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German Pages [313] Year 2012
V
© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Für Mone, die es auf ihre Weise begleitet
© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Thomas Stölzel
Staunen, Humor, Mut und Skepsis Philosophische Kompetenzen für Therapie, Beratung und Organisationsentwicklung
Mit 7 Abbildungen und 3 Tabellen
Vandenhoeck & Ruprecht © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-40359-4 ISBN 978-3-647-40359-5 (E-Book) Umschlagabbildung: shutterstock.com © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: e Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Reizwort Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Formen der Wissensgewinnung: Fragen befragen . . . . . . . . . . . . . . . Definieren, Indefinieren, Neudefinieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterwegs zu einem persönlichen Verständnis von Philosophie . . . . . . Metaphilosophieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Etymologie – ein Holzweg? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Blick auf die Wortgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sinn-Zusammenschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was soll, was kann man sich unter Weisheit vorstellen? . . . . . . . . . . . . »… eine Kleinigkeit weiser …« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie weise ist / handelt die Wissenschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Potential der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Angebot der Philosophischen Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13 13 15 18 22 24 28 34 37 41 44 53 63 66
Koda: Die philosophische Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Was kann ein Mensch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kompetenzen? Wozu? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erstspracherwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstübertreibungstendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Metakompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
76 76 78 89 89 92
Vier andere Mitspieler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Eine Notiz zur »Existentiellen Kommunikation« . . . . . . . . . . . . . . . 106
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Inhalt
Philosophische Kompetenzen in Organisationen . . . . . . . . . . . . . 112 Staunen: Eine Frage der Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vordialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elemente für ein persönliches Staunens-Profil . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was heißt: »wahrnehmen«? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Staunen und Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Staunen und Hypothesenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Die Macht der Gewohnheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Staunen in der existentiellen Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grenzen des Staunens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
115 115 118 126 131 142 144 145 150 161
Humor: Eine Frage der Haltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vordialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elemente für ein persönliches Humor-Profil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was heißt: (sich) »halten«? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Humor in der existentiellen Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grenzen des Humors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
163 163 165 179 185 195 206
Mut: Eine Frage der Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vordialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elemente für ein persönliches Mut-Profil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was heißt: »entscheiden«? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mut in der existentiellen Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grenzen des Mutes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
208 208 211 222 228 239 247
Skepsis: Eine Frage der Prüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vordialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elemente für ein persönliches Skepsis-Profil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was heißt: »prüfen«? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Skepsis in der existentiellen Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grenzen der Skepsis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
248 248 250 265 272 285 293
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Inhalt
In der Mitte eines Quadrats: Philosophische Kompetenzen im Alltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Chronologische Liste der Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301
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Vorwort
Vorwärts bis zum Anfang! Werner Kraft
Staunen, Humor, Mut und Skepsis: Das sind Worte der Alltagssprache – und zugleich mehr. Sie führen einiges an kulturgeschichtlichem Gepäck mit sich, das gerade, wenn man sie als philosophische Kompetenzen wahrnimmt, entwickelt und anwendet, sichtbar wird und den einzelnen Menschen auf seine Weise als philosophisches Lebewesen zu erkennen gibt. Damit erhebt sich die Frage: An wen wendet sich dieses Buch? Es wendet sich an alle, die philosophische Perspektiven für ihre Arbeit und/oder ihr Leben nutzen möchten. Es ist also nicht allein für diejenigen geschrieben worden, auf deren Tätigkeitsfeld der Untertitel hinweist, wenngleich Therapeuten, Berater, Coaches und Organisationsentwickler wie auch zum Beispiel (Sozial-)Pädagogen, Lehrer, Mediatoren oder Moderatoren in ihm Methodenvorschläge, Übungsbeispiele und Perspektivenangebote finden werden, um ihr professionelles Handeln anders zu betrachten und zu überprüfen, ihre Haltung und ihr Vorgehen grundlegend zu reflektieren (und möglicherweise zu verbessern). Kurz gesagt verfolgt das Buch (genauer ich als Autor) drei Ziele: 1. Den Begriff Philosophie und die Handlungsweise des Philosophierens individuell klärbar zu machen und einige Aspekte ihres Potentials anschaulich werden zu lassen. Es wird also versucht, den vielfach ausschließlich theoriebeladenen, praxisfernen und akademischen Begriff ins Leben und ins persönlich (verantwortete) Handeln zurückzuholen, wo er ehemals (als er gebildet wurde) deutlich mehr beheimatet war als heute; das eröffnet auch eine andere Perspektive auf das schillernde und rätselhafte Potential der Weisheit, die für unsere Spezies charakteristisch sein soll. 2. Den Menschen als ein (selbstbezügliches) Fähigkeitswesen erkennen zu lassen, als das er nach längerer Zeit vornehmlich patholo© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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Vorwort
gischer Betrachtung in den letzten Jahren wieder wahrgenommen wird (vgl. Resilienzforschung), und dabei als Voraussetzung der philosophischen Aspekte grundlegende wie persönliche Fähigkeiten sichtbar zu machen. 3. Anhand von vier philosophischen Kernkompetenzen – dem Staunen, dem Humor, dem Mut und der Skepsis – aufzuzeigen, wie diese für berufliche, aber auch für persönliche Fragen und Herausforderungen genutzt werden können. Verbunden damit ist auch ein anderer Blick auf vier relevante Handlungsweisen, das Wahrnehmen, das (sich) Halten, das Entscheiden und das (Über-)Prüfen. Das Buch wendet sich nicht (zumindest nicht in erster oder zweiter Linie) an einen fachwissenschaftlichen Leserkreis und setzt kein fachwissenschaftliches Wissen voraus, wenngleich ich, wie man sehen wird, einiges an Platz und Sorgfalt darauf verwendet habe, relevante Begriffe zu erläutern und (wenn möglich) zu klären. Das betrifft nicht allein die vier Kompetenzbegriffe, die ich jeweils in einzelnen Begriffsgeschichten etwas genauer betrachte; was bedeutet: Ich strebe damit keinen umfassenden Lexikoneintrag einer conceptual history an (vgl. Koselleck, 2006), sondern möchte, an einigen Stationen ihrer jeweiligen Verwendungsgeschichte entlanggehend, für das ihnen innenwohnende Potential sensibilisieren. Der Zugang wie die Konzeption dieser vier philosophischen Kompetenzen verdankt sich der konkreten Arbeit für Einzelne, Paare, Gruppen und Organisationen; genauer der Verbesserungsmöglichkeiten, die durch einen reflektierten Umgang mit dem Staunen, dem Humor, dem Mut und der Skepsis (und damit durch eine Erweiterung ihres Alltagsverständnisses) entstehen können. Das grammatische Genus, das ich verwende, ist männlich, wobei Frauen bzw. die weibliche Perspektive in gleicher Weise mit einbezogen sein sollen. Ich habe während des Schreibens mehrfach überlegt, ob ich nicht zumindest Teile im weiblichen Genus schreiben soll. Doch gibt es keine wirklich befriedigenden Lösungen, und Wendungen, wie zum Beispiel frau statt man, hätten womöglich die Dudenorientierung des Verlagswesens etwas überstrapaziert und an dem mittlerweile üblich gewordenen Doppelgeschlechtsplural Innen stößt sich mein Sprachgefühl. Verbleibt mir noch, meinen Dank auszusprechen. Und der gilt allen Patienten, Klienten und Kooperationspartnern sowie den Teilnehmern von Fortbildungsseminaren, kasuistischen Runden und Vorträgen, die © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Vorwort
es mir über eine Reihe von Jahren möglich gemacht haben, meine Konzeption dieser vier philosophischen Kompetenzen vorzustellen, anzuwenden und zu überprüfen. Namentlich möchte ich folgenden Personen danken: Matthias Ohler für die konstruktive und bereichernde gemeinsame Arbeit an verschiedenen Fortbildungsreihen und philosophischen Supervisionen in Deutschland und der Schweiz während mehrerer Jahre; Peter Friedrich und Charlotte Friedli von dem Fachbereich Psychosoziales Management der Fachhochschule Nordwestschweiz für ihren tatkräftigen Einsatz bei der Etablierung des CASKurses »Angewandte Philosophie im beruflichen Kontext«; Fritz B. Simon, der mich nachdrücklich dazu angeregt hat, meine Ideen und Erfahrungen, die ich im Bereich der Philosophischen Praxis und Beratung entwickelt und gewonnen habe, (endlich) eine Buchform zu geben und sie damit auch für Systemiker zugänglich zu machen; Günter Presting und Sandra Englisch vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht für ihr Interesse an dem Thema und ihren Mut für ein wohl eher ungewöhnlicheres Buchprojekt sowie die gute und professionelle Zusammenarbeit – zuletzt und zumeist (die Widmung deutet es an) meiner lieben Frau Simone Stölzel für ihre Anteilnahme, Dialogbereitschaft und Unterstützung, mit der sie den Entstehungsprozess (nicht nur) dieses Buches freundlich-kritisch begleitet hat. Bedanken möchte ich mich auch bei unseren Kindern Maura, Nikolai, Valentin und Milan für ihr Verständnis, dass ihr Vater über einige Zeit etwas weniger ansprechbar war als sonst war. Zuallerletzt sei angemerkt, dass dieses Buch den ersten von zwei aufeinander bezogenen Bänden darstellt; der zweite Band »Fragen – Lösen – Fragen. Philosophische Potentiale für Therapie, Beratung und Organisationsentwicklung« soll im Frühjahr 2013 erscheinen. Ich habe mich dazu entschlossen, das Material auf zwei Bände zu verteilen, um das Entstehen eines dickleibigen (und überdies teuren) Buches zu vermeiden und zwei handlichere Formate für den praktischen Gebrauch zu ermöglichen. Ich wünsche allen Lesern und Verwendern dieses Buches viele weiterführende Anstöße und Anregungen nicht zuletzt für eine »philosophische Lebensführung« (Karl Jaspers), und hoffe, dass sie es als Beispiel einer »fröhlichen Wissenschaft« (Friedrich Nietzsche) vom Menschen ansehen und nutzen können. Thomas Stölzel © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Reizwort Philosophie
Philosophie – unbegrenzte Ausübung der Fragefunktion des Geistes Paul Valéry
Bestandsaufnahme Das Wort Philosophie geistert – überhöht wie unterschätzt – durch viele Personen, Situationen und Organisationen. Nur selten (so meine Beobachtung) löst es gleichgültige, und noch seltener differenzierte Reaktionen aus. Häufig fördert allein seine Verwendung unmittelbar Emotionen zu Tage, weckt Hoffnungen, provoziert Abwertungen, bringt bestimmte Glaubensvorstellungen ins Spiel, erzeugt jedenfalls starke Zu- wie Abneigungen; als ob bereits der Gebrauch dieses Wortes eine Person oder Sache an sich schon adeln würde oder diese als weltfremd, spinös und deswegen schädlich erscheinen lasse. Und so werden Philosophie und das Philosophieren in gleicher Weise bekämpft, lächerlich gemacht oder zu verhindern versucht wie sie auch überwertig als besondere Bedeutungsgeber angesehen werden, die dem, was mit ihnen in Berührung kommt, ein spezifisches Odium zu verleihen vermögen. So ist zum Beispiel die Rede von der Bedeutung einer bestimmten Führungs- oder Lebensphilosophie (eben nicht selten im Gestus, dies sei etwas Wichtiges, ja Unverzichtbares). In anderen Kontexten wiederum soll bloß nicht philosophiert werden, da man dies für die eigene Praxis gar nicht gebrauchen könne, da auf diesem Wege nichts herauskomme, weil das abstrakt und zu theoretisch sei (vgl. Ohler, 2009, S. 11 ff.). Vielen sogenannten Praktikern ist anscheinend unklar, dass es sich bereits bei ihrer Selbstbeschreibung: »Ich bin ein Praktiker«, um eine theoretische Äußerung handelt, die häufig einen wichtigen Bestandteil ihrer jeweiligen Selbst-Theorie darstellt. Zudem besitzen selbst die selbst© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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Reizwort Philosophie
ernannten Praktiker (freilich ohne dies so zu nennen) durchaus so etwas wie eine individuelle und theoretische Lebensphilosophie, die unmittelbaren Einfluss auf ihre praktischen Handlungen ausübt. Und so werde ich in der Folge auch etwas über das vermeintliche Spannungs- bzw. Ausschließungsverhältnis von Theorie und Praxis sagen, mich mit dem häufig vorgetragenen (und dabei durchaus nicht grundlosen) Vorurteil beschäftigen, Philosophie sei etwas rein Theoretisches. Ein Grund, dass Philosophie eine starke Wirkung hat und Menschen gleichermaßen bestätigen, orientieren und unterstützen wie auch herausfordern, irritieren und verunsichern kann, also Trost und Ärgernis in einem bildet, liegt in ihrer Spannbreite. An dem Umstand, dass Philosophie als etwas schwer Greifbares erscheint und anscheinend mit sehr vielen Dingen und Bereichen zu tun hat; dass sie fach-, themen- und epochenübergreifend erscheint und wirkt. Ja, dass man diesen Eindruck geradezu umkehren und die Frage formulieren könnte: Gibt es etwas, dass nichts mit Philosophie zu tun hat, worin sie nicht hervortritt? Voltaire nennt sie deswegen eine touche-à-tous, eine Allesanrührerin. Für diesen Befund sprechen zumindest die zahlreichen Komposita, wie unter anderem Geschichts-, Rechts-, Staats-, Medizin-, Naturphilosophie, der Kunst-, Wissenschafts-, Sprach-, Lebens-, Sozial-, Religionsphilosophie bis hin zu Produkt-, Technik-, Freizeitund Unternehmensphilosophie. Zudem war in der Philosophie über lange Zeit viel von dem enthalten, woraus sich (erst in den letzten 150 Jahren) unter anderem die Psychologie, die Pädagogik, die Soziologie, die Linguistik, die Semiotik ausdifferenziert und zu eigenen Fachgebieten entwickelt haben, die nicht allein im akademischen Terrain wirksam geworden sind. Und so könnte einem die Frage auf der Zunge liegen, was dieses Wundersame, genannt Philosophie, nun eigentlich sei, das in so vielen und so unterschiedlichen Lebens- und Wissensfeldern zumindest irgendwie mit dabei sein soll. Man kann diese Frage in unserer sogenannten Wissensgesellschaft scheinbar leicht beantworten. Man konsultiert entsprechende Konversationslexika (für den allgemein gehaltenen und zugänglichen Wissensanspruch) und/oder einschlägige Fachkompendien1 (für den speziellen und ausführlicheren Wissens 1 Das umfangreichste und differenzierteste, »Das historische Wörterbuch der Philosophie«, widmet beispielsweise dem Wort und Begriff Philosophie allein die Spalten 572–879, verfasst von mehreren Fachleuten. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Formen der Wissensgewinnung: Fragen befragen
bedarf) und erfährt von renommierten Fachleuten oder darstellungskundigen Lexikographen, was das – die Philosophie – nun eigentlich sei, was man sich genauer darunter vorzustellen habe. Gegen ein solches Vorgehen ist nichts einzuwenden. Doch sind bei dieser Form der Wissensbeschaffung wie der Wissensaneignung überhaupt zwei Faktoren bzw. Phänomene mitenthalten, die als solche eher wenig beachtet werden, obwohl sie für den Prozess der Wissensbildung, aus dem nicht unwesentlich die späteren persönlichen Gewissheiten oder zumindest Wissenssicherheiten hervorgehen, von Bedeutung sind, und die daher hier genauer betrachtet werden sollen. In diesem Kapitel wird der Versuch unternommen, sich dem Begriff und den Verwendungsweisen des Wortes Philosophie (das für viele ein Reizwort darstellt) anhand von weniger beachteten Voraussetzungen zu nähern. Ausgehend von grundlegenden Formen der Wissensgewinnung über die Bedeutung des Definierens und Indefinierens zu individuellen Möglichkeiten der Begriffsbestimmung, dem Aspekt des Metaphilosophierens und der Perspektive der Etymologie soll ein Blick auf die Wortgeschichte geworfen werden, hinsichtlich dessen, was für die Handlung des Philosophierens als charakteristisch erscheint. Dabei kommt der schillernde Begriff der Weisheit als besonderes anthropologisches Vermögen genauer in den Blick; auch in Beziehung zu einer Autorität, die heutzutage vielfach als Legitimationsspender verwendet wird: der Wissenschaft. Da im Weiteren des Buches der begriffliche Inhalt des Kompositums Philo-sophie viel Raum einnehmen wird, wird dieses (wie auch das schöpferische Potential von Kompositabildungen) eigens betrachtet. Ein erster, allgemein gehaltener Blick auf das Angebot der Philosophischen Praxis beschließt diese einführenden Überlegungen.
Formen der Wissensgewinnung: Fragen befragen Ich habe in einem Beitrag (Stölzel, 2008, S. 64 ff.) zwischen zwei grundlegenden Fragetypen unterschieden, mit denen man sich eine erste wie auch grundsätzliche Orientierung verschaffen kann. Der erste Typus ist bekannt, viel verwendet und damit geradezu geläufig, wenngleich bedenklicher, als es zunächst den Anschein hat. Der zweite Typus ist – das habe ich durch die philosophische Arbeit mit Einzelnen wie mit © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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Reizwort Philosophie
Gruppen immer wieder erfahren – weit weniger geläufig, dabei deutlich erkenntnisträchtiger. Doch zunächst zum ersten. Ich meine damit die Was-ist-…?-Frage. Anstelle der drei Punkte kann der geneigte Leser dasjenige setzen, was ihm besonders klärungsbedürftig erscheint. Das können allgemeine Begriffe, wie Freiheit, Glück, Beziehung, Verantwortung, Gerechtigkeit, etc., oder konkretere und persönlichere Themen sein. Die Was-ist-…?-Frage, wer wollte das bestreiten, eignet sich aufgrund ihrer Ausrichtung auf Substantielles durchaus als Ausgangsfrage, um ein Thema an sich zu betrachten. Doch birgt diese Art des grundsätzlichen Fragens – und hier wird die Sache bedenklich – auch gefährliche Implikationen. Denn die Frage Was-ist-…? fragt mehr oder weniger direkt nach einem Das-ist-…! und damit nach verfügbarem Wissensbesitz, ja sogar nach Wissenssicherheit und am liebsten nach Wissensgewissheit, eingefriedet in wasserdichte Definitionen. Zumindest liegt so etwas wie ein Versprechen in dieser Art des Fragens. Denn: Eine bestimmte Art des Fragestellens zieht ja nicht selten eine bestimmte Art des Antwortgebens und -findens nach sich. Dies ist jedoch nicht neu. Ja, es scheint da etwas wie eine anthropologische Konstante zu geben. Man braucht nur wachen Sinnes die Kultur- und Ideengeschichte zu durchwandern und wird finden, dass es an politischen, religiösen und auch philosophischen Antwortgebern kaum je gemangelt hat. Auch heutzutage sind wir von (mehr oder weniger selbsternannten) Bescheidwissern, Spezialisten und Expertokraten jeglicher Couleur umgeben, die – zumal wenn sie wissenschaftlich auftreten – viele zu beeindrucken und scheinbar zu orientieren vermögen, die – indem sie diesen »Wissenden« folgen – dafür allerdings ihrerseits ihre Fähigkeiten zum Selbstdenken und zur philosophischen Mündigkeit verkümmern lassen. Die Was-ist-…?-Frage hat, auch wenn sie sich aus echtem philosophischen Forschungsdrang speist, eine starke Tendenz zur Ideologie. Diese Tendenz manifestiert sich in sprachlicher Hinsicht am deutlichsten in dem Wort ist, denn das legt nahe, etwas sei so und nicht anders. Derlei ontologisierender Sprachgebrauch planiert Nuancen, unterdrückt Ausnahmen, verdrängt Einsprüche, suggeriert, etwas lasse sich mit Sicherheit kraft seiner selbst behaupten, und vergröbert damit die Vielschichtigkeit des Wahrnehmbaren. Wenn auch das Verbum sein schwerlich bei Beschreibungen vermieden werden kann, so sollte dessen Gebrauch achtsam und mit einer gewissen philosophischen Bewusstheit erfolgen. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Formen der Wissensgewinnung: Fragen befragen
Der zweite Fragetypus tritt (meiner Meinung und Erfahrung nach) bescheidener, vorsichtiger, selbstreflexiver in Erscheinung und kann wohl nicht zuletzt deswegen philosophischere Ergebnisse beibringen. Ich meine den Typus, der sich in der Frage: Was kann ich über… überhaupt herausfinden? kundgibt. Hierbei kommt – was immer man an der Leerstelle einsetzen mag – klar das Subjekt, das fragt und wissen will und damit auch dessen (oft hinter Begriffen wie Objektivität verbrämte) Intentionen, Erkenntnisziele, Wünsche, Hoffnungen, Ängste etc. zur Sprache und zu Bewusstsein. Zudem wird durch diesen Fragetypus mitgefragt, wie es – ganz grundsätzlich verstanden – um die eigenen Erkenntnismöglichkeiten und -grenzen steht. So gesehen ist diese Art des Fragens auf denkanreizende Weise bereits von Erkenntnistheorie durchtränkt. Ihre Ausrichtung zielt weit weniger auf Wissensbesitz, Wissenssicherheit und Wissensgewissheit ab als der erste Typus. Dieser zweite Typus evoziert das Unabschließbare und beständig Revisionsbedürftige jeglichen menschlichen Wissens und ist somit der epistemologischen Prämisse Karl Poppers – bei allem Wissen handele es sich stets um ein Vermutungswissen! – ziemlich benachbart. Durch diese Art des grundsätzlichen Fragens wird der Mensch als forschendes und um Erkenntnis ringendes Wesen sichtbar und tätig, indem er, heuristisch zunächst von sich selbst ausgehend, dann mit eigenen Hypothesen, den intersubjektiven Meinungs- und Erfahrungsaustausch anreichern kann und damit zu einer Demokratisierung des autoritären, subjektverschleiernden Wissensanspruchs einer vermeintlichen Objektivität beiträgt. Der Leser ist eingeladen, mit beiden Fragetypen zu experimentieren und entsprechende philosophische Erfahrungen zu machen. Auf unser Beispiel angewandt, welche Art der Antwort erhalte ich (von wem oder was auch immer), wenn ich frage: –– Was ist Philosophie? –– Was kann ich überhaupt über Philosophie herausfinden?
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Reizwort Philosophie
Definieren, Indefinieren, Neudefinieren Das menschliche Leben wird, epistemologisch2 betrachtet, wesentlich auch durch Definitionen mitbestimmt. Um es etwas bildhafter auszudrücken, kann man sich Menschen auch als mobile, individuelle sich (mehr oder weniger) aktualisierende Lexika vorstellen. Dieses Vergleichsbild wird vielleicht durch eine epistemologische Übung noch etwas deutlicher.
Das innere Lexikon Sammeln Sie alle Begriffe, Namen, Personen, Themen, Orte, Erfahrungen, Werte, Überzeugungen etc., die für Ihr Leben jetzt von Bedeutung sind. Sie können diese Begriffe nach Wichtigkeit oder auch alphabetisch, chronologisch oder nach Sachgruppen ordnen. Das bleibt Ihnen überlassen, wobei bereits die Ordnungsform, für die Sie sich entscheiden, für Sie aufschlussreich sein dürfte. Nehmen Sie dann einige Einträge Ihres inneren Lebenslexikons heraus; das können abstraktere, wie Freiheit, Glück, Beziehung, Verantwortung, Gerechtigkeit sein (falls diese für Sie von Belang sein sollten). Oder auch konkretere, unmittelbar auf Ihr Leben bezogene. Betrachten Sie diese genauer, so als würden Sie in einem äußeren Lexikon einen entsprechenden Eintrag studieren. In der Weise, was steht bei mir unter … Achten Sie darauf, welcher Text sich in Ihnen bildet. Hören Sie sich zu, welche Beschreibung, Erklärung, welche Geschichte sich in Ihnen zum Beispiel bei dem Stichwort Verantwortung verlautbart (in der Weise, als würden Sie jemanden erläutern, was dieser Begriff für Sie genau bedeutet, was er alles für Sie einschließt, voraussetzt, welche Erfahrungen in Ihr Verständnis von Verantwortung mit eingegangen sind usw.) Sie können die Einträge Ihres inneren Lexikons auch protokollieren (das macht die Inhalte präziser und die Selbsterkenntnis aufschlussreicher). Sie werden im ersten Teil der Übung, also beim Sammeln potentieller Einträge Ihres Lebenslexikons vermutlich erstaunt sein, wie viel da zusammenkommt. Das gibt Ihnen die Möglichkeit, diese epistemologische Übung immer wieder mit anderen Einträ 2 Der Begriff epistemologisch leitet sich aus dem griechischen ê êpistemê (η έπιστήμη) her, was so viel wie Wissen bedeutet. Die Epistemologie als die Lehre vom Wissen beschäftigt sich vornehmlich mit dessen Zustandekommen, Status, Ansprüchen und (vermeintlichen) Sicherheiten bis hin zu den sogenannten Gewissheiten. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Definieren, Indefinieren, Neudefinieren
gen durchzuführen und zu erfahren, wie der innere Text bei Ihnen aussieht, wie Sie sich für Sie wichtige Aspekte und Themen Ihres Lebens erklären, wie Sie diese bewerten, auf welche Autoritäten oder Quellen Sie sich berufen und welche direkten oder indirekten Auswirkungen dies auf Ihr äußeres Leben hat.
Dasjenige, was Sie in Ihrem Leben wahrgenommen, erlebt und reflektiert haben, das Ihnen noch erinnerlich oder sonstwie zugänglich ist und dabei Wissensgestalt angenommen hat, bildet den Stoff Ihres inneren Lexikons. Man könnte Sie also, wenn Sie das Bild akzeptieren, als ein frei bewegliches, sich immer wieder (zumindest potentiell) aktualisierendes und dabei persönlich strukturiertes Kompendium beschreiben. Sollte Sie dieses Bild irritieren oder sollten Sie es für sich als unbrauchbar ansehen, so empfehle ich Ihnen probeweise, die Menschen, die Ihnen begegnen, einmal als höchst individuelle Texte zu betrachten; sich zu fragen, aus wie vielen Geschichten sie bestehen, wie viele und welche Sätze in ihnen vorhanden und wirksam sind. Neben mehr beschreibenden und erläuternden Partien enthalten die jeweiligen Wissenseinträge auch Definitionen bzw. Stellen mit definitivem und sogar anweisendem Charakter. Oftmals bilden diese Fundament und/oder Ziel eines Begriffs. Betrachtet man Definitionen genauer und zugleich mit einem gewissen Abstand, so tritt ihre Doppelnatur klarer zu Tage; sie ermöglichen und begrenzen; sie erweisen sich gleichermaßen als notwendig wie als gefährlich; sie zeigen sowohl orientierungsstiftende wie erkenntnisbehindernde Wirkungen. Dass Definitionen hilfreich sein können, weil sie es erleichtern, Komplexitäten zu reduzieren und so etwas wie einen Rahmen für Verständigung zu stiften, und ihnen daher eine gewisse Notwendigkeit zukommt, scheint evident. In ähnlicher Weise evident – dabei aber oft weniger im Bewusstsein, wie einschlägige Gesprächserfahrungen zeigen – scheint jedoch auch ihre Gefährlichkeit, mindestens ihre Bedenklichkeit. Denn Definitionen können nicht selten zu Festschreibungen werden; diese Tendenz ist ihnen offenbar inhärent. Da sie, wie es auch in der Etymologie aufscheint, etwas von etwas anderem abgrenzen, verlautbaren sie (mehr oder weniger autoritär): Das habe man sich unter der einen, das unter der anderen Sache vorzustellen. Eine Wand ist schließlich keine Tür; mindestens meistens nicht. Über solche Grenzziehungen wird es – jenseits des psychiatrischen Kontextes – wohl weitgehende © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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Übereinstimmungen geben. In gewisser Weise lässt sich der Prozess des Lebens als ein fortschreitender Definitionswandel begreifen. Was noch vor fünf Jahren als klar, sicher, verbindlich galt, was man definitiv über etwas sagen konnte, gilt jetzt so nicht mehr, ist umgeschrieben worden. Man vergegenwärtige sich nur, wie oft man (mehr oder weniger freiwillig) im Laufe seiner Biographie bestimmte Definitionen (die als ziemlich sicher galten) aktualisiert, neuen Vorstellungen, Haltungen, Positionen zumindest angenähert und im Hinblick auf frühere verändert hat. Derlei Veränderungen gehören zur epistemologischen Tätigkeit des Indefinierens, die ein »Experimentalphilosoph« wie Georg Christoph Lichtenberg empfiehlt. Das damit verbundene Dazulernen könnte also auch als Weiter-, Offener-, Anderswerden des inneren Textes beschrieben werden und nach dem Prozess des Indefinierens (des Grenzauflösens) den des Neudefinierens (des anders und damit neu Begrenzens) zur Folge haben. Mit dem sogenannten Neuen hat es eine eigentümliche Bewandtnis. Denn wenn etwas ganz neu wäre, dann wäre es strukturell, wie die Antimaterie, unsichtbar. Etwas am Neuen muss also, um überhaupt wahrgenommen werden zu können, alt, vertraut, bekannt, eben nicht neu sein. So gesehen, wäre jedes Neue eine mehr oder weniger große Mischung von Neuem und Altem, je neuer, desto weniger weist es an Altem auf, ohne freilich auf Altes ganz verzichten zu können. Anders gesagt, wäre das als ganz neu Erscheinende eine so noch nicht verwirklichte Kombination aus vertrauten Bestandteilen oder zumindest mit diesen in direkter oder analoger Verbindung. Das Neue wäre demnach ein relativer Begriff und weit relativer, als es oft erscheint oder gehandelt wird. Das Neusein von Neuem beschränkt sich also darauf, ein neues Element, eine neue Perspektive, eine neue Komponente oder dergleichen zu sein – was ja durchaus, wie man sagt, das Salz in die Suppe geben kann. Das zeigt beispielsweise die Verwendungsgeschichte des Wortes »modern«. Das Neue als Neues ist nicht einmal denkbar, da es stets von Altem, Bekannten, Vertrauten ausgehen muss. Das Neue ist demzufolge auch ein Altes, nur anders.
