenner. Manche Weggefährten, denen ich Dank schulde, sind nicht namentlich aufgeführt. Ihren Monita, Hinweisen und bibliographischen Recherchen verdankt die vorliegende Studie ihre Qualitäten; Fehler und Schwächen habe ich allein zu verantworten. Achim Aurnhammer
Freiburg, im April 2022
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1. Forschungsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 1.2. Analysekorpus und Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1.2.1. Analysekorpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1.2.2. Rezeption, Intertextualität und Transkription . . . . . . . 8 1.2.3. Intertextuelle Markierungsstrategien . . . . . . . . . . . . . . 11 1.3. Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 2. Repräsentant des europäischen Ästhetizismus um 1900 . . . . . . . . . 25 2.1. Gewährsmann der Wiener Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 2.1.1. ‚Anempfinden‘: Richard von Schaukal . . . . . . . . . . . . . 34 2.1.2. Stimmungspoetische Losung: Peter Altenberg . . . . . . 40 2.1.3. Camouflierte Ambivalenz: Leopold von Andrian . . . . 43 2.1.4. Literaturpolitisches Interesse: Hermann Bahr und Paul Wertheimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 2.1.5. Wechselseitige „Begeisterung“: Hugo von Hofmannsthal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 2.1.6. George-Parodien im Jungen Wien . . . . . . . . . . . . . . . . 58 2.2. Vor- und Gegenbild der ästhetischen Elite . . . . . . . . . . . . . . . 60 2.2.1. Paul Scheerbart, Rainer Maria Rilke und Siegfried Lang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 2.2.2. Imitatio und aemulatio im Umkreis der Blätter für die Kunst: Ernst Hardt, Karl Vollmoeller, Max Dauthendey, Georg Edward und Leonie Meyerhof . . 66 2.2.3. Hohepriester oder Hochstapler: George in der Schlüsselliteratur um 1900 . . . . . . . . . . . 70 2.3. Zwischen Nachahmung und Distanzierung: Hommagen und Parodien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
VIII
Inhalt
3. Frühexpressionistische Reaktionen auf den Siebenten Ring (1907 bis Erster Weltkrieg) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 3.1. Georges polarisierende Rolle im literarischen Feld um 1910 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 3.2. Vorbild der Frühexpressionisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 3.2.1. George im „Neuen Club“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 3.2.2. Religiös grundierte Verehrung: Reinhard Johannes Sorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 3.2.3. Anpassung auf Zeit: Friedrich Sieburg . . . . . . . . . . . . . 128 3.2.4. Kampf dem Vorbild: Georg Heym . . . . . . . . . . . . . . . . 133 3.2.5. Selektive Adaptation: Georg Trakl . . . . . . . . . . . . . . . . 136 3.2.6. Errungene Distanz: Ernst Stadler . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 3.2.7. Drastische Radikalisierung: Gottfried Benn . . . . . . . . . 148 3.2.8. George und die ‚Einflussangst‘ des Expressionismus . . 151 3.3. Der Erste Weltkrieg als Zäsur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 4. Georges Anteil an der ästhetischen Neuorientierung nach dem Ersten Weltkrieg (1917 bis 1928) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 4.1. Expressionistischer Dichterkult: Reinhard Goering, Heinar Schilling, Franz und Fritz von Unruh, August Hermann Zeiz . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 4.2. Ästhetischer Richtwert der Kriegsgeneration . . . . . . . . . . . . . 168 4.3. Eugen Roth und andere junge George-Verehrer . . . . . . . . . . . 179 4.4. Zwischen Hommage und komischem Affront: Albrecht Schaeffer, Peter Gan, Friedrich Lienhard, Franz Blei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 5. Vom Neuen Reich (1928) zum Dritten Reich: Zur politischen Instrumentalisierung Georges am Ende der Weimarer Republik . . 197 5.1. Georges 60. Geburtstag als Kanonisierungsakt und Das Neue Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 5.2. Schlüsselromane um 1930: Max Brod, Irmgard Keun, Hans Carossa und Erich Ebermayer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 5.3. Weltanschauliches Leitbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 6. Nationalsozialismus, Innere Emigration, Exil (1930–1945) . . . . . . 219 6.1. Ringen um Deutungshoheit und Nachfolge an Georges Lebensabend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 6.1.1. Wolfgang Frommels Huldigung (1930) . . . . . . . . . . . . 221 6.1.2. Der 65. Geburtstag des Dichters als Deutungskontroverse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 6.1.3. Reaktionen auf Georges Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230
Inhalt
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6.2. Nationalsozialistische Genealogiebildung . . . . . . . . . . . . . . . . 236 6.2.1. NS-Roman: Wilfrid Bade und Edwin Erich Dwinger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 6.2.2. Faschistische Lyrik: Gerhard Schumann, Emil Lorenz, Hermann Bodek, Josef Weinheber und Ernst Bertram . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 6.3. Innere Emigration und Nichtnationalsozialistische Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 6.3.1. Heterodoxe Verehrung: Marcus Behmer und Hans Scholl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 6.3.2. Unpolitischer Umgang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 6.3.3. Partielle Übernahme: Marie Luise Kaschnitz . . . . . . . . 256 6.3.4. „Hellas ewig unsere Liebe“: Werner Hundertmark . . 259 6.3.5. George-Nachfolge in der Literaturzeitschrift Das Gedicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 6.4. Exil und Ausland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 6.4.1. George-Gedenken im Exil um Karl Wolfskehl: Albert Verwey, Rudolf Pannwitz, Wolfram von den Steinen und Karl Vollmoeller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 6.4.2. Jüdische George-Rezeption im Exil und in Palästina . . 271 6.4.3. Parodistische und kritische Distanzierung: Peter Gan, Rudolf Borchardt, Bernard von Brentano und Franz Werfel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 6.4.4. Paul Zech . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 7. Nachkriegsdichtung (1945−1970) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 7.1. Kreisaffine Verteidigung Georges gegen den Faschismus-Vorwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 7.1.1. Stauffenbergs Attentat vom 20. Juli 1944 als Vermächtnis Georges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 7.1.2. Schweizer Stimmen: Herman Schmalenbach und Wolfram von den Steinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 7.1.3. Edward Jaime: D em G enius (1948) . . . . . . . . . . . . . . . 303 7.1.4. Späte Allianz: Rudolf Pannwitz und Hanns Meinke . . 306 7.1.5. George-Verehrung im Castrum Peregrini: Wolfgang Frommel und Friedrich Buri . . . . . . . . . . . . 310 7.1.6. Antiquarischer Kult: Redslob, Landmann, Messow, Eichelbaum und von Maydell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 7.2. Historisierung und Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 7.2.1. Eine Leerstelle in der frühen DDR . . . . . . . . . . . . . . . . 321 7.2.2. Der Anteil exilierter Rückkehrer an der Wiederentdeckung Georges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325
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Inhalt
7.3. George in der jüngeren Dichtergeneration der Nachkriegsjahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 7.3.1. Camouflierte Hommage: Wolfgang Hildesheimer . . . 337 7.3.2. Kritische Distanz: Paul Celan, Oskar Loerke und Wilhelm Lehmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 7.3.3. Reverenzen in der lyrischen Avantgarde: Finismus und Konkrete Poesie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 7.3.4. George-Verehrung als Haltungsprobe: Robert Boehringer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 8. George in der ‚Neuen Subjektivität‘ und im wiedervereinigten Deutschland (1970–2000) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 8.1. Entideologisierung in den 1970er und 80er Jahren . . . . . . . . . 350 8.2. Experimenteller Umgang: Montagen und Hommagen . . . . . 360 8.3. Wiederentdeckung in der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 8.4. George im wiedervereinigten Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . 370 8.5. Lyrischer Gewährsmann der Jahrtausendwende . . . . . . . . . . . 375 8.5.1. Thomas Böhme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 8.5.2. Thomas Kling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 8.5.3. Norbert Hummelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 9. George in der Gegenwart (2000–2020) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 9.1. Provokante Hommagen in der Gegenwartslyrik . . . . . . . . . . 388 9.1.1. Lutz Seiler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 9.1.2. Matthias Dix . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 9.1.3. Uwe Kolbe und Christian Kreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 9.1.4. Nadja Küchenmeister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 9.1.5. Christian Filips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 9.2. Parodien als Dialogversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 9.3. Sprach- und Dichtungsexperimente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 9.3.1. Urs Allemann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 9.3.2. Ulf Stolterfoht und Jean Krier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 9.4. Dichtergermanisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 9.5. Kontroverse George-Deutungen in Dramen und Romanen . . 422 9.5.1. Wilhelm Deinert, Sibylle Lewitscharoff und Hanns-Josef Ortheil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 9.5.2. André Kubiczek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 9.5.3. Lars Jacob und Jörg-Uwe Albig . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 9.6. Vielstimmiges Gedenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 10. Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437
Inhalt
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11. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 11.1. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 11.2. Darstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 12. Abbildungsnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 13. Register. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497
Siglen BlfdK
Carl August Klein (Hg.): Blätter für die Kunst, begründet von Stefan George, 1 (1892)–12 (1919), Düsseldorf und München 1968 [Neudruck in 6 Bänden]. BV Berthold Vallentin: Gespräche mit Stefan George: 1902–1931, Amsterdam 1967. CVB Claus Viktor Bock: Wort-Konkordanz zur Dichtung Stefan Georges, Amsterdam 1964. CP Castrum Peregrini: Zeitschrift für Literatur, Kunst- und Geistesgeschichte. 1951–2007 [Erscheinungsverlauf: Nr. 1 (1951)–134/135 (1978); Jg. 28 (1979)– 56 (2007) = Nr. 136/137–279/280; damit Ersch. eingest.]. DLA Deutsches Literaturarchiv, Marbach. EM I Ernst Morwitz: Kommentar zu dem Werk Stefan Georges, München und Düsseldorf 1960. EM II Ernst Morwitz: Kommentar zu den Prosa-, Drama- und Jugend-Dichtungen Stefan Georges, München und Düsseldorf 1962. GA Stefan George: Gesamt-Ausgabe der Werke. Endgültige Fassung [18 in 15 Bänden], Berlin 1927–1934. G/H Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal. Hg. von Robert Boehringer, 2. ergänzte Aufl., München und Düsseldorf 1953. GHb I–III Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch, 3 Bde. Hg. von Achim Aurnhammer, Wolfgang Braungart, Stefan Breuer und Ute Oelmann in Zusammenarbeit mit Kai Kauffmann, Berlin und Boston 2012. GPL Georg Peter Landmann: Stefan George und sein Kreis. Eine Bibliographie, mit der Hilfe von Gunhild Günther, 2. ergänzte und nachgeführte Aufl., Hamburg 1976. IfZ Institut für Zeitgeschichte, München. KK Karlhans Kluncker: Blätter für die Kunst. Zeitschrift der Dichterschule Stefan Georges, Frankfurt/M. 1974. KTM [Katalog Marbach] Stefan George. 1868–1968. Der Dichter und sein Kreis. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar. Hg. von Bernhard Zeller, Stuttgart 1968. Karl Wolfskehl: Gesammelte Werke. Bd. 1: Dichtungen. Dramatische KW I, II Dichtungen, Bd. 2: Übertragungen. Prosa. Hg. von Margot Ruben und Claus Victor Bock, Hamburg 1960. RB I, II Robert Boehringer: Mein Bild von Stefan George, 2. ergänzte Aufl. in 2 Bänden, Düsseldorf und München 1967. SOK Hans-Jürgen Seekamp / Raymond Ockenden / Marita Keilson: Stefan George. Leben und Werk: Eine Zeittafel, Amsterdam 1972.
https://doi.org/10.1515/9783110779370-202
XIV StGA
Siglen
Stefan George Archiv, Württembergische Landesbibliothek Stuttgart am Neckar. SW I–XVIII Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg. von der Stefan George Stiftung, bearb. von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann, Stuttgart 1982–2013.
1. Einleitung Zum 75. Geburtstag Stefan Georges bilanzierte der Schriftsteller W. Joachim Freyburg, es sei zwar „unmöglich, seinen Einflüssen im einzelnen nachzugehen“, doch ohne George „wäre das Bild des deutschen Geistes und der deutschen Dichtung heute nicht so, wie wir es vor uns sehen“.1 Dieser Befund aus dem Kriegsjahr 1943 gilt erst recht für das beginnende 21. Jahrhundert. Selten ist die Wirkung eines Dichters der Klassischen Moderne so weitgespannt und medial vielfältig wie im Falle Stefan Georges. Das betrifft die poetischen Indienstnahmen, die unzähligen Berufungen auf ihn, seien sie verehrend oder ablehnend, aber auch für die ideologische und politische Instrumentalisierung seines Werks. Von seinen engsten Weggefährten und den Mitgliedern seines Kreises wurde Stefan George zeitlebens fast kultisch verehrt und stilistisch nachgeahmt. In dieser Studie steht jedoch nicht die schon gut erforschte „Dichterschule“ Georges im Zentrum,2 sondern die immense kreisexterne Rezeption. Wie und in welchen Phasen Stefan George auf die deutschsprachige Literatur vom Ausgang des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart gewirkt hat, ist bislang nur unsystematisch und punktuell untersucht worden. Erforscht wurde neben der kreisinternen „Dichterschule“ vorrangig die produktive Aufnahme Georges in den Schwesterkünsten Musik und Bildende Kunst, vor allem aber seine Resonanz in Politik und Wissenschaft.3 Angesichts des derzeit dominanten biographischen, soziologischen und wissenschaftsgeschichtlichen Zugangs muss man sich mit Ulrich Raulff fragen, „ob noch ein Weg zurück zum Dichter und zum poetischen Werk“4 sowie zu seiner poetischen Wirkung führt. Dabei ist die fachwissenschaftliche Aus1 2
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W. Joachim Freyburg: Stefan George. Ein literarischer Versuch zu seinem 75. Geburtstag. In: Europäische Literatur 2 (1943), Heft 7, S. 17 f., hier 18. Siehe dazu Karlhans Kluncker: Blätter für die Kunst. Zeitschrift der Dichterschule Stefan Georges, Frankfurt/M. 1974 [KK], ders.: Der George-Kreis als Dichterschule. In: Fin de siècle. Zu Literatur und Kunst der Jahrhundertwende, Frankfurt/M. 1977, Manfred Durzak: Epigonenlyrik. Zur Dichtung des George-Kreises. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 13 (1969), S. 482–529, und Gunilla Eschenbach: Imitatio im George-Kreis, Berlin und New York 2011. Vgl. die einschlägigen Artikel in: Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch [GHb]. Hg. von Achim Aurnhammer, Wolfgang Braungart, Stefan Breuer und Ute Oelmann, 3 Bde., Berlin und Boston 2012, einschließlich der weiterführenden Literatur. Ulrich Raulff: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, München 2009, S. 113.
https://doi.org/10.1515/9783110779370-001
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1. Einleitung
gangslage ideal. Mittlerweile liegt neben der kommentierten Gesamtausgabe des Werks5 und bedeutenden Briefausgaben6 ein dreibändiges GeorgeHandbuch vor, das umfassend über Leben, Werk, Wirkung sowie über die historischen Personen informiert, deren Biographie von George geprägt war;7 das George-Jahrbuch und die vom Stefan George-Archiv in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart aktualisierte elektronische Bibliographie dokumentieren, rezensieren und verzeichnen die internationale Forschung zu Person und Werk.8 Wie sehr aber trotz dieser fundierten Aufbereitung des Werks die Faszination der Person dominiert und das Interesse an der Dichtung und ihrer Wirkung fast verdrängt hat,9 erhellt nicht zuletzt der Umstand, dass in den letzten zehn Jahren gleich vier umfängliche Biographien des Dichters erschienen sind.10 Die Konzentration auf die deutschsprachige Rezeption in vorliegender Studie ist nicht nur pragmatisch begründet. Wie andere bedeutende Repräsentanten der Klassischen Moderne – Thomas Mann, Hermann Hesse oder Franz Kafka – wurde zwar auch George in die europäischen Kultursprachen und Weltsprachen übersetzt; doch hält sich die internationale produktive Aneignung und Nachahmung seiner Dichtung wohl auch deswegen in engeren Grenzen, weil sie sich auf die Lyrik beschränkt und stärker an das deutsche Idiom gebunden ist, was schon die zeitgenössischen Literaturkritik reflektierte.11 5 6
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Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden, Stuttgart 1982–2013. Georges Werke werden nach dieser Ausgabe folgendermaßen zitiert: SW Bandzahl, Seite. Von den Briefausgaben – mittlerweile liegen auch viele Korrespondenzen der Kreismitglieder untereinander vor – seien hier nur die poetologisch zentralen Korrespondenzen angeführt: Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal: Hg. von Robert Boehringer, München und Düsseldorf 21953; Stefan George – Friedrich Gundolf. Briefwechsel. Hg. von Robert Boehringer mit Georg Peter Landmann, München und Düsseldorf 1962; Stefan George. Friedrich Wolters. Briefwechsel 1904–1930. Hg. von Michael Philipp, Amsterdam 1998; „Von Menschen und Mächten“. Stefan George – Karl und Hanna Wolfskehl. Der Briefwechsel 1892–1933. Hg. von Birgit Wägenbaur und Ute Oelmann, München 2015. Der von mir verfasste Beitrag „George und die Dichter. Die poetische Rezeption von der Klassischen Moderne bis zur Gegenwart. In: GHb II, S. 829–896, bildete die Grundlage für die grundlegende Umarbeitung und Ausweitung zu der vorliegenden Monographie. Vgl. Stefan George-Werkkommentar. Hg. von Jürgen Egyptien, Berlin und Boston 2017. So diagnostiziert Bertram Schefold: Robert E. Norton: Secret Germany. Stefan George and his circle. Eine Widerlegung. In: Castrum peregrini [CP] 258/259 (2005), S. 111–125, hier 112, die aktuelle George-Forschung. Robert E. Norton: Secret Germany. Stefan George and his circle, Ithaca 2002; Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma, München 2007; Kai Kauffmann: Stefan George. Eine Biographie, Göttingen 2014; Jürgen Egyptien: Stefan George. Dichter und Prophet, Darmstadt 2018. Die Erforschung der internationalen Wirkung Georges beschränkt sich allerdings bislang weitgehend auf Übersetzungen und Literaturkritik; vgl. die Überblicksartikel von Mario Zanucchi: Übersetzerische Rezeption. In: GHb II, S. 897–918, und Michael Butter: George
1.1. Forschungsüberblick
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1.1. Forschungsüberblick Georges eigenes Werk ist als Rezeptionsphänomen bereits in den 1930er Jahren in den Blick geraten und auf seine wichtigsten Prätexte hin befragt worden. Neben seinen bedeutenden Nachdichtungen aus dem Französischen (Baudelaire, Mallarmé, Verlaine), Italienischen (Dante, D’Annunzio) und Englischen (Shakespeare, Dante Gabriel Rossetti) sind auch seine eigenen Dichtungen stark intertextuell geprägt.12 Bereits im Jahre 1937 hat Hans Gerhard das Verhältnis Stefan Georges zur deutschen Dichtung in gattungsübergreifender Perspektive untersucht. Orientiert an der dreiteiligen Anthologie Die deutsche Dichtung (I. Jean Paul, II. Goethe, III. Das Jahrhundert Goethes), verfolgt Gerhard vor allem Georges Strategien der Kanonisierung von Autoren des 18. und 19. Jahrhunderts. Ebenso aufschlussreich ist, welche Autoren im Kreis diskutiert wurden, aber nicht in die Anthologie aufgenommen wurden, wie etwa Christoph August Tiedge, Achim von Arnim, Ludwig Uhland oder Heinrich Leuthold.13 Georges Aneignung des französischen Symbolismus ist Mario Zanucchi gründlich nachgegangen und hat nachgewiesen, wie George im Lauf der Zeit den europäischen Ästhetizismus zugunsten einer immer stärkeren Bezugnahme auf die nationalliterarische Tradition zurückdrängte.14 Nur lückenhaft erforscht ist dagegen die immense Wirkung, die von Georges Werk auf die deutsche Dichtung ausging. Auch wenn man mit Hans Robert Jauß ‚Wirkung‘ als das vom Text und ‚Rezeption‘ als das vom Adressaten bedingte Element unterscheiden möchte,15 lassen sich beide gerade in der produktionsästhetischen Aufnahme und Verarbeitung von George-Lektüren nicht kategorisch trennen. Wenn in vorliegender Studie die Wirkung Georges auf die deutschsprachige Literatur sowie seine poetische Aneig-
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in der nichtdeutschen Literaturkritik. In: GHb II, S. 1044–1057. Die kontrovers diskutierte Frage, wie ‚deutsch‘ George sei, bestimmte die Literaturkritik seit dem Siebenten Ring; vgl. dazu Philipp Gresser: Deutschsprachige George-Kritik 1898–1945. In: GHb II, S. 976–1016, hier 990 f. Georges Übersetzungen englischer, französischer, italienischer, skandinavischer und polnischer Autoren sind quantitativ wie qualitativ ein gleichrangiges Pendant zu den eigenen ‚Originaldichtungen‘ und ein integraler Teil seines Werks. Hans Gerhard: Stefan George und die deutsche Dichtung, Gießen 1937. Mario Zanucchi: Transfer und Modifikation: Die französischen Symbolisten in der deutschsprachigen Lyrik der Moderne (1890–1923), Berlin und Boston 2016. Vgl. Hans Robert Jauß: Racines und Goethes Iphigenie. Mit einem Nachwort über die Partialität der rezeptionsästhetischen Methode In: Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. Hg. von Rainer Warning, München 1975, S. 353–400, hier 383. Damit stimmt auch Wolfgang Iser: Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, Stuttgart 1994, S. 8, überein, demzufolge „eine Wirkungstheorie im Text verankert [sei], eine Rezeptionstheorie in den literarischen Urteilen der Leser“.
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1. Einleitung
nung von den Anfängen bis in die Gegenwart hinein untersucht wird, überschneiden sich immer wieder wirkungs- und rezeptionsästhetische Aspekte. Doch wird die Erschließung der Wirkungszeugnisse als auch deren Analyse und Kontextualisierung im Vordergrund stehen. Denn von einigen autorspezifischen Studien abgesehen, sind bislang lediglich Bodo Würffel, Günter Heintz, Karlhans Kluncker und Gunilla Eschenbach in ihren Überblicksstudien der poetischen Wirkung Stefan Georges nachgegangen.16 Da Würffel im Sinne einer Autorintentionalität versucht, die Wirkung auf Stefan George selbst zurückzuführen, interessiert er sich mehr für die ‚Herausbildungen und Wandlungen‘ des ‚Georgebildes‘ als für dessen Resonanz in den Werken anderer Schriftsteller. Als problematisch erweist sich vor allem, dass er auch die kritische, produktive und ideologische Rezeption vermengt, ohne die Wirkung im Einzelnen intertextuell auszuwerten. Als hilfreicher erweist sich der wirkungsästhetische Ansatz von Günter Heintz. So sehr seine neun autorspezifischen Einzelstudien durch klare Argumentation, philologische Genauigkeit und intertextuelle Nachweise überzeugen, so sehr fehlt es an einer epochenspezifischen Kontextualisierung, die eine vergleichende Bewertung der Rezeptionszeugnisse überhaupt erst ermöglicht. Beinahe unberücksichtigt bleiben bei Heintz etwa die Jahrhundertwende, die nationalsozialistische Dichtung oder die Literatur nach 1945, als es literaturpolitisch wenig opportun war, sich auf George zu berufen oder sich gar zu seiner Dichtung zu bekennen. Die Dissertation von Gunilla Eschenbach schließt an die grundlegende Studie von Karlhans Kluncker zu der „Zeitschrift der Dichterschule Stefan Georges“ an, den Blättern für die Kunst, und legt ihren Schwerpunkt auf die kreisinterne Stilnachahmung.17 Zwar berücksichtigt sie auch Hanns Meinke und Albrecht Schaeffer sowie den ‚Charon‘-Kreis (Otto zur Linde, Rudolf Paulsen, Rudolf Alexander Schröder), doch konzentrieren sich ihre quellengestützten, nach einem ‚imitatio‘-Modell typisierten Analysen auf Kreis- und kreisaffine Autoren,18 während die kreisexterne Wirkung nicht zur Sprache kommt. Obwohl George zu den am häufigsten parodierten und karikierten Autoren der deutschen Literatur 16
17 18
Bodo Würffel: Wirkungswille und Prophetie. Studien zu Werk und Wirkung Stefan Georges, Bonn 1978, sowie Günter Heintz: Stefan George. Studien zu seiner künstlerischen Wirkung, Stuttgart 1986, und Gunilla Eschenbach: Imitatio im George-Kreis, Berlin und New York 2011. Eschenbach differenziert allerdings mit dem Modell der ‚imitatio‘ die pauschale Abwertung Blätter-Lyrik als einheitlich und epigonal, wie sie Durzak: Epigonenlyrik, und Kluncker: Der George-Kreis als Dichterschule, vornehmen. Indem Eschenbach: Imitatio im George-Kreis, S. 27 und passim, ihre poetologische Methode, ohne „einen homosexuellen Endzweck der Imitatio-Praxis des Kreises […] herauszuarbeiten“, doch für eine Funktionsdeutung der dichterischen George-Nachahmung als „Chiffre homosexueller Wünsche“ öffnet, vereinseitigt und vergröbert sie allerdings die Skala freundschaftlicher Nähe und homosozialer Bindungen.
1.1. Forschungsüberblick
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zählt, sind auch die Parodien, die nicht selten ein wichtiges Mittel ästhetischer Selbstfindung darstellen, noch keineswegs systematisch ausgewertet, geschweige denn in eine Rezeptionsgeschichte integriert worden.19 Das Forschungsdefizit können auch einige autorspezifische Einzelund Spezialstudien nicht entscheidend kompensieren,20 da sie einen Einfluss Georges oft nur am Rande und ohne hinreichende Kontextualisierung erörtern. Was bislang gänzlich fehlt, ist eine systematische Sammlung der poetischen Wirkungszeugnisse, obgleich mittlerweile die elektronische und ständig aktualisierte George-Bibliographie viele davon bibliographisch verzeichnet hat.21 Die rezeptionsästhetische Reserve der Forschung ist umso erstaunlicher, als George schon zu Lebzeiten als Wirkungs- und Rezeptionsphänomen diskutiert wurde. So betrieben die Blätter für die Kunst eine regelrechte Wirkungspolitik. In der Einleitung zur Siebenten Folge der Blätter für die Kunst konstatiert George etwa, dass der „einfluss“ der „dichterischen bestrebungen“ seines Kreises „auf das werdende Dichtergeschlecht unverkennbar“ sei,22 womit „ein teil der Sendung erfüllt“ sei.23 Auch Edith Landmann, die dem Kreis nahestand, ging in den Georgika (1920) ausdrücklich der Wirkung Georges nach, freilich ohne Namen oder konkrete Bei19
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Die umfängliche und materialreiche, aber terminologisch und theoretisch überinstrumentierte Studie von Sigrid Hubert: George-Parodien: Untersuchungen zu Gegenformen literarischer Produktion und Rezeption (masch. Diss.), Trier 1981, blieb leider folgenlos. Hubert geht vor allem ausführlich auf die Parodien von Albrecht Schaeffer und Ludwig Strauss (Die Opfer des Kaisers [1918]) und Arno Holz’ Blechschmiede (1902) ein. Sie sind hier nicht einzeln aufgeführt, sondern in unserer Studie am jeweiligen Ort gewürdigt. Die bisherigen Verzeichnisse von poetischen Rezeptionszeugnissen auf George sind ganz unzureichend; so führt Erwin Heinzel: Lexikon der Kulturgeschichte in Literatur, Kunst und Musik. Mit Bibliographie und Ikonographie, Wien 1962, S. 133, s. v. George, Stefan, lediglich jeweils ein Gedicht (A. Stauffenberg: Tod des Meisters [1948]), eine Erzählung (Julius Kühn: Der tote Gott [1942]) und eine Parodie (Sebastian Segelfalter [d. i. Richard MüllerFreienfels]: Die Vögel der deutschen Dichter [1947]) an. Eine beachtliche Sammlung von Dichterstimmen zu George bietet das Kapitel: Dichter über den Dichter. In: kein ding sei wo das wort gebricht. Stefan George zum Gedenken. Hg. von Manfred Schlösser und Hans Rolf Ropertz, Darmstadt 21961 (Agora 11), S. 113–141. Internet-Korpora haben in letzter Zeit die defizitäre Situation allerdings gebessert; vgl. vor allem das maßgebliche Recherchemittel, die hilfreiche elektronische Bibliographie des Stefan George-Archivs in der LB Stuttgart, die auch rezeptionsgeschichtliche Daten erfasst: https://www.statistik-bw.de/SGeorge/ [15.8.2021]. Erwähnt sei hier die reichhaltige Internet-Bibliographie zur George-Rezeption von 1890 bis 1919, die für diesen Zeitraum viele entlegene Dokumente anführt: http://www. lyriktheorie.uni-wuppertal.de/texte/george_rezepton.html [15.8.2021]. [Stefan George]: Einleitung zur Siebenten Folge. In: BlfdK 7 (1904), S. 1. [Stefan George]: Einleitung zur Achten Folge. In: BlfdK 8 (1908/09), S. 1; dort zur großen ästhetischen Wirkung der BlfdK: „[…] wer nicht von tag zu tag sondern aus genügender Entfernung sieht bemerkt dass alles was heute unsre jüngste dichtung ausmacht hier seinen ausgang genommen oder seine anregung empfangen hat“ (ebd., S. 1).
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1. Einleitung
spiele zu nennen. Vielmehr fasst sie den Wirkungsbegriff insofern weit, als sie erklärt, George lehre „seine Jünger dichten, indem er sie leben lehrt“.24 Überdies bleibt ihr „Umriß der Wirkung“ zu allgemein, wenn sie feststellt, dass George „nicht auf die Masse, sondern auf den Einzelnen, nicht in die Breite, sondern in die Tiefe“ wirke.25 Dass Georges produktionsästhetische Resonanz aber keineswegs ein elitäres Phänomen war, bezeugen allein die zahlreichen öffentlichen Bekenntnisse, Umfragen und anthologischen Überblicke, in denen sich neben prominenten Schriftstellern auch weniger bekannte und heute vergessene Dichter zur Bedeutung Georges für ihr eigenes Schaffen äußerten.26
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[Edith Landmann-Kalischer]: Georgika, Heidelberg 1920, [III. Kapitel: Stefan George: Umriß seiner Wirkung], S. 81. [Landmann-Kalischer]: Georgika, S. 83. Hier eine Auswahl gesammelter Dichterstimmen über Stefan George: Stefan George. Zum 50. Geburtstag („Echo der Zeitungen“, zitiert werden: Franz Dülberg, Ludwig Sternaux, Frantz Clement, Victor Klages, Camill Hoffmann und Frank Thieß). In: Das literarische Echo 20 (1918), Nr. 22, Sp. 1364 f.; Stefan Georges Stellung im deutschen Geistesleben. Eine Reihe autobiographischer Notizen. (Stellungnahmen von Walter Benjamin, Bertolt Brecht, Martin Buber, Albert Saint-Paul, Willy Hellpach, Friedrich Muckermann S. J., André Gide, Francis Vielé-Griffin, Friedrich Sternthal, Josef Ponten, Franz Rosenzweig, Wilhelm Schäfer, Ruth Schaumann, P. Expeditus Schmidt O. S. B., Oscar A. H. Schmitz, Ina Seidel, Frank Thiess, Paul Wiegler, Karl Wolfskehl und Stefan Zweig.) In: Die Literarische Welt 4 (1928), Nr. 28 vom 13.7.1928 und Nr. 29 vom 20.7.1928, Das literarische Echo. Echo der Zeitungen. Stefan George (zitiert werden: Paul Fechter, Ernst Blaß, Friedrich Gundolf, Henry von Heiseler, Peter Hamecher und Rudolf G. Binding). In: Die Literatur 30 (1928), Heft 12, S. 708 f.; Zeugnisse von Rudolf Borchardt, Friedrich Gundolf, Bertolt Brecht, Friedrich Wolters, Gottfried Benn, Eugen Gottlob Winkler, Rudolf Kassner, Fritz Usinger und Frank Thiess. In: Stefan George in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Hg. von Franz Schonauer, Reinbek 1960, S. 169–171; Dichter über den Dichter. In: Manfred Schlösser und Hans Rolf Ropertz (Hg.): kein ding sei wo das wort gebricht, S. 113–141; Ausgewählte Stimmen zu George von kreisexternen Zeitgenossen, darunter u. a. Hugo von Hofmannsthal, Bertolt Brecht, Klaus Mann, Gottfried Benn oder Georg Lukács finden sich in: Stefan George in seiner Zeit. Dokumente zur Wirkungsgeschichte. Hg. von Ralph-Rainer Wuthenow, 2 Bde., Stuttgart 1980; poetische Beiträge über George u. a. von Robert Boehringer, Michael Stettler, Bodo von Maydell, Ernst Eichelbaum oder Max Wetter in: Dichter über Stefan George und seinen Kreis. Hg. von [Robert Wolff im Auftrag] der Gesellschaft zur Förderung der StefanGeorge-Gedenkstätte im Stefan-George-Gymnasium Bingen e.V., Bingen 1980 (Neue Beiträge zur George-Forschung 5); siehe außerdem das George-Jahrbuch 10 (2014/15), das Beiträge enthält, in denen sich Nico Bleutge, Christian Filips, Norbert Hummelt, Wulf Kirsten, Uwe Kolbe, Nadja Küchenmeister, Dirk von Petersdorff und Lutz Seiler zur eigenen lyrischen George-Rezeption äußern; siehe außerdem die Stellungnahmen zum 150. Geburtstag von zeitgenössischen Lyrikerinnen und Lyrikern, darunter Lutz Seiler, Marion Poschmann, Ann Cotten, Marcel Beyer, Dirk von Petersdorff, Friederike Mayröcker, Michael Lentz, Durs Grünbein, Silke Scheuermann, Wolf Wondratschek und Jan Wagner. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. Juli 2018, Nr. 159, S. 12 f.
1.2. Analysekorpus und Methode
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1.2. Analysekorpus und Methode 1.2.1. Analysekorpus Ziel ist es, anhand seiner poetischen Rezeption nicht nur Georges ungeheure Wirkung auf die deutsche Literatur des ‚langen‘ 20. Jahrhunderts darzulegen, sondern dadurch auch umgekehrt George in das literarische Feld oder die literarischen Kontexte und Milieus zu integrieren, die er als kohäsive Instanz wesentlich geprägt oder inspiriert hat bis hin zu seiner umstrittenen und sich wandelnden ideologischen Bewertung. Während die biographische und soziologische Forschung George und seinen Kreis neu und umfassend erschlossen hat, blieb die poetische Wirkkraft, die von ihm ausging, erstaunlich unterbelichtet. Zu diesem Zweck ist es nötig, einer Höhenkamm-Philologie zu entsagen und die historischen Kontexte und poetischen Rezeptionsmilieus erschließend zu rekonstruieren. Die poetische George-Nachfolge beschränkt sich weitgehend auf lyrische und poetologische Texte. Seltener finden sich Spuren einer WerkRezeption in Dramen und Erzähltexten. Epische und dramatische Texte beziehen sich mehr auf die Person Stefan George, weit weniger auf dessen Gedichte, die in der lyrischen Rezeption dominieren. Die metapoetischen Wirkungsformen, die zwischen kritischer und produktiv-poetischer Rezeption vermitteln, sind formal recht heterogen. Sie reichen von Rezensionen über Essays bis hin zu fiktionalen Texten, in denen Georges Dichtung gelesen oder kommentiert wird,27 und umfassen auch die sogenannte ‚Schlüsselliteratur‘, also fiktionalbiographische Darstellungen, die von der Person Georges oder Kreismitgliedern handeln, sowie autobiographische Texte Dritter, die von Begegnungen mit Stefan George und seinem Werk berichten. Aber auch die lyrischen Wirkungszeugnisse, die den Großteil des Korpus ausmachen, sind formal und funktional keineswegs homogen: Sie bestehen aus Dichtergedichten, Hommagen ebenso wie Schmähungen, aus Nachahmungen wie aus Gegenentwürfen, Parodien, Persiflagen oder fiktiven Dialogen. Selbstverständlich erfasst meine Geschichte der Rezeption Georges in der deutschsprachigen Literatur nicht sämtliche Spuren seiner poetischen Wirkung. Allerdings sind hier viel mehr Rezeptionszeugnisse dokumentiert, als bisher bekannt, zumal neben ‚großen Namen‘ sogenannte ‚Minderdichter‘ und zahlreiche unveröffentlichte Texte ausgewertet sowie intermediale Bezugnahmen in Karikaturen registriert wurden. Der Anspruch ist nicht 27
Verwiesen sei hier nur auf den gründlichen, auch für meine Geschichte der poetischen Rezeption grundlegenden Artikel von Philipp Gresser: Deutschsprachige George-Kritik 1898–1945. In: GHb II, S. 976–1016.
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1. Einleitung
Vollständigkeit, sondern eine repräsentative ‚dichte Überlieferung‘, die es gestattet, auch angeblich einzigartige und hochrangige Wirkungszeugnisse historisch zu kontextualisieren und bislang unbekannten Zeugnissen den Raum zu geben, den sie aus literaturgeschichtlicher Perspektive verdienen. Die Erschließung der poetischen George-Rezeption, die diese Studie unternimmt, wird mit knappen historischen Kontextualisierungen kombiniert, um intertextuelle Bezüge erweitert und – in der gebotenen Beschränkung – philologisch-interpretatorisch fundiert.
1.2.2. Rezeption, Intertextualität und Transkription Methodologisch steht jede Rezeptionsstudie unter einem besonderen Rechtfertigungsdruck. Wie lassen sich literarische Texte als Wirkungs- oder Rezeptionszeugnisse klassifizieren und wie ‚markiert‘ und erkennbar sind solche inter- wie extratextuellen Beziehungen auf Werk und Person? Diese Fragen treiben auch die aktuelle Intertextualitäts- und Zitatforschung um, die vor allem über das Kriterium der Fremdtextreferenz, der sogenannten ‚Markierung‘, streitet.28 Unangefochten dürfte aber die heuristisch zweckdienliche Feststellung sein, dass jede sprachkünstlerische Bezugnahme auf George und sein Werk eine „zitathafte Relation aus drei Elementen“ darstellt: erstens aus dem zitierten ‚Prätext‘ (nach Genette ‚Hypotext‘), zweitens aus dem zitierenden ‚Posttext‘ (nach Genette ‚Hypertext‘) und drittens aus dem nichtzitierten Kontext, dem das Zitat entstammt, auch ‚Subtext‘ genannt.29 Die intertextuelle Relation dieser Elemente variiert je nach dem 28
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Zu Fragen der Markierung, welche in der aktuellen Intertextualitätsforschung große Bedeutung gewonnen haben, vgl. Ulrich Broich: Formen der Markierung von Intertextualität. In: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Hg. von U. B. und Manfred Pfister, Tübingen 1985, S. 31–47, und Jörg Helbig: Intertextualität und Markierung. Untersuchungen zur Systematik und Funktion der Signalisierung von Intertextualität, Heidelberg 1996. – Zur Verbindung von Rezeptions- und Intertextualitätsforschung vgl. Renate Lachmann (Hg.): Dialogizität, München 1982; Karlheinz Stierle: Werk und Intertextualität. In: Das Gespräch. Hg. von K. S. und Rainer Warning, München 1984, S. 139–150; Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne, Frankfurt/M. 1990; Susanne Holthuis: Intertextualität. Aspekte einer rezeptionsorientierten Konzeption, Tübingen 1993; Elke Rößler: Intertextualität und Rezeption. Linguistische Untersuchungen zur Rolle von Text-Text-Kontakten im Textverstehen aktueller Zeitungstexte, Frankfurt/M. usw. 1999; Peter Stocker: Theorie der intertextuellen Lektüre. Modelle und Fallstudien, Paderborn usw. 1998, und Intertextualität. Zeitschrift für Semiotik 24 (2002). Hg. von Henriette Herwig, Tübingen 2003. Vgl. zum Dreiecksmodell und der Definition von ‚Subtext‘ Dubravka Oraic Tolic: Das Zitat in Literatur und Kunst. Versuch einer Theorie. Wien 1995, S. 29 f. Ansonsten halte ich mich an die gängige Terminologie nach Manfred Pfister: Konzepte der Intertextualität. In: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Hg. von Ulrich Broich und M. P.,
1.2. Analysekorpus und Methode
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Grad der Übereinstimmung: Sie reicht von der bloßen Allusion über eine mehr oder weniger partielle Intersektion in Gestalt von Form- oder Inhaltszitaten bis hin zur intertextuellen Inklusion,30 etwa in Form von Einzeltextparodien. Neben einer solchen strukturell-quantitativen Bestimmung der Intertextualität ist jedoch auch eine funktionell-qualitative Bewertung der ‚Zweistimmigkeit‘ bzw. Dialogizität nötig, wie sie schon Michail Bachtin vorgeschlagen hat.31 Er unterscheidet das ‚gleichgerichtete zweistimmige Wort‘, in dem der Posttext sich der Stimme des Prätexts angleicht, vom unterschiedlichen zweistimmigen Wort, in dem – wie in allen Formen der Parodie – eine klare Differenz gegenüber dem Prätext erkennbar ist, und vom ‚aktiven Typ der Zweistimmigkeit‘, in dem ein Dialog mit dem Prätext erfolgt. Allerdings lässt sich eine solche ‚produktionsästhetische‘ Intertextualität nicht immer von einer ‚rezeptionsästhetischen‘ Intertextualität unterscheiden, zumal sich solche qualitativen Textbeziehungen erst aus einer vergleichenden Interpretation ergeben, die ihrerseits bereits voraussetzt, einen Text als Posttext identifiziert zu haben. Für eine Funktionsdeutung des produktiven Umgangs mit Georges Werk in der deutschen Literatur des ‚langen‘ 20. Jahrhunderts scheint es mir hilfreich, die intertextuellen Bezüge transkriptionstheoretisch zu flankieren.32 Denn das Vorgehen zielt darauf, einerseits die Bezugnahmen auf Georges Werk im Sinne von Wiederholungen zu erfassen, um im Anschluss andererseits die Alterität in der Wiederholung herauszuarbeiten. Da jede Transkription mit einer Bearbeitung und Rekontextualisierung einhergeht, führt sie fast zwangsläufig zu Neukodierungen und Bedeutungsänderungen. Diese Variation des ‚Präskripts‘ im ‚Transkript‘ soll in den Beispielanalysen jeweils erörtert werden. Zugleich bietet die Transkriptionstheorie den Vorteil, auch die Präskripte, also die Texte Georges, aus der Retrospektive des Transkripts
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Tübingen 1985, S. 1–30, sowie Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe [Palimpsestes, dt.], Frankfurt/M. 1993, bes. S. 14–18 und 39–47. Den Begriff des ‚Formzitats‘ verdanke ich Andreas Böhn: Das Formzitat: Bestimmung einer Textstrategie im Spannungsfeld zwischen Intertextualitätsforschung und Gattungstheorie, Berlin 2001, und dem Sammelband Formzitat und Intermedialität. Hg. von Andreas Böhn, St. Ingbert 2003. Vgl. Michail Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs. Aus dem Russ. übers. von Adelheid Schramm, München 1971; einen guten Überblick über Bachtins Konzept der Polyphonie und Zweistimmigkeit gibt Matías Martínez: Dialogizität, Intertextualität, Gedächtnis. In: Grundzüge der Literaturwissenschaft. Hg. von Heinz Ludwig Arnold und Heinrich Detering, München 2003, S. 430–445. Vgl. Ludwig Jäger: Transkriptivität. Zur medialen Logik der kulturellen Semantik. In: Transkribieren – Medien/Lektüre. Hg. von L. J. und Georg Stanitzek, München, 2002, S. 19–41, sowie Anna Valentine Ullrich: Original, Identität, Bearbeitung. Bildidentität im Prozess. In: Original, Identität, Bearbeitung. Bildidentitäten im Prozess. In: Einschnitte. Identität in der Moderne. Hg. von Oliver Kohns und Martin Roussel, Würzburg 2007, S. 25–40.
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1. Einleitung
anders, mitunter womöglich sogar besser zu verstehen. Die doppelte semantische Wirkungsrichtung, auf welche die Transkriptionstheorie zielt, eröffnet insofern auch einen neuen Blick auf das Werk Georges, als eben dieses durch die Transkription kritisiert, gedeutet und in Frage gestellt wird.33 Zur Funktionsdeutung der Wirkungszeugnisse herangezogen werden jene Konzepte selbstgeschaffener Genealogien, der partizipativen Generationenidentität, der Orientierungen an Vorbildern und Kanonstiftungen, die im Zuge der Erforschung von Autorschaftsinszenierungen vermehrt beachtet wurden.34 Seit Harold Bloom die Bedeutung von ‚Vatertexten‘ für die poetische Produktion erörtert hat, die ‚Angst vor Einflüssen‘, von denen sich nachfolgende Generationen durch schöpferische Korrekturen oder Fehllesungen („misreadings“) freizuschreiben suchen, begründet das Konzept der künstlerischen Genealogie („poetic linage“) mehr oder weniger explizit die moderne Wirkungs- und Rezeptionsforschung.35 Es liegt auch Pierre Bourdieus ‚Doxa‘-Theorie zugrunde: Bezogen auf das durch Konkurrenzen bestimmte ‚literarische Feld‘, suchen sich Neulinge durch häretische (‚heterodoxe‘) Akte gegen die ‚Orthodoxie‘ der Vätergeneration durchzusetzen und zu etablieren.36 Jeder Text kann somit als ein ‚Beziehungsereignis‘ aufgefasst werden, das „zwischen Abwehr des Vorgängers und der Identifikation mit ihm“ schwankt.37
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Eine wichtige Rolle spielt in der Arbeit der Parodie-Begriff, ohne dass ich mich in der virulenten, aber auch etwas leerlaufenden Parodie-Diskussion positionieren möchte; aber George wurde schon früh zu einem Musterbeispiel der Parodie-Forschung; vgl. etwa Beate Müller: Komische Intertextualität. Die literarische Parodie, Trier 1994. Die Frage der Vorbildrezeption und -nachahmung in einer Generationenabfolge war lange ein theoretisches Leitkonzept der Klassischen Philologie sowie der kunstgeschichtlichen Forschung, bevor sie über die imitatio-aemulatio-Debatte der Frühneuzeitforschung auch die aktuelle literaturgeschichtliche Betrachtung der Autorschaftsinszenierung prägte; vgl. dazu Barbara Bauer: Aemulatio. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 1, Tübingen 1992, Sp. 141–187, und Aemulatio. Kulturen des Wettstreits in Text und Bild (1450–1620). Hg. von Jan-Dirk Müller, Ulrich Pfisterer, Anna Kathrin Bleuler und Fabian Jonietz, Berlin 2011. Die Systematik von Ralf Sudau: Werkbearbeitung, Dichterfiguren. Traditionsaneignung am Beispiel der deutschen Gegenwartsliteratur, Tübingen 1985, klassifiziert und differenziert zwar poetische Bezugnahmen auf Vorbilder, wird dabei jedoch der Dynamik der Verhältnisse in den ‚Werkbearbeitungen‘ kaum gerecht. Vgl. Harold Bloom: The Anxiety of Influence, Oxford und New York 1973. Später hat Harold Bloom: The Anatomy of Influence. Literature as a Way of Life, New Haven 2011, S. 8, das agonale Moment in seiner Einfluss-Theorie zu einer Art Double-Bind-Liebe relativiert: „I define influence simply as literary love, tempered by defense“. Vgl. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes [Les règles de l’art. Genèse et structure du champ litteraire, dt.]. Frankfurt/M. 1999, und dazu Andreas Koller: Doxa. In: Bourdieu-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Gerhard Fröhlich und Boike Rehbein, Stuttgart und Weimar 2009, S. 79–80. Vgl. Martin von Koppenfels: Häresie als Beruf: Die krummen Blicke des Harold Bloom. In: Poetica 33 (2001), S. 307–322, hier 314.
1.2. Analysekorpus und Methode
11
Um Geschmackswandel und -übergänge prozessual besser zu erklären und der Dynamik poetischer Wirkung gerecht zu werden, scheint mir das Modell der ‚ästhetischen Dissonanz‘ heuristisch hilfreich. Es kann – in Abwandlung des sozialpsychologischen Modells der ‚kognitiven Dissonanz‘ (Leon Festinger) – die Rezeptionszeugnisse nicht nur systematisch ordnen und beschreiben, sondern vor allem ihren prozesshaften Wandel erklären.38 Diese Konsistenztheorie, mit der die Psychologie erklärt, warum Individuen und Gruppen oft lange an vorgängigen Entscheidungen festhalten und gegenteilige oder widersprüchliche Informationen zunächst unterdrücken oder relativieren, bis sie schließlich ihre Haltung revidieren, lässt sich mit Gewinn auf Fragen des Kunstgeschmacks, der literarischen Wertung und Kanonisierung übertragen. Das Modell der ästhetischen Dissonanz vermag zu erklären, wie anfängliche Verehrung über die vermittelnden Stationen ästhetischer Irritation oder parodistischer Entweihung sukzessive in Ablehnung umschlägt, um schließlich in Ablösung von dem vormaligen Vorbild einen eigenen ästhetischen Weg zu finden.39 Es vermag Parodien somit nicht nur einen funktionalen rezeptionsästhetischen Status zuzuweisen, sondern integriert sie darüber hinaus in einen komplexen Prozess ästhetischer Selbstfindung. Zudem lässt das sich wandelnde Verhältnis einer Avantgarde zu einem bestimmten Vorbild Rückschlüsse auf die Konvergenz und Divergenz einer Gruppe zu.40
1.2.3. Intertextuelle Markierungsstrategien Mittlerweile ist das Phänomen der ‚Wiederholung‘ und des Zitats als Textstrategie wie als ästhetisches Verfahren vielfach und hinreichend erläutert
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Vgl. dazu Martin Irle: Die Theorie der kognitiven Dissonanz: Ein Resümee ihrer theoretischen Entwicklung und empirischen Ergebnisse, 1. Theorie. In: Leon Festinger: Theorie der kognitiven Dissonanz. Hg. von M. I. und Volker Möntmann, Bern, Stuttgart und Wien 1978, S. 274–303. Das in der Soziologie bestens bewährte Modell der ‚kognitiven Dissonanz‘ ist bislang kaum in den Geistes- und Kulturwissenschaften gebraucht worden, obwohl es Veränderungen prozesstheoretisch gut fassen kann; vgl. dazu Achim Aurnhammer: Verehrung, Parodie, Ablehnung. Das Verhältnis der Berliner Frühexpressionisten zu Hofmannsthal und der Wiener Moderne. In: Cahiers d’Etudes Germaniques 24 (1993), S. 29–50, sowie die methodisch daran ausgerichtete Studie von Thorsten Fitzon: Reisen in das befremdliche Pompeji. Antiklassizistische Antikenwahrnehmung deutscher Italienreisender 1750–1850, Berlin und New York 2004. Martin Irle: Konvergenz und Divergenz in Gruppen. In: Theorien der Sozialpsychologie, Bd. 2: Gruppen- und Lerntheorien. Hg. von Dieter Frey und M. I. Bern, Stuttgart und Toronto 1985, S. 39–64.
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1. Einleitung
worden.41 Da aber eine differenzierte Heuristik zitathafter Bezugnahmen ebenso wenig vorliegt wie eine rezeptionsästhetisch zufriedenstellende Theorie der ‚Markierung‘, sei hier tentativ ein Katalog intertextueller Markierungsstrategien, mithin Wiederholungstechniken im engeren Sinne, dargelegt, der einerseits das methodologische Werkzeug und die Auswahlkategorien vorliegender Studie entfaltet, andererseits auch das Analysekorpus typologisch abbildet. Beispiele sollen nämlich die jeweiligen Fremdtextreferenzen illustrieren und konturieren. Die Systematik des Katalogs ist insofern auf Georges Werk als prätextuelles Korpus ausgerichtet, als sie dessen spezifisch lyrische Verfasstheit reflektiert. Zudem schließen die Markierungsstrategien – und dies gilt gerade für den schon zu Lebzeiten legendarisch überformten George – nicht nur Bezugnahmen auf das Werk, sondern auch auf die realhistorische Person des Dichters und dessen eigene Autorschaftsinszenierung ein. In dem Katalog intertextueller Markierungsstrategien gehe ich insofern a minori ad maius vor, als ich von den präzispunktuellen Verweisen auf Georges Werk zu größerflächigen und vageren Bezugnahmen komme. Paratextuelle Markierung Eine paratextuelle Markierung verweist in Vor- und Nachwörtern, Klappentexten oder im Anhang auf etwaige Prätexte: Darüber hinaus kann auch eine Widmung oder ein Motto den Bezug auf einen Prätext oder Werk oder Person eines bestimmten Dichters wie George markieren. Damit weckt der Posttext freilich Erwartungen, die er sowohl erfüllen als auch enttäuschen kann.42 So hat Emil Szittya seinen grotesken Dialogroman Klaps oder Wie sich Ahasver als Saint Germain entpuppt (1924) „Stefan George und Adele Förste[r] gewidmet“; allein die Kombination von George mit Szittyas Freundin, einer mäßig bekannten Schauspielerin, komisiert die Widmung. Selbstverständlich beschränken sich solche paratextuellen Bezugnahmen nicht nur auf Druckexemplare, sondern schließen auch handschriftliche Widmungen ein, wie sie das Stefan-George-Archiv in großer Zahl verwahrt. Zu den namhaften kreisexternen Autoren solcher Widmungsexemplare an George zählen etwa Theodor Däubler, Kasimir Edschmid, Walter Hasenclever und Richard Schaukal.43 Die Markierungsmöglichkeiten im paratextuel41
42 43
Vgl. etwa die Studien von Peter Pütz: Wiederholung als ästhetisches Prinzip, Bielefeld 2004, Károly Csúri und Joachim Jacob (Hg.): Prinzip ‚Wiederholung‘. Zur Ästhetik von Systemund Sinnbildung in Literatur, Kunst und Kultur aus interdisziplinärer Sicht, Bielefeld 2015, und Wiederholen/Wiederholung. Hg. von Rolf Parr u. a., Heidelberg 2015. Broich: Formen der Markierung von Intertextualität, S. 37. Vgl. die Nachweise von Gisela Eidemüller: Die nachgelassene Bibliothek des Dichters Stefan George: Der in Bingen aufbewahrte Teil, Heidelberg 1987 (Stefan George: Bilder und Bücher aus dem Nachlass II).
1.2. Analysekorpus und Methode
13
len Bereich sind vielfältig und bieten nicht nur eine Transparenz des eigenen literarischen Schaffens, sondern erleichtern auch die Kommunikation im Dreiergespann Autor – Text – Leser. Widmungsgedicht / Dichtergedicht Die deutlichste Bezugnahme auf ein poetisches Vorbild oder Gegenbild ist das ‚Dichtergedicht‘, ein an, auf, über oder gegen einen Dichter gerichtetes Poem.44 Die Markierung ist hier meist zweifelsfrei durch den Namen gegeben. Der Dichtername kann mit einer Präposition verbunden sein wie etwa in Oscar Blumenthals Gedicht An Stefan George (1904), begegnet aber auch ohne präpositionale Partikel und lediglich mit Initialen als Titel wie in Heinar Schillings Poem S. G. (1917) oder gar antonomastisch verschlüsselt wie im zweiteiligen Gedicht An einen zeitgenössischen Künstler (1910) von Albert H. Rausch (Ps. Henry Benrath).45 Unabhängig davon, ob George in dritter Person besprochen oder mit ‚Du‘ apostrophiert wird, sind diese Verstexte, die zwischen Typisierung und Individualisierung changieren, vor allem auf ihr Verhältnis zu George zu befragen: Die Skala reicht von Annihilation über Ablehnung, Lob und Assimilation bis hin zu Hommage und Verklärung. Vorliegende Studie beansprucht, die Widmungs- und Dichtergedichte an George zwar nicht vollständig, aber in einer bislang ungekannten Vielzahl und Belegdichte ausgewertet zu haben. Onomastische Markierung Mittels onomastischer Markierung kann in einem Posttext auf Figuren vor angegangener Texte referiert werden. Diese Form intertextueller Referenz sieht Ulrich Broich als eine „besonders extreme Form der Markierung“ an.46 Das namentliche (Be-)Nennen von Figuren, die dem Kosmos eines lite rarischen Werks entspringen, kann als Zeichen einer sehr hohen Intensität von Intertextualität gewertet werden. Eine onomastische Markierung, die auf George referieren würde, läge etwa dann vor, wenn in einem modernen fiktionalen Text die fiktive Figur des Algabal oder des Maximin vorkämen. In Georges Werk selbst werden allerdings Namen, sieht man von den historischen Gestalten in den Zeitgedichten ab, oft verschwiegen und selten genannt. Die beiden Namen Algabal und Maximin, die auf Georges Dichtung verweisen, bleiben weitgehend kreisspezifisch-exklusiv und spielen in der
44 45 46
Der Terminus stammt von Hans Schlaffer: Das Dichtergedicht im 19. Jahrhundert: Topos und Ideologie. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 10 (1966), S. 297–335. Albert H. Rausch [Henry Benrath]: Nachklänge, Inschriften, Botschaften. Gedichte, Berlin 1910, S. 29 f. So unterscheidet Broich: Formen der Markierung von Intertextualität, S. 40, „markierte und nicht-markierte Intertextualität“.
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1. Einleitung
poetischen George-Rezeption eine eher untergeordnete Rolle. Ausnahmen wie etwa Hanns Meinkes Maximin-Gedichte, die Themen und Formen aus Georges Werk imitieren,47 oder Christian Filips’ In München, 1903. St. Maximin48 bestätigen nur die Regel. Einen Sonderfall der ‚onomastischen Markierung‘ stellen die topographisch motivierten George-Bezüge in Ortsdichtungen und poetischen Heterotopien dar: So finden sich mehrere Gedichte, in denen Bingen, der Geburtsort des Dichters, oder das Grab in Minusio als Erinnerungsstätten bedichtet werden. Solche Ortsdichtungen, die versuchen, den Dichter und sein Werk mnemopoetisch über den genius loci zu vergegenwärtigen, sind allerdings vor allem für die postume und epigonale George-Rezeption charakteristisch. Sie können – im Stile der Lokalgedichte von Georges Tafeln – epigrammatisch kurz sein wie etwa Werner Krafts Georges Grab (Minusio),49 oder ausführliche Würdigungen des Dichters wie Johannes Oeschgers Minusio-Dichtung (1958). Gehäuft begegnen solche lokalen Markierungen in Norbert Hummelts wiege in bingen (2009), in denen Bingen, der Rhein, die Drususbrücke, aber auch das bereits von Stefan George als „Haus mit den hundert Fenstern“ bezeichnete Wohnhaus seines Großonkels genannt werden. Diese Lokalbezüge werden durch eingestreute kursivierte Zitate aus Georges Werk („Des sehers wort ist wenigen gemeinsam“) zusätzlich bekräftigt, welche die defizitäre Gegenwart mit der poetischen Erinnerung an den Dichter kontrastieren. Titel und Gedichtanfang Titel, Untertitel und Gedichtanfänge sind aufgrund ihres Signalcharakters ein oft genutztes Mittel der intertextuellen Markierung.50 Je bekannter ein Titel oder Gedichtanfang ist, desto eher wird auch die ‚Publikumsbedingung‘ erfüllt. Inwieweit sich ein Posttext durch dieses titulative bzw. initiale Signal George nähert oder von ihm absetzt, ist allerdings nur im Einzelfall zu entscheiden. Zudem bezieht sich George auch seinerseits – man denke an das programmatische Gedicht Weihe, das Goethes Zueignung
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Vgl. Eschenbach: Imitatio im George-Kreis, S. 191 f. Christian Filips: In München, 1903. St. Maximin. In: Rheinland-pfälzisches Jahrbuch für Literatur 7 (2000), S. 188. Werner Kraft: Georges Grab (Minusio), Autograph. DLA, A: Lehmann, Manuskripte Dritter 68.6874. Im DLA findet sich das Gedicht zudem als Abschrift, datiert auf den 16. September 1953, mit umgekehrtem Titel: Minusio (Georges Grab), Autograph, DLA, A: Lehmann, Manuskripte Dritter, 68.4476/12 (vgl. Werner Kraft – Wilhelm Lehmann: Briefwechsel 1931–1968. Hg. von Ricarda Dick. Bd. 1: 1931–1953, Göttingen 2008, Nr. 289, S. 540–542, hier 541). Vgl. Broich: Formen der Markierung von Intertextualität, S. 36, sowie Holthuis: Intertextualität und Markierung, S. 147–153.
1.2. Analysekorpus und Methode
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beleiht, oder an die Hölderlins Briefroman Hyperion (1797/99) entlehnte Wendung vom ‚Neuen Reich‘ – in Titel und Gedichten auf Prätexte, so dass sich eine zweischichtige intertextuelle Beziehung ergeben kann. Dass Titelübernahmen und interne Zitate durchaus zusammenwirken können, zeigt etwa Lutz Seilers Gedicht das neue reich (2010). Es greift nicht nur den Titel von Georges letztem Gedichtband auf, sondern zitiert auch das Incipit des Herbstgedichts „Komm in den totgesagten park und schau“: „[…] früher / war es nicht vergittert dieses fenster, nicht | gemarkert diese schrift komm in / den totgesagten technikpark – fischgrätenestrich“.51 Gewinnt George der herbstlichen Natur eine exquisite Schönheit ab, kritisiert Seiler nurmehr die sprachlich sterile, technisierte Welt eines verlassenen Hauses. André Kubiczek hat 2018 einen Roman mit dem Titel Komm in den totgesagten Park und schau veröffentlicht, in dem die Vergangenheit des geteilten Deutschland in der Handlungsgegenwart reflektiert wird.52 Zitat Die wohl deutlichste intertextuelle Markierung ist das unveränderte wörtliche Zitat,53 vor allem wenn durch graphische oder sonstige Kennzeichnung wie Anführungszeichen der Bezug auf einen Prätext auch visuell hervorgehoben wird: Das Zitat ist zwar Teil des Posttexts, ist aber durch den neuen Kontext zugleich verfremdet.54 So hat Nadja Küchenmeister in ihrem Gedicht die stunden (2010) die Stellen kursiviert, die Georges Seelied aus dem Neuen Reich (1928) entlehnt sind (SW IX, 104). Indem Küchenmeisters Poem das vergebliche Warten auf eine ersehnte Begegnung aufgreift und fortschreibt, aber resigniert konstatiert: „Du bist des wartens müde“ (V. 15), tritt es in einen ironischen Dialog mit dem Prätext. Je prägnanter und umfänglicher ein Zitat im fremden Text ist, desto stärker ist die Dialogizität. Ein nicht markiertes wörtliches Zitat verschwindet dagegen umso eher im Posttext, je weniger es als fremdes Segment sichtbar und kenntlich wird. Solche verdeckten Zitate können eine intertextuelle Beziehung camouflieren oder aber gerade den gleichgerichteten Tenor des Posttexts unterstreichen, indem der ursprünglich fremde Text fast ununterscheidbar dem neuen eigenen Text inkorporiert wird. Noch schwerer zu entziffern ist das veränderte, nach den „rhetorischen Transformationsoperationen (Addition, Subtraktion, Sub51 52 53 54
Lutz Seiler: das neue reich. In: im felderlatein. Gedichte, Berlin 2010, S. 11. Vgl. dazu Jan Andres: Kontrafaktur. Zu Lutz Seilers Gedicht ‚das neue reich‘. In: George-Jahrbuch 10 (2014/2015), S. 131–141. André Kubiczek: Komm in den totgesagten Park und schau. Roman, Berlin 2018. Siehe hierzu die von Helbig: Intertextualität und Markierung, S. 124–126, aufgezählten Möglichkeiten der Zitat-Markierung in einem Folgetext. Vgl. Heinrich F. Plett: Sprachliche Konstituenten einer intertextuellen Poetik. In: Broich und Pfister (Hg.): Intertextualität, S. 78–97, hier 81.
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1. Einleitung
stitution, Permutation)“ modifizierte Zitat.55 Die sogenannte „Publikumsbedingung“,56 wonach ein Zitat, damit es wiedererkannt werden kann, allgemein bekannt sein muss, ist insofern ohnehin problematisch, als sie einen variablen Faktor in historischer, sozialer und generationeller Hinsicht darstellt. Daher demonstrieren solche integrativen Zitate nicht nur eine enge Beziehung zwischen Post- und Prätext, sondern etablieren auch eine exklusive Bindung zu dem eingeweihten Leser, der das Zitat wiedererkennt. So spielt Adel und Untergang (1934), der Gedichtband, mit dem Josef Weinheber bekannt wurde, auf das elitäre Verspaar in der Mitte eines Gedichts aus dem Stern des Bundes an: „Wer adel hat erfüllt sich nur im bild / Ja zahlt dafür mit seinem untergang“ (SW VIII, 40). Noch schwerer zu identifizieren sind neben syntaktisch korrekten Zitaten sogenannte ‚semantische Zitate‘ (Nelson Goodman), in denen lediglich der Inhalt des Prätexts wiedergegeben wird. Lexikalische Markierung Die lexikalische Markierung basiert auf dem Einsatz der autorspezifischen Lexik, also quantitativ häufig verwendeter oder charakteristischer Wörter eines Prätexts. Lexikalische Referenzen auf Stefan George sind selten antikisierende Begriffe wie „Paktol(en)“ (SW IV, 51), häufiger archaisierende Nomina wie „Stahlgewande“ (SW I, 59), „Himmelshelden“ (SW III, 82) oder „pfühl“ sowie ungebräuchliche und erlesene Begriffe wie „Gestade“ anstelle von „Strand“.57 Überdies begegnen in Georges Werk zahlreiche Neologismen. Neben eigentümlichen Komposita wie „treppenbogen“ (SW II, 32), „dämmrungssterne“ (SW IV, 43) oder der eindrücklichen Direktfügung „Angstschrei“ (SW IX, 9) handelt es sich häufig um Preziosenbilder wie „Serer-seide“ (SW II, 66), „saffirgrotte“ (SW V, 69) und „rubinenfeuer“ (SW IV, 51) oder um Synästhesien wie „silberluft“ (SW VI/VII, 14) und „purpurwelle“ (SW VIII, 13). Lexikalische Markierungen gehen oft einher mit weiteren zitathaften Referenzen und einer Annäherung an Duktus und Stil des Prätexts. So verwenden Norbert Hummelt in wiege in bingen („ziemlich wenigen, / um genau zu sein. im dämmer liegt er / nahezu allein“ [V. 1–3]) und Nadja Küchenmeister in weh („juli-schwermut, abenddämmer. der hitzestau“ [V. 1]) nicht zufällig Georges seltenes Nomen ‚dämmer‘ 55 56
57
Holthuis: Intertextualität, S. 97. Vgl. Ludwig Jäger: Transkriptive Verhältnisse. Zur Logik intra- und intermedialer Bezugnahmen in ästhetischen Diskursen. In: Transkription und Fassung in der Musik des 20. Jahrhunderts. Hg. von Gabriele Buschmeier, Ulrich Konrad und Albrecht Riethmüller, Stuttgart 2008, S. 103–134, hier 116. Die Ermittlung lexikalischer Bezüge erleichtert das wichtige Forschungsinstrument von Claus Victor Bock: Wort-Konkordanz zur Dichtung Stefan Georges, Amsterdam 1964 [CVB].
1.2. Analysekorpus und Methode
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(SW V, 41, und V, 53), da sich auf ihn beide Gedichte beziehen. Wiedererkennbar sind vor allem Wortgruppen, die für Georges Dichtung exklusiv sind, wie etwa die ‚Herbst‘-Periphrase „steigendes Jahr“. Wenn Emil Lorenz dieses Syntagma zum Titel eines Gedichts macht, ist der George-Bezug hinreichend offengelegt.58 Thematische Markierung Als thematische Markierung wird eine inhaltliche bzw. semantisch äquivalente oder analoge Korrespondenz mit einem Prätext bezeichnet. Diese Form der Markierung ist insofern besonders interpretationsbedürftig, als die Entsprechungen zum Subjektiv-Vagen tendieren und ein Wiedererkennen oft die Topik bzw. Genrebindung, die ‚Architextualität‘ (Genette) des Prätexts, unterschätzt. So ist fraglich, ob die lyrische Schilderung eines Spaziergangs in einem herbstlichen Park oder gar schon die Idealisierung einer künstlichen Landschaft wie Garten oder Park im Herbst genügen, um eine Referenz zu Georges Herbstgedicht „Komm in den totgesagten park und schau“ herzustellen. Wie schwierig der Umgang mit einer solchen Markierung ist, zeigt exemplarisch Hilde Domins Gedicht Herbstaugen (1965) (Inc.: „Presse dich eng / an den Boden“).59 Domin lehnt sich darin inhaltlich-thematisch an den mutmaßlichen Prätext an: In einer Du-Selbstansprache mahnt sich die Sprecher-Instanz, körperlich den Sommer und die Liebe zu wahren, obgleich der Herbst schon präsent ist. Doch erst lexikalische Übereinstimmungen, der imperativische Sprachgestus und das Schlusswort „Herbstaugen“, das als neologistisches Kompositum und Synekdoche mit dem „herbstlichen gesicht“ Georges korrespondiert, erlauben es, Domins Herbstaugen als resignative Replik auf George zu deuten. Eine thematische Markierung kann aber auch über abstrakte Sujets, etwa poetologische Fragen, erfolgen, wie sie Georges metapoetische Gedichte Weihe oder Das Wort provozieren. Stilistische Markierung In der Intertextualitätsforschung blieb die stilistische Markierung bislang theoretisch wie praktisch unterbestimmt. Hier geht es darum, typische Stilmerkmale eines Werks als Nachweis einer textuellen Abhängigkeitsrelation auszumachen. Stilistische Bezugnahmen auf George manifestieren sich etwa in einer hergeholten Bildlichkeit, dem Spiel mit Klangformen, der Verwendung von Synästhesien, einer stark imperativischen Sprache. Diese Form der Markierung nutzen – mehr oder weniger überzeugend – die zahlreichen 58 59
Emil Lorenz: Das steigende Jahr. In: E. L.: Die Einweihung des Orpheus. Gedichte, Berlin 1943, S. 22. Hilde Domin: Herbstaugen. In: H. D.: Rückkehr der Schiffe. Gedichte, Frankfurt/M. 1965, S. 7. Vgl. die Analyse des Gedichts in Kapitel 7.2.2.
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1. Einleitung
Parodien auf George, von den Personalsatiren abgesehen. Sie komisieren das Werk oder einen bestimmten Prätext, indem sie dessen stilistische Eigenheiten über- oder untererfüllen und damit dessen spezifische Artifizialität bloßlegen. Aber auch George-Verehrer übten sich in ernsthaften Stilimitationen. Dem Verfahren entspricht das von Gunilla Eschenbach so gründlich untersuchte Prinzip der imitatio, das oft über die Nachahmung stilistischer Eigentümlichkeiten sich auch das dem Werk Georges zugrundeliegende Ethos zu assimilieren sucht. Metrische Markierung Die metrische Markierung beschränkt sich ausschließlich auf Versdichtung, kommt also, von versifizierten dramatischen Werken abgesehen, nur in lyrischen Texten vor, die sich auf die ursprüngliche metrische Formgebung des Prätexts beziehen. Dieser Typus der Markierung, der seitens der Intertextualitätsforschung vernachlässigt wurde, ist gerade für die Rezeption Georges bedeutsam, hat er doch die historistischen, ‚vergeibelten‘, von der Sangbarkeit geprägten deutschen Strophenformen maßgeblich modernisiert. So lockerte er den epigrammatischen Zweizeiler aus jambischen Sechshebern durch einen Wechsel von männlichen und weiblichen Reimen auf, wie eindrücklich Die Tat (SW III, 45) zeigt.60 Vor allem aber europäisierte George die deutsche Dichtungssprache maßgeblich durch seine Verwendung vierversiger Strophenformen.61 In der Lyrik des 20. Jahrhunderts hat er etwa der Strophe aus vier jambischen Fünfhebern mit durchgängig weiblichem Versschluss nach dem Vorbild des italienischen endecasillabo und der beweglichen Bindung im Kreuzreim „die Bahn gebrochen“.62 Moderne Beispiele einer metrischen Markierung finden sich in Norbert Hummelts wiege in bingen, parodierend auch in Nadja Küchenmeisters die stunden. Metatextuelle Markierung Metatextualität liegt dann vor, wenn ein Gedicht oder Werk Georges zum Gegenstand einer reflektierenden Auseinandersetzung wird. Eine solche kritische Beziehung kann sowohl dem Inhalt wie Form und Stil des Prätexts gelten. Gemeinsam ist allen Metatexten ihre kommentierende Funktion, auch wenn relativ vage bleibt, was unter einem ‚Kommentar‘ zu verstehen ist. So ist die Grenze fließend zwischen expositorischen Texten über George, Rezensionen und essayhaften Formen, die ihrerseits einen poetischen Anspruch haben. In vorliegender Studie werden metatextuelle Bezugnahmen nur selek60 61 62
Vgl. Horst Joachim Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen, Tübingen und Basel ²1993, s. v. 2.13, S. 47 f. hier 48. Vgl. das Register bei Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen. Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen, s. v. 4.109, S. 333 f., hier 334.
1.2. Analysekorpus und Methode
19
tiv herangezogen, da sonst die ‚poetische Rezeption‘ als eigentliches Erkenntnisinteresse ihre Konturen in der Vielzahl von Rezensionen und (pseudo) wissenschaftlichen Auseinandersetzungen verlieren würde. Kommentare werden dann berücksichtigt, wenn sie fiktional überformt sind, von Dichterinnen bzw. Dichtern stammen oder im Kontext einer poetischen Auseinandersetzung mit George stehen. Unstrittiges Beispiel wäre etwa Hugo von Hofmannsthals Gespräch über Gedichte (1904), aber auch Friedrich Franz von Unruhs Aufsatz Stefan George und der deutsche Nationalismus (1932), der im Zusammenhang mit Unruhs poetischer George-Rezeption steht. Des Weiteren werden solche metatextuellen Referenzen registriert, welche dazu beitragen, die jeweiligen poetischen Bezugnahmen zu kontextualisieren. Narrativer Transfer Unter ‚narrativem Transfer‘ sei vor allem die sogenannte ‚Schlüsselliteratur‘ verstanden, die für die George-Rezeption keine unbedeutende Rolle spielt. So finden sich in einigen Erzähltexten des 20. und 21. Jahrhunderts Figuren, die unverkennbar Stefan George repräsentieren, und zwar als elitären Dichter oder charismatischen Künstler mit einer Verehrergemeinde. Solche fiktionalen George-Deskriptionen sind oft stereotypisiert und schreiben das medial verbreitete Bild Georges als eines unnahbaren Ästheten fort: Einerseits betonen die Schilderungen charakteristische äußerliche Merkmale wie dichte Haartracht, modische Kleidung, mysteriöse Aura und Menschenscheu; bisweilen werden sogar bildliche Repräsentationen, die auf George verweisen, in den Erzähltexten diskursiviert, etwa in Albrecht Schaeffers Schlüsselroman Elli oder Sieben Treppen (1919) oder in Hans Carossas Der Arzt Gion (1931). Andererseits reduzieren auch die stark selektiven Referenzen, sei es in Form von Parodien oder tatsächlichen Zitaten, Georges Werk auf typische, somit wiedererkennbare Aspekte. Es ist interpretatorisch nicht immer leicht, solche literarischen Transpositionen, die oft nur partielle Ähnlichkeiten aufweisen, in ‚Repräsentationen Georges‘ zu übersetzen. So bietet Jörg-Uwe Albigs Roman Zornfried (2019) eine Satire auf die Intellektuellen der Neuen Rechten, die sich auf einer Burg um einen „Dichterfürsten“ versammeln. Dessen Gedichte, darunter Titel wie Nornenborn oder Heilige Hege, sind in ihrer Kleinschreibung und germanisierend-antiquierten Lexik offenkundige Parodien auf George. Durch dieses Transkript wird George, ohne dass er explizit genannt würde, rückwirkend zu einem Ahnen des aktuellen Rechtskonservativismus erklärt. Eine Sonderform der fiktionalen Repräsentation ist die intradiegetische Markierung. Hier kann eine fiktive Figur von ihrer George-Lektüre erzählen. Solche Formen einer intradiegetischen Markierung finden sich etwa in Albrecht Schaeffers Helianth (1920), wo eine Romanfigur ausführlich von ihrer George-Lektüre berichtet.
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1. Einleitung
Szenischer Transfer (Schlüsseldrama, Film) Auch in Dramen kommen, freilich seltener, Anspielungen auf oder Zitate von George vor, die von Dramenpersonen gesprochen oder sogar ausdrücklich zitiert werden. So tritt in Fritz von Unruhs Drama Stürme (1923) eine Person namens ‚Stefan‘ auf, die unverkennbar Stefan George nachgebildet ist. Er idealisiert die mannmännliche Freundschaft, indem er das Ende von Georges Krieg zitiert. Aber George tritt auch als mehr oder weniger verschlüsselte Figur auf. In Rainer Werner Fassbinders Film Satansbraten (1976) ahmt der Protagonist, ein uninspirierter Dichter, äußerlich Stefan George nach, schart einen Kreis männlicher Adoranten um sich und rezitiert George-Gedichte, bis er erkennt, dass die Differenz zum Vorbild bestehen bleibt. Im Stauffenberg-Drama (2014) von Lars Jacob ist George eine entscheidende Dramenperson und wird retrospektiv zum Spiritus rector des Attentats auf Hitler stilisiert. Mit dieser ‚Georgisierung‘, die sogar historische Fotografien vom Meister als Szenenbilder nachstellt, wertet Jacob den politisch nicht unumstrittenen „Widerstand“ der Offiziere auf. Visueller Transfer Unter ‚visuellem Transfer‘ wird die Transformation von Texten oder Bildern in ein (anderes) Bild verstanden. Solche Folgebilder können wiederum zu Vor-Bildern neuer Bildtransfers werden. Gerade im Falle der GeorgeRezeption spielen derartige ikonische Beziehungen insofern eine wichtige Rolle, als George durch seine fotografische Selbstinszenierung an der Auratisierung seiner Person erheblichen Anteil hatte. Beispiele für visuelle George-Zitate finden sich vor allem in der Schlüsselliteratur. So ist Elli, die Protagonistin von Albrecht Schaeffers Roman Elli oder Sieben Treppen (1919), die Elisabeth Gundolf nachempfunden ist, fasziniert von einer Porträtfotografie, Kopf und Brust eines Mannes, der die Stirn in die Hand gestützt hatte – eine seltsam bäurische Hand – und nie glaubte sie ein so streng und fremdes, so abgeschlossenes, so außerweltliches Gesicht gesehen zu haben wie dieses, von dessen breit ausgemeißelter Stirn wie eine Korngarbe das dunkle Haar aufstieg und auseinanderfiel, dessen Augen, klein, […] und dessen schmal gepreßter Mund und vorgestelltes Kinn an – an wen erinnerten? An einen Heiligen, meinte sie, erst später erkennend, dass sie Dante meinte.63
In der aus Ellis Sicht perspektivierten Ekphrasis wird Georges Selbstinszenierung invertiert, indem die von ihm gesuchte und forcierte physiognomische Ähnlichkeit mit Dante, von der Betrachterin beglaubigt wird, 63
Albrecht Schaeffer: Elli oder Sieben Treppen. Beschreibung eines weiblichen Lebens, Leipzig 1919, S. 25.
1.2. Analysekorpus und Methode
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noch bevor ihr Freund Ludwig Studassohn, hinter dem sich Karl Wolfskehl verbirgt, mit einem „Hauch von Geheimnis, oder Besonderheit, auch von Ehrfurcht“ den Namen nennt: „Stefan George“.64 Auch in Hans Carossas Roman Der Arzt Gion (1931) erblickt der Titelheld das fotografische Porträt eines Dichters, dessen typische Merkmale auf George verweisen: An der Stelle der stärksten Beleuchtung aber stand auf dunkler Staffelei das breit eingerahmte Porträt eines alternden Mannes, in Öl gemalt. Von weitem erkannte der einsame Wandler den Dargestellten, und gleich fingen alle seine Gedanken an sich auf ihn zu beziehen. […] So ging es dem jungen Arzt, als ihn der große Dichter und Denker nun aus befremdender Umgebung heraus ansah, und er mußte sich eingestehen, daß er lange nicht mehr in den Büchern gelesen hatte, denen er einst so viel Freude, so viel Führung schuldig geworden war. Seine Beschämung wuchs im Anschauen des treulich dargestellten Hauptes; es ließ den stolzen Geist erkennen, wie er sich wehrte gegen die schlimme Zeit, die er in drohend schönen Psalmen selbst vorausgesagt hatte; das noch jugendlich gewellte Haar war weiß geworden über der altersklaren Stirn, das früher schmerzlich zarte Antlitz zu löwenhafter Gedrungenheit umgeformt. Während aber nun die strenge Schönheit früh gelesener Strophen in dem einsamen Gänger aufklingt, empfindet er dunkler und härter als sonst sein eignes Leben […]. 65
Obschon der Name des dargestellten Dichters im Text nicht preisgegeben wird, konnte der zeitgenössische Leser in der Werkcharakteristik und äußerlichen Beschreibung, vor allem in dem „stolzen Geist“, „gewellte[n] Haar“ und der „löwenhafte[n] Gedrungenheit“, den „große[n] Dichter und Denker“ Stefan George erkennen. Der Tempuswechsel im Schlusssatz hebt die ethische Bedeutung des Dichterbildnisses für den Protagonisten hervor. Neben solchen visuellen George-Zitaten spielen Karikaturen eine wichtige Rolle. Gerade die frühen George-Karikaturen, die noch auf Halbwissen und mystifizierenden Mutmaßungen beruhten, schufen einen eigenen Bildtypus, der lange das Bild Georges prägte: ganz in Schwarz gehalten, wird er mit Hut und so dichtem schwarzen Haarschopf gezeichnet, dass man nur eine lange Nase sieht, die möglicherweise antisemitisch motiviert ist, galt George wie ja mehrere seiner Freunde selbst auch als Jude. Dass bildliche Repräsentationen dann ihrerseits wieder textliche Transkripte hervorbringen könne, zeigt Jürgen Egyptiens epiphanes Wolkenporträt Georges, das Anselm Kiefers diverse George-Porträts verarbeitet, die als anthropomorphe Landschaftsbilder vom Mittelrhein gestaltet sind.66 64 65 66
Schaeffer: Elli oder Sieben Treppen, S. 26. Hans Carossa: Der Arzt Gion. Eine Erzählung, Leipzig 1931, S. 51 f. Jürgen Egyptien: Bestrahlung. In: J. E.: Kalebasse. Gedichte, Düsseldorf 2015, S. 35 f. Die fünfte Strophe, mit Bezug auf Kiefers George-Porträt, lautet: „Vom Lichtblick getrieben / tauch ich ins Gebirg / des Schattenkopfes / roll mich ins Kieferblatt“.
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1. Einleitung
1.3. Aufbau Meine Studie zur deutschsprachigen George-Rezeption im langen 20. Jahrhundert ist chronologisch aufgebaut und sucht zwischen epochen- und autorspezifischer, zeittypischer und individueller Aneignung zu vermitteln. Dementsprechend kommen ästhetisch weniger bedeutende Beispiele ebenso zur Sprache wie hochkomplexe ästhetische Dialoge, in denen Texte Georges zum Zwecke einer poetischen Selbstfindung in unverwechselbarer Weise transformiert und angeeignet werden. Das chronologische Vorgehen soll spezifische Konjunkturen von Georges Autor-Persona und Werk profilieren und den Funktionswandel der Rezeption konturieren. Dass die Wirkungsgeschichte keineswegs linear, sondern in sich überlagernden Zeitschichten verläuft, gelegentlich sogar auf vorgängige Rezeptionsmuster zurückgreift oder neue Aspekte antizipiert, bereitet allerdings methodische Probleme. Die individuelle Aneignung ist folglich nicht sakrosankt: So kann es vorkommen, dass ein und derselbe Autor, dessen Dialog mit George Brüche aufweist, in zwei unterschiedlichen Kapiteln behandelt wird, also die autorspezifische Rezeption der zeittypischen Aneignung nachgeordnet wird. Zu Georges Lebzeiten fallen die Rezeptionsphasen meist mit Zäsuren in dessen Werk zusammen, wie sie die Zeitgenossen etwa im Siebenten Ring (1907) oder im letzten Gedichtband, dem Neuen Reich (1928), registrierten. Die postume Wirkung ist dagegen stärker von werkexternen Faktoren wie politischen Kontexten (NS-Regime, DDR, Nachkriegsdeutschland, Deutschland nach der Wiedervereinigung), kulturellen Umorientierungen (Vergangenheitsbewältigung, sexuelle Revolution, Internationalisierung) und medialen Transformationen (Neue Medien, Bedeutungszuwachs des Visuellen) geprägt, die als Rahmenbedingungen jeweils lediglich skizziert werden können. Alle Kapitel verbinden extensive Überblickspassagen mit intensiven Einzelanalysen. Die Detailstudien zu einzelnen Autoren beruhen auf gründlichem Quellenstudium unter Heranziehung archivalischer Quellen, vor allem aus dem Stefan George-Archiv in Stuttgart und dem Deutschen Literaturarchiv Marbach. In den extensiven Passagen wird die epochen- und autorspezifische Forschung nach bestem Wissen und Gewissen berücksichtigt. Die poetische Wirkungsgeschichte Georges soll sowohl in der Breite erfasst als auch durch paradigmatische Einzelanalysen so erhellt werden, dass sich die jeweils zeitspezifische Aneignung Georges als produktionsästhetisches Phänomen nachvollziehen lässt. Die poetische George-Rezeption gliedert sich grob in fünf Phasen. Die erste Phase umfasst die Jahrhundertwende, die Zeit von 1890 bis 1906; sie reicht von den Anfängen Stefan Georges und der Blätter für die Kunst bis
1.3. Aufbau
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zum Erscheinen des Siebenten Rings, mit dem sich die ‚Dichterschule‘ um Stefan George formiert. Für die Frühzeit ist das Kriterium ‚Kreiszugehörigkeit‘ nicht trennscharf, da es keinen George-Kreis im engeren Sinne, sondern nur den Kreis der Mitarbeiter der Blätter für die Kunst gab. Daher wird in dieser Phase nicht streng zwischen kreisinterner und -externer Rezeption unterschieden. In die zweite Phase, die sich von 1907 bis 1933 erstreckt, also vom Erscheinen des Siebenten Rings bis zu Georges Tod, fällt die spannungsreiche Auseinandersetzung der nachgeborenen Avantgarde, vor allem der Expressionisten, aber auch der konkurrierenden Antimoderne mit Stefan George und seinem Kreis. Sie untergliedert sich in drei Perioden: Sie umfasst zunächst die rege kulturkritische antiwilheminische Rezeption in der expressionistischen Avantgarde bis 1914, die sich dann während des Ersten Weltkriegs, nicht zuletzt durch Georges antimilitaristische Dichtung Der Krieg (1917), polarisiert. In der Weimarer Republik begeistern sich schließlich zwar Repräsentanten der jungen Generation für Georges prophetische nationalpatriotische Dichtung des Neuen Reichs, doch nimmt die polarisierende politische Inanspruchnahme entscheidend zu. In der dritten Phase, die von 1933, dem Todesjahr des Dichters, bis 1945 reicht, steht die poetische Wirkung im Schatten der politischen Instrumentalisierung, die von nationalistischen Huldigungen bis hin zu revolutionären Ablehnungen reicht. Erörtert werden aber auch die erstaunlichen Parallelen der Rezeption im Exil und in der Inneren Emigration. Gerade die bislang unterschätzte Bedeutung, die George für viele jüdische Geflüchtete in Palästina besaß, zeigt, dass eine einfache politische Verrechnung nicht möglich ist. Die dichterische Wirkung von 1945 bis 1970, bislang kaum erkundet, ist noch stark von der ideologischen Inanspruchnahme Georges während der Zeit des Nationalsozialismus geprägt und blieb gerade im geteilten Deutschland ein Politikum. Wenn es sich nicht um Bekenntnisse von Kreismitgliedern oder kreisaffinen Dichtern handelt, standen Bezugnahmen auf Stefan George noch lange nach dem Krieg unter einem besonderen Rechtfertigungsdruck. Nicht zuletzt durch das bekenntnishafte Lob jüdischer Exilanten wie Theodor W. Adorno und Georg Lukács wurde George allmählich wieder in den Kanon der Klassischen Moderne reintegriert. Erst nach 1970 gewann das Spiel mit der Tradition zunehmend poetische Lizenz, auch wenn sich die Haltungen, mit denen Nachkriegsdichter und postmoderne Schriftsteller den imaginären Dialog mit George suchen, nicht grundsätzlich unterscheiden. Nachdem im 21. Jahrhundert die Generation der ‚Enkel‘ längst die der ‚Söhne‘ abgelöst hat, wurde eine ästhetische Orientierung politisch immer unverfänglicher, bis schließlich George – oft in charakteristischen Versatzstücken und Zitaten – zu einem zentralen Bedeutungslieferanten für intertextuelle Montagen der Gegenwart avancierte.
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1. Einleitung
Unterscheidet sich George im literarischen Feld um 1900, also in den frühen Schaffens- bzw. Rezeptionsphasen, durch seinen symbolistischen Stil und seine unverwechselbaren Merkmale wie Kleinschreibung, erlesene Lexik und hermetischen Stil von den zeitgenössischen Repräsentanten der Klassischen Moderne, so verlor sich dieses exklusive Distinktionsmerkmal im Lauf der Zeit. Kleinschreibung in der aktuellen Lyrik fungiert heute keineswegs mehr als ein implizites Bekenntnis zu George, sondern ist längst eine zeittypische Mode und Bestandteil des postmodernen Stilrepertoires. Auch das Interesse an der Autor-Persona wandelte sich: Aus dem Zeitgenossen George, dessen Person und Werk zu einer Stellungnahme herausforderte, wird eine historische Größe, die im Hörensagen und Halbwissen zunehmend verschwimmt und erst durch Dichtung und Kunst – in freilich ganz unterschiedlicher Weise – wieder vergegenwärtigt wird. Welcher der ‚wahre‘ George ist, der im Laufe der poetischen Rezeption jeweils präsentiert wird, und worin die zeitüberdauernde Bedeutung und Haltbarkeit seiner Dichtung besteht, mag der Leser entscheiden.
2. Repräsentant des europäischen Ästhetizismus um 1900 In der ersten Rezeptionsphase, welche mit der Neuformierung des litera rischen Feldes in Deutschland um die Jahrhundertwende einherging, reagierten viele junge Dichter im In- und Ausland auf den neuen Ton und formstrengen Ästhetizismus Stefan Georges. Obgleich die Hymnen 1890 nur in kleiner Auflage erschienen waren, hatten sie die führenden europäischen Symbolisten wie Stéphane Mallarmé, Maurice Maeterlinck und Gabriele D’Annunzio durchaus erreicht. Mallarmé nennt George „un des nôtres et d’aujourd’hui“,1 Maeterlinck lobt ihn, weil er „un état d’âme nouveau“ in die deutsche Dichtung eingeführt habe,2 und D’Annunzio apostrophiert ihn als „artefice elettissimo“ und „caro fratello“.3 Stefan George übersetzte die führenden europäischen Symbolisten ins Deutsche, während seine eigenen Gedichte ebenfalls in die europäischen Literatursprachen übertragen wurden.4 Albert Saint-Paul, der Deux Poèmes de Stefan George und weitere Übertragungen in der Zeitschrift L’Ermitage publizierte, zeigte sich sogar indigniert, als im Floréal Achille Delaroches unautorisierte französische Versionen aus dem Algabal erschienen: „je croyais avoir acquis le monopole de vos traductions“.5 Wacław Rolicz-Lieder übertrug Gedichte Stefan Georges ins Polnische,6 Albert Verwey ins Niederländi1 2 3
4 5 6
Stéphane Mallarmé an Stefan George, 28.2.1891; zit. nach RB I, S. 202. Maurice Maeterlinck an Stefan George, 20.12.1891. StGA, George III, 08631. Widmung vom März 1893 in den Elegie Romane (Bologna 1892), Widmungsexemplar im StGA 10/24 (ebd. ein zweites Exemplar mit einer Widmung D’Annunzios an Carl August Klein. StGA 10/24a). D’Annunzio hat George auch seine Tragödie Francesca da Rimini (Mailand 1902. StGA 10a/2, sowie die Laudi del cielo, del mare, della terra e degli eroi (Mailand 1903) gewidmet (StGA 10a/3). Das Verhältnis D’Annunzios zu Stefan George ist noch nicht erschöpfend erforscht; vgl. dazu Manfred Durzak: Ästhetizismus und die Wende zum 20. Jahrhundert. Gabriele D’Annunzio, Hugo von Hofmannsthal und Stefan George. In: Das Europa-Projekt der Romantik und die Moderne. Ansätze zu einer deutsch-italienischen Mentalitätsgeschichte. Hg. von Silvio Vietta, Tübingen 2005, S. 143–157. Die übersetzerische Rezeption wird hier nur gestreift, vgl. dazu Mario Zanucchi: Übersetzerische Rezeption. Rezeption und Wirkung des George-Kreises. In: GHb II, S. 897–916. Albert Saint-Paul an Stefan George, 30.9.1892; zit. nach RB I, S. 220. Vgl. Stefan George und Wacław Rolicz-Lieder: Gedichte und Übertragungen, zusammengest. von Annette Landmann, Düsseldorf und München 1968; Stefan George und Wacław Rolicz-Lieder: Gedichte, Briefe, Stuttgart 1996; Maria Podraza-Kwiatkowska: Wacław Rolicz-Lieder, Warschau 1966.
https://doi.org/10.1515/9783110779370-002
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2. Repräsentant des europäischen Ästhetizismus um 1900
sche7 und Cyril Meir Scott ins Englische.8 Albert Saint-Paul wie Paul Gérardy huldigten dem Dichter in einfühlenden Essays und dedizierten ihm Gedichte: Saint-Paul den Lai pour d’héraldiques chats. À Stefan George9 und Gérardy die Widmungsgedichte Et ils le chassèrent de leur ville10, À tous ceux de la ronde. À Stefan George11, Ballade12 sowie Dédicace à Stefan George13. Wie kurz der Weg von der übersetzerischen Aneignung zur ästhetischen Assimilation ist, zeigen Rolicz-Lieders Widmungsgedichte à S.G. in Moja Muza.14 Vor allem die Freundschaft mit Verwey entwickelte sich zu einem wechselseitigen Fördern: So beriet ihn George bei der Titelgebung eines Gedichtbands, und beide übersetzten gemeinsam im August 1907 in Bingen Verweys Over het Zeggen van Verzen.15 Reserviert stand George dagegen dem jungen niederländischen Dichter Alexander Gutteling gegenüber, einem Freund und Schüler Verweys, der ihm nicht nur das Huldigungsgedicht Aan Stefan George16 widmete, sondern ihn auch ins Niederländische übertrug.17
7
Vgl. Universiteitsbibliotheek Amsterdam (Hg.): Stefan George und Holland. Katalog der Ausstellung zum 50. Todestag. In: CP 161/162 (1984); Albert Verwey als Übersetzer: Eine Auslese. In: Duitse kroniek 18 (1966), Nr. 1/2: Stefan George en Albert Verwey, S. 97–118; Carel ter Haar: Zum Durchbruch der Moderne in der niederländischen Literatur. In: Die literarische Moderne in Europa, Bd. 2: Formationen der literarischen Avantgarde. Hg. von Hans Joachim Piechotta, Opladen 1994, S. 69–78; Jaques Perk, Willem Kloos und Albert Verwey: Freundschaftsdichtung in den Niederlanden (1880–1935), aus dem Niederländ. übertr. und mit einer Einführung versehen durch Rudolf Eilhard Schierenberg, Heidelberg 1996, S. 58–83. 8 Scott besuchte Stefan George am 13.1.1905 in Bingen, wo sie gemeinsam seine Übertragungen ins Englische durchsahen, eine weitere Sendung folgt am 6.2.1905. Vgl. Stefan George: Selection from his Works, translated into English by Cyril Scott, London 1910. Vgl. Werner Keil: Scott, Cyril (Meir). In: GHb III, S. 1639–1643. 9 RB I, S. 219. 10 Jörg-Ulrich Fechner (Hg): „L’âpre gloire du silence“. Europäische Dokumente zur Rezeption der Frühwerke Stefan Georges und der „Blätter für die Kunst“ 1890–1898. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift, Beiheft 11, Heidelberg 1998, S. 52–54. 11 Fechner (Hg.): „L’âpre gloire du silence“, S. 86–90. 12 Fechner (Hg.): „L’âpre gloire du silence“, S. 71–73. 13 Fechner (Hg.): „L’âpre gloire du silence“, S. 115 f. 14 Vgl. Wacław Rolicz-Lieder: Moja Muza, Krakau 1896. 15 Vgl. Zusammenfassung in: BlfdK 8 (1908/09), S. 3 f.; vgl. GHb II, 4.3. 16 Alexander Gutteling: Aan Stefan George. In: Een Jeugd van Liefde, Amsterdam 1906, S. 62. 17 George dankte Gutteling erst ein Jahr später für dessen Gedichtband Een Jeugd van Liefde. Der Sendung hatte Gutteling sogar ein zweites titelgleiches Widmungsgedicht beigefügt (vgl. SOK s. d. 17.8.1907); Albert Verwey: Mein Verhältnis zu Stefan George. Erinnerungen aus den Jahren 1898–1928, aus dem Niederländ. übers. von Antoinette Eggink, Leipzig 1936, S. 32; Theo Vos: „Aber preisen werde ich Sie inmitten der Unwissenden“ – Alex. Gutteling und seine George-Übertragungen. In: Neue Beiträge zur George-Forschung 15 (1990), S. 5–22, hier 17–22: Uit Stefan Georges „Jahr der Seele“.
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Auch für den skandinavischen Symbolismus war Stefan George ein wichtiges Vorbild.18 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts nahm ferner Filippo Tommaso Mari netti Verbindung zu Stefan George auf. Aus Mailand, wohin er 1906 aus Paris übersiedelt war, übersandte er 1908 George die neueste Nummer seiner internationalen Zeitschrift Poesia und bezeichnete es vage als sein ästheti sches Programm, einen Gegenkanon zu etablieren, „un tableau du mouve ment poétique mondial, avec la continuelle mise en saillie des nouveaux talents et des génies encore ignorés, sous les feux réverbérés des grands noms illustres“.19 Um George über den Kontext zu orientieren, nennt er ihm die Namen bisheriger Beiträger: „Mistral, Gabriele D’Annunzio, Maeterlinck, Paul Adam, Catulle Mendès, Gustave Kahn, Merrill, Rachilde, Verhaeren, etc. (pour la France) Symons, Yeats, Sturge Moore (pour l’Angleterre) Dehmel, Arno Holz (pour l’Allemagne) Rueda, Marquina (pour l’Espagne) ont déjà collaboré à Poesia“.20 Auch wenn sich der Katalog heute wie ein ‚Who’s who‘ der internationalen Avantgarde um 1900 liest, dürften die beiden deutschen Repräsentanten, Richard Dehmel und Arno Holz, George nicht dazu ermuntert haben, sich trotz Marinettis Lob seiner Person in den Kanon einzureihen und auf dessen Einladung einzugehen: „[…] de joindre à ces noms glorieux le vôtre que je connais depuis longtemps et dont j’ai hâte de réhausser ma revue“. Immerhin verspricht Marinetti, den deutschen Dichter auch durch ein Autorbildnis, ein sogenanntes ‚medaglione‘, international zu propagieren und bittet ihn um ein Porträt, aus dem „un beau masque“ gezogen würde, „qui paraîtra avec un médaillon en vers, écrit par moi, sur votre œuvre“.21 Obschon George vermutlich nicht geantwortet hatte, wandte sich Marinetti noch einmal, wohl unmittelbar nach Veröffentlichung seines Manifesto del Futurismo, das im Februar/März 1909 in Poesia in französischer und italienischer Sprache erschienen war, an George und bat ihn um eine Stellungnahme zum Futurismus:
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Vgl. Steffen Steffensen: Stefan George und seine Wirkungen in Skandinavien. In: Nerthus 2 (1969), S. 52–78. Filippo Tommaso Marinetti (Mailand) an Stefan George, 23.2.1908. StGA, George III, 8681. Marinetti hat George auch ein Widmungsexemplar seines „poème épique“ La conquête des étoiles (Paris 1902) übersandt. StGA, Bibl. St. G. Marinetti (Mailand) an Stefan George, 23.2.1908. StGA, George III, 8681. In Marinettis Poesia wurden allerdings noch mehr deutschsprachige Autorinnen und Autoren abgedruckt. Sämtliche Beiträge erschienen in der Originalsprache. George verwahrte in seiner Bibliothek einige Nummern der Poesia (3. 1907, 5–12; 4. 1908, 1, 2, 8, 10). StGA, Bibl. St. G. Marinetti an Stefan George, 23.2.1908. StGA, George III, 8681.
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2. Repräsentant des europäischen Ästhetizismus um 1900
Mon cher Maître, Je vous prie de vouloir bien m’envoyer votre jugement sur notre Manifeste du Futurisme et votre adhésion totale ou partielle. En attendant votre réponse, qui sera publiée dans Poesia, je vous prie d’agréer mes remerciements anticipés et l’expression de mon admiration profonde. | F.T. Marinetti.22
Die Anrede als ‚maître‘ spricht dafür, dass Marinetti mit den Kreis-Usancen vertraut war. Aber auch diese Anfrage blieb wohl ohne Antwort. Neben der Vernetzung mit der internationalen Avantgarde und der bislang unterschätzten Rückwirkung auf den europäischen Symbolismus baute George seine Stellung im literarischen Leben Deutschlands sukzessive aus. Spätestens mit den programmatischen Baudelaire-Umdichtungen (1891 [öffentliche Ausgabe 1901]), dem Algabal (1892), dem Jahr der Seele (1897) sowie den Blättern für die Kunst, von denen zwischen 1892 und 1904 sieben Folgen erschienen, war Stefan George der wichtigste Repräsentant des antinaturalistischen Ästhetizismus in Deutschland. Seine innovative Lyrik, die mit der ‚vergeibelten‘ deutschen Dichtungssprache brach, faszinierte vor allem die junge Generation. Dabei ist die frühe Rezeption – und dieser Befund gilt grosso modo bis 1933 – noch keineswegs ideologisch verengt oder politisch eindeutig. Vielmehr sind es hier vor allem das Unbürgerliche und die unerbittliche Kritik an der Gegenwart, die Gemeinsamkeiten stifteten. So lehnte etwa Ria Schmuljow-Claassen den Naturalismus als Dichtung aus dem Geist der bürgerlichen Klasse ab und stilisierte in den Sozialistischen Monatsheften den Dichter Stefan George zur überzeitlichen Instanz. Sogar dem Anspruch des Dichters als Führer wird hier aus sozialistischer Perspektive das Wort geredet: „[I]n dieser Zeit ungeheuerster innerer Umwälzungen stehen wir da so gut wie führerlos – wer, da Propheten nicht mehr aufzustehen pflegen, soll uns weiter helfen können, wenn nicht der Dichter?“23
2.1. Gewährsmann der Wiener Moderne Der Wirkung Georges auf das Junge Wien ist bislang lediglich Martin Stern nachgegangen. Seine Studie beschränkt sich jedoch auf die beiden Autoren Hugo von Hofmannsthal und Leopold von Andrian sowie die epochale 22 23
Filippo Tommaso Marinetti (Mailand) an Stefan George, o. D. (wohl Februar/März 1909). StGA, George III, 8682. Ria Claassen: Stefan George. In: Sozialistische Monatshefte 6 (1902), S. 9–20, hier 10; vgl. dazu Günter Heintz: Stefan George. Studien zu seiner künstlerischen Wirkung, Stuttgart 1986, S. 234.
2.1. Gewährsmann der Wiener Moderne
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Vertonung Georges durch Schönberg.24 Sterns Ergebnisse stellen allerdings, wie ich im Folgenden zeigen möchte, nur die Spitze eines Eisbergs dar und erfassen die große Wirkung Georges auf die Wiener Moderne nur oberflächlich. Für Georges Person und Werk war das Wien der Jahrhundertwende insofern ein günstiges Rezeptionsmilieu, als dort der Naturalismus nie richtig Fuß fassen konnte und die eigenartige modern-antimoderne Mischung des französischen Symbolismus früh assimiliert wurde. Bereits in den 1890er Jahren war George in der literarischen Öffentlichkeit Wiens allgemein und im Jungen Wien besonders bekannt. Wie eine Tagebuchnotiz Arthur Schnitzlers vom 27. Dezember 1891 bezeugt, die ein Gespräch über den Symbolismus und eine Rezitation Hofmannsthals von George-Gedichten vermerkt,25 galt George als Kronzeuge des europäischen Ästhetizismus im deutschsprachigen Raum. Dementsprechend propagierte ihn auch die Wiener Rundschau, die mehrere Texte Georges und Beiträge über ihn veröffentlichte.26 Den Kontakt der Herausgeber Constantin Christomanos und Felix Rappaport zu den Blättern für die Kunst hatte wohl Hugo von Hofmannsthal auf Bitten Hermann Bahrs hergestellt.27 Rappaport bemühte sich im Mai 1897 brieflich darum, Arbeiten von George und Wolfskehl „in der Wiener Rundschau [zu] veröffentlichen“.28 Nicht nur Rappaports eigene Lyrik orientiert sich in ihrer Formstrenge, ihren Gegenwartsfluchten, Seelenlandschaften und ihrem Elitismus an Georges frühen 24
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Vgl. Martin Stern: „Poésie pure“ und Atonalität in Österreich. Stefan Georges Wirkung auf Jung-Wien und Schönberg. In: Die österreichische Literatur. Ihr Profil von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart (1880–1980), Teil 2. Hg. von Herbert Zeman, Graz 1989, S. 1457–1469. „Nm. Salten, Bahr, Loris, Bératon. Ueber den Symbolismus. Bahr und Loris sprachen, Loris las Gedichte Stephan George’s und eigne vor, die getheilten Eindruck hinterließen“ (Arthur Schnitzler: Tagebuch. Digitale Edition, Sonntag, 27. Dezember 1891, https://schnitzlertagebuch.acdh.oeaw.ac.at/pages/show.html?document=entry__1891-12-27.xml). Vgl. Stefan George: Gedichte. Ein Tag. In: Wiener Rundschau 2 (1898), Nr. 2, S. 30; Stefan George: „Die Blumen des Bösen“ von Charles Baudelaire. Umdichtungen: Der Albatros. Der Balkon. Fremdländischer Duft. Zigeuner auf der Reise. In ihren Kleidern. Trauer der Mondgöttin. In: Wiener Rundschau 3 (1899), Nr. 19, S. 441–445; Karl von Levetzow: Stefan George. In: Wiener Rundschau 3 (1899), Nr. 4, S. 97–100; Friedrich Gundolf: Stefan George. „Der Teppich des Lebens“ und „Die Lieder von Traum und Tod“. Mit einem Vorspiel. In: Wiener Rundschau 4 (1900), Nr. 9, S. 109–114. Vgl. Hermann Bahr (Wien) an Hugo von Hofmannsthal, 10.7.1896. In: Hugo und Gerty von Hofmannsthal und Hermann Bahr: Briefwechsel 1891–1934, Bd. 1. Hg. und komm. von Elsbeth Dangel-Pelloquin, Göttingen 2013, S. 61. Felix Rappaport (Wien) an C. A. Klein (Darmstadt), 18.5.1897 und 30.6.1897, mit Hinweis auf den George-Essay in der Wiener Rundschau, der für den 15.7.1897 vorgesehen war. StGA, Blätter III, S. 424 f.; doch sorgte der Abdruck von Hofmannsthals Idylle bei George für Verstimmung (vgl. dazu den Brief vom 28.5.1898. StGA, Blätter III, S. 426) und der Abdruck von Gedichten Georges im Jahre 1899 war recht mühsam erkauft (vgl. dazu das Schreiben vom 12.5.1899. StGA, Blätter III, S. 428).
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2. Repräsentant des europäischen Ästhetizismus um 1900
Gedichten, wie sein symbolistischer Gedichtband Schwarze Lilien bezeugt,29 auch der Ästhetizismus, den die Wiener Rundschau propagiert, ist George verpflichtet. Manche Gedichte muten in ihrer verehrenden Nachahmung wie Personalparodien auf George an, freilich nicht immer so reflektiert wie Christian Morgensterns Odi profanum …: Odi profanum … Flieh um so tiefer in dich selbst zurück, Als du dich keinem recht enträtseln kannst … Verhäng’ die Fenster deiner Seele Mit dichtgeknüpften Alltagsphrasen! Mit dummem Lächeln stehn sie um dich her Und rühren hier und tasten dort dich an – Gib acht! Bedroht sind deine Schätze Von tempelschänderischen Fingern. Verbirg dich im Gewölb des Frühgewölks Und in des Abgrunds langem Schattenwurf, Am liebsten aber in der Nächte Hochherrlich ausgespannten Zelten. Dort wanderst du allein mit deinem Schmerz Und schmückst die Erde ungestraft mit Lust Aus deines Geistes grünen Körben, Ein unerschöpflicher Verschwender.30
Mit dem fragmentierten Incipit von Horazens Römerode III 1 („Odi profanum vulgus et arceo“ [‚Ich hasse das gemeine Volk und halte es fern‘]), die sich vom ‚gemeinen Volk‘ abgrenzt, wird ein elitärer Dichter à la George vertraulich mit ‚Du‘ apostrophiert, dessen Anspruch auf Schutz und Selbstisolation aber als reiner Selbstzweck entlarvt.31 Seine „unerschöpfliche“
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Exemplarisch genannt sei ein forciert antikisierendes Gedicht: Felix Rappaport: ΙΣΙΣ. In: Wiener Rundschau 1 (1897), S. 15. Beschrieben wird darin ein Initiationsritus, der von zwölf Priestern an den „Geweihten Schaaren“ vollzogen wird. Auch der Gedichtband von Felix Rappaport: Schwarze Lilien, Leipzig und Wien 1896, weist zahlreiche motivliche wie metrische Parallelen zu George auf. Literarhistorisch gewürdigt wurde Rappaport bislang lediglich von Mario Zanucchi: Transfer und Modifikation. Die französischen Symbolisten in der deutschsprachigen Lyrik der Moderne (1890–1923), Berlin und Boston 2016, bes. S. 221–225. Zanucchi bezieht diese Stilzüge nicht auf George, sondern allgemein auf den französischen Symbolismus. Christian Morgenstern: Odi profanum … In: Wiener Rundschau 1 (1897), S. 67. Das Horaz-Zitat legt die Verbindung zu George und seinem Kreis nahe; denn Carl August Klein hatte es als Motto seiner frühen Würdigung Georges gewählt. In: BlfdK (1892/93),
2.1. Gewährsmann der Wiener Moderne
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Schmerz-Dichtung wirkt angesichts des selbstgewählten Rückzugs als bloße Inszenierung und Attitüde. Inwieweit die Herausgeber der Wiener Rundschau die kritisch-parodistische Intention des Gedichts erkannten und die Spitze gegen Georges Leidens-Ästhetizismus billigten, sei dahingestellt. Wichtiger für die frühe George-Rezeption in Wien ist freilich die Allgemeine Kunst-Chronik, hervorgegangen aus der Österreichischen KunstChronik, die ein Novemberheft des Jahres 1894 dem Dichter widmete, der „bei uns zur Zeit noch zu wenig gekannt“ ist.32 Gemeint ist Stefan George, der dadurch der ästhetischen Elite und einer breiteren österreichischen Öffentlichkeit erstmals bekannt gemacht wurde. Georg Fuchs stellt George in eine Tradition erlesener klassischer Künstler, Vorreden aus den Blättern für die Kunst illustrieren seinen Ästhetizismus, während Karl Wolfskehl in einem überfigurierten Essay – mit einer Reproduktion des Dichterbildnisses von Gebhard Fugel – George als „Priester“ und „Propheten“ feiert: George habe die „schönheitstrunkene Umformung“ in der Musik und Kunst durch Richard Wagner und Arnold Böcklin vollendet, indem er „der Poesie mit neuen Fähren und einem glänzenden Gewand auch die neue Innigkeit“ gebe, die sie erst zur „ebenbürtige[n] Genossin der Schwesterkünste“ mache.33 Um Georges Wirkung auf die „jüngeren Dichter“ zu erweisen, zitiert Wolfskehl „Verse des Wieners Hugo von Hofmannsthal aus Der Tod des Tizian, in dem Georges Dichten in glänzender Neugestaltung wiedertönt“34: „Und was da war, ist mir in eins verflossen / In eine starke, überschwere Pracht, / Die Sinne stumm und Worte sinnlos macht“.35 Eine kleine Anthologie mit 25 Dichtungen Georges, neunzehn eigene Schöpfungen und sechs Übertragungen, präsentiert die Entwicklung des Dichters erstmals dem österreichischen Publikum und integriert ihn zugleich in einen internationalen Kontext der europäischen Moderne. Georges internationale Modernität erweisen seine Übertragungen aus dem Englischen (Rossetti, Swinburne), Französischen (Baudelaire), Italienischen (D’Annunzio), Dänischen (Jacobsen) und Polnischen (Lieder) ebenso wie Paul Gérardys – ein
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Bd. 2, S. 45–50, hier 45; vgl. auch die Ausführungen zu Richard von Schaukal in Kapitel 2.1.1. Vgl. Allgemeine Kunst-Chronik 18 (1894), Nr. 23, S. 665 (Vorbemerkung zur Nr. 23 von Redaktion und Verlag der Allgemeinen Kunst-Chronik „an unsere Leser“). Karl Wolfskehl: Stefan George. In: Allgemeine Kunst-Chronik 18 (1894), Nr. 23, S. 672–676, hier 676. Zu dem 1944 zerstörten Bildnis Georges von Gebhard Fugel vgl. Robert Wolff: Stefan George in Darstellungen der bildenden Kunst, Nr. 2, Bingen 1983, S. 10 f. Wolfskehl: Stefan George, S. 676. Wolfskehl: Stefan George, S. 676.
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2. Repräsentant des europäischen Ästhetizismus um 1900
Freund Georges – anschließende Würdigung der Wallonischen Künstler August Donnay und Joseph Rulot.36 Der Jahrgang 1895 der Allgemeinen Kunst-Chronik schließt insofern daran an, als er nun nicht nur George, sondern auch seinen Kreis den Lesern vorstellt: Neben programmatischen Artikeln von Georg Fuchs und Ludwig Klages wird ein Brief von Carl August Klein abgedruckt, in dem dieser bereits klagt, dass „unser programm nachgeahmt [würde] und ideen von uns herübergenommen wurden.“37 Zugleich betont Klein darin selbstbewusst den ästhetischen Primat der Blätter für die Kunst und die epochale Bedeutung des George-Kreises für die Überwindung des Naturalismus: „von der gründung dieser blätter rechnet man die […] heimkehr der jungen deutschen vom lande des nackten wirklichen […]. Die kommende zeit wird zeigen was die junge generation von uns gelernt hat. […] von einem allgemeinen dichterischen aufleben kann erst wieder die rede sein wenn man allgemein wieder das berücksichtigt was wir seit jahren als erstes vertreten: den künstlerischen ernst und geschmack.“38 Das programmatische Bewusstsein eines Gruppenstils bestimmt auch die kleine Anthologie Aus den „Blättern für die Kunst“, die mehrere Dichter aus dem Kreis vorstellt: Sie sind durch Dichtungen Georges – zu Beginn Die Herrin betet, zum Abschluss eine Reihe von Übertragungen (Verhaeren: Der Schrei, Die Bäume und Albert SaintPaul: aus Pétales de Nacre) – markant gerahmt. Darin eingeschlossen sind ein Passus aus Hofmannsthals Drama Der Tod des Tizian sowie Gedichte von Paul Gérardy, Georg Edward, Karl Wolfskehl und Georg Fuchs. Nietzsches antinaturalistischer Aphorismus Die Revolution in der Poesie, der sich gegen eine realistische Kunst wendet, wird schließlich als „erhabenste und unwiderleglichste Rechtfertigung unseres Bestrebens“39 zitiert. Die große Bedeutung Georges für die „jüngeren Dichter“, die in der Allgemeinen Kunst-Chronik von 1894 am Beispiel Hofmannsthals illustriert wird, bestimmt die Fremd- und Selbstinszenierung mehrerer Autoren der Wiener Moderne und prägt den Blick auf Hofmannsthal bis zur Jahrhundertwende. So präsentiert August Renner in seiner Anthologie Das lyrische Wien. Eine moderne Lese (1899), die von Ferdinand von Saar bis Hofmannsthal reicht, letzteren als einen „Stephan George verwandten 36
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Die bislang übersehene Anthologie Aus den Werken von Stefan George bietet eine Auswahl von Gedichten und Übertragungen in chronologischer Ordnung, darunter auch die frühen Legenden Erkenntnis und Frühlingswende (ebd., S. 679–688); Paul Gérardy: Wallonische Künstler. In: Allgemeine Kunst-Chronik 18 (1894), Nr. 23, S. 688–693. Carl August Klein: Ein Sendschreiben (Berlin, im Januar 1895). In: Allgemeine Kunst-Chronik 19 (1895), Nr. 4, S. 99. Klein: Ein Sendschreiben, S. 99. Aus den „Blättern für die Kunst“. In: Allgemeine Kunst-Chronik 19 (1895), Nr. 4, S. 100– 120.
2.1. Gewährsmann der Wiener Moderne
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Dichtertypus“ und als einen „Culturschilderer, der das Neuerrungene der formenden Künstler in sich aufgenommen und verdichtet hat und es jetzt in raffiniert feine Formen gießt, als Augenweide für […] überfeinerte Culturmenschen, die nicht mehr tief drinnen im Leben stehen, sondern verträumt neben dem Leben einherwandeln“40. Auch weitere der von Renner in seine „Lese“ aufgenommenen Lyriker des Jungen Wien, wie Felix Dörmann oder Karl von Levetzow, stehen in einer bisher unbekannten oder unterschätzten Beziehung zu George: Da die Forschung sich vorrangig auf dessen zweiten Wien-Aufenthalt konzentriert hat, der von Ende Oktober 1891 bis Mitte Januar 1892 währte und Hofmannsthals Bekanntschaft mit sich brachte, blieb Georges erster Wien-Aufenthalt im Frühjahr 1891, von Mitte März bis Anfang Juli, weitgehend unbeachtet. Doch bereits in dieser Zeit muss George den Kontakt zu Vertretern der Modernen Dichtung gesucht haben, wie ein Antwortschreiben Felix Dörmanns bezeugt.41 Als einer der prominentesten Repräsentanten der Wiener Moderne hatte er wohl durch seine BaudelaireÜbertragungen und amoralischen Gedichte Georges Interesse geweckt. Allerdings bleiben die Gedichte Dörmanns viel stärker dem Programm der Dekadenz als dem Symbolismus verpflichtet. Der elitäre Gestus und das von Nietzsche genährte Pathos der Distanz stifteten keine dauerhafte Verbindung. Auch die dichterischen Anfänge des Freiherrn Karl von Levetzow (1871–1945) stehen unter dem Einfluss Georges: So wird dieser von Levetzow in einem freirhythmischen, reimlosen Sonett Seelen-Geige geehrt, nachdem das Jahr der Seele (1897) gerade erschienen war: Auch auf der anderen Geige Gibt es Flageolettöne. Die sind nur für feine Ohren –: Die Flageolettöne der Seele. Die Nasenrümpfer über den Meister! Sie lächeln sauer: „Er hat keine Kraft im Ton.“ – – Aber Er greift Obertöne.
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August Renner: Vorwort. In: Das lyrische Wien. Eine moderne Lese, Wien, Berlin und Leipzig 1899, S. 1 f., hier 2. Felix Dörmann (Unterach am Attersee) an Stefan George, 26.7.1891. StGA, George III, 2841: „[ohne Anrede] Ihre Zeilen sind angekommen! Über Wien hieher nach Unterach[.] Lieb, dass Sie meiner noch gedachten. Mir that es leid, dass ich Sie nicht mehr sah. Ich hätte Sie gerne noch gebeten „Neurotica“ mitzunehmen, als Erinnerungszeichen! Vielleicht schreiben Sie nach Wien darum. Ich lebe hier Idyllen – und fühle u[nd] erlebe viel. Aber selten nur ein Vers. / Und ihre Verse? Könnte man die Hymnen nicht erhalten? / Wo leben Sie jetzt u[nd] wie? / Viele Grüsse. / Felix Dörmann.“
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Das ist ihnen recht. Wenn der Frosch die Harfe schlägt, Und sich dazu quackt. Das verstehn sie gerade noch, Die Könige des Begreifens, Die Unkenkönige!42
Hier würdigt Karl von Levetzow die „Obertöne“ einer nuancierten Seelendichtung, auch wenn sie von der beschränkten Masse als kraftlos abgetan wird. Für eine Referenz auf George spricht der ähnliche Tenor in Levetzows fast gleichzeitig erschienenem Essay über Stefan George: Darin wird George als „culturdarstellender Künstler“ charakterisiert, der als einer der wenigen „Zusammenfassungsmenschen […] alles Vergangene und Gleichzeitige noch einmal in sich aufleben lasse[] – dann wird es sterben“.43 Diese „Kunst der Ferne“ zeichne ein kollektives Missverständnis aus – „wir verstehen sie nur selten, begreifen sie fast nie“ –, dem sich Levetzow anschließt, der sich selbst einer „Kunst der Höhe“ verschreibt.44
2.1.1. ‚Anempfinden‘: Richard von Schaukal Selbst die manifesten George-Allusionen im lyrischen Frühwerk Richard von Schaukals wurden in der Forschung bisher erstaunlicherweise nur wenig beachtet.45 Das mag auch daran liegen, dass Schaukal, wiewohl ein „anempfindender“ Künstler, sich nach 1904 nicht öffentlich zu George ge-
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Karl von Levetzow: Seelen-Geige. In: K. v. L.: Höhenlieder. Gedichte und Aphorismen, Wien 1898, S. 98. – Allein die zahlreichen Imitationen und Abwandlungen des Titels von Georges Gedichtband verlohnten eine eigene Untersuchung. Erwähnt sei hier lediglich Ferdinand Max Kurths Tag der Seele in seinem Gedichtband Dichtungen (Berlin 1899, S. 43 f.), zu dem Karl von Levetzow als Gastbeitrag Ein Lied (ebd., S. 72) beigesteuert hat. Karl von Levetzow: Stefan George. In: Wiener Rundschau 3 (1898/99), S. 97–100, hier 98 f. Levetzow: Stefan George, S. 99. In seiner Polemik gegen den George-Kreis hatte der österreichische Pädagoge Oskar Benda: Die Bildung des Dritten Reiches. Randbemerkungen zum gesellschaftsgeschichtlichen Sinnwandel des deutschen Humanismus, Wien und Leipzig 1931, S. 18, den jungen Richard von Schaukal wegen seines poetischen Amoralismus als „so etwas wie die Wiener Ausgabe Georges“ charakterisiert. Literarhistorisch fundierte Hinweise liegen dafür bislang lediglich bei Zanucchi vor: Transfer und Modifikation, bes. S. 195–196. Cornelius Mitterer: Werkverzeichnis Richard Schaukal. Richard Schaukal in Netzwerken und Feldern der literarischen Moderne, Berlin und Boston 2020, bes. S. 127–130, nennt Schaukals Verhältnis zu George betreffend zwar die wichtigsten Daten und Fakten, ohne aber die poetische Auseinandersetzung Schaukals mit Stefan George zu würdigen. Hierbei folgt er weitgehend Christian Oesterheld: ‚Ein Höhenwanderer zur Seelenklarheit‘. Schaukal und der George-Kreis. In: Eros Thanatos. Jahrbuch der Richard-von-Schaukal-Gesellschaft, Bd. 3/4 (1999/2000), S. 71–88.
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äußert hat.46 In seinen frühen Gedichtbänden, die zahlreiche Übersetzungen moderner französischer Lyrik (Baudelaire, Verlaine, Gautier, Heredia) enthalten, orientierte sich Schaukal nicht nur wie George vorrangig am französischen Symbolismus, sondern konkurrierte als Übersetzer sogar mit ihm.47 Sein Gedichtband mit dem markanten Titel Buch der Seele (1908) enthält sieben Baudelaire-Übertragungen, neun Verlaine-„Nachdichtungen“ und zwei der drei von George in den Zeitgenössischen Dichtern (1905) übersetzten Gedichten Mallarmés: Herodias und Meeresbrise, das den Titel Seebrise bei Stefan George trägt. Schaukals Buch der Seele ist sowohl eine GeorgeHommage als auch der Versuch, poetische Eigenständigkeit zu beweisen: Während Georges Mallarmé-Nachdichtungen Seebrise und Herodias reimlos sind, imitiert Schaukal in seinen versgetreuen Nachdichtungen der Herodias und der Meeresbrise (Brise marine) die Paarreime der französischen Ausgangstexte.48 Dass sich Schaukal unablässig um Georges Interesse für sein Dichten bemühte, ist gut dokumentiert: Neun Werkmanuskripte Schaukals werden im Redaktionsarchiv der Blätter für die Kunst verwahrt. Seiner Dichtung Die Sphinx, die er im April 1896 der Blätter-Redaktion zur Veröffentlichung
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Nach zwei frühen Rezensionen – Richard Schaukal: Stephan George. In: Wiener Abendpost. Beilage zur Wiener Zeitung. 2.4.1904, Nr. 76, S. 8, und R. Schaukal: [Rez. von Zeitgenössische Dichter]. In: Beilage zur Allgemeinen Zeitung [München]. 19.8.1905, S. 333 f. – verschweigt Schaukal geradezu Georges Einfluss auf sein Jugendwerk. In seiner Selbstdarstellung (vgl. Richard von Schaukal: Um die Jahrhundertwende. Hg. von Lotte von Schaukal und Joachim Schondorff, München und Wien 1965, S. 7–30) führt Schaukal ausführlich seine französischen Vorbilder an, gesteht gelegentlich auch Abhängigkeiten ein („im Stil einigermaßen Hofmannsthal nachempfunden“ [ebd, S. 20]), ohne aber George namentlich zu nennen. Eine versteckte Hommage an George bildet ein Bekenntnis Schaukals zum Symbolismus. Darin bemüht sich Schaukal um den Nachweis, „dass jedes wahrhaftige Werk eines Künstlers Größeres will, als einem sogenannten Gedanken mit dem Mittel […] gut gesetzter Worte zur Deutlichkeit zu verhelfen und dass damit gar nichts Unerhörtes und Gewaltsames einer kleinen Gemeinde von Fremdlingen gemeint ist, sondern dass die echten Künstler aller Zeiten, von Sophokles bis auf Stefan George, hierin einander verwandt sind“ (Richard Schaukal: Über die Forderung von sogenannten Gedanken in der Dichtung. In: Wiener Rundschau 3 (1898/99), Nr. 7, S. 171–173, hier 172). Immerhin nennt Richard Schaukal: Wie ich ward und bin (Einige Notizen). In: Die Gesellschaft 18 (1902), Bd. 3, S. 209–211, hier 211, Stefan George zwar nicht einen seiner „Heroen“ wie „Goethe, Velazquez und Kleist“, aber als fünfzehnten und letzten Namen der Künstler, die er liebe. Vgl. Claudia Warum: Richard von Schaukal als Übersetzer französischer Literatur. In: Die österreichische Literatur. Ihr Profil von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart (1880– 1980), 2 Teile. Hg. von Herbert Zeman, hier Teil 1, S. 297–316. Warum erwähnt George als Vorbild und Übersetzer-Konkurrenten Schaukals mit keinem Wort. Richard von Schaukal: Meeresbrise. In: R. v. S.: Das Buch der Seele. Gedichte, München und Leipzig 1908, S. 99 (die „Herodias“ ebd., S. 100–106). Es ist sicher kein Zufall, dass Schaukal Georges einzige gereimte Mallarmé-Nachdichtung Erscheinung [Apparition] nicht übersetzt hat.
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angeboten hatte, folgten im Jahre 1897 zahlreiche weitere Einsendungen.49 Einen Brief vom 6. Oktober 1897, in dem Schaukal erneut seine Verehrung für George ausdrückt und ihn an die Einsendung seiner Gedichtbände erinnert, leitete C.A. Klein abschriftlich an George weiter.50 Als darauf keine Antwort seitens George erfolgte, wandte sich Schaukal 1899 wieder an Carl August Klein und teilte ihm mit, wie gerne er dem Kreis beigetreten wäre, „seit ich Ihre hohen Bestrebungen kenne“. Zugleich stilisiert er sich zum Noch-Verkannten, einem der „allereinsamsten […] Versdichter dieser Tage“, kontrastiv zum Nicht-mehr-Verkannten, von ihm „ungemein liebevoll verfolgte[n] Stefan George“, der nun wie Hofmannsthal „in eine grössere Öffentlichkeit getreten“ sei.51 Doch auch dieses Mal blieb Schaukals Werben ohne Resonanz. Eine Rezension aus dem Jahre 1904, die in Negationen und einer selektiven Würdigung bereits eine leichte Distanzierung vom vormaligen Musterdichter erkennen lässt, ist die letzte öffentliche Hommage.52
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Richard von Schaukal an die Redaktion der BlfdK, 28.4.1896. StGA, Blätter III, 0335/335a, Beilage: Die Sphinx; R. S. an C. A. Klein, 5.3.1897. StGA, Blätter III, 0336; R. S. an C. A. Klein, 19.9.1897. StGA, Blätter III, 0337; R. S. an C. A. Klein, 6.10.1897. StGA, Blätter III, 0338; und R. S. an C. A. Klein, 23.12.1897. StGA, Blätter III, 0339. Schaukals Brief aus Brünn an Stefan George, 6.10.1897. StGA, Blätter III, 0338, zwei Doppelblätter mit Umschlag, in Georges Nachlass überdies als Abschrift erhalten. StGA, George III, 10951: Die Abschrift hat Klein am 9.10.1897 aus Darmstadt als Postkarte an George in Berlin verschickt, ohne das Datum des Originalbriefes anzugeben. Richard von Schaukal (in Abschrift von C. A. Klein aus Darmstadt) an Stefan George, 9.10.1897. StGA, George III, 10951. In Georges Bibliothek sind drei Bände Schaukals überliefert: Meine Gärten: Einsame Verse, Berlin 1897; Sehnsucht: … das Land der Griechen mit der Seele suchend…, München 1900; Von Tod zu Tod und andere kleine Geschichten, Leipzig 1902. Der erste und dritte Band enthalten handschriftliche Widmungen Schaukals an George aus dem Jahre 1902. Richard von Schaukal (Mährisch Weißkirchen) an C. A. Klein, 23.10.1899. StGA, George III, 10952. So grenzt Schaukal: Stephan George, S. 8, mit Negationen George von anderen Größen im literarischen Feld der Moderne ab: „[…] er ist kein besonders schmiegsam allen weichen Windungen des Verses folgsamer Schwärmer für silbernen Klang, zarteste Wohlabgewogenheit der rhythmischen Gewichte (Rilke), kein Magier der halbverlorenen Untertöne (Hofmannsthal), kein Melodiker der Naturstimmen, der Abendschwermut und des historischen Ressentiments (Verlaine), kein Orphiker (Hebbel), kein brünstig-verzückter Ekstatiker (Dehmel), kein sanft blasender Theorbenbläser (Mörike), kein Widerhall des Volksliedes (Eichendorff, Uhland): er ist vor allem, wie Klopstock etwa, ein hymnischer Psalmensänger, wie Schiller ein grübelnder Denker, der sich selbst in Rhythmen seine Gedanken zu klären unternimmt“. Noch deutlicher artikuliert sich Schaukals ästhetische Dissonanz am Ende der Rezension, in der er für einen Extrakt aus Georges Werk plädiert: „Würde George sich zu einer rücksichtslosen Feile seiner gesamten Schöpfungen entschließen – er ändert nicht […], – wir würden in zwei, drei Bänden einen Dichter hegen, der uns, wie Dante seiner Zeit, wundervoll die abgekürzte Chronik der neuen Seele hinterlassen hätte“.
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Schaukals George-Verehrung zeichnet sich nicht nur in den autobiographisch angelegten Intérieurs aus dem Leben der Zwanzigjährigen ab,53 sie prägt auch das lyrische Frühwerk des österreichischen Dichters: So greift er in seiner Sammlung Meine Gärten (1897) in Titel und Anlage nicht nur Georges poetologischen Gebrauch des Gartens auf, sondern imitiert im Proömialgedicht Das Gartengitter auch dessen elitären Gestus: In der Eingangsstrophe der reimlosen Ode, deren vierter Vers jeweils als Glykoneus (Achtsilber) gestaltet ist, bekennt Schaukal seine Sehnsucht nach einer erlesenen Kunst. Die Schlussstrophe richtet sich dezidiert an „Wenige nur und Gleiche“ und wehrt im Stile von Horazens Römerode III 1 („Odi profanum vulgus et arceo“) die „viel zu vielen“ ab: Aus breiter goldener Schale will ich den edlen Wein Großer Gedichte trinken, die der Menge fern sind, Andre aber tränke der dienstwillige Becher, Der von Lippe zu Lippe geht. […] Was ist mir heulender Beifall, häßlicher Tagtribut! Wenige nur und Gleiche sollen gern mich grüßen. Kaum gestatt’ ich, daß mir die Schar an meines Gitters Goldne Stäbe die Finger legt.54
Der Tenor passt tendenziell zu Carl August Kleins Programmschrift Über Stefan George, eine neue Kunst (1892), die das Incipit der Horaz-Ode III 1 zum Motto hat.55 Dass der Gedichtband Meine Gärten eine indirekte Huldigung Stefan Georges darstellt, geht aus dem Umstand hervor, dass Schaukal 1902 George ein Exemplar mit handschriftlicher Widmung übersandte, in der er sich als sein „inniger Anhänger“ bezeichnet. Seinen Prosaband Von
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Richard von Schaukal: Intérieurs aus dem Leben der Zwanzigjährigen, Wien 1901, S. 182: Der Ich-Erzähler in „Zuhause“ (ebd., S. 179–184) blickt auf seine Lektüren: „Und vor mir, neben mir Bücher: Flaubert, Gautier, Turgenjeff, Eckermann, Maeterlink [!], Stefan George“ (ebd., S. 182). Unter den Lieblingsbüchern eines ganz an der europäischen Avantgarde orientierten Repräsentanten der Wiener Moderne findet sich George als einziger deutscher Autor neben Eckermann, dessen Konjunktur auf Nietzsches Lob zurückgeht, und als einziger Lyriker. Richard von Schaukal: Das Gartengitter. In: Meine Gärten. Einsame Verse, Berlin 1897, S. 9 f. – Siehe als zeitgenössisches Rezeptionszeugnis die kritische Rezension von Michael Georg Conrad zu „Meine Gärten“. In: Münchner Halbmonatsschrift für Kunst und Kultur 3 (1897), Nr. 13, S. 124 f. BlfdK (1892/93), Bd. 2, S. 45–50, hier 45. Siehe dazu Zanucchi: Transfer und Modifikation, S. 116, 224 und 323.
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Tod zu Tod (1902) hat er George sogar als „sein treuer Verkünder, Vorleser“ dediziert.56 Schaukal unterscheidet sich zwar durch seine Tendenz zur Allegorie, seinen Stilpluralismus, seine modischen Themen (Pierrot) und seine zu große Explizitheit von Georges stilsicherer Lyrik, dennoch zeigen seine frühen Gedichte unverkennbar Anleihen, die bislang einseitig französischen Vorbildern zugeschrieben wurden.57 So scheint mir der frühe Zyklus Frau Minne (Vertraute Töne) in seiner mediävalisierenden Faktur deutlich von Georges Sagen und Sängen beeinflusst,58 dessen Rollenlyrik Schaukal in Gestalten eines Spielmanns und Pagen nachahmt. Die später veröffentlichte Sporenwacht nimmt sogar bereits im Titel unverkennbar auf Georges Sporenwache Bezug.59 Schaukals kurzes Ritornell-Gedicht imitiert George nicht nur in der situativen Analogie, sondern auch in dem Wechsel von der Er-Perspektive in die subjektive direkte Rede. Zudem spielt Schaukal auf den rite de passage eines Knappen zum Ritter an, indem er Georges Nomen „Schwelle“ („Nach dem gesetze vor altares schwelle“ [V. 3]) zum Incipit aufwertet: „Auf der Schwelle vor dem Sandelschranke“.60 Neben solchen mediävalisierenden Rollengedichten, in denen Schaukal den überzeitlich-
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„Stefan George / ein / inniger Anhänger / Dr. Richard Schaukal / 14/2 1902“. Das Widmungsexemplar verwahrt das StGA, George III, 10954W. Die handschriftliche Widmung der Prosasammlung Von Tod zu Tod und andere kleine Geschichten, Leipzig 1902, lautet: „Stefan George, / dem hochverehrten, / sein treuer Verkünder, / Vorleser / Richard Schaukal / M[ährisch-]Weißkirchen 14/III 1902“. StGA, George III, 10955W. Diese Einseitigkeit trifft ebenso auf Schaukals Beiträge zu einer Selbstdarstellung wie auf die Forschungsliteratur zu, etwa auch auf die sonst einschlägige Studie von Warum: Richard von Schaukal als Übersetzer französischer Literatur. Vgl. Richard von Schaukal: Frau Minne. In: Tristia. Neue Gedichte aus den Jahren 1897– 98, Leipzig 1898, S. 51–55. Zum Mediävalismus Georges vgl. die Studie von Jutta Saima Schloon: Modernes Mittelalter. Mediävalismus im Werk Stefan Georges, Berlin und Boston 2019. SW III, 43 f. Richard von Schaukal: Die Sporenwacht. In: Das Buch der Tage und der Träume, Leipzig 1902, S. 104 (eine leicht geänderte Version in: Richard von Schaukal: Bilder. Der Ausgewählten Gedichte zweiter erweiterter Teil, München und Leipzig 1909, S. 21). Die Parallele hat zuerst Dominik Pietzcker bemerkt: Richard von Schaukal. Ein österreichischer Dichter der Jahrhundertwende, Würzburg 1997, S. 75 (Anm. 89). Das Gedicht Sporenwacht lautet: „Auf der Schwelle vor der Sandelschranke, / schräg im Arm das breite blanke / zwiegeschärfte unberührte Schwert, // frei vom hohen Helm die taubenweisse / Kinderstirne steht er, und das heisse / stolz- und bangenschwere Herz verzehrt // eines grossen Willens kaltes Feuer: / kommt, ihr spruchverheissnen Abenteuer, / treu gewappnet wachend bin ich wert!“ Auch das Gedicht Der Wächter entwirft in zwei Kreuzreimstrophen das ‚Bild‘ eines vor Altar wachenden Ritter und erinnert in dieser situativen Konzentration an Karl Bauers bildkünstlerische Transposition der Sporenwache; vgl. Achim Aurnhammer / Ann-Christin Bolay: Stefan George in Heldenportraits. In: Jahrbuch der Deutschen Schiller-Gesellschaft 55 (2015), S. 240–267, hier 247–254.
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entschiedenen Ton der Sagen und Sänge nachahmt, hat er einige Gedichte als komplementäre Gegenstücke zu Poesien Georges gestaltet: So personalisiert er etwa Georges Das Ende des Siegers,61 welches das unrühmliche Dahinsiechen eines einst Gefeierten schildert, indem er in der zweiten Strophe seines komplementären Gedichts Der Sieger die Einsamkeit eines siegreichen Helden aus dessen Sicht illustriert.62 In der Sammlung Ausgewählte Gedichte (1904) eifert Schaukal sogar typographisch dem George-Kreis nach, indem er zum ersten, aber auch zum letzten Mal, den charakteristischen Mittelpunkt als einheitliches Satzzeichen erprobt. Zudem antwortet das Bildgedicht Porträt eines spanischen Infanten von Diego Velasquez in dieser Sammlung in Form einer Variation auf Georges Bildgedicht Der Infant in den Hymnen (SW II, 26). Während Georges Bildgedicht, das wohl mehrere Velazquez-Porträts des Baltasar Carlos vereint,63 den Dargestell ten belebend vergegenwärtigt, gestaltet Schaukal ein sprechendes Porträt. Die Bezugnahme auf den motivgleichen Prätext zeigt sich strukturell darin, dass Schaukals Rollengedicht des Infanten ein ähnlich deformiertes Sonett darstellt: Besteht Georges Der Infant aus zwei regelmäßigen Sextetten, die ein Quartett rahmen, so fehlt Schaukals heterometrischem Bildgedicht ein Vers zum Sonett: Einem Quartett und einem überzähligen a-Reim folgt ein Sextett, das ein Couplet beschließt. Porträt eines spanischen Infanten von Velasquez Mit blutgemiedener langer schmaler Hand feinen Fingern die den Duft der weissen Rosen fühlen manchmal mager und müd in warmen Damenhaaren wühlen halt ich einen zierlich-kalten Degenkorb umspannt. Meine Blicke gleiten kraftlos von der glatten silbergrauen Wand. Von rieselnden leisen Gebeten sind meine Lippen schlaff und bleich. Ein scharfer Dolchschnitt ist mein verachtender Mund. Ich streichle manchmal einen hohen schlanken Hund manchmal bin ich mit hässlichen Zwergen weich:
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SW III, 26. Richard von Schaukal: Der Sieger. In: Tristia. Neue Gedichte aus den Jahren 1897–98, Leipzig 1898, S. 93: „Der Sieger starrt mit leerem Blick hinauf, / Wo Wolkenfetzen um die Sonne hängen. / Zerrissen von harten Waffengängen / Schleift ihm das Kleid – Er tritt darauf … // Wo sind die Genossen, die mich trieben? / Wo sind die Kinder, die Blumen werfen? / Und die mir halfen die Waffen schärfen, / Wo sind sie mit ihrem Gruß geblieben?“. Ohne den George-Bezug überdehnen zu wollen, scheint mir sogar das Dialoggedicht Der von der Halde (ebd, S. 56–60), als „ein Zwiegespräch zwischen Fremden“ bezeichnet, metapoetisch als ein Dialog mit George lesbar, dessen poetischer Wiedergänger, der „Herzog“ am Ende bekennen muss: „Und deiner denken will ich wie eines, der mich besiegt.“ (ebd., S. 60). Vgl. Franziska Merklin: Hymnen. In: Stefan George – Werkkommentar. Hg. von Jürgen Egyptien, Berlin und Boston 2017, S. 23–42, hier 34 f.
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ich beschenke sie reich – und peitsche sie wieder wund. Mit dichten Schleiern schütz ich mich vor dem Morgenrot: die Sonne sendet Pfeile. Pfeile bringen Tod.64
Dass Schaukal sich in seinem Porträtgedicht auf George bezieht, geht auch aus den Gedichtschlüssen hervor: Während Georges abschließendes Sextett die Möglichkeit ausmalt, der frühverstorbene Infant könne nachts wieder zum Leben erwachen, wenn ihn im gefilterten Mondlicht „eine lichte Elfenmaid […] hole“, invertiert Schaukals Bildgedicht diese virtuelle Belebung. Sein Infant spricht wie ein amoralischer Repräsentant der Renaissance, bevor das abschließende Reimpaar mit der harten Fügung im letzten Vers erkennen lässt, dass das Gedicht bereits der Monolog eines nächtlichen Revenants ist, der wie ein Vampir Schutz vor dem Sonnenlicht sucht. Damit belebt Schaukal die Kunst noch stärker als George in seinen Bildern.
2.1.2. Stimmungspoetische Losung: Peter Altenberg Wenig bekannt ist die Affinität Peter Altenbergs zu Stefan George.65 Immerhin kommt George in Altenbergs autodiegetischer Novelle Paulina (1897) eine wichtige Bedeutung zu: Die handlungsarme Skizzenreihe spielt im Jahr
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Richard von Schaukal: Porträt eines spanischen Infanten von Diego Velasquez. In: R. v. S.: Ausgewählte Gedichte, Leipzig 1904, S. 95. Das Gedicht erschien mit normalisierter Zeichensetzung wieder in Schaukals Bilder (S. 39), danach mit dem geänderten Titel „Bildnis eines spanischen Infanten von Velasquez“. In: Ausgewählte Gedichte, Wien 1924, S. 55. Dabei haben die Zeitgenossen beide Autoren durchaus aufeinander bezogen: Die Jubi läumsausgabe der Fackel 11 (1910), Nr. 300, S. 8–9, konfrontiert Peter Altenbergs Widmung mit dem Faksimile von Schönbergs Vertonung des George-Gedichts „Sprich nicht immer“ (SW III, 89); Hans Leybolds Monografie Wege zu Peter Altenberg in: Die Aktion 5 (1915), Sp. 73–80, bes. 77 ([Auszug] wieder in: Andrew Barker und Leo A. Lensing: Peter Altenberg: Rezept die Welt zu sehen, Wien 1995, S. 291–293), beschreibt Altenberg als Mittler zwischen dem überlebten Realismus und der radikalen „l’art pour l’art“ des „StefanGeorge-Kreis[es]“, da er in seinem Werk die beiden französischen Glaubenssätze zu ihrem Recht kommen lasse: „‚l’œuvre est un coin de la nature‘ und ‚vu à travers un temperament‘“. 1921 konstruiert Thomas Mann in einem Brief über Peter Altenberg eine Verehrergemeinde Nietzsches, die ihn, George und Altenberg einschließt: „Dehmel, George, mein Bruder, Kerr, Altenberg, ich, wir sind die wahren Kritiker und fragmentarischen Verdeutlicher Nietzsches […]“, in: Das Altenbergbuch. Hg. von Egon Friedell, Leipzig, Wien und Zürich 1921, S. 67–77, hier 72; Stefan Großmann berichtet allerdings von „Haßreden“ Altenbergs gegen George, „dessen steinernes Profil, dessen eherne Wirklichkeitsverachtung Altenberg zur Raserei brachte“ (Stefan Großmann: Mit Altenberg. In: S. G.: Ich war begeistert. Eine Lebensgeschichte, Berlin 1931, S. 106–116, hier 108 f.).
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1896 und präsentiert, in fragmentarisch erzählten Stationen66 und im Wechsel zwischen interner und externer Fokalisierung, die allmähliche Entfremdung zwischen der Protagonistin und ihrem Ehemann. Paulina, Tochter aus zweiter Ehe eines reichen älteren Mannes und dessen jugendlicher Frau, ist eine träumerische Existenz auf der Suche nach sich selbst.67 Bereits in jungen Jahren heiratet sie einen Herrn, der sie liebt und pflegen möchte. Sie wird sukzessive zum Liebesobjekt ihrer „jungen Freundin“ Willy Rose und des „jungen Mannes“ Peter A. bzw. „Herr Peter“, in dem sich Peter Altenberg verschlüsselt hat. Diese neuen Wahlverwandtschaften bleiben, ohne dass sie absichtlich betrieben würden, nicht unbemerkt. So äußert sich der Gatte milde zu dem jungen Manne: „Du entführst mir Paulina – –.“ „Wohin – – ?“ sagte der junge Mann. „Ich weiß es nicht – – –.“ Paulina erwiderte: „Beethoven entführte mich und Hölderlin und der Sankt-Wolfgang-See entführte mich […]. Weißt du es jetzt, wohin er mich entführt?!“ „Ich weiß es – – –“, sagte er und legte ihre Hände ineinander.68
An der Entfremdung, die der Gatte als „Ereignis des hundertsten Tages“ explizit konstatiert, haben die Dichtungen Stefan Georges entscheidenden Anteil. Denn das Kapitel „Auslegung“ gilt der sympathetischen Lektüre von Georges Gedicht Jahrestag, dem Eingangsgedicht des Buchs der Hirtenund Preisgedichte. Indem Peter A. die „Traurigkeit“ des Gedichts Paulina in zwei Prosa-Variationen erklärt, wird er für die junge Frau zum „Dichter“ : Der junge Mann las der jungen bleichen Dame vor: „Jahrestag“, von Stephan George. „Wie Sie es lesen – – – !“ sagte sie. „Wie wenn Sie der Dichter wären! Worin besteht die Schönheit dieses Gedichtes?! Ich fühle es nur – – –. Erzählen Sie es mir, bitte – – –.“ Er erwiderte: „In der einfachen Traurigkeit besteht es. Die Bräutigame starben, sagt der Dichter. Die Bräute sagen einfach: ‚Wir wollen am Jahrestage, an der Quelle, wo zwei Pappeln mit einer Fichte in den Wiesen steh’n, im Krug aus grauem Thone Wasser holen.‘“ „Danke – – –“ sagte Paulina. Dann sagte sie: „Worin besteht die Traurigkeit dieses Gedichtes?“
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Peter Altenberg: Paulina. In: P. A.: Ashantee, Berlin 1897, S. 73–113. Zu Altenbergs Aussparungsverfahren vgl. Per Simfors: Extrakte des Schweigens. Zu Sprache und Stil bei Peter Altenberg, Tübingen 2009, bes. S. 172 f. Paulinas Identitätskrise kommt vor allem in dem Kapitel „Horae serenae“ zur Sprache („Sie war nicht sie! Manchesmal suchte sie sich zu suchen“ (Altenberg: Paolina, S. 87), die schließlich in der Einsicht einer allomatischen Selbstfindung aufgehoben scheint: „Um wie viel friedevoller ist es aber, verklärt in einem Anderen sich zu finden, als das erhöhte Dasein seiner selbst vergebens in sich selbst zu suchen“ (ebd., S. 89). Altenberg: Paulina, S. 101.
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„In Nichts. So ist die Traurigkeit. Bethätigungen des Alltag-Lebens, stilles Gedenken beim Wasser-Holen an der Quelle, wo zwei Pappeln mit einer Fichte in den Wiesen steh’n – – –.“ Stille – – –. Paulina beugte sich ein wenig vor, umschloss mit ihren Händen ihre Kniee – –. Dann sagte sie: „Wie Sie es erklären! Man spürt das Traurige. Sie sind eigentlich der Dichter!“ „Jawol. Ich bin der Dichter – – –!“ „Oh – –. Und was ist Stephan George?!“ „Der Dichter!“ „Und ich – –?!“ „Der Dichter! Wir Alle Drei zusammen sind der Dichter!!“69
Der paradoxe Schluss des Kapitels „Auslegung“, das den Autor Stefan George, den Vorleser und Interpreten Peter Altenberg sowie die gerührte Zuhörerin Paulina zu einer dreieinigen Dichterinstanz deklariert, bekundet ein bisher übersehenes Credo Altenbergs zu George. Dass George zum kongenialen Medium für empfindsame Seelen erklärt wird, zeigt kontrastiv das nachfolgende Kapitel „Die Ehe“: Darin überrascht der Gatte seine Frau bei der George-Lektüre, „öffnet[] das Buch und [liest]: ‚Meine weißen Ara haben safrangelbe Kronen‘“70 aus dem Buch der hängenden Gärten. Der Vergleich, den der voreingenommene Erzähler für diesen Leseakt des Ehemanns findet – „wie wenn Graf Raimund von Poitiers Melusinen überraschte in ihrem heiligen Elemente!“ – stilisiert die Entfremdung zwischen den Eheleuten zu einer Profanation; und die kritische Frage des Gatten – „Übrigens, es ist ungesund, träumerisch. Worin besteht die Schönheit dieses Gedichtes, bitte?!“71 – vertieft nur die Kluft, die durch die Differenz von äußerlicher Zärtlichkeit und innerlichem Anderssein betont wird. So erweist Altenbergs Novelle Paulina, dass George im Jungen Wien als Kronzeuge seelischer Verfeinerung und mittelbarer Kommunikation galt.72 In einem späteren Rezeptionszeugnis, der autofiktionalen Prosaskizze Besuch, ironisiert Altenberg die Suche nach Seelenverwandtschaft eines 69 70 71 72
Altenberg: Paulina, S. 102 f. Altenberg: Paulina, S. 104. Altenberg: Paulina, S. 104 f. – Der Vergleich mit der ‚Martenehe‘ im Melusinenmythos illustriert die Fremdheit der Eheleute im Sinne einer ontologischen Alterität. Dass die Stilisierung Georges zum Inbegriff eines prekären Ästhetizismus Altenberg zugeschrieben wurde, bezeugt auch die Hommage von Bob (Ps.?): Türlütütü. Peter Altenberg dargebracht. In: Die Jugend 4 (1899), Bd. 1, Nr. 7, S. 105. Darin wird eine leichte Unausgeglichenheit („eine süßlila Mattigkeit“) der fünfzehnjährigen Titelheldin mit dem Konsum unverträglicher leiblicher wie kultureller Genüsse verglichen: „Es war wie ein ganz, ganz leiser, disharmonischer Schmerz. Etwas, wie wenn man zuerst Gurkensalat gegessen und dann Mascagni gehört und dann Stefan George gelesen hat – – – –“.
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befreundeten „Doctor philosophiae aus Heidelberg“. Dieser erhofft sich Heilung von seiner „tief deprimierte[n] Stimmung“ in den Bergen, jedoch nicht von der Natur, sondern von einer Dame, „mit der man stundenlang über Ibsen, Hofmannsthal, Stefan George und ähnliche Geschöpfe seine endgültigen Ansichten los werden“ könne. Obschon Altenberg „zufälligerweise gerade jetzt drei solcher Damen hier auf Lager habe, leider aber jede in einem anderen Berghotel“, kommt es nicht zu dem erhofften philosophischen Gespräch, da der Doktor schon am ersten Abend betrunken ist.73 Möglicherweise reagiert Altenberg mit dem avisierten, aber nicht stattfindenden Gespräch über George ironisch auf einen Essay Emil Luckas, der in Altenberg und George die beiden extremen Kombinationen repräsentiert sieht, „die Inhalt und Form miteinander eingehen können“: Verkörpere George das Extrem der inhaltsverzehrenden Form, so seien Altenbergs Skizzen „formloser Inhalt“.74
2.1.3. Camouflierte Ambivalenz: Leopold von Andrian Etwas überschätzt werden allgemein die George-Bezüge bei Leopold von Andrian zu Werburg, neben Hofmannsthal der einzige Vertreter des Jungen Wien, von dem Beiträge in den Blättern für die Kunst erschienen.75 Der Kontakt war von Andrian ausgegangen, wohl vermittelt durch seinen Freund Clemens von Franckenstein oder durch Hofmannsthal, den er im Spätherbst 1893 kennengelernt hatte.76 Im September 1893 hatte Andrian der Blätter-Redaktion „ein kurzes Gedicht“ eingesandt, dem er im Oktober noch „einige andere Bruchstücke aus [s]einer Dichtung“ folgen ließ.77 Für Clemens von Franckenstein als Mittler spricht, dass dieser sich 1893 bei Andrian erkundigt, ob der Herausgeber „Karl August Scheißeviel Klein“ schon geantwortet habe.78 Einen Einfluss Georges lässt jedoch Andrians schmales 73 74 75 76 77 78
Peter Altenberg: Besuch. In: Der Sturm 3 (1912/13), S. 2. Emil Lucka: Extreme. In: Erdgeist 3 (1908), S. 505–507. Vgl. dazu Lea Marquart: Andrian zu Werburg, Leopold Ferdinand Freiherr von. In: GHb III, S. 1257–1260. Vgl. Walter H. Perl (Hg.): Leopold Andrian und die „Blätter für die Kunst“, Hamburg 1960, S. 9. Leopold von Andrian (Wien) am 7.10.1893 an Klein. In: Perl: Andrian und die BlfdK, S. 23. Clemens Franckenstein (Wien) an Leopold von Andrian, im Jahr 1893. DLA, A: Andrian, 2260. Franckenstein, der sich „Clé“ abkürzt, nennt Andrian „Leopoldo Mugnone“, „Po“, „Poldy“ („Poldi“) oder „Freund“. Eine zuverlässige Werkausgabe fehlt noch, da der Band Leopold von Andrian (1875–1951). Korrespondenzen, Notizen, Essays, Berichte. Hg. von Ursula Prutsch und Klaus Zeyringer, Wien, Köln und Weimar 2003, zum einen viele bereits edierte Texte versammelt und zum andern ziemlich lückenhaft bleibt, auch wenn er die nationalkonservativen Aktivitäten Andrians erstmals breiter dokumentiert. Die George-
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poetisches Werk kaum erkennen. Vielmehr tritt die ästhetische Dissonanz zwischen dem Symbolismus des George-Kreises und dem psychologischen Realismus Andrians bereits mit dem Beginn der Beziehung zutage. Auf dieser Differenz gründet auch Kleins kritische Frage, ob Andrian „worte wie ‚blasiert‘, nennung eines stadtnamens (Wien), dirnen etc. … nicht lieber durch andre ersetzen [wolle] die zu dem sonst so aristokratischen ton weniger kontrastieren. Man soll solche dinge herausfühlen ohne dass sie dastehn, ist doch überhaupt jedes zu aktuelle jedes zu wissenschaftliche jedes ersetzbare fremde wort der ruin des besten gedichtes“.79 Umgekehrt bewunderte Andrian zwar „beim Stefan George schöne Sachen“, bemängelt aber am Gedicht Hochsommer (SW II, 22): „Nur Reime wie ‚rühmen‘ und ‚parfümen‘ stieren mirs.“80 Das Gedicht „Sie schwieg und sah mit einem Blick mich an“, das mit dem von Andrian gewünschten Zusatz „(aus dem ‚Buch der Traurigkeit‘)“ in die zweite Folge der Blätter für die Kunst aufgenommen wurde, zeigt dessen ästhetische Eigenheit exemplarisch.81 Die Chevy-Chase-Strophe, die den metrischen Rahmen bildet, wird in der Eingangs- und Schlussstrophe des siebenstrophigen Gedichts stark variiert, eine für George und seinen Kreis untypische Relativierung der metrischen Form. Die erste Strophe schildert den seelenvollen Blick einer Frau, den die nachfolgenden sechs Strophen mit einer mystischen Entgrenzungserfahrung im
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Rezeption ist in diesem Band fast ausschließlich für die Zeit nach 1945 dokumentiert, als Andrian in seinem Aufsatz Erinnerungen an meinen Freund [Hofmannsthal] (1947/48) (Vorstufe und Entwurf des Manuskripts ebd., S. 779–797) auf Georges Homosexualität als Grund der Entfremdung anspielte („Antipathie gegen den Menschen und Homosexuellen“, ebd., S. 779), was nur „neuen Stoff zu der alten Missdeutung liefer[e]“, wie ihm der GeorgeVerehrer Hermann Bodeck vorhält (vgl. ebd., S. 822). Carl August Klein an Leopold von Andrian, 2.1.1894. In: Correspondenzen. Briefe an Leopold von Andrian 1894–1950, Nr. 2. Hg. von Ferruccio Delle Cave, Marbach/N. 1989, S. 13. Leopold von Andrian [wohl im Januar] 1894 an Hugo von Hofmannsthal. In: Briefwechsel. Hugo von Hofmannsthal, Leopold von Andrian. Hg. von Walter H. Perl, Frankfurt/M. 1968, S. 20 [‚stieren‘, Austriazismus mit Dativ gebraucht für „ärgern“]. Andererseits ist Andrians Verhältnis zu George, wohl auch im Bunde mit Hofmannsthal, durchaus kompetitiv, wie folgende Tagebuchnotiz vom 3.2.1894 zeig: „H. Hofmannsthal: Ich glaube schon, daß wir mehr werden, wie Dehmel oder Stefan George, – aber davon haben wir noch nicht viel.“ (vgl. Perl: Andrian und die BlfdK, S. 117). Leopold von Andrian: „Sie schwieg und sah mit einem Blick mich an“. In: BlfdK 2 (1894/95), Bd. 1, S. 17 f., wieder in: Perl: Andrian und die BlfdK, S. 62 f. Die Varianten zeigen, wie Klein /George rhythmische Unregelmäßigkeiten, etwa der beiden Schlussverse, reduzierten: Hieß es in dem eingesandten Manuskript noch: „Und nur aus einer goldnen, müden, weiten Glorie / zwei rätselhafte Augen tief ins Herz uns schauen“] heißt in der Blätter-Version: „Und nur aus einer goldnen weiten glorie / zwei rätselhafte augen in uns schaun“. Andrian verteidigt in seiner Antwort aus Wien am 24.1.1894 an Klein seine „metrische[n] Unregelmäßigkeiten“; so sollten die „5- od. 6-füßigen Jamben am Schluß Leben in die etwas monotonen 4-Füßler bringen und außerdem wirken sie wie ein letzter müder Aufschrei der Stimmung, die sterben soll“ (ebd., S. 28 f.).
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Dämmer einer Kirche vergleichen. Eine solche Verselbständigung des Vergleichs zur Allegorie, wie sie auch bei Hofmannsthal zu findet ist (Terzinen), nahm George ebenso als Ausdruck symbolistischer Gemeinsamkeit hin wie die Pars pro toto-Technik im Gedicht Eine Locke, die aus einer einzelnen Locke den Reiz ihrer Besitzerin rekonstruiert.82 George förderte Andrian wohl auch aus literaturpolitischen Motiven. Einerseits stärkte er damit das Bündnis mit Hofmannsthal, andererseits relativierte er es zugleich.83 Anders als in seinen Briefen an George, den er durchgängig als „lieber Meister“ apostrophiert, äußert Andrian in anderen Korrespondenzen und im Tagebuch eine unverkennbare Antipathie: Schon von der ersten persönlichen Begegnung, zu der es im Februar 1894 in München kam, war Andrian enttäuscht. Er fand George „wie einen alternden Hermaphroditen aussehend […] und wieder wie einen Schauspieler. Dann spricht er ein unsympathisches Deutsch“.84 Als Andrians Erzählung Der Garten der Erkenntnis (1895) zu einem Kultbuch der Wiener Moderne wurde und den Autor bekannt machte, suchte ihn George stärker für sich zu vereinnahmen.85 Dagegen pochte Andrian zunehmend auf seine poetische Selbständigkeit und verwahrte sich gegen die Korrekturen, die George und Klein an seinen Einsendungen vornahmen. Obwohl insgesamt nur neun Gedichte Andrians in den Blättern für die Kunst erschienen sind – neun weitere eingesandt, aber nicht aufgenommen wurden –, beschwerte er sich heftig über unzulässige redaktionelle Eingriffe. Der Streit gipfelte in Kleins unautorisiertem Abdruck von Andrians frühem Sonnett („Ich bin ein Königskind“), gegen den dieser sogar gerichtlich vorgehen wollte.86 Zwar besänftigt
82 Vgl. BlfdK 2 (1894/95), Bd. 3, S. 83 f. 83 Hofmannsthal fungiert, wenn nicht schon von Anfang an, als Mittler und Fürsprecher Andrians bei George. So ermahnt er Andrian im Herbst 1896, George endlich „einige ältere Gedichte“ zuzuschicken, die er „durch mich“ [Hofmannsthal] den „Blättern für die Kunst vor einigen Monaten“ hat „anbieten lassen“ (Perl: Briefwechsel, S. 77 f., hier 78). Und noch am 10.10.1897 wünscht sich Andrian aus Baden-Baden von Hofmannsthal „schöne Sachen zum Lesen“, unter anderem „die gesammelten Verse von St. George“ (ebd., S. 92). 84 Andrian (Nizza) an Hofmannsthal, 15.2.1894. In: Perl: Briefwechsel, S. 21 f., hier 21. Andrians Tagebuch-Eintrag vom 10.2.1894 benutzt ähnliche Wendungen: „Unheimlich – hermaphroditisches Äußere […]. Ich weiß nicht, aber der Stefan George macht mir den unangenehmen Eindruck eines kleinen Schauspielers“ (Perl: Andrian und die BlfdK, S. 117 f.). 85 George widmete Andrian das Gedicht Den Brüdern in den Liedern von Traum und Tod (SW V, 71) bzw. Erwin, dem Protagonisten von Andrians Novelle Garten der Erkenntnis, das Gedicht Bozen: Erwins Schatten in den Tafeln des Siebenten Rings (SW VI/VII, 179). 86 Leopold von Andrian: Sonnett. In: BlfdK 4 (1897/99), Bd. 1–2, S. 30. Vgl. Andrian (Alt-Aussee) an George, am 21.7.1898. In: Perl: Andrian und die BlfdK, S. 44 f. Andrian rügt darin das „ungeziemende Vorgehen“ auch, weil er durch den Abdruck seines „1893 verfaßte[n] Sonetts seinen Ruhm gefährdet sieht, den er 1895 mit dem „nicht unberühmten ‚Garten der Erkenntnis‘“ errungen habe, „der mir manche Freunde gemacht hat, die das Erscheinen eines solchen Gedichtes befremden und verwirren muß […]“.
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ihn George im August 1898 „als freund langer Jahre“, und auch Franckenstein beruhigt seinen „lieben Poldi“: Der Stefan George war wieder bei mir: er hat sich sehr nach dir erkundigt u. scheint dich sehr gern zu haben. Er sprach mir von Versen die du ihm im Sommer geschickt hast, die er demnächst publizieren will.87
Als Georg Bondi im Jahre 1904 Andrians Frühe Verse verlegte, war mit dessen versiegender poetischer Produktivität, die er George selbst am 1. März 1900 eingestand, die Beziehung schon beendet.88 Auch wenn er George und dessen Kreis gegenüber immer distanziert blieb, so spricht eine nachgelassene Widmung Andrians an Stefan George aus dem Jahre 1930 („Stefan George / als Zeichen herzlich-ehrfurchtsvoller Gesinnung / überreicht / von / Leopold Andrian / 24. Oct. [19]30“) für seine Einsicht in die ästhetische Asymmetrie des Verhältnisses.89
2.1.4. Literaturpolitisches Interesse: Hermann Bahr und Paul Wertheimer Erstaunlich zurückhaltend über Stefan George, den er wohl nicht persönlich kannte, äußerte sich Hermann Bahr.90 Ob die Bitte des verängstigten Hofmannsthal am 14. Januar 1892, Bahr möge ihn vor den Zudringlichkeiten Georges schützen, der „unaufhörlich in [s]eine Wohnung“ komme und ihm „Drohbriefe schreib[e]“, zu einem Zusammentreffen führte, ist nicht
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Clemens Franckenstein (Frankfurt/M.) an Leopold von Andrian, [im Sommer] 1898. DLA, A: Andrian, 587. Leopold von Andrian (Wien) an Stefan George, 1.3.1900. In: Perl: Andrian und die BlfdK S. 52 f. Andrian schreibt, Georges Widmungsgedicht Den Brüdern verlange „eine Antwort in Versen. Aber dieses Antwort-Gedicht kann ich nicht schreiben, weil mir der Drang oder die Gabe, in Worten zu schaffen […], verloren gegangen ist. Über den Inhalt Ihres Gedichtes, und über die Stimmung, welches es in mir erregt hat, kann ich also nichts sagen“ (ebd., S. 52; Hervorhebung im Original). In seinem letzten Brief an George aus Athen am 5.2.1902 verspricht Andrian „[s]ein[em] liebe[n] Meister“, dass „auf immer, seine Theilnahme für ihn gesichert worden, durch den Eindruck, den mir Ihre schöne Dichtung gegeben hat […]“ (ebd., S. 53). DLA, A: Andrian, 635. Worauf sich die Widmung bezieht, ist allerdings unklar. Beide waren 1889 in Paris, ohne dass es dort zu einer Begegnung gekommen ist. Unbeachtet blieb bisher, dass Hermann Bahr sich in einem Brief an Carl August Klein vom 13. Mai 1895 positiv über die Blätter für die Kunst äußert, die er „regelmäßig bei Hofmannsthal lese“ und die seiner Meinung nach „für den Begriff der reinen Kunst in Deutschland gut wirken. In diesem Sinne habe ich ihrer in meinem Blatte [scil. Die Zeit] auch öfter Erwähnung gethan und möchte das gerne, wenn Sie mir sie regelmäßig senden, auch in Zukunft“. StGA, Blätter III, 28.
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bezeugt.91 In den programmatischen Schriften, die Bahr als Wortführer der Wiener Moderne in den 1890er Jahren veröffentlichte, finden sich nur gelegentliche unverbindliche Äußerungen zu George.92 So nennt Bahr in der Rezension einer Graphischen Ausstellung (1899), welche die Graphik als zeitgemäße Kunstform für die Disproportion des „Innere[n] mit dem Äußeren des Lebens“ aufwertet, George als Beispiel „eine[r] neue[n], edlere[n] und geistigere[n] Form der deutschen Cultur“.93 Zuvor hat sich Bahr nur zwei Mal öffentlich auf George bezogen: In seiner Lobrede auf Liliencron (1898) rechnet er George neben Dehmel und Hofmannsthal zu den wichtigsten Dichtern der Zeit,94 und in seinem programmatischen Décadence-Essay, in dem er die Wirklichkeitsflucht als Symptom der ästhetischen Avantgarde diagnostiziert, rechnet er ihn auch dieser internationalen Bewegung zu: „Die Kunst darf dem Leben nicht folgen. […] Das ist das Programm. Der Graf Montesquiou und der Däne Herman Bang und der Deutsche Stefan George würden nicht zögern, es zu zeichnen“.95 In einer weiteren Erwähnung aus der Vorkriegszeit stilisiert Bahr den George-Kreis zu einer Gegenkraft der modernen Technik: „Wir ersticken an dieser zum Bersten aufgestauten Technik. Indessen hüten der Bayreuther Kreis und die um Stefan George die Erinnerung an das, was Kunst dem Menschen sein kann. […] Die ganze Zeit steht in Bereitschaft. Es müßte jetzt nur auch wieder einmal eine Jugend kommen“.96 Angesichts der spärlichen öffentlichen Erwähnungen Georges ist der längere Eintrag Bahrs am 7. Januar 1896 in seinem Skizzenbuch unter dem Rubrum „Über Stefan George“ umso bemerkenswerter.97 In diesem ‚verborgenen‘ Dokument entwickelt Bahr am Beispiel der Person Georges
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Hugo von Hofmannsthal an Hermann Bahr, 14.1.1892. In: Dangel-Pelloquin: Briefwechsel 1891–1934, Bd. 1, S. 31. Immerhin hat Hermann Bahr mit seinem Lob „der reinen hohen Bestrebung“ den österreichischen Dichter Paul Wertheimer inspiriert, der am 2. Mai 1895 sich an die Blätter-Redaktion wendet, um „Verse zu senden“. StGA, Blätter III, 415. Hermann Bahr: Graphische Ausstellung (1899). In: H. B.: Secession (1900). Kritische Schriften VI. Hg. von Claus Pias, Weimar 2013, S. 109–123, hier 113. Hermann Bahr: Liliencron. In: Die Zeit 182 (1898), S. 200 f., hier 201: „Seitdem sind Dichter gekommen, die mehr Künstler und reiner sind als er [Liliencron]: Richard Dehmel, Stefan George und unser Hofmannsthal. Aber er ist doch der erste gewesen; den heiligen Rausch, den er unseren jungen Seelen gegeben hat, werden wir von keinem mehr haben“. Hermann Bahr: Décadence. In: H. B.: Renaissance (1897). Kritische Schriften V. Hg. von Claus Pias, Weimar 2013, S. 1–8, hier 6. Hermann Bahr: Inventur der Zeit, Berlin 1912, S. 10. Hermann Bahr: 7. Januar [1896]. Über Stefan George. In: H. B.: Tagebücher, Skizzenbücher, Notizhefte, Bd. 2 (1890–1900). Hg. von Moritz Csáky, Wien, Köln und Weimar 1996, S. 200 f. Die übrigen Erwähnungen Georges in Bahrs Tagbüchern bleiben ähnlich unspezifisch wie die spärlichen publizierten Verlautbarungen.
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allgemeine Überlegungen zum Wandel der Dichter-Auffassung in der Moderne. Die Gegenwart assoziiere einen „geistreichen, in Künsten und Listen geübten Mann […], der tiefe, ja heilige Sinn ist verloren gegangen“.98 Auch wenn sich Bahrs Reflexion sukzessive von George löst, ist George der Kronzeuge für eine unzeitgemäße Auffassung des Dichters als „ein edles Gefäß, der [!] die guten Gaben der Nation trägt“.99 In der notwendigen Entsubjektvierung, „bis aus seiner Kapsel das Gemeinsame springt“, speist sich einerseits die Vorstellung einer nationalen Vergemeinschaftungsfunktion des Dichters, andererseits die Präsenz einer dionysischen Existenz: „So sehen wir den dionysischen Menschen: entsetzt, besessen, begeistert. Der eigenen Launen ist er entsetzt; der große Geist, der in allem ist, besitzt ihn. Er schüttelt sich, springt und schlägt um sich. […] Eine edle Kehle des Volkes“.100 Bahrs Nobilitierung und Heroisierung des Dichters, die von George ihren Ausgang nimmt, kommt Carlyles Idee des Schriftstellerhelden nahe, wie sie auch der George-Kreis propagierte.101 Unbemerkt blieb, dass auf der frühen Skizze Hermann Bahrs später Essay Stefan George – zum 60. Geburtstag beruht.102 Ausgehend von der Differenz der hohen Reputation, die George im Jahre 1928 genießt, und der Reserve des Lesepublikums („man bewundert [ihn] laut und langweilt sich dabei im stillen“), würdigt Bahr darin Georges poetische und metapoetische Bedeutung im Vergleich mit Paul Valéry. Ganz im assertorischen Stil der frühen Skizze erläutert Bahr am Beispiel Georges das „Amt“ des Dichterhelden: „Dichten heißt einen Sinn verkünden: der Mund des Dichters gibt der Sendung einer Zeit das Wort“.103 Auch wenn Bahr die Metaphorik der Skizze abschwächt und das „dionysische“ Moment ungenannt bleibt, kommt in der Figur der „Evokation“ das religiöse Moment insofern doch noch vor, als „das Wort des Dichters […] zu lebendigem Dasein erwecken“ soll.104 Auch die nationale Sendung, die in der Tagebuch98 99 100 101
Bahr: Über Stefan George, S. 200 f. Bahr: Über Stefan George, S. 200 f. Bahr: Über Stefan George, S. 200 f. Bahr nennt den Namen Carlyles kurz danach in seinem Skizzenbuch (Bahr: Über Stefan George, S. 208). Vgl. dazu Eric Russell Bentley: Modern Hero-Worship: Notes on Carlyle, Nietzsche, and Stefan George. In: The Sewanee Review 52 (1944), S. 441–456. 102 Hermann Bahr: Stefan George – zum 60. Geburtstag. In: Das deutsche Buch 8 (1928), Nr. 5/6, S. 137–141, hier 137; wieder in: H. B.: Labyrinth der Gegenwart, Hildesheim 1929, S. 38–44. Neben der dreiteiligen Disposition der Skizze (Dichter als Künder, als „Gefäß“ und Sprecher einer göttlichen Instanz) greift Bahr auch das Verhältnis des Dichters zu Sprache auf. Heißt es in der Skizze knapp: „Die Worte (vgl. Grimm) sind stärker als er. Die Worte kommen aber von keinem einzelnen her, aus dem tiefsten Schachte des Volkes steigen sie auf“ (Bahr: Tagebücher, S. 200), führt der Essay den Gedanken aus: „Wie seit Jacob Grimm kein anderer mehr, hört ja dieser Jüngling den Worten ihren Urlaut an, er stellt den Adel unserer Muttersprache wieder her […]“, in: Bahr: Stefan George, S. 137 f. 103 Bahr: Stefan George, S. 138. 104 Bahr: Stefan George, S. 139.
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Skizze relativ unverblümt dargestellt ist, relativiert Bahr, indem er ausführlich Josef Nadlers Kritik an der Widersprüchlichkeit des Dichters „George vor dem Kriege“ zitiert: „‚Unheimlich deutschfremd, so deutsch sie geworden ist, tritt diese Gestalt in Erscheinung‘“.105 Mit dem prophetischen Zitat aus Georges Sprüchen an die Toten („Wenn je dieses volk sich aus feigem erschlaffen / Sein selber erinnert der kür und der sende:“) stellt Bahr die fast rhetorische Frage, ob die von Nadler diagnostizierte Widersprüchlichkeit „auch heute noch“ gelte. Indem Bahr die Gruppe der Dichter, die „in Georges zeichen stehen“ mit Hofmannsthal beginnen und mit Borchardt enden lässt, geht er über den engeren Kreis hinaus und verallgemeinert so die Dichterfigur, die er an George profiliert.106 Der durch Hermann Bahr für Stefan George begeisterte Dichter Paul Wertheimer sandte im Jahre 1895 mehrere Gedichte an die Blätter-Redaktion, doch ist keines davon dort gedruckt worden. Sie stehen sprachlichstilistisch durchaus den impressionistischen Stimmungsbildern der Wiener Moderne nah, imitieren aber auch Georges Lyrik; so entwirft das Gedicht Faune die mythische Überformung einsamen Erlebens ganz im symbolistischen Stil. Als Beleg seien die ersten vier der acht Kurzstrophen in jambischen Zweihebern zitiert, da sie die Charakteristika von Wertheimers Lyrik illustrieren: tages- und jahreszeitliche Übergänge wie Dämmerung und Herbst, eine Erinnerung des Erlebens, Personifikationen, Mythisierung und Erotisierung der Natur: Faune Der Abend leise Den See umwebt; Eine Sehnsucht-Weise Darüber bebt. Aus der Seele Wellen – O werther Schwarm – Meine Träume quellen, Mich schauert’s warm. Traum-Augen erglänzen In zärtlichem Drang; Sie schweben in Tänzen, Sie athmen bang.
105 Bahr: Stefan George, S. 140. 106 Bahr: Stefan George, S. 141.
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Sie lösen die Locken, Dunkel und gold; Die Reden flocken, Der Tag verrollt.107
Wie sehr Wertheimer von George inspiriert wurde und wie er zugleich der Schule des Jungen Wien verpflichtet bleibt, zeigt exemplarisch sein Gedicht Der Teppich:108 Zwar überbietet Wertheimers zwanzigversiges, strophisch ungegliedertes Gedicht quantitativ Georges vierstrophigen Teppich (SW V, 36). Aber er übernimmt die poetische Strategie einer Belebung der eingewebten Ornamente. Der poetologische Bezug muss bei George erschlossen werden, während ihn Wertheimer ausdrückt, wenn er vom „Gold“ spricht, das „in mein Lied gewoben“ ist (V. 1), und vom „weichen Teppich meines Liedes“ (V. 6). Wo bei George die Belebung und Epiphanie der Teppich-Gestalten zur elitär-esoterischen Erfahrung stilisiert werden („Sie wird den seltnen selten im gebilde“ [SW V, 36, V. 16]), dient der Teppich bei Wertheimer dem Mysterium unterschiedlicher erotischer Erfahrungen und Phantasien.109
2.1.5. Wechselseitige „Begeisterung“: Hugo von Hofmannsthal Die Faszination und die produktive Anregung, die von Stefan George auf die junge Dichtergeneration in Wien ausgingen, zeigen sich exemplarisch in der Begegnung mit Hugo von Hofmannsthal. Zugleich bildet diese literarund wirkungsgeschichtlich bedeutendste Freundschaft Georges eine Ausnahme. Denn während er sonst von sich aus kaum Kontakt zu Schriftstellern suchte, stellte er im Dezember 1891 im Wiener Café Griensteidl selbst die Verbindung zu dem noch nicht 18-jährigen Hugo von Hofmannsthal her.110 Diese Begegnung, die er rückblickend als Einschnitt in seiner dichteri107 Paul Wertheimer: Faune, Ms. StGA, Blätter I, 2922. 108 Paul Wertheimer: Der Teppich. In: Deutsche Dichtung 29 (1900–01), S. 287; wieder in: P. W.: Neue Gedichte, München und Leipzig 1904, S. 1, das dort als „Prolog“ fungiert. 109 Wertheimer: Der Teppich: „In des Teppichs mattem Lichtgewebe: / Frauen mit dem lässigmüden Gange, / Frauen mit den zierlich-leichten Tritten, / Alle, die ob meinem Träume schwebten, / Hat der Teppich heimlich aufgenommen –“ (ebd., V. 11–15). 110 Martin Stern sieht in Stefan Georges „ausschließlicher Festlegung auf Lyrik“ einen Grund seiner selektiven Rezeption im Jungen Wien (Hofmannsthal, Andrian), vgl. Stern: „Poésie pure“, S. 1457–1469. Die Chronologie der Beziehung, ohne dem komplexen Dialog gerecht zu werden, beschreibt Thomas Karlauf: George und Hofmannsthal. In: Sinn und Form 59 (2007), S. 75–89; wieder in: T. K.: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma, 2. Aufl., München 2007, S. 38; aufschlussreicher zur literarhistorischen Konstellation vgl. die Bei-
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schen Entwicklung erachtete („ich fühlte mich selbst in mir“111), verarbeitete Hofmannsthal in dem bedeutenden Gedicht Einem, der vorübergeht („im december 1891“), das er „Herrn Stefan George“ widmet: Du hast mich an Dinge gemahnet Die heimlich in mir sind, Du warst für die Saiten der Seele Der nächtige flüsternde Wind Und wie das rätselhafte, Das Rufen der atmenden Nacht, Wenn draußen die Wolken gleiten Und man aus dem Traum erwacht: Zu weicher blauer Weite Die enge Nähe schwillt Durch Pappeln vor dem Monde Ein leises Zittern quillt …112
Das dreistrophige Gedicht, das aus einem einzigen Satz besteht, huldigt einerseits der mäeutischen Wirkung Georges, betont aber andererseits die Eigenständigkeit der durch ihn zutage geförderten poetischen Inspiration.113 So apostrophiert nur die Eingangsstrophe das ‚Du‘, distanziert es zugleich aber zeitlich durch Vergangenheitsformen und zwei autonome Vergleiche, die eine poetische Inspiration schildern wie verbürgen. Ein umfangreicher früherer Entwurf markiert in der Partizipialform des Titels „Einem Vorübergehenden“ den Prätext noch deutlicher: Einer Vorübergehenden,
träge von Manfred Koch: Hofmannsthal, Hugo von. In: GHb III, S. 1445–1455, und Jens Rieckmann: Hugo von Hofmannsthal und Stefan George. Die Signifikanz einer Episode aus der Jahrhundertwende, Tübingen und Basel 1997; die Kreis-Perspektive berücksichtigt Gunilla Eschenbach: Imitatio im George-Kreis, Berlin und New York 2011, bes. S. 241–257 („Kritik am abgefallenen Dichter“); dagegen vereinseitigt die neuere Studie von Vahidin Preljević: Herrschaft über das Leben? Zu Distanzkonzepten der ästhetischen Moderne am Beispiel von Hugo von Hofmannsthals Auseinandersetzung mit Stefan George. In: Nähe und Distanz. Eine grundlegende Dichotomie in der österreichischen Literatur der Moderne. Hg. von V. P. und Clemens Ruthner, Würzburg 2020, S. 11–33, die „ästhetischen Distanzspiele“ als Erklärung der komplexen Beziehung. 111 Hugo von Hofmannsthal an Walther Brecht, 20.1.1929. In: G/H, S. 234–236. 112 Hugo von Hofmannsthal: Einem, der vorübergeht. In: H. v. H.: Sämtliche Werke, Bd. 2: Gedichte 2. Hg. von Andreas Thomasberger, Frankfurt/M. 1988, S. 60. Kommentar und Entwurf S. 281–285; vgl. dazu Andreas Thomasberger: Verwandlungen in Hofmannsthals Lyrik. Zur sprachlichen Bedeutung von Genese und Gestalt, Tübingen 1994, S. 79–102; Rieckmann: Hugo von Hofmannsthal und Stefan George, S. 28–30. 113 Vgl. dazu Robert Vilain: The Poetry of Hugo von Hofmannsthal and French symbolism, Oxford 2000, S. 194–197.