Diejenigen Definitionen, die nicht aufgegeben, nicht indefiniert, nicht neudefiniert werden, würden dann so etwas wie den inneren Grundtext eines Menschen, seine Gesetze ausmachen; dasjenige, woran und © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Definieren, Indefinieren, Neudefinieren
wodurch er für sich selbst wie für seine Umwelt erkennbar bleibt, so dass es einem nicht ergeht, wie, bildlich gesprochen, jenem Gregor Samsa in der Erzählung »Die Verwandlung« von Franz Kafka, die mit der eindrücklichen Schilderung beginnt: »Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch, auf dessen Höhe sich die Bettdecke, zum gänzlichen Niedergleiten bereit, kaum noch erhalten konnte. Seine vielen, im Vergleich zu seinem sonstigen Umfang kläglich dünnen Beine flimmerten ihm hilflos vor den Augen. ›Was ist mit mir geschehen?‹ dachte er. Es war kein Traum. Sein Zimmer, ein richtiges, nur etwas zu kleines Menschenzimmer, lag ruhig zwischen den vier wohlbekannten Wänden. Über dem Tisch, auf dem eine auseinandergepackte Musterkollektion von Tuchwaren ausgebreitet war – Samsa war Reisender –, hing das Bild, das er vor kurzem aus einer illustrierten Zeitschrift ausgeschnitten und in einem hübschen, vergoldeten Rahmen untergebracht hatte. Es stellte eine Dame dar, die, mit einem Pelzhut und einer Pelzboa versehen, aufrecht dasaß und einen schweren Pelzmuff, in dem ihr ganzer Unterarm verschwunden war, dem Beschauer entgegenhob. Gregors Blick richtete sich dann zum Fenster, und das trübe Wetter – man hörte Regentropfen auf das Fensterblech aufschlagen – machte ihn ganz melancholisch. ›Wie wäre es, wenn ich noch ein wenig weiterschliefe und alle Narrheiten vergäße‹, dachte er, aber das war gänzlich undurchführbar, denn er war gewöhnt, auf der rechten Seite zu schlafen, konnte sich aber in seinem gegenwärtigen Zustand nicht in diese Lage bringen. Mit welcher Kraft er sich auch auf die rechte Seite warf, immer wieder schaukelte er in die Rückenlage zurück. Er versuchte es wohl hundertmal, schloß die Augen, um die zappelnden Beine nicht sehen zu müssen, und ließ erst ab, als er in der Seite einen noch nie gefühlten, leichten, dumpfen Schmerz zu fühlen begann« (Kafka, 1994, S. 93 f.).
Die Gefahr, in einen philosophischen Käfer verwandelt zu werden, besteht indes nicht. Doch könnte sich manches (mitunter auch als ganz sicher oder richtig Geltendes) im eigenen Leben und Erleben ändern, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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wenn man sich dazu entschließt, sich selbst ebenso wie die sattsam vertraute Alltagswelt aus philosophischer Perspektive zu betrachten.
Unterwegs zu einem persönlichen Verständnis von Philosophie Es könnte sich lohnen, die Dinge, die einem neu, unbekannt oder nur teilweise bekannt erscheinen und von denen man fixe Definitionen, das heißt stabile Vorurteile hat, unter dem Licht der eben dargestellten Begleitfaktoren bzw. -phänomene zu untersuchen, also –– mich zu fragen, wie befrage ich etwas, das mir neu, unbekannt oder fragwürdig vorkommt, wie möglicherweise die Philosophie. –– mir bewusst zu machen, über welche Definitionen, Erläuterungen, Erfahrungen verfüge ich, die mit demjenigen, was ich wissen oder genauer kennenlernen möchte, zusammenhängen, den Blick darauf einfärben oder sogar verstellen, wie möglicherweise die Philosophie. Nun habe ich, obwohl der für diese Ausführungen anscheinend so wichtige Begriff mehrfach aufgetreten ist, noch nicht deutlich und distinkt gesagt, wie ich ihn hier verstanden wissen möchte. Wobei es klar ist (und es noch mehr werden wird), dass es auch andere, bis gegensätzliche Vorstellungen oder Definitionen davon gibt als diejenige, die ich Ihnen vorstellen, möglicherweise sogar nahelegen möchte. Ich könnte Ihnen natürlich (wenn Sie dies zwischenzeitlich nicht selbst getan haben) einfach schnell ein paar Definitionen von namhaften und tadellosen Definierern, sprich anerkannten und sachkundigen Fachleuten servieren, womöglich erwarten Sie dies jetzt auch von mir, doch bezweifle ich, Ihnen damit einen guten Dienst zu erweisen. Sie müssten dann lediglich fremde Definitionen an das eigene Vorverständnis »anleimen« – und eben diese Form von Wissenszuwachs erscheint mir bei einem Thema bzw. Begriff wie der Philosophie fragwürdig. Nicht zuletzt deswegen, da Sie ja ein sogenanntes Praxisbuch in Händen halten, durch das Ihnen andere, so vielleicht noch nie verwendete Ideen und Perspektiven aufgezeigt werden sollen. Und so möchte ich Ihnen (Sie werden’s mir nachsehen) zunächst die Arbeit des Definierens nicht abnehmen und Sie stattdessen zur einer möglichen Selbstbefragung einladen. Sie können diese Selbstbefragung natürlich nur kurz anlesen oder gar ganz überspringen, doch werden Sie ungleich © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Unterwegs zu einem persönlichen Verständnis von Philosophie
mehr von den nachfolgenden Ausführungen, ja vom Buch insgesamt haben, wenn Sie sich genauer mit dem strukturierten Frageangebot beschäftigen oder es zumindest länger auf sich wirken lassen. Es geht bei dem Nachfolgenden nicht um ein Zu-Ende-Beantworten, sondern um die (freilich wiederhol- und variierbare) Fühlungsnahme, um ein persönliches Ankommen bei und Umgehen mit einem alten und großen Wort und Begriff.
Grundsätzliche Frageformen »Philosophieren ist die Kunst, im richtigen Moment die richtige Frage zu stellen«, sagt Eva Zoller-Morf, Leiterin einer Dokumentationsstelle für Kinder- und Alltagsphilosophie im schweizerischen Altikon. Und Martin Heidegger hat die häufig zitierte Wendung geprägt: »Das Fragen ist die Frömmigkeit des Denkens.« Woran erkennt man den »richtigen Moment«? Was ist die »richtige Frage«? Und was bedeutet: »Frömmigkeit des Denkens«? Fragen über Fragen. Und Fragen über Fragen. Ich möchte Sie einladen, die nachfolgenden einschlägigen Fragen in sich zu bewegen und mit Ihren Antwortversuchen und/oder Folgefragen schwanger zu gehen. Sie können dadurch nicht nur ein Begriffsverständnis aus eigenen Beständen gewinnen, sondern sich auch Aspekte Ihres eigenen Fundaments vergegenwärtigen und dies auf eine für Ihren Alltag bereichernde Weise. Diejenigen, welche philosophische Aspekte in ihre (Therapie-, Beratungs- oder Coaching-)Arbeit mit einbeziehen möchten oder in einen professionellen philosophischen Dialog mit ihren Kunden oder Klienten treten wollen, sollten sich meines Erachtens eingehender mit eigenen Bestimmungsversuchen beschäftigen. Wählen Sie sich aus der nachfolgenden Liste die Fragen aus, die Sie besonders ansprechen. Wie lauten Ihre persönlichen Definitionen bzw. Antworten auf folgende Fragen: –– Wie verstehe ich Philosophie, was bedeutet sie für mich? –– Wobei kann sie mich unterstützen oder mir sogar helfen? –– Woran erkenne ich außerdem, dass Philosophie etwas für mich und damit – potentiell – auch für andere taugt? –– Bin ich selber ein Philosoph? –– Und weswegen? –– Bin ich an der Philosophie als den anerkannten, verschrifteten und © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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lexikalisierten Einsichten und Ergebnissen sogenannter großer Philosophen interessiert (also eher an einer Beschäftigung mit fremden Gedanken) oder an einer möglichst lustvollen und ergiebigen Freisetzung und Entfaltung meiner eigenen philosophischen Fähigkeiten und Ideen (also mehr an meinen eigenen Gedanken)? Oder strebe ich hier ein Gleichgewicht an? Was verstehe ich unter der Tätigkeit des Philosophierens? Ist dies ein besonderes Tun oder ist es in anderen Handlungen (mit) enthalten? Und wenn ja, auf welche Weise? Was meine ich, wenn ich etwas als philosophisch bezeichne? Welche Ideen, Projekte, Anliegen habe ich, Philosophie und Philosophieren lebens- und/oder berufsdienlich umzusetzen bzw. zu gestalten? Spreche ich dann von besonderen Gegenständen oder (nur) von einer besonderen Sichtweise auf Lebewesen und Dinge? Oder ist am Ende alles philosophisch?
Metaphilosophieren Mit dem Wort »Metaphilosophieren« kann man das beschreiben, was Sie gerade getan haben, nämlich über die Philosophie bzw. das Philosophieren zu philosophieren. Manchen von Ihnen ist diese Form des selbstbezüglichen Betrachtens und Untersuchens durch Ansätze wie beispielsweise die von Heinz von Foersters »Verstehen verstehen« (Foerster, 1993, S. 282) oder durch eine Metaperspektive wie die sogenannte Kybernetik zweiter Ordnung geläufig. Wenn ich behaupte, Sie hätten etwas Vergleichbares mit der Philosophie getan wie Heinz von Foerster, wenn er versucht, das Verstehen zu verstehen, nämlich über diese philosophiert, dann könnten Sie antworten, was Verstehen sei, wie Verstehen gehe, das sei Ihnen wohl bekannt (weil wichtiger, ja unverzichtbarer Teil Ihres Welterlebens) – aber Philosophieren? Wenn Sie sich mehr oder weniger darauf eingelassen haben, die vorgestellten Fragen zu bearbeiten, sie in sich zu bewegen – was haben Sie dann getan? Zunächst haben Sie versucht, die Fragen zu verstehen (denn verstehen können Sie ja). Um das tun zu können, haben Sie alles, was Sie über Philosophie gehört, gelesen, gesehen oder sonstwie aufgenommen © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Metaphilosophieren
oder erfahren haben zumindest latent erinnert oder manifest Ihr inneres Lexikon konsultiert und sich damit all jene Vorverständnisse, Vorlieben, Vorurteile und Vorannahmen zu Bewusstsein gebracht, die in Ihnen von einem Begriff wie Philosophie oder einer Handlungsweise wie Philosophieren auffindbar waren. Dieses Ausgangsmaterial waren Sie eingeladen in eine konstruktive Verbindung mit konkreten, lebensdienlichen Fragen, mit Ihrem persönlichen Nutzen und Ihren Vorhaben zu bringen, um die vorgestellten Fragen gut für sich beantworten zu können. Was immer Sie herausgefunden haben, Sie haben es mit Ihren (aktuellen) philosophischen Mitteln getan. »Sapere aude!« Diesen Aufruf des römischen Dichters Horaz kann man deutsch wiedergeben mit den Worten »Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes«, oder anders, »deiner eigenen Weisheit zu bedienen«; denn sapientia bedeutet sowohl Wissen wie auch Weisheit. Die Frage, welches Wissen man Weisheit nennen könnte, wird uns im Folgenden noch beschäftigen, wenn es darum geht, herauszufinden, was es genauer mit der Philosophie und dem Philosophieren auf sich hat. Dieser Aufruf oder diese Aufforderung des Horaz diente auch als (emphatisches) Motto innerhalb der sogenannten Aufklärung, allerdings mit dem Akzent mehr auf die Vernunft als auf die Weisheit. Beiden Lesarten ist gemeinsam, dass es hier um das eigene Vermögen, die eigene Fähigkeit und die eigene Art zu sein geht, derer sich zu bedienen man den Mut (vgl. die »Begriffsgeschichte« zum Mut) aufbringen soll. Der Satz transportiert damit durchaus eine gewisse Lebenserfahrung. Denn – wir werden das bei der Erschließung der entsprechenden philosophischen Kompetenz noch sehen – es kostet mithin einigen Mut, bestimmte Regungen und Vorstellungen in sich wahrzunehmen, dazu zu stehen, sie gegen den Einspruch und Widerstand der Außenwelt (die nicht zwangsläufig begeistert ist, sollten wir dies tun) zu vertreten, geschweige denn, sich ihrer zu bedienen. Sapere aude! – das zeigt ein Blick auf die verschiedenen Traditionen – gehört zu den wichtigsten Mottos der Philosophie überhaupt, auch außerhalb der sogenannten Aufklärung. Philosophieren – so könnte also ein erster Bestimmungsversuch lauten – hat mit einem selbst zu tun, mit dem eigenen (Verstandesoder Weisheits-)Potential und dessen Umsetzung, wie dies, metaphilosophierend, zum Beispiel bereits beim Bearbeiten und Beantworten einer einschlägigen Frageliste sichtbar geworden ist. Wie gehe ich an © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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bestimmte Situationen, Dinge, Menschen heran; wie trete ich der Welt gegenüber? Welche Werte zählen dabei für mich? An welchen Überzeugungen orientiere ich mich? Welche Ziele habe ich? Welche Methoden verwende ich dabei? – Fragen dieser Art kann man grundsätzliche nennen. Sie gründen in dem, der sie verwendet, sind also unmittelbar mit den jeweiligen Lebensfundamenten einer Person verbunden; ja ein wesentlicher Teil davon. Diese Beziehung zum Eigenen eines bestimmten Menschen bringt einen Aspekt in den Blick, aufgrund dessen wir unseren ersten Bestimmungsversuch etwas erweitern können. Philosophieren wäre demzufolge etwas, das intensiv mit mir/einem sowie mit grundsätzlichen Orientierungen zu tun hat; mit Subjektivität also und mit elementaren Strategien und Ausrichtungen. Das wiederum in den Blick zu nehmen, bedeutet gewohnte (und dadurch häufig unbewusste oder unbemerkte) Perspektiven und Haltungen eigens zu betrachten, sich bei diesem Betrachten zu betrachten oder bei dem, was man sonst tut, denkt, vorhat. Diese Art der Zuwendung wird häufig als Metaperspektive beschrieben, als die Einnahme einer Perspektive, die sich meta zu dem unmittelbaren Handeln, Vorstellen oder Wollen befindet. Vor allem innerhalb der systemischen Therapie und Beratung wird zu Recht einiges von der Entfaltung dieser Fähigkeit, Abstand nehmen zu können, gehalten, welche ja auch ein wesentlicher Bestandteil der Selbst-Supervision und damit der professionellen Qualitätssicherung darstellt. Metaperspektiven einnehmen zu können – das sei an dieser Stelle zunächst einmal festgehalten – bildet ein wichtiges Verbindungsstück zwischen therapeutischem oder beraterischem und philosophischem Handeln. Dies wird beim Erschließen der verschiedenen philosophischen Kompetenzen noch deutlich werden. Verweilen wir noch einen Moment bei der griechischen Vorsilbe meta, die uns bei Begriffen wie Metaphilosophieren oder Metaperspektive begegnet und die auch in Wörtern wie zum Beispiel Metabolie, Metamorphose, Metanol, Metapher, Metaphysik, Metastase, Metathese, Metatheorie, Metazentrum erscheint. Dass sie auch in Methode enthalten ist, ist vermutlich weniger bekannt. Die griechischen Vorsilben, wie zum Beispiel apo, dia, ex oder ek, epi, kata, para, peri, pro, syn, hyper, hypo oder eben meta, umspannen einen breiten semantischen Raum und können unterschiedliche Richtungs- oder Beziehungsangaben bezeichnen. So kann beispielsweise die Vorsilbe para in gleicher Weise für neben, bei, gegen, wieder und entgegen stehen; © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Metaphilosophieren
also bei Begriffen, wie zum Beispiel paramedizinisch, sowohl etwas unmittelbar Angrenzendes als auch, wie bei paradox, etwas ganz Entgegengesetztes bezeichnen. Die Vorsilbe meta, die uns noch häufiger begegnen wird, steht für mitten, mittels, unter, nach(her), um, herum, hinüber, über und anders. Der Sprachwissenschaftler Hans-Martin Gauger hat den Begriff »Durchsichtige Wörter« eingeführt (Gauger, 1971). Er bezeichnet damit Wörter (Gauger, 1995), die durch ihre Erscheinungsform (ihren Wortleib sozusagen) unmittelbar zugänglich, also »durchsichtig« sind; Wörter, so Gauger, vom Typus Gartenhaus etwa, während andere vom Typus Mond (die nicht als Fremdwörter empfunden werden) zumeist undurchsichtiger erscheinen; denn zu wissen, dass dieser mit dem Monat zusammenhängt, bedarf es gewisser sprach- und kulturwissenschaftlicher, will sagen: etymologischer Kenntnisse. Innerhalb der sogenannten Muttersprache sind es die Fremdwörter, die zumindest denjenigen undurchsichtig sind und bleiben, die nicht über entsprechende Sprachkenntnisse verfügen, wenngleich sie ganz selbstverständlich mit ihnen umgehen, wie etwa mit Architektur, Kosmetik, Hypothek, Dialyse, Esoterik, Mathematik, Katastrophe, Theater und dergleichen mehr. Nehmen wir noch einmal das Wort Methode, ein Metawort, von dem ich sagte, man sehe diesem, anders als etwa der Metapher oder der Metastase, diesen Wortbestandteil nicht unmittelbar an. Das liegt daran (die weniger an Sprachfragen Interessierten können das überspringen), dass bei griechischen Wörtern, wenn zwei Vokale unmittelbar zusammentreffen oder durch ein Aspirations-h getrennt sind (Homer schreibt sich im Original »Omeros«), das t zu einem th erweitert wird und der nachfolgende Vokal herausfällt. So kann man Methode in die Bestandteile Meta und Hode bzw. Hodos zerlegen. Meta bedeutet hier über und Hodos der Weg, der Gang. Methodisch Geschulte (so gibt die ursprüngliche Wortbedeutung zu erkennen) wissen etwas über den Weg, wissen, wie etwas gut erreicht werden kann; sie sind damit orts- und zugangskundig. Es gibt zudem eine Zugangskundigkeit zweiter Ordnung: die Methodologie; sie bildet die Metaperspektive zu Methoden. Dass sie durch diese Grundsätzlichkeitsdimension etwas mit der Philosophie und dem Philosophieren zu tun hat, liegt nahe. Aber die Methoden? Inwieweit bildet die Philosophie bzw. das Philosophieren eine Methode bzw. inwieweit kann es methodisch genutzt werden? Und was hat es mit diesem Wort auf sich? © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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Exkurs: Etymologie – ein Holzweg? Bevor wir zum Wort(leib) selbst kommen, möchte ich noch einen anderen Weg einschlagen und auf eine Perspektive hinweisen, die wir im Umgang mit Sprache, mit Wörtern grundsätzlich einnehmen können: die etymologische. Sie wird häufig nicht ein- bzw. wahrgenommen oder aber in einer bestimmten, fragwürdigen Weise verwendet. Ich möchte hier für einen reflektierten Gebrauch werben. Ich werde dabei auf Argumente des Sprachwissenschaftlers Hans-Martin Gauger eingehen, der in dieser Frage eine zugeschärfte Position vertritt und dadurch zum Kontrahenten eines einflussreichen Denkers wird, der nicht selten etymologisierend argumentiert hat: Martin Heidegger. Heidegger hat ein Buch mit dem Namen »Holzwege« veröffentlicht und diesem eine Definition vorangestellt. »Holz«, so Heidegger, »lautet ein alter Name für Wald. Im Holz sind Wege, die meist verwachsen jäh im Unbegangenen aufhören. Sie heißen Holzwege. Jeder verläuft gesondert, aber im selben Wald. Oft scheint es, als gleiche einer dem anderen. Doch scheint es nur so. Holzmacher und Waldhüter kennen die Wege. Sie wissen, was es heißt, auf dem Holzweg zu sein« (Heidegger, 1977, S. 3). In dieser Definition irritiert Heidegger ein wenig unser (wie er es nennen würde) »gewöhnliches Verstehen«, demzufolge ein Holzweg, ein Abweg, ein Irrweg und jemand, der sich auf dem Holzweg befindet, in die Irre gegangen ist, sich getäuscht hat. Diese Begriffsverwendung lässt sich bereits seit dem Spätmittelalter nachweisen (Röhrich, 1991, S. 734). Gehen wir also in die Irre, wenn wir zum Beispiel ein Wort wie Philosophie etymologisch betrachten? Innerhalb der Etymologie wird bekanntermaßen die Herkunft, Geschichte und Grundbedeutung eines bestimmten Wortes erforscht und untersucht. Wenn man nun – gewissermaßen metaetymologisch – das Wort Etymologie selbst etymologisiert, dann trifft man auf das griechische tò étymon, was »das Wahre« bedeutet, und demzufolge wäre die Etymo-logie die »Lehre vom Wahren«, zumindest wie es sich sprachlich zeigt. Was ist nun das Wahre, oder besser: Was können wir überhaupt darüber herausfinden? Als Substantiv gebraucht, erscheint die Wahrheit als ein Wort, dem viele Menschen eine hohe Bedeutung beimessen;3 für die gelebt, gestritten, sogar getötet, die (auf vielerlei Weise 3 Ernst von Glasersfeld schlägt statt dieses Kraftwortes den Ausdruck »viable Passung« (Glasersfeld, 1996, S. 45) vor. Damit ist die bescheidenere »Gangbarkeit« © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Exkurs: Etymologie – ein Holzweg?
und oft verzweifelt) gesucht wird und sogar gefunden worden sein soll. Heidegger zum Beispiel gräbt dem griechischen Wort für Wahrheit nach und findet dort einen Sinn, genauer eine Verwendungsmöglichkeit, die zu seinem Weltverständnis passt bzw. die er sich so zurechtrückt. A-létheia, so das altgriechische Wort für Wahrheit (die Partikel A steht im Griechischen für die Verneinung, wie etwa beim Atheisten), bedeutet wörtlich das Unverborgene, dasjenige, was nicht mehr verborgen, sondern entborgen, das sichtbar geworden ist, demnach, zugespitzt gesagt, ein Geheimnis, das keines mehr ist. Steckt also in jedem Wort (zumindest in solchen, die etwas Patina und Geschichte aufweisen) ein (Bedeutungs-)Geheimnis, das mit Hilfe der etymologischen Wünschelrute aufgespürt und sichtbar gemacht werden kann? Denn selbst die sogenannten Stammwörter sowie die ganz deutsch wirkenden, »durchsichtigen« Wörter haben ihre Geschichte und ihre oft verborgenen Bedeutungsaspekte. Mutet es, genau betrachtet, nicht komisch an, wie wir das Adjektiv komisch häufig verwenden? Denn wenn komisch im Assoziationsfeld von Humor auftaucht, wirkt es ja nicht komisch, sondern passend. Es wird jedoch oft in ganz anderen, gar nicht komischen Kontexten eingesetzt. »Komisch« bezeichnet dann nichts Komisches, sondern etwas Befremdliches; etwas, das unseren gewöhnlichen Überzeugungen zuwiderläuft, uns unangenehm erstaunt. Wir sagen dann häufig: »Der hat sich eben komisch verhalten.« Oder: »Das kommt mir komisch vor.« Diese Verwendungspraxis ist ein Zeichen dafür, wie ausdauernd sich bestimmte Perspektiven in der Wortsprache konservieren können. In früherer Zeit, als die fest an einem Ort Lebenden (vulgo die Spießbürger) Vertreter des fahrenden Volks, der Vaganten und Komiker vor Augen bekamen, von denen sie weder wussten, wo diese herkamen, noch, was sie im Schilde führten, waren sie von diesen Anblick befremdet und eben komisch berührt. Bereits in der frühgriechischen Theaterpraxis wurden innerhalb der Komödie (die sich aus einer Verbindung von Satyrspielen und der Tragödie entwickelt hat) anfänglich einer bestimmten Überzeugung oder einer Glaubensgewissheit, also eines vermeintlich sicheren Wissens gemeint, das solange »passt«, wie es dem (persönlichen) Leben dient. Durch diese Bezeichnung ist jeglicher Absolutheitsanspruch relativiert; vgl. hierzu das Wissenskapitel in »Fragen – Lösen – Fragen. Philosophische Potentiale für Therapie, Beratung und Organisationsentwicklung« (Stölzel, 2013). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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groteske, den menschlichen Körperbau stark verändernde Kostüme und Masken verwendet, die das Befremdliche des Komischen zum Ausdruck brachten.
Die eigene Sprache untersuchen Wem es jetzt zu etymologisch zugeht, dem sei zur produktiven Entlastung eine kleine Übung vorgeschlagen. Eine kleine Übung, die größere Wirkungen hervorbringen kann. Die Wortsprache ist ja vielen ähnlich selbstverständlich und unbewusst wie das Atmen. Nehmen Sie – beim Zuhören wie beim Formulieren – die Haltung von jemanden ein, der gerade dabei ist, die Sprache, die eben gesprochen wird, zu erlernen. Achten Sie auf Besonderheiten, die Ihnen dabei auffallen. Fragen Sie beim Zuhören mehrfach nach und bauen Sie beim Zuhören immer wieder kleine Kunstpausen ein, welche die Wirkung des Gesagten wie des Gehörten vergrößern. Dadurch merken Ihre Patienten, Klienten, Kunden nicht, dass Sie gerade eine grundlegende Qualitätssicherungsmaßnahme mit sich selbst durchführen. Aber es ist gut möglich, beinahe unvermeidlich, dass Sie selbst etwas merken. Das kann die Neigung zu wie die Vermeidung von einer bestimmten Wortwahl, eines bestimmten Metapherngebrauchs sein; das kann den Gestus Ihres Sprechens betreffen, die Redeweise, derer Sie sich vornehmlich bedienen: fragend, beschreibend, anweisend, erklärend, erzählend, vergleichend, bestätigend, verneinend; das kann das betreffen, auf was Sie beim Zuhören besonders achten, was Ihnen sofort auffällt, aufstößt, was Sie sofort zu verstehen scheinen, was dagegen erst durch wiederholtes Nachfragen wirklich verstehbar wird. Was auch immer Sie bemerken, es lohnt beachtet, das heißt zum Beispiel auch notiert zu werden, wie es auch in Bezug auf die wortsprachliche Dimension Ihrer Professionalität lohnend sein kann, diese kleine Übung immer mal wieder mit sich durchzuführen. Aber Vorsicht! Das kann zum Teil erhebliche Auswirkungen auch auf Ihre privaten Kontakte bis hin zur sogenannten Intimsprache haben.
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Exkurs: Etymologie – ein Holzweg?
Stark etymologisierende Autoren, wie zum Beispiel Heidegger4, machen – informationstheoretisch gesprochen – einen Unterschied, der einen Unterschied macht. Sie unterscheiden zwischen der jetzigen, der heutigen Bedeutung eines Wortes und seiner früheren, ursprünglichen Bedeutung, die es bekam, als ein bestimmtes Wort erfunden oder geprägt wurde, um etwas Bestimmtes zu bezeichnen. Dieser ursprüngliche Sinn, erklären sie, sei der eigentliche, der wahre; spätere Bedeutungsgebungen legten sich, so insinuieren sie damit, um den ursprünglichen, den eigentlichen Bedeutungskern und würden diesen verbergen, welcher jedoch, mittels etymologischer Entbergung, wieder freigelegt werden könne, so dass eine altes Wort in seiner ganzen (überzeitlichen) Wahrheit erstrahle. Ein Sprachwissenschaftler wie Gauger geht davon aus, dass eine bestimmte Art des etymologischen Argumentierens5 ursprünglich und eigentlich notwendig in eins setze und damit behaupte: Das Frühere sei das Wahre. Diese Ineinssetzung verkenne nach Ansicht Gaugers, »was ein Wort ist. Ein Wort ist ein Kontrakt auf Zeit, den eine Sprachgemeinschaft mit einem Lautzeichen […] in bezug auf einen bestimmten Inhalt geschlossen hat« (Gauger, 1995, S. 69). Außerdem, so Gauger weiter, sei ursprünglich ein historischer Begriff, eine schlichte Kennzeichnung, während eigentlich ein un- oder überhistorischer Begriff, eine bewertende Stellungnahme6 sei (S. 67). All das sind Voraussetzungen, um, Gauger zufolge, auf einen etymologischen Holzweg zu geraten; einen Holzweg im Sinne von Irrweg, der »gerade von solchen begangen wird, die sprachempfindlich sind und aus der Sprache lernen wollen« (S. 65). Und zu diesen darf man Heidegger durchaus zählen, der erklärtermaßen zur griechischen Sprache (der ältesten und wirkungsmächtigsten des europäischen Kulturraums) ein philosophisches Liebesverhältnis unterhielt. Für ihn scheint sie so 4 Ludger Lütkehaus spricht in seiner Laudatio auf Günther Anders – »Gegen die Esoterik der philosophischen Sprache« – von »Heideggers etymologelnder Wortwurzelei« (Lütkehaus, 1992, S. 129). 5 Es ist das bedeutungsschwangere Reden der Art: »Weißt du, was das Wort eigentlich bedeutet, kennst du überhaupt seine ursprüngliche Bedeutung?« 6 Theodor Wiesengrund-Adorno, ein philosophischer Widersacher Heideggers, veröffentlichte 1964 eine Streitschrift gegen Heideggers raunenden »Seinsjargon« mit dem Titel »Der Jargon der Eigentlichkeit«. Der sprachempfindliche Essayist Jean Améry hat diese wohlwollend rezensiert, dabei aber auf des Kritikers eigenen Jargon hingewiesen, den er als »Jargon der Dialektik« bezeichnete – vgl. hierzu das Sprachkapitel in Thomas Stölzel »Fragen – Lösen –Fragen« (2013). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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etwas wie ein besonderer lingualer Ort gewesen zu sein, an dem mehr vom Wesen des Seins und der Dinge eingekörpert war als in späteren, weniger ursprünglichen Sprachen, wenngleich er auch in früheren Sprachschichten des Deutschen verborgene Bedeutungskerne etymologisiert. Hierfür ein Beispiel, das gleichzeitig Heideggers suggestive Kraft, sein Bescheidwissertum, wie die Tendenz, Worte und Begriffe zu Quasi-Personen zu machen, aufzeigt: »Erörtern meint zunächst: in den Ort weisen. Es heißt dann: den Ort beachten. Beides, das Weisen in den Ort und das Beachten des Ortes, sind vorbereitende Schritte der Erörterung. Doch wagen wir schon genug, wenn wir uns im folgenden mit den vorbereitenden Schritten begnügen. Die Erörterung endet, wie es dem Denkweg entspricht, in eine Frage. Sie frägt nach der Ortschaft des Ortes […] Die Erörterung bedenkt den Ort. Ursprünglich bedeutet ›Ort‹ die Spitze eines Speers. In ihr läuft alles zusammen. Der Ort versammelt zu sich ins Höchste und Äußerste. Das Versammelnde durchdringt und durchwest alles. Der Ort, das Versammelnde, holt zu sich ein, verwahrt das Eingeholte, aber nicht wie eine abschließende Kapsel, sondern so, daß er das Versammelte durchscheint und durchleuchtet und dadurch erst in seinem Wesen entläßt« (Heidegger, 1959, S. 37).
Ein anderer Sprachempfindlicher, der ebenfalls (wenngleich anders als Heidegger) aus der Sprache lernen wollte, der viel mit und aus der Sprache gemacht hat, der sie zu einem besonderen diagnostischen Werkzeug ausbaute, der alles mögliche Latente, Unbewusste aus ihr heraus bzw. in sie hinein hörte, war Freud. »Das gesamte Freudsche Unterfangen« – meint ein linguistisch äußerst wacher und subtiler Interpret wie Georges-Arthur Goldschmidt – »bestand darin, die Sprache zum Reden zu bringen und dem, was sie zu sagen hatte, seine Aufmerksamkeit zuzuwenden« (Goldschmidt, 1999, S. 24). Für ihn, Freud, war sie – die Sprache – »nichts Zufälliges, sondern der Niederschlag alter Erkenntnis, der freilich nicht ohne Vorsicht verwendet werden darf« (Freud, 1969b, S. 95). Freud deutet damit eine Richtung an, die sich (will man Etymologie überhaupt verwenden) einzuschlagen lohnt. Sie führt zwischen einer antietymologischen Sichtweise wie der Gaugers und einer Etymo-Theologie wie der Heideggers hindurch, ohne die bedenkenswerten Argumente Gaugers unberücksichtigt zu lassen noch die erhel© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Exkurs: Etymologie – ein Holzweg?
lenden Aspekte von Heideggers Etymologisieren zu ignorieren. Da im Laufe der Ausführungen wort- und bedeutungsgeschichtliche Dimensionen immer wieder zur Sprache kommen, so ist mit entsprechender Vorsicht zu fragen: Wie kann die etymologische Annäherung sinnvoll verwendet werden? Denn dass sie einerseits unterschätzt, andrerseits übertrieben, ja missbraucht werden kann, steht außer Frage. Ich will abrundend versuchen, mit Hilfe eines Vergleichs deutlich zu machen, wie Etymologisches sinnvoll, ja perspektivenerweiternd verwendet werden kann. Ich bediene mich hierfür einer Analogie zu einer (zugleich systemisch wie psychoanalytisch ausgerichteten) Therapie. Innerhalb einer etymologischen Betrachtung erhält ein einzelnes Wort eine ähnliche Aufmerksamkeit, eine vergleichbare sachkundige Beachtung wie innerhalb einer Therapie der jeweilige Proband (wobei natürlich ein Wort kein Mensch ist, wir sind hier lediglich bei einem Vergleich). Man interessiert sich nicht allein für seine Gegenwartgestalt, seine Möglichkeiten, sondern auch für seine Geschichte, seine Ausgangssituation; nimmt es auch als historisches Wesen wahr; blickt auf sein Herkommen und damit auf seine Verwandten, sprich die synonymen Begriffe, durch die ein Wort mit einem gemeinsamen Bedeutungshof und einem angrenzendem Assoziationsfeld näher oder enger verbunden ist, so wie ein Einzelner mit seinem jeweiligen Herkunfts- und Gegenwartssystem. Indem ich mich dafür interessiere, wie jemand oder eben ein bestimmtes Wort genau aussieht, wo es herkommt, wie es zu dem geworden ist, als das ich es jetzt wahrnehme und verwende, und mich bewusst zu ihm in Beziehung setze, ermögliche ich mir einen achtsameren, feineren und nuancierteren Umgang mit ihm; einen Umgang, der ein Wissen um die jeweiligen genealogischen Zusammenhänge mitberücksichtigt (wobei das Frühere nicht notwendigerweise als das Wichtigere angesehen wird). Denn dass man mit Worten ähnlich ungelenk, unbewusst und lediglich pragmatisch umgehen kann wie mit Menschen, ist ja häufig zu bemerken. Ich möchte den Vergleich nicht überstrapazieren, wenn ich hier dafür werbe, Worte (vielleicht gerade diejenigen, die Sie gerne und häufig gebrauchen, wie auch diejenigen, die Sie meiden) so zu betrachten und zu untersuchen wie ein interessierter und empathischer Therapeut seinen Patienten oder Klienten. Die etymologische Annäherung kann sich – vorsichtig und verwendungsbewusst eingesetzt – als ein hilfreiches Mittel erweisen, die Sensibilität für das Medium zu erhöhen, das die Menschen, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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die einen gemeinsamen linguistischen Kosmos (wie beispielsweise das Deutsche oder das Englische) bewohnen, so intensiv miteinander verbindet und zugleich so besondere Interventionsmöglichkeiten eröffnet, wie es so nur die Wortsprache kann. Indem der etymologische Zugang die Perspektiven auf ein bestimmtes Wort vergrößern hilft, ohne dabei die frühere Bedeutung wichtiger oder eigentlicher zu machen als die jetzige (wie es im Therapiebereich nicht wenige Psychoanalytiker tun), wird er nicht zu einem Holzweg, der einen ins Abwegige führt, sondern trägt dazu bei, den Raum des Wahrnehmbaren zu vergrößern, Worte und Wörter (und was sie bedeuten können) vollständiger erscheinen zu lassen.
Ein Blick auf die Wortgeschichte Das, um was es geht, begegnet uns – grammatisch betrachtet – zumeist in folgender Gestalt: als Substantiv und Nomen die Philosophie und der/die Philosoph/-in, als substantiviertes Verb das Philosophieren, als substantiviertes Adjektiv das Philosophische, als Verb philosophieren, als Partizip philosophierend und als Adjektiv philosophisch. Der nominale Gebrauch von nicht natürlichen Wesen, von Sachen, von Gegenständen oder Begriffen, wie zum Beispiel die Wissenschaft oder eben die Philosophie, birgt die Verlockung in sich, diese so zu verwenden, als seien sie mächtige Einzelpersonen, die agieren; Autoritäten, die man entsprechend auftreten lassen kann (»Die Wissenschaft hat erklärt« oder »Die Psychologie hat herausgefunden«). Abstrakte Funktionen können dadurch verdinglicht oder scheinbar konkret werden, wie »das Ich« oder »das System«, da ein Substantiv, ein Hauptwort stets suggeriert, dasjenige, was sprachlich so auftritt, sei ähnlich konkret wie ein Gegenstand, den ich berühren, oder ein Wesen, zu dem ich mich in Beziehung setzen kann. Diejenigen, die sich – sprachlich – zuerst mit einem Wort wie Philosophie in Beziehung gesetzt haben, waren die Griechen der Frühzeit. Sie haben einen eigenen Begriff dafür in Gebrauch gebracht, was bereits lange vor ihnen betrieben worden ist, ohne jedoch mit einem eigenen konkreten Wort bezeichnet worden zu sein; so wie es auch lange, bevor die Begriffe »psychologisch« oder »systemisch« geprägt worden sind, bereits psychologisches Verstehen oder systemisches Handeln gab. So © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Ein Blick auf die Wortgeschichte
erscheinen Begriffe und Bezeichnungen stets a posteriori, wenngleich sie für viele die Suggestion bereithalten, durch sie sei etwas ganz Neues, Besonderes in die Welt gekommen. Wort- und Begriffswurzel sind hier, wie gesagt, griechisch, jedoch kommen Worte wie φιλόσοφος, φιλοσοφία und φιλοσοφείν in den Anfängen der griechischen Schriftkultur, also bei Homer, Hesiod, den sogenannten Sieben Weisen sowie den ersten Vorsokratikern, noch nicht vor. Dem Vernehmen nach war es die schillernde Gestalt des Pythagoras (im 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung), die den später so folgenreichen Begriff – ein paneuropäisches Fremdwort – prägte. Wenig später ist dieser dann bei dem Vorsokratiker Heraklit (1989, Fragment 35 D) sowie bei dem Begründer der historischen Wissenschaft, Herodot (Herodot, 1961, I, 30), nachweisbar. Ab dem 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung beginnt er dann, fester Bestandteil des anthropologischen Begriffsschatzes und bis heute allgemein gebräuchlich zu werden. Pythagoras ist wohl den meisten durch den nach ihm benannten mathematischen Lehrsatz (a² + b² = c²) bekannt; anderen, musikologisch Gebildeten, durch seine Klangtheorie, dem Übertragen musikalischer Proportionen auf allgemeine Zusammenhänge (Sphärenharmonie) oder die Verwendung bestimmter Töne zu therapeutischen Zwecken; wiederum anderen, sogenannten esoterisch7 Ausgerichteten, durch seine Reinkarnationslehre, seine pantheistisch anmutenden Verbindungsideen einer Allbeseeltheit der Natur wie seine vegetarische und planvolle Lebensweise. Er war anscheinend (so lassen es antike Quellen vermuten, vgl. Riedweg, 2002) ein charismatisch begab 7 Das sogenannte Esoterische kommt heutzutage häufig ziemlich exoterisch daher. Es ist mittlerweile zu einem inflationär gebrauchten Begriff verkommen, der die ehemalige Bedeutungsgebung beinah ins Gegenteil verkehrt. So wird heute alles kontrawissenschaftlich Erscheinende mit diesem Etikett versehen und überdies einschlägige Sammlungen, wie beispielsweise »Das Geheimwissen der Ägypter«, bereits in Kaufhäusern feilgeboten. Der Begriff ist seinem Herkommen nach eindeutiges Griechisch: Eso bedeutet »hinein«, »innen«, ter ist das Zeichen für eine Steigerung und ikos kennzeichnet ein Adjektiv. Esoterikos, von dem sich Esoterik herleitet, benennt also etwas stark nach innen Gehöriges, deutlich Inwendiges, Geheimnisvolles, etwas Exklusives, an dem nicht jeder teilhat. In einer derart (selbst-)ausstellungssüchtigen und medienbestimmten Zeit wie der unsrigen ist das Verständnis für die Kraft und Bedeutung des Geheimnisses ziemlich abhandengekommen. Damit verschwanden auch entsprechende Schranken. Aufs Ausplaudern der Mysterien von Eleusis etwa soll ehemals die Todesstrafe gestanden haben. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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ter Mann, der einem ihm ganz ergebenen Schülerkreis vorstand (wie später, wenn auch anders, Stefan George), und scheint von manchen seiner Adepten und Epigonen als eine Art Zwischenwesen zwischen Mensch und Gott angesehen worden zu sein. Dass er – als mutmaßlicher Erfinder dieses Begriffs wie auch anderer, ähnlich nachwirkender Wortprägungen, so zum Beispiel »Kosmos« – auch philosophisch tätig war und unter anderem stark auf die Ideenlehre Platons gewirkt hat, ist weniger bekannt. Ja, er soll – so überliefert es Cicero in seinen tusculanischen Gesprächen – sich selbst so bezeichnet bzw. charakterisiert haben. Auf die Frage eines Gesprächspartners, was denn ein sogenannter Philosoph tue und worin dieser sich von anderen Menschen unterscheide, habe Pythagoras, erzählt Cicero, mit einem Bild geantwortet (einer Anspielung auf die Olympischen Spiele, die vierjährig seit 776 vor unserer Zeitrechnung durchgeführt wurden und der einschlägigen Forschung als Datierungshilfe dienen). Das »Leben der Menschen scheine ihm [Pythagoras] jenem Markt ähnlich, der aus Anlass der glänzendsten Spiele unter festlicher Beteiligung ganz Griechenlands abgehalten werde. Denn wie dort die einen mit ihren trainierten Körpern nach Ruhm und Ehre des Siegeskranzes strebten, andere durch die Aussicht auf profitable Kauf- und Verkaufsgeschäfte angezogen würden, es aber einen Typus von Menschen gebe […] die weder Applaus noch Profit suchten, sondern um des Schauens willen kämen und wissbegierig sich genau umsähen, was sich zutrage und auf welche Weise […] Diese nenne er ›auf Weisheit Bedachte‹ [das heißt nämlich ›Philo-sophen‹]« (Cicero, Tusculum 5,8 f., zitiert nach Ried, 2002). Folgen wir, probeweise, dieser ersten Etymologie, so wären Philosophen wie auch philosophisch Interessierte oder Inspirierte demnach als solche beschreibbar, die – drücken wir uns realistisch, das Allzumenschliche mitbedenkend aus – zumindest weniger von narzisstischen oder monetären Motiven angetrieben würden, sondern (vor allem) erkenntnisorientierten Strebungen folgten. Wie bereits angedeutet, ist der Begriff Philosophie jünger und ein Nachfolger der σοφία (der Weisheit)8, welcher in früher Zeit, ähnlich 8 So finden sich Entsprechungen bereits in früheren Kulturen des vorderasiatischen, asiatischen und ägyptischen Raumes, von dem die Griechen sehr viel in ihre Kultur auf- und übernommen haben. Sich weise zu verhalten wurde als ein ganz besonderes Vermögen beschrieben, bis hin zu den sprichwörtlich gewordenen Entscheidungen des Königs Salomon. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Sinn-Zusammenschlüsse
wie τέχνη (auf die unser Begriff Technik zurückgeht), nicht emphatisch aufgeladen war – das wird er erst bei Platon werden –, sondern eine Fähigkeit, ein Können (unter anderem ein handwerkliches) bezeichnete. Innerhalb der griechischen Kultur machte dann der Begriff σοφία bzw. weise, Weisheit – als ein den Menschen kennzeichnendes Vermögen – einen Bedeutungswandel durch. Das Attribut weise wurde nun allein den Göttern zuerkannt; der Mensch könne lediglich nach Weisheit streben, sie jedoch nicht (mehr) beanspruchen (Gefahr der sogenannten Hybris, der Selbstüberschätzung, die im Umgang mit wie in der Zuschreibung von Weisheit häufig auftaucht). Hier folgt zum Beispiel Platon in seinem Dialog »Phaidros« dem Begriffsverständnis des Pythagoras bzw. seiner Schüler. Dieser Begriffs- und Verständniswandel spiegelt sich nicht in der Wortbildung des Kompositums Philo-sophie wider. Denn dieses stellt, wenn man so will, sogar eine Steigerung dar: Ein Philosoph ist einer, der besonders intensiven Umgang mit der σοφία, der Weisheit bzw. den Weisheitsmöglichkeiten pflegt.
Sinn-Zusammenschlüsse Bevor wir auf das besondere Vermögen, das im Begriff Weisheit stecken soll, noch genauer zu sprechen kommen, zunächst noch ein Blick auf etwas Sprachliches, auf eine bestimmte Wortbildungsart, die besondere – bedenkliche wie schöpferische – Begriffsprägungen ermöglicht: das sogenannte Kompositum. Dieser aus dem Lateinischen entlehnte Begriff bezeichnet, etymologisch betrachtet, den Umstand, dass hier etwas aus verschiedenen Bestandteilen (Wörtern, Sinneinheiten) zusammengesetzt, zusammengebracht (lat. com-ponere) worden ist und nun als Einheit betrachtet wird, obwohl es aus ganz heterogenen Bestandteilen bestehen kann. Dieser Sinn-Zusammenschluss bringt naive oder unbewusste Sprachverwender mithin dazu, zu glauben, der so geschaffene Begriff sei als solcher richtig, ja sinnvoll, obwohl er, genau besehen, höchst fragwürdig erscheinen kann, wie zum Beispiel das Kompositum »Sachzwang«, einem Begriff, der das erzeugt, was er bezeichnet.9 Denn 9 Also von einer Art ist, wie die nicht selten gewalttätigen Begriffe und Termini in George Orwells »Neusprech« (vgl. die essayistischen Partien in dem Roman »1984«), welche auch dadurch so stark wirken, weil sie nicht eigens betrachtet und hinterfragt werden dürfen. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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bei diesem Kompositum erhebt sich die Frage, wer hier wen zwingt bzw. wer mit welchen Motiv dartun möchte, dass es am Ende die Sache selbst sei, die zwingt; gewissermaßen aus sich selbst heraus, als sei die Sache eine Person mit bestimmten Absichten. Es verwundert daher nicht, dass Begriffe wie »Sachzwang« in Kontexten ins »Sprachspiel« (Wittgenstein) gebracht werden, wo nicht allein sprachlich passivisch agiert wird und man ergo einen Schuldigen, einen Täter, einen Verantwortlichen braucht, der oder die es war(en), und dafür ist die jeweilige Sache dann allemal gut. Rege Kompositaverwender sind Verwaltungsbeamte und Juristen; sie erzeugen nachgerade viele hässliche und bildschwache Bandwurmwörter, die ein gewisses offiziöses Gepräge aufweisen und sachlich zwingend wirken sollen (ich erspare es dem Leser wie auch mir, derlei Wortungetümer hier aufzulisten, da man ja bei entsprechenden Verlautbarungen und Verordnungen leicht fündig werden kann).10 Wollte man der Entstehung und dem Gebrauch von Komposita genauer auf den Grund gehen, ergäbe dies sicher einen aufschlussreichen Essay. Doch möchte ich mich hier in dieser Sache kürzer fassen und beschränke mich daher auf einige Hinweise. Dass Komposita durch ihre amtlich-offiziöse Ausstrahlung gut geeignet sind, bestimmte Realitätskonstruktionen nahezulegen, zeigen eindrücklich Bedeutungsgebungen innerhalb von Diktaturen (in denen amtlichen Verlautbarungen nicht selten ein gottgleicher Impetus zuwächst). So wurde während des sogenannten Dritten Reichs eine bestimmte Form des Radiohörens, das Lauschen des »Feindsenders«, als Rundfunkverbrechen gebrandmarkt und strafrechtlich verfolgt. Oder in der DDR der Wunsch, das Land zu verlassen, als Republikflucht bezeichnet und in ähnlicher Weise geahndet. An sich harmlose Tätigkeiten wie das Radiohören oder das Vorhaben, in ein anderes Land zu gehen, können mit Hilfe eines bestimmten Kompositumgebrauchs zu kriminellen und bekämpfenswerten Handlungen statuiert werden, als sei das eine bereits ein Verbrechen und das andere stets eine Flucht (welche man aus einer anderen Perspektive oder Realitätskonstruktion heraus zwar auch als solche ansehen, aber ganz anders bewerten würde). Paul Watzlawick hat anhand eines fatalen ein ironisch-gebrochenes Kompositum gebildet. Während das erste eine mörderische Strategie des Totalitarismus zum Ausdruck bringt, benennt das zweite (von Watzla10 Es gilt ja nach wie vor als gute Stilübung, zum Beispiel das BGB zu verbalisieren. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Sinn-Zusammenschlüsse
wick gebildete) eine Verhaltensstrebung, die zwar nicht in diesem Sinne destruktiv ist, aber für diejenigen, die sich – bewusst oder unbewusst – darauf ausrichten, bedenkliche Folgen haben kann. Watzlawick erläutert das so: »Es gibt gewisse Lösungen, für die noch keine zutreffende Bezeichnung existiert und die man vielleicht Patendlösungen nennen könnte. Dieses Wort ist kein Druckfehler, sondern der Versuch einer Zusammenziehung von zwei Begriffen. Jedermann weiß, was man als Patentlösung bezeichnet. Der Ausdruck Endlösung dagegen ist in seiner schaurigen Bedeutung nur uns älteren Europäern noch unmittelbar bekannt.11 Eine Patendlösung wäre demnach eine Kombination der beiden Begriffe, also eine Lösung, die so patent ist, dass sie nicht nur das Problem, sondern auch alles damit Zusammenhängende aus der Welt schafft« (Watzlawick, 1986, S. 7 f.). Im ersten wie im zweiten Kompositum verlautbart sich die Überzeugung, etwas könne endgültig, ultimativ und ein für alle Mal gelöst werden; mehr noch: Dies sei wünschbar und angemessen, wobei es Schattierungen gibt. Während Endlösung die Sichtweise zum Ausdruck bringt, es gäbe Probleme, die endgültig gelöst werden könnten, verlautbart Patendlösung die Überzeugung, eine bestimmte Lösungsstrategie könne so gut, so endgültig patent sein, dass sie alle anderen eliminiere und unnötig erscheinen lasse. Durch ihre realitätsstiftende Wirkungsmöglichkeit bilden Komposita auch einen besonderen Ausdrucksraum für sprachschöpferisch Tätige. Der Schriftsteller James Joyce etwa steigert diese sinnverschwisternde Wortart noch, wenn er aus den Bestandteilen »Chaos« und »Kosmos« das Kompositum »Chaosmos« formt, welches das dauernde Ineinander von ungeordnet – geordnet, das seines Erachtens für das menschliche Leben konstitutiv sein soll, unmittelbar abbildet. Die eindrückliche Wirkung, die Lyriker wie Rainer Maria Rilke oder Paul Celan in ihren Gedichten oder Elias Canetti in seinen literarischen Charakterologien entfalten können, verdankt sich nicht zuletzt Wortverbindungen, welche Aspekte zu einer Sinneinheit verdichten, die man sonst so nicht zusam-
11 Da sich in unserer Zeit zunehmend Geschichtsvergessenheit breit macht, sei für die jüngeren Europäer der Hinweis gegeben, dass das fatale Kompositum Endlösung von den Destruktionsstrategen während des sogenannten Dritten Reichs geprägt worden ist. Es machte das Ansinnen amtlich: alle Juden sowie alle anderen Unerwünschten restlos zu vernichten und damit dieses vermeintliche »Problem« endgültig und für immer zu »lösen«, eben zu »endlösen«. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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men findet.12 Manche Aphoristiker verkürzen ihre Texte bis zu den sinngedrängten »Einwortaphorismen«, wie »Hintergründlichkeit«, »Ameisenstreik«, »Gedankenlerche« oder »Gewissensunternehmer« (Stölzel, 1998b, S. 115). Ein großer und sehr bewusster Schöpfer von Komposita war auch Sigmund Freud. Das geht von Bildungen wie »Triebschicksal«, »Wiederholungszwang«, »Traumarbeit«, »Lustprinzip«, »Wunscherfüllung«, »Tagesrest«, »Ödipuskomplex«, »Laienanalyse« bis zur sprichwörtlich gewordenen »Fehlleistung« – einer besonderen, paradox anmutenden Prägung, die normalen Erwartungen zuwiderläuft und in der verkündet wird: Das »Falsche« ist (zumindest hier) genau das »Richtige«; mehr noch: Im Falschmachen und Fehlgehen (das sonst zumeist kritisch vermerkt wird), im Vergessen, Verlesen, Versprechen, Versehen, Vergreifen, Vermeiden etc. liege eine besondere Leistung.
Die Verwendung von Komposita Komposita sind auch im professionellen Bereich von Therapie, Beratung und Organisationsentwicklung häufig anzutreffen und fungieren als sprachliche Bestätiger des jeweiligen Vorgehens. In Freuds wohl berühmtesten Buch erklärt er allein durch das Titelkompositum unzweifelhaft, dass Träume etwas seien, das gedeutet werden könne (»Die Traumdeutung«) und – ausgeweitet auf die ganze von ihm begründete Methode – dass die Psyche etwas sei, das analysiert werden und das man auf analytische Weise sinnvoll bearbeiten könne (Freud, 1969a). Zur Macht des alltagssprachlich Gewordenen gehört, dass solche Sinnverbindungen eigens nicht mehr untersucht noch geprüft, geschweige denn überhaupt bemerkt werden. Andere Verfahren behaupten durch ihre Bezeichnung, dass Systeme etwas seien, das aufgestellt werden könne oder dass es sinnvoll, weil perspektivenvergrößernd sei, hypnotherapeutische Ansätze mit systemischen zu einem hypnosystemischen zu koppeln. Überprüfen Sie – falls Sie hier an einer größeren Bewusstheit interessiert sind –, welche Komposita Sie professionell verwenden. Welche Ihnen einleuchten, welche hingegen nicht. Betrachten Sie beide genau. Was wird in ihnen zusammengebracht und als sinnvolle Einheit oder als 12 Wie beispielsweise »Weltinnenraum« (Rilke) oder »Zeitgehöft«, »Samenbemalte« oder »Worthöhlen« (Celan) oder »Namenlecker«, »Tränenwärmer«, »Geruchsschmale« oder »Ohrenzeuge« (Canetti). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Was soll, was kann man sich unter Weisheit vorstellen?
Selbstverständlichkeit oder gar als Notwenigkeit ausgegeben? Könnten Sie das, was Sie tun, oder die Weise, in der Sie arbeiten, in Gestalt von Komposita ausdrücken? Angenommen, dies wäre möglich, was kommt da bei Ihnen zusammen und wird zu einer Begriffseinheit verschmolzen? Und angenommen, Sie setzten sich probeweise den entsprechenden Begriffen gegenüber und begännen eine Unterredung mit ihnen? Was käme dabei zur Sprache?
Wie steht es nun mit einem Kompositum wie der Philosophie, das oftmals mit »Liebe zur Weisheit« bezeichnet bzw. übersetzt wird, sowie der Philosoph oder die Philosophin entsprechend als »Freund« oder »Freundin« der Weisheit? Und mag der erste Bedeutungsteil dieser Komposita leicht zugänglich erscheinen – gilt dies aber auch für den zweiten?
Was soll, was kann man sich unter Weisheit vorstellen? Der Mensch klassifiziert seine eigene Spezies als homo sapiens sapiens. Das Adjektiv sapiens leitet sich aus dem lateinischen Wort sapientia her, von dem wir bereits gehört haben, dass es sowohl Wissen als auch Weisheit bedeuten kann. Das Verb sapere führt auch die Bedeutung von »schmecken« bzw. »etwas herausschmecken können«. Auffallend ist hier die Dopplung der Eigenschaftsworte. Man könnte diesen zoologischen Terminus folgendermaßen übersetzen bzw. umschreiben: Der Mensch erscheint als das um seine Weisheit wissende Wesen; er beschreibt sich nicht bloß einfach als wissend oder als weise, sondern mit doppeltem Attribut; als ein Wesen, dessen vornehmliches Kennzeichen oder Charakteristikum es ist, dass es (zumindest ab einem gewissen Alter bzw. einer gewissen Erfahrung) um seine eigene Weisheit weiß, dass es nicht bloß als sapiens, sondern als sapiens sapiens erscheint. Folgt man dieser Beschreibung, verfügt der Mensch nicht bloß über Bewusstheit als solche, sondern über einen ihn von allen anderen Arten unterscheidenden Grad an Selbstbewusstheit. Er wird dadurch für sich selbst zu einem relationalen, systemischen Wesen, das sich selbst geistig gegenübertreten, das sich selbst zu einem Partner oder gar Freund wie auch zum Gegner oder gar zum Feind werden kann. Der Mensch wäre demzufolge als das Metawesen, das über, neben, hinter oder unter sich ste© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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hen kann13, beschreibbar, das überdies mit einem spezifischen Vermögen oder Wissen begabt oder wenigstens potentiell damit versehen sein soll: eben der Weisheit. Da Weisheit, zumindest etymologisch betrachtet, etwas mit Wissen zu tun hat, stellt sich die Frage: Welche Art von Wissen kann den Namen Weisheit14 beanspruchen? Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann hat in einem von ihr herausgegebenen Sammelband »Weisheit« – der von einem Brief Emil M. Ciorans und einem Gespräch mit Bert Hellinger eingeleitet wird, die beide Statements zum Thema liefern – versucht, einige prägnante Auskünfte zu geben. In ihrem Eröffnungsbeitrag (Assmann, 1991, S. 15–44) stellt sie die Was-ist-Frage und kommt dabei auf vier Komponenten, aus denen sich, Assmann zufolge, Weisheit bzw. weises Verhalten »zusammensetze«. Sie hat später noch einen »Weisheitskompass« (Assmann, 2006) entwickelt und diesem vier historische oder literarische Figuren zugeordnet. Da sie Anglistin ist, überrascht es nicht, dass drei ihrer vier Weisheitsprototypen nach Figuren Shakespeare benannt worden sind.15 Ich habe Assmanns Komponenten für die praktische Arbeit weiterentwickelt bzw. modifiziert, wobei ich ihr absolutistisches Verbum muss in ein sollte liberalisiert habe. Denn das Verbum »müssen« erscheint mir, wenn ich es leibphänomenologisch 13 »Im Rücken abgeschlossen, bist du nach vorn ein open end-Geschöpf«, sagt Botho Strauß über den Menschen (Strauß, 1981, S. 176). 14 Seit einiger Zeit liegen Ergebnisse der empirischen Weisheitsforschung vor (Sowarka, 1989; Baltes u. Smith, 1990; Staudinger u. Dittmann-Kohli, 1992; Staudinger u. Baltes, 1996), innerhalb derer Phänomen und Verhaltensweise aus psychologischer Sicht untersucht und die Fähigkeiten »weiser« Personen zu ermitteln versucht worden sind. Weisheit wird hier als erfahrungsgebundenes Lebenswissen gerade auch im Hinblick auf Lebensziele und Lebenssinn verstanden. Altersforscher und Gerontologen erblicken in einer mit den Lebensjahren zunehmenden persönlichen Weisheitsfähigkeit eine Art Ausgleich gegenüber dem Schwund anderer Fähigkeiten. Ein zusätzlicher Wert der empirischen Weisheitsforschung besteht darin, dass sie diesen kulturell aufgeladenen, unter dauerndem Hybrisverdacht stehenden Begriff nüchterner betrachtet. Innerhalb der jüdischen Tradition wird – im Sinne existentieller Perspektiven – Weisheit als eine von vier Dimensionen verstanden, wie Wirklichkeit erfahren und aufgefasst werden kann. Weisheit steht für die »Welt, in der Verborgenes erkennbar ist« (Bonder, 2001, S. 8 ff.). Bonder hat versucht, Ideen des Reb Schneur Salem aus Ljady für das heutige Verständnis zu erschließen. 15 Salomo steht für die herrscherliche oder richterliche Weisheit, Polonius für die väterliche oder mütterliche Weisheit, Prospero für die magische Weisheit und Jacques für die skeptische Weisheit. Ihr Weisheitskompass legt zumindest sprachlich nahe, dass es sich bei der Weisheit um ein Phänomen handelt, das mit Richtungsanzeigen zu tun hat. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Was soll, was kann man sich unter Weisheit vorstellen?
auf mich wirken lasse, als eine Handlungsaufforderung, die, bildhaft gesprochen, »die Gefäße eng macht« (zumindest besteht die hypnotische Einladung dazu), da es nahezulegen scheint, es gebe nur die eine Möglichkeit, derzufolge man etwas eben so machen oder verstehen muss. Dies schien mir gerade beim Thema Weisheit besonders fragwürdig. Als eine mögliche Annäherung an den Begriff Weisheit bzw. weisheitliches Wissen sei hier folgender Kriterienkatalog vorgestellt.