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Georges Umdichtung von Baudelaires À une passante.114 Zwar bekundet auch der Entwurf schon im Gestus der Hommage das Transitorische der Begegnung, ruft aber gleichzeitig das ‚Du‘ noch in jeder Strophe an. Hofmannsthal gab aus „wachsender Angst“ um seine poetische Autonomie bald dem „Bedürfnis den Abwesenden zu schmähen“115 nach und verarbeitete diese Ambivalenz in einem zweiten Gedicht auf George: Der Prophet In einer Halle hat er mich empfangen Die rätselhaft mich ängstet mit Gewalt Von süßen Düften widerlich durchwallt. Da hängen fremde Vögel, bunte Schlangen. Das Thor fällt zu, des Lebens Laut verhallt Der Seele Athmen hemmt ein dumpfes Bangen Ein Zaubertrunk hält jeden Sinn befangen Und alles flüchtet, hilflos, ohne Halt. Er aber ist nicht wie er immer war, Sein Auge bannt und fremd ist Stirn u!nd" Haar. Von seinen Worten, den unscheinbar leisen Geht eine Herrschaft aus und ein Verführen Er macht die leere Luft beengend kreisen Und er kann tödten, ohne zu berühren.116
In diesem Sonett wird George als lebensfeindlicher Zauberer exotisch verfremdet und dämonisiert. Die Distanzierung der Begegnung gelingt nur im Perfekt des ersten Verses. Im Fortgang vergegenwärtigen die Detaillierung, der Verlust des ‚Ich‘, das nach den ersten beiden Versen nicht mehr vorkommt, und die Dominanz des bedrohlichen ‚Er‘ im Sextett die beängstigende Wirkung. Doch ist die Ambivalenz der Beziehung nicht zu übersehen. Denn die übertriebene Abwehr in den abgesetzten Schlussversen, die
114 SW XIII/XIV, 119. Vgl. dazu GHb I, 2.11.2., und Angelika Corbineau-Hoffmann: „… zuweilen beim Vorübergehen… “. Ein Motiv Hofmannsthals im Kontext der Moderne. In: Hofmannsthal-Jahrbuch 1 (1993), S. 235–262. Vgl. dazu auch Chong Shen: Ennui, Epiphanie, Mnemopoesie. Poetologische Konzeptionen des Vorübergehens bei Stefan George und Hugo von Hofmannsthal, Würzburg 2021, der im ersten Teil Georges Verwandlung des Motivs des Vorübergehens bis zur Begegnung und Vergottung Maximins verfolgt. 115 Hugo von Hofmannsthal: Aufzeichnungen aus dem Nachlass 1891. In: H. v. H.: Gesammelte Werke, Bd. [10]: Reden und Aufsätze III: 1925–1929. Hg. von Bernd Schoeller und Ingeborg Beyer-Ahlert, Frankfurt/M. 1980, S. 341. 116 Hugo von Hofmannsthal: Der Prophet. In: H. v. H.: Sämtliche Werke, Bd. 2: Gedichte 2. Hg. von Andreas Thomasberger, Frankfurt/M. 1988, S. 61.
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pointiert nur auf das destruktive Potenzial des ‚Er‘ abheben, verrät zugleich den Versuch des Ich, sich von dem übermächtigen Einfluss zu befreien. Einen ästhetischen Höhepunkt erreicht Hofmannsthals lyrische George-Rezeption in dem Sonett Mein Garten, mit dem er auf die Lektüre des Algabal-Manuskripts im Januar 1892 reagiert: Mein Garten antwortet unverkennbar auf das programmatische Rollengedicht aus dem „Unterreich“ des Algabal „Mein garten bedarf nicht luft und nicht wärme“ (SW II, 63). Mein Garten Schön ist mein Garten mit den gold’nen Bäumen, Den Blättern, die mit Silbersäuseln zittern, Dem Diamantenthau, den Wappengittern, Dem Klang des Gong, bei dem die Löwen träumen, Die ehernen, und den Topasmäandern Und der Volière, wo die Reiher blinken, Die niemals aus dem Silberbrunnen trinken … So schön, ich sehn’ mich kaum nach jenem andern, Dem andern Garten, wo ich früher war. Ich weiß nicht wo … Ich rieche nur den Thau, Den Thau, der früh an meinen Haaren hing, Den Duft der Erde weiß ich, feucht und lau, Wenn ich die weichen Beeren suchen ging … In jenem Garten, wo ich früher war …117
Das Sonett zitiert im Titel das Incipit von Stefan Georges Rollengedicht. Auch Hofmannsthals lyrisches Ich rühmt sich wie Algabal als Gestalter eines künstlichen Gartens. Die Oktettgrenze rahmt mit anaphorisch markierten Tonbeugungen („Schön“ und „So schön“, Verse 1 und 8) die hypotaktische Aufzählung der Elemente des künstlichen Gartens, der aber mit seinen Metallbäumen, Preziosenelementen und Gartenskulpturen optisch reicher und vielgestaltiger ist als Algabals dunkles Unterreich. Doch mit der Erinnerung an den epiphorisch gerahmten anderen „Garten, wo ich früher war“ (Verse 9 und 14) gerät das lyrisch Ich sprachlich ins Stammeln. Der natürliche Garten der Kindheit unterscheidet sich nicht nur in seiner stockenden Syntax, den Aposiopesen und Wiederholungsfiguren vom künstlichen Garten der Gegenwart, er spricht nicht nur den optischen Sinn an, sondern bietet vielmehr taktile und olfaktorische Wahrnehmungen, die noch präsent sind („Den Duft der Erde weiß ich“) und das lyrische Ich sich selbst erfahren lassen. Während in dem glänzenden Kunstgarten der Gegenwart das ‚Ich‘ nur als 117 Hugo von Hofmannsthal: Mein Garten. In: H. v. H.: Sämtliche Werke, Bd. 1: Gedichte 1. Hg. von Eugene Weber, Frankfurt/M. 1984, S. 20.
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Possessivpronomen vorkommt, nennt es sich in dem Garten der Erinnerung sechsmal. Das Verhältnis der beiden Gärten in Hofmannsthals Sonett wurde in der Forschung sowohl als gegensätzlich als auch als komplementär bestimmt. Entweder entwertet der erinnerte natürliche Garten den künstlichen Garten der Gegenwart oder aber dem lyrischen Ich bleibt bewusst, dass sein künstliches Paradies nur ein Surrogat der Natur ist. Für ein komplementäres Verständnis spricht der stilistische Kunstgriff, dass der erinnerte ‚andere Garten‘ in das Oktett hineinreicht, das den Kunstgarten rühmt, und, wie es das Zentralwort „kaum“ signalisiert, als unstillbare Sehnsucht auch oder gerade angesichts des vollkommenen künstlichen Paradieses gegenwärtig bleibt. Versteht man den Garten als Symbol, und Hermann Bahr hatte dieses Gedicht als ‚Schulbeispiel‘ des Symbolismus veröffentlicht,118 wird deutlich, dass Hofmannsthals ästhetische Position von Georges Programmgedicht abweicht: Strebt Georges Ich nach der Vervollkommnung des Künstlichen, so sehnt sich Hofmannsthals Ich angesichts der künstlichen Perfektion nach der Natur, die es nur scheinbar überwunden hat. Zum poetischen Dialog mit George gehört auch „das Bild des Infanten“, das Hofmannsthal im Prolog zum Tod des Tizian (1892) einem Pagen in den Mund gelegt hat. Hofmannsthal hat selbst George auf das „Ihnen bekannte[] Detail“ hingewiesen, „ich meine das Bild des Infanten“, das auf dessen „Anregung“ zurückgeht.119 Unabhängig von dem brieflichen Eingeständnis ist der intertextuelle Bezug von Hofmannsthals Prolog auf Georges Bildgedicht Der Infant in den Hymnen klar markiert (SW II, 26). Der Page beschreibt das Bild eines blassen, frühverstorbenen Infanten, nur der „Dolch“ variiert den „Degen“ des Prätexts. Doch gibt Hofmannsthals Prolog der Bildbetrachtung schließlich eine neue Wendung: In Georges Bildgedicht deutet das abschließende Sextett mit einem iterativen ‚wenn‘ an, dass der Dargestellte im Schutz des nächtlichen Mondscheins wieder zum Leben erwachen würde: „Wenn vor dem mond die glasgranaten blühn“120. In situativer Analogie („still und dämmrig“) und mit derselben Konjunktion, dem iterativen ‚wenn‘, imitiert Hofmannsthals Page den Dargestellten als lebendes Bild und wird fast eins mit ihm: 118 Nach Hermann Bahr enthält dieses Sonett „den ganzen Symbolismus und es enthält nichts, das nicht Symbolismus wäre“. In der Forschung ist die Frage der Präzedenz nicht eindeutig entschieden, vgl. Hermann Bahr: Symbolisten (1892). In: H. B.: Zur Überwindung des Naturalismus. Theoretische Schriften 1887–1904, Stuttgart 1968, S. 111–115, hier 114; Vilain: Poetry, S. 170, sieht darin eine ‚unbewusste Antwort‘ Hofmannsthals auf George. Auch Mathias Mayer registriert den Einfluss Stefan Georges, betont jedoch den Bezug zu Ovids Metamorphose des König Midas, vgl. Mathias Mayer: Hugo von Hofmannsthal, Stuttgart und Weimar 1993, S. 20. 119 Vgl. Hugo von Hofmannsthal (Bad Fusch) an Stefan George, 21.7.1892. In: G/H, S. 30. 120 Stefan George: Der Infant. In: SW II, 26, V. 11.
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Da blieb ich stehn bei des Infanten Bild – Er ist sehr jung und blaß und früh verstorben … Ich seh ihm ähnlich – sagen sie – und drum Lieb ich ihn auch und bleib dort immer stehn Und ziehe meinen Dolch und seh ihn an Und lächle trüb: denn so ist er gemalt: Traurig und lächelnd und mit einem Dolch … Und wenn es ringsum still und dämmrig ist, So träum ich dann, ich wäre der Infant, Der längst verstorbne traurige Infant …121
Damit invertiert Hofmannsthals Prolog das Verhältnis von Kunst und Leben. Zwar bleibt die Angleichung des lebenden Pagen an den künstlich dargestellten Infanten nur ein Traum, doch die nachträgliche expolitio mit der verhallenden Aposiopese („So träum ich dann, ich wäre der Infant, / Der längst verstorbne traurige Infant …“) konkretisiert sprachlich die geträumte Wunschidentität des Pagen. Meint in Georges Gedicht das Nomen „ein zwillingsbruder“ wohl die annähernde Identität des verstorbenen Infanten mit seiner Darstellung, so wird dieser hermetische Bezug bei Hofmannsthal insofern zum Leben hin geöffnet, als „der Dichter“ den Pagen „Schauspieler [d]einer selbstgeschaffnen Träume“ nennt und ihn verständnisvoll als „o mein Zwillingsbruder“ apostrophiert.122 Bereits 1896 hat Hofmannsthal durch sein überschwängliches Lob der Gedichte von Stefan George in der Wiener Zeitschrift Zeit seine Wahlverwandtschaft für dessen symbolistische Dichtung bekundet.123 In dem poetologischen Gespräch über Gedichte (1904) wird der Symbolismus des Jahrs der Seele im Kontext einer eigenständigen ‚Symbol‘-Theorie erörtert und in die Tradition von Goethes Alterslyrik und der Anthologia Graeca gerückt.124 Noch deutlicher formuliert Hofmannsthal seine ästhetische Differenz zu George in der Prosaskizze Ein Brief, dem sogenannten ‚ChandosBrief‘, der als Markstein der Moderne gilt: In diesem fiktiven Brief erklärt Lord Philipp Chandos seinem Förderer Francis Bacon, dass ihm die „Fähigkeit abhanden gekommen [sei], über irgend etwas zusammenhängend zu
121 Hugo von Hofmannsthal: Der Tod des Tizian. In: H. v. H.: Sämtliche Werke, Bd. 3: Dramen 1. Hg. von Götz Eberhard Hübner, Klaus-Gerhard Pott und Christoph Michel, Frankfurt/M. 1982, S. 37–51, hier 39 (V. 11–20), sowie Stefan George: Der Infant. In: SW II, 26. 122 Hofmannsthal: Der Tod des Tizian, S. 39. 123 Hugo von Hofmannsthal: Gedichte von Stefan George. In: Die Zeit 6 (1896), S. 188–191. 124 Vgl. Hugo von Hofmannsthal: Gespräch über Gedichte. In: Die neue Rundschau 15 (1904), Nr. 2, S. 129–139. Wieder in: Stefan George in seiner Zeit. Dokumente zur Wirkungsgeschichte, Bd. 1. Hg. von Ralph-Rainer Wuthenow, Stuttgart 1980, S. 93–97.
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denken und zu sprechen.“125 Dieser erfundene Brief lässt sich leicht als ein Schreiben Hofmannsthals an George entschlüsseln. Abgesehen davon, dass Hofmannsthal den Brief tatsächlich an George übersandt hat,126 sprechen neben der analogen Alterskonstellation dafür auch eindeutige intertextuelle Bezüge: So ist die Wendung, mit der Chandos seinem Förderer dafür dankt, dass dieser ihn an die literarischen „Pläne“ erinnert, „mit denen ich mich in den gemeinsamen Tagen schöner Begeisterung trug“,127 ein prominentes Zitat Georges. Denn dieser hatte die Pilgerfahrten „dem Dichter Hugo von Hofmannsthal im Gedenken an die Tage schöner Begeisterung Wien MDCCCXCI“ gewidmet. Indem Hofmannsthal/Chandos diese gedruckte Dedikation zitiert, erweist er einerseits dem Adressaten Bacon/Stefan George Reverenz, andererseits distanziert er sich mit Chandos öffentlich von den früheren Gemeinsamkeiten und behauptet seine poetische Eigenständigkeit.128 Die persönliche Beziehung Hofmannsthals zu George erkaltete nach dessen verstimmter Reaktion auf die Widmung des Trauerspiels Das gerettete Venedig (1905): „Dem Dichter Stefan George in Bewunderung und Freundschaft“.129 Hofmannsthal hatte in seiner Otway-Nachdichtung gerade die Konstellation des problematischen Freundespaars Pierre und Jaffier in dem Verschwörungsdrama umgearbeitet und ein biographisches Verständnis nahegelegt, indem er George darauf hinwies, dass „die Gestalten dieses starken und dieses schwachen Menschen auch etwas intimeres für Sie aussprechen […]“.130 George wies, ohne auf die Widmung des „übel-
125 Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief. In: H. v. H.: Sämtliche Werke, Bd. 28: Erzählungen, Erfundene Gespräche und Briefe. Hg. von Ellen Ritter, Frankfurt/M. 1975, S. 45–55, hier 48. 126 Vgl. dazu Zanucchi, der den Nietzsche-Bezügen in Hofmannsthals Brief nachgeht: Mario Zanucchi: Nietzsches Abhandlung „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“ als Quelle von Hofmannsthals „Ein Brief“. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 55 (2011), S. 264–290. 127 Hofmannsthal: Ein Brief, S. 46. 128 In einer möglicherweise Leopold von Andrian zugedachten „Widmung“, einem Gedicht, das er auf das Vorsatzblatt von Rudolf Alexander Schröders ersten Gedichtband Unmut (1899) schrieb, distanziert sich Hofmannsthal wohl von Georges esoterischem Anspruch, vgl. Christoph Perels: „Auch hier beweget sich in reiner Luft“. Ein unbekanntes Gedicht Hugo von Hofmannsthals. In: Hofmannsthal-Jahrbuch 1 (1993), S. 9–18. 129 Die Widmung findet sich nur in der ersten und zweiten Auflage, beide 1905; vgl. dazu Hugo von Hofmannsthal: Das gerettete Venedig. In: H. v. H.: Sämtliche Werke, Bd. 4: Dramen 2. Hg. von Michael Müller, Frankfurt/M. 1984, S. 265. 130 Hugo von Hofmannsthal (Rodaun) an Stefan George, 2.12.1904. In: G/H, S. 222 f. Zu Hofmannsthals Bearbeitung vgl. die einlässliche Studie von Griseldis Crowhurst: „Das gerettete Venedig“ – Vorbild und Nachbild – zur Struktur des Hofmannsthalschen Dramas, Freiburg 1967.
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angewandte[n] Shakespeare“ zu reagieren, jegliche Analogie zwischen dem Freundespaar in der Tragödie mit sich und Hofmannsthal zurück: „Ihre beiden hauptgestalten können mich nicht überzeugen“.131 Allerdings endet mit dem Bruch der Freundschaft im Jahre 1906 nicht der produktive Einfluss Georges auf Hofmannsthal, auch wenn er nur noch schwer zu ermessen ist.132 Zu solchen Spuren zählt etwa, dass Hofmannsthal seinen Ödipus und die Sphinx (1906) George mit einem Algabal-Vers widmet („O Mutter meiner Mutter und Erlauchte“), sicher eine Reverenz, die bekennt, wie viel das Drama George zu verdanken hat.133 Überdies hat Hofmannsthal im Andreas-Roman wohl Stefan George in der Figur des mysteriösen Maltesers verschlüsselt, der den Protagonisten ebenso anzieht wie abstößt.134 Zudem hat Hofmannsthal immer wieder rückblickend sein Verhältnis zu George reflektiert: In einem Brief an Rudolf Pannwitz aus dem Jahre 1919 gibt er Borchardt eine Teilschuld an der zunehmenden Entfremdung135 und würdigt 1922 in der Ankündigung des Verlags der Bremer Presse George wie ein epochales historisches Datum: „George fast allein, mit dem Kreis der Seinen […], hat sich der allgemeinen Erniedrigung und Verworrenheit mit Macht entgegengesetzt. Er war und ist eine herrliche deutsche und abendländische Erscheinung. Was von seinem Geist berührt
131 Stefan George im Dezember 1904 an Hofmannsthal. In: G/H, S. 224 f. Vgl. dazu auch Lothar Köhn: Pynchon, Otway, Hofmannsthal: „Das gerettete Venedig“. In: Literatur – Geschichte. Beiträge zur deutschen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Münster 2000, S. 98–128, bes. 116 ff. 132 Vgl. dazu Kurt Singer: Die Spur einer Dichterbegegnung: George und Hofmannsthal. In: CP 4 (1951), S. 7–29, und Karl Schefold: Hugo von Hofmannsthals Bild von Stefan George. Visionen des Endes – Grundsteine neuer Kultur, Basel 1998, bes. S. 233–247 („Hofmannsthals Werke nach der Trennung von George“). 133 Georges Gedicht „O mutter meiner mutter und Erlauchte“ aus dem Algabal bildet den Prätext der Variante „8 H“ der Kreon-Szene: Hugo von Hofmannsthal: Ödipus und die Sphinx. In: H. v. H.: Sämtliche Werke, Bd. 8: Dramen 6. Hg. von Wolfgang Nehring und Klaus E. Bohnenkamp, Frankfurt/M. 1983, S. 343, V. 4–14, und S. 656 [Komm.]; dann abgewandelt im Druck: „O Mutter meines Königs und Erlauchte“ (S. 67, V. 21). In Ödipus und die Sphinx finden sich wohl mehrere Verse Georges, wie schon Boehringer in G/H, S. 248 bemerkt hat. So wird auch der Schluss des Gedichts „Wenn um der zinnen kupferglühe hauben“ (SW II, 66) zitiert: Hofmannsthal: Ödipus und die Sphinx, S. 54, V. 25 f. 134 Vgl. Hugo von Hofmannsthal: Andreas. In: H. v. H.: Sämtliche Werke, Bd. 30: Roman, Biographie [usw.]. Hg. von Manfred Pape, Frankfurt/M. 1982, S. 6–218; allerdings betont Hofmannsthal noch im Jahre 1913 eine gewisse Differenz; vgl. Notiz N 178 zum Malteser: „Was hält ein Wesen dieser Art ab – zu sein wie St. George?“ (ebd., S. 145), bevor er in dem Zeitraum 1917–1921 eine Annäherung („Der Malteser. Synthese. Anklänge an welche Geister? Kessler George Pannwitz Stendhal Charlus“ [N 223, ebd., S. 161]) und gar Gleichsetzung vornimmt („Malteser = St. G.“ [N 220, S. 160]). 135 Hugo von Hofmannsthal (Aussee) an Rudolf Pannwitz, 15.11.1919. In: Über Rudolf Borchardt. Hg. von Hubert Arbogast, Stuttgart 1977, S. 18–23.
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wurde, hat sein Gepräge behalten […]“.136 So bleibt festzustellen: Auch über das Ende der Freundschaft hinaus dauerte Georges Wirkung auf Hofmannsthal fort.
2.1.6. George-Parodien im Jungen Wien Wie bekannt George in Wien um 1900 war, bezeugen Parodien und Karikaturen. Eine George-Parodie findet sich in dem seltenen Privatdruck Hinter dem Leben (1897), den der Feuilletonautor und Kunstkritiker Adalbert Seligmann veranstaltete, als das Café Griensteidl ‚demoliert‘ wurde.137 Spielt bereits der Untertitel von Seligmanns Broschüre „Eine Monatsschrift für Wenige“ auf die Exklusivität des Kreises um George an, so apostrophiert ihn Lili du Bois-Reymond sogar in ihrer Parodie, die sie als prosimetrische Epistel gestaltet und als „eine Bessere“ unterzeichnet: „O Meister! / Denn Ihr seid es – / Ich weiß das / denn Ich bin es auch –.“ Im Wortspiel ‚grotesk/ Georgesk‘, in der Opposition von Leben und Kunst sowie in der Nachahmung der wortmagischen Klangmalerei in Kleinschreibung bekundet du Bois-Reymond ironisch ihre Wertschätzung wie Nachahmung des Vorbilds: Seit Stephan George’s Wünschelruthe zum erstenmal vor meinen Augen an den widrigen Fels der Wirklichkeit rührte und er sich aufthat, so daß ich das flammen und blühen das bluten und schweben „hinter dem Leben“ sehen konnte – seitdem hat mich nichts so gerührt wie Euere Lieder – wenn ich sage sie sind StephanGeorgesk – kann ich mehr sagen? Schwerlich!138
Georges Bekanntheit in der Wiener Moderne bezeugen auch eine Sammelparodie und -karikatur in der Osternummer des Jahres 1901 der satirischen Wochenzeitung Der Floh (siehe Abbildung 6): Unter der Überschrift Wie wir es sehen, einer ironischen Titel-Variation von Peter Altenbergs Skizzen Wie ich es sehe (1896), finden sich neben sechs Dichter-Karikaturen sechs 136 Hugo von Hofmannsthal: Ankündigung des Verlages der Bremer Presse. In: H. v. H.: Gesammelte Werke, Bd. [9]: Reden und Aufsätze II: 1914–1924. Hg. von Bernd Schoeller in Ber. mit Rudolf Hirsch, Frankfurt/M. 1979, S. 176–179, hier 177. Möglicherweise klingt auch in Hofmannsthals spätere Prägung eines ‚geheimen Europa‘ noch Georges ‚Geheimes Deutschland‘ nach; vgl. Tillmann Heise: Das „geheime Europa“. Hugo von Hofmannsthals späte Parallelaktion zu Stefan Georges „geheimem Deutschland“ (1919–1923). In: Sehnsucht nach dem Leben. Tradition und Innovation im Werk Hugo von Hofmannsthals. Hg. von Roland Innerhofer und Szilvia Ritz, [Wien] 2021, S. 25–37. 137 Vgl. Thomas E. Goldschmidt: Quer Sacrum. Wiener Parodien und Karikaturen der Jahrhundertwende, München und Wien 1976, S. 125–128 und 134. 138 Lili du Bois-Reymond: „O Meister! [Parodie]. Zit. nach Goldschmidt: Quer Sacrum, S. 125 f. Lili du Bois-Reymond (1864–1948) war selbst eine erfolgreiche Schriftstellerin und kannte als Freundin des Ehepaars Sabine und Reinhold Lepsius auch George und dessen Werk.
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typographisch unterschiedlich gestaltete Parodien auf Peter Altenberg, Richard Dehmel, Hugo Salus, Arno Holz, Stefan George und Karl von Levetzow. Die auf George gemünzte Parodie lautet: Violette liebe Am weiler lag ein gräserfrosch und quakte In stiller sehnsuchts-wechselsimfonie Ein gelber gram an seiner seele nagte Und schuld war niemand anderer als Sie. Sie war sein untergrund im blütenreiche Des dämmerlebens und sie losch wie glanz Nun badet sie im bergkristallnen teiche Die weisse wellenweiche wundergans.139
Die mäßige Stilparodie imitiert Stefan Georges lyrische Manier zum einen typographisch, durch Kleinschreibung in Antiqua-Type, zum andern metrisch, durch den jambischen Fünfheber, und zum dritten sprachlich-stilistisch, durch erlesene Komposita, Synästhesie („gelber gram“), Archaismus und Alliteration („weisse wellenweiche wundergans“). Der Witz beruht auf der Diskrepanz von hohem Stil und banalem Inhalt: Geschildert wird die Sehnsucht eines Laubfroschs nach einer Gans, die ihm als Untergrund gedient hatte, bis sie ins Wasser entschwand. Bedeutsamer als der literarische Wert der Parodie ist aber der Kontext, der Georges Prominenz im Wien der Jahrhundertwende beweist. Auch die originelle Porträtkarikatur (siehe Abbildung 6) setzt auf die Bekanntheit des Dichters und referiert auf die geläufige George-Darstellung von Bruno Paul (siehe Abbildung 4). Dass durch die frühe rege Wiener Rezeption George auch anderen Dichtern der Jahrhundertwende im deutschsprachigen Raum vermittelt wurde, zeigt der Lyriker Max Bruns, ein in der Forschung und in seinem Bezug zu George bislang unbeachteter westfälischer Doppelgänger: Bruns übersetzte wie George die französischen Avantgarde-Lyriker, oft sogar die dieselben Gedichte. Er wandte sich am 15. Juli 1898 brieflich an George, nachdem er durch „Hofmannsthals liebenswürdige Vermittlung“ dessen Adresse erhalten hatte. Auf George habe ihn eine „abfällige Besprechung durch Herrn Jacobowski in Berlin“ gestoßen, und nachdem er die Hirten- und Preisgedichte kennengelernt habe, „brannte [er] erst recht auf Weiteres“.140 Aus dieser Wertschätzung bietet Bruns „die beifolgenden vier Poesien zum etwaigen Abdruck an“. Sie bildeten „einen Cyclus“, den er „‚Menschenliebe‘ betiteln könnte“, doch Bruns gestattet George auch, „Einzelnes aus[zu139 Anonym: [Parodie] Stefan George. Violette liebe. In: Der Floh 33 (1901), Nr. 14, S. 6. 140 Max Bruns (Minden) an Stefan George (Bingen), 15.7.1898. StGA, George III, 2141.
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2. Repräsentant des europäischen Ästhetizismus um 1900
wählen]“. Zugleich kündigt er an, von Georges „Werken noch Weiteres [zu] lesen“, da er in von ihm „geplanten ‚Beiträgen zur Litteraturgeschichte des Individuum im heutigen Deutschland‘“ auch Ihnen [scil. Stefan George] einen Abschnitt widmen will – muß und will“.141
2.2. Vor- und Gegenbild der ästhetischen Elite Neben Wien und München war vor allem Berlin ein früher Wirkungsort Georges. So hatte sich Bruno Wille bereits 1893 an die Blätter-Redaktion gewandt, da sich die dort „veröffentlichten Gedichte sämmtlich durch besondere Schönheit aus[zeichneten]. Stefan George kenne ich aus seinen Hymnen als einen originellen feinen Phantasiekünstler“. Wille bittet darum, den „Dichterkreis kennenlernen“ zu dürfen, da seine „künstlerischen Neigungen und Anschauungen […] Ihnen wohl näher [stehen], als Sie annehmen können.“142 An der Durchsetzung Georges im literarischen Feld der Jahrhundertwende war der Berliner Privatdozent Richard M. Meyer maßgeblich beteiligt.143 Sein von Hofmannsthals Gespräch über Gedichte angeregter Vortrag Ein neuer Dichterkreis erschien im April 1897 in den Preußischen Jahrbüchern und in gekürzter Form in der Deutschen Litteraturzeitung und in der Vossischen Zeitung. Meyers Essay, der die Dichter George und Hofmannsthal kontrastiv zum Naturalismus aufwertete und ihren symbolistischen Stil erläuterte, erzielte eine große öffentliche Wirkung, da damit „die soziale Bezugsgruppe um die Blätter erweitert“ wurde.144 Indem Meyer
141 Bruns an Stefan George, 15.7.1898. Die Titel der vier Gedichte von Bruns’ Menschenliebe in der Anlage lauten: I. Land der Sehnsucht, II. Liebe, III. Segnung der Menschheit, IV. Hoffnung. StGA, Blätter I, 1105. Das Gedicht Land der Sehnsucht entwirft eine fast topische Reflexion auf dem See: „Im schlanken Leib von rotem Sammt umschlungen, / der sich zu starren Purpurfalten bauscht, / von Wellenliedern wohlig weich umrauscht, / lehn’ ich im Nachen. Tief aus Dämmerungen / blaut schon das Land, das meine Seele ruft.“ – Obwohl die Avancen von Bruns wohl erfolglos blieben und er selbst poetisch unabhängig von George ist, steht sein Werk unter ganz ähnlichen ästhetischen Prinzipien, nämlich unter dem Einfluss des Französischen Symbolismus. Dass Bruns jedoch weiterhin den Kontakt zu George suchte, ist belegt: So bittet er 1898 um Zusendung des Prospekts, in dem „Stefan Georges Werk in vollständiger Ausgabe“ angezeigt sei; vgl. Max Bruns (Minden) an C. A. Klein, 7.9.1898. StGA, Blätter III, 78. 142 Bruno Wille (Berlin) an C. A. Klein (Berlin), 13.1.1893. StGA, Blätter III, 430. 143 Vgl. dazu die fundierte Studie von Roland Berbig: „Poesieprofessor“ und „literarischer Ehrabschneider“. Der Berliner Literaturhistoriker Richard M. Meyer. Mit Dokumenten. In: Berliner Hefte zur Geschichte des literarischen Lebens 1 (1996), S. 37–99, bes. 54–66, die Meyers Bedeutung als „Hauptvorkämpfer Georges“ (Adolf Bartels) präzise rekonstruiert. 144 Vgl. Monika Dimpfl: Die Zeitschriften „Der Kunstwart“, „Freie Bühne“, „Neue Deutsche Rundschau“ und „Blätter für die Kunst“. Organisation literarischer Öffentlichkeit um 1900. In: Zur Sozialgeschichte der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert. Einzelstudien, Bd. 2.
2.2. Vor- und Gegenbild der ästhetischen Elite
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seine George-Würdigung als Schlussstein in seine monumentale Geschichte der Deutschen Litteratur des Neunzehnten Jahrhunderts (1900) aufnahm, „leistete er für die Anerkennung Georges das Äußerste“.145 Meyers publizistische Fürsprache erleichterte auch die große Wirkung, die George mit seiner Lesung aus dem Jahr der Seele im November 1897 im Hause von Sabine und Reinhold Lepsius erzielte. Die Zuhörer, zu denen neben Meyer, Georg Simmel und Botho Graef auch Autoren und Autorinnen wie Ernst Hardt, Rainer Maria Rilke, Karl Gustav Vollmoeller, Marie Bunsen, Luise Dernburg oder Lou Andreas-Salomé zählten, erlebten den Abend als „sakralen Akt“ und gaben diese Erfahrung publizistisch weiter.146
2.2.1. Paul Scheerbart, Rainer Maria Rilke und Siegfried Lang Auch Paul Scheerbart, den die Literaturwissenschaft erst relativ spät ‚entdeckt‘ hat, steht mit seinen phantastischen Architekturromanen – vielleicht sogar mit seiner Lyrik – stärker im Banne Georges als lange angenommen. Tatsächlich hatte sich Scheerbart über Carl August Klein bereits 1892 um Kontakt zu George und zum Blätter-Kreis bemüht, und sein Werk lässt, wie Helmuth Mojem überzeugend nachgewiesen hat, motivische und metrische Parallelen erkennen.147 Allerdings unterscheiden sich die Gegenwelten, die Scheerbart in seiner Lyrik und Epik konstruiert, von Georges künstlichen Paradiesen. Ob die intertextuellen Bezüge, die Mojem in Scheerbarts Prosaminiatur Der Tod Emins. Ein Chalifenidyll (1894) und in dem Roman Der Tod der Barmekiden (1897) findet, tatsächlich in ihrer skurrilen Überzeichnung Georges Algabal kritisieren, sei dahingestellt. Denn man findet auch noch in späteren Werken Scheerbarts künstliche Gegenwelten, vor allem in
Hg. von M. D. und Georg Jäger, Tübingen 1990, S. 116–197, hier 177. – Den großen Erfolg von Meyers Essay verbürgt Rudolf Borchardt: Die Aufgaben der Zeit gegenüber der Literatur. In: R. B.: Gesammelte Werke in Einzelbänden, Bd. [1]: Reden. Hg. von Marie Luise Borchardt, Stuttgart 1955, S. 345–396, hier 380: „Der Aufsatz, in dem der Berliner Literarhistoriker Richard M. Meyer in den ‚Preußischen Jahrbüchern‘ George bekannt machte, war ein Ereignis; das Heft war in kürzester Zeit vergriffen“. 145 Berbig: „Poesieprofessor“ und „literarischer Ehrabschneider“, S. 65. Richard M. Meyer: Die deutsche Litteratur des Neunzehnten Jahrhunderts, Berlin 1900, S. 936 schließt mit den Worten: „wir glauben an den Ernst der Künstler von heute. Und deshalb glauben wir mit Stefan George an eine glänzende Wiedergeburt in der Kunst – und nicht nur in der Kunst“. 146 Vgl. Marie von Bunsen: Stefan George ein Dichter und eine Gemeinde. In: Vossische Zeitung 9 (1898), Nr. 13, S. 2–3, Lou Andreas-Salomé: Grundformen der Kunst. Eine psychologische Studie. In: Pan 4 (1898), Nr. 3/4, S. 177–182, und Georg Simmel: Stefan George. Eine kunstphilosophische Betrachtung. In: Die Zukunft 22 (1898), S. 386–396. 147 Helmuth Mojem: Algabal bei den Phantasten? Stefan George und Paul Scheerbart. In: George-Jahrbuch 4 (2002/03), S. 36–78.
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den Architekturbeschreibungen, die zwischen Affirmation des Ästhetizismus und grotesk-komischer Überfrachtetheit des Artifiziellen changieren und sich nicht umstandslos als Kritik herunterbrechen lassen. So plant in dem „Protzenroman“ Rakkóx der Billionär (1901) ein junger Erfinder namens Kasimir Stummel, „einen ganzen Felsen […] in ein architektonisches Kunstwerk zu verwandeln“, um den Billionär Rakkóx durch „Kolossalbauten“ zu verewigen.148 Sie sollen die exquisite Innenarchitektur noch übertreffen, über die Rakkóx bereits verfügt. Dazu zählen ein „Höllensaal“, ein „Perlmutterzimmer“ und ein „Empfangssaal“, deren artifizielle Gestaltungen an das ‚künstliche Paradies‘ des „Unterreichs“ im Algabal erinnern.149 So alludiert der „Empfangssaal“, in dem alles weiß gehalten ist, den „raum der blassen helle / Der weisses licht und weissen glanz vereint“ (SW II, 62, V. 1 f.). Intertextuelle Bezüge zum Unterreich bietet auch der „Höllensaal“, der mit feuerrotem Tropfstein erbaut [ist], die Wände sind zu symmetrisch verteilten Grottennischen ausgebildet. Der ganze Saal ist, obgleich die Formen des Tropfsteins so blieben, wie sie waren, mit fanatischer Symmetrie gearbeitet. Vor jeder Nische steht eine goldene Urne, in der schwarze Tulpen blühen. Selbst die Anzahl und die Formen der Tulpen sind symmetrisch angeordnet. In der Mitte steht der Frühstückstisch, über dem eine riesige tausendkantige Smaragdampel brennt. In den feuerroten Tropfsteingrotten brennen viele elektrische Flammen – wirksam versteckt. Auf dem weißen Tischtuch schieben sich die grünen und roten Lichtkegel über- und untereinander. In den goldenen Urnen gleißt es gleichfalls grün und rot.150
Neben der raffinierten Künstlichkeit des „Höllensaals“, der als Gegenwelt zur göttlichen Schöpfung konzipiert ist, erinnern die „schwarzen Tulpen“ an das Manko von Algabals „Garten“ („Wie zeug ich dich aber im Heiligtume / […] / Dunkle grosse schwarze blume?“);151 zudem alludiert die doppelt betonte Grün-Rot-Farbkombination den infamen Vers aus dem Einleitungsgedicht der Tage im Algabal, in dem die (Selbst)Tötung eines Dieners, der die kaiserliche Taubenfütterung gestört hat, als grün-rotes Farbenspiel ästhetisiert wird: „Mit grünem flure spielt die rote lache“. In der Umwidmung von Algabals ästhetischem Immoralismus auf einen Kapitalisten und in der pedantischen Symmetrie als Gestaltungsprinzip zeigt Scheerbarts Nachahmung aber bereits eine Distanzierung von Vorbild.
148 Paul Scheerbart: Rakkóx der Billionär. Ein Protzenroman. In: P. S.: Gesammelte Werke, Bd. 6: Erzählungen 1, Linkenheim 1990, S. 61–83, hier 70. 149 Vgl. Scheerbart: Rakkóx der Billionär, S. 64, 67 f. und 68. 150 Scheerbart: Rakkóx der Billionär, S. 64. 151 SW II, 63, V. 13–16.
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Eine solche Ambivalenz charakterisiert mehrere poetische Dialoge, die in der ästhetischen Elite um 1900 mit und gegen Stefan George geführt wurden: Sie sind mindestens ebenso von Rivalität wie von Bewunderung geprägt. Vor allem Rainer Maria Rilke, neben George und Hofmannsthal der bedeutendste deutsche Lyriker der Moderne, stand in einer spannungsreichen Beziehung zu George.152 Nachdem er im November 1897 an dessen Lesung aus dem Jahr der Seele im Hause Lepsius in Berlin teilgenommen hatte, verarbeitete er den ästhetischen Eindruck in einem Widmungsgedicht, das metrisch wie formal – in der produktiven Veränderung der Sonettform – durchaus im Zeichen Georges steht: An Stephan George wenn ich, wie Du, mich nie den Märkten menge Und leiser Einsamkeiten Segen suche, – Ich werde nie mich neigen vor der Strenge Der bleichen Bilder in dem tiefen Buche.
Sie sind erstarrt in ihren Dämmernischen Und ihre Stirnen schweigen Deinen Schwüren, Nur wenn des Weihrauchs Wellen sie verwischen Scheint ihrer Lippen Lichte sich zu rühren. Doch, daß die Seele dann dem Offenbaren Die Arme breitet, wird ihr Lächeln lähmen; Sie werden wieder die sie immer waren: Kalt wachsen ihre alabasterklaren Gestalten aus der scheuen Arme Schämen.153
In Rilkes artifiziellem Sonett, dessen Sextett um einen Vers verkürzt ist, vergleicht sich das lyrische Ich in seinem Einsamkeitsstreben mit dem im ‚Du‘ apostrophierten George, um dann aber eine ästhetische Differenz in der poetischen Psychagogik auszuloten. Georges symbolistische Seelen-Beschwörungen werden einem religiösen Wahn gleichgesetzt, verbildlicht als Verehrung von Heiligenstatuen, die dem Beter im Weihrauchqualm lebendig erscheinen. Das adversative „Doch“, welches den zweiten Teil des Gedichts 152 Ute Oelmann: „Und gute Gespräche vereinten mich mit seinem Wesen“. Stefan George und Rainer Maria Rilke. In: George-Jahrbuch 11 (2016/17), S. 231–251, hier 240, meint, die Ambivalenz in Rilkes „‚Florenzer Tagebuch‘ ebenso wie unter den Gedichten ‚Mir zur Feier‘, Gedichten der Jahre 1897/98“ zu erkennen. Diese schwanken zwischen Aneignung und Entgegnung. 153 Rainer Maria Rilke: An Stephan George. In: Corona 6 (1936), Nr. 6, S. 706, wieder in: R. M. R.: Sämtliche Werke, Bd. 3: Jugendgedichte. Hg. von Ernst Zinn in Verb. mit Ruth Sieber-Rilke, Wiesbaden 1959, S. 596 f.
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einleitet, relativiert jegliche menschlich-übersinnliche Begegnung: Der personifizierten Seele wird sich das beschworene Gegenüber entziehen und wieder zum toten Bild werden. Im deformierten Sonett, dem ein Vers fehlt, verdeutlicht Rilke auch formal das Scheitern der Seelenbegegnung, wie sie das Jahr der Seele entwirft. Rilkes irreguläres Sonett ist erst postum veröffentlicht und in seiner poetologischen Komplexität bislang kaum erfasst worden.154 Allerdings steht die metapoetische Selbstreflexion in Form eines Dichtergedichts in Kontrast zu Rilkes Brief vom 7. Dezember 1897, in dem er dem „Meister Stephan George“ mitteilt, wie sehr er das Jahr der Seele schätze, und ihn bittet, „dem engeren, von den Mitgliedern erkorenen Leserkreis der ‚Blätter für die Kunst‘ angehören“ zu dürfen.155 Im April 1899 kündigte Rilke seinen neuen Gedichtband Mir zur Feier an, ging aber auf Georges Angebot, „das Manuskript zu beurteilen“,156 nicht ein. Dennoch verarbeitet jenes „erste, ernste, feierliche Buch“157 unverkennbar Georges Kritik an Rilkes früher Poesie insofern, als es stilistisch wie formal der symbolistischen Lyrik der Blätter-Gruppe ähnelt. Obwohl George im November 1899 ausrichten ließ, er würde Gedichte wie die Lieder der Mädchen, die im Pan erschienen waren, durchaus in die Blätter für die Kunst aufnehmen, bemühte sich Rilke danach nicht mehr um seine Förderung, sondern ging seinen eigenen Weg. Zahlreiche Dichter sandten handschriftliche Gedichte und Gedichtsammlungen entweder direkt an George oder an die Blätter für die Kunst ein.158 Auf diesem Wege konstituierte sich die Gruppe des Blätter-Kreises. Die Publikation in den Blättern erforderte persönliche Bekanntschaft mit
154 Die Forschung hat das Gedicht mit Lou Andreas-Salomés Würdigung von Georges Lesung im Hause Lepsius in Verbindung gebracht, die im Pan 4 (1898) erschienen war. Darin vergleicht Andreas-Salomé Georges Rezitation aus dem Jahr der Seele mit einem Herbarium, dessen „sorgfältig getrocknete und sorgfältig geordnete Blumenleichen unversehens […] in einen blühenden Garten zurücksprängen“. Siehe dazu Eudo C. Mason: Rilke und Stefan George. In: Gestaltung – Umgestaltung. FS Hermann August Korff. Hg. von Joachim Müller, Leipzig 1957, S. 249–278, hier 252 f. Vgl. auch Eschenbach: Imitatio im George-Kreis, S. 1–3. 155 Rainer Marie Rilke an Stefan George, 7.12.1897. In: Corona 5 (1935), Nr. 6, S. 672. 156 Stefan George an Rainer Maria Rilke, 7.4.1899, zit. nach SOK s. d. 7.4.1899. 157 Rainer Maria Rilke an Stefan George, 7.12.1897. In: R. M. R.: Briefe. Hg. von Horst Nalewski, Frankfurt/M. und Leipzig 1991, S. 36–38, S. 461 f. 158 Häufig lässt sich nicht mehr feststellen, ob die im Stefan George Archiv verwahrten eingesandten Dichtungen an George selbst oder an die Blätter für die Kunst gerichtet waren. Diese Gedichte sind katalogisiert. Zwei Archivkästen mit Gedichten und Prosa gehören zur sogenannten ‚Blätter-Korrespondenz‘, wobei leider schon von Boehringer häufig Briefe und eingesandte Texte getrennt wurden. Die frühzeitige Trennung der Bestände hat dazu geführt, dass es neben dieser Blätter-Korrespondenz einen Stapel Gedichte gibt, die bislang nicht zugeschrieben sind.
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George oder die Empfehlung eines Freundes,159 eine Hürde, an der einige Verehrer scheiterten: Als etwa Hans Carossa 1905 „den ihm selbst wunderbaren Mut“ fand, einige Gedichte an George zu schicken, riet ihm Karl Wolfskehl davon ab und verhinderte damit eine Verbindung.160 Abgewiesen wurden auch seinerzeit schon prominente Autoren wie die Brüder Hart oder John Henry Mackay.161 Doch selbst eine wohlwollende Antwort Stefan Georges bedeutete noch keine dauerhafte Förderung: Auf die Erste Lese des Schweizer Dichters und verehrenden Nachahmers Siegfried Lang (1887–1970) reagierte er beispielsweise „mit mehr als einer dankenden bestätigung“; Grund hierfür war jedoch „nicht so sehr Ihre ungewöhnliche begabung als der umstand dass Sie sich auf Robert Boehringer beziehen einen mir vertrauten menschen“.162 Eine „spätere Manuscriptsendung“ blieb daher ebenso unbeantwortet wie ein Brief an Friedrich Gundolf.163 Obwohl Lang nie in den Blättern für die Kunst veröffentlichen durfte, orientierte er sich zeitlebens formal wie motivisch an Georges Dichtung.164 Ähnlich geringe Resonanz dürfte wohl das buchkünstlerisch nach dem Vorbild Lechters gestaltete Manuskript der Impromptus von F. Koch-Wigand hervorgerufen haben, das dieser vermutlich im Jahre 1898 mit einer Gruppenwidmung an Stefan George, Melchior Lechter und Karl Wolfskehl übersandte: „Sei diese gabe ein dank an drei meister der kunst!“ Der Zyklus schildert neun Stationen einer Entsagung und künstlerischen Selbstfindung von „Verzweiflung“ über ein „Nocturne“ zur resignativen Einsicht in das „Vorbei“.165
159 Vgl. KK, S. 51. 160 Vgl. Eva Kampmann-Carossa (Hg.): Hans Carossa. Leben und Werk in Texten und Bildern, Frankfurt/M. und Leipzig 1993, S. 244 f. und 277. 161 Unbeachtet blieben m.W. bislang die Schreiben von John Henry Mackay an Stefan George, 17.10.1895 und 27.8.1901. StGA, George III, 8611, und George III, 8612, in denen er sich – wohl vergeblich – um Kontakt bemüht. Mackays Anfrage von 1901 gilt einer Anthologie: „Haben Sie, sehr geehrter Herr, irgend etwas dagegen einzuwenden, wenn ich einige Ihrer Gedichte für eine noch diesen Herbst in einer ersten hiesigen Verlagsbuchhandlung erscheinende[n] Sammlung von ‚Meisterdichtungen auf einzelnen Blättern‘ (serienweise und auch einzeln verkäuflich) verwende?“ 162 Stefan George an Siegfried Lang, 22.9.1906, zit. nach Silvio Temperli: Siegfried Lang (1887– 1970), Bern 1983, S. 15 f., hier 15. Lang hat seine Gedichte. Eine erste Lese aus den Jahren 1904–06 (Bern 1906) im September 1906 „Dem Dichter Stefan George in Bewunderung überreicht“ (Widmungsexemplar im StGA 10/144). 163 Temperli: Siegfried Lang, S. 16. 164 Langs Streben nach ‚reiner Poesie‘, die Variation antiker Formelemente, aber auch die Gartenmotivik wie der Ephebenkult in seiner Lyrik bezeugen die nachhaltige Wirkung Georges. 165 Vgl. F. Koch-Wigand: Erstes Buch: Impromptus. DLA, A: Wolfskehl, HS.1995.0054.01255.
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2.2.2. Imitatio und aemulatio im Umkreis der Blätter für die Kunst: Ernst Hardt, Karl Vollmoeller, Max Dauthendey, Georg Edward und Leonie Meyerhof Beispiele für gelungene Annäherungen junger Autoren, die kurzfristig zum Blätter-Kreis gehörten, aber nach der Jahrhundertwende eigene Wege gingen, sind Ernst Hardt, Karl Vollmoeller und Max Dauthendey.166 Dauthendey war eine ‚Entdeckung‘ Hofmannsthals und wurde auf dessen Empfehlung zur Mitarbeit an den ersten Folgen der Blätter für die Kunst eingeladen.167 Fünf Gedichte, die der 18-jährige Karl Vollmoeller im Jahre 1896/97 wohl auf Vermittlung Karl Bauers an George gesandt hatte, erschienen bereits 1897 in den Blättern für die Kunst.168 Vollmoellers zweigeteilte Sammlung Parcival. Die frühen Gärten (1902) ist im ersten mediävalisierenden Teil deutlich Georges Sagen und Sängen verpflichtet, während die Garten-Phantasien des zweiten Teils sich stärker an der Lyrik Hofmannsthals orientieren. Doch finden sich auch in diesem zweiten Teil Gedichte, die mindestens thematisch an George angelehnt sind. Immerhin sieht S tefan Zweig, der in George „einen jener souveränen Sprachschöpfer“ ehrte, „die […] eine neue Form geschaffen haben“,169 Vollmoeller als löbliche Ausnahme „gegenüber dem steifen Pompe der Jünger Stefan Georges“: Sowohl als Lyriker wie Dramatiker steht Zweigs „Empfinden nach […] Vollmöller als Dichter heute in erster Reihe“.170 Ernst Hardt lernte George über seinen väterlichen Freund und Förderer Botho Graef im November 1897 bei der legendären Lesung im Hause
166 In ihren Autobiographien bekannten diese Autoren meist die starke Wirkung, die George für ihr eigenes Dichten bedeutete: „Die […] Begegnung […] mit Stefan George […] bestimmte und festigte ebenfalls in mir die neue Überzeugung, daß der Wunsch, Dichtungen in Versen und Gesängen zu schaffen, trotz des Maschinenzeitalters und trotz der Wirklichkeitskunst, die auf den Bühnen in jenen Jahren Feste feierte, nicht unmöglich war. Wenn auch der augenblickliche Zeitgeist sich ablehnend gegen das Lesen von Gedichten verhielt, so war es doch ganz unmöglich, daß deshalb die Dichter und die Dichtung aussterben und nur die Erzählungskunst und die Bühnenkunst allein weiterleben sollten“ (Max Dauthendey: Gedankengut aus meinen Wanderjahren, Bd. 1, München 1913, S. 240). 167 Vgl. KTM, S. 74–36. 168 Vgl. RB I, S. 89. 169 Stefan Zweig: Die um Stefan George. In: Das Litterarische Echo 6 (1903/04), Sp. 169–172, hier 169. Zweig lobt George überdies als „einen Künstler, der die Wertung der Worte neu durchleuchtet und mit zauberischer Hand den Alltagskiesel zum Juwele krönt“ (ebd.). Dieses Lob Georges dient Zweig als Kontrastfolie, um Karl Wolfskehls Dichtungen abzuwerten, in denen er „Musik, Plastik und Tiefe“ vermisst (ebd., S. 170). 170 Zweig: Die um George, Sp. 171.
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Lepsius kennen.171 Schon zuvor hatte er sich kritisch „gegen die Stefan Georgische Manier“ geäußert: „George etc. treiben eine zu ferne Kunst, eine Alt- und Endkunst“, von der man „loskommen“ müsse, „sonst versandet man“.172 Andererseits stellte Hardt im Frühsommer 1898 den Dichter Stefan George in Lesungen und Vorträgen vor.173 Darin würdigt er Georges Lyrik als hermetische Gebilde („so abgerundet und in sich geschlossen“), deren „glühende[s] Leben“ sich nur dann erschließen lässt, „wenn man sie als ganzes aufzunehmen weiss“, da sie „äußerlich […] hart und marmorn“ seien „wie alle Vollendung“.174 Zugleich kritisiert Hardt im kontrastiven Vergleich mit Goethes Empfehlung, „sich von der Subjektivität zur Objektivität zu entwickeln“, Georges Selbstbezug im Jahr der Seele.175 Wenn er vor dem unheilvollen Umschlag von „Stilkunst“ zu „stilisierter Kunst“ warnt, „wie als ob der Künstler zuletzt von Grund aus selbstherrlich schaffen wollte,“ dann deutet sich darin eine Dissonanz zu George an.176 Von Anfang an bemühte sich Hardt – freilich im Verborgenen – seine Selbständigkeit gegenüber George zu wahren, auch wenn er zugleich dessen Nähe suchte. So sehr er wünschte, in den Blättern für die Kunst vertreten zu sein, so sehr widerstrebte ihm die „jüngerhafte Unterordnung“.177 Indem er George mit Goethe und – aus der Sicht Nietzsches – mit Richard Wagner vergleicht, gelingt es Hardt, aus dem Schatten des Meisters zu treten: „Das konnte nur Goethe – George nicht“. Und mit Hilfe von Goethes West-Östlichem Divan kommt er zu dem autosuggestiven Schluss: „wie da alles klein wird“.178 Allerdings war diese Entfremdung keineswegs einseitig. George hatte sich seinerseits von Ernst Hardt losgesagt, noch bevor eine Lesung
171 Susanne Schüssler: Ernst Hardt. Eine monographische Studie, Frankfurt/M. 1994, würdigt Hardts Bekanntschaft mit Botho Graef und Stefan George allerdings nur knapp, doch betont die neue Monographie von Birgit Bernard: „Den Menschen immer mehr zum Menschen machen“. Ernst Hardt 1876–1947, Essen 2015, bes. S. 32–36, die große Bedeutung, die Graef für Hardt hatte. 172 Ernst Hardt: Tagebuch (1897–1899), Einträge vom 20.5.1897 und 25.5.1897, zit. nach Schüssler: Ernst Hardt, S. 38. 173 Ernst Hardt: Zwei Vorträge über Stefan George [1898?]. DLA, A: Hardt, 62.357; es handelt sich jeweils um Einführungen zu Lesungen: Der erste Vortrag umfasst fünf, der zweite sechs Manuskriptseiten. 174 Ernst Hardt: [Erster] Vortrag zu einer George-Lesung [1898?]. DLA, A: Hardt, 62.357, Bl. 1; vgl. dazu auch Schüssler: Ernst Hardt, S. 38. 175 Ernst Hardt: Zweiter Vortrag zu einer George-Lesung [1898?]. DLA, A: Hardt, 62.357, Bl. 1–2. 176 Ernst Hardt: Zweiter Vortrag zu einer George-Lesung [1898?]. DLA, A: Hardt, 62.357, Bl. 5. Diesen Bezug legt der Wechsel vom Präteritum ins Präsens im Fortgang des Zitats nahe: „[…] aber wurden seine Träume zu kühn, dann erwacht der Naturalismus und rüttelt ihn und sagt ihm, dass es doch nur einen Gott geben darf, die Natur –“. 177 Schüssler: Ernst Hardt, S. 39. 178 Schüssler: Ernst Hardt, S. 39.
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von Hardts Tantris der Narr im Kreis am 5. Januar 1909 den „Banalismus“ und „schlecht-gemachte[n] Kitsch“ zutage förderte.179 George nahm sich nicht nur die Freiheit, die Einsendungen in Graphie und Interpunktion selbstständig zu redigieren, sondern griff auch in den Wortlaut ein.180 Während die jüngeren Autoren solche Änderungen akzeptierten, die auf eine stilistische Vereinheitlichung zielten, stießen sie bei selbstbewussten Beiträgern wie Hofmannsthal, Andrian oder Vollmoeller, die sich nicht als ‚Jünger‘ sahen, auf Widerstand.181 Sogar Georg Edward, ein Freund Karl Wolfskehls, den George 1901 in Gießen besucht hatte, distanzierte sich wegen der redaktionellen Eingriffe nach frühen Publikationen in den Blättern für die Kunst von George. Zunächst war Des Friedens Land 1892 von George um eine Strophe gekürzt worden.182 Als Edward sein Gedicht Ungesprochene Worte, das 1894 nur „mit Auslassung einer ganzen Strophe […] und mehreren […] Änderungen“ erschienen war, in der Zeitschrift Deutsche Dichtung in seiner „ursprünglichen, unverstümmelten Fassung“ veröffentlichte, war der Kontakt beendet.183 Obschon
179 BV, S. 44, sowie SOK s. d. 5.1.1909. Zeitgenossen wie Bruno Pompecki: Ernst Hardt. Versuch einer Würdigung seiner dichterischen Persönlichkeit, Leipzig-Reudnitz 1909, S. 13, diagnostizierten in „Hardts Lyrik […] die Schulung durch George“. 180 So erklärte sich Dauthendey bei seiner ersten Begegnung mit Klein und George mit allen Änderungen einverstanden, „wenn nur der Sinn des Ganzen nicht gestört würde“, in: Dauthendey: Gedankengut, S. 244 f. 181 Vgl. KK, S. 54 f. 182 Vgl. Georg Edward: Des Friedens Land. In: BlfdK (1892/93), Bd. 2, S. 52. Die vierstrophige autographe Erstfassung ist reproduziert in: Wolfgang G. Bayerer / Brigitte Hauschild: Georg Edward zu Ehren. Ausstellung der Universitätsbibliothek Gießen zum 125. Geburtstag des Poeten am 13. Dezember 1994. Vorträge – Katalog – Editionen – Kommentare – Nachträge – Ergänzungen, Gießen 1996, S. 30. Die Änderungen übergeht aber Edward in einem Brief an Karl Wolfskehl (Gießen), 28.12.1892. DLA, A: Wolfskehl, 95.54.555/3, in dem er nach Gründen sucht, warum ein drittes eingesandtes Gedicht (Weise) nicht in die Blätter für die Kunst aufgenommen wurde. Am 2.1.1893 bittet Edward Wolfskehl um Vermittlung zur Redaktion, die „seit [s]einer verneinenden Antwort auf das Angebot des Verlags meiner Gedichte keine Notiz mehr von [ihm] genommen“ habe. DLA, A: Wolfskehl, 95.54.555/4. In einem weiteren Brief teilt Edward (Darmstadt) seinem Freund Wolfskehl am 28.3.1893 mit, dass er, da die Blätter für die Kunst seiner Ansicht qualitativ „sehr zurückgehen“ würden, ein weiteres Verlagsangebot abgelehnt habe. DLA, A: Wolfskehl, 95.54.555/17; und doch bittet Edward (Chicago) Wolfskehl am 24.9.1893, nach seiner Übersiedlung ins ungeliebte Chicago, um weitere Bände der Blätter für die Kunst. DLA, A: Wolfskehl, 95.54.555/35. 183 Vgl. Georg Edward: Die ersten zwanzig Jahre meines Lebens. In: Bayer / Hauschild: Georg Edward zu Ehren, S. 59–132, bes. 131, 125. – Tatsächlich hatte George die fünfstrophigen Ungesprochnen Worte. In: BlfdK 2 (1894/95), Bd. 1, S. 19, um zwei Strophen, die zweite und die letzte, gekürzt und die dritte Strophe verändert. Indem George die Schlussstrophe tilgt, welche die Wirkung der einmal erwachenden „ungesprochnen Worte“ schildert, betont er die symbolistische Faktur. Im Wiederabdruck der fünfstrophigen Originalfassung hat Georg Edward alle Änderungen rückgängig gemacht: Georg Edward: Ungesprochene Worte. In: Deutsche Dichtung 16 (1894), S. 284. Die in den Vereinigten Staaten von Amerika
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sich Edward von George distanzierte, galt er selbst noch in den Vereinigten Staaten von Amerika, wo er seit 1893 lebte, als Georgianer. Als Erich Posselt in seiner New Yorker Zeitschrift Der reine Tor (1920) ein Gedicht Georg Edwards (Memento quia pulvis es) in der für den George-Kreis typischen Kleinschreibung druckte, während „alle anderen […] durchaus normal behandelt“ waren, reagierte Edward verstimmt: „nur ich allein stehe wie ein Stefan Georgescher Idiot da“.184 Stil und Themenkanon der Blätter für die Kunst prägten nachhaltig die Schreibweise vieler Autoren der Jahrhundertwende, auch wenn sie nicht dem Kreis der Beiträger angehörten: Archaismen, erlesene Wörter und kühne Komposita kennzeichnen die Lexik, weiblich kadenzierende Fünfheber in vierversigen Strophen die Metrik der an Stefan George orientierten Lyrik. Exemplarisch dafür sei das undatierte Dichtergedicht von Leonie Meyerhof (Pseudonym Leo[nie] Hildeck) angeführt, das die Hommage mit einer stilistischen Nachahmung zu beglaubigen sucht: Genau in der Mitte des Gedichts, eingeleitet durch ein adversatives „aber“, wirkt Georges Dichtung als Imagination einer südlichen Gegenwelt zum anfänglichen „grauen Dämmer“, analog dem „Wandel der Seele“, wie ihn Georges lyrisches Ich empfindet, als es die zu ihm „sich neigenden wedel / Erster palmen wiedersah“:185
erschienene Anthologie German Lyrics and Ballads. With a Few Epigrammatic Poems. Hg. von James T. Hatfield, Boston 1902, S. 156 f., bringt Edwards Gedicht zwar vollständig und in normalisierter Groß-/Kleinschreibung, aber ausdrücklich als – einziges – Beispiel für den George-Kreis, dessen „passionate, intense, almost hieratic cult of the concentrated expression of single phrases of emotion“ (XXIX) betont wird. 184 Georg Edward: Tagebucheintrag vom 25.5.1920, zit. nach Bayerer / Hauschild: Georg Edward zu Ehren, S. 152 und ebd., S. 191; auch das fragliche Gedicht Memento quia pulvis es (in zehn vierzeiligen Paarreimstrophen), das zuerst strophisch nicht gegliedert und in Kleinschreibung unter dem Pseudonym „Georg von Eschborn“ in der New Yorker Zeitschrift Der reine Tor 1 (1920), Nr. 3, S. 1. Wie stark der George-Bezug bei Edward nachwirkte, zeigt im Brief vom 27.11.1893 der Zusatz zu seiner Selbstbeschreibung als Auslandskorrespondenten „für deutsche Zeitungen in Europa – etwas, wovon sich Stefan George mit Entsetzen abwenden würde“. DLA, A: Wolfskehl, 95.54.555/41. 185 L[eonie] M[eyerhof]: Stefan George [Typoskript]. DLA, A: Wolfskehl, 95.54.1714. Ein Prätext dieses Dichtergedichts ist „Als durch die dämmerung jähe“ aus dem Buch der hängenden Gärten (GA III, S. 88 / SW III, 72). Vermutlich hat Wolfskehl das briefliche Lob Leonie Meyerhofs, sie habe George „viel lieber als den jetzt so berühmten Rich[ard] Dehmel – er ist grösser u. vornehmer“, nicht weitergetragen, vgl. Leonie Meyerhof an Karl Wolfskehl, 13.4.1897. DLA, A: Wolfskehl, 95.54.762/2. Wohl ihrem ersten Schreiben an Wolfskehl vom 26.2.1897 hat Leonie Meyerhof schon ihr Widmungsgedicht an George beigelegt mit der Bitte, die „mittelmässigen Verse“ mögen „bei Herrn George […] für mich sprechen“. DLA, A: Wolfskehl, 95.54.762/1.
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Stefan George Das bewegte Luftmeer mit Gebrause Bricht die Wolken an dem weissen Hause; Hinter Wolken, die wie Mauern stehen, Sank die Wintersonne ungesehen. Grauer Dämmer legt sein Spinneweben Über dieser Blätter heimlich Leben, Das mein feuchtes Auge eingetrunken, Drin mein Fühlen aufgelöst versunken. Grauer Dämmer zwingt die heissen Blicke Von zerschmolznen Lettern streng zurücke – Aber vor dem klangerfüllten Ohre Singt es fort in stimmenreichem Chore. Breite Palmenblätter hör ich rauschen, Seidenbanner sich im Winde bauschen, Roten Absatz auf den Estrich schlagen, Arme plätschernd aus den Fluten ragen. Und zu unterst diesem Klanggewühle Tönt der warme Atem der Gefühle, Saust das echte Blut in bangem Klopfen, Fallen siedend schmerzgeborne Tropfen . . . . . . .
2.2.3. Hohepriester oder Hochstapler: George in der Schlüsselliteratur um 1900 Zu Georges frühem Ruhm trugen die Selbststilisierung und Auratisierung seiner Person bei. Den Habitus eines ‚unnahbaren Meisters‘ verbürgt neben Memoiren wie Roderich Huchs Erinnerungen („George richtete um sich eine Mauer auf“186) oder Erich Mühsams Unpolitischen Erinnerungen („Wei henstefan“) die Schlüsselliteratur der Jahrhundertwende.187 Bereits die Figur des aristokratischen Dichters Aristos, „der eigentlich Ludwig Schneider
186 Roderich Huch: Alfred Schuler, Ludwig Klages und Stefan George. Erinnerungen an Kreise und Krisen der Jahrhundertwende in München-Schwabing, 2. Aufl., Amsterdam 1973, S. 24. 187 Nach der heuristisch hilfreichen Taxonomie des Schlüsselromans von Johannes Franzen: Indiskrete Fiktionen. Theorie und Praxis des Schlüsselromans 1960–2015, Göttingen 2018, bes. S. 127–137, der den ‚satirisch-öffenlichen‘ vom ‚autobiographisch-privaten‘ Typ unterscheidet, gehören die frühen Schlüsselromane eher dem zweiten Typ an.
2.2. Vor- und Gegenbild der ästhetischen Elite
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hieße“,188 in Ricarda Huchs Roman Vita somnium breve (1903), später nach dem Namen des Protagonisten Michael Unger betitelt, ist fraglos George nachempfunden. Neben seiner altmodischen Kleidung und Haartracht ähnelt Aristos dem Vorbild George auch darin, dass er als Leitfigur einer Verehrergruppe („Jünger“) und elitärer Verächter der Masse charakterisiert wird.189 Auch in der physiognomischen Beschreibung zeichnet Huch unverkennbar ein Bild, freilich ein Zerrbild, Georges: Sein Gesicht war hager und knochig und so farblos, daß er mit geschlossenen Augen einem Totenkopf glich: öffnete er aber die tiefliegenden und dunkel umgebenen Augen, so empfand man das Dasein eines heißen Lebens mit unaussprechlichen Kämpfen und Qualen. Man hätte sich so den teuflischen Engel vorstellen mögen […]. Seine auffallende und wahrhaft eigentümliche Persönlichkeit machte es begreiflich, daß er sich unter Durchschnittsmenschen nicht wohl fühlte, doch wurde von seiner Verachtung des Platten auch das Natürliche mitbetroffen, während er das Altertümliche, Ungebräuchliche und in Verruf Gekommene als Fetischdienst oder Menschenopfer, oder Knaben- und Geschwisterliebe, eben deswegen ohne Unterscheidung billigte.190
Hingewiesen sei hier bereits auf Gräfin Franziska zu Reventlows retrospektive Schilderung der Kosmiker-Runde im „Wahnmoching“, alias Schwabing, der Jahrhundertwende. In ihrem Schlüsselroman Herrn Dames Aufzeichnungen (1913) wird der „Meister“, in dem unschwer George zu erkennen ist, erst aus der Fremdperspektive mystifiziert („Merkwürdige Dinge kamen da zur Sprache“191), bevor der Ich-Erzähler ihn, als „Cäsar“ verkleidet, auf einem Kostümfest „zum erstenmal aus der Nähe“ sieht: „er mischte sich un-
188 Ricarda Huch: Vita somnium breve. Ein Roman, Leipzig 21904, bes. S. 307–321 und 454– 457, hier 307. 189 Huch: Vita somnium breve, S. 307: „Seit seine Gedichte veröffentlicht waren, hatten sich ihm mehrere junge Leute genähert, die ihn anstaunten und verehrten und zum Teile in kindischer Weise nachahmten. Dies war ihm zuwider, nicht weil er das Lächerliche und Übertriebene davon sah, sondern weil er die Menschen desto mehr verachtete, je schwächer und unselbständiger sie waren“. 190 Huch: Vita somnium breve, S. 308. Die Lyrik der George nachgebildeten Dichterfigur Aristos wird allerdings nur sehr allgemein charakterisiert: „In Aristos’ Gedichten war die Einsamkeit einer leidenschaftlichen Seele ohne Liebe nicht eben klar verständlich, aber oft mit schauerlicher Ahnung ausgedrückt“ (ebd., S. 309). Auch das Gedicht des Aristos, das dessen Bewunderer Gabriel, Michael Ungers jüngerer Bruder, rezitiert, (Incipit: „Du warst kein Stern der führt“), ist zwar keine Parodie, aber alludiert im Stile einer Inversion in seiner Du-Apostrophe und den wiederholten Verneinungen (‚kein‘) „Keins wie dein feines ohr“ (SW IV, 101). 191 Franziska zu Reventlow: Herrn Dames Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil. In: F. z. R.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher, Bd. 2: Romane 2. Hg. von Michael Schardt, mit einem Nachwort von Andreas Thomasberger, Oldenburg 2004, S. 8–112 und 311–319 [Nachwort], hier 15.
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gezwungen unter die Menge, und es gab ihn wirklich. Dabei behält er doch immer eine gewisse Ferne, und seine Geste schien mir schön und würdig“.192 Selbstverständlich stieß die heroische Selbstinszenierung Stefan Georges, die er durch modisch formale Kleidung, gezielte Unnahbarkeit, elitäre Lesungen und einen seiner Person vorgeschalteten Verehrerkreis noch kultivierte, nicht nur auf Zustimmung, sondern auch auf Kritik und Komisierung. Paradigmatisch dafür ist das „essayistische Porträt“ des Kulturkritikers Willy Pastor,193 der Richard Dehmel und später dem lebensreformerischen Kreis um Fidus nahestand. Pastor porträtiert und karikiert Stefan George unter dem Lemma „Bung-Bung“, da er dessen Dichtung als mystische Regression in einen inhaltsleeren Tribalismus deutet, versinnbildlicht in der „BungBung“-Trommel. Außerdem kritisiert er den stilisierten Buchschmuck, die Formstrenge und Inhaltsleere von Georges Gedichtbänden. In Pastors Beschreibung von Georges Vorlesungen gehen Bewunderung und Abwehr ineinander über: Der Dichter wählt für seine Vorlesungen ein ganz mattes Licht, nur auf seine eigene edle Gestalt fällt ein kräftiger Schein, und ohne Abzug kann das Publikum die Melodie seiner langsamen Gesten, seiner priesterlichen Mienen verfolgen. Mienen und Gesten stehen im Einklang mit der sonoren und weichen Stimme, die in schweren Klängen – largo, largissimo – Wort für Wort die Dichtung werden läßt. Dieses Uni der Stimme und der Geste, des Lichtes und des Wortes soll es sein, was den Gedichten ihren Zauber verleiht. Es sollen keine bestimmten Gedanken übertragen werden, kaum Stimmungen. Der Zustand allein, jener müde, dämmerige Zustand ist Wille und Endzweck dieser ganzen Kunst. Mit einem Wort also: Bung-Bung.194
2.3. Zwischen Nachahmung und Distanzierung: Hommagen und Parodien Manche Lebensrückblicke erörtern retrospektiv die Bedeutung des jungen Stefan Georges im Kontext des Fin de siècle-Schwabing. Sein Schulkamerad Georg Fuchs beschreibt ihn aus einer dezidiert nationalistischen Perspektive und sieht das wahre Bild des Dichters in dem „hysterischen Kult“ um George „entstell[t]“. „Vorwiegend jüdisch-berlinische[r] Einfluss“ 192 Reventlow: Herrn Dames Aufzeichnungen, S. 73. Reventlows Schlüsselroman wird eingehender in Kapitel 3.1 behandelt. 193 Willy Pastor: Bung-Bung (Stefan George). In: Studienköpfe. Zwanzig essayistische Porträts. Leipzig und Berlin 1902, S. 186–192. 194 Pastor: Bung-Bung (Stefan George), S. 191. Friedrich Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte seit 1890, Berlin 1930, S. 182, hat sich spät noch gegen die „bequeme und salzlose Parodie“ verwahrt.
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hätte dieses Zerrbild instrumentalisiert, „um George und seine Macht über eine Auslese meist sehr begabter, wohlhabender und zu geistigem Führertum veranlagter junger Männer für ganz bestimmte, schon ans Politische streifende Zwecke heranzuziehen“, während die „solchem Treiben abgeneigten älteren Freunde“ abgedrängt worden wären.195 Die verschwörungstheoretisch fundierte These von einem angeblichen Missbrauch Georges wurde im Nationalsozialismus zur bevorzugten Strategie, um ein national stimmiges George-Bild zu zeichnen. Zwei Karikaturen am Ende des Beitrags stellen augenfällig die Bandbreite des George-Bildes dar. Abgebildet ist neben der populären George-Karikatur von Bruno Paul, die George auf Nase, Hut und Haarschopf reduziert (Abbildung 4), eine Zeichnung von Leo Samberger, die George mit markanten, finsteren Gesichtszügen zeigt (Abbildung 1).
Abb. 1: Stefan George. Karikatur von Leo Samberger, 1936.
Bis heute fehlt es an Versuchen, George auf die Münchner Moderne zu beziehen. Er war um 1901 Stammgast im Café Leopold, wie man aus dem Tagebuch der Franziska Gräfin zu Reventlow entnehmen konnte, die dort häufig mit ihm verkehrte.196 Auch kennt man seine Affinität zu den von Alexander von Bernus gegründeten Schwabinger Schattenspielen, die dann auf Stift Neuburg bei Heidelberg fortgeführt wurden. Von Rolf von Hoerschel195 Georg Fuchs: Sturm und Drang in München um die Jahrhundertwende. Mit 58 zeitgenössischen Bildern und Karikaturen, München 1936, bes. S. 120–137, hier 136. 196 Vgl. Franziska zu Reventlow: „Wir sehen uns ins Auge, das Leben und ich“. Tagebücher 1895–1910. Hg. von Irene Weiser und Jürgen Gutsch, Passau 2006, s. d. 20.2.1901 („Fast unheimlich diesen seltsam gebildeten Kopf mit den erloschenen Augen. Kommt einem nicht recht wie ein wirklicher Mensch vor, trotzdem er lachen kann“), 3.3.1901, 4.3.1901, 5.3.1901.
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mann, dem Silhouettenschneider, wird berichtet, dass man im rhythmischen Stil des George-Kreises sprach;197 zugleich wies Hoerschelmann auf die Defizite in den Erinnerungen von Georg Fuchs hin, der Wolfskehls Rolle in der Schwabinger Bohème unterdrücke und George fälschlicherweise zu einem Vorbereiter des Dritten Reichs stilisiere.198 In jedem Fall war Stefan George um 1900 in München so populär, dass früh schon in bildlich-literarischen Kombinationen auf ihn parodistisch referiert werden konnte. Die Karikaturen in den Münchner illustrierten Kulturzeitschriften Simplicissimus und Jugend zeugen zum einen von dem hohen Bekanntheitsgrad Georges; zum andern finden sie sich oft in ‚Gruppenparodien‘: Sie nehmen George nicht allein, sondern gemeinsam und im Vergleich mit seinen Moderne-Konkurrenten ins Visier. So steht er im Siebengestirn moderner Lyriker, einer bildlich-literarischen Kooperation von Otto Erich Hartleben und Max Hagen, an oberster Stelle der sieben parodierten Dichter (Abbildung 2): Stephan George [!], John Henry Mackay, Hugo von Hofmannsthal, Richard Dehmel, Otto Julius Bierbaum, Arno Holz und Franz Evers.199 Die Parodien sind als Tafeln in die Vertikalkomposition eines sich gattenden Schlangenpaares integriert. Den vagen, in Blassrosa gehaltenen Hintergrund bilden eine Harfe schlagende Schöne und eine vom Himmel herabstürzende, geflügelte Muse. Sie küsst den als grotesken Satyrkopf am unteren Bildrand dargestellten Parodisten, der eine Schreibfeder in der rechten Hand hält. George führt nicht nur die Reihe der „modernen Lyriker“ an, sondern ist auch den Sternen am nächsten, die den oberen Bildrand ausmachen. Hartlebens Parodie liegt Georges Gedicht Im Unglücklichen Tone dessen von … aus den Sagen und Sängen zugrunde.200 In diesem Briefgedicht schildert ein Ritter seiner Dame, er habe ihrem Wunsch gemäß einen Wurm „nach heissem ringen […] erstochen“, dabei aber selbst Schaden genommen: „Doch seitdem blieb mein haar versengt – / Worob ihr lachtet“ (V. 8–9). Der Tatzelwurm Die mir mein Wunsch erkoren, Lieb-leichte, blinde Thoren, Die Vögel sind verloren – Sie tödtete der Sturm. 197 Vgl. Eva-Maria Herbertz: „Der heimliche König von Schwabylon“. Der Graphiker und Sammler Rolf von Hoerschelmann in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, München 2005, S. 28. 198 Vgl. Rolf von Hoerschelmann: Leben ohne Alltag, Berlin 1947, S. 130, ebenfalls zu George: S. 19–21; S. 119 f., S. 126. 199 Otto Erich [Hartleben] [Text] und Max Hagen [Zeichnung]: Siebengestirn moderner Lyriker. In: Jugend 4 (1899), Nr. 7, S. 104. 200 Vgl. SW III, 49.
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Mein Haupthaar liegt geschoren, Du sahst die langen Ohren, O wär ich nie geboren! – Mich stach der Tatzelwurm. Stephan George.201
Hartleben hat diese Episode in seiner Parodie invertiert und personalisiert. Hier ist es der Dichter, dessen verführbare Verehrer sich im Wind verloren haben, während er vom „Tatzelwurm“, einem alpenländischen Fabeltier, so „gestochen“ wurde, dass ihm nun das „Haupthaar […] geschoren“ wurde. Freilich bleibt diese Parodie buchstäblich noch ganz äußerlich, da Hartleben weder die Form des Prätexts noch die typographischen Besonderheiten Georges nachahmt, sondern lediglich den mediävalisierenden Tenor der Vorlage komisiert und auf den Dichter anwendet. In der Dichter-Schule, einer von einem gewissen ‚Rigolo‘ unterzeichneten Dialog-Parodie, wird ein poetisches Examen simuliert, in dem ein „Schüler dem „Lehrer“ an einem Thema vorführen muss, dass er die unterschiedlichen Sprechweisen der Moderne beherrscht.202 Aufgabe ist es, einen Schwan auf einem abendlichen Weiher zu bedichten, erprobt werden jeweils die Stilarten von Alfred Kerr, Hermann Bahr, Otto Julius Bierbaum, Stefan George, Arno Holz und Hugo von Hofmannsthal. Einigermaßen originell an dem Prüfungsgespräch ist der Umstand, dass die Autorenparodien jeweils mit einer individuellen parodistischen Autorschaftsinszenierung eingeleitet werden, die verdeutlicht, wie untrennbar in der Moderne Person und Werk sind. So wird die George-Parodie durch ein Inszenierungsritual eingeleitet, das sowohl Georges exzentrisch-orientalisierenden Geschmack („ägyptische[s] Mumien Parfüm“) und Formklassizismus („Lorbeerbaum“) als auch sein ‚Hersagen‘ von Gedichten aufgreift: LEHRER: […] Was macht Stefan George aus dem Stoff? SCHÜLER: Einen Teppich des Lebens, gewebt aus Traum und Tod. LEHRER: Wie also? SCHÜLER (besprengt sich mit ägyptischem Mumien-Parfüm, rückt einen Lorbeerbaum in die Nähe, schließt die Augen und deklamiert eintönig, langgezogen durch die Nase): Seht meine brüder meine lila leidenden brüder seht und stimmt die saiten der leier der schwefelgelbwahnsinndurchfieberten leier und deutet
201 Hartleben / Hagen: Siebengestirn moderner Lyriker, S. 104. 202 Rigolo [Karl Waßmann?]: In der Dichter-Schule. In: Jugend 6 (1901), S. 575 f.
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Abb. 2: Siebengestirn moderner Lyriker. Sammelparodie von Otto Erich Hartleben [Text] und Max Hagen [Zeichnung] in der Jugend, 1899.
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die Räthsel des weihers die ultramarinblauen nächtigen räthsel die räthsel des schwans des stillen stolzen im leichenverwesungsdämmernden lichte.203
Die Parodie, die in den apostrophierten „brüder[n]“ auf den Kreis anspielt, beschränkt sich neben den üblichen äußerlichen Stilmitteln (Kleinschreibung und Fehlen von Satzzeichen) vor allem auf Wiederholungsfiguren und Ausmalungen durch komplexe Farbadjektive, Stilmittel, die für George wenig charakteristisch sind. Dagegen bleiben Form und Metrik ganz untypisch unreguliert. Daher ist das abschließende Lob des Lehrers („Sehr gut!“) vor allem ein Selbstlob des Parodisten.204 Literarhistorisch bedeutsam scheint mir aber neben der Einreihung Georges in einen Moderne-Kanon dessen Zusammenstellung, die in einer Klimax die drei Lyriker George, Holz und Hofmannsthal als Krönung präsentiert. Auch die Simplicissimus-Karikatur Moderne Dichter von Thomas Theodor Heine aus dem Jahr 1901 präsentiert Stefan George als einen unter acht Lyrik-Avantgardisten, unter ihnen zwei Frauen, in einem Münchner Lokal: „Wir können nicht mit ihm verkehren, er ist nicht erblich belastet“ (Abbildung 3).205 Es ist Stefan George, dem diese Worte in den Mund gelegt werden, der sie dem links außen sitzenden Dichter – es handelt sich wohl um Frank Wedekind – ins Ohr flüstert. Seine Kritik zielt auf den im Vordergrund als feisten Spießer karikierten Detlev von Liliencron, der mit Wonne Bier und Geselchtes verzehrt. Damit wird die zeitgenössische Auffassung von der Heredität künstlerischer Phantasie und Dekadenz aufs Korn genommen, die dem vitalen ‚Bruder Liederlich‘ Liliencron abgeht. Neben George und Wedekind sind wohl die wichtigsten Repräsentanten einer modernen Lyrik dargestellt: Arno Holz, Richard Dehmel, Friedrich Huch, Lou Andreas-Salomé sowie möglicherweise Rainer Maria Rilke und Isolde Kurz. Entscheidend für die Kontrastrelation der Darstellung ist die Zuordnung Georges zu dem Kreis der ‚Modernen Dichter‘, so heterogen diese Gruppe auch ist. Bezeichnend sind die häufigen Wort-Bild-Kombinationen in der parodistischen Bewältigung des Phänomens George. Die Steckbriefe, die Martin
203 Rigolo: In der Dichter-Schule, S. 575. 204 Rigolo: In der Dichter-Schule, S. 576. 205 Thomas Theodor Heine: [Karikatur] Moderne Dichter. In: Simplicissimus 6 (1901), Nr. 7, S. 56. Wieder reproduziert in Albert Soergel / Curt Hohoff: Dichtung und Dichter der Zeit. Vom Naturalismus bis zur Gegenwart, Düsseldorf 1961, S. 249. Vgl. dazu Wolfgang Bunzel: Das deutschsprachige Prosagedicht. Theorie und Geschichte einer literarischen Gattung der Moderne, Tübingen 2005, S. 132 Anm. 32. Vgl. Thomas Raff: Thomas Theodor Heine. „Der Biss des Simplicissimus“. Das künstlerische Werk, Leipzig 2000, S. 95 f.
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Abb. 3: Moderne Dichter. Karikatur von Thomas Theodor Heine im Simplicissimus, 1901.
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Möbius, alias Otto Julius Bierbaum, im Jahre 1900 in kongenialer Kooperation mit dem jungen Künstler Bruno Paul veröffentlichte, widmen Stefan George ein bezeichnendes bildlich-literarisches Porträt. Bierbaum fordert die Leser zu einer regelrechten äußerlichen und innerlichen Investitur auf, um George, dem „Hohenpriester der feierlichen Gedankenflucht“, näherzukommen: „Stiefel aus und Sammtpantoffeln an! Über die Hände Hüllen von Leder milchgemästeter Kälber und eine Priesterbinde ums Haupt aus indischer Seide, parfümiert mit dem Seelengeruche zitternder Mimosen! […] Nun seid ihr geeignet und würdig, in den Kreis der Adepten zu treten und die höchste Sensation des Literaturjahrmarktes zu genießen, das Extrakabinett der lyrischen Wachsfigurenbude, wo der wunderbarste Automat der Gegenwart feierlich sinnlose Worte tönt“.206 Die Parodie auf den Elitismus Georges bleibt ganz äußerlich und gipfelt in dem Verdacht, George könnte bald seinen artifiziellen Habitus abwerfen, „sein erstes Komma schreib[en]“ und auf diese Weise seine Anhänger enttäuschen. Dagegen würden die „Freunde des gesunden Menschenverstandes sich darüber freuen, daß ein Mensch von Geschmack sich mit ein paar Geschmacklosen nur einen […] Scherz erlaubt hat“.207 Bierbaums prophetischer Schluss ist ein frühes Beispiel für die später vorherrschende Kritik am George-Kreis, die den Meister mehr oder weniger ausspart und stattdessen die Gruppennorm aufs Korn nimmt. Bruno Pauls Karikatur erhält ihre charakteristische Prägnanz vor allem dadurch, dass sie die äußeren Attribute Georges übertreibt (Abbildung 4): Die Vorliebe des Dichters für dunkle formale Kleidung wird durch völlige Schwärze wiedergegeben, das füllige Haupthaar wird zu einem undurchdringlichen Mob erweitert, der das Gesicht fast ganz bedeckt und nur noch die markante Nase sehen lässt, die fast wie ein männliches Genital wirkt. Auf dem breiten Haarschopf sitzt ein zylinderartiger schwarzer Hut. Diese Karikatur gewann gerade durch ihre hohe Abstraktion einen Wiedererkennungswert, der wohl die mehreren Reproduktionen und Nachbildungen erklärt. So erschien noch im Jahre 1900 in der Jugend ein Auszug aus den Steckbriefen mit Pauls Karikatur.208 Arpad Schmidhammer hat Pauls Zeichnung für die Vignette der Parodien genutzt, die Hanns von Gumppenberg unter dem Titel Das deutsche Dichterross im Folgejahrgang der Jugend veröffentlichte. Darunter finden sich symmetrisch zwei Pegasusse, die jeweils einen Dichter abzuwerfen suchen. Auf dem linken Pegasus stürzt wohl Arno Holz mit
206 Martin Möbius [d. i. Otto Julius Bierbaum]: Steckbriefe, erlassen hinter dreißig literarischen Uebelthätern gemeingefährlicher Natur. Mit den getreuen Bildnissen der Dreißig versehen von Bruno Paul, Berlin und Leipzig 1900, S. 53–56. 207 Möbius [d. i. Bierbaum]: Steckbriefe, S. 56. 208 Martin Möbius [Text] und Bruno Paul [Zeichnung]: Stefan George In: Jugend 5 (1900), Nr. 17, S. 297.
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Abb. 4: Stefan George. Karikatur von Bruno Paul in Otto Julius Bierbaums Steckbriefen, 1900.
Bierglas vornüber, den rechten Pegasus packt George, stilisiert nach Pauls Karikatur, mit beiden Händen am Schwanz (Abbildung 5).209 Dass George gemeint ist, geht auch daraus hervor, das unmittelbar unter der Karikatur Gumppenbergs George-Parodie letzter besuch abgedruckt ist. Sie imitiert George in der durchgängigen Kleinschreibung, dem jambischen Fünfheber, der erlesenen Lexik und gesuchter Bildlichkeit.210 Die Lexik, etwa das seltene Substantiv „beigemach“ („ich berge schweigend mich im beigemache“ [V. 5], für: „Ich ziehe mich zurück zum beigemache“ [V. 6]) oder das variierte Kompositum „lampenmahle“ (für „lampen-flimmer“), erweisen das Gedicht als Einzeltextparodie auf Georges „Ich lehre dich den sanften reiz des zimmers“ aus dem Waller im Schnee.211 Die Entfremdung eines Paares, das trauernde Ich, dem das Du in einer Depression abhandengekommen ist, greift Gumppenberg zwar auf, banalisiert aber die Situation, indem er den
209 Hanns von Gumppenberg [Text] und A[rpad] Schmidhammer [Zeichnungen]: Das deutsche Dichterross. In: Jugend 6 (1901), Nr. 10, S. 150. 210 Hanns von Gumppenberg: letzter besuch. In: H. v. G. / Schmidhammer: Das deutsche Dichterross: „ob noch ein trost entquille jetzt uns beiden? / Ich hofft es wohl, ich kam zum lampenmahle / doch da ich heißer dürste, tief im leiden / dich trinken will, entziehst du mir die schale. // ich berge schweigend mich im beigemache / die unentschloßnen qualen zu verschonen / denn einsam fahle liebe, thörig schwache / sie kann nicht meine träume mehr bewohnen. // und glimmt noch jetzt durch leere nacht der zunder / in bitternis dich an mir seitzulegen / so will ich deines grams geheimes wunder / mit sanftem saft, mit meinen thränen pflegen“. 211 Vgl. SW IV, 29.
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Abb. 5: Das deutsche Dichterross. Sammelparodie und -karikatur von Hanns von Gumppenberg [Text] und A[rpad] Schmidhammer [Zeichnung] in der Jugend, 1901.
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erotischen Wunsch des lyrischen Ichs betont. Welches Eigenleben Bruno Pauls Darstellung Georges entwickelte, bezeugt die anonyme Karikatur in der Osterausgabe der Wiener Satirezeitung Der Floh aus dem Jahr 1901 (Abbildung 6).212 Sie knüpft an Pauls Porträtkarikatur an, indem sie die äußerlichen Charakteristika wie den hohen Zylinder und die schwarze Mähne aufgreift, doch George nicht von vorn, sondern als Rückenansicht präsentiert. Dennoch ist der Dichter beziehungsweise dessen gängiges Zerrbild unschwer zu identifizieren. Selbst Hommagen unterliegen der Gefahr posenhafter Stilisierungen, die Kippfiguren nahekommen: Wenn etwa Albert Rausch (d. i. Henry Benrath) im Widmungsgedicht An Stefan George (1907) im einvernehmlichen ‚Wir‘ einer Verehrergemeinde George als kosmische Instanz und Religionsstifter auratisiert, beschreibt er in der Eingangsstrophe so hyperbolisch das Äußerliche eines übermenschlichen Propheten, dass die Grenzen der Veridikalität überschritten sind: Ein Jüngling uns in wallendem Gewande, Weiß wie der Schnee auf sanfterglühten Firnen, Geht er wie segnend durch entlegne Lande, Und seine Finger spielen mit Gestirnen Von kühlem Glanz. – Er streut sie uns zu Füßen, Wie Kinder in der Kirche Blumen streuen, Wenn junge Seelen kommen, Gott zu grüßen Und sich am ersten Trost des Lichts zu freuen: Denn unser Weihegruß gilt nur dem Schönen! Und dies ist das Geheimnis seiner Taten: Ein dunkler Hall von wundervollen Tönen, Ein Hymnenruf zu reineren Gestaden . . . .213
In welch ausgeprägter Weise Stefan George bereits um 1900 als Repräsentant eines unverwechselbaren eigenen Stils wahrgenommen wurde, zeigt Die gelbe Rose, eine wenig bekannte Folge lyrischer Variationen, die der junge Hermann Hesse 1902 in Basel verfertigte, und in der er ein und dasselbe Thema im Stile mehrerer Dichter der Moderne erprobt, darunter auch Stefan George:214 212 Die der Karikatur beigesellte Parodie Violette liebe wird in Kapitel 2.1.6 behandelt. 213 Albert Rausch: An Stefan George. In: Deutscher Almanach auf das Jahr 1907, Leipzig 1907, S. 68. 214 Hermann Hesse: Die gelbe Rose. In: H. H.: Sämtliche Werke, Bd. 10: Die Gedichte. Hg. von Peter Huber, Frankfurt/M. 2002, S. 513–515, hier 515. Unter jeweils demselben Titel Die gelbe Rose hat Hesse Gedichte im Stil von Richard Dehmel, Rudolf Alexander Schröder, Paul Scheerbart und Stefan George verfasst.
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Abb. 6: Wie wir es sehen ... . Anon. Sammelparodie und -karikatur und Parodie in der Zeitschrift Der Floh, 1901.
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Die gelbe Rose von Stefan George
Blühe, indeß die wollenen Wolken steigen, Welke, indeß verblaßte Ranken sich neigen, Dufte wie Träume schlanker Epheben duften Dufte schön wie ein strahlender Held unter Schuften! Ernsthaft, nachdem ich langsam das sanfte Leder Meines Handschuhs vom Finger gestreift, erhebe Dir zum Preise ich meine kundige Feder; Denn ich bin selbst Traum, Held und schlanker Ephebe!
Hesses George-Parodie fällt allerdings ein wenig aus dem Rahmen der übrigen Variationen, da der Titel durch die Nennung des Autornamens wie durch das Titelzitat des Gedichts Gelbe Rose aus Georges Auswahl erster Verse seiner Fibel (1901) (SW I, 72) den zugrunde liegenden Prätext verrät: Georges Frühwerk. Denn trotz der Titelallusion auf Georges Gelbe Rose handelt es sich nicht um eine Einzeltext-, sondern um eine Textklassenparodie. Während George in seinem strophisch nicht gegliederten elfversigen Gedicht eine weibliche indische Schönheit mit dem Bild der ‚gelben Rose‘ so verschränkt, dass die Referenz fast ambivalent bleibt,215 ist der Gegenstand von Hesses zweistrophiger Parodie eine ‚wirkliche‘ Rose. Ihr verordnet das lyrische Ich diverse Personifikationen, um sich dann selbst in der zweiten Strophe als narzisstisch-egozentrischer Dichter mit diesen Personifikationen zu identifizieren. Zwar ahmt Hesse in seiner George-Parodie nicht die Kleinschreibung nach, aber er überinstrumentiert gekonnt typische Stilmerkmale wie die Temporalkonjunktion ‚indes‘, Alliterationen, Wiederholungen und das imperativische Sprechen. Hesses parodistische Variation entlarvt die für Stefan Georges Frühwerk charakteristische Diskrepanz zwischen unbedeutendem Thema und erhabenem Ton und diskreditiert auf diese Weise den hohen Stil.216 Bei dem jungen Hesse dienen die Parodien auf George wie auf weitere Repräsentanten der Moderne dazu, 215 Vgl. Stefan George: Gelbe Rose: „Im warmen von gerüchen zitternden luftkreis / Im silbernen licht eines falschen tages / Hauchte sie von gelbem glanz umgossen / Ganz gehüllt in gelbe seide. / Nur lässt sie bestimmte formen ahnen / Wenn sich ihr mund zu sterbendem lächeln verzieht / Und ihre schulter ihr busen zu leichtem zucken. /Göttin geheimnisvoll vom Brahmaputra vom Ganges! / Du schienest aus wachs geschaffen und seelenlos / Ohne dein dichtbeschattetes auge / Wenn es der ruhe müde sich plötzlich hob.“ (GA I, 92 / SW I, 72). 216 Vgl. dazu Rudolf Koester: Hermann Hesses George-Bild. Eine Richtigstellung und Ergänzung. In: Im Dialog mit der Moderne: Zur deutschsprachigen Literatur von der Gründerzeit bis zur Gegenwart. FS Jacob Steiner. Hg. von Roland Jost und Hansgeorg Schmidt-Bergmann, Frankfurt/M. 1986, S. 335–346, bes. 337 f.
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sich von den Stilvorbildern zu emanzipieren.217 Ähnlich relativiert wird Stefan George in Rudolf Egers Stammbuchblättern des Herrn Modernissimus, veröffentlicht unter dem Pseudonym „Julius Erich Bierleben“, indem er nicht individuell, sondern im Kontext mit anderen Vertretern der literarischen Moderne parodiert wird.218 Hesse ist kein Einzelfall in der produktiven Auseinandersetzung mit Stefan George: Bereits in der Frühphase finden sich zahlreiche Anzeichen einer kritischen Auseinandersetzung. So persifliert Ernst von Wolzogen in seinem Roman Das dritte Geschlecht (1899) einen dilettierenden Prinzen, der den Dichter liebt, „obwohl er auch [ihm] vielfach dunkel ist“.219 Der erste der Sprüche für die geladenen in T. . aus dem Jahr der Seele, ein vierstrophiges, reimloses Gedicht, in dem das Dichten als isolierende Gabe erläutert wird, die einem in die Wiege gelegt ist, wird bei einer Soirée verlesen. Der Vorleser bemängelt zunächst das Fehlen von „Interpunktionszeichen“, bevor er „spöttisch“ lächelnd bemerkt: „Ach so, Stefan George“.220 Das Gedicht wird in Wolzogens Roman zwar vollständig wiedergegeben, doch der soziale Rahmen kontrastiert und banalisiert die „geheimnisvolle Rätselkrämerei“ und den „müde[n] Weltschmerz“ so sehr, dass der hohe Ton des Gedichts fast wie die Parodie einer Adoleszenzkrise wirkt:
217 Die Affektvehemenz des jungen Hermann Hesse erklärt sich auch daraus, weil zeitgenössische Kritiker wie Wilhelm von Scholz in ihm einen George-Nachahmer sahen. Dagegen verwahrt sich Hesse sogar noch 1941 im „Geleitwort“ zur Neuauflage seiner Stunde hinter Mitternacht (ED: Leipzig 1902): „Von George […] war mir, als mein Buch erschien, noch keine Zeile bekannt, ich habe die ersten Verse von ihm – es waren die Hirtengedichte – erst einige Monate später in Basel kennengelernt“. Und Hesse betont seine Ablehnung gegen die „in dem beginnenden George-Kult“ zutage tretende „noch fatalere Arte des Ästhetentums […], die Pflege eines geheimbündlerischen Pathos, einer überheblichen Cliquen-Esoterik“; vgl. Hermann Hesse: Sämtliche Werke, Bd. 1: Jugendschriften. Hg. von Volker Michels, Frankfurt/M. 2001, S. 170. 218 Julius Erich Bierleben [d. i. Rudolf Eger]: Stammbuchblätter des Herrn Modernissimus. Parodistisches und Mystisches, Charlottenburg o. J. [1901], S. 10 s. n. Stefan George: „Ahnung // Ueber die blaue haide weht / der blütensaum . . . . / rot in rot der wind vergeht. / ein haidetraum. / die blüten gleissern kreischend hier / nach maienwind . . . . / die sonnenwege wandern wir. / Du blütenkind! – – – – – –“. Eine Selbstanzeige von Rudolf Eger, in: Die Zukunft 35 (1901), S. 324, welche die „kritische“ Absicht der Parodien betont, ermöglicht die Auflösung des Pseudonyms. Egers Parodie beschränkt sich aber auf die offensichtlichen Äußerlichkeiten (Kleinschreibung, keine Kommata) und bleibt sonst so unspezifisch, dass sie hinter den kritischen Anspruch zurückfällt. 219 Ernst von Wolzogen: Das dritte Geschlecht. Roman, mit Buchschmuck von Walter Caspari, Berlin 1899, S. 102. 220 Wolzogen: Das dritte Geschlecht, S. 102.
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Indess deine Mutter dich stillt Soll eine leidige Fee Von Schatten singen und Tod. Sie gibt dir als Patengeschenk Augen so trübe und sonder, In die sich die Musen versenken.221
So trennt der Gedichttext auch die Abendgesellschaft: Während die übrigen Zuhörer gelangweilt auf George reagieren, ist Joachim von Lossow von dem Spruch für die geladenen in T. . so tief berührt, dass er auf dem Flügel „versuch[t] […] das Gedicht zu spielen“ und durch seine musikalische Interpretation den Prinzen und Lilli begeistert.222 Die ‚negative‘ Rezeption richtet sich sowohl gegen die elitäre Selbststilisierung des Dichters als auch gegen den weihevollen Stil seiner Dichtung und gegen den semantisch uneindeutigen Symbolismus. So attackiert das naturalistische Periodikum Die Gesellschaft mit einer Nonsense-Parodie unter dem Titel Am Tag der Heimkehr meiner englischen Tante (1899), als deren fiktiver Verfasser ein ‚Georg Stefan‘ (d. i. Franz Evers) firmiert, den symbolistischen Stil der „‚Geheimgesellschaft für ewige Kunst‘“: Der zufolge komme „ein großes Kunstwerk […] allein durch Wohlklang […] und vielsagende Dunkelheit zu wesentlicher Wirkung“.223 Die Referenz auf Stefan George wird zusätzlich markiert durch die sarkastische Anmerkung: „Mit Interpunktion und großen Anfangsbuchstaben versehen von Franz Evers“. Die Parodie zielt auf kein bestimmtes Gedicht Georges ab. Zwar alludiert Evers den Wortschatz des Dichters („rune“, „sintern“, „schlichten“), kombiniert aber die Wörter zu einem unsinnigen Text. Wie hier von der naturalistischen Warte aus die Modernität von Georges Dichtung als Beliebigkeit verkannt wird, so liegt den meisten George-Parodien eine traditionelle Ästhetik zugrunde. Sie zeigt sich als Tendenz im George-Steckbrief von Otto Julius Bierbaum, der George mit anderen prominenten Autoren der Jahrhundertwende an den Pranger stellt.224 Bierbaum bezeichnet Stefan George
221 Wolzogen: Das dritte Geschlecht, S. 103. Wolzogen hat den Wortlaut Georges nicht verändert, lediglich wenige Satzzeichen eingefügt (GA IV, 55 und 103 / SW IV, 53). 222 Wolzogen: Das dritte Geschlecht, S. 104. 223 Georg Stefan [d. i. Franz Evers]: „Am Tag der Heimkehr meiner englischen Tante // Der Morgen blüht. Es duften die Gebiete. / Die reinste Bläue schlichtet eine Nacht. / Die Frau, die kein Sterblicher erriete, / Hat mich mit ihrer Gift*) zu mir gebracht. // Und steht erhöht auf meiner Wiese hinter / Dem glatten Wasser, einen Thonkrug links, / Die Schwermut rechts im Arm – und Quarz und Sinter / Erstrahlen tief; denn wie Beleben ging’s // Von solcher Hoheit aus, der dunklen Rune, / So glänzt des Himmelwaldes Zauberglas; / Ich neige mich, es blendet die Lagune – / Und betend sinkt mein Arm ins laue Gras. //*) Gift = Gabe, vergl. Mitgift“. In: Die Gesellschaft 15 (1899), Nr. 1, S. 255. 224 Vgl. Martin Möbius [d. i. Otto Julius Bierbaum]: Steckbriefe, S. 53–56. Die George-Karikatur,
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als „Hohepriester der feierlichen Gedankenflucht“ sowie „raffiniertesten Grotesktänzer der zeitgenössischen Lyrik“ und verkennt ihn als ephemere Übergangserscheinung.225 Der Methode der ‚Textklassenparodie‘ bedient sich ebenfalls das bereits erwähnte Gedicht letzter besuch von Hanns von Gumppenberg. Fast für jeden Vers finden sich Entsprechungen im Jahr der Seele.226 Der Schluss der Parodie: „so will ich deines grams geheimes wunder / mit sanftem saft mit meinen tränen pflegen“ komisiert etwa die sentimentalen Verse des A. H., d. i. August Husmann, gewidmeten Gedichts: „Wir wollen gerne sie – verborgne wunder – / Mit unsrem blut und unsren tränen pflegen“.227 Die bei George nur angedeutete Entfremdung zweier Liebenden wird in dem parodistischen Pastiche banalisiert. Der im George-Kreis geschmähte Gräzist Ulrich von WilamowitzMoellendorff hat George mehrfach parodistisch angegriffen.228 In seinem Sonett Nach Stefan George, das Sigrid Hubert ausführlich als Beispiel einer ‚Pointenparodie‘ analysiert hat,229 verwendet er virtuos das gesuchte lexematische Material des Jahrs der Seele, um es durch ‚Untererfüllung‘ der Bilder
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die in der Gestaltung der Nase antisemitisch tingiert wirkt, stammt von Bruno Paul (ebd., S. 54). Möbius [Bierbaum]: Steckbriefe, S. 56: „Der Tag ist […] nicht mehr ferne, wo Stephan George sein erstes Komma schreibt“. Hanns von Gumppenberg: letzter besuch. In: H. v. G.: Das teutsche Dichterroß. In allen Gangarten vorgeritten, 13. und 14. erw. Aufl., München 1929, S. 80. Vgl. dazu Erwin Rotermund: George-Parodien. In: Artistik und Engagement. Aufsätze zur deutschen Literatur. Hg. von Bernhard Spies, Würzburg 1994, S. 150–161; Theodor Verweyen / Gunther Witting (Hg.): Deutsche Lyrik-Parodien aus drei Jahrhunderten, Stuttgart 1983, S. 106 und S. 205. Hinter dieser Parodie fallen die beiden anderen George-Parodien Gumppenbergs ab: „American Bar“ und „stammtisch der vorgeschrittenen“. In: H. v. G.: Das teutsche Dichterroß, S. 81 f. SW IV, 78. Überliefert sind drei Parodien; vgl. Ulrich K. Goldsmith: Wilamowitz as Parodist of Stefan George. In: Studies in Comparison. Hg. von Hazel Barnes u. a., New York 1989, S. 163–172; Abdruck der Texte ebd., S. 128–131; neuerdings hat Maik Bozza: „Ja, Stephan, alles lacht“ … Ein weiterer Überlieferungsträger der George-Parodien von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf [!] oder: Von den kleinen Freuden der Katalogisierungsarbeit. In: WLBforum 23 (2021), Nr. 2, S. 28–31, eine Abschrift von zwei Sonett-Parodien aus dem Nachlass von Friedrich Wolters veröffentlicht, die George selbst kannte. Im Kreis galten Wilamowitz’ George-Parodien als Beweis seines verständnislosen Positivismus, wie aus dem scharfen Verweis von Friedrich Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 183, erhellt: „In Berlin versah der Altphilologe Ulrich von Wilamowitz-Möllendorff das parodistische Amt, ein Mann, an dem der traurige Ruhm haften bleibt, daß er jeden deutschen Genius, den seine Zeit gebar, Wagner, Nietzsche, George angemistet hat“. Zur Kritik des Kreises an Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff vgl. GHb II, 6.3, sowie Ulrich K. Goldsmith: Wilamowitz and the Georgekreis. New Documents. In: Wilamowitz nach 50 Jahren. Hg. von William M. Calder, Darmstadt 1985, S. 583–612, und Stefan Rebenich: Die Antike in „Weihen-Stefan“. Platon im Georgekreis. In: St. R.: Die Deutschen und ihre Antike. Eine wechselvolle Beziehung, Stuttgart 2021, S. 225–241. Vgl. Sigrid Hubert: George-Parodien. Untersuchungen zu Gegenformen literarischer Produktion und Rezeption (masch. Diss.), Trier 1982, S. 125–137.
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ad absurdum zu führen. Wilamowitz-Moellendorff nutzt die Zweiteiligkeit des Sonetts, um die Stilimitation am Ende des ersten Terzetts abbrechen zu lassen und dann mit einem unpassenden Trinkspruch zu kontrastieren, dessen komische Diskrepanz durch den Gleichklang des Reims „Morgue / George“ gesteigert wird: […] – Schafft ihn auf die Morgue, Mir aber schleunigst einen derben Bittern, Denn bei der Poesie der Kakerlaken, Da schwiemelts mir – Dank für Stefan George!230
In einer weiteren Sonett-Parodie auf Stephan George konfrontiert Wilamowitz „In eines Junineumandsabends Dämmern“ das lyrische Ich, das auf einem „Balcon“ mit seinen „blauen neurasthenischen Gedanken“ kämpft, mit der Frühlingsnatur; der Schlussvers bricht die poetische Illusion, indem er das letzte Bild („alles lacht / so blau“) in einer ironischen Apostrophe an „Stephan“ wiederholt und damit banalisiert: Ein fernes Rauschen. Horch. Najaden schaukeln auftauchend ihrer Glieder glaue Pracht. Vom Weiher weht es her so lind, so lau. Auf der Glycinie Blütentrauben gaukeln die Sammetpfauenaugen. Alles lacht so blau. Ja, Stephan, alles lacht. So blau.231
In seiner Blechschmiede (1902), in der alle Strömungen der deutschen Lite ratur durchgehechelt werden, verspottet Arno Holz ebenfalls George. Er lässt ihn in der Gestalt des ‚Apollonius Golgatha‘ auftreten, „auf einem Postament in der Mitte. Glockenrock à la Thomas Theodor Heine, aus seinen Rockschößen die ‚Blätter für die Kunst‘, als Pegasus ein Schaukelpferd“.232 Allerdings weisen die Verse und Gedichte, die Holz dem partiellen Zerrbild Georges in den Mund legt, auch Ähnlichkeiten mit Rilke und Hofmannsthal auf.233 Zudem parodiert Holz vorrangig nur einen Werkaspekt, nämlich 230 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Nach Stefan George, zit. nach Studies in Comparison (Anm. 226), S. 129. 231 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: [Stephan George] „In eines Junineumonds Dämmern“. In: „Ja, Stephan, alles lacht“ … (Anm. 226), S. 30. 232 Arno Holz: Die Blechschmiede, Leipzig 1902, S. 4 (wieder in: A. H.: Werke, Bd. 6. Hg. von Wilhelm Emrich und Anita Holz, Neuwied am Rhein, 1963, S. 17). 233 Zur Komplexität und ‚parodistischen Sonderform‘ der Figur des Apollonius Golgatha vgl. Hubert: George-Parodien, S. 622–624. Der zeitgenössische Kritiker E[ugen] K[altschmidt]: [Rez.] Die Blechschmiede. In: Der Kunstwart 15 (1901/02), Heft 23, S. 500, nennt die Dichterfigur des Apollonius Golgatha „eine Mischung aus Stefan George und Richard Dehmel“.
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das amoralische Exotisch-Erotische, das ebenso für das Buch der hängenden Gärten wie für den dekadenten Ästhetizismus eines Max Dauthendey typisch ist. Dennoch weist der priesterlich-hohe Ton im Parodietheater unverkennbar auf Stefan George hin: A pollonius G olgatha : Die hohe Harfe ist mein Amt, ich singe, weil ich leide; die Nachtigall schluchzt schwarzen Sammt, der Flieger aus Kanarien gelbe Seide.234
Auch die Karikatur von Julius Diez, die Apollonius Golgatha mit hoch erhobenem Haupt, Stehkragen, engem „Glockenrock“ und Gamaschen zeigt, der einen dampfenden Weihrauchkessel hält, zielt, freilich karikierend, auf Georges fotografische Selbstinszenierung (Abbildung 7).
Abb. 7: Stefan George als „Apollonius Golgatha“. Karikatur von Julius Diez in Arno Holz’ Blechschmiede, 1902.
234 Holz: Blechschmiede, S. 12.
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Die Blechschmiede zieht den hohen exotischen Blätter-Ton systematisch herab, sei es durch interne Dissonanzen, sei es durch antithematische Kommentare, wie sie etwa der berlinernde ‚Plantschneese‘ spricht, der die stereotype Motivik und repetitiven Preziosenbilder als Masche entlarvt: A pollonius G olgatha : Johlend über meine Diamanten taumeln trunkne Korybanten! Euch tönte nie, beglänzt vom heiligen Graal, das bunte Lied vom singenden Opal! P lantschneese : Immer durch den selben Schemel dreht und druxt det seinen Drehmel. Jott, wenn ick schon sowat seh – dhut Ihn denn det janich weh?235
Bereits im Phantasus (1899) hatte Holz das Ästhetentum im Allgemeinen und Stefan Georges im Besonderen parodiert, indem er den Gegensatz von Kunst und Leben vergröbert und vulgär ausmalt. Das freirhythmische auf eine Mittelachse zentrierte titellose Gedicht „Er kann kein Vogelgezwitscher vertragen“ entwirft einen lebensfeindlichen Ästheten, der sich mit Kunst das hässliche Leben vom Leibe zu halten sucht, aber doch nicht verhindern kann, dass die Natur im Urinieren eines Kunstobjekts ihr Recht geltend macht.236 235 Holz: Blechschmiede, S. 13. 236 Vgl. Arno Holz: „Er kann kein Vogelgezwitscher vertragen“. In: Phantasus. Zweites Heft. Berlin 1899, ungez.: Er kann kein Vogelgezwitscher vertragen. Die sogenannten Naturlaute der Nachtigallen und Lerchen sind ihm zuwider. Sein Hirn ist vollständig mit Watte tapeziert. In der Mitte kauert eine kleine Rokokovenus und piet aus Silber in einen goldnen Nachttopf.
Bereits in seiner Selbstanzeige des „Phantasus“. In: Die Zukunft 23 (1898), S. 210–219, hier 210, hatte Arno Holz gegen George und seinen Kreis polemisiert: „Nur wenige Getreue, die ein vorsorgliches Geschick mit begüterten Vätern gesegnet, folgten ihr [scil. der Lyrik] in die Einöde, wo der Mond sich in ihren Brillantringen spiegelte; und unter seltsamen Pappeln, die unter seltsamen Himmeln ein seltsames Rauschen vollführten, trieb nun ein seltsamer Kultus sein seltsames Wesen … Ich kondensire nur; ich übertreibe nicht. Das Kleid dieser
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In die gleiche Kerbe einer groben Ästhetizismus-Kritik schlägt auch der Charontiker Otto zur Linde. Er hatte – wie der Charon-Kreis überhaupt – eine ambivalente Haltung zu George, da dessen strenge Formkunst der charontischen Poetik eines individuellen „Eigenrhythmus“ zuwiderlief.237 In einem Programmgedicht An die Ästheten (1904) rechnet zur Linde mit dem Ästhetizismus, und damit mittelbar mit George und dessen Kreis, aber auch mit der sogenannten ‚Holz-Schule‘ ab.238 Sein ‚ÄsthetizismusVorwurf ist allerdings weder originell noch angemessen, denn er richtet sich gegen ein ästhetisches Programm, von dem sich der George-Kreis Anfang des 20. Jahrhunderts selbst schon distanziert hatte. In den dreizehn vierzeiligen Strophen kritisiert zur Linde die angebliche „Unnatur“ (V. 52) und Selbstbezüglichkeit des Ästhetentums in sexuellen Metaphern des Zeugens („ihrer Lenden Kraft“ [V. 6], zeugen“ [V. 41]), aber geschlechtlicher Devianz oder Sterilität („Onanie der Kunst“ [V. 5], „Eunuch“ [V. 50]), und in Spiegelmetaphern („Spiegelbrunst“ [V. 24]). Die programmatische Ästhetisierung des Hässlichen wird zum Tadel umgemünzt („Die Welt ist nicht wie ihr sie macht“ [V. 36]) und die angebliche Verkehrung des Kunstschaffens zum Hauptvorwurf: „Ja wärt der Kunst ihr, die ihr schufet, / Erschaffer! […] / […] – Die Ihr ‚bete!‘ rufet / Ihr schuft nicht Kunst, Euch schuf die Kunst“ (V. 45–48). Die Kritik am Ästhetentum dient hier mehr der Selbstvergewisserung der eigenen Gruppe, hier dem Charon-Kreis, als einer poetologischen Auseinandersetzung mit George. Auch Fritz von Ostinis parodistische Erzählung Die Wortprächte des Hann Will Sef, die erstmals 1907 in der Jugend erschein,239 mokiert sich über Georges Ästhetizismus. Protagonist der Erzählung ist ein symboliswohlhabenden Jünglinge war schwarz vom schweren Violett der Trauer, sehnend grün schillerten ihre Hände, und ihre Zeilen – Explosionen sublimer Kämpfe – waren Schlangen, die sich wie Orchideen wanden. Der graue Regenfall der Alltagsasche erstickte sie. Sie wollten das schreckliche Leben der Felsen begreifen und erfahren, welchen erhabenen Traum die Bäume verschweigen. Aus ihren Büchern der Preis- und Hirtengedichte, der Sagen und Sänge, der hängenden Gärten und der heroischen Zierrathe, der donnernden Geyser und der unausgeschöpften Quellen dufteten Harmonien in Weiß, vibrirten Variationen in Grau und Grün, schluchzten Symphonien in Blau und Rosa. Noch nie waren so abenteuerlich gestopfte Wortwürste in so kunstvolle Ornamentik gebunden. Half nichts. Ihr Dasein blieb ein submarines und das deutsche Volk interessirte sich für Lyrik nur noch, insofern sie aus den Damen Friederike Kempner und Johanna Ambrosius träufelte“. 237 Vgl. Otto zur Linde: Arno Holz und der ‚Charon‘, Großlichterfelde 1911, S. XL. 238 Otto zur Linde: An die Ästheten. In: Charon 1 (1904), Heft 5, S. 73 f. Vgl. dazu die einlässliche Interpretation des Gedichts von Eschenbach: Imitatio im George-Kreis, bes. S. 296– 300. 239 Fritz von Ostini: Die Wortprächte des Hann Will Sef. In: Jugend 12 (1907), Nr. 26, S. 550 f.; Später veröffentlicht in: Fritz von Ostini: Buch der Torheit. Mit Buchschmuck von Arpad Schmidhammer, Leipzig 1910, S. 185–191. Ob die erste Karikatur, die in ScherenschnittTechnik einen hageren Poeten mit Hut zeigt, auf George anspielt, sei dahingestellt.
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tischer Dichter, der, mit bürgerlichem Namen Johann Wilhelm Josef Lehmann, sich in „klangvolle[r] Abkürzung seiner Vornamen“ das „Dichter pseudonym“ Hann Will Sef gegeben hat.240 Wie schon der im Siebenten Ring verwendete Plural im Titel „[Wort]Prächte“241 verrät, ist die Zielscheibe des Spottes George, zu dem sich Hann Will Sef neben Maeterlinck und Wilde programmatisch bekennt: „‚Dichten wird heißen: Ziselieren und Edelsteine schleifen, die Wollust der Farben und die Musik der Seide verstehen. Drei große Ziseleure und Schleifer weisen den Weg. Maeterlinck, Oscar Wilde und Stephan George!‘ – – –“.242 Die Probe aufs Exempel liefert die symbolistische Umdichtung eines Münchner Gassenhauers, welche die Handlung in eine exotische Traumwelt versetzt und mit Kunstvergleichen und einer erlesenen Lexik ausschmückt. Georges Dichtung liefert das Muster für die Prosa-Parodie. Sie bezeugt neben der Kritik an Formstrenge und Lebensferne doch auch den neuen Status Georges als eines etablierten Wegweisers.243 Den George-Kreis nahm um 1904 eine hektographierte Zeitung mit dem Titel Schwabinger Beobachter aufs Korn. Beteiligt daran waren Franziska Gräfin zu Reventlow und Franz Hessel. Erschienen sind drei Ausgaben, die in Kleinschreibung, eigenwilliger Orthographie und erlesener Lexik, ganz dem Stil der Blätter für die Kunst folgend, jeweils Schriften und Personen aus dem George-Kreis ins Zentrum ihrer parodistischen Entweihung rücken.244 Im ersten Heft wird etwa Wolfskehls Maskenzug persifliert, von dem ein Teil in der siebten Folge der Blätter erschienen war. In Form einer Rezension wird außerdem Friedrich Gundolfs Gedicht Fortunat. Vier Gesänge verballhornt: „soeben erschien im verlag der ‚blätter für die katz‘ die zweite folge des epischen Gedichtes ‚das heymanskind‘ von rolf-feldmoloch (rudolf feldmochinger)“.245 Allein die Inhaltsangabe der parodistischen Rezension legt in ihrem kombinatorischen Nonsense gekonnt die synkretistische Verdrehtheit und Verstiegenheit der Schwabinger Komiker bloß, komisiert den Bachofen-Kult im Kosmiker-Kreis sowie die seiner-
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Ostini: Die Wortprächte des Hann Will Sef. SW VI/VII, 148 („Rhein“), V. 10: „Seid geopfert frühere prächte“. Ostini: Die Wortprächte des Hann Will Sef. Auf den George-Bezug in Ostinis Parodie wiesen auch Rezensenten hin; vgl. Anon.: [Rez.] Ostini, Buch der Torheit. In: Badener Zeitung Nr. 63 (6.8.1910), S. 5: „Die ‚Wortprächte des Hann Will Sef‘ recte Johann Wilhelm Josef Lehmann sind eine beißende Ironie auf die großen Sprach-Ziseleure Oskar Wilde, Maeterlinck und Stefan George. Wer da nicht lacht, wie unser Autor einen Münchener Gassenhauer von vier Zeilen durch eine vier Seiten lange Prosadarstellung paraphrasiert, dem ist nicht mehr zu helfen.“ 244 Der Schwabinger Beobachter. Hg. von Rolf von Hoerschelmann, München 1941. Ein viertes Heft stammt von Roderich Huch. 245 Hoerschelmann (Hg.): Der Schwabinger Beobachter, S. 19.
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zeit kursierenden Hermaphroditismus-Theorien246. Die komischen fiktiven Zitatproben, die zeigen sollen, „wes geistes der junge dichter einen hauch verspürt hat“, erweisen nicht nur Georges Einfluss auf Gundolf, sondern diskreditieren auch die Manier des Meisters. Zum weiteren Umkreis des Schwabinger Beobachters gehört auch das Heft Der April. Halbmonatsschrift für angewandte Kultur.247 In dem Aprilscherz von 1909, an dem unter anderen Fritz von Ostini, Roda Roda und Frank Wedekind beteiligt waren, findet sich eine fingierte „Selbstanzeige“, in der Stefan George für eine „volksausgabe“ seiner Dichtung „Der neunte vorhof“ wirbt und eine Öffnung seines exklusiven Zirkels in Aussicht stellt: „da die anwachsende reihe beginnlich verstehender welche die weihen der höheren ringe gehren uns nicht mehr erlaubt die engen tore zu wahren die dem frühen bunde wohltat und benötigung waren mögen räumigere mauern die folgenden einhegen die nicht wir beriefen doch deren bescheidenem wünschen wir uns nicht versagen“.248 Hier beruht der Witz darauf, dass George eine Popularisierung seiner Dichtung in den Mund gelegt wird, welche aber die exklusive Sprache und der interpunktionslose Stil Lügen strafen. Oft bleiben auch die satirisch gemeinten Dichtergedichte an und gegen George flache, bloß äußerliche Personalparodien. So wird immer wieder die Hermetik der Dichtung und die eigenwillige Orthographie betont, wie es etwa der „Klingende Pfeil“ tut, den Oskar Blumenthal auf George abgeschossen hat:
246 „der hochgelehrte dichter führt in einer reihe erhabener bilder die entwicklung seines helden vor (5 bis 8 gesang: leichenliebe – risotto und icarda – heyman in hellas – der matriarch von zion) im 5 gesange finden wir heyman an der leiche seiner mutter welche er umarmt. Aus diesem bunde entspriesst im 6 gesang risotto das gelbe kind hermaphroditischen geschlechtes. Dieses erzeugt durch selbstbeflekung den dionysos recidivus den er während des 7 gesanges in seinem schenkel eingeschlossen hält. Im 7 gesange gelangt der schon ergraute heyman nach hellas. Dort erfährt er von der puttia in delphi das er ahasver sei und das seine wanderung nun ein ende haben werde, wenn er den tempel der grossen mutter betrete. Auf der schwelle dieses tempels fällt ein strahl von hellas auf seinen scheitel. Recidivus hat sich inzwischen von seinem dabei sterbenden vater ungepaart erlost und findet am ende des gesanges den sterbenden grossvater, der ihn mit den worten: ave – jave – zion mater! begrüsst und verendet. Im 8 gesang wandert der held über das meer und wird von den zionen als matriarch eingesetzt. Im segensreichen mutterrecht beherrscht er fortan palästina“ (Hoerschelmann (Hg.): Der Schwabinger Beobachter, S. 19 f.). 247 [Ps.] Stefan George: Der neunte vorhof [Selbstanzeige]. In: Der April. Halbmonatsschrift für angewandte Kultur. München 1 (1909), Nr. 1. Diese Ausgabe parodiert Albert Langens linksliberale Zeitschrift Der März. Halbmonatsschrift für deutsche Kultur, die seit 1907 erschien und als Gegenstück zum Simplicissimus konzipiert war. Zu den Beiträgern zählten u. a. Ludwig Thoma, Hermann Hesse und Theodor Heuss. 248 [Ps.] George: Der neunte vorhof. Anlass der Parodie dürfte die Anzeige der ‚öffentlichen‘ Ausgabe der Werke sein; vgl. Karl Wolfskehl: Stefan George. Zum Erscheinen der öffentlichen Ausgabe seiner Werke. In: Pan 4 (1898/99), Heft 4, S. 231–235.
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An Stefan George Du bist stolz, daß niemand Dich Noch genau verstanden Und daß keinen Kommastrich Deine Leser fanden. Als das Unabwendliche Galt uns Licht und Klarheit, Doch das Unverständliche Ist Dir höchste Wahrheit.249
Auch wenn Christian Morgensterns Parodie Aus Lametta vom Christbaum der siebenten Erleuchtung im Zahlwort des Titels wohl bereits auf den Siebenten Ring Bezug nimmt, also nach Ende 1906 entstanden ist,250 zählt sie zu den frühen Zeugnissen parodistischer Pathos-Entweihungen. Die Bezeichnung ‚Lametta‘ entlarvt das scheinbar erlesene Wortmaterial Georges als wertlosen Prunk. Der parodistische Effekt beschränkt sich nicht auf die äußerliche Nachbildung der Kleinschreibung und die Ersparung von Satzzeichen. Die erlesene Lexik mit ausgefallenen Komposita („antilopen-süchte“, „myrrhenduft“) und Archaismen („weltvergilber“, „scherge“), der gesuchte Stil (Alliterationen), die komplizierte hypotaktische Struktur, Verzicht auf Satzzeichen, ein typisches ‚Setting‘ („Tempelhof“, „Pfade“) sowie unsinnige Wort-Kombinationen oder tautologische Formeln vom „hochgeschuhten Kothurn“ dekuvrieren die ‚Mache‘ des prätentiösen Stils. Die Ihr-Anrede lässt aber daran denken, dass Morgenstern weniger auf George selbst zielte als vielmehr auf dessen Kreis. Die poetische George-Rezeption um 1900 bezeugt einerseits das frühe internationale Renommee des Dichters, zum andern die intensive, sowohl kritische wie affirmative, Auseinandersetzung mit seinem Werk und seiner Person und zum dritten die ausgeprägte Rivalität der konkurrierenden Symbolisten im deutschen Sprachraum mit George, allen voran Hofmannsthal und Rilke, aber auch der heute eher als ‚Minderdichter‘ eingestuften Schrift249 Oskar Blumenthal: An Stefan George. In: Klingende Pfeile, Berlin und Leipzig 1904, S. 143. Die etwas altmodische Strophenform (vgl. Horst Joachim Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen, Tübingen und Basel ²1993, 8.21) hat keinen Rückhalt in Georges Werk. 250 Christian Morgenstern: Aus Lametta vom Christbaum der siebenten Erleuchtung. In: Ch. M.: Werke und Briefe, Bd. 3: Humoristische Lyrik. Hg. von Maurice Cureau, Stuttgart 1990, S. 389. Die im Kommentar (ebd., S. 857) aufgrund der Schrift vorgeschlagene Datierung auf 1903 leuchtet deshalb nicht recht ein; auch der ursprüngliche Titel „Aus den Blättern für die Kunst“ gibt keinen Aufschluss. Die Kardinalzahl „X“ und der Untertitel „(Von einem Adepten)“ bleiben unerklärt. Morgensterns George-Parodie ist bisher noch nicht gründlich analysiert worden. Erwähnt wird sie im Rahmen der übrigen Parodien von Ernst Kretschmer: Die Welt der Galgenlieder Christian Morgensterns und der viktorianische Nonsense, Berlin und New York 1983, S. 127.
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steller wie Richard Schaukal oder Max Bruns: Sie suchen in einer Mischung von Anlehnung und Ablehnung ihren Platz im literarischen Feld gegen George zu behaupten. Wie früh Stefan George als Repräsentant eines eigenen Stils angesehen wurde, zeigt die Vielzahl von Parodien und Karikaturen um 1900. Die Herabsetzungen Georges bleiben aber insofern meist einsinnig und oberflächlich, als sie vorrangig auf das äußere Erscheinungsbild (Kleinschreibung, Interpunktion) seiner Dichtung abheben. Zudem argumentieren sie oft pauschal, indem sie die Jünger gegen den Meister ausspielen, und retrospektiv, indem sie George auf den von ihm früh schon überwundenen Ästhetizismus festlegen.
3. Frühexpressionistische Reaktionen auf den Siebenten Ring (1907 bis Erster Weltkrieg) 3.1. Georges polarisierende Rolle im literarischen Feld um 1910 Der Siebente Ring (1907) mit dem problematischen Maximin-Kult stärkte einerseits die Kohäsion der Blätter-Gruppe um Stefan George nach innen und grenzte sie andererseits noch stärker nach außen im literarischen Feld ab. Mit dem Wandel des Kreises änderte sich auch die Rezeption. Einerseits galt George um 1910 schon als Klassiker, an dem, wie Margarete Susmann versichert, „kein Dichter deutscher Zunge […] vorübergegangen“ sei, „und keiner wird an ihm vorübergehen können“;1 andererseits registrierten „Classizisten“ und Repräsentanten der Anti-Moderne wie Rudolf Alexander Schröder den Wandel des George-Kreises mit Befremden. Schröders scharfe Rezension des George-Kreises ist allerdings unverkennbar von eigenen literaturpolitischen Ambitionen geleitet. Daraus erklärt sich die homophobe Polemik gegen Georges Gedicht Goethes lezte Nacht in Italien.2 Schröder spricht George wegen dessen Homoerotik buchstäblich das Recht ab, sich am Nationaldichter Goethe zu vergreifen: „Wir würden geschwiegen haben, wenn nicht die neueste Veröffentlichung Georges mit Händen, die rein zu nennen wir nicht mehr vermögen, ein Heiligtum antastete, dessen Sauberhaltung eine Angelegenheit der deutschen Nation ist“.3 Befremdet von dem polemischen „Ton“ […], den man nicht mit Still-
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Margarete Susmann: Stefan George. In: Frankfurter Zeitung vom 6.9.1910. Susmann wiederholt diese Wertung in ihrer Würdigung des Dichters zu seinem 60. Geburtstag: „Aber die fordernde Strenge eines heroischen Lebens ist weit über den nahen Strahlenkreis von Georges Dasein hinausgedrungen in das Leben der Nation. Nicht nur durch sein Werk, an dem seit seinem Erscheinen kein Dichter deutscher Zunge vorübergehen konnte, – auch durch sein Leben […] ist seine Gestalt mit unverlöschbaren Zügen in das deutsche Leben eingegraben.“ (M. S.: Stefan George. Zum 60. Geburtstag. In: Das Unterhaltungsblatt der Vossischen Zeitung vom 11.7.1928). BlfdK 8 (1908/09). Rudolf Alexander Schröder: „Blätter für die Kunst“. Eine Auslese aus den Jahren 1904–1909. In: Süddeutsche Monatshefte 6 (1909), S. 439–449, hier 439. Vgl. dazu Gunilla Eschenbach: Imitatio im George-Kreis, Berlin und New York 2011, S. 260 f.
https://doi.org/10.1515/9783110779370-003
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3. Frühexpressionistische Reaktionen auf den Siebenten Ring
schweigen übergehen kann“, bekräftigt Albert H. Rausch [Henry Benrath] in seiner Erwiderung im einvernehmlichen Wir der Verehrergemeinde mehr noch als den ästhetischen Rang Georges die unverbrüchliche ethische Orientierung an seiner Persönlichkeit: „eine ergreifende und tief-sittliche Erscheinung, ein ruhender Pol in der ruhelosen Flucht einer unberechenbaren Zeit“.4 Aus dieser ethischen Perspektive verteidigt Benrath trotz gewisser ästhetischer Vorbehalte auch die „Jünger“, deren „Vorhandensein notwendig war, um die gesamte Bewegung hervorzurufen“.5 Benrath bekräftigt in demselben Jahr seine George-Verehrung in dem zweiteiligen Gedicht An einen zeitgenössischen Künstler.6 Wohl distanziert auch er sich in seiner ersten Du-Apostrophe in den ersten vier Strophen von der kollektiven Maskerade und aufgesetzten Griechen-Pose im Dichterkult des Kreises, um in den beiden Schlussstrophen davon kontrastiv seine Begegnung mit George als existentielle und individuelle Erfahrung abzusetzen. Doch rückt das „Epheben“-Bild den Kreis ungewollt in die Nähe von Schröders moralischem Vorwurf: Dich feiert nicht ein Schauspiel von Epheben: Dich feiert einzig das ergriffne Herz! Und ohne Kranz und wallendes Gewand, Vielleicht im Antlitz Spur von vielem Kummer, Wie er im harten Tag erwuchs und blieb, Tritt vor dich hin, wer ungerufen kam, Die Stirne tief vor deiner Hoheit senkend Und deines Weges großem Duldertum.7
Dass Rudolf Alexander Schröders Ablehnung Georges sogar noch weiter ging, zeigen seine polemischen Xenien, die freilich ungedruckt blieben. Schröders Georgika entstanden im Frühjahr 1910 und umfassen 31 solcher 4
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Gegen Schröders „Auslassungen“ bekennt sich Albert H. Rausch (d. i. Henry Benrath) „unwandelbar“ zu seinem „Glaube[n] an die menschliche und künstlerische Größe Georges“, da „die Stunden, die wir mit ihm in seinen Büchern zubrachten, uns besondere Schönheit, besonderen Trost, ja nicht selten eine Ergriffenheit gewähren konnten, die religiöser Andacht gleichkam“. Albert H. Rausch: Stefan George. Eine Erwiderung. In: Süddeutsche Monatshefte 7 (1910), S. 295 f. Rausch: Stefan George, S. 296. Albert H. Rausch [d. i. Henry Benrath]: An einen zeitgenössischen Künstler. In: Nachklänge, Inschriften, Botschaften. Gedichte, Berlin 1910, S. 29 f. Rausch [d. i. Benrath]: An einen zeitgenössischen Künstler, I, S. 30, V. 17–24. Das zweite Widmungsgedicht ist ein Sonett, das die heilsame, ja sedative Wirkung Georges auf das von Zweifeln geplagte, schlaflose lyrische Ich feiert, wie das abschließende Couplet verbürgt: „Dann kam der Schlaf, nach Qualen zwiefach tief: / Die Wimpern schliefen, und die Seele schlief“ (ebd., II, S. 30, V. 13 f.).
3.1. Georges polarisierende Rolle im literarischen Feld um 1910
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kurzen, meist vierzeiligen Spottgedichte.8 Ohne George oder einen seiner Jünger namentlich zu nennen, zielt Schröder zum einen auf den priesterlichen Habitus und zum andern auf die zur Schau getragene Würde und Bedeutsamkeit, die durch kritische Vergleiche und Zitate als Pose entlarvt werden. So zitiert das sechzehnte Spottgedicht einen Vers aus dem Gedicht „Ich warf das stirnband dem der glanz entflohn“ im Buch der hängenden Gärten, in dem das lyrische Ich „einem Pascha“ dienen will, „der alle meuterer bezwungen / Und viele fremde gegner unterjocht“, bevor er ihn umbringen will.9 Die Figur des Pascha projiziert Schröder in seinem Xenion auf George, indem er dessen Wendung ‚fremde Gegner‘ in ‚fremde Seelen‘ tauscht, um so Georges Menschenfängerei zu decouvrieren: Auf Wunder und auf Heiltum pochen, Sich laut des Höchsten Diener zeihn, Was wird die stille Meinung sein? „Sich fremde Seelen unterjochen“.10
In Nr. 26 entlarvt Schröder in fünf Reimpaaren die Preziosenmanier des Frühwerks, um davon dann kontrastiv das „Dichterlein“ abzusetzen.11 Auch auf die Homoerotik, die Borchardt in seiner Rezension noch viel deutlicher und aggressiver eingesetzt hat, spielt Schröder erneut an.12 Das komplexe Verhältnis Thomas Manns zu George ist zwar umstritten, lässt sich aber auch als eine langwierige ästhetische Dissonanz beschreiben, die zwischen Zustimmung und Ablehnung changiert. Die
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Solche Xenien auf die „Georginen“ erwähnt Schröder in seiner Korrespondenz mit Borchardt am 25.4.1910 und am 2.5.1910 in: Rudolf Borchardt – Rudolf Alexander Schröder: Briefwechsel 1901–1918, Bd. 1. Hg. von Gerhard Schuster und Hans Zimmermann, München 2001, S. 297 ff., hier 298, und 299 f., hier 300, wo er selbst die Georgika als „törichte Scherze“ abtut. Vgl. auch: Rudolf Alexander Schröder: Georgika [Typoskript]. DLA, A: Schröder 11.41; sowie Eschenbach: Imitatio im George-Kreis, S. 264 f. SW III, 94 f. DLA, A: Schröder: Georgika, S. [4]. „Diamant, Rubin, Saphiren, / Rings die Wände incrustieren, // Moschus, Ambra, Myrrhendüfte / Balsamieren süss die Lüfte. // Doch in all dem Duft und Blinken, / Dünkt es mich, als woll es stinken. // Ha! Dort auf dem Murrhastein / Sitzt gekrümmt das Dichterlein, // Hat trotz Leibeshindernissen / Einen raren Reim geschrieben“ (DLA, A: Schröder: Georgika, Nr. 26, S. [7]). Mit welchem Reimwort der letzte Vers – anstelle des Deckworts „geschrieben“ – schließen sollte, ist leicht zu erraten Vgl. etwa DLA, A: Schröder: Georgika, Nr. 25, S. [7]: „Und wird das Urteil nun verkündigt: / ‚Man strafe den Teil, damit sie gesündigt,‘ / Verdrischt den Bübchen man nicht faul / Erst den Hintern, dann das Maul.“ Eine solche sexuelle Diffamierung ist auch nicht durch die nicht minder scharfen Xenien zu rechtfertigen, die Friedrich Gundolf und Karl Wolfskehl gegen Schröder (mit dem Spottnamen ARSch) verfassten; vgl. Eschenbach: Imitatio im George-Kreis, S. 262–270.
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3. Frühexpressionistische Reaktionen auf den Siebenten Ring
Forschung betont zum einen die Gemeinsamkeiten;13 dazu zählen die symbolistisch geprägten Anfänge, die intensive Nietzsche-Rezeption, ein dezidiertes Formbewusstsein, die Poetisierung homoerotischer Figurationen sowie ähnliche ästhetische Orientierungen, die von August von Platen bis zu Ludwig von Hofmann und Arnold Böcklin reichen. Umso schwerer fällt es zum andern, die distanzierenden Bezugnahmen zu erklären, für die vor allem die Erzählungen Beim Propheten (1904) und Der Tod in Venedig (1912) als Kronzeugen aufgerufen werden. Auch wenn als Vorbild für die Darstellung des Seherdichters Daniel Beim Propheten Georges früher Weggefährte, der Kosmiker Ludwig Derleth, diente, dürften der kritische Inhalt und scharfe satirische Ton – dafür spricht auch der intertextuelle Bezug zu Hugo von Hofmannsthals Gedicht Der Prophet – sich gegen George und dessen Kreis richten. Indem Mann deren Kunst als „lebensfremd und […] todverwandt“ darstellt,14 ist seine Erzählung ein „literarischer Gegenzauber zur Ritualkultur Stefan Georges“.15 Die Konstellation Aschenbach-Tadzio im Tod in Venedig deutet Francesco Rossi als Parodie auf das Verhältnis von George und Maximin. So ähnle Aschenbach „innerlich“ George, er sei „steif, hochgebildet, schon ziemlich reif und anerkannt, aristokratisch und selbstbewußt“ und werde als „Meister“ bezeichnet.16 Mann nutze diese Konstellation, um den Maximin-Mythos ironisch zu demontieren, indem die Knabenfigur in der Novelle nicht zu religiöser Erhebung wie bei George führe, sondern nur zu peinlicher Erniedrigung und Entwürdigung. Wie schwer sich die ästhetische Avantgarde im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts mit der Bewertung Georges tat, zeigt exemplarisch der Führer durch die moderne Literatur (1906), den Hanns Heinz Ewers in Kooperation mit einigen Frühexpressionisten herausgab. Erich Mühsam, der den Artikel über George verfasste, preist diesen zwar als „Meister der Form“, bemängelt aber, dass „unter dieser strengen Zucht des äußeren Rahmens […] der seelische Gehalt seiner Dichtungen“ leide. So konnte sich seine 13
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Vgl. dazu die grundlegende Studie von Friedhelm Marx: Der Heilige Stefan? Thomas Mann und Stefan George. In: George-Jahrbuch 6 (2006/2007), S. 80–99, der Thomas Manns lebenslange Auseinandersetzung mit George in drei Phasen gliedert. Die letzte Phase, für die Marx den Zeitraum nach den späten 20er Jahren ansetzt und mit dem „Entsetzen vor der Hitlerei Georges“ pointiert (Tagebucheintrag vom 27.5.1939 zur Lektüre der Erinnerungen Verweys), scheint mir allerdings komplexer und vielschichtiger zu sein. Dagegen konzentriert sich Pavel Knápek: Thomas Manns Beziehung zu Stefan Georges Werk. In: Studia Germanistica 16 (2015), S. 61–69, vor allem auf die beiden georgekritischen Erzählungen, während Francesco Rossi: Die Knabenfigur bei Stefan George. In: Studi Germanici 46 (2009), S. 509– 533, den Knabenfiguren bei George und Thomas Mann nachgeht, die er einem gemeinsamen epochalen Diskurs des fin de siècle zuordnet. Vgl. Knápek: Thomas Manns Beziehung zu Stefan George, S. 64–66, hier 65. Marx: Der Heilige Stefan?, S. 83. So Rossi: Die Knabenfigur bei Stefan George, S. 528 f.
3.1. Georges polarisierende Rolle im literarischen Feld um 1910
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„Art zu dichten“ „zu einer sogenannten ‚Stefan George Schule‘ auswachsen“, deren „Manier“ mit dem angeblichen „Haupterfordernis der Kunst, der strengsten Individualisierung, in unvereinbarem Gegensatz“ stünde.17 „Das reine Ästhetentum, das Stilistentum in der deutschen Lyrik ist Stefan Georges Produkt. So ist George vielleicht eher Formtheoretiker als wirklicher Künstler […]“.18 Die zahlreichen Einschränkungen, die den gesamten Artikel durchziehen, zeigen, wie die Avantgarde ihre noch latente ästhetische Dissonanz auf den Kreis entlud. So nennt Mühsam die „‚Schule‘, die aus der Georgeschen Kunst hervorgegangen ist, eine völlig in äußerem Firlefanz befangene, für die Entwicklung der Literatur ganz bedeutungslose Erscheinung“ und verachtet sie als „Schein-Ästhetentum, dessen einzige Aufgabe es zu sein scheint, den ‚Meister‘ und sich untereinander in […] beschämender Weise zu beweihräuchern“.19 Die Ambivalenz von Mühsams Haltung erhellt auch der Umstand, dass er George am 25. Januar 1909 „als Dank für erhöhte Stunden“ seinen Gedichtband Der Krater (1909) widmet, in dem das Gedicht Der Aesthet aber zugleich George und dessen Kreis infam karikiert: Stets späht’ er, ob ein Buch er borge, doch als einst seine Blicke sahn diverse Verse von George, befiel ihn der Aesthetenwahn. Nun raucht’ er Damenzigaretten; er sog Chaudeau und trank Absinth, und schielt’ nach Knaben, die mit netten Gesäßen ausgestattet sind.20 17
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E[rich] M[ühsam]: Stefan George. In: Führer durch die moderne Literatur: 300 Würdigungen der hervorragendsten Schriftsteller unserer Zeit. Hg. von Hanns Heinz Ewers unter Mitw. von Victor Hadwiger, Erich Mühsam, René Schickele und Walter Bläsing, Berlin 1906, S. 67 f. M[ühsam]: Stefan George, S. 67. In ganz ähnlicher Wiese kritisiert Hermann Bahrs: Inventur der Zeit. In: H. B. Inventur (1912). Kritische Schriften, Bd. 13. Hg. von Claus Pias, Weimar 2011, S. 1–11, hier 10, Georges Formkunst als überlebt: „Wir ersticken an dieser zum Bersten aufgestauten Technik. Indessen hüten der Bayreuther Kreis und die um Stefan George die Erinnerung an das, was die Kunst dem Menschen sein kann. Die Sehnsucht der Naturalisten nach Einigung des inneren und des äußeren Lebens ist wach geblieben.“ M[ühsam]: Stefan George, S. 68. Erich Mühsam: Der Aesthet. In: Der Krater, Berlin 1909, S. 99, V. 9–16. Mühsams Widmung an George findet sich faksimiliert in: Gisela Eidemüller: Die nachgelassene Bibliothek des Dichters Stefan George: Der in Bingen aufbewahrte Teil (Bilder und Bücher aus dem Nachlass, II), Heidelberg 1987, S. 79. Bezeichnenderweise ist die George betreffende Passage – vermutlich vom Verfasser – rot unterstrichen. – Im Kapitel „Schwabing“ seiner postum erschienenen Unpolitischen Erinnerungen distanziert sich Mühsam ostentativ vom GeorgeKreis: „Ich habe selbst das Weihezeremoniell um den Meister herum nie mitgenossen. Persönliche Beziehungen pflegte ich allerdings mit vielen, die zeitweilig mitten dazwischen gesteckt hatten, so mit Friedrich Huch, dem feinen Prosadichter, der leider früh gestorben ist, und dem Graphiker Rolf von Hoerschelmann; aus dem engsten Kreis um Stefan George
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3. Frühexpressionistische Reaktionen auf den Siebenten Ring
Es ist aufschlussreich, wie bald die Artikel der Folgeauflagen des Führers durch die moderne Literatur, die nun Peter Hamecher zeichnet, die Dissonanz gegenüber George und seinem Kreis überwinden. Schon in der Auflage von 1910 ist die aggressive Abwertung des Kreises durch einen Zusatz relativiert, während die letzte Auflage von 1923 George als fast schon historisches Phänomen aufwertet und immerhin Wolfskehl und Andrian eigens würdigt, während „viele Jünger […] das strenge Gesetz seiner Kunstformen zu spielerischen Stiläußerungen verflachten“.21 Noch schwerer plagt sich Max Geißler in seinem stark subjektiv wertenden Führer durch die deutsche Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts (1913) mit George. Er wirft ihm „Manier und Einseitigkeit“ vor, selbst wenn er konzediert, dass er „mitunter […] köstliche Töne an[schlage]“.22 Doch dienen „die um George“ dazu, auch ihn abzuwerten, und nicht zufällig beschließt den Artikel eine Nonsense-Parodie, die das erlesene Vokabular Georges in unsinnige Verbindungen bringt: In st. Georgens hohem ton – – nehmt diese beute lauschet still senket in euer haupt was ich entwölken will einen stern und meine gedanken alle die an der ehernen tat noch kranken kühlen in ihrer flut meine satten pranken und ein harfengriff in der dämmerung lacht leer das gefild die zonen des meeres wanken doch eures duldens blatt das gelockter achill nicht las erhub ich zu meiner macht.23
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kannte ich nur Karl Wolfskehl näher“ (Erich Mühsam: Ausgewählte Werke, Bd. 2: Publizistik. Unpolitische Erinnerungen, Berlin 1978, S. 561–569, hier 566). P[eter] H[amecher]: Stefan George. In: Führer durch die moderne Literatur, S. 57. Vgl. auch: P. H.: Stefan George. In: Führer durch die moderne Literatur, Berlin 1923, S. 57 f., hier 59. – Hamecher hat allerdings Mühsams Artikel kaum bearbeitet. Ein Diagramm über die Autorenartikel in den fünf Auflagen zwischen 1906 und 1923 in der korr. und komm. Neuausgabe mit einem Vorwort von Jürgen Petersen. Hg. von Danielle Winter und Arne Glusgold Drews, Hannover 2006, S. 205, gibt zwar an, dass der George-Artikel seit 1909 jeweils neu bearbeitet wurde, ohne aber die Änderungen mitzuteilen. Max Geißler: Führer durch die deutsche Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts, Weimar 1913, S. 148 f., s. v. George, Stefan. Zu Geißlers Vorwürfen, welche die George-Kritik durchziehen, gehört auch, der Name sei ein Pseudonym („eigentl. Heinrich Abeles“) und „sie [scil. die Jünger] sind zu närrisch undeutsch“ (ebd., S. 148). Geißler: Führer durch die deutsche Literatur, S. 149. Die Parodie verdankt Geißler seinerseits der George-Würdigung in dem literarhistorischen Überblick der Lyrikerin Frida Schanz: Neue deutsche Lyrik, Bielefeld und Leipzig 1912, S. 17 f., hier 18 [danach zitiert]. Schanz sieht Georges Rollenlyrik (Im Unglücklichen Tone dessen von …. In: SW III, 49) charakterisiert durch die Parodie, „die ein liebenswürdiger, geistreicher Spötter einmal […] verfaßte“.
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Die Veräußerlichung des Auratischen in Georges Schwabinger Zeit wurde zudem romanhaft und parodistisch persifliert. So tritt in Oscar A. H. Schmitz’ Schlüsselroman Wenn wir Frauen erwachen … (1912) George als einsamer, unnahbarer Dichter Friedrich Wartegg auf, „der nur noch selten in die Städte komme und sich dann im engen Kreis auserwählter Freunde bewege“.24 Im Salon des Ehepaars Oesterot (alias Wolfskehl), wo er gern gesehener Gast ist, ist für ihn ein eigener Raum reserviert. Die Schilderung des von ihm gemeinsam mit Philipp Oesterot gedichteten Festspiels, dem platonischen Symposion nachempfunden, imitiert unverkennbar das antike Kostümfest der Münchner Kosmiker von 1903, bei dem Wolfskehl als Dionysos auftrat: „Wartegg saß in purpurnem Cäsarengewand, einen Kranz über seinem Imperatorengesicht, ernst, fast finster in einer Ecke. Seine Hand spielte in den Locken eines Jünglings. Um ihn sammelten sich die, welche in dem Spiel die streitenden Philosophen darstellten“.25 Die in der Protagonistin Amélie Sanders von Schmitz’ Bürgerlicher Bohème verschlüsselte Franziska zu Reventlow hat ihrerseits einen Schlüsselroman über die Münchner Kosmiker um Stefan George verfasst: In Herrn Dames Aufzeichnungen (1913) sind die Kosmiker zwar durch die Sicht des unzuverlässigen Erzählers Dame subjektiv überformt, aber doch erkennbar hinter den Figuren Professor Hofmann (Karl Wolfskehl), Hallwig (Ludwig Klages) und Delius (Alfred Schuler).26 Indem 24
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Oscar A. H. Schmitz: Wenn wir Frauen erwachen … (1912), hier zitiert nach der späteren Auflage [seit 1918 u. d. Titel:] Bürgerliche Bohème. Ein deutscher Sittenroman aus der Vorkriegszeit, München 1925, S. 175. Die Charakterisierungen reproduzieren die Mystifizierung des Dichters: „Die meisten Menschen hatten nichts von ihm gelesen, taten ihn ab mit den Worten, er sei ‚zu hoch‘ für sie, aber sprachen von ihm mit verwunderter Hochachtung, wie von einem unwirklichen Wesen“ (ebd., S. 176). Siehe dazu die Überblicksskizze von Laura Said: [108] Schmitz, Oscar Adolf Hermann. In: Fakten und Fiktionen. Werklexikon der deutschsprachigen Schlüsselliteratur 1900–2010. Bd. 2. Hg. von Gertrud Maria Rösch, Stuttgart 2013, S. 578–581. – Schon zuvor hatte Schmitz sich vom George-Kreis durch die Schlüsselnovelle Klasin Wieland distanziert, in der er Melchior Lechter in der Gestalt des Emil Remigius als mediävalisierenden Künstler karikiert; vgl. Oscar A. H. Schmitz: Klasin Wieland. [Novelle]. In: O. A. H.: Der gläserne Gott, Stuttgart, Berlin und Leipzig 1906, S. 88–160, bes. 143–155. Schmitz: Bürgerliche Bohème, S. 215. – Umso bemerkenswerter ist, dass Oscar A. H. Schmitz in seinem autobiographischen Rückblick von 1923, wie er zum Dichter wurde, den Namen Georges mit keinem Wort erwähnt, während sich George-Erwähnungen in den Würdigungen von dritter Seite finden lassen; vgl. Oscar A. H. Schmitz zum fünfzigsten Geburtstage. Mit einer Selbstbiographie des Dichters und seinem Horoskop sowie Beiträgen von Hugo von Hofmannsthal, Thomas Mann, Stefan Zweig, Hermann Hesse, Graf Keyserling, Frankfurt/M. 1923, S. 2–13. Franziska Gräfin zu Reventlow: Herrn Dames Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil, München 1913. Vgl. dazu Laura Said: Reventlow, Franziska zu: Herrn Dames Aufzeichnungen. In: Fakten und Fiktionen. Werklexikon der deutschsprachigen Schlüsselliteratur 1900–2010, Bd. 2. Hg. von Gertrud Maria Rösch, Stuttgart 2013, S. 511–514. Übersichtlich entschlüsselt sind die Figuren im Nachwort der Werkausgabe: Franziska zu Reventlow: Herrn Dames Aufzeichnungen. In: F. z. R.: Sämtliche Werke,
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das antike Kostümfest, das den Höhepunkt des Romans bildet (11. Kapitel), nicht unmittelbar geschildert wird, sondern als fragmentierter Rückblick des überforderten Gastes Dame dargeboten wird, ist eine deutliche Erzähldistanz zum Geschehen gewahrt. Dadurch erscheint George, der als „Meister“ namenlos bleibt, noch mysteriöser: „Den Meister sah ich zum erstenmal aus der Nähe, als Cäsar in weißer Toga und mit einem goldenen Kranz um die Stirn – er mischte sich ungezwungen unter die Menge, und es gab ihn wirklich“.27 Doch trotz solcher Annihilationen und Irritationen, welche Georges kündende Dichtung bei den vormaligen Anhängern auslöste, hielt die ästhetizistische und konservative Moderne überwiegend noch an George fest, wie etwa Michael Josef Eisler beweist, einer der wichtigsten Repräsentanten der Budapester deutschsprachigen Literatur und Freund von Georg Lukács. Sein Sonett Drei Dichter. George – Hofmannsthal – Rilke bildet eine Tafel seines „Hausaltars“, den er um 1910 errichtete. Trotz der gemeinschaftlichen Widmung sind die Hommagen differenziert. Während Rilke im Sextett geehrt wird, huldigen die Quartette mit identischen Reimen George und Hofmannsthal. Eine Antiklimax bestimmt das Verhältnis der Dichter zur Sprache: George erscheint als „Herrscher“ über „die Worte“, Hofmannsthal als Feinschmied der Sprache, während Rilke „den Dingen sich verdingt“: Drei Dichter George – Hofmannsthal – Rilke Ein Herrscher ist der erste, dem die Worte in herber Kraft sind untertan. Sein stolzer Gang zum hohen Schönheitshorte ist eines Weltenspenders Nahn.
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Briefe, Tagebücher, Bd. 2: Romane 2. Hg. von Michael Schardt, mit einem Nachwort von Andreas Thomasberger, Oldenburg 2004, S. 8–112 und 311–319 [Nachwort], hier 313 f. Vgl. auch Richard Faber: Franziska zu Reventlow und die Schwabinger Gegenkultur, Köln, Weimar und Wien 1993. Reventlow: Herrn Dames Aufzeichnungen, S. 118–133, hier 121. Ironischerweise integriert Reventlow den Schriftsteller Schmitz in die Fest-Beschreibung, der als der „strebsame Schriftsteller, namens Adrian“ einen „Franzosen […] über die Bedeutung des Festes auf[klärt]“: „Mais c’est une orgie – vraiment, c’est une orgie – un bacchanal!“ (ebd., 127). Richard Faber: Männerrunde mit Gräfin. Die „Kosmiker“ Derleth, George, Klages, Schuler, Wolfskehl und Franziska zu Reventlow. Mit einem Nachdruck des „Schwabinger Beobachters“, Frankfurt/M. 1994, S. 165–167, hat das „Antike Fest“ vom 22. Februar 1903 in Wolfskehls Wohnung als Referenz des 11. Kapitels bestimmt (ebd., 166). – Ludwig Thoma: Der Postsekretär im Himmel. In: Simplicissimus 18 (1914), Nr. 51, S. 852 f. und 859, mokiert sich ebenfalls über den Schwabinger George-Kult, wenn er den Münchener Postsekretär Martin Angermayer träumen lässt, er wäre im Himmel, wo ihn „ein lebhafter Jüngling mit hüpfendem Gange, der genau so aussah wie einer aus der Schwabinger Stefan-George-Gemeinde, […] bei der Hand“ fasst (ebd., S. 853).
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Der zweite kunstvoll feilt an jedem Worte gleich einem Goldschmied, untertan dem anvertrauten schweren Schönheitshorte und voller Inbrunst ist sein Nahn. Der dritte weilt in Demut sondergleichen, es deucht sein Schaffen ihm ein Wunderzeichen, dem Gott – unsichtbar doch – entschwingt. Er hat den Dingen sich verdingt als lieber Knecht, und sein ergebnes Weilen geht wie ein Schimmer durch die Zeilen.28
Georges herrschaftlicher Habitus wird zwar bewundert, durch die humaneren Verhaltensweisen Hofmannsthals und Rilkes aber relativiert. Diese Funktion eines distanzierten Vorbilds bestimmt das Verhältnis der kreisexternen klassizistischen Moderne zu George nach 1907. Inwieweit Georges Dichtung für die Moderne gerade in den Grenzregionen und gemischtsprachigen Gebieten wie im Elsass, in Böhmen und im Baltikum eine ästhetische Option darstellte, ist nicht leicht zu beurteilen. Nach Gero von Wilpert hat George jedenfalls die baltendeutsche Lyrik um 1900 maßgeblich geprägt.29 Allerdings zeigt sich Georges Einfluss bei den „Jungen Balten“, den auch Bruno Goetz ausdrücklich konstatiert, in sehr vermittelten Formen der Nachahmung: starkes Formbewusstsein, erlesene Lexik, Vorliebe für Synästhesien und Zwischentöne, Vermeidung äußerlicher Realien – das sind Charakteristika von Georges Lyrik, die auch bei
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Michael Josef Eisler: Elfenbeinturm. Der Sonette erster Teil, Berlin 1910, S. 59. Vgl. dazu die Rezension von Eugen Mohácsi: Deutsche Literatur in Ungarn. In: Jung Ungarn 4 (1911), S. 545–547. Vgl. auch István Fried: Ungarische Literatur, Modernität, österreichische Literatur. In: Kakanien revisited vom 12.9.2007, S. 1–6, hier 2. Eisler hat den Gedichtband Stefan George mit folgender Dedikation gewidmet: „Herrn Stefan George überreiche ich dieses Buch mit dankbarem und ergebenem Herzen. Budapest, im Dec[ember] 1910 / M. J. Eisler“, Widmungsexemplar im StGA. Zudem verwahrt das StGA zwei Briefe von Eisler aus Budapest an Stefan George, vom 10.9.1910 (George III, 30131) und vom 23.4.1914 (George III, 3032), in denen er jeweils seinen Besuch in Berlin ankündigt. Die George-Verehrung zeigt sich auch in der Auswahlausgabe: Michael Josef Eisler: Eine Werkauswahl. Hg. von Zsuzsa Bognár, Piliscsaba 2002, S. 130 („Drei Dichter“), und S. 139–171 („Beitrag zur Analyse der Landschaftsempfindung“ [zuerst in Freuds Imago 6 (1920)] mit zahlreichen George-Zitaten). Vgl. Gero von Wilpert: Deutschbaltische Literaturgeschichte, München 2005, S. 211: „Sucht man Vorbilder in der binnendeutschen Lyrik, so steht in dieser Zeit Stefan George an erster Stelle“. Wilpert führt Kurt Bertels, Otto Freiherr von Taube, Reinhold von Walter, Johannes von Guenther und Bruno Goetz an, vgl. ebd., S. 210–214. Wilperts These ist von Jutta Schloon: Der Alte und die Jungen. Stefan George und der deutschbaltische Symbolismus. In: Triangulum 21 (2015 [2016]), S. 349–358, differenziert und relativiert worden.
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Kurt Bertels (1877–1910) oder Bruno Goetz (1885–1954) begegnen.30 Am ehesten lässt sich wohl bei Kurt Bertels der Versuch erkennen, an Georges Symbolismus anzuknüpfen, ihn aber fortzuführen. So erinnert die Schlussstrophe des Gedichts Frühnacht, das den Übergang von Tag und Nacht gestaltet, in der Ästhetisierung des Vagen durchaus an das Jahr der Seele: Ich weiß, dass noch ein Fremdes mit mir schreitet, wenn ich die Gartenwege stumm durchmesse, und sich, wenn ich den lauten Tag vergesse, Stilldunkel naht und weiche Schwingen breitet.31
Auch bei Bruno Goetz finden sich thematische Affinitäten von der Ausdeutung der Dämmerung (Der Abend) bis zur Knabenliebe (Der Tänzer),32 während Otto von Taube zwar seine dichterische Initiation der Lektüre Georges verdankt, aber doch kaum in der Nachfolge Georges aufgeht.33 In seinen Wanderjahren erkennt von Taube rückblickend an, welchen epochalen ästhetischen „Wandel“ die Lektüre des Jahrs der Seele im August 1903 für ihn bedeutete, „weniger durch die Plastik jener Verse als durch […] den Rhythmus. Mir galt nicht mehr für Vers, was nicht in dieser Weise Vers war“.34 Am 30 31
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Vgl. Bruno Goetz (Hg.): Die jungen Balten. Gedichte, Berlin-Charlottenburg 1916, S. 19, wo unter den alten Lehrmeistern „vor allem Hölderlin“ und „von den Neueren Liliencron, George, Mombert“ genannt werden. Kurt Bertels: Frühnacht. In: Die jungen Balten, S. 50, Verse 9–12. Das Gedicht „Geh fort!“ (ebd., S. 46) lässt sich vor dem Hintergrund der ästhetischen Orientierung an Stefan George wie eine bewusste Abwehr des Vorbilds lesen: „Geh fort mit deinen matten schalen / zuviel gepriesnen Goldpokalen! / Wenn mir die eignen Trauben winken, / kann ich nicht fremde Weine trinken. // Geh fort! Du hemmst mein kühnes Schreiten / Du bist mir heute fremd und fern. / Ich dank Dir tausend Kostbarkeiten, / doch heute glänzt mein eigner Stern.“ Vgl. Bruno Goetz: Der Abend. In: Die jungen Balten, S. 128, Verse 5–6: „Leise Stimmen, die lange drückend geschwiegen, / reden zu mir durch die blaue dunstige Stille“; B. G.: Der Tänzer. In: Ebd., S. 127, dessen Sextett (Verse 9–14) eine homoerotische Variante des Narziss-Mythos bietet: „Und beugtest Dich zum weißen Bruder nieder, / […] / dass Dir vor seiner hellen Schönheit graute. / Und weher lächelte Dein Knabenmund.“ Ohne die motivliche Affinität, etwa die Gestaltung der Knabenliebe in Antinous, einem „Dramatischen Gedicht“ (in: Otto von Taube: Gedichte und Szenen, Leipzig 1908, S. 5–39), oder die Lyrisierung von Übergängen in Abrede stellen zu wollen: Taube hält sich stärker an das Repertoire romanischer Strophenformen und orientiert sich, vor allem in seinen zahlreichen Ortsgedichten, stärker an Referenzen der außersprachlichen Wirklichkeit. Doch bleibt die Bedeutung Georges und Wolfskehls ganz unterbestimmt in der Monographie von Regina Claudia Mosbach: Otto von Taube (1879–1973), Frankfurt/M. 1995, S. 132 f.; gelungen skizziert dagegen Taubes „Nähe und Distanz zu George“ Manfred Rosteck: „Diese leidige Zeit“. Studien zum Werk des baltendeutschen Dichters Otto Freiherr von Taube, Hamburg 1996, S. 102–105. Otto Freiherr von Taube: Wanderjahre. Erinnerungen aus meiner Jugendzeit, Stuttgart 1950, S. 219 f., hier 220, und später nennt er die ästhetische Phase seines Lebens und Schaffens gar [s]eine „Stefan Georgesche Lebensperiode“ (ebd., S. 257), in der er Georges „sämtliche bis dahin veröffentlichte Bände […] durcharbeitete“ (ebd., S. 276).
3.1. Georges polarisierende Rolle im literarischen Feld um 1910
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deutlichsten zeigt sich Georges Einfluss auf die ‚Jungen Balten‘ bei Johannes von Guenther, dessen frühes Werk ganz im Bann Georges steht.35 Schon der forscherlich bisher unbeachtete Erstling Schatten und Helle, eine schmale Sammlung „neuer Gedichte“, antwortet mit dem Gedicht Bekenntnis auf Georges „Komm in den totgesagten park und schau“: Dann aber, wenn der Himmel grauer wird Und alles Land voll strenger Trauer wird, wenn jene müden kühlen Tage kommen, an denen trunkne Glut nie wahrgenommen, dann nimm mein Herz, das Herz so fast ermattet, da es der Liebe Trauerbaum beschattet, da es des Herbstes Blüte – o die fahle – einengt in dieser Erde weitem Saale. […] Wir gehn zu zweit durch dunkler Wälder Schweigen, wo grüner Tannen Zweige sich uns neigen, wo gelber Birken Blätter uns fast krönen, wo uns ein Kranz von welkem Laub umflicht. Und wenn wir uns auch an den Herbst gewöhnen: In unsern Herzen durstet viel nach Licht.36
Bereits in den paargereimten jambischen Fünfhebern spielt Guenther auf die zweite Strophe des Proömialgedichts im Jahr der Seele an. Zwar verzögert und verschleiert Guenther mit dem vierversigen konditionalen Einschub („Dann aber, wenn […] wenn“) das markante imperativische Incipit Georges, bevor er in Vers 5 den Prätext („Dort nimm das tiefe gelb“) alludiert, zugleich aber intensiviert und intimisiert: „dann nimm mein Herz“. Das weibliche Du wird nicht zum Flechten eines Blumenkranzes aufgefordert („Die späten rosen welkten noch nicht ganz · / Erlese küsse sie und flicht den kranz“), vielmehr ist es die herbstliche Natur, die das Paar mit einem „Kranz von welkem Laub umflicht“. Während Georges Park-Gedicht die Ich-Du-Distanz beibehält, antizipiert Guenther insofern die Folgegedichte
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Vgl. Schloon: Der Alte und die Jungen, S. 354. Johannes von Guenthers anfängliche Abneigung gegen George schlug durch Vermittlung von Franz Hessel und Theodor Lessing in Verehrung um. Hans Guenther: Bekenntnis. In: Ders.: Schatten und Helle. Neue Gedichte, Mitau 1906, S. 5. Ich habe Guenthers Widmungsexemplar „zum gedenken an heiner veth“ aus dem NordostInstitut IKGN e.V. (Lüneburg) konsultiert, das Autorkorrekturen enthält. So sind in dem Gedicht Bekenntnis die vier im obigen Zitat ausgelassenen Verse durch ein Bleistift-„X“ als zu tilgen markiert. In dem handschriftlichen Eintrag distanziert sich Guenther von seinen lyrischen Anfängen: „Es sei dieses alles nur ein Vergangenes so wie Goethe sagt ‚eine schlangenhaut‘“.
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3. Frühexpressionistische Reaktionen auf den Siebenten Ring
aus dem Binnenzyklus Nach der Lese, als er bereits auf die Gemeinsamkeit des Wir abhebt. Außerdem betont er gerade nicht die harmonische Einheit von Jahreszeit und innerer Stimmung, sondern vielmehr den Gegensatz: „In unsern Herzen durstet viel nach Licht“. So deutet sich in Guenthers Anlehnung an George auch eine vitale Distanzierung vom ästhetizistischen Symbolismus an. In Guenthers Gedichtband Fahrt nach Thule (1916) findet sich neben deutlichen lexikalischen Anleihen ein – mittelbares – Dichtergedicht, das Jutta Schloon entdeckt hat: das V. Sonett, in dem das lyrische Ich ein ungenanntes Du an ein abendliches Gespräch über einen „Dichter“ (V. 1 und 14) erinnert: Ich sprach von einem Dichter streng und gross, Von einem Turm, das neue Land zu schauen Weit hinter ‚Traum und Tod‘ im klaren, blauen Gewölb des Himmels über jedem Los. Du hörtest still und deine grossen grauen Augen errieten viel und sagten nichts: Den Schiffer sahen sie im Meer des Lichts Mit seinem kühnen gläubigen Vertrauen. Erst als ich sprach vom Wunder: Maximin, – Und Gott der dunklen Stimme Ton verliehn Und Farbe – glänzten auf die grauen Lichter, Indes der Abend bronzen uns beschien, Und glühend sprachst du: nun erkenn ich ihn, An Qual und Sieg erkenn ich so den Dichter.37
Guenthers Sonett rekapituliert in Wiederholungsfiguren und Zeitadverbien („Ich sprach“ [V.1], „Du hörtest“ [V. 5], „Erst als ich sprach“ [v. 9] und „Indes […] sprachst du“ [V. 13]), wie der von „einem Dichter streng und gross“ inspirierte Enthusiasmus des lyrischen Ich auf das Du überspringt. Damit wird eine Freundschaft und Verstehensgemeinschaft etabliert, die im Abendglanz zu einer Doppelstatue verklärt zu sein scheint („Indes der Abend bronzen uns beschien“ [V.12]). Die intertextuellen Anspielungen auf Georges Dichtungen, die Lieder von Traum und Tod (V. 3) und Maximin als göttliche Figur und Titel des Mittelteils im Siebenten Ring, lassen keinen Zweifel daran, dass es sich bei dem ungenannten „Dichter“ um Ste-
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Johannes von Guenther: Sonett V. In: J. v. G.: Fahrt nach Thule, München 1916, S. 43. Siehe dazu Schloon: Der Alte und die Jungen, S. 353–355.
3.1. Georges polarisierende Rolle im literarischen Feld um 1910
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fan George handelt. So begeistert Johannes von Guenthers Dichtergedicht George religiös überhöht und zum Stifter eines Dichterpaares erklärt, so wenig lässt sich diese kultische Verehrung und Vergemeinschaftungsfunktion doch für alle ‚Jungen Balten‘ verallgemeinern.38 In der Phase des Übergangs zum ‚engeren Zirkel‘ lässt sich nicht immer leicht zwischen kreisexterner und -interner Rezeption differenzieren, etwa wenn unverkennbar um Kreisnähe oder Aufnahme unter die Jünger gebuhlt wird. Denn George verprellte mit dem Siebenten Ring nicht nur vormalige Verehrer, sondern gewann auch neue, freilich wenige, hinzu.39 Zu ihnen zählt der eigenwillige Dichter Hanns Meinke, der sich in seiner homoerotischen Neigung durch den Maximin-Kult bestätigt fühlte. Er sandte George 1920 unter dem Titel Maximin. Zwei Kränze zum zwölften Oktober als dem Tage maxim einige Gedichte, darunter ein Widmungsgedicht: Widmung an ST · G: Ich suchte aus vergessenem kalender Aus toten tagen rote freudenspender – Da bannte mich ein name der dir teuer Wie Mose aus dem dornenbusch das feuer. Aus meiner armut sucht ich eine gabe Als liebes opfer Seinem heilgen grabe – Doch würdig fand ich nichts · nur grosse hulde das arme opfer reichen herzens dulde: Zwei bunte kränze die ich liebend flocht – Zehn gelbe kerzen – ich zog selbst den docht Durch reinster honigwaben wachs: im sinn Verehrend dem sie lodern: maximin . An Seinem tag sei von den flammenzungen Des Έρος lila braune kron verschlungen Und sind die kerzen ganz herabgebrannt Loht weiter noch der goldne leuchter rand.
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Für eine solche Relativierung von Wilperts These plädiert Schloon: Der Alte und die Jungen, S. 357. 39 Neben dem undatierten Gedicht eines Rudolf Wiggers „An Stefan George“ (StGA, George IV, 2870) sind von Jakob Kaege vier Briefe an Stefan George von 1907 und 1909 überliefert, in denen er um eine Begegnung ersucht. Auch ein ungedrucktes Widmungsgedicht Kaeges „An Stefan George“ liegt im StGA (Blätter I, 1463): „An Stefan George // Bitteren Ritt / im Wüstensand / trog oft der Tand / am Wüstenrand, / fand ich doch letzt / den Palmenhain / Datteln und Napf / mit Palmenwein.“
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3. Frühexpressionistische Reaktionen auf den Siebenten Ring
Die beiden kränze wand ich neu im wort Das hier in krause schnörkel schwarz verdorrt. Des opfers sinn? – der herr der fackeln sprichts – „und so ihr euch verzehrt seid ihr voll lichts “.40
Meinke imitiert metrisch und strukturell in seinem ersten Huldigungsgedicht unverkennbar das Vorspiel zum Teppich des Lebens. Ist es bei George die Begegnung mit dem Engel, die das lyrische Ich aus seinem sinnlosen Dasein befreit, sind es nun Maximin und Stefan George, die von dem Ich verehrt werden: das Gedicht als Ersatz für den Grabschmuck. Auch Hans Bernhard von Schweinitz, ein Vertreter der sogenannten ‚Enkelgeneration‘, trat erst um 1913 mit George in Verbindung, nachdem er ihm einen handschriftlichen Gedichtzyklus An den Meister dediziert hatte. Von dem siebenteiligen Zyklus erschienen nur die Nummern II–V (neu nummeriert als I–IV) in der elften/zwölften Folge der Blätter für die Kunst, das einleitende Widmungsgedicht An den Meister blieb unveröffentlicht.41 Ähnlich wie Meinke fühlte sich der Wiener Schriftsteller Alfred Grünewald, der mit Stefan Zweig und Felix Braun befreundet war, durch Stefan Georges Dichtung in seinem eigenen künstlerischen Streben bestätigt. Er sah sich selbst in der Tradition von Platen und George,42 und sein früher Gedichtband Die Gezeiten der Seele (1912) ist schon im Titel unverkennbar eine Hommage an George und dessen Jahr der Seele. Hofmannsthals Essay Gespräch über Gedichte, den Dialog über das Jahr der Seele, hatte er intensiv mit Felix Braun besprochen.43 Zudem ahmte Grünewald in seinen Gezeiten der Seele den homoerotischen Tenor des Maximin-Zyklus nach: So eröffnet seine Sammlung ein zartes Knabenlied, und das dreiteilige poetische Andenken Einem toten Knaben alludiert das Triptychon Trauer im Maximin-Zyklus.44 Zudem prägt das Traum-Motiv, das für Georges Werk, insbesondere dessen Lieder von Traum und Tod, zentral ist, Grünewalds Gedichtsammlung. Georges frühe Rollendichtung, vor allem das Buch der
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Hanns Meinke: Maximin. Zwei Kränze zum zwölften Oktober als dem Tage maxim, Ms. StGA, George IV, 2443. Im Stefan George Archiv finden sich etliche Widmungsgedichte Meinkes an Stefan George; zu Meinkes George-Dichtungen im Kontext seiner Lyrik vgl. Eschenbach: Imitatio im George-Kreis, Kapitel 3.2 u. 3.3. Hans B[ernhard] von Schweinitz: An den Meister, datiert: „Apr[il] 19“, Ms. StGA, Blätter I, 2427. Vgl. Volker Bühn: Alfred Grünewald. Werk und Leben, Köln, Weimar und Wien 2016, S. 189. Bühn ist auch Editor der Auswahlausgabe: Alfred Grünewald: Sonette an einen Knaben und andere Gedichte. Hg. von Volker Bühn, Hamburg 2013, mit einer repräsentativen Auswahl aus den Gezeiten der Seele. Vgl. Bühn: Alfred Grünewald, S. 101. Vgl. Alfred Grünewald: Die Gezeiten der Seele, Leipzig 1912 (Widmungsexemplar für Hermann Meister im DLA), S. 45–48. Vgl. SW VI/VII, 96–98.
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Sagen und Sänge, bildet die Matrix von Grünewalds mediävalisierenden Rollendichtungen wie dem Lied des Troubadors, den Drei Liedern im Volkston oder Der erlöste Ritter spricht.45 Nicht nur thematisch (Leid, Entsagung, Wandern), sondern auch lexikalisch ist Grünewald von George beeinflusst, wie etwa das Kompositum „Schmerzbruder“ zeigt.46 Wie George betont er zudem durch Zeitadverbien wie ‚nun‘ oder Temporaladverbien (‚da‘) die epochale Bedeutung von Liebesbegegnungen. Damit ist Grünewald ein weiteres Beispiel dafür, wie in der Nachfolge Georges homoerotische Themen in der Dichtung um 1910 die Öffentlichkeit nicht mehr scheuen mussten. Ein Bekenntnis zu dem Dichter des Siebenten Rings bietet auch Wilhelm Willige (1890–1963) in dem Rollengedicht George.47 Die inhaltliche Zweigliederung ist strophisch markiert: Der erste Teil schildert in vier sechsund siebenversigen Alexandrinerstrophen, wie George als lyrisches Ich und Postfiguration des Propheten Moses mit einem „kühle[n] Eisen […] in der heißen Hand“ (V. 4), in der Bedeutung zwischen Schwert und Meisel changierend, aus einem „Fels[en]“ ein „reine[s] Bild“ (V. 24) herauszuschlagen sucht. Der zweite Teil, fünf Blankversstrophen, enthält einen Dialog zwischen dem Schöpfer und seinem Bild, in dem George, diesfalls eine Postfiguration Pygmalions, sich in seinem Geschöpf als „[s]ein Bild“ wiedererkennt, zugleich aber auch die Epiphanie eines göttlichen Wesens erwägt: „Bist du mein Bild? Stiegst du ein Engel nieder? / Laß dir mich dienen […]“.48 (V. 35). Das Traumbild fordert von seinem Schöpfer völlige Hingabe, um gemeinsam eine elitäre Schar von Verehrern zu rekrutieren, wie die beiden Schlussstrophen mit Haufenreimen verheißen: „Gib mir die Hand, gib dich mir ganz zu eigen! Will dir des tiefen Waldes Wunder zeigen, will mit dir stehen in der Gipfel Schweigen, will mit dir nieder zu den Städten steigen. Dort werden Gier und niedrer Neid erblassen, doch junge Edle gehen in stillen Gassen, die werden unsres Bundes Weihe fassen und uns zu folgen Hof und Herd verlassen.“49 45 46 47 48 49
Grünewald: Die Gezeiten der Seele, S. 21, S. 55–59 und 73. Grünewald: Die Gezeiten der Seele, S. 31. Das Kompositum „Schmerzbruder“ in „Frage aus dem Dunkel“, V. 2, spielt auf Georges Gedicht „Schmerzbrüder“ an (SW V, 46). Wilhelm Willige: George. In: Der Zwinger. Zeitschrift für Weltanschauung, Theater und Kunst 4 (1920), S. 501 f. – Willige veröffentlichte später eine bekenntnishafte Rezension zur zweibändigen Ausgabe von Georges „Werken“. In: Die Sammlung 14 (1959), S. 586–588. Willige: George, V. 35 f. – In der „Einverleibung“ des Schöpfers in „[s]ein[em] Bild“ alludiert Willige Georges Vers: „Ich geschöpf nun eignen sohnes“ (SW VI/VII, 109, V. 4) im Maximin-Zyklus. Willige: George, V. 39–46.