Kriterienkatalog zur Weisheit 1. Es sollte umfassend sein. – Als Weisheit gilt demzufolge jenes Wissen, das nichts ausschließt; also auf alle Dinge, die man wissen kann, sowie diejenigen, die man nicht wissen kann, gleichermaßen bezogen ist. Das führt auch zu der Frage, welche Haltung man dem menschlichen Wissen und Nichtwissen gegenüber einnimmt und über welches Wissenswissen bzw. Metawissen man verfügt. 2. Es sollte eine existentielle Dimension besitzen. – Als Weisheit gilt demzufolge jenes Wissen, das, anders als das Viel- und Besserwissen der sogenannten Spezialisten und Experten, einen »Einblick ins Wesentliche«, eine »Konzentration aufs Wichtige« und eine »Einsicht ins Ganze« (Assmann, 1991, S. 16) des menschlichen Lebens eröffnet; fern von jeder Form bildungsbürgerlich angehäuften und ausgestellten Wissens. 3. Es ist nicht direkt lehr- bzw. lernbar. – Als Weisheit gilt demzufolge ein Wissen, das nicht einfach durch Selbstbedienung aus Büchern oder von angeblich weisen Menschen zu beziehen ist – das bedeutet: Bloßes Weisheitswissen ist (noch) keine Weisheit. Vielmehr scheint Weisheit etwas zu sein, was von der Person, die als weise gilt, nicht zu trennen ist und zugleich als deren persönlichster Ausdruck erscheint, dabei sich mehr im Handeln oder Nichthandeln (der Person) zeigt als in einer explizierbaren Lehre, welche man schwarz auf weiß (wie es die Figur des Wagner in Goethes Faust möchte und außerdem nach ihm noch zahllose Seminarteilnehmer) mit nach Hause tragen kann. Charakteristisch für sogenannte weise Menschen scheint deren konstanter, eigener und dabei unkoketter Weisheitszweifel zu sein. »Halte dich nicht für weise«, lautet die erste Maxime des Ägypters Ptahhotep (ca. 2300 vor unserer Zeitrechnung). Diese wichtige Warnung öffnet auch den Blick auf die © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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Dauer einer Weisheitskompetenz, das betrifft die kleinen und die großen Weisheiten sowie diejenigen, die sie aussprechen, aufschreiben oder in Handlung umsetzen gleichermaßen. Denn wer sagt von jemandem, er sei weise? Sagen es andere oder bezeichnen sich die Weisen selbst mit diesem Attribut? Und selbst wenn jemand ein oder mehrere Male als weise erschienen ist, kann er oder sie dann diese Fähigkeit dauerhaft für sich beanspruchen? Verschriftlichte Formen menschlicher Weisheit – falls sich Weisheit überhaupt in Sprache fassen lässt – erscheinen zumeist in verkürzten, indirekten und verrätselten Darstellungen (wie Spruchsammlungen, Anekdoten, Parabeln, philosophischen Miniaturen, Aphorismen, Märchen etc.); Texten also, die nicht nur vielfältige und widersprüchliche Auslegungen ermöglichen, sondern geradezu herausfordern. 4. Es sollte wirksam sein. – Ein wichtiges Erkennungszeichen weisheitlichen Wissens liegt in seiner Tauglichkeit. Das bedeutet: Die Wirksamkeit einer jeweiligen Weisheit liegt vornehmlich in ihrer Bewährung. Weisheit ist, so verstanden, in erster Linie handlungsgerichtet. Sie ist unmittelbar angewandte Theorie; genauer ein Zustand, in welchem Theoretisches (was einer glaubt) und Praktisches (was einer kann) zu einer besonderen Einheit zusammenfinden. Sie ist praktikabel, insofern sie sich existentiell nützt. Sie ist – in der jeweiligen Größe und Weise – durch ein persönlich gelebtes Leben entfaltbar und zugleich ureigenster Ausdruck desjenigen, der sie entfaltet. Wie stehen Sie zu diesem Kriterienkatalog? Halten Sie ihn für vollständig? Was fehlt? Kennen Sie Personen oder Situationen, in denen Menschen sich »weise« verhalten oder gar »weise« gehandelt haben? War das nur Ihr Eindruck oder Empfinden oder hatten diesen Eindruck oder dieses Empfinden auch andere? Wie reagierte die oder der »Weise«, wenn Sie ihn mit dieser Zuschreibung konfrontiert haben? Wie reagierten andere, seine Umwelt?
»… eine Kleinigkeit weiser …« Es gibt einen berühmten, historisch verbürgten Fall, in dem ein Einzelner zwar nicht Opfer seiner Weisheit, aber der hartnäckigen Zuschreibung – ein Weiser zu sein – geworden ist: der Prozess und die Ver© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
»… eine Kleinigkeit weiser …«
urteilung des Sokrates. »Die Griechen« – erklärt Franz Vonessen für die nachsokratischen – »haben das Bild des Philosophen, jenes Menschen, der die Weisheit des Strebens im Streben nach Weisheit besitzt, in der Gestalt des Sokrates verkörpert gefunden« (Vonessen, 1971, S. 185). Die Bezeichnung »Gestalt des Sokrates« ist hier wichtig. Denn ähnlich wie Buddha, Konfuzius oder Jesus von Nazareth – Karl Jaspers spricht hier von den »maßgebenden Menschen« (Jaspers, 1988, S. 48) – hat Sokrates keine eigenen Schriften, keinen »O-Ton« hinterlassen. Alle Äußerungen sind ihm von anderen (die ihn zumindest persönlich gekannt haben) in den Mund gelegt worden: von Aristophanes (einem berühmten Komödienschreiber, der Sokrates als Sokrates in seinen Stücken auftreten lässt), von Xenophon (der mehrere Bücher, darunter »Erinnerungen an Sokrates«, mit vielen wörtlichen Zitaten von ihm geschrieben hat) und vor allem von Platon (in dessen über dreißig Dialogen Sokrates fast immer auftritt und zumeist den Argumentationsgang und damit die gedankliche Handlung wesentlich mitbestimmt). Doch ist es, wenn der Name Sokrates fällt, dank einer bestimmten Überlieferungspraxis, zumeist der platonische Sokrates, von dem die Rede ist. Sokrates ist dadurch eine literarisch-philosophische Figur Platons geworden, wenngleich, wie Karl Popper aufgezeigt hat, es zwischen beiden auch Unterschiede in den Erkenntniszielen gegeben hat (Popper, 1984, S. 41 ff.). Platon hat in vier Dialogen (»Euthyphron«, »Apologie«, »Kriton« und »Phaidon«) die Anklage, des Sokrates Verteidigung, Verurteilung und dessen letzte Lebenszeit bis zum Tod – gedanklich und dramaturgisch – wiedererstehen lassen und dabei wohl auch aus eigener Anschauung geschöpft. In der »Apologie« (seiner Verteidigungsrede) – einem monologischen Stück mit wörtlichen Einbezug der Kläger wie der Angehörigen des Gerichts – muss sich Sokrates auch mit einem Vorwurf auseinandersetzen, der nach heutigen Maßstäben merkwürdig anmutet und den wohl so mancher Therapeut, Coach oder Institutsleiter nicht ungern gegen sich gerichtet sähe; dem Vorwurf, weise zu sein bzw. für weise zu gelten, sogar für besonders weise. Der platonische Sokrates, von dem der scharfe Satz überliefert wird, dass nur ein geprüftes Leben es wert sei, gelebt zu werden, macht sich daran, in gewohnter Weise diesen Vorwurf zu untersuchen und zu überprüfen. Wir hören ihn hier in der dem Original sehr nahekommenden Verdeutschung von Manfred Fuhrmann. Was hierbei zur Sprache © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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kommt, ist bereits sehr lange her – und doch ist es, was die Wissensfrage und die sich aus ihr ergebenden Konsequenzen betrifft, in keiner Weise veraltet. Vergegenwärtigen Sie sich die Szene. Wir befinden uns im Jahr 399 vor unserer Zeitrechnung. Ein siebzigjähriger Mann, ein Athener aus dem Demos Alopeke steht in einem Volksgerichtshof, einem dikasterion, dem aus 500 Geschworenen bestehenden Gericht und zahlreichen Zuschauern (unter ihnen soll sich auch Platon befunden haben) gegenüber und sieht sich gezwungen, sich nicht allein wegen seiner in Verruf gekommenen philosophischen Tätigkeit, sondern auch wegen seiner damit verbundenen Lebensweise zu rechtfertigen: »Ihr kennt jawohl den Chairephon. Der war von Jugend an mein Freund, und er ist, als euer, des Volkes, Freund, mit vielen von euch in die Verbannung gegangen und von dort wieder zurückgekehrt. Und ihr wißt auch, was der Chairephon für ein Mann war, wie energisch bei allem, was er sich vorgenommen hatte. Ja, und als er nun einmal nach Delphi kam, da scheute er sich nicht, das Orakel zu befragen, ob (werdet bitte über meine Worte nicht ungehalten, ihr Männer) – er fragte also, ob wohl jemand weiser sei als ich. Da gab ihm die Pythia den Bescheid, niemand sei weiser. Und das wird euch sein Bruder – dort ist er – bezeugen; er selbst ist ja gestorben. Beachtet bitte, warum ich das sage: ich will euch doch zeigen, was mir den schlechten Ruf verschafft hat. Als ich nämlich von dem Bescheid erfuhr, da überlegte ich mir folgendes: ›Was mag der Gott wohl meinen, und was gibt er mir da für ein Rätsel auf? Ich weiß nämlich ganz genau, daß ich nicht weise bin, weder viel noch wenig. Was meint er also, wenn er sagt, ich sei der Weiseste? Denn ganz gewiß lügt er ja nicht; das ist nicht seine Art.‹ Und lange Zeit war mir gänzlich unklar, was er wohl meinte; dann erst, mit großem Widerstreben, machte ich mich daran, die Frage auf folgende Weise zu untersuchen. Ich ging zu einem von denen, die in dem Rufe standen, weise zu sein, um so, wenn überhaupt, den Spruch zu widerlegen und dem Orakel zu zeigen: ›Dieser Mann ist weiser als ich; du aber hast gesagt, ich sei der weiseste.‹ Als ich ihn nun prüfte (ich brauche ihn wohl nicht mit Namen zu nennen; es war einer von unseren Politikern, bei dem ich, als ich ihn mir ansah und mich mit ihm unterhielt, derartiges erlebte), da gewann ich den Eindruck, daß dieser Mann wohl weise zu sein schien – nach dem Urteil vieler anderer Leute und vor allem nach seinem eigenen –, ohne es indessen wirklich © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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zu sein, und ich versuchte ihm klarzumachen, daß er sich zwar einbildete, weise zu sein, daß er es jedoch gar nicht war. So kam es, daß ich mich bei ihm und bei vielen der Anwesenden verhaßt machte; bei mir selbst aber bedachte ich, als ich wegging: ›Im Vergleich zu diesem Menschen bin ich der Weisere. Denn wahrscheinlich weiß ja keiner von uns beiden etwas Ordentliches und Rechtes; er aber bildet sich ein, etwas zu wissen, obwohl er nichts weiß, während ich, der ich nichts weiß, mir auch nichts zu wissen einbilde. Offenbar bin ich im Vergleich zu diesem Mann um eine Kleinigkeit weiser, eben darum, daß ich, was ich nicht weiß, auch nicht zu wissen glaube.‹ Dann ging ich zu einem anderen, zu einem, der für noch weiser galt als mein erster Mann. Ich gewann dort genau denselben Eindruck, und ich machte mich nunmehr auch bei ihm und obendrein noch bei vielen anderen verhaßt. Daraufhin suchte ich planmäßig einen nach dem anderen auf, und ich bemerkte zu meinem Kummer und Schrecken, daß ich mich stets nur verhaßt machte. Trotzdem glaubte ich, es sei unerläßlich, das Wort des Gottes höher zu stellen als alles andere – ich hatte also, um die Bedeutung des Orakels zu ergründen, alle Leute aufzusuchen, die in dem Rufe standen, daß sie etwas wüßten. Und beim Hunde, ihr Männer von Athen (ich muß euch ja die Wahrheit sagen), was ich jetzt erlebte, war dies: diejenigen, die den allerbesten Ruf genossen, schienen mir so ziemlich die armseligsten Burschen zu sein, als ich sie der göttlichen Weisung gemäß prüfte; bei anderen hingegen, die in geringerem Ansehen standen, hatte ich den Eindruck, daß es mit ihrer Fähigkeit zur Einsicht besser bestellt war. Ich muß euch also meine Irrfahrt schildern, wie die eines Mannes, der allerlei Mühen auf sich genommen hat – ich wollte ja den Orakelspruch unangreifbar machen. Nach den Politikern suchte ich nämlich die Dichter auf, die Tragödien- und die Dithyrambenschreiber und alle die anderen, um mich dort auf frischer Tat zu überführen, daß ich unwissender sei als sie. Ich nahm mir ihre Dichtungen vor, und zwar die, mit denen sie sich meiner Meinung nach besonders viel Mühe gegeben hatten, und fragte sie, was sie damit sagen wollten, um zugleich noch etwas von ihnen zu lernen. Ich scheue mich jetzt, ihr Männer, euch die Wahrheit zu sagen. Trotzdem – ich muß es tun. Denn eigentlich wußten fast alle Anwesenden verständiger über die Sachen zu reden als die Verfasser selber. So stellte ich denn auch bei den Dichtern in kurzer Zeit fest, daß sie nicht aus Weisheit hervorbrachten, was sie hervorbrachten, sondern auf Grund einer © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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besonderen Veranlagung und in göttlicher Begeisterung wie die Seher und Orakelsänger. Denn auch diese Leute sagen viele schöne Dinge, ohne zu wissen, was sie sagen. In einen solchen Zustand schienen mir auch die Dichter zu geraten, und zugleich bemerkte ich, daß sie wegen ihrer Dichtungen glaubten, sie seien auch sonst ganz besonders weise Leute – was sie nicht waren. Ich verließ sie daher mit der Überzeugung, daß ich ihnen in demselben Punkte überlegen war wie den Politikern. Schließlich ging ich zu den Handwerkern. Ich selbst war mir ja bewußt, daß ich mich sozusagen auf nichts verstehe; bei ihnen aber würde ich, wie ich wußte, feststellen, daß sie sich auf viele schöne Dinge verstünden. Und hierin sah ich mich nicht getäuscht: sie verstanden sich auf Dinge, von denen ich nichts verstand, und waren mir in dieser Hinsicht an Weisheit überlegen. Aber, ihr Männer von Athen, denselben Fehler wie die Dichter schienen mir auch die lieben Handwerker zu haben: weil sie sich gut auf die Ausübung ihrer Kunst verstanden, bildete ein jeder sich ein, er sei auch im übrigen ganz ungeheuer weise, so daß – meiner Meinung nach – diese Beschränktheit ihre Weisheit wieder aufhob. Daher fragte ich mich im Namen des Orakels, ob ich’s für richtig hielte, so zu sein, wie ich sei – nicht weise im Sinne ihrer Weisheit und nicht unwissend im Sinne ihrer Unwissenheit –, oder ob ich’s vorzöge, zu sein wie sie. Ich gab mir selbst und dem Orakel zur Antwort, daß es mir wohl anstehe, zu sein, wie ich bin. Aus dieser Untersuchung, ihr Männer von Athen, sind mir viele Feindschaften erwachsen, und zwar sehr schlimme und schwere, so daß mancherlei Vorurteile gegen mich aufgekommen sind und ich in den Ruf geriet, ich sei ein Weiser. Die jeweils Anwesenden glauben nämlich, ich sei selber in den Dingen weise, nach denen ich einen anderen ausfrage. So scheint denn, ihr Männer, allein der Gott wahrhaft weise zu sein und mit seinem Orakelspruch eben dies zu meinen, daß die menschliche Weisheit nur wenig wert ist oder rein nichts. Und offenbar deutet er in diesem Sinne auf den Sokrates hin, wobei er meinen Namen nur nebenbei nennt, indem er mich als Beispiel verwendet – als ob er sagen wollte: ›Der, ihr Menschen, ist unter euch der weiseste, der wie Sokrates erkannt hat, daß er, recht betrachtet, nichts wert ist, was seine Weisheit betrifft.‹ So gehe ich denn auch jetzt noch umher und stelle im Auftrage des Gottes Untersuchungen an, sooft ich von einem Einheimischen oder Fremden annehme, er sei weise. Und wenn er’s mir nicht zu sein scheint, dann zeige ich ihm als Gehilfe © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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des Gottes, daß er nicht weise ist. Und wegen dieser Beschäftigung habe ich im übrigen zu nichts Nennenswertem Zeit gefunden, weder im Dienste der Öffentlichkeit noch in meinen eigenen Angelegenheiten; ich lebe vielmehr in tiefster Armut – wegen meines Dienstes für den Gott. Außerdem haben die jungen Leute, die mich, und zwar von sich aus, begleiten (die die meiste Zeit haben, die Kinder der Reichsten) – die haben Freude daran, wenn sie hören, wie ich die Leute prüfe, und oft ahmen sie mich nach und versuchen dann, andere zu prüfen. Und dann finden sie wohl ein gerüttelt Maß an Leuten, die da glauben, etwas zu wissen, in Wahrheit jedoch wenig oder nichts wissen. Deswegen sind die, die sie geprüft haben, böse auf mich, nicht auf sich selber und sie sagen, da sei ein gewisser Sokrates, ein ganz widerlicher Mensch, der die jungen Leute verderbe. Und wenn sie jemand fragt, wie er das mache und was er lehre, dann wissen sie nichts zu erwidern und sind ahnungslos; um sich jedoch ihre Verlegenheit nicht anmerken zu lassen, bringen sie das bekannte Zeug vor, das gegen alle zur Hand ist, die Philosophie treiben: die Himmelserscheinungen und das Unterirdische, die Leugnung der Götter und das Bestreben, die schwächere Rede zur stärkeren zu machen. Denn die Wahrheit zu sagen sind sie wohl kaum bereit: daß sie sich als Leute erwiesen haben, die etwas zu wissen beanspruchen, obwohl sie ganz unwissend sind. Da sie nun, meine ich, empfindlich und hartnäckig und zahlreich sind und da ihre unaufhörlichen Reden über mich auch glaubwürdig klingen, haben sie euch die Ohren mit ihren ständigen massiven Verleumdungen ganz vollgestopft. Aus ihrer Mitte sind Meletos und Anytos und Lykon gegen mich aufgetreten: Meletos hatte sich wegen der Dichter ereifert, Anytos wegen der Handwerker und Politiker, Lykon wegen der Redner. Es sollte mich daher, wie ich schon zu Anfang sagte, wundern, wenn es mir gelänge, euch diese Vorurteile auszutreiben in so kurzer Zeit, was sich so tief bei euch eingefressen hat. Jetzt kennt ihr die Wahrheit, ihr Männer von Athen, und ich habe euch in meinen Worten nichts vorenthalten, weder Großes noch Geringes, und nichts verborgen. Und ich weiß auch ganz gut, daß ich mich gerade dadurch verhaßt mache – was zugleich als Beweis dafür dienen kann, daß ich die Wahrheit sage und daß gerade diese Vorurteile gegen mich bestehen und daß sie hierdurch bedingt sind. Und ihr könnt das jetzt oder auch später prüfen: ihr werdet finden, daß es so ist« (Platon, 1987, S. 8–12). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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Eine Partie aus dem Argumentationsgang des Sokrates – ein vorsichtiger, relationaler Bestimmungsversuch des großen, schillernden und für den Beschuldigten lebensgefährlichen Begriffs – verdient noch einmal eigens genau betrachtet zu werden. Er verlautbart sich als Teil eines öffentlich gemachten Selbstgesprächs: »bei mir selbst aber bedachte ich […] Im Vergleich zu diesem Menschen bin ich der Weisere. Denn wahrscheinlich weiß ja keiner von uns beiden etwas Ordentliches und Rechtes; er aber bildet sich ein, etwas zu wissen, obwohl er nichts weiß, während ich, der ich nichts weiß, mir auch nichts zu wissen einbilde. Offenbar bin ich im Vergleich zu diesem Mann um eine Kleinigkeit weiser, eben darum, daß ich, was ich nicht weiß, auch nicht zu wissen glaube« (Platon, 1987, S. 9). Weisheit gibt es, dem platonischen Sokrates zufolge, nur als jene »Kleinigkeit« mehr. Sie bezeichnet (zumindest wenn es um Wissensfragen geht) ein Mehr an Bewusstsein für die eigenen Wissensgrenzen. Das heißt: Sie geht einher mit einer epistemologischen Bescheidenheit und einem (heilsamen) Abstand zu sich und den eigenen Wissensansprüchen und vermeintlichen Gewissheiten. Sie ist zudem ein Metahandeln, indem sie auf sich selbst anwendet, was über sie gesagt wird. Sie benennt ein Potential, das den Einzelnen davor schützen kann, von den eigenen Überzeugungen anästhesiert zu werden; dies gilt auch für die eigenen Fähigkeiten und Kompetenzen (vgl. »Selbstübertreibungstendenz«). Weisheit – das zeigt gerade das Beispiel des platonischen Sokrates – ist außerdem etwas Anarchistisches eigen; sie lässt – prüfend und genau betrachtend – keinen Wissens- und Autoritätsanspruch16 unberührt, und komme er auch (wie in unserer Zeit üblich) als »objektiv« oder »wissenschaftlich abgesichert« daher. In der Form eines wissenden Nichtwissens berührt sich die sokratisch-inspirierte Weisheitspraxis mit Wirklichkeitserfahrungen, wie sie der sogenannte Radikale Konstruktivismus beschreibt. Zwei bekannte Vertreter dieses Denkstils – Paul Watzlawick und Ernst von Glasersfeld – haben versucht, mit Hilfe von metaphorischen Einkleidungen anschaulich zu machen, dass es weit leichter sei zu erkennen, was die jeweilige Wirklichkeit nicht ist als was diese wirklich zu sein scheint. Ähnlich wie weisheitliches Wissen häufig ex negativo funktioniert und auf das Nichtsicher-wissen-Können ausgerichtet bleibt und eben nicht auf das sicher Scheinende, an dem sich viele religiöse oder politische Dogmen orien16 »Sind wir, als Lehrer, weise?«, fragt Gregory Bateson im letzten Satz seines Buches »Geist und Natur. Eine notwendige Einheit« (Bateson, 1987, S. 272). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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tieren, was dann oft zu folgenschweren Konsequenzen führt. Der Kapitän Watzlawicks und der blinde Wanderer Glasersfelds stehen somit als Sinnbilder für den Menschen in der Erkenntnissituation, in welcher der jeweilige »Weisheitskompass« (Assmann) nicht den richtigen, wahren oder wirklichen, sondern lediglich den viablen, gangbaren und möglichen Weg anzeigt. Weisheit könnte als ein ganzheitliches Prüfkriterium beschrieben werden, einerseits mit den eigenen Annahmen und Hypothesen und andererseits mit der widerständigen Welt und den potentiellen Schlupfwegen durch sie hindurch zurechtzukommen. Wenn jemand sich den eigenen Weisheitsfähigkeiten nähert, dann befände er sich (wie es Platon in seinem Dialog »Symposium« umschreibt) »in der Mitte von Wissen und Unwissenheit«. Ähnlich wie die metaphorische Figur Watzlawicks: »Ein Kapitän, der in dunkler, stürmischer Nacht eine Meeresenge durchsteuern muß, deren Beschaffenheit er nicht kennt, für die keine Seekarte besteht und die keine Leuchtfeuer oder andere Navigationshilfen besitzt, wird entweder scheitern oder jenseits der Meeresenge wohlbehalten das sichere, offene Meer wiedergewinnen. Rennt er auf die Klippen auf und verliert Schiff und Leben, so beweist sein Scheitern, daß der von ihm gewählte Kurs nicht der richtige Kurs durch die Enge war. Er hat sozusagen erfahren, wie die Durchfahrt nicht ist. Kommt er dagegen heil durch die Enge, so beweist dies nur, daß sein Kurs im buchstäblichen Sinne nirgends anstieß. Darüber hinaus aber lehrt ihn sein Erfolg nichts über die wahre Beschaffenheit der Meeresenge; nichts darüber, wie sicher oder wie nahe an der Katastrophe er in jedem Augenblicke war: er passierte die Enge wie ein Blinder. Sein Kurs paßte in die ihm unbekannten Gegebenheiten; er stimmte deswegen aber nicht, wenn mit stimmen das gemeint ist, was von Glasersfeld darunter versteht: daß der gesteuerte Kurs der wirklichen Natur der Enge entspricht. Man kann sich leicht vorstellen, daß die wahre Beschaffenheit der Meeresenge vielleicht wesentlich kürzere, sicherere Durchfahrten ermöglicht« (Watzlawick, 1981, S. 14).
Hier erhebt sich die Frage, inwieweit Glasersfelds Begriff der »Passung« oder »Viabilität« mit Weisheit bzw. weisheitlichem Verhalten kongruent ist. Denn oft ist einem selbst der Erfolg des richtigen oder »passenden« Verhaltens nicht recht erklärbar, wohl nicht weniger der der eigenen Weisheit. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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»Ein blinder Wanderer, der den Fluß jenseits eines nicht allzu dichten Waldes erreichen möchte, kann zwischen den Bäumen viele Wege finden, die ihn an sein Ziel bringen. Selbst wenn er tausendmal liefe und alle die gewählten Wege in seinem Gedächtnis aufzeichnete, hätte er nicht ein Bild des Waldes, sondern ein Netz von Wegen, die zum gewünschten Ziel führen, eben weil sie die Bäume des Waldes erfolgreich vermeiden. Aus der Perspektive des Wanderers betrachtet, dessen einzige Erfahrung im Gehen und zeitweiligen Anstoßen besteht, wäre dieses Netz nicht mehr und nicht weniger als eine Darstellung der bisher verwirklichten Möglichkeiten, an den Fluß zu gelangen. Angenommen der Wald verändert sich nicht zu schnell, so zeigt das Netz dem Waldläufer, wo er laufen kann; doch von den Hindernissen, zwischen denen alle diese erfolgreichen Wege liegen, sagt es ihm nichts, als daß sie eben sein Laufen hier und dort behindert haben. In diesem Sinn ›paßt‹ das Netz in den ›wirklichen‹ Wald, doch die Umwelt, die der blinde Wanderer erlebt, enthält weder Wald noch Bäume, wie ein außenstehender Beobachter sie sehen könnte. Sie besteht lediglich aus Schritten, die der Wanderer erfolgreich gemacht hat, und Schritten, die von Hindernissen vereitelt wurden« (Glasersfeld, 1992, S. 19).
Genügen Ihnen das offene, alles in Frage stellende, andauernde Prüfen und die Erfahrung, durch etwas mehr oder weniger so hindurchgekommen zu sein – oder suchen Sie doch mehr Sicherheit? Wäre es dafür günstig, weisheitliche Wissensperspektiven mit wissenschaftlichen zusammenzubringen? Könnte das »Licht wissenschaftlicher Rationalität« die Weisheit, die als das »dunkle Zentrum der Philosophie« beschrieben worden ist, sinnvollerweise erhellen – oder würde dabei das Besondere der Weisheit, ihr Zauber verlorengehen? Wie auch immer man zu solchen Fragen stehen mag, so könnte es sich lohnen, einen Blick auf das Verhältnis von Wissenschaft und Weisheit zu werfen, welcher vielleicht weitere Aspekte dieses schillernden und für den Menschen anscheinend konstitutiven Potentials ins Gewahrsein bringen kann.
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Wie weise ist / handelt die Wissenschaft?
Wie weise ist / handelt die Wissenschaft? Der neue Sokrates: er hat vergessen, daß er gewußt hat, daß er nichts weiß. Erwin Chargaff
Wir leben heute – wie das bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Soziologe Max Weber charakterisiert hat – in einer »entzauberten Welt«, in der es wimmelt von Erklärern, Bescheidwissern und Expertokraten jeglicher Couleur. Einem neueren Schlagwort zufolge sind wir – vielleicht ohne es recht zu merken! – sogar Mitglieder einer sogenannten Wissensgesellschaft geworden. Der Wissenschaft wird heutzutage von vielen Menschen eine Bedeutung und Autorität beigemessen wie etwa im sogenannten Mittelalter der Katholischen Kirche. Was ehemals eine päpstliche Bulle war, ist heute Stiftung Warentest. Versorgen uns doch diese modernen Orientierungsspender – neben anderem – mit Erklärungen über unsere äußere und innere Welt. Das vermittelt Sicherheit oder zumindest den Anschein davon. Können wir uns doch jederzeit in Kenntnis setzen: woher etwas kommt, was aus was folgt, wie etwas beschaffen ist, wie sich die Dinge zueinander verhalten etc. – und wo noch Unklarheit herrscht, da werde die Wissenschaft, so lautet die Verheißung, über kurz oder lang für Aufklärung und Durchblick sorgen (Stölzel, 2010a, S. 10). »Wer das Bescheidwissen durch Wissenschaften für Erkenntnis des Seins selbst und im Ganzen nimmt, ist einem Wissenschaftsaberglauben anheimgefallen.« Das gibt der durchaus wissenschaftlich tätige und einer methodischen Rationalität sehr zugängliche Karl Jaspers zu bedenken (Jaspers, 1953, S. 116). In der Tat scheint es sowohl für aktive Wissenschaftler wie für diejenigen, die sich stark an der Wissenschaft ausrichten, eine große Verlockung zu geben, wissenschaftlich eruierte oder »abgesicherte«
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Erkenntnisse17 für »wahrer«18 zu halten als solche, die auf anderen Wegen und andere Weisen ermittelt oder gewonnen worden sind – oder gar nur wissenschaftlichen (oder zumindest als wissenschaftlich geltenden) einen Wahrheits- oder Richtigkeitsanspruch zuweisen zu wollen. Wenn an dieser Stelle die Wissenschaft in etwas zugeschärfter Weise betrachtet wird, so geschieht dies nicht, um sie zu entwerten oder gar einer allgemeinen Wissenschaftsschelte das Wort zu reden. Es ist mir lediglich darum zu tun, auf implizite und versteckt wirksame Selbstübertreibungstendenzen hinzuweisen, die aus einem Monopolanspruch erwachsen – denn wer oder was sollte diesem gegenüber dann noch als Korrektiv auftreten können? Dass viel Wichtiges, Lebens- wie Erkenntnisdienliches durch wissenschaftliche Bemühungen und Forschungen hervorgebracht worden ist und wird, ist überdies offenkundig. Dass es mehr oder weniger »wissenschaftlich abgesicherte« Vorgehensweisen gibt, desgleichen. Was aber wäre nun besonders wissenschaftlich? Die Antwort mag überraschen: die Selbstkritik der Wissenschaft, genauer der Wissenschaftler. Zwar wird vielfach behauptet, es sei ja klar und geradezu selbstverständlich, dass alles stets falsifiziert, dass jede Methode, jede Erkenntnis, jedes Ergebnis dauernd auf dem Prüfstand stehe. Doch verhält es sich wirklich so? Werden liebgewonnene Theorien und Forschungsansätze einfach so aufgegeben, nur weil sie sich als unzureichend erwiesen haben oder weil sie übertrieben und damit perspektivenblind geworden sind? Hört die vielfach beschworene wissenschaftliche Kooperation innerhalb der scientific community, die ja 17 Wer sich mit diesem Anspruch intensiver beschäftigen möchte, dem sei das noch immer zu wenig bekannte Grundlagenwerk (auf dem auch der bekannter gewordene Wissenschaftstheoretiker Thomas S. Kuhn, 1976, fußt) empfohlen, nämlich Ludwik Flecks »Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache« (Fleck, 1980). Es ist verdienstvoll, dass dieses Buch unlängst in einem Sammelband zu »Schlüsselwerken des Konstruktivismus« (Pörksen, 2011) differenziert gewürdigt worden ist. Stark wissenschaftsgläubige Forscher wie auch Laien können mit Hilfe von Flecks Beobachtungen ihre diesbezüglichen Realitätskonstruktionen überprüfen. Dass es sich, wie der Wissenschaftstheoretiker Paul Hoyningen-Huene meint, bei der »neuzeitlichen Wissenschaft – jedenfalls um eine besondere Form des Glaubens« handelt (Hoyningen-Huene, 1984, S. 488), verdient dabei genauer betrachtet zu werden. 18 Vgl. hierzu den Wahrheitsbegriff in seiner metaphorischen (Ver-)Wendung im Alltagsleben, seiner kategorialen Funktion sowie in seiner projektiven Rolle und linguistischen Bedeutung, wie ihn zum Beispiel George Lakoff und Mark Johnsson in ihrem Grundlagenbuch »Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern« untersuchen (Lakoff u. Johnson, 1997, S. 179 ff.). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Wie weise ist / handelt die Wissenschaft?
stets ganz im Dienste der Forschung stehen soll, auf, wenn »das Bellen des schwedischen Hundes«19 vernehmbar wird, kommt der Gedankenaustausch zwischen den Forschern zum Erliegen, da man ja nicht möchte, dass die anderen, die sowieso schon ganz viel von den eigenen Erkenntnissen verarbeitet haben, womöglich noch den Preis … »Menschliches – Allzumenschliches« könnte man mit Nietzsche sagen. Und eben dieser Umstand sollte meines Erachtens stets mitbedacht, mitgesehen werden: dass es sich bei der Wissenschaft nicht nur um eine menschliche, sondern eine allzumenschliche Angelegenheit handelt. Das entwertet sie nicht, relativiert sie lediglich, stutzt sie zurück auf das menschliche Maß, irritiert die Platzhalterrolle für die (nicht wenig verbreiteten) metaphysischen Wissensbedürfnisse und Machtansprüche. Die Wissenschaft – hinter diesem pluralen Singular stehen auch nur Menschen, wenngleich mit Universitäten, Instituten, Apparaturen, Publikationen, Stiftungen, Forschungsgemeinschaften etc. verbunden. »Der Mensch begreift niemals, wie anthropomorphisch er ist« (Goethe, 1980, S. 49). Wenn etwas so hoch gehandelt und so sehr mit Bedeutung bedacht wird, wie heutzutage die Wissenschaft, scheint es dann nicht gerade in deren Dienst angezeigt, auf den Umstand hinzuweisen, wie stark sie von den Wünschen, Bedürfnissen, Zielen und Grenzen ihrer Hervorbringer durchdrungen, wie menschengemacht sie ist? Man könnte das zu der Frage zuspitzen: Wie wissenschaftlich verhält sich die Wissenschaft sich selbst gegenüber?
Erwartungen an die Wissenschaft Um diesen für manche vielleicht etwas abstrakt anmutenden Exkurs wieder auf persönliche Erkenntnisanliegen rückzubeziehen, schlage ich an dieser Stelle eine bezügliche Selbstbefragung vor. Bewegen Sie bitte folgende Fragen in sich: –– Welche Rolle spielt die Wissenschaft, spielen wissenschaftliche Methoden und Erkenntnisse in Ihrem Leben? –– Welche sprechen Sie dabei besonders an, welche weniger? –– Welchen Wert messen Sie Beweisen bei? –– An welche Beweise glauben Sie lieber als an andere? Und weswegen? 19 So nennt ein Insider aus der Welt der sogenannten hard facts, der Biochemiker und Epistemologe Erwin Chargaff, das Bemerkbarwerden der Nobelpreis-Komitees. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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–– Sollte Ihres Erachtens Wissenschaft noch eine größere Bedeutung bekommen als sie gegenwärtig einnimmt? Oder eher eine geringere? –– Angenommen: Die Wissenschaft verschwände oder verlöre gänzlich ihre Bedeutung, was würde das für Sie verändern? Was käme dann – möglicherweise – an deren Stelle?
Wissenschaft – das gibt zumindest das deutsche Wort zu erkennen – hat mit Wissen zu tun. Mit Wissen, das im Unterschied zu bloß persönlichen Meinungen, sachlich, unvoreingenommen und überprüft sein soll. Wie man auch zu einem derartigen Wissensanspruch stehen mag, so bleibt doch die grundlegende Frage bestehen, wie wir (zumal als Mitglieder einer sogenannten Wissensgesellschaft) zu so etwas wie Wissen gelangen. Karl Popper hat versucht, anhand eines alltäglichen Beispiels, etwas Klarheit in jene – auch aller Wissenschaft vorausgehende – heuristische Situation zu bringen. »Auf die Frage ›Woher weißt Du das?‹ ist die Antwort: ›Ich las es in der Times‹, oder: ›Ich las es in der Encyclopaedia Britannica‹ wohl eher zu erwarten, und auch eher überprüfbar, als die Antwort: ‹Ich habe es wahrgenommen›, oder ›Ich weiß es aufgrund einer Wahrnehmung, die ich vor vier Jahren machte‹. Aber der Empirist wird weiter fragen: ›Aus welchen Quellen hat denn die Times, oder die Encyclopaedia Britannica, ihre Information? Siehst Du denn nicht, daß, wenn man der Sache nur lange genug nachgeht, man schließlich doch zu Berichten über Beobachtungen von Augenzeugen kommen muß (die von manchen als ›Protokollsätze‹ und von Dir selbst als ›Basissätze‹ bezeichnet wurden)?‹ – ›Ich werde gerne zugeben‹, so wird der Empirist fortfahren, ›daß Bücher oft von andern Büchern abgeschrieben werden; oder daß, zum Beispiel, ein Historiker mit Dokumenten arbeitet. Aber letzten Endes müssen doch diese anderen Bücher, oder diese Dokumente, auf Beobachtungen gegründet gewesen sein. Denn sonst müßten wir sie als Dichtungen bezeichnen, oder als Erfindungen, oder geradezu als Lügen, aber nicht als glaubwürdige Zeugnisse. Das ist es, was wir Empiristen sagen wollen, wenn wir behaupten, daß die Wahrnehmung die letzte Quelle unserer Erkenntnis sein muß.‹ Das ist, im wesentlichen, die Verteidigung des Empirismus, wie sie auch heute noch von einigen meiner positivistischen Freunde ins Feld geführt wird. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Wie weise ist / handelt die Wissenschaft?
Ich will versuchen zu zeigen, daß diese Argumente um nichts stichhaltiger sind als Bacons Argumente: daß die Entscheidung der Frage nach den Quellen der Erkenntnis gegen die Empiristen ausfällt; und schließlich, daß diese ganze Frage nach den letzten Quellen – Quellen, an die man appellieren kann wie an eine höhere Instanz oder eine höhere Autorität – falsch gestellt ist und auf einem Irrtum beruht. Zuerst will ich zeigen, daß wir auch durch noch so gründliches Befragen der Times und ihrer Reporter niemals zu jenen Beobachtungen von Augenzeugen gelangen werden, an deren Existenz der Empirist glaubt. Denn es wird sich herausstellen, daß mit jedem Schritt, den wir unternehmen, die Zahl der dadurch notwendig werdenden weiteren Schritte lawinenartig anwächst. Nehmen wir zum Beispiel eine Behauptung, für die man sich normalerweise mit der Antwort ›Ich habe es in der Times gelesen‹ zufriedengeben würde; sagen wir: ›Der Premierminister hat beschlossen, einige Tage früher als beabsichtigt nach London zurückzukehren.‹ Nehmen wir für einen Augenblick an, daß jemand diese Meldung anzweifelt und herausfinden möchte, ob sie wahr ist. Was wird er unternehmen? Wenn er Zugang zur Kabinettskanzlei hat, dann ist die einfachste Methode ein telefonischer Anruf. Und wenn die Kanzlei die Meldung bestätigt, dann ist die Sache erledigt. Mit anderen Worten: der Nachforschende wird wenn irgendmöglich, die gemeldete Tatsache selbst zu überprüfen trachten, und nicht die Quellen der Meldung ausfindig zu machen suchen; während nach der Analyse der Empiristen die Behauptung ›Ich habe es in der Times gelesen‹ nur der erste Schritt ist in einem Rechtfertigungsverfahren für eine ursprüngliche Behauptung, das darin besteht, daß wir die letzten Quellen aufdecken. Was ist nun der nächste Schritt? Es gibt mindestens zwei nächste Schritte. Der eine beruht auf der Überlegung, daß der Satz ›Ich habe es in der Times gelesen‹ selbst wieder eine Behauptung ist, und daß wir also fragen müßten: ›Woher weißt Du, daß Du es in der Times gelesen hast und nicht, sagen wir, in einer Zeitung, die sehr ähnlich aussieht wie die Times?‹ Der andere Schritt ist, die Times nach den Quellen ihrer Information zu befragen. Die Antwort auf die erste Frage würde vermutlich lauten: ›Aber ich habe doch nur die Times abonniert, und sie wird jeden Morgen geliefert.‹ (Das führt weiter zu einer Unzahl von Fragen nach letzten Quellen, die wir im Augenblick nicht verfolgen wollen.) Auf die zweite Frage © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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würden wir, nehmen wir an, vom Chefredakteur der Times die Antwort erhalten: ›Wir wurden vom ersten Sekretär des Premierministers angerufen.‹ Wenn die Empiristen recht haben, sollten wir jetzt weiter fragen: ›Welcher Herr in Ihrer Redaktion hat die Nachricht entgegengenommen?‹ und sodann von dem betreffenden Herrn einen Bericht über seine ›Beobachtung‹ verlangen. Wir müßten ihn aber natürlich auch fragen: ›Was ist der Grund Ihrer Annahme, daß die Stimme, die Sie hörten, die des ersten Sekretärs war?‹ Und so weiter. Es ist leicht einzusehen, weshalb diese langweilige Kette von Fragen nie zu einem Ende kommen kann. Der Grund ist natürlich, daß jeder Zeuge in seinem Bericht weitgehend Gebrauch machen muß von seiner Kenntnis von Personen, Verhältnissen, Örtlichkeiten, Sprachgewohnheiten, Sitten usw. Er kann sich nicht bloß auf seine Augen und Ohren verlassen; besonders dann nicht, wenn sein Bericht eine Behauptung bestätigen soll, deren Bestätigung wichtig ist. Das bringt es aber mit sich, daß immer wieder neue Fragen über die Quellen jener Elemente seines Wissens entstehen, die nicht auf unmittelbarer Wahrnehmung beruhen. Das ist der Grund, warum das Programm, alle Tatsachenfeststellungen auf ihren letzten Ursprung zurückzuverfolgen, undurchführbar und logisch unmöglich ist. Es führt zu einem unendlichen Regreß. (Die Theorie, daß die Wahrheit offenbar ist, schneidet diesen Regreß ab. Darin liegt vermutlich, wenigstens zum Teil, das Bestechende an dieser Theorie.) Ich möchte noch bemerken, daß der Einwand, den ich hier vorgebracht habe, eng verwandt ist mit einem andern Argument, das ich vertrete – nämlich daß jede Beobachtung eine Interpretation im Lichte unseres theoretischen Wissens in sich schließe, oder anders ausgedrückt, daß ein rein auf Beobachtung gegründetes Wissen – ein Wissen, das keinerlei Theorie enthält – völlig unfruchtbar und uninteressant wäre, falls es so etwas überhaupt geben kann« (Popper, 1994, S. 31–33).
An der Hand einer Überzeugung Wer an den heuristischen Hintergründen seiner Überzeugungen interessiert ist, dem sei eine kleine Übung empfohlen: Nehmen Sie einen Satz, eine Idee, eine Meinung, die Sie oft oder sogar nachdrücklich vertreten. Beziehen Sie dazu eine Position, als seien Sie ein Anderer, der Ihnen zuhört und gerade diese Überzeugung von Ihnen vernimmt. Las© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Wie weise ist / handelt die Wissenschaft?
sen Sie den betreffenden Satz mehrfach unkommentiert in sich nachklingen, als hörten Sie einer Radiostimme zu, die etwas wie ein Mantra wiederholt. Lassen Sie sich dann von dieser Überzeugung gewissermaßen an die Hand nehmen, behandeln sie diese, als sei sie eine Person, die Ihnen etwas zu sagen hat. Lassen Sie sich von ihr dorthin führen, wo diese Überzeugung entstanden ist. Achten Sie auf alles, was Ihnen dabei begegnet, notieren Sie zumindest das Wichtigste (und für Sie vielleicht Überraschendste) davon, als schrieben Sie die Genealogie, als zeichneten Sie das Genogramm dieser für Sie relevanten Überzeugung auf. Lassen Sie sich dabei stets von der Frage begleiten: Woher weiß ich das?
Um das Verhältnis, das wissenschaftliches und weisheitliches Wissen zueinander haben, zu verdeutlichen und das, was sie – pointiert betrachtet – unterscheidet und somit jeweils ergänzend und ausgleichend wirksam werden kann, sei es anhand der nachfolgenden Gegenüberstellung näher aufgezeigt. Wollte man Gebrauchsweisen von wissenschaftlichem wie von weisheitlichem Wissen genauer untersuchen, so ließen sich gleichermaßen produktive Tendenzen wie Übertreibungsformen nachweisen. Die Unterschiede liegen neben einer anderen Form von Wissensgewinnung in unterschiedlichen epistemologischen Bedürfnissen und Gewichtungen. Wissenschaftliches Wissen scheint geeignet zu sein: »Richtiges« von »Falschem« unterscheiden zu können und deswegen als Orientierungsgeber verwendet zu werden. Wobei bereits Wittgenstein gegen Ende seines Tractatus zu bedenken gibt: »Wir fühlen, daß selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind« (Wittgenstein, 1963, S. 114). Bei weisheitlichem Wissen lässt sich hingegen oft eine Ausrichtung auf existentiell Relevantes erkennen; auf dasjenige, was für den Einzelnen und seine Lebenssituation von Wichtigkeit ist; mithin unabhängig davon, was zunächst »richtig« oder »falsch« erscheint. Beide Wissensformen setzen die Fähigkeit zum selbstständigen Denken und zu eigenständiger Wahrnehmung voraus. Während wissenschaftlichem Wissen nicht selten die Überzeugung zugrunde liegt, man könne dadurch etwas Sicheres herausfinden, scheint diese Sicherheit bei weisheitlichem Wissen so nicht zu bestehen, ja gar nicht von Belang zu sein. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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durch ursprüngliche, uneingeschränkte personenbezogene Methoden freies Selbstdenken
durch
Methoden, Lehrmeinungen, Wissenschaftsbetrieb gebändigtes Selbstdenken
Objektivität als metaphysischer Platzhalter, Dogmatisierungstendenzen
Anmaßung, Lehrbarkeit, Schulbildungen, Dogmatisierungstendenzen
Übertreibungsformen
ungebahnte Auto(o)psie
weisheitliches Wissen
gebahnte Auto(o)psie20
produktive Tendenz
durch die jeweilige Person Experiment etc.
erfahrenes Wissen
Wichtigkeitswissen
offene Erkenntnisziele Bewusstsein eines Wissenswissens
wissenschaftliches Wissen
Abbildung 1: Wissenschaftliches versus weisheitliches Wissen
durch die jeweilige Methode Experiment etc.
verbürgtes Wissen
Richtigkeitswissen
definierte Erkenntnisziele fortschreitende Wissensüberprüfung
produktive Tendenz
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20 Dieser aus dem Griechischen stammende und heute hauptsächlich nur noch in der Pathologie verwendete Begriff war ursprünglich Teil der Forschungsmethodik des Herodot und bedeutet selbst sehen; er markierte den Unterschied von eigenständiger im Gegensatz zu übernommener Wahrnehmung. In dieser Bedeutung wird er hier verwendet.
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Wie weise ist / handelt die Wissenschaft?
Der sprachmächtige Lyriker und einflussreiche Dramatiker Bertolt Brecht, der sich stark an einem geschlossenen Weltbild, und zwar dem Kommunismus, ausrichtete (und es fertigbrachte, als offiziöser Kulturvertreter einen Stalin-Preis »Für Frieden und Verständigung der Völker« entgegenzunehmen), besaß noch eine andere, eine philosophische, eine sich für Fragen angewandter Weisheit interessierende Seite. Diese Seite repräsentierte »Herr Keuner«, oft mit »Herr K.« (vielleicht nach dem Sprachgebrauch Kafkas) abgekürzt. »Herr Keuner« bringt in konzentrierter Form einiges aus der jahrzehntelangen Beschäftigung Brechts mit der Philosophie des Taoismus in kurzen anekdotischen Szenen zur Sprache. Spricht man den Namen Keuner mit augsburgischem Zungenschlag aus, lautet er etwa Koinä, was nach der Mundart dieser Region soviel wie Keiner bedeutet. Augsburg war Brechts Geburtsstadt, der er (wie man an späteren Tondokumenten erkennen kann) zeitlebens lautlich treu blieb, trotz jahrzehntelanger Aufenthalte in Berlin, Dänemark und den USA. Dieser Niemand oder Keiner, der hier zum Sprachrohr einer (zumindest kleinen) Weisheit wird, besitzt eine Ähnlichkeit mit einem Namen, den sich der listenreiche Odysseus im Neunten Gesang der Odyssee gibt, als er den einäugigen Kyklopen Polyphemos dadurch täuscht, dass er ihm auf Nachfrage sagt: »Mein Name ist Niemand (outis)« (Homer, 1962, S. 104). Nachdem Odysseus, um sein Leben zu retten, den Kyklopen geblendet hatte und aus seiner Gefangenschaft fliehen konnte, kann Polyphemos seinen Gefährten, die ihn fragten, wer ihn so verletzt habe, nur sagen, Niemand, Keiner habe das getan. Gut möglich, dass Brecht durch seinen Keuner/Keiner auch zum Ausdruck bringen wollte, dass der Weisheit Potential eigentlich unpersönlich sei. Denn wird Weisheit personifiziert, wird nicht nur der Narzissmus und die Hybris des Einzelnen gereizt, der sich für weise hält oder den andere für weise halten; es finden sich stets solche, die diesem Weisen und seiner Weisheit gläubig folgen, so wie »der Schatten dem Körper folgt« (Stölzel, 2011, S. 70), und dabei ihr eigenes Weisheitspotential verkümmern lassen. Im nachfolgenden Beispiel konfrontiert Brecht zwei Formen des Wissens und charakterisiert dabei sein Verständnis von weisheitlichem Wissen. »Weise am Weisen« ist die Haltung Zu Herrn K. kam ein Philosophieprofessor und erzählte ihm von seiner Weisheit. Nach einer Weile sagte Herr K. zu ihm: »Du sitzt unbequem, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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du redest unbequem, du denkst unbequem.« Der Philosophieprofessor wurde zornig und sagte: »Nicht über mich wollte ich etwas wissen, sondern über den Inhalt dessen, was ich sagte.« »Es hat keinen Inhalt«, sagte Herr K. »Ich sehe dich täppisch gehen, und es ist kein Ziel, das du, während ich dich gehen sehe, erreichst. Du redest dunkel, und es ist keine Helle, die du während des Redens schaffst. Sehend deine Haltung, interessiert mich dein Ziel nicht« (Brecht, 1953, S. 105 f.).
Die Gegenüberstellung von wissenschaftlichem und weisheitlichem Wissen, die hier auf graphischem Wege unternommen worden ist, verbindet sich mit der Absicht, mit Hilfe einiger Kontrastpunkte etwas Übersicht in diese komplexen Zusammenhänge zu bringen und einige grundsätzliche Tendenzen vor Augen zu führen. Dass hierbei Vollständigkeit weder angestrebt noch erreicht werden kann, liegt auf der Hand, zumal es ja viele Mischtypen und entsprechende Übergängigkeiten gibt. Ähnliches gilt auch für das nachfolgende Strukturangebot. Menschliches Wissen lässt sich ganz grundsätzlich in drei Typen unterteilen, in: 1. Allgemeines Wissen, 2. Spezielles Wissen, 3. Sonderwissen. Während die ersten beiden Typen leicht einsehbar und auch gebräuchlich sind, scheint der dritte erklärungsbedürftig zu sein. Handelt es sich etwa um eine Unterkategorie von Spezielles Wissen? Denn da es als Sonderwissen klassifiziert wird, dürfte es wohl nicht zum Allgemeinen gehören. Eine Unterscheidung bezieht ihren Wert dadurch, dass sie einen Unterschied benennt, der auch wirklich einen Unterschied macht und den Raum des Wahrnehmbaren erkennbar um zusätzliche Nuancen vergrößert bzw. verfeinert. Um zu überprüfen, ob und inwieweit der dritte Typus sinnvoll (und nicht doch bloß eine Unterkategorie von Speziellem Wissen darstellt), möchte ich ihn mit Hilfe eines Beispiels betrachten, mit etwas, das diesem Wissenstyp zugeordnet werden könnte: dem weisheitlichen Wissen. Dass es sich hierbei zumindest um ein besonderes Wissen handelt, dürfte durch die bisher unternommenen Annäherungs- und Umschreibungsversuche deutlich geworden sein. Das Besondere dieses Wissens scheint, verkürzt gesagt, darin zu bestehen, dass die Beziehung zwischen jemanden und seinen Selbst- wie Welterfahrungsmöglichkeiten anders (und vor allem persönlich) gestaltet wird und dass hierbei © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Das Potential der Philosophie
anderes Wissen und andere Wissensformen entstehen als diejenigen, die man allgemein erwerben oder speziell vertiefen kann. So bezöge sich das Sonder- auf den Umstand, dass es sich hier um ein Wissen handelt, das – unmittelbar und unersetzbar – mit einem bestimmten Menschen in Beziehung steht oder von ihm ausgeht und dem weder ein allgemeiner noch ein spezieller Status zukommt. Erwirbt jemand im Laufe seines Lebens nahezu unvermeidlich allgemeines wie auch spezielles Wissen, so ist damit nicht gesagt, dass dies auch für weisheitliches Wissen in gleicher oder vergleichbarer Weise gilt, wobei es ein wesentliches Charakteristikum von weisheitlichem Wissen zu sein scheint, dass es nicht erworben, sondern auf individuelle Weise entfaltet wird. Dieses Charakteristikum steht in Verbindung zu einer Verhältnisbestimmung, die bei Untersuchungen und Beschreibungen von Weisheit immer wieder begegnet: die Relation von Potential und Ideal. Der Charakter des Sonderwissens ergäbe sich also aus der größtmöglichen Entfaltung des je individuellen Potentials, durch das eine bestimmte Anlage sich dem annähert, was einem Menschen idealerweise möglich ist. Das bedeutet meines Erachtens auch, dass man weiß, wie wissenschaftliches Wissen sinnvoll zu verwenden ist, ohne es dabei zu überschätzen, wie es heutzutage nicht selten geschieht, noch es gering zu achten. Auf diese Weise kann es auch zu einem Korrektiv für weisheitliches Wissen werden, das seinerseits auch von Allzumenschlichem tangiert wird.
Das Potential der Philosophie Nachdem einiges über den komplexen Bedeutungsteil des Kompositums Weisheit aufgezeigt worden ist, möchte ich, bevor ich eine eigene Lesart dieses Kompositums gebe (der die therapeutisch wie beraterisch relevanten Elemente der Philosophischen Praxis wie auch die Konzeption der hier vorgestellten vier Kompetenzen zugrunde liegen), noch einen Blick auf den ersten Bedeutungsteil werfen. Das Griechische kennt drei benachbarte Begriffe für bestimmte Formen von Zuwendung und Zuneigung: Philia, Eros und Agape. Letzterer hat ins Deutsche kaum Eingang gefunden; er bezeichnet eine sehr allgemeine Form von Liebe, eine Art von kosmischer oder wenigstens pantheistischer Empfindung, die jedenfalls weit mehr als nur einem Einzelnen oder einer Gruppe oder einer bestimmten Sache gilt. Eros © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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benennt das Begehren, die Lust, das starke Streben nach etwas; dass dieser Begriff auch außerhalb des Bedeutungsfelds der Sexualität verwandt wird, zeigen Verbindungen wie der pädagogische Eros, wie überhaupt der Eros, den man für eine bestimmte Tätigkeit empfindet; dass es durchaus auch einen philosophischen Eros geben kann, wird noch deutlich werden. Mit Philia gibt es verschiedene Bildungen bzw. Verbindungen, wie zum Beispiel Philanthrop, Philogyn, Philologie, Philharmonie, Philippika, Philosemitismus, Philoxenie und eben die Philosophie. Die Grundbedeutung von Philia bezeichnet ein freundschaftliches Gefühl, ein Befreundetsein, ein ausgeprägtes Interesse; im Unterschied zu Agape beschreibt Philia ein starkes Gerichtet- und Bezogensein auf etwas Bestimmtes. Einem vielzitierten Wort Johann Gottlieb Fichtes zufolge hänge davon, welche Philosophie man wähle, ab, was für ein Mensch man sei. Demzufolge gab es und gibt es zahllose, nicht selten einander widerstreitende Definitionen, was Philosophie eigentlich sei. Diese Pluralität wirkt(e) belebend und bewusstseinsbildend, gerade weil sie, sozusagen in praxi, das wichtige Thema der Definitionsproblematik vor Augen führt. Es ist anregend, anhand entsprechender Anthologien21 die unterschiedlichen Sichtweisen verschiedener Philosophen auf ihren Gegenstand miteinander zu vergleichen (Stölzel, 2009a, S. 111). Dies könnte man mit Gewinn auch bei den Begriffen Psychologie oder Therapie tun. In meinem Begriffsverständnis schattiere ich die Begriffe Philosophie bzw. Philosophieren als die Bereitschaft: sich um die eigenen Weisheitsmöglichkeiten zu kümmern. Es geht dabei um eine produktive Selbstbeziehung, in welcher das eigene Potential ernstgenommen und verantwortungsbewusst für sich wie für andere entwickelt und ausgestaltet wird. Wie auch immer man den Begriff Weisheit für sich verstehen oder definieren mag; ob man Weisheit für unerreichbar, aber das Streben nach ihr für eine wichtige Aufgabe ansieht (wie dies zum Beispiel innerhalb des platonischen Denkens vertreten wird); ob man 21 Vgl. hierzu unter anderem Hermann Lübbe, 1978; Kurt Salamun, 2001; Maurice Merleau-Ponty, 2003b, S. 177–224; Rolf Elberfeld, 2006; Anton Hügli und Curizo Chiesa, 2007. Auf zwei differenzierte Darstellungen (eine typologische und eine etymologische) dieses schillernden Begriffs verdient eigens hingewiesen zu werden, da sie imstande sind, das je eigene Begriffsverständnis anzuregen: Norbert Hinske, 1986, S. 186–217, und Franz Vonessen, 1971, S. 153–188. Gemäß einem Einteilungsvorschlag von Gernot Böhme realisiert sich Philosophie als Weltweisheit, Lebensform und Wissenschaft (Böhme, 1994). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Das Potential der Philosophie
einen allgemeinen, menschheitsumfassenden, auf Weisheit als Ideal beruhenden Verhaltenskodex (in Annäherung an die Charta der Vereinten Nationen) anstrebt oder ob man sich auf die Umsetzung einer kleinen Weisheit beschränkt, die sich so individuell ausnimmt wie der persönliche Fingerabdruck und dann so etwas wie den geistigen und seelischen Fingerabdruck einer bestimmten Person bildet – stets geht es um ein spezifisch menschliches Potential, das entwickelt und entfaltet werden kann. Und das Verständnis, das jemand zu diesem Potential hat, die Beziehung, die er dazu entwickelt, der Umgang, den er damit pflegt – all das macht seine Philosophie aus. Ein bestimmter Teil dieses Potentials wird allein durch den Vollzug des Lebens mit seinen Überraschungen, Herausforderungen, Krisen und Wachstumsmöglichkeiten herausgebildet, und so ist wohl jeder allein durch die Lebensform, die er lebt und praktiziert, der eigenen Weisheit zumindest nahegekommen. Die Lyrikerin Monika Rinck, die eine sehr assoziative Poesie betreibt, hat in einem Gedicht ihr Denken als Teil ihrer Philosophie auf eindrückliche Weise verbildlicht: »mein denken ich hab heute mittag mein denken gesehen, es war eine abgeweidete wiese mit buckeln. Wobei es könnten auch ausläufer bemooster bergketten sein, jener grünfilzige teppich, den rentiere fressen. nein, einfach eine rege sich wölbende landschaft jenseits der baumgrenze, und sie war definitiv geschoren. die gedanken gingen leicht schwindelnd darüber wie sichtbar gemachte luftströme, nein, eigentlich vielmehr wie eine flotte immaterieller hoovercrafts. Sie nutzten die buckel als schanze.« (Rinck, 2007, S. 73)
Das eigene Denken sehen Angenommen, Sie würden Ihr Denken zu verbildlichen versuchen, welcher Text würde dann möglicherweise entstehen? Einen guten Einstieg bildet die Möglichkeit, sich von sich selbst überraschen zu lassen, indem Sie dem, was plötzlich (und scheinbar unsinnig) nach Ausdruck drängt, Raum geben. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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Von sich selbst überrascht werden Vielleicht erinnern Sie sich an Erfahrungen oder Situationen, in denen Sie von sich selbst überrascht worden sind; wo Sie etwas gesagt, getan oder unterlassen haben, mit dem weder Sie noch Ihre Umwelt gerechnet hätten; wo etwas anderes von Ihnen sichtbar wurde, das dann andere Wege und Verhaltensmöglichkeiten eröffnet hat. Und wissen Sie noch, was das war?