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3. Frühexpressionistische Reaktionen auf den Siebenten Ring
Williges Gedicht liefert für die Doppelheit von Maximin, als sowohl von George erschaffenem wie inkarniertem göttlichen Wesen, eine durch biblisch-pagane Präfiguranten (Moses, Pygmalion) beglaubigte Ätiologie. Als eine der wenigen kreisexternen Poetisierungen des Maximin-Kults legitimiert es überdies in retrospektiver Teleologie den Georg-Kreis als Gemeinschaft „junge[r] Edler“. Zu den jungen George-Verehrern um 1910 zählt auch Herman(n) Bodek, der sich biographisch nicht leicht fassen lässt.50 Im April 1911 hatte er, siebzehnjährig, aus Wien George gebeten, ihm das Maximin-Gedenkbuch auszuleihen, „alles andere habe er“.51 Sein erster Gedichtband, veröffentlicht unter dem nom de plume Harry Bodek, rekurriert im Titel Die Geburt der Seele (1910/11) auf Das Jahr der Seele und enthält überdies eine gedruckte Widmung in Majuskeln: „STEFAN GEORGE / GRÖSSTEM DEUTSCHEM DENKER ERWECKER UND ERRETTER“. Bodek deklariert seine Jugendgedichte, entstanden „zwischen dem fünfzehnten und siebzehnten Lebensjahre“, als Übergangswerk aus den „Jahre[n] der Brücke“, als „Zeugen einer wachsenden Seele in Irrnissen und Blenden, in Gluten und Verzückungen, in Leiden und Labsal“.52 Auch wenn er eingesteht, sie enthielten „manchmal Töne anderer Geister“, vermag ich keine
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Hermann Bodek, der sich seit der Emigration Herman Bodeck nannte, suchte früh die Nähe um George, es kam auch bis 1926 zu gelegentlichen Begegnungen. Weiterhin unterhielt er freundschaftliche Beziehungen zu Friedrich Wolters, Karl Wolfskehl und Robert Boehringer. Danach gehörte er wohl ebenso zum Klosterneuburger Kreis um Hermann Sacher wie zum ‚Spannkreis‘ um den Ökonomen Othmar Spann. Hermann Bodek (Herman Bodeck) (*Berlin 3.7.1893, †Paris 12.3.1966), der unter dem Pseudonym „Harry Bodek“ publizierte, gehörte zu den George-Verehrern im Umkreis Josef Weinhebers, bevor sie sich wohl wegen George entfremdeten. Biographisch erhellt hat die Person Christoph Fackelmann: Die Sprachkunst Josef Weinhebers und ihre Lese. Annäherungen an die Werkgestalt in wirkungsgeschichtlicher Perspektive, Bd. 1: Darstellungen. In: Literaturhistorische Studien. Literatur aus Österreich und Bayern. Hg. von Dietz-Rüdiger Moser und Herbert Zeman, Münster 2005, hier S. 174–180; vgl. auch seinen quellengestützten Artikel: Ch. F.: Bodek, Hermann. In: Bio-bibliografisches Lexikon der Literatur Österreichs, Bd. 2, Freiburg 2017, S. 88–91. Veröffentlicht hat Bodek zu Lebzeiten wenig, hervorzuheben ist seine deutsche Umdichtung des Gaspard de la nuit von Aloysius Bertrand, Salzburg 1959. Bodeck sieht sich darin in der Nachfolge Georges und kanzelt eine Übersetzung von Wolfgang Berthold als „gefälscht“ ab, die als Sonderheft des Castrum Peregrini 22–23 (1955) erschienen war; vgl. dazu Günter Baumann: Dichtung als Lebensform. Wolfgang Frommel zwischen George-Kreis und Castrum Peregrini, Würzburg 1995, S. 389 f. SOK, s. d. 12.4.1911. Harry Bodek: Die Geburt der Seele, o.O. o. J. [1910/11], S. 7–12. Das Marbacher Exemplar enthält noch eine handschriftliche Widmung: „Lieber Paul Fried, / ich gebe dir dies erste Buch meiner Muse / als Dank für unsre schönen Krumauer / philosophischen Spaziergänge, an die du hoffentlich / auch manchmal denkst. / Dein / Harry Bodek / Wien, 13. April 1911“. Fackelmann: Die Sprachkunst Josef Weinhebers, S. 174, erwähnt eine Einladung Bodeks aus dem Jahre 1935 zu einer Einführung in das Werk Stefan Georges.
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George-Allusionen erkennen, vielmehr dürfte die Widmung antizipatorisch gemeint sein, um künftig die „erste[n] Gestaltungen“ im Stile Georges weiterzuformen. Dafür sprechen auch die im hohen Ton des Meisters sowie in Druckschrift und Kleinschreibung verfassten Gedichte, die Bodek aus Freiburg i. Br. im Mai 1917 George übersandte. Sie enthalten neben einem Memorialgedicht auf den bereits 1914 in Masuren gefallenen Heinrich Friedemann Zum Gedächtnis von Heinrich Friedemann eine Widmung, die George, ohne ihn namentlich zu nennen, ganz in dessen Ton sakralisiert: Widmung Heiland und Herr, Dir nahn im lichte wir getrost Und keiner soll die liebesglut verbergen: Du hast uns · Lieber Vater · aus der nacht erlost Nun lacht Dein feuer von den deutschen bergen.53
Auch wenn Bodek eine Randfigur des Kreises blieb und als Dichter kaum in die Öffentlichkeit wirkte, war er doch nach 1910 bis zu seinem Tod ein bedeutender Vermittler der Dichtung Georges.54 Ähnliches gilt für den literarhistorisch noch immer arg unterbewerteten Albrecht Schaeffer. Seine Vier Sonette an Stefan George aus dem Jahre 1908/09 sind nur handschriftlich überliefert.55 Auch wenn manche grammatischen Bezüge unklar bleiben, die Bildlichkeit sich verselbständigt und die eigenwilligen Reimfolgen mit der dialektischen Strophenform konfligieren, lässt sich ein gewisses generationsspezifisches Narrativ der George-Verehrung aus der Sequenz der vier Sonette erschließen. So führt das erste Sonett die „Andacht“, die das lyrische Ich George gegenüber empfindet, auf den düsteren Grund von „Hader“ und „Zweifel“ zurück. Das Gedicht, das als „Abendvogel“ apostrophiert wird, sucht „Trost“ in der Verzweiflung:
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Vgl. das unveröffentlichte Blatt mit den Gedichten (dat. Freiburg i. Br. 1917, StGA, George III, 1162). Vgl. Fackelmann: Bodek, Hermann, S. 89–91. Fackelmann, der den Nachlass in der ÖNB ausgewertet hat, erwähnt neben einem viersemestrigen Vortragszyklus, den Bodek zwischen 1935 und 1937 im „Wiener Turngau“ hielt, einen George-Vortrag, den Bodek nach seiner Emigration im Juni 1939 an der Sorbonne vor französischen Germanistik-Studenten hielt. Das DLA verwahrt unter der Signatur A: Wolfskehl, Slg. Salin, Bodeks Typoskript mit handschriftlichen Korrekturen der Wiener Vorträge 1935–1937, de facto ein vollständiger Werkkommentar von über 500 Seiten. Vgl. Albrecht Schaeffer: Vier Sonette an Stefan George (egh. Manuskript, datiert: 9.1.1909 [8.10.1908]). DLA, A: Schaeffer 57.2847. Den Widmungsempfänger von Schaeffers GeorgeZyklus hat Eschenbach: Imitatio im George-Kreis, S. 215–222, die den Zyklus eingehend bespricht, als Kurt K. Levy identifiziert.
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3. Frühexpressionistische Reaktionen auf den Siebenten Ring
Damit ihn meiner offnen Andacht Schauer Ergreifen kann: von dieser Andacht nicht, Von meines Haders, von der Zweifel Trauer, Die um mich bogen duesterer u. rauher Und senkten schon ihr schliessendes Gewicht, Sollst du ihm reden, froestelndes Gedicht, Das heut aus dumpfer Krankheit Eisenbauer Ein klagender, ein Abendvogel bricht. Noch schwebt dein Singen, der schon fern im Daemmer Sich zugewandt – glückseliger Flieger! – dessen Erhoehtem Tempel, der mir Trost versprach, Wie einer Glocke suchendes Gehaemmer, Wie Rauschen aus den wankenden Cypressen, Wie eine Quelle, die ein Herz zerstach.56
Das zweite Sonett beschreibt im Präteritum, wie das Werk Georges für ein lyrisches Wir, das die expressionistische Generation repräsentiert, ein Übergangsritual darstellt. Der Wechsel ins Präsens, die im Zeitadverb ‚nie‘ betonte Einzigartigkeit der zur Schau überhöhten Begegnung („aus nie erschauten Edens Iugendtalen“) und der überzählige Schlussvers bekräftigen in der temporalen wie inhaltlichen Gegenüberstellung die epochale Erfahrung: Vor dunklem Spiegel, fremder Bilder voll, Die lautlos fallen – ineinander wob Wie magisch eine Hand zu jaehem Strahlen Von edler Farben sternigem Geroll: Harrten wir staunend, am Kaleidoskop Wie Kinder erst, u. sahen nur das Malen. Und war uns doch, als ob nur Echo scholl Aus nie erschauten Edens Iugendtalen: Iedoch der Ruf ist uns noch unvernommen, Schon atmen wir erregter, doch beklommen, Der Bilder Fluten, mehr der Melodieen … Sagt, war es Schrei kristallener Fanfaren? Was fuehrte nur uns fromme Kinderscharen, Uns jetzt so heimatlich zu seinen Knieen. Und wir erkennen, wo wir Blinde waren:57
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Schaeffer: Vier Sonette an Stefan George, S. 1. Schaeffer: Vier Sonette an Stefan George, S. 2.
3.1. Georges polarisierende Rolle im literarischen Feld um 1910
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Im dritten Sonett wird wieder das Gedicht angeredet, das als Bote aus den Niederungen und Verworrenheiten auf „[s]eines Meisters Schwelle“ erstirbt. Dennoch bedarf es des Boten, damit das lyrische Ich sich zu seinem eigenen, hymnischen Ton befähigt fühlt: Erloester Saenger doch, mein Lied, aus Banden Zwiefacher Schwere, Leibes u. der Seele, (Wohl zu verachten weisst du jenes scheele Und niedre Sucht, doch ihr noch dunkles Branden, Das durch der heiligen Heimatinseln Schaeren Verworren laermt, anstatt mit lindem Schmiegen Sich um den Fuss der thronenden zu biegen, Dankbarer spiegelnd die befreiten Sphaeren, Entliess dich widerwillig), wenn du laengst Auf deines Meisters Schwelle mit Erklingen Dein schwaches Leben aufgabst u. die Fahrt: Dann auf den weissen, des Triumphes Hengst Bin ich wohl kuehner, singend mich zu schwingen Die Hymne klarer u. ersehnter Art.58
Erst Schaeffers Schlusssonett feiert George als göttlichen Träumer, dessen Träume das Leben der jungen Generation sublimieren. Das Sextett stilisiert den Ungenannten in einer Apotheose zur Kultfigur. In der überirdischen Gegenwelt „ein[es] siebentorige[n] Theben“ – eine Allusion auf den Siebenten Ring – fungiert der prophetische Träumer als Subjekt und Objekt kultischer Verehrung. Dass zweite Terzett mahnt im Ihr eine Verehrergruppe, dem „Göttlich[en]“ sich nur „dienen[d] zu nähern: Er schlummert – hoert, wie träumt er koestlich laut. Die Kuehle seines Marmorbettes floesst Ihm Träume ein, die strahlend aufgebaut Vasen erscheinen, in die unser Leben, Ia, unser eigenes, tief aufgeloest Mit roten Weines milder Wollust taut. In seinen tiefen Traumesaugen schaut Von Golde er ein siebentoriges Theben,
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Schaeffer: Vier Sonette an Stefan George, S. 3. Das Schluss-s des Pronomens „jenes“ in V. 3 findet sich in der Handschrift, widerspricht aber der Kongruenz: Richtig wäre: „jene“.
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3. Frühexpressionistische Reaktionen auf den Siebenten Ring
Darin er Koenig ist u. Priester. Wo Ihm Himmlische sich neigen mit Gebaerden Voll Opfer u. von Gaben gross u. froh. Die Auen seiner Abgeschiedenheit Betretet scheu, denn ihr seid ganz von Erden, Und sucht mit dienen seine Goettlichkeit.59
In Schaeffers Sonett-Zyklus wirkt die Verehrung übertrieben, und hyperbolisch erscheint auch der Kontrast zwischen der am Leben verzweifelnden Generation und dem göttlichen Träumer in seiner künstlichen Gegenwelt. So schlägt die überfigurierte Hommage fast in eine unfreiwillige Parodie um, wie anhand von Schaeffers Auseinandersetzung mit George in der Nachkriegszeit noch erläutert werden wird.60 Das ambivalente Verhältnis zu George, in dem sich eine latente Dissonanz ausdrückt, ist durchaus generations- und epochenspezifisch.
3.2. Vorbild der Frühexpressionisten Komplexer ist die Wirkung auf die expressionistische Avantgarde, die mit George die Verehrung für Nietzsche teilte. Die Bedeutung Stefan Georges für einzelne Repräsentanten des Expressionismus ist dank der Studien von Manfred Durzak, Helmut Gier und Günter Heintz recht gut erforscht. Welche entscheidende Bedeutung aber George etwa als Integrationsfigur in den Anfängen des Berliner Frühexpressionismus zukam, blieb lange verkannt. Obgleich die Wertschätzung unerwidert blieb, war George für die literarische Avantgarde um 1910 Maßstab in literarästhetischen Geschmacksfragen.61 Bereits Manfred Durzak hat eingeräumt, dass die angebliche Opposition zwischen dem Symbolisten Stefan George und der expressionistischen Generation nicht generalisiert werden könne, da gerade im vorexpressionistischen Jahrzehnt erstaunliche ästhetische Überschneidungen und Allianzen zu verzeichnen sind. Neuerdings hat Mario Zanucchi in seiner magistralen Symbolismus-Studie nachgewiesen, in welch starkem Maße die deutschen Expressionisten, vor allem Georg Trakl, unter symbolistischem Einfluss
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Schaeffer: Vier Sonette an Stefan George, S. 4. Vgl. Kapitel 4.4. Auch Eschenbach: Imitatio im George-Kreis, S. 221, diagnostiziert „zwei gegenläufige Interessen“ in dem Zyklus: „Schaeffer will Georges Jünger und zugleich ein Dichter eigenen Ranges sein“. Vgl. dazu Achim Aurnhammer: Verehrung, Parodie, Ablehnung. Das Verhältnis der Berliner Frühexpressionisten zu Hofmannsthal und der Wiener Moderne. In: Cahiers d’études germaniques 24 (1993), S. 29–50.
3.2. Vorbild der Frühexpressionisten
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dichteten.62 Gerade im Frühexpressionismus ist diese Affinität viel bedeutsamer als bisher bekannt. Selbst die ästhetisch gegensätzlichen Positionen von Symbolismus und Expressionismus, die Durzak idealtypisch in George einerseits und Herwarth Walden andererseits repräsentiert sieht, müssen relativiert werden.63 Denn ausgerechnet Walden warb am 20. April 1904 um Georges Teilnahme an einem „Autoren Abend“ in Berlin.64 Mit dem Brief, dem ein Prospekt des von Walden geleiteten „Cabarets für Höhenkunst“ Teloplasma beiliegt, sollte George für einen Rezitationsabend in Berlin gewonnen werden. Zwar konnten weder der Hinweis auf die Teilnahme anderer Autoren wie Johannes Schlaf, Peter Hille oder Arno Holz an der „Höhenkunst“ noch die Bitte „um umgehendste Antwort“ Stefan George zu einer Zusage bewegen,65 doch bezeugt die Anfrage die Bewunderung der Vor- und Frühexpressionisten für George. Eine ähnliche ästhetische Dissonanz durchlebte Oskar Loerke. Loerke hat im Jahre 1904 „Stefan George wahrhaft erkannt“ und konstatiert, es sei „für keinen Dichter, der nicht nur Verse als Einfassung für seine Gedanken und die groben Oberflächen seiner Erlebnisse macht, möglich, an ihm vorüber zu gehen“.66 In Abwendung vom dekorativen Jugendstil fordert er eine neue Nuancierung des Erlebens als ästhetisches Ziel und preist als einziges Vorbild Stefan George: In dem Erfassen und Ausgestalten der intimsten, feinsten, eigensten Lebenserlebnisse läge noch ein weites Gebiet für die lyrische Poesie, möglicherweise auch für ihre anderen Gattungen. In dieser Beziehung wirkt in unseren Tagen außer Stefan George niemand, die Mitglieder seines Kreises sind größtenteils nicht sonderlich
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Mario Zanucchi: Transfer und Modifikation. Die französischen Symbolisten in der deutschsprachigen Lyrik der Moderne (1890–1923), Berlin und Bosten 2016, bes. S. 632–648. Manfred Durzak: Models for Symbolism and Expressionism: Stefan George and Herwarth Walden. In: The Symbolist Movement in the Literature of European Languages. Hg. von Anna Balakian, Budapest 1982, S. 191–212. Herwarth Walden (Berlin) an Stefan George (Bingen), 20.4.1904. StGA, George III, 13641: „Wir [„eine Anzahl Freunde der Kunst“] erlauben uns also die Anfrage, ob wir Ihnen, sehr geehrter Herr einen Autoren Abend im nächsten Winter zur Verfügung stellen dürfen u. zwar einen Abend Mitte Januar 1905. Die Veranstaltungen finden im Berliner Architektenhause statt.“ Programmatisch bleibt das Teloplasma vage, kündigt aber an: „Und so wollen wir […] gar strenge ästhetische Censur üben. […] [U]nser Endziel: Höhenkunst“. Das Directorium der Künstlergruppe bildeten Herwarth Walden, Peter Baum, Peter Hille, Else Lasker-Schüler, S[amuel] Lublinski, Kurt Neander, Otto Petri. Der „Verein für Kunst“ – der Name lehnt sich sichtlich an den George-Kreis an – hat sein Winterprogramm 1904/05, Berlin [1904], aufwendig drucken lassen. Die „sechs Dichterabende“ bestritten schließlich: Detlev von Liliencron, Thomas Mann, Johannes Schlaf, Paul Scheerbart, Arno Holz und Richard Dehmel. Oskar Loerke: Eintrag am 19.10.1904. In: O. L.: Tagebücher 1903–1939. Hg. von Hermann Kasack, Heidelberg, Darmstadt 1956, S. 22 f., hier 22.
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3. Frühexpressionistische Reaktionen auf den Siebenten Ring
begabte Nachahmer. Wenn man also schaffen will wie jener Meister, ist es unvermeidlich, sich zunächst seinen Stil, seine Form zu schaffen. Und wie schwer gerade dieses ist, fühle ich außerordentlich lebhaft.67
Auf der generationstypischen Suche nach einer eigenen, neuen Form, welche „die Feinheit des Erlebnisses aufzuzeigen“ hat, bleibt George zunächst das Maß aller Poesie.68 Loerke, der darunter leidet, „[s]eine Stimmungen nicht beschreiben, nur andeuten“ zu können, da ihm „bis jetzt keine künstlerische Form gegeben ist“, bekennt sich zu ihm in einem regelrechten ästhetischen Credo. Eine kleine handschriftliche Sammlung von Gedichten Oskar Loerkes aus dem Jahre 1905, Sunt lacrimae rerum, ist „in Georges Manier“ gehalten.69 Die Sammlung, die von der Sonettform dominiert wird, kreist thematisch um die Suche nach der „neuen Form“. Zum Ausdruck kommt dies in dem metapoetischen Eingangsgedicht Erbe und Eigen, in dem die Taube der Inspiration die Seele des Dichters mahnt, Neues nicht in der Außenwelt, sondern im Traum zu suchen.70 Es ist bezeichnend, dass nach der anfänglichen Orientierung an George auch bei Loerke eine Distanzierung einsetzte. Erst in der nachexpressionistischen Ära fand er wieder zu George zurück. So liest Loerke 1926 „wieder einmal mit Eifer und mit im letzten rätselhaftem Glück“ den Stern des Bun-
67 Loerke: Eintrag am 4.6.1904. In: Tagebücher 1903–1939, S. 18 f. 68 Loerke: Eintrag am 4.6.1904. In: Tagebücher 1903–1939, S. 18 f. 69 Die Sammlung, deren George-Allusionen sich auf die Bildlichkeit beschränken, hatte Loerke an den Verlag der Blätter für die Kunst geschickt, aber bereits drei Tage später wieder zurückerhalten, vgl. Günter Heintz: Stefan George. Studien zu seiner künstlerischen Wirkung, Stuttgart 1986, S. 38–73 („Oskar Loerkes Anfänge“). 70 Oskar Loerke: Erbe und Eigen. In: Sunt lacrimae rerum 1905 (DLA, A: Loerke 66.1480), Bl. 3r. Die Zweitüberlieferung (DLA, A: Loerke 71.125) ist textidentisch. Die Sammlung ist nicht in die Edition der Sämtlichen Gedichte aufgenommen worden. Der Heimat Taube nicht, die Gleiches girrt, Nicht gleicher Stern, nicht gleicher Scholle Brachen, – Nicht meine Seele konnte lebend machen, Was hold durch vieler Nächte Flöre flirrt; Nicht schauen: seltsam ward es und verwirrt, Sie musste durch benetzte Iris lachen; Nicht denken: so erregt sie rang zu wachen, So bunt war sie von Schleiern eingeirrt. Da rief im Schlaf die Taube meine Seele Und stieg und tauchte zwischen Stern und Scholle: Du glaubst an Dornenröschen und Frau Holle Und leidest, weil das Leben sich verhehle? In Träumen wuchert edler Dinge Sold, Dein eigen bleibt, nur lauterer, was Gold.
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des71 und reagierte 1933 auf Georges Tod mit „stiller Bewegung“, durch welche „die Geschenke vieler Jahre“ gehen: „Der große Zauber, die Ohnmacht der vielen Verkennung und Beschimpfung durch Tagesschreiber“.72
3.2.1. George im „Neuen Club“ Bereits im Herbst 1908 verständigten sich Kurt Hiller und Erwin Loewenson auf George als maßgebliches Vorbild.73 Im März 1909 verherrlichte Loewenson die Gründung des Neuen Clubs, der Keimzelle des Berliner Expressionismus, mit einem vierstrophigen Gedicht, das in Kleinschreibung, erlesenem Wortschatz und kultischer Bildlichkeit unverkennbar George nachahmt. Darin werden die sieben Gründungsmitglieder auratisiert als „sieben götter grüßend ins getöne / Wo sonnen steigen und geschickes löhne“.74 Eine Rezitation von „vier Gedichten von Stefan George“ bildete den Höhepunkt des ersten öffentlichen Abends des Neuen Clubs am 3. Juli 1909.75 Nach dem Muster der Blätter für die Kunst plante Loewenson 1908/09 sogar ein Periodikum mit dem Titel Blätter für die Décadence.76 Loewenson bewunderte George, weil dieser das ästhetische „Problem“ der „Synthesis von Monumentalität und Subtilität […] zum ersten Mal […] gelöst habe“, und nannte ihn einen „sehr grosse[n] Dichter“.77 Auch wenn man sich im Frühjahr 1910 „von den Spätromantikern George und Hofmannsthal zu distanzieren begann“,78 blieb die George-Verehrung unter den führenden Frühexpressionisten zunächst ungebrochen. Seine programmatische Rede vom 8. November 1909 über „die Décadence der Zeit und den ‚Aufruf‘ des ‚Neuen Clubs‘! Ein Aufstand“ leitet Loewen71 Loerke: Eintrag am 3.5.1926. In: Tagbücher 1903–1939, S. 141. 72 Loerke: Eintrag am 5.12.1933. In: Tagbücher 1903–1939, S. 286 f., hier 286. 73 Vgl. Kurt Hiller an Erwin Loewenson, 14./15.11.1908. In: Die Schriften des Neuen Clubs 1908–1914, Bd. 1. Hg. von Richard Sheppard, Hildesheim 1980, S. 13. – Ein ganz ähnliches Verhältnis des Neuen Clubs und der frühexpressionistischen Avantgarde zeigt sich im Verhältnis zu Hofmannsthal, dessen anfängliche Verehrung in Annihilation umschlägt; vgl. dazu meine Studie: Aurnhammer: Verehrung, Parodie, Ablehnung. 74 Erwin Loewenson an Gustav Koehler, 3.3.1909. In: Die Schriften des Neuen Clubs, Bd. 1, S. 15 f., hier 15. Dem Adressaten ist diese Nachahmung nicht entgangen, denn in seiner Antwort vom 5.3.1909 bemerkt er ironisch: „Stefan [George] würde neidisch, wenn er merkte, dass jemand noch dunkler noch feierlicher reden kann wie er“ (ebd., S. 16). 75 Die Schriften des Neuen Clubs, Bd. 1. Hg. von Richard Sheppard, S. 30. 76 Edition in: Die Schriften des Neuen Clubs 1908–1914, Bd. 2. Hg. von Richard Sheppard, Hildesheim 1983, S. 295–302. Loewenson erwarb käuflich im August 1909 die ersten vier Gedichtbände Stefan Georges: vgl. ebd., Bd. 1, S. 84 f. 77 Erwin Loewenson an Erich Unger, 12.8.1909 und 15.8.1909. In: Die Schriften des Neuen Clubs, Bd. 1, S. 87–89, hier 87 und 89. 78 Vgl. Die Schriften des Neuen Clubs, Bd. 1, S. 180.
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3. Frühexpressionistische Reaktionen auf den Siebenten Ring
son mit Georges Gedicht Die Spange (SW II, 54) aus den Pilgerfahrten ein und bekennt sich zu dessen „Pathos der Anbetung vor den Sakrosanktheiten glorreicher Kunst“. Die Disproportion einer kultischen Verehrung durch wenige und einer allgemeinen Geringschätzung verbürgt für Loewenson Georges Dichtergenie, zu dessen Schöpferkraft er sich im einvernehmlichen ‚Wir‘ bekennt: Stefan George, der uns heute Lebendigen mehr bedeutet als irgend ein toter Dichter […], weil er unsere Mitternächte zum Glühen bringt und über unsere Wolken gebietet und unsere triumphierenden Brücken baut – – Glauben Sie, daß Stefan George heut – außer von einer kleinen vorherbestimmten Zahl Menschen, die ihm Altäre weiht – von irgend jemand um seiner Wunder willen auch nur geachtet wird?79
Obgleich mancher Frühexpressionist Loewensons „verunglücktem Stefan-George-Ästhetizismus“ skeptisch gegenüberstand,80 blieb George eine feste Größe im Dichterkanon der Frühexpressionisten. Dennoch trübte die zunehmende Opposition zum Ästhetizismus Hofmannsthals und Rilkes auch das Verhältnis zu George. René Schickele verhüllte seine Absage an die Neuklassik noch notdürftig als Traum von einem wilden Pferderennen. Doch folgt im Spuk der Apostrophe des lyrischen Ichs, das die Rennwägen mit den Dichtern Dehmel, Rilke und George identifiziert, die optische Desillusion: Statt der Dichter werden nur poetische Surrogate vorgefunden, statt George „Platens Pagenbein, mit neuem Glanz beschuht“.81 Aus dem vorexpressionistischen Jahrzehnt stammt wohl die nur handschriftlich überlieferte Parodie, mit der Kurt Pinthus sich an George und dem Ästhetizismus abarbeitet. Darin imitiert Pinthus metrisch wie stilistisch George: in 79 80
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Erwin Loewenson: Die Décadence der Zeit und der ‚Aufruf‘ des ‚Neuen Clubs‘ [8.11.1909]. In: Die Schriften des Neuen Clubs, Bd. 1, S. 182–208, hier 191. Vgl. Friedrich Schulze-Maizier an David Baumgardt, 27.9.1909. In: Die Schriften des Neuen Clubs, Bd. 1, S. 208 f., hier 208. In Schulze-Maiziers Nachlass findet sich in der Sammlung „Satirica“ ein Entwurf zu einem obszönen Gedicht, in dem sich die Zeile „George kränzelte (?) den Müllkutscher“ findet (DLA, A: Schulze-Maizier 71.7379). – Friedrich SchulzeMaizier: Frühexistentialist unter Frühexpressionisten. In: Deutsche Rundschau 88 (1962), S. 331–338, distanziert sich übrigens rückblickend von der ausgeprägten ‚Expressio‘-Tendenz mancher Weggefährten im Neuen Club. René Schickele: Spuk. In: R. S.: Weiss und Rot. Gedichte, Berlin 1910, S. 109. In der 2. Auflage von 1920 (S. 87) hat Schickele eine selbstironische zweiversige Schlussstrophe hinzugefügt: „Ich blickte umher, ich rief: / ‚Gottlob ihr Herren, daß ihr nicht fielt, / wir alle litten um euch Sorge. / Doch wars der alte Glanz, woran ich euch erkannte: / die Rosse die Dehmel ins Rennen sandte, / die Ställe Rilke und George!‘ // Doch statt Georges baumelte / in seinem Wagen Platens Pagenbein, / mit neuem Glanz beschuht: / nahtlos. Es fuhr im dunkeln Glorienschein ‚Allein‘. / In Dehmels Wagen taumelte / ein Embryo mit gelähmtem Zeigefinger. / Statt Rilkes stand in goldvergittertem Zwinger / ein himmelblauer Zuckerhut, / der tönte aller deutschen Reime Litanein.“
3.2. Vorbild der Frühexpressionisten
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der Kleinschreibung, der erlesenen Lexik, den gesuchten Vergleichen und den euphonischen Alliterationen und Assonanzen, die Wendungen aus dem Algabal („purpur-blumen“ als Reminiszenz der „dunklen grossen schwarzen blume“ [SW II, 63]) und Reime aus dem Jahr der Seele („tropfen“ / „klopfen“ [SW IV, 15]) zitieren. Die Imitation dient der parodistischen Entweihung. Den großen poetischen Aufwand im Stile Georges decouvriert der verkürzte Schlussvers „Ich schwitze!“, der in expressionistischer Direktheit dasselbe ausdrückt, wozu Ästheten sieben Verse benötigen: Stefan George Von meinen müden händen gleiten tropfen Wie rasche rosse meine pulse rasen Wie wilde wächter meine schönen schläfen klopfen In meinem hirne wallen tausend blonde blasen. Und wie ich auf dem schlanken stuhle einsam sitze Und langsam rühre in dem trüben Tranke Wie purpur-blumen blüht in mir nur der gedanke: Ich schwitze!82
Die Kontroverse im Neuen Club spiegelt sich im Programm des ersten Neopathetischen Cabarets im Mai 1910 wider, das die „Décadence“ zum Thema hatte. Loewenson selbst las dabei im Rahmen eines Vortrags aus dem Jahr der Seele. Um George dem expressionistischen Dichterideal anzunähern, betont Loewenson die visionäre Kraft und die vitalistische Grundierung seiner Dichtung. Der Vortrag geht ausführlich auf die „Sehnsucht nach dem Leben“ in Georges Lyrik ein und sieht in deren „Willen mit seiner Qual“ eine ästhetische Entwicklung, welche die ‚décadence‘ überwinde: Denn „mit der Qual kam das Leben, die Rede, der Sang und der Sieg zurück“.83 Dagegen kritisiert Erich Unger im Neopathetischen Cabaret in dem Vortrag Vom Pathos – Die um George „die Flucht der Georgeaner aus der modernen, großstädtischen Wirklichkeit“.84 Dementsprechend, allerdings noch mittelbar,
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Kurt Pinthus: Stefan George. DLA, A: Pinthus [Gedichte und Gedichtentwürfe], ungezählt, 71.546. Jae Sang Kim: Dichtergedichte als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde, Freiburg 2007 (urn:nbn:de:bsz:25-opus-76528), S. 96 f. und 114–119, hat diese Parodie erstmals veröffentlicht und plausibel kommentiert. Die Parodie erinnert an Georges: Keim-Monat. In: Die Fibel. Auswahl Erster Verse, 3. Aufl., Berlin 2014, S. 32 f. Erwin Loewenson: Tragödien der Décadence – Hamlet, Dichtungen von Stefan George und Hugo von Hofmannsthal. In: Die Schriften des Neuen Clubs, Bd. 1, S. 371–388, hier 386. Erich Unger: Vom Pathos. Die um George. In: Der Sturm 1 (1910), Nr. 40, S. 316. Vgl. Richard Sheppard: Nachwort. In: Die Schriften des Neuen Clubs, Bd. 2, S. 419–577, hier 549 f.
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3. Frühexpressionistische Reaktionen auf den Siebenten Ring
nur auf die George-Epigonen gemünzt, distanziert sich Kurt Hiller im Vorwort der ersten expressionistischen Gedichtanthologie, des Kondor, vom „mürrische[n] Pathos dieser feierlichen Magister aus des großen George Seminar“.85 Auch Else Lasker-Schüler ironisiert die Verehrung für George Im neopathetischen Cabaret und attackiert zugleich dessen Dichtung durch detrahierende Vergleiche als eintönige Frömmelei: „Ich höre, wie ein Vortragender mit triumphierendem Gesicht Stefan Georges Dichtungen als Ruhepunkt bezeichnet. Das muß ich wiederlegen [!]. Stefan Georges Gedichte wandeln allerdings, ohne müde zu werden; nicht bunte Karawanen über Sandwege; aus ihnen weht die Kühle endloser Prozessionen zwischen frommen Schlössern und himmelhohen Domen. Die Orthographie der Georgeverse erinnert in ihrer Gleichtönigkeit leicht an englische Sonntagsruhe. Wars das, lieber Vortragender?“86 Neben Loewenson hielten andere Mitglieder des Neuen Clubs weiter an George fest.87 So verfasste Fritz Koffka sogar noch Anfang 1912 einen Brief an George, den er jedoch nicht abschickte, weil er ihn selbst „zu komisch fand“.88 Unbeirrbar in seiner ästhetischen Orientierung an George blieb vor allem Ernst Blass. Seine „Monatsschrift“ Die Argonauten, die er seit 1914 herausgab, ist in Programm, Thematik und Stil ganz dem George-Kreis verpflichtet, dem Blass sich anzunähern suchte.89 Sein Essay über den Stern des Bundes (1914)90 liest sich wie ein Glaubensbekenntnis zur ästhetizistischen Kunstreligion und zur „Georgeschen Mission“. Blass auratisiert George zu einem Dichterpriester: „so spricht durch den Mund Georges der Gott des Gesangs“.91 Solch „blasse Neuklassik“ schien nicht nur Alfred Lichtenstein
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Kurt Hiller (Hg.): Der Kondor, Heidelberg 1912, S. 7. Else Lasker-Schüler: Im neopathetischen Cabaret. In: E. L.-Sch.: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe, Bd. 3/1: Prosa 1903–1920. Hg. von Ricarda Dick, Frankfurt/M. 1998, S. 157. Der Essay bezieht sich auf das dritte Neopathetische Cabaret, das der „Neue Club“ am 9. November 1910 veranstaltet hatte; vgl. Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe, Bd. 3/2: Prosa 1903–1920. Anmerkungen. Hg. von Ricarda Dick, Frankfurt/M. 1998, S. 154 ff., hier 155. 1912 analysiert Loewenson Georges Lyrik in seinem Kleinen dummen Notiz-Büchleyn (in: Die Schriften des Neuen Clubs, Bd. 2, S. 323–347, hier 332–337). Fritz Koffka an Erwin Loewenson, 9.1.1912. In: Die Schriften des Neuen Clubs, Bd. 1, S. 535. Die Argonauten. Eine Monatsschrift. Hg. von Ernst Blass, Heidelberg 1914–1921. Vgl. dazu Jacob Picard: Ernst Blass, seine Umwelt in Heidelberg und „Die Argonauten“. In: Expressionismus. Aufzeichnungen und Erinnerungen der Zeitgenossen. Hg. von Paul Raabe, Olten und Freiburg/Br. 1965, S. 137–145. Ernst Blass: Stefan Georges „Stern des Bundes“. In: Die Argonauten 1 (1914), 5, S. 219–226. Vgl. dazu Angela Reinthal: „Wo Himmel und Kurfürstendamm sich berühren“: Studien und Quellen zu Ernst Blass, Oldenburg 2000, S. 129–142. Blass: Stefan Georges „Stern des Bundes“, S. 220. Georges Wandlung zum ‚Künder‘ sah Blass allerdings kritisch. Als er „Stefan George zu seinem sechzigsten Geburtstag“ im Ber-
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suspekt.92 Auch in gruppeninternen Gesprächen mehrten sich die Stimmen, welche die Autorität der neuklassischen Moderne nicht mehr anerkannten. Und im Jahre 1911/12, in dem sich manche Neopathetiker dem Sturm-Kreis um Herwarth Walden oder der Aktion Franz Pfemferts anschlossen, schlug die ursprüngliche Bewunderung auch in ein öffentliches Verdikt um. Doch wurde das zwiespältige Verhältnis immer wieder metapoetisch reflektiert, wie von Alexander Bessmertny, dessen George-„Spruch“ Bewunderung und Abwehr zugleich enthält: Stefan George, Deuter meiner Blösse, Der Gipfel wies und talwärts mich verstiess. Ich steige schwer, geworfen durch die Stösse Des Sturmes, den dein Geisterodem bliess.93
Die ambivalente Haltung der ästhetischen Avantgarde zu George zeigt sich auch in satirischen Texten, die mehr auf die Person als auf die Dichtung zielen. So findet sich in einer ironischen Literaturgeschichte im Zwiebelfisch Kratzbürsten Vademecum von 1913 ein George-Porträt, das nur kurz die „verstiegene[n] Verse“ erwähnt, die der Dichter „für einen Kreis von
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liner Tageblatt vom 10.7.1928, gratulierte, hat Blass prophezeit, „die später Geborenen“ würden in George „den innigen Lyriker, nicht den flammenden Gebieter“ sehen. In seiner späten Würdigung des Neuen Reichs hat Blass den reinen Seher-Dichter, zu dem ihn die konservative Kulturkritik zunehmend stilisierte, mit guten Gründen ebenso relativiert wie die Prophetie: „Denn es ist ein Schmerz, wenn von einem neuen Reich so konkret und unmetaphorisch gesprochen wird, zu wissen, dass es zunächst nirgends vorhanden ist und leider höchstwahrscheinlich auch nicht kommen oder nicht so kommen wird …“ (Ernst Blass: Das neue Buch von Stefan George. In: Berliner Tageblatt vom 13.12.1928). Vgl. Alfred Lichtenstein: Etwa an einen blassen Neuklassiker (1914). In: A. L.: Dichtungen. Hg. von Klaus Kanzog und Hartmut Vollmer, Zürich 1989, S. 41. Die Alltagsferne und formale Nähe zu George – so konstatiert etwa Oskar Loerke in den Gedichten von Sommer und Tod (1918) „eine Abhängigkeit von Stefan George bis in den Satzbau hinein“ – wurde in der Öffentlichkeit Ernst Blass als Makel angelastet; vgl. Reinthal: „Wo Himmel und Kurfürstendamm sich berühren“. Studien und Quellen zu Ernst Blass, bes. S. 232–250, hier 250. Alexander Bessmertny: Stefan George. In: Die Aktion 3 (1913), Sp. 40. Auf George bezieht sich wohl auch Bessmertnys Gedicht Dem Meister. In: Die Aktion 2 (1912), Sp. 1110, dessen erste Strophe dem ungenannten ‚Meister‘ die Rolle eines Initiators zuweist: „Du bist das Glas, das meins zum Klingen lockte. / Du bist der Dank, den mir ein Gott versprach, / Als krachend ich das Tor zerbrach / Weil ungesungnes Lied im Innern stockte.“ In der zweiten Strophe seines Gedichts Ein Epigone spricht. In: Die Aktion 3 (1913), Sp. 404, bekundet Bessmertny selbstironisch seine Abhängigkeit von Stefan George wie seinen Wunsch, sich von diesem zu emanzipieren: „Similisteine stahl ich Georgen, / Gleite mit ihnen prunkend ins Land. / Willst du den Barchend zur Toga mir borgen, / Geb ich die Steine dir dankbar zum Pfand.“ Wieder unter dem Titel: An die mir im Kinderwagen schon verlobte Muse. In: Das kleine Zwiebelfisch Kulturkratzbürsten Vademecum. Hg. von Hans von Weber, München 1913, S. 52. Unter ‚Similisteine‘ sind wohl die clichéhaften Nachbildungen von Georges poetischer Lexik und Sprache zu verstehen.
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3. Frühexpressionistische Reaktionen auf den Siebenten Ring
eingeweihten Jüngern“ schreibe, um dann ausführlicher die elitäre Außenwirkung durch das angeblich normale „Privatleben“ zu konterkarieren.94 Unter den Expressionisten nennt Karlhans Kluncker namentlich Theodor Däubler, Ernst Stadler, Georg Heym und Ernst Blass „autonome Schüler“,95 doch orientierten sich viel mehr Expressionisten, wenn auch oft in einer ambivalenten Beziehung, an George.96 Diese Wirkung mögen einige autorenspezifische Studien paradigmatisch erhellen.
3.2.2. Religiös grundierte Verehrung: Reinhard Johannes Sorge Welch große Bedeutung George für die Genese der expressionistischen Formensprache zukommt, lässt sich paradigmatisch im Falle von Reinhard Johannes Sorge nachweisen. Vor allem seine frühen Gedichte sind stark von Georges Liedern beeinflusst: So folgt etwa das Gedicht Einsam in seinen heterometrischen zweihebigen Kurzversen dem daktylischen Duktus mancher Lieder aus dem Siebenten Ring, die sie zudem in den identischen Reimen alludieren. Wie George in seinen Liedern setzt Sorge auch die Tageszeiten als Spiegel und mittelbaren Ausdruck der seelischen Stimmung ein: Einsam Goldet die Sonne Das zitternde Gras, Den warmen Himmel In Rosen-Blass, Schreit’ ich hinaus, Einsam, allein; Allabendlich . . . . . . .
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[Hans von Weber?]: Deutsche Literaturgeschichte. In: Das kleine Zwiebelfisch Kulturkratzbürsten Vademecum 1913. Hg. von Hans von Weber, München 1913, S. 8–16, hier 11: „Da er in verdächtiger Zurückgezogenheit lebt und meist unbekannten Aufenthalts ist, wurde er wiederholt durch Detektivs überwacht, die jedoch feststellten, daß sein Privatleben bürgerlicher ist als es den Anschein hat. Befindet er sich allein zu Haus, unterscheiden sich seine Funktionen nicht wesentlich von denen andrer gewöhnlicher Menschen.“ Karlhans Kluncker: „Das geheime Deutschland“. Über Stefan George und seinen Kreis, Bonn 1985, S. 22. Wilhelm Kühlmann hat in Max Herrmann-Neißes „Franziskus“-Sonettzyklus, in dem der Heilige mit Herrmanns Freund Franz Jung überblendet wird, George-Bezüge festgestellt, die allerdings vereinzelt bleiben und im Vergleich zur produktiven Auseinandersetzung mit Hofmannsthal weniger ins Gewicht fallen; vgl. Wilhelm Kühlmann: Franziskanische Standortsuche im Frühexpressionismus. Unvorgreifliche Bemerkungen zu „Die zehn Sonette für Franziskus“. In: Euphorion 111 (2017), S. 247–256.
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Lasse die Tränen Meiner Seele Niedertropfen, niederrinnen; Einsame Tränen, Einsames Sinnen, Allabendlich . . . . . . . Silbert der Mond Das zitternde Gras, Den Sternenhimmel In Lilien-Blass, Kehre ich heim, Einsam, allein; Allabendlich ……97
Sorges Aufzeichnungen um 1910 zeugen von einer tiefen existentiellen und schöpferischen Krise. Anlass war das Verbot, den neunjährigen Johannes Auerbach zu besuchen, „mit dem ihn eine innige und zarte Freundschaft verband“.98 Um die Trennung zu bewältigen („Ich löse meine Seele vom Liebling“), schrieb er „Gedichte im georgischen Stil“ und las neben Zarathustra „Stefan George: Der siebente Ring“.99 Sorges Interesse an George, befördert durch die Verbindung mit dem Archäologen Botho Graef, der George persönlich kannte, überdauerte diese Krise, wie ein Tagebucheintrag vom Sommer 1911 bezeugt („Einige Verse Georges“).100 Auch sein 97
Reinhard Johannes Sorge: Einsam, Knospen und Keime, Ms. Gedichte 1909. DLA, A: Sorge 69.1832. Das Manuskript unterscheidet sich etwas von dem Abdruck in der Ausgabe der Werke. Hg. von Hans Gerd Rötzer, 3 Bde., Nürnberg 1962–1965, hier Bd. 1, S. 88. Auch das Gedicht Todesahnen [datiert: Oktober 1909] (ebd.) erweist sich in Metrik und Lexik (›tot‹, ›Träne‹, ›Traum‹ sowie den Derivaten) George verpflichtet. 98 Vgl. Hans Gerd Rötzer: Leben und Werk. In: H. G. R. (Hg.): Reinhard Johannes Sorge: Werke, Bd. 1, Nürnberg 1962, S. 26. 99 Reinhard Johannes Sorge: Tagebuchartige Aufzeichnung vom 24. November 1910, Ms. DLA, A: Sorge 70.149/2, Bl. 3v. In einem Brief, Ende 1910, nennt Sorge Das Jahr der Seele und Den Siebenten Ring „zwei wundervolle Gedichtwerke“ (zit. nach Hans Gerd Rötzer (Hg.): Reinhard Johannes Sorge: Werke, Bd. 1, S. 405). 100 Reinhard Johannes Sorge: [undat.] Tagebuchartige Aufzeichnung [zwischen Juli und September 1911], Ms. DLA, A: Sorge 70.149/3, Bl. 12v. – Zu Botho Graef (1857–1917), Bruder von Sabine Lepsius, und seine Beziehung zu Stefan George vgl. Rebekka Peters: Graef, Franz Botho. In: GHb III, S. 1391 f. Graef wirkte als Förderer junger Künstler, die er George weiterempfahl (u. a. Felix Maltz, Ernst Hardt und Karl Gustav Vollmoeller). Vgl. dazu Susanne Schüssler: Ernst Hardt. Eine monographische Studie, Frankfurt/M. 1994, bes. S. 25–43, und Birgit Bernard: „Den Menschen immer mehr zum Menschen machen“. Ernst Hardt 1876–1947, Essen 2014, bes. S. 32–36. Stefan George und Melchior Lechter haben Graef ein Exemplar der ‚Monumentalausgabe‘ des Teppichs des Lebens und der Lieder von Traum und Tod (1900) gewidmet. Die undatierte Widmung besteht aus der Schlussstrophe des XVI. Gedichts des Vorspiels; vgl. Katalog zu Auktion 456 (18./19.11.2014) von Haus wedell & Nolte (Hamburg), Nr. 172 und Tafel 2 (Abbildung der Widmung).
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3. Frühexpressionistische Reaktionen auf den Siebenten Ring
poetisches Werk aus diesen Jahren ist neben Nietzsche von der „herben und spröden Syntax“ Georges geprägt.101 Dies gilt insbesondere für den Einakter Der Jüngling und die Gedichte im Anhang, die Sorge nach dem Vorbild von Georges Jahr der Seele in drei Jahreszeiten gegliedert hat. Um die Differenz seiner Nachahmung zu betonen, setzt Sorge anders als George, der den Frühling ausspart, mit den Versen im Frühling (1911) ein, dem die Verse des Sommers und Verse des Herbstes folgen. Die Nähe zu George hat Sorge selbst markiert, indem er den Mittelteil, die Verse des Sommers, mit einem George-Zitat als Motto versah: „Von einer ganzen jugend rauhen werken / Ihr rietet nichts . . . . .“.102 Die Auslassung konnten zeitgenössische George-Kenner leicht aus dem Fortgang der zweiten Strophe des Zeitgedichts im Siebenten Ring ergänzen: „[…] von qualen durch den sturm / Nach höchstem first · von fährlich blutigen träumen“ (SW VI/ VII, 6 f., V. 9–11). So macht sich Sorge das anklagende Bekenntnis Georges zu eigen, wie sehr seine Kunst dem Leid und der Selbstgefährdung abgerungen sei, ein Bekenntnis, dessen Apostrophe („Ihr“) und generationeller Tenor („einer ganzen jugend“) der expressionistischen Generation zur Absage an die Väter diente. Georges Einfluss zeigt sich auch in den Gedanken über verschiedene Dinge (1910/11), die unter anderem einen rhapsodischen kunsttheoretischen Essay mit dem Titel: Von den äusseren dingen der kunst enthalten. Der Kunstindividualismus, der darin begründet wird, ähnelt in seiner Tendenz, assertorischen Faktur, und Ablehnung eines mimetischen Realismus den Merksprüchen der Blätter für die Kunst: „Daher ist alle kunst persönliche eigenheit und niemals den dingen gleich“.103 Es ist daher nur folgerichtig, dass Sorge in diesem Teil seiner Gedanken über verschiedene Dinge sogar Georges Kleinschreibung übernimmt. Er behält sie auch in der folgenden Paränese mit dem Titel Von meister und schüler bei. Darin bejaht er insofern die asymmetrische Struktur des George-Kreises, als er die Nachahmung des Meisters, das „Ich-Vergessen“, nicht als Ich-Auslöschung begreift, sondern als Steigerung der eigenen Anlage: „So ist dein feuer mit dem seinigen verflammt zu neuem feuer, kenntlich wird deines Ichs schöpferische tat. Seinen eigenen weg wagt es nun es spricht mit eigenen zungen es blickt aus eigenen augen nach eigenem schauen deutet es.“104 Mit seiner Reflexion, in der er Einfluss mit Selbständigkeit zu vereinbaren sucht, reagiert Sorge durchaus kritisch auf Georges Anspruch auf lebenslange Bin101 Rötzer: Leben und Werk, S. 29. 102 Vgl. Reinhard Johannes Sorge: Der Jüngling. Die frühen Dichtungen. Hg. von Susanne M. Sorge, Kempten 1925, S. 149. 103 Reinhard Johannes Sorge: Von den äusseren dingen der kunst. In: Gedanken über verschiedene Dinge. In: R. J. S.: Werke, Bd. 1, Nürnberg 1962, S. 217 f., hier 217. 104 Reinhard Johannes Sorge: Von meister und schüler. In: Gedanken über verschiedene Dinge. In: R. J. S. Werke, Bd. 1, Nürnberg 1962, S. 218.
3.2. Vorbild der Frühexpressionisten
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dung. So alludiert er zwar die Feuer-Metaphorik aus Georges berühmtem Gedicht „Wer je die flamme umschritt / Bleibe der flamme trabant!“, das erstmals 1910 in den Blättern erschienen war,105 distanziert sich aber zugleich davon, indem er den Einfluss zu einem temporären rite de passage umdeutet, der zur Steigerung der eigenen Individualität führe. Auch diese Position, die einerseits Georges Superiorität anerkennt, aber zugleich das eigene ästhetische Schaffen verteidigt, dürfte für viele Frühexpressionisten charakteristisch sein. Auch wenn Sorge selbst später den Einfluss Georges unerwähnt ließ,106 hat schon Joachim Kröll zu Recht darauf hingewiesen, dass Sorges „Ausrichtung auf das Sehertum, auf das Prophetentum“ hier ihre Wurzel hat, und nicht erst im katholischen Glauben,107 wie auch Sorges metaphysische Reichsidee durchaus Bezüge zu Georges Neuem Reich aufweist. Am Ende der Beziehung steht ein in der Forschung unbekannt gebliebener Besuch Sorges bei George im Januar 1914, bei dem es wohl um Glaubensfragen ging.108 In einem Brief an George aus Flüelen vom 17. Mai 1914 kommt Sorge, nachdem er den Stern des Bundes gelesen hat, auf die Frage der Katholizität zurück, da er „das schwer austilgbare Gefühl“ habe, als sei George „nicht in dem Sinne katholisch, wie man es allgemein versteht: als empfingen Sie nicht das geweihte Brod“. Sorge fordert George auf, ihm doch zu schreiben, ob er „die Hostie nehmen“ würde, um durch „die Bejahung“ Sorges „Mißtrauen gegen [s]ich selbst und an Verehrung gegen Sie“ zu bereichern.109 Sorge schickt George zwar sein „neuerschienenes Buch“
105 SW VIII, 84. Vgl. dazu die instruktive Studie von Dieter Martin: „Wer je die flamme umschritt“. Stefan George am Lagerfeuer. In: Realität als Herausforderung. Literatur in ihren konkreten historischen Kontexten. Hg. von Ralf Bogner, Ralf Georg Czapla, Robert Seidel und Christian von Zimmermann, Berlin und New York 2011, S. 427–446. 106 Reinhard Johannes Sorge: Werden der Seele. Abriß einer Konversion. In: Hochland 11 (1913/14), Bd. 2, S. 199–200, hat seine Konversion als Hinwendung von Nietzsche zu Jesus Christus beschrieben, ohne den Anteil Georges zu erwähnen. Auch der katholische Kritiker Karl Muth: Reinhard Johannes Sorge und der Literat. In: Hochland 17 (1919/20), Bd. 1, S. 726–731, der den Vorwurf des „Literaten“ Hans Frank (in: Frankfurter Zeitung vom 29.11.1919) scharf zurückweist, Sorge habe nach seiner Konversion nur noch „Überzeugungspoesie“ gedichtet, erwähnt George mit keinem Wort, wenn er Sorge als „JohannesNatur“ und „Vorläufer einer […] Glaubens- und Universalpoesie“ aufwertet (ebd., S. 731). 107 Vgl. dazu Joachim Kröll: Reinhard Johannes Sorge. Studien zu seiner inneren Entwicklung, Düsseldorf 1941, S. 15 f. Auch schon die zeitgenössische Rezeption hat in Sorges Dichtung den Einfluss Georges erkannt; vgl. Viktor Trautzl: [Rez.] Reinhard Johannes Sorge: Nachgelassene Gedichte / Preis der Unbefleckten. In: Reichspost, 15.6.1925, S. 8: „Seine Sprache ist hymnisch, von Stefan George beeinflußt, Ausdruck aufs höchste gesteigerte Glut“. 108 Vgl. Reinhard Johannes Sorge (Flüelen) an Stefan George, 17.5.1914. StGA, George III, 12011. 109 Sorge an Stefan George, 17.5.1914. StGA, George III, 12011.
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3. Frühexpressionistische Reaktionen auf den Siebenten Ring
Guntwar – Die Schule eines Propheten (1914), doch es ist nicht anzunehmen, dass George auf das Schreiben reagiert hat.
3.2.3. Anpassung auf Zeit: Friedrich Sieburg Zu den Frühexpressionisten, welche die Nähe Stefan Georges suchten, zählt auch Friedrich Sieburg. Allerdings verrät seine erste Gedichtpublikation Die Erlösung der Strasse (1920), die ein ebenso apokalyptischer wie hymnischer Nachkriegsexpressionismus prägt, nur gelegentlich den Einfluss Georges. So reflektiert das siebenteilige metapoetische Gedicht Die Anrufung des Dichters die Krise des poetischen Sprechens im Krieg und nach dem Krieg, allerdings nicht im Hinblick auf die Zukunft einer Elite wie in Georges großer Dichtung Der Krieg (1917), sondern in der Sorge um die Mitmenschen, an die er in einer imitatio Christi appelliert: „Ich will nicht schön sein im Ton, ich will euch nur herzlich bitten, / Mitzutönen, ihr Menschen!“110 Die späte Entwicklung Sieburgs als Mittler zwischen Frankreich und Deutschland und als politisch-kulturell einflussreicher konservativer Kritiker hatte lange seine dichterischen Anfänge im Zeichen Georges zwischen 1910 und 1912 verschattet, die durch fünfzehn Briefe mit Beilagen im Stefan GeorgeArchiv gut dokumentiert sind. Mittlerweile ist die Beziehung Sieburgs zu George und seinem Kreis besser erforscht.111 Im Alter von siebzehn Jahren hat sich Sieburg bereits erstmals brieflich an den „sehr verehrte[n] Meister“ gewandt, nachdem er in dessen „Büchern, vor allem im ‚Jahr der Seele‘, alles gefunden [hatte], was ich suchte: zum Kristall erglühte Leidenschaft, königliche Sprache, kurz um, Schönheit, Schönheit.“112 Die Gedichte, die Sieburg seinem Schreiben beilegt, zeigen in ihrer einfachen Allegorik und überzeitlichen Allgemeingültigkeit durchaus eine gewisse Affinität zum Ästhetizismus, wie etwa das folgende Gedicht:
110 Friedrich Sieburg: Die Anrufung des Dichters. In: F. S.: Die Erlösung der Strasse, Potsdam 1920, S. 8–12, hier 12. 111 Vgl. dazu Ernst Osterkamp: Sieburg, Friedrich. In: GHb III, S. 1644–1646. Die beiden fast zeitgleich erschienenen umfänglichen Sieburg-Biographien gehen ausführlich auf die Annäherung und Entfremdung vom George-Kreis ein, ohne allerdings auf die poetischen Zeugnisse genauer abzuheben; Klaus Deinet: Friedrich Sieburg (1893–1964). Ein Leben zwischen Frankreich und Deutschland, Berlin 2014, bes. S. 25–46, behandelt vorrangig die verschiedenen anekdotischen Ausschmückungen der Entfremdung von George, während Harro Zimmermann: Friedrich Sieburg – Ästhet und Provokateur. Eine Biographie, Göttingen 2015, bes. S. 24–47, auch die Briefe an George im StGA konsultiert hat und die Freundschaft mit Norbert von Hellingrath quellengestützt nachzeichnet. 112 Friedrich Sieburg (Düsseldorf) an Stefan George, 9.5.1910. StGA, George III, 11791.
3.2. Vorbild der Frühexpressionisten
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Die Sucher Sie tasteten durch tropfennasse Gänge, Und über ihnen klang der Jahre Rollen. Die Fackeln lohten in der Felsenenge, Daraus die blauen Dunkelheiten quollen. Sie gruben, wo die goldne Ader schliefe. Dumpf raunte nur herein der Sturm der Jahre. Und manchmal klang’s, als ob sie jemand riefe. – Nach langer Nacht entstiegen sie der Tiefe, Die Hände schwer von Gold, mit bleichen Haaren.113
Nachdem George den jugendlichen, glühenden Verehrer im August 1910 in Bingen empfangen hatte,114 erneuerte Sieburg in Werbebriefen immer wieder seine Treuebekenntnisse – „Glauben Sie mir, ich kann dienen, wo ich milde Größe fühle, und Ihnen diene ich“ –, die er mit Berichten über Freundschaften und Lektüren untermischt.115 Die Lektüreerlebnisse sollen neben der Verehrung für George die ästhetisch-ethische Affinität verbürgen: Im engen Kreis war ich bestrebt, an den langen Abenden Ihr Evangelium zu predigen, wir lasen ‚Teppich‘ und den ‚Siebenten Ring‘, wir besprachen Dante und Novalis und mit Überraschung, möchte ich sagen, Horaz. Dann haben mich die Gnostiker des dritten und vierten nachchristlichen Jahrhunderts innig gefangen genommen.116
Auch die poetischen Beilagen nähern sich dem „verehrten Meister“ zunehmend an. So ist der Spruch aus dem Jahre 1911 deutlich der ästhetizistischen Idee der Gegenschöpfung verpflichtet, wie sie etwa den Algabal prägt:
113 Anlage zu dem Brief von Friedrich Sieburg (Düsseldorf) an Stefan George, 9.5.1910. StGA, George III, 11791. Das Wort ‚Suchen‘ ist ein Zentralwort in Georges Dichtung. 114 Friedrich Sieburg (Düsseldorf) an Stefan George, 31.7.1910. StGA, George III, 11792: „Sehen Sie nicht, daß ich vor Ihnen auf den Knien liege? Heben Sie mich zu Ihnen auf!“ 115 Friedrich Sieburg (Düsseldorf) an Stefan George, 12.2.1911. StGA, George III, 11795. Als Lektüreerlebnisse seien exemplarisch vermerkt: „Mit Lust habe ich mich jetzt auf das Studium der mittelalterlichen Philosophen und Meister geworfen: Ekkehart, Paracelsus und Böhme und Silesius sind mir lieb geworden.“ Oder auf Spaziergängen in Düsseldorf: „[…] hinaus an den Rhein, wo es groß und frisch ist von Sonne, Wasser und Winde und lese Jean Paul, ‚Siebenten Ring‘ oder Hölderlin. Oder ich denke lange und liebend an Sie und habe viel Erinnerungen und Wünsche“. 116 Friedrich Sieburg (Düsseldorf) an Stefan George, 11.2.1912. StGA, George III, 11800.
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3. Frühexpressionistische Reaktionen auf den Siebenten Ring
Spruch Wie Gott mich wollte, bin ich nicht gemacht. Und darum gilt es selber zu vollenden Den kühnen Bau hoch in bestirnter Nacht Mit meinen Händen.117
Die Wahl Heidelbergs als Studienort im Jahre 1912 führte Sieburg allerdings nicht in die erhoffte Nähe zu George, auch wenn er um Friedrich Gundolfs Gunst warb und sich mit Norbert von Hellingrath anfreundete.118 Als er im Juni 1912 George eine Reise nach Paris ankündigte, legte Sieburg „diese letzten verse“ bei, die er erstmals in der charakteristischen George-Schrift und in Kleinschreibung verfasst hat. Auch wirkt das Traumgesicht, das er in einem dreistrophigen Gedicht schildert, wie eine Replik auf Georges Trauer I aus dem Maximin-Zyklus. Dort apostrophiert das lyrische Ich dem Toten seine Not und bittet ihn um „Antwort“ („Die nacht wirft mich hin auf den rasen. / Gib antwort dem flehenden rufe …“), die ihm der verklärte Maximin dann erteilt, dem die Schlussstrophe in den Mund gelegt ist: ‚Lass mich in die himmel entschweben! Du heb dich vom grund als gesunder! Bezeuge und preise mein wunder Und harre noch unten im leben!‘119
Sieburgs Gedicht stellt Georges Trauer I insofern auf den Kopf, als es mit der tröstenden Erscheinung Maximins einsetzt, dann aber die Ernüchterung des lyrischen Ichs mit dem Erwachen am Tag schildert: Indem Sieburg in der Traumvision Georges Reim „entschweben / leben“ aufgreift, weist er sein Gedicht als Hommage und Antwort aus:
117 Beilage zu dem Brief von Friedrich Sieburg (Düsseldorf) an Stefan George, 10.7.1911. StGA, George III, 11798. 118 Charakteristisch dafür sind lyrische Hommagen wie folgende: An Friedrich Gundolf Alle Form ist mir alt Alles Leid ist mein Genosse Ich in jeglicher Gestalt Bin des Dunkels klarster Sprosse. Doch in Deiner Kräfte Kreis Wird mein Schicksal lampenhell. Wie auf artiges Geheiß Weint mein Herz an Deiner Schwelle. In: Friedrich Sieburg (Heidelberg) an Stefan George, 24.5.1912. StGA, George III, 11801. 119 SW VI/VII, 96, V. 7 f. und 9–12.
3.2. Vorbild der Frühexpressionisten
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‚Ich bin der mittelpunkt, ich bin das all. Ich rage weitgewölbt ob meinem leben. Mein leib durchblutet alles bergmetall Und ringt in wind und wolken zu verschweben‘. So dankt er mir im nachtgebornen traum Wenn schwere sterne durch das dunkel knistern Und goldne schauer durch des rausches raum Mit meiner seele zittern sich verschwistern. Doch stößt der tag ans land dann bin ich arm Und rückgesunken durch der stirne schwere. Dann sinnt mein herz durchbohrt von not und harm Wie es zum pfad der nacht sich wieder kehre.120
Nach seiner Rückkehr aus Paris knüpfte Sieburg an dieses Gedicht an, indem er brieflich dem „Meister“ eine hymnische Huldigung an Maximin übermittelt, mit der er sich explizit dem Kreis anzunähern erhofft: Nach farbigen und hurtigen tagen in Paris geschah mir ein grosses glück: dass ich meine huldigung an den göttlichen Maximin vollendete. Es war weniger ein intellektuelles begreifen als der kindliche schauer des erlebnisses mit dem dies gedicht mir blutend aus der seele sprang. Ich erachte damit eine von den sieben pforten zum heiligtume für durchschritten und fühle mich glücklich. Wie sehr damit auch meine hingebung zu Ihnen gestiegen ist brauche ich wohl nicht zu sagen.121
Mit seiner poetischen Huldigung an Maximin sucht sich Sieburg gleich in mehrfacher Hinsicht in den Kreis „einzuschreiben“. Der Titel Frühlingsfeier spielt auf Klopstocks berühmtes Gedicht an, das zu den erklärten Vorbildern des Kreises zählte, der Untertitel: „In memoriam divi Maximini“ stellt ein Bekenntnis zu Maximins Göttlichkeit dar und mit dem Motto, das er dem Gedicht voranstellt, prophetischen Versen aus Hölderlins Empedokles, verbürgt Sieburg die Kreis-Idee einer Jünglingselite.122 Das Glaubens-
120 Friedrich Sieburg (Heidelberg) an Stefan George, 20.6.1912. StGA, George III, 11802. 121 Friedrich Sieburg (Heidelberg) an Stefan George, 4.7.1912. Beilage zu StGA, George III, 11803. 122 Als Motto wählt Sieburg folgende Passage aus Hölderlins Tod des Empedokles I, 5: Oft sagt’ ich euchs: es würde nacht und kalt Auf Erden, und in Not verzehrte sich Die Seele, sendeten zu Zeiten nicht Die guten Götter solche Jünglinge, Der Menschen welkend Leben zu erfrischen. Und heilig halten, sagt’ ich, solltet ihr Die heitern Genien […]
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3. Frühexpressionistische Reaktionen auf den Siebenten Ring
bekenntnis der Frühlingsfeier wird auch dadurch bekräftigt, dass Verse aus Georges Maximin alludiert werden. Zudem variiert die Strophenform, ein kreuzgereimter Fünfzeiler die Reimordnung von Georges Gedicht Erwiderungen: Das Wunder, indem der Schlussvers nicht nur den Anfangsreim aufgreift, sondern den gesamten Eingangsvers als Refrain wiederholt (SW VI/VII, 93). Sieburgs Frühlingsfeier präsentiert durch die litaneihafte Wiederholung, deiktische Betonung des epochalen Moments („nun“) und rhetorische Fragen sein Glaubensbekenntnis als Nachvollzug seiner Konversion, wie die erste Strophe exemplarisch zeigt: Nun steigt mein blick aus langer nacht nach oben Und faßt mit langem trunk das frühe rot. Soll ich den tag und seine fülle loben Und soll ich klagen wie um einen tod? Nun steigt mein blick aus langer nacht nach oben.123
In der Folge suchte Sieburg Georges Huld dadurch zu gewinnen, dass er ihm Proben seiner Baudelaire-Nachdichtungen übersandte, mit denen er in eine Konkurrenz mit „dem Meister“ trat, darunter zwei „Trübsinn“-Sonette.124 Auch wenn Sieburg seit Dezember 1912 den Salon der Elsa Bruckmann besuchte, Norbert Hellingrath bedichtete, brach George spätestens im Jahre 1913 den Kontakt zu dem „Rheinländer“ ab.125 Sieburg behielt allerdings seine Wertschätzung für George zeitlebens bei, wie Lektürelisten aus dem Jahre 1914 und Hommagen nach 1945 bezeugen.126
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Friedrich Hölderlin: Der Tod des Empedokles. In: F. H.: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2: Hyperion, Empedokles, Aufsätze, Übersetzungen. Hg. von Jochen Schmidt in Zusammenarbeit mit Katharina Grätz, Frankfurt/M. 1994, S. 277–451, hier 305, I, 5, V. 699–705. Friedrich Sieburg (Heidelberg) an Stefan George, 4.7.1912. Beilage zu StGA, George III, 11803. Vgl. Friedrich Sieburg (Düsseldorf) an Stefan George, 25.9.1912. StGA, George III, 11805: „Mein leben verläuft äusserlich still · fast zu still. Ich lese fleissig Baudelaire und übertrage einiges um die sprache lebendiger zu lernen.“ Die Gedicht-Sendung mit den BaudelaireVariationen findet sich als Beilage zu einem undatierten Brief; Friedrich Sieburg an George o. O. [Heidelberg?] o. D. [zu Georges Geburtstag 12.7.1912?]. StGA, George III, 11804. Vgl. Zimmermann: Friedrich Sieburg, S. 40; Sieburg berichtet am 30.7.1913 von dem „Zusammenbruch […]. Man wirft mir vor, ich hätte meine Freundschaft mit George übertrieben und daraus Kapital geschlagen“. Deinet: Friedrich Sieburg (1893–1964), S. 37–42, führt weitere Versionen für den „Bannfluch Georges“ an. Vgl. etwa Friedrich Sieburg: Das Haupt [Stefan George]. In: Die Gegenwart 7 (1952), S. 84 f., und F. S.: Stefan George (1868–1933). In: Die großen Deutschen. Deutsche Biographie, Bd. 4. Hg. von Hermann Heimpel, Theodor Heuss und Benno Reifenberg, Berlin 1957, S. 277–292. Das Manuskript dazu findet sich im Sieburg-Nachlass. DLA, A: Sieburg 81.2.195.
3.2. Vorbild der Frühexpressionisten
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3.2.4. Kampf dem Vorbild: Georg Heym Stefan Georges spezifische Rolle als Vorbild, das man bewundert und von dem man sich zugleich zu emanzipieren sucht, zeigt sich exemplarisch bei Georg Heym. Zwar hat er George als „großen Lyriker anerkannt“;127 doch verwahrte er sich nach einem Auftritt im Neopathetischen Cabaret vehement gegen einen Zeitungsartikel, in dem man ihn „einen Schüler Georges nennt“: „Wer mich kennt, weiß was ich von diesem tölpelhaften Hierophanten, verstiegenen Erfinder der kleinen Schrift und Lorbeerträger ipso iure halte.“128 Die Vehemenz, mit der Heym den Vergleich mit George zurückweist, zeigt, wie ambivalent seine Beziehung zu diesem war und wie sehr er nach einem „post-ästhetizistischen Paradigma der Literatur“ strebte.129 Schon die Zeitgenossen haben Heyms Nähe zu George, aber auch seine Transgression des Vorbilds diagnostiziert, wie sie paradigmatisch im Berlin-Zyklus gelingt. „Ein neuer Dichter, ein großer Dichter – kein Zweifel – ist hier aus Stefan George herausgetreten“.130 Im Frühsommer 1911 beschäftigte sich Heym mit mehreren Publikationen des George-Kreises und suchte Friedrich Wolters auf.131 Zugleich schmähte er in dem Entwurf der Vorrede zu seinem letzten Gedichtband George als „sacrale[n] Kadaver“ und „die Binger tönende Pagode“.132 Heyms
127 Georg Heym 1887–1912. Eine Ausstellung der Staats- und Universitätsbibliothek ‚Carl von Ossietzky‘ Hamburg. Hg. von Nina Schneider, Wiesbaden 1988, bes. S. 138–140. Heyms Vorbehalte gegen George suchte vor allem sein Malerfreund Ernst Moritz Engert auszu räumen. 128 Georg Heym: Dichtungen und Schriften, Bd. 3: Tagebücher, Träume, Briefe. Hg. von Karl Ludwig Schneider u. a., München 1986, S. 139 (s. d. 8.7.1910). Vgl. dazu auch Peter Gust: Georg Heym in der Zirkelbildung des Berliner Frühexpressionismus. In: Literarisches Leben in Berlin 1871–1933. Hg. von Peter Wruck, Berlin 1987, S. 7–44. 129 Vgl. Akane Nishioka: Georg Heym in Selbstdarstellung und literarischer Überlieferung. Über die Künstlerinszenierung im Frühexpressionismus. In: Hofmannsthal-Jahrbuch 16 (2008), S. 197–234, hier 201. 130 Heinrich Eduard Jacob: Georg Heym – Erinnerung und Gestalt [1922]. In: Georg Heym: Dichtungen und Schriften, Bd. 4: Dokumente zu seinem Leben und Werk. Hg. von Karl Ludwig Schneider u. a., München 1968, S. 63–85, hier 70. Jacob benennt hier explizit die Ambivalenz des Verhältnisses: „George – den er [Heym] maßlos haßte, im Unbewußten aber vielleicht so sehr verehrte, wie Kleist Goethe gehaßt, verehrt und geliebt hatte – war für Heym eine Art von Ahnenschicksal. George nicht als Geist […] – wohl aber als Form, als Äußerung jenes Zwanges zur Latinität, den George selbst von Baudelaire übernommen hatte. Diese Form umschloß zeitlebens den Rasenden wie ein Kristall.“ Heintz: Stefan George, S. 117, missdeutet Jacobs Essay. 131 Vgl. Georg Heym 1887–1912, S. 139 f. Ebd. sind auch die Schriften des George-Kreises genannt, die Heym zur Vorbereitung seines Besuchs bei Friedrich Wolters las. 132 Georg Heym: Dichtungen und Schriften, Bd. 2: Prosa und Dramen. Hg. von K. L. S chneider u. a., München 1962, S. 181. Die Vorrede sollte wohl eine Separatausgabe des MorgueGedichts einleiten.
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3. Frühexpressionistische Reaktionen auf den Siebenten Ring
kritische Verlautbarungen zu George haben die Forschung lange beeinflusst. Georg Mautz etwa hat die Anklänge an George-Landschaften, künstliche Welten und die Tendenz zur erlesenen Lexik als „bewußte George-Parodie“ abgetan.133 Das trifft sicher auf Heyms aggressives Schmähgedicht November (1910) zu: Der wilden Affenscheiße ganze Fülle Liegt auf der Welt in den Novemberkeiten. Der Mond ist dumm. Und auf den Straßen schreiten Die Regenschirme. Daß man warm sich hülle In starke Unterhosen schon beizeiten. Nur Bethge* haust noch auf dem Dichter-Mülle. Man nehme sein Geschmier. Zum Arschwisch knülle Man das Papier zum Dienst der Hinterseiten. Die Martinsgans glänzt in der braunen Pelle. stefan george steht in herbstes-staat. an Seiner nase hängt der perlen helle. Ein gelbes Rotztuch blinkt. Ein Auto naht. Drin sitzt mit Adlerblick die höchste Stelle. Fanfare tutet: Sellerie Salat. * oder Benzmann oder Hesse – nach Belieben!134
Heym wirft darin George in einen Topf zusammen mit zeitgenössischen lite rarischen Berühmtheiten, deren Austauschbarkeit ein Asterisk signalisiert. Doch richtet sich die Zusammenstellung des bürgerlichen Mittelmaßes, hier metonymisch auf „schreitende Regenschirme“ und wärmende Unterwäsche verkürzt, mit dem „Dichter-Mülle“ gezielt gegen den elitären Kunstanspruch Georges. Die antithematische Herabwürdigung im Sextett gilt mindestens ebenso sehr der Person des Dichters wie seiner Dichtung. Durch den syntaktischen Parallelismus mit der „Martinsgans“ wird die Vorliebe des Dichters für den Herbst zum äußerlichen Kleid banalisiert. Zwei Markenzeichen Georges, die Kleinschreibung und der vorangestellte Genitiv, werden durch 133 Georg Mautz: Mythologie und Gesellschaft im Expressionismus. Die Dichtung Georg Heyms, Frankfurt/M. 1961, S. 313. Auch Kohlschmidt meinte, Heyms „offenbarer formaler Anschluss an Georges und Hofmannsthals Stil“ könnte „nicht als Nachfolge begriffen werden, sondern nur als Kontrafaktur“. Werner Kohlschmidt: Der deutsche Frühexpressionismus im Werke Georg Heyms und Georg Trakls. In: Orbis Litterarum 9 (1954), S. 3–17, hier 13. 134 Georg Heym: November. In: G. H.: Dichtungen, Bd. 1: Lyrik. Hg. von Karl Ludwig Schneider u. a., München 1964, S. 155. Vgl. die Interpretation von Heintz: Stefan George, S. 110 f.
3.2. Vorbild der Frühexpressionisten
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das unpassende Thema der Tropfnase herabgewürdigt. Das großgeschriebene Possessivpronomen „an Seiner nase“ verspottet überdies Georges Usus, Götter und Heroen durch Majuskel des Anfangsbuchstabens hervorzuheben. Indem die komplementäre Handlung, das Schnäuzen der tropfenden Nase, einerseits metonymisch indirekt bleibt, andererseits durch das drastische Nomen „Rotztuch“ konkretisiert wird, entsteht eine komische Spannung, die sich durch die nachfolgenden Kurzsätze in selbstironischen Unsinn auflösen. Heyms Anleihen bei George dienen aber nicht nur persiflierender Absicht. So lässt sich etwa das ernste, in Georges Sakralstil gehaltene Industriegedicht Der Gastempel (1911) kaum als Parodie deuten. Zu Recht haben Manfred Durzak und Eva Krüger Heyms ästhetische Affinität zur Lyrik Georges neu bewertet,135 und Günter Heintz differenziert Heyms GeorgeRezeption, indem er zwischen ganzheitlichen Nachbildungen Georgescher Texte, eklektizistischen Übernahmen und Nachbildungen einer bestimmten Manier Georges unterscheidet.136 Eng an Georges Jahr der Seele angelehnt ist das frühe Gedicht Der Gang der Liebenden (1906). In Thema, Sprache und Stil sieht Krüger unverkennbar eine Antwort auf Georges Gedichte, die das Motiv des Herbstes mit dem der Liebe verbinden wie „Komm in den totgesagten park und schau“137 oder „Umkreisen wir den stillen teich“.138 Allerdings sind Heyms intertextuelle Verfahrensweisen noch immer nicht hinreichend bestimmt. So blieb etwa die mehrschichtige Intertextualität in dem Gedicht Herbsttag (1906) unbeachtet.139 Sein Incipit („Und noch gehn nicht zur Rüste unsre Tage / Im schönen Herbst“) zitiert mit dem erlesenen Nomen „rüste“ unverkennbar die Schlussstrophe von Georges Reifefreuden („Und was in uns bei jenes tages rüste / Auf zu den veilchenfarbnen wolken klomm“)140 sowie das vorausgehende Erinnerungsgedicht Entführung: Georges Bild des Altweibersommers („In der luft sich silbern fein / Fäden uns zu schleiern spinnen“)141 wird von Heym in Komposita überführt und animalisch konkretisiert: „Und Sommerfäden schweben durch die Luft, / Auf denen Silberspinnen luftig reiten“. Für den zweiten Teil seines Gedichts (Verse 16–23) bedient sich Heym überdies des bekannten Herbst-
135 Vgl. Manfred Durzak: Nachwirkungen Stefan Georges im Expressionismus. In: M. D.: Zwischen Symbolismus und Expressionismus. Stefan George, Stuttgart 1974, S. 107–153, bes. 119–123; Eva Krüger: Todesphantasien. Georg Heyms Rezeption der Lyrik Baudelaires und Rimbauds, Frankfurt/M. 1993, S. 97–105 („Heyms Abhängigkeit von George“). 136 Vgl. Heintz: Stefan George, S. 107–140. 137 SW IV, 12. 138 SW IV, 16; vgl. Krüger: Todesphantasien, S. 101–104. 139 Vgl. Georg Heym: Dichtungen und Schriften, Bd. 1: Lyrik. Hg. von Karl Ludwig Schneider u. a., München 1964, S. 638 f., hier 639. 140 SW IV, 61. 141 SW IV, 60.
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3. Frühexpressionistische Reaktionen auf den Siebenten Ring
gedichts „Umkreisen wir den stillen teich“. Es endet mit dem Bild des geliebten Du, das den fernziehenden Schwänen nachschaut: „Das auge schattend auf der brücke / Verfolgest du den zug der schwäne“.142 Mit ebendiesem Bild rahmt Heym den zweiten Teil seines Gedichts. Doch schaut nicht mehr nur das Du den Schwänen nach, vielmehr verbindet die Betrachtung Ich und Du und wird bis zum Verschwinden der Vögel ausgedehnt: Doch unser Aug entführet schon ins Blaue Ein Zug von Schwänen, die nach Süden fliegen […] Und lange schaun wir nach den stolzen Schwänen, Bis sie entschwinden unsrer Sehnsucht fern.143
Das Gedicht Herbsttag zeigt exemplarisch, wie vielschichtig Heym sich Georges Werk, vor allem das Jahr der Seele, anverwandelt, das poetische Material kombiniert, amplifiziert und modifiziert, bis es zum ‚eigenen‘ Gedicht wird.
3.2.5. Selektive Adaptation: Georg Trakl Das Verhältnis Georg Trakls zu Stefan George ist bislang noch nicht systematisch untersucht worden. Welche große Wirkung Stefan George auf den Innsbrucker Brenner-Kreis um Ludwig von Ficker ausübte, wurde in einer quellengestützten Analyse überzeugend nachgewiesen.144 Karl Röck, mit Trakl befreundet und neben Ludwig Seifert und Bernhard Jülg einer der dezidierten George-Verehrer im Brenner-Kreis, orientierte sich in seiner postumen Ausgabe von Trakls Dichtungen (1917) in der Anordnung nach Siebener-Zyklen erklärtermaßen an Georges Siebentem Ring.145
142 SW IV, 16. 143 Heym: Dichtungen ud Schriften, Bd. 1, S. 639. 144 Vgl. Sieglinde Klettenhammer: Stefan George und seine ‚Jünger‘ in der Provinz. Das Verhältnis der „Brenner“-Gruppe zum George-Kreis. In: George-Jahrbuch 3 (2000/01), S. 76–118. Schon 1905, als Mitglied der Schriftstellervereinigung Apollo/Minerva, hatte Trakl nicht nur die französische Moderne (Baudelaire, Verlaine, Rimbaud), sondern auch die deutsche Moderne, Hofmannsthal und George, kennengelernt; vgl. Herbert Lindenberger: Georg Trakl, New York 1971, S. 19. 145 Vgl. Karl Röck: Tagebuch 1891–1946. Hg. von Christine Kofler, 3 Bde., Salzburg 1976, hier Bd. 3, S. 196–236 (zu Röcks Tätigkeit als Herausgeber Trakls); K[arl] Röck: Zyklische Anordnung der „Dichtungen“ [1917]. In: Georg Trakl: Dichtungen und Briefe, Bd. 2. Hg. von Walther Killy und Hans Szklenar, Salzburg 1969, S. 808–812; Hans Szklenar: Beiträge zur Chronologie und Anordnung von Georg Trakls Gedichten auf Grund des Nachlasses von Karl Röck. In: Euphorion 60 (1966), S. 222–262. Zu Röcks George-Rezeption vgl. Klettenhammer: Stefan George und seine ‚Jünger‘, bes. S. 84 ff.
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Trakl selbst scheint George gegenüber – jedenfalls um 1910 – kritisch eingestellt gewesen zu sein und wohl auch die Brenner-Gruppe dazu gebracht zu haben, sich „von den Mustern eines Heroischen Menschen- und Künstlerbildes Georgescher Prägung“ zu distanzieren.146 Inwieweit aber der frühe Trakl sich an Stefan George orientiert hat und etwa seine Hölderlin- oder Novalis-Anleihen oder gar seinen ‚Sonettismus‘ der Anthologie Deutsche Dichtung verdankt, ist kaum erforscht oder umstritten.147 Die historisch-kritische Ausgabe führt unter „Einzelstellen-Erläuterungen“ im Kommentar zwar einige literarische Parallelstellen auf, ohne aber Stefan George eigens zu berücksichtigen.148 Über die Baudelaire-Umdichtungen, ein zentraler Referenztext für die sogenannte Sammlung 1909 und die Gedichte (1913), übte George aber mindestens mittelbar einen nachhaltigen Einfluss auf Trakl aus. Gerade in den frühen Gedichten der Sammlung 1909 sind die sprachlich-stilistischen Baudelaire-George-Anspielungen unverkennbar: Augenfällige intertextuelle Bezüge prägen etwa das Sonett Sabbath und das 1909 im Wiener Journal erschienene Gedicht Einer Vorübergehenden, das sein Vorbild, Georges Übertragung von Baudelaires À une passante, durch denselben Titel zu erkennen gibt.149 Auch Trakl gestaltet den Moment der transitorischen Begegnung, aber anders als Baudelaire und George: Er distanziert sie zeitlich („einst“), verzichtet auf die Apostrophe („dich hätte ich geliebt“) und deutet sie nicht als versäumte Option, sondern als Rückschau auf ein früheres, längst verlorenes Dasein. Die vage Anamnesis, das erinnernde Wiedererkennen, wird überdies durch das Verbum ‚scheinen‘ und den Als-ob-Modus zur nachträglichen Projektion abgeschwächt. In der formalen Destruktion des Prätexts, der zu zwei ähnlichen heterometrischen Strophen von elf Versen mit insgesamt nur zwei Reimen vereinfacht wird, bildet Trakl die nachträgliche Bearbeitung und erinnernde Wiederholung der Selbstbegegnung mit dem früheren Ich ab. Insofern ist Trakls Gedicht Einer Vorübergehenden einerseits eine Hommage an den Symbolismus Baudelaires und Georges, andererseits setzt es sich in seiner eigenständigen Anverwandlung des gleichen Themas 146 Klettenhammer: Stefan George und seine ‚Jünger‘, bes. S. 118. 147 Der Diskussionsbeitrag von Roger Bauer wurde in der Trakl-Forschung nicht weiter verfolgt, vgl. Roger Bauer: Georg Trakl und die Anthologie ‚Deutsche Dichtung‘ von George/ Wolfskehl. In: Salzburger Trakl-Symposium. Hg. von Walter Weiß und Hans Weichselbaum, Salzburg 1978, S. 108–114. 148 Vgl. den editorischen Bericht in Georg Trakl: Sämtliche Werke und Briefwechsel, Bd. 1: Dichtungen und journalistische Texte 1906 bis Frühjahr 1912. Hg. von Hermann Zwerschina in Zusammenarbeit mit Eberhard Sauermann, Frankfurt/M. und Basel 2007, bes. S. 14–17; demnach soll Trakl neben Stefan Georges Übertragung auch die Baudelaire-Ausgaben von Erich Oesterheld benutzt haben. 149 Vgl. Trakl: Sämtliche Werke und Briefwechsel, Bd. 1, S. 201 f. („Sabbath“), S. 280–283 („Einer Vorübergehenden“).
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von den Vorbildern ab. Sogar noch in den Gedichten von 1912 und 1913 wie Die Verfluchten oder Melancholia finden sich Baudelaire-Übernahmen.150 Wie intensiv sich Trakl auch nach der Sammlung 1909 produktiv mit George auseinandergesetzt hat, zeigt paradigmatisch sein Gedicht Die schöne Stadt, das meines Erachtens auf Georges Hochsommer aus den Hymnen (1890) antwortet (SW II, 22): Die schöne Stadt Alte Plätze sonnig schweigen. Tief in Blau und Gold versponnen traumhaft hasten sanfte Nonnen unter schwüler Buchen Schweigen. Aus den braun erhellten Kirchen schaun des Todes reine Bilder, großer Fürsten schöne Schilder. Kronen schimmern in den Kirchen. Rösser tauchen aus dem Brunnen. Blütenkrallen drohn aus Bäumen. Knaben spielen wirr von Träumen abends leise dort am Brunnen Mädchen stehen an den Toren, schauen scheu ins farbige Leben. Ihre feuchten Lippen beben und sie warten an den Toren. Zitternd flattern Glockenklänge, Marschtakt hallt und Wacherufen. Fremde lauschen auf den Stufen. Hoch im Blau sind Orgelklänge. Helle Instrumente singen. Durch der Gärten Blätterrahmen schwirrt das Lachen schöner Damen. Leise junge Mütter singen.
150 Vgl. Georg Trakl: Sämtliche Werke und Briefwechsel, Bd. 2: Dichtungen Sommer 1912 bis Frühjahr 1913. Hg. von Hermann Zwerschina in Zusammenarbeit mit Eberhard Sauermann, Frankfurt/M. und Basel 1995, S. 437 f.; G. T.: Sämtliche Werke und Briefwechsel, Bd. 3: Dichtungen Sommer 1913 bis Herbst 1913. Hg. von Eberhard Sauermann in Zusammenarbeit mit Hermann Zwerschina, Frankfurt/M. und Basel 1998, S. 14.
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Heimlich haucht an blumigen Fenstern Duft von Weihrauch, Teer und Flieder. Silbern flimmern müde Lider durch die Blumen an den Fenstern.151
Erstaunlicherweise ist der George-Bezug von Trakls Schöner Stadt, die wohl im Sommer 1910 entstand und im Mai 1911 erstmals veröffentlicht wurde, bislang unbemerkt geblieben.152 Unter den spärlichen Parallelstellen, welche die Innsbrucker Ausgabe verzeichnet, finden sich immerhin zwei Entsprechungen zu Georges Baudelaire-Übertragung. Während aber „das Lachen leichter Damen“ (V. 23) als Reminiszenz des „blick[s] der leichten frauen“ im Wein des Einsamen vage bleibt, überzeugt die Mischung künstlicher und natürlicher Gerüche in der Schlussstrophe („Duft von Weihrauch, Teer und Flieder“ [V. 26]) als Analogie zu dem mit ‚Teer‘ untermischten Geruchsrausch in Georges Übertragung von Baudelaires Das Haar: „Berausch ich mich an wolgerüchen die sich gatten: / Am öl des kokosbaums am bisam und am teer“.153 Die Baudelaire-Parallelen bekräftigen den maßgeblichen intertextuellen Bezug zu Georges Hochsommer, mit dem Trakls Schöne Stadt die Jahreszeit teilt, auch wenn sich der Sommertag – wie im mutmaßlichen Prätext – nur aus der Bildlichkeit der metaphorisch verfremdeten Temperatur und Vegetation erschließt („sonnig schweigen“ [V. 1], „schwüler Buchen“ [V. 4], „Blütenkrallen“ [V. 10], „hoch im Blau“ [V. 20]). Die Verbindung von ‚Traum‘ mit der Farbkombination „in Blau und Gold“ in Trakls Eingangsstrophe („Alte Plätze sonnig schweigen. / Tief in Blau und Gold versponnen, / Traumhaft hasten sanfte Nonnen / Unter schwüler Buchen schweigen“ [V. 1–4]) ist – das ist den Parallelstellen-Suchern entgangen – ein markanter Hinweis auf George. Denn dessen Hymnen, mit dem Gedicht Hochsommer, leitet als Motto eine vierzeilige „Aufschrift“ ein, deren Schlussvers Trakl hier aufgreift: „S pielt durch ein J ahr der T raum in B lau und G old “. 154 Trakls klar markierte Übernahme von Georges „Traum in Blau und Gold“ zeigt sich überdies in der strukturellen Übereinstimmung und deren Modifikation. Trakl bildet Georges Versmaß nach: Trochäische Vierheber –
151 Georg Trakl: Die schöne Stadt. In: G. T.: Sämtliche Werke und Briefwechsel, Bd. 1: Dichtungen und journalistische Texte 1906 bis Frühjahr 1912. Hg. von Hermann Zwerschina in Zusammenarbeit mit Eberhard Sauermann, Frankfurt/M. und Basel 2007, S. 401–406. 152 Es gibt lediglich einen unspezifischen Hinweis bei Herbert Lindenberger: Georg Trakl, S. 46 f., auf gewisse motivliche Parallelen (Parks, schöne Frauen, verklingende Töne), die Trakl möglicherweise Hofmannsthals und Georges Lyrik verdanke. 153 Stefan George: Das Haar. In: St. G.: „Die Blumen des Bösen“ von Charles Baudelaire. Umdichtungen, Berlin 1901, S. 44–45, hier 45, V. 29 f. (wieder in: SW XIII/XIV, 38 f.). 154 SW II, 8, V. 4.
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charakteristisch für Trakl vor allem für das Jahr 1910 – mit durchgängig weiblichen Reimen, welche nicht nur die Versgrenzen abschwächen, sondern auch für Enjambements genutzt werden.155 Markiert George die Strophenenden mit Kurzversen, so betont Trakl die Strophen als metrische Einheiten durch identische Reime, welche jeweils einen Paarreim umarmen.156 Sogar die Gesamtzahl der Verse beider Gedichte stimmt überein, doch weist Die Schöne Stadt im Unterschied zu den fünf uneinheitlichen Strophen von Georges Hochsommer sieben gleiche vierversige Strophen auf. In der abweichenden Strophenform erprobt Trakl „die heiß errungene Manier“, nämlich „[s]eine bildhafte Manier, die in vier Strophenzeilen vier einzelne Bildteile zu einem einzigen Eindruck zusammenschmiedet“.157 Gerade diese Abweichung zeigt, wie Trakl mit seiner Technik des Zeilenstils, die er hier auf akustische Reize anwendet, Georges impressionistischen Stil überbietet. Georges Hochsommer ist unverkennbar von Paul Verlaines Fêtes galantes beeinflusst,158 auf deren künstliche Rokoko-Welt eine „Fülle von Fremdwörtern“159 („eleganten“ [V. 5], „kavalieren“ [V. 6], „stil“ [V. 11], „parfümen“ [V. 13], „Gondel“ [V. 25] und „pompadur“ [V. 28]) und das metapoetische Signalwort ‚galant‘ („galante leere“ [V. 20]) sogar explizit verweist. Möglicherweise provozierte Trakl gerade dieser doppelte Boden des Prätexts zu einer poetischen Antwort. Zum einen verarbeitete er gerne verschiedene Bezugsautoren in einem Gedicht160 und zum andern entspräche
155 Vierversige Strophen in trochäischen Vierhebern verwendet Trakl außerdem noch in Der Gewitterabend, Der Traum eines Nachmittags, Die junge Magd 1–6 [auch mit identischen Reimen], Sommersonate und Sonja. Vgl. Fritz Schlawe: Die deutschen Strophenformen. Systematisch-chronologische Register zur deutschen Lyrik 1600–1950, Stuttgart 1972, s. v. Trakl; vgl. auch die Bemerkungen zur Strophenform. 156 Vgl. Horst Joachim Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen, Tübingen und Basel ²1993, S. 203 f., s. v. 4.55. 157 Georg Trakl (Wien) an Erhard Buschbeck (Salzburg), 16.–24. Juli 1910. In: G. T.: Sämtliche Werke und Briefwechsel, Bd. 5/1: Briefwechsel 1. Hg. von Eberhard Sauermann, Frankfurt/M. und Basel 2014, Nr. 58, S. 120–127. 158 In Georges Umdichtungen der Galanten Feste finden sich analoge Wendungen. So erinnern die Verse: „Keck in eleganten zieren / Sie am arm den kavalieren / Milder lauschen […]“ (V. 5–7) an „Die schönen hingen träumerisch an unserm arm“ (Die Kindlichen, V. 10). Zur Bedeutung Verlaines für die Rokoko-Requisiten in Georges Hochsommer: vgl. Franziska Merklin: Hymnen. In: Stefan George – Werkkommentar. Hg. von Jürgen Egyptien, Berlin und Bosten 2017, S. 23–42, hier 29, sowie die eher allgemeinen Hinweise von Freya Hobohm: Die Bedeutung französischer Dichter in Werk und Weltbild Stefan Georges (Baudelaire, Verlaine, Mallarmé), Marburg 1931, S. 65, und Joachim Jacob: Stefan Georges „Hymnen“. Experimente mit dem Schönen. In: George-Jahrbuch 5 (2004/05), S. 22–42, hier 41, sowie umfassend Mario Zanucchi: Transfer und Modifikation, bes. S. 44–58, 157–160 und 608–612. 159 Franziska Merklin: Hymnen, S. 29. 160 So hat Bernhard Böschenstein: Hölderlin und Rimbaud. Simultane Rezeption als Quelle poetischer Innovation im Werk Georg Trakls. In: Salzburger Trakl-Symposion. Hg. von
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sie insofern seinem spezifischen kompetitiven Verhältnis zu George, als er in ihm vor allem den Mittler der französischen Moderne sah, mit dem er sich zu messen suchte: Hochsommer Ton verklang auf den altanen · Aus den gärten klänge tönen · Unter prangenden platanen Wiegen sich die stolzen Schönen · Keck in eleganten zieren Sie am arm den kavalieren Milder lauschen und mit süssen Winken grüssen. Ja die reifen die sich rühmen Feiner kinder flink im spiel Huldigen dem leichten stil · Auf den lippen eitle fragen · Von verlockenden parfümen Hingetragen. Pauken schweigen · sachte geigen. Ferner tritt · es nahen reiter · Leises traben · langsam weiter . . Zwanglos darf ein flüchtig raunen Sie bestaunen. Fröhliche galante leere Feindlich trübem tatenmeere · Weise schlaffheit nur im bade Wahre gnade. Auf dem wasser ruderklirren · Gondel die vorüberfuhr · Sanfte takte sanftem kirren Sich vereinen einer kleinen Pompadur.161
Georges Hochsommer-Tag entwirft ein von heterogenen ästhetischen Reizen bestimmtes amouröses Rokoko-Ambiente. Es gibt kein Sprecher- oder Beobachter-Subjekt, und ein nachvollziehbarer Wechsel der Räume („Alta-
Hans Weichselbaum und Walter Weiß, Salzburg 1978, S. 9–27, gezeigt, wie Trakl verschiedene Autoren wie Hölderlin und Rimbaud „verschwistere“ und „intergenial“ überblende. 161 SW II, 22.
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nen“, „gärten“, „Unter […] platanen“) beschränkt sich auf die erste Strophe. Dagegen verselbständigen sich die akustischen, optischen und olfaktorischen Wahrnehmungen, indem sie metonymisch entpersonalisiert („auf den lippen eitle fragen“ [V. 12], „leises traben“ [V. 17]) oder selbst Subjekt sind („Ton verklang“ [V. 1], „Pauken schweigen“ [V. 15], „Auf dem wasser ruderklirren“ [V. 24], „Gondel die vorüberfuhr“ [25]). Die Menschen verlieren in diesem Ensemble von Außenreizen ihre Rolle von Subjekten, ihnen sind nicht einmal die beiden Partizipien des Gedichts zugeordnet („Unter prangenden platanen“ [V. 3], „Von verlockenden parfümen“ [V. 13]). Maßgeblich trägt zu dieser Entsubjektivierung bei, dass die Personen auf Eigenschaften und soziale Rollen reduziert sind und nur im Plural vorkommen („die stolzen Schönen“ [V. 4], „den kavalieren“ [V. 6], „die reifen“ [V. 9], „feiner kinder“ [V. 10] „reiter“ [V. 16]); die einzig namentlich und im Singular genannte Person – „einer kleinen / Pompadur“ (V. 27 f.), stellt eine Vossianische Antonomasie dar und bezeichnet kein Individuum, sondern einen Typus. Die trochäischen Vierheber unterstreichen das Nebeneinander der ästhetischen Reize, dem auch die strukturell dominante parataktische Struktur entspricht. Da von zwei Ausnahmen („spiel / stil“ [V. 10 / 11] und „vor überfuhr“ / „Pompadur“ [V. 25 / 28]) abgesehen, weibliche Reime das Gedicht prägen, werden die Versgrenzen häufig mit Enjambements überspielt. Dagegen betonen die zweihebigen Kurzverse, welche die fünf Strophen beschließen, die strophische Gliederung. Auch wenn die Strophen unterschiedlich lang sind und die Reimschemata variieren, ist die Zweigliederung des Gedichts unverkennbar: Die 28 Verse gliedern sich in zwei Hälften. Die ersten beiden Strophen stellen in ihrer Anordnung insofern ein Sonett dar, als die acht Verse der ersten Strophe einem Oktett entsprechen, während die sechs Verse der zweiten Strophe das komplementäre Sextett abgeben. Dagegen lassen die auf drei Strophen verteilten vierzehn Verse der zweiten Gedichthälfte keine Sonettstruktur erkennen, auch wenn die beiden fünfversigen Strophen, die ein Quartett rahmen, jeweils drei sextetttypische Reime enthalten, die Binnenreime eingerechnet („Pauken schweigen · sachte geigen“ [V. 15] und „Sich vereinen einer kleinen“ [V. 27]). Auch syntaktisch unterscheiden sich beide Gedichthälften voneinander: Lassen sich die ersten beiden Strophen noch als vollständige Sätze mit finiten Verben lesen, häufen sich in der zweiten Hälfte die unvollständigen Sätze; Herkunft und Ort der ästhetischen Reize werden immer unbestimmter. Die zunehmende Unbestimmtheit und Fragmentierung des Ästhetischen zeigt sich auch darin, dass in der zweiten Hälfte nur noch ein einziger bestimmter Artikel vorkommt, während in der ersten Hälfte sieben bestimmte Artikel begegnen. Zur Entkonkretisierung des Gedichts trägt wesentlich die Transitorik der Wahrnehmungen bei: Die Flüchtigkeit des Sinneseindrucks, der nur für den
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Moment Bestand hat und erst ex post registriert wird, zeigen zwei Wechsel ins Präteritum („Ton verklang auf den altanen“ [V. 1], „Gondel die vorüberfuhr“ [V. 25]), Synästhesien („mit süssem / Winken“ [V. 8], „dem leichten stil“ [V. 11], „sachte geigen“ [V. 15] und Paronomasien wie in dem eleganten Chiasmus des Eingangs („Ton verklang […] / […] klänge tönen“ [V. 1–2]) oder dem Polyptoton der Schlussstrophe („sanfte takte sanftem kirren“ [V. 26]). So feiert Georges Hochsommer einerseits die Verselbständigung des Ästhetischen in einem ‚galanten Fest‘, andererseits wird die ethische Problematik des Sinnenrauschs deutlich. Diese Ambivalenz, Feier des Ästhetischen und zugleich dessen kritische Relativierung prägt Georges frühen Ästhetizismus. Trakl folgt George sogar in der Zweiteilung als Gliederungsprinzip, indem bei ihm die Mittelstrophe als Scharnier fungiert: Während die erste Hälfte ausschließlich visuelle Eindrücke bestimmen, herrschen in der zweiten Hälfte fast nur akustische Reize vor. Folgerichtig hat Trakl den einzigen akustischen Reiz in der ersten Gedichthälfte, „das Lied der Brunnen“ (V. 12), für den Druck der Gedichte (1913) durch ein visuelles Bild ersetzt („Knaben spielen […] / Abends leise dort am Brunnen“ [V. 11 f.]).162 Auch inhaltlich entspricht die Scharnierfunktion der Mittelstrophe insofern Georges Hochsommer, als hier ein fremder Reiz angesprochen wird, der mit der Erwartung von Neuem einhergeht: Sind es bei George Reiter, die vorbeireiten („Ferner tritt · es nahen reiter · / Leises traben · langsam weiter“ [V. 16 f.]), ist bei Trakl das Augenmerk auf die ‚wartenden Mädchen‘ gelenkt, deren Sehnsucht („Schauen scheu“) nach dem „farbige[n] Leben“ stärker erotisch konnotiert („Ihre feuchten lippen beben“ [V. 15]) und auf das metonymisch präsentierte Militär bezogen ist („Marschtakt hallt und Wacherufen“ [V. 18]). Trakl verlegt die amouröse Atmosphäre der Vorlage nicht mehr historisierend in die galante Epoche des Rokoko, sondern in die Gegenwart einer geschichtsträchtigen, im Titel nur generisch genannten Stadt, deren lastende Vergangenheit in einer architektonischen Diärese präsentiert wird. Die architektonischen Hinweise werden freilich zeitlich wie räumlich immer unspezifischer und nähern sich so sukzessive der Gegenwart an: „Alte Plätze“ (V. 1), „Kirchen“ (V. 5 und 8), „Brunnen“ (V. 9 und 12), „Toren“ (V. 13 und 16), „Stufen“ (V. 19), „Gärten“ (V. 22) und „Fenstern“ (V. 25 und 28). Die intertextuelle Affinität zu Georges ‚galantem Fest‘ prägt vor allem die Motivik, Lexik, Syntax und Metaphorik der Strophen fünf und sechs. Hier sind wie im Hochsommer die Sinnesreize Subjekt, das Akustische bestimmt die Szenerie. Doch gerade die erstaunliche Ähnlichkeit der sechsten 162 Vgl. den editionsphilologischen Kommentar in: Trakl: Die schöne Stadt. In: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 401.
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3. Frühexpressionistische Reaktionen auf den Siebenten Ring
Strophe konturiert umso deutlicher Trakls ästhetische Opposition. Die amouröse Rokoko-Idylle aus Georges Eingangsstrophe, welche die ersten drei Verse zitieren, wird durch den vierten Vers unterminiert, dessen „junge Mütter“ das Ergebnis des scheinbar harmlosen Getändels darstellen: Helle Instrumente singen. Durch der Gärten Blätterrahmen Schwirrt das Lachen schöner Damen. Leise junge Mütter singen.163
Auch Die schöne Stadt kennt kein Sprecher- oder Betrachtersubjekt, das die einzelnen Reize organisieren würde. Zudem wechseln mit den Strophen und Räumen der Stadt jeweils die Personen, die durchweg in Pluralformen ohne Artikel angeführt werden: „Nonnen“, „große Fürsten“, „Knaben“, „Mädchen“, „Fremde“, „schöne Damen“, „junge Mütter“. Lediglich die vorletzte Strophe kontrastiert „schöne Damen“ und „junge Mütter“, möglicherweise als eine Art kontinuierender Darstellung, welche die Folgen erotischer Verführung in ein und dasselbe Bild setzt. Die letzte Strophe bleibt mit der Synekdoche „müde Lider“ noch unbestimmter, erinnert aber in der Wiederaufnahme des Eingangsbildes „an blumigen Fenstern“ (V. 25) im Schlussvers „Durch die Blumen an den Fenstern“ (V. 28) an das Polyptoton von Georges Schluss („Sanfte takte sanftem kirren / Sich vereinen […]“ [V. 26 f.]). Noch mehr als Georges Hochsommer betont Trakls Schöne Stadt den Objektstatus der Menschen. Geht es in Georges Gedicht immer noch um galant getarnte, erotische Kommunikationsformen, so verselbständigen sich Trakls Personen und bleiben für sich, ohne jegliches mitmenschliches Pendant. Der intertextuelle Vergleich hat gezeigt, wie reflektiert Trakl sich Georges poetisches Verfahren aneignet, ja gerade durch die Variation der Vorlage seine eigene poetische Individualität gewinnt. Die schöne Stadt greift die Grundidee von Georges Hochsommer formal wie inhaltlich auf, forciert aber noch die Heterogenität und rauschhafte Übermacht der ästhetisch-erotischen Reize. Dadurch, dass Trakl die Szenerie des galanten Rokoko enthistorisiert und architektonisch gliedert, wirken die Bewohner der schönen Stadt wie einsame Gefangene. Durch diese Umwidmung relativiert Trakl das Moment des Schönen noch viel stärker als George und verschiebt dessen ästhetischen Immoralismus ins Ethische. Durch die Betonung der Isolation und die Vergegenwärtigung der Szenerie wird der ‚schöne Schein‘ dekonstruiert. Trakls Schöne Stadt drückt ein ‚Bewältigungsproblem‘ aus und eine existentielle ‚Unbehaustheit‘, wie sie dem ‚souveränen Ton‘ der Dichtung Georges ganz fremd ist.
163 Georg Trakl: Die schöne Stadt. In: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 405 [Textstufe 5 D], V. 21–24.
3.2. Vorbild der Frühexpressionisten
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Inwieweit solche intertextuellen Bezüge vereinzelt bleiben, wird die künftige Forschung erweisen. In jüngerer Zeit hat man als zahlenkompositorisches und kabbalistisches Strukturprinzip des Sebastian im Traum die Siebenzahl ausfindig gemacht und psychoanalytisch gedeutet, ohne aber Georges Siebenten Ring als mögliches Vorbild überhaupt in Betracht zu ziehen.164 Doch dürfte George in Trakls späten Gedichten, welche sich von Reim und traditionellen Formen zunehmend lösen,165 kaum noch dieselbe wichtige Rolle spielen wie im ‚Frühwerk‘.
3.2.6. Errungene Distanz: Ernst Stadler Ernst Stadler hatte sich bereits im Jahre 1903 brieflich an George gewandt, seine ästhetische Wahlverwandtschaft bekannt und seine Mitarbeit an den Blättern für die Kunst angeboten: die Gleichstimmung meiner Kunstanschauungen mit vielen der in der Auslese aus den „Bl[ätter] f[ür] d[ie] K[unst]“ entwickelten Theorien, die Sympathie für mehr als einen der dort auftretenden Dichter, das merkwürdige und unvorhergesehene Zusammentreffen in der Art der Sprachbehandlung und Wahl der Stoffe, bestimmen mich, Ihnen von heute ab meine dauernde innige Beteiligung und Mitwirkung an den „Blättern für die Kunst“ anzutragen.166
Die Régnier-Übertragungen, die Stadler als Proben beilegte, sind ganz von den Régnier-Nachdichtungen Georges geprägt.167 Stadlers Praeludien (1904) stehen sprachlich (archaisierende Verben wie „wallen“), stilistisch (artifizielle Vergleiche), thematisch (Opposition von Traum und Leben) und in der Stilisierung von Gegenwelten (künstliche Paradiese wie Garten, Schloss, Treibhaus) ganz im Zeichen des Ästhetizismus der Wiener Moderne und Stefan Georges.168 Stadler verdeutlicht in den Praeludien seine George164 Gunther Kleefeld: Maß und Gesetz. Zahlensymbolik in Georg Trakls Gedichtband „Sebastian im Traum“. In: Zyklische Kompositionsformen in Georg Trakls Dichtung. Hg. von Károly Csúri, Tübingen 1996, S. 280–286. 165 Wolfgang Braungart: Zur Poetik literarischer Zyklen. Mit Anmerkungen zur Lyrik Georg Trakls. In: Zyklische Kompositionsformen in Georg Trakls Dichtung. Hg. von Károly Csúri, Tübingen 1996, S. 1–27, hier 25, Anm. 99, sieht noch im Gedicht Im Park, das den Binnenzyklus Der Herbst des Einsamen in Sebastian im Traum einleitet, einen Reflex auf das titelgleiche Gedicht Georges in den Hymnen. Dafür sprächen der „hohe Ton“, die „Motivik des herbstlichen Weihers“ und die „Thematisierung der Einsamkeit“. 166 Ernst Stadler (Straßburg) an Stefan George, 16.12.1903. StGA, George III, 12061. 167 Vgl. Heintz: Stefan George, S. 89–92. 168 Ein ungenannter Freund hat Stadler die Abhängigkeit vom Ästhetizismus in einer versifizierten Kritik vorgehalten: „Wirf ab den priesterlichen Mantel, Ernst! / Und laß die feierliche Grußgeberde / Hugo von Hofmannsthals und Stefan Georges, / Der Hohepriester
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3. Frühexpressionistische Reaktionen auf den Siebenten Ring
Nachfolge noch insofern, als er dessen Interpunktion, die rhythmusindizierenden ‚Hochpunkte‘, verwendet. Er bleibt hier so sehr Nachahmer, dass sogar seine Absagen an die dichterische Gegenwelt des frühen George dem Vorbild verpflichtet bleiben. Dies gilt ebenso für das Gedicht „Incipit vita nova“, das der künstlichen Lebensferne entsagt,169 wie für das besser gelungene programmatische Gedicht Im Treibhaus. Darin werden exotische Pflanzen traumhaft evoziert, zugleich als „kranke Triebe“ relativiert und als „Bild und Zeichen / für seltne Wollust frevlen Traum“ moralisch infrage gestellt.170 Die Forschung ist sich uneins, ob und wieweit sich Stadler von seinem Vorbild gelöst hat. Als mutmaßliche Wende gilt seine hymnische Besprechung von Georg Heyms Gedichten im Mai 1912. Darin erteilt Stadler der „geschniegelten Wiener Kulturlyrik“ eine Absage und wünscht stattdessen, „Anfang zu sein, lieber Unbeholfenheiten und Geschmacklosigkeiten zu wagen als in der Fessel eines immer mehr erstarrten Formalismus zu verkümmern“.171 Diesen Anspruch erprobt Stadler in seinem Gedichtband Der Aufbruch (1914), der im Titel programmatisch die Lösung von der Tradition anzeigt. Doch zeigt das Programmgedicht Form ist Wollust ein ambivalentes Verhältnis zur Form und zu Stefan George: Form ist Wollust Form und Riegel mußten erst zerspringen Welt durch aufgeschlossne Röhren dringen; Form ist Wollust, Friede, himmlisches Genügen, Doch mich reißt es, Ackerschollen umzupflügen. Form will mich verschnüren und verengen, Doch ich will mein Sein in alle Weiten drängen – Form ist klare Härte ohn’ Erbarmen, Doch mich treibt es zu den Dumpfen, zu den Armen, Und in grenzenlosem Michverschenken Will mich Leben mit Erfüllung tränken.172
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haben wir genug.“ (zit. nach Helmut Gier: Die Entstehung des deutschen Expressionismus und die antisymbolische Reaktion in Frankreich. Die literarische Entwicklung Ernst Stadlers, München 1977, S. 143). Vgl. Durzak: Nachwirkungen, S. 116. Mit Recht hat Heintz: Stefan George, S. 94, die These von Durzak: Nachwirkungen, S. 115 f., zurückgewiesen, dass es sich hier um Widerrufe der ‚künstlichen Paradiese‘ in der Sprachform Stefan Georges handle. Ernst Stadler: Georg Heym: „Der ewige Tag“ [Rez. 1912]. In: E. S.: Dichtungen, Schriften, Briefe. Hg. von Klaus Hurlebusch und Karl Ludwig Schneider, München 1983, S. 327–330, hier 327. Stadler: Form ist Wollust. In: E. S. Dichtungen, Schriften, Briefe, S. 138.
3.2. Vorbild der Frühexpressionisten
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In dem metapoetischen Gedicht reflektiert das lyrische Ich sein ambivalentes Verhältnis zur ‚Form‘. Doch nur wenn es seinen eigenen Willen gegen die Form reklamiert (V. 6), ist es auch Subjekt. In diesem ‚Aufbrechen‘ manifestiert sich die Selbstfindung des avantgardistischen Dichters im Affront gegen den Ästhetizismus des George-Kreises.173 Gegen dessen elitäre Verabsolutierung der Form, die als kaltes Pathos kritisiert wird („klare Härte ohn’ Erbarmen“), reklamiert Stadler eine moralische Verpflichtung des Dichters. Die Sympathie mit der leidenden Kreatur kulminiert am Ende gar zur hyperbolischen Selbstaufgabe („in grenzenlosem Michverschenken“): So vollzieht er in dem Gedicht seine eigene Entwicklung vom Georgianer zum Expressionisten nach und rechtfertigt die ästhetische Umorientierung als innere Notwendigkeit.174 Stadlers programmatisches Gedicht, das den Zwiespalt von apollinischer Begrenzung und dionysischer Entgrenzung auch metrisch abbildet – die ‚doch‘-Verse weisen sämtlich eine zusätzliche Hebung auf –, ist auch Ausdruck einer prinzipiellen ästhetischen Ambivalenz im expressionistischen Jahrzehnt: Georgianer und Anti-Georgianer stehen sich wie ‚Form‘-Befürworter und ‚Form‘-Gegner gegenüber. Diese Dichotomie war unter den Zeitgenossen so gängig, dass ästhetisch innovative Zeugnisse irritierten, die sich keiner der beiden Kategorien zuordnen ließen: „Wer versteht sie?“ fragt ein ratloser Rezensent angesichts der ungewöhnlichen Lyrik Else Lasker-Schülers und antwortet selbst: „Die George-Leute sicher nicht; denn ihre Zeilen flattern wie Falter […]. Die Gegner Georges erst recht nicht. Denn ihre Worte stehen manchmal wie große Augen still, die sich wundern; eine tiefe neue Mystik rauscht leise in den Falten der Verse.“175 Dabei hatte auch Else Lasker-Schüler sich schon 1908 vergeblich um einen Kontakt mit Stefan George bemüht, den sie zum „Erzengel“ stilisiert.176 Doch grundiert ein kritischer Ton ihre Verehrung. Diese Ambivalenz zeigt exemplarisch ihr Brief an Paul Zech vom September 1909, demzufolge „Stefan Georges Dichtungen […] aus Kristall“ und daher 173 Vgl. dazu Achim Aurnhammer: „Form ist Wollust“. Ernst Stadlers Beitrag zur Formdebatte im Expressionismus. In: Poetologische Lyrik. Hg. von Olaf Hildebrand, Köln 2003, S. 186– 197. 174 Ein ganz ähnlicher Tenor bestimmt das programmatische Gedicht von Rudolf Adrian Dietrich: Prolog (1913). In: Menschen. Zeitschrift für Neuer Kunst 4 (1921), Sonderheft Dietrich, S. 3 f., V. 13–16: „Noch ring ich nach der Form, noch ungebunden / steh ich im Leben, eine wilde Welt, / und sinke tief in einsam-dunkle Stunden / wenn mich das Wunderbare überfällt“ bzw. V. 21: „Noch ring ich mit den Formen Tag und Nacht“. 175 E[mil] T[uchmann]: Im Neopathetischen Cabaret. In: Der Demokrat 2 (1910), Nr. 52, S. 3; wieder in: Georg Heym: Dichtungen und Schriften, Bd. 4: Dokumente zu seinem Leben und Werk. Hg. von Karl Ludwig Schneider u. a., München 1986, S. 419–421, hier 420. 176 Else Lasker-Schüler an Melchior Lechter, 3.3.1908. In: E. L.-Sch.: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe, Bd. 6: Briefe 1893–1913. Hg. von Ulrike Marquard, Frankfurt/M. 2003, Nr. 158, S. 86 f.
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3. Frühexpressionistische Reaktionen auf den Siebenten Ring
„blutleer“ seien.177 Der Umschlag von kritischer Verehrung in Distanz vollzieht sich kurz darauf in ihrer Freundschaft zu Wolfskehl, den sie im Januar 1912 noch bittet, zu ihrem Besuch auch den „Erzengel Stefan George“ hinzuzubitten, bevor sie ihm ein Jahr später mitteilt, „dein George ist ein altmodischer Schulmeister“.178
3.2.7. Drastische Radikalisierung: Gottfried Benn Gottfried Benns späte Bekenntnisse zu George hat man auf die expressionistischen Anfänge rückprojizieren wollen. Doch ist das Verhältnis des frühen Benn zu George noch immer nicht hinreichend geklärt. Benns Leiden unter der ‚Verhirnung‘ ähnelt zwar der Kritik Georges und seines Kreises an dem „verhirnlichte[n] zeitalter“ (SW XII, 5), ist aber eher zeittypisch und allgemein. Auch lexikalische Referenzen wie der „Asphodelentod“ im Englischen Café (1913) als Parallele zu Georges „schattenlilie asphodill“ im Feld vor Rom (V. 68) oder die „Georginen“ in dem frühen Herbst-Gedicht als onomastische Markierung sind nicht über jeden Zweifel erhaben.179 Dagegen fanden Günter Heintz und Michael Winkler intertextuelle Bezüge in Morgue und andere Gedichte (1912), wo sie Durzak noch in Abrede stellte:180 Sie erkannten in dem prominentesten Gedicht aus Benns erstem Zyklus, Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke, einen ästhetischen Affront gegen George.181 Benns sieben heterometrische Strophen zu drei und vier Versen beschreiben den Gang eines Paares durch eine Station unheilbar Krebskranker:
177 Else Lasker-Schüler an Paul Zech, wahrscheinlich 21.9.1909. In: E. L.-Sch.: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe, Bd. 6: Briefe 1893–1913, Nr. 183, S. 101 f. 178 Else Lasker-Schüler an Karl Wolfskehl, kurz vor dem 17. Januar 1912 und zwischen dem 6. Januar und Mitte Januar 1913. In: E. L.-Sch.: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe, Bd. 6: Briefe 1893–1913. Hg. von Ulrike Marquard, Frankfurt/M. 2003, Nr. 320, S. 214, und Nr. 444, S. 283. Immerhin findet sich der Eintrag „Stefan George“ noch in der Namens- und Werkliste zu Lasker-Schülers Essayband Gesichte; vgl. Markus Hallensleben: Else LaskerSchüler. Avantgardismus und Kunstinszenierung, Tübingen und Basel 2000, S. 321. 179 Vgl. Durzak: Nachwirkungen, S. 135; Heintz: Stefan George, S. 159 f. 180 Vgl. Durzak: Nachwirkungen, S. 128; Michael Winkler: Benn’s Cancer Ward and George’s Autumnal Park: A Case of Lyrical Kontrafraktur. In: Colloquia Germanica 3 (1980), Nr. 13, S. 258–264; Heintz: Stefan George, S. 155–158; siehe dazu auch Achim Aurnhammer: Inszenierungen der Moderne im Traditionsbruch: Die lyrischen Anfänge Benns und Brechts. In: Gottfried Benn – Bertolt Brecht: Das Janusgesicht der Moderne, Würzburg 2009, S. 49–70, hier 55–58. 181 Gottfried Benn: Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke. In: G. B.: Sämtliche Werke, Bd. 1: Gedichte 1. Hg. von Gerhard Schuster, Stuttgart 1986, S. 16.
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Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke Der Mann: Hier diese Reihe sind zerfressene Schöße und diese Reihe ist zerfallene Brust. Bett stinkt bei Bett. Die Schwestern wechseln stündlich. Komm, hebe ruhig diese Decke auf. Sieh, dieser Klumpen Fett und faule Säfte, das war einst irgendeinem Manne groß und hieß auch Rausch und Heimat. Komm, sieh auf diese Narbe an der Brust. Fühlst du den Rosenkranz von weichen Knoten? Fühl ruhig hin. Das Fleisch ist weich und schmerzt nicht. Hier diese blutet wie aus dreißig Leibern. Kein Mensch hat soviel Blut. Hier dieser schnitt man erst noch ein Kind aus dem verkrebsten Schoß. Man läßt sie schlafen. Tag und Nacht. – Den Neuen sagt man: hier schläft man sich gesund. – Nur sonntags für den Besuch läßt man sie etwas wacher. Nahrung wird wenig noch verzehrt. Die Rücken sind wund. Du siehst die Fliegen. Manchmal wäscht sie die Schwester. Wie man Bänke wäscht. Hier schwillt der Acker schon um jedes Bett. Fleisch ebnet sich zu Land. Glut gibt sich fort, Saft schickt sich an zu rinnen. Erde ruft.
Neben der Kombination von Sexualität und Verfall in Benns Gedicht wurde auch die erstaunliche Parallele zu barocken Liebesgedichten kaum bemerkt, in denen ein Sprecher die Geliebte zur Gegenliebe mahnt, indem er die Vergänglichkeit körperlicher Schönheit vor Augen führt.182 Benn forciert dieses Muster erotischer Persuasionslyrik, indem er die barocken Vergänglichkeitsbilder drastisch pathologisiert. Die antithetische Gegenwart-Zukunft-Span182 Vgl. hierzu exemplarisch Martin Opitz: „Ach Liebste, laß uns eilen“. In: M. O.: Weltliche und geistliche Dichtung, Berlin und Stuttgart 1889, S. 18: Dort folgt einer einleitenden Reflexion über die Vergänglichkeit eine Diärese, welche den Verfall des Körpers konkretisiert, um im dritten Teil die Geliebte zum Liebesvollzug zu überreden, vgl. Aurnhammer: Inszenierungen, S. 56 f.
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3. Frühexpressionistische Reaktionen auf den Siebenten Ring
nung der amourösen Lyrik radikalisiert er zur Opposition von Gegenwart und Vergangenheit: Benn dekonstruiert die erotische Projektion von „einst irgendeinem Manne“, gebündelt im emphatischen Hendiadyoin „Rausch und Heimat“, indem er sie mit dem auf die Krankheitssymptome metonymisch reduzierten weiblichen Genital in der Gegenwart kontrastiert. Mit dieser Desillusionstechnik überbietet er die epikureische Persuasionslyrik, um ein zeitnäheres Muster verfeinerter Liebeslyrik als überholt zu entlarven, nämlich Georges diskretes Liebesgedicht „Komm in den totgesagten park und schau“,183 das Eröffnungsgedicht des Jahrs der Seele.184 Neben der Form des Rollengedichts spricht vor allem der Gestus der mittelbaren erotischen Persuasion dafür, in Georges Park-Besuch den maßgeblichen Prätext von Benns ‚Gang durch die Krebsbaracke‘ zu sehen. Die charakteristischen anaphorischen Imperativformen Georges („Komm […] und schau“ / „Dort nimm“, „Erlese, küsse […] und flicht“ / „Vergiss“, „Verwinde“) imitiert Benn überdeutlich, intensiviert und verhässlicht sie jedoch systematisch. So wird das einfache Demonstrativpronomen durch dauernde Wiederholung und in Kombination mit dem Ortsadverb ‚hier‘ – anstelle des distanzierten ‚dort‘ – zur zwanghaften Deixis forciert. Wie zynisch Benn Georges Lobpreis der herbstlichen Schönheit dekonstruiert, zeigt die Verwendung der ‚Rosenkranz‘-Metapher. Während der Sprecher bei George seine Geliebte auffordert, „die späten rosen“ zum „Kranz“ zu flechten, bittet der Mann bei Benn seine Begleiterin, den „Rosenkranz von weichen Knoten“ einer Brustkrebspatientin zu ‚fühlen‘. Und ist bei George die Schönheit des Parks vom Winter nur bedroht, geht das Leben in Benns Krebsbaracke schon in den Tod über: „Hier schwillt der Acker schon um jedes Bett. / […] Erde ruft.“ Während die George-Anspielungen in seiner expressionistischen Dichtung erstaunen, ist es wenig überraschend, dass Benn auch in seinem späteren Werk gelegentlich auf George Bezug nimmt. Diese Sicht teilen schon die Zeitgenossen. So hat Peter Hamecher im Jahre 1932 beide Autoren als „Gegensatz und Ergänzung zugleich“ in einem Doppelessay behandelt: Beiden attestiert Hamecher eine „apokalyptische Stimmung gegen die Zeit“ und den „Wille[n] zur Überwindung des Heute“. Während Benn aber „im nihilistischen Lebensgefühl des Geistigen“ verharre, suche George die „Fraglichkeit der Zeit […] in der positiven Schau“ zu überwinden.185 Tatsächlich lassen sich in Benns Spätwerk einige Entsprechungen zu George finden, die eine eigene Untersuchung erforderten.186 183 184 185 186
SW IV, S. 12. Vgl. den intertextuellen Nachweis von Winkler: Benn’s Cancer Ward. Peter Hamecher: Entformung und Gestalt. Gottfried Benn, Stefan George, Berlin 1932, S. 5. Dazu zählen die kontrastiven Entgegensetzungen des geistigen Einen und der ungeistigen
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3.2.8. George und die ‚Einflussangst‘ des Expressionismus Sorges, Sieburgs, Trakls, Heyms, Stadlers und Benns nachhaltiger Affinität zu George entspricht eine breite produktive Rezeption in der expressionistischen Avantgarde. Handsignierte Widmungsexemplare aus dem Zeitraum 1909 bis 1915, die Erich Mühsam, Kasimir Edschmid, Walter Hasenclever und Theodor Däubler an George sandten, bezeugen die Kontinuität der Verehrung im expressionistischen Jahrzehnt.187 Für viele Repräsentanten der ästhetischen Elite zwischen 1910 und 1920 ist die produktive Auseinandersetzung mit George noch nicht erforscht. Die Wirkung reicht von metrischen Imitationen und Variationen bis hin zu thematischen Anleihen. So ist es wesentlich Georges Verdienst, dass der Vierzeiler aus jambischen Fünfhebern mit weiblich-männlich wechselnden Kadenzen im Kreuzreim die häufigste Strophenform in der deutschsprachigen Lyrik des 20. Jahrhunderts ist.188 Diese Strophenform, den Übertragungen von Baudelaires Fleurs du Mal nachgebildet, prägt Georges gesamtes Werk, und George ist wohl auch zum guten Teil ihre Beliebtheit bei den Expressionisten geschuldet.189 Doch häufen sich die Absetzungen vom vormaligen Vorbild: Dazu gehört gewiss das detrahierende Zitat markanter Wendungen, etwa wenn Paul Boldt das weibliche Genital als „schwarze Blume“ verbildlicht.190 Franz Pfemfert stellt in einer Synopse eine Dichtung des mittelalterlichen persischen Dichters Rûmi, die ‚Ich bin‘-Anaphern prägen, neben ein bauähnliches Gedicht
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Vielen etwa in den Schlussstrophen von Georges Gedicht Suedlicher Strand: Bucht („Wenn hoch im saale sich die paare drehn / Im bunten schmuck mit blumen um die schläfen: / Folg ich den ärmsten wandlern in den häfen . . / So sehr ist qual allein zu gehen“) und Benns „Einsamer nie als im August“ („Wo alles sich durch Glück beweist / und tauscht den Blick und tauscht die Ringe / im Weingeruch, im Rausch der Dinge / dienst du dem Gegenglück, dem Geist.“). Auch Benns Gedicht Blaue Stunde dürfte sich dialogisch auf das titelgleiche Gedicht Georges beziehen. Die Widmungsexemplare befinden sich in Stefan Georges nachgelassener Bibliothek im Stefan George Archiv. Erich Mühsam dedizierte 1909 George den Krater (1909) „als Dank für erhöhte Stunden“, Kasimir Edschmid übersandte 1911 seine Verse, Hymnen, Gesänge (1911) mit der Widmung: „Wenn ich dem Meister meinen zagen Band sende, so möchte ich mit Stolz es tun als ‚Dankesabtrag‘“. Walter Hasenclever überreichte George 1913 seinen Gedichtband Der Jüngling (1913) „in tiefer Verehrung“, Theodor Däubler überreichte George 1915 „in Verehrung“ seine „autobiographischen Fragmente“ Wir wollen nicht verweilen (1914); alle Nachweise in Gisela Eidemüller: Die nachgelassene Bibliothek des Dichters Stefan George: Der in Bingen aufbewahrte Teil, Heidelberg 1987 (Stefan George: Bilder und Bücher aus dem Nachlass II). Vgl. Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen, S. 321–327, s. v. 4.106. Vgl. Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen, S. 324. Paul Boldt: Die schlafende Erna. In: P. B.: Junge Pferde! Junge Pferde!, Leipzig 1914, S. 32, V. 13. – Anspielung auf Georges „dunkle grosse schwarze blume“ im Algabal (SW II, 63, V. 16).
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3. Frühexpressionistische Reaktionen auf den Siebenten Ring
Georges aus dem Stern des Bundes („Ich bin der Eine und bin Beide“),191 um die Antiquiertheit Georges zu erweisen: „Ich bin nicht der Ansicht, Stefan George habe plagiiert. Aber: Rumi dichtete besser.“192 Zu den wenigen dichtungstheoretisch fundierten Auseinandersetzungen der ästhetischen Avantgarde mit George zählt auch Max Brods Versuch einer neuen Metrik (1911/12).193 Brod, der darin gegen das Prinzip der akzentuierenden Alternation und für eine Vielfalt der Töne plädiert, nennt als Beispiel für die verfehlte „Regelmäßigkeit“ in der lyrischen Praxis, „die nur Hell und Dunkel kennt“, „Stefan George und seine Schule“.194 Georges Gedicht „Ich schrieb es auf: nicht länger sei verhehlt“195 aus dem Jahr der Seele zitiert Brod als Muster „vollkommener Gleichmäßigkeit“ und kontrastiert es mit einem angeblich metrisch anarchischen Gedicht Goethes. Doch bezweckt diese Gegenüberstellung lediglich den induktiven Nachweis, dass Georges Poesie nur scheinbar gleichmäßig sei und eine sinngemäße Variation der Töne sie „in ein formloses Ungeheuer verwandelt“, das – das ist implizit gemeint – der expressionistischen Lyrik ähnelt. George war ein wichtiges Bindeglied für Max Brods Freundschaft mit Franz Kafka: 1905 hatte Kafka ihm Das Jahr der Seele geschenkt, 1910, zu Brods 26. Geburtstag, Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der Hängenden Gärten.196 Das Gedicht „Indes deine mutter dich stillt“ aus dem Jahr der Seele, das einem lyrisches Du nahelegt, „deine frische jugend [zu] töten“, da „Auf ihrem grab allein / […] / Die einzigen schönen rosen“ sprießen (SW IV, 53), hat Brod sogar vertont.197 Dass die etwas zwiespältige Argumentation in seinem dichtungstheoretischen Essay keineswegs Georges poetische Bedeutung schmälern, sondern ihn nur vor seinen Exegeten und Verehrern in Schutz nehmen soll, bekräftigt Brod mit einem doppelten Credo: er wolle „George nicht verkleinern. Im Gegenteil, ich liebe und bewundere ihn … Nur die will ich treffen, die seine Verse für reiner halten als die Verse von Dauthendey beispielsweise. […] Mir selbst
191 SW VIII, S. 27. 192 F[ranz] P[femfert]: Stefan George vor 700 Jahren. In: Die Aktion 4 (1914), Sp. 341 f. 193 Max Brod: Versuch einer neuen Metrik. In: Der Sturm 2 (1911/12), S. 461–462; wieder in: Literaturrevolution. Hg. von Paul Pörtner, Bd. 1, Neuwied 1960, S. 226–231. 194 Brod: Versuch einer neuen Metrik, S. 227. 195 SW IV, 21. 196 Vgl. Peter-André Alt: Franz Kafka – Der ewige Sohn. Eine Biographie, München 2008, S. 143. – Kafkas Prosafragment Beschreibung eines Kampfes (1904) variiert in seinem fünfzeiligen Motto (Inc.: „Und die Menschen gehen in Kleidern / schwankend auf dem Kies spazieren […]“) womöglich Georges Gedicht „Wir schreiten auf und ab im reichen flitter“ (SW IV, 15) (vgl. ebd., S. 143). 197 Vgl. Yehuda Cohen: Das musikalische Œuvre von Max Brod. In: Max Brod. Ein Gedenkbuch. Hg. von Hugo Gold, Tel-Aviv 1969, S. 277–287, hier 285.
3.3. Der Erste Weltkrieg als Zäsur
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gefällt ja das Vorbeischaukeln Georgescher Verse, nur darf man es nicht für einen Parademarsch halten“.198
3.3. Der Erste Weltkrieg als Zäsur Eine Zäsur in der George-Rezeption ist das Jahr 1914, der Beginn des Ersten Weltkriegs, aus zwei Gründen. Zum einen schwieg George lange zu der allgemein bejubelten Mobilmachung und zum Krieg, während das Publikum eine Stellungnahme erwartete; zum andern erschien 1914 sein esoterischer Gedichtband Der Stern des Bundes, in dem manche Zeitgenossen eine Abkehr Georges von der Dichtung und eine Hinwendung zur Religion sahen. In einer Doppelrezension von Rudolf Borchardts Wannsee und Georges Stern des Bundes bemängelt Werner Kraft, George „habe seinem Werke nichts mehr hinzuzusetzen“, und die „ungeheure[n] und klare[n] Worte“, die er „zur Vernichtigung der Zeit“ finde, stünden in einem komischen Kontrast zur „geformte[n] Unsittlichkeit“, in der er „seine Jünger“, „ulkige Dummlinge“, anrede.199 Sarkastisch prophezeit Kraft George eine Wirkung erst für die ferne Zukunft, „in der aller Jünger Namen verschollen sind: […] dann erst wird man die wahre Musik dieses Meisters vernehmen; dieses Meisters, der Nietzsches Wort verschmäht, seine Schüler vor sich zu warnen und nun sich allerdings Einen Schüler aufgezogen hat, der ihn überwindet: Rudolf Borchardt“.200 Für manche Expressionisten blieb aber auch Georges Stern des Bundes eine ästhetische wie ethische Orientierungshilfe. Dies bezeugt das SturmBuch Die schwarze Fahne (1915), eine personalisierte Präsens-Erzählung in Dritter Person, von Adolf Knoblauch (1882–1951). Held der Dreiecksgeschichte, die im modernen Berlin spielt, ist der Dichterstudent Bran, ein expressionistischer Werther, dessen dichterisch überformte Mitleidsliebe für eine misshandelte Leutnantsfrau scheitert. Brans übersteigertes Humanitätsideal, sein Einsamkeitsgefühl und das Ungenügen, das er im Leben verspürt, wird mit literarischen Zitaten beglaubigt, zu denen auch ein Spruch aus Georges Stern des Bundes zählt: Bran kehrte eines Nachts von einem seltenen Besuch aus Berlin zurück. Lange Stunden freundlichen Zusammenseins schwingen noch nach, starke Worte hat er gesprochen, man hat ihn angegriffen, Erinnerungen, Theorien, Bekenntnisglut, dazwischen zerknitterte Redensarten, dumpfe Wirbel von Schauern und Lustge198 Brod: Versuch einer neuen Metrik, S. 230 f. 199 Werner Kraft: Der „Stern des Bundes“ und „Wannsee“. In: Die Aktion 4 (1914), Sp. 394– 397, hier 394 f. 200 Kraft: Der „Stern des Bundes“, Sp. 395.
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3. Frühexpressionistische Reaktionen auf den Siebenten Ring
fühl, all das wogt bezaubernd durch die Nacht. Visionen gürten ihn mit Helligkeit und Schärfe, und er spricht die Verse Georges von der „Fülle die fehlt“. „alles habend, alles wissend seufzen sie: karges Leben, Drang und Hunger überall …“201
Wirkungsgeschichtlich noch einschneidender als Georges langes Schweigen zum Ersten Weltkrieg war sein großes, verstörendes Gedicht Der Krieg, das er 1917 als Einzeldruck veröffentlichte (wieder in: SW IX, 21–26). Darin nimmt George die Rolle eines Sehers in der Nachfolge Dantes ein.202 Aus dieser Warte kritisiert er das falsche „eingefühl“ (V. 7) der Augustbegeisterung sowie die „falschen heldenreden“ (V. 53). Stattdessen entheroisiert George die „viele[n] untergänge ohne würde“ (V. 50) und grenzt sich von den klagenden Landsleuten ab, er habe „[s]eine tränen / Vorweg geweint . . heut find ich keine mehr“ (V. 18 f.): Vor allem aber relativiert George die Gegenwart des Krieges, indem er auf die Vorgeschichte und die Zukunft verweist: Das meiste war geschehn und keiner sah . . Das trübste wird erst sein und keiner sieht. […] Am streit wie ihr ihn fühlt nehm ich nicht teil. (V. 20–24)
Statt einer Parteinahme endet Georges Gedicht Der Krieg mit der synkretistischen Prophetie einer Verbindung von Christentum und Antike, griechischer und germanischer Mythologie: […] Apollo lehnt geheim An Baldur: ›Eine weile währt noch nacht · Doch diesmal kommt von Osten nicht das licht.‹ Der kampf entschied sich schon auf sternen: Sieger Bleibt wer das schutzbild birgt in seinen marken Und Herr der zukunft wer sich wandeln kann. (V. 139–144) 201 Adolf Knoblauch: Die schwarze Fahne: eine Dichtung, Berlin 1915, S. 14 [der Einleitungssatz des Zitats steht ausnahmsweise im Präteritum]. Zitiert werden die ersten drei Verse aus der Klage einer höheren Instanz an der Achtlosigkeit des Volks: „Alles habend alles wissend seufzen sie: / ‚Karges leben! drang und hunger überall! / Fülle fehlt!‘“ (SW VIII, 29). Neben George werden aus der figuralen Perspektive Brans auch Verse und Texte von William Blake (S. 26), Alfred Mombert (S. 65 und 71) und Parmenides (S. 87 f.) zitiert. 202 Vgl. dazu Horst Nalewski: Stefan George, „Der Krieg“ (1917). Kontext, Rezeption, Deutungsaspekte. In: Begegnung der Zeiten. FS Helmut Richter. Hg. von Regina Fasold, Leipzig 1999, S. 299–310, Achim Aurnhammer: Kriegskritik als Nachkriegsvision: Stefan Georges Dichtung „Der Krieg“ (1917). In: Cultura Tedesca 46 (2014): 1914: Guerra e Letteratura 46. Hg. von Marino Freschi, S. 53–79, Christophe Fricker: Das lyrische Ich und das lyrische Er in Stefan Georges „Der Krieg“. In: Autobiographie und Krieg: Ästhetik, Autofiktion und Erinnerungskultur seit 1914. Hg. von Jan Röhnert, Heidelberg 2014, S. 67–81, und Ute Oelmann: „Zu jubeln ziemt nicht: kein triumf wird sein“. Stefan George, der George-Kreis und der Erste Weltkrieg. In: Krieg in der Literatur, Literatur im Krieg. Studien. Hg. von Karsten Dahlmanns, Matthias Freise und Grzegorz Kowal, Göttingen 2020, S. 207–215.
3.3. Der Erste Weltkrieg als Zäsur
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Dieses Gedicht polarisierte die George-Verehrer und verstörte manchen Bewunderer des Dichters. So kritisierte es Gershom Scholem in einem Brief an Werner Kraft als „schlecht“. „Es ist wohl eine versifizierte Flugschrift mit dem ungeschriebenen, aber deutlichen Titel: was geht mich das an?, eine Überschrift, die ich nur zu billigen vermag, wenn sie aus letzter legitimierter Ablehnung kommt, was hier offensichtlich nicht der Fall ist“.203 Zu den wenigen affirmativen Wirkungszeugnissen von Georges Der Krieg, die meist von kreisaffinen Autoren stammen, zählt Henry von Heiselers Der Engel des Krieges (1916). Dieser Zyklus von fünfzehn Gedichten aus jeweils vier jambischen Vierzeilern in einem exklusiven Pressedruck antizipiert im Tenor Georges Krieg. Der bislang kaum beachtete Zyklus, der „an S[tefan] G[eorge]“ adressiert ist, relativiert, historisiert und entheroisiert das Kriegsgeschehen in ähnlicher Weise.204 Heiselers Einleitungsgedicht rekapituliert in distanzierendem Präteritum die Verzweiflung der gottvergessenen Menschen, zu denen mit einem überraschenden temporalen Einschnitt – ähnlich wie in Georges Vorspiel zum Teppich des Lebens – der Engel des Krieges tritt: Sie wirkten hastig und den gott nicht sehend Ihr tun war flitter und ihr himmel klein Da trat zu ihnen wie auf wolken gehend Lautlos des krieges grosser engel ein
Die verzweifelten Fragen, die auch in Georges Krieg begegnen, bescheidet der Engel im Schlussvers knapp mit: „ihr sollt genesen“, wobei offen bleibt, ob diese Antwort den Krieg meint oder ein Nachkriegsglück verspricht:
203 Gershom Scholem an Werner Kraft, 21.9.1917. In: G. Sch.: Briefe an Werner Kraft. Hg. von W. Kraft mit einem Nachwort von Jörg Drews, Frankfurt/M. 1986, S. 29–32, hier 30. 204 Henry Heiseler: Der Engel des Krieges, Weimar (Cranach-Presse) 1916, Nr. 7, kritisiert wie George die kriegführenden Herrscher wie den Zeitgeist („Stark ohne adel herrscher ohne recht / Langst du mit niedrer hand nach deinen zielen“), um eine blühende Zukunft in Aussicht zu stellen: „Sie hin wie jung die neue Erde keimt“). Auch das synkretistische Zukunftsversprechen am Ende von Georges Krieg findet sich bei Heiseler: „Noch glüht im herde der verhüllte schein / Darin dein leben reift und selig brütet: / Kennst du den Einen der das feuer hütet / In selbstgewählter armut reich und rein?“ (ebd. Nr. 14). – Forscherlich unbeachtet blieb der Hinweis auf Heiselers produktive George-Aneignung im Nachwort der Werkausgabe: Henry Heiseler: Sämtliche Werke. Hg. von Bernt von Heiseler, Heidelberg 1965 (ergänzt gegenüber der Ausgabe Leipzig 1937/38), S. 770: „Wie die letzten beiden Strophen des Gedichts 14 aus dem ‚Engel des Krieges‘ so bezieht sich auch das Gedicht 50 aus dem ‚Engel des Lebens‘ auf Stefan George. 30 aus ‚Der Engel der Liebe‘ kann als eine Erwiderung auf die Verse ‚An Henry‘ in Georges ‚Siebentem Ring‘ gelten.“
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3. Frühexpressionistische Reaktionen auf den Siebenten Ring
Sollen wir busse tun? das letzte wort Der grossen nacht von deiner stirne lesen? Du schlägst uns in den staub? du wirfst uns fort? Er lächelte und sprach: ihr sollt genesen.205
Auch Ernst Morwitz versuchte mit einem Dialoggedicht Der Dichter und der Krieger die scheinbare patriotische Indifferenz des Dichters mit dessen militanter Energie zu vereinbaren. So rechtfertigt in dem Dialog der Dichter seine Nichtteilnahme am Krieg: „Mein loos ist: euch die helden zu gebären! / Der menge dien ich nicht · doch schaff ich jene / Die herz und auge eines volkes sind“.206 Und in der Schlussrede bekräftigt der Dichter dem Krieger ihr untrennbares Miteinander: „Du bist mein arm · ich deiner seele grund / Und nur durch dich tut meine kraft sich kund“.207 Solche Stimmen, die Georges Reserve im Krieg nachträglich rechtfertigten und den Kriegsgräueln durch die Vision einer hellen Zukunft den Sinn einer reinigenden Probe zu verleihen suchten, blieben aber rar und vereinzelt. Überwiegend missachteten die Repräsentanten der Avantgarde die distanzierte Rolle eines Propheten, wie George sie im Ersten Weltkrieg einnahm.208 So rechnet Curt Saemann (1893–1918), kurz bevor er als Freiwilliger 1918 an den Folgen einer Kriegsverwundung an der Westfront starb, scharf ab mit dem „Sänger aesthetischer Kultur und sakraler Gebärde“.209 George „servier[e] […] eine an Erfindung überaus arme Darstellung“, die, „durchaus unpersönlich und von unmenschlicher Herz- und Anteilslosigkeit, […] kein hüben und drüben“ kenne. Georges gleichgültiger Gedichtschluss, wonach „Sieger“ der sein werde, „der sich wandeln kann“, entlarve „die ganze abgefeimte Barbarei des Epos“.210 So verabschiedet Saemann im Namen der Kriegsgeneration das vormalige Dichtervorbild George als abgewirtschaftete Größe: „Wir werden unbarmherzig den Ehrentitel Seher löschen vor des Philosophen des Jenachdem Namen. Will man uns denn ersticken mit diesem Geiste?! Ecrasez l’infame!“211
205 Heiseler: Der Engel des Krieges, Nr. 1, V. 1–4 und 13–16. Der in Vers 3 alludierte Vers Georges lautet: „Da trat ein nackter Engel durch die pforte“ (SW V, 10, V. 4). 206 Ernst Morwitz: Der Dichter und der Krieger. In: BlfdK 11/12 (1919), S. 214–216, hier 215. 207 Morwitz: Der Dichter und der Krieger, S. 216. 208 Zur Wirkung von Stefan Georges Krieg vgl. den instruktiven Überblick von Klaus Landfried: Stefan George – Politik des Unpolitischen, Heidelberg 1975, bes. S. 233–237. 209 Curt Saemann: Die Philosophie des Jenachdem: Ein J’accuse an Stefan George. In: Der Orkan 2 (1917/18), Nr. 3, S. 46–47. 210 Saemann: Die Philosophie des Jenachdem, S. 47. 211 Saemann: Die Philosophie des Jenachdem, S. 47. Saemann wendet hier den auf Voltaire zurückgehenden aufklärerischen Kampfspruch („Zermalmt den Ruchlosen“) gegen die falsche Autorität Georges.
4. Georges Anteil an der ästhetischen Neuorientierung nach dem Ersten Weltkrieg (1917 bis 1928) Die reine Form, der erlesene Stil und das hohe Pathos, wie sie Stefan Georges Werk repräsentiert, gerieten durch den Ersten Weltkrieg in eine Legitimationskrise. Georges Gedicht Der Krieg wirkte dabei wie ein Fanal.1 Viele Zeitgenossen verübelten George die patriotische Reserve, wie sich aus manchen Rezensionen seines verstörenden Gedichts ablesen lässt. Der paronomastische Vorwurf der Lebensferne, wie ihn Arthur Trebitsch „Einem modernen Dichter“ 1917 vorhält, könnte durchaus auf George gemünzt sein: „Der Du in jedem Werk vom Leben Dich entfernst, / Und nie den rechten Sinn des rechten Lebens lernst, / Ein Irrender, der nur das Leben ahnt / Und es zu leben weiß, erst wenn der Tod gemahnt.“ Die sprachlich vollkommene Form wird aus dieser Sicht als steriler Selbstbezug abgetan: „Und wenn Du glatt Dich durch die Sprache windest, / […] Ist alles, was Du sagst, voll Selbstbetrug und Pose, / Und so bleibst Du zumeist bedeutungsreich und mystisch, / Bist äußerst rätselhaft und symbolistisch“.2 Allerdings beteiligten sich keineswegs alle Dichter an der Politisierung und Demokratisierung der Kunst in der Weimarer Republik. Viele jüngere Dichter und manche Expressionisten orientierten sich am Ausgang des expressionistischen Jahrzehnts in gegenwartskritischer Reserve an angeblich überlebten ästhetischen Mustern und beriefen sich auf das übernationale und überzeitliche Ethos des George-Kreises. Davon zeugt mittelbar Gundolfs vehemente Zurückweisung einer solchen Indienstnahme im George-Buch. Als Repräsentant des Kreises lehnt er „das neue Pathos“ als „die mißdeutete Gesinnung Georges“ ab, die in den verschiedenen Ausprägungen des Expressionismus zum Ausdruck kämen: „Die einen ballten in Georgischen Tonfällen (hauptsächlich aus seinem Baudelaire) qualvolle und widrige Bilder um der Bilder willen, andere benutzten die Bilder und Tonfälle zu sozialen oder politischen Manifesten, andere lockerten die neue Gespanntheit zu süß schwelgender Seelenvergötzung oder Dingverinnerung oder blähten 1 2
SW IX, 21–26. Arthur Trebitsch: Einem modernen Dichter. In: A. T.: Seitenpfade. Ein Buch Verse, Berlin 1917, S. 93 f., V. 16–19 und 25–29. Noch schärfer urteilt Kurt Port: Stefan George. Ein Protest, Ulm 1919, der die Bildlichkeit Georges als verfehlt abtut und gar ein „Unvermögen, zu erleben, zu fühlen“ diagnostiziert (ebd., S. 43).
https://doi.org/10.1515/9783110779370-004
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4. Georges Anteil an der ästhetischen Neuorientierung
die neue Schwebe zu sklavischer, menschheits-wütiger Mitleidsemphase“.3 Doch ließen sich viele Expressionisten von dieser öffentlichen Verneinung in ihrer Wahlverwandtschaft und George-Verehrung nicht beirren. Anselm Ruest vereinnahmte etwa im ersten Jahrgang seiner Zeitschrift Der Einzige, die nach dem Weltkrieg statt Kollektiv und Masse einen anarchistischen Individualismus propagierte, insofern George, als er zwei bekenntnishafte Gedichte aus dem Stern des Bundes abdruckte.4 Und der eigenständige Heinrich Eduard Jacob beruft sich in seinem autofiktionalen „symphonischen Roman“ Der Zwanzigjährige (1918) auf einen eigenartigen Vorbild-Kanon. Der Protagonist, ein werdender expressionistischer Dichter, verwahrt in seiner Handbibliothek „die Geister, denen er pflichtete“, das sind August Strindberg, Gabriele D’Annunzio, Stefan George, Hugo von Hofmannsthal, Oscar Wilde, Johannes Vilhelm Jensen und Heinrich Mann.5 George, der an dritter Stelle steht, wird als ethischer Künstler gewürdigt: „Hier war George, welcher schon ganz leiblos und hymnische Flamme, der sittlichste Dichter seit Schiller, die Deutschen einlud, die Einfalt und das Schwere zu tun“.6 Wie verbindlich der Protagonist Edgar diesen Kanon erachtet, bezeugt das Ende dieser Passage in Erlebter Rede: „Ja, hier waren sie, denen er pflichtete: die sieben Paladine des Göttlichen. ‚Ich komme!‘, rief er ihnen, feurig gehorsam, zu“.7 Noch am Ende des zum „öde[n] Wetter“ enthistorisierten Ersten Weltkriegs, An Stefan Georges fünfzigstem Geburtstag, feierte Ernst Blass in Stanzen erneut sein Dichtervorbild als „verklärend[en] und verklärt[en] Leitstern“ für die Nachkriegszukunft.8 Noch unzeitgemäßer ist sein Dialog
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Friedrich Gundolf: George, Berlin 1920, S. 15 f. – Die Studie von Friedrich Gundolf: Stefan George und der Expressionismus. In: Die Flöte 3 (1920/21), S. 217–223, ist lediglich ein Auszug aus der Monographie (S. 18–23). Stefan George: I. Der Ungenannte [d. i. „Bangt nicht vor rissen brüchen wunden schrammmen“ (SW VIII, 37)] und II. Der Vielgestaltige [d. i. „Ich weiss nicht ob ich würdig euch gepriesen“ (SW VIII, 77)]. In: Der Einzige 1 (1919), Nr. 8, 9. März 1919, S. 88. Der Herausgeber Ruest hat die Gedichte nicht nur mit eigenen Titeln versehen, sondern auch die Zeichensetzung und Orthographie normalisiert. Heinrich Eduard Jacob: Der Zwanzigjährige. Ein symphonischer Roman [1918]. Mit einem Nachwort von Hannes Schwenger, Berlin 1983, S. 79 f. Nur knapp behandelt Jacobs durchaus zwiespältige George-Verehrung Anja Clarenbach: „Finis libri“. Der Schriftsteller und Journalist Heinrich Eduard Jacob (1889–1967), Hamburg 2003. Jacob: Der Zwanzigjährige, S. 80. Jacob: Der Zwanzigjährige, S. 80. Ernst Blass: An Stefan Georges fünfzigstem Geburtstag 12. Juli 1918. In: Das junge Deutschland 1 (1918), S. 241. Vgl. dazu Reinthal: Studien und Quellen zu Ernst Blass, S. 136 f. Blass’ Werdegang vom Frühexpressionisten zum Argonauten-Beiträger und Georgianer hat Alfred Richard Meyer: Des Herrn Munkepunke […] Gemisch-Gemasch, Naumburg 1921, S. 9, ironisch bedichtet: „Die Straßen kam Ernst Blaß entlang geweht. / Das schlimmste Wetter – gottseidank – vergeht. / Gen Kolchis hetzte er noch mal die Argonauten. / Kolatschen von
4. Georges Anteil an der ästhetischen Neuorientierung
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Über den Stil Stefan Georges. Doch gerade das „zeitgemäß Unzeitgemäße“ diagnostiziert Arthur Sakheim im Jahre 1920 als Merkmal der ästhetischen Avantgarde und erkennt darin einen „Zusammenhang […] mit der priesterlichen Kunst Stefan Georges“.9 Die Gemeinsamkeiten und Differenzen der Nachkriegsexpressionisten zu George erörterte Friedrich Schulze-Maizier in einem Vortrag, den er 1922 in Erfurt hielt. Darin wendet er sich gegen Gundolf und betont die metaphysische Orientierung Georges, die ihn einerseits von den desillusionierten Expressionisten unterscheide, andererseits mit ihnen verbinde; diese könnten ihre Inspiration nicht mehr wie George durch eine Epiphanie beglaubigen, sondern müssten ein dionysisches Lebensgefühl in sich selbst gründen: Es war Georges heißester und heiligster Ernst mit seinem Dichtertum, er trachtete zeitlebens nach echter Offenbarung des unanfechtbaren Ewigen und Göttlichen – nicht unter bequemer Anlehnung an irgend ein Dogma, sondern in eigenem, immer gespannteren Suchen. Es ist die ungeheure schwere Aufgabe des heutigen Menschen, dass ihm zwar das Göttliche ganz und gar nicht in den Staub gesunken ist, wohl aber alle seine äusseren Formen und Symbole ihm historisch geworden sind. Der Dichter, der heute die eigenen Kräfte reden lassen will, ohne zu epigonenhaften Vermittlungen zu greifen, muss sie ganz und gar aus sich heraus glaubhaft machen können; ohne jeden noch so edel drapierten Deus ex machina.10
Auch wenn die Nachkriegsgeneration mit George das ernste Ringen um eine göttliche Erfahrung teile, dürfe sie sich nicht einem „Georgedogma“ unterordnen, sondern müsse ihr eigenes wildes Lebensgefühl ausdrücken, das Schulze-Maizier am Beispiel von Fritz von Unruh beglaubigt.11 Mit der Linie, die Schulze-Maizier von George zu den Nachkriegsexpressionisten zieht, rechtfertigt er deren klassizistische Neuorientierung und wertet sie als ästhetische Fortentwicklung auf.
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George sie nur schwer verdauten. / Ein Weißbach ward jetzund zum offnen Strom. / Eins, zwei, drei, eins – ticktackt das Metronom“. Arthur Sakheim: Expressionismus, Futurismus, Aktivismus. Drei Vorträge, o. O. 21920, S. 10. Friedrich Schulze-Maizier: Von Stefan George zu Fritz von Unruh. Das neue Lebensgefühl in der deutschen Dichtung der Gegenwart, Manuskript 1922. DLA, A: Schulze-Maizier, 71.7432, [S. 9]. Als Beleg für eine Zukunftshoffnung zitiert Schulze-Maizier im Manuskript von 1922 die prophetische Rede der „Mutter“ in Unruhs Geschlecht: „Es naht der Tag, voll Lachens steigt er auf, da wir von der Erinnrung harter Last, / die uns in unsres Ursprungs Dämmer zwingt, / befreit sind, und wie Adler hoch im Flug / der Qualgebirge Gipfel selig streifen!“ (Fritz von Unruh: Ein Geschlecht. In: F. v. U.: Sämtliche Werke, Bd. 3: Dramen II. Hg. von Hanns Martin Elster, Berlin 1973, S. 7–49, hier 46). Vgl. dazu Alwin Kronacher: Fritz von Unruh. In: Monatshefte 37 (1945), S. 555–561, hier 557.
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4. Georges Anteil an der ästhetischen Neuorientierung
4.1. Expressionistischer Dichterkult: Reinhard Goering, Heinar Schilling, Franz und Fritz von Unruh, August Hermann Zeiz Zu den dauerhaft strikten expressionistischen George-Verehrern zählt vor allem Reinhard Goering. Seine Verehrung resultiert wohl aus seiner Freundschaft mit Henry Benrath (d. i. Albert H. Rausch), der sich seit 1905 („Jahr der Berufung“) zu George ‚bekannte‘.12 Während Rausch sich vom Expressionismus distanzierte, blieb Goering auch als literarischer Avantgardist ungebrochener George-Verehrer. Bereits in seinem frühen Roman Jung Schuk (1913) erhofft sich der Titelheld, der an „weltanschaulicher Zerrüttung“ leidet, Halt von einer „Meister“ genannten Figur, die unverkennbar Stefan George nachgebildet ist.13 In seiner Tragödie Seeschlacht (1917/18) suchte Goering, der George „abgöttisch“ verehrte, dem anonymen Tod im modernen Krieg einen Sinn abzugewinnen.14 Mit dem „einen“, an dessen Abschied sich der fünfte Matrose erinnert, ist wiederum, ohne namentlich genannt zu sein, gewiss George gemeint: Die Freundschaft, die George bedichtete und im Kreis verwirklichte, wird in der Seeschlacht zum metaphysischen Lebensinhalt, zum Gegenkonzept gegen den sinnlosen Krieg verklärt.15 Noch im Jahr 1930 huldigte Goering seinem Leitstern mit einem Gedicht an stefan george. Zwei spiegelsymmetrisch gereimte Langversstrophen legen den „fährlich“-dichterischen Werdegang des lyrischen Ichs bis zur epochalen Begegnung mit dem als „lächelnder bezwinger“ antonomastisch
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Vgl. dazu Wilhelm Hans Braun: Reinhard Goering, Henry Benrath, Stefan George. Ein Nachtrag. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 16 (1972), S. 576–609, bes. 476. Goering lernte über Benrath auch dessen Dichterfreund Otto Damm, ebenfalls ein GeorgeVerehrer, kennen (ebd.). Vgl. Frank Pommer: Variationen über das Scheitern des Menschen. Reinhard Goerings Werk und Leben, Bern 1996, S. 104–109 („Der Meister in Jung Schuk: Eine George-Figur“). Vgl. Brita Steinwendtner: Reinhard Goerings Beziehungen zu Stefan George. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 16 (1972), S. 576–609; ergänzend und korrigierend, auf der Grundlage des Briefwechsels zwischen Benrath und Goering, dazu Wilhelm Hans Braun: Reinhard Goering, Henry Benrath, Stefan George, Robert Chapin Davis: Final Mutiny: Reinhard Goering, His Life an Art, New York usw. 1987, bes. S. 85–93, und Pommer: Variationen, S. 46–50 (zu Goerings George-Essays). Die Forschung zweifelt, ob es zu einem Treffen Goerings mit George in Berlin kam (vgl. Davis: Final Mutiny, S. 93), möglicher weise ist Goering aber dank Gundolfs Vermittlung im Sommer 1916 ‚mehrmals‘ Stefan George in Klosters begegnet; vgl. dazu Janis Little Solomon: Die Kriegsdramen Reinhard Goerings, Bern 1985, S. 32–36 („Kleiner Exkurs über Goerings Beziehungen zu Gundolf und George“). Vgl. Reinhard Goering: Seeschlacht. Tragödie [1918]. In: Zeit und Theater 1913–1925, Bd. 1. Hg. von Günther Rühle, Frankfurt/M. u. a. 1973, S. 341–408, hier 374 f. Vgl. dazu Steinwendtner: Goerings Beziehungen zu George, S. 592–598; Solomon: Die Kriegsdramen Reinhard Goerings, S. 32–36.
4.1. Expressionistischer Dichterkult
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verbrämten „ER“ dar. Die durch Anfangs- und Endreim doppelt gebundene Schlussstrophe vergottet in einem doppelten Dank für Kreis („runde“) und poetisches Gewicht („pfunde“) George als Stifter göttlicher Offenbarung wie Bezwinger einer mittelbaren Vaterwelt: dank deiner runde! du schürztest losen äther auf zur gottesgabe mannah! dank deinem pfunde du stürztest grosser väter tauben tod mit stählernem hosiannah!16
Ein großer Bewunderer Georges wurde mit dem Ende des Ersten Weltkriegs auch Friedrich Franz von Unruh.17 Seine „entscheidungsvolle Begegnung […] mit der Dichtung Stefan Georges“ verdankt er „[s]einem Freund Walter E[lze]“. Unruh erkannte in Georges Gedicht Der Krieg, dessen Lektüre ihn „im letzten oder vorletzten Kriegsjahr […] tief bewegt[e]“, „ein erschütterndes Sehertum“.18 Die Tagebucheinträge aus den Jahren 1920/21 bezeugen den tiefen Eindruck, den George auf ihn machte; dennoch ist Unruhs Verehrung für George von Anfang an eine gewisse Reserve inhärent: Als ihm Elze „ein Bild von George“ zeigt, registriert er „tiefste Vergeistigung“, bemängelt zugleich aber in der „Unterlippe ein Zug, der mir sehr mißfällt, vielleicht Schuld der Reproduktion“.19 Sein „Quellenstudium: George“ bezeichnet Unruh als „kein leichtes Eindringen, sondern mühsames Erkämpfen“.20 Um sich von dem weihevollen Hersagen der George-Jünger abzusetzen, das für ihn „mit einer Unehrlichkeit verknüpft“ ist, liest er seiner Braut Doris von der Esch den „‚Maximin‘-Zyklus aus dem Siebenten Ring vor“, allerdings „nicht im George-Ton“.21 Von seiner ambivalenten Haltung zu George zeugt auch Unruhs Tagebucheintrag vom 29. Januar 1921, in dem er „grundlegende Irrtümer“ Georges bemängelt und diesem vorhält, „bei gewaltigem Geschehen auf dem Berge“ zu sitzen.22 Die Metapher bezieht sich auf Georges Selbststilisierung zum prophetischen „Seher“ und „Siedler auf 16 17
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Reinhard Goering an Stefan George [datiert 13.12.1930]. In: R. G. und Frank Wohlfahrt: Prosa „Geschenke“, Ms. DLA. Das Deutsche Seminar der Universität Freiburg verwahrt zwei ‚Georgica‘ aus dem Besitz Friedrich Franz von Unruhs; beide autographe Besitzeinträge datieren aus dem Jahr 1921: Conrad Wandrey: Stefan George, Straßburg 1912, und Kuno Zwymann [d. i. Heinrich Goesch und Hermann Kantorowicz]: Das Georgesche Gedicht, Berlin 1902. Friedrich Franz von Unruh: Werke, Bd. 4: Autobiographische Schiften. Hg. von Leander Hotaki, Freiburg 2007, S. 215 f. Friedrich Franz von Unruh: Eintrag vom 5.9.1920. In: F. F. v. U.: Werke, Bd. 6: Tagebücher 1920–1986 (Auswahl), Aphorismen, Biographische Porträts, Die unerhörte Begebenheit. Hg. von Leander Hotaki, Freiburg 2007, S. 7 f., hier 7. Friedrich Franz von Unruh: Eintrag vom 11.2.1921. In: Werke, Bd. 6, S. 12. Friedrich Franz von Unruh: Eintrag vom 25.10.1922. In: Werke, Bd. 6, S. 26. Friedrich Franz von Unruh: Eintrag vom 29.1.1921. In: Werke, Bd. 6, S. 10.
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4. Georges Anteil an der ästhetischen Neuorientierung
dem berg“ in dem Großgedicht Der Krieg.23 Denn der Preis des panoramatischen Blicks sei Georges Distanz zum geschichtlichen Geschehen, die ihm Unruh als Schwäche ankreidet: „Gewiß ist von oben der Überblick klarer – aber es gibt eben Revolutionen, in denen ich handelnd und leidend mitten darin stehen muß, um sie zu erleben“.24 Die ästhetische wie ethische Dissonanz zu dem bewunderten Vorbild spitzt Unruh zu einer generationellen Differenz der Kriegserfahrung zu: „Während George den Krieg vom Berge sah, haben wir ihn erlebt“.25 Sein Bruder Fritz von Unruh hat seine Dissonanz zu George ebenfalls dichterisch verarbeitet. In seinem Drama Stürme (1923) tritt sogar eine Person namens ‚Stefan‘ auf, die unverkennbar Stefan George nachgebildet ist. Der Protagonist Prinz Friedrich kündigt jegliche Bindung auf und verlässt seine Frau Helene zugunsten von Irene, der Geliebten seines Freundes Stefan. Nachdem seine Absage an die Tradition mit Irenes Freitod endet, verzichtet Friedrich auf seine eigenen Herrschaftsansprüche und setzt stattdessen die Leidtragenden seines Handelns, Helene und Stefan, ein. In Stefans unerschütterlicher Freundschaft wird das Ideal einer mannmännlichen Freundschaft idealisiert, das Unruh dem George-Kreis abgeborgt hat: Mein blonder Bruder … tritt hinaus, mit mir! Apollon faßt durch mich dich bei der Schulter. Du Baldur fühl den heiligen Griechenkuß … Die Mispel Lokis kann uns nicht verwunden, Wenn Sein und Werden endlich ihren Bund In unsrer Freundschaft schlossen …26
Durzak hat erkannt, dass Unruhs Verklärung des Freundesbundes in einer klassisch-germanischen Synthese ein Echo auf die politische Prophetie am Ende von Georges Gedicht Der Krieg darstellt: […] . . Apollo lehnt geheim An Baldur: ‚Eine weile währt noch nacht · Doch diesmal kommt von Osten nicht das licht.‘ Der kampf entschied sich schon auf sternen: Sieger Bleibt wer das schutzbild birgt in seinen marken Und Herr der zukunft wer sich wandeln kann.27
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SW IX, 21–26. Friedrich Franz von Unruh: Eintrag vom 29.1.1921. In: Werke, Bd. 6, S. 10. Friedrich Franz von Unruh: Eintrag vom 29.1.1921. In: Werke, Bd. 6, S. 10. Fritz von Unruh: Stürme. Ein Schauspiel, München 1922, S. 218; wieder in: Fritz von Unruh: Sämtliche Werke, Bd. 4: Dramen III. Hg. von Dieter Kasang und Hanns Martin Elster, Berlin 1975, S. 145–313, hier 296. SW IX, 26.
4.1. Expressionistischer Dichterkult
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Im Vergleich mit dem Prätext werden die Differenz und Umdeutung kenntlich: Denn Unruh korrigiert Georges Prophetie, indem er den metaphysischen Synkretismus ins Diesseits versetzt und die Zukunftsvision in einem Freundschaftsbund scheinbarer Gegensätze einlöst.28 Viele jüngere Expressionisten sahen sich nach dem Versailler Vertrag und im Nachkriegsdeutschland um ihre vormaligen Ideale betrogen und die resignative Prophetie Georges bestätigt. Untätigkeit warf ihm allerdings der junge und strikt sozialistisch orientierte Expressionist August Hermann Zeiz vor, freilich nur mittelbar, in Form eines Dialoggedichts Dichter und Eroberer, das er Wolfskehl brieflich übermittelte. Darin legt Zeiz dem „D[ichter]“ die sarkastische Schlussstrophe in den Mund: Willig wollen wir uns Euch ergeben Willig öffnen unsrer blute quellen Wir sind hülle. Ihr [scil. Eroberer] seid unser leben Wollet uns mit Eurem licht erhellen.29
Seine Überzeugung, dass die in Nova Apocalypsis angekündigte Endzeit gekommen und nun der Moment zu handeln sei, rechtfertigt Zeiz mit Zitaten Georges. Die angebliche Dringlichkeit beglaubigt er mit der fünften Strophe von Georges Die Hüter des Vorhofs30: Die tiefste tiefe scheint jetzt erreicht, erloschen ist alles Licht. Der Fliegengott ist gekommen. Staub ist alles. Sollte es nun nicht Zeit sein die Tore zu öffnen und als Sprecher hervorzutreten? Ihr bringt der aufgeklafften erde sühne der gier und wahn zerwühlten die geweide.
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In Anbetracht dieser George-Korrektur überrascht es nicht so sehr, dass Friedrich Franz von Unruh seinen Bruder Fritz – bis zu dem Bruch mit ihm um 1920 – zu einem Antipoden Georges stilisierte: „Ich bin vielleicht der einzige, der heute sieht, was George für Fritz bedeutet; daß sein geistiges Reich die einzige Widerwelt ist, die er zu bekämpfen haben wird. Dazu müssen seine Anhänger ebenso innerlich gewandelt sein wie die Georges“ (Tage bucheintrag vom 5.6.1921 zit. nach Sarah Reuß: Friedrich Franz von Unruh (1893–1986). Eine biographische Skizze. In: Friedrich Franz von Unruh: Werke, Bd. 5: Weltanschauliche Schriften, Teilband 1. Hg. von Leander Hotaki, Freiburg 2007, S. 9–195, hier 48. August Hermann Zeiz: Dichter und Eroberer. Anlage zu einem Brief an Karl Wolfskehl, 25.7.1920. DLA, A: Wolfskehl 95.54.973/2; wieder in: Silke Engel: August Hermann Zeiz (1893–1964): Dichter, Gerichtsreporter, Bühnenautor, Literaturagent. Ästhetische Wandlungen und politischer Widerstand im Literaturbetrieb der Moderne, Würzburg 2017, S. 90. Ebd. ist auch die Zitatkombination erläutert. In der Einleitungspassage zu dem Verszitat paraphrasiert Zeiz aus Nova Apocalypsis. In: BlfdK 12 (1919), S. 32 [ohne Verfasserangabe], den Anfang („Endchrist endchrist du wurdest zum spott / Statt deiner kommt der Fliegengott“) und den Schluss („Hinweg mit seelen mit höhen und himmeln / Wir brauchen nur staub: wir die kriechen und wimmeln“). SW VI/VII, 54 f., hier 54.
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4. Georges Anteil an der ästhetischen Neuorientierung
Ihr macht, daß sie sich schließe, wieder grüne … und nackter tanz beginnt auf nackter heide. Ist es jetzt nicht Zeit dieses Wort des Meisters zu erfüllen?31
Der Brief ist ein Beleg, wie sehr manche Repräsentanten der expressionistischen Dichtergeneration vergeblich auf ein öffentliches Wort Georges hofften und warteten. So kritisiert auch Zeiz in seiner Rezension der Folge 11/12 der Blätter für die Kunst in der Frankfurter Zeitung32 die Abgeschlossenheit des George-Kreises, durch den „ein hoher Wertfaktor“ dem Volk „entzogen“. Daher versteht er „die Gegner seiner Haltung“, die „nur mit Recht die Härte des Stolzen tadeln, der seine Muskeln ruhen läßt, nur um sein Gewand nicht beschmutzen zu lassen“: „Im Fruchtgarten deutscher Dichtung steht ein kräftiger Baum, mit einem Gitter umschlossen, als sei es denen, die in diesem Garten wandeln, nur erlaubt, Wurmstichiges und Krankes zu essen“.33 Vor diesem Hintergrund wirkt seine Prophezeiung, Georges Stimme werde nicht die entwurzelten einfachen Soldaten der Gegenwart, sondern erst die Nachgeborenen stärken, wie ein zynischer Vorwurf der verlorenen Generation, für die Zeiz im einvernehmlichen Wir spricht, an George: […] Späteren als uns [wird] es vielleicht vergönnt sein […], die Schlüssel zu diesen Reichtümern zu finden. Wir sind ja nur Soldaten. Uns verhallte ungehört die Stimme des einzigen Warners, der einst rief: Ihr baut verbrechende an maaß und grenze: „Was hoch ist, kann auch höher!“ doch kein fund Kein stütz und flick mehr dient. . . es wankt der bau. – und unsere Augen werden nun sterben, unerlöst von den Schreckbildern der Trümmer und der Vernichtung. Aber nach uns werden welche kommen, denen das Wort des Dichters gilt: Dann wieder schaut er aus, wo sich ihm weise Ein fester stern – dein stern – zu stetem preise Und wo ein ruhen sei im allgekreise.34
Zu den unbedingten George-Verehrern des Nachkriegsexpressionismus zählt Heinar Schilling (1894–1955), Mitbegründer der Expressionistischen Arbeitsgemeinschaft Dresden und einer der produktivsten Lyriker des expressionistischen Jahrzehnts, in dem er mehr als zwanzig Gedichtbände pu-
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August Hermann Zeiz an Karl Wolfskehl, 23.5.1920. DLA, A: Wolfskehl 95.54.973/3; vgl. dazu Engel: August Hermann Zeiz (1893–1964), S. 88–100, bes. 97. August Hermann Zeiz: [Rez.] Blätter für die Kunst [Folge 11/12]. In: Frankfurter Zeitung, Nr. 335, 8.5.1920, S. 1. Zeiz: Rezension der BlfdK, S. 1. Zeiz: Rezension der BlfdK, S. 1.
4.1. Expressionistischer Dichterkult
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blizierte. Der experimentelle Sonettismus und die hochtönende, stark poetologische Prägung des Frühwerks zeigen eine gewisse Affinität zu Georges Lyrik,35 weit weniger gilt dies für die erst resignative, dann sozialistische Tendenz seiner Kriegsgedichte, ganz zu schweigen von Schillings späterer gemanisierenden und nationalsozialistischen Schaffensphase. Seine große Bedeutung für den Dresdner Expressionismus steht in eklatantem Widerspruch zur mangelhaften Erforschung seines Werks,36 und unbemerkt blieb bisher Schillings ästhetische Orientierung an George. Sie zeigt sich motivisch und sprachlich stilistisch etwa in dem dreistrophigen Gedicht Da trat der Seraph …: Da trat der Seraph … Du Sehnsucht Güte, Mondstrahl trägst du mich, – Ihr Hände, Sonnenabend, kamt geflogen. Durch Euch war ich im Leide königlich ein Einziger, den eignes Herz gebogen und der im Sturm nun steht, zerzauster Stamm. Nun, Wille, leuchte auf! Nun trage du dich selbst, dein Opfer, ein entflammter Mann zur fremden Sache! Greife du die Ruh, die aus der Sehnsucht aufstieg und, ein Leuchtturm, dir Menschen herscheint aus erwähltem Land, und halte fest den ungeheuren Brand des Mensch-Seins, Mensch! Hart, Wille, ging ich hin in jene Hölle. Da trat der Seraph steil vor meine Enge, fanfaren tönte Bruderruf mir zu und mir im Herz erwachten die Gesänge des Ewigen, das lichtumsprüht uns naht. Aus tiefster Tiefe hebt der Mensch die Tat. Marienburg, August 1918.37
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Exemplarisch genannt seien die Sonette des Schweigens, ein Zyklus, der die Sonett-Form erst umspielt, bevor er sie einhält, sowie die Abteilung Die dichterische Sendung in seinen Versuchen. Tilmann Wesolowski: Der Expressionist und Nationalsozialist Heinrich (Heinar) Schilling. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 57 (2009), S. 702–722. Heinar Schilling: Da trat der Seraph . . . . In: H. S.: Frühe Gedichte, Bd. 3, Teil 1: Du Bruder Mensch (Opus 37). Gedichte 1918, Dresden 1919, S. 28; wieder in: H. S.: Versuche (Opus 1–40), Bd. 1: Gedichte. Erster bis dritter Teil 1913–1919, Berlin und Dresden 1920, S. 236.
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4. Georges Anteil an der ästhetischen Neuorientierung
In Schillings Gedicht ermahnt sich ein lyrisches Ich zu Güte und Menschenfreundschaft im Leid. Das Datum „Marienburg, August 1918“ erläutert das unbedingte Festhalten an einer menschenverbrüdernden Idee. Denn mit der Ordensburg, die eine Zeitlang sogar Hauptquartier des Oberkommandos der VIII. Armee unter Hindenburg und Ludendorff war, wird ein symbolisch geschichtsträchtiger und – nach dem deutsch-russischen Friedensabkommen von Brest-Litowsk – nationaler Erinnerungsort des Ersten Weltkriegs aufgerufen. Dass gerade hier Schilling seine transnationale Konversion inszeniert, unterstreicht die verbrüdernde, pazifistische Tendenz des Gedichts: Die ersten beiden Strophen resümieren die Wandlung des Soldaten, der als „zerzauster Stamm“ „im Sturm nun steht“ und sich der „fremden Sache“ annimmt. Licht- und Feuermetaphorik illustrieren die Konversion des „entflammten Mannes“, der in der Ruhe, die als „Leuchtturm“ verbildlicht ist, sich zum pathetischen Enthusiasmus, zum „ungeheuren Brand / des Mensch-Seins“ mahnt: Im vormaligen Feind sieht er nun den Menschenbruder („dir Menschen herscheint aus erwähltem Land“), durch den er selbst wieder zum „Menschen“ wird. Die Schlussstrophe rekapituliert die Konversion im Stile des Einleitungsgedichts von Stefan Georges Vorspiel zum Teppich des Lebens. Auch hier wird eine Konversion geschildert, von der lebensverneinenden Dekadenz zum „schönen leben“, die in den nachfolgenden Gedichten in Kontrastmetaphern ausgedeutet wird. Schilling alludiert in der dritten Strophe die Eingangsstrophe von Georges Vorspiel: Ich forschte bleichen eifers nach dem horte Nach strofen drinnen tiefste kümmerniss Und dinge rollten dumpf und ungewiss – Da trat ein nackter engel durch die pforte: (SW V, 12)
Inhaltlich imitiert Schilling Georges Konversionsstrophe, indem er die epochale Wandlung mit derselben temporalen Wendung einsetzen lässt („Da trat“) und auch einer Engelserscheinung zuschreibt („Seraph“ vs. „Engel“), aber durch noch stärkere Kontrastbilder („jene Hölle“ [für den Krieg], „meine Enge“) intensiviert. Auch die metrische Abbildung der Konversion, die George durch Assonanz und Anaklasis markiert, steigert Schilling insofern, als seine ebenfalls jambischen Verse 2 und 3 assonantisch einsetzen und beide Versanfänge durch schwebende Betonungen hervorgehoben sind. Während bei George die Konversion in einer stillen intimen Annäherung vor sich geht, begleiten Schillings Verbrüderungsszene „fanfaren“ und „Gesänge / Des Ewigen“). So wird Georges Absage an die Dekadenz und Hinwendung zum „schönen Leben“ hier enthusiastisch umgemünzt zu einer umfassenden Menschheitsverbrüderung, in der das Ich erst im Wir („uns“), dann im „Menschen“ aufgeht.
4.1. Expressionistischer Dichterkult
167
Dass dieser intertextuelle Dialog mit George keineswegs nebensächlich ist, sondern Schillings spätexpressionistischem Werk als ästhetische Signatur inhärent ist, zeigt sein bisher ganz unbeachtetes Dichtergedicht: S. G. O daß wir nimmer jenes tags vergessen da wir im dunkel klängen nachgeflogen heut ist zerbrochnen worts die zeit vermessen Wie liebten wir die kühn geschwungenen bogen des bunten glases dunkel unserer reime das wellenspiel der windgetriebnen wogen Vergib daß wir im strom der zeit gezogen o meister – in uns warten doch die keime und sprießen einst wenn uns der sturm betrogen. Bingen, August 191738
Schillings Hommage an Stefan George führt zwar nur das Monogramm S. G. als Titel, doch lässt sich der Adressat leicht erraten. Dafür sorgt zum einen das Datum „Bingen, August 1917“, zum andern ist die Form den Terzinen-Strophen Georges in den Hymnen39 und Pilgerfahrten40 nachgebildet, und zum dritten huldigt die durchgängige Kleinschreibung und fast ganz fehlende Interpunktion, ebenfalls Kennzeichen von Georges Dichtung, dem apostrophierten „meister“. In Anlehnung an George entfaltet Schilling die Differenz der eigenen Dichtung. Inhaltlich schwankt daher auch dieses Dichtergedicht zwischen Hommage und Selbstbestätigung. Ein lyrisches Wir gedenkt der Faszination von Georges Ästhetizismus, welcher die ersten poetischen Versuche bestimmte. Die George-Imitatio wird als Reminiszenz in der zweiten Strophe metaphorisch erläutert und im sechsten Vers, der Georges alliterierende Manier nachahmt, sogar eingelöst.41 Das Eingeständ38 39 40 41
Heinar Schilling: S. G. In: H. S.: Erste Gedichte, Dresden 1918, S. 73. Dort mit Datum: „Vallendar. August 1917.“ Wieder in: Schrei in die Welt. Expressionismus in Dresden. Hg. von Peter Ludewig, Zürich 1990 [zuerst Berlin 1988], S. 58. Vgl. Stefan George: Im Park. In: SW II, 11. Vgl. Stefan George: „Lauschest du des feuers gesange“. In: SW II, 35. In Frage als mögliche Vorbilder aus Georges Werk kommen etwa Verse wie „Hin durch die wiesen wellen weisser lämmer“ (SW V, 41) oder „Wir wisssen tausend namen / Von wind und wolkenschub“ (SW VI/VII, 50); doch wahrscheinlicher ist die Allusion auf den Schluss des zweiten „Gebets“ an Maximin, er möge das lyrische Ich verwandeln, damit dieser werde: „Deinesgleichen in der welle / In der wolke in dem wind?“ (SW VI/VII, 107). – Heinar Schillings Gedicht Verloren kann als Antwort auf Georges bekanntestes poetologisches Gedicht Das Wort (SW IX, 107) verstanden werden:
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4. Georges Anteil an der ästhetischen Neuorientierung
nis, „im Strom der Zeit“ das vormalige ästhetische Ideal aufgegeben zu haben, wird durch die kontrastiven Zeitangaben „jenes tags“ und „heut“ markiert, steht aber in einer triadischen Struktur. So greift die Schlussstrophe das Präsens der Eingangsstrophe auf, bittet den antonomastisch umschriebenen „meister“ George um Vergebung und verspricht für die Zukunft eine Rückkehr zur reinen Kunst. Die organologische Metaphorik („keime warten und sprießen“) deutet die Gegenwart des Krieges als Übergangszeit, die es auszuharren gilt. Damit passt sich Schilling ganz der Legitimationsideologie des George-Kreises an, der das Heil in die Zukunft projizierte.