Andere Aspekte davon sind bislang kaum verwendet oder genutzt, geschweige denn bewusst geworden. Und da es nicht zu erwarten steht, dass die Überraschungen, Herausforderungen, Krisen und Wachstumsmöglichkeiten des Lebens abnehmen oder gar aufhören werden (was ja Stillstand, was Tod bedeuten würde), so könnte es sich lohnen, Möglichkeiten und Methoden kennenzulernen, die einen dabei unterstützen, das noch schlummernde Potential und damit auch andere Erfahrungs- und Handlungsoptionen zu erwecken.
Das Angebot der Philosophischen Praxis Der Begriff Philosophische Praxis wurde 1981 von Gerd B. Achenbach eingeführt – und ist zugleich (eben von der Sache, der Praxis her) viel älter. Er reicht bis zu den Griechen zurück, geht aber über sie hinaus, da zwar im antiken Griechenland ein bestimmter Umgang praktiziert, bestimmte Theorien und Verfahren entwickelt, aber nicht die Weisheit selbst erfunden worden ist; nicht einmal das lebensdienliche Verhältnis zu ihr. Hans Krämer beschreibt Philosophische Praxis als einen »Neologismus mit gesuchtem Mehrfachsinn, bei dem man drei Bedeutungen sondern kann: a) durch philosophische Theorie geleitetes Handeln, b) entsprechende Einübungen in ethische22 Grundhaltungen, c) das Beratungsgespräch über Fragen der Lebensführung, das der ärztlichen (speziell psychotherapeutischen) »Praxis« entspricht, wobei nicht der Akteur, sondern der Berater als Subjekt der Praxis zu denken ist. Die drei Bedeutungen hängen so zusammen, dass die dritte die ersten beiden und die zweite die erste befördern und ermöglichen« (Krämer, 22 Die von Krämer angedeuteten Grundhaltungen gehen nach meinem Praxis-Verständnis weit über das Feld der Ethik hinaus, wie im Folgenden noch deutlich wird. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Das Angebot der Philosophischen Praxis
1995, S. 331). In dem Artikel »Praxis, Philosophische«, den Odo Marquard mit Bezug auf Gerd B. Achenbach im »Historischen Wörterbuch der Philosophie« publiziert hat, wird Philosophische Praxis als eine »professionell betriebene philosophische Lebensberatung« verstanden, die »in der Praxis eines Philosophen geschieht.« Derjenige, der sich an einen Philosophischen Praktiker wendet, wird dabei nicht »als Fall unter vorgegebene Problem- und Lösungsschema subsummiert, sondern als Individuum« behandelt (Marquard, 1989b, Spalte 1307–1308). – Was Philosophische Praxis ist bzw. sein kann, was in ihr geschieht oder geschehen kann, bleibt umstritten, genauer: Es gibt eine Vielzahl von Vorverständnissen, Herangehensweisen und Anwendungsbereichen.23 Diese Pluralität hat dieser unmethodischen Methode genutzt; sie ist bislang nicht wie andere Beratungsformen in ihrem Selbstverständnis zu sicher geworden. Das dient vor allem denen, die sich an sie wenden. Dass es gerade zwischen den Herangehensweisen der systemischen Therapie und Beratung und der Philosophischen Praxis viele Berührungspunkte und Gemeinsamkeiten (wie dies auch der Beschreibungsversuch von Marquard erkennen lässt) gibt, wird deutlich, wenn es darum geht, Möglichkeiten von zukunftsfähigen Beratungs- und dialogisch begleiteten Selbstbesinnungsformen aufzuzeigen. Der Ethik-Forscher Hans Krämer rechnet Aktivitäten wie »die Industrie- und Betriebsberatung« sowie »die Ausbildung von Führungskräften« genuin zur Philosophischen Praxis, diese müsse, so Krämer, »daher über ein offenes, flexibles Ensemble von Methoden verfügen, das von Fall zu Fall und von Situation zu Situation verschieden eingesetzt werden kann« (Krämer, 1995, S. 332, 336). An dieser Stelle möchte ich noch etwas zum Praktischwerden und Praktischsein des Philosophierens: zur Philosophischen Praxis sagen. Diese Bezeichnung, »ein Neologismus mit gesuchtem Mehrfachsinn« (Krämer, 1995, S. 331), besitzt den Vorzug, produktiv zu irritieren, ein landläufiges und weitverbreitetes Vorverständnis zu verstören, demzufolge Philosophie etwas rein Theoretisches, Abstraktes, Weltfremdes und eben Unpraktisches sei. Diese Sichtweise ist eine moderne. An ihr ist die Kompliziert- und Verquastheit des Ausdrucks wie der Gedankenfüh23 Den damit entstehenden Praxisraum habe ich versucht anhand von 29 Vorannahmen (die natürlich ergänzungsfähig sind) thesenartig zu umreißen (Stölzel, 2009a, S. 85–112). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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rung vieler texterzeugender Philosophen (zumeist akademischer Provenienz) nicht unbeteiligt. Im Unterschied dazu bildete – wie dies unter anderem die Forschungen zur philosophischen Selbstsorge von Hadot, Foucault, Schmid und Horn aufgezeigt haben – die Philosophie und das Philosophieren in antiker Zeit so etwas wie eine existentielle Lebenswissenschaft, die sehr praxisorientiert war, denn es ging vornehmlich darum, den Einzelnen dabei zu unterstützen, sein Leben besser führen zu können, ja es überhaupt erst in Besitz zu nehmen und – mit Hilfe methodischer Übungen – die dafür notwendigen Fähigkeiten zu entwickeln. Das betraf nicht allein die Verstandeskräfte, wenn in dieser Zeit auch viele grundlegende und bis heute nachwirkende Theorien entstanden sind. Überhaupt erweist sich der vermeintliche Gegensatz von Theorie und Praxis, von dem ich zu Beginn des Kapitels sprach, wenn es darum geht, das Potential eines Menschen zu entfalten und andere Perspektiven zu beziehen, als wenig förderlich und zudem als unrealistisch. Dieser vermeintliche Gegensatz dient eher als Agent von Arroganz und Ignoranz, die nicht selten von entsprechenden Berührungsängsten sogenannter Theoretiker wie sogenannter Praktiker angetrieben werden. So fühlt sich die eine Seite der anderen überlegen, während die andere über diese nur den Kopf schütteln kann. Doch führe man sich einmal deutlich vor Augen, was denn etwas rein Theoretisches oder rein Praktisches sein soll (es geht hier ja nicht um etwas so sinnlich Konkretes wie einen Tisch oder Stuhl). Die beiden, in unserer Sprache sehr gebräuchlich gewordenen Begriffe Theorie und Praxis beschreiben in ihrer Ausgangssprache einerseits das Anschauen, Betrachten, Untersuchen, Zuschauersein – θεορία – und andererseits das Handeln, Tun, Ausüben, Wirkung hervorrufen – πρᾶξις. Gibt es ein Handeln, dem nicht ein Betrachten vorausgeht oder bei dem ein solches stets begleitend mit zugegen ist? Oder ein Anschauen und Untersuchen, das nicht auf ein Tun und Hervorbringen von Wirkung ausgerichtet ist? Demnach wäre jeder vermeintliche Theoretiker unausweichlich auf Praktisches bezogen und jeder vermeintliche Praktiker von Theorien abhängig und von ihnen erfüllt. Ein Philosophischer Praktiker wäre demzufolge jemand, der philosophisch handeln bzw. Wirkungen hervorbringen kann, indem er Philosophie ausübt und auf diese Weise etwas tut, eben praktiziert. Dabei agiert er (wie jeder andere Praktiker auch) keineswegs theorielos. Die nahezu ausschließliche Theoriezuschreibung der Philosophie rührt nicht allein von schwer verständlichen und abgehoben wirken© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Das Angebot der Philosophischen Praxis
den Texten her; sie hat auch erkenntnisgeschichtliche Gründe. Während des sogenannten Mittelalters hat die Kirche viele philosophische Übungen, die der Entfaltung seelischer und geistiger Autonomie des Einzelnen dienten, kassiert oder, was sie für die eigene Praxis brauchen konnte, christianisiert und entsprechend umgeformt (wie zum Beispiel die Beichte oder bestimmte geistige Exerzitien). Der Philosophie und dem Philosophieren kam lediglich ein dienender Status zu; sie wurde zu einer ancilla theologiae, einer »Magd der Theologie«, herabgestutzt und sollte nur noch als Text- und Kommentarwissenschaft sowie als intellektuelle Verteidigerin theologischer (Macht-)Interessen fungieren, zum Beispiel, indem sie entsprechend feinsinnige, ausgeklügelte und schwer widerlegbare Argumente zur Befestigung von sogenannten Heilsgewissheiten liefern sollte, wie während der sogenannten Scholastik vielfach geschehen. Dass damit selbst während dieser Epoche die kritisch-subversive, anarchistische und zum Selbstdenken anstiftende Tätigkeit des Philosophierens nicht gänzlich zu unterbinden war, hat einer der besten Kenner dieser Spanne der Zivilisationsgeschichte aufgezeigt: Kurt Flasch in seiner Überblicksdarstellung »Das philosophische Denken im Mittelalter« (Flasch, 1986). Zwar ist es in der Folge, zu Beginn der sogenannten Neuzeit, gelungen, die einseitige theologische Inanspruchnahme sukzessive zurückzudrängen und das ursprüngliche »rücksichtslose« Fragen wieder umfassend aufzunehmen, was zur Gegnerschaft mit dem früheren Rollenzuweiser und zur Verfolgung und Stigmatisierung vieler philosophischer Ideen führte, doch ist eine überwertige Theoriezuschreibung an der Philosophie wie dem Philosophieren haften geblieben – auch wenn innerhalb der Moralistik (in der Nachfolge Montaignes) dem konkreten Autonomiebestreben (innerhalb der Aufklärungsphilosophie) sowie in den verschiedenen Formen der Phänomenologie, der Philosophischen Anthropologie und der Existenzphilosophie (im 20. Jahrhundert) der vielfache und vielfältige Versuch unternommen worden ist, das praktische Potential der Philosophie und des Philosophierens sichtbar zu machen. Und so fällt von denjenigen, welchen diese Entwicklungen und Verformungen nicht bekannt und die Potentiale der neueren Richtungen (wie den eben aufgelisteten) nicht geläufig sind, ein einseitiger bis abschätziger Blick auf die Philosophische Praxis. In der Weise: Was soll denn das schon sein?! In dem Folgeband »Fragen – Lösen – Fragen. Philosophische Potentiale für Therapie, Beratung und Organisationsentwicklung« (dessen © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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Erscheinen für das Frühjahr 2013 geplant ist) werde ich noch genauer auf die Möglichkeiten Philosophischer Praxis eingehen und differenziert auszuloten versuchen, wie ein sinnvoller und produktiver Austausch mit reflektierten Therapie-, Beratungs-, Coaching- und Organisationsentwicklungsmethoden gestaltet werden kann – auch zum Wohle und zur Unterstützung der Patienten, Klienten, Kunden und Besucher, die sich – aus welchem Anlass, mit welcher Motivation oder Intention auch immer – an einen professionellen Dialogpartner wenden. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts scheint es angezeigt, integrative und zugleich methodenbewusste Verfahren zu entwickeln bzw. Kooperationsformen anzuregen, die es ermöglichen, besser, passgenauer, individueller und angemessener auf die jeweiligen Themen, Fragen und Probleme einzugehen, und zu einer stimmigen Klärung führen können, statt sich jeweils überlegen zu fühlen und andere Herangehensweisen eher abzuwerten; dies gilt auch für manche Vertreter oder Tendenzen innerhalb der Philosophischen Praxis. Ich möchte das Kapitel, in dem zumindest (so hoffe ich) ein wenig der Begriff Philosophie und die Tätigkeit des Philosophierens geklärt und ihre Verwendungsweisen aufgezeigt und erfahrbar gemacht worden sind, mit einem kurzen Hinweis und einer kleinen Übung beschließen. Das betrifft wiederum Sprachliches. So wie ich sie verstehe und handhabe, verfügt Philosophische Praxis als Methode über ein erhöhtes und durch die Sprachphilosophie geschärftes kritisch-analytisches Bewusstsein für Worte und Begriffe sowie ein entwickeltes Gespür für die Implikationen von Metaphern und Vergleichen und deren häufig suggestiven und hypnotischen Angeboten. Und eben dies ist in dieser entwickelten Form bei vielen psychotherapeutischen Richtungen und beraterischen Settings so nicht anzutreffen – mehr noch: Es fehlt oft auch eine Offenheit dafür. Vielen Therapeuten, Coaches und Organisationsentwicklern scheint jemand wie Wittgenstein nur dem Namen nach, nicht aber in seiner Bedeutung für die kommunikativen Elemente eines beraterischen Dialogs bekannt zu sein. Da die Sprache eines der bedeutsamsten Arbeitsinstrumente für alle Formen von Beratung und Begleitung darstellt, sind die Folgen bei mangelnder selbstreferentieller Wachheit in dieser Hinsicht besonders gravierend, auch wenn sie sich zunächst subtil darstellen mögen.
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Das Angebot der Philosophischen Praxis
Philosophische versus ideologieträchtige Beschreibungsweisen Die sogenannte Alltagssprache ist voll von Absolutsetzungen,24 die – kritisch betrachtet – diesen Ausschließlichkeitsgrad inhaltlich nicht einlösen können. Es mag verständlich sein, wenn solche – hier als ideologieträchtige Beschreibungsweisen bezeichnete – Totalisierungen besonders in emotional aufgeladenen Situationen verwendet werden (»immer machst du …«; »das werde ich nie mehr tun …«; »das ist eine rein sachliche Angelegenheit …« usw.). Ruhigen und klaren Auges betrachtet, schrumpfen solche Maximalkundgebungen rasch auf das gemischte »mesokosmische« Maß, das für das menschliche Leben meines Erachtens nach die wohl eigentlich erkenntnisträchtige Perspektive darstellt. Zur Veranschaulichung zwei einander gegenübergestellte Wortlisten: Tabelle 1: Philosophische versus ideologieträchtige Beschreibungsweisen
Philosophische Vokabeln
Ideologieträchtige Vokabeln
vielleicht
immer
unter Umständen
nie
möglich(erweise)
rein
auch
total
scheinbar
absolut
anscheinend
alles
vermutlich
jeder
meiner Beobachtung nach
keiner
meiner Erfahrung nach
sicher
wahrscheinlich
genau
gegebenenfalls etc.
zweifellos etc.
24 Der Lyriker Eugen Roth hat es auf eine oft sehr einprägsame Weise verstanden, sich auf verschiedene Lebensthemen seinen hintersinnigen Reim zu machen. So zum Beispiel auf ein kleines, bei Lichte besehen fatales Wort, »Nur«: »Ein Mensch, der, sagen wir, als Christ/ streng gegen Mord und Totschlag ist,/ hält einen Krieg, wenn überhaupt,/ nur gegen Heiden für erlaubt./ Die allerdings sind auszurotten,/ weil sie des wahren Glaubens spotten!/ Ein andrer Mensch, ein frommer Heide,/ tut keinem Menschen was zuleide./ Nur gegenüber Christenhunden/ wär jedes Mitleid falsch empfunden./ Der ewigen Kriege blutige Spur/ kommt nur von diesem kleinen ›nur‹ …« (Roth, 2006, S. 12). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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Reizwort Philosophie
Ich lade Sie ein, Ihre Sprechweisen und die Ihrer Gesprächspartner einmal genau wahrzunehmen und auf die Verwendung von philosophischen oder ideologieträchtigen Vokabeln zu achten. Wer neigt in welchem Kontext zu welcher Wortwahl? Und was hat dies für Auswirkungen?
Bevor man Sprechen und sogar noch, bevor man Lesen und Schreiben gelernt hat, war die erfahrene Sprache etwas Akustisches, ein Hör- und Klangeindruck, der mit dem ganzen Leib aufgenommen wurde. Hans Wollschläger hat diese Erfahrung in einem Bild verdeutlicht; er spricht vom Eindringen der elterlichen Worte, wenn diese sich sprechend über die Wiege beugen und den ganz latent daliegenden Kindsleib damit in bestimmter Weise antönen und einstimmen (Wollschläger, 1982). Wer derlei für übertrieben hält, mag überprüfen, welche Wirkung – konzentriert gehört – einzelne Worte im leiblichen Resonanzraum entfalten können. Da eignen sich beispielsweise die oft unbewusst gesprochenen und gehörten Totalisierungen, von denen eben die Rede war, in gleicher Weise wie das Reizwort Philosophie, dem gegenüber man sich auch leiblich verhält (wie dies mit Hilfe von leibphänomenologischen Übungen sichtbar gemacht werden kann). Die Vielgestaltigkeit der Philosophie soll nun anhand von vier Kernkompetenzen vorgeführt und dargeboten werden, und zwar im Hinblick darauf, zu was Therapeuten, Berater, Coaches und Organisationsentwickler damit kommen können. Nach einer Koda möchte ich allerdings zuerst noch einige Blicke auf den Menschen als Fähigkeitswesen werfen und Voraussetzungen aufzeigen, wie dieses Potential – auf dem auch die philosophischen Kompetenzen beruhen – überprüft und verbessert werden kann.
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Koda: Die philosophische Bewegung
Als philosophische Bewegung bezeichne ich eine bestimmte Form des Zu-sich-Kommens. Wäre das Adjektiv »ganzheitlich« nicht mittlerweile so abgenutzt, könnte ich, was das Ausmaß angeht, die philosophische Bewegung damit charakterisieren. Das Wort Bewegung lässt einen an etwas Mobiles, an etwas, das in Bewegung gebracht wird, oder jemanden, der sich in Bewegung bringt, an einen Wechsel der Raumpositionen oder ganz allgemein an Veränderung denken. Doch beginnt die philosophische Bewegung, von der ich hier spreche, mit dem Gegenteil: mit dem Innehalten, genauer mit dem Sich-zum-Innehalten-Bringen. Anlass oder Auslöser hierfür kann in der Tat alles sein, was wahrgenommen oder irgendwie bemerkt werden kann. Sei es nun etwas scheinbar Wichtiges, Bedeutendes, Auffälliges oder sei es etwas scheinbar Banales, Alltägliches, Selbstverständliches; sei es etwas, das ich jenseits der Grenzen meines Körpers, also außerhalb von mir, in meiner näheren oder ferneren Umgebung, wahrnehme oder sei es etwas, das ich an oder in mir bemerke. Was den jeweiligen Anlass oder Auslöser betrifft, so gilt hier, was Voltaire charakterisierend für die Philosophie insgesamt gesagt hat: Sie sei eine touche-à-tout, eine Allesanrührerin. Und so kann schlechterdings alles den ersten Teil der philosophischen Bewegung – das Sich-zum-Innehalten-Bringen – anstoßen. Die Form einer Fussel an einem Teppich, auf den mein Blick wie zufällig fällt, nicht weniger als eine vermeintlich wichtige Nachricht, die ich lese, höre oder sehe und die mich ins Stutzen bringt, das Geräusch eines Tieres oder der Ton eines technischen Geräts, die Farben des Himmels, eines Gewässers, eines Baumes, einer Blume oder eines Feldes (das dabei keineswegs von so loderndem Gelb zu sein braucht wie etwa der Raps im späten April), das Muster einer Tapete, das (sprichwörtliche) Klingeln des Telefons, der Geschmack des Essens, das ich gerade im Munde bewege, der Geruch des Erdbodens nach dem Regen, der charakteristische Duft einer Pflanze oder die Bewegungsweise eines Menschen, ein bestimmtes © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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Koda: Die philosophische Bewegung
leibliches Empfinden, wie Hunger, Erregung, Frische oder behagliche Schwere, die (empfundene) Schönheit oder Hässlichkeit von Gegenständen, Personen, Lebewesen, die mir durch diese Markanz geradezu ins Auge springen, nicht weniger als eine Tür, durch die ich vielleicht schon tausendmal (und zusehends achtloser) hindurchgegangen bin etc. etc. etc. Wichtig beim ersten Teil der philosophischen Bewegung – der diesen Mikroprozess als solchen erst deutlich und erfahrbar macht – ist es wahrzunehmen, wie ich jetzt – ausgelöst durch was auch immer – mit dem, was ich gerade tue (oder erlebe), aufhöre. Da das unvermittelte Aufhören, Anhalten, Ruhigwerden häufig ein abruptes Geschehen darstellt, ist es nicht selten mit dem Anhalten oder Einziehen des Atems verbunden. Der zweite Teil der philosophischen Bewegung gleicht das aus. Es geht darum, das, was manche Yoga- oder Meditationstraditionen den »Ausatem« nennen, zu aktivieren. Und dies nicht allein körperlich. Mit dem achtsamen Ausströmen-Lassen der Atemluft bringe ich auch meine seelische und geistige Erfahrungsebene und Befindlichkeit in Bewegung und kann wahrnehmen, wie das, was gerade seelisch und geistig in mir ist, wie die Gefühle und Gedanken, welche mich berühren und beschäftigen, ins Fließen kommen, aus mir herausströmen und wie ich sie, durch den von mir selbst geschaffenen Abstand anders betrachten und mich anders zu ihnen verhalten kann. Dieser zweite Teil der philosophischen Bewegung vollzieht sich auch als ein existentielles Weiter- und Größerwerden. Er bildet dadurch die Gegenregung zum Zwangs-, Druckund Engeerleben25 und erzeugt einen (spürbaren) Abstand zu dem Teil und Moment des eigenen Lebens, in dem man sich gerade befindet. Diese Form des fließend ausströmenden Abstandschaffens vermittelt zudem einen erlebbaren Zugang zur eigenen Würde, der sich vor allem in bedrängten oder schwierigen Situationen – aus denen einen die philosophische Bewegung zumindest für die Dauer einer kurzen, aber klärenden Spanne herauszuholen vermag – als sehr stärkend, manchmal auch als das Erste, was man in Richtung einer Verbesserung unternehmen kann, darstellt. 25 Das Wort Angst leitet sich aus dem lateinischen angere (beengen, eng werden) her, vgl. Angina als einer Entzündung, die mit der Empfindung der Hals- oder Brustenge einhergeht. Viele Angstbilder (zum Beispiel jemand würgt an seiner Angst oder wird von ihr – der Angst – gewürgt) verweisen auf die Halsregion als einer sensiblen und charakteristisch engen Zone des Körpers. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Koda: Die philosophische Bewegung
Im dritten und abschließenden Teil der philosophischen Bewegung – im Um-mich- und In-mich-Blicken – wird das existentielle Größer- und Weiterwerden als Erfahrungseinheit abgerundet. Es geht dabei darum, die andere Welt- und Selbstbeziehung, die durch die beiden vorangehenden Teile der philosophischen Bewegung erfahrbar geworden ist, mit der unmittelbaren Lebensumgebung – äußerlich wie innerlich – zu verbinden, um sich und die anscheinend vertraute Welt anders wahrnehmen26 zu können. Womöglich reicher, klarer, tiefer, kraftvoller. Es kann sein wie ein neues Ankommen in einer schon bekannten Welt, wie eine Art des Geborenwerdens durch sich selbst – hin zu neuen Lebensmöglichkeiten. Die philosophische Bewegung eröffnet ihre existentielle und perspektivische Kraft vor allem dann, wenn ich sie als ganzer Mensch ausübe und mich nicht (wie dies zum Beispiel innerhalb der sogenannten Schulmedizin geschieht) nur auf das körperliche Geschehen beschränke oder mich allein um Seelisches kümmere oder auf den psychischen Apparat ausrichte (wie dies manche Psychologen tun), mich aber auch nicht allein auf das Geistige als den vermeintlich höchsten und wichtigsten Teil des Menschen kapriziere (wie dies manche verkopfte akademische Philosophen tun). Der individuelle Zusammenklang des körperlichen bzw. leiblichen, seelischen und geistigen Erlebens mit seinen vielfältigen Wechselwirkungsprozessen kann durch die philosophische Bewegung anders erfahren werden, bis hin zum Vernehmen des eigenen existentiellen Tons.
26 Hierfür können, vor- wie nachbereitend (leib-)phänomenologische Übungen als Erfahrungsgeber gut genutzt werden. Vgl. das Phänomenologiekapitel in »Fragen – Lösen – Fragen. Philosophische Potentiale für Therapie, Beratung und Organisationsentwicklung« (Stölzel, 2013). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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Was kann ein Mensch?
Kompetenz läßt sich nicht antizipieren. Paul Valéry
Ein Beispiel Als junger Mann durchlebte der französische Schriftsteller Paul Valéry (1871–1945) eine schwere existentielle Krise, die in einem psychotischen Schub gipfelte. In Folge der damit verbundenen Erschütterungen gab er für lange Zeit seinen Dichterberuf auf und widmete sich nahezu ausschließlich der Erforschung seines Bewusstseins. Er führte dabei ungemein ausdauernd (über fünfzig Jahre) eine philosophische Selbsttherapie durch. Als habitueller Frühaufsteher reservierte er hierfür die allerersten Stunden des Tages, da er als mehrfacher Vater später für den Erhalt seiner Familie zu sorgen hatte. Während dieser Zeitspanne versuchte er intuitiv, assoziativ und introspektiv die Grundlagen seiner eigenen Person genau kennenzulernen und intensiv zu erforschen. Er wollte keiner bestimmten Theorie oder Methode folgen, sondern auf Fragen, Einfälle, Impulse und Beobachtungen, die sich während dieser Selbstzuwendung bildeten, möglichst unmittelbar, wenngleich auch reflektierend, reagieren können. Es ging ihm erklärtermaßen darum, sozusagen tabula rasa zu machen und alle früheren Werte, übernommenen Vorstellungen und eingeübten Lebensausrichtungen abzuräumen, um sich geistig und seelisch neu begründen zu können. Nichts, so sein Vorsatz, sollte ungeprüft übernommen werden. Valéry führte diese grundlegende und kritische Selbstanalyse schriftlich durch und häufte so über Jahrzehnte hin fast 30 000 Seiten mit heterogenen, viele Bereiche des Menschlichen berührenden Notizen an, die er mit zahlreichen Bildern und Zeichnungen illustriert hat.27 27 Ich habe vor kurzem eine strukturierte Auswahl aus diesen Notizheften (Cahiers) unter dem Titel »Ich grase meine Gehirnwiese ab« herausgegeben (Stölzel, 2011). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Ein Beispiel
Wohl auch in Reaktion auf die frühen Erschütterungen ging es Valéry nicht nur darum, sein geistiges und seelische Vermögen möglichst umfassend zu erkunden; es ging ihm vielmehr darum, sein Potential gründlich zu entfalten, nicht allein, um sich sozusagen münchhausisch (Watzlawick, 1992, S. 170) aus weiteren Krisen herausziehen zu können, sondern, um sich selbst wirklich erst in Besitz nehmen zu können. Diese Form der Selbsterforschung, Selbstbeobachtung und Selbstentfaltung behielt Valéry bis zu seinem Lebensende bei, so dass er kurz vor seinem Tod notieren konnte: »Schließlich habe ich getan, was ich konnte. Ich kenne 1. ziemlich genau meinen Geist […] 2. Ich kenne auch my heart« (Stölzel, 2011, S. 107 f.). Stets von sich selbst her fragend, dehnte er aus perspektivischen wie heuristischen Gründen manche seiner Fragen ins Allgemeine aus. Sein frühes, lebenslang beibehaltenes Interesse an den besonderen Fähigkeiten des Einzelnen führte ihn zu einer bestimmten Frage: »Was ist der Mensch? fragen die Philosophen. Was soll der Mensch? fragt der Katechismus. Was kann ein Mensch? Diese Frage wird selten gestellt. Es ist die Frage Paul Valérys« (Curtius, 1952, S. 363). Was kann ein Mensch? Das ist eine zwar wichtige, dabei aber weit ausgreifende und recht allgemeine Frage. Eine Frage, in deren Weiträumigkeit man sich verlaufen und ermüden kann. Andererseits eine Frage, so lässt das Beispiel Valérys vermuten, in der einiges an Erkenntnispotential steckt, um den Menschen als ein selbstbezügliches Fähigkeitswesen besser kennenzulernen und so noch unerkannte und ungenutzte Kompetenzen zu entdecken. Zunächst möchte ich – um das Allgemeine und Grundsätzliche dieser Frage ins Konkrete und Persönliche rückzubinden – Ihnen eine heuristische Übung vorschlagen, die eine unmittelbare Fühlungnahme mit den eigenen Fähigkeiten eröffnet.
Genese der persönlichen Fähigkeiten Legen Sie sich bitte folgende Fragen vor, auf die Sie in der Folge schriftlich antworten. Sie können sich dafür einen eigenen Zeit-Raum reservieren oder die Fragen als innere Begleiter bei Ihren Aktivitäten oder Alltagsgeschäften mit dabei sein lassen: –– Was ist es, das ich besonders gut kann? –– Wie bin ich zu diesem Können gelangt? © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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Was kann ein Mensch?
–– Wieso glaube ich, gerade dazu besonders befähigt zu sein? –– Inwieweit bestätigen mir dies auch andere, die sogenannte Außenwelt? –– Könnte ich die Genese dieser Fähigkeit(en) kurz skizzieren? –– Was wirkte bei ihrer Entstehung hindernd, was fördernd? –– Welche Fähigkeiten benötige ich, um wiederum diese Fähigkeiten zu zeigen bzw. zu entfalten? Was kann ein Mensch? Ich empfehle, diese (große) Frage neben und nach der Beschäftigung mit kleineren und präzisieren Frageformaten in sich nachklingen zu lassen und wahrzunehmen, was diese alles in Ihnen anstößt oder zum Vorschein bringt.
Sich mit einer kritischen Neugier den eigenen Fähigkeiten und Kompetenzen zuzuwenden, fällt manchem vielleicht ähnlich schwer, wie sich selbst wertzuschätzen oder gar zu loben. Die dabei entstehenden Schamgefühle und Widerstände genauer zu beachten und zu betrachten, kann sehr aufschlussreich sein. Um bei dieser Selbsterforschung gut voranzukommen, erweist es sich als hilfreich, ein wenig dem Beispiel Valérys zu folgen, das heißt, sich selbst wie eine Person wahrzunehmen, die in ihrem spezifischen Vermögen untersucht werden soll. Das verhindert zudem Übertreibungen aus der entgegengesetzten Richtung und sorgt dafür, dass narzisstische Selbstüberschätzungen hier nicht verzerrend wirksam werden. Für entsprechend gesprächsbereite und dialogfähige Menschen kann es lohnend sein, bei dieser heuristischen Übung das persönliche Umfeld mit einzubeziehen und nahestehende Menschen um entsprechende Einschätzungen zu bitten. Ich-festere Personen können dies auch auf wirkliche oder vermeintliche Gegner und Widersacher ausdehnen, von denen zumindest manche nicht mit entsprechenden Auskünften geizen werden.
Kompetenzen? Wozu? Das 20. Jahrhundert war nicht nur ein Säkulum, in dem eine so projektive Kunstform wie der Film hervor- und zur Entfaltung gebracht worden ist; es war auch ein Jahrhundert der Psychologie und Psycho© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Kompetenzen? Wozu?
therapie sowie verwandter Tätigkeitsfelder. Freuds Durchbruchsbuch »Die Traumdeutung« (1969a) erschien im letzten Quartal 1899; der Autor, im klaren Vorgefühl, etwas Neues, Pionierhaftes zu beginnen, ließ es wohl nicht zuletzt aus symbolischen Gründen auf 1900 vordatieren. In den folgenden Jahrzehnten begannen sich verschiedene psychotherapeutische Kommunikations- und Behandlungsformen zu entwickeln, auszudifferenzieren – und nicht selten polemisch gegeneinander abzugrenzen. Gemeinsam war ihnen jedoch, dass bei ihren Vorgehensweisen vor allem (oder ausschließlich) die Störung, das Nichtkönnen, das Unvermögen im Vordergrund der Aufmerksamkeit stand. Das empathische Beachtetwerden ihrer Ängste, Zwänge, Unsicherheiten in einem geschützten, mehr oder minder dialogischen Raum hat vermutlich (zumindest eine Zeitlang) stärkend, ja heilsam auf viele Patienten gewirkt. Doch besteht, fähigkeitsanalytisch betrachtet, ein Mensch gewissermaßen aus zwei Hälften: aus dem, was er nicht kann und nicht zu können glaubt und aus dem, was er kann und zu können glaubt. Jene zweite Hälfte kam bei den störungszentrierten Ausrichtungen und Therapieformen jedoch kaum oder nur als ein spezieller Teil der jeweiligen Pathologie in den Blick. Diese Schieflage wurde dann allmählich ab den 1930er und 1940er Jahren unter anderem durch Konzeptionen von Milton H. Erickson, Jay Haley, Aron Antonowsky oder Steve de Shazer ausgeglichen. Eine konsequente Fortführung dieses sogenannten lösungs- und ressourcenorientierten Ansatzes vertreten und verkörpern hierzulande zum Beispiel die Konzeptionen, die Gunther Schmidt entwickelt hat (Schmidt, 2004, 2005). Diese Entwicklung hat die Sicht auf den Menschen nicht nur vollständiger gemacht, sondern auch dazu geführt, dass inzwischen jene Seiten im Einzelnen (wie in Systemen) verstärkt beachtet werden, von denen die Kraft für eine (konstruktive) Veränderung ausgehen kann. Durch den Blick auf das, was jemand kann oder zu können glaubt, erhebt sich auch die Frage, was überhaupt als Fähigkeit angesehen wird, und welche Fähigkeiten es sind, die uns als solche erscheinen, denen wir diesen Status (überhaupt) zumessen. Überblickshaft gesprochen, kann man vier Gruppen von Fähigkeiten unterscheiden: 1. Die besonderen, die un- und außergewöhnlichen Fähigkeiten; solche, die gerne von vielen besessen oder gekonnt würden (die virtuose Beherrschung eines Instruments, ein äußerst wirkungs© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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voller Führungsstil, künstlerische oder wissenschaftliche Kreativität etc.). 2. Die gewöhnlichen und dadurch häufigen Fähigkeiten, mittels derer man beispielsweise verschiedene Tätigkeiten ausführen und unterschiedliche Berufe auszuüben lernen kann. Durch sie wird die Entfaltung des Einzelnen wie das gesellschaftliche Miteinander überhaupt erst möglich; was sie wiederum als so selbstverständlich erscheinen lässt, dass sie als solche häufig keine große Beachtung finden. 3. Die grundlegenden, alles voraussetzenden, vermeintlich einfachen, ja simplen, dabei höchst komplexen Fähigkeiten; es sind die Lebensselbstverständlichkeiten, wie unter anderem das Essen-, Sprechen-, sich Bewegen- und alle seine Sinne voll Verwenden-Können, die zuallermeist solange unbeachtet und unbewusst funktionieren, bis durch Unfall, Krankheit oder Alter den davon Betroffenen wie ihrem Umfeld nachdrücklich aufgezeigt wird, dass ohne diese basalen Fähigkeiten viele andere, höhere Fähigkeiten nicht gezeigt oder verwirklicht werden können. 4. Die Fähigkeiten, die bis zu ihrem ersten Auftreten als solche gar nicht vorhanden zu sein scheinen; die weder man selbst bei sich noch andere bei einem vermutet hätten; die verborgen und sozusagen im Dunkeln blieben (oder heranreiften), bis sie durch einen sogenannten Zufall, eine bestimmte Begegnung oder Situation in Erscheinung getreten oder innerhalb einer Therapie oder Beratung aufgespürt worden sind. Der amerikanische Psychiater und Hypnotherapeut Milton H. Erickson (1901–1980) schildert in einer seiner Lehrgeschichten, wie eine schwere Erkrankung nicht nur das Bewusstsein für die Komplexität basaler, nahezu völlig automatisierter Fähigkeiten zu schärfen, sondern gerade auch durch die Einschränkungen das Potential einer Person zu stimulieren vermag.
»Lernen aufzustehen Wir lernen vieles ganz bewußt und vergessen dann, was wir lernen. Dann benutzen wir das Gelernte einfach als Fähigkeit. Ich zum Beispiel hatte einen unheimlichen Vorteil anderen gegenüber: Ich hatte © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Kompetenzen? Wozu?
Kinderlähmung gehabt und war vollständig gelähmt gewesen. Die Entzündung war so heftig, daß ich auch eine sensorische Lähmung hatte. Nur meine Augen konnte ich bewegen, und auch mein Gehör war nicht beeinträchtigt. Ich fühlte mich sehr einsam, wenn ich im Bett lag, unfähig, irgend etwas zu bewegen außer den Augäpfeln. Ich war in Quarantäne auf unserer Farm, mit sieben Schwestern, einem Bruder, den beiden Eltern und einer Krankenschwester. Und wie sollte ich mich selbst unterhalten? Ich begann, die Menschen und meine Umgebung zu beobachten. Ich entdeckte bald, daß meine Schwestern Nein sagen konnten, wenn sie Ja meinten, und sie konnten Ja sagen und meinten Nein. Sie konnten einer anderen Schwester einen Apfel anbieten und ihn für sich behalten. Und ich begann, nonverbale Sprache und Körpersprache genau zu beobachten. Ich hatte eine kleine Schwester, die gerade angefangen hatte zu krabbeln. Auch ich würde lernen müssen, aufrecht zu stehen und zu gehen. Und Sie können sich vorstellen, mit welcher Intensität ich meine kleine Schwester beobachtete, wie sie aus dem Krabbelstadium herauswuchs und dann zu stehen lernte. Du hast keine Ahnung, wie du selbst gelernt hast zu stehen. Du weißt nicht einmal, wie du laufen gelernt hast. Und du glaubst, du kannst sechs Häuserblocks lang auf einer geraden Linie gehen – ohne störende Fußgänger oder Autoverkehr. Du weißt nicht, daß du niemals auf einer geraden Linie mit einer gleichmäßigen Geschwindigkeit gehen kannst. Du weißt nicht, was du tust, wenn du gehst. Du weißt nicht, wie du aufstehen gelernt hast. Du hast es gelernt, indem du mit der Hand hochgegriffen und dich hochgezogen hast. Da lag der Druck auf den Händen, und dann entdecktest du zufällig, daß du Gewicht auf deine Füße verlagern konntest. Das ist wahnsinnig kompliziert, denn deine Knie gaben immer nach, und wenn sich deine Knie gerade hielten, dann gaben deine Hüften nach. Dann überkreuzten sich deine Füße, und du konntest nicht aufstehen, weil sowohl Knie als auch Hüften immer nachgaben. Deine Füße waren über Kreuz, und du lerntest rasch, sie weit auseinanderzusetzen, und du ziehst dich hoch und mußt lernen, wie man die Knie gerade hält. Eins nach dem anderen, und sobald du das gelernt hast, mußt du lernen, dich darauf zu konzentrieren, die Hüften gerade zu halten. Und dann hast du festgestellt, daß du lernen mußtest, auf gerade Hüften und Knie und gleichzeitig auf weit auseinandergesetzte Füße zu achten. Nun © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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Was kann ein Mensch?
konntest du endlich stehen. Die Füße weit auseinander, aufgestützt auf deine Hände. Dann kam die Lektion in drei Stufen: Du verteilst dein Gewicht auf die eine Hand und deine beiden Füße. Diese Hand stützt dich überhaupt nicht (Erickson hebt die linke Hand). Es ist wirklich harte Arbeit – bis du es schaffst, gerade zu stehen, mit deinen geraden Hüften, geraden Knien, die Füße weit auseinander, während du diese Hand (die rechte Hand) fest aufstützt. Dann entdeckst du, wie du deine Körperbalance verändern kannst. Du veränderst deine Körperbalance, indem du deinen Kopf wendest, deinen Körper drehst. Du mußt lernen, alle Veränderungen der Körperbalance zu koordinieren, wenn du deine Hand, deinen Kopf, deine Schultern, deinen Körper bewegst; und dann mußt du dasselbe noch einmal mit der anderen Hand lernen. Dann kommt die unglaublich schwierige Aufgabe zu lernen, wie man beide Hände hochnehmen kann und wie man die Hände in alle Richtungen bewegen und wie man sich auf die solide Basis der beiden weit auseinanderstehenden Füße verlassen kann. Und indem du die Hüften und die Knie gerade hältst und deine Aufmerksamkeit davon abtrennst, kannst du dich deinen Knien, deinen Hüften, deinem linken Arm, deinem rechten Arm, deinem Kopf und deinem Körper zuwenden. Und wenn du schließlich geschickt genug warst, hast du versucht, auf einem Fuß zu balancieren. Das war eine teuflisch schwere Angelegenheit! Wie hält man seinen gesamten Körper mit geraden Hüften, geraden Knien und fühlt gleichzeitig Hand-, Kopf- und Körperbewegungen? Und dann hast du einen Fuß nach vorn gesetzt und den Schwerpunkt deines Körpers verlagert! Deine Knie gaben nach – und du hast dich hingesetzt! Du bist wieder aufgestanden und hast es noch einmal versucht. Und schließlich hast du gelernt, wie du einen Fuß nach vorn bringst und einen Schritt machst, und das schien ganz gut zu sein. Und so hast du es wiederholt – und es hat Spaß gemacht. Dann der dritte Schritt – mit demselben Fuß –, und du bist hingefallen. Du hast lange gebraucht, um rechts und links und rechts und links und rechts und links abzuwechseln. Nun konntest du mit den Armen schwingen, den Kopf wenden, rechts und links gucken und geradeaus gehen und brauchtest kein bißchen Aufmerksamkeit mehr auf die geraden Knie und die geraden Hüften zu wenden« (Erickson, zitiert nach Rosen, 1994, S. 54 ff.). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Kompetenzen? Wozu?
Das Wahrnehmen minimaler mimischer Signale und das Achtsamwerden auf das filigrane Zusammenspiel motorischer Abläufe (wie auch gedanklicher Muster) bildeten eine wesentliche Voraussetzung für Ericksons spätere Arbeit im Umgang mit verborgenen oder unbewusst gewordenen Fähigkeiten. Die Schilderungen seiner selbsttherapeutischen Anwendungen wie auch die Fülle seiner Fallgeschichten (seine Kasuistik umfasste nahezu ein halbes Jahrhundert) zeigen, über welch großes Potential Menschen verfügen, die glauben, sie besäßen nicht die Fähigkeit, ihr Leben gut für sich zu führen und ihre Probleme zu lösen. Durch wie viele schwere Erkrankungen und starke Beeinträchtigungen Erickson sich in weiten Strecken seines Lebens hindurchbewegt hat, berichtet seine zweite Frau Elisabeth Erickson in einem Brief an Jeffrey Zeig aus naher Perspektive (Zeig, 1995, S. 25 ff.). Mit wirkungsvollen Techniken, wie dem Umdeuten und dem Utilisieren, gelang es ihm, bei sich selbst wie bei seinen Klienten vermeintliche Unfähigkeiten in besondere Fähigkeiten zu verwandeln und schwierige Situationen so zu gestalten, dass das eigene Potential immer wieder sichtbar geworden ist. Vermutlich hat Erickson den Ansatz des um eine Generation älteren Valéry nicht gekannt, doch lässt sich eine große Verwandtschaft in der heuristischen Ausrichtung beider feststellen. Nämlich möglichst umfassend herauszufinden, was es genau mit dem spezifischen menschlichen Vermögen auf sich hat, was jeder Einzelne (wie auch jedes System) kann. Bei den Grundsatzüberlegungen, die Valéry in seinen »Cahiers« anstellt, kommt er zu der Beobachtung: »vermögen, können hat 2 Bedeutungen – eine passivische und eine aktivische. Ich KANN hören, spüren, ertragen, verändert werden, erleiden usw. – das ist die Bedeutung von ›Eigenschaften‹ – und der Aspekt der Sensibilität. Ich KANN tun, handeln, ändern – das ist der Aspekt des Handelns. Zwischen beiden vermischte Möglichkeiten: Ich kann mich erinnern – dazu kommen jene Handlungen, die bisweilen Reflexe, bisweilen willentlich sind« (Stölzel, 2011, S. 324). Was an einem bestimmten Vermögen aktiv oder passiv, was daran gemischt in Erscheinung tritt, lässt sich nicht leicht entscheiden. Es ist wie bei der für das therapeutische oder beraterische Handeln so wichtigen Tätigkeit des Zuhörenkönnens. Handelt es sich nun um eine aktive Passivität oder eine passive Aktivität, wenn ich den Worten eines Anderen lausche? Ist das Mitgehen, Mitschwingen, Anteilnehmen, Sicheinlassen ein eher aktives oder ein eher passives Tun? Ohne Zweifel sind © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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Was kann ein Mensch?
bestimmte Tätigkeiten erlern- oder wenigstens einübbar, davon leben nicht zuletzt die verschiedenen Ausbildungsinstitute. Wobei es natürlich Grenzen gibt. Von dem Physiotherapeuten und Bewegungsdidaktiker Moshé Feldenkrais, der die motorischen Möglichkeiten vieler körperlich schwer eingeschränkter Menschen durch seine Methoden deutlich erweitern half, wird folgende Differenzierung in dreierlei Fähigkeitsformen überliefert: diejenigen, für die man geboren zu sein scheine; diejenigen, die man mit einiger Anleitung, Geschick und Praxis gut erlernen könne, und diejenigen, die man – trotz vielfacher und vielfältiger Bemühung – kaum je richtig erlerne. Auf eine Möglichkeit, an welcher der Einzelne sich beim Wahrnehmen potentieller Fähigkeiten orientieren kann, weist Paul Valéry hin: »Was unser Gedächtnis von sich aus behält, das ist unsere Substanz, das Fleisch unseres Interesses. Daraus muß man unsere Begabung herleiten« (Stölzel, 2011, S. 325). Damit sich eine Begabung entfalten kann und – wie Goethe schreibt – aus Fähigkeiten Fertigkeiten werden, braucht es das Begehren danach; jene Vitalspannung, die das Wollen, Streben, die entsprechende Motivation trägt. Das Begehren scheint auch in der Etymologie des Wortes Kompetenz auf. Kompetenz leitet sich aus dem lateinischen competentia her, was »Zusammentreffen« bedeutet und eine Bedeutung des Verbs petere, und zwar »begehren«, »zu erlangen suchen«, einschließt, wobei auch der Aspekt »zuständig sein«, »Zuständigkeit erlangen« mit anklingt. Es geht also, etymologisch betrachtet, bei den Kompetenzen um das Zusammentreffen von bestimmten Anlagen, Begabungen etc. und um das Begehren, das Streben danach, diese zu entwickeln. So könnte man bei Kompetenzen von entwickelten Fähigkeiten sprechen, die jemandem (ab einem gewissen Verwirklichungsgrad) bestimmte Zuständigkeiten verleihen. Kompetenzen sind, so betrachtet, mehr als Fähigkeiten, wenngleich beide Begriffe häufig synonym verwandt werden. Mit was sie außerdem noch zusammenhängen oder zusammen gesehen werden, zeigt ein Blick auf den näheren Assoziationsraum bzw. bestimmte Redewendungen (Abbildung 2).
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Kompetenzen? Wozu?
persönliche Kennerschaft Power Potential Ressource Anlage Neigung Potenz Begabung Kraft erfahren sein Berufung Vermögen Tüchtigkeit Mitgift Tauglichkeit Kompetenz Selbstzutrauen kundig sein verständig sein Talent Ansehen Kunstfertigkeit Gutachter Fähigkeitsnachweis bescheinigtes Talent befugt sein Qualifikation Fertilität Abbildung 2: Assoziationsraum zum Begriff Kompetenz
»Etwas entspricht mir, steht mir« (»it fits you well«, sagt man in England); »es im Blut haben«; »das Zeug dazu haben«; »das ist dir auf den Leib geschrieben« etc. Kompetenz ist jedoch nichts Vereinzeltes, ontologisch an eine bestimmte Person Gebundenes und auch mehr als die Beziehung, die jemand in sich zu einer bestimmten Kompetenz entwickelt (hat). Systemisch betrachtet lässt sich Kompetenz als ein zweiteiliges Interaktionsphänomen beschreiben bzw. darstellen: Kompetenz wird zugeschrieben
abgesprochen
durch mich selbst
durch mich selbst
durch andere
durch andere
Abbildung 3: Kompetenz als ein zweiteiliges Interaktionsphänomen
So erscheint eine (durchaus angefragte) Kompetenz wie gute Führung wesentlich als ein Zuschreibungsphänomen,28 wie man dies nicht zuletzt 28 Man stelle sich nur einmal vor, Bücher oder andere kreative Hervorbringungen erschienen ohne Autorennamen und würden wie der Text eines Anonymus rezipiert. Womöglich würden die darin erscheinenden großen und wichtigen Ideen, die sonst wie mit einer Nabelschnur mit einem bestimmten Namen verbunden sind und eben alleine dadurch bereits Bedeutung erhalten, als solche gar nicht bemerkt. Am Ende verdankt sich der Umstand, dass etwas als brillant, richtig und aufgreifenswert erscheint und so wirkt, nicht zuletzt der Kopplung einer Idee mit dem Renommee des Hervorbringers. Weil er das gesagt, geschrieben, vorgeschla© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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bei Wahlkämpfen gut beobachten kann. Da werden Slogans wie »Willy wählen« ausgegeben oder ein Amtsinhaber erklärt seinem Herausforderer vor versammelten Plenum: »Sie können das nicht!« Kompetenz hat man, besitzt man nicht einfach, zumal in einem von beamtisch-behördlichem Denken durchsetzten Gemeinwesen, wo es für das Meiste amtliche Bestätigungen braucht und entsprechende Qualifikationsnachweise gefordert werden. Dass sich diese mitunter auch als sinnvoll erweisen können, wissen nicht allein Personalchefs von größeren Unternehmen. Die Frage, wer wem weswegen wodurch wozu wie lange eine bestimmte Kompetenz zuschreibt, bleibt bestehen und kann als Korrektiv genutzt werden; gerade auch, wenn es in der Folge um sogenannte philosophische Fähigkeiten geht. Wie jeder Prüfer und jeder Geprüfte weiß, geht es in bestimmten Situationen nicht nur darum, über bestimmte Kompetenzen zu verfügen, sondern diese auch (möglichst gut und effektiv) zeigen zu können. Dass das Zeigen oder Nichtzeigen von Kompetenzen oftmals mit früheren Erfahrungen zusammenhängt, ist eine vor allem aus tiefenpsychologischer Sicht häufig vorgetragene Hypothese (hierbei oft als eine seelische Wahrheit präsentiert). Dass dies jedoch nur eine Erklärungsmöglichkeit für gezeigtes Nichtkönnen darstellt, hat Fritz B. Simon aufgezeigt (Simon, 1997, S. 148). Denn wie später jemand auf Zuschreibungen wie: »Das liegt dir nicht!«, »Du bist unmusikalisch!«, »Das lernst du nie!« etc. reagiert, was er aus scheinbaren Gewissheiten wie: »Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr« macht, bleibt durchaus offen; zumindest offener, als es tiefenpsychologischer Theoriebildung zufolge zu erwarten wäre. Für das Verwandeln von empfundener oder zugeschriebener Unfähigkeit in (besondere) Fähigkeit und Kompetenz sprechen nicht nur Lebenswege und Arbeitsbiographien wie zum Beispiel die von Feldenkrais, Alexander und Erickson, die durch erworbene Einschränkungen und schwere Handicaps ihre wirksamen Verfahren erst entwickelt haben. Wobei zu fragen ist, inwieweit nicht nahezu alle gen oder eingebracht hat, muss doch etwas daran sein … auch, wenn ich es nicht sofort verstehe. Das Weglassen eines Namens würde wohl auch dazu führen, dass unmittelbarerer auf Texte reagiert werden könnte. Weder das Eingeschüchtertwerden durch einen berühmten Namen noch eine Sym- oder Antipathie gegenüber einem bestimmten Autor würden den Blick auf den Text einfärben. Das, was dasteht, würde überzeugen oder eben nicht. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Kompetenzen? Wozu?
Therapie- und Beratungsformen, Heilmethoden und -konzepte von ihren Begründern aus kompensatorischen Motiven heraus entwickelt worden sind. Warum sollte man sich (und später auch andere) sonst so für etwas interessieren und begeistern (können)? Demosthenes, der wohl berühmteste Redner der Antike – auf den die Rhetorik als Wissensdisziplin zurückgeht –, war ein Stotterer; von ihm geht die Rede, dass er, um mit seinem Stottern besser umgehen zu können, etwas weißen Kies in den Mund nahm und sich dadurch zu flüssigerem Sprechen brachte; er galt in seiner Zeit als der »Weißkieskauer« bzw. -stotterer, als der er auch in einem Gedicht von Paul Celan erscheint.
Tagebuch der Fähigkeiten Damit Sie für sich von der hier vorgestellten Thematik noch mehr profitieren können, möchte ich Ihnen empfehlen (zumindest zeitweise) eine Art Fähigkeitstagebuch anzulegen und darin konsequent alles zu notieren und zu sammeln, was Sie können oder zu können glauben, mag Ihnen dies zunächst auch ganz unbedeutend erscheinen. Notieren Sie beispielsweise (als Einstiegsübung) all diejenigen Fähigkeiten und Kompetenzen, die nötig sind, um Ihren Alltag (so wie Sie ihn gegenwärtig gestalten) überhaupt führen zu können. Betrachten und beachten Sie die erste Ordnung (also die Reihenfolge, in der Ihnen Ihre verschiedenen Fähigkeiten und Kompetenzen zunächst eingefallen sind). Welche kam zuerst? Welche zuletzt? Und welche in der Mitte? Ordnen und hierarchisieren Sie dann die verschiedenen Fähigkeiten und Kompetenzen in Bereiche, wie sensorisches, motorisches, soziales, intellektuelles, kreatives Vermögen, und parallel dazu in eine Stufenfolge: Welche Fähigkeiten und Kompetenzen erscheinen Ihnen für die Führung Ihres Lebens am wichtigsten? Welche in welcher Reihenfolge weniger wichtig? Es ist gut möglich, dass Ihnen in der Folge thematische Bezüge zu früheren Lebensphasen einfallen – etwa wie in Ihrer Herkunftsfamilie mit dem Thema »Fähigkeit« bzw. »Unfähigkeit« umgegangen bzw. wie es beschrieben worden ist. Inwieweit setzen Sie auf Ihre Weise eine diesbezügliche Tradition fort oder nicht? Gegen welche Aspekte leben Sie möglicherweise an? Reservieren Sie hierfür eigene Kolumnen oder Partien. Notieren Sie, um die Eindringlichkeit zu erhöhen (am besten mit wörtlichen Zitaten), wie Ihr gegenwärtiges berufliches wie privates Umfeld zu © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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dem Thema »Fähigkeit« bzw. »Unfähigkeit« steht; was darüber verlautbart wird; welche Gewissheiten hierzu verhandelt oder vertreten werden. Sollte es Ihnen zunächst schwer fallen, überhaupt nennenswerte Fähigkeiten bei sich selbst zu entdecken, dann wenden Sie den Blick nach außen und zum Beispiel den Menschen zu, die Ihnen wichtig sind und die Sie besonders gut zu kennen glauben: Ihren Lebenspartnern. Betrachten und beobachten Sie diese auf ihre Fähigkeiten und Kompetenzen hin, und sammeln Sie, was Sie wahrgenommen haben. Unterscheiden Sie zwischen (liebenswerten) Eigenwilligkeiten, Idiosynkrasien und dergleichen und dem charakteristischen Vermögen der jeweiligen Person. Aus diesem Material lassen sich auch persönliche Geschenke formen, wie zum Beispiel das einer bestimmten Person auf den Leib geschriebene Gedicht, in welchem viele kleine neben großen Fähigkeiten und Kompetenzen verdichtet und versammelt werden können; Geschenke also, durch die Sie jemandem mitteilen, was er (Ihrer Wahrnehmung zufolge) alles kann. Dies ist auf jeden Fall dazu geeignet, Nähe, Verständnis und Achtsamkeit zwischen Menschen (oder Systemmitgliedern) zu fördern. Es kann zudem innerhalb professioneller Kontexte als Mittel bei Beziehungsthemen im Rahmen einer Einzeltherapie wie auch in der Paarberatung gut genutzt werden. Und es kann Ihnen dabei dienlich sein, durch diesen (Um-)Weg über den anderen sich selbst als Fähigkeitswesen näherzukommen.
Paul Valéry hat in seinen »Cahiers« (in denen er seine Forschungsarbeit über das eigene wie das menschliche Vermögen überhaupt betrieb) häufig betont, dass das wirkliche Wissen Können sei und das Können Vorrang vor dem Wissen habe; »Leonardo [da Vinci] sah, dass man A nur dann wirklich kennt, wenn man es macht« (Stölzel, 2011, S. 326). Diese Thesen haben verwandte Sichtweisen vorweggenommen, so den sogenannten ästhetischen Imperativ Heinz von Foersters – »Willst du erkennen, lerne zu handeln« – und die Beobachtung Fritz B. Simons, dass Wissen, wo es bloß bewahrt, das heißt nicht mehr kritisch geprüft wird, »dumm oder zumindest lernbehindert« machen kann (Simon, 1997, S. 156). Diese Überlegungen möchte ich als Metaperspektiven nutzen (und sie dabei zugleich überprüfen), wenn es in der Folge darum geht, deutlich zu machen, was unter Umständen gelernt oder verlernt werden wird, will man sich darauf einlassen, philosophische Kompetenzen © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Selbstübertreibungstendenz
wie Staunen, Humor, Mut und Skepsis für seine professionelle Tätigkeit (wie möglicherweise auch für sein privates Leben) zu entwickeln.
Erstspracherwerb Der amerikanische Linguist Noam Chomsky hat die zugespitze These vertreten, dass der Spracherwerb durch ein (normales) Kind vermutlich die größte geistige Leistung darstelle, welche die Mehrzahl der Menschen in Ihrem Leben überhaupt vollbringen. Und diese Fähigkeit tritt (in der Regel) noch vor der Beschulung und Alphabetisierung des Kindes in Erscheinung. Die Fähigkeit des Sprache-verwenden-Könnens wird nicht auf bloß empirischem Weg erworben, das heißt durch schieres Auf- und Übernehmen des sprachlichen Kosmos, der das Kind umgibt. Man muss sich vor Augen führen, dass ein Kind nur unregelmäßige, unwillkürliche und didaktisch kaum aufbereitete Stichproben aus einem riesigen, komplexen und für es unübersehbaren System geboten bekommt; dass der Erstspracherwerb in einem Alter stattfindet, in dem das Kind zu keiner vergleichbaren Leistung (wie etwa der Differenzialrechnung oder dem Einschätzen komplexer Sachverhalte) in der Lage ist; dass das Kind trotzdem komplizierte Regeln auffassen, anwenden, analogisieren und »richtig« sprechen kann; dass es imstande ist, Sätze und Formulierungen hervorzubringen, die es so noch nie vernommen hat und die den Sprachstand der Umgebung (weit) übersteigen können.