4.2. Ästhetischer Richtwert der Kriegsgeneration In der Nachkriegszeit wird die Rolle Georges für das geistige Leben neu austariert. Kritiker und Befürworter halten sich die Waage. Zahlreiche Vertreter der ästhetischen Elite, die nicht dem Expressionismus zuzurechnen sind, darunter auch frühere Weggefährten Georges, legen zeitgenössisch oder retrospektiv ihre Haltung zu George dar. So ist das Sensorium dafür, „daß beständig alles möglich ist – mit diesem Knistern wie vom Zerfall ganzer Welten, diesem hahlen Heranwehen eines ewig Morgigen …“,42 das Hugo von Hofmannsthal in seiner „Schrifttumsrede“ den „Suchenden“ attestiert, wohl eine mittelbare Hommage an George. Denn das seltene Adjektiv ‚hahl‘ in der Bedeutung von ‚rauh‘, ‚austrocknend‘ und in der Verbindung mit ‚Wind‘ findet sich in dessen Gedicht „Graue rosse muss ich schirren“ aus dem Algabal.43 Bereits zuvor, in einem bedeutenden Brief an Rudolf Pann-
Verloren – oder, ach sehnsüchtig, greifend – Verloren das Wort. Ich aber, so sehnend, so greifend Suche und suche am Fluß, – Strom der Dinge. – Eine leichte Möwenschwinge, Ein gleißender Reim – überschlagende Welle, – Eine fernscheinende Helle Weit auf dem Meer – was blieb mir? – – Was bleibt? – Was blieb? – Westerland, August 1918. 42
43
In: Heinar Schilling: Frühe Gedichte, Bd. 3, Teil 11, Berlin und Dresden 1919, S. 151. Hugo von Hofmannsthal: Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation. Rede, gehalten im Auditorium Maximum der Universität München am 10. Januar 1927. In: H. v. H.: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, Bd. [10]: Reden und Aufsätze III (1925–1929). Aufzeichnungen. Hg. von Bernd Schoeller und Ingeborg Beyer-Ahlert in Ber. mit Rudolf Hirsch, Frankfurt/M. 1980, S. 24–41, hier 32. Vgl. Roman Koprˇiva: „[…] mit […] diesem hahlen Heranwehen eines ewigen Morgigen …“.
4.2. Ästhetischer Richtwert der Kriegsgeneration
169
witz aus dem Jahre 1919, hatte Hofmannsthal seine Beziehung zu George fast historisch, und in einer eigenartigen Mischung aus Distanz und Verehrung, gewürdigt.44 Pannwitz seinerseits wahrt zwar eine gewisse Reserve gegen die Kreisschriften, verteidigt aber Georges esoterische Dichtung auch gegen „die Übergescheiten, die über George hinaus sind“, da sie „noch nicht einmal einen Hauch seines Wesens gespürt“ hätten.45 Indem er George zum Einsamen stilisiert, der „zwischen sich und seinem Volke eine Mauer errichten mußte“, erhebt Pannwitz ihn zum Maßstab der kommenden Epoche, die er davor warnt, sich „allzu weit von George […] zu entfernen“.46 Damit kommt er den Würdigungen von Kreismitgliedern wie Berthold Vallentin nahe. Vallentin blickt in einem sechsstrophigen Geburtstaggedicht Zum 12. Juli 1926 auf seine Beziehung zu George zurück, um sich zu ihm, ohne ihn namentlich zu nennen, als göttlichem Mittler zu bekennen. Er dessen ruf mich traf durch hundert jahre Zu nennen Ihn und wer er immer ist – Wenn seinen namen heut ich offenbare Du bist es der ihn trägt zu dieser frist.47
44
45 46 47
Zu einer George-Reminiszenz in Hofmannsthals Schrifttumsrede und ihrer Übersetzung. In: Österreichische Literatur ohne Grenzen. Gedenkschrift für Wendelin Schmidt-Dengler. Hg. von Attila Bombitz u. a., Wien 2009, S. 255–264. Hugo von Hofmannsthal an Rudolf Pannwitz, am 15.11.1919. In: Hubert Arbogast (Hg): Über Rudolf Borchardt, Stuttgart 1977, S. 18–23, hier 19 f.: „War George stärker als ich? Ich weiß es nicht, es ist zu viel Künstliches an ihm und er läßt zu viel aus. Jedenfalls habe ich mich seit meinem achtzehnten Jahr bis heute ganz gleichmäßig gegen ihn verhalten, äußerlich mich – nicht ihn – distancierend, denn mit der Stellung eines coadjutor sine jure succedendi die er mir pantomimisch anbot, das war mir Alles zu deutsch-phantastisch u. trotz allem in der letzten Tiefe zu bürgerlich – […] – und innerlich immer in der gleichen Ehrfurcht vor seiner Natur u. seinem Werk verharrend, und auch Liebe“. Rudolf Pannwitz: Maßstäbe und Beispiele lyrischer Synthese, IV. Stefan Georges Stern des Bundes. In: Das junge Deutschland. Monatsschrift für Literatur und Theater 2 (1919), S. 240 f., hier 240. Pannwitz: Maßstäbe und Beispiele, S. 241. Berthold Vallentin: Zum 12. Juli 1926. In: BV, S. 139. Bereits ein Jahr zuvor, am 29.11.1925, hatte Vallentin in einer lyrischen Reflexion die Begegnung mit George zu einer Epiphanie und einem Lichtmysterium verklärt, als Postfiguration von Georges Engel-Erscheinung im Vorspiel zum Teppich des Lebens (ebd., S. 12): So viel der tage kommen sind und gangen, So tief in schutt und schlacke lag das leben: Kein tag der nicht dem deinen hingegeben, Der nicht von deinem licht sein licht empfangen. So wie ich bin, so hast du mich genommen Und so in mich dein leuchtend wort getrieben Und mächtig ist es über mir geblieben In jeder stunde noch so sehr beklommen.
170
4. Georges Anteil an der ästhetischen Neuorientierung
Die große Bedeutung Georges für die dichtende Kriegs- und Nachkriegsgeneration bezeugen auch mehrere Autobiographien. So berichtet Hans Carossa in seinem „Lebensgedenkbuch“ Führung und Geleit (1933), wie ihn gerade während des Ersten Weltkriegs die buchstäblich mittelbare Begegnung mit Stefan George prägte. Er begegnete George zwar nicht persönlich, war aber mit Ernst Bertram befreundet und im Hause Bertram Ohrenzeuge eines Gesprächs zwischen seinem Freund Ernst Glöckner und George: „Ohne zu horchen, hörte ich weiter, und wenn mich auch das meiste nicht erreichte, so fühlte ich doch die Sinnesart des Ganzen, die mir vom ‚Stern des Bundes‘ vertraut war“.48 Carossa würdigt ausführlich und prägnant die Rolle, die George und Hölderlin für die deutsche Jugend im Ersten Weltkrieg spielten: „[…] inmitten einer schlaffen, verschwommenen Epoche […] entfaltete der fast vergessene Stern Hölderlin sein übermächtiges Licht. Stefan George, Gundolf, Norbert von Hellingrath und Wilhelm Michel hatten ihn neu entdeckt, und vor allem George schuf die Atmosphäre, die seine schönen Strahlen wieder durchließ“.49 Auch wenn Carossa erwähnt, er sei „nicht mehr jung genug“ gewesen, als er „Georges Dichtung zu erfassen begann“, wurde er durch ihn in seinem Schaffen bestärkt, „seit jenem Tage, da ich, durch einen Hinweis Hofmannsthals bewogen, den ‚Teppich des Lebens‘ zu lesen begonnen; sein Ton klang längst in meinen Vers herein“, wie er sich auch durch die knappen Leitsätze in den Blättern für die Kunst „besser unterwiesen [fand] als durch die längsten Abhandlungen anderer“.50 Aus dem Jahr 1917 datiert ein nachgelassenes Dichtergedicht Carossas, das, ohne ihn namentlich zu nennen, Hofmannsthals George-Gedicht Der Prophet so sehr ähnelt, dass an dem Bezug kein Zweifel besteht: Der Eingang des achtstrophigen Gedichts deutet die Unnahbarkeit des Dichters an, der nicht nur lokal in eine unnahbare Höhe gehoben wird, sondern auch antonomastisch ins Übermenschliche entrückt wird: Jenen Berg mit weißen Zinnen, meiden wir in weitem Kreise Denn der Zauberer wohnt darinnen Jener Seher, jener Weise.51 (V. 1–4)
48 49 50 51
Hans Carossa: Führung und Geleit. Ein Lebensgedenkbuch, Leipzig 1933, S. 85. Carossa: Führung und Geleit, S. 85. Carossa: Führung und Geleit, S. 87 f. Hans Carossa: „Jenen Berg mit weißen Zinnen“. In: H. C.: Gedichte. Die Veröffentlichungen zu Lebzeiten und Gedichte aus dem Nachlass. Hg. von Eva Kampmann-Carossa, Leipzig 1995, S. 140 f. und 314 f. [Kommentar].
4.2. Ästhetischer Richtwert der Kriegsgeneration
171
Die Distanz zum lyrischen „wir“ wird in den Folgestrophen zu einer Doppelbindung verstärkt, die sich durch paradoxe Verehrung und Angst um die eigene Identität auszeichnet: Aber wer von ihm gegessen Muß ihm folgen, muß ihm lauschen Muß sich selber ganz vergessen Also würde er uns strafen. (V. 13–16)
Die Schlussstrophe sieht in einer dauerhaften Distanz die einzige Überlebenslösung: Laßt uns unser Glück verhehlen Vor dem heilig-finstern (harten) Mann! Töten will er alle Seelen, die er nicht verführen kann. (V. 29–32)52
Diese ambivalente Haltung zu George kennzeichnet überhaupt die poetische Wirkung Georges zwischen 1917 und 1927. Verehrung und Distanzierung lagen nahe beieinander. Die Desillusion durch den Ersten Weltkrieg sowie den Versailler Vertrag und das nüchterne Misstrauen gegen jegliches Pathos begünstigte die parodistische Entweihung Georges. So häufen sich vor allem am Ende des Ersten Weltkriegs die Parodien. Zwar relativierte Kurt Tucholsky die Parodien, die Hans Heinrich von Twardowski in seinem Rasenden Pegasus George widmete, als kinderleichte Stilübung: „Stefan George kann schließlich jedes kleine Kind“,53 doch persifliert Die Leyerfeier recht überzeugend das erste Zeitgedicht im Siebenten Ring.54 Darin legt George die scheinbare Veränderung seines Dichtens als wahre Identität dar („Ihr sehet wechsel · doch ich tat das gleiche“55), indem er sie mit einem Austausch der Instrumente vergleicht. So habe er erst als „pfeifer“ die Verehrer „mit schmeichelnden verliebten tönen“ „zum wunderberge“ gelockt, bevor er nun zur „fanfare greift“. Der Titel der Parodie spielt auf die Wechsel der Instrumente an, decouvriert aber in dem Binnenreim und dem Nomen ‚Leier‘, das neben dem Instrument auch ‚eintönige Wiederholung‘ bedeutet, Georges repetitive Manier: 52 53 54
55
Carossa: „Jenen Berg mit weißen Zinnen“, S. 141. Peter Panter [d. i. Kurt Tucholsky]: Der rasende Twardowski. In: Die Weltbühne 16 (1920), Nr. 5, S. 158. Im Erstdruck, der pseudonym erschien, ist die Parodie „Auf Stefan George“ allerdings noch titellos: Paul Bernhardt (d. i. Hans Heinrich von Twardowski): Der rasende Pegasus [1]. Mit einem Vorwort von Mynona (d. i. Salomo Friedlaender), Berlin 1918, S. 9–11; wieder in: Hans Heinrich von Twardowski: Nach Stefan George. Die Leyerfeier. In: H. H. v. T.: Der rasende Pegasus [2], Berlin 21919 (Die jüngste Nacht, 1), S. 19. SW VI/VII, 6 f., hier 7.
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4. Georges Anteil an der ästhetischen Neuorientierung
Wir schreiten zum hehren altare Zu würdiger feier behuf Uns lockte des göttlichen ruf Mit silberner tod-traum fanfare. Wir schmiegen wie espen uns dicht Daß keiner die zwiesprach entzweie Daß keiner die stunde entweihe Die stunde von leyer und licht. Wir wollen die stirnen bekränzen Als freunde auf blumigem hang Dort tönt unser froher gesang Dort klingt es von rhythmischen tänzen.56
Twardowski folgt George in der Graphie, dem Interpunktionsverzicht und der metrischen Vorliebe für den jambischen Fünfheber, vertauscht aber die Perspektive, indem er statt des lyrischen Ichs ein lyrisches Wir sprechen lässt. Invertiert ist auch der Redegestus: Statt eines selbstbewussten Dichters folgt eine Gruppe ängstlich der „Fanfare“ des Meisters, die in Anspielung auf die Lieder von Traum und Tod zu einem vieldeutigen Instrument und Kompositum amplifiziert wird: „tod-traum fanfare“. In charakteristischen Mitteln wie dem hohen Stil, der erlesenen Lexik, den anaphorischen Verseingängen und paronomastischen Wendungen („zwiesprach entzweie“) ahmt Twardowski den Personalstil erkennbar nach, komisiert aber aus der Perspektive der ängstlichen Verehrer („wir schmiegen wie espen uns dicht“) die ästhetische Unselbstständigkeit des George-Kreises. Eine zweite Parodie „nach Stefan George“ spielt nicht nur im weiblichen Suffix des Titels An Jasimin auf Maximin an; die Ordnungszahl „Das sechste“ bezieht sich auf die sechs Stationen des Binnenzyklus Auf das Leben und den Tod Maximins. Twardowskis Parodie hebt auf die homoerotische Liebe ab und sucht die Verklärung des Jünglings als Camouflage zu entlarven: „Ich nenne dich die keusche lichte linde / Die ich zu reinem bündnis mir erwähle.“57 Eine ambivalente Haltung zeigt sich auch in der gegen Kriegsende erschienenen Groteske Der neue Beruf des Lyrikers (1918) von Richard Rieß (1890–1930), in der sich ein armer Poet als Hungerkünstler auf einem Jahr-
56 57
Hans Heinrich von Twardowski: Nach Stefan George. Die Leyerfeier, S. 19. Hans Heinrich von Twardowski: Nach Stefan George. An Jasimin / Das sechste. In: H. H. v. T.: Der rasende Pegasus, 2. Aufl., S. 20, Verse 3–4. In der Erstausgabe ist die zweite George-Parodie noch titellos: Paul Bernhardt [d. i. Hans Heinrich von Twardowski]: „Daß sich dein herz dem meinen sanft vermähle“. In: Der rasende Pegasus [1], S. 11.
4.2. Ästhetischer Richtwert der Kriegsgeneration
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markt verdingt.58 Bob Bodel, so heißt der Schwabinger Dichter, bekennt am fünften Hungertag: „Ich habe während dieser Zeit nichts zu mir genommen außer Nietzsches ‚Zarathustra‘, einen Band der Schopenhauerschen ‚Parerga‘, zwei Bände moderner Balladen und den sämtlichen Werken Stefan Georges“.59 Rieß stellt die brotlose Kunst des Dichtens als Prädestination zum Hungerkünstler dar. Dass neben Schopenhauer und Nietzsche, den wichtigsten kulturkritischen Stimmen des 19. Jahrhunderts, einzig George als Dichter genannt wird, bekundet die unbedingte, elitäre ästhetische Orientierung eines Künstlers ohne Publikum. Dieses Dilemma eines kompromisslosen Künstlers illustriert in fast zynischer Weise der Schlusssatz der Erzählung: „Wir räumten daher das Feld und ließen den Hungerkünstler wieder allein mit seinem Nietzsche, Schopenhauer und Stefan George“.60 Georges Lyrik gehört auch zu den Prätexten in Robert Neumanns prominenter Sammlung Mit fremden Federn. Unter dem paronomastischen Titel Die Wunderstunde (1926) parodiert er mit ähnlichem Incipit das Eingangsgedicht des Vorspiels zum Teppich des Lebens, ändert es in ein Sonett ab und banalisiert den Inhalt. Georges lyrisches Ich, das nach einem Ausweg aus der Krise des Lebens sucht („Ich forschte bleichen eifers nach dem horte“ [SW V, 10. V. 1]), ist bei Neumann ein weltfremder Sucher nach dem Eingang „der alten parks“ („Ich forschte blinden sinnes nach der pforte“; V. 1); aus der einschneidenden Begegnung mit dem Engel wird ein absurdes Dichtermahl, in dem Formfetischismus und melancholischer Habitus komisiert werden: „dann sprach ich meine schweren anapäste / und jeder schwieg und jeder auf dem feste / war von der bürde der gedanken fahl“.61 In einem Lenz-Gedicht, ausgerechnet der Jahreszeit, die Georges Jahr der Seele ausspart, parodiert Neumann bald danach Georges interpunktionsarme, paronomastische Manier und kontrastiert den hohen Stil, durch eingestreute lyrische ‚Fremdkörper‘:
58
59 60 61
Ursula Renner: Noch mehr Hungerkünstler und eine kleine Prosa. In: Hofmannsthal-Jahrbuch 26 (2018), S. 15–24, hat auf der Suche nach möglichen Vorbildern zu Franz Kafkas Erzählung Ein Hungerkünstler (1922) zwei kurze Erzähltexte von Richard Rieß publiziert: Der Hungerkünstler. In: Prager Tagblatt 17./18.6.1916, Unterhaltungs-Beilage, und R. R.: Der neue Beruf des Lyrikers. In: Das interessante Blatt (Wien) 37 (1918), Nr. 16, S. 11 f., wieder in: Renner: Noch mehr Hungerkünstler, S. 21–24. Rieß: Der neue Beruf des Lyrikers, S. 11 (wieder in Renner: Noch mehr Hungerkünstler, S. 22). Rieß: Der neue Beruf des Lyrikers, S. 12 (wieder in Renner: Noch mehr Hungerkünstler, S. 24). Robert Neumann: Die Wunderstunde (Meisterperlen deutscher Literatur, IX). In: Die Jugend 31 (1926), Nr. 6, S. 109–111, hier 111; wieder in: R. N.: Mit fremden Federn. Parodien, Stuttgart 1927, S. 31.
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4. Georges Anteil an der ästhetischen Neuorientierung
S tefan G eorge : der greise meister wird gekreist von eise ihm wühlt kein rüder frühling im gemüte von alabaster gleicht er einer tüte gefüllt mit sulz aspik und götterspeise. da lenzt kein lenz da weist ihm keine waise die müde süße einer rübenblüte im schatten ruht der kühle troglodyte des loorbeerbusches und der paradeise. verborgen daß den greisen nichts entfache stehn die zu jüngern ihm sich scheu erkiesen und zürnen tief wenn eine freche gift profanen sonnenlichts den hehren trifft und schauern denn dann muß er manchmal niesen und gähnen sehr (doch das tut nichts zur sache).62
Im Kontrast zur vitalen Jahreszeit erscheinen in Neumanns Sonett George, als „greise[r] meister“ und „greis“ abgetan, seine Manier und seine Verehrergemeinde als überlebt und lebensfern. Gerade das Nebeneinander von hohem Stil sowie erlesener Lexik mit unpoetischen Wörtern („sulz aspik und götterspeise“), Gegenständen („rübenblüte“) und Handlungen („niesen und gähnen“) decouvriert die elitäre Ästhetik als bloße Fassade. Neben den Parodiegedichten Robert Neumanns ist George Gegenstand zahlreicher weiterer karikierender und satirischer Veröffentlichungen in den Zeitschriften Simplicissimus und Jugend. 1926 imaginierte Arnold Hahn im Simplicissimus einen im Jahr 1966 stattfindenden Jubiläumsrückblick der Dichterakademie. Mit der Zukunftsvision wird der Alleinvertretungsanspruch des George-Kreises in Kunstfragen verulkt. „Im Jahre 1935“, heißt es dort, „kam die Lex Stefan George, die bestimmte, daß sich die A-Laute jedes Gedichtes zu den O-Lauten verhalten müssen wie a2b √87: 3√ab∙68.“ Dieses Gesetz habe den Vorteil, dass fortan alle „unapollinischen Elemente von der Lyrik ferngehalten wurden“. Seit George sei es nur einem Dichter 62
Robert Neumann: Stefan George: In: R. N.: Unter falscher Flagge. Ein Lesebuch der deutschen Sprache für Fortgeschrittene, Berlin, Wien und Leipzig 1932, S. 59 f. Neumann rückt die Parodie in den Kontext eines fiktiven Preisausschreibens: Der Lenz. Aus den Sitzungsprotokollen der Preußischen Dichterakademie. In: ebd., S. 57–67. George eröffnet den Zyklus der „in die engere Wahl gelangten […] Einreichungen“ zu einem „Lenz-Lyrik-Preis“, insgesamt sechs Parodien auf Frühlingsgedichte: Unter Georges Konkurrenten, Rabindranath Tagore, Theodor Kramer, Gottfried Benn, Hero von Stolzeneck und Bert Brecht, erhält letzterer „den ersten Preis“ (ebd., S. 67).
4.2. Ästhetischer Richtwert der Kriegsgeneration
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gelungen einen Vierzeiler nach diesem Muster zu dichten, „bevor er ins Irrenhaus abgeführt wurde“.63 Hans Seiffert dichtete 1927 in einer Nummer der Jugend, die das Auto zum Thema hat, Georges hohen Stil durch gesuchte Lexik und die charakteristische Kleinschreibung imitierend, eine Hommage an das Automobil: Kunstvoll gefügt verwölben sich die wände Zum ruhgelaß von streng umzirktem raume. Du hörst auf weichen pfühles silberschaume Kaum wie das horn des führers warnruf sende. Des steuers sanftes rund, wer könnt es singen, Das emsige gewirr von blankem stahle Das, gabst du ihm genügend saft zum mahle, In stolzem zweitakt hämmernd will zerspringen.64
So sehr das Kriegserlebnis viele Autoren ernüchterte, so unbeirrt hielten viele Dichter, die George aus einer gewissen Distanz verehrten, an ihrer Bewunderung für ihn fest. Dazu zählt etwa Hanns Meinke, auch wenn er unter dem Einfluss von Rudolf Pannwitz und Otto zur Linde 1904 „keine ‚Georgine‘, sondern ein ‚Charontiker‘ wurde“.65 Doch ungeachtet dessen blieb Meinkes Verehrung für George ungebrochen. Die Dichtergedichte, die er George widmete, bekunden eine Wahlverwandtschaft, die in der unzeitgemäßen Auffassung des Dichters als Seher wurzelt: Wir gehen getrennt einem ziel zu und treten Mit sängern und sehern – mit heiligen – propheten Hinein in den kranz der wie tanz der planeten Mit reigen den göttlichen thronsitz umlaubt.66
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Arnold Hahn: Dichterakademie 1966. In: Simplicissimus 31 (1926), Nr. 11, S. 147. – Eine anonyme satirisch fiktive Anekdote von 1926 mokiert sich über die Diskrepanz von Stefan Georges einfacher Herkunft und seinem Anspruch als „der lyrische Hüter des Grals“. Der Text fingiert eine Begegnung Richard Dehmels mit Stefan Georges Vater, der Weinhändler war. Als Dehmel dem mangelnden Verständnis des Vaters für das dichterische Werk des Sohnes entgegenhält, Georges Gedichte seien „für die Ewigkeit bestimmt“, erwidert der Vater in schlichter Mundart, seinen Wein kaufe er auch nur für ein Jahr (Anon.: Vater und Sohn. In: Simplicissimus 32 (1927), Nr. 17, S. 222). Hans Seiffert: Teutsches Dichter-Automobilkarussel vorgefahren in vier Gangarten. In: Die Jugend 32 (1927), Nr. 21, S. 468 f. Neben der Parodie auf George umfasst Seifferts Beitrag Texte zum Automobil im Stile von Thomas Mann, Johannes R. Becher und Hedwig Courths-Mahler. Hanns Meinke: Vorspiel zu meinen charontischen Erinnerungen, Ms., zit. nach Hanns Meinke: Ausgewählte Dichtungen. Hg. mit einem Nachwort von Helmut Röttger, Kastellaun 1977, Nachwort S. 102. H. M.: An Stefan George. In: Ausgewählte Dichtungen, S. 42 (Verse 27–30). Das Gedicht ist
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4. Georges Anteil an der ästhetischen Neuorientierung
In einer sogenannten ‚Namensrune‘, einem undatierten Akrostichon, bekennt er sich zum Schuldner Georges, dem er seine Schuld poetisch zurückerstatte: „Opfernd dir der meines strebens / Rufer richter führer war.“67 Vor allem unter den Vertretern der Jugendbewegung hielt die GeorgeVerehrung an. Zu ihren zentralen gemeinschaftsstiftenden Texten zählte das Gedicht „Wer je die flamme umschritt“ aus dem Stern des Bundes, das, zumal vertont, dem Ideal der Vergemeinschaftung entsprach.68 George war sowohl in der politisch linken wie rechten bündischen Jugend hoch in Kurs.69 Gezielt nahm auch die konservative Revolution George für sich in Anspruch. Auf ihn beruft sich etwa Edgar Julius Jung, der 1926 den Jungakademischen Klub gegründet hatte, um die Münchener Studentenschaft auf einen militanten Nationalismus und Antiparlamentarismus einzuschwören, und später politischer Berater des Vizekanzlers Franz von Papen war. So verbürgt Jung, mit einem Auszug aus dem Dichter in Zeiten der Wirren70 seine Zukunfts-
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undatiert, auch das Nachwort, das knapp die Beziehung Meinkes zu Stefan George darstellt (ebd., S. 102–104), macht dazu keine Angabe. H. M.: Stern schon meiner knabenjahre. In: Ausgewählte Dichtungen, S. 43. Der retrospektive Habitus lässt darauf schließen, dass die Namensrune relativ spät entstanden sein muss. Vgl. Barbara Stambolis: Einleitung. In: Die Jugendbewegung und ihre Wirkungen. Prägungen, Vernetzungen, gesellschaftliche Einflussnahmen. Hg. von B. S., Göttingen 2015, S. 11–23, hier 11 f. Siehe dazu Dieter Martin: „Wer je die flamme umschritt“. Stefan George am Lagerfeuer. In: Realität als Herausforderung. Literatur in ihren konkreten historischen Kontexten. Hg. von Ralf Bogner u. a., Berlin und New York 2011, S. 427–446. Zu George und der Jugendbewegung vgl. neben den Bemerkungen von Bodo Würffel: Wirkungswille und Prophetie. Studien zu Werk und Wirkung Stefan Georges, Bonn 1978, S. 51–71, die einschlägigen Studien in dem Band: Stefan George und die Jugendbewegung. Hg. von Wolfgang Braungart, Heidelberg 2018, wie bes. Michael Fischer: Der Flamme Trabant. Die Politisierung der Flammen- und Feuersymbolik von Ernst Moritz Arndt bis zu Stefan George. In: ebd., S. 125–146, der der Flammensymbolik und der Bedeutung des Gedichtes für die Jugendbewegung nachgeht. Fischer zufolge lade Georges Gedicht zu einer rituellen Aneignung ein und sei offen für verschiedene politische Lesarten. Michael Philipp: Eine geistige Heimat. Zur George-Rezeption der Bündischen Jugend. In: ebd., S. 165–183, erklärt die rege Rezeption Georges in der Jugendbewegung mit Anknüpfungspunkten für die Selbstwahrnehmung bündischer Gruppen in Georges Werk und zeigt anhand der Publikationen von Wandervogel Norddeutscher Bund, Jungmannschaft Königsbühl und Südlegion, welche weitreichende Orientierung George für die Selbstvergewisserung der Gruppen und ihres Freundschaftsideals bot. Justus H. Ulbricht: „deutschland ewig unsere liebe“. GeorgeSplitter in zerrissener Zeit. In: ebd., S. 85–109, relativiert zwar die George-Rezeption in der Jugendbewegung, erkennt aber den Zusammenhang von George-Rezeption und Widerstand an (Stauffenberg, Hans Scholl und die Südlegion unter Rudi Pallas). Justus H. Ulbricht: Jugend mit George – Alfred Kurellas Ideen von 1918. Versuch einer Kontextualisierung. In: George-Jahrbuch 9 (2013), S. 219–241, geht Alfred Kurellas Affinität zur Jugendbewegung und damit einhergehend seinem Interesse an Stefan George nach, das er später wohl eher unterschlug. Kurella, der dem linken Flügel der Freideutschen Jugend angehörte, ist nach Ulbricht nur ein Beispiel der linken, sozialistischen George-Rezeption, die bislang zu wenig erforscht sei. GA IX, 35–41, hier 39.
4.2. Ästhetischer Richtwert der Kriegsgeneration
177
vision von einem elitären Führerstaat.71 Karl Christian Müller, Repräsentant der bündischen Jugendbewegung, der unter dem Pseudonym Teut Ansolt bekannt war, stellte seinem Gedichtband Kranz des Jünglings (1929) nicht nur einen Vers Georges als Motto voran, sondern beschloss die Sammlung mit einer Hommage unter dem Titel Dem Meister.72 Sein Dichtergedicht variiert in der dritten Strophe, die dem inspirierenden Genius Georges huldigt, den poetologischen Schlussvers aus Georges Im Park: „Er hat den griffel der sich sträubt zu führen“.73 Teut Ansolt stilisiert George zum „ferge[n]“, einem Fährmann, der ihn zur Welt Hölderlins und des antiken Griechenlands übersetzen sollte.74 Er repräsentiert paradigmatisch die poetisch-politischen Propagatoren Georges, die dessen Dichtung einseitig nationalisierten und zu einem bündischen Kollektivmythos umdeuteten, so dass eine nationalsozialistische und politische Indienstnahme daran leicht anschließen konnte. Manche Gedichte, die bei Kriegsende erschienen, knüpfen unbeirrt an symbolistische Tendenzen an. Dies gilt etwa für den Dichter-Unternehmer Robert Friedländer-Prechtl. Er hatte, obschon seit 1906 körperlich schwer 71
72
73 74
Edgar J[ulius] Jung: Die Herrschaft der Minderwertigen. Ihr Zerfall und ihre Ablösung, Berlin 1927, S. 327. Jung, einer der wichtigsten Vordenker der ‚Konservativen Revolution‘, geriet als Papens Berater bei Hitler in Ungnade und wurde 1934, wohl im Zuge des Röhmputsches, ermordet. Teut Ansolt [d. i. Karl Christian Müller]: Der Kranz des Jünglings, Saarbrücken 1929. Als Motto dient der Schlussvers aus dem Gedicht „Was ist geschehn dass ich mich kaum noch kenne“ (SW VIII, 65) aus dem Stern des Bundes: „Seitdem ich ganz mich gab hab ich mich ganz“. Das kaum bekannte Widmungsgedicht (ebd., S. 60) lautet: „Dem Meister // Du öffnest meine lider dass ich schaue, / du regst das herz dass es gewaltig schlägt, / mir dringt dein ton ins ohr dass ich erwache / zum ersten reigen der ums leben dreht. // Dann folg ich jedem steg den du gewandelt, / und jedes mal des schicksals das du stelltest / beugt zum gebet mein knie, ich flehe / dass gleiche stärke meine taten stützt. // Du hältst den griffel dass ich dankbar schreibe, / du leihst den atem dass ich lobend sage, / du führst die hand dass ich die zweige winde / mit blüten meiner jugend zu dem kranz. // Das erste das gedeiht bringt man zum opfer, / dir sei mein blütenkranz und dass / ich spreche wie du sprichst, dass ich ein echo, / dass ich, ein kind, des vaters züge trage.“ Müller, ein Schüler Ernst Bertrams, hält sich in seiner poetischen Neuorientierung ganz an Stefan George. Das zeigt sich äußerlich in einem ungewöhnlichen Schriftbild und der gemäßigten Kleinschreibung, aber auch in seiner Nachahmung von Georges ‚tönendem Rhythmus‘. Vgl. Torsten Mergen: Ein Kampf für das Recht der Musen. Leben und Werk von Karl Christian Müller alias Teut Ansolt (1900–1975), Göttingen 2012, S. 128–132. Auch in der nationalsozialistischen ‚Jugendzeitschrift‘ Der große Wagen, die Müller bis 1935 herausgegeben hat, finden sich zahlreiche Motti und Zitate aus Georges Spätwerk. So ist unter einer Würdigung des von den Nationalsozialisten als Märtyrer vereinnahmten Freikorpskämpfers Albert Leo Schlageter ein längerer Auszug aus Georges Der Brand des Tempels (SW IX, 61–69) unter dem Titel Der Verräter abgedruckt (in: Der große Wagen 2 [1934], S. 11). Ergänzend siehe auch die Studie von Reinhard Pohl: Stefan George als Leitbild in Karl Christian Müllers Jungenbund ‚Trucht‘ 1929–1934. In: Stefan George und die Jugendbewegung. Hg. von Wolfgang Braungart, Stuttgart 2018, S. 185–194. SW II, 11. Vgl. Mergen: Ein Kampf für das Recht der Musen, S. 133 f.
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4. Georges Anteil an der ästhetischen Neuorientierung
behindert, seine bellizistische Gesinnung mit den Gedichten dieser Zeit (1914) unter Beweis gestellt, aber 1918 erneut symbolistische Lyrik publiziert. Sein bislang unbeachtetes Gedicht Ver sacrum ist eine Variation von Georges „Komm in den totgesagten park und schau“75: Den Frühling weihe ein! Streu Rosen aus! Die weißen Lotosblumen flicht zum Kranz, Die schlanken Hüften gürte dir zum Tanz, und mit Girlanden schmücke rings dein Haus. Von Anemonen nimm den reichen Strauß in deiner Hände Alabasterglanz, und deiner Seele Schönheit strahle ganz in der Gebärden stiller Anmut aus. Dann nimm den Opferkorb, – das Taubenpaar, – und schreite hin durchs Volk zum dunklen Hain, – die Erstlinge bring du den Göttern dar. Gieß mildes Öl und gieße süßen Wein mit Segenssprüchen aus auf dem Altar, – und weihe einen heiligen Frühling ein!76
Markiert ist der Prätext durch dieselbe Sprachhandlung, nämlich die Aufforderung an ein weibliches Du, einen Blumenkranz zu flechten; doch geht der zu einem Sonett erweiterte Posttext insofern über den Ausgangstext hinaus, als die Adressatin, wohl eine antike Tempeltänzerin oder Priesterin, für ein Weiheopfer instruiert wird, welches das Sextett ausmalt. Die Anlehnung an George bekunden neben derselben Sprachhandlung die Wiederholung des charakteristischen Imperativs „nimm“ (V. 5 und 9) und die gleichen Reimwörter „Kranz“ / „ganz“. Die entscheidende Differenz ist aber die jahreszeitliche Umwidmung des Prätexts: Eröffnet „Komm in den totgesagten park und schau“ die Herbstgedichte Nach der Lese in Georges Jahr der Seele, so weiht Prechtls Sonett-Variation den Frühling ein. Indem Prechtl Georges Sujet antikisiert und die herbstlich-resignative Sprachhandlung in eine Frühlingsfeier transformiert, schafft er zwar ein neues Gedicht, das allerdings im Jahr 1918 merkwürdig unzeitgemäß wirkt. Für eine junge Dichtergeneration bildete George gerade in der Nachkriegszeit eine wichtige Orientierungsgröße. Diese Neuorientierung vieler junger Dichter an George in den 20er Jahren ist bislang kaum erkundet und 75 76
SW IV, 12. Robert Friedländer-Prechtl: Ver sacrum. In: R. F.-P.: Gedichte. In: Der Zwinger 2 (1918), S. 138–141, hier 138.
4.3. Eugen Roth und andere junge George-Verehrer
179
kann auch hier mehr additiv als systematisch erhellt werden. Die jungen Spätexpressionisten griffen insbesondere die poetische Heilserwartung auf, die George vor allem im Stern des Bundes und danach im Neuen Reich ausgeprägt hatte, und machte sie sich zu eigen.
4.3. Eugen Roth und andere junge George-Verehrer Exemplarisch dafür seien die – teilweise textidentischen – Gedichtbände Erde der Versöhnung Stern (1921) und Der Ruf (1923) des jungen, später als ‚Ein Mensch‘-Lyriker bekannten Münchner Dichters Eugen Roth (1895–1976) angeführt, der Georges Verheißung für einen elitären Bund buchstäblich ‚erdet‘ und demokratisiert. So malt er in einem Sonett einen Einheitsrausch aus, veranlasst durch einen charismatischen Heiland, in dem sich politische und religiöse Hoffnungen verbinden. Gerade die dialektische Spannung zwischen Oktett und Sextett verdeutlicht die Komplementarität von größter Not und messianischer Erlösung: Es steht der Kommende schon auf der Schwelle. Der große Heilende den niemand kennt. Aus letzter Qual die letzte Inbrunst brennt: Dann steigt er glühend aus der Herzen Helle. Noch ist von Haß verschüttet jede Quelle Noch ist von Fremdheit Mensch von Mensch getrennt: Einst braust ein Schrei empor zum Firmament Millionen Herzen werden eine Welle: In dumpfer Marter wenn die Erde stöhnt Das Haupt in Schauer und in Schuld geneigt Vor ewigem Geiste den sie frech verhöhnt Dann naht die Stunde wo Er niedersteigt. Und ER tritt vor wann alles harrt und schweigt Und spricht das Wort das Gott und Mensch versöhnt.77 77
Eugen Roth: „Es steht der Kommende schon an der Schwelle“. In: E. R.: Erde der Versöhnung Stern. Gedichte, München 1921, S. 76; wieder in: E. R.: Der Ruf, Berlin 1923, S. 62, und in E. R.: Sämtliche Werke, Bd. 2: Gedichte, München und Wien 1977, S. 110 und 160. – Ein Sonett Roths an seine Freunde greift im Sextett Georges mystische Paradoxien aus dem Stern des Bundes („Ich bin der Eine und bin Beide“, SW VIII, 27) auf, widmet es aber im einvernehmlichen Wir auf die Freundesgruppe um: „Um unsere Stirnen kreisen Gottes Sterne / Auf unsern Schultern ruht der Erde Bau. / Wir sind die Nähe und die letzte Ferne / Wir sind Gewicht der Welt und sind die Waage / Wir sind die Schaffenden und sind die Schau / Und Gottes Acker auf dem Grund der Tage“ (E. R.: „Freunde wo ist ein Halt wenn Ihr nicht haltet?“ In: E. R.: Erde der Versöhnung Stern, S. 72; wieder in: E. R.: Sämtliche Werke, Bd. 2: Gedichte, S. 106.
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4. Georges Anteil an der ästhetischen Neuorientierung
Weitere ‚georgianisch‘-autofiktionale Sonette des Dichters lassen sich als narrativer Zyklus lesen, denn man kann die Einzelgedichte als Stationen einer desillusionierten Nachkriegsgeneration auffassen, die, elitär gestimmt, für sich einen Sinn und einen ‚Führer‘ sucht und beides bei George findet. In mehreren Sonetten klingt die Idee einer „erwählten“ Schar und eines „Meisters“ an, ohne sich allerdings auf bestimmte Gedichte Georges als Prätexte zu beziehen. Doch erinnern auch die bildliche Übersetzung der Asymmetrie in eine vertikale Distanz, die kontrastiven Analogien (Hell vs. Dunkel), die religiös grundierte Lexik und der prophetische Tenor an George. Gelegentlich finden sich stilistische Entsprechungen zum Stern des Bundes, etwa in dem Sonett „Ich bin der Rufer nur, der einsam steht“. Darin wird die Figur des einsamen Rufers zum erhabenen Repräsentanten „Auf letzten Bergen einer versunknen Zeit“ stilisiert. Er prophezeit den „wenigen Erwählten“ einen großen gesellschaftlichen Umbruch („Die Stunde reift […] Gewaltig wird sich scheiden Macht und Geist!“) und appelliert an sie im Schluss terzett, bei ihm rettendes Asyl zu suchen: Herauf zu mir! Die Tempel stehn verwaist. Den Hüter schirmt des Heiligtumes Hut: Wer rettet Euch wenn Ihr es selbst nicht tut?!78
Im Sonett mit dem sprechenden Incipit: „Schon ist des Meisters Ruf an uns ergangen“, erinnert sich das lyrische Wir an die Pflicht, als Verheißungserben des Meisters ans Werk zu gehen: Schon ist des Meisters Ruf an uns ergangen Herströmend aus der Nacht zerteiltem Blau Da brünstig flehend um Geheiß und Schau Wir bang an seinem dunklen Mund gehangen.79
Die Gewissheit, „Von neuem den uralten heiligen Bau“ anzufangen, die das lyrische Wir „Sein[em] Wille[n]“ verdankt, dürfte vom Eingang zum Stern des Bundes angeregt sein. Roths Incipit zitiert die anaphorisch verstärkten Abschiedsworte des verstirnten Maximin von seinen Verehrern: „Schon ist der schritt getan auf andre bahn / Schon ward ich was ich will. Euch bleibt beim scheiden / Die gabe die nur gibt wer ist wie ich: / Mein anhauch der euch mut und kraft belebe / Mein kuss der tief in eure seelen
78 79
Eugen Roth: Ich bin der Rufer nur der einsam steht. In: E. R.: Erde der Versöhnung Stern. Gedichte, S. 69. Wieder in: E. R.: Der Ruf, Berlin 1923, S. 37, und in: E. R.: Sämtliche Werke, Bd. 2: Gedichte, S. 103. Eugen Roth: Schon ist des Meisters Ruf an uns ergangen. In: E. R.: Der Ruf, S. 48; wieder in: Sämtliche Werke, Bd. 2: Gedichte, S. 148.
4.3. Eugen Roth und andere junge George-Verehrer
181
brenne“.80 Während George die Erfüllung der Verheißung aber offen lässt, und den daraus folgenden Habitus des bereiten Wartens von der Erfüllung entkoppelt, wird die Erfüllung Roths „Erwählten“ zuteil: „Nun ist die Nacht der Reden und Gesänge / In der wir uns versammeln um das Licht / Daß […] / Die heilige Flamme auf uns überspränge“.81 Das Schlusssonnett von Roths Zyklus Der Ruf nimmt Georges wirkungsvolles Einleitungsgedicht der Sprüche an die Toten, „Wenn einst dies geschlecht sich gereinigt von schande“, auf. Roth verstärkt noch die mitleidlose Härte dieses Gedichts („Er wird wohl sehen, wie die Vielen leiden / Jedoch sein Mitleid wird die Härte sein“) und zitiert die Metapher der ‚Reinigung‘ im Incipit Georges: „So reinigend macht er die Erde rein“. Sein Schluss variiert die Führervision Georges, ersetzt „die Hehren · die Helden“ durch ein ebenso alliterierendes Wortpaar und betont sogar noch den Gedanken eines ‚neuen Reichs‘: Er wird nicht kommen viele gut zu betten Das Glück der Menge macht die Welt zu weich. Zuerst wird er die Wesentlichen retten Die Sucher und die Säulen für sein Reich.82
Unter den noch nicht systematisch ausgewerteten George-Hommagen, die das George-Archiv verwahrt, finden sich aus der Zwischenkriegszeit mehrere Zuschriften, die für die eigenen ästhetischen Nachahmungen nach Bestätigung und Zuspruch Georges verlangen. So dient sich um 1920 ein Heinrich Hardt, Medizinstudent aus Rostock, mit einem kalligraphischen Konvolut eigener Gedichte George als liebender Fürsprecher an: Stefan George sangst preis dem grossen farbenschauer Der durch fahr das kleinod für uns wahrte
du
tausendmal war deine schickung grauer Bis man strahlenglanz durch dunst gewahrte!
Unentwegt und ehern wie nur einer Hieltest du die flamme hoch in händen Geb mir gott zu preisen solch bewenden Dass dein nam erklinge wie noch keiner!83
80 81 82 83
George: „Ihr wisst nicht wer ich bin . . nur dies vernehmt:“. In: SW VIII, 10, hier V. 10–14. Eugen Roth: Nun ist die Nacht der Reden und Gesänge. In: E. R.: Der Ruf, S. 49; wieder in: Sämtliche Werke, Bd. 2: Gedichte, S. 149. Eugen Roth: Er wird wohl sehen, wie die Vielen leiden. In: E. R.: Der Ruf, S. 64; wieder in: Sämtliche Werke, Bd. 2: Gedichte, S. 162. Heinrich Hardt: Gedichte an Stefan George, Ms. StGA, George IV, 2257. Gunilla Eschen-
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4. Georges Anteil an der ästhetischen Neuorientierung
Auch wenn ungewiss ist, ob oder gar was George dem ‚Sender‘ geantwortet hat, dürfte eine Replik wohl erfolgt sein, da sich darauf des „Senders antwort“ beziehen könnte, welche mit einer neuen versifizierten Bitte um Antwort und um ein Urteil über die Dichtungen einhergeht: D es S enders B itte : M ich
mit fug zu deinem kreis zu zählen
wär des herzens höchster jüngerstolz dem sich meine
T räume
M eister · W ollet mir I hr findet in der
was
all vermählen .
ein zeichen geben verse weben .84
Ludwig Goldscheider (1896–1973), Wiener Jude und später bedeutender Verleger, hat im August 1921 sein lyrisches Erstlingswerk Die Wiese Stefan George dediziert, da dieser ihm „das Maß aller dichterischen Dinge“ sei.85 Und diese Widmung ist insofern nicht aufgesetzt, als das programmatische Einleitungsgedicht Die Worte, ein Sonett, im abschließenden Terzett Georges Wort zitiert, aber die Beziehung von Zeichen und Bezeichnetem modifiziert: Doch alles Sprechen bringt uns in Gefahr, Weil Sinne und Erlebnis so verbrennen: Fern wird das Ding, das sich sein Wort gebar.86
Auch der Schweizer Schriftsteller Hermann Hiltbrunner (1893–1961) gehört zu den jungen Dichtern, die sich George verpflichtet fühlten. Sein Dichtergedicht An Stefan George (1923) spricht überdies im einvernehmlichen Wir für die junge Generation, die sich zu Georges Maximin-Kult bekennt: Und tasteten im Traum wir nach Erträumtem Und faßten nur Geweb aus Dunst und Nacht, Stieg Ahnung reichster Stund aus tiefstem Schauer zu höchsten Traums Gewißheit uns und Fülle: Dann zagten wir, verstummten schreckgelähmt Vor allzugroßen Schauens Glanz und Helle – Aus dunkler Ängste Schauder unbefreit:
84 85 86
bach: Imitatio im George-Kreis, Berlin und New York 2011, S. 173–180, verbucht Hardts Lyrik als einseitige „dilettantische Imitatio“. Hardt: Gedichte an Stefan George, Ms. StGA, George IV, 2250, S. 2. Eidemüller: Die nachgelassene Bibliothek des Dichters, S. 64 mit Faksimile der Widmung. Ludwig Goldscheider: Die Worte. In: L. G.: Die Wiese, Zürich, Leipzig und Wien 1921, S. 7.
4.3. Eugen Roth und andere junge George-Verehrer
183
Ward uns Erlösung nur durch Deine Gabe, Da Gott im Werk Dir Fleisch ward, und vollendet Uns groß erschien in der vollbrachten Tat.87
In zehn reimlosen, jambischen Fünfhebern beschreibt Hiltbrunner die Stufen der mystischen Erkenntnis, es könne eine Inkarnation Gottes auch in der Gegenwart geben. Der anfänglichen Enttäuschung, Geträumtes in der Wirklichkeit nicht wiederzufinden, folgt eine zaghafte, aber angstvoll lähmende Ahnung. In einer Kippfigur, die der Gedankenstrich am Ende des sechsten Verses markiert, erfolgt der Umschlag: Die erlösende Gewissheit, dass „Gott im Werk Dir Fleisch ward“, dessen Wahrheit und Vollendung als „vollbrachte Tat“ ebenso dadurch verbürgt wird. Die Konversion von Suchenden zu Gläubigen signalisiert neben der Du-Apostrophe auch der Umstand, dass das Sprecher-Kollektiv nun nicht mehr als Subjekt (Wir), sondern nur mehr als Objekt („uns“) vorkommt. Dass sich sogar die experimentellen Klangdichter in der Tradition der abstrakten Lyrik auf George beriefen, zeigt das Gedicht Klang des österreichischen Schriftstellers Georg Kulka (1897–1929): Klang Daß du schön bist Bannt mich bis zum tod. Daß du herr bist Führt in not und tod. George
Kiel und Kutter, Kind, Särge sind; spinnt Werg! Einer Mutter Kind, Fiel vom Flachs ich, Werg. Aus dem Kolke rinnt, Flieht vom Berg zum Berg Wolke. Sonne rinnt Nieder den Berg. Winter ward gewohnt Ein zerronnen Land. Hinter Sonnen wohnt Lindes Jahr und Land.
87
Hermann Hiltbrunner: An Stefan George. In: H. H.: Von euch zu mir, Zürich 1923, S. 79.
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4. Georges Anteil an der ästhetischen Neuorientierung
Wer ihn lädt – Brand Mit der Krust kargt. Ist die Brust Brand, Die so spät kargt? Wenn dein Mund weht, Steht mein Herz stark. Was im Schmerz weht, Wird im Lied stark.88
Kulka variiert im Klang die dritte Strophe aus Georges Vorklang, die als Motto vorangestellt ist: Neben Titel und Motto markiert auch die Gattungsbezeichnung „Lied“ im Schlussvers den Prätext, das Einleitungsgedicht der Lieder aus dem Siebenten Ring.89 Kulkas Klang weist zwar eine Strophe mehr als Georges vierstrophiger Vorklang auf, folgt ihm aber metrisch und stilistisch. So imitiert Kulka die männlichen Kreuzreime mit jeweils zwei identischen Reimwörtern und steigert die Euphonie noch durch Alliterationen und Binnenreime in jeder Strophe, die selbst vor „Herz“ und „Schmerz“ nicht zurückschrecken. Da er auch seltene Wörter verwendet wie das mit dem eigenen Namen spielende „Kolke“ für ‚Wasserloch‘ oder „Krust“ für ‚Schorf‘, verselbständigt sich Kulkas George-Variation zu einem eigenen Klanggedicht. Die Wirkung Georges auf die jüngere, spätexpressionistische Dichtergeneration lässt sich nur schwer zusammenfassen und pauschal beurteilen. Dazu bleiben auch viele Hommagen zu indirekt und unausgesprochen und lassen sich allenfalls aus Zitaten und Allusionen erschließen. Ob etwa das dreiteilige Gedicht Gelbe Rose (1918) Hermann Kasacks, eines Freundes und Weggefährten Georg Kulkas, auf Stefan Georges titelgleiches Jugendgedicht90 antwortet, sei dahingestellt.91 Die Überlagerung von Vergangenheit und Gegenwart in der Reaktualisierung einer stummen Begegnung, das Changieren zwischen anthropomorpher Pflanze und schöner Frau findet sich jedenfalls in beiden Gedichten. Doch zeigen solche Zweifelsfälle die Grenzen einer wirkungsgeschichtlichen Betrachtung. Auch lassen sich manche Widmungs- und Belegexemplare, die George von jungen Dichtern erhielt, kaum als produktive Wirkungszeugnisse deuten. 88
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Georg Kulka: Klang. In: Die Dichtung 2 (1923), Nr. 2, S. 65. Wieder in: Georg Kulka: Werke. Hg. von Gerhard Sauder unter Mitarbeit von Reiner Wild und Eckhard Faul, München 1987, S. 104. Das Dichtergedicht Einer nur (ebd., S. 93) feiert das Kreismitglied Lothar Treuge. Kulkas ambivalente Affinität zu George und dessen Kreis ist sicher auch durch die gemeinsame Vorliebe für Jean Paul begründet. SW VI/VII, 135. SW I, 72. Hermann Kasack: Gelbe Rose. In: Die Dichtung 1 (1918), Nr. 2, S. 38.
4.3. Eugen Roth und andere junge George-Verehrer
185
So finden sich in Georges nachgelassener Bibliothek die Gesänge (1920) von Ernst Droem (1880–1947), zu denen dessen Jugendfreund Oswald Spengler eine Einführung beigesteuert hatte.92 Darin diagnostiziert der untergangserprobte Spengler zwar: „es gibt keine Lyrik mehr“, um dann aber doch noch „Nachzügler einer vollendeten Lyrik“ anzuführen, die „eine Spannung im Innern der Persönlichkeit“ gestalten, die „schließlich dem Wahnsinn zutreibt“. Als Kronzeugen dieser selbstgefährdenden Lyrik nennt Spengler neben Baudelaire und Verlaine „Stefan George und Droem“.93 Hier seien alle poetischen Phänomene „Beschwörungen prägnantester innerster Erlebnisse durch sinnliche Merkmale.“ Spenglers Nobilitierung seines Freundes konnte aber den literarischen Ruhm Droems nicht dauerhaft fördern, überdies vermag ich formal wie inhaltlich kaum Parallelen zu George festzustellen.94 Ähnlich belanglos für die Wirkungsgeschichte Georges blieb der neuromantische Dichter Ernst Krauss, von dem sich Widmungsexemplare in Georges Bibliothek erhalten haben.95 In der Dichtung der 1920er Jahre, gerade der jüngeren Generation, sind Bezugnahmen auf George und sein Werk allgegenwärtig. Abgesehen von Dichtergedichten finden sich in vielen Werken Allusionen und Zitate.96 So 92 93 94
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Eidemüller: Die nachgelassene Bibliothek des Dichters Stefan George, S. 60, verzeichnet zwei Exemplare. Oswald Spengler: Zur Einführung. In: Ernst Droem [d. i. Adolf Weigel]: Gesänge, München 1920, S. 5–17, hier 15–16. Zu den spärlichen Analogien zählt Ernst Droem: Gestalt in der Allee. In: E. D.: Gesänge, München 1929, S. 55 f. Eingangs wird ein Nachmittag mit Kunstvergleichen ästhetisiert („Der Abend Peruginos, Corots Morgen / Mischt sich am Nachmittag zu einem Licht“), um dann die Begegnung mit einer Passantin zu inszenieren, die ganz Georges Übersetzung Einer Vorübergehenden von Baudelaires À une passante nachgebildet ist (SW XIII/XIV, 119), auch im Wechsel von der Dritten Person in die Du-Apostrophe. Die Beschreibung der synthetischen Schönheit in der vierten Strophe erinnert wiederum an Georges frühes Bildgedicht Ein Angelico (SW II, 27): „Ein stolzes Mädchen wandelt, in Bordeaux / Erglänzt das Haar, ein weinrot Kupfergold / Das aus Westindiens grobem Sonnenstroh / Auf des Gewandes leichtes Feuer rollt“. Während bei Baudelaire/George das lyrische Ich nach der Begegnung ein Liebesverhältnis mit der fremden Frau ebenso imaginiert wie dekonstruiert, wird diese bei Droem zur schönen Ergänzung des Kunstraums ihrer Begegnung stilisiert: „Wie du im Grunde der Allee verschwindest / Ach zu der Statuen Schmerz im blassen Grau / Umflorten Grüne und zu der Brunnen Tau / So wundervolle Malerei verkündest“. Eidemüller: Die nachgelassene Bibliothek des Dichters Stefan George, S. 72 f. Es handelt sich um die Bände Leben und Liebe (1913) und Das Tor. Gedichte und Traumgesichte (1927). Das Tor könnte insofern von George inspiriert sein, als die einleitenden Träume und Gesichte durchaus den fünf Träumen in Georges Tagen und Taten (zuerst 1903) ähneln. Es kommt freilich darauf an, wie eng oder weit man den Begriff des Zitats fasst. So kann man etwa in Wilhelm von Scholz: Reifendes Jahr. In: W. v. S.: Das Jahr. Gedichte, BerlinGrünewald 1927, S. 42 f., durchaus eine Allusion auf Georges Wendung vom „steigenden jahr“ (SW IV, 89) sehen. Während George den Reichtum des Übergangs im „noch“ betont, hebt Scholz in einer Feier „ewigen Lebens, ewiger Wiederkehr“ (V. 8) auf das Werden im Vergehen ab.
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4. Georges Anteil an der ästhetischen Neuorientierung
erweist sich der jüdisch-deutsche Schriftsteller Leopold Marx (1889–1983) in seinen frühen Gedichten als bekennender Verehrer Georges. Sein Gedicht Herbst der Seele (1922), das aus drei heterometrischen Teilen besteht, zeigt sich schon im Titel, in der Kombination von Jahreszeit und Seele, George verpflichtet. Doch anders als in Georges Jahr der Seele, das Stationen einer diskreten Liebesbeziehung nachzeichnet, wird bei Marx der Herbst im Bild der „toten Tage“ als Glaubenskrise verhandelt. Im Einklang mit der Natur gewinnt die „frostgebundene“ Seele schließlich wieder die metaphysische Gewissheit, dass ein Gott sei: Frostgebunden schreit sie auf und weiß nicht ihre Wunden, schreit nach Ihm, den sie so leicht vergißt. Aber leise zieht das Jahr der Seele seine Kreise, bis es wieder Gottesfrühling ist.97
Doch blieben solche ungebrochenen Verehrungen aus der mittleren Distanz eher die Ausnahme. Zudem beschränkte sich die produktive Auseinandersetzung mit Stefan George in der Weimarer Republik nicht mehr nur auf die Dichtung, sondern erfolgte auch in der Pädagogik, der Politik und den Wissenschaften; gleichzeitig machte sich zunehmend ein retrospektiver Gestus breit.98 Dass George in den 20er Jahren sowohl als historisches wie als zukunftweisendes Phänomen betrachtet wurde, bezeugt ein Essay von Max Scheler, in dem er den George-Kreis als eine Sekte charakterisiert, wie er sie als Zukunft für den Protestantismus nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland prophezeit: eine weitgehende Selbstorganisation der mannigfachen Richtungen des protestantischen Geistes in religiös regsamen Sekten, Kreisen, Orden, deren Glieder sich um eine leitende, ihnen charismatisch erscheinende Persönlichkeit gruppieren, die aus ihrem Innenleben heraus eigentümliche religiöse und moralische Ansprüche an die Mitglieder stellt.99
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Leopold Marx: Herbst der Seele. In: L. M.: Gedichte aus der Schaffenszeit von 1910 bis 1982. Hg. von Werner P. Heyd, Gerlingen 1985, S. 54 f. Für die expressionistische Position eher typisch als die Verehrung ist die Abrechnung mit den ‚Impressionslyrikern‘, die wie Stefan George „glauben, das Gedankliche zu entfernen, indem sie gedankenlos interpunktieren“ (Herwarth Walden: Über allen Gipfeln. Die metergroßen Dichter der Gegenwart. In: Der Sturm 15 (1924), S. 49–69, hier 56). Max Scheler: Der Friede unter den Konfessionen. In: Hochland 18 (1920/21), Bd. 1, S. 140– 147 und 464–486, hier 480. Wieder in: Max Scheler: Gesammelte Werke, Bd. 6: Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre, Bern und München 1963, S. 227–258, hier 247.
4.4. Zwischen Hommage und komischem Affront
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Zudem sieht Scheler in solchen Sekten wie dem George-Kreis die Basis „neue[r] führende[r] Eliten aus der Jugend“, eine Alternative zur „gegenwärtige[n] formale[n] Demokratie“, welche „nur eine Übergangslösung“ darstelle.100
4.4. Zwischen Hommage und komischem Affront: Albrecht Schaeffer, Peter Gan, Friedrich Lienhard, Franz Blei Exemplarisch für den Prozess ästhetischer Dissonanz, in der Verehrung in Kritik umschlägt, ist Albrecht Schaeffer (1885–1950). Im Jahre 1909 hatte Schaeffer, wie oben dargelegt, seinem Vorbild noch mit einem lyrischen Zyklus gehuldigt (Vier Sonette an Stefan George), ihn zum „König“ und „Priester“ stilisiert und ihm „Göttlichkeit“ attestiert.101 Sein George-Erlebnis hat Schaeffer in einem Kunstgespräch seines großen Generationsromans Helianth, an dem er von 1912 bis 1920 schrieb, rückblickend verarbeitet und reaktualisiert. Den resignativen Protagonisten Georg, der den Tag des Hirten (SW III, 14) rezitiert, tröstet der Freund und Mentor Bogner: „Du bist auch ein Dichter!“102 George, dessen Schlussstrophe aus Traum und Tod103 das Motto des neunten und letzten Buches von Schaeffers Roman bildet,104 wird zur Schlüsselgestalt einer verlorenen Generation. Dagegen ist der 1918 von Schaeffer gemeinsam mit Ludwig Strauss veröffentlichte lyrische Zyklus Die Opfer des Kaisers, Kremserfahrten und die Abgesänge der hallenden Korridore der „problematische Ausnahmefall“ ei-
100 Scheler: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 248. Wieder in: Hochland 18 (1920/21), S. 480. 101 Vgl. Albrecht Schaeffer: [4. Sonett]. In: A. Sch.: Vier Sonette an Stefan George, Ms. DLA, A: Schaeffer 57.2847. Im Schlussterzett apostrophiert das lyrische Ich die Verehrer und maßt sich damit die Rolle eines Vermittlers Georges an: „Die Auen seiner Abgeschiedenheit / Betretet scheu, denn ihr seid ganz von Erden, / Und sucht mit dienen seine Goettlichkeit.“ – Zur Interpretation von Schaeffers George-Zyklus vgl. Kapitel 3.1. 102 Albrecht Schaeffer: Helianth. Bilder aus dem Leben zweier Menschen und aus der norddeutschen Tiefebene in neun Büchern dargestellt [Neue Ausgabe], Leipzig 1928, S. 487: „Ich hatte Bogner aus dem Gedächtnis einige Gedichte von Stefan George gesagt, darunter den ‚Tag des Hirten‘: […] Schon bei der ersten Zeile sah ich seine Augen weit werden; bei der himmlischen zweiten […] legte er das Gesicht in die Hände, und als ich dann schloß: […] seufzte er dermaßen schmerzlich, als wäre ihm eine Welt untergegangen“. Der Trost ist ein abgewandeltes Zitat des geflügelten Worts „Anch’io son pittore“, mit dem angeblich Correggio seine ästhetische Eigenständigkeit gegenüber Raffael geltend machte. 103 SW V, 85. 104 Vgl. Schaeffer: Helianth, Bd. 2, S. 567. Vgl. auch Georgs Berufung auf Stefan George im Brief an seinen Vater über den Expressionismus als Kunstform: „Dir ist bekannt, daß wir im Zeitalter des Ausdrückens leben, auch Expressionismus genannt. Dichter und Maler: was das Wesen ihres Wirkens in Wahrheit ist, nämlich: die Form, das weiß ihrer Keiner mehr (ausgenommen wie immer George)“ (ebd., S. 417).
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ner „sprachlichen Zwitterform“ aus Huldigung und Parodie.105 Die ‚Grenzüberschreitung‘ der „Huldigung“ sollte angeblich zwar George gegen „falsche Darstellung“ verteidigen, wirkte aber kreisintern wie kreisextern trotz kleiner Auflage konträr.106 Der dreiteilige Titel alludiert unverkennbar Georges Bücher der Hirten und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der Hängenden Gärten, doch beziehen sich die drei Teile auf andere Prätexte: Die Opfer des Kaisers referieren überwiegend auf den Algabal-Zyklus: So liegt etwa der Parodie Der Sklave, gelungenstes Beispiel der Sammlung, das Einleitungsgedicht der Tage zugrunde.107 Die Ästhetisierung des sterbenden Sklaven – im Posttext zum kaiserlichen Barbier trivialisiert – im Vers: „Ein breiter dolch ihm schon im busen stak · / Mit grünem flure spielt die rote lache“108 wird in ihrer Abstraktion zur geometrischen Lust banalisiert: „Das messer schon durch seine kehle schnitt / Des toten blut floß streng und regelgrad“. Die Andenkenstiftung des Kaisers („Dass in den abendlichen weinpokal / Des knechtes name eingegraben werde“109) wird zum Verzicht auf das abendliche Bier trivialisiert. Darin zeigt sich das parodistische Prinzip: Einerseits wird der hohe Ton der künstlichen Gegenwelt überpointiert, andererseits durch Kombination mit Alltäglichem komisiert. Auch die Kremserfahrten, die im Titel auf die Pilgerfahrten anspielen, wenden sich 105 Vgl. dazu ausführlich Sigrid Hubert: George-Parodien. Untersuchungen zu Gegenformen literarischer Produktion und Rezeption (masch. Diss.), Trier 1982, S. 317 f. und Rolf Bulang: Ludwig Strauß und Albrecht Schaeffer – Umriß einer Freundschaft. In: Ludwig Strauß 1892–1992. Beiträge zu seinem Leben und Werk. Mit einer Bibliographie. Hg. von Hans Otto Horch, Tübingen 1995, S. 227–250, bes. 229–235, und Eschenbach: Imitatio im George-Kreis, bes. S. 225–235, die ausführlich die Entstehung des Zyklus und die damit einhergehende Entfremdung von Schaeffer und Strauss zum George-Kreis dokumentiert, die Texte aber nicht näher analysiert. Die Parodien wurden nicht gemeinsam verfasst, sondern haben entweder Strauss oder Schaeffer zum Verfasser, die „Huldigung“ stammt von Strauss; dessen Anteil ist wiedergedruckt in: Ludwig Strauss: Gesammelte Werke, Bd. 3/2: Lyrik und Übertragungen. Hg. von Tuvia Rübner, Göttingen 2000, S. 688–691 (Anm. S. 771). Der Zusammenhang mit Georges 50. Geburtstag, auf den in der Forschung verwiesen wird, war nicht ursächlich. 106 Wie ambivalent die Sammlung aufgenommen wurde, bezeugt bereits die frühe Reaktion von Katharina Kippenberg an Albrecht Schaeffer, 6.3.1918, die schreibt, dass sie und ihr Mann „die parodistische Huldigung und huldigende Parodie von Stefan George […] mit heiterem Lächeln gelesen“ hätten (zit. nach Eschenbach: Imitatio im George-Kreis, S. 226). Der Neudruck einer kleinen Auswahl zusammen mit anderen George-Parodien in: Der Kunstwart 41 (1927/28), Nr. 1, S. 314 f., machte die ‚Gegengesänge‘ weithin bekannt. 107 [Albrecht Schaeffer]: Der Sklave. In: Albrecht Schaeffer und Ludwig Strauss: Die Opfer des Kaisers, Kremserfahrten und die Abgesänge der hallenden Korridore. Mit einer Nachrede, Leipzig 1918, S. 114: „Der sklave der des morgens ihn rasierte / Versah es heut bei seines pfauen tritt / Und traf vom schläfenhaar die feinste spiere. / Das messer schon durch seine kehle schnitt. // Des toten blut floß streng und regelgrad. / Den kaiser · weiterlesend im breviere · / Erschütterte die makellose tat. / Er ging an diesem abend nicht zum biere.“ 108 SW II, 66, V. 15 f. 109 SW II, 66, V. 19 f.
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vor allem gegen die metaphysische Überhöhung der Alltagswirklichkeit und decken die „forcierten Haltungen“ im Spätwerk auf.110 So zieht der SumpfZauber die magische Symbolik des Hexenreihen111 ins Derbe herab.112 Der dritte und letzte Teil der Parodie, die Abgesänge der hallenden Korridore, nimmt, ohne sich auf einen bestimmten Zyklus zu beziehen, Georges ‚Weihrauch‘-Esoterik im Siebenten Ring und Stern des Bundes aufs Korn,113 indem er die Kluft zwischen den Eingeweihten und der Menge überbetont. Der zeitgeschichtliche Bezug der „Verspottung des Hohen“ scheint bisher unterschätzt, denn sie hat ihre Ursache sicher auch in dem „furchtbarsten Jahr 1918“, dem Ende einer Epoche. Daraus erklärt sich auch Schaeffers Affront gegen den George-Kreis in seinem skandalösen Roman Elli oder Sieben Treppen. Beschreibung eines weiblichen Lebens (1919). Denn die Zeitgenossen verstanden ihn als Schlüsselroman, der den sozialen und wirtschaftlichen Abstieg – das ist mit den „sieben Treppen“ im Titel gemeint – einer jungen Frau im Vorkriegsdeutschland schildert, und sahen darin eine gezielte Herabsetzung von Elisabeth Salomon.114 Inwieweit in der männlichen Romanfigur, dem von Elli geliebten Ludwig Studassohn, der Begegnung auf der „ersten Treppe“, ein Mitglied des George-Kreises porträtiert ist, ist umstritten. Zwar sieht er schlecht, spricht hessisch und gestikuliert wild, wie es von Karl Wolfskehl überliefert ist, ist aber zumindest als „Mischfigur“ angelegt.115 Entscheidend scheint mir, dass Schaeffer in der Figur eines George-Verehrers bloßlegt, wie wenig die strengen ästhetischen Maßstäbe männlicher Konventikel für das gewöhnliche Leben taugen. Studassohn verwahrt eine Porträtphotographie Georges, die aus dem Blickwinkel Ellis beschrieben wird. Sie zeigt
110 Hubert: George-Parodien, S. 330 ff.; Erwin Rotermund: George-Parodien. In: Stefan George Kolloquium. Hg. von Eckhard Heftrich, Köln 1971, S. 213–225, hier 217. 111 SW VI/VII, 50. 112 Vgl. Hubert: George-Parodien, S. 364 ff. 113 So alludiert der Titel die Wendung „Im dumpf hallenden gebäue“ der Feier (SW VI/VII, 127, V. 25) des Gottesdienstes im Siebenten Ring. Das Motto: „Und Weihrauchwolken läßt der Melchior schweben. Brentano“, Vers 6 aus Clemens Brentanos Gedicht „An eine schöne Erscheinung am Dreikönigstage“, ironisiert sowohl Melchior Lechters sakrale Illustrationskunst als auch die Dominanz des Kultischen im Werk Stefan Georges. 114 Vgl. dazu Gunilla Eschenbach: Schaeffer, Albrecht: Elli oder Sieben Treppen. In: Fakten und Fiktionen. Werklexikon der deutschsprachigen Schlüsselliteratur 1900–2010. Hg. von Gertrud Maria Rösch, Bd. 2, Stuttgart 2013, S. 550–554. 115 Eschenbach: Schaeffer, Albrecht: Elli oder Sieben Treppen, S. 552. Eschenbach geht jedoch in ihrer Entschlüsselung des sicher nur partiell biographischen Romans zu weit, wenn sie den Umstand, „dass Gundolf in dieser Figur eben nicht sichtbar wird, […] als bewusste Verschleierung“ wertet. Außerdem wird der Hinweis auf die „auktoriale Erzählstimme“ der strukturell dominanten personalisierten Erzählweise nicht gerecht.
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Kopf und Brust eines Mannes, der die Stirn in die Hand gestützt hatte – eine seltsam bäurische Hand –, und nie glaubte sie ein so streng und fremdes, so abgeschlossenes und außerweltliches Gesicht gesehen zu haben wie dieses, von dessen breit ausgemeißelter Stirn wie eine Korngarbe das dunkle Haar aufstieg und auseinanderfiel, dessen Augen, klein Elli an ein unbekanntes Tier erinnernd, ähnlich denen Ludwigs [Ludwig Studassohn] im Schatten der großen Höhlen lagen, und dessen schmal gepreßter Mund und vorgestelltes Kinn an – an wen erinnerten? An einen Heiligen, meinte sie, erst später erkennend, daß sie Dante meinte.116
Diese personalisierte Ekphrasis geht weit über eine bloße Beschreibung hinaus und legt die Selbstinszenierung Georges in der Porträtfotografie bloß. So bemerkt Elli neben Unstimmigkeiten wie die „bäurische Hand“ und die „kleinen Augen“ den postfigurativen Gestus, den sie – ironischerweise – erst später auf Dante beziehen kann. Die Komik der gegensätzlichen Perspektiven zeigt auch Ellis unbefangene Reaktion, als ihr Studassohn auf ihre Nachfrage, „wer das sei?“ nur zögernd antwortet, „nach einer kleinen Pause, die jedoch, so gering sie war, einen Hauch von Geheimnis, oder Besonderheit, auch von Ehrfurcht dem Namen vorausschickte: „Stephan George“. „Ach! Von dem das Buch hier ist?“117 Ein ironischer Unterton prägt auch Ellis Lektüre von Georges Gedichtband Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod, den ihr Studassohn ausleiht. Ellis identifikatorische Lektüre steht in einem ironischen Missverhältnis zu dem mittelbaren Ästhetizismus Georges: Sie verwandelt „die entfremdeten Worte sich in die bekannten der eigenen Sprache zurück“, sie fügt „die fehlenden Satzzeichen“ ein, bis sie in dem Gedicht „Zu wem als dir soll sie die blicke wenden“ sich selbst wiederfindet: „Das war sie! Mein Gott, das war sie ja selber, Wort für Wort, und Zeile für Zeile!“118 Das XIX. Gedicht aus dem Vorspiel zum Teppich des Lebens meint in der Antonomasie „Die glühend Suchende“ die Seele , während „das „du“ in diesem Gedicht […] der Gott [ist], der die Seele lenkt und leitet und dessen Bote der Engel ist“.119 Indem Elli „in solch einem blendenden Rausch […] über sich selbst“ schwebt, unterzieht sie das Gedicht einer identifikatorischen Lektüre und vereindeutigt den Flug der Seele zu einem erotischen Wunschtraum. Nicht zufällig lernt sie „das Gedicht während des Auskleidens auswendig“.120 Dass Schaeffer mit dem personalen Erzählen aus der Sicht Ellis aber auch die vitalen Defizite des George-Kreises ins komische Licht rückt, zeigt sich in den Italie-
116 Albrecht Schaeffer: Elli oder Sieben Treppen. Beschreibung eines weiblichen Lebens, Leipzig 1919, S. 25. 117 Schaeffer: Elli oder Sieben Treppen, S. 26. 118 Schaeffer: Elli oder Sieben Treppen, S. 27. 119 EM I, S. 171 f., hier 172. 120 Schaeffer: Elli oder Sieben Treppen, S. 28.
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nisch-Lektionen, die sie Studassohn erteilt. Selbst die gemeinsame DanteLektüre „auf der Uferböschung eines der Grunewaldseen“ genügt zunächst nicht, um aus Studassohn einen Liebhaber zu machen.121 Unausgesprochen, aber unterschwellig zeigt sich die Lebensferne des George-Kreises in den Gedichten Studassohns, deren ausführliche Beschreibung wie eine Selbstcharakterisierung wirken, der Ellis knappes Urteil disproportional gegenübersteht: seine Gedichte […] waren zumeist Gebilde von strengster, hymnisch gestalteter Form um den gleichen Kern des heroischen Daseins, aufwärts gerichtet, ohne schweben zu wollen, aufgemauert in spärlich scheinenden Worten von gepreßter Lichtkraft, ohne das Geläut der Reime alle Musik in ihren Rhythmus versammelnd, für Elli schlackenloses Kristall.122
Bei aller Schönheit der schönen Transparenz bemerkt Elli doch auch „ein Fehlendes an diesen Gebilden“, ein Defizit, das nicht näher erklärt, aber durch seine Zuordnung zum ,weiblichen und naiven Empfinden‘ in einer Kontrastrelation erläutert wird: Dies Fehlende war das, was einfachen Gemütern an Gebilden Hölderlins, des gealterten Goethe, oder Georges zu fehlen schien, und was diese bei Mörike, beim jungen Goethe oder bei Eichendorff finden; es war, daß bei jenen Blut, Herz, Seele, Gewissen, Menschlichkeit, Schicksal, alle Verwandlungen, die Glut jeder Augenblicklichkeit – ganz Leib geworden war, ganz Form, ganz Sprache also, ganz Wort; kurz: ganz Kunst.123
Die Probe seiner Dichtung, eine alkäische Liebesode, hat Schaeffer allerdings parodistisch überfiguriert. Seine heroische Entsagung gibt Studassohn auf, bevor er sich von Elli trennt, die er „Ignis“ nennt, mit dem Einverständnis, es „zu Inge [zu] verdrehen“. In der projektiv überformten Konstellation von Elli und Studassohn kritisiert Schaeffer die Kluft zwischen hohem ästhetischem Anspruch und defizitärer Lebenspraxis im George-Kreis. Seine Auseinandersetzung mit George führte Schaeffer in einem umfänglichen „kritischen Versuch“ über Dichter und Dichtung (1923) fort. Darin stilisiert er vor dem Hintergrund der deutschen Lyrik des ausgehenden 19. Jahrhunderts George zum tragischen einsamen Dichter. Retrospektiv würdigt Schaeffer Georges Bedeutung als „Führer“ – er „befeuerte die sinkenden Kräfte, führte die irrenden, festigte die sich verlierenden“ –, kritisiert aber als „Gebrochenheit“ die zunehmende „Brechung, Verbiegung, ja
121 Schaeffer: Elli oder Sieben Treppen, S. 36. 122 Schaeffer: Elli oder Sieben Treppen, S. 33. 123 Schaeffer: Elli oder Sieben Treppen, S. 33.
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Ausmerzung des fremden und die Einsetzung des eigenen Willens“.124 Den ‚Meister‘ in seiner „Wahnverblendung“ verschont er zwar, attackiert aber scharf den Kreis als gespenstischen „Hofstaat“: Und da stehen sie nun vor uns Alle, da starren die entsetzlich Entseelten uns an, alle die Schemen, Larven und Fratzen, die Puppen, Hohlspiegelbilder und Pfefferkuchenmänner Georgeschen Wesens in den ‚Blättern für die Kunst‘. Eine so schauderhafte Blutlosigkeit und Gespensterhaftigkeit tappt um sich her, daß uns kalt wird vor Lemuren-Nähe mitten im warmen Tage. […] Seite um Seite umschlagend in den öffentlichen Auswahlausgaben der ‚Blätter‘ glauben wir, uns in einem Siechenhause zu befinden, in dem eine Anatomie ihre spiritualisierten Fötusse, und ein Wöchnerinnenheim ihre Früh- und Mißgeburten ausgesetzt hat.125
Anders als sein Weggefährte Schaeffer blieb Ludwig Strauss George bis zu dessen Tod verbunden. Die Sammlung seiner Gedichte, die er 1933 unter dem Titel Nachtwache veröffentlichte, eignete er „Stefan George in Ehrfurcht und Dankbarkeit“ mit einem Widmungsgedicht zu.126 Eine ähnlich ambivalente Haltung wie Strauss legt auch der hochgebildete Peter Gan (Pseudonym für Richard Moering) (1894–1974) an den Tag. In dem Kapitel De Arte Poetica der biographischen Erzählung Die Reise nach Hohenzieritz (1926) kontrastiert Gan seine eigene liedhafte Dichtung mit der prätentiösen Lyrik seines Freundes Eugen, in dem Gan seinen Freund und George-Verehrer Paul Ortwin Rave verschlüsselt hat. Eugen, der „an einer auf zwei Teile beabsichtigten Dichtung [feilt], deren erster Teil ‚das Glutjahr‘ hieß“, liest seinem Freund, dem Ich-Erzähler, das Titelgedicht vor: Das Glutjahr Freund! weißt du noch, wie mir in diesem glutjahr – Der lichtball dörrte rings die brache krume – Verschwiegen scheu und immerfort zumut war? Ich pflückte dir unlängst die dotterblume Am dürren rain; der herde trocknes husten Klang dürstend her vom immerleeren trog,
124 Albrecht Schaeffer: Stefan George. In: A. Sch.: Dichter und Dichtung. Kritische Versuche, Leipzig 1923, S. 297–501, hier 499 f. 125 Ebd., S. 496. 126 Ludwig Strauss: Nachtwache. Gedichte 1919–1933, Hamburg 1933 [Widmungsexemplar im StGA]. Das handschriftliche Widmungsgedicht, datiert „Aachen, Oktober 1933“, lautet: „Gläubig strahlt von Stern zu Stern, / Leuchtende Figur an / Reines Zeichen wärt ihr gern / Dort von hiesigen Fluren. / Bleibt ihr ungesehen, flammt / Lasser nicht noch trüber – / Eure Art und euer Amt / Heische: strahlt hinüber.“
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Als sich vor deinem leichtsinnhaften pusten Der dotter samenschmuck im wind verflog. Und so verflog die zeit, und tage kamen, Wo die flut die braune brache überquoll, Wo wir uns fragend bei den händen nahmen, Und dir der kamm und mir der busen schwoll.127
Die Stilisierung des Banalen – Erinnerung an den unbeschwerten Sommer eines Freundespaares, dessen symbolischer Höhe- und Wendepunkt eine Pusteblume darstellt – nimmt den ‚georgisierenden‘ Stil Eugens aufs Korn. Duktus und Stil des Gedichts sind dem darob rasch ermüdenden Ich-Erzähler „wohlbekannt“: „Ich hörte kaum den wohlbekannten strengen Silbenfall, der fern von aller Deklamatorik mit dem Zauber liturgischer Monotonie dahinfloß, so fühlte ich meine Augen langsam übergehen, und bald klang alles wie von fern“.128 Neben der charakteristischen Kleinschreibung lassen entlegene Metaphern („lichtball“ für Sonne), gesuchte Komposita („glutjahr“) und seltene Wörter („krume“, „rain“), die mehrfache Voranstellung des Genitivs und Alliterationen („braune brache“) keinen Zweifel daran, dass es sich um eine George-Parodie handelt. Abgesehen von wenigen ähnlichen Wendungen im Werk Stefan Georges (z. B. „vom immerleeren trog“ [Vers 6], für „an dem immergrünen hag“ [SW III, 61]) liegt ihr allerdings kein Einzeltext, sondern der Autorstil zugrunde. Die parodistisch-detrahierende Absicht lassen der unpoetische Gegenstand („dotterblume“), die katachrestischen Wendungen („der herde trocknes husten“) und vor allem das komische Zeugma des Schlussverses deutlich erkennen. Inwiefern aber in der Parodie George selbst oder nur die epigonale George-Nachahmung komisiert wird, bleibt offen.129 Auch der nationalistische Schriftsteller Friedrich Lienhard kritisiert weniger George selbst als vielmehr Georges Vergottung durch seinen Kreis.130 Lienhard unterzieht Gundolfs George-Buch einer scharfen Kritik, indem er ihm monumentalistische Geschichtsschreibung vorwirft, von seiner Kritik am Kreis aber ausdrücklich George ausnimmt. In einem daran anschließen127 Peter Gan [d. i. Richard Moering]: Die Reise nach Hohenzieritz. In: P. G.: Gesammelte Werke, Bd. 3. Hg. von Friedhelm Kemp, Göttingen 1997, S. 21–48, hier 27 f. Die zuerst in der Frankfurter Zeitung 1926 erschienene Erzählung hat Gan in seinem Prosawerk Von Gott und der Welt. Ein Sammelsurium (1935) wiederveröffentlicht. Paul Ortwin Rave (1893– 1962) war ein bekannter Kunsthistoriker, später Direktor der Nationalgalerie in Berlin. 128 Gan: Die Reise nach Hohenzieritz, S. 28. 129 Ein Urteil wird dadurch erschwert, dass komplementär ein Gedicht des Ich-Erzählers Gan zitiert wird, ein heroisierendes „Preislied auf Gustav Schwab“ als neuen Phaëthon (Gan: Die Reise nach Hohenzieritz, S. 28–30), welches seinerseits Freund Eugen einschläfert. 130 Vgl. Friedrich Lienhard: Georges Vergottung. In: Der Türmer 23 (1920/21), S. 380.
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den dreistrophigen Widmungsgedicht in Blankversen vergleicht Lienhard aber den übermäßig Geehrten mit Moses, um in der dritten Strophe die Differenz Georges zu dem alttestamentlichen Propheten hervorzuheben, der sich gegen blinde Verehrung erfolgreich zur Wehr setzte: An Stefan George (nach der Beschäftigung mit Gundolfs „George“) Wann werden die Posaunen deiner Schar Dein Ohr verletzen, edelspröder Sänger, Den sonst der Ungeschmack so leicht versehrt? Wann stemmt sich deine Faust in ihre Tuba, Erwürgend der Fanfaren Überlob Du weißt von jenem auserles’nen Meister – Er ist der Herr der Menschheit, und er bleibt Ihr Schirmgeist bis ans Ende dieser Welt – Daß er bedeutsam auf den Berg entwich, Als ihn das Volk aus edler Stille schrie Und mit dem Königsstirnband krönen wollte. Erst spät am Abend, wandelnd auf dem See, Kam der Durchgeistigte zu seinen Jüngern Und hatte irgendwo am rauen Hange Den Strauch erblickt, aus dessen Dornen ihm Die einz’ge Krone zuwuchs, die ihm anstand … Die Deinen sind wie jenes blinde Volk – Doch du bist nicht von jenes Meisters Art: Du hältst gefügig ihrer Krönung still. Und wie du gern mit Purpur und Rubinen Und Perlen dein gepflegtes Wort durchwirkst: So schütten sie Rubinen und Brillanten Und decken dich mit so viel Purpur zu, Daß du lebend’gen Leibes schon erstarrst Zum Götzen – allzu schwach, dich aufzuraffen Und jene Göttermache zu zerschmettern …131
Eine Dissonanz wie bei Lienhard, der in seiner Gundolf-Rezension nur den Kreis, im Widmungsgedicht aber auch George kritisiert, war in den 20er Jahren nicht untypisch. So geißelt etwa Erich Weinert mittelbar auch George, wenn er dessen zeitgenössische Verehrung in einem kabarettistischen Spottlied auf einen Anhänger der Jugendbewegung komisiert, weil dieser als Der
131 F. L.: An Stefan George. Nach der Beschäftigung mit Gundolfs „George“. In: Der Türmer 23 (1920/21), S. 380 f.
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ewige Wandervogel (1926) trotz widriger Lebensumstände an seinen alten Idealen festhält, zu denen auch die George-Lektüre im Freien zählt: Und wenn man eng beieinander saß, In sonnigem Seelenbeschaue, Und er im dämmernden Heidegras Ein Lied von Stefan George las, Dann glommen die Augen der Fraue Ins Blaue.132
Ein nurmehr komischer Affront ist die mysteriöse Widmung von Emil Szittyas surrealistischem Dialogroman Klaps oder Wie sich Ahasver als Saint Germain entpuppt (1924) an „Stefan George und Adele Förste“.133 Nicht nur stellt allein die Kombination mit der verballhornten Schauspielerin und Freundin Szittyas, Adele Förste, eine Invektive dar, der Roman, dessen Schauplatz eine Irrenanstalt ist, macht sich auch über Umgangs- und Anredeformen im George-Kreis lustig.134 Als „hochbeinigen Watvogel, der durch die außerordentlich schöne Proportion seiner Glieder wie auch durch seine Größe weit über seine Genossen im Wasser hinausragt“, hat Franz Blei in seinem Großen Bestiarium der modernen Literatur (1922), „die George, auch die große George genannt“, verspottet (Abbildung 8). Thomas Theodor Heines Illustration überbetont die Größe des straußartigen Vogels, um dessen Hals eine Leier hängt und der hochnäsig zwei schnatternde Enten zu seinen Füßen übersieht. Der dichte zurückgekämmte Haarschopf verrät das menschliche Vorbild. Das Tierporträt ‚der George‘, das Franz Blei und Thomas Theodor 132 Erich Weinert: Der ewige Wandervogel (1926). In: E. W.: Das Zwischenspiel. Deutsche Revue von 1918 bis 1933, mit einer Einführung von Bruno Kaiser, Berlin 1951, S. 235 f., hier 235; Wieder in: Karl Heinz Berger / Walter Püschel (Hg.): Das große Balladenbuch. Aus drei Jahrhunderten deutscher Dichtung, Berlin 1965, S. 202 f. Vielleicht ist daraus auch die Formkritik des vormals jugendbewegten Norbert Elias an „Stephan George“ zu verstehen: „Wie schade! – Wie ers sagen musste / der Worte Zauber zeugt von echter Macht / doch was er uns zu sagen wusste / war flach gefühlt und flach gedacht“ (Typoskript DLA, A: Elias 880/1, zit. nach Tabea Dörfelt-Mathey: Dichtung als Menschenwissenschaft. Das poetische Werk von Norbert Elias, Wiesbaden 2015, S. 325 und S. 132 Anm. 28. Nach freundlicher Auskunft Gunilla Eschenbachs dürfte Elias’ lyrische Absage an George wohl um 1920 zu datieren sein, als er sich kritisch über den Kreis äußerte (vgl. Brief an Martin Bandmann, Freiburg, den 14. Juni 1920). 133 Emil Szittya: Klaps oder Wie sich Ahasver als Saint Germain entpuppt. Roman. [Potsdam 1924] Nendeln 1973, S. 6 [Widmung]. 134 So werden die Hauptpersonen Dr. Rigobert Funk und sein Studienkollege Papus, die gemeinsam die Irrenanstalt leiten, von den Irren mehrfach mit „Meister“ angeredet, von „Charisma“ (Szittya: Klaps, S. 11) ist die Rede, und auch Funks Frage an Papus: „Bist du nicht esoterisch homosexuell?“ (Szittya: Klaps, S. 14) könnte eine böswillige Allusion auf den George-Kreis sein.
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4. Georges Anteil an der ästhetischen Neuorientierung
Heine kongenial schufen, hebt auf die prätendierte Überlegenheit und den Ästhetizismus ab, die damit zugleich als Georges ‚Markenzeichen‘ repetiert und verfestigt werden.135
Abb. 8: Die george. Karikatur von Thomas Theodor Heine in Franz Bleis Großem Bestiarium der Literatur, 1922.
135 Franz Blei: Das große Bestiarium der modernen Literatur, Berlin 1922, S. 33. Blei erwähnt Stefan George noch mehrfach, so um ironisch die Behauptung zu entkräften, „der Borchardt“, ein „immer allein und hoch fliegender schöngefiederter Vogel aus der Gattung der Edelfasane“, „sei ein Gefolgsvogel der George“ (ebd., S. 23). Eine Parodie der besonderen Art liefert Franz Theodor Csokor, indem er Stefan George ein fingiertes Glückwunschtelegramm an Egon Friedell zu dessen 50. Geburtstag zuschreibt. Wie schon die lächerliche Nobilitierung des Jubilars („an Egon von Friedell“) und das geschraubte Incipit („Der niemals niemand anrief ruft dich an“) zeigen, wird mit der unsinnigen Paraphrase eines Toasts Stefan Georges hoher Stil verspottet.
5. Vom Neuen Reich (1928) zum Dritten Reich: Zur politischen Instrumentalisierung Georges am Ende der Weimarer Republik Wie populär und zugleich geheimnisumwittert Stefan George Ende der 20er Jahre in Deutschland war, zeigt ein Passus aus Hallo! Hier Welle Erdball!, einem Hörspiel von Fritz Walter Bischoff, dem damaligen Intendanten der Schlesischen Funkstunde in Breslau, aus dem Jahr 1928. In diesem letzten großen Hörspiel des Radios in der Weimarer Republik findet sich eine Montage, die George als Symptom eines Umbruchs darstellt: Die Zeit ist schwanger von Ungewissheit. Der Zweifel bohrt, seit mit Goethe die große Periode des Glaubens zu Ende ging. Auflösung. Umschichtung der Kontinentsentwertungen. Meyrink, Spengler, Keyserling. Das große, langsam die Welt durchglühende Licht Stefan Georges.1
Als ebenso wegweisendes Zeitphänomen bewertet Rudolf Kayser in seinem Essay über Stefan George dessen Werk und Wirkung.2 George, dem man zu Unrecht Gegenwartsflucht vorwerfe, stehe keineswegs „außerhalb der Zeit“, vielmehr sei „seine Zeit […] die unsrige“.3 Im Zeichen einer „größeren allgemeinen Wandlung“, „die in Deutschland heute noch anhält“, zeichne sich „Erneuerung der dichterischen Sprache“ durch „Festlichkeit und Glut, Weihe und Leidenschaft“ aus.4 Der „hoffnungslosen Leere von Volk und Zeit“ sei nur mit „Abkehr und Zorn“ zu begegnen und somit vollziehe sich auch an George „das deutsche Schicksal Goethes, Hölderlins, Nietzsches: aus dem tiefsten Gesetz ihrer Nation heraus Anklage gegen Zeit und Volk erheben zu müssen“.5 Kaysers Essay prophezeit abschließend einen
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Fritz Walter Bischoff: Hallo, hier Welle Erdball! [1928]. Nach dem Tondokument im Deutschen Rundfunkarchiv Frankfurt, Nr. 60 U 339 [eigene Transkription]. Rudolf Kayser: Dichterköpfe, Wien 1930, S. 88–91, hier 88: „Das Werk dieses Dichters ist ganz Form, und diese Form ist ganz Geist. Diese Gleichung war der deutschen Lyrik seit Goethe und Hölderlin verloren gegangen“. Kayser: Dichterköpfe, S. 88 f. Kayser: Dichterköpfe, S. 89 f. Kayser: Dichterköpfe, S. 90.
https://doi.org/10.1515/9783110779370-005
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zunehmenden Einfluss Georges und einen „neuen Adel“6 in Anlehnung an Georges Gedicht „Neuen adel den ihr suchet“ aus dem Stern des Bundes.7 Das seinerzeit verbreitete Grundgefühl, Stefan George käme eine epochale Bedeutung zu, begünstigten im Jahre 1928 zwei in der Öffentlichkeit vielbeachtete Ereignisse: zum einen Georges 60. Geburtstag am 12. Juli, den er in Spiez feierte und zu dem ihm sogar Reichspräsident Paul von Hindenburg gratulierte, zum andern die Publikation seines letzten Gedichtbandes Das Neue Reich im Oktober. Wie sich die Rezeption Georges im Zuge seiner Historisierung und Kanonisierung vermehrt auf seine Person und weltanschauliche Zuschreibungen statt auf sein poetisches Werk richtete, erweist paradigmatisch die große Resonanz, die sein 60. Geburtstag in der Öffentlichkeit fand.
5.1. Georges 60. Geburtstag als Kanonisierungsakt und Das Neue Reich In vielen Würdigungen „aus Anlass seines sechzigsten Geburtstags“ wird George, wie es die Festrede Rudolf G. Bindings exemplarisch zeigt, bereits als historische Person geehrt: „Stefan Georges Werk ist beendet. Seit dem Kriege schweigt der nun 60-Jährige, und drei Gesänge, die wie ein Nachhall des verrollten Gewitters anmuten, können sein Schweigen nicht verkleinern. Seine Haltung, sein Werk wurden Vorbild.“8 In Karl Wolfskehls fast sakraler Würdigung ist die Person ins Überzeitliche gerückt und enthistorisiert: „Nach der Wende [scil. Der Siebente Ring] ist dieses Ich [scil. George] selber Welt geworden. Ein Reich ist gegründet. Gab es vorher George-Jünger, eine George-Gemeinde vielleicht, so lebt seitdem ein George-Menschentum“.9 Ansonsten finden sich zahlreiche verhaltene bis negative Reaktionen auf Stefan George, die aber für die eigene ästhetische Positionierung eine große Rolle spielen. So orientieren sich Rudolf Borchardt, Bertolt Brecht oder Karl Kraus, um die bedeutendsten Kritiker Georges zu nennen, gleichwohl an dessen hohem formästhetischen Anspruch. Kraus etwa verbessert zwar Georges Übersetzung der Shakespeare-Sonette, respektiert aber den Dichter 6 7 8
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Kayser: Dichterköpfe, S. 91. SW VIII, 85. Rudolf G. Binding: Stefan George. Aus Anlass seines sechzigsten Geburtstags, Ms., 4 Bl., DLA, A: Binding 005151456, hier S. 3. Binding war ein großer George-Verehrer, wie die zahlreichen George-Ausgaben und Georgika in seiner Bibliothek bezeugen, die das DLA Marbach verwahrt. Bindings George-Rezeption ist bislang noch nicht systematisch untersucht worden. Karl Wolfskehl: Stefan George. Zu seinem sechzigsten Geburtstag am 12. Juli 1928. In: Neue Rundschau 39 (1928), Bd. 2, S. 48–56, hier 50.
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als entfernten Wahlverwandten, „weil er den Zeithaß in der Zeitferne ausgelebt hat“. Doch kritisiert Kraus „die Anbetungsorgie um den sechzigjährigen George“, da sie „den Respekt vor einem Dichterleben herabsetzt, das sich zeremoniös, aber in hoher Zucht vom Jahrmarkt abzusondern wußte und dessen Ertrag vor dem allzu Gegenwärtigen doch ein ethisches Plus bedeutet hat“.10 Auf den Anbetungskult um Stefan George zielt auch eine Karikatur von Erich Schilling (Abbildung 9), die im Juli 1928 im Simplicissimus erschien. Unter dem Titel Und was geht in der Literatur vor? findet sich neben zwei Zeichnungen zu Gerhart Hauptmann und zu Hermann Bahr eine Karikatur Schillings zu Georges 60. Geburtstag. Sie zeigt Stefan George im charakteristisch markanten Profil, mit übergroßem Kopf und übermächtigem Haarschopf, auf einem Schemel sitzend, in mystifizierenden Rauch gehüllt. Er übersieht geflissentlich die übertrieben fußfällige Verehrung zweier anonymer Jünger. Sein Blick gilt dem geckenhaften Fotografen am linken Bildrand mit dem Finger am Auslöser, dem durch die Bildunterschrift die Floskel: „Zu Ihrem 60. Geburtstag, Herr Stefan George: Bitte, recht freundlich!“, in den Mund gelegt wird. Die nichtssagende Aufforderung, „recht freundlich“ zu sein, steht mit der morosen Miene und der überzogen steifen Haltung in komischem Widerspruch. Zugleich entlarvt die Karikatur auch mittelbar, im Spiegel der Proskynese zweier Jünger, die fotografische Selbstinszenierung Stefan Georges als götzenhafte Selbstmonumentalisierung.11 Im Simplicissimus vom 17. Dezember 1928, versehen mit dem Schriftzug „Weihnachtsüberraschungen“, komisiert der prominente Zeichner Thomas Theodor Heine in einer halbseitigen Farbkarikatur George und seinen Kreis (Abbildung 10). Passend zu Weihnachten, nimmt Heine unter dem Titel Große Überraschung für das Christkind den priesterlichen Habitus Georges und seines Kreises aufs Korn. Er stellt George in violettem Gewand, der für die Adventszeit typischen liturgischen Farbe, und Spitzenmanschetten auf einer Art Thron sitzend dar. George segnet das pausbäckige Christkind, das auf den Treppenstufen vor ihm ehrfürchtig kniet und einen Christbaum darbringt, mit Weihwasser; in der linken Hand hält er den Heiligenschein des 10
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Karl Kraus: Rechenschaftsbericht. In: Die Fackel 30 (1928), 795/799, S. 1–51, hier 4. Zu Kraus und George vgl. Michael Gassenmeier: Philologische Akribie und poetische Gestaltungskraft in Karl Kraus’ „Nachdichtung der Sonette Shakespeares“ nebst deren Beziehung zur „Umdichtung“ derselben von Stefan George, die „für jeden Leser unentbehrlich“ ist. In: Radikalismus, demokratische Strömungen und die Moderne in der österreichischen Lite ratur. Hg. von Johann Dvorˇák, Frankfurt/M. 2003, S. 255–292; Klaus Schuhmann: Reden oder Schweigen. Eine Exilkontroverse um Stefan George und Karl Kraus im Jahr 1933. In: Aus dem Antiquariat 6 (2004), S. 421–425. E[rich] Schilling: Und was geht in der Literatur vor? In: Simplicissimus 33 (1928), Nr. 15, S. 203.
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Abb. 9: Stefan Georges 60. Geburtstag. Karikatur von Erich Schilling im Simplicissimus, 1928.
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Abb. 10: Große Überraschung für das Christkind. Karikatur von Thomas Theodor Heine im Simplicissimus, 1928.
Christkinds. George dominiert die Szene im charakteristischen Dreiviertelporträt, das seine Hagerkeit überbetont, mit strenger Haltung, griesgrämiger Miene und zurückgekämmtem, weißem Haupthaar. Im Hintergrund stehen, schräg hintereinander, vier in priesterähnlichem Schwarz gekleidete Männer, die Hände zum Gebet gefaltet. Eindeutig zu erkennen sind der vorne stehende Karl Wolfskehl, der mit dicker Brille den Blick nach oben richtet, sowie an dritter Stelle Friedrich Gundolf. Die beiden anderen Männer könnten Rudolf Pannwitz und Ernst Bertram sein, die in der Öffentlichkeit mit George assoziiert wurden. Die Zeichnung mit der Bildunterschrift „Stefan George hat sich nach sechzigjähriger Prüfungszeit überzeugt, daß das
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Christkind heilig genug ist, um in seinen Kreis aufgenommen zu werden“ karikiert den elitären Charakter des George-Kreises und parodiert durch die blasphemische Inversion des Gottesdiensts und die Vermischung von katholischer Tradition und George-Kreis dessen kultische Züge.12 Einen repräsentativen Überblick über die Bedeutung Georges im literarischen Feld um 1930 vermittelt ein ‚Plebiszit‘ der Zeitschrift Literarische Welt. Aus Anlass von Georges 60. Geburtstag hatte der Herausgeber Willy Haas bekannte Schriftsteller gebeten, in einer „kurzen autobiographischen Notiz“ darzulegen, „welche Rolle Stefan George in [i]hrer inneren Entwicklung spielt“.13 Veröffentlicht sind die Antworten von Walter Benjamin, Bert Brecht, Martin Buber, André Gide, Willy Hellpach, Friedrich Muckermann, Josef Ponten, Franz Rosenzweig, Albert Saint-Paul, Wilhelm Schäfer, Ruth Schaumann, P. Expeditus Schmidt O.S.B. [recte: O.F.M.], Oscar A. H. Schmitz, Ina Seidel, Friedrich Sternthal, Francis Vielé-Griffin und Conrad Wandrey; die Folgenummer der Literarischen Welt brachte die Stellungnahmen von Frank Thieß, Paul Wiegler, Karl Wolfskehl und Stefan Zweig. Das Spektrum der Antworten reicht von der Negierung jeglichen Einflusses über Relativierungen einer früheren oder späteren ästhetischen Orientierung bis hin zum unverbrüchlichen Bekenntnis zu George. Unabhängig vom jeweiligen Urteil verdeutlicht allein die Vielzahl, Internationalität und Bandbreite der prominenten Urteile, welch bedeutende Rolle George im literarischen Feld der Weimarer Republik spielte. Dass Stefan George und sein Kreis nicht nur ein ästhetisches Phänomen darstellen, gibt Conrad Wandreys Leitartikel in der Literarischen Welt flankierend zu verstehen, wenn er das Charisma der Person dem Werk überordnet: „es geht von der unmittelbaren Berührung mit seiner Person eine Wirkung aus, die nicht nur selbständig neben der seines Werkes steht, sondern unvergleichlich größer ist als alles, was George als Dichter gedichtet, als Prophet verkündet hat“.14 Die Umfrage der Literarischen Welt zur Stellung Georges im deutschen Geistesleben hat für die Rezeption Georges insofern eine größere Bedeutung, als hier mehrere prominente französische (Gide, Vielé-Griffin, Saint-Paul) und jüdische Stimmen (Benjamin, Buber, Wolfskehl, Zweig) versammelt sind, welche ein europäisches Gegengewicht bilden zu der beginnenden nationalistisch-antisemitischen Indienstnahme Georges. Eine eigenartige Mischung von Faszination und Distanz, wie sie erst für viele exilierte Autoren charakteristisch ist, prägt schon 1928 Walter Benja12 13 14
Th[omas] Th[eodor] Heine: Große Überraschung für das Christkind. In: Simplicissimus 33 (1928), Nr. 38, S. 488. Vgl. Willy Haas (Hg.): Stefan Georges Stellung im deutschen Geistesleben. Eine Reihe autobiographischer Notizen. In: Die Literarische Welt 4 (1928), Nr. 28 und Nr. 29. Conrad Wandrey: Stefan George. In: Die Literarische Welt 4 (1928), Nr. 28, S. 1–2.
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mins Verhältnis zu Stefan George.15 Benjamins Antwort auf die Umfrage der Literarischen Welt ist eng mit Erinnerungen an Freunde verbunden, deren Namen allerdings ebenso verschwiegen werden wie die Titel der Gedichte Georges, die er „immer allein geliebt“ habe und „die sich nur immer allein mir erschlossen“.16 Es lässt sich nur mutmaßen, warum Benjamin etwa mit dem lied des zwergen17 und der Entführung18 oder auch mit der Dante-Übersetzung die Dichtungen Georges nennt, die für ihn jeweils so eng mit Freundschaften verbunden sind, dass „sie die Gestalt einer Liebe annahm[en]“, aber er seine eigenen Vorlieben übergeht.19 Vermutlich ist es mehr die „Scheu, sich zu George öffentlich zu äußern“ als die von Adorno überlieferte Scham vor der Unzulänglichkeit seiner Anfänge.20 Hinzu kommt wohl auch eine werkpolitische Reserve, die möglicherweise die unterschiedliche Dichter-
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Eine ebenso gründliche wie kritische Würdigung bietet Michael Rumpf: Faszination und Distanz. Zu Benjamins George-Rezeption. In: Walter Benjamin – Zeitgenosse der Moderne. Hg. von Peter Gebhardt und Martin Grzimek, Kronberg im Taunus 1976, S. 51–70. 16 Walter Benjamin: [Antwort auf Umfrage]. In: Die Literarische Welt 4 (1928), Nr. 28, S. 3. – Zu den ungenannten Freunden Benjamins zählt in erster Linie der Dichterfreund Christoph Friedrich Heinle, der sich 1914 das Leben genommen hatte. In den nachgelassenen Gedichten Heinles, die Benjamin herausgegeben hat, finden sich durchaus George-Reminiszenzen. So alludiert das impersonale Incipit von Heinles titellosem Gedicht „Es steigt der Tag aus wirrem Traum, befreit“ mit dem charakteristischen Verb ‚steigen‘ für ‚vergehen‘ Georges „Es lacht in dem steigenden jahr dir“ (SW IV, 89); vgl. Christoph Friedrich Heinle: Lyrik und Prosa. Hg. von Johannes Steizinger unter Mitarb. von Stefan Scherhaufer. Mit einem Geleitwort von Giorgio Agamben, Berlin 2016, S. 56. Georg Doerr: „Läuterung des Samens“ – Gustav Wyneken und Stefan George als geistige Führer des jungen Walter Benjamin. In: Stefan George und die Jugendbewegung. Hg. von Wolfgang Braungart, Stuttgart 2018, S. 217–241, erkennt im jungen Benjamin eine zeittypische Spannung zwischen assimilatorischem Nationalismus und neu aufkommendem Zionismus, die sich auch in einer konkurrenziellen Verehrung für Wyneken wie George zeige, auf den sich sein frühes Gedicht Der Dichter beziehe. Neben den Baudelaire-Übersetzungen, einer indirekten Hommage an George, sieht Doerr in den 73 Sonetten zum Gedächtnis Fritz Heinles eine Parallele zu Georges Maximin-Kult und gewichtet Benjamins Anleihen an Georges Schreib- und Denkweise viel stärker als Adorno, der Benjamins jugendbewegte Anfänge als Irrtum abtut. SW III, 64 f. 17 18 SW IV, 60. 19 Marion Picker: 1914. ‚Wie George in mein Leben hineinwirkte‘ – Walter Benjamin. In: Text + Kritik (2005), Heft 168, S. 60–75, nimmt Benjamins Beitrag in der Literarischen Welt zum Anlass, um die Bedeutung seines Dichterfreundes Christoph Friedrich Heinle zu akzentuieren, den Benjamin nach dessen Selbstmord so verklärt habe wie George Maximin. Auch Gabriele Guerra: Figure della comunità poetica in Walter Benjamin lettore di Stefan George. In: Studi Germanici (2013), Nr. 2, S. 216–245, betont den Einfluss von Benjamins Jugendfreund Heinle und der Jugendbewegung, erklärt aber Benjamins Verhältnis zu George als ambivalent, geprägt von Empathie wie von ironischer Distanz; vor allem die aristokratischspirituelle und heroisch-nihilistische Dimension habe Benjamin an Georges Dichtung fasziniert. 20 Vgl. Michael Rumpf: Faszination und Distanz, S. 57.
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auffassung oder den politischen Aspekt seiner Dichtung betreffen. Die Ambivalenz, die Benjamins Verhältnis zu George prägt, zeigt sich exemplarisch in seinem Rückblick auf Stefan George, den er 1933 unter „bayrischem Pseudonym“, passenderweise am 65. Geburtstag des Dichters, in der Frankfurter Zeitung veröffentlicht hat. Die Rezension zweier Studien zu George ist für Benjamin noch einmal Anlass, sein Verhältnis zu dem verehrten Dichter zu überprüfen. Dazu kontrastiert er die hellsichtige Stimme des Propheten, der die „Weltnacht“, die „neunzehnhundertvierzehn angebrochen ist“, vorausgesagt hat, mit der des „Reformators“ und Dichters, die im Lauf der Zeit immer leiser und ohnmächtiger geworden sei. Der Eingangssatz von Benjamins Rückblick: „Stefan George schweigt seit Jahren“ ist insofern doppeldeutig, als er nicht nur die publizistische Zurückhaltung meint, sondern auch die historische Abgeschlossenheit des Werks: „Er [scil. George] steht am Ende einer geistigen Bewegung, die mit Baudelaire begonnen hat“.21 Neben Bubers eindeutigem Bekenntnis, George habe „[s]eine Jugend beeinflußt“,22 und Benjamins zweideutigem Eingeständnis, verdient Stefan Zweigs autobiographische Erläuterung seines Weges zu George Beachtung. In seiner Jugend an Rilke und Hofmannsthal orientiert, habe er seiner „Parteilichkeit“ wegen die „wunderbare Herbigkeit […], strenglinige und stark männliche Zucht“ Georges zunächst nicht würdigen können, bevor er dessen Qualitäten erkannt habe: „für keinen lyrischen Dichter deutscher Gegenwart habe ich unbedingtere Bewunderung als für Stefan Georges lapidare Gestalt“.23 Am stärksten von George distanziert sich Brecht, der doch in jungen Jahren ein Anhänger Georges war und in seinem Tagebuch noch 1913 ausdrücklich bekannt hatte: „Ich bekehre mich zu Stefan George“.24 So ist die Ballade von den Seeräubern, entstanden 1918 und später in die Hauspostille (1927) aufgenommen, von Markus Neumann überzeugend als Kontrafaktur von Georges mediävalisierender Irrender Schar25 aus dem Buch der Sagen und Sänge nachgewiesen worden, ein Gegengesang, welchem schon „der
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Walter Benjamin: Rückblick auf Stefan George. In: Kritiken und Rezensionen. Kritische Gesamtausgabe. Hg. von Heinrich Kaulen, Berlin 2011, Bd. 13/1, S. 413–420 [Text] und Bd. 13/2, S. 398–404 [Kommentar]. Martin Buber: [Stefan George]. In: Die Literarische Welt 4 (1928), Nr. 28, S. 3 f. Stefan Zweig: [Stefan George]. In: Die Literarische Welt 4 (1928), Nr. 29, S. 4. Seine Bekehrung zu Stefan George beglaubigt Bertolt Brecht mit dem Gedicht Mond, in dem er sogar Stefan Georges Graphie übernimmt (Kleinschreibung bis auf die Vers- und Satzanfänge), in: Bertolt Brecht: Werke, Bd. 26: Journale 1: 1913–1941. Hg. von Marianne Conrad und Werner Hecht, Berlin und Frankfurt/M. 1994, S. 74 und 514. SW III, 50 f.
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Spott auf die von George betriebene Sakralisierung der Kunst innewohnt“.26 Im Jahr 1926 hatte Brecht die 400 Einsendungen eines Lyrik-Nachwuchswettbewerbs als „empfindsamen Teil einer verbrauchten Bourgeoisie“ kritisiert, „mit der [er] nichts zu tun haben will“, und zu den Mustern dieser überholten ‚bourgeoisen‘ Lyrik ohne jeglichen „Gebrauchswert“ ausdrücklich auch George gezählt.27 Diesen mittelbaren Affront erneuerte Brecht, als er anlässlich von Georges 60. Geburtstag „gegen die Dichtungen Georges“ einwandte: „ihre Form ist zu selbstgefällig“, und gegen den Dichter: „Seine Ansichten erscheinen mir belanglos und zufällig, lediglich originell“.28 Doch nutzt Brecht die polemische Abgrenzung gegen George, um das Konzept seiner eigenen Autorschaft zu profilieren.29 Der 60. Geburtstag des Dichters zeigt somit nicht nur, wie sehr sich an ihm die Geister scheiden, sondern auch, dass das Phänomen ‚George‘ längst zu einer Walstatt gegensätzlicher ästhetischer wie literaturtheoretischer Positionen geworden war. Die polarisierende Wirkung geht sogar so weit, dass Lob und Kritik bei ein und demselben Autor interferieren können, wie exemplarisch Hermann Bahrs Essay bezeugt.30 Bahr verehrt in George ebenso den Erneuerer der Dichtungssprache wie den charismatischen Propheten in einer Zeit, die in ihrer Mittelmäßigkeit gefangen ist.31 Indem er jedoch Georges Wirkung – mindestens partiell – der Person zuschreibt („Der Zauber ging schon von seiner äußeren Erscheinung aus“),32 relativiert Bahr unmerklich die Bedeutung des Werks. Zudem entpuppt sich das autoritative Zitat Josef Nadlers, mit dem Bahr vorgeblich das Neuheidentum Georges 26 27 28 29
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Markus Neumann: „Irrende Schar“ – Brechts „Ballade von den Seeräubern“ als GeorgeKontrafaktur. In: Zeitschrift für Germanistik 15 (2005), Nr. 2, S. 387–394, hier 391. Vgl. Bertolt Brecht: Kurzer Bericht über 400 (vierhundert) junge Lyriker. In: B. B.: Werke, Bd. 21: Schriften 1: Schriften 1914–1933. Hg. von Werner Hecht, Berlin und Frankfurt/M. 1992, S. 191–193, 666–670. Bertolt Brecht: [Stefan George]. In: Die Literarische Welt 4 (1928), Nr. 28, S. 3. Vgl. Lothar van Laak: Bertolt Brechts Entwurf von Autorschaft in Kritik und Abgrenzung zu Stefan George. In: George-Jahrbuch 9 (2013), S. 197–217, dem zufolge George und Brecht das Kritische und das Pädagogische als ästhetische Grundhaltung und als politischsoziale Grundeinstellung teilten, obwohl sie sich in den Zielen stark unterscheiden und Brecht in seinem Gedicht „Als ich las, dass sie die Schriften …“ George als „Schwätzer“ und „Schönredner“ abtue. Georges ausgeprägte Selbstinszenierung habe bei Brecht eine affektive Abwehr provoziert, die mit einer ironischen Brechung der eigenen Selbstinszenierung einhergegangen sei. Hermann Bahr: Stefan George – Zum 60. Geburtstag. In: Das Deutsche Buch 8 (1928), Nr. 5/6, S. 137–141; wieder in: H. B.: Das Labyrinth der Gegenwart, Hildesheim 1929, S. 38– 44 (sowie als Nachdruck in: Hermann Bahr: Kritische Schriften in Einzelausgaben, Bd. 20. Hg. von Gottfried Schnödl, Weimar 2011, S. 37–43). In beiden Buchausgaben ist allerdings das Zitat „An die Toten“ ganz verballhornt. Bahr: Stefan George – Zum 60. Geburtstag, S. 138: „Dichten heißt einen Sinn verkünden: der Mund des Dichters gibt der Sendung einer Zeit das Wort“. Bahr: George – Zum 60. Geburtstag, S. 138.
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konturiert, als vernichtende Stilkritik: „Die Übertreibung in jeder sprachlich möglichen Form. Alles wird nur mittelbar gesagt, ein Stil der Umschweife“. Und mehr noch: Nadlers scharfe Stilkritik mündet in eine Moralkritik Georges: „Ein Denkvorgang von eisiger Schärfe, beginnend mit der Entdeckung eines dämonischen Sprachvermögens, von Stufe zu Stufe sich in Machthunger verwandelnd und in einem Frevel ohnegleichen gipfelnd“.33 Bahrs Frage, ob diese Charakterisierung Nadlers, „die Wort um Wort auf George zu[treffe], den George vor dem Kriege“, auch „heute noch“ gelte, „nach den Gesängen ‚An die Toten‘“,34 wirkt nach dem Zitat der politischen Schlussstrophe nurmehr rhetorisch. Doch wenn Bahr die Wirkung Georges mit den Namen der Autoren belegt, die „in Georges Zeichen“ stünden, und diese Reihe mit Hofmannsthal beginnen und mit Borchardt enden lässt, dann erweist sich der mindestens ambivalente Tenor seiner Kritik. Mit dem Geburtstag deuten sich sowohl der epochale Bruch in der Wirkung Georges, der oft schon als historisches Phänomen distanziert wird, als auch schon dessen politische Indienstnahmen an, wie etwa die Würdigung im Unterhaltungsblatt zeigt. Sie behandelt George unter drei Rubriken: „Der Führer“, „Der Dichter“ und „Aus der frühen George-Zeit“. Während die kleine Dichterlese („Komm in den totgesagten park und schau“, Gelbe Rose, Schlusschor, An die Toten) unverfänglich bleibt, vermitteln Heinrich Goeschs Erinnerungen an die Anfänge Georges augenfällig den Bedeutungswandel der Person: Goesch unterscheidet den „ersten George“, wie er ihn bewunderte, von „einem anderen George […], dem des Siebenten Rings und des Sterns des Bundes“, von dem die heutige „Jugend […] ergriffen“ sei.35 Paul Fechter zielt vor allem auf den charismatischen Aspekt der Person. Er betont, dass George für eine geistige Elite „der wesentliche Führer gewesen“ ist und damit ein Vorbild „für das Land“. Mehr noch: Fechter heroisiert und stilisiert George zum Präfiguranten politischer Führer, „die wir alle heute suchen“ und zu denen „vor allem der Geist gehört“; „dieser Geist“ habe „keinen größeren Kämpfer, keinen mächtigeren Propheten gehabt […] als diesen Mann – der schweigend, voll Haltung und Würde, durch sein Werk wie durch sein Leben gezeigt hat, wo unser Weg zu neuem Aufstieg […] gehen muß“.36
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Bahr: George – Zum 60. Geburtstag, S. 140. Bahr: George – Zum 60. Geburtstag, S. 141. Heinrich Goesch: Aus der frühen George-Zeit. Erlebtes und Anekdotisches. In: Unterhaltungsblatt der Deutschen Allgemeinen Zeitung 67 (1928), Nr. 315 (8.7.1928). Heinrich Goesch (1880–1930) hatte gemeinsam mit Hermann Kantorowicz unter dem sprechenden Pseudonym „Kuno Zwymann“ die Studie über das Georgesche Gedicht (1902) verfasst. Paul Fechter: Der Führer. In: Unterhaltungsblatt der Deutschen Allgemeinen Zeitung 67 (1928), Nr. 315 (8.7.1928).
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Dagegen grenzt Ludwig Marcuse den politischen Einfluss Georges ein, wenn er in seiner etwas rhapsodischen Hommage „die unwillkürliche Verehrung eines großen Menschen“ als wesentliches Merkmal Georges und seines Kreises bestimmt: „Seine Freunde und Jünger […] künden den Herrscher und den Maßstab der Rangordnung“, doch George „ist der Prophet des Messias, nicht der Messias – das ist das Entscheidende: weshalb sein Wort die Masse verachtet, nicht gestaltet. Er ist ein Herold, kein Erfüllter. Er erwartet den Menschen seiner Sehnsucht: und hat die Sehnsüchtigen noch sehnsüchtiger gemacht“.37 In dieser Haltung eines heroischen Attentismus, der sich in der Bereitschaft des Ausharrens verselbständigt, sieht Marcuse aber auch das Elitäre oder die Grenzen von Georges Wirkung. Denn „die Masse will sehen, nicht sehnen“.38 Bisweilen kombinieren die Würdigungen anlässlich des Geburtstags unterschiedliche, ja sogar gegensätzliche Ansichten von George. So stehen sich etwa auf ein und derselben Zeitungsseite Ein Bekenntnis von Frank Thieß und Arno Schirokauers Dichter in dürftiger Zeit diametral gegenüber. Hatte Thieß die „Weltferne“ Georges früher noch abgelehnt, preist er nun dessen „Wortwirkung“ und „die Begrenzung seines Werkes im Kontemplativen, Erkennenden“.39 Daher sieht Thieß in Georges Zurückgezogenheit, also „darin, daß er nicht auch […] ein führender Mann in dieser führerlosen Zeit sein wollte, […] keinen Mangel“, sondern eine konsequente künstlerische Haltung.40 Dagegen betont Schirokauer den Machtwillen Georges. Indem er ihn „ein[en] Diktator von der Unerbittlichkeit Lenins oder Napoleons“, ja sogar „ein[en] despotisch[en] Herrscher wie Dschingis-Khan“ nennt, macht er ihn implizit zu einem politischen Vorbild: „Man mag von ihm und seinem Kreise halten, was man will: aber dieser heute 60jährige hat in den fast 40 Jahren seiner Regierung sein überirdisches Reich gemehrt, erhöht, geweiht; während andere Reiche blutig fielen, war seines gesegnet. Er ist das kolossale Beispiel geistigen Führertums“.41 Während Georges 60. Geburtstag zahlreiche poetische und politische Stellungnahmen hervorrief, stellt das Erscheinen des Neuen Reichs keine wirkungsgeschichtliche Zäsur dar. Die ästhetische Elite hatte sich bereits an37 38 39 40 41
Ludwig Marcuse: Stefan George. Zu seinem 60. Geburtstag. In: Unterhaltungsblatt der Kölnischen Zeitung 130 (1928), Nr. 378 (12.7.1928). Marcuse: George. Zu seinem 60. Geburtstag. Frank Thieß: Ein Bekenntnis. [Stefan George. Zum sechzigsten Geburtstag des Dichters am 12. Juli]. In: Tägliche Unterhaltungsbeilage der Magdeburgischen Zeitung vom 12. Juli 1928, S. 2. Thieß: Ein Bekenntnis, S. 2. Arno Schirokauer: Dichter in dürftiger Zeit. [Stefan George. Zum sechzigsten Geburtstag des Dichters am 12. Juli]. In: Tägliche Unterhaltungs-Beilage der Magdeburgischen Zeitung vom 12. Juli 1928, S. 2 (mit Faksimile-Abdruck von „Die Gärten schließen“).
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lässlich des 60. Geburtstags des Dichters positioniert und sich zu ihm oder gegen ihn bekannt, so dass eine neuerliche Reaktion weitgehend ausblieb. Außerdem waren die Gedichte des Neuen Reichs allesamt schon zwischen 1908 und 1921 erschienen, so dass sie auch keine Korrektur des Dichterbildes und der Wirkung Georges erforderlich machten. Ernst Blass, seit seinen expressionistischen Anfängen glühender George-Verehrer, würdigt die zyklische Rahmung mit Goethes lezter Nacht in Italien als Beginn und einem Liebeslied an den „Genius der Jugend“ („Du schlank und rein wie eine flamme“ [SW IX, 111]) als Abschluss, streift auch Georges „Versüdlichung oder Hellenisierung der deutschen Kultur“, um aber doch eine fast tragische Realitätsferne festzustellen. Blass kritisiert nicht, dass George von „seinem geformte[n] Werk […] zu einem geformteren ‚Reich‘ kommen will“ und „seine Schau als ein ‚Seher‘ verkündet“, sondern die „offenbare[] Machtlosigkeit dieser zielgerichteten Verkündigungen. Denn es ist ein Schmerz, wenn von einem neuen Reich so konkret und unmetaphorisch gesprochen wird, zu wissen, dass es zunächst nirgends vorhanden ist und leider höchstwahrscheinlich auch nicht kommen oder nicht so kommen wird …“.42 Bezeichnenderweise lobten vor allem kulturkonservative und nationalistische Intellektuelle Georges letzten Gedichtband. So betont Franz Dülberg zwar die „Verkündung eines in der Stille heranwachsenden neuen Geschlechts, das […] den rechten aufwärts führenden Weg finden“ werde, konzediert aber auch, dass George in dem Band „nur Spuren seines Zukunftswillens“ angedeutet habe.43
5.2. Schlüsselromane um 1930: Max Brod, Irmgard Keun, Hans Carossa und Erich Ebermayer Georges große Geltung im kulturellen Leben um 1930 erkennt man auch daran, dass er mehrfach in fiktionalen Texten dieser Zeit vorkommt. Dabei fungiert er in der Regel als Erkennungszeichen oder wichtiges biographisches Symbol für die Romanfiguren. Besondere Bedeutung gewinnen die George-Reminiszenzen in Schlüsselromanen wie in Max Brods Zauberreich der Liebe (1928). In dem skeptischen Helden, dem Prager Schriftsteller Christof Nawy, hat sich der Autor selbst porträtiert, während sein verstor-
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Ernst Blass: Das neue Buch von Stefan George. In: Berliner Tageblatt vom 13.12.1928, Morgenausgabe, S. 5. Franz Dülberg: „Das neue Reich“. Stefan Georges neues Buch. In: Literarische Umschau. 6. Beilage zur Vossischen Zeitung 11.11.1928, S. 1. Zu Dülberg, dessen weltanschaulicher Weg über George in den Nationalsozialismus führt, vgl. Philipp Redl: Franz Dülberg. In: GHb III, S. 1349–1351.
5.2. Schlüsselromane um 1930
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bener jüdischer Freund Richard Garta wohl Franz Kafka nachgebildet ist. Die Freundschaft wird wesentlich durch gemeinsame Lektüren befestigt, zu denen vorrangig George gehört, einer von Gartas „Lieblingsautoren“, wie eine im Präsens gehaltene Analepse verrät: „Sie lesen gemeinsam Platon. […] Garta zeigt ihm einmal ein Gedicht von Stefan George, schenkt ihm einen Roman von Flaubert, von Stifter, Briefe von Fontane, chinesische Lyrik […]“.44 In Irmgard Keuns Zeitroman Das kunstseidene Mädchen (1932) liegen bei Ernst, dem letzten Geliebten der Ich-Erzählerin Doris, Baudelaires Fleurs du Mal in deutscher Übersetzung auf dem Nachttisch: Auf dem Nachttisch [...] Bücher. Baudelaire. Sicher französisch. Aber auf deutsch. – Lesbos, du Insel der heißen erschlaffenden Nächte ... da weiß ich doch Bescheid, da geht mir doch was auf – ist doch glatt unanständig! Lesbos! Da ist man doch genug aufgeklärt von Männern und von Berlin auch.45
Der Tagebucheintrag spielt an auf Georges Übertragung von Baudelaires Lesbos-Gedicht, aus den Blumen des Bösen (SW XIII/XIV, 137–139), einer weiblichen Hymne auf „Sappho · die männliche · liebende seele und dichter“ (V. 56 und 60). Dass es sich bei Ernsts Nachttischlektüre um Georges Nachdichtung handelt, zeigt das das Vers-Zitat, das Keuns Ich-Erzählerin leicht verballhornt; der Vers, der die vierte Strophe zyklisch rahmt, lautet bei George: „Lesbos du erde der heissen erschlaffenden nächte!“ (SW XIII/ XIV, 137, V. 16 und 20). Die Ich-Erzählerin missversteht offenkundig den Kunstcharakter und imaginiert sich zu dem Reizwort ‚Lesbos‘ verbotene gleichgeschlechtliche Verhältnisse: „Lesbos, du Insel. Bilder sind ja Gott sei Dank nicht dabei“.46 Zugleich reizt sie der erotische Unterton, denn sie räumt später ein, „in dem komischen Nachttischbuch gelesen“ zu haben, aus dem sie wiederum frei zitiert:
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Max Brod: Zauberreich der Liebe. Roman, Berlin, Wien und Leipzig 1928, S. 73. Gartas Kanon vervollständigen „Kierkegaard, Amiel, Hamsun, Robert Walser […]. Er [Garta] liest nur immer und immer wieder diese und jene Stelle aus seinen Lieblingsautoren vor, mit seiner raschen, ganz unpathetischen, dabei aber Rhythmus und Steigerung mit geheim vibrierendem Gesange laut nachschaffenden Stimme […]“ (ebd.). Vgl. dazu Jochen Strobel: Max Brod: Zauberreich der Liebe. In: Fakten und Fiktionen. Werklexikon der deutschsprachigen Schlüsselliteratur 1900–2010, Bd. 1. Hg. von Gertrud Maria Rösch, Stuttgart 2011, S. 86–89. Dass die gemeinsame Wertschätzung, die Brod und Kafka für George hegten, ihre Freundschaft befestigte, wurde schon oben erwähnt; vgl. Kapitel 3.2.8. Vgl. Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen. Roman. In: I. K.: Das Werk, Bd. 1: Texte aus der Weimarer Republik. Hg. von Heinrich Detering und Beate Kennedy. Mit einem Essay von Ursula Krechel, Göttingen 2017, S. 232–387, hier 351 und 452 (Kommentar). Keun: Das kunstseidene Mädchen, S. 352.
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5. Vom Neuen Reich (1928) zum Dritten Reich
ich sehe eure jungfräulichen Triebe sich künden, ich seh eure Frohzeit und das verlorene Glück – mein Geist, wie vervielfacht, ergeht sich in all euren Sünden, und all eure Tugenden gibt meine Seele zurück ... das kann doch keiner verstehn, aber es reimt sich.47
Bei diesem Zitat aus Baudelaires Blumen des Bösen handelt es sich um die fünfte Strophe aus dem vierteiligen Poem Die kleinen Alten in Georges Umdichtung: Darin schildert das lyrische Ich seine „verderblichen launen“, vormals schöne, nun gealterte Frauen als „zerrbilder“ aufzusuchen und deren früheren Reizen nachzuspüren. Dass dieses Gedicht in fast tragischer Weise auch Doris’ eigenes Schicksal spiegelt, entgeht ihr, wird aber dem Georgekundigen Leser klar. Somit etablieren die von der Protagonistin nur fragmentarisch zitierten, verfremdeten und unverstandenen George-Verse ein Informationsgefälle zwischen der Ich-Erzählerin und dem Leser. George kommt die romaninterne Funktion eines sozialen Distinktionsmerkmals zu, da er den unüberbrückbaren Bildungs- und Milieu-Unterschied zwischen Doris und ihrem Geliebten illustriert. Auch in Hans Carossas autofiktionaler Erzählung Der Arzt Gion (1931), seinem wohl bedeutendsten Werk, spielt George, genauer sein Bild, eine wichtige Rolle. Er ist der Leitstern für den Bildungsgang des Arztes, der in mehreren Begegnungen mit unterschiedlichen Frauengestalten zu sich und zu einer harmonischen Beziehung mit der labilen Kindfrau Cynthia findet. Nach einem Krankenbesuch fällt Gion bei einem Gang durch die Stadt auf einmal ein Porträt in einem Schaufenster ins Auge: An der Stelle der stärksten Beleuchtung aber stand auf dunkler Staffelei das breit eingerahmte Porträt eines alternden Mannes, in Öl gemalt. Von weitem erkannte der einsame Wandler den Dargestellten, und gleich fingen alle seine Gedanken an sich auf ihn zu beziehen. Wenn uns das Bildnis eines geliebten, verehrten Menschen unvermutet irgendwo begegnet, so empfinden wir ihn im Augenblick als einen Abgeschiedenen […]. So ging es dem jungen Arzt, als ihn der große Dichter und Denker nun aus befremdender Umgebung heraus ansah, und er mußte sich eingestehen, daß er lange nicht mehr in den Büchern gelesen hatte, denen er einst so viel Freude, so viel Führung schuldig geworden war. Seine Beschämung wuchs im Anschauen des treulich dargestellten Hauptes; es ließ den stolzen Geist erkennen, wie er sich wehrte gegen die schlimme Zeit, die er in drohend schönen Psalmen selbst vorausgesagt hatte; das noch jugendlich gewellte Haar war weiß geworden über der altersklaren Stirn, das früher schmerzlich zarte Antlitz zu löwenhafter Ge47
Keun: Das kunstseidene Mädchen, S. 356 und 452f. (Kommentar); vgl. SW XIII/XIV, S. 114–117, hier 117. Bei George lautet die entsprechende Strophe: „Ich sehe wie eure jungfräulichen triebe sich künden · / Ich sehe die frohzeit und das verlorene glück. / Mein herz wie vervielfacht ergeht sich in all euren sünden / Und all eure tugenden strahlt meine seele zurück“.
5.2. Schlüsselromane um 1930
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drungenheit umgeformt. Während aber nun die strenge Schönheit früh gelesener Strophen in dem einsamen Gänger aufklingt, empfindet er dunkler und härter als sonst sein eignes Leben […]. 48
Auch wenn der dargestellte Dichter nicht namentlich genannt ist, entsprechen die Haartracht und die leoninische Physiognomie zweifellos George.49 Die Begegnung mit dem Porträt ist zweigeteilt beschrieben. Die Beschreibung von Georges Porträt geht mit einem Tempuswechsel ins Präsens in eine meditative Empathie über, in welcher der personale Erzähler angesichts von George Gerichtstag über sich und seine Zukunft hält und sein Dasein mit einer „belagerten Festung“ vergleicht, die mit anderen „Inseln […] das Ganze wieder her[stellt]“. Auch die zweite Begegnung mit dem DichterPorträt hat für den Protagonisten entscheidende Bedeutung. Begleitet von der abgründigen Hure Diorna, die er nach einem Krankenbesuch trifft, tritt er vor das Schaufenster, „hinter dem noch immer das lorbeerumgrünte Bildnis des Dichters an der Staffelei lehnte. Den einfachen Rahmen aber zierte jetzt ein Trauerflor, und wieder zeigte es sich dem dunkel Geleiteten an, daß dies eine bedeutsame Stunde war, in der es für ihn keine folgenlosen Schritte gab. Solang ich die gleiche Sprache spreche wie sie, hält sie mich fest …“.50 Wieder geht die Bildbeschreibung, die dieses Mal ganz knapp und auf den Rahmen beschränkt ist, mit einem Tempuswechsel ins Präsens über in eine stark subjektivierte Reflexion. Dass Carossa Georges Tod antizipiert – die Handlungszeit ist 1924/25, und als der Roman 1931 erschien, lebte George 48
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Hans Carossa: Der Arzt Gion. Eine Erzählung, Leipzig 1931, S. 51 f. Die poetologischen Aspekte des Romans blieben m. E. bislang unterschätzt. Einige Kunstgespräche lassen sich auch auf Carossas imitativ-kompetitives Verhältnis zu George beziehen, etwa Gions ästhetisches Bekenntnis zu Anverwandlung fremder Kunstwerke: „Einen jeden möchte ich gerade nicht nachahmen; aber dies ist ein Meister, durch den man zum Original wird, wenn man ihn kopiert“ (ebd., S. 87). Tanja Becker: Maschinentheorie oder Autonomie des Lebendigen? Die literarische Amplifikation der biologischen Kontroverse um Mechanizismus und Vitalismus in zentralen Prosawerken von Hans Carossa, Gottfried Benn, Ernst Weiß und Thomas Mann, Köln 2000, S. 176–197, geht in ihrer Interpretation von Carossas Roman Der Arzt Gion nicht auf die eigenartige Porträt-Episode ein. Das Porträt ist in der Forschung mehrfach diskutiert worden, August Langen: Hans Carossa. Weltbild und Stil, Berlin 21979, hält es für ein Kompositporträt, in dem Georges und Alfred Momberts Züge erkennbar wären, und Marion Stojetz: Aus tiefem Abend glänzt ein heller Stern. Welt- und Natursicht in der Lyrik Hans Carossas, Berlin 2005, bes. S. 268–270, folgert widersprüchlich: „Tatsächlich hat Carossa wohl keinen speziellen, sondern vielmehr den Dichter schlechthin darstellen wollen“ (ebd., S. 269), während sie an anderer Stelle einräumt, dass das „Dichterbildnis […] überwiegend Züge Georges trage“ (ebd., S. 353). Neuerdings hat Eckhardt Köhn: Im Schaukasten. Hugo von Hofmannsthal und Stefan George. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. März 2019, Nr. 73, S. N 3, die Vertauschung von Georges und Hofmannsthals Bildnis in der Romanepisode als Distanzierung Carossas vom vormaligen Vorbild Georges gedeutet. Carossa: Der Arzt Gion, S. 254.
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5. Vom Neuen Reich (1928) zum Dritten Reich
bekanntlich noch – lässt sich nur mit der romaninternen Funktion erklären.51 Gion wird durch die Begegnung mit dem Tod des Dichters an seine Lebensaufgabe erinnert: „Rhythmen des Toten wogten in ihm, Gesänge der Lebendigen rauschten darein“.52 Die Begegnung bestärkt Gion, sich von „der dunklen Führerin“ zu lösen. Indem er den Abschied in einem improvisierten Gedicht ausdrückt („Das Kind ist in den Liebenden verborgen …“), erkennt er seine künftige Pflicht: Mit dem Tod des Dichters findet der Protagonist somit nicht nur seine Lebensaufgabe, sondern auch seine eigene Poesie. Das hier erstmals veröffentlichte Gedicht, dessen sechs Strophen im Roman prosimetrisch aufgelockert präsentiert werden, hat Carossa 1932 unter dem Titel Ausklang in seine Gedichte aufgenommen.53 Indem er den Tod des Dichtervorbilds mit der Entstehung der eigenen Kunst kombiniert, drückt Carossa seine Doppelbindung zu George aus, die zwischen Verehrung und Selbstschutz schwankt, der sich als Todeswunsch artikuliert.54 Eine große Rolle spielt Stefan George implizit oder ausdrücklich in Romanen der Jugendbewegung wie etwa in Erich Ebermayers Schlüssel-
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Daher überzeugt es auch nicht, wenn nach Albert von Schirnding (vgl. Albert von Schirnding: Den Grundriß retten. München im Werk von Hans Carossa. In: Hans Carossa. Dreizehn Versuche zu seinem Werk. Hg. von Hartmut Laufhütte, Tübingen 1991, S. 83–96, hier 86 f.) Monika Stojetz annimmt, der Trauerflor wäre „ein Reflex Carossas auf den Tod Hofmannsthals – er starb am 15. Juli 1929“ (In: Monika Stojetz: Aus tiefem Abend glänzt ein heller Stern, S. 270). Biographisch durchaus plausibel, passt eine solche Referenz aber nicht zur vorgängigen Ekphrasis des Porträts und wäre auch romanintern insofern problematisch, als der Roman in den Jahren 1924/25 spielt. Dagegen wägt Stojetz präzise die Bedeutung Goethes und Georges für Carossa gegeneinander ab (ebd., S. 341–357). Carossa: Der Arzt Gion, S. 256. Carossa: Der Arzt Gion, S. 256–258, wieder in: Hans Carossa: Ausklang. In: H. C.: Gedichte, Leipzig 1932, S. 101 f., sowie die kritische Edition: Hans Carossa: Gedichte. Die Veröffentlichungen zu Lebzeiten und Gedichte aus dem Nachlass. Hg. von Eva KampmannCarossa, Leipzig 1995, S. 67. Das abschließende Dialoggedicht Der alte Taschenspieler (Carossa: Gedichte, Leipzig 1932, S. 103–114), in dem der Zauberer nach einer Vorstellung seiner Enkelin die Nachfolge seiner Kunst anvertraut, lässt sich durchaus auf die Nachfolge Georges in der Dichtung beziehen. Diese Ambivalenz kennzeichnet auch Carossas nachgelassenes Dichtergedicht „Jenen Berg mit weißen Zinnen“, das sich auf George bezieht, ohne ihn namentlich zu nennen (in: Hans Carossa: Gedichte. Hg. von Eva Kampmann-Carossa, Leipzig 1995, S. 140 f. und 314 f. (Kommentar). Auch im Tagebuch finden sich Einträge, die von mangelndem poetischen Selbstbewusstsein sprechen: „Wie schön wäre manches Gedicht, wenn es keinen George und keinen Rilke gäbe!“ (in: Hans Carossa: Tagebücher 1925–1935. Hg. von Eva Kampmann-Carossa, Frankfurt/M., Leipzig 1993, s. d. 4.6.1928, S. 118) und kurz darauf hält er fest: „Kantorowicz findet nicht genug Georgesche Einwirkung in meinen Gedichten“ (s. d. 11.6.1928, ebd., S. 123). In einem Brief an Fritz Klatt vom 26. Dezember 1942 schreibt Carossa, ohne selbst Position zu beziehen, für manche sei Trakl der einzige echte Dichter, für andere seien es Rilke oder George, aber von solchen Einseitigen gehe wenig Kraft aus (Hans Carossa: Briefe, Bd. 3: 1937–1956. Hg. von Eva Kampmann-Carossa, Frankfurt/M. 1981, S. 194).
5.2. Schlüsselromane um 1930
213
roman Kampf um Odilienberg (1929).55 Im Lehrer Manfred Mahr hat Ebermayer den Reformpädagogen Gustav Wyneken dargestellt, die Freie Schule Odilienberg ist seine gemeinsam mit Paul Geheeb gegründete Freie Schulgemeinde Wickersdorf bei Saalfeld in Thüringen.56 Diese Identifikation ist insofern zu relativieren, als zwar der George-Kreis in Wickersdorf eine bedeutende Rolle spielte und mit Ernst Schertel und Paul Reiner auch bekennende Georgianer im Lehrerkollegium waren, aber Wyneken seinen Schülern eine geteilte Loyalität nicht zugestand: „‚Wyneken oder George“ war die Losung.“57 Doch selbst wenn Mahr eine Kompositfigur darstellt, dürfte Ebermayers Romanhandlung die widerstreitenden reformpädagogischen Konzepte dieser Zeit gut treffen. Der sechzehnjährige Erhard Vischer wechselt mit seiner Freundin Mirjam in die Freie Schule Odilienberg und gerät dort zwischen die pädagogischen Fronten des fortschrittlichen Schulleiters Wenzel Silberstedt (Sibbi) und des konservativen Pädagogen Manfred Mahr. Silberstedt wünscht sich eine moderne, technikbegeisterte Jugend, „nicht lautenschlagend und George-Hymnen leiernd in Feld und Flur“.58 Während der sogenannten ‚Kameradschaft‘ des jugendbewegten Mahr nur zwei Schüler angehören, ist Silberstedts Kameradschaft, in die zunächst auch Erhard Vischer mit seiner Freundin eintritt, größer. Doch zweifelt Vischer bald an Silberstedt – er sei „ein guter, anständiger Mann […], aber
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Dass es einen wechselseitigen Austausch des George-Kreises mit der Jugendbewegung gab, bezeugt der Aufsatz von Karl Wolfskehl: Der Roman der deutschen Jugendbewegung [zu Annemarie von Puttkamer: Die Chronik von St. Johann]. In: 1927. Ein Almanach für Kunst und Dichtung aus dem Kurt Wolff Verlag, München 1926, S. 111–122. Zu Georges Bedeutung für die Jugendbewegung vgl. den instruktiven Sammelband von Wolfgang Braungart (Hg.): Stefan George und die Jugendbewegung, Stuttgart 2018. Vgl. Ralph Winter: Erich Ebermayer: Kampf um Odilienberg. In: Fakten und Fiktionen. Werklexikon der deutschsprachigen Schlüsselliteratur 1900–2010, Bd. 1. Hg. von Gertrud Maria Rösch, Stuttgart 2011, S. 127–129. Carola Groppe: Die Macht der Bildung. Das deutsche Bürgertum und der George-Kreis 1890–1933, Köln, Weimar und Wien 1997, S. 341–351 und 381–386 (zu Otto Braun und seiner Schulzeit in Wickersdorf), hier 345. Die Rolle Georges bei Wyneken und bei den Wickersdorfer Reformpädagogen umreißt Alfred Ehrentreich: Stefan George in der Freien Schulgemeinde Wickersdorf. In: CP 101 (1972), S. 62–79. War George zunächst nur in dem ersten Kriegsjahr 1914/15 wichtig, bevor er dann von Carl Spitteler, Wynekens eigentlichem Favoriten, abgelöst wurde, rückte George erst Mitte der 20er Jahre wieder ins Zentrum des Unterrichts und wurde von Wyneken als Kronzeuge eines spezifisch pädagogischen Eros vereinnahmt, eine Vereinnahmung, gegen die sich George heftig zur Wehr setzte. – Rudolf Hagelstange: Das Haus oder Balsers Aufstieg. Roman, München 1981, der die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts in einer faktual-fiktionalen Melange rekonstruiert, geht auch auf die Bedeutung Georges in Wickersdorf ein. Ilse, Tochter des sozialdemokratischen Protagonisten Carl Balser, berichtet ihrem Vater neben pädagogischen Gegensätzen zwischen dem Gründer Wyneken und den Lehrern: „Wenn Stefan George gelesen wird, muß Dr. Schertel heran“ (ebd., S. 220). Erich Ebermayer: Kampf um Odilienberg. Roman, Berlin, Wien und Leipzig 1929, S. 159.
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5. Vom Neuen Reich (1928) zum Dritten Reich
kein Führer“ – und fühlt sich zu Mahr hingezogen.59 Seine eigene Position gewinnt Vischer in einer Unterredung mit Silberstedt über Stefan George, die weniger ein Kunstgespräch als vielmehr eine Weltanschauungsdebatte ist: „Kennst du Stefan George?“ fragt Erhard aus dem Dunkel. Seine Stimme klingt aggressiv […], er weiß daß George ein wunder Punkt bei Sibbi ist“.60 Statt Silberstedt argumentativ zu widerlegen, der am Primat der Wissenschaft festhält, die Bedeutung der Seele zugunsten des Geists abtut und autonome Poesie ablehnt („ich kenne nichts Widerlicheres als Dichtung um sich selbst herum“), zitiert Erhard „zur Versöhnung“ die ersten beiden Strophen aus Georges Gedicht: „Der hügel wo wir wandeln liegt im schatten“ aus dem Jahr der Seele.61 Auch wenn er Mahrs Konzept des „neuen Eros“ zunächst nicht versteht, grenzt er es ab vom „Gehabe ‚sexueller Zwischenstufen‘“ und gewinnt eine Ahnung davon aus der Dichtung, auch aus „Georges verschleierte[m] Ruf“.62 Nachdem Mahr seine kleine Kameradschaft durch ein Unglück verloren hat, sucht Erhard mit einem neuen Zimmernachbarn Mahrs Gunst. Der gibt ihm eine eigene Schrift „Hellas“ zur Lektüre, dessen handschriftliches Motto Erhard sofort versteht: „Die Liebe gebar Jahrtausende voller lebendiger Menschen, die Freundschaft wird sie wiedergebären (Hölderlin).“63 Erhards Reaktion zeigt, dass er dieses Programm schon internalisiert hat: „Er las den Satz, den er nun schon im Traum hersagen konnte und längst verstand, zum tausendsten Mal.“ Dass dieses Credo, das Erhard mit Mahr verbindet, auch George einschließt, versteht sich, denn es begegnet im Schlussteil des dreiteiligen Rollengedichts Hyperion im Neuen Reich, als bedeutsames Zitat durch Kapitälchen hervorgehoben: „[…] L iebe | G ebar die W elt · L iebe gebiert sie neu “.64 Vermittelt durch Hölderlin, gewinnt damit George um 1930 eine bedeutende Funktion in der Jugendbewegung und Reformpädagogik.
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Ebermayer: Kampf um Odilienberg, S. 193. Ebermayer: Kampf um Odilienberg, S. 220–227, hier 220. Ebermayer: Kampf um Odilienberg, S. 226; George: Jahr der Seele. In: SW IV, 107. Ebermayer: Kampf um Odilienberg, S. 258. Ebermayer: Kampf um Odilienberg, S. 366. Zitat aus Friedrich Hölderlin: Hyperion oder der Eremit in Griechenland. In: F. H.: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2: Hyperion, Empedokles, Aufsätze, Übersetzungen. Hg. von Jochen Schmidt in Zusammenarbeit mit Katharina Grätz, Frankfurt/M. 1994, S. 9–276, hier I 2, S. 73. s Stefan George: Hyperion I · II · III. In: SW IX, 11–14. George intensiviert das Zitat aus Hölderlins Hyperion („Die Liebe gebar die Welt, die Freundschaft wird sie wieder gebären“), indem er „Freundschaft“ durch „Liebe“ ersetzt.
5.3. Weltanschauliches Leitbild
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5.3. Weltanschauliches Leitbild Im Jahrfünft zwischen 1928, Georges 60. Geburtstag sowie dem Erscheinen des Neuen Reichs, und 1933, Hitlers Machtergreifung und Georges Tod, bahnt sich eine stärker weltanschauliche Wirkung Georges an. Sie zeigt sich auch in poetischen Zeugnissen wie in Fritz Usingers „Dankgesang“ an Stefan George (1931), aber mehr noch in expositorischen Aushandlungen des politischen Aspekts von Georges Dichtung. Diese Debatte beginnt nicht erst 1933, sondern setzt schon früher ein und intensiviert sich nach 1928. Klaus Landfried hat überzeugend nachgewiesen, wie die politischen Figurationen in Georges Lyrik, die ‚geistig‘ gemeint waren, die politisch-ideologische Trivialisierung seiner Dichtung förderten.65 So wurde George schon vor 1933 sowohl von nationalistischen Ideologen in Anspruch genommen als auch von dezidierten Europäern des Nationalismus beschuldigt. Friedrich Franz von Unruh, der sich intensiv, auch im Schatten seines seinerzeit als Dramatiker gefeierten Bruders Fritz, an George und dessen Kreis abarbeitete,66 hat 1932 in einem politischen Essay die nationalistische Inanspruchnahme Georges einer kritischen Prüfung unterzogen. Unruh versucht zwar, den ‚wahren‘ George vor Verfälschungen, die vor allem der Umdeutung und „Verengerung“ des Ästheten in einen politischen Führer inhärent seien, in Schutz zu nehmen, doch konstatiert er eingangs, dass „Werk und Wirkung Georges […] der tiefste Strom“ seien, „aus dem der Nationalismus […] schöpft“.67 Allerdings grenzt er George von den Repräsentanten des Kreises ab. Diese hätten „aus seiner Form in seinem Namen die Form“ gemacht, die aber „als Norm […] ihre eigene Saat“ vernichte und der Nährboden eines bellizistischen Nationalismus sei: „Der Mangel an eigener […] Form will die Uniform“.68 Auch wenn Unruh „die Verwandtschaft georgischen und nationalistischen Fühlens gegenüber dem ‚liberalistischen‘ Denken“ vermerkt, lastet er den „sture[n] Nationalhaß als 65 66
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Klaus Landfried: Stefan George – Politik des Unpolitischen, Heidelberg 1975. Die mittlerweile edierten Tagebücher dokumentieren Friedrich Franz von Unruhs intensive Auseinandersetzung mit dem George-Kreis seit 1920. Unruh, der nach dem Ersten Weltkrieg bei Friedrich Wolters in Marburg und Friedrich Gundolf in Heidelberg studierte, war mit Walter Elze befreundet. Vgl. Friedrich Franz von Unruh: Stefan George und der deutsche Nationalismus. In: Die neue Rundschau 43 (1932), Nr. 2, S. 478–492, hier 479; wieder in: F. F. v. U.: Werke, Bd. 5: Weltanschauliche Schriften, Teilband 1. Hg. von Leander Hotaki, Freiburg 2007, S. 273–291, hier 273. Zu Unruhs problematischer Beziehung zu seinem Bruder und seiner langfristigen George-Verehrung vgl. die quellenbasierte Studie von Sarah Reuß: Friedrich Franz von Unruh (1893–1986). Eine biographische Skizze. In: F. F. v. U.: Werke, Bd. 5.1, S. XIII–CXCV, die immer wieder auf Unruhs Verhältnis zu George und dessen Kreis eingeht. Unruh: Stefan George und der deutsche Nationalismus, S. 482; wieder in: Werke, Bd. 5.1, S. 277.
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5. Vom Neuen Reich (1928) zum Dritten Reich
Auswirkung völkischer Sammlung“ den Jüngern an, allen voran Friedrich Wolters.69 Die Jünger hätten mit ihrer ‚Lebenswissenschaft‘ einen „Heroenkult“ in „Tendenzschriften“ propagiert, deren „platt völkische[r] Sinn“ nicht zu verkennen sei.70 Neben der „Fiktion des Heldischen“ in der Moderne teile der George-Kreis „mit dem Nationalismus“ den Führergedanken, der in der „Diktatur“ Georges sein Vorbild habe.71 Sein vorläufiges Urteil, dass „George den Nationalismus nähre“,72 relativiert Unruh allerdings am Schluss: So sehr er die Nähe des George-Kreises zum Völkischen entlarvt, so sehr markiert er doch auch den Abstand „zwischen einer in sicherer Geistigkeit ruhenden Welt und einer […] politischen Überzeugung“.73 Zwar wirft Unruh George vor, ungelöste Konflikte zu verkennen, doch Georges nationalistische Gesinnung sei – wie das ‚Neue Reich‘ – nicht politisch und keinesfalls mit einem „schreierischen Nationalismus“ zu verwechseln.74 Friedrich Franz von Unruhs späte Lyrik, vor allem die 1931 entstandene Ägyptische Reihe seiner Sonette, weisen in der Lexik deutliche George-Zitate auf.75 Für ein „Georgebuch“, an dem er von 1932 bis 1934 arbeitet und das „das Dokument […] zu George und damit zu unserer Zeit“ darstellen soll,76 findet Unruh aber keinen Verlag. Anders als in dem publizierten Aufsatz wollte er darin „die ganz starken Parallelen zwischen George Kreis – Nationalsozialismus […] (Wehrbereitschaft, Bekämpfung des Pazifismus […], Führertum, Zurückgehen auf Blut, Scholle, Nationalismus etc.)“ betonen.77 69
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Unruh: Stefan George und der deutsche Nationalismus, S. 482. Immerhin habe George es aber billigend in Kauf genommen, dass Wolters „in das Weltbild des Kreises die nationalistische Anmaßung“ getragen habe, „die sich von politischer Demagogie nicht mehr scheidet“; vgl. Unruh: Stefan George und der deutsche Nationalismus, S. 483; wieder in: Werke, Bd. 5.1, S. 279. Unruh: Stefan George und der deutsche Nationalismus, S. 485 f.; wieder in: Werke, Bd. 5.1, S. 282 f. Vgl. Unruh: Stefan George und der deutsche Nationalismus, S. 487 f.; wieder in: Werke, Bd. 5.1, S. 284 f. Unruh: Stefan George und der deutsche Nationalismus, S. 490; wieder in: Werke, Bd. 5.1, S. 288. Unruh: Stefan George und der deutsche Nationalismus, S. 492; wieder in: Werke, Bd. 5.1, S. 290. Unruh: Stefan George und der deutsche Nationalismus. In: Die Neue Rundschau 43 (1932), S. 478–492, hier 492; wieder in: Werke, Bd. 5: Weltanschauliche Schriften, Teilband 1, S. 273– 291, hier 290. Vgl. Friedrich Franz von Unruh: Werke, Bd. 3: Sämtliche Novellen, Erzählungen, Geschichten. Roman. Lyrik. Hg. von Leander Hotaki, Freiburg 2007, bes. S. 295–345; der fundierte Stellenkommentar weist zahlreiche George-Parallelen nach. Friedrich Franz von Unruh: Eintrag vom 5.4.1932. In: F. F. v. U.: Werke, Bd. 6: Tagebücher 1920–1986, S. 129 f., hier 130. Vgl. Friedrich Franz von Unruh: Eintrag vom 23.6.1934. In: Werke, Bd. 6, S. 136–139, hier 137. In dem Eintrag rekapituliert Unruh eine Unterredung mit Jakob Wilhelm Hauer (1881– 1962), der Mitglied nationalsozialistischer Organisationen war.
5.3. Weltanschauliches Leitbild
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Vielleicht erklärt sich aus dieser kritischen Tendenz, warum ihm nach der Deutschen Verlagsanstalt im Sommer 1934 auch der Beck-Verlag absagte, womit Unruh „das Schicksal des George-Buches [als] endgültig besiegelt“ ansah und bedauerte, dass die „schwierige, aufreibende Arbeit von zwei Jahren […] vergeblich gewesen“ sei.78 Um die Rezeption Georges nach dem Erscheinen des Siebenten Rings (1907) und vor 1933 kurz zu resümieren, ist neben ihrer Intensität die starke Diversifikation seiner Wirkung hervorzuheben, die von epigonaler Affirmation über ambivalente Huldigung und Parodie bis hin zu vehementer Ablehnung reicht. Die meisten Schriftsteller, die George ungebrochen huldigen, gehören mehr oder weniger seinem Kreis an oder suchen ihm zuzustreben. Dagegen zeigen umgekehrt die Prozesse einer ästhetischen Dissonanz zu George, die mit einer kritischen Auseinandersetzung mit seinem Werk einhergehen, dass George für viele Repräsentanten der expressionistischen Avantgarde und neusachlichen Richtung wie Stadler, Heym, Benn oder Brecht zum maßgeblichen Katalysator einer eigenständigen Entwicklung und poetischen Selbstfindung wurde. Ungeachtet seiner polarisierenden Funktion galt George um 1930 in seiner exklusiven Autorschaftsinszenierung, seiner Verweigerung von Öffentlichkeit und seiner Absage an jegliches Marketing als unbestrittene moralische Autorität im literarischen Leben. Dies bezeugt eine Karikatur von Erich Wilke aus der Jugend.79 (Abbildung 11a und 11b) Sie richtet sich gegen die Kommerzialisierung von Kunst und Kultur, indem sie sich unter dem Titel „Deutscher Geist im Ausverkauf“ über die Vermarktung von Autoren im Warenhaus mokiert. Die Karikatur kombiniert zwei reale Anlässe: Zum einen eine mehrtägige Literaturlesereihe im Kaufhaus Karstadt im März 1930, an der etwa Ernst Toller, Vicki Baum, Egon Erwin Kisch und Erich Kästner mitwirkten, sowie eine „Literarisch-musikalische Teestunde im Karstadt-Haus“ im Spätsommer, an der unter anderen Heinrich Mann und der seinerzeit gefeierte Vortragskünstler Kaplan Fahsel teilnahmen.80
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Friedrich Franz von Unruh: Eintrag vom 19.7.1934. In: Werke, Bd. 6, S. 139. Zur Absage der DVA vgl. ebd., S. 131, s. d. 1.9.1933. Erich Wilke: Deutscher Geist im Ausverkauf [Karikatur]. In: Die Jugend 35 (1930), Nr. 42, S. 664 f. Zu der Literaturlesereihe im Berliner Warenhaus Karstadt, die dort vom 22. bis 29. März 1930 stattfand, vgl. Hans Samter: Dichtung im Warenhaus. In: Die literarische Welt 6, Nr. 16/17 (17.4.1930), S. 7 (Teilnehmer u. a.: Ernst Toller, Vicki Baum, Egon Erwin Kisch, Hans Ostwald, Armin T. Wegner, Joe Lederer und Erich Kästner); zu den musikalisch-literarischen Teestunden im Warenhaus Karstadt vgl. den anonymen Artikel: Literarisch-musikalische Teestunde im Karstadt-Haus. In: Berliner Volkszeitung, 25.9.1930, S. 4 (Teilnehmer u. a.: Heinrich Mann, Arthur Holitscher, Helmut Unger und Kaplan Helmut Fahsel, „eine[r] der interessantesten in der Welt der philosophischen Köpfe“). Über eine Lesung Heinrich
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Unter dem reißerischen Titel „Deutscher Geist im Ausverkauf“ ist neben Vicki Baum, Hanns Heinz Ewers, Alfred Kerr, den Brüdern Thomas und Heinrich Mann sowie Helmut Fahsel auch Stefan George abgebildet. Wie in den großen Schaufenstern eines Warenhauses sind die Schriftsteller nebeneinander ausgestellt und werden mit den Worten: „Billige Dichterwoche · Karstadts Dichter sind die Besten“ beworben. „Im Berliner Warenhaus Karstadt“, so die Bildunterschrift, „fanden vom 20.–30. September literarischmusikalische Tees statt“. Stefan George, deutlich erkennbar an dem nach hinten gekämmten, weißen, mächtigen Haupthaar, dem markanten Kinn und der charakteristischen Darstellung im Profil, hält einen Schnittmusterbogen in Händen; im Hintergrund ist eine Schneiderpuppe zu sehen. Die dazugehörige Ankündigung lautet „Stefan George spricht über Ullsteinschnitte“, damit sind die seinerzeit beliebten Schnittmusterbögen gemeint. Die Karikatur erzielt ihre witzige Schärfe zum einen durch die unpoetischen und belanglosen Themen, die sie den Schriftstellern zuteilt, um sie zur Warenhausattraktion zu degradieren, zum anderen durch die Zusammenstellung mit Stefan George: Denn während die übrigen dargestellten Repräsentanten des literarischen Lebens tatsächlich im Kaufhaus Karstadt auftraten, wird durch die Person Georges, bei dem dies undenkbar ist, eine solche Form der Kulturvermittlung als künstlerische Selbstverleugnung gebrandmarkt.
Abb. 11a und 11b: Deutscher Geist im Ausverkauf. Karikatur von Erich Wilke in der Jugend, 1930.
Manns im Karstadt vgl. auch Siegfried Kracauer: Dichter im Warenhaus. In: Schriften 5: Aufsätze, Bd. 2: 1927–1931. Hg. von Inka Mülder-Bach, Frankfurt/M. 1990, S. 228–230.
6. Nationalsozialismus, Innere Emigration, Exil (1930–1945) Neben der politischen Epoche, der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland am 30. Januar 1933, markieren Stefan Georges 65. Geburtstag am 12. Juli 1933 und sein Tod am 4. Dezember 1933 einen Einschnitt in der poetischen Wirkungsgeschichte. Poetische Bekenntnisse zu George gehen nun fast immer mit einer politischen Stellungnahme einher, auch wenn die Bewertung oft kontrovers ausfällt. Die poetische Rezeption zwischen 1930 und 1945 konnte sich einer politischen Beurteilung Georges und dem Sog einer polarisierenden Sicht kaum entziehen; entweder artikulierte man sich als Freund und Verehrer oder als Gegner und Feind. Daher charakterisiert diesen Zeitraum eher ein politisch kommentierender und metapoetischer Umgang mit George als die ‚rein‘ poetische Auseinandersetzung im Medium der Lyrik. So finden sich als spezifischer Kompromiss des Politischen und Poetischen häufig Mischformen, etwa die Kombination von diskursiver Kritik und Poesie. Trotz oder wegen der intensiven ideologischen Verrechnung nahm die rege poetische Inspiration, die zuvor von George und seinem Werk ausgegangen war, in dieser Zeit unverkennbar ab. Nur mehr selten finden sich isolierte Dichtergedichte, geschweige denn Du-Apostrophen, von eher ephemeren Texten auf den Geburtstag oder Tod abgesehen. Dies mag ebenso ein Indiz für Georges nachlassende poetische Aktualität sein wie der Umstand, dass es so gut wie keine parodistische Auseinandersetzung mehr gibt. Insofern ist die Feststellung des Dichters Eugen Gottlob Winkler in seinem kritischen Nachruf Über Stefan George aus dem Jahre 1935 eine epochenspezifische Diagnose: „Der Tod hat die Gestalt dieses Dichters an Größe nicht erhöht. […] er reduzierte sie; […] Der zu Lebzeiten um Georges Erscheinung künstlich drapierte Mythos […] mußte wie eine Theaterpose mit dem Tod des Akteurs verfallen. […] Heute, nach seinem Tod, […] verharrt sein Werk in einem seltsamen Zustand von Reglosigkeit“; während es „einst Stefan George gelang, auf Zeit und Menschen formgebend einzuwirken“, muss nun „der Umriß eines als Gegenwart restlos gültig bleibenden Ganzen […] erst noch gezogen werden“.1
1
Eugen Gottlob Winkler: Über Stefan George. In: Das deutsche Wort 11 (1935), Nr. 32, S. 1 f., hier 1.
https://doi.org/10.1515/9783110779370-006
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6. Nationalsozialismus, Innere Emigration, Exil
Georges poetische Wirkung in dieser Zeit ist nur ansatzweise erforscht, da die gut untersuchte politische Rezeption und Diskussion diesen Aspekt lange verdunkelte. Zum einen ist der Impetus spürbar, George vom Verdacht einer Komplizenschaft mit dem Dritten Reich freizusprechen, während andererseits versucht wurde, ihn als protofaschistischen Dichter und Vorreiter der NS-Ideologie zu entlarven. Die gründliche Studie von Michael Petrow geht in ihrer differenzierten Darstellung zudem weniger auf die poetische Auseinandersetzung ein als auf die politische Indienstnahme und die ideologischen Kontroversen um Antike und Humanismus.2 Michael Winkler bringt zwar kursorisch mutmaßliche George-Allusionen in Dichtungen der NS-Zeit bei, bleibt aber zu vage in seiner Heuristik von „Georgischem Stil“ als „programmatisch strengem Formbewusstsein mit der Neigung zu klassizistischer Aufnahme eines sprachlich-kulturellen Erbes, das es zu schützen und neu zu behaupten gilt“.3 Zudem dominieren in der Literaturgeschichtsschreibung trotz der differenzierenden Studien von Schäfer und Uwe-K. Ketelsen noch immer „instrumentalistische Interpretationsschablonen“ (Ketelsen), die den Widersprüchen und Konkurrenzkämpfen in der nationalsozialistischen Kulturpolitik nicht gerecht werden.4 Die GeorgeRezeption kann zu der allfälligen Differenzierung des literarischen Feldes zwischen 1930 und 1945 beitragen, wie es etwa Mark Elliott unternommen hat.5
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Michael Petrow: Der Dichter als Führer? Zur Wirkung Stefan Georges im „Dritten Reich“, Marburg 1995; so beschränkt sich das knappe Kapitel „George im Urteil der Künstler“ (S. 89–110) auf Thomas Mann, Gottfried Benn und Eugen Gottlob Winkler. Michael Winkler: Aspekte der Rezeption Stefan Georges in Dichtung und Politik des Dritten Reiches und des Exils. In: Deutsche Exilliteratur, Literatur im Dritten Reich. Akten des II. Exilliteratur-Symposiums der University of South Carolina. Hg. von Wolfgang Elfe und James Hardin, Bern u. a 1979, S. 79–92, hier 85. Die lyrischen Rezeptionszeugnisse verdankt Winkler wohl ausschließlich der Dokumentation von Ernst Loewy: Literatur unterm Hakenkreuz. Das Dritte Reich und seine Dichtung, Frankfurt/M. 1969. Uwe-K. Ketelsen: Literatur und Drittes Reich, Vierow 21994, und Hans Dieter Schäfer: Das gespaltene Bewußtsein. Vom Dritten Reich bis zu den langen Fünfziger Jahren. Erw. Neuausgabe, Göttingen 2008, der statt des Begriffs der ‚Inneren Emigration‘ den Terminus der ‚Nichtnationalsozialistischen Literatur‘ geprägt hat; beide Pionierstudien gehen allerdings kaum auf die George-Rezeption ein. Mark Elliott: Beyond Left and Right: The Poetic Reception of Stefan George and Rainer Maria Rilke, 1933–1945. In: The Modern Language Review 98 (2003), S. 908–928. Elliott arbeitet allerdings mit einem arg vagen ‚Männlichkeitsbegriff‘, um Georges zeitgenössische Attraktivität kontrastiv zu Rilkes ‚weiblicher‘ Kunst zu erklären.
6.1. Ringen um Deutungshoheit und Nachfolge an Georges Lebensabend 221
6.1. Ringen um Deutungshoheit und Nachfolge an Georges Lebensabend 6.1.1. Wolfgang Frommels Huldigung (1930) Die Inanspruchnahme Georges und der Kampf um die Deutungshoheit setzten schon zu Georges Lebzeiten ein, nämlich im Jahre 1930. Die mit einer regelrechten Werk-Usurpation einhergehende poetische Rezeption Georges in den 1930er Jahren eröffnet der mysteriöse Gedichtband Huldigung, der im Jahr 1931 in George-Schrift, gedruckt bei Otto von Holten, im Verlag Die Runde erschien. 151 anonyme Gedichte, nach Themengruppen locker gegliedert, huldigen formal, gehaltlich und in hohem Ton dem Vorbild der Runde: „M.“, dem „Meister“ Stefan George.6 Spiritus rector der Hommage einer „Kollektivpersönlichkeit“ ist Wolfgang Frommel. Er war der führende Kopf eines von Percy Gothein geförderten Dichterkreises in Heidelberg. Zusammen mit dem Typographen Edwin Maria Landau hatte Frommel 1931 den Verlag ‚Die Runde‘ gegründet, der als Vorläufer des ‚Castrum Peregrini‘ gelten kann, der Georges Ethik wie Ästhetik verpflichteten Künstlervereinigung in Amsterdam.7 George verbindet auch schon die Runde der sechzehn Stimmen, die zur Huldigung beitragen.8 Neben Frommel, von dem fünfzig Gedichte stammen, und Hans Boeglin (ca. vierzig Gedichte) sind Götz von Preczow, Achim von Åkerman und Percy Gothein die wichtigsten Beiträger.9 George nahm die Huldigung im Sinne von Eduard Korrodi wohlwollend auf, der diese als bedeutendes Zeugnis einer produktiven Rezeption Georges gelobt hatte, das endlich neben die kritische Aufnahme trete: Seit einem Jahrzehnt hat man Stefan Georges Wirkungskraft und Samen in der deutschen Kritik mehr gespürt als in der Dichtung. Nun redet er durch Zauber und Führung – Verführung, Verzauberung sagen andere – in der Verwandlung der Jugend. Gibt es ein Analogon in irgendeiner Nachbarliteratur […] dass überhaupt
6 Zur Huldigung und zur Gemeinschaft der Runde-Autoren vgl. Günter Baumann: Dichtung als Lebensform. Wolfgang Frommel zwischen George-Kreis und Castrum Peregrini, Würzburg 1995, S. 184–234; weitgehend identisch mit Günter Baumann: Wolfgang Frommel und Die Runde (1931–43). Betrachtungen zu einem national-humanistischen Verlag. In: Philobiblon 40 (1996), Nr. 3, S. 215–235. 7 Die Rolle Frommels und des Castrum pergegrini wird in Kapitel 7.1.5 gewürdigt; vgl. dazu Thomas Karlauf: Meister mit eigenem Kreis. Wolfgang Frommels George-Nachfolge. In: Sinn und Form 63 (2011), Heft 2, S. 211–218. 8 Die Verfasser der anonymen Gedichte der Huldigung finden sich zusammengestellt bei Baumann: Wolfgang Frommel, S. 222. 9 Zu den Beiträgern der Huldigung und ihren Werkprofilen vgl. Baumann: Dichtung als Lebensform, S. 116–142.
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6. Nationalsozialismus, Innere Emigration, Exil
eine solche Gefolgschaft der Töne, der Rhythmen und der Vorliebe im Wort, eine so unbegreifliche Übertragung des Gefühls vorstellbar ist! […] Hier reicht jeder die Fackel dem anderen […]. Alle wissen sie in dem Schönen Bescheid wie wenig junge Menschen dieser Tage […]. Aber dass sie einmal dem amor fati glaubten, ihm sich verschrieben, verfallen, hörig geworden und dennoch über ihr Maass sich gesteigert sehen durften in ihren beflügelten Versen: das macht sie einzig unter ihren deutschen Mitstrebenden. Wie immer sie sich wandeln, sie können ihren edlen Ursprung nicht verleugnen […]. 10
Dass die Huldigung George gilt, zeigt schon das Motto, ein Zitat aus dem Eid Georges, dem Wechselgesang zwischen einem prophetischen Führer und einer ihm ergebenen Verehrergemeinde. Zitiert wird eine Halbstrophe, in der sich die Jünger der Verfügungsgewalt des Meisters bis zur Selbstaufgabe verpflichten: Lenker auf den wegen unsrer not · Nenn dein dunkelstes gebot! Pflüge über unsre leiber her: Niemals mahnt und fragt dich wer!11
Auch der Anruf, der die Huldigung der ‚Runde‘ einleitet, ist insofern eine mittelbare George-Hommage, als die Einleitungsstrophe unverkennbar auf Hyperions Brief an Diotima in Friedrich Hölderlins Roman anspielt, dem Georges Spätwerk explizit verpflichtet ist: Tritt aus Dodonas hain Gott mit dem stürmenden hauch Der Du die eichen bewohnst Die feuerumhegten!12
George selbst wird in mehreren M. [‚Meister‘] betitelten Gedichten unmittelbar gehuldigt. Die Runde ahmt ihn nicht nur äußerlich, in der durchgehenden Kleinschreibung, sondern auch in Lexik, Sprache und Stil nach.13 So sind die ‚Kein‘-Anaphern in Elisabeth Waldmanns „M[eister]“-Gedicht
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Eduard Korrodi: [Rez.] Deutsche Literaturaspekte II: Georgesche Jugend. In: Neue Zürcher Zeitung vom 26.4.1931, zit. nach BV, S. 137 f., Anm. 184. SW VI/VII, 60 f., hier 60, V. 21–24. [Wolfgang Frommel]: Anruf. In: Huldigung. Gedichte einer Runde. Hg. von W. Frommel, Berlin 1931, S. 11, Verse 1–4. Im Prätext, dem [39.] Brief Hyperions an Diotima, lautet der entsprechende Passus: „Jetzt bin ich wieder glücklich. Ich wandere durch dies Land, wie durch Dodonas Hain, wo die Eichen tönten von ruhmweissagenden Sprüchen“ (Friedrich Hölderlin: Hyperion. In: F. H.: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2: Hyperion, Empedokles, Aufsätze, Übersetzungen. Hg. von Jochen Schmidt in Zusammenarbeit mit Katharina Grätz, Frankfurt/M. 1994, S. 117). Die George-Bezüge in der Huldigung sind noch nicht systematisch erfasst.
6.1. Ringen um Deutungshoheit und Nachfolge an Georges Lebensabend 223
dem Gedicht „Alles habend alles wissend seufzen sie“14 aus dem Stern des Bundes abgeborgt, das in anaphorischen ‚Keiner‘-Kehrversen den Geiz einer wohlhabenden Gesellschaft anprangert.15 Auch Frommels Wintergesang zu zweien ist eine poetische Hommage an George: Der Titel alludiert die Schlussworte „rundgang zu zwein“ aus dem Gedicht „Es lacht in dem steigenden jahr dir“16 und variiert das Incipit in der Wendung „im sinkenden jahr“ (V. 12).17 Die Stimmung des Gedichts, das in Erinnerung an Sommer und Herbst ein Du in einer Winternacht anredet und auf einen dichterischen Bund hofft: „Bis wir uns findend im zwiegesang einig entflammen“ (Vers 15), ist ganz der resignativen Entsagung im Jahr der Seele nachempfunden und liest sich wie eine Antwort darauf. Der Zyklus Die Bahn, der aus sieben 28-zeiligen „Tafeln“ genannten Gedichten besteht, feiert Epiphanien in gottferner Zeit. Diese Begegnungen kombinieren die Figur des Engels aus dem Vorspiel zum Teppich des Lebens mit den Maximin-Dichtungen Georges, wie etwa das Ende der Tafel II erkennen lässt: Doch da trat wieder als das jahr geendet Des traumes knabe zu mir leibhaft lebend Den ich – durch welchen fug – schon heimlich kannte! Der liebe freund erwählt in langer sendung Trat schön und hold zu mir nicht lug noch blendung Und ein gestirn das nie mehr löscht entbrannte …18
Alle sieben „Tafeln“ markieren den George-Bezug zusätzlich jeweils durch ein Motto aus dem Stern des Bundes.19 Zugleich geht mit der Huldigung aber auch der Anspruch auf die Nachfolge Georges in einem ‚neuen Bund‘ einher. Den „Wechsel der Autorität“ deute Percy Gotheins Schlüsselgedicht Einsetzung an.20 In diesem Gedicht,
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SW VIII, 29. [Elisabeth Waldmann]: M. In: Huldigung. Hg. von W. Frommel, S. 14. Elisabeth Waldmann ist die einzige Beiträgerin in der männerbündischen Runde. SW IV, 89. [Wolfgang Frommel]: Wintergesang zu zweien. In: Huldigung. Hg. von W. Frommel, S. 154. [Wolfgang Frommel]: Tafel II. In: Huldigung. Hg. von W. Frommel, S. 123, Verse 23–28. Die Motti zu den Tafeln I–VII stammen aus folgenden Gedichten des Sterns des Bundes: „All die jugend floss dir wie ein tanz“ (SW VIII, 19), „Kommt wort vor tat kommt tat vor wort? Die stadt“ (SW VIII, 26), „Entlassen seid ihr aus dem innern raum“ (SW VIII, 110), „Mir sagt das samenkorn im untren schacht“ (SW VIII, 69), „Der strom geht hoch . . da folgt dies wilde herz“ (SW VIII, 11), „Was ist geschehn dass ich mich kaum noch kenne“ (SW VIII, 65), „Dem Lenker dank der mich am künftigen tag“ (SW VIII, 75). So Günter Baumann: Dichtung als Lebensform, S. 58. Baumann rekonstruiert die Genese von Frommels ‚Runde‘ anhand von Percy Gotheins unveröffentlichtem autofiktionalem Opus Petri (1923/24); zur komplizierten Textkonstitution vgl. ebd., S. 35 f.
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dem eine Postfiguration von Zeus und dem Goethischen Prometheus zugrunde liegt, wirft „der herr seinem knecht“ vor, er hätte „[s]eines himmels stärke / die ich dir lieh zu küren ein geschlecht // das mir noch gleicht“, vergeudet. Und er überführt seine Anklage in die Frage, wem er „[s]ein liebstes kind vertrauen“ könne. Die anschließende Zukunftsvision wirkt wie die George in den Mund gelegte Autorisierung des Neuen Bundes zwischen Frommel und Gothein als Kreis-Nachfolge: Bist du denn stark für solche edle bürde Ein stab an den sich junge rebe rankt Sie die mit süssem rausch die pflege dankt Und dich zum thron der gnade führen würde?21
Welch wichtiges Datum die Huldigung für die postume poetische Rezeption Georges und deren politische Indienstnahme darstellt, hat Günter Baumann dargelegt. Auch wenn er die Affinität von Frommels ‚Drittem Humanismus‘ zur nationalsozialistischen Ideologie wohl überbetont, prägt eine nationalkonservative Haltung und Sprache die ‚Runde‘.22 Allerdings hat Klaus Mann in seiner hymnischen Besprechung den „georgisch legitimiert[en]“ Gedichtkreis von „jede[m] ‚völkische[n]‘ Einschlag in einem verdächtigen Sinn“ freigesprochen.23 Frommel und Landau wählten auch bald das Exil,24 während sich andere Mitglieder der ‚Runde‘ in den Dienst der national sozialistischen Ideologie stellten. So bekundeten Joachim von Helmersen und vor allem Achim von Åkerman offen ihre Faszination für das ‚Dritte Reich‘. Åkerman verfasste 1933 den Nachruf in der Sonderbeilage zur Literarischen Welt: Stefan George zum Gedächtnis. Darin beschreibt er Georges Wandel vom Ästheten zum nationalen Dichter als konsequente Entwicklung, die er mit dem Spätwerk verbürgt, vor allem dem Stern des Bundes, in dem „George zum Gründer des neuen Reiches wurde“.25 Der Stern des Bundes wird zum „Vermächtnis“ und „für uns die engste Verpflichtung“ erklärt. Mit dem Motiv der Fackel, die weitergegeben wird, deutet Åkerman darauf hin, dass die ‚Runde‘ entscheidet, wer George als nationalem Prophe-
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[Percy Gothein]: Einsetzung. In: Huldigung. Hg. von Wolfgang Frommel, S. 119. Baumann: Dichtung als Lebensform, bes. S. 153–234. Klaus Mann: Der Geist der Heiligen Jugend unseres Volkes. In: Die Literatur 34 (1931/32), S. 74 f. hier 75. Klaus Mann begründet den politischen Freispruch „dieser heroisch-abseitigen Jugendgruppe“, weil er weiß, „daß vom Stefan George des ‚Sterns‘ geistige Fäden in das Lager der empfänglicheren Rechts-Jugend leiten. Hier spüre ich nichts davon“. Frommels politische Haltung ist in der Forschung umstritten. Achim von Åkerman: Nachruf. In: Die Literarische Welt 9 (1933), Nr. 52 (Sonderbeilage: Stefan George zum Gedächtnis), S. 1. Den Nachruf hat Baumann: Wolfgang Frommel, nicht registriert.
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ten nachfolgt: „Nun muß das Schicksal durch einen Neuen sprechen, nun hat es einen anderen ergriffen, der irgendwo aufwächst. Wann werden wir ihn erkennen?“26
6.1.2. Der 65. Geburtstag des Dichters als Deutungskontroverse Bereits die Glückwünsche und Ehrungen zum 65. Geburtstag des Dichters am 12. Juli 1933 nahmen oft einen tendenziösen politischen Ton an. Das gilt in erster Linie für das Telegramm, das Joseph Goebbels „dem Dichter und Seher, dem Meister des Wortes, dem guten Deutschen zum 65. Geburtstage“ übersandte, für die Rote Fahne „eine Auszeichnung, die entehrt“.27 Doch der politische Ton reicht bis in die literarischen Nachrufe und Würdigungen. Das gilt sogar für Rudolf Alexander Schröder, der seine starken Vorbehalte gegen George verleugnet, auch wenn sie ex negativo noch in den als „Äusserlichkeiten“ abgetanen „Merkmalen“ durchscheinen: „der Schreibart, die so manchen befremdet hat, […] der erlesenen Diktion, die allerdings der breiteren Öffentlichkeit den Zugang zur Dichtung Stefan Georges heute wie künftig erschweren wo nicht verlegen wird“, denn in beiden habe er „Vorgänger u[nd] Nachahmer“; „unvergleichlich“ an George sei vielmehr „das Einmalige seines Anspruches“, mit dem „er Recht u[nd] Pflicht der Dichtung gegenüber allen Bindungen an den Tag“ behauptet habe.28 Doch mehrere Korrekturen im Manuskript zeigen, wie schwer sich Schröder mit der Explikation dieses ‚Anspruchs‘ tat: „Gegenüber ihrem sittlichen Indifferentismus behauptete er [scil. George] das uralt göttliche Amt [eingefügt: ‚der Sendung‘] des Dichters als [erst durchgestrichen, dann unterpungiert] das Amt u[nd] Sendung des Sehers, Lehrers, des Richters und Zeichendeuters und des Bewahrers aller Kronjuwelen menschlicher Würde, mit allen aus dieser Sendung erspriessenden Herrschaftsrechten“.29 Der Schluss der Würdigung mutet wie ein sacrificium intellectus an, wenn Schröder den Ruhm Georges dem Ruhm der neuen politischen „Führer“ angleicht:
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Åkerman: Nachruf, S. 1. Vgl. Michael Petrow: Der Dichter als Führer, S. 71 (ohne Zitat des Glückwunsches). Wieder in: Die Rote Fahne 16 (1933), 12.7.1933, S. 4. Rudolf Alexander Schröder: Stefan George zu seinem 65. Geburtstag am 12. Juli 1933, Ms. DLA, A: Schröder, 1999.0012, Bl. 2 f. Zitiert nach der MS-Version, nicht nach dem Druck: Stefan George. Zu seinem 65. Geburtstag am 12. Juli 1933. In: Funkstunde 10 (1933), Nr. 28, S. 1090. Semantisch bedeutsame Varianten werden verzeichnet. Ebd., Bl. 2 f. Schröder: Stefan George, Ms., Bl. 3 (Durchstreichungen im Original).
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6. Nationalsozialismus, Innere Emigration, Exil
Und wenn wir eines der Geheimnisse des Georgeschen Ruhmes in der Tatsache erblicken dürfen, dass der Dichter sich aus der Enge selbstgenügsamer WeltverMenschen Weltverachtung, gewaltige Zeit gewaltig mitlebend auch mitleidend zu den verklarsten Gipfeln erhoben hat, auf denen Macht und Verantwortung, Führerschaft und Dienst einander bedingen u[nd] auswägen, so sehen wir das Schicksal dieses gegenwärtig in eine neue Epoche getretenen Ruhmes mit dem der Führer verbunden, die die Geschicke der Nation auf ihre Schultern genommen haben.30
Die wenigen lyrischen Hommagen zum Geburtstag verherrlichen den Jubilar so sehr, dass sie kaum noch von postumen Stilisierungen zu unterscheiden sind. Zwar wird George in den drei Gedichten, welche die Schriftstellerin Marianne Köhler-Kossel (1896–1941) ihm zum 65. Geburtstag „in Verehrung“ widmet, namentlich nicht genannt. Stattdessen werden seine Geburt und Kindheit in Bingen magisch verklärt und mit dem Weinbau am Rhein parallelisiert („Über seiner Wiege hing die Traube, / Darin grün im Lichte kocht der Saft. / Süß betäubend duftete im Laube / Unscheinbarer Blüten Zauberkraft“), so dass Georges Werk, zur Weinlese und Reifung stilisiert, wie vom Weingott Dionysos inspiriert erscheint: Denn er nahm den Saft der reifen trauben Und verströmt ganz sich selbst hinein, Bis, aufbrausend im Gebind der Dauben, Göttertrank sich klärte: goldener Wein.31
Auch im Kreis wurde versucht, den Geburtstag des Dichters dazu zu nutzen, ihn zum Vorläufer des nationalsozialistischen Regimes zu stilisieren. In einem Vortrag über Das revolutionäre Ethos bei Stefan George vom Juli 1933, den der Althistoriker Woldemar Graf Uxkull-Gyllenband vor der Tübinger Studentenschaft „zum 65. Geburtstag des Dichters“ hielt, figuriert etwa George als „der Dichter des neuen Aeon“.32 Uxkull-Gyllenband sucht den Glauben „an den Dichter als den Welterneuerer“ zu bekräftigen, indem er George als „die erste Gestalt“ bestimmt, „in der die heroisch-mythische Lebenshaltung die ungebrochene Form erhielt und dadurch ist sie Realität 30 31
32
Schröder: Stefan George, Ms., Bl. 4 (Durchstreichungen im Original). Das Ms. weist für den Anfang des Zitats eine mit Bleistift notierte Variante auf: „Und wenn dieser Wille durch gewaltige Zeiten hindurch schrittweis zu den Höhen vorgedrungen ist“. Marianne Köhler-Kossel: I. Über seiner Wiege hing die Traube. In: Stefan George. Drei Gedichte, Ms. (StGA, George IV, 542). Der erste Vers alludiert V. 5 aus Georges Ein Angelico (SW II, 27): „Er nahm das gold von heiligen pokalen“). Zu der Dichterin vgl. Grete Grewolls: Wer war wer in Mecklenburg und Vorpommern. Das Personenlexikon, Rostock 2011, s. v. Köhler-Kossel. Woldemar Graf Uxkull-Gyllenband: Das revolutionäre Ethos bei Stefan George, Tübingen 1933, S. 8.
6.1. Ringen um Deutungshoheit und Nachfolge an Georges Lebensabend 227
im deutschen Lebensraum geworden“. Zudem wertet Uxkull-Gyllenband den „George-Kreis“ auf, indem er den „Jünger[n] der Gefolgschaft überragende Leistungen an geistiger Weite“ attestiert, weil sie „den großen herrscherlichen Menschen gesehen und erlebt hatten“. Indem er den „Kommilitonen“ bekundet, „viele von Ihnen werden berufen sein, im neuen deutschen Staat zu führen“, und mit der Prophetie im Dichter in Zeiten der Wirren schließt, lag es für die Zuhörer nahe, das von George darin verheißene „jung geschlecht“ auf sich zu beziehen. Als Uxkull-Gyllenband seine Schrift, die George dem nationalsozialistischen Regime annähert, seinem Freund Ernst Kantorowicz schickte, reagierte dieser ebenso empört wie andere Mitglieder des George-Kreises.33 Bekanntlich hat der Bonner Germanist Hans Naumann in seinem Sammelband Wandlung und Erfüllung. Reden und Aufsätze zur germanisch-deutschen Geistesgeschichte (1933) bekundet, die Ideen dazu verdanke er „dem Führer und dem Dichter der deutschen Nation“, Adolf Hitler wie Stefan George. Mit seiner Zusammenstellung des „unbekannten Soldaten“ als „lebendigen Erwecker[s] der Nation“ und des „geistige[n] Gründer[s] des neuen Reichs“ hat Naumann wesentlich die öffentliche Wahrnehmung einer engen Verbindung von Georges Werk mit dem NS-Regime befördert.34 Auch wenn mittlerweile geklärt ist, dass George den neuen Machthabern mindestens reserviert gegenüber stand, wie diese wiederum vor 1933 den Dichter und seinen Kreis keineswegs als ihren Parteigänger erachteten,35 gilt Naumann als Stifter der poetisch-politischen Dyade, die lange nachwirkte. 33
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Sein Widmungsexemplar versah Kantorowicz mit entsprechend abwertenden Marginalien (z. B. „Total verantwortungslos“, „Kläglich banal“); vgl. dazu Eckhard Grünewald: „Übt an uns mord und reicher blüht was blüht!“ Ernst Kantorowicz spricht am 14. November 1933 über das „Geheime Deutschland“. In: Ernst Kantorowicz. Erträge der Doppeltagung. Institute for Advanced Study, Princeton / Johann-Wolfgang-Goethe-Universität. Hg. von Robert L. Benson und Johannes Fried, Stuttgart 1997, S. 57–76, hier 63 mit den Zitaten. Auch der zeitgenössische Rezensent Joachim Wecker in: Die literarische Welt 9 (1933), Nr. 42, bemängelt Uxkulls einseitige, isolierte Sichtweise. Nach Petrow: Der Dichter als Führer?, S. 120–123, hat sich aber Uxkull-Gyllenband bald von dem Regime distanziert. Hans Naumann: Wandlung und Erfüllung, Stuttgart 21934, [Vorspruch]. Sogar die Datierung der Widmung vom „21. März 1933, am Tage von Potsdam“, ist ein Bekenntnis zum NS-Staat: Gemeint ist die von Hitler propagandistisch genutzte Eröffnungsfeier des neu gewählten Reichstags. Nach Naumann seien Hitler und George „in geheimnisvoller Weise zueinander gehörig, Führer zu geschichtlichem Willen und zu heroischer Haltung […], in denen sich die germanische Idee von Führertum und Gefolgschaft endlich aufs neue erfüllte“ (ebd.). Vgl. dazu Petrow: Der Dichter als Führer?, S. 58 f. Trotz der Doppelwidmung wurde Naumann in der NS-Presse als einer der „spät Erwachten und lang Verblendeten“ angegriffen, da er in seiner Literaturgeschichte Thomas Mann und jüdische Autoren ausführlich würdigte; vgl. dazu Eberhard Sauermann: Die Rezeption Georg Trakls in Zeiten der Diktatur. Stigmatisierung, Instrumentalisierung und Anerkennung in NS-Zeit und DDR, Innsbruck, Wien und Bozen 2016, S. 79. Vgl. dazu Petrow: Der Dichter als Führer?, S. 71.
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6. Nationalsozialismus, Innere Emigration, Exil
Dabei wird aber übersehen, dass Naumanns Kombination keineswegs originell, sondern in der Weimarer Republik bereits vorgebahnt war, allerdings nicht aus einer affirmativen, sondern aus einer kritischen bis ablehnenden Haltung. Parallel zu Uxkull-Gyllenband und Naumann hat auch Ernst Bertram in einer Bonner Rede über die Möglichkeiten deutscher Klassik (1933) George als den „Mitheraufführer“ von Hitlers Reich gewürdigt und „den neuen adel“ ganz im nationalsozialsozialistischen Sinn als Adel des Geblüts bestimmt.36 Als Stifter der wirkungsgeschichtlich bedeutsamen Dyade von Dichter und Politiker kann der Wiener Pädagoge und Kulturkritiker Oskar Benda gelten. Er hatte bereits 1931 in einer Kampf- und Warnschrift über Die Bildung des Dritten Reiches (1931) als Ursprung der Hakenkreuz-Ideologie den George-Kreis ausgemacht.37 Benda bestimmt die Kreispolitik als „dritten Humanismus“, unter dem er die „pädagogische Aussonderung einer bildungsaristokratischen Oberschicht aus dem Volkskörper als ideologischen Trägers einer antidemokratischen Herrschaftsform“ versteht.38 Mag die Deszendenz der nationalsozialistischen Ideologie aus dem sogenannten „dritten Humanismus“ hergeholt scheinen – ihr wurde auch vehement widersprochen39 –, sie war einprägsam durch die Analogie zur Dyade des italienischen Faschismus, dessen „heldische Elite, die Hierarchie und der korporative Rechtsstaat“ tatsächlich den politischen Kreis-Ideen nahekommen: „George verhält sich zu Hitler […] wie d’Annunzio zu Mussolini“.40 Die somit bereits 1931 etablierte These einer poetisch-politischen Dyade, des engen Zusammenhangs Georges mit dem Dritten Reich, hatte vor allem in den Jahren 1933 und 1934 Konjunktur und betraf auch die Wahrnehmung Georges im Ausland. Symptomatisch dafür ist die vom Deutsch-chilenischen Bund herausgegebene Schrift von Willy Wirth über 36
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Ernst Bertram: Möglichkeiten deutscher Klassik. Rede zu Georges letztem Geburtstag, Juli 1933, in der Universität Bonn. In: E. B.: Deutsche Gestalten. Fest- und Gedenkreden, Leipzig 1934, S. 246–279, hier 246 und 256. Siehe dazu auch Jan de Vries: Aristokratismus als Kulturkritik. Kulturelle Adelssemantiken zwischen 1890 und 1945, Wien, Köln und Weimar 2021, bes. S. 292–296. Oskar Benda: Die Bildung des Dritten Reiches. Randbemerkungen zum gesellschaftsgeschichtlichen Sinnwandel des deutschen Humanismus, Wien 1931. Vgl. dazu die zurückhaltende anonyme Rezension in der Morgenausgabe der Vossischen Zeitung vom 8.10.1931. Petrow: Der Dichter als Führer?, S. 18–20, übergeht die wirkungsmächtige Dyade, sondern sucht Bendas Argumente zu widerlegen. Benda: Die Bildung des Dritten Reiches, S. 11. So verteidigt Fritz Friedländer: Stefan George – ein Schrittmacher Hitlers? In: Zeitung des Centralwesens der Staatsbürger jüdischen Glaubens 11 (1932), Nr. 5, S. 41, George gegen Bendas These. Siehe dazu auch Petrow: Der Dichter als Führer?, S. 19 f. Wegen seiner strikten Ablehnung des NS-Regimes wurde Benda später politisch verfolgt, bevor er im Nachkriegsösterreich rehabilitiert wurde. Benda: Die Bildung des Dritten Reiches, S. 15 Anm.
6.1. Ringen um Deutungshoheit und Nachfolge an Georges Lebensabend 229
Die Dichtung Stefan Georges, eine Prophetie des Dritten Reiches (1933). Wirth hatte auf einer Tagung des Vereins deutscher Lehrer in Chile im September 1933 diese These aufgegriffen und Georges Werk einer politischen Lektüre unterzogen. Während er den „Widerchrist“ mit dem „Fürst des Geziefers“ als „Prophetie der Herrschaftsansprüche des kommunistischen Wahnsinns“ deutet,41 sieht Wirth im Neuen Reich, insbesondere im Dichter in Zeiten der Wirren, den „Grundsatz des Führertums und der Gefolgschaft verkündet. Zuerst und zumeist wirkte er auf die akademische Jugend, in deren Kreisen sein Einfluss immer stärker wurde, sodass bei den Geistigen, die durch seine Schule gingen, der Staatsgedanke Adolf Hitlers auf einen gut vorbereiteten und fruchtbaren Boden fiel. So ist das neue Deutschland Leib von seinem Leibe und Geist von seinem Geiste“.42 Solchen Deutungen leistete George insofern selbst Vorschub, als er eindeutige Referentialisierungen weiterhin abwehrte und zu der politischen Veränderung in Deutschland schwieg.43 Das Schweigen Stefan Georges (1933) versteht Klaus Mann im Schweizer Exil dagegen als politischen Widerstand. Gerade weil „Fäden von George und seinem Kreis ins Lager des Feindes“ führten, sucht Mann zwischen George und dessen nationalsozialistischer Inanspruchnahme zu unterscheiden: „Wir hoffen, daß sein Schweigen Abwehr bedeutet. Er wird sich nicht vermischen und verwechseln lassen. Hitler – und Stefan George: das sind zwei Welten, die niemals zueinander finden können. Das sind zwei Arten Deutschland“.44 Noch im Wendepunkt (engl. 1942) rekapituliert Mann zwar, dass „[s]ein Verhältnis zu [George] im Lauf der Jahre kühler, skeptischer geworden ist“, erklärt dies aber weniger mit dem Dichter selbst als vielmehr mit seiner „Aversion gegen den Kult, den er von nationalistischen Professoren und reaktionären Snobs mit sich treiben ließ“.45 Zugleich würdigt er George weiterhin als seinen „Erzieher“, weil dessen „Maximin-Mysterium“ für ihn ein Initiationserlebnis gewesen sei.46 Diese Ehrenrettung Georges stieß bei vielen Regime-Gegnern aber auf 41 42 43 44
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Willy Wirth: Die Dichtung Stefan Georges, eine Prophetie des Dritten Reiches. Hg. vom Deutsch-Chilenischen Bund, o. O. [Valdivia] o. J. [1933], S. 15. Wirth: Die Dichtung Stefan Georges, S. 21. Selbstverständlich wurde diese Zurückhaltung retrospektiv mit einer Gegnerschaft zum NSRegime erklärt. Vgl. dazu etwa Klaus-Jürgen Grün: Stefan Georges politisches Schweigen. In: CP 217/218 (1995), S. 107–118. Klaus Mann: Das Schweigen Stefan Georges. In: Die Sammlung 1 (1933), S. 98–103, hier 98 und 103 (wieder in: Ralph-Rainer Wuthenow (Hg.): Stefan George und die Nachwelt. Dokumente zur Wirkungsgeschichte, Bd. 2, Stuttgart 1981, S. 7–12, hier 7 und 12). Vgl. auch Petrow: Der Dichter als Führer?, S. 42 f. Klaus Mann: Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht. Hg. von Franz Kroll, Hamburg 2006, S. 158 f. Die Varianten zum 8. Kapitel enthalten eine ausführlichere Würdigung Georges als ‚Engel‘ in Manns ‚Olymp‘ (ebd., S. 776 f.). Mann: Der Wendepunkt, S. 777.
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6. Nationalsozialismus, Innere Emigration, Exil
heftigen Widerspruch: Joseph Roth gab zu bedenken, dass er Stefan George nicht wie Klaus Mann „für einen großen Dichter“, sondern „für einen großen Taschenspieler“ halte, und es unangebracht finde, nun „Respekt vor einem Kerl zu bezeugen, einem großen Kerl meinetwegen, der uns einen großen Teil der Scheiße eingebrockt hat, erhabene Scheiße“.47
6.1.3. Reaktionen auf Georges Tod Auch wenn die NS-Führung lange in der Bewertung Georges schwankte, suchte sie die „Trauer um Stefan George“ nach dessen Tod am 4. Dezember 1933 politisch auszumünzen. So veröffentlichten deutsche Tageszeitungen wie das Berliner Tageblatt bereits am 5. Dezember die Beileidstelegramme des „Reichsministers Dr. Joseph Goebbels“ und des Kultusministers Bernhard Rust an Georges Schwester. Während Goebbels nur konstatiert, „das ganze geistige Deutschland“ werde „auf das tiefste getroffen“, reklamiert Rust den Toten unverhohlen für den Nationalsozialismus: „Mit Stefan George ist nicht nur einer der grössten Dichter unseres Volkes dahingegangen, sondern auch einer der geistigen Wegbereiter und Künder des neuen Deutschland. Er, der sich noch kürzlich in einem Briefe ausdrücklich zur geistigen ‚Ahnherrschaft der neuen nationalsozialistischen Bewegung‘ bekannte, wird bei uns immer lebendig bleiben“.48 So griff die regimetreue Presse den Topos der Dyade George und Hitler als „Verheißer“ und „Erfüller“ auf und verherrlichte mit dem prophetischen Dichter Hitler als „Träger eines neuen Adels“.49 Zugleich wurde in der nationalsozialistischen Presse der „eben dahingegangene Stefan George“ als ein „extremer Protest gegen die geistschänderische Existenz“ der „schmutzigen jüdischen Gegen- und Unterwelt“ sogar zu antisemitischen Zwecken exklusiv in Anspruch ge-
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Joseph Roth (Paris) am 12.1.1934 an Klaus Mann. In: Briefe 1911–1939. Hg. von Hermann Kesten, Köln 1970, S. 303 f., hier 304. Und am 16. Januar 1934 wiegelt Roth (Paris) etwas ab: „Über den Fall George […] sprechen wir uns einmal, vielleicht. Wie Sie es ‚gemeint‘ hatten, habe ich selbstverständlich gewußt“ (ebd., S. 305 f., hier 306). Berliner Tageblatt vom 5.12.1933, Nr. 571, Beibl., Abend-Ausgabe. Die „Ahnherrschaft der neuen nationalen Bewegung“ hatte George tatsächlich für sich in Anspruch angenommen, als er einen durch Ernst Morwitz und Kurt Zierold unterbreiteten Vorschlag des Kultusministers Rust, ihm einen Ehrenposten in der Preußischen Akademie der Künste anzubieten, ablehnte. Diese „Ahnherrschaft“ wurde von den Nationalsozialisten wohl zu Unrecht als politisches Bekenntnis gewertet; vgl. Karl Korn: Stefan George. In: K. K.: Rheinische Profile. Stefan George, Alfons Paquet, Elisabeth Langgässer, Pfullingen 1988, S. 9–110, bes. 86–103. Vgl. etwa Peter Hagen [d. i. Willi Krause]: George der Künder – Hitler der Führer. In: Der Angriff vom 5.12.1933, S. 2. Dazu und zur Indienstnahme von Georges ‚Neuem Adel‘ im Nationalsozialismus vgl. de Vries: Aristokratismus als Kulturkritik, bes. S. 286–289.
6.1. Ringen um Deutungshoheit und Nachfolge an Georges Lebensabend 231
nommen.50 Tatsächlich hielt sich die jüdische Intelligenz stark zurück. Wie mittelbare Kritik im NS-Regime aussah, zeigt die schmale bibliophile Neuausgabe von vier Chiliastischen Sonetten Karl Immermanns in MajuskelDruck, den Paul Friedländer im Jahr 1933 als Gedenkschrift „in memoriam Stefan George“ in Auftrag gab. Unter dem Deckmantel von Immermanns radikal-prophetischem Ton erinnert er an George als schonungslosen Kritiker der Gegenwart und Propheten einer besseren Zukunft.51 Vergeblich mühten sich die Hinterbliebenen des George-Kreises, die Trauer für den toten Dichter zu ihrer eigenen Sache zu machen.52 Karl Wolfskehl hielt im April 1934 die Gedenkrede bei der Totenfeier im Istituto Italiano di Studi Germanici in der Villa Sciarra in Rom und pries George als den „Gründer des geistigen Reiches deutscher Nation“.53 Melchior Lechter wollte gar in einer Art esoterischer Stufenleiter, die er am 6. Januar 1934 in der Lessing-Hochschule zu Berlin aufführte, „den dichter, den präger, den künder, den templer, kurz: den gesalbten werker im lautersten lichte erstehen […] lassen.“54 Doch wohnt diesem verstiegenen Versuch der unlösbare
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Dominikus: Stefan George und die jüdische Unterwelt. In: 12 Uhr-Blatt, 7. Dezember 1933, S. 4. Karl Immermann: Chiliastische Sonette. In memoriam Stefan George. Gedruckt im Auftrage von Paul Friedländer, Halle 1933. Das zweite Terzett des vierten und letzten „chiliastischen Sonetts“ zeigt die gegenwartskritische Indienstnahme Georges durch Immermann: „Ach · die Verachtung macht so bald uns satt. / Ich bins. Du kommst. Dem Jetzt entronnen send ich / Des Untertanen Eide dem Zukünftigen“ (ebd., S. [8]). Ähnlich, aber in gegensätzlicher Absicht verfährt die Literarische Welt, die als Nachruf auf George dessen Rollengedicht Hyperion III abdruckt und damit die Stimme des Dichters nutzt, um seinen Tod als Erfüllung der „verheissung“ eines „Neuen Reiches“ nahezulegen. In: Die Literarische Welt 9 (1933), Nr. 51, 15.12.1933, S. 1. Die Gedenkfeiern für George sind bislang weder systematisch registriert noch untersucht worden. Von den Reden gedruckt wurde Paul Clemen: Aus einer Gedenkrede [Auszug]. In: Rheinische Jugend 21 (1934), Nr. 10/11, S. 308–312. Neben dieser Ehrung der Universität Bonn wird ebd., S. 310 f. Anm., erwähnt, dass im Frankfurter Römer des „Kaisers des geheimen Deutschlands“ gedacht wurde, und eine „Stimme vom Oberrhein“ zitiert: „Möge die deutsche Jugend nie vergessen, […] daß Stefan George die höchste Stufe weltgültigen Deutschtums verkörpert“. Dazu eingeladen hatte Giuseppe Gabetti, der Direktor des Istituto Italiano di Studi Germanici. Vgl. Klaus Voigt: In der ‚Wahlheimat‘. Karl Wolfskehls italienisches Exil 1933–1938. In: Exul Poeta. Leben und Werk Karl Wolfskehls im italienischen und neuseeländischen Exil 1933–1948. Hg. von Friedrich Voit und August Obermayer, Otago 1999, S. 47–80; das Zitat stammt aus der Zeitungskritik von J. P. F.: George-Feier in Rom. In: Berliner Tageblatt 21.4.1934. Vor allem die römische Gedenkfeier und ihre deutsche Rezeption verlohnte eine eigene Studie. Melchior Lechter: Zum Gedächtnis Stefan Georges, Berlin 1934, S. 11. Vgl. die leicht reservierte Kritik („im Wesentlichen dem Jugendwerk des Dichters nachgezeichnet“) von „p.“: Stefan-George-Feier der Lessing-Hochschule. In: Berliner Tageblatt 8./9.4.1934; der Schlusssatz lautet: „Der Vortrag, der wie eine Art Gottesdienst wirkte, wurde mit stummer Ergriffenheit aufgenommen“.
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Widerspruch inne, „auch weiterem kreise“ einen Dichter nahezubringen, der die Menge verachtet aus der Überzeugung: „Wenig begreift das volk das große, das ist: das schaffende“.55 Inwieweit der Kreis an der Memorialschrift der Rheinischen Jugend (1934), Stefan George zum Gedächtnis gewidmet, mitgewirkt hat, lässt sich nicht zweifelsfrei feststellen. Das Gedenkheft enthält jedenfalls ausschließlich Beiträge von Kreismitgliedern wie Friedrich Wolters, Henry von Heiseler und Friedrich Gundolf.56 In vielen literarischen Reaktionen auf Georges Tod vermisst man die gebührende Distanz. Die meisten postumen Würdigungen, seien sie in poetischer oder prosaischer Sprache verfasst, ergreifen Partei und ordnen den Dichter überdies politisch ein. Daraus erklärt sich auch die umkämpfte Inanspruchnahme, die über das rein Dichterische hinausgeht. So erkennt Paul Fechter zu Recht, dass „die Wirkung Georges sich nicht in seinem Werk erschöpfte […]. Das eigentlich Entscheidende war das Lebensvorbild, das er aufstellte“.57 Die private Trauer, die aus Oskar Loerkes Tagebucheintrag vom 5. Dezember 1933 spricht, verwahrt sich gegen jedes öffentliche, insbesondere journalistische Urteil: Gestern ist Stefan George gestorben. Durch meine stille Bewegung gehen die Geschenke vieler Jahre. Schweigen. 65 Jahre, eine Reihe davon schon fast stumm. Der große Zauber, die Ohnmacht der vielen Verkennung und Beschimpfung durch Tagesschreiber.58
Parteinahme prägt dagegen etwa Rudolf Bachs Chor zum Tode Stefan Georges in fünf schweren reimlosen Dreizeilern, katalektischen Daktylen.59 Das Gedicht markiert die Wende von der individuellen Dichterverehrung zu einer Vergemeinschaftung, und zwar sowohl in der kollektiven Rede instanz „Chor“ als auch in dem Adressaten in der zweiten Person Plural (‚Ihr‘). Auch beschränkt sich die lamentatio auf die erste Strophe, schon die
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Lechter: Zum Gedächtnis Georges, S. 46 und 14. Vgl. Stefan George zum Gedächtnis. In: Rheinische Jugend 21 (1934), Nr. 10/11. Das DLA Marbach verwahrt ein durchschossenes Exemplar mit poetologischen Maximen aus dem Besitz von Ludwig Klages. Den eigentlichen Urheber des Heftes konnte ich nicht ermitteln; allerdings scheint die Rheinische Jugend dem George-Kreis nahegestanden zu haben, wie auch das Folgeheft 12 mit Beiträgen von Robert Boehringer, Friedrich Wolters und Kurt Hildebrandt beweist. Zur genauen bibliographischen Beschreibung siehe GPL, Nr. 1158 und 1159. Paul Fechter: Stefan George [zu seinem Tod]. In: Deutsche Rundschau 238 (1934), S. 8–12, hier 11. Oskar Loerke: Tagebücher 1903–1939. Hg. von Hermann Kasack, Heidelberg und Darmstadt 1956, S. 286, s. d. „Dienstag, 5. Dezember 1933“. Rudolf Bach: Chor zum Tode Stefan Georges. In: Die literarische Welt 9 (1933), Nr. 52 (Sonderbeilage: Stefan George zum Gedächtnis), S. 1, wieder in: Der Bücherwurm 19 (1934), Nr. 1, S. 1.
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zweite Strophe fordert die Trauergemeinde auf: „Wandelt zur Rühmung den Schmerz!“ Das genrespezifische Lob (laudatio) des Verstorbenen wird schließlich mittels einer Zeitopposition (Vergangenheit vs. Zukunft) in eine Verpflichtung zur „Tat“ an die Hinterbliebenen umgewidmet: Sänger der reinen Gestalt! Richter verwüsteter Zeit! Seher künftigen Reichs Was er gebaut und zerstört Herrschend und dienend erhofft Wahrt es als Flamme in euch! Seinem Liede den Dank. Seinem Banner den Schwur. Seinem Glauben die Tat.
Während Bach aber in seinem Appell an die Zeitgenossen, Georges „Glauben die Tat“ folgen zu lassen, vage bleibt, bringt Peter Hamecher in seinem Nekrolog, der Georges Entwicklung literarhistorisch verfolgt, den Aktualitätsbezug explizit zur Sprache. Etwas unvermittelt wechselt er von Maximin zur „völkischen Mission des Dichters, die George in Krieg und Nachkrieg bedeutet. […] Er ist selber der Helfer des neuen, des Dritten Reiches der Zukunft“.60 Hamecher endet mit dem Zitat der zwei Strophen von Georges Gedicht An die Toten und beglaubigt so retrospektiv den prophetischen Gehalt der beiden komplementären Schlussverse: „Der toten zurückkunft“ und „Die Hehren · die Helden!“61 Auch Bernt von Heiseler würdigt George als einen „Dichter, […] Prophet[en] und Meister“ sowie als „als fordernde Stimme, als tägliche Verpflichtung“, dessen Verse „wir heute als früheste Ahnung dieser neuen Zeit erkennen dürfen“.62 In seiner Biographie des Dichters konzediert Heiseler zwar, wenn er die Schlussverse des Dichters in Zeiten der Wirren zitiert, George habe, wo er „von Jugend und Reich spricht […] immer eine Jugend unter seiner Führung, ein Reich seiner Gründung gemeint“, um dann jedoch die Brücke zum NS-Staat zu schlagen: „wir dürfen dennoch in diesen Versen, die 1921 zuerst gedruckt wurden, eine Ahnung unsres Tages erkennen“.63 Auch der expressionistische Dichter Reinhard Goering, zeitlebens George-Verehrer, aber in seiner
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Peter Hamecher: Stefan George. Zum Tode des Dichters am 4. Dezember 1933. In: Velhagens und Klasings Monatshefte 48 (1933/34), S. 665–669, hier 669. SW IX, 90. Bernt von Heiseler: Zum Tode Stefan Georges. In: Der Bücherwurm 19 (1934), S. 2 f. Wieder in: B. v. H.: Ahnung und Aussage, München 1939, S. 116–119. Bernt von Heiseler: Stefan George, Lübeck 1936, S. 61.
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politischen Radikalität schwankend, wie seine Doppelmitgliedschaft in der KPD und NSDAP zeigt, nahm den Tod des Dichters zu einem poetisch-nationalsozialistischen Appell in der ersten Person Plural. Nachdem er George als den „erste[n] große[n] Täter und Künder des neuen Reiches“ gewürdigt hat, schließt er sein freirhythmisches Totengedenken mit dem Zweizeiler: Hoch die Fahnen, er lebt, lebt in uns und für uns, lebt ewig und ewig das neue Reich.64
Sogar Edward Jaime (1907–1965), der sich selbst in der Nachfolge Georges sah, stilisierte in seiner Rede über Stefan George, die er im November 1934 im ‚Neuen Kreis‘ Hannover gehalten hat, den Dichter zum Vorläufer des nationalsozialistischen Regimes. Georges Schlussprophetie im Dichter in Zeiten der Wirren weise Jaime zufolge „schon zu einer Zeit, da man kaum den Namen HITLER gehört hat, auf die kommende nationale Erhebung“.65 Allerdings schwenkt Jaime dann ins Private um, wenn er enthusiastisch bekennt, dass „Georges Form [s]eine Form gebildet“ habe, und wie sehr er es beklage, „diesen Mann nie gesehen zu haben!“66 Zum Beweis seiner dichterischen Inspiration folgt der Rede ein bisher unbeachtet gebliebener siebenteiliger lyrischer Zyklus: Requiem für Stefan George. In dem narrativen Zyklus, den Sonette rahmen, bewältigt das lyrische Ich auf einer Winterwanderung die Nachricht vom Tod Georges: Es bekennt sich zu dessen Werk und Wirkung sowohl inhaltlich wie formal, in durchgängiger Kleinschreibung und erlesener Lexik. Und, ein seltener Fall postumer Du-Apostrophe Georges, das lyrische Ich spricht, von dem zweiten und fünften Gedicht abgesehen, das Dichter-Vorbild direkt an und rühmt die nationale Kohäsion, die, von George selbst ausgehend, diesen nun als ein großer Kreis umgibt: „Heute am abend / Des Lebens umreigt Dich / Einig ein Volk“.67 Das Schlusssextett des letzten Gedichts wirkt wie eine Bitte an den verklärten Dichter, weiterzuwirken: Vielleicht hat jene [scil. die Mitmenschen] nie Dein hauch berührt Und doch hast Du sie unbewußt geführt Empor in einen neuen kreis der dinge.
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Reinhard Goering: Stefan George. In: Neuer Geist · Neues Leben. Kulturbeilage der „Deutschen Zeitung“ 6.12.1933, Nr. 285. Hans Joachim von Goetz in einem Brief an Wilhelm Badenhop vom 1.5.1955. DLA, A: Goering 75.157/5, zitiert das Gedicht fehlerhaft. Edward Jaime-Liebig: Rede über Stefan George, Berlin, Leipzig und München 1935, S. 22. Jaime-Liebig: Rede über Stefan George, S. 24. Edward Jaime-Liebig: Requiem für Stefan George. In: E. J.-L.: Rede über Stefan George, S. 27–35, hier 34 (Nr. VI, V. 10–12).
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Noch manch jahrhundert lass Dein wort ertönen Zum widerhall in Deines volkes söhnen Und leite sie empor zum SIEBENTEN RINGE!68
Doch gab es auch Stimmen, die sich der Aktualität verweigerten und den Tod des Dichters zur Gegenwartskritik nutzten. So geht Benno Geiger schon in der Wahl einer unzeitgemäßen Strophenform, der asklepiadeischen Ode, in seinem anonym publizierten Gedicht Stefan George zum Gedächtnis auf merkliche Distanz zur Gegenwart. Geiger hatte es 1933 in Oppenau verfasst, nachdem er seine Wahlheimat Venedig auf Anordnung Mussolinis zeitweise verlassen musste. Geiger ehrt George, indem er ihn zwar nicht selbst namentlich nennt, sondern durch Allusionen auf Werktitel umschreibt: „[…] von uns welcher Begnadeter / ward nicht anfangs von ihm über die Köstlichkeit / eines Teppichs des Lebens / handgehalten und fortgeführt?“ und „Sahen […] alle […] ewig währen der Seele Jahr!“69 Der elegische Ton der Hommage lässt sich ebenfalls gegenwartskritisch verstehen. Denn Geiger ehrt in George „das Wort nicht einer Zeit, die kommt, / sondern, – wehe der Traurigkeit! – / einer Zeit, die gewesen ist.“70 Ähnlich unzeitgemäß verfährt Ernst Eichelbaum, ein wenig bekannter Dichter, in seiner lyrischen Bewältigung von Georges Tod. Sein Haus in Bingen [I], drei Sechszeiler, sogenannte ‚falsche Stanzen‘ mit einem Kreuzreim und einem Paarreim, konfrontiert das lyrische Ich mit dem Geburts- und Wohnhaus des Dichters.71 Angelehnt an die exklusive Dichterehrung in dessen Goethe-Tag, distanziert sich das Ich von dem „Rudel rauher Tritte / wo heute ich als erster zagend bitte:“ (V. 5 f.). Die letzte Strophe distanziert mit s- und st-Alliterationen die Wallfahrt ins Präteritum („So stand ich stumm und spürte Stein und Schwelle“ [V. 13]), um dann die imaginäre Begegnung mit dem Erinnerungsort als Kraftquelle für die Gegenwart zu postulieren: „Und bleib ich draußen in der Welt alleine, / durchglüht mich Kraft aus diesem dunklen Steine“ (V. 17 f.). Die internationale Reaktion auf den Tod Georges ist bislang noch nicht systematisch erforscht. Zu den bemerkenswerten Zeugnissen zählt das Gedenkgedicht Una rosa para Stefan George (1933) des argentinischen Dichters Ricardo Molinari, zu dem sein Freund Federico García Lorca die Rose
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Jaime-Liebig: Requiem, S. 35 (Nr. VII, V. 9–14). [Benno Geiger]: Stefan George zum Gedächtnis. In: Das Silberboot 1 (1936), Nr. 2, S. 49 f., V. 25–32. Wieder in: B. G.: Sämtliche Gedichte in drei Bänden, Bd. 2: Kantaten, Mythen, Oden, Padua 1958, S. 329–331. Geiger: George zum Gedächtnis, V. 18–20. Ernst Eichelbaum: Haus in Bingen [I]. In: Binger Annalen: Neue Beiträge zur George-Forschung 1 (1975), Nr. 7, S. 59. Ebd. auch ein titelgleiches Gedicht [II] desselben Verf. von 1955.
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6. Nationalsozialismus, Innere Emigration, Exil
gezeichnet hat. Molinari reflektiert im Bild der Rose den Tod seines Vorbilds George, den er in der Tradition des Schlaflieds teilnahmsvoll apostrophiert, um im letzten Vers aber sich und sein Dichten als zwecklos zurückzunehmen: Duerme. Dormir para siempre es bueno, junto al mar; los ríos secos debajo de la tierra con su rosa de sangre muerta. Duerme, lujo triste, en tu desierto solo. !Esta palabra inútil!72
6.2. Nationalsozialistische Genealogiebildung Nach dem sogenannten Röhm-Putsch und im Zuge der gesellschaftlichen Ausgrenzung wie politischen Ächtung der Homoerotik büßte George merklich seine vormalige Prominenz ein, und selbst die nationalsozialistischen Dichter beriefen sich seit Kriegsbeginn nur noch selten und selektiv auf ihn als Vorbild. In welch starkem Maße das Interesse der Machthaber an George abnahm, zeigt die geringe Resonanz, welche die Gedenkjahre 1938 und 1943 in der Presse fanden.73 Ein Schreiben des Propagandaministeriums wies die Presse sogar an, zu Georges 75. Geburtstag im Juli 1943 „den Dichter lediglich als zeitgebundene Persönlichkeit zu würdigen und den ‚Kreis‘ überhaupt nicht zu erwähnen“.74 So lobt etwa Theodor Stiefenhofer Stefan George (1938) als „geistige[n] Wegebahner und Vorbereiter“ der „völkischen Wende unserer Zeit“, grenzt ihn aber zu diesem Zweck von dem „Eigenleben des ‚Kreises‘“ ab, der „die klare Mitte des Georgeschen Lebenswerkes stark getrübt und seine geschichtliche Erscheinung fast bis zur Unkenntlichkeit verwischt“ habe; zudem kritisiert er im Sinne der NS-Ideologie, „daß der Dichter […] dem Vordringen fremdstämmiger und volksfremder ‚Individualisten‘ innerhalb des ‚Kreises‘ keine Abwehr entgegensetzte“.75 Und 72
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Ricardo Molinari: Una rosa para Stefan George (span./dt.). Übers. von Carlos F. Grieben. In: Humboldt 2 (1961), S. 74. Der Passus lautet in Griebens Übersetzung: „Schlafe. Schlafen für immer ist gut, am meere; / die flüsse, trocken unter der erde mit ihrer rose aus totem blute. / Schlafe, du trauriger luxus, in deiner einsamen wüste. / Dieses unnütze wort!“ Überzeugender scheint mir Palms Übertragung des Schlusses: „Schlaf! Schlafen für immer ist gut neben dem Meer. / Die Flüsse sind versiegt unter der Erde, die Rose in ihrem Blut ist tot. / Schlaf, traurige Lust, in deiner Wüste, einsam. / Das Wort ist unnütz.“ Die Übersetzung, eine Deutung von Lorcas lyrischem Stenogramm sowie eine Reproduktion der ‚Todesrose‘ finden sich in Erwin Walter Palm: Hoffnung auf das gereinigte Wort. Federico García Lorcas Rose für Stefan George. In: E. W. P.: Heimkehr ins Exil. Schriften zu Literatur und Kunst. Hg. von Helga von Kügelgen und Arnold Rothe, Köln u. a. 1992, S. 375–380. Vgl. Petrow: Der Dichter als Führer?, S. 43–45. Petrow: Der Dichter als Führer?, S. 44. Theodor Stiefenhofer: Stefan George, München 1938, S. 3 f.
6.2. Nationalsozialistische Genealogiebildung
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im Jahre 1943 hält der Völkische Beobachter zwar an Georges Spätwerk fest, verurteilt aber das ästhetizistische Frühwerk: „Wenn heute Soldaten noch Bände Stefan Georges im Tornister tragen, so sind es nicht die Spiele und Auseinandersetzungen, die prunkenden Wortgebilde, die esoterischen Anrufungen – sondern die Gesänge eines Meisters der Zucht und der Form“.76 Und doch: Die monumentale Wertschätzung, die George im ersten Jahrfünft der 30er Jahre als geschätztem Dichter des Reichs zuteil wurde, ist singulär.77 Kaum ein anderer moderner deutscher Lyriker stand zu Beginn des NS-Regimes gleichermaßen hoch im Kurs bei linientreuen Dichtern, Repräsentanten der inneren Emigration wie Exilschriftstellern. Eine Rede Gottfried Benns markiert den Höhe- wie Wendepunkt der George-Verehrung im ‚Dritten Reich‘. Sie erschien im April 1934 in der Zeitschrift Lite ratur mit der entstehungsgeschichtlichen Erklärung: „Hanns Johst als Präsident hatte Gottfried Benn beauftragt, bei der Trauerfeier der Deutschen Akademie der Dichtung für George die Gedächtnisrede zu halten. Die Feier fand aus äußeren Gründen nicht statt.“78 Benn würdigt in seiner Rede George als Schnitt- und Sammelpunkt vielfältiger Traditionen und Bezüge: „George war das großartigste Durchkreuzungs- und Ausstrahlungsphänomen, das die deutsche Geistesgeschichte je gesehen hat“.79 Damit erkennt 76
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Anon.: Der Dichter des makellosen Wortes. Zu Stefan Georges 10. Todestag. In: Völkischer Beobachter, 11.7.1943. Der Artikel ruft zum Schluss als Reminiszenz die leicht veränderten Anfangsverse in Erinnerung, die in der völkischen Bewegung am bekanntesten war: „Unauslöschlich sind viele seiner Gesänge ins Herz der deutschen Dichtung gebrannt. ‚Wer jemals die Flamme umschritt, der bleibe der Flamme Trabant!‘“ Ähnlich selektiv verfährt auch die anonyme Würdigung: Dichtung als Dienst am Schönen. Vom Artisten der Feder zum Seher völkischer Zukunft: Stefan George zum 75. Geburts- und 10. Todestag. In: Südostdeutsche Tageszeitung, 14.7.1943, Nr. 70 (Ausgabe Banat), S. 6: „Hatte Stefan George auch lange dichterische Irrwege verfolgt, so fand er doch schließlich zurück zu seinem Volk und der Scholle, in der er wurzelte“. Vgl. Elliott: Beyond Left and Right. Auch wenn die nationalsozialistische Kulturpolitik George favorisierte und gegen Rilke ausspielte, verlief, wie Elliott zeigt, die tatsächliche produktive Rezeption und ästhetische Diskussion viel weniger einheitlich. Gottfried Benn: Rede auf Stefan George. In: Die Literatur 36 (1933/34), S. 377–382 (nur dort mit der oben zitierten ‚Erklärung‘, S. 377). Wieder in: G. B.: Gesammelte Werke, Bd. 1: Essays, Reden, Vorträge. Hg. von Dieter Wellershoff, Wiesbaden 1965, S. 464–477 (Anm. S. 627). Nach Benns eigener Version sei er bereits „Sommer 1933 von [der Akademie] beauftragt“ worden, „eine Gedächtnisrede“ auf George zu halten, vgl. Gottfried Benn: Sämtliche Werke, Bd. 5: Prosa 3. Hg. von Gerhard Schuster, Stuttgart 1991, S. 101. Die HerausgeberNotiz des Erstdrucks widerspricht Benns Erinnerung, wonach Georges 65. Geburtstag am 12. Juli 1933 der Anlass gewesen sei, bevor die Festrede 1934 zu einer Gedenkrede umgewidmet worden wäre. Zu Benns George-Rede vgl. Petrow: Der Dichter als Führer?, S. 99–105; Michael Ansel: Zwischen Anpassung und künstlerischer Selbstbehauptung. Gottfried Benns Publikationsverhalten in den Jahren 1933 bis 1936. In: Gottfried Benn – Wechselspiele zwischen Biographie und Werk. Hg. von Matías Martínez, Göttingen 2007, S. 35–70, hier 49–57; Dieter Burdorf: Benn als Fest- und Gedenkredner. In: ebd., S. 85–112, hier 102–106. Benn: Rede auf Stefan George, S. 466.
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Benn ausdrücklich Georges übersetzerische Anverwandlung der europäischen Moderne an. Darüber hinaus preist er die christlich-hellenische Synthese in der „neue[n] Feier des Jünglings“ und Georges breite Ausstrahlung „in die deutsche Wissenschaft.“80 Als überzeitliche Konstante von Georges Werk bestimmt Benn das „Verlangen nach Form“ und setzt diesen Formwillen in einem berüchtigten Parallelismus dem „Kolonnenschritt der braunen Bataillone als ein Kommando“ gleich.81 Benns politische Usurpation von Georges Dichtung haben Zeitgenossen wie der vormalige expressionistische Weggefährte Reinhard Goering gerügt, der in seiner Skizze Über George davor warnt, George „in Reihen einzureihen, in die er nicht gehört“, und diese Rede als „eine einzige Schändung Georges (durch Lob)“ kritisiert. Allerdings bleibt Goerings Position ambivalent: Einerseits vermisst er bei Benn die von ihm eingeforderte verehrende Haltung und sieht deutlich die Gefahr solcher politischer Inanspruchnahmen Georges: „Es braucht dann nicht so getan werden, als ob das Vermächtnis Georges gefährdet wäre, sondern die Zerstörungsarbeit ist schon sichtbar weit fortgeschritten“.82 Andererseits wirkt sein Fazit, „eine Gefährdung Georges gefährdet Deutschland“, dann eher unmotiviert. Ohnehin blieb Goering eine einzelne und in seiner bizarren Doppelverehrung Georges und Hitlers kaum gehörte und wirkungslose Stimme: 1936 schied er aus dem Leben.83 Zu den poetischen Hommagen zu Georges Lebzeiten, die erst nach dem Tod des Dichters, und vielleicht gegen den Willen ihres Verfassers, Karriere in der nationalsozialistischen Diktatur machten, zählt Die Fackel, ein Gedicht Wolfgang Frommels aus der Huldigung.84 Im ursprünglichen Kontext kann es als Rollengedicht Georges verstanden werden, der einem ‚Du‘, 80 81
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Benn: Rede auf Stefan George, S. 468 f. Vgl. Benn: Rede auf Stefan George, S. 98. Von Benn in der überarbeiteten Fassung von 1950 als eine der „politisch überflüssigen Stellen“ entfernt. Vgl. Gottfried Benn am 25.4.1950 an Friedrich Wilhelm Oelze. In: Gottfried Benn: Briefe an F. W. Oelze: 1950–1956, Bd. 2.2. Hg. von Harald Steinhagen und Jürgen Schröder, Wiesbaden und München 1980, S. 26. Reinhard Goering: Über George [undat. Typoskript (Kopie), 1934/36], DLA, A: Goering 75.142. In der Korrespondenz zwischen Reinhard Goering und Hans von Goetz, die Helmut Kreuzer: Fatalistischer Heroismus, „Willkommner Tod“. Reinhard Goering-Miszellen (mit Nachlasszitaten). In: Rice University Studies 57 (1971), Nr. 4, S. 89–110, bes. 101 ff., ausgewertet hat, spielt George eine entscheidende Rolle; allerdings nehmen in Goerings letzten Lebensjahren die widersprüchlichen Wertungen und skurrilen Kombinationen in seiner George-Verehrung bedenklich zu, wie etwa folgendes Briefzitat aus dem Jahre 1932 zeigt: „George ist Katholik! Hitler auch. die einheit kommt. keine bange! europa bleibt das lichtland. wir sorgen dafür!“ (zit. nach ebd., S. 103). [Wolfgang Frommel]: Die Fackel. In: Huldigung. Hg. von W. F., S. 142. Typographisch normalisierter Wiederabdruck neben Foto zweier Hitlerjungen, in: Deutsche Jugend. Dreißig Jahre Geschichte einer Bewegung. Hg. von Will Vesper, Berlin 1934, S. [VII]. Zur Huldigung siehe oben.
6.2. Nationalsozialistische Genealogiebildung
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dessen Rolle der Verfasser einnimmt, seine „fackel“ überreicht, damit dieser sie „de[m] künftige[n]“ weitergebe: Die Fackel Ich gab dir die fackel im sprunge Wir hielten sie beide im lauf: Beflügelt von unserem schwunge Nimmt nun der künftige sie auf. Drum lass mich und bleib ihm zur seite Bis fest er die lodernde fasst · Im kurzen doch treuen geleite Ergriff er die kostbare last! Du reichst ihm was ich dir gegeben – Und sagst ihm was ich dir gesagt: So zünde sich leben an leben Denn mehr ist uns allen versagt.“85
Die Verbildlichung der Generationenfolge und Traditionsstiftung als Weitergabe der Fackel, die bereits in der antiken Literatur begegnet,86 schließt an das Meister-Jünger-Verhältnis des George-Kreises an. Indem Frommel aber das Verhältnis um eine zweite empfangende Instanz erweitert, weist er dem Mittler, und damit unausgesprochen sich selbst als Verheißungserben Georges, einen Sonderstatus zu, wie ihn George in seiner Rolle eines ‚Künders‘ Hölderlins gegenüber seinem Kreis eingenommen hatte. Die Feuermetaphorik, die paronomastische Esoterik der Schlussstrophe („Und sagst ihm was ich dir gesagt: / So zünde sich leben an leben“) erinnert an Dichtungen Georges („Mund nur an mund geht sie als weisung weiter“87) wie auch der Schlussvers eine unverkennbare Hommage an George dar-
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[Wolfgang Frommel]: Die Fackel. In: Huldigung. Hg. von W. F., S. 142. Der Vergleich der Generationenfolge mit einem Fackellauf findet sich bei Platon: Gesetze [Nomoi], VI (776b), wie später bei Lukrez 2,78 f.: „inque brevi spatio mutantur saecla animantium / et quasi cursores vitai lampada tradunt“ [‚Und in kürzester Frist verwandeln sich unsre Geschlechter: / Eins reicht wie bei den Läufern dem ändern die Fackel des Lebens‘]. An anderer Stelle dient das Bild auch als Metapher für das Leben oder für die Nachfolge. So verwendet es etwa Michael Landmann: Friedrich Gundolf (1880–1931). In: Figuren um Stefan George, Bd. 2, Amsterdam 1988, S. 37–45, hier 45, um zu erklären, warum er als Siebzehnjähriger den Besuch von Gundolfs letzter Vorlesung im Sommer 1931 „wie einen Auftrag [empfand], etwas von dem, was sich in ihm inkarniert hatte, in mir zu bewahren und es weiterzutragen. Et quasi cursores, vitae lampada tradunt (Lukrez): als habe er die Flamme an mich weitergegeben“. George: „Hier schliesst das tor: schickt unbereite fort“. In: SW VIII, 100, hier V. 4.
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6. Nationalsozialismus, Innere Emigration, Exil
stellt.88 Während das Antwortgedicht Der Dank des Knaben von William Cyril Hildesheimer, welches das Bild des mittelbaren ‚Meisters‘ und Jüngers aufgreift, in der Rezeption unbeachtet blieb, wurde Frommels Fackel durch Will Vesper zum Programmgedicht der Deutschen Jugend (1934) erhoben (Abbildung 12) und anlässlich der Olympischen Spiele in Berlin als Gedicht eines unbekannten Hitlerjungen rezitiert.89
Abb. 12: [Wolfgang Frommel]: Die Fackel. Wiederabdruck neben der Photographie zweier Hitlerjungen, 1934.
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Ich meine die Schlussstrophe des Gedichts „Es lacht in dem steigenden jahr dir“ (SW IV, 89): „Verschweigen wir was uns verwehrt ist · / Geloben wir glücklich zu sein / Wenn auch nicht mehr uns beschert ist / Als noch ein rundgang zu zwein.“ Vgl. Baumann: Wolfgang Frommel, S. 142 f., führt die Legende um Frommels Die Fackel auf Will Vespers Publikation zurück (Will Vesper [Hg.]: Deutsche Jugend. Dreißig Jahre Geschichte einer Bewegung, Berlin 1934), der es dem Frontispiz-Foto zweier Hitlerjungen gegenüberstellt als ein „Gedicht […], dessen Verfasser unbekannt ist“ und das „in den Bünden der Jugend mündlich überliefert“ wurde. Vesper seinerseits greift im Schlussgedicht des Bandes Die Flamme nicht nur Georges wirkungsvolles Gedicht „Wer je die flamme umschritt“ auf, sondern knüpft im abschließenden Reimpaar auch an den Gedanken des FackelGedichts von der Weitergabe einer Idee an: „Vor fernsten Enkeln flammt sie unverzehrt, / solang ein Mensch das Edle nennt und ehrt“ (ebd., S. 384). Dass Frommels Gedicht aber nicht umstandslos auf das NS-Regime bezogen werden kann, zeigt sein zweifacher anonymer Abdruck in Heinrich Ellermanns eher NS-kritischen Blättern für die Dichtung.
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6.2.1. NS-Roman: Wilfrid Bade und Edwin Erich Dwinger Gelegentliche Hommagen und Erwähnungen fügen dem Bild der NS-Propaganda wenig Neues hinzu: Der im Präsens erzählte Thesenroman Thiele findet seinen Vater (1934) des linientreuen NS-Funktionärs Wilfrid Bade schreibt George auf dem Weg zur nationalsozialistischen Selbstfindung des Protagonisten eine maßgebliche Rolle zu: Seine Lektüre besteht in dieser Zeit aus Nietzsche, der ihm aber in keiner Weise zusagt und noch weniger imponiert, aus Lagarde, der ihn begeistert und vor allem aus Stefan George, den er unverzüglich schon nach dem Lesen der ersten Gedichte als den größten deutschen Dichter seit Hölderlin erklärt.90
Eine ähnliche Funktion hat Georges Lyrik in Edwin Erich Dwingers Roman Die letzten Reiter (1935) über die deutschen Freikorpskämpfer im Baltikum, die sich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs dem Abzugsbefehl widersetzten und weiter gegen die Rote Armee bis zur Befreiung Rigas im Mai 1919 kämpften.91 Ungeachtet des modernen Maschinenkriegs romantisiert und heroisiert Dwingers Roman den Befreiungskrieg als einen Akt ritterlichen Soldatentums. Zu den Protagonisten des Romans, den Freiwilligen, die gegen den ‚Verrat‘ des Baltikums kämpfen, zählt der aus der Jugendbewegung kommende Student Reimers, der „[d]as Vaterland retten“ will.92 Nachdem er diverse Kämpfe in Litauen und Lettland überstanden hat, stirbt er am Ende des Romans an einer Typhus-Infektion. Auf dem Sterbebett bittet er seinen Waffenbruder und ehemaligen „Leibfuchs“ Hellwig, ihm George zu rezitieren, um sich ein letztes Mal die Idee, für die er gekämpft hat und für die er stirbt, zu vergegenwärtigen: „Weißt du“, fragte er [Reimers], „wer unser kommendes Reich sah? Ich möchte ein Gedicht von ihm hören, hörte lange keine Gedichte, hörte hier nur das Leben brausen … Und weißt du, welches ich möchte? Das von George, worin es heißt: Wenn einst dies Geschlecht sich gereinigt von Schande … Ich bringe es nicht ganz zusammen, bin etwas müde … Sag du es, Leibfuchs …“ Hellwig richtete sich auf […], sprach langsam über seinen Kameraden hin:
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Wilfrid Bade: Thiele findet seinen Vater. Schicksal eines Deutschen in seinem Volke, München 1934, S. 115. In der Dichtung Bades spielt George keine Rolle, eher Hölderlin wie in Odenform oder Allusionen („Aber das Rettende wächst“ [„Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch“; Hölderlin: Patmos, V. 3 f.]). In: W. B.: Frühwinter. In: Tod und Leben. Verse des Krieges, Prag u. a. 1943, S. 41). Vgl. dazu Karsten Dahlmanns: Georgeanische Totenmesse: Edwin Erich Dwingers „Die letzten Reiter“ und Stefan George. In: Studia niemcoznawcze 55 (2015), S. 467–480. Edwin Erich Dwinger: Die letzten Reiter, Jena 1935, S. 16. Dwinger verarbeitet in dem Roman eigene Erfahrungen. Er war 1915 als 17jähriger Dragonerfähnrich in russische Kriegsgefangenschaft geraten und hat nach seiner Flucht weiter gegen die Rote Armee gekämpft.
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Wenn einst dies Geschlecht sich gereinigt von Schande, vom Nacken geschleudert die Fessel des Fröners, nur spürt im Geweide den Hunger nach Ehre: Dann wird auf der Walstatt voll endloser Gräber aufzucken der Blutschein … dann jagen auf Wolken Lautdröhnende Heere, dann braust durchs Gefilde der schrecklichste Schrecken, der dritte der Stürme: Der Toten Zurückkunft …
Reimers sah grübelnd an die Decke, versuchte mehrmals zu nicken. Danach lag er wieder wortlos lange da, strich nur mit der Hand zuweilen über die Brust, als ob er etwas dort Verborgnes streichle.93
Die Sterbeszene gewinnt durch das George-Zitat einen prophetischen Sinn. „Der Toten Zurückkunft“, welche die erste Strophe aus Georges Einleitungsgedicht der Sprüche an die Toten aus dem Neuen Reich verspricht, ist im Tod des Freikorpskämpfers Reimers präfiguriert und wird – freilich unausgesprochen – durch das nationalsozialistische Regime eingelöst. Der Offizier Langsdorff bekräftigt Hellwig gegenüber die Verpflichtung der Überlebenden gegenüber den Kriegstoten, indem er an ein anderes Diktum „sein[es] George“ erinnert, demzufolge das Leben der bei Langemarck Gefallenen „spätere Geschlechter wie eine Sage anmuten wird …“.94 Das George-Zitat spielt, wie Dahlmanns erkannt hat, auf den ersten Balduin-Spruch an, der die Distanz der Gegenwart zum Habitus der verlorenen Kriegsgeneration beklagt: Mit welcher haltung ihr den markt durchrittet Wie euer auge glänzte dieser tage Und wie ihr standet · auf den strassen schrittet: Ist fernes bild – gehört schon heut zur sage.95
Darauf, dass Dwingers Vereinnahmung Georges für die konservative Revolution nicht oder allenfalls partiell aufgeht, weist Dahlmanns zu Recht hin.96
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Dwinger: Die letzten Reiter, S. 427 f. Das George-Zitat (SW IX, 90, V. 1–8) hat Dwinger typographisch leicht verändert: Georges Kleinschreibung sind zur Groß-Kleinschreibung mit üblichen Satzzeichen normalisiert, auch die Spatien innerhalb der Verse sind getilgt. Der von Dahlmanns: Georgeanische Totenmesse, S. 471, bemerkte Anachronismus, dass An die Toten in dem Roman, der 1919 spielt, zitiert wird, obschon das Gedicht erst in der letzten Folge der BlfdK XI/XII im Dezember 1919 erschien, unterstreicht den latenten Gegenwartsbezug der Letzten Reiter. Dwinger: Die letzten Reiter, S. 429. SW IX, 92. Vgl. Dahlmanns: Georgeanische Totenmesse, S. 471 f. Weniger überzeugen die angeblich „impliziten“ Bezüge zu George in Dwingers Roman, die Dahlmanns beibringt (Männerbund, Primat der Physiognomie, Charisma u. a. m.), die zu allgemein bleiben. Dahlmanns: Georgeanische Totenmesse., bes. S. 478.
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Georges Selbstinszenierung und sein Elitismus stehen der Freikorps-Romantik der Letzten Reiter doch fern.
6.2.2. Faschistische Lyrik: Gerhard Schumann, Emil Lorenz, Hermann Bodek, Josef Weinheber und Ernst Bertram Bedenkt man die doch unüberbrückbaren ideologischen Differenzen, so verwundert es nicht, dass sich die produktive Anverwandlung von Georges Dichtung in der regimekonformen Literatur in überschaubaren Grenzen hielt. Und dennoch: Das elitäre Pathos, der heroische Gestus und die kultisch beschworene Gemeinschaft sind neben der Überhöhung des Reichsgedankens die drei wesentlichen Elemente,97 die in der Lyrik des ‚Dritten Reichs‘ als Georges ‚Erbe‘ gelten können, wie einige exemplarische Analysen erweisen sollen. Gerhard Schumann, ein prominenter und typischer Lyriker des Dritten Reichs, steht durchaus in Georges Tradition. Im Jahre 1936 erhielt er den von Goebbels gestifteten Nationalen Buchpreis, der mit dem zusätzlichen Titel „Stefan George-Preis“ verbunden war.98 Er hat sich zu der Tradition Hölderlin und George selbst bekannt, ohne dass er aber diese Bindung in seinem Werk deutlich markiert hätte.99 Doch ist Schumanns siebenteiliger Sonett-Zyklus Die Lieder vom Reich (1935) in seinem religiösen Pathos, seiner Blut- und Boden-Metaphorik durchaus Georges später Lyrik, insbesondere dem Dichter in Zeiten der Wirren, verwandt. In der Zukunftsvision des berüchtigten Schlusses von Georges Dichtung „heftet [„der Mann“] / Das wahre sinnbild auf das völkische banner / Er führt durch sturm und grausige signale / Des frührots seiner treuen schar zum werk / Des wachen tags und pflanzt das Neue Reich“100. Schumann gestaltet seinen Zyklus dagegen als Retrospektion und tilgt Georges Rekurs auf die dichterische Prophetie und Tradition („Der ahnen verheissung die nicht trügt“). Nicht durch den „Sän97
Vgl. Ralph-Rainer Wuthenow: Nachwort. In: Stefan George und die Nachwelt. Hg. von R.R. W., S. 245 f. – Zu den frühen nationalsozialistischen Berufungen auf George zählt Walther Linden: Das Geschichtsbild der Georgeschule. In: Die Westmark (1934/35), Heft 11, S. 598– 604, der ein neues Menschenideal bei Stefan George ausmacht, das „Geschichte als Tat und Entscheidung, Opfer und heldische Hingabe, Verhängnis und Schicksal“ begreift (S. 604). 98 Vgl. Ernst Fischer und Reinhard Wittmann (Hg.): Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 3: Drittes Reich, Teil 1, Berlin und Boston 2015, S. 57 f. 99 Vgl. Simone Bautz: Gerhard Schumann – Biographie. Werk. Wirkung eines prominenten nationalsozialistischen Autors, Gießen 2008, bes. S. 87–90, 351 und 452. Eine Abhängigkeit von Schumanns „Flammenlied“ und „Feuerlied“ zu Georges „Feuerspruch“ festgestellt hat Peter Hasubek: Das Deutsche Lesebuch in der Zeit des Nationalsozialismus. Ein Beitrag zur Literaturpädagogik zwischen 1933 und 1945, Hannover 1972, S. 164 f. 100 SW IX, 27–30, hier 30, V. 86–90.
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ger“, sondern durch „den Führer“ erweist sich Georges Vision vom Neuen Reich101 als erfüllt, wie am Ende des dritten Sonetts rekapituliert wird: „Und rot aufwehend, Fahne junger Saat, / Schwang durch die Lüfte hin der Jubelleich. / So wuchs aus Blut und Erde neu das Reich“.102 Und der Schluss des Zyklus nimmt erneut Motive aus Georges Gedicht auf wie die Tageszeit („frührot“), den Hell-Dunkel-Kontrast („Die lichtere zukunft“), die organologische Verbmetapher ‚wachsen‘ („Ihm wuchs schon heran […] Ein jung geschlecht“ [SW IX, 30, V. 71–75]) und vor allem die Hervorhebung des „Einen“ („den einzigen der hilft den Mann“ [SW IX, 30, V. 82]): Doch als er aufstund fuhr der Feuerschein Des Auserwählten um sein Haupt. Und niedersteigend Trug er die Fackel in die Nacht hinein. Die Millionen beugten sich ihm schweigend. Erlöst. Der Himmel flammte morgenbleich. Die Sonne wuchs. Und mit ihr wuchs das Reich.103
So verarbeitet Schumann in seiner Reichsdichtung einerseits Georges poli tische Lyrik, betont andererseits aber auch die Differenz: Sie liegt im epochalen Wechsel von der „Schau“ zur „Tat“: „Da ist nicht Zeit, in Festen hinzudämmern. / Wir sind daran, das Neue Reich zu hämmern“.104 Und – konsequent in seiner Ablösung vom vormaligen Vorbild – sind in Schumanns späterer Lyrik, die in ungebrochenem Einklang mit der NS-Ideologie steht, keine George-Allusionen mehr zu finden. Der vormalige Freud-Schüler Emil Lorenz (1899–1962) hat ein Jahr, bevor er Leiter der Reichsschrifttumskammer in Kärnten wurde, Stefan George als den „Seher des deutschen Schicksals“ gewürdigt.105 Seine tenden-
101 SW IX, 27–30, hier 29, V. 61 f.: „Der Sänger aber sorgt in trauer-läuften / Dass nicht das mark verfault · der keim erstickt“. 102 Gerhard Schumann: III. [Lied vom Reich]. In: G. S.: Die Lieder vom Reich, München 1935, S. 18, V. 12–14. Der „Führer“, durch Sperrdruck hervorgehoben, wird im Schlussvers des sechsten Liedes genannt. 103 Gerhard Schumann: VII. [Lied vom Reich]. In: G. S.: Die Lieder vom Reich, S. 22, V. 9–14. 104 Vgl. Gerhard Schumann: Die Tat. In: G. S.: Fahne und Stern. Gedichte, München 1934, S. 64; wieder in: Die Lieder vom Reich, München 1935, S. 40: „Süß ist die Knospe, schwer die reife Saat. / Einst liebte ich die Schau. Nun liebe ich die Tat“ (V. 1 f.), und G. S.: Die Reinheit des Reichs. In: G. S: Fahne und Stern, S. 58, V. 13 f. Wieder in: Die Lieder vom Reich, S. 42. 105 Emil Lorenz ist literarhistorisch kaum gewürdigt worden. Die materialreiche Biographie von Christine Walder: Die gespaltene Welt des Emil Lorenz: Psychoanalyse und politischkulturelle Netzwerke in Kärnten, Klagenfurt/Celovec 2007, bes. S. 161–198 („‚Stefan George der Seher des deutschen Schicksals‘: Eine Schrift am Wendepunkt einer Lebenserzählung“), erörtert vorrangig Lorenz’ psychoanalytische Prägung, ohne auf seine dichterischen Veröffentlichungen genauer einzugehen.
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ziöse Abhandlung, die er bereits 1932/33 verfasste und die er 1938 Stefan George zum Gedenken komprimierte,106 sucht das „Seherische“ in Georges Werk mit dem Verlauf der deutschen Geschichte bis 1933 einzulösen. Vorangestellt hat Lorenz seiner heroisierenden Argumentation ein sechsstrophiges Gedicht An Stefan George. Dem ‚Seherischen‘ Georges, welches auch das Gedicht umschreibt, hat Lorenz mit der antiken Form der alkäischen Ode eine angemessene Form verliehen. Sie entrückt den Dichter einerseits und stellt ihn andererseits in Tradition der großen deutschen Seherdichter Klopstock und Hölderlin. Wie in der Prosa-Abhandlung deutet Lorenz in seiner Ode An Stefan George den Ersten Weltkrieg als „Kulturbruch“ und Beginn einer „Erneuung“.107 Endet die erste Hälfte des inhaltlich zweiteiligen Gedichts mit den im „Voraus“ geweinten Tränen des Dichters,108 so gilt die zweite Hälfte dem von George prophezeiten „heiligen Reich“: In der Du-Apostrophe wird insinuiert, Georges Verheißung vom „heilige[n] Reich“ habe sich schon erfüllt: Du weintest Tränen, weintest sie lang voraus Um jeden Hinfall, welchen dein Auge sah Dein Herz erfühlte, da die alten Säulen des Tempels wie Rohr zerknickten. Da in den Schutt wir starrten der frühern Welt, Warst du schon drüben, dort wo der Garten grünt Des schönern Lebens, das hinüber Du aus dem frühesten Traume trugest. Und wie du wissend um die Vergängnis warst, Dem Bauer gleichend, welcher das eine Werk Ans andre schließend, Saat und Ernte Knüpft zu dem riesigen Ring des Lebens, Und wie der Kairos und das Gebot des Sterns Der Dinge Wachsen, Herren und Knechte schafft, So war die Stunde dein, die frühe, Die uns das heilige Reich gekündet.109 106 Vgl. Walder: Die gespaltene Welt des Emil Lorenz, S. 174 f. Diese gekürzte Neufassung erschien anlässlich von Georges 70. Geburtstag in den Freien Stimmen. 107 Emil Lorenz: Stefan George, der Seher des deutschen Schicksals, Klagenfurt 1938. 108 Die Metapher der vorweg geweinten Tränen zitiert einen Passus aus Georges Krieg: „Was euch erschüttert ist mir lang vertraut · / Lang hab ich roten schweiss der angst geschwizt / Als man mit feuer spielte . . meine tränen / Vorweg geweint . . heut find ich keine mehr“ (SW IX, 21–26, hier 22, V. 16–19). 109 Emil Lorenz: An Stefan George. In: E. L.: Stefan George, der Seher des deutschen Schicksals, S. 3, hier die Strophen 3 bis 6. Wieder in: Emil Lorenz: Die Einweihung des Orpheus. Gedichte, Berlin 1943, S. 99.
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Wie das Dichtergedicht beweist, zählt Lorenz zu den von George inspirierten Dichtern der NS-Zeit. Sein 1943 erschienener Gedichtband Die Einweihung des Orpheus weist abgesehen von dem dort – neben der Ode Hölderlin – wieder abgedruckten Dichtergedicht auf Stefan George zahlreiche intertextuelle Anleihen auf. So alludiert sein Gedicht Das steigende Jahr, eine fünfstrophige alkäische Ode, nicht nur im Titel Georges „Es lacht in dem steigenden jahr dir“.110 Lorenz kombiniert es zudem inhaltlich geschickt mit dem Gedicht „Komm in den totgesagten park und schau“.111 Wie dort das lyrische Ich einem geliebten Du die Augen für die nuancierten Schönheiten des herbstlichen Gartens öffnet, sind es bei Lorenz der Frühling und der Sommer, an welche das Sprecher-Ich ein Du als Symbole des Vergänglichen gemahnt. Auch das unmittelbar anschließende Gedicht Hochsommer referiert auf ein titelgleiches Gedicht Georges112 und ist ebenfalls sowohl eine Hommage wie ein Gegenentwurf. Während George in seinem Hochsommer ein galantes Fest in der Nachfolge Verlaines beschreibt, beschränkt sich Lorenz ganz auf die Nahperspektive eines im Straßengraben liegenden einsamen und müden lyrischen Ichs („Verlaß das staubzermahlene Rinnsal / Träge verziehender Straße wieder!“).113 Lorenz, der bislang literaturgeschichtlich unbeachtet blieb, ist in seiner Kombination von diskursiver und poetischer Würdigung Georges durchaus typisch für die politische George-Rezeption im Dritten Reich. Allerdings ist dieses heikle wirkungsgeschichtliche Kapitel noch nicht erschöpfend erforscht, und manches mutmaßlich ‚Georgesche‘ Moment geht wohl nicht direkt auf den Dichter selbst zurück, sondern ist über die Jugendbewegung und die Bündische Jugend vermittelt. Dennoch wirkte George zweifellos traditionsbildend. Einer der wichtigsten Mittler dürfte Hermann Bode(c)k gewesen sein, der zwischen 1935 und 1937 in Wien Vorlesungen hielt über das Werk Georges, „den größten Dichter der Deutschen seit den Tagen Goethes und Hölderlins“.114 Dezidiert textorientiert, hält sich
110 SW IV, 89. 111 Emil Lorenz: Das steigende Jahr. In: E. L.: Die Einweihung des Orpheus, S. 22. Es kann hier nur eine Auswahl an George-Allusionen vorgestellt werden; auch das Sonett Der Meister und die Jünger bezieht sich zwar vordergründig auf Jesus, da dieser aber ebenso ungenannt bleibt wie Judas („der Treuste, der ihn heut verließ“, V. 14), lässt sich die im Gedichttitel genannte Konfiguration auf George und seinen Kreis beziehen. 112 SW II, 22. 113 Emil Lorenz: Hochsommer. In: E. L.: Die Einweihung des Orpheus, S. 23. Lorenz, der nach dem Zweiten Weltkrieg wegen seiner NS-Vergangenheit in Ungnade gefallen war, reklamierte in seinem letzten Gedichtband (Der tönende Mund, Klagenfurt 1959) retrospektiv seine poetische Autonomie und verwahrte sich gegen die Verurteilung seiner Person: „Die wir schreiben, wisset, die wir dichten / Nicht für jene tun wir’s, die uns reichten“ (Verwahrung. In: E. L.: Der tönende Mund, S. 2). 114 Überliefert sind zwei umfängliche Vorlesungen als redigierte Typoskripte (Teil 1: 228 Seiten, Teil 2: 300 Seiten) (DLA, A: Wolfskehl/Salin 80.134), eine dritte Vorlesung, am Ende der
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Bodek mit weltanschaulichen Wertungen ausdrücklich zurück: „Wir reden also lieber zunächst nicht über George als Lehrer und Führer, als Weiser und Seher“. Erst zum Schluss der zweiten Vorlesungsreihe bekundet er seine eigene Affinität, indem er aus eigenen Gedichten, darunter eines An George, liest. Obschon die geplante große Studie nicht zustande kam, hat Bodek wesentlich dazu beigetragen, den Rang von Georges Werk im Bewusstsein zu halten. So hat Bodek wohl auch das Interesse von Josef Weinheber an George geweckt, der sich wie viele Lyriker, die dem NS-Regime nahestanden, produktiv mit George auseinandersetzte.115 Adel und Untergang (1934), der Titel des Gedichtbands, mit dem Weinheber bekannt wurde, ist insofern eine Hommage an George, als es auf das elitäre Verspaar in der Mitte eines Gedichts aus dem Stern des Bundes anspielt: „Wer adel hat erfüllt sich nur im bild / Ja zahlt dafür mit seinem untergang“116. Tatsächlich verschrieb sich auch Weinheber der formästhetischen Reinheit des George-Kreises. Doch markiert das Zitat die Differenz der Dichterauffassung: Denn Weinhebers Dichter-Ideal sieht dem Untergang melancholisch-gefasst entgegen: „Daß Adel sei, genügt!“117 Ohne politische ‚Führerschaft‘ zu beanspruchen, bescheidet er sich als „Held von neuer Art“ mit der reinen Sprachkunst: Er „singt den Kanon rein, / lebt zurück zum Lied“.118 Die vergröbernde Hitlerjugend- und NS-Lyrik verdankt Georges Spätwerk den Führergedanken, die Überhöhung des Männerbundes zur Blutsgemeinschaft sowie die Stilisierung des Dichters zum Propheten. So huldigt Will Vesper zu Hitlers 50. Geburtstag „Dem Führer zum 20. April 1939“ in einem hymnischen Lobpreis nicht zufällig unter dem Titel Das Neue
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zweiten (S. 300) avisiert, kam wohl ebenso wenig zustande wie das Buchprojekt, das zum fünften Todestag Georges erschienen sollte. Hermann Bodek hat George zeitlebens verehrt und diesem 1910 eine Sammlung von Jugendgedichten Die Geburt der Seele gewidmet; vgl. Christoph Fackelmann: Die Sprachkunst Josef Weinhebers und ihre Leser. Annäherungen an die Werkgestalt in wirkungsgeschichtlicher Perspektive, Bd. 1: Darstellung, Wien 2005, S. 177. Vgl. Christoph Fackelmann: Die Sprachkunst Josef Weinhebers und ihre Leser, S. 177. SW VIII, 40, V. 5 f. Josef Weinheber: Adel und Untergang. In: J. W.: Sämtliche Werke, Bd. 2: Die Hauptwerke. Hg. von Friedrich Jenaczek, Salzburg 1972, S. 9–127, hier 69 („Heroische Trilogie / Dritter Teil, 8. Sonett“). Weinheber: Adel und Untergang, S. 68 („Heroische Trilogie / Dritter Teil, 6. Sonett“) und 97 („Die innere Gestalt“). In einem Interview mit dem ebenfalls nationalsozialistisch orientierten Hermann Pongs ist folgende Äußerung Weinhebers überliefert: „Wie George gestorben ist, hab ich zu meiner Frau gesagt: jetzt bekomm ich Raum. Da hat mich noch keiner gekannt. Groß war er, aber zu feierlich, er konnt nix dafür. Ich bin auch zwanzig Jahr jünger“ (DLA, A: Pongs-Stiftung MS Dritter, 71.677, Bl. 1).
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6. Nationalsozialismus, Innere Emigration, Exil
Reich.119 Das Gedicht eines Führers der Hitler-Jugend, das die bündische Gemeinschaft rühmt, geht wohl ebenso auf George zurück wie Baldur von Schirachs poetische Apostrophe eines toten Hitler-Jungen.120 Dabei wird die spirituell verstandene Gemeinschaft völkisch vereindeutigt: Wir sind aus gleichem Stamme aus eines Volkes Blut. Entfacht zur freien Flamme der Herzen heiße Glut.121
In dem von Heinz Kindermann herausgegebenen Sammelband Des deutschen Dichters Sendung in der Gegenwart wird Georges Anspruch eines Dichterpropheten von den meisten Beiträgern, namhafte Dichter von Paul Alverdes bis Ernst Wiechert, geteilt und mit dem Führergedanken verbunden.122 Ähnliche Tendenzen finden sich im Austrofaschismus. So stellt Leopold von Andrian in seinem Dialog Österreich im Prisma der Idee, einem vierstimmigen Plädoyer für den restaurativen Ständestaat, „George den Dichter“ in eine Reihe mit „das heutige politische Geschlecht führende[n] Gestalten, wie die Lenins und Mussolinis“.123 Allerdings finden sich bei nationalkonservativen Dichtern, bezeichnenderweise gerade aus dem Umkreis Georges, durchaus reservierte Bezugnahmen auf George. So lässt auch Ernst Bertrams Lyrik bald nach dem Tod Georges die vormalige nationale Begeisterung vermissen. Vielmehr drücken Bertrams Schwarze Sonette die enttäuschten Hoffnungen aus, welche die Nachfolger Georges auf den ‚Neuen Staat‘ gesetzt hatten: Wir hatten uns ein hohes Volk erdichtet, Das weisend über dunklen Völkern strahle, Der erzne Hüter einem künftigen Grale – Nun siehe da, wie unser Traum gerichtet! Trost wo noch her, der solchen Gram beschwichtet …124 119 Will Vesper: Das Neue Reich. Dem Führer zum 20. April 1939. In: Die Neue Literatur 40 (1939), S. 225 f. Das Incipit „Sechs Jahre nur – und dem Wunder gleich / stieg aus dem Schutte das Neue Reich“ bezieht die Wendung explizit auf das NS-Regime. 120 Vgl. Bodo Würffel: Wirkungswille und Prophetie. Studien zu Werk und Wirkung Stefan Georges, Bonn 1978, S. 188 f. 121 Ferdinand Oppenburg, zit. nach Würffel: Wirkungswille, S. 189. 122 Vgl. Würffel: Wirkungswille, S. 191. 123 Leopold von Andrian: Österreich im Prisma der Idee. Katechismus der Führenden, Graz 1937, S. 27. Die vier Gesprächspartner sind bezeichnet als „Adliger“, „Pater“, „Dichter“ und „Heimwehroffizier“. Vgl. dazu Barbara Beßlich: Das Junge Wien im Alter. Spätwerke (neben) der Moderne (1905–1938), Wien, Köln und Weimar 2021, bes. 290–306. 124 Ernst Bertram: Schwarze Sonette, Privatdr., o. O. u. o. J. [Entstehungsvermerk: Winter 1938/39], zit. nach Hajo Jappe: Ernst Bertram. Gelehrter, Lehrer und Dichter, Bonn 1969, S. 233; Petrow: Der Dichter als Führer?, S. 49–58.
6.3. Innere Emigration und Nichtnationalsozialistische Literatur
249
In einer imaginären „Begegnung mit Stefan George“, einer Prosaskizze mit dem Titel Der tote Gott, verherrlicht der Dichterpädagoge Julius Kühn (1887–1970) George als den „toten Verkünder“ des „toten Gottes“ Maximin, verpflichtet ihn aber zugleich auf die Rolle eines Nationalpropheten.125 Auf der Scheffelterrasse am Heidelberger Schloss begegnet ein namenloser „Fremder“, der seinen Sohn kürzlich durch einen Unfall verloren hat, zufällig Stefan George. Nachdem er Verse aus dessen Siebentem Ring rezitiert, lässt sich der erst abweisende Dichter, „dessen Werke sich dem Sohn hier oben erschlossen hatten“, auf ein Gespräch über Maximin ein. Als die Dichterfigur George es ablehnt, die Verlusterfahrung des Fremden mit seiner Trauer um Maximin zu vergleichen, beschwört dieser die nationale Verantwortung von Georges „Mittlertum“ und verpflichtet ihn mit der Alternative: „Entweder der Gott oder der Dichter!“ auf die Vergottung Maximins: Vernehmen Sie das Vermächtnis eines Jüngers, der Ihnen auf jedem Pfade folgt: Gesegnet des Gottes Tod! Durch ihn wird der Dichter Erlöser. Das ist Ihr Weg! Bis heute waren Sie unangetastet Herr! Künftig sind Sie Diener! Daraus erwächst Ihnen ewige Herrschaft. Ihr neig’ ich als erster demütig die Stirn.126
Und tatsächlich ringt sich der Dichter in einem Soliloquium dazu durch, durch seinen Tod die von ihm „durch die Bannkraft [s]eines Worts“ geschaffene Gestalt Maximin zu verlebendigen: „Jetzt erkenn’ ich, daß ich für dich sterben muß. Damit du auferstehst! Einst werden sie’s spüren und jubelnd rufen: ‚Der neue Gott – er lebt, er lebt! Heil seinem toten Verkünder!‘ Ich aber und Er: wir sind dann Eins!“127
6.3. Innere Emigration und Nichtnationalsozialistische Literatur Auch in der sogenannten ‚Inneren Emigration‘ oder ‚Nichtnationalsozialistischen Literatur‘ war der Umgang mit George keineswegs einheitlich; doch blieb George für die heimlichen und für die konservativen RegimeGegner eine wichtige Größe. Allerdings ist diese Bezugnahme von dem Gestus geprägt, George von jeglicher politischen Inanspruchnahme zu entbinden und ihn daher auch zu relativieren. In dem ausgewogenen Essay über 125 Julius Kühn: Der tote Gott. Eine Begegnung mit Stefan George. In: J. K.: Der Sprung ins All. Novellen und Szenen um deutsche Dichter, Gotha 1942, S. 51–59. Zu Julius Kühn vgl. Christa Schaedel: Seine Liebe galt Franken. Nachträglich zum 100. Geburtstag von Julius Kühn. In: Frankenland 39 (1987), S. 430–432. 126 „Nicht nur für mich sind Sie [George] dann tot: auch für Ihr Volk“ (Kühn: Der tote Gott, S. 56). 127 Kühn: Der tote Gott, S. 59.
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6. Nationalsozialismus, Innere Emigration, Exil
Stefan George in unserer Zeit (1935) widerspricht Eugen Gottlob Winkler der Behauptung Gundolfs, „man müsse George entweder anheimfallen oder ihn vernichten“,128 und schränkt die angebliche polarisierende Kraft als nurmehr historisches Phänomen ein. Stattdessen betont er „Georges Subjektivität […], die vorgefaßte Positur“, und erklärt „seine Wendung zur Gemeinschaft“ als „die Ausweitung seiner Selbstherrlichkeit“.129 Mehr noch: Winkler verneint ausdrücklich, „daß George seiner geistigen Substanz nach Muster und Richtung sein könnte“.130 Doch blieb eine solche historisierende Kritik und Entideologisierung des Dichters, die eine ästhetische Rezeption erst ermöglichte, selten. Sie findet sich am ehesten noch bei Theodor Lessing, der über seinen ‚Blutsbruder‘ Ludwig Klages dem George-Kreis nahekam und ihn in seinen postum erschienen Lebenserinnerungen Einmal und nie wieder (1935) beschreibt. Auch Lessing, den nationalsozialistische Attentäter bereits im September 1933, noch zu Lebzeiten Georges, ermordeten, sieht in George kein Phänomen der Gegenwart, sondern einen historischen Repräsentanten des Fin de siècle.131 Ähnlich kritisch zu George äußerte sich Karl Muth, der Herausgeber des Hochland, des bis zum Verbot durch die Reichspressekammer wichtigsten Forums katholischer Kulturpolitik. Sein durchaus reservierter Nachruf tut die frühe Dichtung ab, die „mehr künstlich als poetisch“ wirke und attestiert nur den „in prophetischem Tonfall vorgetragenen Lebensmaximen […] mit der Kraft des inspirierten Sagers“ des Spätwerks „didaktische Eindringlichkeit und monumentale Schönheit“.132 Ironisch die politische Inanspruchnahme kritisierend, folgert Muth: „Von dieser Seite her hätte er der Dichter des neuen, des Dritten Reiches werden können, als der er heute von solchen in Anspruch genommen wird, die mit äußeren Anklängen sich zufrieden geben“.133 Muth kritisiert die „blasphemisch-ekstatische Mystik und Prophetie“, die künstliche Sprachwelt und Selbstapotheose einer
128 Eugen Gottlob Winkler: Stefan George in unserer Zeit. In: Deutsche Zeitschrift [Der Kunstwart] 49 (1935), S. 46–50, wieder in: E. G. W.: Die Gestalt Stefan Georges in unserer Zeit. In: E. G. W.: Gestalten und Probleme, Leipzig 1937, S. 7–26, bes. 26. In dem Essay geht Eugen Gottlob Winkler scharf mit George ins Gericht, und seine Kritik an der überlebten „Pose“ und „Selbstherrlichkeit“, an dem „Oratorische[n] der späten Lyrik „diese[s] oberherrliche[n] Mensch[en]“ zeigt auch eine Reserve gegen den Heldenkult seiner Zeit, dessen Boden George sicher mit bereitet hatte. Wieder in: Wuthenow (Hg.): George und die Nachwelt, S. 109–122, hier 109). Zu Winklers Essay vgl. Petrow: Der Dichter als Führer?, S. 105– 110. 129 Winkler: Stefan George in unserer Zeit, S. 111. 130 Winkler: Stefan George in unserer Zeit, S. 117. 131 Vgl. Theodor Lessing: Einmal und nie wieder. Lebenserinnerungen. Mit einem Vorwort von Hans Mayer, Gütersloh 1969, S. 302–329 („Der Georgekreis“). 132 Karl Muth: Stefan George. In: Hochland 31 (1933/34), Bd. 1, S. 472–474, hier 473. 133 Muth: Stefan George, S. 473 f.
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„heidnischen Gnosis“ im Maximinkult, die letztlich Georges Herkommen „aus der katholischen Glaubenswelt“ entstamme.134 Vor allem aber wandte sich Muth aus der Sicht eines gläubigen Katholiken gegen den Personenkult, die „Georgo-Logie“ des Kreises.135 Muth verschärft sogar noch seine Kritik, wenn er 1936 diagnostiziert, dass es „wenig genug sein“ wird, was Georges „Verse zum Grundbestand der nationalen Dichtung beitragen […], wenn […] überhaupt etwas ‚bleibt‘“.136
6.3.1. Heterodoxe Verehrung: Marcus Behmer und Hans Scholl Wie sehr christlicher Glaube und George-Verehrung konfligieren konnten, zeigt der Fall des jungen Hans Scholl, der 1943 als Widerstandskämpfer hingerichtet wurde. Aus der Jugendbewegung kommend und homosozialen Bindungen durchaus zugetan, war er ein begeisterter Leser Stefan Georges. In Scholls eigenen Gedichten, die lange unbeachtet blieben, sind allerdings kaum intertextuelle Spuren zu entdecken.137 Doch beschränkte sich Scholls George-Begeisterung nicht nur auf sein Engagement in der bündischen Jugend, wovon eine kalligraphische Kopie des Gedichts „Wer je die flamme umschritt“ zeugt (Abbildung 13);138 „Scholl hatte sogar den Namen seiner Ulmer Jungengruppe „Trabanten“ dem Gedicht entlehnt“.139 Auf nachhaltigen Einfluss lassen auch die sechs George-Bände in Hans Scholls Bibliothek schließen, die mit „Unterstreichungen, Anmerkungen und Notizzetteln
134 Vgl. Karl Muth: Stefan George und seine Apotheose durch den „Kreis“. In: Hochland 31 (1933/34), Bd. 2, S. 99–116 und 258–271, hier 263. Wieder in: Karl Muth: Schöpfer und Magier, Leipzig 1933, S. 131–196. 135 Muth: Stefan George und seine Apotheose, S. 260. 136 Karl Muth: Welkender Lorbeer. Bücher der Erinnerung an Stefan George. In: Hochland 33 (1935/36), Bd. 2, S. 353–366, hier 366. 137 „Die Gedichte von Hans Scholl“ finden sich als umfänglicher Anhang in Robert M. Zoske: Flamme sein! Hans Scholl und die Weiße Rose. Eine Biografie, München 2018, S. 235–287. 138 Hans Scholl: Abschrift [Stefan George: „Wer je die flamme umschritt“]. Institut für Zeitgeschichte, München (IfZArch, ED 474/2). Scholl hat an drei Stellen den Originaltext Georges geändert; dort lautet das Gedicht: „Wer je die flamme umschritt / Bleibe der flamme trabant! / Wie er auch wandert und kreist: / Wo noch ihr schein ihn erreicht / Irrt er zu weit nie vom ziel. / Nur wenn sein blick sie verlor / Eigener schimmer ihn trügt: / Fehlt ihm der mitte gesetz / Treibt er zerstiebend ins all.“ (SW VIII, 84). Von der Groß-Kleinschreibung und der normalisierten Zeichensetzung abgesehen, betreffen Scholls Änderungen folgende Stellen: V. 2 trabant!] verbannt!; V. 3 Wie er] Wo er; kreist] kreißt; V. 5 zu weit nie] zu weit nicht; V. 6 sie verlor] sich verlor. Auch in einem anderen Autograph Scholls (IfZArch, ED 474 / 146) dieses Gedichts finden sich die Abweichungen „nicht“ statt „nie“ (V. 5) und „sich“ statt „sie“ (V. 6). 139 Zoske: Flamme sein!, S. 66.
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6. Nationalsozialismus, Innere Emigration, Exil
versehen“ sind.140 Noch zu Kriegsbeginn verbürgte er seine nationalkonservative Zustimmung und Erwartung einer großen Katharsis mit George. Erst der Militärdienst, den Scholl bei den Kriegen in den Benelux-Ländern und Frankreich 1940 ableistete, ernüchterte ihn. Als er 1941 zur Studentenkompanie nach München zurückbeordert worden war, katalogisierte er Karl Muths Bibliothek und verbrachte viel Zeit in dessen Haus in MünchenSolln.141 Neben Muth kam Scholl dort auch mit dessen rigorosem Parteigänger Theodor Haecker ins Gespräch, der Muths homophobe Polemik gegen Georges „Aftermystik“ noch zuspitzte und auch gegen Thomas Mann agitierte. In diesem doppelten Glaubenskonflikt entschied sich Scholl, der sich ästhetisch an George orientierte, aber religiös-philosophisch von Muth und Haecker beeindruckt war, für eine christliche, nicht konfessionell geprägte Moral, aus der heraus er auch seinen Widerstandskampf organisierte. Wie sehr der Widerstand von Hans Scholl und der Weißen Rose der nationalkonservativen Idee eines ‚Geheimen Deutschlands‘ verpflichtet war, ist erst in der jüngeren Forschung dargelegt worden.142
Abb. 13: Kalligraphische Abschrift Hans Scholls von Stefan Georges Gedicht „Wer je die flamme umschritt“.
140 Zoske: Flamme sein!, S. 66. 141 Vgl. Zoske: Flamme sein!, S. 126–131. 142 Vgl. Zoske: Flamme sein!, S. 48.
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Dagegen wurde George gerade in libertinen, nichtnationalsozialistischen Künstlermilieus, die sozial und sexuell ausgegrenzt wurden, durchaus verehrt. Dies zeigt nicht zuletzt der Fall des bedeutenden Buchkünstlers Marcus Behmer (1879–1958).143 Er war 1936 im Alter von 57 Jahren wegen „widernatürlicher Unzucht“ mit Männern verhaftet und nach fast siebenmonatiger Untersuchungshaft nach Paragraph 175 zu zwei Jahren Haft verurteilt worden, die er im Gefängnis in Freiburg/Br. bis zur vorzeitigen Entlassung im Sommer 1938 verbüßte.144 Behmer war bereits 1901 mehrere Monate Wolfskehls Gast in München gewesen, 1902 Untermieter bei Botho Graef und hatte einige Kreismitglieder kennengelernt, bevor er 1904 Stefan George persönlich begegnete, dessen Verehrer er lebenslang blieb.145 Gerade während seiner Gefangenschaft sorgte die phantastisch überformte Erinnerung an den Meister und dessen Werk für Trost. Neben einem seltsam-erotischen Traum, in dem der Meister sein Gartengedicht aus dem Unterreich des Algabal rezitiert, schrieb Behmer in seinem Gefängnistagebuch GeorgeGedichte aus seinem Gedächtnis auf (Abbildung 14). Die Auswahl der Gedichte auf der eng beschriebenen Doppelseite bezeugen gerade wegen der geringfügigen, aber charakteristischen Modifikationen, dass Georges Lyrik für Behmer eine identifikatorische Gegenwelt zur Haft bedeutete.
6.3.2. Unpolitischer Umgang Vor allem in der Anfangszeit der nationalsozialistischen Ära gab es Versuche, mit George in unpolitischer Art und Weise umzugehen und ihn als ideologisch unbelastetes Phänomen zu betrachten. Diese Form des Umgangs geht oft mit einer impliziten, freilich gemäßigten und daher nicht immer leicht erkennbaren Distanz zum NS-Regime einher. Inwieweit etwa die wenigen distanzierten Stellungnahmen zu George im Simplicissimus zwischen 1933 und 1937 der nationalsozialistischen Kulturpolitik folgen, ist schwer zu entscheiden.146 In der satirischen Prosaskizze Das hypermoderne Haus, einem „hemdsärmelige[r] Gemütlichkeit“ anhängenden Ehemann in den Mund gelegt, wird das „ästhetisch einwandfreie“ 143 Zu Leben und Werk Behmers vgl. den vorzüglichen Ausstellungskatalog von Peter Christian Hall: Delphine in Offenbach: Marcus Behmer – Meister der kleinen Formate. Klinspor Museum, Offenbach 2018. 144 Hall: Delphine in Offenbach: Marcus Behmer, S. 375–393, hier 375. 145 Vgl. Hall: Delphine in Offenbach, S. 63 f. 146 Das George-Porträt von Olaf Gulbransson (Abbildung 15), eine Zeichnung aus dem Jahr 1933. In: Simplicissimus 38 (1933), Nr. 22, S. 254, präsentiert den Dichter im Profil, das durch den schwarzen Hintergrund zusätzlich markant wirkt. Das Porträt ist wohl durchaus als Hommage aufzufassen.
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6. Nationalsozialismus, Innere Emigration, Exil
Abb. 14: George-Gedichte in den Gefängnisaufzeichnungen des in Freiburg/Br. 1936–1938 inhaftierten Marcus Behmer.
Moderne-Faible einer emanzipierten Ehefrau komisiert: Das Haus ist „von Corbusier entworfen“ und hinter Lotosblumen muss der Ehemann neben chinesischer Poesie in Klabunds Nachdichtung „beim Tee die blasierten, blutarmen Gedichte Rilkes und ähnliches Zeug“ über sich ergehen lassen, bis er gegen das „moderne Eheleben“ rebelliert.147 Anlass für die Rebellion des Ehemanns ist ausgerechnet ein „endlos eitle[s] Geschwätz über das Versmaß bei Stefan George“.148 Ähnlich charakterisiert der zwischen Anpassung und kritischem Humanismus lavierende Dichter Georg von der Vring in seiner Erzählung Die Puppen die sterbenslangweilige Atmosphäre einer „Abendgesellschaft“, nachdem „ein junger Musiker eigene Kompositionen von Robert Schumann vorgetragen [hatte] und ein junger Poet eigene Dichtungen 147 hm [Henri Meyer-Brockmann]: Das hypermoderne Haus. In: Simplicissimus 40 (1937), Nr. 37, S. 442 f. Meyer-Brockmann studierte von 1934 bis 1939 bei Olaf Gulbransson an der Münchner Akademie, nachdem er 1934 aus politischen Gründen die Kunstgewerbe- und Handwerkerschule Hannover verlassen hatte müssen. 148 [Meyer-Brockman]: Das hypermoderne Haus, S. 443.
6.3. Innere Emigration und Nichtnationalsozialistische Literatur
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Abb. 15: Stefan George. Zeichnung von Olaf Gulbransson im Simplicissimus, 1933.
von Stefan George“: „Die Stimmung war somit auf dem Gefrierpunkt angelangt“.149 Solche Versuche, George lediglich als literarisches Vorbild, ohne poli tische Implikationen, zu ehren, führen oft nur eine lebenslange ästhetische Verehrung fort. Charakteristisch für einen solch ungebrochenen Dichterkult ist etwa Otto Damm (1887–1940), der seit Jugend schon mit den GeorgeVerehrern Henry Benrath, Fritz Usinger und Reinhard Goering befreundet war. Erinnern bereits einige seiner frühen Sonette (1912) an George,150 so huldigt er seinem poetischen Vorbild in Marsyas (1934), seinem zweiten Gedichtband, explizit in einem Motto: „Hier stehe geschrieben in Demut, 149 Georg von der Vring: Die Puppen. In Simplicissimus 42 (1937), Nr. 1, S. 5 f., hier 5. Damit werden selbstverständlich mindestens ebenso sehr die Unselbständigen George-Epigonen karikiert wie das Original selbst. 150 Otto Damm: Sonette, Frankfurt/M. 1912, S. 8 („Einer Vorübergehenden“, in der die Begegnung mit einer unbekannten Frau nach Baudelaire / George stärker erotisiert wird) oder S. 36 (Inc.: „Nun ich allein den tiefen Park betrete“), das sich wie eine einsame Entgegnung auf Georges Einladung zu einem gemeinsamen Besuch eines herbstlichen Parks liest („Komm in den totgesagten park und schau“, SW IV, S. 12); bezeichnenderweise ersetzt Damm „die bunten Pfade“ durch „die alten Pfade“.
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Dankbarkeit und heißer Liebe der Name STEFAN GEORGE“.151 Auch wenn der Band einige völkische Erwartungen bedient, überwiegt die Poesie das Politische, wie etwa die poetologische Dichterklage zeigt. Darin geht die „strenge“ Muse mit dem Autor ins Gericht, indem sie ihm Goethe und George als unerreichten Maßstab vorhält: „Sie aber reizt noch förmlich meine Sorge / Und Freundlichkeiten hör ich allerlei, / Sie schwärmt mir vor von Goethe und George / Und spottet, daß ich nur ein Stümper sei“.152 Überhaupt bewahrten die Dichter der Darmstädter Dachstube ihre poetische Orientierung an George auch während des Dritten Reichs. Dies gilt insbesondere für Fritz Usinger, der mit Wolfskehl befreundet war und zeitlebens George verehrte. In seinen Gedichtbänden der 30er Jahre betont er immer wieder die Differenz zwischen „Dichter und Herrscher“ und zwischen dem irdischen Reich heroischer Taten und dem „andre[n] Reich […] / Wo ewige Blüte sprießt aus ewigem Ruhme“.153 Für seine hohe inspirationsästhetische Auffassung vom Dichteramt berief sich Usinger ausdrücklich auf „Stefan George“, dem er namentlich einen „Dankgesang“ gewidmet hat: Der Text des komplexen, strophisch nicht gegliederten Gedichts aus 47 reimlosen jambischen Fünfhebern referiert zwar nicht mehr explizit auf George, hebt aber in der epochalen Bedeutung des „Einen“ dessen seherische Bedeutung als eines Priesterdichters oder ‚poeta vates‘ hervor: […] Doch dann kommt der Eine Und hebt den Finger in die Zeit und alles Ist klar und einfach, wie es soll. Die alten Geleise werden sichtbar, drin das Leben Sich regt und wendet: himmlisches Gesetz.154
6.3.3. Partielle Übernahme: Marie Luise Kaschnitz Für die jungen Autorinnen und Autoren der ‚nichtnationalsozialistischen Literatur‘, deren generationsspezifische „Gespaltenheit“ und Orientierung an der Moderne Hans Dieter Schäfer plausibel profiliert hat, war Stefan George durchaus ein Vorbild. Im Ausland wurde die Eigenständigkeit der 151 Otto Damm: [Motto] zu: Marsyas. Gedichte, Darmstadt 1934. 152 Otto Damm: Dichterklage. In: Marsyas, S. 38 f., hier 39. 153 Vgl. Fritz Usinger: Dichter und Herrscher. In: F. U.: Die Stimmen, Darmstadt 1934, S. 65– 67, und F. U.: Der Dichter. In: ebd., S. 13, hier 10 f. Usinger berichtete später, er habe bei einem Besuch in München Ende der 20er Jahre von Wolfskehl erfahren, dass das Gedicht Nova Apocalypsis in Karl Wolfskehls Umkreis (1927) von Stefan George stamme; vgl. Fritz Usinger: Nova Apocalypsis. In: CP 34 (1957/58), S. 96–99. 154 Fritz Usinger: [Dankgesang III] Stefan George. In: Das Wort, Darmstadt 21938 [ED 1931], S. 48 f., hier V. 8–12.
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Literatur dieser Gruppe vermerkt, zu deren Vertretern etwa Günter Eich, Rudolf Hagelstange, Peter Huchel, Marie Luise Kaschnitz und Wolf von Niebelschütz zählten.155 Ihre Lyrik charakterisiert ein programmatisches Formbewusstsein und ein Sich-Verschanzen in einem unpolitischen Neoklassizismus. Paradigmatisch für den Umgang dieser Generationsgefährten mit George ist das Gedicht Der Teppich des Lebens (1939) von Marie Luise Kaschnitz.156 Auf den impliziten Dialog mit Georges Teppich-Gedicht im titelgleichen Zyklus wurde bislang nur beiläufig hingewiesen.157 Während Georges Gedicht Der Teppich (SW V, 36) aus vier Strophen kreuzgereimter jambischer Fünfheber besteht, hat Kaschnitz die Vorlage durch ein weibliches Reimpaar erweitert, die jeweils für einen epigrammatischen Abschluss sorgt und die Zahl der Strophen verdoppelt. Wie die sechszeilige Strophe bereits in der Frühen Neuzeit „ein Gefäß für Reflexionen, nachdenkliche Betrachtungen und wehmütige Empfindungen“ war,158 so reflektiert auch das lyrische Ich bei Kaschnitz angesichts des Bildprogramms eines Wandteppichs über „des Lebens Fülle“, die „schön […] ausgebreitet“ ist (V. 25). Es könnte sich wegen der Länge des Teppichs, „der rings die Wände deckt“ (V. 2), sowie der kriegerischen Szenen („Und rings ist Krieg und nichts als Krieg zu schauen“ [V. 18]) und der „segelüberweht[en] Schiffe“ (V. 28) um den Teppich von Bayeux handeln, auf dem die Eroberung Englands durch Wilhelm den Eroberer dargestellt ist.159 Auch wenn es zu Georges gedichtetem Teppich kein wirkliches Vorbild gibt, ahmt ihn Kaschnitz in ihrer Rätsel-Lösung-Struktur, der deiktischen Vergegenwärtigung der bildlichen Darstellung und deren Verlebendigung nach. So greift Kaschnitz Georges Adjektiv „lebendig“ (V. 8) auf („leben“ [V. 34]) und das markante Eingangswort ‚hier‘ („Hier schlingen menschen mit gewächsen tieren / Sich fremd zum bund […]“ [V. 1 f.]) auf („Hier ist ein Antlitz ganz von Qual verzerrt“
155 Vgl. Schäfer: Das gespaltene Bewußtsein, bes. S. 333–384 („Die nichtnationalsozialistische Literatur der jungen Generation im Dritten Reich“). Schäfer weist auf die Kontinuitäten der Moderne nach 1933 hin. Die genannten Repräsentanten der ‚jungen Generation‘ beteiligten sich etwa alle an den lyrischen Preisausschreiben der liberalen Zeitschrift Die Dame, das im Jahre 1935 Marie Luise Kaschnitz mit ihrem Gedicht Die Wellen gewann (vgl. ebd., S. 372). 156 Marie Luise Kaschnitz: Gesammelte Werke, Bd. 5: Gedichte. Hg. von Christian Büttrich und Norbert Miller, Frankfurt/M. 1985, S. 80 f. 157 Vgl. Schäfer: Das gespaltene Bewußtsein, S. 372 f., und Elliott: Beyond Left and Right, S. 919. 158 Horst Joachim Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen, Tübingen und Basel ²1993, S. 515, s. v. 6.45. 159 Sollte tatsächlich der Teppich von Bayeux das Thema des Gedichts sein, wäre allerdings ein genaueres Entstehungsdatum aufschlussreich, da der Teppich schon 1939 nicht mehr ausgestellt war und nach der deutschen Besatzung Frankreichs von der ‚Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe e.V.‘ ideologisch usurpiert wurde.
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6. Nationalsozialismus, Innere Emigration, Exil
[V. 13], „“hier und dort“ [V. 20]). Doch erst die Ähnlichkeit lässt auch die ästhetische Differenz erkennen, die Kaschnitz im Dialog mit George gewinnt. In Georges Teppich belebt sich der „erstarrte[] tanz[]“ (V. 4) in der Mitte des Gedichts, markiert durch die anaphorische temporale Konjunktion ‚da‘, welche die Plötzlichkeit des Umschlags vom ‚Rätsel‘ zur ‚Lösung‘, vom Statischen zum Lebenden betont; zugleich verdeutlicht die Schlussstrophe die hermetische Exklusivität dieses epiphanen Moments, die durch Wiederholungsfiguren auch stilistisch hervorgehoben ist („nicht […] nicht“, „nie und nie“, „den seltnen selten“). Und keiner ahnt das rätsel der verstrickten . . Da eines abends wird das werk lebendig. Da regen schauernd sich die toten äste Die wesen eng von strich und kreis umspannet Und treten klar vor die geknüpften quäste Die lösung bringend über die ihr sannet! Sie ist nach willen nicht: ist nicht für jede Gewohne stunde: ist kein schatz der gilde. Sie wird den vielen nie und nie durch rede Sie wird den seltnen selten im gebilde.
Bei Kaschnitz wirft die Eingangsstrophe das Rätsel auf, mit dem der Bildteppich das lyrische Ich konfrontiert: Im dunklen Saale heb ich meine Hand Zum Teppich auf, der rings die Wände deckt, Der Faden, überall zum Kreuz gespannt, Birgt ein Geheimnis, das mich oft bewegt. Denn einer Masche gleich in den Geweben Scheint unser Leben zwischen tausend Leben.
Die Faszination des „Bildes“ (V. 32), das an Georges Schlusswort „gebild“ erinnert, wird in der sechsten Strophe kurzfristig ins Präteritum distanziert. Das eingangs angedeutete Geheimnis wird zu einer Frage zugespitzt, die zunächst nur als ästhetische Kraft der Verlebendigung beantwortet wird, bevor sie zu einer grundsätzlichen Reflexion über das Mysterium des Lebens erweitert und verallgemeinert wird: Was ist es, das an diesen Ort mich bannte Und immer neu das Bild mich deuten ließ, Da ich die Absicht nimmermehr erkannte, Die solche Fülle schuf und leben hieß? Ein Spiel der Schöpferkraft nur muß ich wähnen, Ungleich gemischt aus Heiterkeit und Tränen.
6.3. Innere Emigration und Nichtnationalsozialistische Literatur
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So dünkt mich Schein und Finsternis verwirrend Auch auf der Erde Angesicht gelegt, Und Menschen seh ich durch die Zeiten irrend Von jedem Hauch getragen und bewegt. Und doch erkenn ich Tag um Tag genauer: Es wiegt die Freude schwerer als die Trauer, Es strahlt die Sonne mehr als Schatten dunkelt, Und tausend Wipfel wiegen sich im Licht Von Morgenglanz und Sternenschein umfunkelt Um jenen einen, den der Sturm zerbricht. Zum Lichte drängt das Reis mit jedem Triebe Und tiefer wurzelt als der Haß die Liebe.160
Der allegorische Schluss lässt die Differenz zu Georges Teppich des Lebens deutlich erkennen. Während dort das Geheimnis des Teppichs sich „den vielen nie“, sondern nur den „seltnen“ Eingeweihten offenbart, gelangt Kaschnitz’ Lyrisches Ich zu der monistischen Erkenntnis eines tröstlichen Gemeinschaftsgefühls, in dem der Einzelne wie „jene[r Wipfel], den der Sturm zerbricht“ (V. 46), im liebenden Kollektiv der „tausend Wipfel“ aufgehoben ist. Dass Kaschnitz diese lebensbejahende Haltung ausgerechnet auf der Kontrastfolie von Georges symbolistischem Teppich des Lebens gewinnt, bezeugt die ästhetische Dissonanz dieser ‚gespaltenen‘ Generation zu George: Sie changiert zwischen Anlehnung und Distanzierung, indem sie sich in der strengen, fast klassizistischen Form an George anlehnt, ihn auch in Motiven beleiht, zugleich sich aber dezidiert vom elitären Gestus und nationalen Pathos absetzt.
6.3.4. „Hellas ewig unsere Liebe“: Werner Hundertmark Ein anderer George-Verehrer der ‚inneren Emigration‘ ist der zu wenig bekannte Dichter Werner Hundertmark (1909–1945), der über die Jugendbewegung zu Georges Werk fand. Sein Gedichtband Hellas ewig unsere Liebe (1935) zitiert im Titel den Schlussvers des siebten Gedichts aus dem Vorspiel zum Teppich des Lebens und verdeutlicht diese Anleihe, indem er als Motto die gesamte Schlussstrophe des George-Gedichts abdruckt: „Eine kleine schar zieht stille bahnen / Stolz entfernt vom wirkenden getriebe /
160 Kaschnitz: Der Teppich des Lebens, V. 31–48. In der Werkausgabe sind die beiden Schlussverse des Gedichts vom vorgängigen Kreuzreim abgesetzt.
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6. Nationalsozialismus, Innere Emigration, Exil
Und als losung steht auf ihren fahnen: / Hellas ewig unsre liebe“.161 Tatsächlich bestimmt Georges „Losung“ auch Aufbau und Thematik der Sammlung Hundertmarks, der sich im Mai 1934 fast resignativ zu George bekannt hatte: „Das Unsere [scil. Jahrhundert] hat uns George vorweggenommen, und es bleibt nur noch wenig übrig auszusprechen“.162 In den drei Abteilungen „Verheißung“, „Erfüllung“ und „Die Neige“ behandelt Hundertmark Themen der griechischen Antike, teilweise mit direktem Bezug zu „Bildbeigaben nach Vasen der Alten“.163 Neben dem bündischen Ideal der Vergemeinschaftung, auch in metaphysischer Hinsicht, bestimmen Sterben und Tod das Werk, ohne in die Verherrlichung des Heldentodes durch die NS-Propaganda einzustimmen. Hundertmark nimmt als ein Dichter der ‚Verlorenen Generation‘ zwar Georges Dichtung mit den Idealen Maß und Schönheit auf, doch verbürgt sie ihm keine Identität mehr, sondern fungiert als „fremde Form“ und gewählte Haltung für eine resignative Flucht aus der Gegenwart. Dies bekundet die bittere Lebens- und Dichtungsbilanz, die Hundertmark in der dritten und letzten Strophe des Abschlussgedichts Die Erben zieht: „Alles wollten wir vollbringen, / keines wird uns je gelingen / Kraft und Mut zerbrach. / Wille, mühsam aufgeboten, / lebt, im Angesicht der Toten, / fremden Formen nach“.164 Auch in den Texten, die er als Soldat während des Russland-Feldzuges verfasste, zitierte Hundertmark immer wieder George,165 wie sich auch in seinem letzten Gedichtband Und als durch Korn und Mohn die Sense strich (1943) noch George-Allusionen finden.166
161 Werner Hundertmark: Hellas ewig unsere Liebe. Gedichte, Wismar [1935], S. 7, zitiert: SW V, 16, V. 13–16. 162 Hundertmark zit. nach Michael Philipp: Ein Strahl von Hellas. Werner Hundertmark, ein Dichter der ‚Verlorenen Generation‘. In: Die Jugendbewegung und ihre Wirkungen. Prägungen, Vernetzungen, gesellschaftliche Einflussnahmen. Hg. von Barbara Stambolis Göttingen 2015, S. 195–231, hier 202 f. 163 Siehe dazu die einlässliche Würdigung von Michael Philipp: Ein Strahl von Hellas. 164 Hundertmark: Erben. In: Hellas ewig unsere Liebe, S. 46. Philipp: Ein Strahl von Hellas, S. 207, druckt Hundertmarks Handschrift einer früheren Version des Gedichts ab, dessen Titel „Schicksalslied“ an Hyperions Schicksalslied Hölderlins erinnert. 165 Vgl. Philipp: Ein Strahl von Hellas, S. 223 f. 166 Vgl. Werner Hundertmark: Ehe du heimkehrst. In: W. H.: Und als durch Korn und Mohn die Sense strich. Gedichte, Hamburg 1943, S. 42 f., die Selbstanrede eines Kriegsheimkehrers wirkt wie eine existentiell intensivierte Version von Georges „Komm in den totgesagten park und schau“ (SW IV, 12). Der von Philipp: Ein Strahl von Hellas, S. 231, zitierte Vers „Sieh die Stunde in Blau und Gold“ dürfte wohl eine resignative Antwort auf Georges „durch ein Jahr“ spielenden „Traum in Blau und Gold“ in der „Aufschrift“ zu den Hymnen sein (SW II, 8).
6.3. Innere Emigration und Nichtnationalsozialistische Literatur
261
6.3.5. George-Nachfolge in der Literaturzeitschrift Das Gedicht In der Tradition Georges stehen auch die publizistischen Aktivitäten des 1934 von Heinrich Ellermann gegründeten Verlages mit einem dezidiert ‚literarischen‘ Programm. Es charakterisiert auch Heinrich Ellermanns Lite raturzeitschrift Das Gedicht. Blätter für die Dichtung, die, auch wenn der regimekritische Aspekt eher verhalten blieb, der modernen systemfernen Lyrik einen Platz einräumte.167 Neben Namen wie Gottfried Benn, Friedrich Georg Jünger oder Oskar Loerke zählten dazu auch Dichter, die George nahestanden oder ihn nachahmten wie Ernst Bertram, Wolfgang Frommel oder Achim von Åkerman;168 der Titel der Zeitschrift lehnt sich gezielt an die Blätter für die Kunst an. Schon im ersten Jahrgang erschienen Gedichte der „Runde“: Ein anonymer Druck von Wolfgang Frommels wirkungsvollem Gedicht Die Fackel und Achim von Åkermans An Dionysos, die sich beide allein schon typographisch, durch ihre Kleinschreibung, auf George beziehen.169 Nachdem 1939 ein Heft mit poetologischen Äußerungen der Moderne, darunter auch Stefan Georges, erschienen war, enthielt das der Jugend gewidmete Themenheft erneut Frommels Gedicht Die Fackel, gefolgt von den zwei späten George-Gedichten „Neuen adel den ihr suchet“ sowie „Du schlank und rein wie eine flamme“.170 Das Heft von 1942 ist unter dem Titel Den Helden: Ruhm, Dank und Verklärung den gefallenen Sol-
167 Vgl. Lyrik verlegen in dunkler Zeit. Aus Heinrich Ellermanns Reihe „Das Gedicht. Blätter für die Dichtung“ 1934 bis 1944. Hg. von Christoph Perels mit einem Gesamtverzeichnis der Jahrgänge 1–10, München 1984. 168 Der Abdruck von Friedrich Hölderlins Gesang an die Deutschen. In: Das Gedicht. Blätter für die Dichtung 2 (1936), 19. Folge, kann ebenfalls als ein Bekenntnis zu George verstanden werden. Dennoch fällt eine ideologische Verrechnung der Reihe nicht ganz leicht, da Ellermann auch regimetreue Dichter zu Wort kommen ließ, allerdings mit Poesien, die allenfalls mittelbar als propagandistisch anzusehen sind; exemplarisch genannt sei das Gedicht des sonst NS-nahen Dichters Ludwig Friedrich Barthel: Von der Erde und dem inneren Vaterlande. In: Das Gedicht. Blätter für die Dichtung 2 (1936), 19. Folge, [Teil] II, V. 20–23, dessen Vorstellung vom ‚innersten Deutschland‘ durchaus mit dem ‚heimlichen Deutschland‘ des George-Kreises interferiert: so empfing ich ein innerstes Deutschland, ein aufrichtiges, im Worte schüchternes, von Gott behütetes, aus seiner Gnade lächelndes, liebendes, weise liebendes Deutschland. 169 [Wolfgang Frommel]: Die Fackel, und Achim von Åkerman: An Dionysos. In: Das Gedicht. Blätter für die Dichtung 1 (1934), 3. Folge, unpag. 170 Vgl. Den Künftigen: Gedichte von Stefan George [u. a.]. In: Das Gedicht. Blätter für die Dichtung 7 (1940), 1. Folge. Frommel ist dort erneut namentlich nicht genannt als Verfasser des Gedichts „Die Fackel“.
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6. Nationalsozialismus, Innere Emigration, Exil
daten gewidmet und enthält auch Georges hier durchaus kritisch gemeintes zweistrophiges Gedicht An die Toten (Inc.: „Wenn einst dies geschlecht sich gereinigt von schande“).171
6.4. Exil und Ausland Typisch für die George-Rezeption während der Zeit des Nationalsozialismus ist eine ausgeprägte Politisierung, die nicht zuletzt durch die Indienstnahme des Dichters durch das NS-Regime forciert wurde. Während sich zahlreiche regimetreue Schriftsteller auf George beriefen, distanzierten sich viele regimekritische und exilierte Schriftsteller von Georges Dichtung, der sie eine präfaschistische Ideologie anlasteten. Allerdings hielten auch jüdische Weggefährten und exilierte Freunde Georges während des Nationalsozialismus unvermindert an seinem Werk fest. Zwar wurde George von den Nationalsozialisten und auch manchen Mitgliedern des Kreises nachträglich zum „Vorläufer“ und „Ahnherrn“ des ‚Dritten Reichs‘ stilisiert, aber vor allem sahen entschiedene Regime-Gegner und Exilierte im „Lyriker des Siebenten Ringes [den] des Dritten Reiches.“172 So dient Franz Leschnitzer der Tod Georges zum Anlass, aus kommunistischer Sicht dessen Werk als „Hauptquelle der faschistischen Ideologie […] und […] ein Hauptobjekt der marxistischen Literaturkritik“ zu erweisen und eine Traditionslinie von George über Gundolf zu Goebbels zu konstruieren.173 Doch schränkte Leschnitzers parteiische Radikalität seiner Diagnose deren Wirkung ein. 171 Stefan George: An die Toten. In: Den Helden. Ruhm, Dank und Verklärung. In: Das Gedicht. Blätter für die Dichtung 8 (1942), 6. Folge, S. 13. Vgl. SW IX, 90. 172 Vgl. Karl Kraus: Dritte Walpurgisnacht. In: K. K.: Schriften, Bd. 12. Hg. von Christian Wagenknecht, Frankfurt/M. 1989, S. 79. Zur George-Rezeption im ‚Dritten Reich‘ vgl. die Studie von Stefan Bodo Würffel: Zum George-Bild des Dritten Reiches. In: Leid der Worte. Panorama des literarischen Nationalsozialismus. Hg. von Jörg Thunecke, Bonn 1987, S. 227–254; Petrow: Der Dichter als Führer?, S. 61–88 („George und die neuen Machthaber“). Im Unterschied zu Würffel: Wirkungswille, S. 80 ff., der auch einige poetische Zeugnisse würdigt, zeichnet Petrow ansonsten weniger die komplexe produktive Rezeption als vielmehr die wissenschaftlich-philologische Sicht auf George nach. Wie politisch umstritten der Dichter nach 1933 war, zeigt exemplarisch ein Artikel von Dominikus: Stefan George und die jüdische Unterwelt. In: 12 Uhr-Blatt, 7.12.1933, S. 4, der in einer stark antisemitisch eingefärbten Medienkritik den Streit um die Deutungshoheit und politische Zugehörigkeit nach Georges Tod referiert. 173 Franz Leschnitzer: George – Gundolf – Goebbels. In: Internationale Literatur. Zentralorgan der Internationalen Vereinigung Revolutionärer Schriftsteller 4 (1934), S. 115–131, hier 131. Goebbels habe gar „einen wesentlichen Bestandteil des Hitlergrusses, den Heilruf“, von George übernommen, vgl. ebd., S. 131 (überarbeitet wieder u. d. T.: Stefan George und die Folgen. In: Das Wort 3 (1938), Nr. 12, [Moskau], S. 113–130). Wenige Jahre zuvor hatte
6.4. Exil und Ausland
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Gerade im westeuropäischen Ausland wie etwa in Frankreich, wo zunächst ja auch viele Geflüchtete lebten, fiel die politische Bewertung Georges differenzierter aus. Während etwa Jean Gaudefroy-Demombynes, der an Mon combat (1934), der französischen Übersetzung von Hitlers Mein Kampf, mitgewirkt hat, in George einen ‚Verkünder des Neuen Reichs‘ sieht, nimmt 1935 ein „Francus“, hinter dem sich wohl der zunächst nach Frankreich geflüchtete Exilant Wolf Franck verbirgt, George vor der nationalsozialistischen Instrumentalisierung, die er als gezieltes Missverständnis decouvriert, entschieden in Schutz.174 Einen dritten Weg weist Henry Benrath, das ist Albert Heinrich Rausch, der sich früh schon nach Paris zurückgezogen hatte, indem er an George als bloßem Dichter festhalten wollte. Für das französische Publikum würdigt er George in französischer Sprache und übersetzt „neunundzwanzig seiner schönsten Gedichte“. Schon im Titel betont Benrath, dass es ihm um einen ausschließlich poetischen Dialog geht: Stefan George, évocation d’un poète par un poète (1935).175 Benrath, der seine lebenslange Bewunderung für George bekennt, sucht der ideologischen Polarisierung insofern entgegenzuwirken, als er sich entschieden von Georges politischer Dichtung distanziert. Diese beweise nur, dass ‚Prophetie und Poesie nicht dasselbe, aber Irrtümer das gute Recht jedes Künstlers seien‘.176 Die beiden letzten Gedichtbände erläutert Benrath zwar ausführlich (Stern des Bundes und Das neue Reich), ohne aber daraus zu übersetzen, da sie nicht mehr im Zentrum des Schaffens stünden: „Les Livres de la fin ne sont plus ceux du centre“.177 Ein Épilogue beschließt die Dichtergenese. Darin apostrophiert Benrath George, um poetische Affinität wie Differenz
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Leschnitzer: Zum 60. Geburtstag Stefan Georges. In: Die neue Bücherschau 6 (1928), S. 414 f., George noch insgesamt positiv gewürdigt. Francus [Wolf Franck ?]: Stefan George – est-il précurseur d’Hitler? In: La Grande Revue 37 (1934), Nr. 143, S. 387–396. Wieder in: Wuthenow (Hg.): George und die Nachwelt, S. 23–33. Wegen des ähnlichen Tenors handelt es sich vermutlich um Wolf Fran(c)k (*1902, gest. in den 60er Jahren), den Verfasser eines kontrastiven Vergleichs von George und Spengler in französischer Sprache (GPL 1184) und einer relativierenden George-Kritik aus marxistischer Perspektive aus dem Jahre 1938 (vgl. dazu auch Michael Butter: George in der nichtdeutschsprachigen Literaturkritik. In: GHb II, S. 1044–1057). Vgl. Henry Benrath [d. i. Albert H. Rausch]: Der Weg, Stuttgart 1943, S. 118, zu Genese und Charakter des Werks: „Eine ‚évocation‘ entspringt immer einer Verehrung und Liebe. Sie ‚urteilt‘ nicht, aber die Abwägung ist ihr erlaubt. ‚Elle ne juge pas, mais elle pèse‘“. – Seit 1932 veröffentlichte Albert Heinrich Rausch unter dem Pseudonym ‚Henry Benrath‘. Henry Benrath: Stefan George. Évocation d’un poète par un poète, Paris 1936, S. 14 f.: „Ces deux poèmes [scil. Der Krieg und Der Dichter in Zeiten der Wirren] […] prouvent que prophétie et poésie ne sont pas la même chose. Mais c’est le bon droit de chaque grand artiste de commettre des erreurs […]“. Henry Benrath: George. In: Die Stimme Delphis. Sappho, Platen, George, Zürich 1939, S. 65–89, greift viele Gedanken aus der französischen GeorgeSchrift auf, etwa die Zurückweisung des ‚letzten George-Porträts‘. Benrath: Stefan George. Évocation d’un poète par un poète, S. 164.
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6. Nationalsozialismus, Innere Emigration, Exil
auszumitteln. In der stark stilisierten Retrospektive seines „schöpferischen Weg[es]“ (1943), der „Mutter“ gewidmet, bekräftigt Benrath erneut, wie ihm in einer schweren Lebenskrise George „zum lebendigen Beispiel dichterischer Größe und künstlerischer Pflichterfüllung“ wurde.178 Zugleich erläutert er die persönliche Sicht auf George in seiner französischen Évocation. Schon unmittelbar nach Georges Tod hatte Benrath versucht, in einem Dichtergedicht (1934) George dem ideologischen Deutungsstreit zu entziehen („wächst auch der Deuter Zahl“): In einer Apostrophe beleiht er Georges Autorität, um für einen individuellen Zugang zu dessen Gesamtwerk zu plädieren („Denn jeder Teil ist immer nur dein Ganzes“), einen Zugang, der freilich Sympathie, ‚Mitleiden‘ im buchstäblichen Sinn, voraussetzt: An Stefan George Wo deutsche Worte raunen, ist dein Reich: Der große Trost in Sammlung und Erhebung. Was du dem Knaben warst, bist du dem Manne: Des Willens Siegel über jedem Leid. Wo er am tiefsten ruht in deinem Werke, Bestimmt dem Einzelnen der eigne Gott. Streit ist Verrat am Geist, der dich berief, Denn jeder Teil ist immer nur dein Ganzes. Wächst auch der Deuter Zahl: nur wen das Dunkel, Das heilig sich um deine Bilder schmiegt, Mit allem Traum der Großen Mütter ruft, Weiß, welchen Fernen du entstiegst und welchen Noch ferneren dein Herz entgegenstarb.179
Die Exil-Forschung hat die diversen Positionsnahmen zu George und seinem Werk bislang zu wenig differenziert. So verallgemeinerte man oft Leschnitzers Position, obschon sie mehrere antifaschistische Schriftsteller wie etwa Arnold Zweig teilten, einseitig als repräsentativ. Doch war auch unter den dezidiert antifaschistischen Schriftstellern die ideologische Bedeutung Georges keineswegs unumstritten. So registriert Wolf Franck zwar, wie „das Reich Georges wichtige propagandistische Bausteine für das Nazireich liefern“ konnte, doch nur indem der Staat „zum Fälscher“ wurde: „Aus George wurde Hitler, aus dem Meister ‚der Führer‘, aus den neun Versbänden ‚Mein Kampf‘, aus Maximin Horst Wessel, aus dem Neuen Reich
178 Henry Benrath: Der Weg, S. 69. 179 Albert H. Rausch [d. i. Henry Benrath]: An Stefan George. In: Basler Nachrichten, 1.2.1934, Nr. 31.
6.4. Exil und Ausland
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das ‚Dritte Reich‘“.180 Und Franck revidiert die fundamentale marxistische George-Kritik insofern, als er Georges Verweigerung gegenüber dem NSStaat betont: Auch wenn Georges „Neues Reich und das ‚Dritte Reich‘ […] in der ideologischen Vision [zusammen]gehören“, sprechen Georges Scheitern und „letzte[s] Schweigen“ „gegenüber dem Faschismus für ihn, nicht gegen ihn“.181 Nach Franck ist eben George „nicht einfach […] als Präfaschist abzutun“ und nicht zufällig werde er seit vier Jahren im ‚Dritten Reich‘ totgeschwiegen. Ebenso würdigt der Nationalbolschewist Karl O. Paetel im amerikanischen Exil Georges geistige und politische Wirkung und verteidigt ihn gegen die Ansprüche des NS-Regimes, „George zum Nazi zu machen“.182 Indem er ihn historisiert („Stefan George […] wurzelte in den Problemen der Jahrhundertwende“) und zum Repräsentanten einer vergangenen Epoche macht („Mit ihm ging eine Epoche zu Ende“), entkräftet Paetel ebenso die nationalsozialistische wie antifaschistische Indienstnahme Georges.183
6.4.1. George-Gedenken im Exil um Karl Wolfskehl: Albert Verwey, Rudolf Pannwitz, Wolfram von den Steinen und Karl Vollmoeller Obschon sich auch Angehörige der jüngeren Generation im Ausland, wie Werner Vordtriede184, an Georges Werk orientierten, finden sich unter den exilierten Schriftstellern und Regime-Gegnern vor allem einige, die schon vor 1933 mit George sympathisierten und sich in ihrer ästhetischen Orien tierung nicht durch das NS-Regime irritieren ließen. Dazu zählen in erster Linie die ehemaligen Weggefährten, die den Dichter nach seinem Tod nicht nur von jeglicher Verantwortung für den Nationalsozialismus freisprachen, sondern ihn sogar zum Kronzeugen ihrer Kritik am barbarischen Regime machten. Einer der bedeutendsten Repräsentanten unverbrüchlicher GeorgeVerehrung, die auch im Exil nicht nachließ, ist Karl Wolfskehl, dessen unverrückbarer „Maßstab“ George zeitlebens blieb: „kein Gedanke, keine Zeile, die nicht an seiner Art gemessen wurden“. Und auch, wenn er sich resigniert 180 Wolf Franck: Über Stefan George. Zur fünften Wiederkehr seines Todestags (4. Dezember). In: Internationale Literatur 8 (1938), Nr. 12, S. 124–134, hier 132. 181 Franck: Über Stefan George, S. 133 f. 182 Karl O. Paetel: Stefan George. In: Deutsche Blätter für ein europäisches Deutschland, gegen ein deutsches Europa 2 (1944), Nr. 5, S. 20–23, hier 20. 183 Paetel: Stefan George, S. 21 und 23. 184 Vgl. Joseph P. Strelka: Werner Vordtriede. In: Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933, Bd. 2: New York. Hg. von John M. Spalek und Joseph P. Strelka, Bern 1989, S. 977–984.
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6. Nationalsozialismus, Innere Emigration, Exil
nach dem Tode Georges eingesteht, er müsse nun „in schwerster Zeit […] ganz [sich] selber gehören und vertrauen“,185 bleibt George auch im Exil, zuerst in Italien, dann in Neuseeland, Wolfskehls Fixstern. Dessen Autorität und Tenor bestimmen seine bis heute immer noch zu wenig gewürdigte große Exildichtung. So enthält Wolfskehls Gedicht Aufbruch I, das einen „Sternfall“ vom Oktober 1933 als himmlisches Zeichen zur Auswanderung deutet, „erkennbare George-Bezüge“.186 Beiden Teilen seines bedeutenden programmatischen Exil-Gedichts An die Deutschen hat Wolfskehl GeorgeVerse als Motti vorangestellt. Mit einer Apostrophe des verstorbenen „Stefan“ sowie dem Bekenntnis, dessen Mission („Sende“) weiterzuführen, bekräftigt durch das abgewandelte Zitat aus dem Stern des Bundes187, schließt der erste Teil: Morgens Meister, Stern der Wende, Hat Ihn lang mein Sang genannt: Sohn der Kür, Bote der Sende Bleib ich, Flamme, Dir Trabant!188
Sogar den wirkmächtigen Vers „Wo ich bin ist Deutscher Geist“ (ebd., Vers 17), in dem er die deutsche Kultur zum ‚portativen Besitz‘ erklärt, hat Wolfskehl 1942 in einer Palinodie in eine Verpflichtung umgemünzt und auf den ‚Meister‘ umgewidmet: „Wo du bist, ist Deutscher Geist!“189 Auch ausländische Weggefährten Georges wie Albert Verwey hielten ihm über den Tod hinaus und auch während der NS-Zeit die Treue.190 Ver185 Karl Wolfskehl (Meilen) am 20.12.[1933] an Verwey. In: Wolfskehl und Verwey. Die Dokumente ihrer Freundschaft 1897–1946. Hg. von Mea Nijland-Verwey, Heidelberg 1968, S. 293. 186 Kerstin Schoor: „o dürft ich Stimme sein, das Volk zu rütteln!“. Karl Wolfskehls literarische Wirkungen im jüdischen Kulturkreis in Deutschland nach 1933. In: „o dürft ich Stimme sein, das Volk zu rütteln!“: Leben und Werk von Karl Wolfskehl (1869–1948). Hg. von Elke-Vera Kotowski und Gert Mattenklott, Hildesheim 2007, S. 93–119, hier 95 und 110. Die textliche Anlehnung an George hat Karl Wolfskehl selbst in einem Brief an Margarete Susman vom 6.5.1936 erläutert, vgl. ebd., S. 110 f. Anm. 16; Friedrich Voit: Karl Wolfskehl. Leben und Werk im Exil, Göttingen 2005, S. 584. 187 SW VIII, 84. 188 Karl Wolfskehl: „Das Lebenslied“. An die Deutschen. In: KW I, S. 216–219, hier 218, Verse 82–85. Zu den entstehungsgeschichtlichen Umständen vgl. Voit: Wolfskehl, S. 400– 413. Das zitierte Incipit aus dem Stern des Bundes lautet: „Wer je die flamme umschritt / bleibe der flamme trabant!“ (SW VIII, 84, V. 1–2) 189 Vgl. dazu Voit: Wolfskehl, S. 401. Thomas Mann war von dem Gedicht so fasziniert, dass er diesen Vers im Frühjahr 1938 bei seiner Ankunft in New York zitierte („Where I am, there is Germany“), vgl. ebd., S. 161. 190 Die anfänglich eng befreundeten Dichter Verwey und George gingen wohl schon vor dem Siebenten Ring ein wenig auf Distanz zueinander; vgl. Albert Verwey: Mein Verhältnis zu Stefan George. Erinnerungen aus den Jahren 1895–1928 [Mij Nerhouding tot Stefan George, 1934, dt.], Leipzig u. a. 1936. Zu dem Verhältnis vgl. neben Jan Aler: Symbol und Verkündung. Studien um Stefan George, Düsseldorf und München 1976, S. 73–154 („Lebenskrise
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wey, mit Wolfskehl mehr noch als mit George freundschaftlich verbunden, reagierte auf den Tod Georges mit Bij de dood van een vriend (1933), einem lyrischen Requiem, dessen drei Teile einen Dialog mit dem Toten über das Grab hinaus suchen. Dialogisch konstruiert ist vor allem De boodschad [„Die Botschaft“], in dem der hinterbliebene Verwey mit dem Verstorbenen ein imaginäres Gespräch führt, während die Liederen van laatste verstaan [„Lieder vom letzten Verstehn“] die frühere Trennung und den endgültigen Abschied reflektieren. Der dritte Teil der Trilogie, George’s laatste bezoek aan Binge [„Georges letzter Besuch in Bingen“] schildert in einer empathetischen Du-Apostrophe Georges letzten Aufenthalt in Bingen Anfang 1933, in seinem Elternhaus, das er Anfang Juli, kurz vor seinem 65. Geburtstag, verließ. Verwey betont den resignativen Aspekt dieses Heimatbesuchs sicher auch vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus. Zugleich wird der öffentliche Kult mit der Person des toten Dichters verglichen mit dem leeren Betrieb um den Goethe-Tag191, den George selbst in seinem Zeitgedicht verhöhnt hat: Wo war das Hellas das einst du geträumt hast zu stiften in Deutschland? Untergegangen ins tief verborgne / die zukunft von ewen. Doch nicht tot. dir im herzen die sichere gruft ihm. du teiltest ‚ Nicht / und du solltest es nie tun / den wahn von dem pöbel der Goethe Huldigt und dir nun auch / um das kleine / doch nie um das große.192
und Selbstergründung bei George und Verwey“) und S. 155–213 („Wegscheide – wie Verwey und George sich trennten“), v. a. den instruktiven Artikel von Jutta Schloon: Verwey, Albert. In: GHb III, S. 1738–1744, sowie Karlhans Kluncker: „Wij beiden“. Stefan George und Albert Verwey. In: CP 161–162 (1984), S. 5–42. – Das frühe Langgedicht Wir Beide – Brief an einen Freund [Wij beiden, Brief aan een Vriend (1908), dt.]. Übers. von [Herbert Steiner]. In: Neue Zürcher Zeitung vom 8.7.1928, Nr. 1249 (Literarische Beilage), das den Beginn der Dichterfreundschaft in einer Du-Apostrophe rekapituliert, wurde nach Georges Tod wieder gedruckt, da es wohl wegen seiner versöhnlichen metaphysischen Schlussperspektive wie ein Epicedium wirkt: „Dies mein Schluss: Wir werden / Beisammen sein, und mehr denn einen Tag“; Albert Verwey: Wir beide: Brief an einen Freund [Gedicht, geschrieben für Stefan George]. In: Die literarische Welt 10 (1934), Nr.4–5, S. 3; wieder in: Corona 10 (1941), S. 581–584. 191 SW VI/VII, 10 f. 192 Albert Verwey: George’s laatste bezoek aan Bingen / George’s letzter Besuch in Bingen. In: Rudolf Pannwitz: Albert Verwey und Stefan George. Zu Verwey’s hundertstem Geburtstag, Heidelberg und Darmstadt 1965, S. 84 f. (niederl./dt., dt. von R. Pannwitz). In der dt. Übertragung von Wolfgang Cordan erschien das Gedicht von A. V.: Stefan Georges letzter Besuch in Bingen. In: Mass und Wert 2 (1938/39), S. 528. Pannwitz’ wortgetreue Übersetzung der Verse, die Georges Weggang aus Deutschland betreffen („[…] doch schüttelnd den staub von den sohlen / Festgewillt deinen leib nicht zu lassen im land deiner väter“), hat Cordan durch das Personalpronomen „jenen“ zum Exil verschärft: „[…] Doch von den Füßen / schüttelst du den Staub deines Landes bitter entschlossen, / deinen Leib nicht jenen zu lassen“.
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Zum politischen Ankläger wird Verwey in seinem letzten Dichtergedicht auf George, De Dichter en het derde rijk [„Der Dichter im Dritten Reich“] (1936), ein „Zeitgedicht“, aber auch ein großes Widerstands- und Exilgedicht; Edgar Salin hat es 1937 ins Deutsche übersetzt. Hier wird George zum Sinnbild des verbannten Dichters in dürftigen Zeiten, dem Verwey eine Schmährede gegen das NS-Regime in den Mund legt: Völker, wo ein Dichter nicht kann leben, Staaten, wo ein Dichter nicht will sterben, Sind verfallen zu dem Schutt der Erde, Zu dem Müll, den Spätre kehren mögen Eh der Meereswind erstickte Keime Wieder sprießen macht, den Dunstring säubert. Hört dies, ihr Verschollnen in den Höhlen: Kleinstes Lied, das ihr verborgen trällert, Ist viel mehr denn Machtwort eurer Leiter, Ist viel stärker denn die Vögtepeitschen, Die zum Zwangswerk eure Lenden schlagen.193
Selten deutlich wird George hier postum als Fürsprecher der Opfer des NSRegimes und der Exildichtung reklamiert. Wie im Falle Albert Verweys ist die unverbrüchliche Treue, die viele exilierte Dichter George gegenüber bewahrten, oft eng mit der Person Karl Wolfskehls verbunden. „K[arl] W[olfskehl]“ hat Rudolf Pannwitz die George-Gesänge „zu Weihnachten 1937“ mit vier Reimpaarstrophen gewidmet.194 Der Notendruck enthält 21 Gedichte Georges, vertont mit der einstimmigen Melodie einer diatonischen Skala.195 Für die siebzehn Ge193 Albert Verwey: De dichter en het derde rijk, Santpoort 1936. Die deutsche Übersetzung von Edgar Salin in: A. V.: Der Dichter und das dritte Reich, übertr. von Edgar Salin, o.O. o.D. [um 1937], hier S. [5]; wieder in: Schweizer Annalen (1944), 9/10, S. 575 (in veränderter Form wieder in: A. V.: Ausgewählte Gedichte, [Düsseldorf und München] 1954, S. 99–104). Pannwitz hatte das Gedicht bereits 1936 übersetzt, doch war kein deutscher Verlag mehr zu einer Veröffentlichung bereit (seine Übersetzung findet sich in: Erwin Jaeckle: Rudolf Pannwitz und Albert Verwey im Briefwechsel, Zürich 1976, S. 117–121). Vgl. Ralph-Rainer Wuthenow: Nachwort. In: George und die Nachwelt. Hg. von R.-R. W., S. 242 f. In der Vorrede zu einer von ihm übersetzten Auswahl von Gedichten Verweys, die bei Ellermann in Hamburg erschien, bleibt Pannwitz zwar politisch zurückhaltend, betont aber die Parallele zu George: „Verwey ist bei uns am bekanntesten durch seine freundschaft mit George und dessen kreis. er ist drüben wie dieser hüben in einem gleichen sinne erneuerer. er war der geistige führer mehrerer generationen […]“ (Albert Verwey: 12 Gedichte. Übertragen und eingel. von Rudolf Pannwitz, Hamburg 1937, S. 5). 194 Das Widmungsgedicht ähnelt formal dem Briefgedicht in fünfhebigen jambischen Reimpaarstrophen, das Pannwitz, datiert „auf dem Zürichberg 1939“, mit unverhohlener RegimeKritik „Karl Wolfskehl zum Siebzigsten Geburtstag“ dediziert hat (Ms. DLA, D: Wolfskehl, N271,1). 195 Vgl. Nachwort zu: Rudolf Pannwitz: George-Gesänge, München 1937.
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dichte, die aus dem Stern des Bundes stammen und sich an die Reihenfolge im Gedichtband halten, verbietet sich nach Pannwitz „jede instrumentale begleitung: sie sind durchaus einzelstimme: propheten-stimme deren geistgewalt und seelenglut erst durch den gesang in ihrer ganzen macht und fülle offenbar wird“.196 Zugleich unterstreicht Pannwitz in seiner Auswahl der Gedichte neben dem religiösen Aspekt den zeitkritischen Tenor der späten Lyrik Georges, der sich durchaus abfällig auf die politischen Verhältnisse in Deutschland beziehen lässt. Im gleichen Jahr 1937 hat auch Wolfram von den Steinen, der dem Kreis nahestand, eine Abschrift seiner Dichtung Der Meister. Ein Basler Zwiegespräch (1937) Karl Wolfskehl zugeeignet.197 Der Dialog besteht aus 140 reimlosen jambischen Fünfhebern und ist in der typischen George-Antiqua geschrieben. Auf Stefan George verweist neben dem Titel zudem das Hölderlin-Motto aus dem Hymnenentwurf An die Madonna, in der Historisch-kritischen Ausgaben von Norbert von Hellingrath noch als getrennter Entwurf geführt (beginnend mit dem Abschnitt: „Noch eins ist aber zu sagen“).198 Der Dialog zwischen Landolf und Andreas, einem George-Jünger und einem noch schwankenden George-Verehrer, hat einen Besuch des „Meisters“ in „unsre[r] stadt“ (V. 23) zum Anlass. Beide registrieren den Besuch als epochales Ereignis: „Wo er vorüber schritt sah ich die bäume / Und häuser ja das pflaster umgewandelt / In andres wesen unter andrem licht“ [15–17]. A[ndreas] bekennt zwar, von dem Charisma des Dichters noch mehr angezogen zu sein als von der ästhetischen Schönheit seiner Dichtung: „Aus seinen strofen sang mir seltner zauber / Erhabner wille · niemals solch ein bild“ (V. 24 f.), doch mag er sich nicht entschließen, „solchem herrn zu dienen“ (V. 38). Als Andreas sein Zaudern mit dem Missverhältnis einer solchen Bindung und der korrupten Welt begründet („Olympischer hauch wo stumpfe massen dröhnen“ [V. 96]), hält ihm Landolf ein „dennoch“ als Bedingung vor: „Wenn nicht ein dennoch pocht in deinen tiefen / halt ich dich nicht“ (V. 108 f.) und verbürgt diese Devise mit seiner eigenen Haltung: „Seit mich des meisters sternenatem streifte / Hab ich nicht wahl: ich sah die götter leuchten. Und zeichen hab ich dass der weltenwinter / Vor dem du schauderst neuem frühling weiche: Doch wär es nicht und stürbe alles 196 Vgl. Pannwitz: George-Gesänge, Nachwort. Die Auswahl hat durchaus System: Aus dem „Eingang“ stammen zwei Gedichte, aus dem „Ersten Buch“ acht Gedichte, aus dem „Zweiten Buch“ nur ein einziges, aus dem „Dritten Buch“ sechs, darunter „Wer je die flamme umschritt“ (SW VIII, 84). 197 Wolfram von den Steinen: Der Meister. Ein Basler Zwiegespräch, Ms. DLA, D: Wolfskehl, HS.NZ71.0001. 198 Das Motto lautet: „Wir aber zwingen / Dem Unglück ab und hängen die Fahnen / Dem Siegsgott dem Befreienden auf.‘‘ (Hölderlin: Sämtliche Werke, Bd. 4: Gedichte 1800–1806. Hg. von Norbert von Hellingrath, München und Leipzig 1916, S. 219, V. 17–19).
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edle / Der welt und bliebe nur ameisenzeit: / Ich wäre dennoch der ich soll […]“ (V. 121–128). Andreas scheint schließlich, so „schwank“ er noch ist, durch Landolfs Bekenntnis und das „erregend bild“ des Meisters (V. 137) für den neuen Bund gewonnen zu sein. Von den Steinens Dialog liest sich wie ein Bekenntnis, das mit der ‚Dennoch‘-Devise den damals noch im italienischen Exil lebenden Wolfskehl in dessen unzeitgemäßer Treue zu George bestärken soll. 1942 stilisierte Karl Vollmoeller im amerikanischen Internierungslager George poetisch zum Praeceptor Germaniae.199 Die wohl von Herbert Steiner angeregte Trilogie rekapituliert in einer Apostrophe den Beginn von Georges poetischer Sendung im geistlosen wilhelminischen Deutschland: „Stefan George – ein ironisches / Herrisches Schicksal spie dich in die Wüste / Des deutschen Worts, in die entmannte Dürre / Geistlosen Geists um Achtzehnhundertneunzig“. Der zweite Teil sieht ihn als Zerrissenen in Berlin, während der dritte Teil Georges Studienjahr in Paris vergegenwärtigt. Eine Parenthese stilisiert aus der Sicht der sich einvernehmlich ‚wir‘ nennenden Verehrer dieses freiwillige Exil zur Geburt des ‚Geheimen Deutschlands‘: „– Da war uns, als erwuchs / Um dich, geschirmt vom Wald der fremden Sprache, / Das heimliche, das wahre Deutschland. –“ George wird postum getröstet, seine Sorge um ein besseres Deutschland sei unbegründet, die Saat des ‚Geheimen Deutschland‘ sei aufgegangen. Damit meint Vollmoeller sicherlich die im Exil verbündeten Dichter und Denker, deren Kohäsion er mittels George als Integrationsfigur zu bekräftigen sucht: Dann waren Stunden und du standst allein, Trüb und bekümmert, zweifelnd und verzweifelnd, Tief seufzend um dich selbst und um dein Volk An dunkeln Ufern hinter Notre Dame … Nicht wissend daß das kleine Weizenkorn, Das du gesenkt in frostige Heimaterde, Längst aufgekeimt, längst hoch in Halm geschossen – Schon trägt es Frucht, zehnfach und hundertfach.200
199 Boehringer hat von Herbert Steiner eine Abschrift erhalten (im StGA) und es in Mein Bild von Stefan George veröffentlicht (RB I, 90 f.); auf dem Briefumschlag notierte sich Boehringer zur Entstehungsgeschichte, dass Steiner mit Vollmoeller in Kontakt getreten sei und dadurch das Gedicht angeregt habe. Vgl. Vollmoellers Widmungsgedicht an George: Landschaften. Für S. G. In: BlfdK 5 (1900/01), S. 94 f. 200 Karl Vollmoeller: Praeceptor Germaniae. In: Ders.: Gedichte. Eine Auswahl. Hg. von Herbert Steiner, Marbach/N. 1960, S. 40–42, hier 42.
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6.4.2. Jüdische George-Rezeption im Exil und in Palästina Die George-Rezeption unter den exilierten Schriftstellern ist ganz uneinheitlich und immer noch unzureichend erforscht. Viele jüdische Schriftsteller, die bereits 1933/34 die brutale Härte des NS-Regimes erlitten hatten, hielten an ihrer Verehrung Georges fest, obschon ihn die Nazi-Propaganda für sich reklamierte. Das gilt exemplarisch für die jüdischen Kreismitglieder im Exil wie Ernst Morwitz oder Erich von Kahler, der die von George ausgehende Bewegung als eine „humanistische, klassizistische und aristo kratische“ verstand und vom nationalistischen Antihumanismus unterschied.201 Ein wichtiges Zeugnis der George-Verehrung im Exil ist die englische Auswahl-Übersetzung von Georges Poems (1943, 21946), „rendered into English by Carol North Valhope [d. i. Olga Marx-Perlzweig] and Ernst Morwitz“ (Abbildung 16).202 Die Auswahl, die Ernst Morwitz zusammengestellt hat, lässt die markanten Beispiele eines ästhetischen Immoralismus des Frühwerks ebenso aus wie die problematischen weltanschaulichen Gedichte des Spätwerks; im Zentrum stehen die ‚reinen‘ symbolistischen Gedichte.203 Die amerikanische Bilingue-Ausgabe präsentierte George als poetischen Antipoden zum politischen Nazi-Deutschland und erhielt zahlreiche Rezensionen: Zur poetischen Qualität der deutschen Gedichte und der englischen Übersetzungen äußern sich bekenntnishaft exilierte deutsche Dichter und Intellektuelle wie Jacob Picard, Hubertus zu Löwenstein oder
201 Vgl. Erich Kahler: Karl Wolfskehl. In: E. K.: Die Verantwortung des Geistes, Frankfurt/M. 1952, S. 163–170, hier 164. Zu Kahlers ambivalenter Verehrung für George vgl. Gerhard Lauer: Die verspätete Revolution. Erich von Kahler. Wissenschaftsgeschichte zwischen konservativer Revolution und Exil, Berlin und New York 1995, bes. S. 181–218, und Anna Kiel: Erich Kahler. Ein „uomo universale“ des zwanzigsten Jahrhunderts – seine Begegnungen mit bedeutenden Zeitgenossen, Bern [u. a] 1989, bes. S. 11–58. 202 Stefan George: Poems. Übers. von Carol North Valhope [d. i. Olga Marx-Perlzweig] und Ernst Morwitz, New York 1943 (21946). 203 Eine genaue Analyse der Übersetzung und ihrer amerikanischen Rezeption steht noch aus. Wichtige Hinweise dazu (auch zu Rezensionen von Georges Poems) bei Mario Zanucchi: Übersetzerische Rezeption. In: GHb II, S. 897–916, bes. 898–903. Eine – keineswegs vollständige – Übersicht der Rezensionen bietet ein Eintrag in der George-Bibliographie: https://www.statistik-bw.de/SGeorge/SGeorge.asp?K3=3&T3=Rezension&IT=R &ID=2201812 (15.4.2021). Nicht aufgeführt ist etwa die genaue Analyse von Max Jacob: [Rez.] Stefan George Goes West. In: Poetry 62 (1943), S. 334–338, der George in Kontrast zum NS-Deutschland setzt: „It would have been a Mephistophelian joke to place Stefan George side by side with Horst Wessel in the Nazi Valhalla of poets. George left Germany shortly after Hitler came to power and died in Switzerland in the same year. The Nazis did not even succeed in getting hold of his body for burial in one of the medieval cathedrals of the country, as had been planned by the Ministry of Propaganda“ (ebd., S. 334 f.).
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Herbert Steiner,204 deutschstämmige, aber in den Vereinigten Staaten akkulturierte Wissenschaftler wie Ernst Feise, Harry Slochower und Hermann J. Weigand sowie einflussreiche amerikanische Kunstkritiker wie Clement Greenberg,205 von den bedeutenden Poetinnen Louise Bogan und Mary Colum ganz zu schweigen.206
Abb. 16: US-amerikanische Auswahlübersetzung der Gedichte Georges von Carol North Valhope und Ernst Morwitz aus dem Jahr 1943.
204 Vgl. Jacob Picard: [Rez.] A Valiant Poetic Spirit. In: Menorah Journal 31 (1943), S. 95–98; Hubertus zu Loewenstein: [Rez.] Stefan George, Poems. In: The Saturday Review (24.7.1943), S. 26–27; Herbert Steiner: [Rez.] Stefan George, Poems. In: The Yale Review 32 (1943), S. 805–807. 205 Vgl. Ernst Feise: [Rez.] Stefan George, Poems. In: Modern Language Notes 58 (1943), S. 568–569; Harry Slochower: [Rez.] Stefan George, Poems. In: Accent: A Quarterly of New Literature 3 (1942), S. 187–188; Hermann J. Weigand: [Rez.] Stefan George, Poems. In: The Journal of English and Germanic Philology 43 (1944), S. 141–149; Clement Greenberg: [Rez.] Stefan George, Poems. In: The Nation (22.5.1943), S. 743–44. 206 Siehe Louise Bogan: [Rez.] Stefan George, Poems. In: The New Yorker(17.4.1943), S. 68–69; Mary B. Colum: New Books of Poetry. In: The New YorkTimes, Book Review (14.3.1943), S. 20.
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In der jüdischen George-Rezeption lässt sich oft der verzweifelte Versuch erkennen, den Glauben an das ‚heimliche‘ oder ‚geheime Deutschland‘ im kommunikativen Gedächtnis zum Zwecke einer nationale Identität verbürgenden Tradition zu bewahren.207 Auch Walter Benjamin, dessen lebenslanges Interesse für George durchaus als ‚Verehrung‘ gelten kann, blieb in seiner Wertschätzung des Dichters ungebrochen.208 Doch gerade die George-Rezeption in Palästina zeigt, dass das Gemeinschaftsgefühl der exilierten Dichter, das wesentlich auf einem gemeinsamen Literaturkanon beruhte, trügerisch sein konnte. In Caroline Jessens Vergleich von „Lesebiographien“ treten die Dynamiken des Kanonischen wie Widerrufe vorgängiger Vorbilder, ideologiekritische Revisionen, aber auch ein Festhalten an der deutschen Literaturtradition zutage.209 Stefan George spielte in der Selbstdeutung und -reflexion, die sich in solchen Kanonisierungprozessen spiegelt, eine wichtige Rolle. 6.4.2.1. Schalom Ben-Chorin Ein spezieller Fall jüdischer George-Verehrung in Palästina ist Schalom BenChorin (gebürtig Fritz Rosenthal), der nach schweren Misshandlungen und Verhaftungen 1935 über die Schweiz nach Palästina emigrierte.210 Ben-Chorin hielt an seiner lebenslangen Verehrung Stefan Georges, eines „Fixsterns seiner Jugend“, fest, dessen Werk bereits seine Dichtungen der 1920er Jahren prägte.211 Ben-Chorin stellte seinen Gedichtband Die Lieder des ewigen
207 Vgl. dazu Thomas Sparr: „Verkannte Brüder“. Jüdische George-Rezeption. In: Merkur 46 (1992), S. 993–1000, der die jüdische George-Bewunderung am Beispiel von Margarete Susman, Erich von Kahler und Friedrich Gundolf beschreibt. 208 Vgl. Michael Rumpf: Faszination und Distanz. Zu Benjamins George-Rezeption. In: Walter Benjamin – Zeitgenosse der Moderne. Hg. von Peter Gebhardt u. a., Kronberg/Ts. 1976, S. 51–70, hier 51; Geret Luhr: Ästhetische Kritik der Moderne. Über das Verhältnis Walter Benjamins und der jüdischen Intelligenz zu Stefan George, Marburg 2002, passim; Georg Doerr: Muttermythos und Herrschaftsmythos. Zur Dialektik der Aufklärung um die Jahrhundertwende bei den Kosmikern, Stefan George und in der Frankfurter Schule, Würzburg 2007, bes. S. 135–140. 209 Vgl. Caroline Jessen: Kanon im Exil. Lektüren deutsch-jüdischer Emigranten in Palästina/ Israel, Göttingen 2019, bes. S. 52–56. 210 Jessen: Kanon im Exil, S. 170–214, bes. 201–214 („Religiöse Kanonrhetorik: Schalom BenChorin“), hat erstmals Ben-Chorins George-Rezeption systematisch als „Lesebiographie“ untersucht. Ihr verdanke ich zahlreiche Informationen und Hinweise zur jüdischen GeorgeRezeption. 211 Der Neuauflage seiner Autobiographie stellt Schalom Ben-Chorin: Jugend an der Isar [EA 1974], Gerlingen 1980, S. 7, sogar ein abgewandeltes Zitat von Stefan George, „dem Dichter meiner Jugend“ voran: „Was ich noch sinne, was ich noch füge / Trägt die die selben züge“. Der Prätext, das Motto von Georges Das Lied (SW IX, 98), lautet: „Was ich noch sinne und
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Brunnens (1934) ebenso unter ein Motto Stefan Georges wie „der Lieder des ewigen Brunnens neue Folge“: Das Mal der Sendung (1935). Bezeichnenderweise ist das erste Motto die zweite Strophe aus Georges Rollengedicht Der Jünger212, das Ben-Chorins Die Jünger aufgreift und in der Ihr-Anrede der Schlussstrophe sogar im Redemodus imitiert.213 Das zweite Motto entstammt ausgerechnet dem von dem NS-Regime ideologisch instrumentalisierten Der Dichter in Zeiten der Wirren214, in dem das Amt des Seherdichters bekräftigt wird, der die „heilige glut schürt“ und „aus büchern / Der ahnen die verheißung“ holt, „die nicht trügt“. Auch in den Gedichten des Bandes, der das jüdische Leid beklagt, lassen sich George-Anklänge feststellen. So imitieren die anaphorischen „Ich bin“-Verseingänge das litaneihafte Gedicht „Ich bin der Eine und bin Beide“ aus dem Stern des Bundes215. BenChorins Apokalypse, die resigniert feststellt: „Alt-neue Götter brechen aus den Schächten“ klingt wie eine Antwort auf den „Fliegengott“ in Georges drastischer Nova Apocalypsis (1919).216 Wohl noch in Deutschland verfasste Ben-Chorin einen Nachruf Zum Tode Stefan Georges, in dem er das Werk des Verstorbenen vor politischer Indienstnahme zu retten versucht und antisemitischen Deutungen durch den Hinweis auf jüdische Kreismitglieder entgegentritt. Seine Ehrung bekräftigte Ben-Chorin aber nicht nur diskursiv, sondern auch lyrisch in dem handschriftlich überlieferten, unveröffentlicht gebliebenen Gedicht: Requiem für Stefan George Dass dieser Stirne Firn und kühner Bogen Sich nicht mehr hebt in adliger Gebärde, Dass diese Lippen, welche niemals trogen Versiegelten ihr brennendes: „es werde“, Dass diese Hände, die die Zeit zerbrachen Nun wie ein Fortgelegtes müde schweigen
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was ich noch füge / Was ich noch liebe trägt die gleichen züge“. Ben-Chorin bezeichnet selbst den Einfluss Georges auf „[s]eine ersten eigenen lyrischen Versuche“ als „entscheidend“ (ebd., S. 129). Ben-Chorin erklärt das Charisma Georges mit der „nahtlose[n] Einheit von Werk und Persönlichkeit, von Gestalt und Sendung“ (ebd., S. 124) und bekennt noch rückblickend: „Für mich war George Stern, Magnet und Verkündigung“ (ebd., S. 125). Ben-Chorin nahm sogar die George-Gravüre von Curt Stoeving, die „stets mit einem Mimosensträußchen geschmückt in [s]einem Zimmer“ hing, mit „in die neue Heimat nach Jerusalem“ (ebd., S. 126). SW V, 47. Fritz Rosenthal (Ben-Chorin): Die Lieder des ewigen Brunnens, Wien und Leipzig 1934. SW IX, 27–30, hier 29, V. 61–65. SW VIII, 27. Fritz Rosenthal (Ben-Chorin): Das Mal der Sendung. Der Lieder des ewigen Brunnens neue Folge, München 1935, bes. S. 73.
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Und Augen die von andern Ufern sprachen Sich nun dem dunklen Gotte neigen … Ist wie ein Ruf von Herbst und Untergang Und wie das Bersten letzter Säulenreste. Wer trägt das Lied, das seinen Tag durchklang Wer fügt aus Wort noch erzene Paläste Nach dieses grossen Lebens Abgesang. O Bruder, der des Meisters Antlitz sah Reich mir zum Troste die geweihten Hände Erhebet nun das goldne Denkbild: „Wende“ Da solcher Tod uns Fröstelnden geschah.217
Allein der Umstand, dass Ben-Chorin seinen lyrischen Nekrolog als unvollständiges Sonett mit einer Zusatz-Apostrophe an einen „Bruder“ genannten Freund verfasst hat, illustriert sowohl seine Verehrung als auch seine Trauer, die für den Tod des Vorbilds keine rechte Form findet. Zudem vergegenwärtigt die syntaktische Inversion, in der die vier Finalsätze der beiden Quartette als Subjektsätze fungieren, den epochalen Einschnitt, den Georges Tod für den Sprecher bedeutet, was vier Zeitadverbien hervorheben („Nicht mehr“, „niemals“, „nun“, „nun“). Zudem wird durch die Diärese der Physiognomie („Stirne“, „Lippen“, „Hände“, „Augen“) der Tote in der Erinnerung noch einmal anschaulich. Die beiden Vergleiche, mit denen das zum Quintett fragmentierte Sextett einsetzt, unterstreichen in dem Jahreszeiten- wie im Überrest-Bild der Säule das epochale Moment des Todes. Die resignativen rhetorischen Fragen, die mit „Lied“, „Wort“ und „Abgesang“ jeweils sprachliche Äußerungsformen benennen, bezeichnen die Lücke, die das Ende des „großen Lebens“ für die Gegenwart bedeutet. Die vom Gedicht in umarmendem Reim und Anrede abgesetzte Schlussstrophe gilt keiner Kondolenz, sondern dem als „Bruder“ apostrophierten Augenzeugen des Verstorbenen. Dessen Bild wird mit Georges Begriff „Denkbild“ im Zeichen einer „Wende“ verklärt und für die Hinterbliebenen im kohäsiven „uns“ zur Richtschnur für die Zeit ohne Meister. In Jerusalem erschien 1942 unter dem Titel In dieser Zeit eine hektographierte Sammlung von Gedichten Ben-Chorins „aus neun Jahren“. In diesem Rückblick im Exil auf das Exil findet sich neben dem Bekenntnis zum Deutschen als Meine Sprache auch das anonyme Widmungsgedicht Einem Freunde;218 es beschwört einem Jugendfreund die gemeinsamen nächtlichen
217 Schalom Ben-Chorin: Requiem für Stefan George, Ms. DLA, A: Ben-Chorin, unbez. 218 Schalom Ben-Chorin: In dieser Zeit. Gedichte aus neun Jahren, Jerusalem 1942, S. 18 (Meine Sprache, Inc.: Mit jeder Faser meines Seins / Bin ich mit dieser Sprache eins“) und 26 f.
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Münchner „Gespräche […] in fernen / Längst verwehten leichten Jahren“ herauf: Bis der Morgen feucht auf dem Asphalt Seine grau und roten Spuren zog Dehnten wir den Aufenthalt (Du bei Rum und ich bei steifem Grog). Und du sprachst mir Verse Mallarmés Oder Rhythmen von George Und der Kellner sah’s voll Sorge Denn die Heizung wurde langsam kalt.219
Die Erinnerung an die gemeinsame Jugend in Deutschland, die auch mit Stefan George verbunden ist, bricht mit der vierten Strophe unvermittelt ab: Nach zwei Versen mit Auslassungszeichen folgt das nüchterne Fazit der nationalsozialistischen Machtergreifung: Was wir liebten, lobten und erstrebten Jäh zerschlug es eine plumpe Hand. In den Tagen, die wir dann erlebten Starben Freundschaft mir und Heimatland.220
Bereits im Januar 1939 hatte Ben-Chorin in Jerusalem eine bekenntnishafte Studie zu George und die Nachfolge verfasst. Sie richtet sich weniger gegen die „George-Propaganda des Herrn Goebbels und der von ihm kommandierten Schreib-‚Front‘“ als vielmehr gegen den von Franz Leschnitzer unter dem Titel George und die Folgen prononcierten antifaschistischen Vorwurf, die „georgesche Verkündigung“ habe dem Nationalsozialismus den Weg bereitet. Erhalten ist das Manuskript, ein gebundenes Heft, datiert „Jerusalem 9. XII. [19]43“, das Ben-Chorin „[s]einem lieben Frango zum 45. Geburtstag“ widmete, gemeint ist Franz Goldstein, der spät von Prag nach Palästina emigriert war.221 In Ben-Chorins Nachlass hat sich neben einer undatierten, vierseitigen Zusammenstellung meist poetologischer George-Zitate ein Typoskript des George-Aufsatzes mit handschriftlichen Korrekturen erhalten, das Grundlage einer modernen Teiledition war.222 Ben-Chorins Rettung Georges gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil legt Ben-Chorin dar, dass George ein „erfolgreicher Schriftsteller [war], der […] vom Ertrag seiner 219 220 221 222
Ben-Chorin: Einem Freunde. In: Ben-Chorin: In dieser Zeit, S. 26 f., hier V. 7–14. Ben-Chorin: Einem Freunde, V. 31–34. Schalom Ben-Chorin: George und die Nachfolge, Ms. DLA, A: Ben-Chorin. Schalom Ben-Chorin: George und die Nachfolge, Typoskript [36 Seiten]. DLA, A: BenChorin, S. 1 f. Zur Teiledition Schalom Ben-Chorin: Stefan George. In: Begegnungen. Porträts bekannter und verkannter Zeitgenossen. Hg. von Verena Lentzen, Gerlingen 1991, S. 38–50. Zitiert wird im Folgenden nach dem vollständigen Typoskript.
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literarischen Tätigkeit leben konnte“ (3), und kein „Rentnerparasit“ war, wie Leschnitzer aufgrund haltloser Annahmen mutmaße.223 Im zweiten Abschnitt widerlegt Ben-Chorin Leschnitzers These, Georges Dichtung stehe in ihrer Blut-und-Boden-Motivik der nationalsozialistischen Ideologie nahe, indem er zum einen die Technikgläubigkeit der NS-Ideologie ins Feld führt und zum andern den Realitätsbezug von Georges Dichtung relativiert und ihn nicht als politischen Propheten, sondern als „Seher“ des „Reiches seiner Träume“ und Künder einer neuen magisch-heidnischen Religiosität“ bezeichnet.224 Ben-Chorin wirft die Frage auf: „Können wir Antifaschisten das Erbe Georges antreten?“225 und erinnert kritisch daran, wie sehr sich die „Wirklichkeit Georges“ von „unsere[r] Wirklichkeit […] in unseren dürftigen Behausungen des Exils“ unterscheide: „Uns [trennt] eine Welt von dem Lebens- und Schaffenskreis Georges“.226 Im dritten Teil entkräftet er aber die Argumentation der nationalsozialistischen Propaganda, die „einen ‚gleichgeschalteten‘ George erstehen“ habe lassen.227 Ben-Chorin weist die demagogische Argumentation der George-Kritiker wie der NS-Propaganda zurück, indem er betont, dass das „‚Neue Reich‘ Georges […] nicht von dieser Welt“ war und bei ihm die entscheidende Triebfeder des Hitlerismus, der Judenhass, fehle.228 Allerdings zweifelt Ben-Chorin am Ende seiner GeorgeRettung daran, inwieweit seine Wertschätzung Georges typisch für die Emigranten sei. Er nennt zwar Klaus Mann, räumt aber ein, dass „George keine Erben in der jungen Generation hinterlassen“ habe.229 Umso überzeugender wirkt Ben-Chorins abschließendes Bekenntnis, das Gedächtnis Georges „über die Sturmtage der braunen Sintflut“ hinüberretten zu wollen.230 Tatsächlich hat Ben-Chorin sich auch nach dem Krieg, als er Vorlesungen an der Universität Tübingen hielt, wieder auf George berufen und wollte damit den Deutschen, die von George nichts mehr wissen wollten, George wieder nahebringen.231 Und es war wohl durchaus in Ben-Chorins Sinne, dass die Veröffentlichung seines Gedichtzyklus Jerusalem (1953) im Castrum peregrini auch äußerlich – mit den charakteristischen Mittelpunkten und Kleinschreibung – der George-Typographie angenähert wurden.232 Caroline Jessen hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die „Anhänglichkeit an 223 224 225 226 227 228 229 230 231 232
Ben-Chorin: George und die Nachfolge, Typoskript, S. 3. Ben-Chorin: George und die Nachfolge, Typoskript, S. 13 und 15. Ben-Chorin: George und die Nachfolge, Typoskript, S. 17. Ben-Chorin: George und die Nachfolge, Typoskript, S. 17. Ben-Chorin: George und die Nachfolge, Typoskript, S. 20. Ben-Chorin: George und die Nachfolge, Typoskript, S. 31. Ben-Chorin: George und die Nachfolge, Typoskript, S. 35. Ben-Chorin: George und die Nachfolge, Typoskript, S. 36. Vgl. Jessen: Kanon im Exil, bes. S. 204–214. Vgl. Schalom Ben-Chorin: Jerusalem. Gedichtzyklus. In: CP 12 (1953), S. 47–53.
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George […] einen Dialog mit Deutschen nach 1945“ ermöglichte, der über das jüdisch-christliche Gespräch hinaus bedeutsam war „als Auseinandersetzung mit der zerstörten jüdischen Geschichte in Deutschland und ihrer prekären Fortsetzung jenseits der Grenzen Deutschlands“.233 6.4.2.2. Schmuel Sambursky Dass Ben-Chorin aber als George-Verehrer in Jerusalem keineswegs allein oder gar auf verlorenem Posten war, belegt ein Gedicht des jüdischen Wissenschaftshistorikers Schmuel Sambursky, der schon seit 1924 in Israel lebte. Er gehörte mit Hans Jonas, Hans Lewy, Hans-Jakob Polotsky und George Lichtheim zu dem Pilegesch-Kreis (‚Pilegesh‘, hebräisch für ‚Nebenfrau‘), der sich in den 1930er und 1940er Jahren am Sabbath im Haus des Kabbalaforschers Gershom Scholem traf.234 Dort las die Junggesellenrunde gemeinsam deutsche Dichtung und bedachten sich ihre Mitglieder wechselseitig mit Personalparodien im Stile kanonischer Autoren. Solche Nicht-imaginären Portraits aus den Jahren 1937 bis 1959 hat Schmuel Sambursky in einem Privatdruck 1960 veröffentlicht; ein lose beiliegender, handschriftlicher ‚Schlüssel‘ Samburskys wohl aus dem Jahre 1989 erläutert Adressat und Vorbild der jeweiligen Parodie.235 Den meisten Parodien liegt Rilke als Muster zugrunde, aber ein Gedicht An Scholem, datiert vom 15. Januar 1940, ist im Schlüssel ausdrücklich als „George-Parodie“ bezeichnet: An Scholem D u fischer in dem Pfuhl der finsterlinge Entrücktes stammeln deutest du als form Und wendest einen wirren wust von worten In kunstvoll langgefügter sätze sinn Verschwendend so des geistes hehren hort An stoffe die von niedrer ordnung sind. Du sollst aus Sohars schwelend schwarzen dünsten In den bereich des wahren lichtes tauchen 233 Jessen: Kanon im Exil, S. 214. 234 Zu dem Pilegesch-Kreis vgl. Noam Zadoff: Pilegesh. In: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Bd. 4: Ly–Po. Hg. von Dan Diner, Stuttgart 2013, S. 542–544. Der PilegeschKreis konstituierte sich in dem von geflüchteten und emigrierten Juden aus Deutschland geprägten Jerusalemer Stadtviertel Rechavia. Vgl. Christian Kraft: Aschkenas in Jerusalem. Die religiösen Institutionen der Einwanderer aus Deutschland im Jerusalemer Stadtviertel Rechavia (1933–2004). Transfer und Transformation, Göttingen 2014. 235 Schmuel Sambursky: Nicht-imaginäre Portraits, Jerusalem und Tel Aviv 1960. Sowohl den Privatdruck als auch den autographen Schlüssel zu den Gedichten verdanke ich dem freundlichen Hinweis von Caroline Jessen.
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Eh der frankisten faulig giftige früchte An dir ihr dunkles werk vollzogen haben.236
Samburskys zehnversiges, reimloses Gedicht in jambischen Fünfhebern persifliert nicht George, sondern komisiert in Georges Stil Scholems mystisches Schreiben. Allerdings interferieren Adressat und Stilmuster so sehr, dass George auf komische Weise Scholem ansteckt. Die Form ist dem Stern des Bundes nachgebildet, auch die Du-Apostrophe als Gedichtanfang findet sich dort mehrfach. Das Muster George ist augenfällig durch die Kleinschreibung markiert, aber etwa auch die w- oder s-/sch-Alliterationen (V. 3 und 7) erinnern an Klangfiguren Georges, wie die mehreren Partizipien Georges Stil imitieren. Ihn alludieren zudem die antiquierte Wendung „hehrer hort“ (V. 5) und die „giftigen früchte“, die auf die von George übersetzten Fleurs du Mal, die Blumen des Bösen, referieren. Direkt auf den Stern des Bundes verweisen die beiden idiomatischen Wendungen: „schwarze dünste“ (V. 7) und „niedrer ordnung“ (V. 6), die Georges Verse „schwarze dünste aus verwesten träumen“237 und „Mit den frauen fremder ordnung“238 variieren. Während im Prätext des ersten Zitats das lyrische Ich dem angesprochenen Du eine Heilung von einem als Krankheit verbildlichten, aber nicht näher beschriebenen Einfluss in Aussicht stellt, bleibt in der Parodie diese Läuterung dem Adressaten Scholem allein überlassen. Das zweite Zitat ist problematischer, denn der Prätext propagiert eine Rassentrennung, was die zeitgenössischen Leser durchaus als rassistische und antisemitische Botschaft verstanden („Mit den frauen fremder ordnung / Sollt ihr nicht den leib beflecken“239). Sambursky ironisiert mit dem abgewandelten Zitat zum einen Georges Warnung, zum andern stellt er satirisch aus dessen Sicht Scholems Studium der jüdischen Mystik dar. Insofern deutet die Parodie auch den politischen Aspekt Georges an, setzt sich aber durch die ironische Bezugnahme auf Scholem spielerisch über diesen Vorwurf hinweg. 6.4.2.3. Walter Jablonski Nach Jerusalem geflüchtet war auch der unter den George-Verehrern weniger bekannte jüdische Dichterarzt Walter Jablonski. Im Briefwechsel mit
236 Sambursky: Nicht-imaginäre Portraits, [Nr. 6]. Das Gedicht findet sich abgedruckt bei Hans Jonas: Erinnerungen. Nach Gesprächen mit Rachel Salamander. Hg. von Christian Wiese, Frankfurt/M. 2003, S. 152, sowie bei Zadoff: Pilegesh, S. 543 f. 237 SW VIII, 52, V. 8. 238 SW VIII, 86. 239 SW VIII, 86, V. 1–2.
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Karl Wolfskehl hat er sich sehr für den neugriechischen Dichter Konstantinos Kavafis eingesetzt, den er auch übertragen hat. Seine eigenen Gedichte, 1945 in Jerusalem unter dem Titel Lebensbilder veröffentlicht, bekunden seine fortdauernde ästhetische Orientierung an George. Dies erweist sich sowohl typographisch an der durchgängigen Kleinschreibung als auch thematisch und sprachlich. So zeigen manche Gedichte Jablonskis eine komplementäre Funktion zu Georges Dichtung: die beiden Oden Phaon spricht,240 ein weiteres Rollengedicht, in dem der exilierte Dante spricht („Soll um die heimkehr ich bitten / Euch, die mich blöde verbannt, / Nahn mit den heischenden tritten, / Schleichen im büßergewand?“),241 die poetische Ausdeutung eines – von George ausgesparten – Verses aus Dantes Divina Commedia242 und ein titelloses Gedicht, das an den „folgermut“ (SW VI/VII, 28, V. 12) eines Du appelliert: Willst du mir folgen auf dem steilen pfad Des frommen schauers und der keuschen tat Wo selten nur gemächlich ruhe winkt, Kaum vogelsang und oft der sturmwind klingt? So säume nicht: dies ist die letzte frist, Die Gott mit strenger wage zubemißt. Ein zögern, und vergebens ist versprüht, Was jahrelang in heimlichkeit geglüht. Doch folgst du, bangt mir nicht vor dem geschick. Wo mattheit droht, bricht Heil aus deinem blick. Und soll ich zagen, von gefahr umdröhnt, Wo deiner stimme voller jubel tönt?243
Dieses Gedicht scheint mir intertextuell auf Georges Werk anzuspielen, wo sich für einige markante Wendungen Entsprechungen finden wie: „säume nicht“, „lezte frist“, „steile pfade“ und „frommer schauer“.244 Mit den allu dierten Abschieds- und Trennungsszenen aus Georges Dichtung konstruiert Jablonski eine retrospektive Teleologie, die sein Exil in Jerusalem nachträglich auf George zurückführt und mit ihm rechtfertigt. 240 Walter Jablonski: Lebensbilder, Jerusalem 1945 (21947), S. 6 f. An Phaon ist ein „Preisgedicht“ aus dem Buch der Hirten- und Preisgedichte gewidmet (SW III, 34). 241 Jablonski: Dante spricht. In: W. J.: Lebensbilder, S. 5. 242 Jablonski: Un riso dell’universo (Paradiso, XXVII. 4). In: W. J.: Lebensbilder, S. 10–10a. Ebd. findet sich auch eine längere poetische Ausdeutung von Dantes Wendung. Eine weitere Dante-Referenz ebd., S. 6e. 243 Jablonski: Lebensbilder, S. 2. 244 „Nun säume nicht“ (SW IV, 19, V. 1), „lezte frist“ (SW IV, 100, V. 1), „steile pfade“ (SW VI/ VII, 120, V. 5), „frommer schauer“ (SW VI/VII, 111, V. 9).
6.4. Exil und Ausland
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6.4.2.4. Werner Kraft Der Dichter-Kritiker Werner Kraft, der bereits 1915 George in der Aktion rezensiert hatte,245 war nach 1945 neben Theodor W. Adorno einer der namhaften jüdischen Fürsprecher Georges und trug erheblich zu dessen Rehabilitation im Nachkriegsdeutschland bei, indem er ihn von der angeblichen Nähe zur NS-Ideologie freisprach. Kraft blieb als Dichter auch in Jerusalem, wohin er 1934 aus Deutschland floh, bis zu seinem Tode der deutschen Sprache treu.246 Allerdings ist seine Haltung zu George vor 1945 deutlich ambivalent, indem Kraft zwar Georges Werk wertschätzt, die Person aber durchaus kritisch sieht. Auf seiner Zwischenstation in Paris hatte Kraft, glühender Karl Kraus-Verehrer, dessen Schweigen mit dem von Klaus Mann gerechtfertigten ‚Schweigen Stefan Georges‘ in einem Gedichtpaar verglichen. Das George zugedachte Epigramm deutet zwar dessen Verstummen nicht als negatives Gegenbild zu Karl Kraus, aber die ironische Sprachmischung und die respektlose deutsch-französische Reim-Melange verraten eine unüberhörbare Ambivalenz: Das Schweigen George Das Schweigen des Meisters? Jacke wie Hose! Was könnte er denn sagen zu der Chose! Mit Dantes Gebärde Prägt man kein Merde.247
Auch das Gedicht vom 9. Dezember 1933, mit dem Kraft auf Georges Tod reagierte und das er zuerst Wilhelm Lehmann brieflich mitgeteilt hat, prägt ein ambivalenter Tenor:
245 Werner Kraft: Der „Stern des Bundes“ und „Wannsee“. In: Die Aktion 4 (1914), Sp. 394– 397. Rückblickend räumt Werner Kraft: Spiegelung der Jugend. Autobiographie [1972], mit einem Nachwort von Jörg Drews, Frankfurt/M. 1996, S. 24, ein, seine kontrastive Wertung von Georges Stern des Bundes und Rudolf Borchardts Wannsee sei „eine Mischung von echter Begeisterung für Borchardt und unechter Kritik an George, Zeugnis einer Verlogenheit“ gewesen. Eine Rezension Krafts von Georges Krieg blieb unveröffentlicht. 246 Nicht die Exilzeit, sondern Werner Krafts schwierige Position im literarischen Feld im Nachkriegsdeutschland würdigt Caroline Jessen: Kanon im Exil, bes. S. 215–267. 247 Werner Kraft: Das Schweigen. George. Karl Kraus („Welche Freiheit ist im Zwang! / Dieses Schweigen hat den Rang / Tiefer Stille. Sie spricht. / Rein wird das Gericht.“) (Anlage zu einem Brief von W. K. an den Verlag ‚Die Fackel‘, Paris, Wien, den 6.11.1933). In: Werner Kraft. 1896–1991. Bearb. von Jörg Drews, Marbach/N. 1996, S. 49 f., hier zitiert nach der Reinschrift, ebd., S. 50.
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6. Nationalsozialismus, Innere Emigration, Exil
George mein leben seh ich als ein glück
Mit Frevel hat zu Gott gestrebt Der große Ephemere Doch gibt der Tod die Ehre Dem Klang, der dennoch lebt.248
Unter dem Schlussvers des Gedichts „Ich liess mich von den schulen krönen“ aus dem Stern des Bundes249 als Motto kontrastiert Kraft hier den antonomastisch verschlüsselten „große[n] Ephemere[n]“, dessen Bezug zwar offen bleibt, aber durchaus die Person des toten Dichters meinen dürfte, mit dessen Dichtung: Ihr, im „Klang“ entkörperlicht und metonymisch verdichtet, wird todüberdauernde Wirkung zuerkannt. Krafts Wort aus der Leere (1937) lässt allerdings nur in der Formstrenge und in gelegentlichen Wendungen seine Teilhabe an Georges Werk erkennen. Allenfalls in Poetisierungen der Vergänglichkeit oder der Einsamkeit finden sich Anklänge.250 Deutlicher wird der George-Bezug in den Gedichten II (1938). So enthält diese Sammlung eine zentrale Abteilung mit dem Titel Frühling, also der Jahreszeit, die in Georges Jahr der Seele ausgespart ist. Nicht nur Krafts Kritik der Jahreszeit „Der Frühling ist die Zeit der Lüge“ lässt sich ebenso als indirekte Bezugnahme auf George deuten wie der Zweizeiler Ausblick (Nr. XIX): Welt ohne Sprache! – Es stirbt die Sache.251
248 Werner Kraft: George, [in Anlage zu] Brief an Wilhelm Lehmann aus Paris, am 9.12.[19]33. In: Werner Kraft – Wilhelm Lehmann: Briefwechsel 1931–1968. Hg. von Ricarda Dick, 2 Bde., Göttingen 2008, Nr. 86, S. 99 f., hier 100. Wieder in: W. K.: Gedichte III, Jerusalem 1946, S. 31. Krafts Anteilnahme an George zeigt sich auch in seiner Kritik an der „flau[en] und verlogene[en] Reaktion auf Georges Tod […]. Es muß so sein. Da er mehr ist als die Epoche aber weniger als er glaubt, wer sollte die volle Wahrheit sagen können. Hier zeigt sich erst Unheilbarkeit unseres Zustands“ (W. K. an Wilhelm Lehmann, Paris 16.12.[19]33. In: ebd., S. 101 f., hier 102. 249 SW VIII, 105. 250 Werner Kraft: Wort aus der Leere. Ausgewählte Gedichte, Jerusalem 1937. Das DLA Marbach verwahrt ein Widmungsexemplar Krafts „in großer Herzlichkeit“ an Wilhelm Lehmann, datiert „Jer[usalem] 23.12.[19]36“ mit einem Hölderlin-Motto („Geht auf Wahrem dein Fuß nicht wie auf Teppichen?“). Die Schlussstrophe von Weigerung etwa („Hier sitze ich im Blauen / Und muss ins Leere schauen, / Der letzte von den Lauen, / Durch den die Ahnung dringt . .“) erinnert an Georges „Die Blume die ich mir am Fenster hege“ (SW IV, 31), wie das Gedicht Garten am See (ebd., 13) in seinen meist zweihebigen Kurzversen und dem temporalen Einschnitt „Nun“ in Vers 9 („Nun naht die Nacht“) an Georges „Im windes-weben“ (mit dem analogen V. 9: „Nun drängt der mai“) (SW VI/VII, 137). 251 Werner Kraft: Gedichte II, [Jerusalem]: Selbstverlag 1938, S. 31.
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Er ist ein offenes Bekenntnis zu Georges poetologischem Credo: „So lernt ich traurig den Verzicht / Kein ding sei wo das wort gebricht“252. 6.4.2.5. Ernst Waldinger Auch der österreichische Lyriker Ernst Waldinger, der nach dem so genannten ‚Anschluss‘ Österreichs vor den Nationalsozialisten in die Vereinigten Staaten von Amerika flüchtete, verarbeitete im Selbst eines „Gemmenschneiders“, „indes rings um ihn her ein Reich zerfiel“,253 seinen Schmerz in einer an Georges Dichtung angelehnten Sprache. Sein Sonett Pulchra Pia (1934), dessen Oktett in einer Du-Apostrophe die übernatürliche Schönheit einer Frau preist, um im Sextett dann die göttliche Schöpfung zu beglaubigen, ist etwa Georges formgleichem Gemäldegedicht Ein Angelico abgeborgt: [Waldinger] Er nahm die keusche Trauer schlanker Birken, Die stolze Demut goldner Ährenfülle, Gestirnte Himmel hieß er sich entwirken Und scheuen Atem und erstauntes Zagen Und Andacht aus den ersten Schöpfungstagen – Die schloß er köstlich ein in deine Hülle.254
Waldingers Sextett imitiert die zweite Strophe von Georges Sonett, welche die Verwandlung von Natur in Kunst schildert,255 ändert aber das Ziel: Er beschreibt nicht die Verfertigung einer gemalten Madonna durch einen Künstler, sondern die Wiederholung der göttlichen Schöpfung in Gestalt einer
252 George: Das Wort. In: SW IX, 107. Dass Kraft in seiner späten George-Monographie (W. K.: Stefan George, München 1980), die im Nachkriegsdeutschland wenig Resonanz fand, seine Vorbehalte gegen George zugunsten einer „Auseinandersetzung“ zurückstellte, die vor allem die Poetizität des Werks würdigt, erläutert umsichtig Caroline Jessen: Kanon im Exil, bes. S. 252–255. 253 Ernst Waldinger: Der Gemmenschneider [Titelgedicht]. In: E. W.: Der Gemmenschneider, Wien 1937, S. 7. 254 Ernst Waldinger: Pulchra Pia. In: E. W.: Die Kuppel. Gedichte, Wien 1934, S. 91. – SW II, 27, hier V. 5–8. 255 Stefan George: Ein Angelico, SW II, 27, V. 5–8: Er nahm das gold von heiligen pokalen · Zu hellem haar das reife weizenstroh · Das rosa kindern die mit schiefer malen · Der wäscherin am bach den indigo.
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frommen Schönen durch Gott. Damit wird der für Georges Ästhetizismus typische Kontrast einer Verfeinerung der Natur durch die Kunst revoziert.
6.4.3. Parodistische und kritische Distanzierung: Peter Gan, Rudolf Borchardt, Bernard von Brentano und Franz Werfel Peter Gan, der 1938 nach Frankreich emigrierte und später von dort nach Spanien floh, flocht George-Zitate so kunstvoll in sein eigenes Dichten ein, dass diese intertextuellen Bezüge bislang kaum bemerkt wurden.256 So ist sein Gedicht „Sieh, mein Kind, ich gehe“ aus der Windrose (1935) die Palinodie eines Liedes aus Georges Sängen eines fahrenden Spielmanns. Widerrufen wird der Kehrreim „Sieh mein kind ich gehe“, der Georges Rollengedicht rahmt, in dem ein Sänger seiner Geliebten erklärt, er verlasse sie, da er sie sonst „versehren“ würde.257 Eine Synopse der isometrischen Gedichte zeigt, wie Gan nicht nur den Wechsel vom umarmenden Reim über Kreuzreim zum Paarreim nachvollzieht, sondern sogar bis auf das abschließende Reimpaar Georges Reime verwendet, die Verse 4 und 5 sogar unverändert übernimmt, um doch den Tenor des Gedichts umzukehren.258 [George]
[Gan]
Sieh mein kind ich gehe. Denn du darfst nicht kennen Nicht einmal durch nennen Menschen müh und wehe.
Sieh, mein Kind, ich gehe. Ehe wir uns trennen, wirst du eines kennen: Menschenmüh und -wehe.
Mir ist um dich bange. Sieh mein kind ich gehe Dass auf deiner wange Nicht der duft verwehe.
Mir ist um dich bange, dass mein Wort verwehe; denn die alte Schlange schläft in schlimmer Nähe.
Würde dich belehren Müsste dich versehren Und das macht mir wehe Sieh mein kind ich gehe.
Es ist Gott zur Ehre, dass ich dich versehre und dein Glück vertreibe. Sieh, mein Kind, – ich bleibe.
256 Vgl. den Diskussionsbeitrag von Claus Victor Bock in: Stefan-George-Kolloquium 1968. Hg. von Eckhard Heftrich u. a., Köln 1971, S. 226 f. (wieder erwähnt in: Claus Victor Bock: Peter Gan. In: CP 118 (1975), S. 79–91, hier 87 f.). 257 SW III, 60. 258 Peter Gan [d. i. Richard Moering]: Sieh, mein Kind, ich gehe. In: P. G.: Gesammelte Werke, Bd. 1. Hg. von Friedhelm Kemp, Göttingen 1997, S. 40.
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Gans Parodie entlarvt die heroische Entsagung des Rollen-Ichs in Georges Gedicht als Pose: Sein lyrisches Ich kündigt zwar auch den Weggang an, doch erst nachdem er das Mädchen entjungfert hat. Die als „alte Schlange“ verbildlichte Ursünde und die gut belegte Bedeutung von „versehren“ für die Defloration259 lassen an dieser semantischen Inversion keinen Zweifel. Inwieweit Gan mit seiner Palinodie auf ästhetische Distanz zu dem von ihm bewunderten George geht oder eine partielle spielerische Widerlegung vornimmt, muss offen bleiben, zumal diese Ambivalenz auch die George-Passagen in Peter Gans Essay Goethe und die Dichtung der Gegenwart (1933) prägt. Einerseits erkennt Gan darin George eine epochale Bedeutung für die deutsche Literatur zu und rückt ihn in einen typologischen Zusammenhang mit Goethe;260 andererseits kritisiert er Georges Werk. Die Ambivalenz von Bewunderung und Kritik zeigt sich auch noch als ‚Übertragungsphänomen‘: So bleibt Gan reserviert gegenüber der ‚Jüngergemeinde‘ und lobt die konkurrierenden Repräsentanten der Moderne wie Borchardt, Hofmannsthal und Rilke. Freilich finden sich unter den ausgebürgerten und exilierten Schriftstellern viele, die nach Leschnitzers marxistischer Lesart in George einen Wegbereiter des NS-Regimes sahen. Negative Äußerungen oder gar Verarbeitungen in einem literarischen Werk sind jedoch eher selten. Obgleich er sich kritisch über George geäußert hatte, ist Bertolt Brecht ein schwacher Kronzeuge für eine politisch motivierte Ablehnung von Georges Lyrik; allenfalls das Exil-Gedicht Adresse des sterbenden Dichters an die Jugend ist möglicherweise gegen George gerichtet.261 Rudolf Borchardt, den an George ein tief ambivalentes Verhältnis band, hat dessen ‚Schweigen‘ als politisches Versagen gedeutet: Neben seiner monströs-polemischen Aufzeichnung Stefan George betreffend (1936) hat Borchardt seine Kritik in den Jamben (1935), einem bedeutenden Dokument der Widerstandslyrik, auch poetisch gefasst. Das Zeitgedicht Unterwelt hinter Lugano wütet gegen das homoerotische „Neophyten-Gewühl“ um den „Mysterien-Meister“ und prangert George als Wegbereiter des Nationalsozialismus an:
259 Deutsches Wörterbuch. Hg. von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. XII, I (Bd. 25), Leipzig 1956, Sp. 1259–1263, hier 1261. 260 Vgl. Peter Gan [d. i. Richard Moering]: Goethe und die Dichtung der Gegenwart. In: P. G.: Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 243–261, hier 252: „George ist Wendepunkt in unserer Lite ratur […]. Von ihm datiert sicher das Ende der dichterlosen, der schrecklichen Zeit […]. Goethe hat die überkommene Sprache aufgenommen, vermehrt und geläutert. George lehnt ab, verwirft und beginnt ein Neues“. 261 Bertolt Brecht: Adresse des sterbenden Dichters an die Jugend. In: B. B.: Werke, Bd. 14: Gedichte 4. Gedichte und Gedichtfragmente 1928–1939. Hg. von Jan Knopf und Brigitte Bergheim, Berlin und Frankfurt/M. 1993, S. 455 f. und 687.
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Höre und sieh, wie ich treulich dem Meisterwort Folgte, Nolens Volens, Höre wie alles gedieh, Vom Neuen Reich zum Jugendbund, Manlius und Maximin, und In Indirekter Fechsung
Statt von Papa und Mama Neudeutschland von der Tante stammt.262
Borchardts ominöse Aufzeichnung Stefan George betreffend verschärft den Vorwurf der Jamben und hält George hasserfüllt vor, mit den Nationalsozialisten das „homosexuelle Triebelement“ geteilt zu haben; so „tauschten sich Päderastie und Hakenkreuz gegenseitig zurück, jedem blieb das Seine, und das ‚Dritte Reich‘ hatte sich gegen das Neue Reich glatt gestellt“.263 Kritische Äußerungen zu George finden sich auch in Zeitromanen exilierter Autoren, wie etwa in Bernard von Brentanos im Schweizer Exil entstandenem Roman Die Schwestern Usedom (1948). Dabei handelt es sich allerdings nicht um schwere, weltanschaulich begründete Vorwürfe im Stile Borchardts, sondern vielmehr um milden Spott, der auf die literarhistorische Überholtheit und Irrelevanz Georges abzielt. Die Romanfigur Josef Grün, ein Schriftsteller, der sich vom Journalisten zum anspruchsvollen Dichter emanzipieren möchte, fühlt sich – von Heinrich Heine abgesehen – der lite rarischen Tradition, namentlich Goethe und Schiller, fremd: Sein Interesse gilt vor allem der „Gegenwart“ und „der Konkurrenz“.264 Doch in Brentanos retrospektiver Analyse des intellektuellen Klimas vor der nationalsozialistischen Machtergreifung hat George ebenso wie die anderen Repräsentanten der Klassischen Moderne die Rolle eines Leitbilds schon eingebüßt; darauf lässt jedenfalls die aus der Sicht des Protagonisten Josef Grün pejorativ perspektivierte Passage schließen: „Von den Adlern seiner Epoche waren die meisten schon alt. Gerhart Hauptmann und Stefan George waren Greise;
262 Rudolf Borchardt: Unterwelt hinter Lugano. In: R. B.: Gedichte, Bd. 2: Übertragungen 2. Hg. von Marie Luise Borchardt und Ulrich Ott, Stuttgart 1985, S. 34–36, hier 35, V. 48–51. Die postume Erstausgabe (1957) hatte die Ortsangabe ‚Lugano‘ im Titel durch ‚Locarno‘ ersetzt, weil George in Minusio bei Locarno begraben liegt. Vgl. Dieter Burdorf: Kopf statt Ohr. Rudolf Borchardt als Kritiker Stefan Georges. In: Stefan George. Werk und Wirkung seit dem ‚Siebenten Ring‘. Hg. von Wolfgang Braungart u. a., Tübingen 2001, S. 353–377; Ulrich Raulff: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, München 2009, S. 523–526. Zu Entstehungs- und Textgeschichte der Jamben vgl. Lars Korten: „Gefährlich für jeden der sich nicht hütet“. Rudolf Borchardts ‚Jamben‘ 1935/36. Materialien und Dokumente zu ihrer Neuedition. In: Titan 1 (2005), S. 1–37. 263 Rudolf Borchardt: Aufzeichnung Stefan George betreffend. Hg. von Ernst Osterkamp, München 1998, S. 94. Die Hermetik des Gedichts Unterwelt hinter Lugano paraphrasiert der Schluss des längeren Prosatexts, der mit einem vernichtenden Urteil schließt: „Diese Jugend der er das Neue Reich verheissen hatte und dem Verderben zugerüstet, war seine Beisteuer zur grössten Not der deutschen Geschichte, – von ihm entwurzelt, gebrochen, der Entwicklung beraubt, entmannt, verführt“ (ebd., S. 108). 264 Bernard von Brentano: Die Schwestern Usedom. Roman, Heidelberg [1948], S. 143.
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Rilke und Hofmannsthal waren tot, und so blieb nur Thomas Mann, den Grün haßte und mit ätzendem Spott verfolgte“.265 Franz Werfel legt in seinem nachgelassenen futuristischen, von Dante inspirierten Roman Stern der Ungeborenen (1946) dem Großbischof eine scharfe Kritik an George, seinem Kreis und dessen Dante-Verehrung in den Mund: Georges Werk wird hier ganz auf das Äußerliche reduziert, allerdings nicht politisch abgewertet: „[…] betest du gar zu jenem Stefan George, und sein Name stehe für alle von Herrschsucht berstenden Kalligraphen, die statt in Sack und Asche, mit stark geschweiften Röcken, gebauschten Krawatten und falschen Danteköpfen einherwandeln und ihre Schultern und Hüften drehn, wobei sie einen kranken Lustknaben öffentlich zum Heiland machen und die blecherne Geistesarmut in kostbaren Gefäßen umherreichen […]?“266 So gesehen, wirkt auch Werfels früheres zehnstrophiges Gedicht Der totgeweihte Park (1935), das aus dem Umkreis von dem in Deutschland verbotenen Schlaf und Erwachen stammt, wie eine Distanzierung von Georges stilisiertem „totgesagten Park“.267 Werfels lyrisches Ich schildert im Präsens einen Gang durch einen verwilderten herrschaftlichen Park, dessen vormalige Kunst von der Natur zurückgeholt wurde; hierin könnte man eine Kritik am überholten Symbolismus sehen. Schlimmer noch ist aber das, was danach kommt: die drohende Modernisierung des wilden Parks „zu hundert Schrebergärten der Vernunft“. Ihr erschreckender Einsatz wird durch eine ungereimte zweizeilige Strophe angedeutet: „Ein Herr geht mürrisch in genauem Schritt / Und läßt in seiner Hand ein Meßband schleifen“. So lässt sich Werfels Park-Gedicht ebenso als Distanzierung von Georges elitärem Schönheitskult wie als Ablehnung der demokratischnüchternen Sachlichkeit lesen.
6.4.4. Paul Zech Spät, allzu spät bemühte sich auch der Schriftsteller Paul Zech (1881–1946) im argentinischen Exil um eine Ehrenrettung der deutschen Dichtungstradition, der er auch Stefan George zurechnete. Seine zwischen 1942 und 1944 entstandene Essay-Sammlung Probleme und Gestalten der deutschen romantischen und neueren Dichtung, die auch einen längeren Beitrag zu George
265 Brentano: Die Schwestern Usedom, S. 143. 266 Franz Werfel: Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman, [Frankfurt/M.] 1949, S. 262 f. Siehe dazu die Deutung von Eva Hölter: „Der Dichter der Hölle und des Exils“. Historische und systematische Aspekte der deutschsprachigen Dante-Rezeption, Würzburg 2002, S. 227. 267 Franz Werfel: Der totgeweihte Park. In: F. W.: Das lyrische Werk. Hg. von Adolf D. Klarmann, Frankfurt/M. 1967, S. 610 f.
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enthält, hatte Zech allerdings erst nach Kriegsende, im Oktober 1945, zu einem Band zusammengestellt. Zu einer Drucklegung kam es jedoch nicht. Seine ursprüngliche Absicht, die nationalsozialistische Kultur-Usurpation durch einen positiven Gegenkanon zu widerlegen, musste Zech nach 1945 notwendigerweise modifizieren. Die neue Wirkungsabsicht, nun vor einer angeblichen Zerstörung des „Abendlandes“ durch die Siegermächte zu warnen, vor allem durch die Vereinigten Staaten von Amerika, wirkt allerdings aufgesetzt.268 So schlägt auch diese nachträgliche Umwidmung kaum durch in seinem umfänglichen Essay Stefan George und der Kreis seiner Schüler, den Zech wohl schon 1942 verfasst hatte. Darin verteidigt er George poetisch wie politisch sowohl gegen antifaschistische Anfeindungen als auch gegen nationalsozialistische Indienstnahmen. Auch wenn der als Plagiator berüchtigte Zech ganze Passagen nicht selbst verfasst, sondern abgeschrieben hat,269 erstaunt dennoch die Vehemenz, mit der Zech Stefan George gegen jeden Verdacht einer Nähe zum Nationalsozialismus verteidigt. Zech lastet „diese nicht mehr einfältigen, sondern geradezu böswilligen, Missdeutungen“ auch der „literarische[n] Kritik […] in Deutschland“ an, die „fast immer nur das Weltanschauliche einer Dichtung zum Gegenstand der Beurteilung genommen und je nach der politischen Stellung des Beurteilers gewertet“ habe.270 Selbst im politisch oft inkriminierten Neuen Reich ist George für Zech „immer noch der ‚unbewaffnete Prophet‘ und Seher“, „ein neuzeitlicher Sankt Johannes auf Patmos […]“.271 Zech verteidigt George gegen dessen angebliche politische Affinität zum NS-Staat auf zweifache Weise: Zum einen grenzt er ihn von zeitgenössischen bellizistischen Autoren wie Ernst Jünger ab, zum anderen von temporären Weggefährten wie Ludwig Klages und Ernst Bertram oder gar dubiosen Schülern der Kreis-Mitglieder.272 Für 268 Paul Zech: Probleme und Gestalten der deutschen romantischen und neueren Dichtung, Biographische und literaturgeschichtliche Essays. Hg. von Hannah Gerlach, Würzburg 2018, hier S. XVI. 269 Viele Plagiate in Zechs George-Essays hat die Herausgeberin Hannah Gerlach in ihrem fundierten Kommentar (Zech: Probleme und Gestalten. Hg. von H. G.) nachgewiesen. 270 Paul Zech: Stefan George und der Kreis seiner Schüler. In: P. Z.: Probleme und Gestalten S. 219–285, hier 224. 271 Zech: Probleme und Gestalten, S. 278. Zech verteidigt auch Georges Lexik, die sich durchaus mit der nationalsozialistischen Sprache überschneidet: „Die ganz boshaften Blutegel klammern sich an jede Zeile Georges, drehen und wenden sie und finden nach unzähligen Fehlgriffen jene Vokabel: ‚Das Dritte Reich‘. Wann tauchte nun diese Vokabel im Werk Georges zum ersten Male auf? Sicher schon vor 1900. Und ist George überhaupt der erste, der dieses Wort geprägt hat? Wir finden es schon beim Meister Eckhardt zitiert, in Verbindung mit einem Satz aus dem ‚Johanneischen Feuer‘ des Joachim von Floris (um 1142)“ (ebd., S. 277). Diese Widerlegung verdankt Zech wohl dem oben (S. 265) behandelten Aufsatz Karl Paetels in den Deutschen Blättern von 1944. 272 Zech: Probleme und Gestalten, S. 225: „Weil einer der mehr als tausend Hörer des Universitätslehrers (und Schülers von Stefan George) Friedrich Gundolf aus der Reihe tanzte
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diese Abgrenzungsstrategie konstruiert Zech auch fingierte Beweise und Belege, indem er etwa behauptet, er habe gemeinsam mit Friedrich Gundolf „ein halbes Jahr lang“ im „Deutschen Auswärtigen Amt (Mai bis November 1918)“ gearbeitet, und zitiert ausführlich aus einem angeblichen Brief Gundolfs vom „September 1930“, in dem sich dieser negativ über Goebbels äußere.273 Die wertkonservative und elitäre Haltung des Dichters sowie dessen Faible für Liturgie und Prunk erklärt Zech mit dessen kindlicher Prägung in einem mittelrheinischen katholischen Milieu und betont die starke Präsenz von Juden im Kreis des Dichters, die ihn allein schon in eine Opposition zur nationalsozialistischen Rassenpolitik gebracht habe.274 Zudem relativiert Zech seine Verteidigung Georges, indem er ihn als Dichter historisiert und seinem Frühwerk jede Bedeutung abspricht. Doch Zechs Bemühen, George der politischen Ächtung zu entziehen und wieder seine poetische Bedeutung ins rechte Licht zu setzen, war wirkungslos, da das nationalsozialistische Deutschland bei Fertigstellung des Bandes nicht mehr existierte, und der Essay ungedruckt blieb.
und schliesslich der Generalpropagandist des ‚Dritten Reiches‘ wurde [gemeint ist Joseph Goebbels], soll Stefan George diesem ‚Dritten Reich‘ tatsächlich die Tore zu den Gehirnen aller Deutschen geöffnet haben?“ 273 „In einem Schreiben, das ich von Friedrich Gundolf im September 1930 erhielt, heisst es von dem ehemaligen heidelberger Studenten Joseph Goebbels: ‚Alle Lichter in seinem Kopf standen schief und das Material, aus dem diese Lichter gezogen waren, bestand vorwiegend aus Tran. Dementsprechend war auch der Geruch …“ (Zech: Probleme und Gestalten, S. 225 f.). Das angebliche Schreiben Gundolfs ist wohl eine Erfindung Zechs. 274 „Zum Unglück für Herrn Arthur Rosenberg hat es im George-Kreis nie eine Rassenfrage gegeben; über die Hälfte der bekanntesten George-Schüler war ‚artfremd‘. Deshalb konnte es sich der antisemitische General-Henker, ein Mann namens Streicher, auch nicht verkneifen, an die Mitteilung vom Ableben Georges die Bemerkung zu knüpfen, dass die ‚dichtende Judenschule sich ihres gesinnungslosen Oberpriesters beraubt sähe und wieder den Weg zu David zurückfinden müsse …“ (Zech: Probleme und Gestalten, S. 248). Tatsächlich hatte Julius Streicher 1934 behauptet, George wäre Jude gewesen; vgl. dazu Ulrich Raulff: Kreis ohne Meister, S. 87 f.
7. Nachkriegsdichtung (1945−1970) Den angeblichen ‚Neubeginn‘ der deutschen Literatur nach 1945 stellt die jüngere Forschung mehr und mehr in Frage und betont stattdessen Kontinuitäten und Anknüpfungen an die Klassische Moderne. Doch berufen sich die unterschiedlichen metapoetischen Texte und ästhetischen Positionen, welche auf diese Weise die nationalsozialsozialistische Ära retrospektiv zu überbrücken suchen, zwar neben der internationalen Moderne (T. S. Eliot) immer wieder auf Rilke, kaum aber auf Stefan George. Immerhin hat der sozialdemokratische Jurist Gustav Radbruch bei Kriegsende kein Hehl aus seiner Verehrung Georges gemacht und ihn in sein Lyrisches Lebensgeleite, eine persönliche Inventur der deutschen Dichtung, als ‚Unzeitgemäßen‘ neben Nietzsche und Rilke aufgenommen; mehr noch: Mit fünfzehn Gedichten ist George in Radbruchs Anthologie gemeinsam mit Rilke der quantitativ am stärksten repräsentierte Dichter der Moderne.1 Daneben ist Stefan George zwar auch in weiteren wichtigen Lyrik-Anthologien der frühen Nachkriegszeit vertreten, wie in der von Hans Egon Holthusen und Friedhelm Kemp herausgegebenen Sammlung Ergriffenes Dasein (1953),2 doch sind öffentliche Bekenntnisse und poetische Hommagen eher die Ausnahme. Von solchen Überbrückungs- und Anknüpfungsversuchen an die Vorkriegsliteratur profitiert George außerdem nur eingeschränkt: Die Bezugnahmen auf ihn bleiben oft vage und werden eher verschleiert. Eine solche verdeckte George-Hommage findet sich in Ernst Kreuders Erzählung Die Gesellschaft vom Dachboden (1946), die in einem nur diffus situierten Vorkriegsdeutschland spielt. Der Ich-Erzähler, der Schriftsteller Berthold
1
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Vgl. Lyrisches Lebensgeleite. Von Eichendorff bis Rilke. Gesammelt von Gustav Radbruch, Heidelberg 1946, S. 178–185. Der Schwerpunkt liegt selbstverständlich auf dem Frühwerk bis zum Siebenten Ring. Aus dem Spätwerk ist nur das wirkungsmächtige Gedicht „Wer je die flamme umschritt“ (SW VIII, 84) aus dem Stern des Bundes berücksichtigt. Vgl. dazu Dieter Martin: „Wer je die flamme umschritt“. Stefan George am Lagerfeuer. In: Realität als Herausforderung. Literatur in ihren konkreten literarischen Kontexten. FS Wilhelm Kühlmann zum 65. Geburtstag. Hg. von Ralf Georg Bogner, Ralf Georg Czapla, Robert Seidel und Christian von Zimmermann, Berlin und New York 2011, S. 427–446. Vgl. Ergriffenes Dasein. Deutsche Lyrik 1900–1950. Hg. von Hans Egon Holthusen, Ebenhausen bei München 1953, S. 14–19; vgl. dazu auch Gerhard R. Kaiser: Georges Lyrik in Anthologien. In: GHb II, S. 1058–1068, hier 1064.
https://doi.org/10.1515/9783110779370-007
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7. Nachkriegsdichtung
Brandt, versucht mit Gleichgesinnten dem phantasielosen Alltag zu entfliehen und in einer poetischen Gegenwelt zu leben. Zu den Vorbildern für den „Bund der Sieben“, den sie auf der Suche nach der „wahre[n], d[er] unwirkliche[n] Wirklichkeit“ gründen, rechnen die „Bundesbrüder“ auch „den ‚Siebenten Ring‘“.3 Noch unauffälliger bleiben die George-Bezüge in Carlo Schmids Römischem Tagebuch (1946), das schon 1937 vorlag, aber vielleicht wegen fehlender nationalsozialistischer Gesinnung erst nach dem Krieg gedruckt werden konnte.4 Schmid, der, mit Ernst Morwitz befreundet, an Frommels Mitternachtssendungen teilnahm und dessen Reichsidee teilte, hat wohl bei der Redaktion seines Reisejournals für den Druck „sowohl in lexikalischer als auch in diskursiver Hinsicht die Annäherung an George gesucht“.5 So sind es zunächst vor allem Vertreter der Vorkriegszeit, die nach 1945 George wieder ins kollektive Gedächtnis rufen. Auch wenn die 1947 gestorbene Schriftstellerin Ricarda Huch ihre autobiographischen Schriften hauptsächlich schon Ende der 30er Jahre erarbeitet hat, geben sie doch einen historisch distanzierten Rückblick auf Schwabing (entstanden etwa 1937) und erinnern an Georges bedeutenden literarischen Rang.6 Ähnliches gilt für die Tagebücher Emil Barths, des Mitbegründers der Akademie für deutsche Sprache und Dichtung. Als Dokument der ‚inneren Emigration‘ erschienen sie unter dem Titel Lemuria zuerst 1947. Auch Barth historisiert hier Stefan George, wenn er sich mit der Frage beschäftigt, warum dieser „in seiner Umdichtung der ‚Blumen des Bösen‘ das große Einleitungsgedicht Baudelaires an den Leser – ‚das fälschlich ‚Vorrede‘ genannte‘ – nicht bloß ausgelassen,
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Ernst Kreuder: Die Gesellschaft vom Dachboden. Erzählung. Mit einem Nachwort von Klaus Schöffling, Reinbek 1986, S. 35 und 49. Siehe dazu Rolf Georg Czapla: „Das Vollkommene duldet nur Anbetung und Opfer“ – Eine Romreise mit den Augen Stefan Georges. Zu Carlo Schmids „Römischem Tagebuch“. In: Realität als Herausforderung. Literatur in ihren konkreten historischen Kontexten. FS Wilhelm Kühlmann. Hg. von Ralf Bogner u. a., Berlin und New York 2011, S. 511–529, hier 518, der m. E. die nichtnationalsozialistische Faktur des Texts unterschätzt. Czapla: „Das Vollkommene duldet nur Anbetung und Opfer“, S. 320. Allerdings bleiben Czaplas Beweise für eine intertextuelle Anlehnung Schmids an George insgesamt vage. Vgl. Ricarda Huch: Gesammelte Werke, Bd. 11: Autobiographische Schriften, Nachlese, Register. Hg. von Wilhelm Emrich unter Mitarbeit von Bernd Balzer, Köln 1974, bes. S. 198–300 und 370–374. Distanziert schildert Huch Begegnungen mit dem George-Kreis und kritisiert die „in Wolfkehlscher Weise geübte Vergötterung“ (S. 298), räumt aber ein, dass „George […] einige wunderschöne Gedichte gemacht“ hat, und spricht ihm das Verdienst „den Deutschen seiner Zeit wieder in Erinnerung gebracht zu haben, dass Dichtung eine Kunst ist“ (S. 370). Nach ihrer Schilderung erfordere die Verehrung Georges als ‚Heiligenkult‘ zwar Zeitgenossenschaft und Initiation, doch nicht das Kultische des Kreises bzw. dessen ‚Kunstreligion‘ mache die Größe Georges aus, diese habe vielmehr darin ihren Grund, dass „er mehrere Gedichte von vollendeter Schönheit und auch ergreifender Innigkeit gemacht hat“ (S. 371).
7.1. Kreisaffine Verteidigung Georges gegen den Faschismus-Vorwurf
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sondern statt seiner jene eigene Vorrede gebracht hat, worin er eben die unterbliebene Verdeutschung solcher Gedichte mit der Ablehnung der ‚abschreckenden und widrigen Bilder, die den Meister eine Zeitlang verlockten‘, begründet“.7 Barth versteht Georges Reserve geschichtlich, „wenn man die Epoche dieser ersten produktiven Verdeutschung Baudelaires erwägt und sich vergegenwärtigt, welch entsetzlichen Fortschritt in der Offenbarung und Erfahrung des Bösen die Allgemeinheit seitdem gemacht hat. Längst würde heute“, davon ist Barth überzeugt, „auch George nicht mehr zögern, ein Gedicht wie jene ‚Vorrede‘ aufzunehmen, spricht Baudelaire darin […] das eigentliche Grundwort des Bösen und den Namen der Urgestalt aus, unter der es innerhalb der späten Zivilisation erscheint: die Langeweile“.8 Barth betont die zeitliche Differenz Georges „zu unserer Epoche“, welcher es erst vorbehalten war, „den wütenden Ausbruch der ganzen Menagerie des Bösen, wie Baudelaire sie beschrieben hat, aus dem Käfig der Menschenbrust zu erleben […]“.9 Mit dieser Gegenüberstellung wird implizit auch jede Nähe Georges zum NS-Unrechtsstaat zurückgewiesen.
7.1. Kreisaffine Verteidigung Georges gegen den Faschismus-Vorwurf Die Versuche aus dem ‚Kreis ohne Meister‘ heraus, das Totengedächtnis an George in eine ethische Verpflichtung umzumünzen und in seinem Geiste weiterzuleben, blieben weitgehend auf die ehemaligen Jünger und Verehrer begrenzt. So hat Alexander Schenk von Stauffenberg (1905–1964) bereits im Jahre 1945 in einem limitierten Pressedruck seinen Memorialzyklus Der Tod des Meisters veröffentlicht. Den Zyklus hatte Alexander von Stauffenberg kurz nach Georges Tod begonnen, das letzte Kapitel 1943 hinzugefügt.10 Reaktualisiert wird darin Georges Sterben und Begräbnis in sieben Gedichten, die zwar ungleich lang sind, aber formal gleich: Strophen aus jeweils zwölf Blankversen in der George-Schrift verleihen dem Totengedächtnis ein 7
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Emil Barth: Lemuria: Aufzeichnungen und Meditationen aus den Jahren 1943 bis 1945 [ED 1947]. Hg. von Bernhard Albers in Zusammenarbeit mit Karin Dosch-Muster, Aachen 1997, s. d. 10. Juli 1944, S. 126–128, hier 126. Anlass für Barths Beschäftigung mit George sind die Fleurs du Mal-Übertragungen seines Freundes Cajetan Freund, die er am Tag zuvor erhalten hat (ebd.). Barth: Lemuria, S. 127. Während Barth Georges Werk respektiert, verachtet er die KreisStruktur: Er spricht von „jene[m] unangenehme[n] Jüngertum, das im lächerlich-grotesken Mißverhältnis zu seinen Ansprüchen einen penetranten Geruch von Impotenz verbreitet“ (s. d. 22. September 1944, ebd., S. 145–147, hier 147). Barth: Lemuria, S. 127. Vgl. Manfred Riedel: Geheimes Deutschland. Stefan George und die Brüder Stauffenberg, Köln 2006, S. 222.
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7. Nachkriegsdichtung
feierliches Gepräge und stellen zugleich eine Hommage an Georges große Dichtungen Der Krieg oder Goethes lezte Nacht in Italien dar.11 Sprecher ist ein kollektives Wir, das ein ungenanntes Du, den sterbenden Dichter, apostrophiert. Betont wird der Verlust, den der Kreis durch den Tod des Meisters erleidet: „Uns die verderben wenn dies leben endet“ oder „Wie gnadenlos allein sind wir vor ihr [scil. der Trauer]“.12 Ihn kompensiert das Gefühl einer Pflicht, im Geiste des Toten weiterzuleben: „Und scheidend wussten wir: in unserem Leben | Ein jeder atemzug und schmerzlich beben | Bleibt dienst an diesem grab mit geist und blut“.13 Der „Abschluss“ gilt dem Zusammenhalt des ‚Kreises ohne Meister‘, der eben „nicht mehr die alte schar“ ist, und mahnt mehrfach: „Wir streiten nicht“. Überbrückt werden sollen die politischen Gräben („was uns nie trennen durft“), und appelliert wird an die Freundschaft mit den exilierten Mitgliedern, „den versprengten“, die wieder „ohne zu rechten“ aufgenommen werden sollen, um eine gemeinsame Zukunft im Gedächtnis an George zu gestalten: Mit den versprengten was auch missetat Verbrach an ihnen – schuldlos doch verstrickt In ihres blutes fluch der tausendjahre Der sie von frucht und trank der scholle schied Des Tantalos ihr los – sei nicht gerechtet. Wir lauschen achtsam was der sinn gebeut Der uns enthüllte – jeder muss ihn finden – Und bieten freien blickes traum und handeln Vereinend uns dem höchsten richterspruch.14
Der tote Meister wird für die Zukunft der neuen Elite noch einmal beschworen: „Du bist ganz nah uns adligsten geblüts / Der dunkel schönster jugend traum und anmut / Was auch entsank ins kommende bewahrt . .“.15
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Darauf verweist Simon Reiser: Totengedächtnis in den Kreisen um Stefan George. Formen und Funktionen eines ästhetischen Rituals, Würzburg 2015, S. 324. Reiser (ebd., S. 323–330) widmet dem Zyklus eine formalästhetische Analyse, die auf die gemeinschaftsstiftende Funktion des Zyklus abhebt. [Alexander Schenk Graf von Stauffenberg]: Der Tod des Meisters, München 1945 (Neudruck [Überlingen] 1948), Der Garten, V. 58, und Totenwache, V. 24. [Stauffenberg]: Der Tod des Meisters, Begängnis, V. 46–48. [Stauffenberg]: Der Tod des Meisters, Abschluss, V. 28–36. [Stauffenberg]: Der Tod des Meisters, Abschluss, V. 46–48.
7.1. Kreisaffine Verteidigung Georges gegen den Faschismus-Vorwurf
295
7.1.1. Stauffenbergs Attentat vom 20. Juli 1944 als Vermächtnis Georges Erst später wurden unter dem Titel Denkmal (1964) weitere Dichtungen Alexander Schenk Graf von Stauffenbergs veröffentlicht.16 Sie enthalten Gedichte auf die Brüder Claus und Berthold, die beide nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 hingerichtet wurden. Höhepunkt ist ein imaginärer Dialog zwischen den Brüdern, die sich zur „tat“ entschließen und damit Georges Gedicht Der Täter einlösen.17 Außerdem hat Alexander von Stauffenberg in den Reigen der Märtyrer noch seine Frau Melitta eingewoben, die als berühmte Kampffliegerin im Jahre 1945 durch feindlichen Beschuss zu Tode kam. Einen Großteil weiterer Gedichte hat Alexander von Stauffenberg im Gefängnis gedichtet, wie auch der Titel einer Abteilung in dem Band signalisiert. Diese Dichtung betont in ihrer engen Bindung an George und dessen Kreis, zu dem Alexander ebenso zählte wie seine Brüder, die Distanz des George-Kreises zum NS-Regime. Die retrospektive poetische Stilisierung des George-Kreises zu einer Widerstandsgruppe heroischer Märtyrer sowie die „Absicht künstlerischer Monumentalisierung“ seiner Brüder trug Alexander von Stauffenberg zwar die Zustimmung ehemaliger Kreis-Mitglieder ein,18 größere Wirkung entfaltete sie aber nicht, jedenfalls nicht unmittelbar. Den poetischen Erinnerungskult der ‚hinterbliebenen‘ Kreis-Mitglieder um 1945 hat Simon Reiser eingehend beschrieben. Er weist überzeugend nach, wie etwa Rudolf Fahrner (An Claus von Stauffenberg), Karl Wolfskehl (Zu Schand und Ehr), Rudolf Pannwitz (Graf Stauffenberg) und Robert Boehringer (Europa) in ihren dichterischen Heroisierungen des Hitler-Attentäters diesen in eine Tradition mit George stellten, um damit eine „kohäsionsfördernde Leitfigur“ gegen die zentrifugalen Tendenzen unter den ehemaligen Kreis-Mitgliedern nach Georges Tod zu stiften.19 Vor allem Boehringers zwanzig Blankversstrophen umfassendes Langgedicht Europa (1946) verbindet die Erinnerung an Stauffenberg mit einer Rettung Georges vor jeglichem Faschismus-Verdacht. In einem intertextuellen Dialog mit Georges Dichter in zeiten der wirren bezieht er dessen oft inkriminierte 16 17 18
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Alexander Schenk Graf von Stauffenberg: Denkmal. Hg. von Rudolf Fahrner, Düsseldorf und München 1964. SW V, 45. Vgl. Ulrich Raulff: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, München 2009, S. 415. – So bezeugen die brieflichen Reaktionen von Ernst Kantorowicz und Karl Wolfskehl auf die Lektüre ebenso ein fortdauerndes Gruppenbewusstsein wie die Erinnerungen und Dokumente von Rudolf Fahrner; vgl. Reiser: Totengedächtnis in den Kreisen um Stefan George, S. 330 und 323. Reiser: Totengedächtnis in den Kreisen um Stefan George, S. 363.
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7. Nachkriegsdichtung
Prophetie von „ein[em] jung geschlecht“ und dem „einzigen […] Mann“ auf Stauffenberg.20 Zwar konzediert er die Verstrickung mancher Kreismitglieder mit dem Nationalsozialismus („So viel in Sodom waren“), sieht aber durch Stauffenberg, den er zum Ziehsohn Georges stilisiert, die Ehre des Kreises wiederhergestellt: Wo ist · von dem der Dichter sang · das junge Geschlecht das ihm heranwuchs ohne fehl? Verführt · verjagt · gefoltert und gestorben. Wie viele sind noch vom geheimen bund? So viel in Sodom waren. Doch der Eine · Der sein und seiner brüder leben wagte · Der kam von Ihm und rettete die ehre.21
Doch Boehringer geht in seiner Nachkriegsvision von Europa über die Rehabilitation des George-Kreises hinaus: Indem er Georges Prophetie vom „jung Geschlecht“ auf die Enkel-Generation, die Nachgeborenen, überträgt, stiftet er einen postumen George-Kult: Wann aber holen enkel sich das maass Für geistigen rang · für ehrfurcht und gebühr Aus preis und mahnung ihrer toten dichter?22
Im kollektiven Gedächtnis der Deutschen war die Person des Hitler-Attentäters Claus von Stauffenberg nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch keineswegs so einhellig positiv besetzt wie später.23 Doch beanspruchten keineswegs nur Kreis-Mitglieder die Erinnerung an seine Person und Tat 20
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George: Der Dichter in zeiten der wirren. In: SW IX, 27–30, hier 30, V. 71–84: „[…] Ihm wuchs schon heran […] / Ein jung geschlecht das wieder mensch und ding / Mit echten maassen misst […] / Das aus geweihtem träumen tun und dulden / Den einzigen der hilft den Mann gebiert . . / Der sprengt die ketten fegt auf trümmerstätten / Die ordnung […]“. Robert Boehringer: Europa. In: R. B.: Späte Ernte, Düsseldorf und München 1974, S. 9–16, hier 15, V. 236–242. Vgl. dazu Reiser: Totengedächtnis in den Kreisen um Stefan George, S. 354–356. Reiser: Totengedächtnis in den Kreisen um Stefan George, V. 249–251. Die Rezeption des Attentäters Claus von Stauffenberg von der anfänglichen Diffamierung über die Heroisierung zur Historisierung resümiert Wolfram Wette: „Wir müssen etwas tun, um das Reich zu retten“. Stauffenbergs Motive zum Widerstand. In: Es lebe das „Geheime Deutschland“! Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Person – Motivation – Rezeption. Hg. von Jakobus Kaffanke OSB u. a., Münster 2011, S. 73–91. Wette lässt die Frage nach Stauffenbergs letzten Worten („Es lebe das Geheime Deutschland!“ oder: Es lebe das heilige Deutschland!“) offen, deutet aber immerhin, allerdings reichlich vage, die Prägung durch den George-Kreis an; wenig plausibel ist der Versuch von Robert E. Norton: Lyrik und Moral. Viele behaupten, Stefan George habe Claus Schenk Graf von Stauffenberg zum Attentat auf Hitler ermutigt. Das ist ein Irrtum. In: Die Zeit vom 16.7.2009, S. 48, Georges Einfluss zu annihilieren.
7.1. Kreisaffine Verteidigung Georges gegen den Faschismus-Vorwurf
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für sich. Einige Zeitstücke, die sogenannten ‚Juli-Dramen‘, inszenierten den gescheiterten Staatsstreich am 20. Juli 1944 als eine Ehrenrettung der diskreditierten Wehrmacht und stilisierten Stauffenberg zu einem antifaschistischen Märtyrer.24 An der Heroisierung des Attentäters beteiligte sich auch der dubiose Wehrmachtsoffizier Karl Michel, der 1942 zwar dienstlich mit Stauffenberg zu tun hatte, diese Verbindung in den Jahren 1946/47 aber zu einer angeblichen Allianz vergrößerte, um sich selbst aufzuwerten. In seinem „Historischen Drama“ Stauffenberg (1947), das Michel dem hingerichteten „Kameraden Claus Schenk von Stauffenberg“ widmet, dient George als Präfiguration für das Attentat.25 Wenn Stauffenberg im „7. Bild: Gewissensprüfung“ im Dialog mit seinem Adjutanten Haeften den „Tyrannenmord“ rechtfertigt, beruft er sich ausdrücklich auf Stefan George: S tauffenberg : Ich glaube an den Sieg über die Dämonen. Unsere Jugend ahnt ihn schon. Sie fühlt, daß ihr Leben falschen Zielen geopfert wird. Leider läßt ihr der Krieg zu wenig Zeit zur Selbstbesinnung, es würden sicher Stunden der Einkehr und Wandlung werden. So wie ich diese Jugend in den kurzen Kampfpausen erlebte, so sah Stefan George sie schon im Geist in seinem Lied über die kommende Jugend. H aeften (weich): Lassen Sie es mich hören! Jetzt, in diesem Augenblick, bitte. S tauffenberg (überlegt, sammelt sich): Wir werden nicht mehr starr und bleich Den früheren Liebeshelden gleich. An Trübsal waren wir zu reich. Wir zucken leis und dulden weich. Sie hießen tapfer, hießen frei Trotz ihrer Lippen manchem Schrei. Wir litten lang und vielerlei, Doch schweigen müssen wir dabei. Sie gingen um mit Schwert und Beil, Doch streiten ist nicht unser Teil. Uns ist der Friede nicht mehr feil Um ihrer Güter Weh und Heil. H aeften : Ob George die Umkehr geahnt hat?
24 25
Vgl. dazu Miriam Schumacher: Erzählen vom Widerstand als Erzählen von Gemeinschaft, Göttingen 2016. Karl Michel: Stauffenberg. Historisches Drama, Zürich 1947. Zu Michels mysteriöser Biographie vgl. Andrea Blunsch: Die Frau des Dorfarztes und der Wehrmachtoffizier. Eine Spurensuche, Zürich 2010. Das Drama ist bislang wenig gewürdigt worden; vgl. etwa Susanne M. Wagner: Bühne frei für die Verschwörer. Der 20. Juli 1944 im deutschen Drama, Saarbrücken 2010, bes. S. 79–103, die aber vorrangig die Geschichtsdramen mit dem historischen Geschehen abgleicht; daher geht Wagner auch auf die Bedeutung Georges für Stauffenberg nur am Rande ein.
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7. Nachkriegsdichtung
S tauffenberg : Er sah sie kommen. In seinen letzten Lebensjahren schrieb er mir von der Schweiz aus darüber. Schon um dieser Jugend wegen müssen wir dem Völkermorden ein Ende machen.26
In dem Dialog erklärt Stauffenberg den Dichter George zum Propheten einer generationellen „Wandlung“ der Jugend und geistigen Urheber des Tyrannenmords. Die Faszination, die der jugendliche Adjutant Haeften bekundet, als ihm Stauffenberg Georges Gedicht wie eine Losung weitergibt, verbürgt die Erfüllung der poetischen Vision. In Georges Poem aus den Traurigen Tänzen, der letzten Abteilung des Jahrs der Seele, distanziert sich ein lyrisches Wir in drei vierversigen Strophen aus jambischen Vierhebern mit eingängigem Haufenreim von der Vorgängergeneration.27 In kontrastiver Absetzung von der Streitlust „frühere[r] Liebeshelden“ übt sich die leidgeprüfte, friedfertige Jugend der Gegenwart in heroischem Dulden und Aushalten. Indem Michels Stauffenberg-Figur dieses George-Gedicht zitiert, spricht er die deutsche Jugend von der Kriegsschuld der Eltern („Sie gingen um mit schwert und beil“) frei und sieht sich selbst zum „Tyrannenmord“ verpflichtet. Auf ähnliche Weise wurde in der frühen Nachkriegsdichtung mehrfach die Heroisierung Stauffenbergs mit Stefan George verbunden. In dem Schauspiel Die Verschwörung (1949) verklärt Walter Erich Schäfer, der seit 1937 Mitglied der NSDAP war, in einer Art Selbstentnazifizierung die ‚Operation Walküre‘. Stauffenberg tritt zwar nicht auf, ist aber das Vorbild der Mitverschwörer, während ihn der SS-Kommandant Eichmann, als er einen Verhafteten nach dem „Chef des 20. Juli“ befragt, namentlich abtut als den „Versemacher“, den „mit den zwei Fingern“.28 Diese verächtliche Herabsetzung korrigiert Graf Schwerin, den Schäfer im Personenverzeichnis zu „Graf Loy“ verfremdet, im Verhör: „Der Dichter. Falls Sie das meinen, Herr Eichmann – ja“.29 Auch der SS-Brigadeführer Dr. Sonn, der sich am Schluss des Dramas als Widerständler und Saboteur offenbart, kennt den Zusammenhang mit
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Michel: Stauffenberg, S. 74 f. Michels Wiedergabe des Gedichts ist textgetreu; er übergeht lediglich die Strophenspatien, normalisiert die Orthographie und vereinfacht die Syntax. SW IV, 97. Walter Erich Schäfer: Die Verschwörung. Schauspiel, Überlingen (Typoskript) 1949, S. 80 f. Stauffenberg wird mehrfach namentlich erwähnt, etwa in dem Verhör mit Magda Hauff (ebd., S. 48 f.) und wird mehrfach antonomastisch als „diese[r] verschrobene[] Versemacher“ (ebd., S. 90) oder bloß „Versemacher“ (ebd., S. 95 und 100) diskreditiert. Wagner: Bühne frei für die Verschwörer, S. 104–138, dekonstruiert Schäfers Selbstdarstellung als angeblich oppositioneller Künstler im nationalsozialistischen Theaterleben. Die integrative Tendenz der Widerstandsdarstellung in Schäfers Drama erhellt Miriam Schumacher: Erzählen vom Widerstand als Erzählen von Gemeinschaft, Göttingen 2016, bes. S. 116 ff. Schäfer: Die Verschwörung, S. 95.
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dem George-Kreis und verbessert den brutalen Vorgesetzten Eichmann, als dieser den Namen des Dichters George aus Unkenntnis verballhornt: E ichmann : […] Schüler von Stefan Schorsch. – Wer ist das: Schorsch? S onn : Stefan George. Dichter.30
Ebenso deuten die antiken Präfiguranten für das Attentat, Aristogeiton und Brutus, die Graf Schwerin in seinem Verhör anführt, mittelbar auf eine Verbindung zu George.31 Auch in weiteren Dramatisierungen des 20. Juli wird George als persönliches wie weltanschauliches Vorbild Stauffenbergs und seiner Mitverschwörer gewürdigt: Ihr „Ethos der Tat“ wird auf ihn zurückgeführt. So fühlt in Walter Löwens Tragödie Stauffenberg (1949–1952) der Titelheld sich in seinem gefährlichen Vorhaben, ein Attentat auf Hitler zu verüben, durch Georges Gedicht Der Täter bestärkt: S tauffenberg : […] Letzte Nacht, als ich schlaflos dalag, fiel mir Stefan Georges Gedicht vom Täter ein, der alles vorausahnt und es dennoch tut: Denn morgen beim schrägen der strahlen ist es geschehn Was unentrinnbar in hemmenden stunden mich peinigt Dann werden verfolger als schatten hinter mir stehn Und suchen wird mich die wahllose menge die steinigt.32
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Schäfer: Die Verschwörung, S. 32. Eichmann nennt George, dessen Namen er noch nie gehört hat, einen „Gemütsakrobaten“ (ebd.). Schäfer: Die Verschwörung, S. 62. Friedrich Hölderlins Übersetzung des Skolions Reliquie des Alzäus [Alkaios] auf die antiken Tyrannenmörder Harmodios und Aristogeiton bildet den Subtext von Stefan Georges Gedicht im Stern des Bundes: „A uf neue tafeln schreibt der neue stand “ (SW VIII, 92); vgl. dazu Horst Rüdiger: Zur Problematik des Übersetzens. In: Antike und deutsche Bildung 1 (1938), S. 179–190, hier 187 f. George ersetzt das bei Hölderlin „mit der Myrte Ranken“ geschmückte „Schwerdt“ (Friedrich Hölderlin: Reliquie von Alzäus. In: F. H.: Sämtliche Werke, Bd. 5: Übersetzungen. Hg. von Friedrich Beißner, Stuttgart 1954, S. 31, V. 1) durch „den dolch im lorbeerstrausse“ (V. 8). Die im George-Kreis bekannten antiken Tyrannenmörder bezieht Wolfskehl unter Rückgriff auf George dann auf die Brüder Claus und Berthold von Stauffenberg; vgl. Karl Wolfskehl: „Zu Schand und Ehr“, V: „Vom Berg der Stauffer leuchtender Zwillingsturm“. In: KW I, S. 281. Walter Löwen: Stauffenberg. Tragödie. In: W. L.: Die deutsche Tragödie. Ideelle Trilogie mit den Dramen: Bernhard von Weimar, Marx in Köln, Stauffenberg, Hannover 1977, S. 141–198, hier 159. Zitiert wird die zweite Strophe von Georges Gedicht Der Täter aus dem Teppich des Lebens (SW V, 45). Löwens Tragödie, in der Hitler, Roosevelt und Stalin auftreten, reagiert insofern schon tendenziell auf den kalten Krieg, als es den Stalinismus mit dem Nationalsozialismus fast gleichsetzt. Susanne M. Wagner: Bühne frei für die Verschwörer, S. 190–208, geht auf Löwens Drama ein, ohne aber den George-Bezug genauer zu würdigen.
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7. Nachkriegsdichtung
Die situative Analogie zu dem Sprecher in Georges Rollengedicht lässt Stauffenbergs Attentat wie die Einlösung der poetischen Figuration erscheinen. Obschon diese Deutung durchaus nicht unumstritten war, relativierte sie das vorherrschende Ressentiment, in George einen Wegbereiter des Dritten Reiches zu sehen. Die Aufwertung Georges im Windschatten der frühen Heroisierung Stauffenbergs blieb in der Forschung bislang weitgehend unbeachtet.33 Ein Grund für dieses Versäumnis mag den beiden Verfilmungen des gescheiterten Hitler-Attentats aus dem Jahr 1955 geschuldet sein, die Stauffenberg zwar heroisieren, aber seinen intellektuellen Hintergrund – von George gar nicht zu reden – ausblenden.34 Dass George nicht einmal implizit eine Rolle spielt, zeigen die Schlussszenen. Der Film Es geschah am 20. Juli (1955), dessen Drehbuch Werner P. Zibaso gemeinsam mit Gustav Machatý verfasste und bei dem Georg Wilhelm Pabst Regie führte, hebt ganz auf den von Bernhard Wicki gespielten Stauffenberg ab; bei seiner Exekution, die den Film beschließt, ruft er in einer Großaufnahme den Satz „Es lebe das heilige Deutschland!“35 Für den cineastisch sehr viel anspruchsvolleren Film Der 20. Juli (1955), produziert von Artur Brauner, schrieben der Regisseur Falk Harnack, Werner Jörg Lüddecke und Günther Weisenborn das Drehbuch. Der Film, der das Geschehen durch fiktive Personen empathisch überformt, verbindet die Verschwörung der Offiziere mit dem sozialistischen Widerstand der Arbeiterschaft und schildert auch Treffen des Kreisauer Kreises. Auch wenn George unerwähnt bleibt, lässt sich eine Szene mittelbar auf ihn beziehen. Darin zitiert ein Kreis-Mitglied eine längere Passage aus Ernst Moritz Arndts Kurzem Katechismus für teutsche Soldaten (1813), in welcher die Soldatenehre dem Treueeid übergeordnet wird.36 Da Stauffenberg, gespielt von Wolfgang Preiss, der Rezitation und der ambivalenten 33
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Dominik Jost: Stefan George und seine Elite. Eine Studie zur Geschichte der Eliten, Zürich 1949, und Michael Petrow: Der Dichter als Führer? Zur Wirkung Stefan Georges im „Dritten Reich“, Marburg 1995, bes. S. 216 ff. („Ausblick“), weisen allgemein auf die polarisierte Nachkriegsrezeption hin; die Verbindung der frühen Nachkriegswirkung Georges zum frühen Stauffenberg-Kult in den ‚Juli-Dramen‘ erhellt knapp, aber instruktiv Schumacher: Erzählen vom Widerstand, S. 157 Anm. 469. Vgl. dazu Drehli Robnik: Geschichtsästhetik und Affektpolitik. Stauffenberg und der 20. Juli im Film 1948–2008, Wien 2009, und Tobias Temming: Widerstand im deutschen und niederländischen Spielfilm. Geschichtsbilder und Erinnerungskultur (1943–1963), Berlin und Boston 2016, der allerdings weniger auf die Filme als auf die zeitgenössische Kritik abhebt. Auf George und mögliche Referenzen auf ihn in den Filmen gehen beide Studien nicht ein. Es geschah am 20. Juli. Spielfilm. Arca-Film, Göttingen, und Ariston Film, München 1955; Einstellung: 01:11:01–02. Der 20. Juli. Spielfilm. CCC-Film, Berlin (Artur Brauner) 1955, Einstellung: 35:40–36:30. Der nationalistische Tenor Arndts wird dadurch gemildert, dass der Titel zum „Katechismus für den Soldaten“ abgeändert wird.
7.1. Kreisaffine Verteidigung Georges gegen den Faschismus-Vorwurf
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Reaktion eines Offiziers („Großartiger Mann, dieser Arndt, aber eben doch ein Dichter“) im Hintergrund aufmerksam zuhört, deutet die Szene immerhin die legitimatorische Funktion der Dichtung für sein Attentat an. Stauffenbergs Hinrichtung wird allerdings insofern relativiert, als er nicht in Großaufnahme, sondern lediglich in einer Totalen mit den anderen Verschwörern gezeigt wird, und erst der Freitod General Henning von Tresckows den Film beschließt. In der Totalen zwar ist Stauffenberg als Urheber des Rufs „Es lebe unser heiliges Deutschland!“ zu erkennen,37 doch lässt sich das kollektive Bekenntnis kaum noch auf Georges ‚Geheimes Deutschland‘ beziehen. Mit Stauffenberg argumentierten auch die pädagogischen Berufungen auf George im Nachkriegsdeutschland, erhoben vor allem von Werner Picht und Hellmut Becker. Ihre problematische Vorgeschichte und Wirkung hat Ulrich Raulff hervorgehoben. Werner Picht etwa war ein großer GeorgeVerehrer, bevor er als Pressereferent beim Oberkommando der Wehrmacht in Berlin nationalsozialistische Propagandaschriften verfasste. Nach dem Zweiten Weltkrieg knüpfte er an seine „kritische Huldigung“ für George an.38 Er nahm ihn für das „Attentat gegen den ‚Führer‘“ in Anspruch, das „der von George erzogene Claus von Stauffenberg […] unternahm und mit seinem Leben bezahlte, eine Tat, ohne die wir Heutigen nicht den Blick zu erheben vermöchten. Die letzten Schicksale des Volkes hatten sich in seiner [scil. Georges] Dichtung enthüllt“.39 Picht bezeichnet George als „ein[en] Schutzgeist der Deutschen. […] Die Untergänge, in denen wir stehen und die uns bedrohen, lehrt seine durch nichts zu beirrende Zuversicht unverzagt zu bestehen als Durchgang zu neuer Geburt“.40
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Der 20. Juli. Spielfilm, Einstellung: 01:32:02–04. Werner Picht: Stefan George. Eine kritische Huldigung, Heidelberg 1931, und W. P.: Besinnung auf Stefan George, Düsseldorf und München 1964. Als Werner Picht: Vom Wesen des Krieges und vom Kriegswesen der Deutschen, Stuttgart 1952, S. 14, sich in die Wiederbewaffnungsdebatte zu Beginn der 50er Jahre einschaltete und auf die Technisierung des modernen Krieges hinwies, berief er sich auf George, ohne dessen Namen zu nennen: „Der Dichter ermaß schon damals die Tragweite des Geschehens: ‚Der alte Gott der Schlachten ist nicht mehr.‘ Das ist präzise Erkenntnis“. – Werner Pichts George-Verehrung machte sich auch sein Sohn Georg Picht zu eigen, der die „Bildungskatastrophe“ in der frühen Bundesrepublik anprangerte und bei aller elitären Orientierung an George eine Demokratisierung der Bildung anstrebte. Dazu einlässlich Raulff: Kreis ohne Meister, bes. S. 481–496 und passim, der Beckers Einfluss auf die frühe Bildungspolitik der Bundesrepublik Deutschland stark hervorhebt. Picht: Besinnung auf George, S. 71. Picht: Besinnung auf George, S. 72.
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7.1.2. Schweizer Stimmen: Herman Schmalenbach und Wolfram von den Steinen Bereits am 1. Oktober 1945 trug der Sozialphilosoph Herman Schmalenbach (1885–1950), zwischen 1908 und 1912 dem George-Kreis zugehörig und seit 1931 Professor an der Universität Basel, in einem Radiovortrag seine Erinnerungen an Stefan George vor. Der persönliche Rückblick hebt auf „die Präsenz, die Prägnanz und die Plastik“ von Georges Erscheinung ab. Indem Schmalenbach ausschließlich auf die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg eingeht und die nationalsozialistische Ära sowie den Zweiten Weltkrieg ganz ausblendet, historisiert er George und trennt ihn weltanschaulich von der konservativen Revolution. Den so von der unheilvollen Wirkung isolierten Dichter wertet Schmalenbach sogar zum charismatischen Vorbild auf, indem er den Kreis mit der „edelsten Jugend“ identifiziert, „die es damals in Deutschland gab“, und dankbar daran erinnert, „in Stefan George einem Beispiel menschlicher Grösse begegnet zu sein, das sowohl in seiner Art wie seinem Rang nach unvergleichlich war“.41 Solche Aufwertungen Georges unmittelbar nach Kriegsende blieben allerdings vereinzelt und ließen sich wohl eher in der neutralen Schweiz äußern als in der neu formierten Bundesrepublik Deutschland oder gar in der Deutschen Demokratischen Republik. So verfasste der deutsch-schweizerische Historiker Wolfram von den Steinen am 1. Dezember 1953 eine Rede Zum 20. Todestage.42 Um die unzeitgemäße „Fremdheit“ des Phänomens zu „überspringen“, bezieht sich von den Steinen „vornehmlich“ auf „Stefan Georges frühere Tage“ (Bl. 1): „Er träumte sein kindliches Königtum im selbstgeschaffenen Staat, wo die Besten den Glanz seiner selbstgeschmiedeten Krone und im schimmernden Saal seinem wunderkündenden Worte lauschten“ (Bl. 4). Von den Steinen stilisiert George zum Seherdichter, der bereits im Ersten Weltkriege „nur das Flammenzeichen weit entsetzlicherer Untergänge“ gesehen habe (Bl. 5). Um jegliche Nähe Georges zum NS-Unrechtsstaat in Abrede zu stellen, nennt von den Steinen keine historischen
41 42
Herman Schmalenbach: Erinnerungen an Stefan George. Radiovortrag 1. Oktober 1945 [Typoskript], Nachlass Schmalenbach (UB Basel), NL 106, VII 25, S. 7. Wolfram von den Steinen, 1921 bei Friedrich Wolters promoviert, wirkte seit 1938 an der Universität Basel, wo er 1928 habilitiert worden war, als Professor für mittelalterliche Quellenkunde und allgemeine Geschichte des Mittelalters; hier NL Steinen (UB Basel) NL 85: A III/b/61/1. Die Rede liegt in drei Typoskript-Fassungen und in einer handschriftlichen Version vor. Im Nachlass findet sich auch die maschinenschriftliche Fassung zum 25. Todestag des Dichters aus dem Jahre 1958 (NL 85: A III/b/60/1 und 2). Darin wird der Zeitbezug sehr viel deutlicher. Die eingeklammerten Blatt-Zahlen im Text beziehen sich auf die handschriftliche Version: Stefan George zum 20. Todestage, die wegen der Durchstreichungen und Korrekturen rezeptionsgeschichtlich aussagekräftiger ist.
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Namen und Daten. Stattdessen verklärt er George zum Propheten des Zweiten Weltkriegs, der, auch wenn ‚Fliegerbomben‘ erwähnt werden, doch nur vage als „verfinsterte Zeit“ umschrieben wird. Welche redaktionelle Mühe diese Passage von den Steinen bereitete, zeigen allerdings die Durchstreichungen und Neuansätze: Und er erwartete nie andres als was ein Jahrzehnt nach seinem Tode eintraf: Und er erwartete nie andres als was ein Jahrzehnt nach seinem Tode eintraf dass auch auf sein kleines Haus die Bomben fielen. Aber heilig war es ihm, dies: noch vor dem furchtbaren Völkerwinter die Saat des kommenden Frühjahrs auszusäen – eine Haltung auszuprägen in der verfinsternden Z[eit] die Kräfte der schönen Herdflamme zu hüten in der gottgewollten Vernichtung in der verfinsterten Z[eit] die schöne Flamme auf dem Altar zu hüten. Nicht die gerechten Folgen eines falschen Tuns abzuwarten schien ihm gut, sondern mit dem richtigen Tun zu beginnen“ (Bl. 5–6).
7.1.3. Edward Jaime: D em G enius (1948) Nach Kriegsende bemühte sich Edward Jaime, schon vor dem Krieg ein heftiger Verehrer des Meisters, um eine Rehabilitation Georges. Gegenüber Boehringer klagt er: „Was die heutige deutsche Presse über Stefan George und sein Werk ‚kritisch‘ zusammenlügt, stinkt zum Himmel. Leider nicht nur in der purpurn angeröteten Ostzone, sondern auch hier im Westen“.43 Unter dem Titel D em G enius verfasst Jaime „zum 12. Juli 1948“, also zum 80. Geburtstag Georges, einen siebenteiligen Sonettzyklus.44 Der kunstvolle Zyklus ehrt nicht nur den namentlich nicht genannten „Genius“ George, sondern auch Karl Wolfskehl, der am 30. Juni 1948 im neuseeländischen Auckland gestorben war. Denn, wie Jaime selbst angibt, sind „die in versalien geschriebenen anfänge der Sonette […] einem vor 50 jahren entstandenen gedicht Karl Wolfskehls entnommen“.45 Wolfskehls Gedicht, aus dem Jaime Verse für seine doppelte poetische Hommage borgt, ist die Nänie N. G., ein „trauergedicht“ auf den Tod des griechischen Genre- und Monumentalmalers Nikolaus Gysis.46 Die letzten
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Edward Jaime (Hannover) an Robert Boehringer (Genf) am 30.9.1948. StGA, Boehringer III, 1503. 44 Edward Jaime: D em G enius . Zum 12. Juli 1948, Autograph. StGA, E. Lachmann III, 2431a. 45 Jaime: D em G enius , [Titelblatt]. 46 Karl Wolfskehl: [Nänie] N. G. [zuerst in: BlfdK 6 (1902/03), S. 25]. In: KW I, S. 9 f. Verfasst hat Karl Wolfskehl das Trauergedicht, wie er Friedrich Gundolf am 14.6.1902 mitteilt, unter dem Eindruck der bebilderten Monographie von Marcel Montandon: Gysis, Bielefeld und Leipzig 1902; vgl. Karl und Hanna Wolfskehl: Briefwechsel mit Friedrich Gundolf,
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acht Verse der zehnversigen Schlussstrophe bilden die Incipits von Jaimes Zyklus: Denn deines lebens zitternde abendspur Ist unser weg nicht, ruhe du im hain! Der erde rote gluten brechen aus Ein uralt neu geschlecht von gott-dämonen Rollt seine donner über uns · blutqualm Schwillt aus den höhlen auf in flackernde nacht Die von gebärens wehen schwer erstöhnt · In rausches reigen schlürfen wir das dunkel: Doch unser dankgedenken ehrt dich ewig Der ein elysisch schaun uns noch gegönnt.47
Während Wolfskehls reimloses Trauergedicht Leben und Kunst des verstorbenen Künstlers Nikolaus Gysis zur Epiphanie verklärt und damit die Präsenz „himmlischer Gestalten“ verbürgt, überträgt Jaime in seinem Sonettzyklus diese neue Glaubensgewissheit auf den Kreis ohne Meister, der in dem Schlussgedicht apostrophiert wird: „Dein Reich besteht und wir sind Deine Erben | Im ziel gesellt · dem ort nach nur getrennt“ (VII, V. 3–4). Wie Jaime die Nänie Wolfskehls in seine Dichtung verwebt und mit Einsprengseln aus Georges Werk bereichert, um die „in alle Welt“ zerstreute „runde“ als Gemeinschaft im Geiste des „Meister[s]“ (VI, V. 2–3) zu bestärken, zeigt exemplarisch das V. Sonett: D ie von gebärens wehen schwer erstöhnt : Die hure zeit vom alten wahne trächtig Entbindet wieder wahn und schwatzesmächtig ›Zum Nichts‹ des neuen aeons ruf ertönt. Mit tier rang tier! viel völker unversöhnt · Gemein die not: schon wölbt sich abwärts · schächtig Ein Hades toter weltstadt grau und nächtig Das leben schlingend das den Gott verpönt.
47
1899–1931. Hg. von Karlhans Kluncker, 2 Bde., Amsterdam 1977, hier Bd. 1, S. 158. Nikolaus Gysis (1842–1901), der 1866–69 bei Piloty studiert hatte, war seit 1882 Professor an der Münchner Akademie. Inwieweit Wolfskehls Nänie N. G. ekphrastische Referenzen zu Gemälden Gysis’ enthält, verdiente eine genauere Betrachtung. Wolfskehl: [Nänie] N. G. In: KW I, S. 9 f., V. 24–31. Jaime: D em G enius , lässt die ersten beiden Verse aus, in denen sich das lyrische Wir in einer Apostrophe von dem toten Maler Nikolaus Gysis distanziert, und folgt den abschließenden acht Versen. In das fünfte Sonett integriert er zwei Verszitate.
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I n rausches reigen schlürfen sie das D unkel Den lichtgott schmähend der sie gross gemacht Wie alte weiber klatschend an der kunkel. Nur eine · Deine · kleine schar entfacht Vom geist sieht über sich im glanz gefunkel: Ihr Stern des Bundes leuchtet in der nacht.48
Um mit seiner Dichtung die Gemeinschaft der George-Anhänger zu stärken, verfährt Jaime kontrastiv: Mit allgemeinen, mythologischen und allegorischen Bildern und Vergleichen malt er ein drastisches Zerrbild des Kriegsendes bis zur Gegenwart, des geteilten Deutschland nach der Währungsreform 1948. In einer gezielten Enthistorisierung distanziert er sich im ersten Terzett von der herrschenden Mehrheit, Sie ist im Personalpronomen „sie“ repräsentiert, welches das ‚wir‘ in Wolfskehls zweitem Zitat ersetzt (V. 9), und wird im doppelt alliterierenden Vergleich herabgesetzt („Wie alte weiber klatschend an der kunkel“ [V. 11]). Den ‚viel zu Vielen‘ wird im zweiten Terzett Georges „kleine Schar“ gegenübergestellt. Jaimes enthistorisierende Technik zeigt sich nicht nur im Rückgriff auf Wolfskehls frühe Nänie, sondern auch in der animalischen Verbildlichung des Krieges „Mit tier rang tier“. Alludiert wird in der paronomastischen Wendung der Titel von Anton Schnacks Gedichtband Tier rang gewaltig mit Tier (1920), ein formal wie stilistisch radikaler Zyklus langzeiliger Sonette auf den Ersten Weltkrieg. Mehr noch: Mit dem „Stern des Bundes“ im Schlussvers wird sowohl der Titel von Georges Gedichtband aus dem Jahre 1914 zitiert, als auch die Gemeinschaft einer Elite in der Tradition des George-Kreises evoziert. Wie sehr Jaime mit den Referenzen auf Georges Dichtung die zerstreuten Anhänger des ‚Kreises ohne Meister‘ mahnt, auch über das Kriegsende, auf das „die städte die verbrannten“ anspielen, „unsrer satzung“ treu zu bleiben, zeigt das Sextett des vorletzten Sonetts mit dem bezeichnenden, von Wolfskehl geborgten Incipit „Ja ewig ehrt dich unser dankgedenken“: Du schufest Deinen staat auf Deiner erde Im unbekannten raum des allbekannten Darin aus traum und tod die tat uns werde. Nah ruhn und fern die städte die verbrannten · Still strahl die stete glut von Deinem herde Und Dir Du Flamme bleiben wir trabanten.
48 Jaime: D em G enius , [Sonett] V.
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Jaime erinnert in einer Apostrophe an Georges Neues Reich und die daraus erwachende Pflicht seiner Anhänger zu einem ‚Ethos der Tat‘, indem er die Zwillingsformel „Traum und Tod“ aus dem Teppich des Lebens und den Liedern von Traum und Tod (1900) um die alliterierende „Tat“ zu einer Drillingsformel erweitert. Der Schlussvers apostrophiert zwar George, mahnt aber im einvernehmlichen ‚wir‘ mit adhortativem Gestus mittelbar die Kreis-Mitglieder an das Incipit des bekannten Gedichts aus dem Stern des Bundes, das eine Verstetigung der einmaligen Bindung verlangt: „Wer je die flamme umschritt / Bleibe der flamme trabant!“ Zitierend sich die Autorität Georges und Wolfskehls zunutze machend, appelliert Jaime, zwischen Bekenntnis und Mahnung changierend, an die durch das NS-Regime und den Zweiten Weltkrieg versprengten Georgianer, den Kreis auch ohne Meister wieder zu schließen.
7.1.4. Späte Allianz: Rudolf Pannwitz und Hanns Meinke Solche Rückgriffe und antiquarisch anmutenden Bezugnahmen sind letztlich implizite ‚Rettungen‘ Georges vor dem im Nachkriegsdeutschland doch mindestens unterschwellig verbreiteten Faschismus-Verdacht. Dass es bei einem Nebeneinander von kollektivem Schweigen und vereinzelten lyrischen Rehabilitationen blieb und kein wirklicher Austausch zustande kam, lag auch an den Fürsprechern. Zum einen waren es überwiegend parteiliche Stimmen der älteren Generation, die sich im literarischen Feld der Bundesrepublik nicht recht durchsetzen konnten, zum andern kulturpolitisch isolierte Kreis-Anhänger und George-Epigonen und zum dritten sind die Stefan George ehrenden Dichtergedichte nach 1945 ästhetisch einem überholten Formkonservatismus verpflichtet – bisweilen vereinigten die postumen Lobredner alle drei Aspekte in Person und Werk. Umso mehr fallen die wenigen poetisch eigenständigen, freilich unzeitgemäßen Ausnahmen auf. Genannt sei exemplarisch das Heischelied von Rudolf Pannwitz, der mit seiner eigenwilligen mythopoetischen GeorgeHommage aus der konventionellen Verehrung ausschert: Seine Evokation Stefan Georges im Verbund mit Goethe und Nietzsche als dreier „Stammgötter“ imaginiert visionär, durch das Präteritum jedoch als ein sich ereignetes Geschehen beglaubigt, eine Auferstehung und – in polysyndetischem Pathos – eine Weihe Stefan Georges, die sein Nachleben als Fortwirken in Deutschland verbürgt: Nun auch regte das grab sich Im flecken Minusio. heros George Dem in den schenkel der gott genäht war
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Stemmte die fäuste gegen die granitnen platten Und verletzte die sieben lorbeerbäume nicht. Er erhob sich und stand auf und segnete: Kein anschaubares sondern das unsichtbare.49
In einer kühnen Synkrisie etabliert Pannwitz mythisch-religiöse Präfiguranten für George und erhebt ihn so zur Kultfigur, zum „heros George“. Indem Maximin mit Dionysos parallelisiert wird, den Zeus drei Monate im Schenkel trug, erscheint George implizit als Göttervater. Da auch die Lorbeerbäume um das Grab in Minusio auf den Dionysos-Mythos und die Sieben vor Theben anspielen, wird der blasphemische Aspekt der angeblichen Auferstehung Georges, der wie Christus seinen Segen erteilt, mythologisch abgemildert. Hatte sich Rudolf Pannwitz zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Heraus geber der Zeitschrift Charon noch zum programmatischen Antipoden Stefan Georges stilisiert, sah er ihn spätestens ab dem Jahr 1910 wohlwollender.50 So vermittelte er unter anderem den Kontakt zwischen George und Hanns Meinke, dessen George gewidmete Akrosticha jedoch erst ab den 50er Jahren entstehen.51 Meinke, dem eine Begegnung mit George zeitlebens verwehrt blieb, schwankt in seiner Dichtung zwischen formstrenger Ehrerbietung und thematischer Emanzipation.52 Im Castrum Peregrini hat er seine lebenslange Verehrung für George geschildert, von dem er als ebenbürtiger poeta vates anerkannt zu werden wünschte.53 Im Jahre 1961 publiziert Meinke im
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Rudolf Pannwitz: Deutschland [I]: Die Stammgötter. In: CP 4 (1951), S. 36 f., hier 37. Der Deutschland-Zyklus von Pannwitz umfasst vier Gedichte. Hanns Meinke gibt über diese Entwicklung Zeugnis: „Ich [war] also über Nacht ein Charontiker geworden und damit ein Antipode Stefan Georges und seines Kreises. Das blieb so während der folgenden Jahre, in denen fast in jedem Charon-Heft Beiträge von mir standen. Bis Pannwitz sich immer mehr von Otto zur Linde trennte und auch meine Bindungen an den Charon lockerer wurden. Ich hatte mir in diesen Jahren den ‚Siebenten Ring‘, die ‚Zeitgenössischen Dichter‘ und die ‚Shakespeare Sonnette‘ von George besorgt. Die hatte ich unterwegs mit, als ich mit Pannwitz zwischen Weihnachten und Neujahr 1910 nach Dessau fuhr. Wir sprachen ausführlich über diese Umdichtungen, und es zeigte sich, dass Pannwitz inzwischen doch eine Wendung zu St. G. hin gemacht hatte.“ In: Hanns Meinke: Stefan Georges Spruch „H. M.“. In: CP 48 (1961), S. 37–43, hier 40–41. S. Hanns Meinke: Stefan Georges Spruch „H. M.“, S. 43: „Etwa zwei bis drei Jahre vor seinem Tod schickte ich Stefan George noch ein paar Abschiedsstrophen. Die Akrostichen an ihn sind erst viel später entstanden.“ Vgl. etwa Meinkes Gedichte in: Das Gedicht. Hg. von Heinrich Ellermann, in Vertretung Rudolf Ibel, 2 (1936), Folge 8. Hanns Meinke: Stefan Georges Spruch „H. M.“. In dieser Reflexion stellt Meinke sein Verhältnis zum George-Kreis dar und beleuchtet den Entstehungshintergrund von Georges Spruch. Über Gundolf ließ George folgende Verse als Antwort auf Meinkes Sonettenkränze übermitteln:
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Castrum Peregrini ein Liebesgedicht Für Stefan George aus dem Jahre 1918, in dem er die Abweisung, die George ihm 1912 in dem Spruch H. M. (SW IX, 78) übermittelte, für die Wiederveröffentlichung nur gering überarbeitete.54 Meinke wirbt um „des meisters hand in liebe“ (V. 43) und illustriert sein vergebliches erotisches Begehren im Bild eines „bruderkelch[s]“, der „verschlossen“ ist (V. 48 f.). Er steigert gar das Pathos des Werbenden, indem er den Vers: „Ich unterwerfe jeder prüfung mich“ zusätzlich wiederholt (V. 23 und 35) und den blasphemischen Schluss fast unverändert beibehält: „So kämpft mein sang mit Deinem kühlen geist | Ring ich mit Dir wie Jakob mit dem engel: | ‚Ich lasse nicht, Du segnetest mich denn‘!“ (V. 69–71).55 Mit dieser Wiederveröffentlichung bekundet Meinke seinen Anspruch, dem imaginären George-Kreis der Nachkriegsära anzugehören. Damit negiert er auch jeglichen geschichtlichen Bruch in seiner Verehrung Georges. In dem wohl in den 50er Jahren entstandenen Akrostichon, auch eine stilimitatorische Hommage an George, bekennt sich Meinke retrospektiv zu dem lebenslangen Geleit, das er durch George erfuhr:56
54
55 56
Ein weiser ist der beim getöse vieler sein ton- und farbenstäbchen treu mag führen – doch weiser noch wer auch als bester spieler manchmal es frevel nennt an harfen rühren. Diesen poetischen Vorbehalt gegen den Typus des ‚Spielers‘, den George wohl in Meinke sah, nahm er in leicht geänderter Fassung in das Neue Reich auf (SW IX, 78). Vgl. dazu die Deutung von Gunilla Eschenbach: Imitatio im George-Kreis, Berlin und New York 2011, bes. S. 180–194, hier 187 f. Hanns Meinke: Für Stefan George. In: CP 48 (1961), S. 44–46, hier 44; auf diesen Abdruck beziehen sich im folgenden Passus die eingeklammerten Verszahlen im Text. Der präsentische Gestus wirkt in der postumen Version allerdings ebenso deplatziert wie die Wendung: „Willst Du nicht einmal leibhaft mir begegnen / In dieser erdenspanne?“ (V. 6 f.). – Eine Transkription der Version von 1918 bietet Eschenbach: Imitatio im George-Kreis, S. 336– 339. Der Schluss der Fassung von 1918 lautet: „So kämpft mein lied mit Deinem kühlen Geist / So ring mit Dir ich: Jakob mit dem Engel: / Ich lass dich nicht · Du segnetest mich denn!“ (V. 69–71, zit. nach Eschenbach: Imitatio im George-Kreis, 339). Vgl. Hanns Meinke: „Stern schon meiner knabenjahre“. In: H. M.: Ausgewählte Dichtungen. Zusammengestellt und mit einem Nachw. vers. von Helmut Röttger, Kastellaun 1977, S. 43. – Allein die Form des Akrostichon ist insofern eine Hommage für George, als dieser im Stern des Bundes in sein Gedicht „Hier schliesst das tor: schickt unbereite fort“ (SW VIII, 100) das Wander-Akrostichon „Hölderlin“ eingefügt hatte. Dementsprechend könnte Meinkes Akrostichon andeuten, dass Georges Dichtung für ihn das sei, was Hölderlin jenem bedeutete. – Hanns Meinke: Akrostichon. In: CP 176 (1987), S. 54, greift auf das Akrostichon auch als kreisinterne Form poetischer Huldigung zurück: So ergeben die Strophenanfänge eines Sonetts von 1971 den Namen ‚Wolfgang Frommel‘.
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S tern schon meiner knabenjahre T önend sphärischen gesang. E rnsten efeukranz im haare F ührtest du zum opfergang A ll mein singen – all mein lieben: N icht ein rest ist mir verblieben. G oldne garben meines lebens E rnte bringe ich dir dar: O pfernd dir der meines strebens R ufer richter führer war. G eh ich denn den opfergang E ndend alles im gesang.
Während sich Rudolf Pannwitz in den 50er Jahren von Georges geistigen Erben aus dem Kreis des Castrum Peregrini distanzierte und seine GeorgeVerehrung von der Gruppe deutlich abgrenzte, ermunterte er seinen Freund Hanns Meinke weiterhin im Castrum Peregrini zu publizieren: Ich würde es für Dich für das beste halten wenn du im Castrum Peregrini gedruckt würdest. es trifft sich unglücklich dass – als von mir nicht ablösbar, woran ich ja nicht dachte! – der Runenring dort nicht erscheinen kann. es hat aber nicht das geringste mit Dir betr. Frommel zu tun. nur ich muss mich streng und völlig fern halten nach immer wiederholten erfahrungen die zu erzählen nur das papier belasten würde.57
Im Folgejahr erneuert Pannwitz seine distanzierte Haltung zu Frommel und seinem publizistischen Organ: Sind Deine Ghaselen im Castrum Peregrini solche die ich kenne? ich habe mich – aus sehr ernsten gründen – vollständig zurückgezogen erhalte also die zeitschrift nicht mehr und möchte auch nicht die verbindlichkeit auf mir haben dass ich dort für eine sendung danken müsste.58 57 58
Unveröffentlichter Brief von Pannwitz (Lugano) an Meinke am 13. August 1952. DLA, A: Meinke, 98.146.2/6. Unveröffentlicher Brief von Pannwitz (Lugano) an Meinke am 23. März 1953. DLA, A: Meinke, 98.146.2/14. Pannwitz informiert darin Meinke von Claude Davids französischer Studie zu Georges dichterischem Werk, die Zusammenhänge und Referenzen erhellt, aber den Widmungsträger „H. M.“ für unbekannt erklärt: „Das grosse französische werk über George von Claude David wird wohl nicht zu Dir gedrungen sein. es sind 400 grosse seiten streng ja minutiös literaturgeschichtlich, alle quellen benutzend, dazu auf persönlichen mitteilungen von Boehringer und Salin fussend. fast jedes gedicht ist einzeln zum mindesten genannt, die an welche es gerichtet ist und alle beziehungen sonst aufgehellt. ich erhielt das buch vom verfasser und habe daraufhin ihm unter anderem geschrieben, wer H. M. ist da er im texte ausdrücklich sagt dass er unbekannt sei. auch Boehringer habe ich es geschrieben und ihm auch die erste fassung mitgeteilt. doch sprich bitte nicht davon. ich habe mich
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7.1.5. George-Verehrung im Castrum Peregrini: Wolfgang Frommel und Friedrich Buri Die Topik der poetischen George-Verehrung im Castrum Peregrini kann hier nicht im Einzelnen gewürdigt werden. Die wesentlich von Wolfgang Frommel getragene Stiftung und Zeitschrift trug insofern maßgeblich zur Rehabilitation Georges im Nachkriegsdeutschland bei, als sie den Dichterkult aus dem Geist des Widerstands wiederbelebte.59 Zu den Mitgliedern der Stiftung, die in der Amsterdamer Herengracht residierte, zählten jüdi sche Exilierte, Deutsche im niederländischen Exil und Mitglieder des niederländischen Widerstands. Diese durch Emigration und Krieg versprengte Gemeinschaft berief sich auf den Geist Georges und seines Kreises, auch wenn dieses ethisch-ästhetische Bündnis sehr breit und allgemein ausgelegt wurde. Wie entscheidend George für die Kohäsion dieser Gruppe war, zeigt paradigmatisch die mit eigenen Dichtungen im Stile Georges und mit Zitaten aus dessen Werk durchsetzte Korrespondenz von Manuel Goldschmidt und Claus Victor Bock, zwei deutsch-jüdischen Jugendlichen, die „unter der Obhut des Dichters Wolfgang Frommel“ lebenslang Freunde wurden.60 Frommel hatte sich eine selbstlegitmatorische Gründungslegende erschrieben, indem er – nach dem Vorbild von Dantes Vita nuova – eine angebliche Begegnung mit Stefan George in Heidelberg im Jahre 1923 poetisch
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gewöhnt all solche dinge im stillen zu machen. es gibt immer zu viele die es nichts angeht. – Das dichterische und noch manches anderes ist in dem buche nicht ausreichend verstanden. es ist ein absolut französisches buch doch als solches das würdigste und äusserst instruktiv.“ Im folgenden Brief an Meinke spricht er davon, sowohl Boehringer als auch David die erste Fassung des Gedichtes übermittelt zu haben und kommentiert: „Boehringer hat sich sehr gefreut dass er die erste fassung bekam die er noch nicht kannte. – Du bist also nun ganz in weihrauch erstickt worden! ich habe es für mich rechtzeitig verhindert. allerdings ist es dir ganz toll ergangen und ein glück nur dass Du es mit fassung erträgst. für die abschrift schönen dank. es ist zu lesen belustigend – und doch traurig wenn Moissi den George spielt . . Ich habe an Claude David über den Verlag geschrieben wie auch seine sendung über den Verlag kam“ (DLA, A: Meinke, 98.146.2/15). Zu Frommels Rolle im Castrum Peregrini und zur Verehrung Georges als kohäsivem Element vgl. Günter Baumann: Dichtung als Lebensform. Wolfgang Frommel zwischen George-Kreis und Castrum Peregrini, Würzburg 1995. Einen einführenden Überblick über Frommel und das Castrum Peregrini bietet Els Andringa: Deutsche Exilliteratur im niederländisch-deutschen Beziehungsgeflecht. Eine Geschichte der Kommunikation und Rezeption 1933–2013, Berlin und Boston 2014, bes. S. 209–218. Ganz auf die Dekonstruktion der Gründungslegende und wenig auf deren Form und Funktion bedacht, argumentiert der erhellende Essay von Thomas Karlauf: Meister mit eigenem Kreis. Wolfgang Frommels George-Nachfolge. In: Sinn und Form 63 (2011), Heft 2, S. 211–218. Vgl. „… überhaupt fehlst Du mir sehr.“ Die Freundschaft zweier junger Exilanten. Der Briefwechsel von Manuel Goldschmidt und Claus Victor Bock (1945–1951). Hg. von Leo van Santen, Berlin 2017, S. 8.
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ausmalte. Sein „Bericht“ Der Dichter (1950) stilisiert den „Meister“, dem Frommel nach langwieriger Vermittlung durch den zum „freund“ anonymisierten Percy Gothein endlich begegnet, zu einer Epiphanie: „ein wesen von so ungeteilter gegenwart und zugleich von dieser raum- und zeitentiefe · von solcher fülle und erdhaften ballung und zugleich so fremd dem vordergründigen zeitgemässen heute“.61 Der Rezitation einiger George-Gedichte folgt ein Gespräch, das zur plötzlichen Selbstfindung Frommels führt.62 Georges Antwort auf dessen Frage nach den Rechten des „Eros“ wird aber mysteriös übergangen, um abschließend das Treffen und die vom ‚Meister‘ verbürgte Initiation zum Dichter – der Titel bezieht sich sowohl auf George wie auf Frommel – epochal zu überhöhen: „Dann erhob ich mich und schrieb ohne zu zittern auf einen grossen leeren bogen: I ncipit vita nova / E in neues sein beginnt .“ 63 Mag Frommel das Treffen mit George auch nur erfunden haben, so unterstreicht Thomas Karlauf zu Recht die Authentizität der George-Nachfolge Frommels, der „den Stoff, den er vorfand, […] sich und seinen speziellen Interessen so gründlich anverwandelt [hat], daß daraus etwas Neues entstand“; Frommel sei am Ende beides gewesen: legitimer Erbe und Meister mit eigenem Kreis.64 Von den vielen, oft ephemeren poetischen Huldigungen im CastrumKreis um Frommel sei der Zyklus von Sechs Gedichten an den Meister exemplarisch betrachtet: Sein Verfasser Friedrich Buri, mit bürgerlichem Namen Adolf Friedrich Wongtschowski, hatte, einer deutsch-jüdischen Familie entstammend, als enger Freund Wolfgang Frommels in Amsterdam die deutsche Okkupation überlebt.65 Anders als Frommel – so zweifelhaft auch dessen angebliches Treffen mit George ist – kann sich Buri nicht auf eine Zusammenkunft mit George berufen. Prämisse der Gedichte ist vielmehr die ausgebliebene Begegnung, auf die ostentativ in den gleichbleibenden Anfangsversen „Ich sah dich nie“ hingewiesen wird; doch thematisch wie formal bedeutsam ist der Vergleich von Gegenwart und Vergangenheit: In einer messianischen Überblendung Stefan Georges bekennt der Dichter im ersten Gedicht: „[…] es mag viele weine geben: | Die mir bekommen sind nur deine reben | Dein brot allein bewahrt mich vorm erschlaffen“ (I, 6–8) 61
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[Wolfgang Frommel:] Der Dichter. Ein Bericht, Amsterdam [Privatdruck in 100 Exemplaren] 1950, S. 59. Ohne auf die literarische Form des „Berichts“ einzugehen, bemüht sich Karlauf: Meister mit eigenem Kreis, vor allem darum, die angebliche Begegnung als Schwindel zu entlarven. [Frommel]: Der Dichter, S. 71: „Da geschah an mir · was selbstverständlich scheint und was doch selten nur ein mensch erfährt: ich wusste wer ich war!“ [Frommel]: Der Dichter, S. 76. Thomas Karlauf: Meister mit eigenem Kreis, S. 218. Friedrich W. Buri: Sechs Gedichte an den Meister. In: CP 12 (1953), S. 56–59. Zitate aus dem Zyklus werden mit der Nummer des Gedichts und der Versangabe nachgewiesen.
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und schließt mit der religiösen Allusion: „Weil du am leben warst kann ich nicht sterben“ (I, 15). Die Taten des verstorbenen ‚Meisters‘ wirken sich noch auf die Gegenwart aus, indem sie von inspirierten Anhängern tradiert werden. Buris Zyklus oszilliert zwischen einer eigenen Mittlerrolle66 und dem imperativischen Sprechen an eine Verehrergemeinde, die für das Weiterleben Georges verantwortlich zeichnen soll: „Drum hütet streng und nährt in unsrer gilde | Ein jeder was von dir ihm eingeflossen“ (III, 11–12). Steht zu Beginn noch der Kontrast zwischen Gegenwart und Vergangenheit im Vordergrund, wird dieser zunehmend verunklart und endet im letzten Gedicht mit einer Epiphanie Stefan Georges, welche die Gleich- oder Überzeitlichkeit des ‚Meisters‘ indiziert: Ich sah dich nie – doch kann dich sehn und hören Duft deines haars in meine kammer führen Zum greifen deinen leib hereinbeschwören Dein haupt und deine hände fest berühren Und süss und herb dein wort im munde spüren. (VI, 1–5)
Friedrich Buris Zyklus, der im ersten Gedicht noch einer christlichen Bildlichkeit verpflichtet ist, endet nach der Epiphanie des heraufbeschworenen ‚Meisters‘ mit einer heidnischen Unterwerfungsphantasie, die emphatisch die postume Bannkraft Georges verbürgt: Dies alles kann ich – doch wenn du beschworen Vor mir erscheinst ist meine kunst geendet Ist meine zaubermacht versiegt verloren: Du den mein sehnen zu mir hergewendet Hebst nun den stab der tod und leben spendet. (VI, 11–15)
Die synkretistische Form der George-Apotheose hatte Buri bereits in seinem Dramolett Michael. Eine Wandlung in 10 Bildern (1948) etabliert, auf dessen Titelzeichnung der Erzengel Michael die Züge Stefan Georges trägt (Abbildung 17).67
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Dementsprechend folgen auf die Gedichtanfänge „Ich sah dich nie“ in der Regel adversative Satzanschlüsse. Friedrich W. Buri: Michael. Eine Wandlung in 10 Bildern, Amsterdam 1948.
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Abb. 17: Der Drachentöter Michael mit den Zügen Georges. Frontispiz zu Friedrich W. Buris Michael, 1948.
7.1.6. Antiquarischer Kult: Redslob, Landmann, Messow, Eichelbaum und von Maydell Typisch für die schöpferische Auseinandersetzung mit George in den 1950er und frühen 1960er Jahren sind allerdings eher formal wie inhaltlich konventionelle Retrospektiven mit einem starken Selbstbezug oder kritische Stellungnahmen. Meist wird George eine spezifische Rolle oder Funktion zugeschrieben, zu der sich das lyrische Ich anschließend bekennt oder von der es sich distanziert, wie paradigmatisch etwa Edwin Redslobs Stefan George-Sonett oder Michael Landmanns Gedicht an Stefan George zeigen. Redslob schildert im Oktett einseitig Georges elitäre Haltung, um im Sextett kontrastiv seine Abwendung von seinem Jugendidol zu rechtfertigen. Er vollzieht nicht die Verehrung des Priesterdichters mit, sondern bekennt sich als Teil der von George geschmähten ‚Menge‘ – ein typisches Beispiel nachträglicher Selbstrechtfertigung in einem Prozess ästhetischer Dissonanz: Das war das Schauspiel meiner Jugend, Strenge war zwingend über unser Tun gestellt: „Nur wer sich sondert von der bunten Menge,
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7. Nachkriegsdichtung
Besteht vor dem Gesalbten, eine Wolke Aus Weihrauch trennt den Priester von dem Volke!“ – Da hab ich mich dem Volke zugesellt.68
Lange unveröffentlicht blieb Michael Landmanns bekenntnishaftes Gedicht An Stefan George, das er zwischen 1945 und 1969 schrieb.69 Das achtstrophige Poem redet im einvernehmlichen ‚wir‘ Stefan George an, ohne ihn namentlich zu nennen oder antonomastisch zu verklären. Durch wechselnden Zeitbezug ist das Gedicht dreigegliedert. Die ersten drei Strophen rufen die Begegnungen mit dem „meister“ zu Lebzeiten in Erinnerung. So vergegenwärtigt die Eingangsstrophe in einer jauchzenden Interjektion Georges Stiftung einer Tafelrunde oder – unausgesprochen – eines ‚Geheimen Deutschlands‘: Mein meister welch ein rausch wenn deine hohe Gestalt alljährlich unser haus betrat Wo du uns tauftest in lebendiger lohe Zu paladinen deinem neuen staat!
Auch Kurt Messows Apostrophe Stefan Georges als Der Priester sieht retrospektiv den Tod des Seherdichters als Zeitenwende. Mit Allusionen wird George zum Priester stilisiert („Du hast den Gott erschaut, | Den Stern im Bund“), mit Moses verglichen („Du Siedler auf dem Berg, | In Zorn erglüht“), um in einem allegorischen Schluss den Abgang des Dichterschwans als epochalen Einschnitt in dürftiger Zeit zu deuten: Gelockt vom Uferziel, Gereckt den Hals, Verließ der Schwan das Spiel Des Wasserfalls.70
Ernst Eichelbaum, christlich orientierter Georgianer, suchte nach seinem Wechsel aus dem sowjetisch besetzten Teil Deutschlands in die frühe Bundesrepublik mit der George-Verehrung die kulturelle nationale Tradition
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Edwin Redslob: Stefan George. In: E. R.: Gestalt und Zeit. Begegnungen eines Lebens, München usw. 1966, S. 39, Verse 9–14. Ebd., S. 99, bemerkt Redslob, dass er Stefan George „nur einmal in Weimar begegnet [sei], wo Ludwig Hofmann […] mich ihm zuführte“. Michael Landmann: An Stefan George. Aus: Altera quae vehat Argo (1945–1969). In: M. L.: Jüdische Miniaturen, Bd. 2: Israelische Streitschriften und Tagebücher, Bonn 1982, S. 241. Die Gedichtsammlung, der Landmann ein Vergil-Zitat als Titel gab (Ecloga IV 34), ist unveröffentlicht. Vgl. Kurt Messow: Der Priester. In: K. M.: Wie das Wort so wichtig dort war. Dichterprofile, Berlin 31963 [ED Berlin 1955], S. 56.
7.1. Kreisaffine Verteidigung Georges gegen den Faschismus-Vorwurf
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der Vorkriegszeit zu stärken. In einer Reihe von sieben Heften, die er unter dem Titel Aber das Wort zwischen 1948 und 1977 publizierte, finden sich immer wieder George-Anspielungen. Ein titelloses Gedicht im Ersten Heft von 1948 (Inc.: „Glut du heiße Nähe“) gibt lediglich durch die Initialen „St. G“ und das Datum „4.12.33“ zu verstehen, dass es sich um ein Epicedium zum Tod Georges handelt.71 Die drei gekreuzt gereimten durchweg weiblich schließenden Vierzeiler in trochäischem Ton reaktualisieren die Todesstunde, verklären aber, eingeleitet durch das Temporaladverb „da“ zu Beginn der zweiten Strophe, den Tod als Katasterismus, als ‚Verstirnung‘: Da entfährt mit Blitzen, himmelan Gebrause, Strahl und Flocken spritzen rund im ganzen Hause. Und es jauchzt im Blauen Glut aus höchster Ferne – Darf dich oben schauen, Licht vom letzten Sterne.72
Das lyrische Ich erfährt den Tod des ungenannt bleibenden Du als kosmisches Ereignis und beglaubigt dessen ‚Verstirnung‘ durch eine akustische wie optische himmlische Resonanz. Mit dem Katasterismus greift Eichelbaum insofern George selbst auf, als dieser ja Maximin unter die Sterne versetzte und als „Stern des Bundes“ zum Leitbild seines Kreises machte. Dass sich Eichelbaum gar als Erbe Georges, als Lückenbüßer des ‚Kreises ohne Meister‘ fühlte, scheint nicht ganz abwegig. Denn nachdem er 1934, nach Georges Tod, das Bekenntnisgedicht Haus in Bingen (I) verfasst hatte, schrieb Eichelbaum im Jahre 1955 ein titelgleiches Gedicht, in dem er seine Distanz zur Gegenwart im Stile eines ‚Zeitgedichts‘ Georges formuliert: Haus in Bingen (II) Zerstört zerbrannt zerrissen auch dies Haus. Nun schrillt kein toter Schritt aus ihm heraus. Kein frecher Griff faßt ins Geheime ein. Was wirklich ist muß euch unsichtbar sein.
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Ernst Eichelbaum: „Glut du heiße Nähe“. In: E. E.: Aber das Wort. Frankfurt/M. und Butzbach 1948, S. 11. Zur Form vgl. Horst Joachim Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen, Tübingen und Basel ²1993, S. 99, s. v. 4.15. Eichelbaum: „Glut du heiße Nähe“, Strophe 2 und 3.
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7. Nachkriegsdichtung
Die neue Welt in der ihr aufersteht ist lang die alte die in Asche weht. Staubgraue Luft und Herzen staubergraut, ihr seht es nicht. Mein Auge hat geschaut. O Bildesbild wie ich es aufgestellt weltwirkend groß, doch nicht in eurer Welt. Ihr mit dem abgemalten Bilderbuch vergrifft den Titel: nur der Kufenfluch. Ob Rätsel lösbar sind, das fragt ihr mich? Erst die Verwirrung wenn sie euch beschlich kann euch bekehren, daß es Rätsel gibt. Das letzteste hat einst es ausgesiebt.73
Die zwei Reimpaare aus jambischen Fünfhebern mit männlicher Kadenz, die Eichelbaum wählt, formen eine alte Kirchenliedstrophe, die in der Moderne auch dazu diente, metrisch Einsamkeit zu akzentuieren, und sind zugleich eine Hommage an George, der diese Strophenform für sein Gedicht Urlandschaft wählte.74 Der Eingang betont im dreifach anaphorischen Präfix ‚zer-‘ das Ausmaß der Kriegszerstörung, dem auch Georges Haus in Bingen zum Opfer gefallen ist, konstruiert aber trotz des gemeinsamen Schicksals eine Kontrastbeziehung zwischen ‚ich‘ und ‚ihr‘. In dem lyrischen Ich interferieren der Geist Georges und der Dichter Eichelbaum, die sich gemeinsam von dem ‚Ihr‘ absetzen, das – vorrangig jeweils in der zweiten Strophenhälfte – als buchstäblich ‚uneinsichtig‘ und blind geschmäht wird. Während das Ich daran erinnert, dass trotz der Zerstörung das Werk als Vision erhalten bleibt, haben die Überlebenden dafür keinen Blick: „ihr seht es nicht. Mein Auge hat geschaut“ (V. 8). Das lyrische Ich belehrt die um Auflösung Fragenden, dass sie erst wieder einen Sinn für die Rätsel des Lebens entwickeln müssen, wobei der Schlussvers mit dem doppelten Superlativ „das letzteste“ wegen dessen Doppelbezüglichkeit als Subjekt und Objekt nicht leicht zu verstehen ist.75 Doch unabhängig davon wirken der wissende Sprecher-Habitus, die abwertende asymmetrische Apostrophe an die Mitmenschen und die assertorische Gewissheit des eigenen Sehertums wie eine unzeitgemäße Reprise Georgescher Rede. Solch ein poetischer George-Kult mit Georges
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Ernst Eichelbaum: Haus in Bingen (II) [1955]. In: Binger Annalen 1975, Nr. 7, S. 59. SW V, 37. – Zur Form und Semantik der Strophe vgl. Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen, S. 301 f., s. v. 4.99. Zu den ‚unmöglichen‘ Steigerungen absoluter Superlative vgl. Mathias Mayer: Eigentlichst, nachbarlichst, der Deinigste. Goethes absoluteste Freiheit des Superlativs, Heidelberg 2018.
7.2. Historisierung und Rehabilitation
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Mitteln hielt sich lange. Selbst noch ein epigonales Zeitgedicht, wie es Bodo Freiherr von Maydell Zum Stefan-George-Jahr 1983 dichtete, ist ganz dem antiquarischen Muster verpflichtet.76
7.2. Historisierung und Rehabilitation In der frühen Bundesrepublik blieben die lyrischen George-Hommagen bis in die 60er Jahre zumeist retrospektiv, gegenwartskritisch und formal wenig innovativ. Auch der Befund, dass George nach 1945 mehr Gegenstand der Verehrung einer eingeschworenen Gemeinde, als in der literarischen Öffentlichkeit präsent war, lässt sich negativ erhärten: Denn unmittelbar nach Kriegsende lassen sich auch nur sehr wenige Parodien nachweisen, wie etwa die George-Parodie Aus dem ‚Achten Ring‘ (1947) von Richard MüllerFreienfels, welche in der typischen Kleinschreibung mit einer Montage lexikalischer Anleihen („meine weissen ara“ [III, 96], „pergament“ [II, 56]) und Anspielungen auf Georges Autorschaftsinszenierung ungebrochen die breite parodistische Vorkriegsrezeption fortschreibt, wie exemplarisch die erste Strophe zeigt: In hohepriesters toga und tiara umwandl’ ich schweigend steile opferurne da senkt vor meinem purpurnen kothurne ein pergamen[t] von ihr ein weißer ara.77
Müller-Freienfels beschränkt sich in seiner Parodie auf den frühen George, indem er die idiosynkratische Sprache, die Vorliebe für Assonanzen und Neologismen als auch die eigentümliche Typographie und Motivik überbietend nachahmt. In ganz ähnlicher Weise verfährt der konservative Historiker, Poet und George-Übersetzer Peter Viereck, Sohn des deutsch-amerikanischen Publizisten George Sylvester Viereck. Doch prangert er in seiner bislang unbe-
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Bodo von Maydell: Zum Stefan-George-Jahr 1983. In: Heimat-Jahrbuch Landkreis MainzBingen. Geschichte, Begebenheiten, Einflüsse, Zeitströmungen, Werdendes (1983), S. 1. Sebastianus Segelfalter [d. i. Richard Müller-Freienfels]: Stefan George: Aus dem ‚Achten Ring‘. In: S. S.: Die Vögel der deutschen Dichter. Eine heitere Stilgeschichte der deutschen Literatur in Variationen über ein altes Thema nebst einem gelahrten Anhang, Berlin 1947, S. 79. Es handelt sich um eine Textklassenparodie, die neben verschiedenen Zitaten („Engel“ aus dem Teppich des Lebens, „weiße ara“), erlesener Lexik und uneindeutiger Syntax vor allem das Missverhältnis von formalen Äußerlichkeiten und sakralem Dichteranspruch Georges karikiert. Sigrid Hubert: George-Parodien: Untersuchungen zu Gegenformen lite rarischer Produktion und Rezeption (masch. Diss.), Trier 1981, S. 178–200, widmet dieser Parodie eine überdifferenzierte Analyse.
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7. Nachkriegsdichtung
achteten Parodie Der seher des (hoffentlich) letzten reiches Georges weltanschauliche Nähe zum Dritten Reich an: Der seher aber · feile tafeln brechend · Mahnt seine jünger · schlicht und streng versprechend (O hört ihr nicht den frühlingsgott de fluren?) Dass ritterfreundschaft hehrer sei als huren · ‚Dass sterne jauchzen wenn auf stolzen bühnen Wir alten frevel grausamsüss entsühnen · Aus leichen schaffend mit verklärtem schauer Ein drittes Reich von tausendjährger dauer Wo dolch und flöte beide heilig sind: Der teutsche krieger und das tanzend kind.78
In seiner ideologiekritischen Parodie vertritt Viereck seine These, der deutsche NS-Staat wurzele letztlich in einem mythosanfälligen, romantischen Irrationalismus, in dessen Tradition auch George stehe; darauf weist das altertümelnde ‚teutsch‘ im Schlussvers hin. Vierecks Autor-Parodie, die typographische, stilistische und lexikalische Eigenheiten Georges nachahmt, hebt auf dessen Kombination von Gewalt und Schönheit ab und entlarvt damit faschistoide Züge des Werks. Diese Position vertritt auch Hermann Broch, der sich in „[s]einer Abneigung gegen den Monumental-Töner George“ durch die Lektüre von Maurice Bowras Erbe des Symbolismus (1947) bestärkt fühlte, die ihm bei seinen Arbeiten über Hugo von Hofmannsthal zustatten kam.79 Seine kritische Haltung zu George profiliert Hermann Broch vor allem in dem autobiographisch fundierten Essay über Hofmannsthal und seine Zeit (1947/48). Hier dient George mehrfach als kontrastive Vergleichsfigur, um die Gefah78
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Peter Viereck: Deux poèmes à la manière de Stefan George (Hehre Sendung / Der seher des [hoffentlich] letzten reiches. In: P. V.: The First Morning. New Poems, New York 1952, S. 90. Auch die erste Parodie Hehre Sendung, deren Titel auf die Hehre Harfe im Siebenten Ring anspielt (SW VI/VII, 131), betont das Nebeneinander von Gewalt und Schönheitskult in Georges Werk: „Ich trat als Erstling keusch in eure runde · / Halb herrscherdämon und halb nachtigall · / Die ur-uhr schlug des Dionysos stunde · / Nun tönt das erz der erde wie kristall / (Ein werwolf stöhnt in grausem widerhall)“ (ebd.). Damit stehen beide Parodien in engem Zusammenhang mit Vierecks ideologiekritischer Analyse der Tradition des romantischen Irrationalismus im nationalsozialistischen Deutschland: Metapolitics: From Wagner and the German Romantics to Hitler (1941). Viereck hatte auch in einem Essay die gedankliche und sprachliche Nähe Georges zu den Nazis kritisiert; vgl. P. Viereck: Stefan George, Perilous Poet. In: The Antioch Review 9 (1949), 1, S. 111–116. Hermann Broch an Hermann J. Weigand, 26.11.1948. In: H. B.: Kommentierte Werkausgabe. Hg. von Paul Michael Lützeler, Frankfurt/M. 1981, Bd. 13/3: Briefe 3 (1945–1951), Nr. 622, S. 268 f., hier 269. Broch bezieht sich auf die George-Passage in C. Maurice Bowra: Das Erbe des Symbolismus [The Heritage of Symbolism (1943), dt.], Hamburg 1947, bes. S. 151–209.
7.2. Historisierung und Rehabilitation
319
ren eines Pan-Ästhetizismus pejorativ zu illustrieren: „Georges ästhetisch fundiertes Absolutheitsdiktat“ und seine Selbstheroisierung zum Propheten und „ethischen Führer“,80 mit der er seinen Kampf gegen die „Verpöbelung“ legitimiert habe und der ihn – in paradoxem Bündnis mit dem „wildgewordenen Pöbel“ – zu einem „Heiligen der Unheiligkeit“ und „Lehrer[] der Dehumanisation“ werden ließ.81 Folgerichtig kritisiert Broch auch die Dichtung Ein Spiel vom Reich (1948) des Prinzen Hubertus zu Löwenstein als „zu George-nahe“, und zwar nicht, weil es ihm „ästhetisch zu sehr abhängig“ sei: nein, ich nehme, wo immer ich George begegne, gegen ihn Stellung. Er war für vieles in Deutschland verantwortlich, weit mehr als Nietzsche, dessen gesunde Skepsis ihm gefehlt hat. Er hat sich an Monumentalworten berauscht und damit auch die andern. „Zehntausend muß die heilige seuche raffen, Zehntausende der heilige krieg“: so etwas steht an der Grenze des politischen Verbrechens, ist bösestes Spießertum und zeigt sich ästhetisch an Naziwörtern wie „raffen“.82
Inwieweit sich in den Schlüsselromanen der frühen Nachkriegszeit, die über die Kollektivschuld der Deutschen an den nationalsozialistischen Verbrechen reflektieren, produktive Auseinandersetzungen mit George und seinem Kreis finden, ist bislang noch nicht systematisch erkundet. Ob Thomas Manns Schlüsselroman Doktor Faustus (1947) dazu zählt, sei dahingestellt. Allerdings erinnert der nationalkonservative Kreis um Dr. Sixtus Kridwiß, der sich an Herrenabenden in München versammelt, durchaus an George und seinen Kreis sowie an die Schwabinger Zusammenkünfte. Und Kridwiß wird charakterisiert als „altersloser, zierlicher Herr von stark rheinhessischer Sprechweise […] der ohne feststellbare gesinnungsmäßige Bindung […] die Bewegungen der Zeit behorchte“.83 Ob die physiognomische Charakteri80 81 82
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Hermann Broch: Hofmannsthal und seine Zeit (1947/48). In: H. B.: Kommentierte Werkausgabe. Hg. von Paul Michael Lützeler, Frankfurt/M. 1981, Bd. 9/1: Schriften zur Literatur 1, Kritik, S. 11, S. 211–284, hier 268 und 263. Broch: Hofmannsthal und seine Zeit (1947/48), S. 263 und 265. Hermann Broch an Volkmar von Zühlsdorff vom 26.11.1948. In: H. B.: Kommentierte Werkausgabe. Hg. von Paul Michael Lützeler, Frankfurt/M. 1981, Bd. 13/3: Briefe 3 (1945– 1951), Nr. 623, S. 270–272, hier 270. In einem Brief an Egon Vietta vom 30.11.1948. In: ebd., Nr. 625, S. 274–276, exemplifiziert Broch seine Kritik am Monumentaldenken an Heidegger und George: „Heidegger war und ist Monumentaldenker, aber alles Monumentaldenken ist zum größten Teil, wie sich das eben auch bei George gezeigt hat, ein Spiel mit Wolkenmassen. Man muß ein sehr großer und sehr selbstkritischer Dichter sein, um nicht am Sprachwolkigen zuschanden zu werden“ (ebd., S. 276). Thomas Mann: Werke – Briefe – Tagebücher, Bd. 10: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von seinem Freunde. Hg. von Ruprecht Wimmer unter Mitarb. von Stephan Stachorski, Frankfurt/M. 2007, S. 526. Pia Daniela Schmücker: Das Nietzsche-Bild im „Faustus“-Roman Thomas Manns. In: Der Mensch – sein eigenes Experiment? Kolloquium 2003 des Nietzsche-Forums München und Vorträge
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7. Nachkriegsdichtung
sierung der Kridwiß-Figur auf Georges sterilen Ästhetizismus anspielt, ist insofern fraglich, als Mann vormals „George’s Erzengel-Antlitz“ gewürdigt hatte.84 Allerdings hat Thomas Mann sich 1953 auch von der „sterile[n] Starrheit jenes Anderen [scil. George]“ distanziert, vor dessen schuldhafter Anmaßung mir immer tief graut“.85 Eine vergleichbare, freilich ebenso spekulative Form retrospektiver Dissonanz zeigt sich auch bei Wolfgang Koeppen. Im Jahr 1933 hatte er, aus Anlass von Georges 65. Geburtstag, noch den Dichter gewürdigt als einen, der „nur dem Gesetz seiner Berufung Folge leistete“.86 Dagegen trägt die Romanfigur Mr. Edwin aus den Tauben im Gras (1951), die offensichtlich Stefan George verehrt, unverkennbar parodistische Züge. Die selektive ästhetische Umorientierung nach 1945 zeigt sich paradigmatisch im Merkur, einem für die Traditionsstiftung der Nachkriegslyrik maßgeblichen Periodikum. Die wenigen Bezugnahmen auf George und seinen Kreis sind ambivalent und zeugen von einer tiefgreifenden ästhetischen Dissonanz. Zu den Wiederentdeckern Georges gehört Werner Kraft. Er zählt ihn schon 1946 zu den Größen, die auch nach dem Kriege als ästhetischer Maßstab dienen, obschon er die Person kritisch sieht: „Bei George muß ein Götterbild zerschlagen werden, um auf den positiven Kern zu kommen“.87 Seine vornehmlich literarhistorisch ausgerichtete Reflexion über George und das Judentum (1949/50) erinnert an die gemeinsame deutsch-jüdische Tradition des George-Kreises und wird gerade von exilierten Dichtern und Intellektuellen als „wichtig“ für das „Verhältnis[] zwischen Judentum und Deutschtum“ erachtet.88 Im Jahre 1952 historisiert Werner Kraft zwar den George-Kreis („so strahlt eine historisch abgeschlossene geistige Bewegung noch einmal auf in den Abendfarben des Abschieds“), erkennt George
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85 86 87 88
aus den Jahren 2003–2005. Hg. von Beatrix Vogel, München 2008, S. 527–554, hier 541, identifiziert zwar, Thomas Manns eigenem Hinweis entsprechend, Kridwiß mit Emil Pretorius, bedenkt aber auch Anspielungen auf den George Kreis. Vgl. Thomas Mann: Brief über Peter Altenberg. In: Das Altenbergbuch. Hg. von Egon Friedell, Leipzig, Wien und Zürich 1921, S. 67–77, hier 72. Ebd. rückt sich Mann mit George in eine Tradition der ‚Nietzsche-Ausleger und -Kritiker‘: „Dehmel, George, mein Bruder, Kerr, Altenberg, ich, wir sind die wahren Kritiker und fragmentarischen Verdeutlicher Nietzsches“. Zitiert von Jean Rudolf von Salis in Ingeborg Schnack: Rilkes Leben und Werk im Bild, Wiesbaden 21966, S. 50. Wolfgang Koeppen: Stefan George (1933). In: W. K.: Gesammelte Werke, Bd. 6: Essays und Rezensionen. Hg. von Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarbeit mit Dagmar von Briel und Hans-Ulrich Treichel, Frankfurt/M. 1986, S. 43–45, hier 43. Werner Kraft (Jerusalem) an Hubert Breitenbach, 21.9.1946 [unveröffentlichtes Typoskript]. DLA, A: Breitenbach 96.31. Vgl. Hermann Broch an Werner Kraft, 28.5.1949. In: H. B.: Kommentierte Werkausgabe, Bd. 13/3: Briefe 3 (1945–1951). Hg. von Paul Michael Lützeler, Frankfurt/M. 1981, Nr. 652, S. 332–334, hier 333.
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aber doch künftig eine dauerhafte Bedeutung und Wirkung zu: „Dennoch bleibt seine hohe Gestalt, es bleibt sein Werk, das auf die Zukunft einwirken wird“.89 In einer Würdigung zu Georges 25. Todestag, die im Hauptteil des Dezember-Heftes 1958 erschien, reflektiert Friedrich Podszus allgemein die historische Bedeutung Stefan Georges („daß George ein großer Dichter war und blieb“) und appelliert sogar ausdrücklich an die junge Generation, sich künftig wieder an George zu orientieren: „Dies Faktum allein sollte den jungen Dichtern, denen von heute und denen von morgen, ein wahres Ingredienz ihrer Bemühungen sein.“90 Dennoch finden sich in den vielen lyrischen Beiträgen des Merkur kaum Spuren Georges, lässt man den ‚hohen Ton‘ als zu unspezifischen intertextuellen Bezug außer Acht.91
7.2.1. Eine Leerstelle in der frühen DDR Viel stärker noch wirkte sich die ideologische Reserve gegen George in der Sowjetischen Besatzungszone und späteren Deutschen Demokratischen Republik aus, die allerdings forscherlich unterbelichtet ist. In der Ostzone, wo bereits 1946 Front gemacht wurde gegen die Moderne in der Kunst – letztlich „in bruchloser Kontinuität zur Liquidierungspolitik des Dritten Reiches“92 – galt George als Inbegriff nationalkonservativer Dichtung und künstlerischer Dekadenz. Doch erstaunlicherweise gab es im ersten Jahrfünft in der Sowjetischen Besatzungszone immerhin noch eine so große kulturelle Pluralität, dass eine Anthologie erscheinen konnte, in der sich mehrere Gedichte Georges finden.93 Manche George-Verehrer wie Ernst 89 90 91
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Werner Kraft: Das Bild Georges [Rez. Robert Boehringer]. In: Merkur 6 (1952), S. 683–690, hier 683, 690; vgl. auch W. K.: Um George [Rez. Edgar Salin]. In: Merkur 4 (1950), S. 1314– 1317. Friedrich Podszus: Stefan George heute. In: Merkur 11 (1958), S. 1146–1153, hier 1153. Vgl. Lothar Jordan: Lyrik. In: Deutsche Literatur zwischen 1945 und 1995. Eine Sozialgeschichte. Hg. von Horst Albert Glaser, Bern 1997, S. 557–585. Jordan erwähnt im Zusammenhang der „Aktualisierung eines hohen Tons“ die Orientierung an Stefan George, Rilke und Loerke (S. 557 f.). Günter Erbe: Die verfemte Moderne. Die Auseinandersetzung mit dem „Modernismus“ in Kulturpolitik, Literaturwissenschaft und Literatur der DDR, Opladen 1993, S. 57. Vgl. die im Verlag ‚Volk und Wissen‘ erschienene Anthologie: Deutsche Gedichte von Goethe bis zur Gegenwart. Eine Gedichtsammlung für die Oberstufe. Zusammengestellt von Peter Wolfgang Heise. Berlin und Leipzig 21947, S. 153–155, zwischen Bierbaum und Hofmannsthal finden sich fünf Gedichte Georges: „Komm in den totgesagten park und schau“ [SW IV, 12], „Es lacht in dem steigenden jahr dir“ [SW IV, 89], „Der hügel wo wir wandeln liegt im schatten“ [SW IV, 107], „Ob schwerer nebel in den wäldern hängt“ [SW IV, 110], Stimmen im Strom [SW III, 99]. Hierbei handelt es sich sämtlich um Gedichte aus dem Frühwerk, und bezeichnenderweise ist der Herausgeber der bedeutende freigeistige Marxist Wolfgang Heise, den Rudolf Bahro, Wolf Biermann, Heiner Müller, Christa Wolf und viele
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7. Nachkriegsdichtung
Eichelbaum, der von 1946 bis 1948 Zweiter Bürgermeister der Stadt Leipzig war, verließen um 1950 die Deutsche Demokratische Republik, wo bereits 1951 offiziell der „Formalismus in Kunst und Literatur“ inkriminiert wurde zugunsten einer Kunst, die sich ideologisch am sozialistischen Realismus zu orientieren hatte. Zwar stand der kulturpolitisch einflussreiche Dichter Stephan Hermlin gerade in seinem Frühwerk durchaus Stefan George nahe, doch kam diese frühe Affinität kaum zur Sprache. Immerhin hat Hermlin in seiner Rundfunksendung Übersetzte Lyrik (1966) George – wohl mit dem nötigen Vorbehalt – im Vergleich mit anderen Verlaine-Übertragungen als Übersetzer und Dichter gewürdigt: „Man bemerkt bei einem solchen Vergleich, ein wie bedeutender Sprachkünstler, allen peinlichen Zügen zum Trotz, ein Mann wie Stefan George ist, wie redlich hier die poetische Vorlage nachgeschaffen wird“.94 Nicht nur Franz Fühmanns frühe Gedichte, die in der Zeit entstanden, als er noch ein vom Nationalsozialismus überzeugter Soldat war, weisen George-Anklänge auf,95 auch die heroische Verklärung und das Pathos, das seine Dichtung Die Fahrt nach Stalingrad (1953) prägen, erinnern an Georges Lyrik. Ganz zu schweigen von Johannes R. Bechers früher Faszination für George, von der er allerdings in den 20er Jahren im Zuge seiner kommunistischen Politisierung abließ.96 Doch noch sein Gedicht Wo
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andere Intellektuelle der DDR späterhin würdigten. Zum Nachweis seiner Herausgeberschaft vgl. Claudia Salchow: Ohne den Nachlaß geht es nicht . . . . Über die Zukunft des Wolfgang-Heise-Archivs. Vorlesung vom 19.5.1998 an der Humboldt-Universität zu Berlin. https://doi.org/10.18452/1615 (15.4.2021), S. 31–43, hier 32. – Manfred Bierwisch (Berlin) hat mir in einem elektronischen Brief vom 11.12.2020 freundlicherweise einige Daten zur George-Rezeption in der Sowjetischen Besatzungszone und in der frühen DDR übermittelt. Ihm zufolge war George zwar „kein Leitbild in der DDR“, doch kam er jedenfalls im frühen akademischen Unterricht vor. So habe Martin Greiner, von 1948 bis zu seiner Emigration in die BRD 1952 Professor für neuere Sprache und Literatur an der Universität Leipzig, „auch George, Rilke und Hofmannsthal behandelt“, und Hans Mayer habe George „ernsthaft zur Kenntnis genommen“. Stephan Hermlin: Lektüre 1960–1971, Berlin und Weimar 1973, S. 183. Vgl. dazu Wolfgang Ertl: Stephan Hermlin und die Tradition, Bern, Frankfurt/M. und Las Vegas 1977, S. 55. Ob das Pseudonym ‚Stephan Hermlin‘, der eigentlich Rudolf Leder hieß, möglicherweise eine Hommage an Stéphane Mallarmé oder Stefan George ist, ist umstritten. So erkennt Dennis Tate: Franz Fühmann. Innovation and Authenticity. A study of his prosewriting, Amsterdam und Atalanta 1994, S. 16, in dem frühen Gedicht „Jede Nacht erglühen neue Sterne“ „the style of Stefan George“. George-Spuren in Fühmanns ersten Gedichten bemerkt pauschal auch Horst Nalewski: Franz Fühmann. Ein Versuch in Gedichten. In: Unerwünschte Erfahrung. Kriegsliteratur und Zensur in der DDR. Hg. von Ursula Heukenkamp, Berlin und Weimar 1990, S. 192–226, hier 193 und 204. Vgl. zu Bechers George-Begeisterung um 1920 Hans Richter: Um Traumbesitz ringend. Johannes R. Becher. In: Schriftsteller und literarisches Erbe. Zum Traditionsverhältnis sozialistischer Autoren. Hg. von Hans Richter, Berlin und Weimar 1976, S. 128–210, hier 154 und 164–166.
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Deutschland lag (1942) teilt mit dem George-Kreis nicht nur die nationalkonservative Reichsvision, sondern knüpft auch an die Topik eines ‚heimlichen Deutschland‘ an: Ein heimlich Reich, so lag es wie vergangen, So lag es wie im Traum und lag gefangen. Doch einmal wußten wir, wird es geschehn, Da wird des Volkes Wille es erwecken, Und alle werden dann das Reich entdecken, Das Deutschland heißt. Deutschland wird auferstehn!97
Es ist bezeichnend, dass diese neuklassische Orientierung nur kurz, bis zur Gründung der DDR, währte, bevor sie mit dem IV. Deutschen Schriftstellerkongress 1956, nicht zuletzt durch die Autorität Anna Seghers’, in Verruf geriet.98 Wie poesiefeindlich sich die ideologische Zurichtung auf die Dichtung auswirkte, zeigt sich am Verstummen der Lyriker Stephan Hermlin und Franz Fühmann nach 1958.99 Dass 1956 eine kulturpolitische Zäsur in der DDR bedeutete, zeigt paradigmatisch die Rezeption von Georg Lukács, der in den Anfangsjahren des kommunistischen Staates erst hochgeschätzt war, bevor er als ‚Konterrevolutionär‘ geächtet wurde.100 Auch wenn seine Abrechnung mit dem „Avantgardismus“ allgemein gelobt wurde, hielt man Lukács vor, er kritisiere nicht die „wirkliche Dekadenz“, die „in den Werken von Stefan George, Filippo Marinetti und Gottfried Benn zu finden“ sei.101 Als Repräsentant der Dekadenz und einer unbestimmten Nähe zum Faschismus war George aus dem Literaturkanon nachhaltig verbannt worden. So fehlt er etwa in dem Deutschen Gedichtbuch (1959), einer repräsentativen Anthologie, deren Auswahl „die Entstehung der Dichtung des sozialistischen Realismus als die entscheidende literarische Tatsache unserer
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Johannes R. Becher: Wo Deutschland lag. In: Internationale Literatur. Deutsche Blätter. Bd. 12, Nr. 10, Moskau 1942, S. 23 f., hier 24. Wieder in: J. R. B.: Gesammelte Werke, Bd. 5: Gedichte 1942–1948. Hg. vom J.-R.-B.-Archiv der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin, Berlin 1967, S. 78 f. Siehe dazu Walter Schmitz: Johannes R. Becher – der ‚klassische Nationalautor‘ der DDR. In: Literatur in der Diktatur. Schreiben im Nationalsozialismus und DDR-Sozialismus. Hg. von Günther Rüther, Paderborn usw. 1997, S. 303–342, hier 315. 98 Vgl. Nalewski: Franz Fühmann. Ein Versuch in Gedichten. 99 Erbe: Die verfemte Moderne, S. 69. 100 Vgl. Mathias Marquardt: Dialog und Kontroverse mit Georg Lukács in der Literaturwissenschaft? In: Literatur Gesellschaft DDR. Kanonkämpfe und ihre Geschichte(n). Hg. von Birgit Dahlke, Martina Langermann und Thomas Taterka, Stuttgart und Weimar 2000, S. 366–392, bes. 377–384. 101 Vgl. Werner Mittenzwei: Die Brecht-Lukács-Debatte. In: Sinn und Form 19 (1967), S. 235– 269, hier 251. Dazu auch Marquardt: Dialog und Kontroverse mit Georg Lukács, S. 382. Tatsächlich ist Lukács’ Studie Die Seele und die Formen mit dem einfühlsamen GeorgeEssay nie in der DDR publiziert worden; vgl. ebd., S. 384.
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7. Nachkriegsdichtung
Tage berücksichtigt“.102 In offiziösen Literaturgeschichten und -lexika war zu lesen, dass George „zum hymnisch-bombastischen Künder eines kommenden heroischen Zeitalters (‚Das neue Reich‘, 1928) [wurde], das dann in Wahrheit in die faschistische Diktatur mündete“.103 Trotz solcher Verlautbarungen lassen manche Hinweise darauf schließen, dass es doch eine klandestine George-Rezeption in den 50er und 60er Jahren der DDR gab.104 Ein mehr oder weniger heimliches ästhetisches Bekenntnis zu George war allerdings eher den poetischen Einzelgängern vorbehalten. So hat Paul Wiens, der im Alter von 25 Jahren aus Wien nach Ost-Berlin zurückkehrte und – neben Spitzeldiensten für die Staatssicherheit (IM „Dichter“) – als Lektor im Aufbau-Verlag arbeitete, seine Verehrung für George kaum verschleiert.105 Er imitierte George in Kleinschreibung, Stil und Titelgebung. Seine Sammlung Nachrichten aus der siebenten Welt verweist auf den Siebenten Ring. Auch wenn bei Wiens keine unmittelbaren George-Anleihen festzustellen sind, ist sein Bekenntnis zum ‚Erbe‘ und zur Tradition bemerkenswert.106 Das Gedicht Gespräch mit einem ausgegrabenen gott zeigt eine Moderne-Kritik, die durchaus an Georges Porta Nigra-Gedicht (SW VI/ VII, 16–17) gemahnt.107 Bei einer Baumrodung kommt die Statuette eines alten Liebesgottes zum Vorschein, die das lyrische Ich zu einer Reflexion
102 Vgl. Deutsches Gedichtbuch. Zusammengestellt von Günther Deicke und Uwe Berger, Berlin 1959, S. 5. Georges Fehlen fällt insofern auf, da sonst alle namhaften Lyriker der Klassischen Moderne (Liliencron, Holz, Dehmel, Hofmannsthal, Rilke) vertreten sind; unter den Expressionisten fehlt bezeichnenderweise Gottfried Benn. 103 Deutsches Schriftstellerlexikon. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Hg. von Günter Albrecht u. a., Weimar 1963, S. 185. 104 So attackiert Hans-Jürgen Geerdts: Gedanken zur Diskussion über die sozialistische Nationalliteratur nach 1945. In: Weimarer Beiträge 11 (1963), S. 100–122, hier 116 f., freilich ohne Namen zu nennen, „neben wenigen älteren Autoren einige jüngere, […] die unter dem Einfluß von Georg Lukács und anderen Revisionisten Politik und Literatur zu trennen suchten, die führende Rolle der Partei im kulturellen Leben leugneten, westliche dekadente Literatur nachahmten, dem ‚Modernismus‘ verfielen und dadurch in große künstlerische Schwierigkeiten gerieten“. 105 An Wiens’ Vorliebe für George hatte wohl der eklektische Literaturgeschmack seiner Mutter Anteil, der er erste Kindergedichte widmete: „Ich las alles durcheinander: Karl May, Hölderlin, Dante, Grimms Märchen, Stefan George, und Sven Hedin“ (zit. nach Annegret von Wietersheim: „Aber – ist mein liebster laut“. Ambivalenzen in Biographie und lyrischem Werk von Paul Wiens, Heidelberg 2014, S. 61). 106 Vgl. Mathilde Dau: Paul Wiens. In: Literatur der Deutschen Demokratischen Republik. Einzeldarstellungen, Bd. 2, Hg. von Hans Jürgen Geerdts, Berlin 1979, S. 410–428, hier 411; Adolf Endler: Identifizierung mit der Landschaft. Walter Werner: ‚Das unstete Holz‘. In: Neue Deutsche Literatur 7 (1971), S. 151–157, hier 157 (Hinweis auf Wiens’ George-Rezeption). 107 Vgl. Paul Wiens: Gespräch mit einem ausgegrabenen gott. In: P. W.: Vier Linien aus meiner Hand. Gedichte 1943–1971, Leipzig 1976, S. 66 f. Vgl. dazu Dau: Paul Wiens, S. 419 f.
7.2. Historisierung und Rehabilitation
325
über die Gegenwart in Form eines imaginären Gesprächs mit dem alten Idol veranlasst. Johannes Bobrowski hat sich zwar nie öffentlich zu seiner großen Wertschätzung Georges bekannt und sah sich selbst weder in den „Reihen der George- und Rilkejünger“ noch der „Benn-Nachfolger“.108 Doch 1959 berichtet Bobrowski von seiner George-Lektüre dem in die Bundesrepublik geflüchteten Freund Peter Jokostra fast schon im Stil einer ästhetischen Konversion: „Lesen tu ich jetzt Stefan George. Das ist sicher sehr morbid, aber ich seh mich veranlaßt, in mich zu gehen und frühere großkotzige Urteile zu revidieren. Er ist eben doch großartig, trotz der zahllosen Streublumen bei ihm“.109 Und 1963 dankt Bobrowski für ein Buchgeschenk mit Gedichtinterpretationen, „am meisten Holz, George“.110 Die fünf Bände aus der Bondi-Ausgabe, die Bobrowski in seiner Bibliothek verwahrte, enthalten alle Anstreichungen,111 die von einer intensiven Lektüre zeugen, mehr noch: Das Porta Nigra-Zeitgedicht aus dem Siebenten Ring hat Bobrowski nicht angestrichen, sondern für die Anthologie 1985 ausgewählt und in sein Notizbüchlein abgeschrieben.112
7.2.2. Der Anteil exilierter Rückkehrer an der Wiederentdeckung Georges Überhaupt haben zur allmählichen Rehabilitation Georges im literarischen Feld des politisch geteilten Deutschland in den 50er Jahren wesentlich kreisexterne Würdigungen exilierter Schriftsteller beigetragen, die nach 1945 wieder nach Deutschland zurückgekehrt waren. Dazu zählt auch Willy Haas, 108 Johannes Bobrowski an Hans Ricke, 9./10.10.1956. In: J. B.: Briefe 1937–1965, Bd. 1: 1937– 1958. Hg. von Jochen Meyer, Göttingen 2017, S. 439–443, hier 440. 109 Johannes Bobrowski an Peter Jokostra, 14.8.1959. In: J. B.: Briefe 1937–1965, Bd. 2: 1959– 1961, S. 107–116, hier 109 und 115 f. (Kommentar). Bobrowski kommt in den Briefen vom 5.10.1959 (ebd., S. 150–155) und 27.10.1959 (ebd., S. 159–163) an Jokostra auf seine Revision „früherer großkotziger Urteile“ zurück; so entwertet er Paul Celan mit Hilfe von George: „Celan ist nichts, bestenfalls eine Parfümfabrik […]. Ich hab nur das gleiche Magenweh bei ihm wie bei Rilke. Dafür war George ein großer Dichter; von der Größenordnung Platen, Meyer, d. h. eine Treppe tiefer als Mörike, Droste, Liliencron. Genug!“ (ebd., S. 152); und Bobrowski meint, man solle sich einmal „wegen [s]einer Neigung zu Liliencron und der Achtung für George“ austauschen (ebd., S. 159). 110 Johannes Bobrowski an Manfred Seidler, 16.12.1963. In: J. B.: Briefe 1937–1965, Bd. 4: 1963– 1965, S. 211 f. 111 Vgl. Dalia Bakauskaite˙: Kommentierter Katalog der nachgelassenen Bibliothek von Johannes Bobrowski, Trier 2006, S. 206 f. (Nr. 578–582). 112 Johannes Bobrowski: Meine liebsten Gedichte. Eine Auswahl deutscher Lyrik von Martin Luther bis Christoph Meckel. Hg. von Eberhard Haufe, Berlin 1985, S. 198; Bakauskaite˙: Kommentierter Katalog, S. 207 s. v. 580, erwähnt die Abschrift in dem Notizbüchlein (DLA).
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7. Nachkriegsdichtung
der freilich im Nachkriegsdeutschland nicht mehr an seine große Bedeutung anknüpfen konnte, die er in der Weimarer Republik mit der Zeitschrift Lite rarische Welt hatte. In einem undatierten Manuskript, das wohl Anfang der 1950er Jahre entstand,113 erinnert Haas an Georges Grab in Minusio als „unbekannte deutsche Dichterstätte im Süden“.114 Er nutzt diese Erinnerung, um Georges Aversion gegen den Nationalsozialismus zu bekräftigen, auch wenn sich dessen Gedichte leicht nationalistisch vereinnahmen ließen und auch propagandistisch umgedeutet wurden, indem er die Widerstandskämpfer aus dem Kreis als „letzte posthume Botschaft Stefan Georges an das Deutsche Volk“ bezeichnet: Der deutsche Dichter, der 1933 als 65jähriger hier starb, schon in der Nazizeit, wünschte nicht in deutscher Erde zu ruhen, obwohl man wusste, dass Goebbels, dem unwürdigen Gundolf-Schüler, viel daran lag, ihm ein pompöses Staatsbegräbnis zu bereiten – nicht ohne Grund, denn mit einer leichten Beugung und Verbiegung des Inhaltes konnten manche Dichtungen Stefan Georges sehr wohl als Vorläufer des Nationalsozialismus umgedeutet werden. Dem hat der Dichter noch in der Todesstunde einen Riegel vorgeschoben. An seiner Leiche in Minusio standen, mit anderen Jüngern, die beiden Stauffenbergs Wache, deren Einer, der tapfere Götz[!] von Stauffenberg, jenen denkwürdigen Attentatsversuch auf Hitler unternahm, der in der Tat nur halb misslang – Verehrer Stefan Georges haben diese kühne Tat Stauffenbergs nicht ohne Grund die letzte posthume Botschaft Stefan Georges an das Deutsche Volk genannt. Auch der andere Bruder, gleichfalls ein Jünger Georges, wurde später hingerichtet.115
Nachdem Haas das Bild Georges als eines „Mediceer[s] der Renaissance“116 im kommunikativen Gedächtnis der Dorfbewohner erwähnt, erwägt er den Vorschlag einer Umbettung Georges nach Deutschland als „eine schöne Geste, die unserem hochgelehrten alten Bundespräsidenten wohl zu Gesicht stünde: […] Denn wahrscheinlich hätte Stefan George grundsätzlich nichts dagegen in deutscher Erde zu ruhen liegen – er war ja ein deutscher Dichter.“117 Doch im Schlussabschnitt seines Essays verwirft Haas, eingedenk seines Exilschicksals und seiner schwierigen Reintegration im Nachkriegsdeutschland, diesen Gedanken, denn „Keiner kann mit Sicherheit sagen, ob ihm das Deutschland von heute sehr viel besser gefallen haben würde als das von 1933“.118 113 Erwähnt wird antonomastisch als „unser hochgelehrter alter Bundespräsident“ Theodor Heuss, der von 1949 bis 1959 amtierte. 114 Willy Haas: Unbekannte deutsche Dichterstätten im Süden. Ms 4 Bl., 7 beschr. Seiten (DLA, A: Haas 07.22), bes. S. 4–7. 115 Haas: Unbekannte deutsche Dichterstätten im Süden, S. 5. 116 Haas: Unbekannte deutsche Dichterstätten im Süden, S. 6. 117 Haas: Unbekannte deutsche Dichterstätten im Süden, S. 7. 118 Haas: Unbekannte deutsche Dichterstätten im Süden, S. 7.
7.2. Historisierung und Rehabilitation
327
Vor allem die Rehabilitation durch exilierte jüdische Intellektuelle brachte George allmählich wieder zurück ins literarische Gedächtnis. Theodor W. Adorno setzte sich seit den 30er Jahren mehrfach kritisch mit Stefan George, dessen „Pathos der Distanz“ er rühmt, auseinander.119 Seine erste große Kritik, eine ausführliche Besprechung des Briefwechsels von Hofmannsthal und George aus dem Jahr 1939/40, liefert, wie Walter Benjamin gleich bemerkte, „eine ‚Rettung‘ Georges“,120 auch wenn Adorno Georges „Postulat der Haltung“, selbst der „edlen Haltung“, als Attitüde ablehnt.121 In seiner Rede über Lyrik und Gesellschaft (1957) hebt er George in den Rang
119 Zu Adorno und George gibt es zahlreiche Studien. Noch nicht erschöpfend gewürdigt ist Adornos musikalische George-Rezeption (Vier Lieder nach Gedichten von Stefan George, op. 1 [1925–28] und op. 7 [1944]; vgl. III, 4.; Heinz Steinert: Adorno in Wien. Über die (Un-)Möglichkeit von Kunst, Kultur und Befreiung, Münster 2003, S. 97, 110–122). Dagegen ist die literarästhetische Auseinandersetzung besser behandelt; vgl. etwa Gerd Schrader: Expressive Sachlichkeit. Anmerkungen zur Kunstphilosophie und Essayistik Theodor W. Adornos, Königstein 1986, bes. S. 67–75. Speziell Georges ‚Rettung‘ durch Adorno behandeln Dieter Heimböckel: Anspruch und Wirklichkeit. Theodor W. Adornos Beitrag zur „Rettung“ Stefan Georges. In: CP 196/197 (1991), S. 70–79, und Manfred Durzak: Ansichten über Lyrik. Zu Adornos Interpretationen von Gedichten Stefan Georges. In: Cultura Tedesca 2001, Heft 18, S. 129–140; Durzak attestiert Adorno eine formale Nähe zum George-Kreis, die sich in seinem Behauptungsgestus und seinem nicht auf leichte Verständlichkeit hin angelegten literarischen Darstellungsgestus zeige. Adorno schätze das Frühwerk mehr, weil es auf dem ‚Pathos der Distanz‘ beharre, die soziale Realität ausblende und in sich geschlossen sei. Damit sei es ein ästhetischer Gradmesser der Wirklichkeit, während im Spätwerk die Poesie ideologisiert werde und im Dienste einer Lebenshaltung stehe. Demian Berger: Theodor W. Adornos George-Rezeption. Eine dialektische Literaturbetrachtung. In: Weimarer Beiträge 66 (2020), S. 212–232, erklärt Adornos ambivalente Haltung zu George mit seiner doppelten Milieu-Zugehörigkeit: Während er als Repräsentant der linken Frankfurter Intelligenz George ablehnte, habe er als Komponist der Zweiten Wiener Schule dessen ästhetischen Qualitäten geschätzt. In Adornos prinzipieller Ablehnung alles Bürgerlichen sieht Berger das Stimulans seiner George-Lektüre und begründet damit Adornos dialektische Rettung Georges gegen den Vorwurf eines ‚klassischen‘ Dichters. 120 Vgl. Walter Benjamin an Theodor W. Adorno vom 7.5.1940. In: Theodor W. Adorno / Walter Benjamin: Briefwechsel 1928–1940. Hg. von Henri Lonitz, Frankfurt/M. 1994, S. 424– 439, hier 427, 429. 121 Theodor W. Adorno: George und Hofmannsthal. Zum Briefwechsel: 1891–1906 [Erstdruck 1942]. In: T. W. A.: Gesammelte Schriften 10/1. Kulturkritik und Gesellschaft, Bd. 1: Prismen. Ohne Leitbild. Hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1977, S. 195–237, hier 201: „Nicht bloß die stramme, noch die edle Haltung ist stigmatisiert, und selbst jene Anmut, die nach Georges Ideenhierarchie als Schönheit des einfach gestalthaften Seins die oberste Stelle einnimmt“. Benjamin, dem Adorno seinen Essay zusandte, hat allerdings den Haltungsbegriff als unzulässige Vereinfachung zurückgewiesen. Doch fällt Adornos ideologiekritisches Urteil über George und dessen Kreis in einem Brief an Thomas Mann vom 1.12.1952 noch schärfer aus: „George hat sich im Teppich als Künstler selbst getilgt, indem er auf eigene Faust Formen des Bestätigtseins gehandhabt hat, die, als objektiv unbestätigte, ihm unter den Händen zerbrechen mussten. Am Ende sind die scheußlichen Sprechchöre des ‚Sterns‘ herausgekommen und ein Führerkult, der doch dem faschistischen nicht so fern war, wie Georges große Gesinnung es denken mochte“.
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7. Nachkriegsdichtung
eines Vorbilds lyrischer Neuorientierung: Das Gedicht „Im windes-weben“ (SW VI/VII, 137) aus dem Siebenten Ring charakterisiert Adorno als „neuromantisch“, erkennt jedoch die unzeitgemäße „asketische Aussparung“ an und zählt den Schluss des Gedichts gar „zu dem Unwiderstehlichsten […], was jemals der deutschen Lyrik beschieden war“.122 Noch Adornos letzte poetologische Auseinandersetzung mit George, ein Rundfunkvortrag aus dem Jahre 1967, setzt mit der politischen Indienstnahme ein, wehrt aber den späten Künder ab: „Wo George zum Preis von Führertum sich erniedrigt, ist er in Schuld verstrickt und nicht wiederzuerwecken“.123 Stattdessen rehabilitiert Adorno den frühen, vom französischen Symbolismus geprägten neuromantischen Dichter: „Georges überindividuelle Gedichte sind nicht die Sprechchöre, sondern fast stets die verdunkelten“.124 Überdies entdeckt er den Prosaisten George, indem er dessen Tage und Taten als „durchgeformte Traumprotokolle“ und „Gesichte des Untergangs“ rühmt, „in denen mythische und moderne Momente in Konstellation treten“.125 Der Redende Kopf (SW XVII, 27) wird als Muster von „Georges Rätselfigur“ zitiert und so zum Modell eines nicht diskreditierten Prosastils. Auch Werner Kraft, der eigentlich Borchardt-Verehrer war, und Schalom Ben-Chorin setzten sich für eine Aufwertung Georges ein. So gestaltet Ben-Chorin in seinem Gedichtzyklus Jerusalem (1953) die Exilerfahrung als Erleben eines doppelten Verlusts, eines Verlusts der deutschen Heimat und der geistig-religiösen Heimat („Ich habe das Jerusalem meines herzens verloren | Dess weine ich“). Nicht zufällig ist dieser Zyklus auch ein Bekenntnis zu George. Denn zum einen ist der Publikationsort, das Castrum Peregrini, schon programmatisch, zum andern hat Ben-Chorin den Zyklus typographisch ganz der George-Tradition angepasst, in Kleinschreibung mit Mittelpunkten.126 Werner Kraft, der sich auch in Palästina zu Georges Werk – mit kritischer Reserve zur Person des Dichters – bekannte, hatte 1950 in einem Aufsatz über George und das Judentum jeglichen Faschismus-Vorwurf 122 Theodor W. Adorno: Rede über Lyrik und Gesellschaft. In: T. W. A.: Gesammelte Schriften 11. Noten zur Literatur. Hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1974, S. 49–68, bes. 64–68, hier 66. 123 Theodor W. Adorno: George (1967). In: T. W. A.: Gesammelte Schriften 11. Noten zur Lite ratur, S. 523–535. Norbert Hummelt: Eselsohren. Anmerkungen zu Adornos imaginärer George-Auswahl. In: Text + Kritik 168: Stefan George (2005), S. 47–53, nimmt Adornos Rundfunkbeitrag und ein Zitat daraus: „Ich fingiere also das freilich Undenkbare, ich hätte eine Auswahl der Werke Stefan Georges herzustellen“ zum Ausgangspunkt für seine Überlegungen zu Adornos George-Rezeption, in denen er das „Zwiespältige“ in Georges Lyrik rechtfertigt. 124 Adorno: George, S. 529. 125 Adorno: George, S. 534. 126 Schalom Ben-Chorin: Jerusalem: Gedichtzyklus. In: CP 12 (1953), S. 47–53.
7.2. Historisierung und Rehabilitation
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entkräftet, indem er sowohl den maßgeblichen Anteil jüdischer Freunde im Kreis als auch die „Verschränkung jüdischer und deutscher Motive“ im Werk Georges betont.127 Seine literarhistorische Erinnerung an die gemeinsame deutsch-jüdische Tradition des George-Kreises erachteten gerade die exilierten Dichter und Intellektuellen als „wichtig“ für das „Verhältnis[] zwischen Judentum und Deutschtum“.128 In der privaten Kommunikation bleibt Krafts Verhältnis zu George allerdings zwiespältig. In der Anlage eines Briefs an Wilhelm Lehmann aus dem Jahre 1954 findet sich das Epigramm Scherz oder Die Kunst, George und der Künstler: Die zweite Hälfte des Vierzeilers zitiert die beiden Schlussverse aus der „Tafel“ Bamberg im Siebenten Ring: Der Stiefelputzer weiss den Schuhen Rat, Dass niedlich sie betanzt die schlanke Elfe „Nur stiller Künstler, der sein Bestes tat, Versonnen wartend, bis der Himmel helfe“.129
Das Tertium comparationis zwischen dem „Stiefelputzer“, der sein Objekt, die Schuhe, zum erhofften Tanz herrichtet, und dem Bamberger Reiter, dem Georges „Tafel“ Bamberg gewidmet ist, bleibt in Krafts Epigramm vage. Es besteht wohl in dem geduldigen Ausharren, bis der Tag des Wunders gekommen ist, sei es des Elfentanzes oder sei es des ‚Endzeitkaisers‘. Auch wenn Kraft mit dieser Parallele die politische Prophetie in Georges Gedicht ironisiert, hat er in der Folgezeit durch einfühlsame Interpretationen die lyrische Qualität Georges, manches „vollkommene Gebilde der Poesie“, ins kollektive Gedächtnis zurückgerufen.130 Als das Grab des Dichters in Minu sio zu einem Erinnerungsort für die Wiederentdeckung Georges wurde, hat auch Werner Kraft ein knappes Gedicht verfasst, das wohl aus den 50er Jahren datiert:
127 Werner Kraft: George und das Judentum. In: Neue Schweizer Rundschau N.F. 17 (1949/50), S. 619–625, hier 622. 128 Vgl. Hermann Broch an Werner Kraft, 28.5.1949. In: H. B.: Kommentierte Werkausgabe, Bd. 13/3: Briefe 3 (1945–1951). Hg. von Paul Michael Lützeler, Frankfurt/M. 1981, Nr. 652, S. 332–334, hier 333. 129 Werner Kraft: „Frühling“ [25 Gedichte, datiert März 1954]. Anlage zu Brief von W. K. (Jerusalem) an Wilhelm Lehmann, 27.4.1954 (DLA, A: Lehmann 68.4493). Gedruckt in: Werner Kraft – Wilhelm Lehmann: Briefwechsel 1931–1968. Hg. von Ricarda Dick, 2 Bde., Göttingen 2008, Nr. 306, S. 20–28, hier 27. Zu Georges „Tafel“ Bamberg vgl. die instruktive Deutung von Jutta Saima Schloon: Modernes Mittelalter. Mediävalismus im Werk Stefan Georges, Berlin und Boston 2019, bes. S. 243–246. 130 Vgl. Werner Kraft: Gedichte von George. In: W. K.: Augenblicke der Dichtung. Kritische Betrachtungen, München 1964, S. 147–162, hier 152. Erinnert sei hier auch noch an den späten Band von Werner Kraft: Stefan George, München 1980.
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7. Nachkriegsdichtung
Georges Grab (Minusio) Der hier liegt, ist Staub, Der zu Grabe geht. Das Vergehen steht, Schrift im Lorbeerlaub.131
Werner Kraft trennt in diesem Grabgedicht Georges Person und Werk. Während die Person zu Staub verfalle, ist das Vergehen seines Werks sistiert und bleibt im Bild des immergrünen Lorbeerlaubs bestehen, das hier als Verewigungs- und Ruhmesbild gebraucht wird. Der Dichter Werner Helwig, von der bündischen Jugend im allgemeinen und vom Nerother Wandervogel speziell geprägt, hatte den Krieg im Schweizer Exil verlebt. Nach dem Krieg hatte er in vielen Artikeln die Erinnerung an George erneuert.132 Im Jahre 1958 schildert Helwig anlässlich eines Deutschland-Besuchs auch Georges Heimatstadt Bingen.133 Nachdem er die Stelle in Augenschein genommen hat, wo das durch einen Bombenangriff bis auf die Grundmauern demolierte Geburtshaus des Dichters stand, besucht er die George-Sammlung im Turm der Burg Klopp mitten in Bingen. Ausführlich beschreibt Helwig die hinterlassene Bibliothek des Dichters und illustriert anhand der zahlreichen Widmungsexemplare die Verehrung, die George bei ganz unterschiedlichen Repräsentanten der Avantgarde genoss: die Reihe reicht von Erich Mühsam, Walter Hasenclever, Richard Schaukal bis Kasimir Edschmid und Theodor Däubler. Widmungen von Mitgliedern der mäzenatischen Schweizer Familie Reinhart erinnern Helwig daran, dass George „in der Schweiz […] eines einsamen, ja, gewissermaßen eines gegen die Machenschaften des Dritten Reiches protestierenden Todes“ gestorben sei, und er stilisiert nachträglich Georges Tod und Grab in der Schweiz zu „eine[r] Trotzgebärde Georges“.134 So dient Georges Schweizer Grab in Helwigs Bericht nicht nur als nachträgliches Ar-
131 Werner Kraft: Georges Grab (Minusio). In: Gedichte. Anlage zu Brief an Wilhelm Lehmann, 24.3.1948. Autograph. DLA, A: Lehmann, Manuskripte Dritter 68.6874. Vgl. Werner Kraft – Wilhelm Lehmann: Briefwechsel 1931–1968. Hg. von Ricarda Dick. Bd. 1: 1931–1953, Göttingen 2008, Nr. 289, S. 540–542, hier 541. Abgedruckt ist eine spätere, minimal geänderte Version in einem Brief von Werner Kraft an Wilhelm Lehmann, 4.10.1953: „Minusio (Georges Grab). // Der hier liegt ist Staub, / Der zu Grabe geht. / Schön der Name steht / Schrift im Lorbeerlaub.“ 132 Die George-Bibliographie online führt 35 Artikel Helwigs auf, die sich auf George be ziehen. 133 Werner Helwig: Winterbesuch im Turm zu Bingen. In: Stuttgarter Zeitung, 15. Februar 1958. 134 Helwig: Winterbesuch im Turm zu Bingen.
7.2. Historisierung und Rehabilitation
331
gument für die angebliche politische Integrität des Dichters, sondern sogar für dessen Widerstand gegen das NS-Regime. 1958 veröffentlichte auch der gebildete Basler Bibliothekar Johannes Oeschger (1904–1978), der von Jugend an George verehrte, als Privatdruck sein zwanzig Strophen umfassendes Gedicht Minusio.135 Oeschger war mit Robert Boehringer freundschaftlich verbunden.136 Ihm hat er auch den „Pfingsten 1958“ datierten Privatdruck Minusio gewidmet, nachdem er ihm bereits am 29. Juli 1957 ein erstes Fragment übersandt hatte mit der Bitte, „daran zu korrigieren und weiterzudichten“; diese Bitte führte allerdings zu starken Änderungen, wie die mehreren Entwürfe und Versionen des Grabgedichts in Oeschgers Nachlass bezeugen, die in Umfang und Wortlaut erheblich variieren.137 So wurde vorgeschlagen, die Eingangsstrophe zu ändern, da „auf dem Grabe keine Daten“ stünden, sondern „nur der Name“: Lang hab ich dieses kahle grab gemieden Darauf ein name und zwei daten prangen Hier fand ein dichter seinen längsten frieden Vom schattenduft des lorbeers kühl umfangen.138
Oeschger folgte in der Druckversion dieser Korrektur und übernahm auch den Änderungsvorschlag für Vers 4: An der Änderung der Eingangsstrophe war neben Robert Boehringer auch Clotilde Schlayer beteiligt, die gegenüber Oeschger mehrere Stellen des Gedichts monierte und folgende Version vorschlug:
135 Zu Oeschger vgl. Stefan George. Dokumente seiner Wirkung. Aus dem Friedrich Gundolf Archiv der Universität London hg. von Lothar Helbing und Claus Victor Bock mit Karlhans Kluncker, Amsterdam 1974 (CP 111–113), S. 196–198. 136 Die Freundschaft bezeugen viele Freundschaftsgedichte in Oeschgers Nachlass, die gelegentlich auch auf Boehringers Freundschaft mit George anspielen; vgl. Johannes Oeschger: An Robert Boehringer zum 30.7.1949. NL Oeschger (UB Basel), A1, WB 71: „Des Dichters seltne freundschaft – sie verklärte / Dein leben früh mit schimmer der legende. / Wer stand wie du, in freud und leid gefährte, / Zur Seite ihm bis an die letzte wende“ (V. 1–4). 137 Im Nachlass Oeschger (UB Basel), A1, WB 83, findet sich ein Umschlag mit Materialien zu dem Minusio-Gedicht. Außerdem siehe kommentierte Entwürfe in dem Notizbuch NL J. Oeschger (UB Basel) C1, Bl. 1–4. Oeschgers Skepsis gegenüber dem eigenen Gedicht zeigt sich auch in der „Widmung des Minusio-Gedichts an Herbert Steiner 1958“: „Mustre, felchenschreck, es traulich. / Manche finden es abscheulich. / Du nicht so! oh listenreicher / Allesschmecker, allvergleicher! / Mundet’s dir, sag: Imprimatur! / Andernfalles deleatur“ (NL Oeschger [UB Basel] C1, Bl. 18). 138 Johannes Oeschger an Robert Boehringer vom 29.7.1957 (UB Basel, NL Oeschger A1, WB 83). Auch das Motto des Gedichts, Giacomo Leopardis Sopra il monumento di Dante che si preparava in Firenze, wurde von fremder Hand (Boehringer?) hinzugefügt.
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7. Nachkriegsdichtung
Lang hab ich dieses kahle grab gemieden Drauf nur ein Name steht in strengen lettern. Hier fand ein dichter seinen längsten frieden Im schweigen von granit und lorbeerblättern.139
Selbst von den beiden anaphorischen Schlussstrophen, die Oeschger „als definitiv“ erachtete,140 blieb nur die letzte Strophe in der Druckversion erhalten: In geist und strofen blühen seine taten; Er hegte keusch die anvertraute flamme[.] So schnell kommt einer nicht, so wohlgeraten[,] So adlig frei und schlicht aus eurem stamme.141
Oeschger nutzt die Gattung Epitaph, um den Dichter zwei Mal anrufend zu vergegenwärtigen. Die erste Apostrophe, deren Anlass die Physiognomie des Dichters ist, umgreift die Strophen vier und fünf: Oh, augen, bald aus höhlen spähend, lauernd, – War’s falke oder leu? – bald eingesunken In seelenabgrund, freudig oder trauernd Von wonne neuer seligkeiten trunken, Seid ihr entrückt und ausgelöscht? So schauerst Du vor zerfall nicht, früh gebleichte strähne? Oh stirn aus elfenbein, so überdauerst Auch du nicht, schaffnerin erhabner pläne?142
An die metonymische Präsentation der Figur schließt sich eine als Streit mit den imaginären Kritikern des Dichters dialogisch gebrochene Verteidigungsrede an („Was wisst ihr von der finstern nacht und öde | Geduldigen wartens, winterlicher brache!“ [V. 57 f.]), die ganz dem Tenor des Zeitgedichts [I] nachempfunden ist. Oeschger wechselt hier zwischen Ihr-Anrede und Richtigstellungen der falschen Urteile im Präteritum. Auch Stauffenbergs „Tat“ wird antonomastisch im Stile Georges, und mit Christus und der Maximin-
139 C. S. [Clotilde Schlayer] (Locarno) an Johannes Oeschger vom 18.9.1957. UB Basel, NL Oeschger WB 83. 140 Johannes Oeschger an Robert Boehringer vom 29.7.1957. UB Basel, NL Oeschger WB 83. 141 Diese Strophe ändert Clotilde Schlayer in folgende Version um: „In Geist und Strofen blühen seine Taten / Er wog er wählte er verwarf und krönte / Doch nie hat er der Musen Wort verraten / Das bei des Kadmos Hochzeit hell erdröhnte“ (C. S. an Johannes Oeschger vom 18.9.1957. UB Basel, NL Oeschger WB 83). 142 Johannes Oeschger: Minusio, o. O. [Basel] 1958, S. [3]f., V. 13–20.
7.2. Historisierung und Rehabilitation
333
Figur interferierend, aufgegriffen. Selbst das Maximin-Ereignis wird in diese Schimpf- und Rechtfertigungsrede integriert. Wieder wird den Kritikern die Verkennung Georges vorgehalten, um sie daran zu erinnern, dass der HitlerAttentäter Stauffenberg aus dem Kreise Georges stammte: Und als ihr in der zeitenferne schaltet Und des verrats am angestammten lande, Wuchs unter euch sein freund und wohlgestaltet, Dess tat von euch den makel nahm der schande.
Der Schluss des Gedichts prophezeit dem Dichter noch eine Zukunft („Dem rechten sinn wird sich sein buch erschliessen“), um ihn dann ein zweites Mal zu apostrophieren; Verklärter mann! wie manches herz dein wesen Verzauberte, wird nie ein griffel melden. In eigner brust mag es ein jeder lesen, Wie er nach deinem spruch sich schuf den helden. Und brände seh ich zwei geschwistert streben, Dem gleichen scheite märchenhaft entglommen, Sie nährten ohne falsch dein hohes leben: Eros und Eris, immer gleich willkommen.
Oeschgers Schlusswürdigung erinnert daran, wie viele Leser von George buchstäblich ergriffen und verändert wurden und wie Liebe und Streitlust das „hohe leben“ des Dichters bestimmten. Oeschger huldigt dem Vorbild George, indem er ihn imitiert: Nicht nur äußerlich in der Kleinschreibung, sondern auch sprachlich-stilistisch sowie in der pauschalen Abwertung der Kritiker, in der antonomastischen Diktion, in der Enthistorisierung des Faktischen und der raunenden Zukunftsgewissheit. Wie andere Repräsentanten der Vorkriegsmoderne setzte sich nach 1945, vor allem nach der großen Monographie Robert Boehringers (1952), auch Kasimir Edschmid wieder mit der Gestalt und der Dichtung Stefan Georges auseinander. Er nahm Boehringers Mein Bild von Stefan George zum Anlass für eine Essay-Rezension Georges Größe und Menschentum,143 die er durch eigenes Erleben bekräftigte und in der Prosaskizze Der Tote von Minusio fortschrieb. Edschmid wertet darin George zum „arme[n] Exulant[en]“ auf und bemüht sich um dessen politische Rehabilitation, indem er
143 Kasimir Edschmid: Georges Größe und Menschentum. In: Neue literarische Welt 3 (1952), 4, S. 3 f. Korrekturfahnen mit vielen handschriftlichen Ergänzungen und Marginalien, DLA, dienten wohl als Grundlage der Prosaskizze Der Tote von Minusio (Typoskript im DLA).
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7. Nachkriegsdichtung
jegliche Nähe zur nationalsozialistischen Ideologie in Abrede stellt.144 Doch bleibt Edschmids Essay wie die Rezension mehr ein subjektiver Rückblick als ein begründeter Versuch, die Aktualität Georges nach dem Zweiten Weltkrieg neu zu bestimmen. Ähnlich wie Johannes Oeschger mit seinem Großgedicht Minusio den 90. Geburtstag Georges nutzte, um dessen überzeitliche Bedeutung zu vergegenwärtigen, war das Jahr 1958 auch ein publizistischer Anlass, um an George zu erinnern und seine Rolle in der deutschen Literatur- und Geistesgeschichte neu zu bestimmen. Neben dem Castrum Peregrini, das ein Doppelheft Interpretationen von George-Gedichten widmete, erschien in der ‚Humanistischen Schriftenreihe‘ Agora ein „Gedenkheft für Stefan George“. Darin finden sich zahlreiche Dichterstimmen, darunter der englische Poet und George-Übersetzer Stephen Spender sowie Rudolf Alexander Schröder, Rudolf Pannwitz, Fritz Usinger, Kasimir Edschmid, Albrecht Goes, Eugen Gomringer und Hermann Kasack – vorwiegend Autoren, die im 19. Jahrhundert geboren wurden. Insofern haftet den Deutungen auch der Charakter autobiographischer Retrospektiven an. Hermann Kasacks Antwort auf die „George-Umfrage“ beginnt dementsprechend mit einem Besuch des Dichtergrabes: Im Frühjahr 1958 stand ich am Grabe Stefan Georges auf dem kleinen Friedhof in Minusio, in dessen Platte nur sein Name eingekerbt ist, keine Jahreszahlen, kein Vers. In den aufgestellten kleinen Lorbeerbäumen schimmerten welke Blätter, und die Rillen der Schrift waren von Staub und Blattresten bedeckt. Nachdenklich verließ ich die Stätte.145
Die Distanz, die diesem lakonischen Bericht innewohnt, der im Druck weggefallen ist, wird durch die nachfolgende persönliche Würdigung überbrückt. Kasack schreibt rückblickend 1958 Georges Lyrik, vor allem der mittleren Schaffensphase, eine Prägekraft für das eigene Werk zu. Er rühmt „die Lauterkeit der Sprache und den Willen zur strengen Form“ und bekennt, „in den reinsten Gedichten […] auch heute noch jene Identität von Form und Schau“ zu empfinden.146 Kasacks Charakterisierung steht einer144 Unter Bezugnahme auf die Brüder Stauffenberg konstatiert Edschmid: „Dass aus Georges Hand, der als Ästhet geschmäht wurde, Männer herv[o]rgingen, die bereit waren, sich für die Freiheit zu opfern, ist erschütternd genug, um jeden törichten Einwand gegen seine Haltung zum Schweigen zu bringen“ (K. E.: Der Tote von Minusio, S. 2). 145 Hermann Kasack: [George (1958)]. In: Kein ding sei wo das wort gebricht. Stefan George zum Gedenken. Hg. von Manfred Schlösser und Hans Rolf Ropertz, Darmstadt 21961 (Agora 11), S. 130 f. Das DLA Marbach verwahrt ein einseitiges Typoskript Kasacks, den Durchschlag zur Druckvorlage (91.128.719/2), nach dem der im Druck getilgte Eingang zitiert wird. 146 Kasack: George, ebd.
7.2. Historisierung und Rehabilitation
335
seits sprachlich der kreisinternen Rezeption erstaunlich nahe und erneuert andererseits das konservativen Lob Georges aus der Vorkriegszeit. Trotz solch prominenter und weniger prominenter Bekenntnisse zu Georges Aktualität nach 1945 hielt sich die produktive Rezeption bis in die 80er Jahre in engen Grenzen. So lässt sich beispielsweise Hilde Domins Gedicht Herbstaugen (1962) als Auseinandersetzung mit Georges Gedicht „Komm in den totgesagten park und schau“ auffassen, jedoch ohne explizit als solche gekennzeichnet zu sein: Presse dich eng an den Boden. Die Erde riecht noch nach Sommer, und der Körper riecht noch nach Liebe. Aber das Gras ist schon gelb über dir. Der Wind ist kalt und voll Distelsamen. Und der Traum, der dir nachstellt, schattenfüßig, dein Traum hat Herbstaugen.147
Domin lehnt sich inhaltlich-thematisch an den mutmaßlichen Prätext an: In einer Du-Selbstansprache mahnt sich die Sprecher-Instanz, körperlich den Sommer und die Liebe zu wahren, obgleich der Herbst schon präsent ist. Die inhaltliche Entsprechung bliebe aber wohl ohne die weiteren Referenzen auf Georges Proömialgedicht zum Jahr der Seele fragwürdig: Neben lexikalischen Übereinstimmungen („Wind“ und „Herbst“) und dem gleichen imperativischen Sprachgestus wird das Thema der Vergänglichkeit („und was übrig blieb von grünem leben“, V. 10), das in Georges zentralem Zeitadverb ‚noch‘ anklingt, durch Verdopplung und das zusätzliche Zeitadverb ‚schon‘ sogar intensiviert: Domins Schlusswort „Herbstaugen“ korrespondiert als neologistisches Kompositum und Synekdoche mit dem „herbstlichen gesicht“, das Georges Gedicht beschließt. Erst eine solchermaßen unterfütterte thematische Markierung gestattet es, Domins Herbstaugen 147 Hilde Domin: Herbstaugen. In: H. D.: Rückkehr der Schiffe, Frankfurt/M. 1962, S. 7. Das Gedicht ist bereits in einem Typoskript („Almanachfahne nr. 46“) vom 12.8.[19]60 überliefert; DLA, A: Domin, Hilde (Anlage in Briefen an Rudolf Hirsch) 07.2.
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7. Nachkriegsdichtung
als resignative Replik auf George zu deuten, indem sie dessen gedämpfte Liebesansprache zu einem Scheindialog verengt. Sogar frühe Parodien verhüllen das Ziel des Angriffs.148 Wie die lebensphilosophische Anthropologie Simmels standen auch Stefan George und sein Kreis mehr oder weniger unter präfaschistischem Generalverdacht. In den 60er Jahren war der auratisierte ‚Dichter‘-Begriff in Verruf geraten, und „Lyriker oder Erzähler“ sahen sich, wie Günter Grass in einer Rede anlässlich des Princeton-Treffen der Gruppe 47 darlegte, nur mehr als „Schriftsteller“. Die allgemeine Distanz zu einem auratisierten Dichter-Konzept beglaubigt Grass mit der rhetorischen Frage: „Wer will schon ein Stefan George sein und mit glutäugigen Jüngern umherlaufen?“149 Diese Reserve gegenüber George kennzeichnet auch das Verhältnis der Autoren, die das nationalsozialistische Deutschland verlassen hatten. Obwohl sie sich im Exil unvermindert an Georges Dichtung orientierten, hielten sie nach ihrer Rückkehr mit ihrer Wertschätzung zurück.
7.3. George in der jüngeren Dichtergeneration der Nachkriegsjahre Noch in lyrischen Hommagen der frühen 1960er Jahre, in denen zumeist jüngere Dichter ihr Verhältnis zur Tradition auszutarieren suchten, finden sich gemischte Töne. Das gilt auch für das knappe Widmungsgedicht An George von Alexander Gruber. Es erschien in der kurzlebigen Literaturzeitschrift Der große Wagen, die in der bündischen Tradition wurzelt: Hör kaum ein wort von ähnlich reinem klang · Sah kein gesicht so wie ein felsenhaupt Und früh gealtert über dünnem leib. Dein leben bloss: schon ist es auch geheimnis.150
148 Vgl. Victor Otto Stomps: Fabel vom Maximus, Maximin, Minimax, Minimus. In: Akzente 5 (1958), S. 430 f. Hier ist der Bezug auf den Maximin-Kult nur vage angedeutet: „Maximin wird im Schlußkapitel als dichtender Nachlaßverwerter geistiger Kapazitäten gefeiert. – Namensverwechslung steht außer Frage.“ 149 Günter Grass: Vom mangelnden Selbstvertrauen der schreibenden Hofnarren unter der Berücksichtigung nicht vorhandener Höfe. In: Über das Selbstverständliche. Reden, Aufsätze, Offene Briefe, Kommentare, Neuwied und Berlin 1969, S. 105–112, hier 107. 150 Alexander Gruber: An George. In: Der Große Wagen. Blätter der Trucht. N.F. 1 (1963), H. 3, S. 26. Das Widmungsgedicht ergänzt die Dichtergedichte An Mörike und An Platen (ebd.) zu einem auch formal übereinstimmenden (jeweils vierversige, reimlose jambische Fünfheber) Triptychon. Der zunächst bündisch orientierte Herausgeber der Zeitschrift Volker Tonnätt machte sich später einen Namen in der ökologischen Widerstandsbewegung.
7.3. George in der jüngeren Dichtergeneration der Nachkriegsjahre
337
Der Verfasser, der sich schon äußerlich, in Kleinschreibung und Interpunktion, an George orientiert, betont dessen poetische wie physiognomische Einzigartigkeit, um in der Du-Anrede des Schlussverses doch auch die unüberbrückbare Distanz zu markieren.
7.3.1. Camouflierte Hommage: Wolfgang Hildesheimer Wie politisch heikel ein Bekenntnis oder auch nur eine Wertschätzung Georges im literarischen Feld der frühen Bundesrepublik waren, zeigt paradigmatisch der Fall Wolfgang Hildesheimer. Hildesheimer hatte schon 1944, während seines Aufenthalts in Palästina, eine englische Übersetzung des düsteren Gedichts „Trauervolle nacht!“ (SW IV, 96) veröffentlicht.151 Doch äußerte sich Hildesheimer, der 1946 nach Deutschland zurückgekehrt war, danach lange nicht mehr zu George. Allerdings erscheint George als Zerrbild in seiner Erzählung Bildnis eines Dichters aus den Lieblosen Legenden (1962). Sie handelt von dem prominenten Lyriker Sylvan Hardemuth, den der verkannte Kritiker Alphons Schwerdt nur erfunden hat, um mit den Dichtungen seines Alter Ego scharf und brillant ins Gericht zu gehen. Doch als Hardemuth trotz der Kritiken erfolgreicher „Liebling des Publikums“ wird und gar „1909 […] den Nobelpreis“ erhält,152 verstummt sein Erfinder „Schwerdt […] als Schwerdt ein für allemal“.153 Stattdessen nimmt er als Hardemuth virtuos „seine titanische Rolle“ an: Nicht nur ermöglichte ihm die im Lauf der Zeit erworbene Fertigkeit, in seiner Lyrik von einer Stilepoche zur anderen zu springen – wahrhaft ein Rhapsode des Eklektizismus! – sondern er paßte nun auch das tägliche Leben seinem Dichtertum an. Die zahlreichen Besucher empfing er in einem hohen Lehnsessel sitzend, eine Toga um die Schultern und ein Plaid über den Knien, in einer Pose also, die er den traditionellen Darstellungen von Dichterfürsten entnommen hatte, die sich bekanntlich, um ihre Unsterblichkeit zu wahren, vor Zugluft schützen müssen. Auch umgab er sich mit Jüngern und Jüngerinnen, die zu seinen Füßen auf Kissen – er nannte sie Jüngerkissen – saßen und ihn mit „Meister“ anredeten. Ein Porträt, wenige Jahre vor seinem Tode gemalt, zeigt ihn auf seinem Sessel, einen Federkiel in der linken, eine Pergamentrolle in der rechten Hand […]. 154
151 Vgl. Volker Jehle: Wolfgang Hildesheimer. Werkgeschichte, Frankfurt/M. 1990, S. 381, 653. Vgl. dazu Peter Horst Neumann: Wolfgang Hildesheimer und Stefan George. In: P. H. N.: Erlesene Wirklichkeit, Aachen 2005, S. 59–70. 152 Wolfgang Hildesheimer: Bildnis eines Dichters. In: Lieblose Legenden [1962], Frankfurt/M. 21968, S. 35–39, hier 36. Tatsächlich erhielt 1909 Selma Lagerlöf, als erste Frau überhaupt, den Literaturnobelpreis. 153 Hildesheimer: Bildnis eines Dichters, S. 38. 154 Hildesheimer: Bildnis eines Dichters, S. 38.
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7. Nachkriegsdichtung
Hildesheimer zielt hier mit der „titanische[n] Rolle“, der ausgeprägte[n] Selbstinszenierung und dem Ästhetizismus des Dichters, der „auch das tägliche Leben seinem Dichtertum an[passt]“, unverkennbar auf George. Auch die Empfangsszene, in welcher der Dichter mit einer „Toga um die Schultern“ und einem „Plaid auf den Knien“ seine Besucher empfängt, kombiniert womöglich zwei Darstellungsweisen Georges: nämlich die antikisierende Pose auf den Schwabinger Maskenzügen, wo sich George 1903 als Caesar verkleidete, sowie späte Darstellungen, die „Stefan George in Wollweste“ zeigen, der sich vor Zugluft schützt.155 In mancher Hinsicht zeugt die ‚lieblose Legende‘ von einer unverkennbaren Dissonanz: Ehrung mischt sich mit Distanzierung. Erst über zwanzig Jahre später setzte sich Hildesheimer wieder literarisch mit George auseinander. In seinen an Max Frisch adressierten Mitteilungen an Max (1983), findet sich – noch dazu in camouflierter Form – eine George-Allusion: Neben den poetischen Zitaten von Hölderlin, Rilke oder Schiller steht, als Beschreibung eines Waldgangs getarnt, ein Zitat aus dem Jahr der Seele: „Still ist es hier wie im alten Wald der Sage, oder ungefähr so still“.156 Das Zitat, das Hildesheimer in dem geschwätzig-banalen Kontext versteckt hat, soll wie ein Chiffernbrief den Adressaten auf den ernsten Prätext lenken, der in der ersten Strophe eine gemeinschaftliche Erinnerung anspricht: Mit frohem grauen haben wir im späten Mondabend oft denselben weg begonnen Als ob von feuchten blüten ganz beronnen Wir in den alten wald der sage träten. (SW IV, 26)
Dieses Gedicht hat Hildesheimer erneut in Meine Gedichte (1983) gewürdigt, nicht ohne sich dafür zu rechtfertigen: Wenn man Stefan George überhaupt noch akzeptieren möchte, was ich schon deshalb tue, weil er eine einzigartige, wenn auch düstere und morbide, Geschehensebene heraufbeschwört, so muß man natürlich auch hier Schwächen feststellen, die freilich unter dieser suggestiven Suada zu verschwinden scheinen oder zu verschwinden suchen.157 155 Vgl. RB, S. 88. Zu den Bildern von „Stefan George in Wollweste“ (so die Bildunterschrift bei Boehringer), die zu der Bemerkung passen, man müsse sich als unsterblicher Dichter vor „Zugluft“ schützen, vgl. ebd., S. 160–162 und 167–179. Nicolas Detering: „Satansbraten“. Rainer Werner Fassbinders Komödie über Stefan George (1976). In: George-Jahrbuch 12 (2018/2019), S. 181–214, hier 201, sieht den ikonographischen Typus des ‚Dichters mit Wolldecke‘ in Mallarmé vorgebildet. 156 Wolfgang Hildesheimer: Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge und anderes, Frankfurt/M. 1983, S. 34. 157 Wolfgang Hildesheimer: Meine Gedichte. In: W. H.: Gesammelte Werke, Bd. 7: Vermischte
7.3. George in der jüngeren Dichtergeneration der Nachkriegsjahre
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Erst nach dieser reservatio mentalis bekennt sich Hildesheimer rückhaltlos zu der Faszination, die Georges Gedicht, das „niemals von Ungefährem oder gar Banalem getrübt“ ist, auf ihn ausübe: „Mir selbst zaubert es eine dunkle nostalgische Welt und Zeit heran, eine längst vergangene natürlich, wie alle Wunschwelten und Wunschzeiten“.158 Und noch ein drittes Mal hat sich Hildesheimer 1983 mit Georges Dichtung auseinandergesetzt: Stefan George: ‚Das Wort‘ (1983). Indem er Georges klassisches poetologisches Gedicht einer metapoetischen Reflexion unterzieht, meint er erneut seine Affinität zu George rechtfertigen zu müssen: „Meine Verehrung Stefan Georges hält sich in ganz bestimmten Grenzen. Doch innerhalb dieser Grenzen bewundere ich ihn, was heute – schon wieder oder immer noch? – Verteidigung gegen Anwürfe bedeutet, sachliche oder nicht“. Was folgt, ist neben Hildesheimers Bekenntnis, das Jahr der Seele habe „[s]eine rezeptive Phantasie am meisten angeregt“, eine Auseinandersetzung mit dem ‚Unsagbaren‘, wie es das lyrische Ich im Gedicht konstatiert: „So lernt ich traurig den verzicht: | Kein ding sei wo das wort gebricht“ (SW IX, 107). Wie Hildesheimer in seiner ästhetischen Vorliebe für George den zeitgenössischen Ideologieverdacht mit zu verarbeiten sucht, bekundet der Schlusssatz des Essays. Denn er lässt sich nicht nur auf das lyrische Ich, sondern auch auf George beziehen: „Hier hat einer versagt, der sein Land, sein Reich, großzügig mit Worten beschenkt zu haben glaubt. Einer, der sich groß sah und über den das letzte Wort noch nicht gesprochen ist“.159
7.3.2. Kritische Distanz: Paul Celan, Oskar Loerke und Wilhelm Lehmann Ungeklärt ist in der Forschung noch immer, inwieweit sich Paul Celan an Stefan George orientierte. Zwar ist überliefert, dass Celan vor allem Georges lyrischen Zyklus Die hängenden Gärten besonders schätzte. Seine frühe rumänische Kurzprosa und frühen Gedichte zeigen unverkennbar George-Anklänge.160 Gelegentlich wurden neben der gemeinsamen Jean Schriften. Hg. von Christiaan Lucas Hart Nibbrig und Volker Jehle, Frankfurt/M. 1991, S. 465–467, hier 466. 158 Hildesheimer: Meine Gedichte, S. 467. 159 Wolfgang Hildesheimer: Stefan George: ‚Das Wort‘. In: W. H.: Vermischte Schriften, S. 461– 463, hier 463. Vgl. dazu Peter Horst Neumann: Der Guricht im Palimpsest. Wolfgang Hildesheimer und Stefan George. In: Merkur 46 (1992), S. 1001–1007. 160 Siehe Bernhard Böschenstein: Die Bedeutung Stefan Georges und Conrad Ferdinand Meyers für Paul Celans Frühwerk. In: Etudes germaniques 53 (1998), S. 481–492. Vgl. auch den Hinweis von Hans-Michael Speier: Die Wiederkehr Jean Pauls und die Prolegomena einer zukünftigen Kunst. Hegel, Jean Paul, George, Celan. In: Kehr um in dein Bild. Gedenkschrift
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7. Nachkriegsdichtung
Paul-Rezeption die „fragmentarischen Lakonismen“ und das „zyklische Aufbauprinzip“ der frühen Gedichtbände Mohn und Gedächtnis (1952), Von Schwelle zu Schwelle (1955) und Sprachgitter (1959) mit George verbunden,161 doch fehlt bis heute eine genaue intertextuelle Analyse. Auch für Celans frühe Übersetzung der Shakespeare-Sonette scheint Georges Nachdichtung, die er in zwei Exemplaren besaß, insofern „vorbildhaft präsent“ gewesen zu sein, als er sich von ihr gezielt durch andere übersetzerische Lösungen abzugrenzen versuchte.162 Weitgehend unbemerkt blieben in der deutschen Nachkriegsöffentlichkeit Peter Gans intertextuell getarnte Bezugnahmen auf den von ihm verehrten Dichter.163 So ehrt er seinen Malerfreund Philipp Weichberger anlässlich dessen Heirat mit einer „Hochzeitsepistel für Philipp und Nina“ (1958). Die zweite Strophe würdigt in reziproken Vossianischen Antonomasien („mein Telemach“, „dein Mentor“) die Freundschaft als Vater-Sohn-Beziehung: Du warst mein Telemach und Sorgenkind: ein unbeschriebnes Blatt im schönsten Sinne. Ich war dein Mentor und dir wohlgesinnt, ‚ja mehr als dies‘; […]164
Das markierte Zitat-Fragment stammt aus Georges Liebesgedicht „Liebe nennt den nicht wert der je vermisst . .“ (SW VI/VII, 144) aus dem Siebenten Ring. In diesem Lied entsagt ein liebendes Ich dem geliebten Du, verhehlt aber nicht die Schmerzen dieser Entsagung: „So reiss ich wund mich weg“ (Vers 7). In der Schlussstrophe, aus deren Anfang Gan zitiert, wird das geliebte Du noch einmal als „Süsser“ vergegenwärtigt, zugleich wird die Kompensation des Verzichts auf Liebesglück durch Dichtung angekündigt. Der Subtext, den Gan mit dem Zitat aufruft, verleiht dem Hochzeitscarmen insofern einen doppelten Boden, als der Lobredner dem Bräutigam damit
für Victor A. Schmitz. Hg. von Hans-Michael Speier und Daniel Straub, Frankfurt/M. 1983, S. 35–51, bes. 46, Anm. 22. Ludwig Lehnen: George und Celan als Übersetzer Shakespeares. In: Celan-Jahrbuch 9 (2003–2005), S. 273–300, betont Celans Nähe zur Klassischen Moderne wie auch zu Stefan George, ohne allerdings einen Einfluss direkt nachzuweisen. 161 Vgl. etwa Hermann Korte: Deutschsprachige Lyrik seit 1945, Stuttgart und Weimar 22004, S. 56. Zur Jean Paul-Rezeption vgl. Bernhard Böschenstein: Umrisse zu drei Kapiteln einer Wirkungsgeschichte Jean Pauls. Büchner – George – Celan. In: Jahrbuch der Jean-PaulGesellschaft 10 (1975), S. 187–204. 162 Vgl. Rolf Bücher: William Shakespeare. 21 Sonette I. In: „Fremde Nähe“. Paul Celan als Übersetzer. Hg. von Axel Gellhaus u. a., Marbach/N. 1997, S. 416–439, hier 419, sowie Lehnen: George und Celan als Übersetzer Shakespeares, bes. S. 274. 163 Gan hatte sich bereits vor dem Zweiten Weltkrieg schöpferisch mit George auseinandergesetzt. 164 Peter Gan: Hochzeitsepistel für Philipp und Nina. In: P. G.: Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 71–75, hier 71 (Verse 5–8).
7.3. George in der jüngeren Dichtergeneration der Nachkriegsjahre
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seine Resignation als Liebender kundtut. Indem Gan diesen Entsagungspassus zitiert, löst er sich nicht nur von seinem Freund, sondern distanziert sich auch von seinem ästhetischen Vorbild. Kritisch gegenüber George blieben auch die älteren Repräsentanten einer ‚neuen‘ Naturlyrik, zu der etwa Wilhelm Lehmann, Oskar Loerke oder Karl Krolow zu rechnen sind. Wilhelm Lehmann nutzt sogar einen Gedenkartikel auf Henry Benrath (verfasst 1952, erschienen 1954) zu einer späten Abrechnung mit George.165 Darin kritisiert er Georges „Erhabenheit“, die „in unseren Zustand nicht mehr passe[]“.166 Um die Überlebtheit von Georges Dichtung zu erweisen, die „mehr als Wille denn als Existenz“ lebe,167 integriert er George-Zitate in seinen Essay, die den hohen Ton als unzeitgemäß widerlegen sollen. Auch wenn sein Freund Werner Kraft in Jerusalem die negative Sicht auf Henry Benrath teilte, widersprach er entschieden Lehmanns Abrechnung mit George.168 Ein ähnlich kritischer Tenor prägt die Essays, die Karl Krolow, anlässlich des 90. und 100. Geburtstags Georges verfasste. Sie heben die Klassizität der Dichtung hervor, um sie als leblos und künstlich abzuwerten. Ob diese späten Abrechnungen mit George, die so ganz dem allgemeinen unsicheren Tenor der frühen Bundesrepublik entsprachen, auch einen Gerichtstag über die eigene Vergangenheit einschließen – Lehmann und Krolow waren Mitglieder der NSDAP –, sei dahingestellt.
7.3.3. Reverenzen in der lyrischen Avantgarde: Finismus und Konkrete Poesie Kühner und eigenwilliger als die kreisaffinen oder älteren Repräsentanten der ästhetischen Elite im Nachkriegsdeutschland bekannten sich junge Vertreter einer Avantgarde zu Stefan George. Für den sogenannten ‚Finismus‘ etwa, den der poetische Autodidakt Werner Riegel (1911–1956) im Jahre 1952 zusammen mit dem jüngeren Freund Peter Rühmkorf begründete, war George ein Vorbild. Diese ästhetische Richtung forderte in Erwartung eines Dritten Weltkriegs eine ultimative Kunst voll ‚aggressiver Trauer‘. In dem maßgeblichen Manifest Die heiße Lyrik beruft sich Riegel auf „vier Große“ der deutschen Lyrik, „die dem Finismus (im Formalen) die Fundamente 165 Wilhelm Lehmann: Die Spätlyrik Henry Benraths [1954]. In: W. L.: Gesammelte Werke, Bd. 7: Essays II. Hg. von Wolfgang W. Menzel nach Vorarbeit von Reinhard Tgahrt, Stuttgart 2009, S. 187–189 und 454 (Kommentar). Lehmann besaß eine Auswahlausgabe der Gedichte Georges (Breslau: Hirt 1930). 166 Lehmann: Die Spätlyrik Benraths, S. 187. 167 Lehmann: Die Spätlyrik Benraths, S. 187 f. 168 Werner Kraft (Jerusalem) an Wilhelm Lehmann, 2.8.1956. In: Briefwechsel, Bd. 2, S. 120 f.
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7. Nachkriegsdichtung
stellten“ und parallelisiert sie jeweils mit unterschiedlichen modernen amerikanischen Musikrichtungen: Die Lyrik des Finismus ist undenkbar ohne dies: ohne den sakral-kultischen, dabei stupend heidnischen Spiritual Georges; ohne die immens emotionale Blues Intonation Trakls; ohne den intellektualistisch wirksamen ‚drive‘ und ohne das um die analytische Ironie verminderte Pathos Benns; ohne die vermöge ihrer ästhetischen Indifferenz so eminent ausdrucksstarke, aber rhythmisch-reimlich ‚schmutzige‘ Poesie Brechts. Vier Hochspannungsmasten eines elektrischen Nervs dieser Zeit, ungeheure Kraftströme entsendend, die es zu nutzen gilt.169
Diese vier Großen hätten nicht nur „mit der Konvention“ gebrochen: „ihre Stärke, ihre Bedeutung liegt darin, dass sie neue Konventionen heraufbeschworen“. So wird der distanzierte hohe Ton in der modernen Lyrik auf George zurückgeführt: „aus einer Dichtung, die liturgisch gedacht und hierarchisch verwaltet wird, der Hymnik Georges, entspringen die Zeugnisse einer verstiegen esoterischen Eisschrankästhetik“.170 Auch wenn Riegel im Briefwechsel mit Kurt Hiller das Lob Georges relativiert, führt er ihn 1954 noch einmal in einem Dichterkatalog auf. Hier erhält George zusammen mit Trakl den höchsten Rang in der sechsstufigen Ordnung.171 Auch die Konkrete Poesie zählt, wie Günter Heintz überzeugend nachgewiesen hat,172 zu den bedeutenden und langfristigen Traditionssträngen der George-Rezeption. Während in der Frühzeit der Bundesrepublik poetische Bekenntnisse zu Stefan George relativ selten sind, hat die Avantgarde der Konkreten Poesie aus ihrer Affinität zu Georges Sprachpurismus nie einen Hehl gemacht. Helmut Heißenbüttel hat sich im Nachkriegsdeutschland öffentlich zu seiner George-Lektüre 1938/39 als sprachlichem Initia tionserlebnis bekannt, Claus Bremer nennt „unter den Autoren, von denen 169 Werner Riegel: Die heiße Lyrik. In: Zwischen den Kriegen 12 (1954), Januar (wieder in: W. R.: „… beladen mit Sendung Dichter und armes Schwein“. Hg. von Peter Rühmkorf, Zürich 1988, S. 131–146, hier 131). 170 Riegel: Die heiße Lyrik. In: „… beladen mit Sendung Dichter und armes Schwein“, S. 132. 171 So schreibt Riegel am 11./15.2.1954 aus Hamburg an Kurt Hiller: „George führte ich eigentlich nur im Sinne einer Prähistorie von Blass, Boldt, Heym an“ (In: Zwischen den Kriegen. Werner Riegel, Klaus Rainer Röhl und Peter Rühmkorf – Briefwechsel mit Kurt Hiller 1953–1971. Hg. von Rüdiger Schütt, München 2009, S. 109–114, hier 113). Im Brief vom 20.10.1954 aus Hamburg an Kurt Hiller begründet Werner Riegel seinen sechsstufigen Dichterkatalog: „Die Rangordnung wäre demnach: 1) Nur-Intensive: z. B. der junge Becher, van Hoddis. 2) Meisterliche: Blass, Zech, Hardekopf. 3) Intensiv-plus Meisterliche: Brecht, Benn, Kerr, Werfel, Heym. 4) Intensiv-plus Edle: Lotz. 5) Meisterlich-plus Edle: Trakl, George. 6) Meisterlich-, plus Intensiv-, plus Edle: ?“ (ebd., S. 179). 172 Vgl. Günter Heintz: Stefan George. Studien zu seiner künstlerischen Wirkung, Stuttgart 1986, bes. S. 346–367 („Geistige Kunst und Konkrete Poesie“). Heißenbüttels und Gomringers Äußerungen zu George finden sich in: „Kein ding sei wo das wort gebricht“. Hg. von Schlösser und Ropertz, S. 137–138.
7.3. George in der jüngeren Dichtergeneration der Nachkriegsjahre
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er gelernt habe, an erster Stelle“ George, und Eugen Gomringer, der eine „enge beziehung zu stefan georges werk“ für sich reklamiert, ist in seinem Verbalismus ebenfalls maßgeblich George verpflichtet.173 Die Rolle Georges für die Konkrete Poesie mag ein frühes Gedicht H. C. Artmanns aus dem Jahr 1949 illustrieren, das sich, so Heintz, als Dialog mit George deuten lässt: ich könnte viele bäume malen, mit buntem laub träumend überhangen, hinter einem blutdunklen zaun . .174
Die intertextuellen Bezüge zu dem einleitenden Programmgedicht des Jahrs der Seele fallen auf, zugleich wird in dem durchgängigen Potentialis eine Reserve gegenüber dem klassischen Vorbild deutlich, die sich mit dem Moduswechsel des Schlussverses zum eigenen Gestaltungswillen wandelt: ich pflückte von den rötlichen blättern der buche und knüpfte daraus ein helles, durchscheinendes band, das ich ganz leicht um ein feines, schmales knöchelchen winden will!
Artmanns unverkennbare Anspielung auf den Schluss von Georges Gedicht („Und auch was übrig blieb von grünem leben | Verwinde leicht im herbstlichen gesicht“; SW IV, 12), die neben der gestischen Analogie in dem Bilden eines ‚Kranzes‘ / ‚Bandes‘ das Verbum ‚winden‘ stiftet, zeigt: Wie George beansprucht, die vergängliche Natur im Kunstwerk aufzuheben, so bekennt sich auch Artmann zur Autonomie und überdauernden Kraft der Kunst, wenn das „helle band“ um ein „knöchelchen“ gebunden werden soll. Das Werk von Gerhard Rühm dürfte ebenfalls von Georges rigoroser Sprachästhetik angesteckt sein. So ist die hommage, ein reimloses vierzehnzeiliges Gedicht, meines Erachtens eine parodistisch-ehrende Reaktion auf Georges Lied „Im windes-weben“. Rühms hommage lehnt sich in der Lexik, der durchgängigen Kleinschreibung, metrisch, in der Kombination einiger Reime und Waisen, stilistisch, in den alliterierenden und assonierenden Klangfiguren, aber auch thematisch, nämlich in dem unfreiwilligen Verzicht auf Liebe, an George an. So paraphrasiert Rühm im Eingangs- und Schlussvers Georges Incipit, und das Ende des Gedichts nimmt im Modalverb
173 Vgl. Heintz: Stefan George, S. 347–350. 174 H. C. Artmann: „ich könnte viele bäume malen“ [1949]. In: H. C. A.: Das poetische Werk, Bd. 1: Frühe Gedichte. Unter Mitwirkung des Autors hg. von Klaus Reichert, München und Salzburg 1993, S. 31. Vgl. dazu Heintz: Stefan George, S. 350–353.
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7. Nachkriegsdichtung
„muss“ und im „sanften sehnen“ den Zwang zur Entsagung auf. Doch indem Rühm dem Setting von Georges Lied ein „blätterrauschen“ hinzufügt, wissend, dass „im umkreis | keine bäume stehn“, und das geliebte Du bei George zu „wunderbare[n] frauen“ pluralisiert, destruiert und vulgarisiert Rühm zugleich die Intimität des Prätexts: hommage winde hör ich wehn und leises blätterrauschen auch wenn ich weiss dass weit im umkreis keine bäume stehn in vagen schatten nisten wunderbare frauen die verzaubert flüstern, küsse tauschen und ich in meinem raum, dem dunkelstblauen muss den verheissungsvollen lauten lauschen von unbekanntem duft betört von sanftem sehnen heimgesucht vom weben einer nebenwelt verstört175
So bestimmt auch Rühms hommage, typisch für die deutsche Nachkriegsrezeption Georges, eine kritische Reserve, welche die Bewunderung, wie sie der Titel ankündigt, unterminiert.
7.3.4. George-Verehrung als Haltungsprobe: Robert Boehringer In der Neuorientierung der deutschen Literatur nach 1945 in der jungen Bundesrepublik Deutschland – und dieser Befund gilt erst recht für die DDR – spielte Stefan George zunächst nur eine Nebenrolle. George war politisch zu umstritten, sein elitäres Konzept eines ‚geheimen Deutschland‘ vertrug sich kaum mit der neuen demokratischen Verfassung und die starke Stilisierung, die sein Werk prägt, war unzeitgemäß. Zwar hielten Weggefährten und formkonservative Repräsentanten der älteren Generation an George fest, fanden aber im literarischen Leben wenig Gehör. Dass ein ästhetisches Bekenntnis zu George in der jungen Bundesrepublik, und erst recht in der DDR, politisch inopportun war, zeigen die vielen verdeckten und halbher-
175 Gerhard Rühm: hommage. In: G. R.: Gesammelte Werke, Bd. 1/1: Gedichte. Hg. von Michael Fisch, Berlin 2005, S. 615.
7.3. George in der jüngeren Dichtergeneration der Nachkriegsjahre
345
zigen Bezugnahmen auf seine Dichtung.176 Erst allmählich wurde Georges Dichtung vom Verdacht nationalsozialistischer Affinität befreit und rehabilitiert. Den ästhetischen Wandel der George-Rezeption in der Nachkriegszeit zwischen 1945 und 1968 erhellen zwei Gedichte Robert Boehringers auf Georges Grab in Minusio, die diesen Zeitraum umrahmen.177 Minusio, das erste Gedicht aus dem Jahre 1944, unterscheidet sich in Form, Tenor und Aussage deutlich von dem späten Grab in Minusio, das in Boehringers Todesjahr 1968 erschienen ist. Das frühe Gedicht apostrophiert den Toten in drei rhetorischen Fragen, die, abhängig von dem Fragesatz „wie ist es möglich“, in Form von Finalsätzen (‚dass‘) als konventionelle Reimstrophen gestaltet sind. Gefragt wird nach der Unvereinbarkeit der Trauer des hinterbliebenen lyrischen Ich mit der Natur, die sich ungerührt zeigt: „Wie ist es möglich dass die sonne scheint / […] / Der wind herüberfächelt und nicht weint?“ Die Schlussstrophe setzt die Verinnerung der Trauer zur Haltung fort, indem den Jüngern, hier mit dem Possessivpronomen als „deine eignen“ bezeichnet, jegliche Mission zugunsten stoisch gefasster postumer Loyalität abgesprochen wird: Dass deine eignen atmen, gehen und ruhn Als ob noch etwas zu vollbringen wäre Da doch nur sinnen mit verhüllter zähre Der treue gilt als ehrenvolles tun?178
Dagegen markiert das zweite Grabgedicht Boehringers, Das Grab in Minu sio, eine deutliche Distanz zu George: Schon der Titel beschränkt sich nicht auf den Ortsnamen, sondern verweist zusätzlich auf das Grab, das, wie Robert Boehringer im Jahre 1968 erfuhr, und das ist auch der Anlass der poetischen Reflexion, wegen eines Straßenbaus verlegt wurde: D as G rab
in
M inusio
Der Meister ruht in der granitnen gruft Am Langen See: Die sieben lorbeerbüsche Beleben grün die hohe weisse mauer. Von oben lärm der schüler · drüben reifen Die blauen trauben in der lichten vigne · Auf bergen schnee der sich im wasser spiegelt. In diesem frieden wähnten wir geborgen Den grössten Dichter dieser wirren zeit.
176 Vgl. Heintz: Stefan George, S. 346–367. 177 Vgl. dazu Reiser: Totengedächtnis in den Kreisen um Stefan George, S. 330–333. 178 Robert Boehringer: Minusio. In: Sang der Jahre, Aarau 1944, S. 29.
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7. Nachkriegsdichtung
Doch nur so lang wie Christi lebensdauer Bleibt seiner gruft beständigkeit beschert. Bereuen wir dass nicht ein deutscher Dom Den Toten birgt · dass wir ihn hier begruben? Wir glaubten in der stille ihn entrückt Den einen und den andern die für sich Sein greises weisses haupt als schutzbild heischen.179
Die fünfzehn ungereimten Blankverse sind nicht strophisch gegliedert und reflektieren relativ prosanah, wozu auch die zahlreichen Enjambements beitragen, die Aktualität Georges, der nun nicht mehr apostrophiert, sondern in dritter Person historisiert wird. Daran ändert auch das Präsens nichts, mit dem das unvermittelte Incipit den ersten Teil des zweiteiligen Gedichts eröffnet: „Der Meister ruht in der granitnen gruft“. Geschildert wird die Lage des Grabes, um dann im Vers 7 erstmals ein lyrisches Wir als Sprecherkollektiv im Präteritum („wähnten wir“) einzuführen, das zum Mittelvers des Gedichts überleitet, der als Scharnier zwischen den beiden Teilen fungiert und George wieder antonomastisch und zitierend preist: „Den grössten Dichter dieser wirren zeit“.180 Der zweite Teil fragt nach der Gefahr, die dem Grab in der Schweiz statt in einem „deutsche[n] Dom“ durch die Unbill der Zeit droht, um in den letzten drei Versen die nachträgliche Erklärung für das Grab „in der stille“ zu liefern („wir glaubten“). Simon Reiser, der das „schutzbild“ im Schlussvers als intertextuellen Bezug zu Georges Krieg erkannt hat („Sieger / Bleibt wer das schutzbild birgt in seinen marken / Und Herr der zukunft wer sich wandeln kann“),181 deutet „d[ie] einen und d[ie] andern“ als die „kleine Gruppe“ von Georgianern, die „sich in gesellschaftlichen Umbruchzeiten wie den 1960er Jahren auf ihre Wurzeln in Georges Dichtung besinnen“ soll.182 Ich verstehe unter „den einen und den anderen“ als Dativobjekt, abhängig von dem Verb „entrücken“, dagegen die falschen Verehrer, die Georges „haupt als schutzbild heischen“. Ihnen sollte das entlegene Grab „in der Stille“ der Schweizer Provinz „ihn“, also George, entziehen, um eine ideologische Instrumentalisierung Georges zu verhindern. Der resignative Ton des späten Gedichts stellt nicht nur retrospektiv das Gelingen des ‚Entrückens‘ in Frage, sondern reflektiert auch die neuerliche Deutungskontroverse, die 1968 um George neu entbrannte. 179 Robert Boehringer: Das Grab in Minusio. In: R. B.: Späte Ernte, Düsseldorf und München 1974, S. 41. Siehe dazu Raulff: Kreis ohne Meister, S. 45 f., allerdings ohne nähere Erläuterungen und fälschlich unter dem Titel „Die Brüder Stauffenberg“, und Reiser: Totengedächtnis in den Kreisen um Stefan George, S. 330–333, hier 332 f. 180 Anspielung auf Georges Gedicht Der Dichter in Zeiten der Wirren (SW IX, 27–30). 181 SW IX, 21–26, hier 26, V. 142–144; vgl. Reiser: Totengedächtnis in den Kreisen um Stefan George, S. 333. 182 Vgl. Reiser: Totengedächtnis in den Kreisen um Stefan George, S. 333.
7.3. George in der jüngeren Dichtergeneration der Nachkriegsjahre
347
Ulrich Raulffs These, wonach „für George 1968 zum Schicksalsjahr“ und dem „Jahr seiner größten Verdunkelung“ geworden sei, erscheint mir allerdings zu pauschal.183 Auch Raulffs skeptische Frage, ob das „kurze Nachleben Georges, das mit dem fatalen Jahr 1933 begonnen hat, im Jahr der Studentenrevolte“ geendet habe,184 lässt sich angesichts der vielfältigen und produktiven poetischen Auseinandersetzung verneinen. Eine ästhetische Orientierung an George, und sei es auch in Form kritischen Abarbeitens, nahm Ende des 20. Jahrhunderts jedenfalls unverkennbar zu und wurde zu einer mehr oder weniger eingestandenen Prägekraft für die Literatur der Gegenwart.
183 Raulff: Kreis ohne Meister, S. 499. 184 Raulff: Kreis ohne Meister, S. 499.
8. George in der ‚Neuen Subjektivität‘ und im wiedervereinigten Deutschland (1970–2000) Seit Mitte der 70er Jahre wurde Stefan George aus einer politisch vordergründigen Ächtung langsam, aber kontinuierlich wieder ins kollektive Gedächtnis zurückgeholt und wandelte sich allmählich zu einer immer weniger kontroversen poetischen Autorität. Dieser Prozess spiegelt den kulturellen Modernisierungsschub wider, der das literarische Feld in Deutschland nach 1968 maßgeblich prägte.1 Die in der Nachkriegszeit aufgewachsene junge Autorengeneration ging mit George wieder unbefangener um und nutzte sein ästhetisches Prestige für eigene Anliegen. Das elitäre antibourgeoise Außenseitertum, auch die offensive Homosozialität des Kreises wurden immer weniger als Stigma, sondern vielmehr, gerade in einer allgemeinen generationellen Abgrenzung von bürgerlichen Standards und der sexuellen Revolution im Besonderen, als fortschrittlich-wahlverwandter Habitus verstanden. Auch im Zuge der allmählichen ideologischen Lockerung in der DDR wurde George für die regimekritische Avantgarde zu einer heimlichen Oppositionsfigur. Für eine gewisse Kontinuität in der poetischen George-Rezeption in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sorgte das Castrum Peregrini. Die zwischen 1951 und 2007 jeweils in fünf Nummern im eigenen Verlag erschienenen Hefte waren ausdrücklich dem Andenken Stefan Georges, später auch Wolfgang Frommels gewidmet. Das Haus an der Herengracht in Amsterdam blieb bis zur europäischen Neuausrichtung der Stiftung ein Ort der George-Verehrung, freilich in eher hagiographischem als kritischem Ton. Die Bedeutung Wolfgang Frommels, der bis zu seinem Tod gemeinsam mit Manuel Goldschmidt die Stiftung in Amsterdam leitete, ist allerdings in jüngster Zeit umstritten, da ihm zwar der Schutz von bedrohten jüdischen Mitbürgern angerechnet, zugleich aber der Vorwurf gemacht wurde, er habe sexuellen Missbrauch an jungen Männern befördert und betrieben.2 Immerhin öffnete sich in den 80er Jahren das Castrum Peregrini zuneh mend auch Rezeptionsfragen und einer historischen Sicht auf George. Doch 1 2
Vgl. dazu Heribert Tommek: Der lange Weg in die Gegenwartsliteratur. Studien zur Geschichte des literarischen Feldes in Deutschland von 1960 bis 2000, Berlin, München und Boston 2015, bes. S. 83–121. Vgl. Alexander Cammann: Dichter, Held und Triebtäter. In: Die Zeit 21 (2018), S. 44.
https://doi.org/10.1515/9783110779370-008
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8. George in der ‚Neuen Subjektivität‘
blieb die Aura des Dichters unangetastet. So verharmlost etwa der mit dem Reformpädagogen Georg Picht befreundete Bildungsforscher Hellmut Becker, selbst seit 1937 Parteimitglied der NSDAP, die nationalsozialistische Vereinnahmung Georges als Rezeptionsfehler, betont den pädagogischen Wert von Georges Dichtung und bietet dafür einen geschönten Abriss der George-Rezeption bis in die zeitgenössische Gegenwart.3 Zu den indirekten George-Filiationen mit dem Anspruch, die geistige Elite eines ‚Geheimen Deutschland‘ zu repräsentieren, die über Wolfgang Frommel vermittelt sind, wurde sogar noch das jugendliche Engagement Frank Schirrmachers gerechnet, des 2014 verstorbenen Mitherausgebers der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Er hatte einen enthusiastischen Briefwechsel mit Frommel, ihn und dessen Kreis zwei Mal in der Herengracht besucht4 und seine Verehrung für George gar in einem in dessen Stile geschriebenen Gedicht Liebe zu dem Meister zum Ausdruck gebracht.5 Selbstverständlich dauerte auch in den 70er und 80er Jahren die Tradition einer kreisaffinen poetischen George-Verehrung an. So veröffentlichte Robert Wolff für die Gesellschaft zu Förderung der Stefan-GeorgeGedenkstätte in Bingen 1980 ein Heft mit Äußerungen zeitgenössischer Dichter über Stefan George und seinen Kreis.6 Es enthält neben Gedichten von Robert Boehringer und Michael Stettler poetische Zeugnisse von Bodo Frhr. von Maydell, Ernst Eichelbaum oder Max Wetter. Wie retrospektiv diese Anthologie bleibt, zeigt allein der Umstand, dass sämtliche Beiträger über 65 Jahre alt sind und in ihrem verehrenden Tenor aus der Zeit gefallen scheinen.
8.1. Entideologisierung in den 1970er und 80er Jahren In den 1970er Jahren ist eine Wiederentdeckung des gesellschaftlichen und poetischen Außenseiters George zu erkennen. So führte die allmähliche soziale Rehabilitierung von Homosexualität im Zuge der sexuellen Revolu3 4
5 6
Hellmut Becker: „Die Art wie ihr bewahrt ist ganz Verfall“. Ein Vortrag zur Bildung an Stefan George. In: CP 37 (1988), S. 67–75. Vgl. Michael Angele: Schirrmacher. Ein Porträt, Berlin 2018, bes. S. 26–36 („George nachspielen“); wohl nicht zufällig hat Schirrmacher die Herengracht 401 in Amsterdam erstmals am 20. Juli 1980, dem Jahrestag von Stauffenbergs Attentat auf Hitler, besucht; siehe dazu auch Alexander Cammann: Dichter, Held und Triebtäter, S. 44. Vgl. Angele: Schirrmacher, S. 28. Schirrmacher hat sein Gedicht mit „Alex Schirrmacher“ (vielleicht Anspielung auf den griech. Namen Alexis [‚Helfer‘]) unterzeichnet. Vgl. die Rezension von Adam Soboczynski: ‚Kreis ohne Meister“. In: Die Zeit 2018, 21, S. 45. Dichter über Stefan George und seinen Kreis. Hg. von [Robert Wolff im Auftrag] der Gesellschaft zur Förderung der Stefan-George-Gedenkstätte im Stefan-George-Gymnasium Bingen e.V. Bingen 1980 (Neue Beiträge zur George-Forschung 5).
8.1. Entideologisierung in den 1970er und 80er Jahren
351
tion und Gay Liberation zu einer Aufwertung Stefan Georges als Vorläufers explizit homoerotischer Literatur. Dies zeigt exemplarisch Hubert Fichtes (1935–1986) Roman Versuch über die Pubertät (1974). Die darin als „Alex, Contenu Mental“ eingeführte umfängliche Collage, organisiert durch ein anaphorisch wiederholtes „Wie ist es“, enthält vier George-Verse sowie je zwei Zitate von Hugo von Hofmannsthal und von Hofmannsthals Vater, die in engem Zusammenhang mit George stehen. Die einmontierten Zitate, der Romanfigur Alex W. Kraetschmar zugeschrieben, nutzen vor allem die homoerotischen Konnotationen der George-Prätexte für die poetische Konzeption einer gleichgeschlechtlichen Liebe.7 An einer gegenwartsbezogenen Neudeutung Georges aus dem Geist der Nach-68er-Zeit hat auch Rainer Werner Fassbinders (1945–1982) Film Satansbraten aus den Jahren 1975/76 großen Anteil. Indem er die charismatische Faszination Georges mit der Studentenrebellion überblendet, inszeniert und entlarvt er zugleich deren anmaßende Selbstüberhebung und egozentrischen Machtdrang. Held des Films ist der linksradikale Dichter Walter Kranz, der sich von einer zweijährigen Schaffenskrise mit dem Gedicht Albatros freizuschreiben wähnt, bis seine Frau Luise darin ein Plagiat von Stefan Georges Baudelaire-Nachdichtung erkennt. Ohne sich dadurch beirren zu lassen, steigert sich Walter Kranz in den Wahn hinein, er wäre George: Mit Perücke und extravagantem Fin de siècle-Outfit zitiert er vor einem kleinen Kreis Gedichte im Stile Georges. Als ihn seine einzige Mäzenin nicht mehr finanziell unterstützen kann, versucht er die körperlichen und sexuellen Differenzen zu seinem Vorbild zu tilgen: Zum einen ist Walter Kranz zu korpulent, zum andern unterscheidet ihn von George dessen homoerotische Anlage. Nachdem der Kontakt mit einem Strichjungen scheitert, gibt Kranz seinen Identitätswahn auf und erklärt Stefan George für tot. Doch hat er sich mittlerweile so sehr an seine Herrschaft gewöhnt, dass er seinen Willen zur Macht an der unterwürfigen Verehrerin Andree auslebt. Im zweiten Teil des Films überwindet Walter Kranz seine Schaffenskrise und veröffentlicht statt „linke[m] Kitsch“ ein Buch mit dem Titel: „Keine Feier für den toten Hund des Führers“. Mit einer theatralischen Pose und einem inszenierten Mord endet der Film. In Oskar Roehlers Biopic über das Enfant terrible Rainer Werner Fassbinder aus dem Jahre 2021 wird die Stefan George-Imitatio im Satansbraten
7
Vgl. Marita Keilson-Lauritz: „Durch die goldene Harfe gelispelt“. Zur George-Rezeption bei Hubert Fichte. In: Forum Homosexualität und Literatur 2 (1987), S. 27–51. Auch die Figur Irma in Fichtes Hotel Garni bekennt sich zu George: „George habe ich gelesen. ‚Wer je die Flamme umschritt, bleibe der Flamme Trabant‘. Das fand ich enorm“; Hubert Fichte: Hotel Garni. Die Geschichte der Empfindlichkeit, Bd. 1. Hg. von Gisela Lindemann und Torsten Teichert, Frankfurt/M. 1987, S. 143.
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8. George in der ‚Neuen Subjektivität‘
re-inszeniert, ohne an die faschistischen Aspekte des Films zu erinnern.8 Gezeigt wird lediglich die Szene, in der Kurt Raab alias Walter Kranz als Stefan George in antiker Toga mit Leier vor männlichen Adoranten Verse aus Georges Gedicht „Dies leid und diese last: zu bannen“ rezitiert (SW IV, 99, 3–4, 7–8 und 9–12).9 Das Gedicht mit dem elegischen Schlussvers: „O dies: mit mir allein!“ betont die Isolation des Künstlers und rückt damit den Dichter George in eine erstaunliche Nähe des trotz seiner großen Entourage vereinsamten Fassbinder. In dem linksrevolutionären Schriftsteller Kranz, der sich in die Rolle eines George-Wiedergängers hineinsteigert und so seine – letztlich sterile – künstlerische Anmaßung legitimiert, hat Fassbinder sicher auch sich selbst als Teil der 68er-Generation karikiert. Untergründig erinnert der Film, freilich im grotesken Zerrspiegel, an Georges hohe Dichtung sowie an seine charismatische Attraktion, wenn auch in Gestalt der gedungenen Verehrer und der homoerotischen Anlage noch immer das ausgrenzende Vorurteil eines faschistoiden Künstlers wirksam wird. Doch befreit die Komik und die Überblendung mit der linksrevolutionären Attitüde George von der rein politisch motivierten Ächtung. Bedenkt man, dass Georges Albatros, den Kranz als sein eigenes Werk ausgibt, auch ‚nur‘ eine Nachdichtung Baudelaires darstellt, gewinnt in dem Film auch die Frage von Original und epigonaler Nachahmung eine neue Bedeutung. Die von Fassbinder filmisch verhandelte Sinnkrise der Nach-68erGeneration im Umgang mit Kunst und Literatur reflektiert retrospektiv auch Michael Zeller (*1944) in seinem autofiktionalen Campusroman Follens Erbe.10 Das titelgebende Habilitationsprojekt des Protagonisten Hellmut Buchwald zum Demokraten Karl Follen, einem Protagonisten der Studentenbewegung des Vormärz, wird im Roman mit den Ereignissen der Studentenbewegung der 1970er Jahre verwoben. Deren dissoziierende ästhetische Kategorien und Wertungen illustriert eine Seminardiskussion über das freirhythmische Gedicht Tusculum „aus den frühen siebziger Jahren“ der fiktiven Lyrikerin Holbe.11 Dieses Gedicht, in dem das moderne Tuscolo bei Rom dem antiken Tusculum mit dem imaginierten Landgut Ciceros ge8
9 10 11
Enfant terrible. Ein Film von Oskar Roehler nach dem Drehbuch von Klaus Richter. Bavaria, München 2021, Einstellung: 1:22:32–34. In dieser Szene kündigt Fassbinder, gespielt von Oliver Masucci, seinem Partner Kurt Raab, gespielt von Hary Prinz, an, er werde endlich die lang ersehnte Hauptrolle bekommen und den „Dichter Stefan George“ spielen, da man „künstlerisch doch was bewegen“ wolle. Enfant terrible, Einstellung: 1:26:26–1:28:50. Nach der Rezitation lässt sich Fassbinder in Roehlers Film zu einer Proskynese von Kurt Raab hinreißen, den er zu „seinem Peter Lorre“ kürt. Michael Zeller: Follens Erbe. Eine deutsche Geschichte. Roman, Bad Homburg 1986. Zeller: Follens Erbe, S. 140–150.
8.1. Entideologisierung in den 1970er und 80er Jahren
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genübergestellt wird, provoziert ganz unterschiedliche Reaktionen bei den Kommilitonen. Sie reichen von Unverständnis über Formkritik, politische Vorbehalte und pädagogische Eignung bis zur „literarische[n] Tradition der deutschen Italien-Sehnsucht“: Doch die Erinnerung „an Goethe, Platen, ja selbst an Stefan George“, statt sich in politischen Positionierungen zu verlieren, verfängt nicht, sondern erntet nur Spott und Hohn.12 Unverkennbar ist seit den 70er Jahren jedenfalls ein zunehmend freier, ideologisch weniger belasteter Zugang zu George. Dies zeigt sich in parodistischen Montagen, aber auch in einer Demontage, wie sie etwa Gertraud Schleichert (*1934) in ihrer Paraphrase auf Stefan George (1980) vornimmt (Abbildung 18a–d). In durchgängiger Majuskel-Schrift einer Text-BildCollage wird durch Substitution einzelner Verse Georges nuancierte Belebung des herbstlichen Parks im Kontrast mit einer industriell zerstörten Natur als überholt widerrufen. Die erste Strophe illustriert das Verfahren der partiellen Substitution hinreichend: Komm in den totgesagten Park und schau, Wie sich die Bagger in die Erde fressen. Du kannst die Birken und den Buchs vergessen, Das tiefe Gelb und auch das weiche Grau.13
Die flächigen Zeichnungen Herbert Schügerls (*1948) deuten zwar menschliche Figuren an – eine weibliche Figur scheint in der ersten Zeichnung dargestellt, ein Porträt (Georges?) in der vierten. Da die Referenzen aber vage bleiben, gewinnt im Kontext mit den Zeichnungen auch Schleicherts Text graphische Qualität und bildet mit den Zeichnungen ein Bild-Text-Kunststück. Ein ähnliches Verfahren wandte etwa ein Jahrzehnt später Malte Kroidl in der Taunusanlage 1991, Parodie nach Stefan George an, um den ästhetizistischen Tenor mit der harten ökonomischen Realität der Bankenmetropole Frankfurt plakativ zu kontrastieren. Allein seine Version der Eingangsstrophe bekundet hinreichend, wie wenig die allzu explizite, pathetische Aktualisierung überzeugt: Komm in den totgesagten park und schau: Das blut ferner trauriger gestade Der reinen wolken unverhofftes blau Erhellt die banken und die grünen pfade.14 12 13 14
Zeller: Follens Erbe, S. 149. Gertraud Schleichert: Komm in den totgesagten Park und schau. Paraphrase auf Stefan George (Zeichnungen: Herbert Schügerl). In: Protokolle 1980, Bd. 2, S. 115–118, hier 116. Malte Kroidl: Taunusanlage 1991. Parodie nach Stefan George. In: Nagelprobe. Texte des Jungen Literaturforums Hessen-Thüringen 13 (1996), S. 24.
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8. George in der ‚Neuen Subjektivität‘
Abb. 18a–d: Paraphrase auf Stefan George. Komm in den totgesagten park und schau von Gertraud Schleichert [Text], Herbert Schügerl [Illustrationen], 1980.
8.1. Entideologisierung in den 1970er und 80er Jahren
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Überhaupt verfahren die George-Parodien und -Persiflagen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts häufig kontrastiv.15 So entlarvt der Dandy-Dichter Detlev Meyer (1948–1999) in einem satirischen Briefgedicht im Berliner Dialekt den hohen Stil des George-Kreises mit witzigen Reimen: Brief des Mundart-Dichters K. an Friedrich Gundolf Jeden Abend im M axim sehe ick det Meesters Lieblingsjünger Maximin mit Johannes Heesters Ick bin in Sorje, lieber Fritz Grüß Jeorje Kiesewitz16
Die paronomastische Kombination des Nachtclubs ‚Maxim‘ mit Maximin, die dialektale Reduktion des ‚Meisters‘ („Meesters“), die nachgereichte vertrauliche Anrede Gundolfs als „lieber Fritz“ durch den „Mundart-Dichter“ Kiesewitz und dessen Grußadresse an den gänzlich verberlinerten George („Jeorje“) redimensionieren den Maximin-Kult des hehren Dichter-Kreises zum Techtelmechtel eines Schwulenzirkels.
15
Selbstverständlich finden sich auch ‚klassische‘ Parodien, die Georges Schreibverfahren imitieren. So parodiert Hanno Helbling: Nach Stefan George. Des meisters traum. In: Neue Zürcher Zeitung Nr. 227, 2.10.1987, S. 39, in Sonettform den Traum eines Initiationsrituals im Stile der Weihe, des Vorspiels zum Teppich des Lebens, aber auch des künstlichen Paradieses im Algabal. Die intertextuellen Bezüge reichen vom Früh- bis ins Spätwerk. Ein ‚Er‘ weist das initiationswillige lyrische Ich auf einen „goldnen schein im laub“ hin: „der frucht begierig reckt ich meine rechte. // Doch auf der sucht verirrte sich die hand / als ob mir das verheissene entsteige. / So folgt mir – rief ich – stets der alte fluch? // Und blinden sinnes teilte ich die zweige · // da glomm es heilig auf und ich entwand / dem kahlen baum ein reichgeziertes buch“. Helblings Sonett-Parodie komisiert Georges Werk als eine Art Religionsstiftung, dessen Grundlage ein ‚heiliges‘ „reichgeziertes buch“ ist. 16 Detlev Meyer: Brief des Mundart-Dichters K. an Friedrich Gundolf. In: D. M.: Heute nacht im Dschungel. Fünfzig Gedichte, Berlin 1981, S. 48; wieder in: D. M.: Heute nacht im Dschungel. Fünfzig Gedichte. Original-Graphiken von Jan Schüler, Düsseldorf 1992, S. 63. Der Eingangsvers variiert das Auftrittslied des Grafen Danilo in Franz Lehárs Operette Die lustige Witwe mit dem Refrain „Da geh’ ich zu Maxim / Dort bin ich sehr intim“, mit dessen Rolle und Text Johannes Heesters identifiziert wurde. In einem zweiten Dichtergedicht, Obdach für Jussuf (ebd., S. 82), spielt Meyer auf Georges homoerotische Disposition an. Darin imaginiert sich das lyrische Ich, Else Lasker-Schüler eine Wohnung einzurichten („Wie gerne hätte ich Else / eine Wohnung eingerichtet“), die ihren lyrischen Phantasien entspricht. Die Schlussstrophe komplettiert diesen Tagtraum mit den schönen Jüngern des George-Kreises: „Zur Einweihung hätte ich / Stefan George die Jungs / ausgespannt und alle / eingeladen zu Else“.
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8. George in der ‚Neuen Subjektivität‘
Sogar in seiner Anthologie lyrischer Parodien auf das Kirschen-Thema wendet Fedor Malchow (1905–1978) die Technik der Gegenüberstellung auf Stefan George an. Seine Parodie Kirschen imitiert nicht nur Georges Typographie, hohen Stil, gesuchte Diktion und gewählte Lexik, sondern kontrastiert auch die erlesene Schönheit der Kirschblüte mit dem profanen Verzehr der Früchte. Im alliterierenden Hendiadyoin des Schlussverses komisiert Malchow den Schlussvers von Georges Einleitungsgedicht der Sprüche an die Toten: „Die Hehren · die Helden!“ Schreitend auf hohem altane Grüßt uns der kirschen blüte – Später verschlingen profane Kirschen aus käuflicher tüte. Blüte welch geistige nahrung Doch daß mit zähnen ich knirsche – Frucht welche plumpe erfahrung bietet dem geiste die kirsche. Blüten die geistesflug stärkten Schwellen zu wässrigem bauch Sammeln sich schamlos auf märkten Feil jedem gaukler und gauch.17
In einer freirhythmischen Trilogie hat Jacobus George Bursch (*1917) die letzten Stationen von Stefan George in Minusio (1983) behandelt: Die Fahrt ins Krankenhaus, Auf dem alten Friedhof und Nach der Grabverlegung auf den neuen Friedhof. Die drei Gedichte umfassen jeweils zwei Strophen, die aus rhythmisierten Prosazeilen bestehen. Während das erste Gedicht, das 24 Zeilen enthält, Georges Fahrt in die Klinik reaktualisiert, beschreibt das zweite Gedicht in zwei siebenzeiligen Strophen das Grab des Dichters aus der Perspektive des Nachgeborenen. Der Tote wird in dritter Person distanziert: Eingeordnet er, erst nach dem Tode, unter dem symmetrischen Gefüge granitner Platten, eingebettet in die fremde Erde, Gemeisselt in das dunkle Gestein die knapp gehaltene Inschrift, nur der Name stefan george, fünf Silben des Schweigens.18
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Fedor Malchow: Stefan George: Kirschen. In: F. M.: Kirschen, Kirschen im Garten der deutschen Dichtung. Ein heiter-parodistisches Stil-Vademecum von Matthias Claudius bis Gottfried Benn. 200 Jahre in Vers und Prosa, St. Michael 1981, S. 26. [Jacobus] George Bursch: George in Minusio [II]: Auf dem alten Friedhof, V. 8–14. In: Südschweiz, 1.12.1983, S. 9.
8.1. Entideologisierung in den 1970er und 80er Jahren
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Noch stärker artikuliert das dritte Gedicht die Entfremdung der Gegenwart von dem Toten nach seiner trostlosen Umbettung, „sauber und rechteckig / zwischen Bahndamm und Ausfallstrasse“.19 So wird George als Kronzeuge gegen eine rücksichtslose Modernisierung aufgerufen. Der österreichische Dichter und Übersetzer Wilhelm Muster (1916– 1994) unterzieht in seinem Algabal das Einleitungsgedicht der Tage aus dem Algabal einer Variation. Zwar folgt Muster in der Kleinschreibung George, doch metrisch, lexikalisch und inhaltlich entfernt er sich so sehr von ihm, dass sich sein Gedicht eher wie ein Kommentar des gesamten Algabal-Zyklus liest. Musters Verwendung von Doppelsenkungen und des männlich-weiblich alternierenden Kreuzreims erinnern an das Garten-Gedicht aus dem Algabal („Mein garten bedarf nicht luft und nicht wärme“ [SW II, 63]). Auch löst sich Muster von dem Thema des Prätexts, das den Suizid des Lyders, der die kaiserliche Taubenfütterung stört, zu einem ästhetischen Ereignis stilisiert („Ein breiter dolch ihm schon im busen stak · / Mit grünem flure spielt die rote lache“ [SW II, 66, V. 15 f.]). „Lyder“ werden zwar auch erwähnt, doch referiert Muster, indem er ein Sonnengebet des „geschminkt[en]“ und „geschürzt[en]“ Kaisers schildert, eher auf das zweite Gedicht der Tage („Gegen osten ragt der bau“ [SW II, 67]). Außerdem finden sich intertextuelle Bezüge zu weiteren Gedichten: So übersteigert das Sonnengebet den Immoralismus von Georges Algabal zu einem massenhaft-pädophilen Lustmord-Exzess, und das Angebot seines Selbstopfers endet mit dem Schlussvers aus dem „Saal des gelben gleisses und der sonne“ aus dem Unterreich („Den geist von amber weihrauch und zitrone“ [SW II, 61, V. 12]): ‚O Helios der die erde blendet Wir brachten dir hekatomben rot Wir haben unzählige knaben geschändet Und sie dann geschlachtet: sie jauchzten im tod. Als priester hab ich mich auserlesen Und biete mich dir nun als lustknaben an Als schönstes aller sterblichen wesen Und duftend nach amber zitrone safran‘.20
Zusätzlich ergänzt Muster die solitäre Konfiguration von Georges Algabal durch das politische Gremium des Senats. Doch werden die Amtsträger ebenso verspottet wie der Kaiser: „Die senatoren stehen am rande / Die 19 20
[Jacobus] George Bursch: George in Minusio [III]: Nach der Grabverlegung auf den neuen Friedhof, V. 4 f. In: Südschweiz, 1.12.1983, S. 9. Wilhelm Muster [Ps. Ulrich Hassler]: Algabal. In: W. M.: Monsieur Musters Wachsfigurenkabinett, Graz 1984, S. 17, V. 9–16.
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8. George in der ‚Neuen Subjektivität‘
einen spöttisch die andren bestürzt“ (V. 3 f.). Ihre heimliche Reaktion auf das kaiserliche Sonnengebet in wörtlicher Rede, durch schwäbischen Dialekt zusätzlich verzerrt, zeugt von Feigheit und Überlebtheit eines Altmännergremiums: Die senatoren schaukeln die köpfe Und flüstern vielstimmig: „Das männle isch alt!“ So summen die neidischen feindlich die tröpfe Die hirne erstarrt und die herzen kalt.21
In der Schlussstrophe von Musters Algabal-Variation wird das kaiserliche Sonnengebet im unpersönlichen ‚man‘ distanziert. Das Ritual wird als groteske Camouflage eines pädophilen alten Krüppels demaskiert: Die schellen klingeln · so stelzt er von dannen Und lydische knaben harren des winks. Nun sieht man: so sehr seine augen bannen Die schulter ist schief · auch hinkt er links.22
Inwieweit sich hinter diesem Demaskierungsgestus eine späte Abrechnung mit dem homosozialen George-Kreis verbirgt – George als Kaiser Algabal, die Jünger als „lydische knaben“ –, sei dahingestellt; die Gruppe der „lydischen weiber“, die „den kaiser umgaukeln“ (V. 5), und die hartherzigen Senatoren verallgemeinern jedenfalls die Schlusspointe zu einer Kritik an der ergebenen Hinnahme autoritär-despotischer Machtstrukturen. Von dem freien Umgang mit einem lange kontroversen Autor zeugt Hans Magnus Enzensbergers (*1929) George-Parodie im Wasserzeichen der Poesie, indem er das vielleicht problematischste der prophetischen Gedichte Georges aufs Küchenniveau reduziert.23 Die virtuose Parodie weist über das Einleitungsgedicht der Sprüche an die Toten im Neuen Reich24 hinaus:
21 22 23
Muster [Ps. Hassler]: Algabal, V. 17–20 Muster [Ps. Hassler]: Algabal, V. 21–24. Vgl. Serenus M. Brezengang [d. i. Hans Magnus Enzensberger]: [Wenn einst dieser herd]. In: Das Wasserzeichen der Poesie oder die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen. In hundertvierundsechzig Spielarten vorgestellt von Andreas Thalmayr, Nördlingen 1985, S. 26 f. 24 SW IX, 90. Wenn einst dies geschlecht sich gereinigt von schande Vom nacken geschleudert die fessel des fröners Nur spürt im geweide den hunger nach ehre: Dann wird auf der walstatt voll endloser gräber Aufzucken der blutschein . . dann jagen auf wolken Lautdröhnende heere dann braust durchs gefilde Der schrecklichste schrecken der dritte der stürme: Der toten zurückkunft!
8.1. Entideologisierung in den 1970er und 80er Jahren
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Wenn einst dieser herd sich gereinigt von sosse Vom hackbrett geschleudert die reste von gestern Nur spürt im patenttop die hitze des bratens: Dann wird auf dem backblech voll endloser strudel Aufzucken der mürbteig . . dann jagen auf touren Lautdröhnende mixer dann braust durchs gelage Die schrecklichste schere der dritte der gänge: Des hummers triumphzug! Wenn je dieser koch sich aus feigem verlängern Sein selber erinnert des fonds und der kresse: Wird sich ihm eröffnen die göttliche auster Unsagbaren schlürfens . . dann heben sich farcen Und bravos ertönen zum preise der trüffel Dann flattert im eischnee mit wahrhaftem duften Die erdbeer-charlotte und grüßt sich verneigend Die Esser · die Gäste!25
Enzensberger registriert seine George-Variation selbst als „Profanierung“. Mit erstaunlich wenig Änderungen schafft er es, Georges pathetisch-prophetisches Spätwerk kulinarisch zu komisieren. Dem Prätext folgt Enzensberger nicht nur typographisch und metrisch, indem er den abgewandelten Pentameter mit einer charakteristischen Zäsur in der Mitte imitiert, sondern auch syntaktisch und lexikalisch. So übernimmt er die Wenn-dann-Struktur beider Strophen, verdeutlicht den futurischen Aspekt zunächst jeweils durch das Hilfsverb ‚werden‘, bevor die weiteren künftigen Ereignisse präsentisch ausgedrückt werden. Noch erstaunlicher ist, dass Enzensberger maximal vier Wörter pro Vers ersetzt, meist sind es sogar nur zwei, sieht man von den grammatischen Kongruenzen ab. Die Ersetzungen der militärisch und national aufgeladenen Nomina und Komposita Georges wie „walstatt“ durch „Backblech“, „blutschein“ durch „mürbteig“ und „königsstandarte“ durch „erdbeer-charlotte“ invertieren aber die nationale Prophetie grundlegend. Vor allem der neue Schlussvers, der statt der für das Vaterland Gefallenen „Die Hehren · die Helden!“ assonierend die „Die Esser · die Gäste!“ rühmt,
25
Wenn je dieses volk sich aus feigem erschlaffen Sein selber erinnert der kür und der sende: Wird sich ihm eröffnen die göttliche deutung Unsagbaren grauens . . dann heben sich hände Und münder ertönen zum preise der würde Dann flattert im frühwind mit wahrhaftem zeichen Die königsstandarte und grüsst sich verneigend Die Hehren · die Helden! Brezengang [Enzensberger]: [Wenn einst dieser herd]. In: Das Wasserzeichen der Poesie, S. 27.
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8. George in der ‚Neuen Subjektivität‘
ist der Gipfel der profanierenden Substitutionsmethode. Dass Enzensberger ausgerechnet eines der pathetischsten und nationalpatriotischsten Gedichte Georges dieser Methode unterwirft, stellt zwar das hohe Pathos in Frage, doch zugleich lenkt die entideologisierende Profanierung den Blick auf die Faktur des Sprachkunstwerks.
8.2. Experimenteller Umgang: Montagen und Hommagen Einen Höhepunkt des experimentellen Umgangs mit George, der von dem Prestige des Werks profitiert, dieses aber zugleich relativiert, stellt eine anonyme Montage von Stefan Georges Gedicht Der Teppich dar, die 1979/80 in der experimentellen Berliner Literaturzeitschrift Litfass erschien (Abbildung 19).26 Sie verwebt buchstäblich in vier quadratischen Feldern das vierstrophige Gedicht und macht damit den Inhalt anschaulich („Hier schlingen menschen mit gewächsen tieren / Sich fremd zum bund“).
Abb. 19: Die Verse aus Georges Teppich, graphisch ineinander verwoben. Anonyme Montage in der Zeitschrift Litfass, 1979.
26
Anon.: Ein Teppich des Lebens. Nach Stefan George. In: Litfass 4 (1979/80), Heft 13, S. 73.
8.2. Experimenteller Umgang: Montagen und Hommagen
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Die Verse aus Georges Teppich, dessen Drucktypen durchaus zu erkennen sind, fungieren jeweils abwechselnd als Kette und Schuss, so dass sich bei genauem Hinsehen aus den sichtbaren Wortfragmenten das Gedicht rekonstruieren lässt. Wie sehr gerade Georges formstrenge Lyrik der Experimentierfreude der lyrischen Avantgarde in den 80er Jahren entgegenkam, bezeugt ebenso eindrücklich wie augenfällig Der Tanz der Schere, ein Dialog, den der niederländische Dichter Wiel Kusters (*1947) mit Oskar Pastior (1927–2006) über ein George-Gedicht in der Villa Massimo im Sommer 1984 führte (Abbildung 20). Als Kusters dort „mehr oder weniger zufällig“ auf Georges programmatisches Gedicht „Mein garten bedarf nicht luft und nicht wärme“ stößt, das ihm ‚zusagt‘, bittet er den Sprachartisten und Wortkünstler Pastior „um seine Vermittlung“.27 Sie besteht in einer ‚gründlichen Verformung‘ des Gedichts, „unter Wahrung des ursprünglichen Metrums. Von Georges Worten hat er [scil. Pastior], von hinten nach vorne arbeitend, die ‚Wurzeln‘ blossgelegt und variiert. In meiner eigenen Bearbeitung sind diese Wortkerne auf assoziativem Wege wieder zu echten Worten geworden“.28 Wie Pastior hat allerdings auch Kusters die Reime der Vorlage aufgegeben. In Pastiors dadaistischem Lautgedicht Mulb quarzon kommen neben wenigen sinntragenden Wörtern („salat“, „band“, „schirm“, „reihen“, „älterer künste“, „phonem“) zwei mythische Namen („Pan“, „Golem“) auch zwei Kunstnamen („gromor“, „grogorau“) vor, die lautlich an ‚George‘ erinnern. Kusters greift die verborgene mythisch-poetologische Allusion auf und konkretisiert sie. Seine Version Mals kwarts nennt außer dem mythischen Gott Pan und dem Golem ‚aus Lehm oder Stein‘ – womit die Idee der eigenen Schöpfung in Georges paradis artificiel überzeugend konkretisiert wird –, auch namentlich Dichter in ‚dem laubarmen, lauwarmen Reich // von Keimen, Dichtern, von Góngoralarven, / von Pindar, Pegasus’ Wortquelle‘ („in het loofarme, lauwwarme rijk // van kiemen, dichters, van Góngoralarven, / van Pindarus, Pegasus’ woordenbreukbron“).29 Über Pindar und Góngora wird unausgesprochen auch George in die Tradition der großen Sprachkünstler aus Antike und Früher Neuzeit gerückt. Die spielerische Art, wie sich Kusters nach Pastiors gezielter Deformation Georges Gedicht poetisch aneignet, bekundet einen neuen Umgang mit George, noch dazu in einem internationalen Dialog, der die ästhetischen
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Wiel Kusters: Wie man Worte einfängt. In: Stefan George, Oskar Pastior und Wiel Kusters: Der Tanz der Schere, Amsterdam 1984, Bl. 1. Kusters: Wie man Worte einfängt. In: George, Pastior und Kusters: Der Tanz der Schere, Bl. 1. Wiel Kusters: Mals kwarts, V. 8–10. In: George, Pastior und Kusters: Der Tanz der Schere, Bl. 1.
Abb. 20: Bearbeitungen des Gedichts Mein Garten von Stefan George durch Oskar Pastior und Wiel Kusters, 1984.
362 8. George in der ‚Neuen Subjektivität‘
8.2. Experimenteller Umgang: Montagen und Hommagen
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Qualitäten des Originals wieder unbefangen nutzt. Kusters selbst bemerkt, dass Der Tanz der Schere „etwas von einer ‚ars poetica‘ [hat]: wie man Worte einfängt. Der Ausgangspunkt ist unsichtbar geworden: unterirdisch wie es sich gehört“.30 Mit der selbstbezüglichen Betroffenheits- und Befindlichkeitslyrik der 70er Jahre brach Gerhard Falkner (*1951) zu Beginn der 80er Jahre. In seiner Lyrik und seinen metapoetischen Reflexionen hat er sich zum ästhetischen Eigenwert der Kunst und zu einer gegenwartskritischen Formtradition bekannt. So variiert er in den Gedichten „in trüben gärten drehn sich leis die schatten“ oder „wir schwänzen heut die rosen“ wohl Stefan Georges Garten-Gedichte.31 Seinen proklamierten Rückzug aus der Lyrik hat er zu Beginn des 21. Jahrhundert widerrufen; seine Hölderlinreparatur enthält die Gedichtgruppe „Reklamationen“, in der Falkner seine poetischen Vorbilder in einem katalogartigen Gedicht mit dem Titel Hermetische Dichtung würdigt. Während der „na, wer wohl“, der den zehn Strophen/Dichtern als elfter folgt, ein Selbstbekenntnis sein dürfte, ist die erste Strophe Stefan George gewidmet:32 UN-genehmigtes Metallfass mit Deckel und hermetischer Dichtung für den Transport. Fassungsvermögen 30–220 Liter Stefan george
Neben der Kleinschreibung verbindet Falkner mit Stefan George die Hölderlin-Verehrung. In seinen Reflexionen Über den Unwert des Gedichts preist er das „Unaussprechliche, das vom Gedicht und dann wieder von der Entgegnung aufgeworfen wird“. Als Beispiel führt er die „erst 1914 erstmals gedruckten späten Hymnen Hölderlins“ an, die Norbert von Hellingrath, ein Jünger Stefan Georges, in den Blättern für die Kunst veröffentlicht hat.33 Dieser Konnex ist Falkner durchaus bewusst, wie das Ende der Reflexion zeigt: Das Unaussprechliche „wirkt wie ein Botenstoff (Transmitter) zwischen Subjekt und Objekt und warnt, wie George es milde ausgedrückt hat: 30 31
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George, Kusters und Pastior: Der Tanz der Schere [Bearbeitungen des Gedichtes Mein Garten von Stefan George]. Gerhard Falkner: in trüben gärten drehn sich leis die schatten. In: G. F.: So beginnen am körper die tage. Gedichte und aufzeichnungen aus einem kalten vierteljahr, Darmstadt und Neuwied 1981, S. 56 (wieder in: G. F.: X-te Person Einzahl. Gedichte, Frankfurt/M. 1996, S. 54); Gerhard Falkner: wir schwänzen heut die rosen. In: G. F.: Der atem unter der erde. Gedichte, Darmstadt und Neuwied 1984, S. 88, variiert sicher Georges Gedicht „Wir werden heute nicht zum garten gehen“ (SW IV, 20) aus dem Jahr der Seele, wie das gleiche Thema und das Spiel mit der Opposition ‚drinnen vs. draußen‘ zeigt. Gerhard Falkner: Hermetische Dichtung. In: G. F.: Hölderlinreparatur. Gedichte, Berlin 2008, S. 27. Gerhard Falkner: Über den Unwert des Gedichts, Berlin 1993, S. 86.
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8. George in der ‚Neuen Subjektivität‘
‚Nur durch den Zauber bleibt das Leben wach‘“.34 Mit dem Schlussvers aus Stefan Georges Dialoggedicht Der Mensch und der Drud (SW IX, 53–56), eine verdeckte Hommage, beglaubigt Falkner seine poetologische Überlegung. Somit repräsentiert Stefan George eine wichtige Stimme in Falkners „aleatorischer Polyphonie“, zu der er sich als poetisches Programm bekennt.35
8.3. Wiederentdeckung in der DDR Während der zunehmenden Liberalisierung der Deutschen Demokratischen Republik im Zuge von Glasnost und Perestroika wurde auch Stefan George neu entdeckt.36 Allerdings war die Affinität zu George ganz unterschiedlich begründet. Vor allem wurde George als Repräsentant der literarischen Moderne wiederentdeckt. Einer der Fürsprecher war der belesene Dichter Wulf Kirsten (*1934). Er zählte zu den insgesamt fünf Beziehern des Castrum Peregrini in der ehemaligen DDR.37 In Kirstens eigener ästhetischer Orien tierung blieb George zwar immer hinter Trakl zurück, doch schätzte er die imaginative Kraft seiner Worte und seinen Sprachpurismus, der ein Gegengewicht zur ideologischen Bringschuld der Dichtung im Realsozialismus repräsentierte. Am meisten fasziniert ihn das Prosagedicht Sonntage auf meinem Land wegen dessen präziser Landschaftsbeschreibung.38 So vertraut Kirsten mit Georges Werk war und die Kleinschreibung verwendete, so versuchte er sich doch nie imitatorisch und nennt George auch nie in seiner reichen poetologischen Lyrik.39
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Falkner: Über den Unwert des Gedichts, S. 86. Gerhard Falkner: Endogene Gedichte. Grundbuch, Köln 2000, S. 118. Leider fehlt bisher eine Studie zur George-Rezeption in der DDR; doch die Studien kritischen Neubewertung der ‚Dekadenz‘-Literatur, des Expressionismus sowie zur Kafka- und Trakl-Rezeption erlauben Analogieschlüsse; vgl. die Studien von Günter Erbe: Die verfemte Moderne. Die Auseinandersetzung mit dem „Modernismus“ in Kulturpolitik, Literaturwissenschaft und Literatur der DDR, Opladen 1993, Dieter Schlenstedt: Doktrin und Dichtung im Widerstreit. Expressionismus und Literaturkanon der DDR. In: LiteraturGesellschaft DDR. Hg. von Birgit Dahlke, Martina Langermann und Thomas Taterka, Stuttgart 2000, S. 33–103, und Eberhard Sauermann: Die Rezeption Georg Trakls in Zeiten der Diktatur. Stigmatisierung, Instrumentalisierung und Anerkennung in NS-Zeit und DDR, Innsbruck 2016. Frdl. Auskunft von Wulf Kirsten in einem Gespräch mit dem Verf. im Dezember 2020. Vgl. Wulf Kirsten: Wortbewusste Weltwahrnehmung. In: George-Jahrbuch 10 (2014/15). Hg. von Wolfgang Braungart und Ute Oelmann, Berlin und Boston 2014, S. 43–46, hier 45. Vgl. Kirsten: Wortbewusste Weltwahrnehmung. Auch die Interpretation von Michael Braun: Der Dichter lässt sich nicht vertreten. Zu Wulf Kirstens Gedicht ‚landstieg‘ und ‚curriculum vitae‘. In: George-Jahrbuch 10 (2014/15), S. 47–66, fördert keine George-Bezüge zutage.
8.3. Wiederentdeckung in der DDR
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Uwe Kolbe (*1957) hatte seine George-Kenntnis der „kostbarsten Kontrebande“ seines Förderers und Lehrers Franz Fühmann zu verdanken. Fühmann brachte von seinen Reisen in den Westen Bücher mit, die er an befreundete Autoren weitergab; so gelangte Uwe Kolbe in den Besitz von „Georges Gedichte[n] in einer Reclamausgabe“.40 Und, obschon in dieser Zeit George in der DDR geächteter Autor war, erwähnt Fühmann ihn namentlich in dem Nachwort zu Hineingeboren, dem ersten Gedichtband Kolbes aus dem Jahre 1980: Er „liest George, Pessoa und Rilke“.41 Allerdings hinterließ Kolbes George-Lektüre bis zum Jahre 2008 keine Spuren in seiner eigenen Lyrik.42 Einen ganz anderen Zugang fand Rolf Schilling (*1950), der als 25-Jähriger die literarische Moderne (George, Hofmannsthal, Rilke) entdeckte und 1975/76 in Vorträgen vorstellte. Der 1985 veröffentlichte Essay Stefan George. Gedanken zu einem unzeitgemäßen Dichter entspricht wohl weitgehend dem Vortrag „Stefan George – ein unzeitgemäßer Dichter?“, den er am 17. Februar in Ilmenau gehalten hat.43 Darin reflektiert Schilling seine ambivalente Haltung zu George, seit er im Jahre 1964 „die ersten Verse von ihm las“: „Ich habe George […] stets als einen der größten Dichter deutscher Zunge verehrt – und gleichzeitig parodiert“.44 Seine „Faszination“ begründet Schilling mit einer erotischen Qualität der erhabenen Poesie: „Worte von verschwiegener Wollust und Grausamkeit, schön und gefährlich“,45 die andererseits dazu verführe, „Nichtigkeiten im erhabenen Pathos des George-Kreises zu besingen“. Den inhärenten Reiz zum Zersingen beglaubigt Schilling mit der Schlussstrophe seiner Parodie Haupt-mensa, in der er Georges edle Lexik auf den Abwasch des Bestecks einer glanzlosen Schulmahlzeit anwendet:
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Vgl. Uwe Kolbe: Renegatentermine. 50 Versuche, die eigene Erfahrung zu behaupten, Frankfurt/M. 1988, S. 97. Gemeint ist die von Robert Boehringer zusammengestellte Auswahl Gedichte aus dem Jahre 1960. Franz Fühmann: Anläßlich der Gedichte Uwe Kolbes. In: Uwe Kolbe: Hineingeboren. Gedichte 1975–1979, Berlin und Weimar 1980, S. 145–151, hier 145. Kolbe selbst gesteht in seinem Gedicht Zweite, überschüssige Legitimation seine Prägung durch den damals offiziell geächteten Kanon, ohne aber George namentlich zu nennen: „Es pulste Gift durchs Innre mir, / die bürgerliche Dichtung, Trakl, / Benn und Rilke, Whitman und Pessoa, / die stets genannten Schwierigen“ (ebd., S. 92 f.). Dies konstatiert triftig Wulf Segebrecht: Umorientierungen. Zu zwei Gedichten Uwe Kolbes. In: George-Jahrbuch 10 (2014/15), S. 73–83, hier 76. Segebrecht würdigt in seiner Studie die späteren George-Bezüge in Kolbes Gedichten: Wie einer doch noch hoffen kann (für Wolfgang Graf Vitzthum) und Bingener Gebet, auf die unten noch eingegangen wird. Rolf Schilling: Stefan George. Kreis der Gestalten. Zwölf Huldigungen, München 1990, S. 9–22. Schilling: Stefan George, S. 9. Schilling: Stefan George, S. 11.
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8. George in der ‚Neuen Subjektivität‘
Zu welcher spähe oder welcher sende Sind auserkoren diese edlen messer Vom alabaster weisser knabenhände Zu gleiten in geweihte abwaschwässer.46
Allerdings historisiert Schilling George in seinem frühen Essay, dessen Wertungen man den Entstehungskontext, die DDR in den 70er Jahren, anmerkt. Vieles wird zwar aus der Warte eines kollektiven ‚wir‘ als überlebt abgetan, umso erstaunlicher ist aber der anerkennende Tenor, mit dem Schilling den zuvor unter Faschismus-Verdacht ausgegrenzten Dichter zurück ins kollektive Gedächtnis ruft: Uns, den Nachgeborenen, bleibt der Glaube an das strenge, ja eherne Beharren des Dichters auch heute noch, der Versuch eines Männerbundes nach antikem Muster als Lebensform, der souveräne Sieg des poetischen Bildes, des zu Wort und Formel geronnenen Mythos über die Widrigkeit der Welt. Uns bleibt aber auch die Warnung vor jeglicher Ästhetisierung der Politik und der entschiedene Wille, über George, seinen Knabenkult, seine Verachtung der Menge und seine Verherrlichung der Gewalt hinwegzugehen und zurückzufinden zum Leben, zur Sinnlichkeit und Heiterkeit, die dem verbissenen ‚profeten‘ aus Bingen so gänzlich abging.47
Abschließend verbürgt Schilling die überzeitliche poetische Qualität Georges mit dem Gedicht „Fenster wo ich einst mit dir“ (SW VI/VII, 151), um mit einer ironischen Konversion und dem süffisanten Schluss des Märchens Vom klugen Schneiderlein zu enden: „Ja, es gibt keinen Zweifel: Stefan George war ein großer Dichter. Wers nicht glaubt, zahlt einen Taler“.48 In seinen Notizen Aus Ariel-Tagen, die von 1975 bis 1980 reichen, protokolliert Rolf Schilling seine poetische Selbstfindung. Dabei spielt George eine wichtige Rolle. Das geht zwar auch mit einer Distanzierung einher,49 andererseits knüpft Schilling an die Klassische Moderne „um 1890 mit George, Hofmannsthal, Rilke“ an, die er als „productive Fortsetzung von Goethe und Schiller“ bezeichnet.50 Dass er die direkte Konkurrenz mit George mied, zeigen seine Swinburne-Übersetzungen aus dem Jahre 1980:
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50
Schilling: Stefan George, S. 12. Schilling: Stefan George, S. 20 f. Schilling: Stefan George, S. 22. Vgl. Rolf Schilling: Aus Ariel-Tagen, München 1995, S. 95: Zu dem Komplex „Meer, Mythos, antikes Italien“: „George ist zu gebunden, als daß er eine ursprüngliche Vitalität, die auch das Minderwertige nicht scheut, ausleben könnte“. Zu unserem Ansatz der ästhetischen Dissonanz passt es auch, dass Schilling bei gleichzeitiger Orientierung an der Klassischen Moderne Parodien auf Rilke verfasst hat (vgl. ebd., S. 99 [9.4.1979], S. 101 [17.5.1979]). Schilling: Aus Ariel-Tagen, S. 96, s. d. 1.3.1979.
8.3. Wiederentdeckung in der DDR
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Als er erwägt, welche Gedichte er übersetzen solle, stellt er resigniert fest: „‚Dedication‘ hat mir George weggenommen“.51 Erst später hat er sich von dem Vorbild insofern emanzipiert, als er auch Gedichte von Charles Baudelaire, Stéphane Mallarmé und Paul Verlaine übersetzte, von denen Nachdichtungen Georges vorliegen.52 In Schillings eigener Dichtung finden sich etliche George-Reminiszenzen. Sie reichen von motivischen Korrespondenzen, metrischen Allusionen und sprachlichen Referenzen bis hin zu heimlichen Dialogen. Diesen Eindruck bestätigt ein Tagebucheintrag aus dem Jahre 1980 Ernst Jüngers, „eine[s] Leser[s] jenseits des Eisernen Vorhangs“, den die „Verse“, die ihm Schilling übersandte, „an George erinnern“.53 Wie eigenständig Schilling sich George angeeignet hat, zeigt etwa sein HerbstSonett (1993), das ich als einen phantastisch-mythisierenden Gegenentwurf zu Georges „Komm in den totgesagten park und schau“ (SW IV, 12) lese. Schilling übernimmt nicht nur die Jahreszeit Herbst und das Gartenmotiv („Rosenbeet“) mit dem Wissen um die Vergänglichkeit, sondern vor allem die imperativische Aufforderung an ein Du, die als Incipit die Bezugnahme auf George markiert. Sein Eingangsvers („Pflück einen letzten Strauß vom Rosenbeet“) kombiniert zwei Verse des Prätexts: „Die späten Rosen welkten noch nicht ganz“ und „Vergiss auch diese lezten astern nicht“ (V. 7 und 9). Doch über die volkstümliche Bezeichnung ‚Hexen-Ei‘ für Stinkmorchel transgrediert Schilling sukzessive die realistische Sphäre und lädt das Du in eine phantastische Welt ein. Die Schlussstrophe nimmt zwar die Gesichtsmetapher Georges auf, deutet aber bei Schilling eine Metamorphose des Du in der fremden Nähe voraus:
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Schilling: Aus Ariel-Tagen, S. 144, s. d. 21.8.1980. Vgl. Rolf Schilling: Was der Schatten sprach. Französische und russische Lyrik in deutscher Fassung, München 1993. Folgende Gedichte, die Schilling übersetzt hat, lagen auch schon in Nachdichtungen Georges vor: von Baudelaire: „Aufschwung“ (S. 81), „Einklänge“ (S. 82), „Die kranke Muse“ (S. 83), „Der Schwan“ (S. 97), „An eine, die vorüberging“ (S. 100), „Amor und der Schädel“ (S. 104), „Der Tod der Armen“ (S. 105), „Weit, weit von hier“ (S. 109) und „Der Untergang der romantischen Sonne“ (S. 110); von Mallarmé: „Meeresbrise“ (S. 113), und von Verlaine: „Wehmütiges Zwiegespräch“ (S. 124) und „Kaspar Hauser singt“ (S. 133). Vgl. Ernst Jünger: Tagebucheintrag vom 9.2.1980. In: Siebzig verweht II. In: E. J.: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5: Tagebücher V. Strahlungen IV. Stuttgart 1982, S. 579. Jünger und Schilling korrespondierten miteinander, und Schilling besuchte Jünger nach dem Fall der Berliner Mauer in Wilflingen. In einem Brief vom 29. Juni 1991 attestiert Jünger dem geschätzten Lyriker Schilling poetische Originalität: „Daher finde ich keine Vergleiche – nicht einmal den naheliegenden mit Stefan George. Sie sind nicht elitär, sondern fundamental, und eher isländisch als meridional“.
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8. George in der ‚Neuen Subjektivität‘
Herbst-Sonett PFLÜCK einen letzten Sproß vom Rosenbeet Und heb die Hexen-Eier aus dem Laub. Was du nicht heimbringst, wird dem Wind zum Raub Und ist vor Tag verworfen und verweht. Der Hirsch, in dessen Spur das Wasser steht, Darin dein Bild verschwimmt, ist blind, nun glaub, Daß dir das Einhorn aufspring mit Geschnaub, Wo sich der Wächter mit dem Speer ergeht. Er wird dir sagen, was der Schatten sprach, Da schon der Holder, der sein Horn zerbrach, Die Hand erhob zu traurigem Fahrwohl. Schließ das Visier und geh der Schlange nach, So dringst du ein ins innerste Gemach Mit deinem Helm von rotem Karneol.54
Für eine breitere Wiederentdeckung Georges in der DDR sorgte die von Horst Nalewski 1987 herausgegebene Auswahl von Gedichten Georges, deren Auflage von 15.000 Exemplaren innerhalb eines Jahres vergriffen war.55 Nalewski konzediert in seinem Nachwort die antidemokratische und antihumanistische Gesinnung des Dichters: „Solch beispielloses Verfluchen des Menschen wird sich aus unserem Gedächtnis nicht mehr verdrängen lassen, wann immer man Stefan George erinnert“.56 Doch mit diesem moralischen Vorbehalt verschafft sich Nalewski zugleich den Freiraum, auch die ästhetischen Qualitäten zu würdigen, die er sogar Georges ideologisch proble-
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Rolf Schilling: Herbst-Sonett. In: R. S.: Feuerlilie. Gedichte, München 1995, S. 67. Vgl. Robert Wolff: Unterschiedliche George-Rezeption in Ost und West. Professor Nalewski (Leipzig) sprach vor George-Gesellschaft. Fehlende Zugänglichkeit wissenschaftlicher Literatur auf beiden Seiten. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.10.1988. Wieder in: Neue Beiträge zur George-Forschung 14 (1989), S. 44. Die erstaunlich hohe Auflage bestätigt auch die frdl. Auskunft von Wulf Kirsten im Dezember 2020. Horst Nalewski: Nachwort. In: Stefan George: Gedichte, Leipzig 1987, S. 144–168, hier 147. Horst Nalewski: Stefan George: Abstand und Bezug. Das Ganze/Der Teil. Versuch einer Annäherung. In: Neue Beiträge zur George-Forschung 14 (1989), S. 25–35, hat das ‚gemischte‘ Urteil seiner historischen Bewertung, die „Balance […] von Kritik und Anerkennung literarischer Bedeutung“ (ebd., S. 34), auch im Hinblick auf die marxistische Kritik verteidigt, die in der BRD kaum beachtet wurde. Wie sehr die Teilung Deutschlands auch den Umgang mit der Moderne im Allgemeinen und George im Speziellen prägte, konstatiert Wolffs Rezension (Unterschiedliche George-Rezeption in Ost und West) von Nalewskis Vortrag bei der Binger George-Tagung im Jahre 1988.
8.3. Wiederentdeckung in der DDR
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matischem Spätwerk attestiert, das in der Auswahl erstaunlich prominent repräsentiert ist: Doch zugleich gibt es Bruchstellen jener in Rhetorik übergehenden Spruch-Dichtung, die Gedichte zum Vorschein kommen lassen, denen man seine Zustimmung oder gar Bewunderung nicht wird versagen wollen. Und das gerade auch am Ende.57
Der literaturpolitische Affront, der Nalewskis Auswahlausgabe zugrunde lag, wurde in der DDR durchaus erkannt, wie ein Rezensent rückblickend bemerkt: Nicht hoch genug zu schätzen schließlich seine jenseits einer distanzlosen „Rettung“ angelegte Stefan George-Lyrik-Auswahl im Reclam-Verlag (1987), mit der er nicht nur ein hierzulande lange waltendes Tabu brechen half, sondern auch zu einem Zeitpunkt, als dies noch lange nicht Brauch war, bereits dokumentierte, daß wir Geschichte, auch Literaturgeschichte, nicht haben können ohne deren aufstörende Widersprüchlichkeit.58
Von dem George-Kenner Wulf Kirsten stammt der Text des Rückentitels. Darin rehabilitiert er den lange geächteten George, da ungeachtet all seiner „subjektiven Faktoren […] der Gewinn für die deutsche Literatur […] objektiv beträchtlich“ sei; Georges „neue, unverschlissene Sprache“ habe die deutsche Lyrik „aus einer tiefen Sackgasse herausgeführt.59 Wie sehr Nalewskis George-Auswahlausgabe das ästhetische Bewusstsein der in den 60er Jahren geborenen Dichtergeneration in der DDR prägte, betont rückblickend Lutz Seiler. Für ihn „und einige Freunde, die in den 1980er Jahren begonnen hatten, Gedichte zu schreiben, verkörperte George die befreiende Distanz, den notwendigen Abstand. Er war der Gewährsmann für unsere, aus heutiger Sicht vielleicht eher traurig zu nennende Abgewandtheit“.60 Mit der kritischen „Abkehr von der Ödnis unserer Gegenwart“ in Gestalt Georges „verweigerten wir den Dichtern der sogenannten dritten Generation (der Generation unserer Väter) und ihren an Brecht und der Aufklärung geschulten Poetologien die Gefolgschaft“.61 Die fünfzehnbändige Gesamtausgabe, die Seiler in Halle über Jahre aus der Stadt- und Bezirksbibliothek am Hallmarkt entliehen hatte, bezeichnet er als „[s]einen 57 58 59 60 61
Nalewski: Nachwort, S. 158. Anon.: Horst Nalewski zum 60. Geburtstag. In: Zeitschrift für Germanistik 11 (1990), S. 758. Wulf Kirsten: [Rückentitel]. In: George: Gedichte. Ebd. deutet Kirsten auch die große poetische Wirkung Georges an: „So ist zumindest der Expressionismus ohne Georges Anregerschaft schwerlich zu verstehen und kaum denkbar“. Lutz Seiler: Das dunkle Blau. In: George-Jahrbuch 10 (2014/2015), S. 125–129, hier 126. Seiler: Das dunkle Blau, S. 126.
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8. George in der ‚Neuen Subjektivität‘
dunkelblauen Altar“.62 Georges Gedichtvers „Sieh mein kind ich gehe“ verselbständigte sich, losgelöst vom Kontext des Gedichts, für Seiler zu „einer Art Unabhängigkeitserklärung“, scheinbare Möglichkeit, die Realität und Gegenwart zu verlassen in ein „Reservat aus Sprache und Poesie“.63 Somit bot George in der politischen Umbruchphase der ihrem Ende zusteuernden DDR einigen jungen Lyrikern wie Lutz Seiler, Jörg Schieke, Thomas Böhme und Norbert Hummelt eine wichtige Orientierung im Prozess der poetischen Selbstfindung.64
8.4. George im wiedervereinigten Deutschland In der Bundesrepublik Deutschland ergab sich mit der Wiedervereinigung eine neuerliche Diskussion um den Holocaust, um die Kollektivschuld und um die Rolle der deutschen Nation in Europa. In dieser Debatte um einen anderen Umgang mit den NS-Verbrechen kam es auch erneut zu einer gelegentlichen Infragestellung der Person Georges.65 So konfrontiert Klaus Weilers Gedicht Auschwitz Hölderlin, Trakl und George – die drei Autoren, auf die sich Martin Heidegger vor allem berufen hatte – mit dem Genozid an den Juden. Das „Schweigen“ Heideggers, der selbst mit dem Nationalsozialismus eng verstrickt war, wird nachträglich als „unwürdig“ geächtet. Dass Weilers zynische Gegenüberstellung von deutscher Dichtung und Holocaust aber weniger George oder Hölderlin und Trakl gilt, sondern auf Heidegger zielt, zeigt Weilers Folgegedicht Blut, in dem diese Konfrontation noch weitergetrieben wird: Auschwitz Denken Warum Lieber Hölderlin George, Trakl befragen Verkriechen in Sein, Bewußtsein
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65
Seiler: Das dunkle Blau, S. 128. Seiler: Das dunkle Blau, S. 129. Seiler: Das dunkle Blau. Während die George-Spuren bei Seiler, Böhme und Hummelt nicht zu übersehen sind, vermag ich bei dem von Seiler hochgeschätzten Lyriker und GeorgeLeser Jörg Schieke – von der Kleinschreibung abgesehen – keine intertextuellen Bezüge zu erkennen. Zu einem differenzierten Urteil trug die intensive George-Forschung bei, die etwa den gelegentlichen Antisemitismus-Vorwurf durch den Hinweis auf die ausgeprägte jüdische George-Rezeption entkräftete; vgl. Thomas Sparr: „Verkannte Brüder“. Jüdische GeorgeRezeption. In: Merkur 46 (1992), S. 993–1000.
8.4. George im wiedervereinigten Deutschland
371
Schönen Schein Quellenwasser, rein, der Philosophie Nicht Juden-Gestank Zyklon B Schweigen Unwürdig Eines Lehrers Deutschlands Heidegger66
Weilers Auschwitz-Gedicht reagiert auch auf die verstärkte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit George und seinem Werk in den 90er Jahren.67 Sie lässt sich allein an den äußeren Daten ablesen: an der achtzehnbändigen Werkausgabe im Klett-Cotta-Verlag, der Gründung der Stefan-George-Gesellschaft 1994, dem George-Jahrbuch, das erstmals 1996 erschien, und einer Fülle bedeutender wissenschaftlicher Monographien.68 Zum einen verschob sich das Erkenntnisinteresse weg vom Frühwerk hin zum Spätwerk und von der werkimmanenten Analyse zu soziologischen, historischen, kultur- und religionsgeschichtlichen Aspekten. Dass die Dichtung immer mehr in den Schatten der charismatischen Persönlichkeit Georges rückte, hängt nach Davide Di Maio allerdings nicht, wie gelegentlich behauptet, mit der Konjunktur eines neuen Konservativismus im wiedervereinigten Deutschland zusammen, auch wenn die stärker sozialhistorische Perspektive die Polarisierung Georges deutlich relativierte.69 Ob Botho Strauß im Titel seines dreiaktigen Dramas Schlußchor (1991) Stefan Georges gleichnamiges Gedicht aus dem Stern des Bundes zitiert, wie
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Klaus Weiler: Auschwitz. Blut. In: Wortnetze III: Neue Gedichte deutschsprachiger Autor(inn)en. Hg. von Axel Kutsch, Bergheim 1990, S. 101. Vgl. dazu Davide Di Maio: Anmerkungen zur deutschen ‚Gegenwart des Konservatismus‘ anhand der neusten Sekundärliteratur über Stefan George und seinen Kreis. In: Gegenwart des Konservativismus in Literatur, Literaturwissenschaft und Literaturkritik. Hg. von Maike Schmidt, Kiel 2013, S. 193–220. Das neue literarhistorische Interesse an dem George-Kreis war freilich durch die wichtigen Untersuchungen von Karlhans Kluncker: „Das geheime Deutschland“. Über Stefan George und seinen Kreis, Bonn 1985, und Günter Heintz: Stefan George. Studien zu seiner künstlerischen Wirkung, Stuttgart 1986, vorbereitet worden. – Zu den maßgeblichen und bis heute wirkungsvollen Studien zu George und seinem Kreis aus den 90er Jahren seien genannt: Stefan Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt 1995; Michael Petrow: Der Dichter als Führer? Zur Wirkung Stefan Georges im „Dritten Reich“, Marburg 1995; Wolfgang Braungart: Ästhetischer Katholizismus: Stefan Georges Rituale der Literatur, Tübingen 1997; Carola Groppe: Die Macht der Bildung. Das deutsche Bürgertum und der George-Kreis 1890–1933, Köln, Weimar und Wien 1997 (2. Aufl. 2001); Rainer Kolk: Literarische Gruppenbildung. Am Beispiel des George-Kreises 1890–1945, Tübingen 1998. Vgl. Di Maio: Anmerkungen zur deutschen ‚Gegenwart des Konservatismus‘.
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8. George in der ‚Neuen Subjektivität‘
Wolfgang Braungart zu bedenken gibt, mag offenbleiben.70 Vorrangig ist gewiss der Bezug auf Schillers Ode an die Freude: „Fetzen von Beethovens ‚Schlußchor‘ von der Straße her“.71 Allerdings lassen die mehreren Deutschlandbilder, die das Stück nebeneinander präsentiert, durchaus an Stefan George denken. Dafür spricht auch, dass sich Botho Strauß in seiner essayistischen Prosa nach der Wiedervereinigung immer wieder auf Stefan George bezieht. In seiner Kritik des „Plurimi-Faktors“ der aktuellen Massendemokratie, in der „das Breite zur Spitze“ erklärt wird, gehört George zu den positiven Gegenbildern, zum Probierstein aktueller Entwicklungen. Trotz des romantischen Sehnens nach „dem ausgewählten Zirkel“ reflektiert Strauß in seiner Gegenwartskritik allerdings den aktuell inadäquaten Kontext und die Historizität des George-Kreises: „Man halluziniert in der Schwemme die Weihen des George-Bunds. Gewiß ohne den Stern, ohne Geschichtsprophetie. Der Typus Meister und Führer ließe sich ohnehin nicht wiederbeleben […]“.72 Und auch wenn Strauß der Idee des ‚geheimen Deutschland‘ nachhängt, ist es bei ihm weniger eine politische, als vielmehr eine sprachliche Utopie: „In Zukunft wird das ‚geheime Deutschland‘ zuvörderst der Muttersprache gehören. Ohne Militanz und politischen Eifer, allein in tieferer Zugehörigkeit“.73 Ein Bekenntnis zu George im wiedervereinigten Deutschland ist auch Martin Walsers autofiktionaler Zeitroman Ein springender Brunnen (1998).74 Gegliedert in drei Teile, werden Kindheit und Jugend des Protagonisten Johann in drei Zeitschichten zwischen 1932 und 1945 rekapituliert, und zwar in der Form, wie sie jeweils die programmatische Überschrift der Eingangskapitel aller drei Teile bezeichnet: „Vergangenheit als Gegenwart“. In seinem Bemühen, die Adoleszenz im nationalsozialistischen Jahrzwölft nicht aus nachträglicher Sinngebung, sondern aus dem unmittelbaren Erleben 70
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Vgl. Wolfgang Braungart: Deutschlandbilder in Botho Strauß’ Drama ‚Schlußchor‘ (1991). In: The German Quarterly 78 (2005), S. 92–102, hier 92. Zu Botho Strauß und Stefan George vgl. Thomas Oberender: Die Wiedererrichtung des Himmels. Die ‚Wende‘ in den Texten Botho Strauß’. In: Text und Kritik 81 (1998), S. 76–99, hier 81. Botho Strauß: Schlußchor, München 1991, S. 94. Botho Strauß: Abschied vom Außenseiter. Von den meisten und den wenigen [2011]. In: B. S.: Die Expedition zu den Wächtern und Sprengmeistern. Kritische Prosa, Hamburg 2020, S. 259–270, hier 261. Botho Strauß: Sprengsel. In: B. S.: Die Expedition zu den Wächtern und Sprengmeistern. Kritische Prosa, Hamburg 2020, S. 279–314, hier 290. Den Titel des Romans hat Martin Walser auf seine lebenslange Begeisterung für Nietzsches Zarathustra zurückgeführt: „Dem Zarathustra-Ton bin ich sofort und, wie sich dann herausstellte, für immer verfallen. Zum Beispiel: ‚Das Nachtlied. Nacht ist es: nun reden lauter alle springenden Brunnen. Und auch meine Seele ist ein springender Brunnen.‘ Daraus wurde bei mir immerhin ein Romantitel“ (M. W.: „Der Muthmacher“ [Gekürzte Dankesrede für die Verleihung des Internationalen Friedrich Nietzsche-Preises 2015]. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31.10.2015, Nr. 253, S. 18.
8.4. George im wiedervereinigten Deutschland
373
heraus zu erzählen, gewinnt auch Johanns Dichterwerdung eine eigentümliche Präsenz. Die drei Romanteile repräsentieren Phasen dieser poetischen Initiation, die mit literarischen und persönlichen Begegnungen einhergehen und Johann vermitteln, wie sehr jeweils seine lyrischen Versuche und sein sprachlicher Ausdruck hinter den Erfahrungen zurückbleiben. In der Klassikerbibliothek seines Vaters lernt er etwa Klopstock und Hölderlin kennen, sein „Vetter Großonkel“ vermacht ihm eine sechsbändige Schillerausgabe, doch für die Initiation zum Poeten noch wichtiger ist die Begegnung mit Stefan Georges Jahr der Seele, das ihm bezeichnenderweise ein verwundeter SS-Scharführer während der Rekonvaleszenz ausleiht: Johann hatte zum ersten Mal Gedichte, die in seinem Jahrhundert geschrieben worden waren. Das Jahr der Seele. Ein nachtblaues Buch mit goldenen Buchstaben. Und was für Buchstaben. Auch innen, auf geradezu hallenden Seiten, diese Buchstaben von urtümlicher Eleganz. Die auf diesen ägyptisch wirkenden Seiten ehrwürdig erscheinenden Gedichte konnte Johann anschauen, ohne sie immer gleich zu lesen. Und erst vor ein paar Jahren sei der Dichter gestorben. Das war eine Nachricht. Das hatte er nicht zu vermuten gewagt, daß in seinem eigenen Jahrhundert solche Gedichte gemacht werden konnten. Gedichte, das war Klopstock, Goethe, Schiller, Hölderlin – und Schluß. […] Und jetzt so nah, solche Gedichte. Gedichte, die auf Johann nicht weniger wirkten als die von Klopstock und Hölderlin. Und dieser Dichter – das war nichts als ungeheuerlich – sei, hatte der Scharführer gesagt, kurz vor seinem Tod in Wasserburg gewesen. Johann war schon geboren, als Stefan George im Dorf gewesen sein sollte. […] Am liebsten stellte er sich vor, er sei auf den Terrassenstufen gesessen, dreijährig oder fünfjährig, und vorbeigegangen sei, von einem Freund begleitet, dieser Dichter. Der Scharführer hatte Johann ein Bild gezeigt, auf dem der Dichter genauso aussah wie seine Gedichte. Urtümlich, elegant.75
Indem Johanns Begeisterung für George vom Werk über die Buchgestaltung zum Autor übergeht, vollzieht er in seiner Rezeption das typische GeorgeErlebnis der Kriegsgeneration nach. Durch die figurale Darbietung wird aber der Enthusiasmus nicht distanziert, sondern reaktualisiert. Auch die prägende Wirkung Georges auf den jungen Dichter wird durch seine lyrischen Nachahmungen im Zeichen Georges verbürgt: Johann mußte seitdem auf alles im Ton dieses Dichters reagieren. Und wenn’s zu ganzen Gedichten nicht reichte, setzte er einfach einzelne Zeilen aufs Papier, aus denen er später Gedichte entwickeln würde. War mein Herz nicht wie das Deine voll? und Gott in allen meinen Nächten groß?
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Martin Walser: Ein springender Brunnen. Roman, Frankfurt/M. 1998, S. 346.
374
8. George in der ‚Neuen Subjektivität‘
Ich haßte stets am Steg der Feigheit Zaun und sucht’ im Vielen immer das Zuviel.76
Es bleibt zu vermuten, dass Martin Walser in Johanns produktiver Rezeption Georges Anteil an seinen eigenen lyrischen Anfängen verschlüsselt hat, auch wenn diese nur den Vortrab zu seiner Prosa bildeten. Das metapoetische Schlusskapitel des Romans, in dem Johann einen Traum aufschreibt und dabei feststellt, dass „er nicht den Traum aufgeschrieben hatte, sondern das, was er für die Bedeutung des Traums hielt“,77 endet mit einer programmatischen Aufwertung der Sprache: „Sich den Sätzen anvertrauen. Der Sprache“. Diese Erkenntnis gipfelt in Johanns bildlich verschlüsselter Akzeptanz der Eigendynamik des Mediums Sprache: „Die Sprache, dachte Johann, ist ein springender Brunnen“.78 Insofern erinnert der Schlusssatz des Romans an die programmatische Schlussstrophe von Georges metapoetischem Gedicht Das Wort: Darin wartet das lyrische Ich, um die „wunder von ferne oder traum“ auszudrücken, „bis die graue norn / Den namen fand in ihrem born“.79 Nicht nur die Kombination von ‚Traum‘ und ‚Brunnen‘ bzw. ‚born‘, auch Johanns Einsicht vom Vorzug der Sprache vor den Phänomenen ist in Georges Wort vorgegeben: „So lernt ich traurig den verzicht: / Kein ding sei wo das wort gebricht“.80 Mit etwas interpretatorischer Kühnheit ließe sich daher das metapoetische Schlusskapitel in Walsers Roman als Prosaparaphrase oder Variation von Georges Wort verstehen. Zur Rehabilitation Georges im wiedervereinigten Deutschland hat auch die Internationalisierung beigetragen. George wurde auch zu einer Größe in den europäischen Nationalliteraturen. So stellt der französische Schriftsteller Patrick Modiano (*1945) seinem Roman Du plus loin de l’oubli (1996/dt. Aus tiefstem Vergessen, 2000) ein verkürztes Zitat aus Georges Juli-Schwermut voran: „Aus tiefstem Vergessen lockst du …“. „Aus tiefstem Vergessen lockst Du Träume“ heißt es bei George. Das Motto ließe sich sowohl auf die Fabel des Romans, die Erinnerung eines Ich-Erzählers an seine Jugendjahre im Paris und London der 60er Jahre beziehen, die mit einer unerfüllten Liebesbeziehung zu einer fragilen, stets sich entziehenden Frau verbunden sind. Dreißig Jahre später, 1994, trifft er diese unverhofft wieder, was zum Anlass des Erzählens wird. Möglicherweise ist das George-Motto aber auch eine Hommage an Peter Handke, dem der Roman gewidmet ist. 76 77 78 79 80
Walser: Ein springender Brunnen, S. 346 f. Walser: Ein springender Brunnen, S. 404. Walser: Ein springender Brunnen, S. 405. SW IX, 107, V. 3 f. SW IX, 107, V. 13 f.
8.5. Lyrischer Gewährsmann der Jahrtausendwende
375
Georges Vers könnte das wechselseitige literarische Sich-Fördern und die Freundschaft ausdrücken, die Handke und Modiano seit den 70er Jahren verbindet. Zwei Romane Modianos hat Handke ins Deutsche übertragen.
8.5. Lyrischer Gewährsmann der Jahrtausendwende Mit der Wiedervereinigung Deutschlands stießen somit zwei unterschiedliche Strömungen der George-Rezeption zusammen, die sich nach dem ‚Ende der Geschichte‘ sicher wechselseitig befruchteten: zum einen eine eher politisch-kritische und skeptische Richtung, in der die Vergangenheit des wiedervereinigten Deutschland neu verhandelt wurde, zum andern eine postmoderne Form, in der die ästhetische Tradition spielerisch aufgegriffen und dem Sound der neuen Medien angepasst wurde. Drei lyrische Stimmen, die aus den 90er Jahren ins 21. Jahrhundert überleiten und für die George eine Art ästhetische Richtschnur bildete, seien hier als Übergang zum Schlusskapitel verhandelt. Betrachtet werden Thomas Böhme, ein Dichter aus der früheren DDR, sowie Norbert Hummelt und Thomas Kling, die in der Bundesrepublik akkulturiert wurden.
8.5.1. Thomas Böhme Kaum beachtet wurde bisher Thomas Böhmes (*1953) George-Rezeption. So hat er eine eigene Auswahl von Gedichten Stefan Georges zusammengestellt und in seinem Nachwort „Georges Verdienst um eine Entschlackung und Verjüngung lyrischen Sprechens“ gewürdigt.81 Auch wenn er es als „nicht zulässig“ bezeichnet, „George einen Wegbereiter des deutschen Faschismus zu nennen, wie z. T. nach sozialistischer Lesart geschehen“, präsentiert er in seiner Anthologie einen anderen George als Nalewski. Das Spätwerk ist mit lediglich drei Gedichten aus dem Stern des Bundes und dem Neuen Reich so gut wie gar nicht präsent, da er dezidiert „auf Belehrendes, auf Verkündigungsgedichte und Sprüche sowie auf die aus heutiger Sicht vernutzten Texte“ verzichtet.82 Zuvor schon hatte Böhme als Lyriker die Kleinschreibung übernommen und im stoff der piloten neben einer modernisierenden Kombination von Erlkönig, Algabal und George83 sowie weite81 82 83
Stefan George: Gedichte. Ausgewählt von Thomas Böhme, Berlin 1992, S. 48. Vgl. die überblickshafte Würdigung von Horst Nalewski: Lebendiger George. Zu den George-Gedichten von Thomas Böhme. In: Neue Beiträge zur George-Forschung 15 (1990), S. 32 f. Thomas Böhme: Nachwort zu: George: Gedichte. Ausgew. von Th. B., S. 48. Vgl. Thomas Böhme: erlkönigs schwimmender garten. dem gedächtnis stefan georges. In:
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8. George in der ‚Neuen Subjektivität‘
ren George-Allusionen84 einen eigenartigen Interlinearkommentar zu Stefan Georges Rhein V-Gedicht (SW VI/VII, 175) geliefert:85 vermischung stefan george: rhein V das kann nicht sein · dass ich den rhein besinge dies ist das land: solang die fluren strotzen bin ich inmitten der voyeur der sieben ringe von korn und obst · am hügel trauben schwellen als ob man straffrei durch verbotner kindheit ginge und solche türme in die wolken trotzen – dass man sich leicht den schönsten falken finge rosen und flieder aus gemäuer quellen – und stürzt doch selbst mit abgebrochner klinge.
Die kursiv gedruckten Verse geben den fünften Teil von Stefan Georges „Rhein“-Zyklus wieder, die recte gedruckten Zeilen im gleichbleibenden Reim stammen von Böhme. Die von Böhme zitierte Strophe ist wie die ganze zweite Hälfte von Georges Rhein-Dichtung dem Rhein als Rollenlyrik in den Mund gelegt. Sie setzt mit einer charakteristischen biblischen Wendung aus dem Deuteronomium, dem fünften Buch Moses, ein: Moses darf vor seinem Tod das gelobte Land sehen, es aber nicht betreten: „Und der HERR sprach zu ihm: ‚Dies ist das Land, von dem ich Abraham, Isaak und Jakob geschworen habe: Ich will es deinen Nachkommen geben. – Du hast es mit deinen Augen gesehen, aber du sollst nicht hinübergehen‘“ (5 Mos, 34). Georges Rhein-Rede projiziert das Gelobte Land auf die Flusslandschaft,
84
85
Th. B.: stoff der piloten, Berlin und Weimar 1988, S. 109. Das Gedicht entwirft einen verführerischen schwimmenden exotischen Garten, in dem ein verführerischer „Erlkönig“, „bleich[…] / in leder und schwarzen satin gekleidet“ (V. 5 f.) residiert und Neuankömmlinge nicht wieder aus dem Zaubergarten entlässt, wie die letzte Strophe in rhetorische Frage stellt: „ein weg führt in des erlkönigs schwimmenden garten / kennt einen der wieder hinaus fand / aus dem blütenteppich mit leoparden / in deren stirn erlkönigs merkmal gebrannt?“ Die rhetorische Frage weist auf die fatale Faszination des ästhetischen Immoralismus hin, wie ihn Georges Algabal, aber auch der Dichter selbst repräsentieren, ohne dass aber das lebenslange Verfallensein beklagt würde. Vgl. Thomas Böhme: zeitiger herbst und vogelschau. In: Th. B.: stoff der piloten, S. 80, knüpft an die letzte Strophe der Vogelschau aus dem Algabal an, die sie mit dem Erlebnis einer „toten schwalbe“ fortführt: „die tote schwalbe algabal / die wir ins wasser warfen / im überdachten bootsverhau / sie hatte im sommer so oft // auf die bänke geschissen / dass sich das weiss in den lack frass. / sie ging mehrere tage nicht / unter so leicht wie sie war“. Vgl. dazu die Interpretation von Christophe Fricker: Stefan George: Gedichte für Dich, Berlin 2011, S. 128–130, der darauf hinweist, wie das Chevy chase-Metrum in Vers 4 ins Wanken gerät, um in der zweiten Strophe ganz gebrochen zu werden. Thomas Böhme: Rhein V. In: Th. B.: stoff der piloten, Berlin und Weimar 1988, S. 26, 109.
8.5. Lyrischer Gewährsmann der Jahrtausendwende
377
macht aber diese Verheißung in einem mehrteiligen Temporalsatz (‚solange‘) abhängig von einer ausgewogenen Mischung von Natur und Kultur. Indem Böhmes lyrisches Ich die Rhein V-Strophe mit homoiometrischen jambischen, durchgängig gleich reimenden Versen rahmt und untermischt, dupliziert und kommentiert er zugleich Georges Rhein-Rede. Durch die „Vermischung“ entsteht eine äußerlich stimmige, ghaselenähnliche Form, die aber die inhaltlichen Brüche zwischen beiden Stimmen, Böhmes Interlinearversion und Georges Rhein V-Strophe, nur umso deutlicher werden lässt. Die Verheißung des Gelobten Lands in Georges Rhein V wird dadurch, dass sie syntaktisch mit einem Gedankenstrich fortgeführt und thematisch in einen Absturz überführt wird, als Illusion relativiert. In der eigenwilligen vermischung integriert Böhme einerseits George in sein eigenes Dichten, andererseits reflektiert er im Kehrreim auch die ‚anxiety of influence‘, die mit dieser ästhetischen Ambivalenz – einerseits Absage an die Rhein-Lyrik, andererseits Anlehnung als „voyeur der sieben ringe“ verbunden ist. So verbürgt und kritisiert Böhmes originelle Mischform gleichermaßen die Inspiration, die er George verdankt – eine adäquate Form ästhetischer Dissonanz. Georges Rolle eines poetischen Vorbilds zeigt sich auch in Böhmes „Auswahl“ von namensvorschlägen für eine literarische park-stadt. In vier dreiversigen Strophen werden jeweils zwei Namen toter Dichter pro Vers, getrennt durch den für die George-Typographie charakteristischen Mittelpunkt, mit einem urbanistisch-geographischen Terminus verknüpft. In der dritten Strophe wird George genannt: arno-schmidt-bibliothek · droste-hülshoff-weg georg-heym-kanal · stefan-george-gartenverein robert-walser-gäßchen · jean-paul-turm86
Auch wenn Böhme in diesem Gedicht seine Lieblingsdichter nennt, zeigt sich nicht nur in der amtlichen Orthographie mit den zwei Spiegelstrichen eines Straßennamens, sondern auch in der Kombination – George, der Dichter der Kunsträume Park und Garten, als fiktiver Namengeber eines kleinbürgerlichen Gartenvereins – eine Abwehr. Wie ambivalent Böhmes Verhältnis zu George ist, bekunden überdies einige Motiv-Paraphrasen. So verweist eine Anmerkung zu dem Gedicht safe your imago, das über den ungewohnten Gebrauch von Kondomen reflektiert, auf zwei George-Verse als „motiv: st. george: „Entrückt und tötet mich wieder / Flötenspieler vom Nil.“ Tatsäch-
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Thomas Böhme: namenvorschläge für eine literarische park-stadt. In: Th. B.: ich trinke dein · plasma november, 2 dreizehnzeilige und 100 zwölfzeilige gedichte (1987–1990), Berlin und Weimar 1991, S. 115.
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8. George in der ‚Neuen Subjektivität‘
lich parodiert Böhmes Schlussstrophe in der Ihr-Apostrophe, die wohl den Kondombenutzern nach dem Geschlechtsverkehr gilt, die beiden zitierten Schlussverse in Georges Rollengedicht „Da auf dem seidenen lager“ aus dem Algabal, in dem sich der Kaiser ägyptischen Musikanten hingibt: nun jäh das jahrzehnt des gummis präsenttip und feucht-kreation: erlöst und reinigt euch wieder von flöte und hornmutation.87
Die ästhetische Dissonanz, die Böhmes ‚Arbeit an George‘ charakterisiert, zeigt sich auch in Form von Widerrufen georgischer Verse wie im Eingang von winterfell: wir lehnten uns gegen die windhaut im wieder gefundenen park der längst totgesagt immer noch atembrot spendet die knatternde windmühle in der kinderhand wies uns den weg durch die baum leichen und verrosteten büsche der zellstoff fetzen über die wiese getrieben verwandelte sich zwischen stümpfen windbrüchiger pappeln in ein wendiges wiesel · ein albinokaninchen dachtest du erst als wir näherkamen duckte es sich in ein erdloch wie schade du wolltest es fotografieren wer glaubt uns ein hermelin wo die enten jetzt fehlen für die wir so gerne das altbrot zerbröseln.88
Wie George in seinem Proömialgedicht des Jahrs der Seele („Komm in den totgesagten park und schau“) die Wendung vom „totgesagten“, aber für den Dichter tatsächlich noch inspirierenden, lebendigen herbstlichen Park widerlegt, so zitiert Böhme diese Wendung, um seinerseits die Vitalität der winterlichen Natur zu erweisen. Die Imperative des Prätexts sind einem einvernehmlichen Wir gewichen, das Präsens gegen das distanzierende Imperfekt getauscht. Inmitten der scheinbar toten Natur („baum leichen“, „verrostete[] büsche“) entpuppt sich ein vermeintlicher Zellstofffetzen als ein Wiesel im weißen „winterfell“. Die beiden Schlussverse vergegenwärtigen die gemeinsam erfahrene Epiphanie des Lebens in der scheinbar toten Natur als rhetorische Frage, die zugleich mit der Erinnerung eine Intimität begründet. Das Verfahren einer ambivalenten George-Inspiration charakterisiert auch Böhmes prosimetrisches Stück Elagabal (5). Letzte Einübung. Darin beschreibt ein moderner Ich-Erzähler, wie er sich in Rom mit der Figur 87 88
Thomas Böhme: safe your imago. In: ich trinke dein, S. 97. Thomas Böhme: winterfell. In: ich trinke dein, S. 26.
8.5. Lyrischer Gewährsmann der Jahrtausendwende
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Elagabal auseinandersetzt: „das licht von draußen reicht aus, um ein paar verse abzutippen. das licht elagabals überstrahlt das jahrtausend. wenn ich sie hinschreibe, wird mir leichter sein.“89 Auch wenn Stefan George und der Algabal-Zyklus ungenannt bleiben, verraten die Apostrophen, in denen sich der Erzähler mit Elagabal, „eine[r] schaurigschöne[n] blume des symbolismus“ ins Benehmen setzt, deutlich den Prätext.90 Die abschließende lyrische Hommage des Ich-Erzählers an „den zwittrigen schmetterling“ spielt auf die „Aufschrift dem Gedächtnis Ludwigs des Zweiten“ an, die Stefan George seinem Algabal vorangestellt hat. Heißt es dort: „nun ruft ein heil dir übers grab hinaus algabal / dein jüngrer bruder o verhöhnter dulderkönig “ – so widerrufen Böhmes letzten depeschen jegliche Wahlverwandtschaft in einer Zitatcollage der „Aufschrift“ und des freiwilligen Selbstmords von Algabals Diener, der den Kaiser beim Taubenfüttern stört: „wer jetzt noch dein heil ruft stürze sich besser / selber ins messer […]“.91
8.5.2. Thomas Kling Zu den wichtigsten Stimmen der postmodernen Lyrik, die sich an Stefan George wie an anderen ‚Stimmen‘ abarbeiteten, zählt der 1957 in Bingen geborene und im Jahr 2005 gestorbene Thomas Kling. Als gelehrter Performancekünstler hat er sich selbst immer wieder in ‚Sprachinstallationen‘ mit Stefan George auseinandergesetzt und Leben und Werk des Dichters nicht getrennt.92 In seiner eigenwilligen, phonetisch orientierten Orthographie und durchgängiger Kleinschreibung zeigt sich schon äußerlich eine 89 90 91 92
Thomas Böhme: Elagabal (5). Letzte Einübung. In: Th. B.: Die Einübung der Innenspur. Roman Imitation, Berlin und Weimar 1990, S. 185–192; wieder in: Poetische Hefte 3: Sonderheft Stefan George, Berlin 2003, S. 80–83. Böhme: Elagabal (5). Letzte Einübung, S. 186. Böhme: Elagabal (5). Letzte Einübung, S. 188 („letzte depeschen“). Vgl. dazu die frühe Einordnung von Norbert Hummelt zu den George-Bezügen: Norbert Hummelt: Kleiner Grenzverkehr. Thomas Kling als Dichter des Rheinlands. In: Thomas Kling, München 2000 (Text und Kritik 147), S. 24–37, bes. 34 f. Den Zusammenhang von Klings und Hummelts George-Rezeption streift Michael Braun: Im verzauberten Gehau. Neun Vignetten zu Stefan George. In: Zeitschrift für Literatur 48 (2008), S. 151–156, hier 152. Einen guten Überblick über die Kling-Forschung, freilich ohne spezifische Würdigung seiner George-Rezeption, liefert der Sammelband: Das Gellen der Tinte. Zum Werk Thomas Klings. Hg. von Frieder von Ammon, Peer Trilcke und Alena Scharfschwert, Göttingen 2012. Jörg Hartwig Bank: Thomas Klings ‚Dante-Masken der Moderne‘. Stefan George vs. Rudolf Borchardt. In: Dante-Rezeption nach 1800. Hg. von Franziska Meier, Würzburg 2018, S. 125–145, bezieht sich auf den Ausschnitt „Dante-Masken der Moderne“ aus Klings Essay Venedigstoffe, der auf Ezra Pounds, Georges und Rudolf Borchardts Dante-Rezeption eingeht. Doch geht Bank kaum auf Klings Essay ein, sondern vielmehr auf die einzelnen Dante-Rezipienten wie etwa George (ebd., S. 131–141).
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8. George in der ‚Neuen Subjektivität‘
Orientierung an Stefan George. In dem Gedicht trestern aus dem lyrischen Zyklus mittel rhein (1993) setzt sich Kling auch inhaltlich mit George auseinander, indem er ihn „winzersprachlich“ an die gemeinsame rheinhessische Heimat „b.“ (für Bingen) zurückbindet: […] federkeil der in di brühe sticht, stümmelzeilen, satzwingert ausm kopfwingert zu erzeugn, hierbei zusammengerolltes brechlaub, ausbrechlaub am wickel: george, winzersprachlich gepantscht, wie er sommers b. verlässt, um am lago maggiore zu erfrieren. […]93
Indem sich Kling zu den Formkünstlern der Klassischen Moderne bekennt, rechtfertigt er den Konstruktionscharakter seiner Dichtung, die sich etwa in der relativ regulierten Silbenzahl seiner Gedichte zeigt: „Gedicht ist immer Evokation; und: Gedicht ist, spätestens seit Baudelaire, Mallarmé, George […] Konstrukt“.94 In dem rhapsodischen Essay Stefan George Update (2001) mit dem Titel Leuchtkasten Bingen hat Kling in unverkennbar identifikatorischer Manier Stefan George erneut auf die rheinhessische Sprachlandschaft zurückbezogen, aber auch dessen zeitgemäße Modernität betont. Dem Essay sind zwei Zitate mottohaft vorangestellt: Zum einen der Eingang von Georges Traumtext Der redende Kopf aus den Tagen und Taten, zum andern ein Ausschnitt aus Thomas Klings mittel rhein-Zyklus: Man hatte mir eine thönerne maske gegeben und an meiner zimmerwand aufgehängt. Ich lud meine freunde ein damit sie sähen wie ich den kopf zum reden brächte. George, der redende kopf den sprechern volksliedsprechern fallen fallen, gerottweilertes nebst fallerhäuschen aus den mündern. Kling, mittel rhein
93 94
Thomas Kling: [7] Trestern. In: Th. K.: nacht. sicht. gerät. Gedichte, Frankfurt/M. 1993, S. 66. Thomas Kling: Itinerar, Frankfurt/M. 1997, S. 20 („Sprachinstallation 2“).
8.5. Lyrischer Gewährsmann der Jahrtausendwende
381
Auch wenn sich beide Zitate in Sprache und Stil deutlich unterscheiden, hat dieses Nebeneinander Methode. Denn in seinem Essay untermischt Kling eigene Mittelrhein-Erfahrungen mit George-Bezügen, so dass ein komplementärer Doppeltext entsteht. Die gemeinsame Binger Herkunft wird als prägendes Element durch den Selbstvergleich mit George überprüft, indem Kling die Berichte über seine eigenen Bingen-Erfahrungen mit Zitaten Georges und kritischen Stellungnahmen dazu kombiniert. So zitiert er etwa Stefan Georges Vers: „die schönheit fordert wie alle grossen begriffe ihre opfer“ (SW XVII, 22) und übersetzt ihn halb bewundernd, halb kritisch als modernes Programm: „Das [!] steht es – Georges Programm; zu dem nicht zuletzt das der Jünger-Auswechselung (Opferproduktion) gehörte – der Künstler der Moderne als hartkalkulierender Personalpolitiker.“95 Kling macht sich Georges Traum vom „redenden Kopf“ insofern zu eigen, als er die rätselhafte Maske auf George und Bingen projiziert und sich als denjenigen inszeniert, der die „sprachlos-sprachvollen Masken“ öffnen und zum Sprechen bringen will. Dass die virtuelle Vergegenwärtigung Georges auch ein Selbstgespräch Klings darstellt, zeigt der resignative Schluss seines ‚Update‘, der die unüberbrückbare Differenz zu George konstatiert. Setzt Klings Essay mit dem Beginn von Georges Redendem Kopf ein, so beschließt dessen kritisch kommentiertes Ende zyklisch den Leuchtkasten Bingen: Das Ich in Georges Maskenkopf geht autoritär vor, es versucht ‚mit dem finger seine lippen zu spalten‘. Wieder holt es seinen ‚befehl‘: ‚Da nannt er den namen. Wir verliessen entsetzt das zimmer und ich wusste dass ich es nie mehr betreten würde.‘96
Ob Klings regionalisierende wie modernisierende Versetzungen wirklich neue Aspekte Stefan Georges zutage fördern, sei dahingestellt. Genauere Werkkenntnis verrät Klings Düsseldorfer Vortrag Zum Gemäldegedicht, in dem er die „Abgrenzungsstrategien“ in Georges Hexenreihen (SW VI/VII, 50 f.) untersucht, während er in einer sprachspielerischen imaginären Variation Rudolf Borchardts „manischen Hass“ in rheinhessischem Sprach- und Denkkolorit ironisch durchspielt.97 In einer späten Autorschaftsinszenierung Klings, dem poetologischen Langgedicht Neues vom Wespenbanner, spielt George wieder mittelbar eine wichtige Rolle. Denn in der Rolle des Wespenbanners nimmt Kling Bezug auf seinen Essay Leuchtkasten Bingen,
95 96 97
Thomas Kling: Leuchtkasten Bingen. Stefan George Update. In: Th. K.: Botenstoffe, Köln 2001, S. 32–41, hier 34. Kling: Leuchtkasten Bingen, S. 41. Thomas Kling: Zum Gemäldegedicht. Düsseldorfer Vortrag. in: Th. K.: Auswertung der Flugdaten, Köln 2005, S. 107–122; Th. K.: Bakchische Epiphanien III: Der fotogene, der schriftliche und der mündliche George. In: ebd., S. 65–68.
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8. George in der ‚Neuen Subjektivität‘
in dem er über eine Affinität Georges zu Wespen sich in sein Vorbild hineinzuversetzen versucht und ihn vergegenwärtigt: Juli-Schwermut ist das erste George-Gedicht gewesen, das ich gelesen habe[] […] Als ich es vor einiger Zeit wieder in die Hand bekam, entdeckte ich noch klangerzeugende Tiere, die ich bisher völlig übersehen hatte: Schläfrig schaukelten wespen im mittagslied Wo sitzen diese Wespen drauf, daß sie geschaukelt werden können? Was untersuchen sie gerade, als der junge George sie beobachtet?
Doch repräsentiert die Wespe für Kling, wie Aniela Knoblich argumentiert, nicht nur ein Beschreibungsobjekt, sondern hat „Ähnlichkeit mit dem Dichter“;98 im Stachel der Wespe sieht Kling nicht zufällig „eine Feder eigentlich, oder ein Griffel“.99 So kommuniziert Kling im Denkbild des Wespenbanners über die Zeiten hinweg mit George als wahlverwandtem Dichter aus der gleichen „Wespengegend“ Bingen.
8.5.3. Norbert Hummelt Norbert Hummelt (*1962) bemüht sich in seinem lyrischen Werk immer wieder um einen Dialog mit der neuklassischen Tradition. Nicht erst seit den Knackigen Codes (1993) gehört Stefan George, zu den Stimmen, die er collagehaft verarbeitet wie im Eingangsvers der Sibirischen Wallfahrt: „‚griese fernsicht‘ waller im schnee“.100 Bereits in dem Gedicht der eierdieb (1990) entwirft Hummelt eine imaginäre Wanderung „Im park mit einem totgesagten herrn“, wo der Begleiter „die bunten fade!“ rühmt, bevor der Schlussvers seine Identität preisgibt: „[…] und herr george nickte“.101 Stefan Georges programmatisches Gedicht „Komm in den totgesagten park und schau“ (SW IV, 12) parodiert Hummelt in einem isometrischen „kosmetischen Gedicht“:
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Aniela Knoblich: Antikenkonfigurationen in der deutschsprachigen Lyrik nach 1990, Berlin und Boston 2014, S. 272–307, hier 275. 99 Kling: Leuchtkasten Bingen, S. 38. 100 Vgl. Norbert Hummelt: Sibirische Wallfahrt. In: N. H.: Knackige Codes, Berlin 1993, S. 31. 101 Norbert Hummelt: der eierdieb. In: Wortnetze II. Neue Gedichte deutschsprachiger Autor(inn)en. Hg. von Axel Kutsch, Bergheim 1990, S. 128.
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Verdeckungsgeste Komm vor den spiegel hier im bad und schau der dimmer schwärzlich glänzender pomade gepfuschter wimpern tusche, ganz genau verdeckt den blick, der augen remoulade dort nimm das flutende kajal, das passt zum blau des linken wie des rechten augs, schau schau der wangen trauriges gepuder, tanz den thomas, tanz den reinhard, wenn du kannz Verwisch auch dieses letzte rouge noch nicht den roten lippenstift, der glänzt beim reden und was noch übrig ist – das ärgert jeden – verschwindet im kosmetischen gedicht.102
Hummelt ahmt nicht nur den imperativischen Redegestus des männlichen Parts nach, er imitiert sogar bis auf das eingeklammerte Reimpaar der Schlussstrophe alle Reime Stefan Georges. Nicht nur die Strophenanfänge, sondern auch Syntax und Lexik folgen dem Prätext, nur sind die herbstlichen Elemente der Natur gegen kosmetische Mittel vertauscht. Auslöser der parodistischen Hommage ist das rätselhafte Schlusswort „gesicht“ aus Stefan Georges Gedicht, das Hummelt ebenso konkretisiert wie das Wissen um die Vergänglichkeit der Schönheit. Die eigenartige Mischung von inhaltlicher Herabsetzung und formaler Artifizialität charakterisiert auch die George-Allusionen in den Zeichen im Schnee. So huldigt Hummelt in dem Gedicht der meister einerseits einem heruntergekommenen Vertreter des modernen Prekariats, der in der dritten und letzten Strophe durch Titelzitate mit Stefan George überblendet wird: Nur in der gegenwart des dunklen schäferhundes hielt er sich für den stern des bundes u. seine augen sahn den siebten ring.103 102 Norbert Hummelt: Verdeckungsgeste. In: N. H.: Knackige Codes, S. 62. 103 Norbert Hummelt: der meister. In: N. H.: Zeichen im Schnee. Gedichte, Hamburg 2001, S. 53. In dem poetologischen Gedicht mein vogel mimikry parodiert Hummelt Stefan Georges „Meine weissen ara haben safrangelbe kronen“ (SW III, 78). Den Prätext markiert das Incipit („meinen roten ara kann ich / morgendlich besuchen“), doch ist Hummelts einzelner „ara“ ein künstlicher Vogel „vor der kaufhaustüre“, der gegen jede symbolistische Projektion gefeit ist, vielmehr das Ich auf sich selbst zurückwirft: „[…] mein roter ara aber / imitiert mich nie / bin ja / mein eigner vogel mimikry“ (ebd., S. 55). Hummelt ist durchaus ein George-Kenner, wie sein Radio-Feature „‚Wenn ich heut nicht deinen leib berühre‘. Annäherung an Stefan George“ im Südwestrundfunk vom 2.11.2003 beweist (Typoskript im DLA Marbach).
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8. George in der ‚Neuen Subjektivität‘
Die detrahierende Tendenz dieser Überblendung, die sich in der Vereinfachung von Stefan Georges Zahlwort zeigt (‚siebter‘ statt ‚siebenter‘), richtet sich aber mindestens ebenso gegen die zeitgenössische Gesellschaft, die einen ‚meister‘ nicht mehr erkennt, sondern ihn ausgrenzt. Auch das strophisch nicht gegliederte Gedicht das haus George ist eine Hommage an den Dichter. Das lyrische Ich assoziiert bei einer Rheinreise das Haus Stefan Georges in Bingen mit einer „seltene[n] schlange“, bis es erkennt, dass es das gesuchte Objekt längst verinnerlicht hat: „[…] ein haus liegt finster u. geschlossen da / ich habe die schlange schon in mir gefühlt“.104 Keine Parodie mehr ist Hummelts jüngstes Dichtergedicht auf Stefan George: wiege in bingen aus einem Gedichtband mit dem sprechenden Titel Totentanz (2007).105 Darin deutet Hummelt Stefan Georges Gedicht „Des sehers wort ist wenigen gemeinsam“ (SW IV, 51) zu einer poetischen Biographie des Dichters aus. Zwar bezeichnet Hummelt fast zynisch die Diskrepanz zwischen hoher Dichtersprache und imaginierten Kinderlauten, zugleich wird in der Montage der George-Zitate und einer eigenen prosaisch-biographistischen Gegenstimme, die korrigierend eingreift, der Versuch deutlich, das überlebensgroße Vorbild zu relativieren: Des sehers wort ist wenigen gemeinsam . . ziemlich wenigen, um genau zu sein. im dämmer liegt er nahezu allein, die mutter lässt ihn schreien u. zwar ungerührt. vom wort zu sprechen wäre auch verfrüht, es ist noch gänzlich unartikuliertes u. bis zum einwortsatz ein weiter weg. […] […] schon als die ersten kühnen wünsche kamen, nach einer dauerhaft gewährten brust, im strampelanzug, erfand er für die dinge eigne namen, Die allerdings nicht überliefert sind. u. schaukelt schläfrig wie es wespen tun, im mittagslied. […]106
In der sechsten Strophe vermischen sich Stefan Georges Stimme und die kritische Gegenstimme untrennbar. Denn zitiert wird, ohne wie die übrigen Zitate durch Kursivierung gekennzeichnet zu sein, ein Vers aus Stefan Georges poetischem Kindheitstraum Juli-Schwermut (SW V, 67): „Schläfrig schaukelten wespen im mittagslied“. Indem Zitat und Kritik sich so über104 Norbert Hummelt: das haus george. In: N. H.: Stille Quellen. Gedichte, München 2004, S. 49. 105 Vgl. meine Ausführungen in GHb II, S. 893 f. 106 Norbert Hummelt: wiege in bingen. In: N. H.: Totentanz. Gedichte, München 2007, S. 75 f.
8.5. Lyrischer Gewährsmann der Jahrtausendwende
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blenden, wird das lyrische Porträt zum doppelten Selbstporträt, das Hummelt und Stefan George gemeinsam präsentiert. Kai Kauffmann hat in einer textnahen Interpretation meine Deutung im George-Handbuch aufgegriffen, aber insofern plausibel präzisiert, als er Hummelts Gedichttitel wiege in bingen noch stärker auf die Genese des eigenen Dichtertums bezieht.107 Die beiden Teile beschrieben demnach – vor der Hintergrundfigur George und einer Kritik an dessen Dichtungsauffassung – die „Genese der Poetologie aus dem Leben und die Konsequenzen der Poetologie für das Leben“.108 Dass das Verszitat aber auch eine Hommage an den anderen zeitgenössischen George-Verehrer und „Wespenbanner“ Thomas Kling darstellt, sei hier noch nachgetragen.109 Dass sich bei Norbert Hummelt die kritische und produktive Aneignung Georges kaum trennen lassen, zeigt seine einfühlsame Lektüre von „Geführt vom sang der leis sich schlang“ aus den Traurigen Tänzen (SW IV, 104), „seit langem eines der schönsten und liebsten Gedichte Georges, weil ich mich darin aufgehoben fühle“.110 Anhand dieses Gedichts, in dem das Ich und Du die Vorfrühlingsnatur unterschiedlich wahrnehmen, erläutert Hummelt überzeugend, dass in Georges Lyrik „das Glücken solcher Epiphanien […] an die Gegenwart eines geliebten Menschen gebunden ist“.111 Wenn Hummelt den „schmale[n] Grat zwischen dem geteilten Glück und dem Absturz in die radikal vereinzelnde Melancholie“ als „schönsten Kern“ von Georges Dichtung bezeichnet,112 wird der große Anteil persönlicher Selbstreflexion deutlich, den diese sensible Einsicht bekundet.
107 Vgl. Kai Kauffmann: Keine Parodie? Norbert Hummelts George-Gedicht ‚wiege in bingen‘. In: George-Jahrbuch 10 (2014/15), S. 31–41, bes. 33. Kaufmann argumentiert mit der zweigliedrigen Struktur des Gedichts: Der erste Teil, der die Strophen 1–7 umfasse, gilt den biographischen Voraussetzungen, der zweite Teil, die Strophen 8–10, reflektiere die Rückwirkungen einer Poetologie, die Erfahrungen in symbolistischen Chiffren verschlüsselt und in eine Sphäre des Mysteriösen flüchtet. 108 Kaufmann: Keine Parodie?, S. 38. 109 Vgl. die Interpretation des „Wespenbanners“ in Kapitel 8.5.2. 110 Norbert Hummelt: Geführt vom Sang. In: George-Jahrbuch 10 (2014/15), S. 23–29, hier 24. 111 Hummelt: Geführt vom Sang, S. 26. 112 Hummelt: Geführt vom Sang, S. 29.
9. George in der Gegenwart (2000–2020) Mit der Jahrtausendwende häuften sich in der zeitgenössischen Lyrik die Anleihen bei Stefan George, ohne bislang auch nur annähernd erfasst oder gar im literarischen Feld kartiert zu sein.1 Bisweilen begegnen diese rezeptionsästhetischen Bezugnahmen in Form einer distanzierten Retrospektive oder einer nüchternen Inventur wie in Sylvia Geists Langgedicht Moabiter Nachlaß (2000). In neun neunversigen Strophen registriert das lyrische Ich die Hinterlassenschaft des verstorbenen Lebensgefährten und zieht so mittelbar auch Bilanz des eigenen Lebens. Unter den Überresten findet sich, wie in der dritten Strophe ausgeführt, neben Fahrscheinen, Katalogen und Rechnungen ein Stefan George-Portrait, das vielleicht nur als Symptom einer manischen Sammelleidenschaft aufgeführt wird oder aber doch eine poetische Vorliebe des Toten zutage fördert, die der Lebensgefährtin unbekannt geblieben war: Eine Manie dagegen das Sammeln von Papier. Fahrscheine, Wetterzettel, Kataloge der Escheinungen, jede Rechnung ein Notat der Rebellion, an der vorbei du Verfemtes quer durch Berlin schmuggeltest, Jahwe, dickleibig, unhaltbar hinter den Gestirnen der Buchdeckel, das Porträt Stefan Georges, die Unfähigkeit mitzusingen beim Säubern der Gewehre, Russisch, rudimentär wie der seitenweis geborgte Rest Wissen über Chancen, es dir schwer zu machen.2
Es wirkt so, als würde mit der Inventur des Nachlasses auch die Geschichte des geteilten Deutschland, speziell der DDR, erinnert, in der George als Repräsentant bürgerlicher Dekadenz verpönt war und das Porträt des Dichters 1
2
Von einzelnen feuilletonistischen Hinweisen abgesehen, bleiben die wenigen Überblicke notgedrungen essayistisch; vgl. etwa Christophe Fricker: Georges Gegenwart. Neue Bücher im totgesagten Genre Lyrik. In: Gegenstrophe. Blätter zur Lyrik. Hg. von Michael Braun u. a. Nr. 4, 2012, S. 56–69; einige autorspezifische Studien enthält das George-Jahrbuch 10 (2014/2015), das der zeitgenössischen George-Rezeption in der Lyrik gewidmet ist (Lutz Seiler, Nico Bleutge, Christian Filips, Wulf Kirsten, Nadja Küchenmeister, Norbert Hummelt, Uwe Kolbe, Dirk von Petersdorff). Sylvia Geist: Moabiter Nachlaß. Für Erwin Massuthe. In: Neue deutsche Literatur 48 (2000), S. 95–97, hier 95 (V. 19–27).
https://doi.org/10.1515/9783110779370-009
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9. George in der Gegenwart
als ebenso ferne wie fremde Reminiszenz dieser vormaligen Unterdrückung erwähnt wird.
9.1. Provokante Hommagen in der Gegenwartslyrik 9.1.1. Lutz Seiler Als politischer Gewährsmann gilt George erstaunlicherweise auch noch nach der Jahrtausendwende bei Autoren und Autorinnen, die in der DDR akkulturiert wurden. Hier wirkt die oppositionelle Bedeutung nach, die George für die junge Generation als Antidot gegen die verkrustete Kulturpolitik in der DDR besaß. Spürbar ist diese Haltung selbst noch in den jüngeren Texten Lutz Seilers, dessen George-Orientierung von der Nachwendezeit bis in die Gegenwart fortdauert, wie sein Gedicht das neue reich zeigt: das neue reich fernsprechrauschen, vogelhusten: zuerst gehst du noch einmal alles durch in den gedanken; die blaue waffelkachel gab es schon, brusthoch der braune sockel, öl & die gebüsch-motive: nadelnd, fast musik ist das herausrieseln der stimmen aus den kugellampen. kein labyrinth & keine chandoshysterien, nur wortgeruch & falsche nelken: früher war es nicht vergittert dieses fenster, nicht gemarkert diese schrift komm in den totgesagten technikpark – fischgrätenestrich3
Das Gedicht das neue reich eröffnet die erste Abteilung in Lutz Seilers Lyrikband im felderlatein (2010). Die Überschrift zitiert den Titel von Stefan Georges letztem Gedichtband aus dem Jahre 1928 mit dem großen poetologischen Gedicht Der Dichter in Zeiten der Wirren. Darin bestimmt George als zeitgemäße Aufgabe des Sängers: „Er führt […] seiner treuen schar zum werk / Des wachen tags und pflanzt das Neue Reich“ (SW IX, 30, V. 88–90). Von einer solchen prophetischen Aussage des sich als poeta vates
3
Lutz Seiler: das neue reich. In: L. S.: im felderlatein. Gedichte. Berlin 2010, S. 11.
9.1. Provokante Hommagen in der Gegenwartslyrik
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inszenierenden George ist Lutz Seilers gleichnamiges Gedicht weit entfernt. Es präsentiert vielmehr eine imaginäre Inventur: Das lyrische Du prüft, was bleibt: „zuerst gehst du noch einmal alles durch in den gedanken“. Metrisch dominiert zwar die Alternation, doch da Enjambements die Gliederung in drei Strophen systematisch unterlaufen, auch Vers- und Silbenzahl stark variieren, entsteht insgesamt der Eindruck einer rhythmisierten Prosa. Entscheidende Bedeutungsträger des Gedichts sind die Substantive, überwiegend Komposita, die vorrangig akustische und optische Reminiszenzen bieten, um den Acker der Sprache, das „felderlatein“, neu zu vermessen. Neben fachsprachlichen Bezeichnungen für Bodenbeläge wie „Waffelkachel“ und „Fischgrätenestrich“ werden sprachtheoretische Muster und Sprechweisen der lyrischen Moderne in Abbreviaturen zitathaft alludiert: das „labyrinth“ evoziert vielleicht Inger Christensens Textlabyrinthe, die „chandoshysterien“ alludieren die epochale Sprachkrise in Hofmannsthals Brief, der „wortgeruch“ ist ein Zentralwort für die sprachskeptische Erinnerungsarbeit in Herta Müllers Roman Atemschaukel (2009), und das „vergitterte fenster“ mag auf Paul Celans Sprachgitter anspielen.4 Doch den zentralen Subtext für Seilers Neuvermessung des lyrischen Wortfeldes liefert Stefan George. Lässt sich bereits die durchgängige Kleinschreibung als diskrete Hommage lesen, so nennt ihn indirekt der Gedichttitel und zitiert ihn die dritte Strophe: Indem hier der Kunstraum ‚Park‘ im Incipit von Georges symbolistischem Programmgedicht „Komm in den totgesagten park“ zum prosaischen „technikpark“ abgewandelt wird, wird gleichzeitig die unüberbrückbare Differenz zur nuancierten lyrischen Sprache Georges markiert. So vergewissert sich die Sprecher-Instanz in Seilers felderlatein mit George und anderen Repräsentanten einer sprachskeptischen Lyriktradition der eigenen Position im lyrischen Feld. Während George sein Neues Reich in der vagen Zukunft verheißt, erinnert Seilers „neues Reich“ fast zynisch an die tristen architektonischen Überreste des nicht mehr real existierenden Sozialismus.5 So wird auch in diesem Gedicht, wenngleich subversiv, George als ein „Gewährsmann für die „Abgewandtheit“ der jungen Generation vom DDR-Kommunismus inszeniert: „Mit Gevatter George […] vollzogen wir die Abkehr von der Ödnis unserer Gegenwart, den Zumutungen unseres Alltags“.6 Sogar in Seilers neuem Roman Stern 111 (2020), der in der Berliner Hausbesetzerszene in den Jahren nach dem Mauerfall spielt, begegnet 4 5 6
Jan Andres: Kontrafaktur. Zu Lutz Seilers Gedicht ‚das neue reich‘. In: George-Jahrbuch 10 (2014/2015), S. 131–141, übergeht die intertextuellen Bezüge und beschränkt sich darauf, in Seilers Kontrafaktur die offensichtliche „Säkularisierung des Kunstreligiösen“ zu bemerken. Andres: Kontrafaktur, S. 141, betont den unterschiedlichen Aspekt der „Poeto-Politik“. Lutz Seiler: Das dunkle Blau. In: George-Jahrbuch 10 (2014/2015), S. 125–129, hier 126.
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9. George in der Gegenwart
George in seiner oppositionellen Funktion. Der Protagonist Carl Bischof, wie Seiler gelernter Maurer, wundert sich über die Direktiven, mit denen der „Comandante“ die Hausbesetzer auf den Kampf mit der Polizei vorbereitet: „Genossen, seid sparsam mit dem Wurfmaterial! Werft erst, wenn ihr sicher seid, dass ihr das Ziel trefft! In dieser Phase des Kampfes könnt ihr auch die ausgehängten Fensterflügel abwerfen. Wenn ihr sie flach werft, segeln sie taumelnd durch die Luft. Da nicht genau auszumachen ist, wo sie niedergehen, haben sie große desorientierende Wirkung auf die angreifenden Polizisten.“ „Die riesenhaften Flügel“, dachte Carl, das war Baudelaire, nein eigentlich George. Plötzlich schmerzte ihn das Bild des zu Boden taumelnden Fensterflügels. Er hatte das Gedicht vom Albatros lange nicht begriffen. Anders gesagt: Das Gleichnis hatte ihn verstimmt. Es war so plump wie der Vogel und trotzdem schrecklich. Er war kein Albatros und würde es nie sein. Er war auch keiner der Matrosen, die den Vogel quälten, er hasste sie. Er war kein Dichter, und er war kein Maurer. Er war jetzt Kellner einer Untergrundkneipe, in einem Haus, das beschützt werden musste, mit taumelnden Flügeln: ‚Wenn ihr sie flach werft, segeln sie taumelnd durch die Luft.‘ Die Verteidigung des Hauses hatte seine Zerstörung zur Folge.7
Auf den sprachskeptischen Carl löst die paramilitärische Handlungsanweisung, wie man die Flügel der ausgehängten Fenster als Wurfgeschosse zu verwenden habe, eine poetische Assoziation aus, nämlich Stefan Georges Baudelaire-Nachdichtung Der Albatros. Darin wird geschildert, „dass das schiffsvolk zum vergnügen / Die albatros · die grossen vögel · fängt“, so dass deren „grossen weissen flügel traurig hängen / Und an der seite schleifen wie geknickt“.8 In der Schlussstrophe wird der Albatros zur Allegorie des unverstandenen Dichters in der modernen Welt erklärt: „Der dichter ist wie jener fürst der wolke · / er haust im sturm · er lacht dem bogenstrang. / Doch hindern drunten zwischen frechem volke / Die riesenhaften flügel ihn am gang“.9 Auch wenn Carl in der personalisierten Passage die Identifikation mit dem Albatros von sich weist und sich weder in den Matrosen, noch in dem Dichter noch in seinem früheren Beruf als Maurer wiedererkennen kann, beginnt mit der Reflexion über Georges Gedicht auch seine Abkehr von der Hausbesetzerszene, deren zerstörerischer Impetus ihm als Maurer fremd bleibt. Damit erhält George auch retrospektiv eine wichtige Rolle in der Selbstfindung der jungen Generation in der Nachwendezeit zuerkannt.
7 8 9
Lutz Seiler: Stern 111, Berlin 2020, S. 244. Stefan George: Der Albatros. In: SW XIII/XIV, 12, V. 1 f. und 7 f. SW XIII/XIV, 12, V. 13–16.
9.1. Provokante Hommagen in der Gegenwartslyrik
391
9.1.2. Matthias Dix Die Berliner Poetischen Hefte widmeten Stefan George im Jahre 2003 ein Sonderheft. Es enthält neben dem Gesang der Großstadt von Matthias Dix,10 worin er seine eigenen Dichtungen mit Georges Werk kombiniert, einen George-Essay des Herausgebers Ralph Werner sowie Gedichte von Thomas Böhme und Simone von Laubegast, die sich in unterschiedlichen Formen lyrischer Dialoge mit Stefan George auseinandersetzen. Während der Wiederabdruck von Böhmes drei Beiträgen aus dem Jahre 1988 – vermischung, erlkönigs schwimmender garten (dem gedächtnis stefan georges gewidmet) und Elagabal (5). Letzte Einübung –,11 an die rege Rezeption Georges in der späten DDR erinnert, verfremdet Laubegast Georges Lyrik in freirhythmischen erotischen Phantasien. So klagt ihr Kölner Kardinal: „Unter meinem Kaftan brummt der Sommer eine Juli-Schwermut / Und ich reiß ihn hoch mit großer Gebärde“.12 Die exhibitionistische Geste deutet möglicherweise auf sexuellen Missbrauch hin. Wenn – nach der Juli-Schwermut (SW V, 67) – die zweite Strophe den Teppich des Lebens (SW V) zitiert und die katholische Liturgie mit dem Maximin-Kult überblendet, wirkt der geistliche Würdenträger dem Dichterpriester George zum Verwechseln ähnlich: Doch mir ein Rätsel und allen ein Geheimnis bleiben die langen Stunden unterm kühlen Schutze des Altars schreitend auf dem Teppich des Lebens weint ein Gott und ist mir nah13
In Laubegasts anderem Rollengedicht, Gesichte eines Alleinunterhalters, malt sich ein banaler Unterhaltungskünstler, dem „Frauenherzen zu Füßen liegen“, imaginär aus, es erhitzt sich der Saal und inmitten der Tanzenden geht Algabal einem herrenlosen Hunde gleich
10 11 12 13
Matthias Dix: Gesang der Großstadt. In: Poetische Hefte 3: Sonderheft Stefan George. Berlin 2003, S. 8–76. Thomas Böhme: vermischung. In: Poetische Hefte 3: Sonderheft Stefan George, Berlin 2003, S. 78, erlkönigs schwimmender garten. In: ebd., S. 79, und Elagabal (5). Letzte Einübung. In: ebd., S. 80–83. Besprochen werden Thomas Böhme-Gedichte in dem Kapitel 8.5.1. Simone von Laubegast: (Aus dem) Bericht eines Kardinals. In: Poetische Hefte 3: Sonderheft Stefan George. Berlin 2003, S. 84, V. 5 f. Laubegast: (Aus dem) Bericht eines Kardinals, S. 84, V. 15–20.
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9. George in der Gegenwart
verstoßen aus dem Unterreich soll er die hier morden? Kalte Augen starren mich an [...]14
Die beiden Reimpaare, welche die Vision einer Epiphanie Algabals in dem Rollengedicht isolieren, münden in eine Mordphantasie, wie sie auch Georges Algabal hegt. Die infrage gestellte Tötungsabsicht, mit der die Reimbindung abbricht, gewinnt durch das Modalverb „soll“ und die Deixis „hier“ den Modus einer Erlebten Rede. Dass es sich um eine Projektion des lyrischen Ich handelt, wird durch den folgenden Vers bestärkt, der wieder die IchPerspektive einnimmt und die bedrohliche Fremdheit der Masse artikuliert. Indem Laubegast Georges Algabal als bedrohlich nahe Identifikationsfigur erscheinen lässt, bleibt auch nach dessen „Davonstürzen“ das Böse im kontrastiv banalen Gedichtschluss gegenwärtig: „aus dem Synthesizer dudelt / by the river of Babylon“.15 Allein quantitativ fallen jedoch die kleineren Poesien von Böhme und Laubegast weniger ins rezeptionsästhetische Gewicht als Matthias Dix’ poetisch ambitionierter, bislang aber kaum beachteter Beitrag zu dem Stefan George-Sonderheft. Der 1958 in Dresden geborene, in der DDR akkulturierte, außerordentlich produktive Dramatiker und Lyriker verschränkt in seinem umfänglichen Gesang der Großstadt 33 eigene lyrische Texte mit 32 Gedichten Georges. Typographisch klar aufeinander bezogen, enden Dix’ freirhythmische, oft prosimetrische Gebilde jeweils am unteren Rand der geradzahligen linken Seiten, während die George-Gedichte jeweils oben auf den ungeradzahligen rechten Seiten daran anschließen. In seinen eigenen Gedichten kritisiert Dix die Unwirtlichkeit der gesichtslosen Großstädte im postmodernen Nachkriegsdeutschland. Zwei Parallelmontagen mit Georges Rollengedicht Porta Nigra eröffnen die poetische Herabsetzung der eintönigen, von Motorisierung, Kommerz und Konsum beherrschten kapitalistischen Urbanität. Die Zeitkritik, die George einem römischen Lustknaben im antiken Trier in den Mund legt, intensiviert als historisches Pendant die desillusionierenden Wahrnehmungen des postmodernen „Dichters“ bei seinen städtischen Streifzügen.16 Dass die beiden Stimmen von Dix und George thematisch konvergieren, bleibt aber eher die Ausnahme. In Dix’ Gesang der Großstadt dominieren Kontrastmontagen. Der antithematische und antistilistische Effekt ergibt sich fast zwangsläu-
14 15 16
Laubegast: Gesichte eines Alleinunterhalters. In: Poetische Hefte 3: Sonderheft Stefan George. Berlin 2003, S. 85, V. 6–11. Laubegast: Gesichte eines Alleinunterhalters, S. 85, V. 13–15. Dix: Gesang der Großstadt, S. 8–11.
9.1. Provokante Hommagen in der Gegenwartslyrik
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fig, da Dix in seinen Großstadtskizzen neben Katastrophen wie Verkehrsunfällen, Polizei- und Notarzteinsätzen vor allem die sozialen Verlierer der Modernisierung in den Blick nimmt: Das Personal seines städtischen Panoramas bilden ein „Obdachloser“, ein Fixer, ein „Bettler“, ein „hinkender Rentner“ oder eine ehemalige „Trümmerfrau, heute alkoholisierte Hexe“.17 Mehrfach kommt es in Dix’ Texten zu sozialen Konfrontationen, wenn die „Verkrachten“ auf Gewinner der städtischen Modernisierung wie „Parlamentarier“ treffen.18 So stoppt eine „Frau den Rollstuhl / wie eine maurische Prinzessin ihren Hengst vor einem / jungen Mann mit Beamtenlaufbahn“.19 Die Konfrontation wird durch die unangemessene Bildlichkeit verschärft, welche die triste Alltagssituation und soziale Asymmetrie exotisch und aristokratisch verfremdet. Solche kontrastiven Mischungen der Töne und Stillagen sind charakteristisch für Dix’ Gesang der Großstadt, der den urbanen Jargon der Uneigentlichkeit mit drastischem Vokabular und harten lexikalischen Gegensätzen unterminiert. Dix’ realistisch-zynische Großstadtbilder bilden einen Kontrast zu den mit ihnen verschränkten George-Gedichten in ihrer überzeitlichen Faktur, preziösen Lexik, metrisch-formalen Ordnung und Stilisierung. Ihre sprachlich-stilistische Alterität wird umso merklicher, als sie meist durch einen Doppelpunkt als Fortführung der drastischen Großstadtschilderungen angekündigt werden: 23 der 33 freirhythmischen, teils prosimetrischen Gebilde leiten mit einem Doppelpunkt, mehrfach durch eine Inquit-Formel motiviert, zu Gedichten Georges über. Nicht selten kommt allein in der Disproportion von Sprecher und Sprechakt mit dem jeweiligen GeorgeGedicht eine komische oder zynische Spannung zustande wie beispielsweise in der Verfugung der zwölften Montage. Hier wird eine prosimetrisch geschilderte Taxifahrt von einer behinderten Passantin gestoppt, die an Georges Juli-Schwermut (SW V, 67) denkt: „Eine Frau im Rollstuhl surrt heran und träumt: // Juli-Schwermut. An Ernest Dowson. / Blumen des sommers duftet ihr noch so reich: [...].“ Ähnlich zynisch wirkt der Übergang in Dix’ achtzehnter Kombination, in der ein Rollengedicht Algabals (SW II, 71) einem Bettler zugesprochen wird: „Der Alte stemmt gegen die festgefrorene Luft / sein Bettelschild, worauf du liest: // So sprach ich nur in meinen schwersten tagen: [...]“.20 Gelegentlich entsprechen die ausgewählten Gedichte thematisch und situativ der vorausgehenden Großstadt-Beschreibung wie in der vierten Text-Kombination: 17 18 19 20
Vgl. Dix: Gesang der Großstadt, S. 20, 40, 44, 62, 70. Vgl. etwa Dix: Gesang der Großstadt, S. 38, 66 und 68. Dix: Gesang der Großstadt, S. 34. Dix: Gesang der Großstadt, S. 44 f.
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9. George in der Gegenwart
Achtung! da schlürft etwas heran ... (nicht gerade aus dem Ei gepellt) und fiept Worte:
„Die Bierdose in meiner schorfigen Hand, ist eines alten Herrschers Zepter, der vor zehntausend Jahren verschwand im Wüstensand ... in einer Stadt ... im Traum ... in meinem Innenraum.
Da drinnen, vorm Panorama meines fetten Herzens, unterm teerigen Schatten der Lungenflügel sitzt ER steif auf seinem Thron, und über seine gelben Lippen rollte niemals ein Ton, denn er verachtet mich, seinen eigenen Sohn.
Und nachts im Tunnel beim stürmischen Husten drückt er mich auf die Knie mit hässlicher Lust, streicht dann meinen roten Auswurf ein und heftet ihn als Orden mir an die Brust.“
Dann schmeißt er sich hin und legt sein Ohr der Erde an: Horch was die dumpfe erde spricht: Du frei wie vogel oder fisch – Worin du hängst · das weisst du nicht. Vielleicht entdeckt ein spätrer mund: Du sassest mit an unsrem tisch Du zehrtest mit von unsrem pfund. Dir kam ein schön und neu gesicht Doch zeit ward alt · heut lebt kein mann Ob er je kommt das weisst du nicht Der dies gesicht noch sehen kann.21
Das Lied, das Dix im ersten Teil dem Alkoholiker, der erst als ein „etwas“ wahrgenommen wird, in den Mund legt, artikuliert zunächst eine exotische Heterotopie, bevor es dann über den assoziativen Reim „Traum“ / „Innenraum“ drastisch die seelisch-gesundheitliche Misere des von seinem internalisierten Vater-Dämon beherrschten Todkranken schildert. Die situative Überleitung zu Georges ‚Gesang der Erde‘ (SW IX, 103) insinuiert, der an
21
Dix: Gesang der Großstadt, S. 14 f. Ralph Werner: Über ein Gedicht Georges. In: Poetische Hefte 3: Sonderheft Stefan George. Berlin 2003, S. 87–95, interpretiert Georges Lied „Horch was die dumpfe erde spricht:“ (SW XI, 103) mit der abschließenden Einsicht, dass „ein Reimwort [...] untergründig durch den Text [läuft]: Licht“ (ebd., S. 95).
9.1. Provokante Hommagen in der Gegenwartslyrik
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Raucherhusten leidende Trinker würde mit dem Ohr an der Erde hören, was diese in Georges Lied spricht. Die forciert-artifizielle Überleitung markiert somit erst recht die Bruchstelle der Montage, die durch den stilistischen Kontrast des eingelegten Rollengedichts mit Georges Lied noch verstärkt wird. In Georges Lied, das durch den eingängigen Terzinenreim suggestiv wirkt, erklärt die Erde den Menschen, als Epigonen sei ihnen die Vision einer neuen Ära verwehrt und sie wüssten nicht, ob und wann es je wieder einen Menschen gäbe, der diese Vision erneuere.22 Bisweilen greifen die Großstadtskizzen auf das unmittelbar vorausgehende George-Gedicht zurück und stiften so ein narratives Kontinuum. Eine solche Verzahnung findet sich in der 22. Skizze, die sich in einen „Pionier des deutschen Bankwesens“ hineinversetzt. Dessen Überlegungen zu weiterer Vermehrung des Geldes münden in einen Blick nach unten: „Plötzlich schießt sein Blick über den Schreibtisch / und geht zu Boden, dort ruht er nun: // Der Teppich / Hier schlingen menschen mit gewächsen tieren / Sich fremd zum bund [...]“.23 Dix’ nächste Skizze ist eine Apostrophe an den Teppich aus dem Gedicht Georges. Darin wird der Teppich aufgefordert, sich aufzulösen und zu seinen orientalischen Ursprüngen und Anfängen zurückzukehren, um sich „dem Geldgott“ zu entziehen: Flieg davon, Teppich, roll dich ein, [...] Innigster Glanz des Teppichs der Wunsch zurückzufließen auf die Spindel. Doch dem Geldgott verweigere dich, Teppich, [...].24
Dix dichtet somit Georges Gedicht assoziativ weiter, indem er das TeppichSymbol konkretisiert und in ein bestimmtes soziales Milieu transferiert, das diskreditiert wird. Die Präsenz Georges in Dix’ Gesang der Großstadt beschränkt sich aber nicht nur auf die jeweils zweite Hälfte der Text-Montagen. Als meta poetischer Kommentar begegnet George mehrfach in den jeweils ersten, gegenwartskritischen Teilen.25 So mündet die achte Großstadt-Vignette in
22 23 24 25
EM I, S. 477 f. Dix: Gesang der Großstadt, S. 52 f. Vgl. SW V, 36. Dix: Gesang der Großstadt, S. 56, V. 1–12. Vgl. die George-Referenzen in Dix: Gesang der Großstadt, S. 22, 28 („folgen soll ein / Gedicht von George, Stefan 1868–1933, ‚Dreh lauter, Junge! Der Sender schwindet ...‘“), 36 und 38 („Bitte O-Ton George“).
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9. George in der Gegenwart
eine poetische Selbstreflexion, deren Formel „Die Kunst der Blätter“ auf die Blätter für die Kunst anspielt und in der das lyrische Ich sich Rat von George erhofft: Die Kunst der Blätter beim Fallen – wäre das eine Metapher für das Menschengeschick? Antworte, George! Ihr fahrt in hitzigem tummel ohne ziel Ihr fahrt im sturm ihr fahrt durch see und land Fahrt durch die menschen . . [...]26
Georges Gedicht aus dem Stern des Bundes (SW VIII, 42) kritisiert die Rastlosigkeit der modernen Menschen, die keine Einsamkeit aushalten, weil sie sich vor „ihrem schlimmsten Feind im eigenen Inneren“ fürchten.27 Damit drückt George die seelische Not des modernen Menschen aus, die auch Dix zu gestalten sucht. Am deutlichsten zeigt sich Georges große metapoetische Bedeutung im Gesang der Großstadt, in der vierzehnten Skizze. Sie gilt einer künstlerischen Schaffenskrise, eingeleitet mit der Frage: „‚Warum verstehen wir unsere Kunstwerke / nicht mehr?‘ fragt ein Dichter“. Er hat „seine Gedichte [...] verbrannt“, „schreibt [aber] schon wieder“, wie ein dreistrophiges Gedicht beweist, das jedoch seine Selbstzweifel nicht ausräumt: „Er starrt zur Decke, dort löst sich die Tapete. Aus dem / Regal hinter sich greift er George und deklariert: // Dies leid und diese last: zu bannen / Was nah erst war und mein“. Georges Gedicht aus den Traurigen Tänzen im Jahr der Seele (SW IV, S. 99) liefert dem postmodernen Dichter, der sich in der Großstadt verliert und poetisch zu finden sucht, die ästhetische Orientierung – auch wenn die Selbstfindung darin besteht, wie der Schlussvers von Georges Gedicht bekennt: „O dies: mit mir allein!“ (SW IV, 99), einen Spiegel der eigenen Not zu finden. Dies kennzeichnet auch Dix’ Auswahl der Gedichte Georges: Er übergeht die weltanschaulichen und programmatischen Aufrufe zugunsten symbolistisch-intimer Belegstücke, in denen das lyrische Ich seine Einsamkeit zur Sprache bringt und in denen der heimatlose Dichter einen Wahlverwandten erkennt. Diese untergründige Beziehung bezeugt den ambivalenten Charakter von Dix’ George-Rezeption im Gesang der Großstadt.
26 27
Dix: Gesang der Großstadt, S. 22 f.; vgl. SW VIII, 42. EM I, S. 362.
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9.1.3. Uwe Kolbe und Christian Kreis Zu den jungen Lyrikern der DDR, für die George eine Entdeckung bedeutete und ihre poetische Selbstfindung beflügelte, zählt auch Uwe Kolbe. Allerdings schlug sich die George-Rezeption in Kolbes Schaffen nicht nieder. Erst sehr viel später hat sich Kolbe mit Georges schwierigem, halb polemischem Gedicht Lämmer aus dem Teppich des Lebens kritisch auseinandergesetzt.28 In seinem Lyrikband Heimliche Feste (2008) sucht Kolbe Allianzen mit dem George-Kreis und heutigen Georgianern. Sei auch dahingestellt, inwieweit er in seinem Widmungsgedicht Wie einer doch noch hoffen kann an Wolfgang Graf Vitzthum „distanzlos Wahrnehmungs- und Darstellungsweisen des Kreises aufnimmt“,29 so schreibt er dem Juristen und George-Kenner doch ein Heilsversprechen zu: „Wie neu einer noch werden darf / nach seinen Waffengängen, / der, übersät von Narben, / heut nach Entsühnung darbt“.30 Dem sich so nach „Entsühnung“ sehnenden „Patienten“ Uwe Kolbe vermittelt Graf Vitzthum, wie Wulf Segebrecht in seiner Deutung pointiert feststellt, eine „ästhetische Therapie, eine Rehabilitationskur nach den Methoden des Arztes Stefan George“.31 Zwar bleibt es beim ermutigenden Heilsversprechen, ohne dass dies im Gedicht ausgeführt oder gar eingelöst würde; doch erkennt Segebrecht in Kolbes Bingener Gebet eine Bekräftigung der ästhetischen Wende, die Kolbe auch durch die Begegnung mit George eingeschlagen habe, ohne dass dessen Name genannt wird:32 „Im Bingener Gebet […] ist die Richtungsänderung tatsächlich vollzogen. Aber ein George-Jünger ist Uwe Kolbe deswegen noch lange nicht geworden“.33 Auch noch die Generation der zwar in der DDR aufgewachsenen, aber schon im wiedervereinigten Deutschland akkulturierten Poeten orientiert sich dezidiert an der literarischen Moderne und an George. Exemplarisch für eine produktionsästhetisch wirksame George-Rezeption dieser zweifach geprägten Dichtergeneration sei Christian Kreis angeführt.
28 29
30 31 32 33
Uwe Kolbe: Drei Thesen zu dem Gedicht ‚Lämmer‘ von Stefan George. In: George-Jahrbuch 10 (2014/15), S. 67–72; vgl. SW V, 41. Uwe Kolbe: Wie einer doch noch hoffen kann. Für Wolfgang Graf Vitzthum. In: U. K.: Heimliche Feste. Gedichte, Frankfurt/M. 2008, S. 96; vgl. Sandra Richter: Der Beat muss stimmen [Rez. von Uwe Kolbe, ‚Heimliche Feste‘]. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.9.2008, Nr. 212, S. 34. Kolbe: Wie einer doch noch hoffen kann, V. 9–12. Wulf Segebrecht: Umorientierungen. Zu zwei Gedichten Uwe Kolbes. In: George-Jahrbuch 10 (2014/2015), S. 73–83, hier 79. Uwe Kolbe: Bingener Gebet. In: U. K.: Lietzenlieder. Gedichte, Frankfurt/M. 2012, S. 106. Segebrecht: Umorientierungen, S. 83.
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9. George in der Gegenwart
Christian Kreis, Jahrgang 1977, der am Leipziger Literaturinstitut studierte, verleugnet in seiner Lyrik die literarischen Muster nicht, setzt sich aber kritisch mit ihnen auseinander. Sein Gedicht George spaziert (2007) lehnt sich motivisch und thematisch stark an Georges Komm in den totgesagten park und schau an: George spaziert Wintergesichter am morgen des sonnigen tages. Wächst dir die blume erwärmend durchs modrige laub. Trittst du ins freie, erfrorene igel des weges. Aber die leichen verwesen und werden zu staub. Keimige wasser umspülen dir schuhe und hosen. Zwischen den wegen die endlichen reste von schnee. Hecken der zweige von sommers gebrochenen rosen Stehen am ufer, gestorbene hölzer beleben den see. Gehe hindurch an den rand zu den schlammigen gründen. Reißen die dornen die haut an den fingern erneut. Klage und küsse das blut von den beißenden wunden, Wasche die hände und spreche ein frühlingsgebet.34
Selbst wenn der Titel den Bezug auf George nicht explizit benennen würde, ist der Prätext thematisch im Gang eines lyrischen Du durch die Natur und stilistisch, vor allem durch die doppelten imperativischen Formen der Schlussstrophe („Klage und küsse“, „Wasche […] und spreche“) hinreichend markiert. Die semantische Umbesetzung von Georges Imperativen („komm […] und schau“, „Erlese küsse sie und flicht“) zeigt paradigmatisch, dass Kreis’ Bezugnahme mit einer metrischen wie thematischen Inversion einhergeht. Wo in Georges jambischem Herbstgedicht „was übrig blieb von grünem leben“ erkundet wird, dominiert in Kreis’ trochäischer Winterszenerie der Tod. Georges visuell gefasstem Gedichtschluss, der ein „herbstliche[s] gesicht“ imaginiert, steht bei Kreis die schmerzhafte haptische Erfahrung von Rosendornen entgegen mit der Selbstanrede: „Wasche die hände und spreche ein frühlingsgebet“. Der Titel George spaziert suggeriert eine perspektivische Überformung der vom Winter geprägten Vorfrühlingsnatur. Die Nähe wie Distanz zum Programmgedicht des Jahrs der Seele, die Kreis gleichermaßen einnimmt, erhält durch den perspektivischen Aspekt eine ambivalente Sicht auf den Prätext. Das moderne Gedicht wirkt
34
Christian Kreis: George spaziert. In: Ch. K.: Nichtverrottbare Abfälle. Gedichte. Mit Aquarellen von Ulrike Großwendt, Halle/Saale 2007, S. 8.
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wie ein kontrastives Wahrnehmungsprotokoll und kritischer Kommentar Georges zu seiner eigenen Dichtung, der deren idealisierende Stilisierung decouvriert.
9.1.4. Nadja Küchenmeister Die Lyrikerin Nadja Küchenmeister, 1981 in Ostberlin geboren, studierte ebenfalls am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Sie zeigt in ihrer Kleinschreibung, ihrer Vorliebe für Strophenformen, ihrer sprachlichen Genauig keit und verdichtenden Beschreibung Affinitäten zu Stefan Georges Lyrik. Küchenmeister schätzt George als Dichter, und „ab und an schleicht er sich auch in [ihre] Texte“.35 Eine solche intertextuelle Hommage findet sich in ihrem Gedicht die stunden aus dem Gedichtband Alle Lichter (2010): die stunden du hast dir die serviette auf die knie gelegt und summst. wer kennt die melodie? du bist allein. schon als du ankamst lag der kiesweg unberührt, dass du nicht weiter wolltest. die scheu vor leeren räumen, leeren stühlen. du sitzt am fenster, der wind kühlt dein gesicht durch einen schmalen spalt. mit deinen fingern klopfst du an gegen die stille, doch was dir antwort gibt ist nur die armbanduhr. wird denn auch dieser tag einmal zu ende gehen? du weißt es nicht, du hast die stunden ja nicht mitgezählt. da zieht ein vogel schwarm vorüber, doch diese sprache ist nicht übersetzt. dir bleibt das dünne heft in deiner jacken tasche, die seiten lose. das ist jetzt egal. ob sich mir zeigt ein lieber gast? du bist des wartens müde. mit gliedern blank mit augen klar: so bist du mit dem tag vergangen. wenn auch die worte in dir neu beginnen, tritt nie wer unter zum verbleib.36
35 36
Briefliche Äußerung von Nadja Küchenmeister an den Verfasser vom 5.1.2011. Nadja Küchenmeister: die stunden. In: N. K.: Alle Lichter. Gedichte. Frankfurt/M. 2010, S. 53.
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9. George in der Gegenwart
Die stunden bestehen aus sechs dreiversigen reimlosen Strophen, die Verslängen variieren zwischen zehn und 15 Silben. Metrisches Prinzip ist eine melodische Alternation, jambisch wie trochäisch. Da die 15 Sätze, davon drei Fragesätze, quer zur Vers- und zur Strophengliederung laufen, tendiert das Gedicht zu einer rhythmisierten Prosa. Auch wenn die äußerliche Gliederung in Versen und Strophen syntaktisch überspielt wird, lässt sich eine Zweiteilung erkennen: Der erste Teil umfasst die Strophen eins bis vier. In jeder der ersten vier Strophen findet sich ein finites Verb am Versende, den zweiten Teil machen die Strophen fünf und sechs aus. Nur sie enden jeweils mit Punkt und unterscheiden sich durch einen Reim der Mittelverse („mir“ und „dir“) sowie durch kursivierte Zitate von den Strophen des ersten Teils. Im ersten Teil wird das Warten eines lyrischen Du in einem einsamen Haus geschildert. Die Zeit des Wartens in der Stille und Leere sucht sich das einsame Du durch Summen und Klopfen zu vertreiben, auch der Kontakt mit der Natur (Wind und Vögel) gelingt nicht. Im zweiten Teil, den beiden Schlussstrophen, wird die Lektüre eines „dünnen heftes“ geschildert. Kursivierte Zitate wechseln sich mit den Reaktionen des lyrischen Du ab, das die eigene Situation des Wartens in einem Gedicht wiedererkennt und so in einen Dialog tritt. Die drei in die beiden Schlussstrophen einmontierten Zitate sind Stefan Georges Seelied aus dem letzten Gedichtband Das Neue Reich (1928) entnommen (SW IX, 104). Sie schildern aus der Sicht einer einsamen Frau (die Forschung nimmt gelegentlich auch ein männliches Ich, einen einsamen Fischer als Sprecher-Ich an), die sich in ihrer freudlosen Existenz nach „einem kind mit goldnem haar“ sehnt: „Es tanzt und singt auf seiner bahn“. Auch wenn der Kontakt des Rollen-Ichs zu dem „kind“ wortlos geblieben ist („Wenn es auch niemals mit mir sprach / Und ich ihm nie ein wort gewusst“), ist es der „Anblick“ allein, der ihm „Lust“ bringt und zum Lebensinhalt wird: „Was hat mein ganzer Tag gefrommt / Wenn heut das blonde kind nicht kommt“. Und auch wenn Georges Rollen-Ich sitzt und wartet, hat es doch noch ein Gegenüber, und sei diese Epiphanie auch ein visionäres Gegenüber, so gibt es doch noch eine Hoffnung. Diese Hoffnung hat Küchenmeisters Du nicht mehr, ihm bleiben aber die Verse Georges, in denen es die eigene lebensgeschichtliche Situation, das durch Enttäuschung bedrohte Warten, wiedererkennen kann. Im Vergleich mit dem Referenztext wird neben der variierten Reihenfolge der Zitate erkennbar, dass nicht nur die kursiv hervorgehobenen Zitate, sondern auch der vorletzte Vers sich an Georges Seelied orientiert. Offen bleibt in den stunden, inwieweit die Lektüre ein einmaliges Erlebnis darstellt, das der Epiphanie des göttlichen Kindes in Georges Prätext entspricht, oder ein Ritual, mit dem das lyrische Du seine Einsamkeit in einem imaginären Dialog mit Georges Seelied reflektiert.
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Nadja Küchenmeisters produktive Auseinandersetzung mit George reicht aber weiter. So hat sie Georges Gedicht „Ob schwerer nebel in den wäldern hängt:“ aus den Traurigen Tänzen im Jahr der Seele37 einer biographischen Lektüre unterzogen, dem Bezug zu Ida Coblenz nachgespürt, aber zugleich auf die changierende Bedeutung des ‚Du‘ hingewiesen. Es ist ebenso als mutmachende Zurede wie als Selbstansprache zu verstehen.38 Verse Georges hat Küchenmeister schließlich auch in einen weiteren lyrischen Text einmontiert, in das Gedicht juli-schwermut:39 Das Gedicht besteht aus fünf reimlosen Strophen, die ähnlich lang sind, jeweils zwölf bis sechzehn Silben enthalten und zwischen fünf bis sieben Hebungen changieren. Wieder laufen die syntaktischen Strukturen – mit wenigen Ausnahmen – der Versund Strophengliederung entgegen. Da auch Präpositionen weitgehend fehlen, bestimmen Parataxe wie Syndese (Verwendung der Kopula ‚und‘ sowie Anschluss vieler Sätze mit ‚und‘) Syntax und Stil des Gedichts, für das ein gleichrangiges Nebeneinander von Wahrnehmungen und Erinnerungen typisch ist: juli-schwermut an einem heißen julitag schlägst du dem schatten ins genick, aus dem vergessen lockst du träume. die letzten minuten, die letzten gedanken. wie damals liegst du auf der lichtung, und aus den gräsern wispern die insekten. irgendwann ist alles aufgehoben: das maul aufreißen einer tulpe, die astern und die pappelsamen. spurensuche in den lüften: geruch von holz und nassem laub, und wo der wald beginnt, das tor in eine andere gleichung, von der die ungezählten jahresringe wissen fahren sonnenblitze durch die äste. wenn nur der sommer immer bliebe und keiner müsste den andern vermissen. die tage brennen ausgehöhlt im rachen und mücken schweben
37 38 39
SW IV, 110. Nadja Küchenmeister: Halte durch! Über Stefan Georges Gedicht ‚Ob schwerer nebel in den wäldern hängt‘. In: George-Jahrbuch 10 (2014/2015), S. 85–89. Nadja Küchenmeister: juli-schwermut. In: N. K.: Unter dem Wacholder. Gedichte, Frankfurt 2014, S. 87. Die Anfänge der Gedichte weh (ebd., S. 85 [„juli-schwermut“]) und aus dem vergessen (ebd., S. 86 [„lockst du träume“]) zitieren ebenfalls Georges Juli-Schwermut, und zwar den Titel und den Beginn der zweiten Strophe. Einen Vergleich mit Stefan Georges titelgleichem Gedicht bietet Wolfgang Braungart: „irgendwann, der blumen müd, hast du den sommer zugemacht“. ‚juli-schwermut‘ von Nadja Küchenmeister als Antwort auf Stefan Georges ‚Juli-Schwermut‘. In: George-Jahrbuch 10 (2014/15), S. 91–106, hier 102–106.
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9. George in der Gegenwart
überm zaun. an einem heißen julitag träufeln auf die gerötete stirn durch schwachen schutz der halme-schatten des mohnes blätter; und auf den morgen folgt die nacht. und auf die nacht folgt wieder morgen. und du kriegst nichts mit nichts zusammen. kommen jetzt kirschen und pfirsiche wieder. leises schluchzen deine vorhofkammern. aus mattem munde murmelt es: lass mich allein. die letzten minuten. die letzten gedanken. irgendwann, der blumen müd, hast du den sommer zugemacht …
Bereits der Titel von Küchenmeisters Gedicht, juli-schwermut, markiert den Prätext, Stefan Georges Juli-Schwermut aus den Liedern von Traum und Tod (SW V, 67). Georges reimloses Lied, dessen fünfhebige Verse sich durch liedtypische Füllungsfreiheit auszeichnen, ist dem englischen Dichter Ernest Dowson gewidmet. Eine zweischichtige Intertextualität, also ein Bezug Küchenmeisters über George auf Dowson, ist aber nicht zu erkennen. Vielmehr beruht der markierte intertextuelle Bezug auf einer Situationsanalogie, durch die ein zweiter, zeitlich vorgängiger Erfahrungsraum in den ersten eingeblendet wird. J uli -S chwermut An Ernest Dowson Blumen des sommers duftet ihr noch so reich: Ackerwinde im herben saatgeruch Du ziehst mich nach am dorrenden geländer Mir ward der stolzen gärten sesam fremd. Aus dem vergessen lockst du träume: das kind Auf keuscher scholle rastend des ährengefilds In ernte-gluten neben nackten schnittern Bei blanker sichel und versiegtem krug. Schläfrig schaukelten wespen im mittagslied Und ihm träufelten auf die gerötete stirn Durch schwachen schutz der halme-schatten Des mohnes blätter: breite tropfen blut. Nichts was mir je war raubt die vergänglichkeit. Schmachtend wie damals lieg ich in schmachtender flur Aus mattem munde murmelt es: wie bin ich Der blumen müd · der schönen blumen müd!40 40
Stefan George: Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod (1900). GA, V, S. 72 f. / SW V, 67. Braungart: „irgendwann, der blumen müd, hast du den sommer zugemacht“, bes. S. 96–102, deutet Georges als poetologisches Gedicht und Absage an den Äs-
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Ungeachtet der fremden Zierpflanzen in den Sommergärten zieht die apostrophierte unscheinbare Schlingpflanze „Ackerwinde“ Georges lyrisches Ich in ihren Bann und bringt ihm traumhaft eine Kindheitserinnerung zurück: Er sieht sich als Kind in einer sommerlichen Ernteszene. Das ohne finites Verb in der zweiten Strophe vorgestellte Erinnerungsbild wird in der dritten Strophe detailliert ausgemalt und märchenhaft personifiziert („schläfrig schaukelnde Wespen“, die Blütenblätter des Klatschmohns als Blutstropfen). Die Schlussstrophe beschwört die poetische Transposition auch in einem physischen Nachvollzug: In „schmachtender flur“ liegend, wiederholt das lyrische Ich den Kindheitstraum. Die Überblendung von Vergangenheit und Gegenwart zeigt sich in beschwörenden Alliterationen („Aus mattem munde murmelt es“) und charakteristischen Wiederholungsfiguren („Schmachtend […] in schmachtender flur“) sowie in der variierten Resignation am Schluss, in der kindliches Sprechen („wie bin ich der blumen müd“) und die Absage eines müden Ästheten („wie bin ich der schönen blumen müd“) fast ununterscheidbar interferieren. Küchenmeisters juli-schwermut, in dem ein lyrisches Du ein Selbstgespräch führt, beginnt mit der physischen Situationsanalogie von Vergangenheit und Gegenwart: „wie damals / liegst du auf der lichtung“. Die zitierte Apostrophe: „aus dem vergessen lockst du träume“ ist nun nicht mehr an eine schlichte Blume gerichtet, sondern an sich selbst. Auch in der Erinnerung von Küchenmeisters lyrischem Du wird die Natur personifiziert („wispern insekten“, „das maul einer tulpe“), bevor auch olfaktorisch vorgängige und aktuelle Erinnerungen miteinander abgeglichen werden. Genau in der Mitte wird in einem Irrealis deutlich, dass die Erinnerung weniger egozentrisch ist als bei George, sondern um den Verlust eines Menschen kreist: „wenn nur der sommer immer bliebe und keiner müsste den andern vermissen“. Die Erinnerung wird hier insofern als Wiederholungszwang inszeniert, indem das Incipit des Gedichts wiederholt wird und in einem Chiasmus „morgen“ und „nacht“ ununterscheidbar werden. Die durch Kursivdruck hervorgehobenen Zitate aus Georges Juli-Schwermut überlagern nun als fremde Stimmen die Erinnerung an den Verlust. Zugleich wird in der Wiederholung die Vergänglichkeit betont, indem Vers 3 aufgegriffen, aber zu zwei Nominalsätzen fragmentiert wird, die in einer Aposiopese verstummen, „die letzten minuten. Die letzten gedanken … “. Das flapsige „irgendwann“ aus Vers 5 („irgendwann ist alles aufgehoben“) mündet in die Erinnerung an eine Trennung.
thetizismus: „Mit dieser dekadenten Kunst muss es jetzt nämlich vorbei sein“ (ebd., S. 98). Sprache und Stil des Gedichts würdigt knapp Dieter Hoffmann: Arbeitsbuch deutschsprachige Lyrik 1880–1916, Tübingen und Basel 2001, S. 72 f. und 270–272.
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9. George in der Gegenwart
So zitiert Küchenmeisters juli-schwermut einerseits Georges titelgleiches Gedicht als analoge Stimmung, gewinnt jedoch in der Wiederholung die Differenz der eigenen Erfahrung. Während Georges lyrisches Ich die Unvergänglichkeit der eigenen Kindheitserfahrung poetisiert, wird Küchenmeisters lyrischem Du in einem Wiederholungszwang die unausweichliche Vergänglichkeit bewusst, indem es in der Erinnerung einen anderen Menschen und eine Trennung oder einen Verlust assoziiert. In dieser Transposition ins Soziale zeigt sich die für die postmoderne George-Rezeption charakteristische Ambivalenz von Assimilation und Abwehr in einer poetischen Selbstfindung.
9.1.5. Christian Filips Das Bekenntnis zu Form und Tradition, aber auch zur unbürgerlichen Homoerotik ist bei den postmodernen Lyrikern kaum noch verpönt. So nutzt der Lyriker Christian Filips (*1981) etwa Stefan George buchstäblich als Medium für seine Dichtung. Seine Vier Gesänge durch Stefan George adaptieren neben Kleinschreibung und Reimen die antonomastische Rede und den hohen Ton Georges.41 In Verbindung mit wenigen ‚harten Fügungen‘ in den Versen einer unzeitgemäßen Lexik auratisiert sich auf diese Weise das postmoderne Sprechen selbst. Filips’ Schlussgesang Kadenz, datiert „Februar 1999, Brüssel“, liest sich wie eine Antwort auf den Schluss von Stefan Georges Nietzsche in den Zeitgedichten des Siebenten Rings, der folgenden Wortlaut hat: Und wenn die strenge und gequälte stimme Dann wie ein loblied tönt in blaue nacht Und helle flut – so klagt: sie hätte singen Nicht reden sollen diese neue seele! (SW VI/VII, 13)
Bei Filips mündet der Besuch eines Grabes in die Einsicht der Mitteillosigkeit, die in eine rhetorische Frage gekleidet wird: aus dem verwachsnen baum über dem beschneiten grab klingt es nicht. und wie kann singen wer nicht sprechen mag?42 41 42
Christian Filips: Vier Gesänge: durch Stefan George (Geret Luhr zugeeignet). In: Annäherungen. Rheinland-pfälzisches Jahrbuch für Literatur 7 (2000), S. 186–187. Christian Filips: IV kadenz. In: Annäherungen. Rheinlandpfälzisches Jahrbuch für Literatur 7, S. 187.
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Neben diesem archaisierend-modernisierenden Dialog hat Filips die Begegnung Stefan Georges mit Maximin einer poetischen Revision unterzogen. In Form eines fast ungegliederten, atemlos-rhythmisierten Prosagedichts wird Georges Zwiespalt zwischen sinnlicher Liebe und poetischem Gottesdienst reaktualisiert: […] die gottheit gibt dir, wo sie nimmt und gibt nur keuschheit weil der gott nun mal noch nicht zum beischlaf taugt so wird ihm sprache nur als opfer dargebracht damit umrahmt von sinnlichkeit den anblick er begreifen obgleich nicht kosten darf so wart er bis er künde: dass er innig ihn begehre dass jeder tag im rauch für ihn die sünde und ihm die ehre schwindet in kadavern da das verlangen kommt denn sündhaft scheint dem dichter nur verlangenlos zu sein darum will aus der preisung er im kopf ein preisen auch mit anderem bereiten das ihm viel leichter fassbar wenn er sagt dass er so gern empfange nun ein bild aus ihm und sich das er mit freuden schreit […] mir sind nicht freunde wert. Ich liebe götter.43
In einer späteren „Notiz“ hat sich Christian Filips metapoetisch mit Georges Gedicht „Drei weisen kennt vom dorf der blöde knabe“ (SW IV, 92) auseinandergesetzt und sich in die Interferenz von Autor, lyrischem Ich und Leser begeben.44 So bezieht er in partieller Identifikation mit „de[m] blöde[n] knabe[n] vom dorf“ die Kritik an der provinziellen Enge ebenso auf sich wie auf George, zugleich aber auch auf eine distanzierte Kunstfigur. Eine ähnliche Überblendung mit George hat Bernhard Böschenstein in Filips’ Gedicht Jugendmeisterschaften entdeckt und das ‚Artistische‘ in den George-Bezügen aufgespürt: jugendmeisterschaften vorbei, auf dem schulweg, (zwei bände, die blauen, im ranzen) an bingen, am strom aufwärts sich schleppenden schleppkahn, vorbei auf treidelpfaden, die rührungen meiden, sich reiben im schritt, ein gezieltes steinchen werfen nach dem weißen, federweißen rheinschwan, reimzwang – keinen plan als einen: raus aus diesem thal. die rebe, die am hange, blühte nie. die assonanz 43 44
Christian Filips: In München, 1903. St. Maximin. In: Annäherungen. Rheinlandpfälzisches Jahrbuch für Literatur 7, S. 188. Christian Filips: Dreimal: Eine Weise. Notiz zu Stefan Georges Gedicht ‚Drei weisen kennt vom dorf‘. In: George-Jahrbuch. 10 (2014/15), S. 15–17.
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9. George in der Gegenwart
am ende aber bleibt ein schleppkahn, stefan.45
Filips’ Gedicht zeigt musterhaft das ambivalente Nebeneinander von Anlehnung und Abstoßung. So spielt es äußerlich auf die Sonettform an, negiert andererseits aber ihre syllabische Regelmäßigkeit und ihren „reimzwang“.46 Filips zitiert den Eingangsvers von Georges Rhein („Blüht am hange nicht die rebe?“ [SW VI/VII, 148]), um die rhetorische Frage zu verneinen: „die rebe, die / am hange, blühte nie“ (V. 10 f.). Die Stilebenen wechseln vom hohen Ton („die rührungen meiden“ [V. 5]) zur vulgären Drastik („sich reiben im schritt“ [V. 6]); doch selbst die eskapistische Tendenz – „raus aus diesem thal“ [V. 9 f.]) verbindet das lyrische Ich mit dem anfangs nur mittelbar – in Gestalt der „blauen bände“ (V. 2) der Werkausgabe – angedeuteten Vorbild George.47 Schließlich zwingt „die assonanz“ das widerstrebende lyrische Ich zu „Stefan [George]“: „schleppkahn“, „rheinschwan“, „plan“, „schleppkahn“ und „stefan“. Dass die Assonanz aber hier nicht nur Klangfigur bleibt, sondern auch semantisch bedeutsam ist, zeigt ihre im Dichterschwan wie im Kahn verschlüsselte poetologische Dimension. George ist für den jungen Schüler-Dichter ein „Schleppkahn“, der ihn buchstäblich voranbringt. So zeigt dieses Gedicht paradigmatisch, wie Filips sich gegen die Auratisierung Georges wehrt und stattdessen den direkten Dialog sucht.
9.2. Parodien als Dialogversuche Die junge Generation postmoderner Autorinnen und Autoren hat ein unbefangenes Verhältnis zur Tradition im Allgemeinen und zu George im Besonderen. Dennoch ist die Vielzahl an George-Parodien im ersten Fünftel 45
46 47
Christian Filips: jugendmeisterschaften. In: Bernhard Böschenstein: Der Schüler als Artist. Zu einem Gedicht von Christian Filips. In: George-Jahrbuch 10 (2014/15), S. 19–22, hier 19. Wieder, unter geändertem Titel, in: Christian Filips: Instant Krise mit Meister Stefan*. In: Ch. F.: Heiße Fusionen, Beta-Album. Gedichte und Analysen zur poetischen Ökonomie, 2007–2018. Hg. von Urs Engeler. Fusionierte und erw. zweite Auflage, Berlin 22018 [ED 2010], S. 48. Der Asterisk im Titel wird folgendermaßen erläutert: „Die arkadische Gesellschaft hat den George-Kreis fusionieren müssen. Dieses Relikt, eine Spätfolge der Rheingauer Jugendmeisterschaften im Jahr 1994, verfasst genau 90 Jahre nach dem Tod des Religionsstifters Maximin, sollte der Nachwelt allerdings erhalten bleiben. Beschlossen am 11. Mai 2018“ (ebd.). Vgl. Böschenstein: Der Schüler als Artist, S. 19. Filips: Dreimal: Eine Weise, S. 15, teilt mit, dass er als Schüler „die blaue George-Ausgabe“ besaß, „im Schulranzen“ mit sich trug, als er „noch auf dem Dorf wohnte[], in Hattenheim, auf der anderen Rheinseite, schräg gegenüber von Bingen“.
9.2. Parodien als Dialogversuche
407
des 21. Jahrhunderts erstaunlich. Allerdings überwiegt in diesen Parodien der ludische Aspekt, während das übliche detrahierende Moment stärker zurücktritt. Auch wenn man von dem Prestige und der Bekanntheit des parodierten Vorbilds profitiert, sucht man im imaginären Dialog neue ästhetische Wege zu erschließen, indem man bekannte lyrische Muster thematisch aktualisiert und erprobt, die fremde Stimme Georges in die eigene Sprache zu integrieren. Das ludische Element wird man allerdings bei Peter Schnetz (*1940 in Chemnitz) vergeblich suchen. Nach zwei Gefängnisstrafen in der realsozialistischen DDR war er von der Bundesrepublik freigekauft worden und kämpfte danach im wiedervereinigten Deutschland um seine Existenz und um Gehör für seine Stimme. In seiner durchaus systemkritischen und politischen Lyrik verwendet Schnetz sprachliches Material verschiedenster Provenienz und kombiniert es in collagehafter Weise. So eröffnet ein GeorgeZitat seine Sammlung Wer je die Sparflamme umschritt (2007): Wer je die Sparflamme umschritt, um alles Scheinen zu steingewordenem Sein zu einen der letzte macht den Himmel aus. Das Leben ist nur so gut wie sein Soundtrack, die unberechenbare Software der Begierde. Komm, küß die Zündung, ich bin dein Krieg!, ein Geister-Doyle mit Fistelstimme, der einsame Ameisenoffizier. Rufmord und Geschichtsfälschung und subtile Werbefeldzüge in der Internet-Enzyklopädie, wilde Linien, kuriose Maschinen, stürzende Wände, das Imperium lacht zurück.48
48
Peter Schnetz: Wer je die Sparflamme umschritt. Politische Gedichte, Bamberg 2007. Die Rezension von Siegmar Faust: Revolte der Entsorgten. In: Deutschland Archiv. Zeitschrift für das vereinigte Deutschland 41 (2008), H. 3, S. 556–557, betont die politische Kritik des Gedichtbandes.
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9. George in der Gegenwart
Was das um eine Mittelachse zentrierte Gedicht so originell und erklärungsbedürftig erscheinen lässt, sind Zitate oder verfremdete sprachliche Fundstücke. So findet sich etwa die Wendung „Komm, küß die Zündung, / ich bin dein Krieg!“ in den subversiven Notizen von Johannes Jansen aus seiner Dienstzeit in der NVA,49 der „Geister-Doyle“ bezieht sich auf Arthur Conan Doyles spiritistische Experimente, und der „Ameisenoffizier“ mit der Fistelstimme entstammt der Biene Maja. Das bekannte Incipit von Georges Gedicht „Wer je die flamme umschritt“ (SW VIII, 84) variiert Schnetz durch das ökonomische Kompositum „Sparflamme“. Indem er einen analogen Hauptsatz weglässt („Bleibe der flamme trabant!“), der den einleitenden Relativsatz komplettierte, bildet die erste Strophe einen Anakoluth; deren abschließender Vers „der letzte macht den Himmel aus“, in dem die bekannte Wendung „der letzte macht das Licht aus“ modifiziert ist, drückt die politische Hoffnungslosigkeit aus. Einen ähnlichen Effekt verfolgt Schnetz in einem anderen Gedicht, in dem er Georges Wendung vom „totgesagten park“ zeitkritisch aktualisiert, allerdings auch banalisiert: „Komm in den totgemüllten park“.50 Tatsächlich hatte George, misst man die Bekanntheit an der Zahl der Parodien, Anfang des 21. Jahrhunderts eine ungeahnte Konjunktur. Die Bezugnahmen reichen von bloßen Erwähnungen bis zu einer ganzen Serie von Parodien auf Georges bekanntestes Gedicht: „Komm in den totgesagten park und schau:“. So zitiert der populäre Liederdichter und Sänger Konstantin Wecker in der Eingangsstrophe seines Lieds Schlendern aus der Sammlung Am Flussufer (2005) Stefan Georges Bild vom „totgesagten Park“. Damit wird George für eine ebenso antibürgerliche wie antiutilitaristische Lebenshaltung reklamiert: Einfach wieder schlendern, über Wolken gehen und im totgesagten Park am Flussufer stehn.51
Gerade in spielerischen Gelegenheitsgedichten begegnen immer wieder George-Reminiszenzen wie in dem Fußballergedicht Schweinsteiger (2012) des George-Kenners Christophe Fricker:
49 50 51
Vgl. Johannes Jansen: Liebling, mach Lack!, Idstein 2004, S. 66 [Transkription eines Eintrags aus dem Jahr 1986]. Schnetz: Wer je die Sparflamme umschritt, S. 66. Konstantin Wecker: Schlendern. In: K. W.: Schon Schweigen ist Betrug. Die kompletten Liedtexte. Vorw. von Dieter Hildebrandt, Heidelberg 2005, S. 368–370, hier 368.
9.2. Parodien als Dialogversuche
409
Schweinsteiger ist kein poetischer Name. Schweine liegen Gedichten ohnehin fern, Und Schweine besteigen, wer denkt denn an sowas gern? Steinschweiger wäre ein lyrischer Name. Der Stein verhält sich zum Flutlicht wie Erde zu Stern, Und Verschweigen, was längst verspielt ist, das ist der Kern.52
Die beiden Dreizeiler ergänzen sich zu einem Sextett mit identischem Reim der Verse 1 und 4 und zwei gleichen Reimpaaren. Die Doppelsenkungen ermöglichen die fast unmerkliche Integration der George-Allusion im Schlussvers. Zitiert wird aus dem Gedicht „Es lacht in dem steigenden jahr dir“ (SW IV, 89) der Vers: „Verschweigen wir was uns verwehrt ist“. Die interpretatio nominis, die mit der Schüttelreim-Vertauschung der beiden Namensteile („Schweinsteiger“ / „Steinschweiger“) spielt, motiviert zusätzlich den Schlussvers, der mit Georges Worten gelobt, über einen schlechten Auftritt des Fußballnationalspielers den Mantel des Schweigens zu hüllen. In der Rubrik „Klassische Lyrik, neu verfasst“ der Wochenzeitung Die Zeit finden sich allein zwischen 2011 und 2015 sechs Parodien auf Georges Einleitungsgedicht zum Jahr der Seele.53 Die Parodien, die belesene Menschen verfasst haben, zeugen oft von großem Formbewusstsein und imitieren sogar gelegentlich die Kleinschreibung der Vorlage. Eine Paarbeziehung wie im Prätext thematisieren allerdings nur zwei Parodien, wovon eine ein Lyrisches Du apostrophiert, sich der kranken, alten, „totgesagten frau“ zu widmen. Dadurch gerät das männliche Ich des Prätexts, das zu einem geliebten weiblichen Du in Befehlsformen spricht, seinerseits in die Position des Befehlsempfängers. Diese Umwidmung stellt nicht nur die Geschlechter asymmetrie von Georges Herbst-Gedicht in Frage, sondern humanisiert den Ästhetizismus. Trotz kleiner sprachlicher Trivialitäten („blond statt grau“, „echt“) überzeugt Die totgesagte frau als kritische Auseinandersetzung und zeitgemäße Umdichtung:
52 53
Christophe Fricker: Schweinsteiger. Zuerst im Fußball-EM-Blog des Bremer Literaturhauses 2012, vom Autor dem Verfasser brieflich am 18. Juni 2013 mitgeteilt. Vgl. Albrecht Braune: Dass gar es schwele. In: Die Zeit 2013, Nr. 34, 14.8.2013, S. 76 [wohl nach: „Wir schreiten auf und ab im reichen flitter“ (SW IV, 15); allen übrigen ‚Neufassungen‘ liegt „Komm in den totgesagten park und schau“ (SW IV, 12) zugrunde: Brigitte König: Westerwelles Herbstlied. In: Die Zeit 2011, Nr. 47, 17.11.2011, S. 104; Elfie Riegler: Die totgesagte frau. In: Die Zeit 2013, Nr. 19, 2.5.2013, S. 102; Ingrid Schormann: Komm in das Land und schau. In: Die Zeit 2012, Nr. 12, 15.3.2012, S. 96; Florian Streier: Komm aus dem Quark! In: Die Zeit 2013, Nr. 9, 21.2.2013, S. 88; Kurt Wagner: Billiges Geld. In: Die Zeit 2015, Nr. 17, 23.4.2015, S. 82.
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9. George in der Gegenwart
Schau sie dir an, die totgesagte frau: Ihr fernes lächeln zeugt von jenen tagen, Da sie – so jung, und blond statt grau – Ihr los auf sich nahm, ohne viel zu klagen. Nimm ihren mut (ja, doch, er ist noch ganz, Bei ihrer krankheit braucht sie ihn erst recht). Dann küsse sie und flicht ihr einen kranz. Ein bisschen zärtlichkeit: es wärmt sie echt. Vergiss nicht, ihr von deiner zeit zu geben, In ihrem alter hat sie so viel nicht. Doch auch was übrig bleibt von ihrem leben, Es schimmert hell in ihrem herbstgesicht.54
Einen zeit- oder gesellschaftskritischen Tenor, wie er sich häufig in GeorgeParodien der Gegenwart findet, bekundet auch Jet-Set (2003), die parodistische Umwidmung eines George-Gedichts durch den Malerdichter Alexander Czoppelt:
54 55 56
Weisse schwalben sah ich fliegen · Schwalben schnee- und silberweiss · Sah sie sich im winde wiegen · In dem winde hell und heiss.
Weiße jumbos sah ich fliegen Jumbos weiß und silbergrau Sah sie sich in wolken wiegen In den wolken feucht und rau.
Bunte häher sah ich hüpfen · Papagei und kolibri Durch die wunder-bäume schlüpfen In dem wald der Tusferi.
Flotte stewards sah ich schwänzeln Durch des jet-sets potpourri Stewardessen sah ich tänzeln Vor designern aus Pari.
Grosse raben sah ich flattern · Dohlen schwarz und dunkelgrau Nah am grunde über nattern Im verzauberten gehau.
Große namen hört ich flattern Namen reich und medienschwer Sah sie mit juwelen rattern In dem flugtouristen-heer.
Schwalben seh ich wieder fliegen · Schnee- und silberweisse schar · Wie sie sich im winde wiegen In dem winde kalt und klar!55
Jumbos seh ich ständig fliegen Laute silbergraue schar Wie sie sich in wolken wiegen Für die umwelt von gefahr.56
Elfie Riegler: Die totgesagte frau. In: Die Zeit 2013, Nr. 19, 2.5., S. 102. SW II, 85. Alexander L. Czoppelt: Jet-Set* (nach Stefan George: Vogelschau). In: A. L. C.: Als Ikarus fiel. Balladen, Parodien, Liebeslyrik, Zeitgedichte, SF Poesie u. a. Höchstadt 2003, S. 96.
9.2. Parodien als Dialogversuche
411
Alexander Czoppelt folgt Georges Vogelschau aus dem Algabal in Strophen form und Metrum. Mindestens zwei Reime der Kreuzreime oder sogar Reimwörter sind jeweils identisch mit dem Prätext. Das wiederholte „sah ich“, nur in der dritten Strophe zu „hört ich“ modifiziert, strukturiert auch die Parodie. Der Tempuswechsel in der Schlussstrophe („seh ich“) findet sich gleichfalls; allerdings versinnbildlicht die Variation der Eingangsstrophe in der Parodie nicht mehr den jahreszeitlichen Turnus, sondern die kontinuierliche Lärm- und Umweltbelastung durch den Flugverkehr. Dass Czoppelt die gefiederten Lebewesen des Ausgangstexts durch Flugzeuge und das Wortfeld der Luftfahrt ersetzt, dient weniger der Detraktion von Georges Gedicht als vielmehr einer Kritik am übertriebenen Luftverkehr. Georges Bekanntheit wurde sogar genutzt, um aktuelle politische Fragen zu verfremden oder zu nobilitieren, wie das parodistische Gelegenheitsgedicht Der herr der insel iii Francis L. Lamports (1935–2020) zeigt, eines bekannten englischen Germanisten an der Universität Oxford. Er kritisiert im gelehrten Dialog mit seinem Oxforder Kollegen Jim Reed den sogenannten ‚Brexit‘, den politisch umstrittenen Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union, im Stile Georges statt Goethes. George sei leichter zu parodieren, man müsse nur das Adjektiv ‚hehr‘ unterbringen, was ihm auch gelang.57 Georges Gedicht Der Herr der Insel (SW III, 18) berichtet in Dritter Person von einem mythischen, großen Inselvogel, der stirbt, als die Menschen sein „eiland“ in Besitz nehmen. Dagegen apostrophiert in Lamports Parodie ein lyrisches Ich in der Rolle eines verkannten Propheten, wie sie George etwa in seinem großen Gedicht Der Krieg einnimmt, das englische Volk und hält ihm vor, auf die „glatte lüge“ der „andre[n]“ hereingefallen zu sein. Der Wunsch nach einer britischen „Insel stolz und hehr“ und „Ein[em] volk das rein und ohne fremd gemisch“, die das Sprecher-Ich den Engländern unterstellt, erinnert in geradezu fatal-zynischer Weise an die Reichslyrik des späten George. Der herr der insel iii Ihr hörtet wohl · ich stellte euch die frage ob euch gelüste ganz allein zu stehn doch ihr verstandet nicht was das betrage und achtet nicht auf mein zu schwaches flehn. Da kamen andre mit der glatten lüge ihr würdet reich und unabhängig sein
57
Francis Lamport: Der herr der insel iii. In: E-Post von Francis Lamport vom 4.8.2016 an Jim Reed, mit dem erklärenden Zusatz: „G****e [Goethe] is a bit hard to parody – though I’m still thinking about it – but G****e [George] is easy enough – but you must get the word ‚hehr‘ in somewhere“.
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9. George in der Gegenwart
ich sagte dass man schamlos euch betrüge · doch allzu leise war die stimme mein. Die Insel stolz und hehr war eur begehren Ein volk das rein und ohne fremd gemisch So sei es denn · Jetzt habt ihr das bescheren. Ich fürchte es ist weder fleisch noch fisch.
9.3. Sprach- und Dichtungsexperimente Von den Parodien, die stark ludischen Charakter haben, ist es nur ein vergleichsweise kleiner Schritt zu avancierten ästhetischen Experimenten mit Georges Werk. In einem oft doppelten Modus von Destruktion und Konstruktion wird das ambivalente Verhältnis der postmodernen Avantgarde zu George deutlich. Wie er schon wegen seiner rigorosen Sprachauffassung die Repräsentanten der Konkreten Poesie fasziniert hatte, so sind es heute die Vertreter der lautmalerischen und abstrakten Poesie, die ihre Sprach- und Dichtungsexperimente an und mit seinem Werk erproben.
9.3.1. Urs Allemann Wie lautmalerische Improvisationen, die nur noch assoziativ dem Vorbild verbunden sind, wirken Urs Allemanns George-Paraphrasen Zwei Gedichte zu Gedichten von Stefan George.58 Allemann (*1948), der in seinem aus58
Urs Allemann: Zwei Gedichte zu Gedichten von Stefan George. In: Allmende: Zeitschrift für Literatur 30 (2010), S. 37. Hier der Text von Allemanns zweiter George-Paraphrase (ebd.), auf die ich nicht eingehe: na, gege? oralyse? glude springt auf und tropen verseng das ge-ö!strenge uns fenster. mocht ihn neu unkuss spröten und schlingt, was vor glück rede ist, bleibung.
kuren zerlacher? miss die noss eigen ein muss – neuguss. genesen. Wie vertraut Allemann mit der literarischen Tradition ist, bezeugt sein Gedichtband: [U. A.:] im kinde schwirren die ahnen. 52 Gedichte, Basel und Weil/Rhein 2008, dessen Titel Hölderlins Vers „Im Winde klirren die Fahnen“ verballhornt. In dem Band finden sich zahlreiche „Überschreibungen“ bekannter Dichter (Petrarca, Pastior), die ganz ähnlich gestaltet sind. Eine George-Transkription konnte ich zwar nicht ausmachen, aber eine auf Gundolf bezogene Paraphrase: „it ankür, örr gundulf!“ (ebd., S. 15).
9.3. Sprach- und Dichtungsexperimente
413
geprägten Traditionsbewusstsein Hommage und Destruktion im Stile eines Oskar Pastior gerne verbindet, zitiert und zerstört gleichzeitig die Lyrik Georges. Die beiden Gedichte und ihre Technik des Zersingens sind bislang noch nicht näher untersucht worden. Für das erste Gedicht kann ich die Vorlage nachweisen: Es ist das von Arnold Schönberg vertonte Liebesgedicht „Wenn ich heut nicht deinen leib berühre“ aus dem Buch der hängenden Gärten: spraysorte „trüber leibsprung“ kenn/ strich/ räud. s bricht kleinen schreibgeschwür jjjä! girrt plärrschwaden high! wer kehle beissen – see you leer benannt bä! scheene. bliebse zeichen frei, wenn „auer!“ störse, dear sperrmaid, flatnight! stichgier beplörse. dichte flop. zierstrolch hä! schmal de lyr: wwwä! sprühdung. klänge queer: semtrieb wär schleissen gehrlich punkfriend. raus, fan! nee, ne?59
Allemann imitiert Georges Lied60 lautlich und metrisch. Dessen acht Verse aus trochäischen Fünfhebern gliedern sich in drei Sätze: Im ersten Satz (V. 1–3) droht das lyrische Ich der Geliebten mit Freitod, falls sie sich ihm nicht hingebe. Der zweite Satz (V. 4–5) begründet dieses Ultimatum mit der unerfüllten Passion. Der dritte Satz (V. 6–8) legt der Geliebten nahe, das liebende Ich, das sich mit einem Kranken vergleicht, endlich zu erhören. Diese argumentative Struktur ist zwar in der destruktiven Bearbeitung Allemanns nicht mehr zu erkennen, der auch lediglich zwei Wörter der Vorlage zitiert: „leib“ (im Titel) und „zeichen“ (V. 4). Doch die metrisch-klangliche Anlehnung geht weit. Die sich reimenden Verse 3 und 8, welche bei George die Not des leidenden Ich ausmalen und als vierhebige Trochäen etwas aus dem metrischen Rahmen fallen, sind auch bei Allemann, der die Reime immerhin andeutet, um jeweils zwei Silben verkürzt. Sogar der erotische Ton ist in Allemanns semantischer Demontage seines Gegengesangs noch 59 60
Allemann: spraysorte „trüber leibsprung“. In: Zwei Gedichte, S. 37. SW III, 86: Wenn ich heut nicht deinen leib berühre Wird der faden meiner seele reissen Wie zu sehr gespannte sehne. Liebe zeichen seien trauerflöre Mir der leidet seit ich dir gehöre. Richte ob mir solche qual gebühre · Kühlung sprenge mir dem fieberheissen Der ich wankend draussen lehne.
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zu erkennen: aus „seele reissen“ wird ein vampirisches „kehle beissen“, und die Neologismen „sperrmaid“ und „flatnight“, „queer“, „semtrieb“, „zierstrolch“ und „gehrlich punkfriend“ wecken vage sexuelle Assoziationen. Mit seiner Gedichtparaphrase erweist Allemann dem Vorbild George einerseits seine Reverenz, andererseits zersingt er ihn buchstäblich und nutzt ihn zur Selbstfindung für sein eigenes Dichten.
9.3.2. Ulf Stolterfoht und Jean Krier Ein ähnlich sprachkritischer und metapoetischer Zugriff auf die Tradition zeichnet auch Ulf Stolterfohts (*1963) Lyrik aus. Durch fragmentarische Sätze, Anakoluthe, Weglassen von Präfixen und Endungen schafft Stolterfoht oft experimentelle sowie sprachlich eigenwillige Konstrukte. In den diversen Folgen seiner Fachsprachen reflektiert er das lyrische Sprechen auch vor dem Hintergrund der Tradition. So erinnern Stolterfohts stille tage in altaussee (2009) mit dem Ortsnamen neben dem Entstehungsanlass eines wissenschaftlichen Symposiums an die bevorzugte Sommerfrische der Wiener Moderne und setzen sich mit dem Verhältnis von Dichtung und Erkenntnis auseinander. Wenn Stolterfoht über Stimmung und „zartgefühl“ in den Künsten nachdenkt, geht er auch namentlich auf George ein: gei- / stige akte zu schütteln sei möglich, aber sehr schwer. bleibt allzeit // konfrontat. ein freies spiel der bildungskraft. es wär um jede silbe / schad. andernhands bannspruch und fluch. schema: ich kann george / fühlen. ohne zu wissen, dass george ist. kann sogar rilke für george / halten. das hätt ich nicht im traum gedacht. „wildest“ fällt hier zum / ersten mal. gefolgt von prädikationen. jetzt ist es neuerlich geschehn. / wir haben einen wust. was sie lesen, sind womöglich entitäten. die // klar strukturaufweisend sind.61
Inwieweit diese lyrische, durchaus selbstkritische Reflexion Stolterfohts einen konkreten Bezug zu George – etwa dessen einziger Verwendung des Superlativs „wildest“ in Goethes lezte nacht in Italien (SW IX, 7–10, V. 79) – enthält, muss offen bleiben; doch ist die „konfrontat“, nämlich die produktive Auseinandersetzung mit der Moderne, und eben auch mit George, ein produktionsästhetisches Leitprinzip von Stolterfohts lyrischer Produktion. 61
Ulf Stolterfoht: fachsprachen XXXIV: stille tage in altaussee. In: U. S.: fachsprachen XXVIII–XXXVI, Basel und Weil/Rhein 2009, S. 87–97, hier 96, Nr. 8 (auch in: Wespennest: Zeitschrift für brauchbare Texte, Wien 2009, S. 32–40). Stolterfoht verweist in der „Nachbemerkung“ dass dieser Teil 34 seiner fachsprachen „unter dem Einfluß des Symposiums ‚Dichtung und Erkenntnis. Das Propositionale und das Nicht-Propositionale in der Literatur‘ […] im September 2008“ entstanden sei. „Grundlage der neun Gedichte“ seien „handschriftliche Notizen zu neu der in Alaussee gehaltenen Vorträge“ (ebd., S. 126).
9.3. Sprach- und Dichtungsexperimente
415
In dem anspruchsvollen lyrischen Werk des Luxemburger Dichters Jean Krier (1949–2013) finden sich flapsige Wendungen, sprachliche Verfremdungen, fremdsprachliche Einsprengsel, stilistische Brüche und zahlreiche literarische Reminiszenzen. Manche literarischen Zitate, Beckett, Proust, Benn und Hölderlin, sind durch Nennung im Text oder als Titelzitate markiert, doch blieben viele Allusionen bislang unbemerkt.62 Dazu zählen auch Anleihen bei George. So hat Krier etwa in einem Liebesgedicht Georges Herbstgedicht „Komm in den totgesagten park und schau“ verarbeitet. Die Zitate habe ich der besseren Kenntlichkeit halber kursiviert: Alte Liebe, revisited Gleich wird es regnen, nimm doch die Wäsche herein. Ich lege die Hände leer in den Schoß u geb dir den Rest. Ja, so will ich bleiben, so, wie ich bin: ratlos u heiter, mich bücken, dich beugen – u vergiss auch die letzten Klammern nicht. Ich ziehe dich aus bis aufs Hemd. Nie kann ich genug haben von dir. Ich trinke dir zu, komm, wir tauschen Possessivpronomina aus. Unser Endspiel ist dies. Wo ist nun das Fleisch, das nackt ging? So ein Quatsch, dass die Haut nie vergisst. Für alle Nächte vorbei. Und immer mehr lieb ich, wie wir weiter wursteln von Tag zu Tag. Kram, Gries u Gram. Rotzen, schmatzen, schmarotzen. Schlag mich doch in den Wind, mach mich an, spül mich weich. Die Strapse für mich, für dich die schmutzige Wäsche. Verwinde es leicht. Los, zieh Leine, es regnet. Immer wieder will ich scheitern mit dir.63
Auch wenn Kriers freirhythmisches Gedicht weder in Metrum noch Strophengliederung den Prätext erkennen lässt, ist der Sprechakt derselbe: Ein lyrisches Ich redet persuasiv zu einem geliebten weiblichen Du. Während bei George das Liebesgeständnis in der Einladung zum gemeinsamen Besuch 62
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Auf Kriers Werk haben bislang vor allem lediglich Zeitungsrezensionen aufmerksam gemacht. Die etwas ausführlichere Laudatio zum Adelbert von Chamisso-Preis, der Krier 2011 zuerkannt wurde, bleibt leider recht unspezifisch; vgl. Jürgen Ritte: Laudatio auf Jean Krier (Adelbert von Chamisso-Preis 2011. München, 16. März 2011): http://www.planetlyrik.de/ wp-content/uploads/2016/02/Laudatio_Jean_Krier.pdf (15.04.2021). Jean Krier: Herzens Lust Spiele. Gedichte, Leipzig 2010, S. 35 (Kursivierungen von mir). Armin Steigenberger: Postutopischer Sprach-Kosmos. Jean Kriers neuer Gedichtband „Herzens Lust Spiele“. In: Die Berliner Literaturkritik, 11.06.2010, bleibt in seinem Hinweis auf intertextuelle Bezüge pauschal: „Es werden absichtsvoll und explizit Tonfälle bekannter Dichter nachgeahmt; es gibt Bezüge zu Dante, Lautréamont, Rilke, Ashbery, Proust, Beckett u. v. m., deren Sprachwelten kurz anzitiert werden. Bezaubernde, elegante Weine, die man öffnet, damit sie ihr Bukett verströmen“. Es wäre sicher lohnend, Kriers Werk auf weitere George-Zitate hin zu untersuchen.
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eines herbstlichen Parks sublimiert ist, ist die Realsituation von Kriers Gedicht prosaischer und unvermittelter: Das lyrische Ich fordert seine Freundin auf, die Wäsche hereinzuholen, da es bald regne. Doch seine kunstlosalltägliche Aufforderung ist untermischt mit einem pathetisch-existentiellen Liebesbekenntnis. Das Nebeneinander eines unbedingten sexuellen Begehrens und eines alltäglichen Zusammenlebens wird durch Zitate aus Georges verdecktem Liebesgedicht erhellt: Die beiden längeren imperativischen Anleihen repräsentieren die Mischung: So wird Georges „Vergiss auch diese lezten astern nicht“ auf die Alltagssituation des Wäscheabhängens reduziert: „vergiss auch die letzten Klammern nicht“, und das „Verwinde leicht“ wird zur Aufforderung an die Geliebte modifiziert, sich mit der Arbeits- und erotischen Rollenteilung abzufinden: „Verwinde es leicht“. Georges Gedicht dient somit als kritischer Kommentar für die mangelnde Integration der Liebe in den Alltag, und durch die Zitation wird auch die Geschlechtsrollenverteilung und heikle Harmonie des Paares in Frage gestellt. Der Prätext wirft zwar ein kritisches Licht auf das Paar in Kriers Alter Liebe, revisited, doch im Spiegel des Posttexts erscheint auch die asymmetrische Liebesbeziehung in Georges Gedicht fragwürdig.
9.4. Dichtergermanisten Es verwundert nicht, dass gerade die postmoderne George-Rezeption ein Spielfeld philologischer und poetischer Doppelbegabungen ist. Zu nennen wären neben den vielen Dichtern, die wie Nico Bleutge ein GermanistikStudium absolviert haben, die ausgewiesenen George-Kenner und DichterGermanisten Christophe Fricker, Jürgen Egyptien oder Dirk von Petersdorff. Seine empathetische George-Kenntnis bezeugt der sprachsensible Lyriker Nico Bleutge (*1972), wenn er seine Lektüre von Georges Gedicht „Die steine die in meiner strasse staken“ reflektiert, das den Binnenzyklus Waller im Schnee aus dem Jahr der Seele einleitet.64 Bleutge verbindet zwar seine Reflexion und Assoziationen zu Georges Schneegedicht mit dem Initia tionsmoment für seine eigene Lyrik,65 grenzt sich aber zugleich von George ab: „Und ich fühlte, dass ich – anders als George – die Materialität meiner
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Nico Bleutge: Der Lockruf des Nichts. Zu Stefan Georges Gedicht ‚Die steine die in meiner strasse staken‘. In: George-Jahrbuch 10 (2014/15), S. 1–5. – Für Bleutges George-Kenntnis spricht auch, dass er seinem Essay die ursprüngliche dreistrophige Fassung zugrunde legt, in der zwei Sextette ein Quartett rahmen. Dabei bezieht sich Bleutge wohl auf seine Parkgedichte aus dem Potsdam-Zyklus seines ersten Gedichtbands Klare Konturen, München 2006.
9.4. Dichtergermanisten
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Sprache nicht um einer Idee willen zurückdrängen, dass ich die Zeichen nicht von Assoziationen an konkrete Erscheinungen reinigen, sondern im Gegenteil gerade die metaphorische Energie der Einzelheiten ausspielen wollte“.66 Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu George findet auch Ute Oelmann in ihrem Essay über das dritte Gedicht aus Bleutges dreiteiligem Zyklus wetterzone („schnell ziehende wolken, der himmel scheint bewegt“), das ein Hochgebirge zum Gegenstand hat und in durchgehender Kleinschreibung gehalten ist: Wie George in seinem Gedicht Landschaft III aus dem Traumdunkel im Siebenten Ring (SW VI/VII, 120) bezeichnet auch Bleutge die Gebirgslandschaft in exakter und differenzierter Lexik, doch während sie bei George eine Seelenlage ausdrückt, stellt sie bei Bleutge ein objektives Korrelat dar.67 Eine entsprechende Dialogizität charakterisiert auch Christophe Frickers Gedichte, die, jedenfalls nach Meinung der Jury, die ihn 2009 mit dem Hermann Hesse-Förderpreis auszeichnete, „in bewusster Anknüpfung an die Gedankenlyrik Stefan Georges“ entstanden. Doch sind die George-Bezüge so sehr in sein lyrisches Werk integriert, dass sie nicht mehr als markierte Bezugnahmen auffallen.68 Dagegen ist Georges Präsenz in Jürgen Egyptiens Lyrik, die Bedrängendes und Einmaliges durch metrisch-formale Bändigung zu distanzieren und zu bewahren sucht, nicht nur mittelbar zu spüren. Deutlich wird sie in seinem Gedicht Bestrahlung (2015), das in dem Band Kalebasse einen Zyklus von fünf Gedichten eröffnet, die, ausgehend von eigenen Erlebnissen, die geistige Sphäre der George-Welt und des Castrum Peregrini evozieren. Bestrahlung imaginiert eine Begegnung mit George angesichts einer spezifischen Wolkenformation. Ihre Konturen, durch Strahlen der untergehenden Sonne scharf begrenzt, erinnern an das markante Profil des Dichters. Das sechsstrophige Gedicht aus freirhythmischen Kurzversen gliedert sich in drei Teile: Die Eingangsstrophe beschreibt den allabendlichen Sonnenuntergang als Wahrnehmungsbedingung der Epiphanie des Dichterhaupts in den Wolken. Sie wird mit einem komplexen vorgeschalteten Vergleich in den folgenden drei Strophen geschildert. Das „Sternwort“, ein prägnanter Neologismus Georges aus dem Algabal (SW II, 74, V. 3), dient als Chiffre für die unverhoffte, und doch prädestinierte Begegnung. Die beiden Schlussstrophen vergegenwärtigen die Begegnung, indem sie die Annäherung des lyrischen Ich an George mit nautischen Metaphern als imaginäre LektüreReise („Papierboot“ [V. 21]) in die Heimat des Dichters darstellen. Der Vers 66 67 68
Bleutge: Der Lockruf des Nichts, S. 5. Ute Oelmann: „Erst das schauen entdeckt die bewegung“. Nico Bleutges Hochgebirge. In: George-Jahrbuch 10 (2014/15), S. 7–13. Zu den Ausnahmen zählt Frickers oben erläutertes Schweinsteiger-Gedicht.
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9. George in der Gegenwart
„roll mich ins Kieferblatt“ (V. 20) stellt eine intermediale Anspielung auf Arbeiten von Anselm Kiefer mit dem Titel „Stefan!“ dar, in denen Georges Haupt aus einem Berg am Rhein hervortritt (Abbildung 21). Das entsprechende Aquarell integriert das Halbprofil des alten George buchstäblich als anthropomorphen Gipfel in Wolken. Mit dieser bildkünstlerischen Analogie versichert sich das lyrische Ich seiner Epiphanie Georges in Gestalt eines Wolkenprofils. Die „schwarz-weiße Fahne“ im Schlussvers ist wohl – man denke an das Kompositum ‚Druckfahne‘ – selbstreflexiv und dürfte das Hissen des Gedichttextes selbst als neue Bingener Flagge meinen: An aller Tage Abend setzt aus tiefer Neigung die Sonne am Haupt den Lichtmeissel an: Wie ein Gebild aus Stein am Bug des Wolkenschiffs im purpurn entflammten Wellental der Berge aus Wasserdampf ein Scherenschnitt mit blendender Kontur leuchtend transparent das Antlitz aus Glanz stach mir sein Sternwort unerlöster Zeichen ins brechende Aug. Vom Lichtblick getrieben tauch ich ins Gebirg des Schattenkopfes roll mich ins Kieferblatt. Im Papierboot segle ich zum Bingener Werd hiss auf dem Mäuseturm die schwarz-weisse Fahne.69
69
Jürgen Egyptien: Bestrahlung. In: J. E.: Kalebasse. Gedichte, Düsseldorf 2015, S. 35. Zuerst in: CP 268/269 (2005), S. 94. Das Gedicht, entstanden bereits im Jahre 1994, geht nach freundlicher Auskunft des Verfassers vom 3. Mai 2021 auf ein epiphanes Erlebnis zurück, eine Himmelserscheinung bei Sonnenuntergang in Bingen im Jahre 1993.
9.4. Dichtergermanisten
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Wie der Schlussvers deutet die „Bestrahlung“, der Gedichttitel, zugleich die inspiratorische Bedeutung an, die das lyrische Ich der imaginären Begegnung mit George zumisst.
Abb. 21: Stefan! Aquarell von Anselm Kiefer, 1974. ©Anselm Kiefer.
Als Markenzeichen der Lyrik des in Jena lehrenden Dichtergermanisten Dirk von Petersdorff (*1966) gilt die „Vermischung von Tönen“.70 Welche Rolle George in solchen intertextuellen Überblendungen spielt, ist nur ansatzweise erkundet. Immerhin hat Petersdorff sich philologisch immer wieder mit George beschäftigt und in dem Rezeptionsband des George-Jahrbuchs auf die unangestrengt-kunstvolle Verschränkung von Vergangenheit und Gegenwart in Georges E. R. hingewiesen, dem Widmungsgedicht an Edmond Rassenfosse, aus dem Jahr der Seele.71 Eckhard Schumacher sieht in Petersdorffs Zyklus Die Vierzigjährigen sprachlich-thematische Bezüge auf Georges Übersetzung der Shakespeare-Sonette, überdies Anleihen in 70 71
Eckhard Schumacher: „Wo komme ich denn bitte vor?“ Stefan George bei Dirk von Petersdorff. In: George-Jahrbuch 10 (2014/2015), S. 111–124, hier 115. Vgl. Dirk von Petersdorff: Geteilte Unsicherheit. In: George-Jahrbuch 10 (2014/2015), S. 107–109; vgl. SW IV, 77.
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9. George in der Gegenwart
manchen Archaismen und Wendungen.72 Doch kaum beachtet blieb erstaunlicherweise Petersdorffs expliziter Rückgriff auf ein Gedicht Georges in dem nicht strophisch gegliederten, reimlosen Langgedicht Sternendinge – es umfasst 29 ein- bis siebensilbige Kurzverse: Stefan-George-Remix heißt der Untertitel, der nicht nur den Autor des Prätexts mitteilt, sondern auch das Verfahren der Transkription benennt: Sternendinge (Stefan-George-Remix) Für heute lass uns reden uns für uns lass heute sternendinge lass sternendinge reden heute reden nur für uns lass, lass sternendinge nur sternendinge reden, heute uns für uns lass, lass lass uns sternendinge sternendinge, heute nur uns nur sternendinge lass sternendinge reden, heute reden, heute lass, lass lass sternendinge reden, nur sternendinge; für heute lass uns nur von sternendingen reden.73
72 73
Vgl. Schumacher: „Wo komme ich denn bitte vor?“, bes. S. 117–120. Dirk von Petersdorff: Sternendinge (Stefan-George-Remix). In: D. v. P.: Die Teufel in Arezzo. Gedichte, Frankfurt 2004, S. 59. Schumacher: „Wo komme ich denn bitte vor?“, S. 114 f., geht auf Petersdorffs Stefan-George-Remix nur beiläufig ein.
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Mit „Remix“ bezeichnet man die elektronische Neubearbeitung eines Musiktitels. Die Bandbreite der damit verbundenen Verfahrenstechniken ist groß: Die Modifikationen eines Musikstücks reichen von Ausblendungen und Hinzufügungen von Tonspuren, Veränderungen der Geschwindigkeit bis zur Fragmentierung und Neuzusammensetzung. So geht auch Petersdorff in seinem Stefan-George-Remix vor, wie ein Vergleich mit dem Prätext zeigt, einem titellosen Gedicht aus den Gezeiten, dem dritten Binnenzyklus aus dem Siebenten Ring. Es ist ein fast hymnischer Ton, in dem ein lyrisches Ich ein unbestimmtes Gegenüber im einvernehmlichen ‚Wir‘ zu einem Gespräch über Metaphysisches auffordert. Georges Sprecher-Ich begründet diese Einladung zu einer sacra conversazione mit der plötzlichen Erfahrung eines Wunders, einer Epiphanie, die ihn sehend gemacht habe: Für heute lass uns nur von sternendingen reden! Ich möchte jauchzen · doch ich bin vom wunder bleich: Der weisheit schüler löst das rätselwort der Veden Und bricht des blinden nacht mit einem fingerstreich · Mit unbewusster würde trägt ein kind vom eden Das kleinod köstlicher als manches königreich.74
In seinem ‚Remix‘ beschränkt sich Petersdorff auf die ersten beiden Verse, deren acht Wörter er neu arrangiert und kombiniert, bevor sie ganz am Ende, nach einem Semikolon, in vollständigem Wortlaut zitiert werden. Allerdings spart Petersdorff in seinem Remix die Präposition ‚von‘ aus – mit Ausnahme des Originalzitats im Schlussvers –, indem er Georges Wendung ‚reden von sternendingen‘ transitiviert zu: „sternendinge reden“. Ohne dass die übrigen sieben Elemente gleich verteilt wären – das Vorkommen reicht von fünf Belegen („für“) bis hin zu elf („sternendinge“) und dreizehn Belegen („lass“) –, entsteht durch die Wiederholungen und Kurzverse ein eingängiger Rhythmus. In dem Textfluss, der auf Performanz, auf lauten Vortrag zielt, verliert die Semantik zugunsten der Rhythmik an Bedeutung. Zum andern erwirkt der originale Wortlaut des Zitats am Ende durch den langen Vorlauf und die vielfältigen Arrangements der Textelemente ein sentenziöses Gewicht und eine besondere Klarheit. Insofern gewinnt der Text im Anschluss an die intermediale Remix-Technik eine medienspezifische Präsenz und durch 74
SW VI/VII, 68.
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9. George in der Gegenwart
den repetitiven Vor- und Leerlauf eine suggestive Intensität. Indem Petersdorff einen Text Georges einer Transkription unterwirft, erweist er zugleich dessen Aktualität und Überzeitlichkeit.
9.5. Kontroverse George-Deutungen in Dramen und Romanen Bedenkt man die aktuelle Popularität von Dichterromanen – in den letzten zwanzig Jahren sind etwa hundert solcher Erzähltextexte erschienen –, ist es wohl nur eine Frage der Zeit, bis auch George exklusiv biofiktionalisiert wird. Auch in gegenwärtigen Erzähltexten und Dramen begegnet gelegentlich George, freilich in mehr oder wenig profilierter Gestalt. So erinnert die Tenno-Episode in der autofiktionalen Lebensgeschichte Das deutsche Krokodil von Ijoma Mangold, die bedeutsame Begegnung mit einem anonym bleibenden Intellektuellen in der Heidelberger Jugendzeit, in der Figuration und sprachlichen Ausgestaltung („Tenno“-Jünger, „Gemeinschaftsrituale“, „Anspielungen auf Tennos Homosexualität“, „der neue Jüngling“) an George und seinen Kreis.75 So sehr die Episode atmosphärisch den GeorgeKreis evoziert, so ist sie insgesamt doch zu schwach markiert, dass sie nur bedingt als Rezeptionszeugnis gewertet werden kann.
9.5.1. Wilhelm Deinert, Sibylle Lewitscharoff und Hanns-Josef Ortheil Die drastische Version einer homoerotischen Meister-Schüler-Figuration schildert Wilhelm Deinert (1933–2012) in Sandelholz und Petersilie (2001), den „lyrisch-epischen Stationen“ einer „Umkehr“ und Teil einer Künstlerbiographie. In dem Kapitel Spätlese, Velims Tagebuch begegnet der IchErzähler einem rätselhaft-faszinierenden Mann, der ihm in einer dunklen, orientalisierend eingerichteten Wohnung aus „ein[em] saffianblaue[n] / goldgeprägte[n] und feingenarbte[m] / buch […] – nicht las“ –, oder wohl doch las:
75
Vgl. Ijoma Mangold: Das deutsche Krokodil. Meine Geschichte, Reinbek 2017. In einem Schreiben vom Juli 2018 meint der Autor, auf solche Analogien hin befragt, dass George „allenfalls unbewusst die Feder geführt haben“ könne, aber da er sich „unbedingt zu den George-Lesern zähle, ist das gar nicht so überraschend“.
9.5. Kontroverse George-Deutungen in Dramen und Romanen
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[…] Und – war es der rauchwald, aus dem es zu rauschen begann und reden? „Welt der gestalten, lang lebewohl“ – es war seine stimme und nicht seine stimme‘ – „Öffne dich, wald voll schlohweisser stämme“ – ich hörte, verstand meine sprache und nicht meine sprache – „Oben im blau nur tragen die kämme“ – wie von einem andern planeten – „laubwerk und früchte gold karneol“ – herüber wehend – „Ich lag in äthergezelten“ – wie in einer anderen sphäre erwachend […]. 76
In Deinerts Inszenierung des pädagogischen Eros fällt George eine entscheidende Rolle zu. Zitate aus seinen Gedichten, die kursiv hervorgehoben sind,77 werden sukzessive in die Ich-Erzählung integriert, bis sie sogar syntaktisch eingepasst werden und Zeit und Raum in einer Art Mysterium aufgehoben sind: […] „Ich bin ein funke nur vom heiligen feuer“ – aus einer wellenschicht feiernder sterne – „ein dröhnen nur der heiligen stimme“ – durchdrang meine adern – „In einem meer kristallenen glanzes“ – Der raum gab nach, sich verformend, die stunde desgleichen: wände wurden zu bernstein, die lichte topas.78
Als der meisterliche Freund darauf dem Ich-Erzähler den George-Band reicht („Lass hören“), kommt es in der anschließenden Rezitation des Schülers – er liest das dritte Gedicht der dreiteiligen Landschaft aus dem Sieben76 77
78
Wilhelm Deinert: Sandelholz und Petersilie. Eine Umkehr. Lyrisch-epische Stationen, Frankfurt/M. 2001, S. 73–77 [„5. Spätlese. Velims Tagebuch“], hier 74. Es handelt sich um Zitate aus verschiedenen Gedichten Georges: Wiedergegeben wird zunächst – gestückelt – die erste Strophe des Gedichts Eingang aus dem Traumdunkel im Siebenten Ring: „Welt der gestalten lang lebewohl! . . / Öffne dich wald voll schlohweisser stämme! / Oben im blau nur tragen die kämme / Laubwerk und früchte: gold karneol.“ (SW VI/VII, 115, V. 1–4). – Das letzte Zitat stammt aus dem Gedicht „Da auf seidenem lager“ des Algabal (SW II, 70, V. 9). Deinert: Sandelholz und Petersilie, Nr. 5: Spätlese, S. 75. Die kursivierten George-Verse entstammen – in veränderter Reihenfolge – der Schlussstrophe der Entrückung: „In einem kristallenen glanzes schwimme – / Ich bin ein funke nur vom heiligen feuer / Ich bin ein dröhnen nur der heiligen stimme.“ (SW VI/VII, 111, V. 22–24).
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9. George in der Gegenwart
ten Ring (SW VI/VII, 120) – zu einer ähnlichen Annäherung von Text und (Vor)Leser wie zuvor beim mysteriösen Lehrer. So ist es sicher kein Zufall, dass mit der leichten Modifikation von Georges Wortlaut in Vers 3 – bei Deinert „Mondstrahl“ statt „Mondschein“ – die Wiedergabe des Gedichttexts unzuverlässiger wird: Die Strophen 2 bis 5 bleiben ausgespart, und die anschließenden Zitate aus Landschaft III stammen aus der Schlussstrophe, deren ersten beiden Verse vertauscht sind: […] – „Schon sausen winde in den letzten arven“ – ein lied wie es kommt nach dem winde singt – „Wo jede wegspur sich verliert im düster“ – wurde ich jemandes instrument, erklang es – „Summen des abgrunds dunkle harfen“ – aus meinem mund, meinem herzen, dem ganzen leib. Und mit jedem vers zog ein zäher belag von der stimme ab – –79
Die Modifikation und zunehmende Einbettung des Fremdtexts in die eigene Sprache stilisiert die Aneignung Georges zu einem Mysterium, zu welchem der zweideutige Abschied des Lehrers, einer Postfiguration Georges, passt. Er ermuntert den „verwirrte[n]“ Mysten „Weiter, weiter- / [zu]machen!“, bleibt aber selbst eine ganz ambivalente Gestalt: „Zaubrer der mich mit dem kleinen / finger befördert und absetzt, / verwundet und heilt, der mit einem einzigen / wort mich verwandelt! So ging ich – –.“80 Indem Deinert die Figuration des pädagogischen Eros mit George illustriert, schreibt er dessen Werk und Person eine maßgebliche Rolle bei der Entwicklung des jungen Mannes zum Künstler zu. In Sibylle Lewitscharoffs Roman Pfingstwunder schildert der IchErzähler Gottlieb Elsheimer, ein 62-jähriger Romanist und Experte von Dante-Übersetzungen, rückblickend, wie die Referenten einer Dante-Tagung in Rom sich so in die Divina Commedia hineinversetzen, dass sie den Aufstieg ins Paradies wagen und, in Zungen redend und Dante rezitierend, vom Fenstersims aus davon schweben. Vor dem dantesken Pfingstwunder und während des Kongresses diskutieren die Wissenschaftler über Dantes Divina Commedia, wobei der Ich-Erzähler neben den Übersetzungen Rudolf Borchardts und Georg van Poppels wiederholt auch Stefan Georges Danteübersetzung zitiert, wenn diese ihm besonders gelungen erscheint.81
79 80 81
Deinert: Sandelholz und Petersilie, Nr. 5: Spätlese, S. 76. Deinert: Sandelholz und Petersilie, Nr. 5: Spätlese, S. 77. In Sibylle Lewitscharoff: Das Pfingstwunder. Roman, Berlin 2016, wird Georges Über-
9.5. Kontroverse George-Deutungen in Dramen und Romanen
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In seinem autofiktionalen Erzähltext Rom, Villa Massimo (2015), dem „Roman einer Institution“, so der Untertitel, schildert Hanns-Josef Ortheil den Rom-Aufenthalt des begabten 35jährigen Lyrikers Peter Ka aus Wuppertal als Stipendiat der Deutschen Akademie Villa Massimo. Die große Faszination, die Stefan George als Person und Dichter auf Peter Ka ausübt, reicht in dessen Schulzeit zurück, als in Deutschland „George so gut wie vergessen gewesen“ war.82 Zugleich reflektiert der Roman die „erhebliche Strahlkraft“, die „Georges Name“ Anfang des 21. Jahrhunderts „wieder […] erhalten“ hatte.83 Der metapoetische Text schildert im Präsens, wie Peter Ka in der ästhetischen Orientierung an George in Rom zu einer eigenen Schreibweise findet. Bereits das Gelände der Villa Massimo empfindet Peter Ka als „Stefan-George-Terrain. Und schon fällt ihm etwas Parodierendes dazu ein, in der Art des alten Meisters“: Zypressen führen uns im Stillen Und leiten uns den schmalen Pfad Verrücken unseren stumpfen Willen Und ebnen ihm ein tiefes Bad Von Sonnenseen und Dunkelheiten Von schwerem Klang und leichtem Rausch … (usw. usw.)84
Diese postmoderne George-Parodie zeigt, wie sehr George auch hier noch als inspirierende Referenz fungiert. Kleine dissonante Aspekte können seine George-Verehrung zunächst wenig beeinträchtigen.85 So rezitiert er bei seiner ersten Lesung in der Villa zunächst „zwei kurze Lieder von Stefan George und zum Schluss sein George’sches Lieblingslied: An baches ranft […]“,86 bevor er seine an George gewonnene Poetik konzentrierter Musikalität mit
82 83 84 85
86
tragung der Paolo-Francesca-Episode lobend zitiert (ebd., S. 57), außerdem kommt seine Version der Begegnung mit Farinata degli Uberti zur Sprache (ebd., S. 120) und anlässlich der perhorreszierenden Beschreibung Mohammeds, die in Rudolf Borchardts Nachdichtung wiedergegeben ist, wird eigens vermerkt, dass George diese Passage aus ästhetischen Gründen „gar nicht erst in seine Übersetzung aufgenommen“ habe (ebd. S. 217). Hanns-Josef Ortheil: Rom, Villa Massimo. Roman einer Institution. Mit Fotos von Lotta Ortheil, München 2015, S. 17. Ortheil: Rom, Villa Massimo, S. 17. Ortheil: Rom, Villa Massimo, S. 31. Siehe Ortheil: Rom, Villa Massimo, S. 90 f., wo die Frage aufgeworfen wird, ob sich die Mosaiken in Santa Costanza bedichten lassen: „Vielleicht hätte Stefan George so etwas noch gekonnt und gepackt. (Nach längerem Nachdenken: Nein, wahrscheinlich doch nicht. Denn auch und gerade Stefan George hat sich beim Bedichten von Sarkophagen, Tempeln und Domen manchmal ganz übel verhoben …)“. Ortheil: Rom, Villa Massimo, S. 111. Georges Lied „An baches ranft“ findet sich im Siebenten Ring, vgl. GW VI/VII, 159 / SW VI/VII, 138.
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9. George in der Gegenwart
drei eigenen Gedichten beglaubigt.87 Doch verwirrt ihn das „völlig unerwartete Lob“ eines „älteren Ehrengasts“ der Villa, Peter Kas Gedichte hätten ihn an bestimmte Gedichte Stefan Georges erinnert, er meine besonders die unvergleichlichen Lieder Georges, kurze Lieder und Gesänge von einer sprachlichen Schönheit, wie sie keiner, aber auch gar keiner der verdrucksten Nachkriegspoeten je hinbekommen habe. Und ausgerechnet diesen leicht elegischen, aber nie weinerlichen Ton mitsamt seiner besonderen stilistischen Sicherheit habe er in Peter Kas Kurzgedichten wiedergefunden. Gratulation!88
Auch wenn Peter Ka die konservative Gegenwartskritik des Ehrengasts nicht teilt, erfährt er durch ihn, dass „ein George-Jünger“, der Architekt Maximilian Zürcher, die Villa Massimo geplant habe, und „Anfang 1913 […] sei George mit seinem Jünger (oder Schüler?) Friedrich Gundolf hier in Rom gewesen, um sich persönlich davon zu überzeugen, dass und wie die zukünftige deutsche Künstlerakademie von seinem Geist getragen, geformt und durchdrungen sei!“89 Zugleich gewinnt Peter Ka in Rom durch Überlegungen zur Inszenierung von Autorschaft und dem „Gespräch über Gedichte“ auch kritische Distanz,90 wie er regelrecht einübt, „Gedichte umzuschreiben und nach seinen Vorstellungen zu verbessern. Auch das Zerschneiden oder Verstümmeln macht großes Vergnügen. Und erst recht das Modernisieren und Aktualisieren“.91 In dem Um- und Weiterdichten kanonischer Lyrik befreit der Rom-Aufenthalt Peter Ka weniger in seiner ästhetischen Selbstfindung von seinem Vorbild George, vielmehr forciert er die Konfrontation zu einer produktiven Auseinandersetzung.
9.5.2. André Kubiczek Der in Potsdam aufgewachsene Schriftsteller André Kubiczek (*1969), Sohn deutsch-laotischer Eltern, hat seinem Romanwerk George-Referenzen eingeschrieben, die, so vage sie bleiben, doch politisch merkwürdig aufgeladen sind.
87 88 89 90
91
Ortheil: Rom, Villa Massimo, S. 113. Ortheil: Rom, Villa Massimo, S. 198. Ortheil: Rom, Villa Massimo, S. 199. Ortheil: Rom, Villa Massimo, S. 164 (zur Autorschaft: „Alle wirklich bedeutenden Lyriker hatten solche Bilder von sich entworfen, George, Benn, Brecht, die Bachmann oder die Mayröcker […]“) und mit dem „Gespräch über Gedichte“ (ebd., S. 172 und 176) spielt Ortheil, wie eine Fußnote erklärt (ebd., S. 268 Anm. 38), auf Hofmannsthals gleichnamigen Dialog an, der Georges Jahr der Seele zum Thema hat. Ortheil: Rom, Villa Massimo, S. 188.
9.5. Kontroverse George-Deutungen in Dramen und Romanen
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Eine Assoziation des George-Kreises mit der neuen Rechten findet sich etwa in Kubiczeks Roman Oben leuchten die Sterne (2006).92 Die Freunde Rock und Bender, die Protagonisten der etwas zerfaserten ‚Roadstory‘, verlassen ihre Berliner Wohngemeinschaft, um an der Trauerfeier von Benders Großvater im Harz teilzunehmen. Dadurch werden sie aber mit den dunklen Seiten der deutschen Vergangenheit, mit Stasi- und Geheimdienst-Aktivitäten konfrontiert, die sie auch auf ihrer Weiterfahrt in den Süden Deutschlands beschäftigen. Zentrale Gestalt ist ein Dr. Winter, der nach antikommunistischem Engagement im Nachkriegsdeutschland nun gemeinsam mit einem Altnazi, einem Künstler und einem ehemaligen BND-Beamten, unter patriotischem Deckmantel ein nationalsozialistisches Propagandablatt herausgibt mit dem Titel „Das geheime Deutschland“. Zwar bleibt das politische Programm dieses ‚Geheimen Deutschland‘ in dem Roman ebenso vage wie der George-Bezug, doch wie sehr dieser Begriff mit Gewalttätigkeit verbunden ist, illustriert in geradezu zynischer Wiese die Schlussszene des Romans. Darin schlagen die beiden jungen Protagonisten einen Lastwagenfahrer zusammen, der sie zur Rede stellt, weil sie die Zeche in einer Raststätte geprellt haben: Der Fernfahrer, an der Stirn getroffen, ging zu Boden. „Es lebe das geheime Deutschland!“, schrie Bender ihn an und wischte sich mit dem Handrücken das Blut von der Lippe. „Genau, du Arschloch“, schrie Rock und trat dem gefallenen Helden der Landstraße zum Abschied in den Magen.93
Das inhaltlich wie sprachlich brutale Ende von Kubiczeks Roman zeigt, wie die Ideologie des ‚Geheimen Deutschland‘ für eine Gewalttat pervertiert und missbraucht wird, die von der ursprünglichen Bedeutung weit entfernt ist. Und doch diskreditiert der Roman durch Überzeichnung die Tradition der Wendung, die zusätzlich noch durch Kursivierung hervorgehoben ist. Einem multiperspektivischen Zeitroman über die Bundesrepublik in der Nachwendezeit hat Kubiczek später sogar ein George-Zitat als Titel gegeben: Komm in den totgesagten Park und schau (2018). Der Buchumschlag erhellt die subversive Kraft von Georges Dichtung durch das Nebeneinander des Gedichtzitats mit einem entflammten Streichholz (Abbildung 22). Geschildert werden jeweils aus der Perspektive der drei männlichen, unterschiedliche Generationen repräsentierenden Hauptpersonen diverse soziale Milieus, die unvereinbar wirken: Der Cottbusser Veit Stark, der seine germanistische Dissertation über Lyrik aufgibt, sein ehemaliger Lehrer Marek 92 93
André Kubiczek: Oben leuchten die Sterne, Reinbek 2008. Der Titel zitiert den Refrain des bekannten Laternenliedes. Kubiczek: Oben leuchten die Sterne, S. 301.
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9. George in der Gegenwart
Abb. 22: André Kubiczek: Komm in den totgesagten Park und schau. Umschlagillustration, 2018.
Winter, im Osten sozialisierter feinsinniger Privatdozent an der HumboldtUniversität in Berlin, und dessen Sohn Felix, der, von seiner politisch korrekten Mutter in Bonn erzogen, gerade Abitur gemacht hat. Alle drei, mehr oder weniger gescheitert, sind am Ende gemeinsam auf der Flucht: der Vater vor der Polizei, der Sohn vor dem Staatsschutz und Veit Stark vor der Rache von Neonazis. Geschildert wird ein Deutschland im Herbst, in dem die politischen Milieus auseinanderdriften und radikale Kräfte im Osten und Westen stärker werden. Dass auch die individuellen Biographien misslingen, zeigt die briefliche Absage der vermeintlichen Freundin Nina an Felix, die den Roman beschließt: „[…] ich hoffe, wir sehen uns nie wieder“.94 Das GeorgeZitat des Romantitels wirkt wie ein zynischer Kommentar auf die verfahrene Lebenssituation der Protagonisten. Im Text finden sich einige Szenen, die als vage ironische Paraphrasen der Figuration des George-Gedichts aufgefasst
94
André Kubiczek: Komm in den totgesagten Park und schau. Roman, Berlin 2018, S. 379.
9.5. Kontroverse George-Deutungen in Dramen und Romanen
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werden können, in dem ein männliches Ich einem weiblichen Du zum Besuch eines herbstlichen Parks auffordert. So verabredet sich Veit mit Karoline Schmidt alias Noa Snow etwa für den Oktober vor einem Park: „Dann sehen wir uns also irgendwann im Oktober wieder“, sagte Veit […]. Nun zum Abschied standen sie am Parkeingang Danziger Straße, die Dämmerung breitete sich über die dröhnende Stadt […]. 95
Noch stärker wird die Figuration des George-Gedichts aufgegriffen, als Veit seiner Freundin Noa kurz danach den trostlosen Cottbuser Ortsteil Neu-Schmellwitz zeigt, in dem er aufgewachsen ist. Anstelle der seltenen herbstlichen Schönheiten, auf die der Sprecher des George-Gedichts seine Begleiterin hinweist, erläutert Veit angesichts der vielen durch Abriss entstandenen „Freiflächen“, wie es dort früher ausgesehen hat: „Ungefähr hier war unser Aufgang, sagte Veit, als sie vor einer Wiese standen, die an den Plattenweg grenzte. Auf der Wiese waren Bäume und Sträucher in lockeren Gruppen arrangiert, es gab Lehr- und Hinweistafeln und viele selbstgebastelte Skulpturen […]. „Wo?“, fragte Noa und starrte auf die Wiese. „Na, ungefähr da drüben, wo dieser riesengroße Storch aus Draht steht“, sagte Veit und zeigte auf eine der Skulpturen. „Das ist eine Rakete“, sage Noa und kein Storch“. Sie kamen an weiteren begrünten Brachen und Miniaturparks vorbei, alle mit erklärenden Schildern versehen, und Veit sagte Sachen wie: „Hier stand mal meine Schule“ und „Hier hat Henry gewohnt aus meiner Parallelklasse, der war ganz okay“. Nach nicht mal einer Viertelstunde waren sie fast durch.96
Die Deiktika („hier“, „das“), mit denen Veit seine Freundin durch die „Miniaturparks“ führt, gelten nicht den Schönheiten der herbstlichen Natur, sondern dem früheren Zustand der Landschaft vor der Planierung. Damit wird der Tenor des Gedichts sentimentalisch-zynisch invertiert. So lädt das Zitat des Proömialgedichts aus dem Jahr der Seele als Romantitel den Leser ein, den politischen Herbst mitzuvollziehen, dem die Protagonisten entgegensehen: „Die Apokalyse Deutschlands nahte, wenn auch vorerst nur auf leisen Birkenstock-Sohlen“.97 Überdies wird mit George an die Wunden und tiefgreifenden Traditionsbrüche in Ostdeutschland erinnert, die unter der scheinbar intakten Oberfläche gären. Damit holt Kubiczek George wieder in die politische Debatte zurück.
95 96 97
Kubiczek: Komm in den totgesagten Park, S. 283. Kubiczek: Komm in den totgesagten Park, S. 289 f. Kubiczek: Komm in den totgesagten Park, S. 173.
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9. George in der Gegenwart
9.5.3. Lars Jacob und Jörg-Uwe Albig Wie die Figur George gerade in jüngster Zeit wieder neu politisch aufgeladen wird, bezeugt auch die Figur Claus von Stauffenbergs. Im Jubiläumsjahr 2004 des Attentats auf Hitler waren mehrere Publikationen und Filme erschienen, die Stauffenbergs Herkommen von George betonen. So spricht er in dem Fernsehfilm Stauffenberg am Vorabend seines Anschlags auf Hitler Verse aus Georges Gedicht Der Täter, dem eine analoge Situation zugrunde liegt (SW V, 45);98 zugleich wurde die Person in dem Film aber auch deheroisiert. Politisch aufgewertet wird sie dagegen in dem Drama Stauffenberg. Eine Ästhetik des Widerstands (2014) von Lars Jacob, der überdies Georges Einfluss hervorhebt. Mit sieben Aufzügen – Prolog und Epilog kommen hinzu – ist es allerdings mehr ein Lesedrama als ein „Theaterstück“, wie es der Untertitel verspricht.99 Zudem umfasst die Handlungszeit über zwanzig Jahre: Sie reicht vom Jahr 1923, als Claus von Stauffenberg und seine Brüder Berthold und Alexander den Dichter George kennenlernen, bis zur Hinrichtung von Claus nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944. In einer Vorbemerkung betont der Autor, sein Text sei „fiktiv“, aber historisch plausibel. Neben den bekannten Fakten der gescheiterten Verschwörung hält sich Jacob bei den Auftritten Georges auch an fotografische und bildkünstlerische Darstellungen. So kommt Georges selbstbezügliche Autorschaftsinszenierung ebenso zum Ausdruck100 wie die erste Begegnung mit den Stauffenbergs, die als lebendes Bild das bekannte Foto wiederholt, auf dem Claus und Berthold den Meister am linken Bildrand anhimmeln, der über ihnen auch als Profilfotografie zu sehen ist.101 Obschon Georges Tod in Minusio im Jahre 1933 in der Mitte des Stücks, im vierten Aufzug, geschildert wird, ist das Stück tatsächlich ein George-Drama. Denn er dominiert die Szene schon vor seinem ersten Auftritt und bleibt der spiritus rector für die Verschwörer bis zum Schluss. So wird Frank Mehnerts Tod an der Ostfront ebenso von der Stimme Georges unterlegt, die zwei Verse aus dem Krieg spricht, wie die Explosion in der Wolfsschanze, bei der aus dem
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Stauffenberg. Deutsch-österreichischer Fernsehfilm von 2004. Regie und Drehbuch: Jo Baier. Lars Jacob: Stauffenberg. Eine ‚Ästhetik des Widerstands. Theaterstück. Leipzig 2014. Vgl. dazu Sebastian Hennig: „Nun müssen wir uns für das Reich erheben“. Dichtung als Sprengsatz: Ein Theaterstück von Lars Jacob als Lesedrama über die Brüder Stauffenberg und Stefan George. In: Junge Freiheit Nr. 12, 13. März 2015, S. 16. 100 Jacob: Stauffenberg, S. 20: Die Szenenanweisung zu Georges erstem Auftritt (I 2) illustriert die Selbstinszenierung: „Schräg hinter ihm [scil. George] auf einer Konsole eine Marmorbüste seines Kopfes. Im Hintergrund an der Wand über einer Chaiselongue eine Photographie von ihm in Profilansicht“. 101 Jacob: Stauffenberg, S. 23–29 (I 4).
9.5. Kontroverse George-Deutungen in Dramen und Romanen
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Einleitungsgedicht der Sprüche an die Toten zitiert wird.102 Und selbstverständlich bleibt Claus von Stauffenberg, der in der Schlussszene hingerichtet wird, die bedenklich an das Ende von Hanns Johsts Schlageter-Drama von 1933 erinnert, bis zum Tod Georgianer. Stirbt Johsts Protagonist, der von den Nationalsozialisten als Held verehrte Schlageter, mit dem Aufruf: „Deutschland!!! Erwache! Erflamme!!!“, so geht Claus von Stauffenberg mit den von George inspirierten Worten „Es lebe das Geheime Deutschland!“ in den Tod.103 Auch Prolog und Epilog perspektivieren die Handlung auf die Figur Georges. Der Prolog konfrontiert zwar den toten Geisteshelden George mit seinem Verehrer – „es könnte Claus von Stauffenberg sein“ –, inszeniert aber zugleich die überzeitliche Präsenz Georges und Stauffenbergs: Die leere dunkle Bühne. Im Hintergrund in der Mitte auf einem Katafalk aufgebahrt Georges Leichnam, mumiengleich in ein Tuch gehüllt. An seinen Schläfen sieht man im schwachen Licht die Enden zweier Lorbeerzweige emporsteigen. Im Vordergrund, den Rücken dem Publikum zugewandt, ein junger Mann, es könnte Claus von Stauffenberg sein, nackt, in kniender Haltung, das eine Bein angewinkelt, den Kopf leicht gesenkt, als würde er beten. Nach einigen Sekunden des Schweigens erklingen von links und rechts im Wechsel Stimmen. S timme 1: Mein leidend leben neigt dem schlummer zu Doch gütig lohnt der Himmlischen verheissung. S timme 2: Ich werde heldengrab · ich werde scholle Der heilige sprossen zur vollendung nahn . . S timme 1: Mit diesem kommt das zweite alter · liebe Gebar die welt · liebe gebiert sie neu. S timme 2: Wunder undeutbar für heut Geschick wird des kommenden tages. S timme 1: Mein traum ward fleisch und sandte in den raum S timme 2: Kommt wort vor tat kommt tat vor wort? S timme 1: Hemmt uns! untilgbar ist das wort das blüht. S timme 2: Du hast des lebens götterteil genossen Von glück und rausch und schwärmen wunderbar . . S timme 1: Du darfst nicht murren · ward dir nun beschlossen Des wahren lebens ander teil: gefahr.104
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Der Prolog zeigt paradigmatisch die Technik und Wirkungsabsicht des Stückes. Sämtliche Verse der beiden Stimmen sind Zitate aus Georges Stern des 102 Jacob: Stauffenberg, S. 153 103 Jacob: Stauffenberg, S. 184. Ebd., S. 185, streiten dann zwei Wachen über den Wortlaut der zuvor gehörten Stimme: „W ache 2: Das geheime? Nee. Was soll das sein? Das macht ja keinen Sinn. Nee nee. Das war das heilge … oder das geheiligte … Ist ja egal.“ – In Bryan Singers Film Valkyrie (Operation Walküre – Das Stauffenberg Attentat) von 2009 sind Stauffenbergs letzte Worte: „Es lebe das heilige Deutschland!“ 104 Jacob: Stauffenberg, Prolog, S. 12.
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9. George in der Gegenwart
Bundes und dem Neuen Reich,105 die hier wie auch sonst in dem Stück in Form einer Montage kombiniert werden. Durch die Verteilung auf zwei Stimmen wirkt es so, als lasse sich die „Stimme 1“ mehr dem toten Meister zuordnen, während die „Stimme 2“, vor allem gegen Ende, seinem Jünger Stauffenberg gilt, aber stellvertretend auch allen Nachgeborenen, die Georges Dichtung beherzigen. In dem Cento-Prolog einen Appell zum politischen Widerstand zu sehen, rechtfertigt sowohl das Stück selbst als auch der Epilog. Die Szenerie des Epilogs ist ein verwüsteter „Friedhofspark“ („Überall liegen gestürzte Grabstelen und Büsten herum. Es sind die Skulpturen und Marmorköpfe des George-Kreises“),106 den eine Mutter mit einem kleinen Kind besucht („Es könnte Nina von Stauffenberg mit ihrem jüngsten Sohn sein“).107 Während das Kind die Köpfe betrachtet, spricht eine Stimme zwei Verse aus dem Proömialgedichts des Jahrs der Seele: „Und was auch übrig blieb vom grünen leben / Verwinde leicht im herbstlichen gesicht“. Als das verängstigte Kind mit der Mutter weggeht, spricht die Stimme das Incipit: „Komm in den totgesagten park und schau“. Damit endet das Stück. Mit Georges Eingangsvers als Schlussvers des Dramas wird der Leser aufgefordert, sich die im kollektiven Gedächtnis der Deutschen schlecht verwahrte Tradition des George-Kreises selbst anzueignen. Dass dieser Appell auch eine implizite Kritik an der offiziellen Erinnerungspolitik darstellt, in der das ‚Geheime Deutschland‘ keine Rolle mehr spielt, ist klar, umso politisch brisanter ist die Aufforderung zum „Widerstand“, wie sie das Stück im Untertitel verheißt. Ein ähnlich politisches Verständnis Georges, aber aus kritischer Perspektive, vermittelt der Schlüsselroman Zornfried (2019) von Jörg-Uwe Albig (*1960).108 Der Ich-Erzähler Jan Brock gerät in den Sog des national-
105 Jacob: Stauffenberg, Prolog, S. 12. Hier die Nachweise der Zitate: – V. 1–6 stammen aus Hyperion III (SW IX, 17, V. 8–9 und 11–14), – V. 7–8 sind die Schlussverse aus dem Geheimen Deutschland (SW IX, 45–49, hier 49, V. 101 f.), – V. 9–10 zitieren zwei Verse aus „Kommt wort vor tat kommt tat vor wort?“ (SW VIII, 26, V. 7 und 1), – V. 11 zitiert einen Vers aus „So will der fug: von aussen kommt kein feind . .“ (SW VIII, 94, V. 8), – V. 12–15 zitiert den Vierzeiler A: III (SW IX, 75, V. 1–4). 106 Jacob: Stauffenberg, Epilog, S. 186 f., hier 186. Diese Zusammenstellung der Köpfe erinnert an ihre Aufbewahrung im DLA Marbach. 107 Jacob: Stauffenberg, Epilog, S. 186. 108 Jörg-Uwe Albig: Zornfried. Roman, Stuttgart 2019. Als Schlüsselroman der ‚Neuen Rechten‘ liest Albigs Zornfried Johannes Franzen: Journalisten, die auf Ziegen starren. In: Zeit online, 2.4.2019: https://www.zeit.de/kultur/literatur/2019-04/zornfried-roman-joerguwe-albig (15.4.2021).
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konservativen Dichters Storm Linné. Nach Lektüre von dessen Gedichtband Eiserne Ernte macht er sich auf, das dort besungene im tiefen Spessart gelegene Rittergut ‚Zornfried‘ zu besuchen. Dort lebt Linné mit anderen Vordenkern der sogenannten Neuen Rechten. Wie sehr die kritische Distanz des beobachtenden Reporters in Faszination umschlägt, dokumentiert die Reportagereise, an deren Ende der Ich-Erzähler dem auf einem Katafalk im Wald aufgebahrten Leichnam Linnés ein Notizbuch entwendet, das er mühsam entziffert. Erinnern die weihevollen Tafelrunden und die charismatische Bindung der Verehrergemeinde Linnés an George, wird diese Referenz vor allem durch die zahlreichen eingestreuten Zitate und die angeblich von Storm Linné stammenden Verse beglaubigt, die bis auf den Anfang jeweils die Kapitel einleiten. Ohne wirkliche Parodien zu sein, imitieren die Gedichte in Kleinschreibung, archaisierender und erlesener Lexik („norne“ und „drud“ in Höllenheil, der „lang gewusste staat“ in Lichtmahd),109 aber auch stilistisch und metrisch das Werk Georges. Freilich verkürzt Albig in seinen Pastiches Georges Werk vorrangig auf das germanisierende Blutund-Boden-Vokabular und stilisiert ihn, solchermaßen verkürzt, zu einem Vorläufer der Neuen Rechten. Da diese Verkürzung aber auch der Ich-Perspektive des Erzählers entspricht, ist der Roman auch eine Satire auf den Enthüllungsjournalismus. Dass Albigs ironische Darstellung der neuen nationalkonservativen Rückbesinnung auf George durchaus einen wahren Kern trifft, zeigen politische Essays der jüngsten Vergangenheit. So hat Botho Strauß in seiner Kritik an der Massendemokratie deren Verluste beklagt und „bei allem Fehl und Tadel im Einzelfall“ daran erinnert: „Es gibt ein Siebengestirn der geistigen Rechten – Jünger, Benn, Schmitt, Borchardt, Heidegger, George, Hofmannsthal –, das über der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts aufging und überlegen strahlte, bis heute nicht nachlassend, entgegen dem Klischee, der Geist und das Gute stünden notwendig links“.110
9.6. Vielstimmiges Gedenken Jubiläen und sonstige Ereignisse bis hin zum Missbrauch-Verdacht förderten Georges Präsenz im kommunikativen Gedächtnis. Nach Erscheinen der George-Biographie von Thomas Karlauf lud die Frankfurter Allgemeine Zeitung unter dem Motto „Stefan George ist zurück“ den Biographen Karlauf sowie die Lyriker Michael Krüger (*1943), Durs Grünbein (*1962) und 109 Albig: Zornfried, S. 93 und S. 103. 110 Botho Strauß: Sprengsel. In: B. S.: Die Expedition zu den Wächtern und Sprengmeistern. Kritische Prosa, Hamburg 2020, S. 279–314, hier 310.
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9. George in der Gegenwart
Michael Lentz dazu ein, sich einmal auf das Werk zu besinnen, ihr „liebste[s] George-Gedicht“ zu nennen und die Wahl zu erläutern.111 Michael Krüger wählte den Freund der Fluren, das ihm als einfaches Naturgedicht besonders zusagt, Durs Grünbein fasziniert die Gegenwartskritik in dem Zeitgedicht Porta Nigra, und Michael Lentz bewundert das formal virtuose „Sprich nicht immer“, dessen rätselhaftes Schweigegebot „George zum Meister des Latenten“ mache; für das komplizierte Lied „Horch was die dumpfe erde spricht“ entschied sich der Biograph Karlauf, da es ihm gerade wegen der Deutungsoffenheit gefällt. Anlässlich des 150. Geburtstags kam George wieder in die Feuilletons der wichtigsten Tageszeitungen. Der Deutschlandfunk ließ gar in einer Sondersendung am 8. Juli 2018 drei Gegenwartslyriker, die sich besonders gut auf George verstehen, zu Wort kommen. Als Autor des Beitrags mit dem Titel „‚Der dichter ist wie jener fürst der wolke‘ – Lyriker über Stefan George“ firmiert Norbert Hummelt, der darin – unterbrochen von Gedichtrezitationen und ergänzenden Passagen zu Georges Leben, Werk und Wirkung – Jan Wagner und Uwe Kolbe über ihren persönlichen Zugang zu George und dessen Einfluss auf ihr Dichten sprechen lässt.112 Zum 150. Geburtstag widmete am 12. Juli 2018 die Frankfurter Allgemeine Zeitung Stefan George eine ganze Doppelseite im Feuilleton.113 Abgedruckt sind die Stellungnahmen von elf zeitgenössischen Lyrikerinnen und Lyrikern, namentlich Lutz Seiler, Marion Poschmann, Ann Cotten, Marcel Beyer, Dirk von Petersdorff, Friederike Mayröcker, Michael Lentz, Durs Grünbein, Silke Scheuermann, Wolf Wondratschek und Jan Wagner. Die Positionen reichen von Ablehnung über Gleichgültigkeit – Wolf Wondratschek gibt an, nie ein Buch von George in der Hand gehabt zu haben – bis zu begeisterter Wertschätzung, wobei die FAZ die Anfrage dezidiert auf das lyrische Werk Georges beschränkt hatte, um die Debatte um Missbrauchsfälle im George-Kreis und unter seinen Nachfolgern ausklammern zu können. Während Silke Scheuermann vernichtend von einem „komplett überschätzte[n] Werk“ spricht, das zeige, wie „geschmäcklerisch dumm“ der Kanon manchmal sei, bleibt das Gros der Stimmen ambivalent. Marion Poschmann schätzt zwar die Parkgedichte, empfindet Georges Lyrik ansonsten aber als „schal und aufgesetzt“. Durs Grünbein erklärt George 111 Ein Sound aus Zorn und Zähneknirschen [Die Lieblingsgedichte von Michael Krüger, Thomas Karlauf, Durs Grünbein und Michael Lentz]. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.12.2007, Nr. 306, S. 32. 112 Norbert Hummelt: „Der dichter ist wie jener fürst der wolke“ – Lyriker über Stefan George. Radiobeitrag vom 8. Juli 2018, Deutschlandfunk Kultur: https://www.deutschlandfunk kultur.de/lyriker-ueber-stefan-george-der-dichter-ist-wie-jener.974.de.html?dram:article_ id=422360 (15.4.2021). 113 Stefan George. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. Juli 2018, Nr. 159, S. 12 f.
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zum „bedeutendste[n] Dichter des Frühmittelalters im zwanzigsten Jahrhundert“ und auch Marcel Beyer attestiert Georges Dichtung eine unzeitgemäße Überholtheit, die er aber in Georges Gedicht Der Krieg, dem er eine Sonderstellung beimisst, aufgehoben sieht.114 Neben den eingeschränkten, punktuellen Wertschätzungen von Poschmann, Cotten, Beyer oder Wagner bekennen sich Lutz Seiler, Michael Lentz und Dirk von Petersdorff klar zur Dichtung Georges. „George lieben? Aber ja“, so Lentz in seiner Stellungnahme, „Er [scil. George] ist durch und durch Gedicht, formstreng und wortbewusst, er beherrscht das genus grande wie den sachlichen Ton, und beides unverzichtbar prägnant“. Friederike Mayröcker reagierte auf die Anfrage künstlerisch mit einer elliptisch unausformulierten Aneinanderreihung von losen Assoziationen und Zitaten zu Stefan George. Die postmoderne Rezeption Georges nach 1970 ist von einem zunehmend unbelasteten Verhältnis zu dem Dichter und seinem Werk geprägt. Neben dem Vorläufer homoerotischer Dichtung schätzt man Stefan George gerade wegen des hohen Stils und wegen seines kompromisslosen Ringens um das Wort als antibürgerlichen Künstler. Die intertextuellen Bezugnahmen auf George und sein Werk in der Lyrik der Gegenwart sind erstaunlich vielfältig. Neben retrospektiven Hommagen wird seine Dichtung in intertextuellen Gebilden und postmodernen Collagen durch innovative Techniken der Werkbearbeitung unvoreingenommen neu ‚verwertet‘. Seit der Jahrtausendwende ist mit der zunehmenden Relativierung der Dichterperson eine stärkere Konzentration auf Georges Dichtung zu beobachten. Sie ermöglicht es, mehr als in der früheren Rezeption, Georges poetische Modernität wiederzuentdecken, sie in ästhetischer Dissonanz zu reflektieren und in das eigene Dichten zu integrieren. Doch finden sich in jüngster Zeit neben der moralisierenden Reserve gegenüber George, dem Missbrauch vorgeworfen wird, auch rechtskonservative Stimmen, die Georges Erbe für sich reklamieren. Man darf gespannt darauf sein, wie sich angesichts solcher Debatten um die Person des Dichters sich dessen poetische Rezeption weiter entwickeln wird.
114 So meint Marcel Beyer: „An manchen Stellen im schwerfälligen Fluß der Seher-Rede nämlich scheint es, als nutze George die strenge, dem neuzehnten Jahrhundert verhaftete Form und den nahezu unerträglich hohen Ton nur noch in zitathafter Weise. Als habe er, vor seinen Lesern, als habe vielleicht sogar das Gedicht vor seinem Autor etwas erfaßt: ‚Der alte Gott der schlachten ist nicht mehr‘ – damit ist auch die Zeit des Dichter-Sehers abgelaufen“ (ebd., S. 12).
10. Zusammenfassung und Ausblick Unser wirkungsgeschichtlicher Längsschnitt hat gezeigt: Stefan George polarisierte seine Zeitgenossen und die Nachgeborenen. Er hatte ebenso viele glühende Anhänger wie scharfe Kritiker. Den frühen Ruhm, der bereits Anfang der 1890er Jahre einsetzte, begünstigte paradoxerweise Georges ausgeprägte Werkherrschaft, welche von der eigenen Typographie über die äußerliche Einheitlichkeit der Kreispublikationen bis hin zur elitären Verweigerung des Buchmarkts reichte. Sie ging mit einer planvollen Autorschaftsinszenierung in Wort und Bild einher, die Verehrung einforderte oder Ablehnung provozierte. Diese Selbstauratisierung hat ihr Pendant in zahlreichen Widmungs- und Dichtergedichten, die George mit den Mitteln und Techniken seiner Dichtung ehren und ihn bis zur Paraphrase nachahmen. Solche imitationes stellen in vielen Fällen aber oft nur die erste Phase einer Bezugnahme dar. Häufig wird sie durch konkurrentielle Referenzen abgelöst, welche thematische Modifikationen sowie formale Gegenentwürfe erproben, um sich von dem übermächtigen Vorbild zu lösen. Parodien fungieren in solchen Prozessen einer ästhetischen Dissonanz und Selbstfindung als Mittel zum Zweck der Ablösung, indem sie einerseits George als ästhetisches Muster detrahieren und in Frage stellen, andererseits bereits neue, eigene Ausdrucksformen in die Parodie integrieren. Die ambivalente Haltung kann auch in eine Ablehnung bis hin zur Annihilation übergehen. Die ‚negative‘ George-Rezeption richtet sich sowohl gegen die elitäre Selbststilisierung des Dichters oder dessen weltanschaulichen Konservatismus als auch gegen den weihevollen Stil seiner Dichtung und gegen den semantisch uneindeutigen Symbolismus. Von seinen engsten Weggefährten und den Mitgliedern seines Kreises wurde Stefan George zeitlebens fast kultisch verehrt. In dieser Studie steht die kreisexterne Rezeption von Autor und Werk seit den 1890er Jahren bis in die 2020er im Zentrum. Georges Wirkung auf die deutsche Literatur des langen 20. Jahrhunderts stellt keinen linearen Prozess dar, sondern ein dauerhaftes Nebeneinander von Verehrung, parodistischer Entweihung, Abwehr und Ablehnung. Ungeachtet der wirkungsgeschichtlichen Ambivalenz gibt es aber spezifische Konjunkturen, die oft mit je spezifischen Rezeptionsmilieus einhergehen. Sind es in Georges früher Schaffensphase vor allem die literarischen Avantgarden, das Junge Wien oder die Berliner Frühexpressionisten, so findet das Alterswerk eher bei arrivierten konservativen Schrifthttps://doi.org/10.1515/9783110779370-010
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stellern Anklang. Auch ist nicht zu verkennen, dass aus genderspezifischer Perspektive George deutlich mehr Resonanz bei männlichen Schriftstellern als bei weiblichen Autorinnen fand, aber auch noch findet: die männliche Dominanz in der Rezeption gilt sogar noch für die Gegenwartsliteratur. Mit dem Tode des Dichters im Jahre 1933 mehrten sich die ideologischen Usurpationen und Nachfolgeansprüche, sowie stärker selektive Bezugnahmen auf das Werk. Obschon George auch von exilierten und jüdischen Schriftellern als Vorbild reklamiert wurde, blieb im kollektiven Gedächtnis doch seine Vereinnahmung durch die NS-Kulturpolitik so sehr haften, dass der weltanschauliche Ruch sein ästhetisches Prestige im Nachkriegsdeutschland stark beeinträchtigte. Erst nach 1970 mehrten sich im Zuge der sexuellen Revolution und provokativer Autorschaftsinszenierungen die öffentlichen Bekenntnisse zu George ebenso wie neuerliche parodistische Zugriffe und sprachexperimentelle Aufwertungen. Im wiedervereinigten Deutschland entdeckten viele junge, vor allem in der ehemaligen DDR akkulturierte Autoren George als Vorbild und erkannten dessen Sprachkunst und absoluter Dichtung eine überzeitliche Kraft zu. Kaum ein anderer Dichter der Klassischen Moderne dürfte die deutschsprachige Literatur des 20. Jahrhunderts so stark geprägt haben wie Stefan George. Zu den Erträgen der George-Rezeption gehört daher auch eine differenzierte Periodisierung der deutschen Literatur vom ausgehenden 19. bis zum beginnenden 21. Jahrhundert. Die Art und Weise, in der Schriftstellerinnen und Schriftsteller des 20. Jahrhunderts sich Werk und Person angeeignet oder sich gegen den Einfluss gewehrt haben, erhellt neben der jeweiligen ästhetischen Orientierung und spezifischen Autorschaftsinszenierung – über die jeweilige Generationen- und Gruppenzugehörigkeit – ihre Selbst- und Fremdpositionierung im Literarischen Feld. Das jeweilige Verhältnis zu George fungierte in vielen Phasen der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts als individuelles oder gruppenspezifisches Distinktionsmerkmal, um sich von anderen Konkurrenten und Repräsentanten der ästhetischen Elite abzusetzen; sentenziös verkürzt: „Sage mir, wie Du’s mit George hältst, und ich sage Dir, wer Du bist!“ Jahrhundertwende In der ersten Phase, welche mit der Neuformierung des literarischen Feldes in Deutschland um die Jahrhundertwende einherging, reagierten viele junge Dichter im In- und Ausland auf den neuen Ton und formstrengen Ästhetizismus Stefan Georges. Er übersetzte die führenden europäischen Symbolisten ins Deutsche, aber auch seine Gedichte wurden in die europäischen Literatursprachen übertragen. Neben der Vernetzung mit der internationalen Avantgarde und der bislang unterschätzten Rückwirkung auf den europäischen Symbolismus baute George seine Stellung im literarischen Leben
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Deutschlands sukzessive aus. Spätestens mit den programmatischen Baudelaire-Umdichtungen (1891 [öffentl. Ausgabe 1901]), dem Algabal (1892) und dem Jahr der Seele (1897) sowie den Blättern für die Kunst, von denen zwischen 1892 und 1904 sieben Folgen erschienen, war Stefan George der wichtigste Repräsentant des antinaturalistischen Ästhetizismus in Deutschland. Seine innovative Lyrik, die mit der stark von Sangbarkeit und Vergemeinschaftungsidee geprägten ‚vergeibelten‘ deutschen Dichtungssprache brach, faszinierte vor allem die junge Generation. Die poetische George-Rezeption der Jahrhundertwende bezeugt einerseits das frühe internationale Renommee des Dichters, zum anderen die ausgeprägte Rivalität der konkurrierenden Symbolisten im deutschen Sprachraum, Hofmannsthal und Rilke: Beide suchen in einer Mischung von Anlehnung und Abkehr ihren Platz im literarischen Feld gegen Stefan George zu behaupten. Wie früh George bereits als Repräsentant eines eigenen Stils angesehen wurde, zeigt die Vielzahl von Parodien um 1900, die allerdings noch vorrangig auf das äußere Erscheinungsbild (Kleinschreibung, Interpunktion) seiner Dichtung abheben. Expressionismus, Neuklassik und Neue Sachlichkeit Der Siebente Ring (1907) mit der Stiftung des problematischen MaximinKults, der auch für ästhetisch affine Weggefährten eine Zumutung darstellte, stärkte einerseits die Kohäsion der Blätter-Gruppe um Stefan George nach innen und grenzte sie andererseits noch stärker nach außen im literarischen Feld ab. Mit dem Wandel des Kreises änderte sich auch die Rezeption. Die Modifikation des George-Kreises zu einem asymmetrischen, esoterischen Zirkel mit einem Meister-Jünger-Gefälle – auch von Repräsentanten der Antimoderne wie Rudolf Alexander Schröder mit Befremden registriert – sorgte für eine starke Diversifikation der Wirkung: Sie reicht von affirmativer, epigonaler Rezeption und Parodie bis hin zu vehementer Annihilation. Die meisten Schriftsteller, die Stefan George weiterhin ungebrochen huldigten, gehörten mehr oder weniger seinem Kreis an oder strebten ihm zu. Doch trotz solch vermehrter Irritationen und Ablehnungen, welche Georges zunehmend kündende und imperativische Dichtung, wie im Stern des Bundes (1914), bei vormaligen Anhängern auslöste, dauerte die ästhetische Orientierung der avantgardistischen wie konservativen Moderne an George bis zum Ersten Weltkrieg fort. So blieb lange unterschätzt, welche entscheidende Bedeutung George als Integrationsfigur in den Anfängen des Berliner Frühexpressionismus zukam. Obgleich die Wertschätzung unerwidert blieb, war er für die literarische Avantgarde um 1910 der unbestrittene Maßstab in literarästhetischen Geschmacksfragen. Allerdings war die Verehrung, welche die Expressionisten George entgegenbrachten, durchaus ambivalent und wurde auch immer wieder metapoetisch reflektiert. Die
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George-Referenzen in der avantgardistischen poetologischen Lyrik zeugen von Bewunderung wie Abwehr, wie exemplarisch der George-„Spruch“ Alexander Bessmertnys bezeugt: Stefan George, Deuter meiner Blösse, Der Gipfel wies und talwärts mich verstiess. Ich steige schwer, geworfen durch die Stösse Des Sturmes, den dein Geisterodem bliess.1
Die reine Form absoluter Dichtung, der erlesene Stil und das hohe Pathos, wie sie Stefan Georges Werk charakterisieren, gerieten durch den Ersten Weltkrieg in eine Legitimationskrise. Georges antimilitaristisches Gedicht Der Krieg (1917) wirkte dabei wie ein kritisches Fanal, das viele Repräsentanten der Kriegsgeneration zur Absage veranlasste. Allerdings beteiligten sich keineswegs alle Schriftsteller an der Politisierung und Demokratisierung der Kunst in der Weimarer Republik, sondern suchten gerade am Ausgang des expressionistischen Jahrzehnts in einer retrospektiven Traditionsstiftung nach ästhetischem Halt und beriefen sich auf das übernationale Ethos des George-Kreises. Umgekehrt zeigen die Prozesse einer ästhetischen Dissonanz zu George, die mit einer kritischen Auseinandersetzung mit seinem Werk einhergehen, wie er für viele Repräsentanten der expressionistischen Avantgarde und neusachlichen Richtung, von Ernst Stadler über Georg Heym bis Bertolt Brecht, zum maßgeblichen Katalysator einer eigenständigen Entwicklung und poetischen Selbstfindung wurde. Nationalsozialismus, Innere Emigration, Exilliteratur Neben der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland markieren Stefan Georges 65. Geburtstag am 12. Juli 1933 und sein Tod am 4. Dezember 1933 einen Einschnitt in der poetischen Wirkungsgeschichte. Zwar wurde George von Nationalsozialisten und Mitgliedern des Kreises nachträglich zum „Vorläufer“ und „Ahnherrn“ des ‚Dritten Reichs‘ stilisiert, aber auch Regime-Gegner und Exilierte sahen im „Lyriker des Siebenten Ringes [den] des Dritten Reiches“.2 So nimmt Franz Leschnitzer den Tod Georges zum Anlass, aus kommunistischer Sicht dessen Werk als „Hauptquelle der faschistischen Ideologie […] und […] ein Hauptobjekt der marxistischen Literaturkritik“ zu erweisen und konstruiert eine Traditionslinie von Stefan George über Gundolf zu Goebbels.3 1 2 3
Alexander Bessmertny: Stefan George. In: Die Aktion 3 (1913), Sp. 40. Vgl. Karl Kraus: Dritte Walpurgisnacht. In: K. K.: Schriften, Bd. 12. Hg. von Christian Wagenknecht, Frankfurt/M. 1989, S. 79. Vgl. Franz Leschnitzer: George – Gundolf – Goebbels. In: Internationale Literatur. Zentralorgan der Internationalen Vereinigung Revolutionärer Schriftsteller 4 (1934), S. 115–131, hier 131.
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Solchen Deutungen leistete George insofern selbst Vorschub, als er zu der politischen Veränderung in Deutschland schwieg. Das elitäre Pathos, der heroische Gestus und die kultisch beschworene Gemeinschaft sind die drei wesentlichen Elemente, die in der Lyrik des ‚Dritten Reichs‘ als sein ‚Erbe‘ gelten können. Allerdings ist dieses heikle wirkungsgeschichtliche Kapitel noch nicht erschöpfend erforscht, und mancher angebliche Einfluss Georges geht wohl nicht, jedenfalls nicht direkt, auf den Dichter selbst zurück, sondern ist über die Jugendbewegung und die Bündische Jugend vermittelt. Immerhin stimmt die vergröbernde Hitlerjugend- und NS-Lyrik mit Georges Spätwerk überein im Führergedanken, der Überhöhung des Männerbundes zur Blutsgemeinschaft sowie der Stilisierung des Dichters zum Propheten. Die monumentale Wertschätzung, die Stefan George in den 1930er Jahren als geschätztem Dichter des Reichs zuteilwurde, ist singulär. Kein anderer moderner deutscher Lyriker stand zu Beginn des NS-Regimes gleichermaßen hoch im Kurs bei linientreuen Dichtern, Repräsentanten der nichtnationalsozialistischen Literatur wie Exilschriftstellern. Eine Gedenkrede Gottfried Benns auf den Tod Stefan Georges im Jahr 1933 markiert den Höhe- wie Wendepunkt der Verehrung im ‚Dritten Reich‘. Darin bestimmt Benn als überzeitliche Konstante von Georges Werk das „Verlangen nach Form“ und setzt diesen Formwillen in einem berüchtigten Parallelismus dem „Kolonnenschritt der braunen Bataillone als ein Kommando“ gleich.4 Diese Sicht bestätigt die kritische Ablehnung vieler ausgebürgerter und exilierter Schriftsteller, die nach Leschnitzers marxistischer Lesart in George einen Wegbereiter des NS-Regimes sahen. Unter den exilierten Schriftstellern und Regime-Gegnern finden sich allerdings auch einige Stimmen, nicht zuletzt deutsche Juden, die schon vor 1933 mit George sympathisierten und sich in ihrer ästhetischen Orientierung nicht durch das NS-Regime irritieren ließen. Dazu zählen in erster Linie die ehemaligen Weggefährten wie Karl Wolfskehl oder Ernst Morwitz, die nach dem Tod des Dichters ihn nicht nur von jeglicher Verantwortung für den Nationalsozialismus freisprachen, sondern ihn sogar zum Kronzeugen ihrer Kritik am barbarischen Regime machten. Doch auch zahlreiche nach Palästina emigrierte Juden wie Schalom Ben-Chorin oder Werner Kraft ließen sich in ihrer Wertschätzung Georges nicht beirren.
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Gottfried Benn: Rede auf Stefan George. In: G. B.: Gesammelte Werke, Bd. 1: Essays, Reden, Vorträge. Hg. von Dieter Wellershoff, Wiesbaden 1965, S. 464–477
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Nachkriegsliteratur (1945–1970) Den angeblichen ‚Neubeginn‘ der deutschen Lyrik nach 1945 stellt die neuere Forschung mehr und mehr in Frage und rückt stattdessen die Kontinuität und Anknüpfung an die Klassische Moderne ins Licht. Allerdings berufen sich die metapoetischen Texte und ästhetischen Positionen in der frühen Nachkriegszeit neben der internationalen Moderne (T. S. Eliot) immer wieder auf Rilke, kaum aber auf Stefan George. Öffentliche Bekenntnisse und poetische Hommagen blieben die Ausnahme. George war politisch zu umstritten, sein Elitegedanken vertrug sich kaum mit der neuen demokratischen Verfassung, und die starke Stilisierung, die sein Werk prägt, war unzeitgemäß. So hielten anfangs nur Weggefährten und formkonservative Repräsentanten der älteren Generation an George fest. Ihre antiquarischen Bezugnahmen, implizite Verteidigungen gegen den Faschismus-Vorwurf, fanden aber wenig Gehör. Dass es bei einem Nebeneinander von kollektivem Schweigen und vereinzelten lyrischen Rehabilitationen blieb und kein Austausch zustande kam, lag somit auch an den Fürsprechern, die sich im literarischen Feld der Bundesrepublik nicht recht durchsetzen konnten. So blieben die lyrischen George-Hommagen bis in die 1960er Jahre zumeist retrospektiv, gegenwartskritisch und formal konventionell. Wie inopportun ein ästhetisches Bekenntnis zu George in der jungen Bundesrepublik und erst recht in der DDR war, wo George unter das Verdikt eines nationalkonservativen Autors präfaschistischer Couleur fiel, zeigen etliche verdeckte und halbherzige Bezugnahmen auf seine Dichtung. Dementsprechend war eine öffentliche produktive Aneignung zunächst allenfalls poetischen Einzelgängern vorbehalten. Erst allmählich wurden George und sein Werk vom Verdacht nationalsozialistischer Affinität befreit. Zur allmählichen Rehabilitation Stefan Georges im literarischen Feld des politisch geteilten Deutschland trugen in den 1950er Jahren wesentlich kreisexterne Würdigungen bei, unter denen vor allem die fast bekenntnishaften Lobreden Theodor W. Adornos und Kasimir Edschmids großen Anteil hatten. So rühmte Adorno Georges „Pathos der Distanz“ und rief ihn in Radiovorträgen als bedeutende lyrische Stimme wieder ins kollektive Gedächtnis zurück. Doch trotz solch prominenter und weniger prominenter Bekenntnisse nach 1945 hielt sich die produktive Rezeption bis in die 1980er Jahre zunächst in engen Grenzen. Zum einen standen Stefan George und sein Kreis immer noch unter präfaschistischem Generalverdacht; zum andern war schon in den 1960er Jahren der auratisierte ‚Dichter‘-Begriff in Verruf geraten, und „Lyriker oder Erzähler“ sahen sich, wie Günter Grass in einer Rede anlässlich des Princeton-Treffens der Gruppe 47 im Jahre 1966 darlegte, nur mehr als „Schriftsteller“. Die allgemeine Distanz zu einem auratisierten Dichter-Konzept beglaubigt Grass mit der rhetorischen Frage:
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„Wer will schon ein Stefan George sein und mit glutäugigen Jüngern umherlaufen?“5 George in der Gegenwartsdichtung (ab 1970) Nach 1970 nahm sich der schöpferische Umgang mit der Tradition zunehmend größere Freiheiten; zugleich setzte eine sukzessive Entideologisierung Georges ein. Er avancierte in der Soziologie zum beliebten Untersuchungsobjekt einer charismatischen Persönlichkeit, sein männerbündischer Kreis zum Musterbeispiel eines Gruppencharismas. Die konkrete Poesie bear beitete Georges Werk in experimentellen Montagen, und auch die Kulturpolitik der späten DDR tolerierte – freilich widerstrebend – nun das lange unterdrückte Werk, das von den ‚Kulturschaffenden‘ neu entdeckt wurde. Im wiedervereinigten Deutschland gab es um die Jahrtausendwende einen regelrechten George-Kult. Viele Lyrikerinnen und Lyriker, die noch in der ehemaligen DDR akkulturiert waren, beriefen sich auf George und orientierten sich an ihm in schöpferischer Kritik und überzeitlichen Dialogen. Die ‚Enkel‘ und ‚Urenkel‘, die im 21. Jahrhundert längst die Generation der ‚Söhne‘ abgelöst hatten, erachteten eine ästhetische Orientierung an George politisch als so unverfänglich, dass dieser schließlich – in charakteristischen Versatzstücken und Zitaten – zu einem zentralen Muster ihrer intertextuellen Montagen avancierte. Bei einigen Autorinnen und Autoren der Postmoderne ist George geradezu eine Werkkonstante: So repräsentiert er für Thomas Böhme, Thomas Kling und Norbert Hummelt, aber auch für Lutz Seiler, Matthias Dix, Nadja Küchenmeister oder Christian Filips einen wichtigen literarischen Vorläufer, an den anzuknüpfen, sei es auch abwehrend oder negierend, zur ästhetischen Selbstfindung beiträgt. Erst in den letzten fünf Jahren ist im Zuge einer wachsenden Moralisierung und neuer identitätspolitischer Tendenzen George wieder in die öffentliche Diskussion geraten. So fungiert er einerseits als Held und politischer Ahnherr in Lars Jacobs Drama Stauffenberg. Eine Ästhetik des Widerstands (2014) und illustriert andererseits in André Kubiczeks Roman Komm in den totgesagten Park und schau (2018) die Fortdauer faschistischer und kommunistischer Bestrebungen in der scheinbar friedlichen Bundesrepublik Deutschland. Die starke Moralisierung und identitätspolitische Bewertung vergangener Kunst und Literatur nach aktuellen Maßstäben, die mit großer ikonoklastischer Energie einhergeht, tangierte auch George. So wurde der Festakt, den die Stadt Bingen zum 150. Geburtstag des Dichters geplant hatte, wegen des Missbrauch-Vorwurfs abgesagt, obwohl dieser nicht gegen George selbst er5
Günter Grass: Vom mangelnden Selbstvertrauen der schreibenden Hofnarren unter der Berücksichtigung nicht vorhandener Höfe. In: Über das Selbstverständliche. Reden, Aufsätze, Offene Briefe, Kommentare, Neuwied und Berlin 1969, S. 105–112, hier 107.
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10. Zusammenfassung und Ausblick
hoben wurde, sondern dessen postumer Verehrung im Castrum Peregrini oder dem als „pädagogischer Eros“ verbrämten „Missbrauch im Namen Georges“ im Umfeld der Odenwaldschule galt.6 Wie sich die Wirkung Georges auf die deutsche Literatur weiterentwickeln wird, lässt sich nur schwer vorhersagen. Das polarisierende Potential von Person und Werk wird aber wohl bleiben. Dafür sprechen zwei aktuelle Beispiele. So bekundet der in Shkodra gebürtige Ledio Albani, dessen Albanisches Liederbuch mit einfachen, naturnahen und volksliedhaften Gedichten an die mediävalisierenden Sagen und Sänge erinnert, durchaus seine Nähe zu Stefan George.7 Mehr noch: Das von Melchior Lechter für die Blätter für die Kunst entworfene Emblem dient als Signet von Albanis Wiener Verlag, dessen Namen „Castrum“ auf das „Castrum Peregrini“ verweist. Allerdings soll diese offenkundige Verbindungslinie zu George – Albani zufolge – „eher symbolischer, vielleicht auch genealogischer Natur bleiben“.8 Doch bekräftigen seine jüngst erschienenen Aphorismen Haltungen (2021), die „vor rund zehn Jahren […] in einer Zeit intensiver Beschäftigung mit George“ entstanden sind, eine ethische und ästhetische Affinität. Daran erinnert äußerlich auch die den Band beschließende Halbprofil-Photographie des Verfassers, der physiognomisch und in seinem Habitus, dem in sich gekehrten Blick und dem zurückgekämmten Haupthaar, augenfällig Georges Selbstinszenierung nachahmt. Albanis Aphorismen bekunden weltanschaulich in ihrem ausgeprägten Hang zum Elitären, ihrer Ablehnung jeglichen massendemokratischen Konsenses und dem Bekenntnis zum Unzeitgemäßen einen ausgeprägten Konservativismus, auch stilistisch erinnern sie in ihrer Assertorik, überraschenden Knappheit und Antimoderne sowohl an Friedrich Nietzsche wie an die Einleitungen und Merksprüche der Blätter für die Kunst.9 6 7 8 9
Vgl. https://www.allgemeine-zeitung.de/kultur/kulturnachrichten/zu-stefan-georges-150gibt-es-in-bingen-keinen-festakt-sondern-eine-diskussion-um-sexuellen-missbrauch-undforschungsverantwortung_18919556 (15.4.2021). Vgl. Ledio Albani: Aus dem Zyklus ‚Albanisches Liederbuch‘. In: „Kreis aus Kreisen“. Der George-Kreis im Kontext deutscher und europäischer Gemeinschaftsbildung. Hg. von Bruno Pieger und Bertram Schefold, Hildesheim, Zürich und New York 2016, S. 657–659. Freundliche Auskunft von Ledio Albani vom 2. August 2021. Vgl. etwa Ledio Albani: Haltungen, Wien 2021, etwa Nr. 332. Des Künstlers Beruf, Nr. 338. Gedichte als Trümmer („Das Metrum ist die tragende Säule des Gedichts. Darauf sich nicht verstehen, heißt jegliches Vorankommen zur großen Poesie versäumen.“), oder Nr. 340. Gleichklang („Der Reim ist die höhere Harmonie und die strenge Notwendigkeit aller Poesie. Wo sich zwei Worte im Gleichklang vereinigen, walten himmlische Mächte.“). Die ähnliche weltanschauliche Orientierung bekräftigt Albani in demselben elektronischen Brief vom 2. August 2021: „Wenn ich aber für den Verlag über das symbolische hinausgehend nochmal auf die Verbindung mit George verweisen wollte, dann vielleicht noch ehestens in der Idee eines elitären Gestus und der Schaffung eines Raums worin Kunst, aber auch Philosophie und Wissenschaft, wieder in einem ursprünglichen Sinne verstanden und geführt werden“.
10. Zusammenfassung und Ausblick
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Dass dieser Eindruck nicht hergeholt ist, zeigen neben einer Idealisierung von überzeitlicher Meisterschaft in der Kunst, metrischer Kompetenz und einem ausgeprägten Stilwillen einige George-Allusionen. So zitiert der Aphorismus Promenade – „Ein letzter Rundgang zu zweien ist wie das unaufhaltsame Wandeln von Ewigkeit zu Ewigkeit. Das Paradies? Nichts weiter als ein flüchtiger Pfad zu einem Hügel“10 – den Schluss von Georges Gedicht „Es lacht in dem steigenden jahr dir“ (SW IV, 89): „Verschweigen wir was uns verwehrt ist · / Geloben wir glücklich zu sein / Wenn auch nicht mehr uns beschert ist / Als noch ein rundgang zu zwein“ (V. 9–12). Doch dient der freundschaftliche „Rundgang zu zweien“ bei Albani nicht mehr wie bei George als resignatives Symbol der Reserve und Entsagung, sondern wird zu einem epiphanen Erlebnis aufgewertet. Ganz anders der prominente Literaturkritiker Denis Scheck. Er arbeitet an einem „Antikanon“ der „schlechtesten Bücher der Weltgeschichte“, den Hitlers Mein Kampf eröffnete, gefolgt von Georges Neuem Reich.11 Und obschon Scheck den frühen George durchaus schätzt – er sei „der beste und schlechteste Dichter zugleich“ –, künde „die Dichtung des späten George […] vom Versiegen eines dichterischen Talents: Stefan George, der im Gegensatz zu so manch anderem dem patriotischen Furor während des Kriegs widerstand, findet plötzlich den Weg zum Pathos und zum Schwulst“. Als Beleg dafür, dass Stefan George „1919 […] sehr, sehr schlecht“ gedichtet habe, rezitiert Scheck das problematische Einleitungsgedicht der Sprüche an die Toten aus dem Neuen Reich. Den decouvrierenden Tenor der Rezitation ergänzt seine platte, polemische Deutung des Gedichtschlusses als präfaschistisches Omen: „Die Königsstandarte flatterte über Deutschland 1933, dem Todesjahr Stefan Georges und dem Todesjahr der Weimarer Republik“.12 Mit einem Blitzstrahl, den Scheck aus seiner Hand so auf das Buch schleudert, dass es darin verschwindet, endet dieses George-Tribunal. Die beiden aktuellen, gegensätzlichen Adaptationen Georges zeugen exemplarisch von dessen unverminderter polarisierender Wirkkraft, aber auch von dem Umstand, dass selten nur das poetische Werk verehrt oder abgelehnt wird: Fast immer ist die Autorpersona George mitgemeint. Bis heute – und wohl auch künftig – repräsentiert George eine Projektionsfigur, die Schriftstellerinnen und Schriftsteller zu einer relationalen Selbstpositionierung herausfordert und damit zur ästhetischen Selbstfindung beiträgt, sei es durch dauerhafte Aneignung, Umdeutung oder Ablehnung.
10 Albani: Haltungen, Nr. 412. Promenade, S. 132. 11 Vgl. https://www.swr.de/swr2/literatur/stefan-george-das-neue-reich-100.html (15.4.2021). 12 Ebd.
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12. Abbildungsnachweise Abb. 1: Stefan George. Karikatur von Leo Samberger. In: Georg Fuchs: Sturm und Drang in München um die Jahrhundertwende. Mit 58 zeitgenössischen Bildern und Karikaturen, München 1936, S. 160 f. Abb. 2: Siebengestirn moderner Lyriker. Sammelparodie und -karikatur von Otto Erich Hartleben [Text] und Max Hagen [Zeichnung]. In: Jugend 4 (1899), Nr. 7, S. 104. Abb. 3: Moderne Dichter. Karikatur von Thomas Theodor Heine. In: Simplicissimus 6 (1901), Nr. 7, S. 56. Abb. 4: Stefan George. Karikatur von Bruno Paul. In: Martin Möbius [d. i. Otto Julius Bierbaum]: Steckbriefe, erlassen hinter dreißig literarischen Uebelthätern gemeingefährlicher Natur. Mit den getreuen Bildnissen der Dreißig versehen von Bruno Paul, Berlin und Leipzig 1900, S. 53–56. Abb. 5: Das deutsche Dichterross. Sammelparodie und -karikatur von Hanns von Gumppenberg [Text] und A[rpad] Schmidhammer [Zeichnung]. In: Jugend 6 (1901), Nr. 10, S. 150. Abb. 6: Wie wir es sehen ... . Anon. Sammelparodie und -karikatur. In: Der Floh 33 (1901), Nr. 14, S. 6. Abb. 7: Stefan George als „Apollonius Golgatha“. Karikatur von Julius Diez. In: Arno Holz: Die Blechschmiede, Leipzig 1902, S. 58. Abb. 8: Die george. Karikatur von Thomas Theodor Heine. In: Franz Blei: Das große Bestiarium der Literatur. Mit farbigen Karikaturen von Rudolf Großmann, Olaf Gulbransson und Th. Th. Heine, Frankfurt 1982 [Berlin 1922], S. 128 f. Abb. 9: Und was geht in der Literatur vor? Sammelkarikatur von Erich Schilling. In: Simplicissimus 33 (1928), Nr. 15, S. 203. Abb. 10: Große Überraschung für das Christkind. Karikatur von Thomas Theodor Heine. In: Simplicissimus 33 (1928), Nr. 38, S. 488. Abb. 11a und 11b: Deutscher Geist im Ausverkauf. Karikatur von Erich Wilke. In: Die Jugend 35 (1930), Nr. 42, S. 664 f. Abb. 12: [Wolfgang Frommel]: Die Fackel. Wiederabdruck neben Photographie zweier Hitlerjungen. In: Deutsche Jugend. Dreißig Jahre Geschichte einer Bewegung. Hg. von Will Vesper, Berlin 1934, S. [VII]. Abb. 13: Kalligraphische Abschrift Hans Scholls von Stefan Georges Gedicht: „Wer je die flamme umschritt“. Institut für Zeitgeschichte, München (IfZArch, ED 474/2). Abb. 14: George-Gedichte in den Gefängnisaufzeichnungen des in Freiburg/Br. 1936– 1938 inhaftierten Marcus Behmer. In: Peter Christian Hall: Delphine in Offenbach: Marcus Behmer – Meister der kleinen Formate. Klingspor Museum, Offenbach 2018, S. 454. Abb. 15: Stefan George. Zeichnung von Olaf Gulbransson. In: Simplicissimus 38 (1933), Nr. 22, S. 254. https://doi.org/10.1515/9783110779370-012
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12. Abbildungsnachweise
Abb. 16: Stefan George: Poems, New York 1943. US-amerikanische Auswahlüber setzung der Gedichte Georges von Carol North Valhope und Ernst Morwitz. Abb. 17: Der Drachentöter Michael mit den Zügen Georges. Frontispiz zu Friedrich W. Buri: Michael. Eine Wandlung in 10 Bildern, Amsterdam 1948. Abb. 18a–d: Gertraud Schleichert [Text], Herbert Schügerl [Illustrationen]: Paraphrase auf Stefan George. Komm in den totgesagten park und schau. In: Protokolle. Zeitschrift für Literatur und Kunst 1980, Bd. 2, S. 115–118. Abb. 19: Die Verse aus Georges Teppich, graphisch ineinander verwoben. Anonyme Montage. In: Litfass 4 (1979), Heft 13, S. 73. Abb. 20: Stefan George: Mein garten / Oskar Pastior: Mulb quarzon / Wiel Kusters: Mals kwarts. In: O. P. und W. K.: Der Tanz der Schere, Amsterdam 1984, Bl. 1. Abb. 21: Stefan! Aquarell von Anselm Kiefer, 1974. ©Anselm Kiefer. bpk Berlin / The Metropolitan Museum of Art, New York. Abb. 22: André Kubiczek: Komm in den totgesagten Park und schau. Umschlag illustration, gestaltet von any.way, Barbara Hanke und Cordula Schmidt, nach einem Entwurf von Anzinger und Rasp (München), Berlin 2018.
13. Register Adam, Paul 27 Adorno, Theodor W. 203, 281, 327 f., 442 −− Rede über Lyrik und Gesellschaft 327 f. Åkerman, Achim von 221, 224, 261 −− An Dionysos 261 Albani, Ledio 444 −− Albanisches Liederbuch 444 −− Haltungen 444 Albig, Jörg-Uwe 19, 432 f. −− Zornfried 19, 432 f. Allemann, Urs 412–414 −− spraysorte „trüber leibsprung“ 413 f. −− Zwei Gedichte zu Gedichten von Stefan George 412 Altenberg, Peter 40–43, 58 f., 83, 320 −− Besuch 42 f. −− Paulina 40–42 −− Widmung 40 −− Wie ich es sehe 58 Alverdes, Paul 248 Ambrosius, Johanna 91 Amiel, Henri-Frédéric 209 Andreas-Salomé, Lou 61, 64, 77 f. Andrian, Leopold von 28, 43–46, 50, 56, 68, 102, 248 −− Der Garten der Erkenntnis 45 −− Eine Locke 45 −− Erinnerungen an meinen Freund [Hofmannsthal] 44 −− Frühe Verse 46 −− Österreich im Prisma der Idee 248 −− „Sie schwieg und sah mit einem Blick mich an“ 44 −− Sonnett 45 Ansolt, Teut (d. i. Karl Christian Müller) 177 −− Dem Meister 177 −− Der Kranz des Jünglings 177 Arndt, Ernst Moritz 300 f. −− Kurzer Katechismus 300 Arnim, Achim von 3 Artmann, H. C. 343 −− „ich könnte viele bäume malen“ 343 Ashbery, John 415 https://doi.org/10.1515/9783110779370-013
Bach, Rudolf 232 f. −− Chor zum Tode Stefan Georges 232 f. Bade, Wilfrid 241 −− Thiele findet seinen Vater 241 Bahr, Hermann 29, 46–49, 54, 75, 101, 199 f., 205 −− Décadence 47 −− Graphische Ausstellung 47 −− Inventur der Zeit 101 −− Liliencron 47 −− Tagebücher 47 Bahro, Rudolf 321 Baltasar Carlos von Spanien 39 Bang, Herman 47 Barth, Emil 292 f. −− Lemuria 292 f. Barthel, Ludwig Friedrich 261 −− Von der Erde und dem inneren Vaterlande 261 Baudelaire, Charles 31, 33, 35, 52, 132 f., 136–139, 151, 157, 185, 204, 255, 292 f., 351 f., 367, 380, 390 −− Au lecteur/An den Leser 292 f. −− À une passante 52, 137, 185, 255 −− L’albatros 390 −− Les Fleurs du Mal 151, 209, 292 f. Bauer, Karl 38, 66 Baum, Peter 117 Baum, Vicki 217 f. Becher, Johannes R. 175, 322 f., 342 −− Wo Deutschland lag 322 f. Becker, Hellmut 301, 350 Beckett, Samuel 415 Beethoven, Ludwig van 372 −− 9. Sinfonie 372 Behmer, Marcus 253 f. Ben-Chorin, Schalom (d. i. Fritz Rosenthal) 273–278, 328, 441 −− Apokalypse 274 −− Das Mal der Sendung 274 −− Die Jünger 274 −− Die Lieder des ewigen Brunnens 273 −− Einem Freunde 275
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13. Register
−− George und die Nachfolge 276 f. −− Hebräische Gedichte 277 −− In dieser Zeit 275 −− Jerusalem 328 −− Requiem für Stefan George 274 −− Zum Tode Stefan Georges 274 Benda, Oskar 34, 228 −− Die Bildung des Dritten Reiches 228 Benjamin, Walter 202–204, 273, 327 −− Der Dichter 203 −− Rückblick auf Stefan George 204 Benn, Gottfried 148–151, 217, 237 f., 261, 323–325, 342, 365, 415, 433 −− Blaue Stunde 151 −− „Einsamer nie als im August“ 151 −− Englisches Café 148 −− Herbst 148 −− Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke 148–150 −− Morgue und andere Gedichte 148 Benrath, Henry (d. i. Albert H. Rausch) 13, 82, 98, 255, 263 f., 341 −− An einen zeitgenössischen Künstler 13, 98 −− An Stefan George 82, 264 −− Der Weg 264 −− Stefan George, évocation d’un poète par un poète 263 f. Bératon, Ferry 29 Bernus, Alexander von 73 Bertels, Kurt 105 f. −− „Geh fort!“ 106 Bertram, Ernst 170, 177, 201, 248, 261, 288 −− Schwarze Sonette 248 Bertrand, Aloysius 112 −− Gaspard de la nuit 112 Bessmertny, Alexander 123, 440 −− Dem Meister 123 −− Ein Epigone spricht 123 −− Stefan George 123 Beyer, Marcel 434 f. Bierbaum, Otto Julius 74 f., 79 f., 86, 321 Biermann, Wolf 321 Binding, Rudolf G. 198 Bischoff, Fritz Walter 197 −− Hallo! Hier Welle Erdball! 197 Blake, William 154 Blass, Ernst 122–124, 158 f., 208, 342 −− An Stefan Georges fünfzigstem Geburtstag 158 −− Gedichte von Sommer und Tod 123 −− Über den Stil Stefan Georges 159
Blei, Franz 195 f. −− Das große Bestiarium der modernen Literatur 195 f. Bleutge, Nico 416 f. −− wetterzone 417 Blumenthal, Oskar (Oscar) 13, 93 −− An Stefan George 13 Bobrowski, Johannes 325 Bock, Claus Victor 310 Bode(c)k, Hermann 44, 112 f., 246 f. −− An George 247 −− Die Geburt der Seele 112, 247 −− Widmung 113 −− Zum Gedächtnis von Heinrich Friedemann 113 Böcklin, Arnold 31, 100 Boeglin, Hans 221 Böhme, Thomas 370, 375–379, 391 f., 443 −− Elagabal (5). Letzte Einübung 378 f., 391 −− erlkönigs schwimmender garten 391 −− namensvorschläge für eine literarische parkstadt 377 −− safe your imago 377 f. −− vermischung. stefan george. rhein V 376 f., 391 −− winterfell 378 Boehringer, Robert 64 f., 112, 232, 270, 295 f., 303, 309 f., 331, 333, 345 f., 350, 365 −− Das Grab in Minusio 345 f. −− Europa 295 f. −− Minusio 345 Bogan, Louise 272 Bois-Reymond, Lili du 58 Boldt, Paul 151, 342 Bondi, Georg 46 Borchardt, Rudolf 49, 57, 99, 153, 196, 198, 206, 285, 328, 379, 381, 424 f., 433 −− Aufzeichnung Stefan George betreffend 285 f. −− Jamben 285 f. −− Unterwelt hinter Lugano 285 f. −− Wannsee 153, 281 Braun, Felix 110 Brauner, Artur 300 Brecht, Bertolt 198, 202, 204 f., 217, 285, 342, 440 −− Adresse des sterbenden Dichters an die Jugend 285 −− Ballade von den Seeräubern 204 −− Hauspostille 204 −− Mond 204 Bremer, Claus 342
13. Register
Brentano, Bernard von 286 −− Die Schwestern Usedom 286 Brentano, Clemens 189 −− „An eine schöne Erscheinung am Dreikönigstage“ 189 Broch, Hermann 318 f. −− Hofmannsthal und seine Zeit 318 f. Brod, Max 152, 208 f. −− Versuch einer neuen Metrik 152 −− Zauberreich der Liebe 208 Bruckmann, Elsa 132 Bruns, Max 59 f., 95 −− Land der Sehnsucht 60 −− Menschenliebe 60 Buber, Martin 202, 204 Bunsen, Marie 61 Buri, Friedrich W. (d. i. Adolf Friedrich Wongtschowski) 311–313 −− Michael 312 f. −− Sechs Gedichte an den Meister 311 f. Bursch, Jacobus George 356 f. −− Stefan George in Minusio 356 f. Cäsar, Gaius Julius 104 Carlyle, Thomas 48 Carossa, Hans 19, 21, 65, 170 f., 210–212 −− Ausklang 212 −− Der alte Taschenspieler 212 −− Der Arzt Gion 19, 21, 210–212 −− Führung und Geleit 170 −− „Jenen Berg mit weißen Zinnen“ 170 f., 212 Celan, Paul 325, 339 f., 389 −− Mohn und Gedächtnis 340 −− Sprachgitter 340 −− Von Schwelle zu Schwelle 340 Christensen, Inger 389 Christomanos, Constantin 29 Cicero 352 Clemen, Paul 231 Coblenz, Ida 401 Colum, Mary 272 Corbusier (d. i. Charles-Édouard JeanneretGris) 254 Correggio, Antonio da 187 Cotten, Ann 434 f. Courths-Mahler, Hedwig 175 Csokor, Franz Theodor 196 Czoppelt, Alexander 410 f. −− Jet-Set 410 f. D’Annunzio, Gabriele 25, 27, 31, 158, 228 −− Francesca da Rimini 25
499
−− Laudi del cielo, del mare, della terra e degli eroi 25 Däubler, Theodor 12, 124, 151, 330 −− Wir wollen nicht verweilen 151 Damm, Otto 255 f. −− Dichterklage 256 −− Marsyas 255 −− Sonette 255 Dante Alighieri 129, 154, 190 f., 203, 280, 287, 310, 324, 379, 415, 424 −− Divina Commedia 280, 424 −− Vita nuova 310 Dauthendey, Max 66, 68, 89, 152 Dehmel, Richard 27, 40, 44, 47, 59, 69, 72, 74, 77 f., 82 f., 88, 117, 120, 175, 320, 324 Deinert, Wilhelm 422–424 −− Sandelholz und Petersilie 422–424 Delaroche, Achille 25 Derleth, Ludwig 100 Dernburg, Luise 61 Dietrich, Rudolf Adrian 147 −− Prolog 147 Diez, Julius 89 Dix, Matthias 391–396 −− Gesang der Großstadt 391–396 Dörmann, Felix 33 Domin, Hilde 17, 335 −− Herbstaugen 17, 335 Donnay, August 32 Dowson, Ernest 402 Doyle, Arthur Conan 408 Droem, Ernst 185 −− Gesänge 185 −− Gestalt in der Allee 185 Droste-Hülshoff, Annette von 377 Dschingis Khan 207 Dülberg, Franz 208 Dwinger, Edwin Erich 241 f. −− Die letzten Reiter 241 f. Ebermayer, Erich 212–214 −− Kampf um Odilienberg 213 f. Eckermann, Johann Peter 37 Edschmid, Kasimir 12, 151, 330, 333 f., 442 −− Der Tote von Minusio 333 f. −− Verse, Hymnen, Gesänge 151 Edward, Georg 32, 68 f. −− Des Friedens Land 68 −− Memento quia pulvis es 69 −− Ungesprochene Worte 68 −− Weise 68 Eger, Rudolf 85
500
13. Register
Egyptien, Jürgen 416–419 −− Bestrahlung 417–419 −− Kalebasse 417–419 Eich, Günter 257 Eichelbaum, Ernst 235, 315 f., 322, 350 −− Haus in Bingen [I] 235, 315 −− Haus in Bingen (II) 316 Eichmann, Adolf 298 f. Eisler, Michael Josef 104 f. −− Drei Dichter. George – Hofmannsthal – Rilke 104 Eliot, T. S. 291 Ellermann, Heinrich 240, 261 Elze, Walter 161, 215 Enzensberger, Hans Magnus 358–360 −− Das Wasserzeichen der Poesie 358 −− „Wenn einst dieser herd sich gereinigt von sosse“ 358–360 Esch, Doris von der 161 Evers, Franz 74, 86 −− Am Tag der Heimkehr meiner englischen Tante 86 Ewers, Hanns Heinz 100, 218 −− Führer durch die moderne Literatur 100 Fahrner, Rudolf 295 −− An Claus von Stauffenberg 295 Fahsel, Helmut 217 f. Falkner, Gerhard 363 f. −− Hermetische Dichtung 363 −− Hölderlinreparatur 363 −− „in trüben gärten drehn sich leis die schatten“ 363 −− Über den Unwert des Gedichts 363 −− „wir schwänzen heut die rosen“ 363 Fassbinder, Rainer Werner 20, 351 f. −− Satansbraten 20, 351 f. Fechter, Paul 206, 232 Feise, Ernst 272 Fichte, Hubert 351 −− Hotel Garni 351 −− Versuch über die Pubertät 351 Ficker, Ludwig von 136 Fidus (d. i. Hugo Höppener) 72 Filips, Christian 14, 404–406, 443 −− In München, 1903. St. Maximin 14 −− Jugendmeisterschaften 405 f. −− Vier Gesänge durch Stefan George 404 Flaubert, Gustave 37, 209 Förster, Adele 12, 195 Follen, Karl 352 Fontane, Theodor 209
Franck, Wolf 263–265 Franckenstein, Clemens von 43, 46 Frank, Hans 127 Freund, Cajetan 293 Fricker, Christophe 408 f., 416 f. −− Schweinsteiger 408 f. Friedell, Egon 196 Friedemann, Heinrich 113 Friedländer, Fritz 228 Friedländer, Paul 231 Friedländer-Prechtl, Robert 177 f. −− Gedichte dieser Zeit 178 −− Ver sacrum 178 Frisch, Max 338 Frommel, Wolfgang 221–224, 238–240, 261, 292, 308–311, 349 f. −− Anruf 222 −− Der Dichter 311 −− Die Bahn 223 −− Die Fackel 238–240, 261 −− Huldigung 221–224, 238 −− Tafel II 223 −− Wintergesang zu zweien 223 Fuchs, Georg 31 f., 72, 74 Fühmann, Franz 322 f., 365 −− Die Fahrt nach Stalingrad 322 −− „Jede Nacht erglühen neue Sterne“ 322 Fugel, Gebhard 31 Gabetti, Giuseppe 231 Gan, Peter (d. i. Richard Moering) 192 f., 284 f., 340 −− Die Reise nach Hohenzieritz 192 f. −− Goethe und die Dichtung der Gegenwart 285 −− „Sieh, mein Kind, ich gehe“ 284 f. −− Von Gott und der Welt 193 −− Windrose 284 García Lorca, Federico 235 f. Gaudefroy-Demombynes, Jean 263 Gautier, Théophile 35, 37 Geheeb, Paul 213 Geiger, Benno 235 −− Stefan George zum Gedächtnis 235 Geißler, Max 102 Geist, Sylvia 387 −− Moabiter Nachlaß 387 George, Stefan −− Algabal (1892) 25, 28, 53 f., 57, 61 f., 121, 129, 168, 188, 253, 355, 357 f., 361, 375 f., 378 f., 391 f., 411, 417 −− „Da auf dem seidenen lager“ 378
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13. Register −− „Daneben war der raum der blassen helle“ 62 −− „Der saal des gelben gleisses und der sonne“ 357 −− „Gegen osten ragt der bau“ 357 −− „Graue rosse muss ich schirren“ 168 −− „Mein garten bedarf nicht luft und nicht wärme“ 53 f., 62, 253, 357, 361 f. −− „O mutter meiner mutter und Erlauchte“ 57 −− Vogelschau 376, 411 −− „Wenn um der zinnen kupferglühe hauben“ 62, 188, 357 Baudelaire. Die Blumen des Bösen (1901) 28, 51, 137, 139, 151, 185, 209 f., 255, 279, 292, 351 f., 390, 439 −− Das Haar 139 −− Der Albatros 351 f., 390 −− Der Wein des Einsamen 139 −− Die kleinen Alten 210 −− Einer Vorübergehenden 51, 137, 185, 255 −− Lesbos 209 Dante. Die göttliche Komödie (1912) 203, 424 Das Buch der hängenden Gärten (1895) 40, 42, 69, 89, 91, 99, 152, 317, 321, 339, 383, 413 f., 434 −− „Als durch die dämmerung jähe“ 69 −− „Ich warf das stirnband dem der glanz entflohn“ 99 −− „Meine weissen ara haben safrangelbe kronen“ 42, 317, 383 −− „Sprich nicht immer“ 40, 434 −− Stimmen im Strom 321 −− „Wenn ich heut nicht deinen leib berühre“ 413 f. Das Buch der Hirten- und Preisgedichte (1895) 39, 41, 59, 91, 152, 187 f., 280, 411 −− An Phaon 280 −− Das Ende des Siegers 39 −− Der Herr der Insel 411 −− Jahrestag 41 −− Der Tag des Hirten 187 Das Buch der Sagen und Sänge (1895) 38 f., 66, 74, 91, 102, 111, 152, 193, 203 f., 284 f., 370 −− Das lied des zwergen 203 −− „Dieses ist ein rechter morgen“ 193 −− Im Unglücklichen Tone dessen von… 74, 102 −− Irrende Schar 204
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−− Sänge eines fahrenden Spielmanns 284 −− „Sieh mein kind ich gehe“ 284 f., 370 −− Sporenwache 38 −− Das Jahr der Seele (1897) 14 f., 17, 28, 55, 63 f., 71, 80, 85–87, 106–108, 110, 112, 121, 125 f., 135 f., 150, 152, 173, 178, 185 f., 203, 206, 214, 223, 240, 246, 255, 260, 282, 287, 297 f., 321, 335, 337–339, 343, 352, 363, 367, 373, 378, 382–385, 389, 396, 398, 401, 405, 408 f., 415 f., 419, 426–429, 432, 439 −− A. H. 87 −− „Der hügel wo wir wandeln liegt im schatten“ 214, 321 −− „Des sehers wort ist wenigen gemeinsam“ 14, 384 −− „Die Blume die ich mir am Fenster hege“ 282 −− „Dies leid und diese last: zu bannen“ 352, 396 −− „Die steine die in meiner strasse staken“ 416 −− „Drei weisen kennt vom dorf der blöde knabe“ 405 −− Entführung 135, 203 −− E. R. 419 −− „Es lacht in dem steigenden jahr dir“ 185, 203, 223, 240, 246, 321, 409 −− „Geführt vom sang der leis sich schlang“ 385 −− „Ich lehre dich den sanften reiz des zimmers“ 80 −− „Indes deine mutter dich stillt“ 152 −− „Keins wie dein feines ohr“ 71 −− „Komm in den totgesagten park und schau“ 15, 17, 107, 135, 150, 178, 206, 246, 255, 260, 287, 321, 335, 343, 367, 378, 382 f., 389, 398, 408 f., 415 f., 427–429, 432 −− „Mit frohem grauen haben wir im späten“ 338 f. −− „Ob schwerer nebel in den wäldern hängt“ 321, 401 −− Reifefreuden 135 −− Sprüche für die geladenen in T. . 85 f. −− „Trauervolle nacht!“ 337 −− „Umkreisen wir den stillen teich“ 135 f. −− „Wir schreiten auf und ab im reichen flitter“ 152, 409 −− „Wir werden heute nicht zum garten gehen“ 363 −− „Wir werden nicht mehr starr und bleich“ 297 f.
502
13. Register
−− Das Neue Reich (1928) 15, 17, 20, 49, 97, 123, 127 f., 154–157, 161–163, 167, 176 f., 179, 181 f., 198, 206–208, 214–216, 227, 229, 231, 233 f., 242–244, 261–263, 273 f., 281, 283, 288, 294–296, 306, 308, 324, 339, 346, 356, 358–360, 364, 374 f., 388 f., 394 f., 400, 411, 414, 430–432, 434 f., 440, 445 −− Balduin [I] 242 −− Das Wort 17, 167, 182, 283, 339, 374 −− Der Brand des Tempels 177 −− Der Dichter in Zeiten der Wirren 176, 227, 229, 233 f., 243 f., 263, 274, 295 f., 346, 388 −− Der Krieg 20, 128, 154–157, 161–163, 263, 281, 294, 411, 430, 435, 440 −− Der Mensch und der Drud 364 −− „Du schlank und rein wie eine flamme“ 208, 261 −− Goethes lezte Nacht in Italien 97, 208, 294, 414 −− H. M. 308 −− „Horch was die dumpfe erde spricht“ 394 f., 434 −− Hyperion I–III 214, 231 −− Seelied 15, 400 −− Sprüche an die Toten 49, 181, 206, 233, 242, 262, 358, 445 −− „Wenn einst dies geschlecht sich gereinigt von schande“ 181, 242, 262, 356, 358–360, 431 −− Der Krieg [1917] → Das Neue Reich −− Der Siebente Ring (1907) 14, 24, 45, 92, 94, 97, 108–111, 115, 124–126, 129 f., 132, 136, 145, 155, 161, 163, 167, 171 f., 184, 189, 198, 206, 217, 222, 235, 249, 262, 266 f., 282, 291 f., 307, 324 f., 328 f., 340, 343 f., 366, 376 f., 381, 384, 392, 404, 406, 417, 421–425, 434, 439 −− „An baches ranft“ 425 −− An Henry 155 −− Auf das Leben und den Tod Maximins 172 −− Bamberg 329 −− Bozen: Erwins Schatten 45 −− Das Zeitgedicht [I] 126, 171 −− Der Eid 222 −− Die Hüter des Vorhofs 163 −− Einverleibung 111 −− Erwiderungen: Das Wunder 132 −− Feier 189 −− „Fenster wo ich einst mit dir“ 366 −− „Für heute lass uns nur“ 421 f.
Gebete II 167 Goethe-Tag 235, 267 Hexenreihen 167, 189, 381 „Im windes-weben“ 282, 328, 343 f. Landschaft III 417, 423 f. „Liebe nennt den nicht wert der je vermisst. .“ 340 −− Nietzsche 404 −− Porta Nigra 324 f., 392, 434 −− Rhein 406 −− Rhein V 376 f. −− Trauer I–III 110, 130 −− Vorklang 184 −− Der Stern des Bundes (1914) 16, 119, 122, 127, 152 f., 158, 176 f., 179–181, 189, 198, 206, 223 f., 237, 239 f., 247, 251 f., 261, 263, 266, 269, 274, 279, 281 f., 291, 299, 305 f., 308, 315, 371, 375, 396, 408, 431 −− „All die jugend floss dir wie ein tanz“ 223 −− „Alles habend alles wissend seufzen sie“ 153, 223 −− „Auf der brust an deines herzens stelle“ 279 −− „Auf neue tafeln schreibt der neue stand“ 299 −− „Bangt nicht vor rissen brüchen wunden schrammmen“ 158 −− „Dem Lenker dank der mich am künftigen tag“ 223 −− „Der strom geht hoch . . da folgt dies wilde herz“ 223 −− „Entlassen seid ihr aus dem innern raum“ 223 −− „Hier schliesst das tor: schickt unbereite fort“ 239, 308 −− „Ich bin der Eine und bin Beide“ 152, 179, 274 −− „Ich liess mich von den schulen krönen“ 282 −− „Ich weiss nicht ob ich würdig euch gepriesen“ 158 −− „Ihr fahrt in hitzigem tummel ohne ziel“ 396 −− „Ihr wisst nicht wer ich bin . . nur dies vernehmt“ 180 f. −− „Kommt wort vor tat kommt tat vor wort? Die stadt“ 223 −− „Mir sagt das samenkorn im untren schacht“ 223 −− „Mit den frauen fremder ordnung“ 279 −− „Neuen adel den ihr suchet“ 198, 261 −− −− −− −− −− −−
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13. Register −− „Nun bleibt ein weg nur: es ist hohe zeit“ 16, 247 −− Schlusschor 206, 371 −− „Was ist geschehn dass ich mich kaum noch kenne“ 177, 223 −− „Wer je die flamme umschritt“ 127, 176, 237, 240, 251 f., 266, 291, 306, 408 Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod (1899/1900) 45 f., 50, 75, 108, 110 f., 125, 129, 148, 151, 155, 166 f., 169 f., 172 f., 187, 190, 223, 257–260, 274, 295, 299, 306, 316 f., 355, 360 f., 374, 384, 391, 393, 395, 397, 402–404, 430, 434 −− Blaue Stunde 151 −− „Dem markt und ufer gelte dein besuch“ 125 −− Den Brüdern 45 f. −− Der Freund der Fluren 434 −− Der Jünger 274 −− Der Täter 295, 299, 430 −− Der Teppich 50, 257–259, 360 f., 395 −− Feld vor Rom 148 −− „Ich bin freund und führer dir und ferge“ 259 f. −− „Ich forschte bleichen eifers nach dem horte“ 110, 155, 166, 169, 173, 223 −− Juli-Schwermut 374, 384, 391, 393, 402–404 −− Lämmer 167, 397 −− Schmerzbrüder 111 −− Traum und Tod 187 −− Urlandschaft 316 −− „Zu wem als dir soll sie die blicke wenden“ 190 Die Fibel [1886/87] 121 −− Keim-Monat 121 Hymnen (1890) 14, 17, 25, 33, 39 f., 44, 54 f., 60, 138–145, 167, 177, 185, 226, 246, 260, 283, 355 −− Der Infant 39 f., 54 f. −− Ein Angelico 185, 226, 283 −− Hochsommer 44, 138–144, 246 −− Im Park 145, 167, 177 −− Weihe 14, 17, 355 Nova Apocalypsis (1919) 163, 256, 274 Pilgerfahrten (1891) 56, 120, 167, 188 −− Die Spange 120 −− „Lauschest du des feuers gesange“ 167 Schlussband (1934) 32 −− Die Herrin betet 32 Shakespeare. Sonnette (1909) 198, 307, 340 Tage und Taten (1903) 185, 328, 364, 380 f.
503
−− Der redende Kopf 328, 380 f. −− Pfingsten 381 −− Sonntage auf meinem Land 364 −− Zeichnungen in Grau und Legenden [1889] 32, 84, 184, 206 −− Erkenntnis 32 −− Frühlingswende 32 −− Gelbe Rose 84, 184, 206 −− Zeitgenössische Dichter I (1905) 367 −− Swinburne: Widmung 367 −− Zeitgenössische Dichter II (1905) 35, 140, 145 −− De Régnier 145 −− Verlaine: Die Kindlichen 140 −− Verlaine: Galante Feste 140 −− Mallarmé: Erscheinung 35 −− Mallarmé: Herodias 35 −− Mallarmé: Seebrise 35 Gérardy, Paul 26, 31 f. −− À tous ceux de la ronde 26 −− Ballade 26 −− Dédicace à Stefan George 26 −− Et ils le chassèrent de leur ville 26 −− Wallonische Künstler 32 Gide, André 202 Glöckner, Ernst 170 Goebbels, Joseph 225, 230, 243, 262, 276, 289, 326, 440 Goering, Reinhard 160 f., 233, 238 −− an stefan george 160 f. −− Jung Schuk 160 −− Seeschlacht 160 Goes, Albrecht 334 Goesch, Heinrich 206 Goethe, Johann Wolfgang von 35, 55, 67, 97, 133, 152, 197, 212, 224, 246, 256, 285 f., 306, 353, 366, 375, 411 −− Erlkönig 375 −− Prometheus 224 −− West-Östlicher Divan 67 Goetz, Bruno 105 f. −− Der Abend 106 −− Der Tänzer 106 Goldscheider, Ludwig 182 −− Die Wiese 182 −− Die Worte 182 Goldschmidt, Manuel 310, 349 Goldstein, Franz 276 Gomringer, Eugen 334, 343 Góngora, Luis de 361 Gothein, Percy 221, 223 f., 311 −− Einsetzung 223 f.
504
13. Register
−− Opus Petri 223 Graef, Botho 61, 66 f., 125, 253 Grass, Günter 336, 442 Greenberg, Clement 272 Greiner, Martin 322 Grimm, Jacob 324 Grimm, Wilhelm 324 Großmann, Stefan 40 Gruber, Alexander 336 f. −− An George 336 f. Grünbein, Durs 433 f. Grünewald, Alfred 110 f. −− Der erlöste Ritter spricht 111 −− Die Gezeiten der Seele 110 −− Einem toten Knaben 110 −− Knabenlied 110 −− Lied des Troubadors 111 Guenther, Johannes von 105, 107–109 −− Bekenntnis 107 f. −− Fahrt nach Thule 107 f. −− Schatten und Helle 107 −− V. Sonett 108 Gulbransson, Olaf 253–255 Gumppenberg, Hanns von 79–81, 87 −− letzter besuch 80, 87 Gundolf, Friedrich 65, 92 f., 99, 130, 157–160, 170, 189, 193 f., 201, 215, 232, 239, 250, 262, 273, 288 f., 303, 307, 326, 355, 412, 426, 440 −− Fortunat. Vier Gesänge 92 −− George 157, 193 Gutteling, Alexander 26 −− Aan Stefan George 26 −− Een Jeugd van Liefde 26 Gysis, Nikolaus 303 f. Haas, Willy 202, 325 f. Haecker, Theodor 252 Hagelstange, Rudolf 213, 257 Hagen, Max 74–76 Hahn, Arnold 174 Hamecher, Peter 102, 150, 233 Hamsun, Knut 209 Handke, Peter 374 f. Hardekopf, Ferdinand 342 Hardenberg, Friedrich von → Novalis Hardt, Ernst 61, 66–68, 125 −− Tantris der Narr 68 Hardt, Heinrich 181 f. −− Stefan George 181 Harnack, Falk 300 Hart, Heinrich 65 Hart, Julius 65
Hartleben, Otto Erich 74–76 Hasenclever, Walter 12, 151, 330 −− Der Jüngling 151 Hauer, Jakob Wilhelm 216 Hauptmann, Gerhart 199 f., 286 Hedin, Sven 324 Heesters, Johannes 355 Heidegger, Martin 319, 370, 433 Heine, Heinrich 286 Heine, Thomas Theodor 77 f., 88, 195 f., 199, 201 Heinle, Christoph Friedrich 203 −− „Es steigt der Tag aus wirrem Traum, befreit“ 203 Heise, Wolfgang 321 Heiseler, Bernt von 233 Heiseler, Henry von 155 f., 232 −− Der Engel des Krieges 155 f. Heißenbüttel, Helmut 342 Helbling, Hanno 355 Hellingrath, Norbert von 128, 130, 132, 170, 269, 363 Hellpach, Willy 202 Helmersen, Joachim von 224 Helwig, Werner 330 Henschke, Alfred → Klabund Heredia, José-Maria de 35 Hermlin, Stephan (d. i. Rudolf Leder) 322 f. −− Übersetzte Lyrik 322 Herrmann-Neiße, Max 124 −− Die zehn Sonette für Franziskus 124 Hesse, Hermann 82, 84 f. −− Die gelbe Rose von Stefan George 82, 84 f. −− Eine Stunde hinter Mitternacht 85 Hessel, Franz 92, 107 Heuss, Theodor 326 Heym, Georg 124, 133–136, 146 f., 151, 217, 342, 377, 440 −− Berlin 133 −− Der Gang der Liebenden 135 −− Der Gastempel 135 −− Die Morgue 133 −− Herbsttag 135 f. −− November 134 f. Hildebrandt, Kurt 232 Hildesheimer, William Cyril 240 −− Der Dank des Knaben 240 Hildesheimer, Wolfgang 337–339 −− Bildnis eines Dichters 337 f. −− Lieblose Legenden 337 f. −− Meine Gedichte 338
13. Register
−− Mitteilungen an Max 338 −− Stefan George: ‚Das Wort‘ 339 Hille, Peter 117 Hiller, Kurt 119, 122, 342 −− Der Kondor 122 Hiltbrunner, Hermann 182 f. −− An Stefan George 182 f. Hindenburg, Paul von 166, 198 Hitler, Adolf 20, 177, 215, 227–230, 234, 238, 247, 263 f., 271, 295 f., 299, 326, 350, 430 −− Mein Kampf 263 f. Hoddis, Jakob van 342 Hölderlin, Friedrich 15, 106, 129, 131, 137, 170, 177, 197, 214, 222, 239, 241, 243, 245 f., 261, 269, 282, 299, 308, 324, 338, 363, 370, 373, 412, 415 −− An die Madonna 269 −− Blödigkeit 282 −− Der Tod des Empedokles 131 −− Gesang an die Deutschen 261 −− Hyperion 15, 214, 222 −− Patmos 241 Höppener, Hugo → Fidus Hoerschelmann, Rolf von 74, 101 Hofmann, Ludwig von 100, 314 Hofmannsthal, Hugo von 28 f., 31–33, 35 f., 43–47, 49–60, 63, 66, 68, 74 f., 77, 88, 94, 100, 104 f., 110, 119 f., 124, 134, 136, 139, 145, 158, 168–170, 204, 206, 212, 285, 287, 318, 321 f., 324, 327, 351, 365 f., 389, 433, 439 −− Andreas 57 −− Das gerettete Venedig 56 f. −− Der Prophet 52, 100, 170 −− Der Tod des Tizian 31 f., 54 f. −− Ein Brief 55 f., 389 −− Einem, der vorübergeht 51 −− Gespräch über Gedichte 55, 60 −− Idylle 29 −− Mein Garten 53 f. −− Ödipus und die Sphinx 57 Holitscher, Arthur 217 Holthusen, Hans Egon 291 Holz, Arno 27, 59, 74 f., 77–79, 83, 88–91, 117, 324 f. −− Die Blechschmiede 88–90 −− „Er kann kein Vogelgezwitscher vertragen“ 90 −− Phantasus 90 Horaz 30, 37, 129 Huch, Friedrich 77 f., 101
505
Huch, Ricarda 71, 292 −− Vita somnium breve 71 Huch, Roderich 70, 92 −− Erinnerungen 70 Huchel, Peter 257 Hummelt, Norbert 14, 16, 370, 375, 379, 382–385, 434, 443 −− das haus George 384 −− der eierdieb 382 −− der meister 383 f. −− Knackige Codes 382 −− mein vogel mimikry 383 −− Sibirische Wallfahrt 382 −− Totentanz 384 −− Verdeckungsgeste 383 −− wiege in bingen 14, 16, 384 f. −− Zeichen im Schnee 383 Hundertmark, Werner 259 f. −− Hellas ewig unser Licht 259 f. −− Und als durch Korn und Mohn die Sense strich 260 Husmann, August 87 Ibsen, Henrik 43 Immermann, Karl 231 −− Chiliastische Sonette 231 Jablonski, Walter 279 f. −− Dante spricht 280 −− Lebensbilder 280 −− Phaon spricht 280 Jacob, Heinrich Eduard 158 −− Der Zwanzigjährige 158 Jacob, Lars 20, 430–432, 443 −− Stauffenberg 20, 430–432, 443 Jacob, Max 271 Jacobsen, Jens Peter 31 Jaime, Edward 234, 303–306 −− D em G enius 303–306 −− Requiem für Stefan George 234 Jansen, Johannes 408 Jean Paul 129, 184, 340, 377 Jensen, Johannes Vilhelm 158 Johst, Hanns 237, 431 −− Schlageter 431 Jokostra, Peter 325 Jonas, Hans 278 Jülg, Bernhard 136 Jünger, Ernst 288, 367, 433 Jünger, Friedrich Georg 261 Jung, Edgar Julius 176 f. Jung, Franz 124
506
13. Register
Kaege, Jakob 109 −− An Stefan George 109 Kästner, Erich 217 Kafka, Franz 152, 209, 364 −− Beschreibung eines Kampfes 152 Kahler, Erich von 271, 273 Kahn, Gustave 27 Kantorowicz, Ernst 227, 295 Kantorowicz, Hermann 206, 212 Kasack, Hermann 184, 334 −− Gelbe Rose 184 Kaschnitz, Marie Luise 257–259 −− Der Teppich des Lebens 257–259 −− Die Wellen 257 Kavafis, Konstantinos 280 Kayser, Rudolf 197 Kemp, Friedhelm 291 Kempner, Friederike 91 Kerr, Alfred 40, 75, 218, 320, 342 Keun, Irmgard 209 f. −− Das kunstseidene Mädchen 209, 210 Kiefer, Anselm 418 f. Kierkegaard, Søren 209 Kindermann, Heinz 248 Kirsten, Wulf 364, 369 Kisch, Egon Erwin 217 Klabund (d. i. Alfred Henschke) 254 Klages, Ludwig 32, 103, 232, 250, 288 Klatt, Fritz 212 Klein, Carl August 29 f., 32, 36 f., 43–46, 60 f., 68 Kleist, Heinrich von 35, 133 Kling, Thomas 375, 379–382, 385, 443 −− Leuchtkasten Bingen 381 −− mittel rhein 380 −− Neues vom Wespenbanner 381 f. −− Stefan George Update 380 f. −− trestern 380 −− Venedigstoffe 379 −− Zum Gemäldegedicht 381 Klopstock, Friedrich Gottlieb 245, 373 Knoblauch, Adolf 153 −− Die schwarze Fahne 153 Koch-Wigand, F. 65 −− Impromptus 65 Köhler-Kossel, Marianne 226 −− I. Über seiner Wiege hing die Traube 226 Koeppen, Wolfgang 320 −− Tauben im Gras 320 Koffka, Fritz 122 Kolbe, Uwe 365, 397, 434 −− Bingener Gebet 365, 397
−− Heimliche Feste 397 −− Hineingeboren 365 −− Wie einer doch noch hoffen kann 365, 397 −− Zweite, überschüssige Legitimation 365 Korrodi, Eduard 221 Kraft, Werner 14, 153, 155, 281–283, 320, 328–330, 341, 441 −− Ausblick 282 −− Das Schweigen 281 −− Garten am See 282 −− Gedichte II 282 −− George 282 −− George und das Judentum 320, 328 f. −− Georges Grab (Minusio) 329 f. −− Grab in Minusio 14 −− Scherz oder Die Kunst, George und der Künstler 329 −− Weigerung 282 −− Wort aus der Leere 282 Kraus, Karl 198 f., 281 Krauss, Ernst 185 −− Das Tor 185 −− Leben und Liebe 185 Kreis, Christian 397 f. −− George spaziert 398 Kreuder, Ernst 291 −− Die Gesellschaft vom Dachboden 291 Krier, Jean 415 f. −− Alte Liebe, revisited 415 f. Kroidl, Malte 353 −− Taunusanlage 1991 353 Krolow, Karl 341 Krüger, Michael 433 f. Kubiczek, André 15, 426–429, 443 −− Komm in den totgesagten Park und schau 15, 427–429, 443 −− Oben leuchten die Sterne 427 Küchenmeister, Nadja 15 f., 397, 399–404, 443 −− Alle Lichter 399 −− die stunden 15, 399 f. −− juli-schwermut 401–404 −− weh 16 Kühn, Julius 249 −− Der tote Gott 249 Kulka, Georg 183 f. −− Einer nur 184 −− Klang 183 f. Kurella, Alfred 176 Kurth, Ferdinand Max 34 −− Tag der Seele 34 Kurz, Isolde 77 f.
13. Register
Kusters, Wiel 361–363 −− Der Tanz der Schere 361–363 Lagerlöf, Selma 337 Lamport, Francis L. 411 f. −− Der herr der insel iii 411 f. Landau, Edwin Maria 221, 224 Landmann, Michael 313 f. −− An Stefan George 313 f. Lang, Siegfried 65 Lasker-Schüler, Else 117, 122, 147 f., 355 −− Gesichte 148 −− Im neopathetischen Cabaret 122 Laubegast, Simone von 391 f. −− (Aus dem) Bericht eines Kardinals 391 −− Gesichte eines Alleinunterhalters 391 f. Lautréamont (d. i. Isidore Lucien Ducasse) 415 Lechter, Melchior 65, 103, 125, 147, 189, 231 Leder, Rudolf → Stephan Hermlin Lederer, Joe 217 Lehár, Franz 355 −− Die lustige Witwe 355 Lehmann, Wilhelm 281 f., 329, 341 Lenin, Wladimir Iljitsch 248 Lentz, Michael 434 f. Lepsius, Reinhold 58, 61, 63 f., 67 Lepsius, Sabine 58, 61, 63 f., 67, 125 Leschnitzer, Franz 262, 264, 276 f., 285, 440 f. −− George und die Folgen 276 f. Lessing, Theodor 107, 250 −− Einmal und nie wieder 250 Leuthold, Heinrich 3 Levetzow, Karl von 33 f., 59, 83 −− Ein Lied 34 −− Seelen-Geige 33 f. Levy, Kurt K. 113 Lewitscharoff, Sibylle 424 −− Pfingstwunder 424 Lewy, Hans 278 Lichtenstein, Alfred 122 Lichtheim, George 278 Lienhard, Friedrich 193 f. −− An Stefan George 194 −− Georges Vergottung 193 Liliencron, Detlev von 47, 77 f., 106, 117, 324 f. Linde, Otto zur 4, 91, 175, 307 −− An die Ästheten 91 Linden, Walther 243 Loerke, Oskar 117–119, 123, 232, 261, 321, 341
507
−− Erbe und Eigen 118 −− Sunt lacrimae rerum 118 Löwen, Walter 299 f. −− Stauffenberg 299 f. Loewenson, Erwin 119–122 Löwenstein, Hubertus zu 271, 319 −− Ein Spiel vom Reich 319 Lorenz, Emil 17, 244–246 −− An Stefan George 245 f. −− Das steigende Jahr 17, 246 −− Der Meister und die Jünger 246 −− Der tönende Mund 246 −− Die Einweihung des Orpheus 246 −− Hochsommer 246 −− Hölderlin 246 −− Verwahrung 246 Lotz, Ernst Wilhelm 342 Lublinski, Samuel 117 Lucka, Emil 43 Ludendorff, Erich 166 Lüddecke, Werner Jörg 300 Lukács, Georg 104, 323 f. −− Die Seele und die Formen 323 Lukrez 239 Machatý, Gustav 300 Mackay, John Henry 65, 74 Maeterlinck, Maurice 25, 27, 37, 92 Malchow, Fedor 356 −− Kirschen 356 Mallarmé, Stéphane 25, 35, 322, 338, 367, 380 −− Apparition 35 −− Brise marine 35 −− Hérodiade 35 Maltz, Felix 125 Mangold, Ijoma 422 −− Das deutsche Krokodil 422 Mann, Heinrich 40, 158, 217 f., 320 Mann, Klaus 224, 229 f., 277, 281 −− Das Schweigen Stefan Georges 229 −− Der Wendepunkt 229 Mann, Thomas 40, 99 f., 117, 175, 218, 227, 252, 266, 287, 319 f., 327 −− Beim Propheten 100 −− Der Tod in Venedig 100 −− Doktor Faustus 319 f. Marcuse, Ludwig 207 Marinetti, Filippo Tommaso 27 f., 323 −− Manifesto del Futurismo 27 Marquina, Eduardo 27 Marx, Leopold 186 −− Herbst der Seele 186
508
13. Register
May, Karl 324 Maydell, Bodo von 317, 350 −− Zum Stefan-George-Jahr 1983 317 Mayer, Hans 322 Mayröcker, Friederike 434 f. Mehnert, Frank 430 Meinke, Hanns 4, 14, 109 f., 175 f., 307–310 −− An Stefan George 175 −− Für Stefan George 307 f. −− Maximin 14, 109 −− „Stern schon meiner knabenjahre“ 308 f. −− Widmung an ST · G 109 f. Mendès, Catulle 27 Messow, Kurt 314 −− Der Priester 314 Meyer, Alfred Richard 158 Meyer, Detlev 355 −− Brief des Mundart-Dichters K. an Friedrich Gundolf 355 −− Obdach für Jussuf 355 Meyer, Richard M. 60 f. −− Die Deutsche Litteratur des Neunzehnten Jahrhunderts 61 Meyer-Brockmann, Henri 254 Meyerhof, Leonie 69 f. −− Stefan George 70 Meyrink, Gustav 197 Michel, Karl 297 f. −− Stauffenberg 297 f. Michel, Wilhelm 170 Mistral, Frédéric 27 Modiano, Patrick 374 f. −− Du plus loin de l’oubli 374 f. Möbius, Martin → Otto Julius Bierbaum Mörike, Eduard 325 Moering, Richard → Peter Gan Molinari, Ricardo 235 f. −− Una rosa para Stefan George 235 f. Mombert, Alfred 106, 154, 211 Montesquiou, Robert de 47 Moore, T. Sturge 27 Morgenstern, Christian 30 f., 94 −− Aus Lametta vom Christbaum der siebenten Erleuchtung 94 −− Odi profanum 30 f. Morwitz, Ernst 156, 230, 271 f., 292 −− Der Dichter und der Krieger 156 Muckermann, Friedrich 202 Mühsam, Erich 70, 100 f., 151, 330 −− Der Aesthet 101 −− Der Krater 101, 151
−− Unpolitische Erinnerungen 70, 101 Müller, Heiner 321 Müller, Herta 389 −− Atemschaukel 389 Müller, Karl Christian → Teut Ansolt Müller-Freienfels, Richard 317 −− Aus dem ‚Achten Ring‘ 317 Mussolini, Benito 228, 235, 248 Muster, Wilhelm 357 f. −− Algabal 357 f. Muth, Karl 127, 250–252 Nadler, Josef 49, 205 f. Nalewski, Horst 368 f., 375 Naumann, Hans 227 f. Neander, Kurt 117 Neumann, Robert 173 f. −− Die Wunderstunde 173 −− Lenz 173 −− Mit fremden Federn 173 Niebelschütz, Wolf von 257 Nietzsche, Friedrich 32 f., 37, 40, 56, 67, 100, 116, 125–127, 153, 173, 197, 241, 291, 306, 319 f., 372, 444 −− Also sprach Zarathustra 125, 173, 372 −− Die Revolution in der Poesie 32 Novalis (d. i. Friedrich von Hardenberg) 129, 137 Oeschger, Johannes 14, 331–334 −− Minusio 14, 331–334 Oesterheld, Erich 137 Opitz, Martin 149 −− „Ach Liebste, laß uns eilen“ 149 Ortheil, Hanns-Josef 425 f. −− Rom, Villa Massimo 425 f. Ostini, Fritz von 91–93 Ostwald, Hans 217 Otway, Thomas 56 Ovid 54 Pabst, Georg Wilhelm 300 Paetel, Karl O. 265, 288 Pallas, Rudi 176 Pannwitz, Rudolf 57, 169, 175, 201, 268 f., 295, 306 f., 309, 334 −− Deutschland 306 −− Die Stammgötter 306 f. −− George-Gesänge 268 −− Graf Stauffenberg 295 Papen, Franz von 176 f. Parmenides 154
13. Register
Pastior, Oskar 361–363, 412 f. −− Der Tanz der Schere 361–363 Pastor, Willy 72 Paul, Bruno 59, 73, 79 f., 82, 87 Pessoa, Fernando 365 Petersdorff, Dirk von 416, 419–422, 434 f. −− Die Vierzigjährigen 419 −− Sternendinge 420–422 Petrarca, Francesco 412 Petri, Otto 117 Petrow, Michael 262 Pfemfert, Franz 123, 151 Picard, Jacob 271 Picht, Georg 301, 350 Picht, Werner 301 Piloty, Carl Theodor von 304 Pindar 361 Pinthus, Kurt 120 f. −− Stefan George 121 Platen, August von 100, 110, 325, 353 Platon 103, 209, 239 −− Symposion 103 Podszus, Friedrich 321 Polotsky, Hans-Jakob 278 Pongs, Hermann 247 Ponten, Josef 202 Poppel, Georg van 424 Port, Kurt 157 Poschmann, Marion 434 Posselt, Erich 69 Pound, Ezra 379 Preczow, Götz von 221 Preiss, Wolfgang 300 Pretorius, Emil 320 Proust, Marcel 415 Raab, Kurt 352 Rachilde 27 Radbruch, Gustav 291 Raffael 187 Rappaport, Felix 29 f. −− Schwarze Lilien 30 Rassenfosse, Edmond 419 Rausch, Albert Heinrich → Henry Benrath Rave, Paul Ortwin 192 f. Redslob, Edwin 313 f. −− Stefan George 313 f. Régnier, Henri de 145 Reiner, Paul 213 Renner, August 32 f. −− Das lyrische Wien 32 f.
509
Reventlow, Franziska zu 71–73, 92, 103 f. −− Herrn Dames Aufzeichnungen 71 f., 103 f. Riegel, Werner 341 f. −− Die heiße Lyrik 341 f. Rieß, Richard 172 −− Der neue Beruf des Lyrikers 172 Rigolo (d. i. Karl Waßmann) 75 Rilke, Rainer Maria 61, 63 f., 77 f., 88, 94, 104 f., 120, 204, 212, 220, 237, 254, 278, 285, 287, 291, 321 f., 324 f., 338, 365 f., 414 f., 439, 442 −− An Stephan George 63 f. −− Lieder der Mädchen 64 −− Mir zur Feier 64 Rimbaud, Arthur 136 Roda Roda, Alexander 93 Röck, Karl 136 Roehler, Oskar 351 −− Enfant terrible 351 Rolicz-Lieder, Wacław 25 f., 31 −− Moja Muza 26 Roosevelt, Franklin D. 299 Rosenberg, Arthur 289 Rosenthal, Fritz → Schalom Ben-Chorin Rosenzweig, Franz 202 Roth, Eugen 179–181 −− Der Ruf 179–181 −− Erde der Versöhnung Stern 179 −− „Er wird wohl sehen, wie die Vielen leiden“ 181 −− „Es steht der Kommende schon auf der Schwelle“ 179 −− „Freunde wo ist ein Halt wenn Ihr nicht haltet?“ 179 −− „Ich bin der Rufer nur, der einsam steht“ 180 −− „Nun ist die Nacht der Reden und Gesänge“ 181 −− „Schon ist des Meisters Ruf an uns ergangen“ 180 Roth, Joseph 230 Rueda, Salvador 27 Rühm, Gerhard 343 f. −− hommage 343 f. Rühmkorf, Peter 341 Ruest, Anselm 158 Rulot, Joseph 32 Rûmi 151 Rust, Bernhard 230 Saar, Ferdinand von 32 Sacher, Hermann 112
510
13. Register
Saemann, Curt 156 Saint-Paul, Albert 25 f., 32, 202 −− Deux Poèmes de Stefan George 25 −− Lai pour d’héraldiques chats 26 −− Pétales de Nacre 32 Sakheim, Arthur 159 Salin, Edgar 268, 309 Salomon, Elisabeth 189 Salten, Felix 29 Salus, Hugo 59, 83 Samberger, Leo 73 Sambursky, Schmuel 278 f. −− An Scholem 278 f. −− Nicht-imaginäre Portraits 278 Sappho 209 Schäfer, Walter Erich 298 f. −− Die Verschwörung 298 f. Schäfer, Wilhelm 202 Schaeffer, Albrecht 4, 19, 113–116, 187–191 −− Abgesänge der hallenden Korridore 189 −− Der Sklave 188 −− Dichter und Dichtung 191 −− Die Opfer des Kaisers 187 f. −− Elli oder Sieben Treppen 19, 189–191 −− Helianth 19, 187 −− Kremserfahrten 188 −− Sumpf-Zauber 189 −− Vier Sonette an Stefan George 113–116, 187 Schanz, Frida 102 Schaukal, Richard von 12, 34–40, 95, 330 −− Ausgewählte Gedichte 39 −− Buch der Seele 35 −− Das Gartengitter 37 −− Der Sieger 39 −− Der von der Halde 39 −− Der Wächter 38 −− Die Sphinx 35 −− Die Sporenwacht 38 −− Frau Minne 38 −− Herodias 35 −− Intérieurs aus dem Leben der Zwanzigjährigen 37 −− Meeresbrise 35 −− Meine Gärten 36 f. −− Porträt eines spanischen Infanten 39 f. −− Sehnsucht 36 −− Stephan George 35 f. −− Von Tod zu Tod 36, 38 Schaumann, Ruth 202 Scheck, Denis 445
Scheerbart, Paul 61 f., 82, 117 −− Der Tod der Barmekiden 61 −− Der Tod Emins 61 −− Rakkóx der Billionär 62 Scheler, Max 186 f. Schertel, Ernst 213 Scheuermann, Silke 434 Schickele, René 120 −− Spuk 120 Schieke, Jörg 370 Schiller, Friedrich 158, 286, 338, 366, 372 f. −− Ode an die Freude 372 Schilling, Erich 199 f. Schilling, Heinar (d. i. Heinrich) 13, 164–168 −− Da trat der Seraph … 165 f. −− S. G. 13, 167 f. −− Sonette des Schweigens 165 −− Verloren 167 −− Versuche 165 Schilling, Rolf 365–368 −− Aus Ariel-Tagen 366 −− Haupt-mensa 365 f. −− Herbst-Sonett 367 f. −− Stefan George 365 f. Schirach, Baldur von 248 Schirokauer, Arno 207 −− Dichter in dürftiger Zeit 207 Schirrmacher, Frank 350 −− Liebe zu dem Meister 350 Schlaf, Johannes 117 Schlageter, Albert Leo 177 Schlayer, Clotilde 331 Schleichert, Gertraud 353 f. −− Paraphrase auf George 353 f. Schmalenbach, Herman 302 Schmid, Carlo 292 −− Römisches Tagebuch 292 Schmidhammer, Arpad 79, 81 Schmidt, Arno 377 Schmidt O.S.B., Expeditus 202 Schmitz, Oscar Adolf Hermann 103 f., 202 −− Bürgerliche Bohème 103 −− Klasin Wieland 103 Schmuljow-Claassen, Ria 28 Schnack, Anton 305 −− Tier rang gewaltig mit Tier 305 Schnetz, Peter 407 f. −− Wer je die Sparflamme umschritt 407 Schnitzler, Arthur 29 Schönberg, Arnold 29, 413 Scholem, Gershom 155, 278 f. Scholl, Hans 176, 251 f.
13. Register
Scholz, Wilhelm von 185 −− Reifendes Jahr 185 Schopenhauer, Arthur 173 −− Parerga und Paralipomena 173 Schröder, Rudolf Alexander 4, 56, 82, 97–99, 225, 334, 439 −− Georgika 98 f. −− Unmut 56 Schügerl, Herbert 353 f. Schuler, Alfred 103 Schulze-Maizier, Friedrich 120, 159 Schumann, Gerhard 243 f. −− Die Lieder vom Reich 243 f. −− Die Tat 244 Schumann, Robert 254 Schwab, Gustav 193 Schweinitz, Hans Bernhard von 110 −− An den Meister 110 Scott, Cyril Meir 26 Seghers, Anna 323 Seidel, Ina 202 Seifert, Ludwig 136 Seiffert, Hans 175 Seiler, Lutz 15, 369 f., 388–390, 434 f., 443 −− das neue reich 15, 388 f. −− im felderlatein 388 f. −− Stern 111 389 f. Shakespeare, William 57, 198, 340, 419 Sieburg, Friedrich 128–132 −− An Friedrich Gundolf 130 −− Die Anrufung des Dichters 128 −− Die Erlösung der Strasse 128 −− Die Sucher 129 −− Frühlingsfeier 131 f. −− Spruch 129 f. Simmel, Georg 61, 336, 442 Slochower, Harry 272 Sophokles 35 Sorge, Reinhard Johannes 124–128 −− Der Jüngling 126 −− Einsam 124 −− Gedanken über verschiedene Dinge 126 −− Guntwar 128 −− Todesahnen 125 −− Verse des Herbstes 126 −− Verse des Sommers 126 −− Verse im Frühling 126 −− Von den äusseren dingen der kunst 126 −− Von meister und schüler 126 Spann, Othmar 112 Spender, Stephen 334 Spengler, Oswald 185, 197, 263
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Spitteler, Carl 213 Stadler, Ernst 124, 145–147, 151, 217, 440 −− Der Aufbruch 146 −− Form ist Wollust 146 f. −− Im Treibhaus 146 −− Incipit vita nova 146 −− Praeludien 145 Stalin, Josef 299 Stauffenberg, Alexander von 293–295, 430 −− Denkmal 295 −− Der Tod des Meisters 293 f. Stauffenberg, Berthold von 295, 299, 326, 430 Stauffenberg, Claus von 20, 176, 295–301, 326, 332–334, 350, 430–432 Stauffenberg, Melitta von (geb. Schiller) 295 Steinen, Wolfram von den 269 f., 302 f. −− Der Meister 269 f. −− Stefan George zum 20. Todestage 302 f. Steiner, Herbert 270, 272 Stendhal (d. i. Marie-Henri Beyle) 57 Sternthal, Friedrich 202 Stettler, Michael 350 Stiefenhofer, Theodor 236 Stifter, Adalbert 209 Stoeving, Curt 274 Stolterfoht, Ulf 414 −− Fachsprachen 414 −− stille tage in altaussee 414 Strauß, Botho 371 f., 433 −− Schlußchor 371 Strauss, Ludwig 187–189, 192 −− Abgesänge der hallenden Korridore 189 −− Die Opfer des Kaisers 187 f. −− Kremserfahrten 188 −− Nachtwache 192 −− Sumpf-Zauber 189 Streicher, Julius 289 Strindberg, August 158 Susman, Margarete 266, 273 Swinburne, Algernon Charles 31, 366 −− Dedication 366 Symons, Arthur 27 Szittya, Emil 12, 195 −− Klaps oder Wie sich Ahasver als Saint Germain entpuppt 12, 195 Taube, Otto von 105 f. −− Antinous 106 −− Wanderjahre 106 Thieß, Frank 202, 207 −− Ein Bekenntnis 207 Tiedge, Christoph August 3
512
13. Register
Toller, Ernst 217 Trakl, Georg 116, 136–140, 143–145, 212, 342, 364 f., 370 −− Der Gewitterabend 140 −− Der Herbst des Einsamen 145 −− Der Traum eines Nachmittags 140 −− Dichtungen 136 −− Die junge Magd 140 −− Die schöne Stadt 138–140, 143 f. −− Die Verfluchten 138 −− Einer Vorübergehenden 137 −− Gedichte 137, 143 −− Im Park 145 −− Melancholia 138 −− Sabbath 137 −− Sammlung 1909 137 f. −− Sebastian im Traum 145 −− Sommersonate 140 −− Sonja 140 Trebitsch, Arthur 157 −− Einem modernen Dichter 157 Tresckow, Henning von 301 Treuge, Lothar 184 Tucholsky, Kurt 171 Turgenew, Iwan Sergejewitsch 37 Twardowski, Hans Heinrich von 171 f. −− An Jasimin 172 −− Der Rasende Pegasus 171 −− Die Leyerfeier 171 f. Uhland, Ludwig 3 Unger, Erich 121 Unger, Helmut 217 Unruh, Friedrich Franz von 161–163, 215–217 −− Sonette 216 Unruh, Fritz von 20, 159, 162 f., 215 f. −− Ein Geschlecht 159 −− Stürme 20, 162 Usinger, Fritz 215, 255 f., 334 −− Dichter und Herrscher 256 −− Stefan George 215, 256 Uxkull-Gyllenband, Woldemar 226 f. Valéry, Paul 48 Valhope, Carol North (d. i. Olga MarxPerlzweig) 271 f. Vallentin, Berthold 169 −− Zum 12. Juli 1926 169 Velázquez, Diego 35, 39 Vergil 314 Verhaeren, Émile 27, 32 −− Der Schrei 32
−− Die Bäume 32 Verlaine, Paul 35, 136, 140, 185, 246, 322, 367 −− Fêtes galantes 140, 246 −− Les ingénues 140 Verwey, Albert 25 f., 100, 266–268 −− Bij de dood van een vriend 267 −− De boodschad 267 −− De Dichter en het derde rijk 268 −− George’s laatste bezoek aan Binge 267 −− Liederen van laatste verstaan 267 −− Over het Zeggen van Verzen 26 Vesper, Will 240, 247 −− Das Neue Reich 247 Vielé-Griffin, Francis 202 Viereck, Georg Sylvester 317 Viereck, Peter 317 f. −− Der seher des (hoffentlich) letzten reiches 318 Vitzthum, Wolfgang Graf 397 Vollmoeller, Karl Gustav 61, 66, 68, 125, 270 −− Parcival. Die frühen Gärten 66 −− Praeceptor Germaniae 270 Voltaire 156 Vordtriede, Werner 265 Vring, Georg von der 254 −− Die Puppen 254 Wagner, Jan 434 f. Wagner, Richard 31, 67 Walden, Herwarth 117, 123 Waldinger, Ernst 283 −− Der Gemmenschneider 283 −− Pulchra Pia 283 Waldmann, Elisabeth 222 f. −− M. 222 Walser, Martin 372–374 −− Ein springender Brunnen 372–374 Walser, Robert 209, 377 Walter, Reinhold von 105 Wandrey, Conrad 202 Waßmann, Karl → Rigolo Wecker, Konstantin 408 −− Schlendern 408 Wedekind, Frank 77 f., 93 Wegner, Armin T. 217 Weichberger, Philipp 340 Weigand, Hermann J. 272 Weiler, Klaus 370 f. −− Auschwitz 370 f. −− Blut 370 Weinert, Erich 194 f. −− Der ewige Wandervogel 195
13. Register
Weinheber, Josef 16, 112, 247 −− Adel und Untergang 16, 247 Weisenborn, Günther 300 Werfel, Franz 287, 342 −− Der totgeweihte Park 287 −− Schlaf und Erwachen 287 −− Stern der Ungeborenen 287 Wertheimer, Paul 47, 49 f. −− Der Teppich 50 −− Faune 49 f. Wessel, Horst 264, 271 Wetter, Max 350 Whitman, Walt 365 Wicki, Bernhard 300 Wiechert, Ernst 248 Wiegler, Paul 202 Wiens, Paul 324 f. −− Gespräch mit einem ausgegrabenen gott 324 f. −− Nachrichten aus der siebenten Welt 324 Wiggers, Rudolf 109 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 87 f. −− Nach Stefan George 87 Wilde, Oscar 92, 158 Wilke, Erich 217 f. Wille, Bruno 60 Willige, Wilhelm 111 f. −− George 111 f. Winkler, Eugen Gottlob 219, 250 −− Stefan George in unserer Zeit 250 −− Über Stefan George 219 Wirth, Willy 228 f. Wolf, Christa 321
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Wolfskehl, Karl 29, 31 f., 65 f., 68 f., 74, 92, 99, 102–104, 106, 112, 137, 148, 163 f., 189, 198, 201 f., 213, 231, 253, 256, 265–270, 280, 292, 295, 299, 303–306 −− Aufbruch I 266 −− Das Lebenslied 266 −− Maskenzug 92 −− Nänie N. G. 303–306 −− Umkreis 256 −− Zu Schand und Ehr 295 Wolters, Friedrich 87, 112, 133, 215 f., 232, 302 Wolzogen, Ernst von 85 −− Das dritte Geschlecht 85 Wondratschek, Wolf 434 Wongtschowski, Adolf Friedrich → Friedrich W. Buri Würffel, Bodo 4, 262 Wyneken, Gustav 203, 213 Yeats, William Butler 27 Zech, Paul 147 f., 287–289, 342 −− Probleme und Gestalten 287 −− Stefan George und der Kreis seiner Schüler 288 Zeiz, August Hermann 163 f. −− Dichter und Eroberer 163 Zeller, Michael 352 f. −− Follens Erbe 352 f. Zibaso, Werner P. 300 Zierold, Kurt 230 Zürcher, Maximilian 426 Zweig, Arnold 264 Zweig, Stefan 66, 110, 202, 204