Selbstübertreibungstendenz Dass es im Laufe der Entwicklung verschiedener psychotherapeutischer Methoden und Sichtweisen nach einem ersten, vor allem an Unfähigkeit und Inkompetenz ausgerichteten Verfahren zu einer Erweiterung und Ergänzung in Richtung Fähigkeit und Kompetenz gekommen ist (und noch kommt), war nicht zuletzt für die Patienten und Klienten eine wichtige, hilfreiche und stärkende Veränderung. Doch ergibt sich dessen ungeachtet die Frage: Was geschieht, wenn diese guten Veränderungen ihrerseits übertrieben werden, wenn die ethologische Pointe Odo Marquards, nach der das Gegenteil von gut oft gut gemeint sei, hier wirksam wird? © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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Bleiben wir zunächst bei der Übertreibung, einem Verhaltensphänomen, das mir als eine anthropologische Konstante erscheint. Mit anthropologischen Konstanten sind Verhaltensweisen oder -tendenzen gemeint, die sich – trotz vielfacher und vielfältiger sozialer, kultureller und technischer Wandlungen – als erstaunlich veränderungsresistent erweisen; die Menschen unterschiedlicher Epochen und Prägungen miteinander so verwandt und ähnlich erscheinen lassen, als seien sie Geschwister oder Zugehörige einer bestimmten Glaubensgemeinschaft. Diese Nähe kann (wie sich im Laufe des Buches zeigen wird) auch als perspektivisches Mittel genutzt werden, und zwar gerade auch für therapeutische und beraterische Kontexte. Ich habe immer wieder die Beobachtung gemacht, dass sich sehr viele Menschen im Umgang mit Methoden und den damit verbundenen Überzeugungen sehr häufig in einer bestimmten Weise verhalten. Sähe ich nicht Generalisierungen als problematisch an, so wäre ich hier fast versucht zu sagen, dies beträfe alle Menschen – oder wenigstens, keiner sei ganz frei davon oder gänzlich davor gefeit. Denn hat sich eine bestimmte Methode als sehr nützlich, weiterführend und sinnvoll erwiesen, dann neigen eben nicht wenige dazu, diese Vorgehensweise gewissermaßen wie einen »Universaldietrich« zu gebrauchen, mit Hilfe dessen sich jede Tür zu einer Lösung aufschließen lässt (zumindest nach einigem Rütteln). Das sich darin kundgebende, vermeintliche Lösungswissen kann einen bei häufigem, unreflektiertem Gebrauch, um mit Fritz B. Simon (1997, S. 156) zu reden, »dumm oder zumindest lernbehindert« machen. Die hier skizzierte Verhaltensmöglichkeit erfährt besonders im Hinblick auf Kompetenzen, die jemand zeigt, noch eine weitere Nuance, besser Zuspitzung; und zwar eine solcher Art, wie sie von den davon Betroffenen eigenständig selten bemerkt oder gar durchschaut wird. Hierzu braucht es, systemisch gedacht, andere Systemmitglieder (wie etwa Ehepartner, Kinder, Arbeitskollegen) und damit bestimmte interaktionelle Rückkoppelungsgeber. Ich will versuchen, das Angedeutete an einem Beispiel zu verdeutlichen. Angenommen: Jemand zeigt bestimmte Fähigkeiten, beispielsweise dass er oder sie gut sprechen oder gut zuhören kann, und macht dann in der Folge die Erfahrung, dass eben dieses Verhalten in den verschiedenen Umwelten, die jemand bis zu einem gewissen Alter durchläuft, gut ankommt; mehr noch, dass es als sinnvoll erlebt und © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Selbstübertreibungstendenz
durch eine entsprechend wertschätzende Beachtung belohnt wird, was sich wiederum günstig auf die Entfaltung eben dieser Fähigkeiten auswirkt. Diese Fähigkeits- und Umwelterfahrungen können jemanden verstärkt dazu einladen, dieses Verhalten möglichst oft zu zeigen; es mithin fast nur noch zu zeigen oder zumindest auch dort noch, wo es fehl am Platz ist. Verkürzt gesagt: Wenn jemand gut sprechen kann (und damit bereits viel erreicht hat), dann besteht die Gefahr, dass er eben diese an sich nützliche und sinnvolle Fähigkeit übertreibt. Ähnliches gilt auch (um bei unserem Beispiel zu bleiben) für das Gut-zuhörenKönnen. Diese Fähigkeiten haben sich durch häufigen und vielfältigen Gebrauch zu Kompetenzen weiterentwickelt – zu Kompetenzen jedoch, die jemandem (wie seinem Umfeld) im Wege stehen können und die ihn bei der Entfaltung anderer (vielleicht gegensätzlicher) Kompetenzen hindern; die, weil sie übertrieben worden sind, jemanden ziemlich einseitig erscheinen lassen. Es steht zu vermuten, dass wohl in jedem häufig gezeigten, das heißt wiederholten und damit zur Gewohnheit gewordenen Können, wird es nicht durch andere (gegensätzliche) Verhaltensweisen ausgeglichen oder relativiert, die Latenz, ja die Tendenz zu einer entsprechenden Selbstübertreibung manifest wird. Gerade durch eine besonders gut entwickelte Fähigkeit kann ich mich besonders nachhaltig verdummen. Selbstübertreibungstendenzen sind überall dort antreffbar, wo durch ein häufig praktiziertes Vermögen bestimmte Lösungsverfahren oder -techniken entwickelt worden sind. Dies erstreckt sich auch auf weniger konkret Erscheinendes, wie etwa Theorien, Konzepte oder Wertvorstellungen. Zugespitzt gesagt: Fähigkeiten und Kompetenzen wie die daraus entwickelten Methoden und Verhaltensweisen, insbesondere solche, die sich bewährt haben und bevorzugt angewandt werden (und einem überdies viel Applaus eingebracht haben und einbringen – warum sollte man gerade diese ändern?) werden häufig übertrieben und dadurch nicht selten kontraproduktiv; sie behindern andere Entwicklungen und anästhesieren eine kritische Selbstwahrnehmung. Hier gibt es auch eine Strukturverwandtschaft mit einer anderen anthropologischen Konstante: der Tendenz zur Chronifizierung. Ich werde in der Folge aufzeigen, wie gerade philosophische Kompetenzen, wie Staunen, Humor, Mut und Skepsis als Metakompetenzen nutzbar gemacht werden können, um bereits bestehende Selbstübertreibungstendenzen aufzulösen und im Entstehen begriffene sichtbar zu machen. Wäre ich © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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ein Anthropologe, so würde ich den Menschen auch als ein Wesen charakterisieren, das tendenziell zur Selbstübertreibung neigt. Beim Sammeln und Herausmodellieren möglicher Antworten auf die potentialerkundende Frage – Was kann ein Mensch? – könnte man also mit einigem Recht behaupten: Ein Mensch kann sich übertreiben, genauer: bestimmte Seiten von sich, Eigenschaften, Verhaltensstile, Theorien, Methoden, Glaubenssätze, Reaktionsformen, Vorgehensweisen, Ziele usw. Und dieses Können ist dann besonders erfolgreich, wenn es durch häufigen Gebrauch quasi automatisiert und von seiner jeweiligen Umwelt wertschätzend beachtet (oder aber entsprechend missachtet) wird, so dass sich bereits mittelfristig stabile Interaktionsmuster zwischen einem bestimmten Übertreibungsaktanten und seiner Umwelt etablieren können. Die Erfahrung zeigt (um das Beispiel noch einmal kurz aufzugreifen), dass jemand, der gut sprechen kann, häufig zu viel spricht, und jemand, der gut zuhören kann, häufig zu viel zuhört; nicht selten suchen sich die Betroffenen entsprechende Berufe und/oder Partner, in denen sie ihre Selbstübertreibungen dann weiter kultivieren, das heißt mit bewährten Mitteln eine erwartbare Wirkung erreichen können. Vor allem bei öffentlichen Berufen, zum Beispiel bei Schauspielern, Politikern, Musikern, kann man dies ausgiebig studieren. Viele Menschen streben ein bestimmtes Können an, wollen sich darin üben, es weiterentwickeln, perfektionieren; noch mehr Menschen sehnen sich nach Erfolg, Bestätigung oder zumindest Beachtung, gerade in dem, was sie können oder zu können glauben. Das sind alles verständliche und keineswegs verwerfliche Motive, durch sie ist viel Wichtiges zustande gebracht worden. Nur: Was machen der erreichte Erfolg und das perfektionierte Können mit ihrem Hervorbringer? Wie kann sich jemand von bestimmten Auswirkungen seiner Kompetenzen schützen?
Metakompetenzen Es ist das Verdienst eines so interdisziplinären Denkers wie Gregory Bateson, die Bedeutung von Metaperspektiven für den therapeutischberaterischen Bereich in einer Weise akzentuiert zu haben, wie sie zuvor bei vielen perspektivenbefangenen Anwendern bestimmter psychologischer, organisationaler oder pädagogischer Modelle so nicht gege© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Metakompetenzen
ben war. Bateson hat damit philosophische Beobachtungen, wie sie sich zum Beispiel im perspektivischen Ansatz Nietzsches finden, zu einem »Kontextbewusstsein […], dessen Gegenteil Kontextvergessenheit wäre« (Stierlin, 1997, S. 127) weiterentwickelt und dadurch klar aufgezeigt, welchen großen Einfluss Kontexte auf all unser Wahrnehmen, Einschätzen, Bewerten besitzen – kurz gesagt, welch wichtige Rolle das kleine Wort Meta29 (genauer: was es bezeichnet) auf unser Leben hat, wie eng, starr, dogmatisch, befangen und nicht selten problemerhaltend wir unsere Wirklichkeiten gestalten, wenn der jeweilige Kontext nicht eigens betrachtet, wenn nicht verschiedene Metaperspektiven eingenommen werden. Das gilt auch für so etwas »Positives« wie Kompetenzen. Wie bereits am Beispiel der Selbstübertreibungstendenzen aufgezeigt, erweisen sich die vielschichtigen Interaktionsprozesse zwischen dem Einzelnen und seiner Umgebung oftmals als kompetenzgenerierend oder kompetenzvermeidend und wirken darauf ein, welche Fähigkeiten verfeinert werden, welche ungenutzt bleiben. Das bedeutet, ob und inwieweit etwas als Fähigkeit angesehen wird, unterliegt Bewertungen und Einschätzungen, die ihrerseits selten so genau betrachtet werden, wie die Fähigkeiten, die durch sie betrachtet werden. Ich möchte dies an einer, auf den ersten Blick kurios anmutenden Geschichte deutlich machen. Die Geschichte könnte den Titel tragen: »Das Geheimnis des Meisterschützen«, oder: »Von der Kunst der Umkehrung und der Macht der Bedeutungsgebung«. Ein Jäger fand im Wald mehrere Zielscheiben, die auf Bäume gemalt waren. Beeindruckt stellte er fest, dass mitten im Schwarzen jeder Scheibe ein Pfeil steckte. Er wollte unbedingt wissen, wer dieser Meisterschütze sei. Nach längerer Suche fand er ihn und befragte ihn zu seinen tollen Taten: »Was ist das Geheimnis dieser außerordentlichen Treffsicherheit? Wie erlangt man so eine Perfektion?« »Ganz einfach«, erwiderte der Schütze, »zuerst schieße ich den Pfeil ab, und dann male ich die Zielscheibe« (Bonder, 2001, S. 104 f.).
29 Man könnte sogar sagen, Bateson habe geradezu eine Konjunktur dieses Begriffszusatzes angeregt, so dass manche sogar von Meta-Meta-Perspektiven oder von Meta-Meta-Lernen sprechen und man sich die Frage stellen könnte: Wie viel Meta ist genug bzw. zu viel? Denn auch diese wichtige, perspektivenvergrößernde Vorsilbe kann Ausdruck einer Selbstübertreibungstendenz werden. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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Was ist das? Ein bloßer Witz, der je nach charakterlicher Disposition Lachen, Schmunzeln oder Kopfschütteln auslöst? Dafür könnte man die Geschichte natürlich halten. Man könnte auf die Geschichte und die darin abrupt gesetzte Schlusspointe jedoch auch so reagieren, dass man sie mit eigenen Erfahrungen in Kontakt bringt.
Fragen zur Treffsicherheit –– Auf welche Situation meines Lebens könnte ich das »Geheimnis des Meisterschützen« anwenden? –– Angenommen, ich würde dies tun – welche Auswirkungen hätte das auf mich und die Menschen, mit denen ich zu tun habe? –– Welche Perspektiven eröffneten sich mir, wenn ich – probeweise – jede Handlung, die ich vollziehe, als »Volltreffer« ansehe bzw. gestalte? –– Welches Weisheitspotential tritt hier möglicherweise in Erscheinung?
Die Geschichte bringt nach meiner Lesart zudem einen wichtigen Aspekt menschlichen Lebens zur Sprache: die Zufriedenheit bzw. Unzufriedenheit, die wir unseren Handlungen, demjenigen, was wir getan haben, gegenüber empfinden. Dem Verknüpfen von Erlebthaben und Bewerten entsprächen hier metaphorisch Pfeil und Zielscheibe als Intention und Ergebnis, und zwar in der Weise, dass der Pfeil das Erlebthaben, die Zielscheibe unsere Bewertung verkörpert. Wenn wir davon ausgehen, dass wir uns stets nach unseren besten Möglichkeiten verhalten (sonst hätten oder würden wir uns ja anders verhalten), dann ist alles, was wir tun, sozusagen ein Volltreffer und unser Erlebnispfeil steckt stets »mitten im Schwarzen« der jeweiligen Erfahrung. Diese Perspektive mag zunächst verwundern oder Widerspruch auslösen (vielleicht nicht weniger als die Geschichte vom Meisterschützen selbst). Denn machen wir nicht immer wieder etwas falsch (zumindest erscheint uns das im Nachhinein so), verhalten uns unangemessen, tun nicht, worauf es ankommt, vergessen Wichtiges, übergehen oder übersehen situative Möglichkeiten, nutzen gerade die »Gunst des Augenblicks« (Otto von Bismarck) nicht, mit einem Wort: Begehen wir nicht immer wieder (und vielleicht sogar oft) Fehler? Das Wort benennt ganz klar, um was es geht: um etwas, das fehlt, das aus der Perspektive des Handelnden nicht da, nicht vorhanden, nicht möglich ist – obwohl (das zeigt spätere Einsicht) es durchaus da, vorhanden und möglich gewesen wäre. Die © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Metakompetenzen
erlebte Situation bildet ganz genau ab, welche Handlungsgrenzen man sich (bewusst oder unbewusst) setzte. Was man glaubte, tun bzw. nicht tun zu können. Welche Kompetenz oder Fähigkeit man in welcher Weise anwenden zu können glaubte oder nicht. Außerdem: Durch was können wir uns besser, angemessener (weiter-)entwickeln als durch eine freundlich-genaue Metaperspektive auf das, was gefehlt hat? Diese Sicht wird durchaus nicht von allen geteilt. Es gibt Menschen, die alles dafür tun, Fehler zu vermeiden, und große Angst davor haben, welche zu begehen. Diese Verhaltensintension erweist sich als sehr effektiv darin, sich nicht weiterzuentwickeln. Die Fehlerängstlichen (nennen wir sie einmal so) verhindern durch ihr Verhalten sehr wirksam, etwas dazuzulernen oder Neues zu erfahren, denn dies brächte sie ja in Gefahr, zu begehen, was sie vermeiden wollen: Fehler. Denn gerade neue Dinge kann man nicht gleich ganz »richtig« machen. Man könnte die hier zutage tretende Fähigkeit als Stagnationskompetenz bezeichnen – und ehrlich, wer von uns hätte nicht schon einmal von dieser Fähigkeit Gebrauch gemacht, wohl nicht allein nur die sogenannten Perfektionisten. Eine Kompetenz tritt also kaum je alleine auf, sondern führt als atmosphärisches Gepäck jene Einschätzungen und Bewertungen mit sich, mit denen bislang auf sie reagiert worden ist. Kompetenz – das scheint nicht unwesentlich auch eine Frage der Bedeutungsgebung zu sein. Gunther Schmidt hat vorgeschlagen, statt von psychosomatischen Krankheiten, von psychosomatischen Lösungsversuchen zu sprechen (Schmidt, 1999). Damit wird nicht allein die bisherige Beschreibung von Krankheiten aus ihrem pathologischen Kontext gelöst und in einen wertschätzenden und eigenverantwortlichen überführt, sondern das Bewusstsein für die Bedeutung von Metaperspektiven oft (erstmals) geweckt. Von Nossrat Peseschkian hörte ich vor vielen Jahren eine Kompetenz-Charakterisierung, die er einem besorgten Vater gab. Peseschkian, der ein entwickeltes und reflektiertes Verhältnis zum Humor besaß, erklärte dem Vater, dessen Sohn als Kleptomane galt, dieser besitze die Fähigkeit, etwas zu finden, noch bevor es jemand verloren habe. Diese (orientalische) Art der Bedeutungsgebung ist wohl nicht für jeden (Ernsthaften und Ernstnehmenden) nachvollziehbar – und für manche nicht einmal zum Lachen. Entscheidend für die Verbesserung der eigenen Fähigkeiten wie zur Vorbereitung auf die philosophischen Kompetenzen ist die Verknüpfung von zwei Perspektiven: © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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1. Sich selbst – mit Neugier, erhöhter Aufmerksamkeit und Respekt – als ein Wesen wahrzunehmen, das über viele Fähigkeiten und Kompetenzen verfügt (auch wenn diese nicht immer gezeigt werden). 2. Wahrzunehmen, wie bislang auf die gezeigten wie die nicht gezeigten Fähigkeiten und Kompetenzen reagiert, wie diese eingeschätzt und bewertet worden sind und welche Auswirkungen das wiederum auf die eigenen Einschätzungen und Bewertungen hatte. Diese Perspektivenverknüpfung kann zudem das Erkennen und Ermessen des eigenen existentiellen Reifegrads befördern und einem helfen, das eigene aktuelle seelische Lebensalter, das sich nicht notwendigerweise mit dem Alter decken muss, das sich zum Beispiel aus dem Personalausweis erschließen lässt, genauer zu bestimmen. Hierfür erweist sich folgende Übung als nützlich. Sie kann (sollte eine entsprechende Bereitschaft vorhanden sein) auch mit Patienten, Klienten und Kunden durchgeführt werden.
Das seelische Lebensalter ermitteln Erstellen Sie eine möglichst umfangreiche Liste von Fähigkeiten, Charaktereigenschaften und Mustern, wie zum Beispiel Zuverlässigkeit, Ausdauer, Entschlusskraft, Klarheit, Überblick, Durchsetzungsvermögen, Flexibilität, Offenheit, Sorgfalt, Nachdenklichkeit, Genauigkeit etc., und damit all jenen persönlichen Potentialen, die Sie zur Gestaltung Ihres Lebens wie besonders bei konfliktreichen Situationen, schwierigen Entscheidungen und Ähnlichem benötigen, um für sich zu guten Lösungen kommen zu können. Ordnen Sie die Liste nach Verhaltensprioritäten: Welche Eigenschaft, Fähigkeit usw. zeigen Sie häufig, welche ständig, so dass Sie mitunter mit dieser direkt attribuiert werden – »Das ist doch der flexible…« –, welche eher weniger? Gehen Sie geistig zu Ihrem Lebensanfang zurück. Erinnern Sie sich an frühe Einschätzungen Ihrer Person seitens Ihrer Eltern, Geschwister, Freunde, Lehrer etc. bezüglich der Fähigkeiten und Eigenschaften, die Sie häufig oder aus eigenem Antrieb gezeigt haben, wie auch solcher, die Sie selten oder nur ausnahmsweise, aber auch solcher, die Sie gar nicht gezeigt haben, die man (möglicherweise) an Ihnen vermisst und/oder von Ihnen eingefordert hat. Geben Sie jeder dieser Fähigkeiten und Eigenschaften ein gewisses Alter. Etwa so: Die Zuverläs© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Metakompetenzen
sigkeit ist beispielsweise so stark bei Ihnen ausgeprägt, so verhaltensbestimmend, dass Sie schon als Kind in dieser Fähigkeit bereits zum Beispiel 15 Jahre älter waren (während andere Fähigkeiten Ihrem damaligen Lebensalter entsprachen). Im Laufe Ihres Lebens ist diese Fähigkeit dann mit Ihnen mitgealtert. In der Weise, dass man, wenn man Ihnen als Zwanzigjährigem begegnet wäre, in dieser Fähigkeit einen 35-Jährigen getroffen hätte. Hingegen waren andere Eigenschaften gewissermaßen mit einem negativen Lebensalter in Ihnen entwickelt. In der Weise, daß Sie zum Beispiel bei einer Fähigkeit – wie etwa dem Überblick – mit minus 15 Jahren angefangen haben. So würde man also, wenn man mit Ihnen als 45-jährige Führungskraft zu tun bekäme, in dieser Fähigkeit einen Dreißigjährigen erleben. Sie können auf diesem Wege – ziemlich differenziert – ermitteln, welche Fähigkeiten sich in Ihnen altersgerecht entwickelt haben und welche nicht, wo Sie sich also unter, über oder Ihren Jahren gemäß befinden.
Mit der Metapher »Hören mit dem dritten Ohr«, die er von Nietzsche entlehnte, hat Theodor Reik versucht, eine empathische Kompetenz zu beschreiben, die für das bessere und tiefere Verstehen von Menschen genutzt werden kann – was den Umgang mit sich selbst ja durchaus einschließt (Reik, 1976). Das »Hören mit dem dritten Ohr« bildet gewissermaßen eine Praxisform von Freuds Wahrnehmungsintention der »gleichschwebenden Aufmerksamkeit«, welche eine Art des Gewahrseins beschreibt, die – ausgleichend und ausgeglichen – zwischen einer willentlichen, gerichteten und einer nicht willentlichen Aufmerksamkeit bis hin zur Unaufmerksamkeit angesiedelt ist. Ein fluidaler Zustand erhöhter (Selbst-)Durchlässigkeit, in dem ein »schwebendes Spähen« möglich ist und sich Eindrücke sammeln können, »aus denen das Wissen plötzlich auftauchen wird« (Reik, 1976, S. 184, 206). Im Umgang mit den eigenen Kompetenzen bewährt sich das »Hören mit dem dritten Ohr« als Wünschelrute, durch die man gerade diejenigen Fähigkeiten in sich aufspüren und zu ihnen einen Zugang finden kann, die von äußerlicheren und weniger zur eigenen Substanz gehörenden Kapazitäten überlagert werden. Auf welchen Wegen man die Art und Beschaffenheit des eigenen Vermögens auch immer auskundschaften und kennenlernen mag: Wesentlich ist die Beziehung, die man zwischen einer Kompetenz und einer sie begrenzenden Instanz herstellt. In ähnlicher Weise wie eine Methode ein methodologisches Korrektiv © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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benötigt, um als Methode sinnvoll und angemessen verwendet werden zu können und sie nicht zu übertreiben oder absolut zu setzen, benötigt eine Kompetenz eine sie regulierende Metakompetenz. Wohl kaum eine Kompetenz (wenn ich mich so personalisierend ausdrücken darf) ist selbst dazu in der Lage, sich dauerhaft sinnvoll selbst zu begrenzen.
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Vier andere Mitspieler
Jeder Mensch ist eine kleine Gesellschaft. Novalis
Die Perspektive des Spiels bietet viele Vorteile. Sie ist geeignet, das Komplexe in menschlichen Kommunikations- und Interaktionsprozessen anschaulich und handhabbar zu machen, ohne es dabei notwendig simpel oder dirigistisch werden zu lassen. Das Spiel liefert die ihm eigene Dynamik und Faszination und sorgt für entsprechende Spielfreude. Durch den spielerischen, das heißt beweglichen Zugang können Verkrampfungen leichter gelockert und Blockaden besser abgebaut werden. Das Spiel vermag die Autonomie und die Bereitschaft zur Selbstverantwortung zu fördern, da es dem Einzelnen die Möglichkeit gibt, sich anders in etwas einzubringen und dabei mehr von sich zu zeigen. Es gleicht übertriebene Expertenbeziehungen aus und problematisiert die (nicht wenig verbreitete) Vorstellung, einer wisse oder könne mehr als ein anderer und sei dadurch besser imstande, Probleme zu lösen oder Bescheid zu geben; zumindest unter sogenannten Erwachsenen. Der Experte erscheint nur als eine andere Art von Mitspieler im Spiel des Lebens; denn nicht allein für die Schauspieler handelt es sich dabei um die sprichwörtlichen »Bretter, die die Welt bedeuten«. Das Spiel ermöglicht es zudem, oft leichter eine existentielle Augenhöhe zu einem anderen (Mit-)Spieler einzunehmen, da viele Experten- oder Hierarchiebeziehungen von sich aus bekanntlich nicht so spielerisch verlaufen. Das Spiel und die spielerische Perspektive kann jedem Leben eine eigene Farbe und Atmosphäre verleihen. Und so überrascht es nicht, dass das Spiel und das Spielerische viele Menschen begeistert, herausfordert und dazu einlädt, neue Spiele oder spielerische Zugänge zu (er-) finden und alte (vertraute) Spiele neu oder anders zu spielen; wobei es auch immer welche zu geben scheint, die durchaus nicht mitspielen © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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Dass auch diese ein Spiel spielen, hat ein Psychiater wie Eric Berne in seinen »Spiele[n] der Erwachsenen« (»Games people play«) oder ein Philosoph wie Ludwig Wittgenstein in seiner methodischen Perspektive des Sprachspiels30 deutlich gemacht. In der Verbindung von offenen wie regelhaften Elementen und Strukturen haben Spiele etwas von geordneten Experimenten an sich. Und zu so einem möchte ich Sie einladen, wenn ich Ihnen hier vier andere Mitspieler vorstelle und Ihnen nahelege, mit diesen in Ihrem beruflichen und/oder persönlichen Leben umzugehen; das heißt, sich von Ihnen anregen, bereichern, bestärken, die Augen und den Geist öffnen zu lassen und dabei zu entdecken, zu erleben, dass Sie es sind, dass es Ihr ureigenstes Potential ist, mit dem Sie etwas für sich, für andere oder für eine bestimmte Sache tun (können). Denn es geht darum, etwas, das in Ihnen steckt, von dem Sie vielleicht in der einen oder anderen Weise und unter anderem Namen bereits Gebrauch gemacht haben, das nach meinem Verständnis zu unserer anthropologischen Ausstattung gehört und uns zu philosophischen Lebewesen macht, methodisch und lustvoll zu entwickeln. Es ist eine Absicht dieses Buches, die Vorstellungen und Erfahrungen, die Sie von bzw. mit dem Staunen, dem Humor, dem Mut und der Skepsis haben, zu überprüfen und zu erweitern. Das bedeutet (individuell) herauszufinden, was Sie tun und was Sie mit diesem Tun anfangen können, wenn Sie beispielsweise ins Staunen geraten, mit Humor reagieren, Mut fassen oder skeptisch werden. Wie bereits im Vorwort angedeutet, führen diese alltäglichen Begriffe einiges an kulturgeschichtlichem Gepäck mit sich, und ich werde unter anderem in den Begriffsgeschichten manches davon zur Sprache bringen. Mit im Gepäck sind auch die jeweiligen Kontrastbegriffe: beim Staunen die Gewohnheit, beim Humor der Ernst, beim Mut die Feigheit oder Angst, bei der Skepsis die Gläubigkeit. Sie bekommen es also, wenn Sie sich mit diesen vier Kompetenzen genauer zu beschäftigen beginnen, mit acht Fähigkeiten bzw. Reaktionsweisen zu tun. Innerhalb der taoistischen Philosophie gibt es die Vorstellung, dass die Welt durch das unauflösbare Ineinander von Gegensätzen bestimmt wird. Aus die30 Vgl. hierzu meine Ausführungen im Sprachkapitel, in: »Fragen – Lösen – Fragen. Philosophische Potentiale für Therapie, Beratung und Organisationsentwicklung« (Stölzel, 2013). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Vier andere Mitspieler
ser Vorstellung leitet sich die Verwendung des Binomens ab, was auch in die chinesische Schrift Eingang gefunden hat. So enthält zum Beispiel das Zeichen für groß auch das für klein (was nur durch Akzentzeichen jeweils unterschieden wird), das Zeichen für weit auch das für nah, das Zeichen für getrennt auch das für verbunden, das Zeichen für laut auch das für leise, das Zeichen für schön auch das für hässlich usw. In ähnlicher Weise enthält das Staunen die Gewohnheit, der Humor den Ernst, der Mut die Feigheit oder Angst, die Skepsis die Gläubigkeit. Denn erst durch ihre Gegensätze, die gewissermaßen als Schatten dauernd mit präsent sind, entsteht so etwas wie die Ganzheit eines bestimmten anthropologischen Potentials. Wenn Sie also die hier vorgestellten vier philosophischen Kompetenzen näher kennenlernen und sie für Ihre Arbeit und/oder Ihr Leben nutzen möchten, verschaffen Sie sich die Möglichkeit, auch deren Schattenseiten, so wie sich diese für Sie persönlich darstellen, anders erfahren zu können. Das schließt auch die Möglichkeit ein, Selbstübertreibungstendenzen der jeweiligen Kompetenzen auszugleichen; denn die jeweiligen Metakompetenzen enthalten auch reflektierte Aspekte ihrer jeweiligen Gegensätze in sich. Zudem ist es denkbar, die Annäherung an eine bestimmte Kompetenz über deren Gegenteil zu suchen. Warum spreche ich von philosophischen Kompetenzen? Und warum nenne ich gerade diese vier philosophisch? Staunen und Skepsis sind eingeführte und verwendete philosophische Begriffe, wenngleich zum Beispiel staatlich bestallte Philosophen wohl eher selten beim Staunen ertappt werden oder so sehr mit ihren Ansichten und ausgetüftelten Ideensystemen verbunden sind, dass sie (meiner Beobachtung nach) dabei der Neigung, diese skeptisch zu betrachten, nicht über Gebühr nachgeben. Die Begriffe Mut und Humor scheinen anderen Feldern und Bereichen zu entstammen, als denen, die man landläufig der Philosophie zurechnet, wenngleich auch sie in verschiedenen Fachlexika und Kompendien erörtert und beschrieben werden (nur etwas weniger als die beiden anderen).31 Dass ich hier von philosophischen Kompetenzen spreche und gerade diese vier nenne und als relevant erachte, verdankt sich vielfältigen und vielfach überprüf31 Unlängst wurde der Humor auch in das »Lexikon systemischen Arbeitens« als eigenes Stichwort (Bauer, 2012) aufgenommen, vgl. außerdem das »Ha-Handbuch der Psychotherapie« von Bernhard Trenkle (Trenkle, 1995). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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ten Erfahrungen, die ich über eine Reihe von Jahren innerhalb der Beratungspraxis mit Einzelnen, Gruppen und Organisationen sowie während Fort- und Weiterbildungsseminaren gemacht habe. Die vier Begriffe verdanken sich also der konkreten Arbeit mit und für Menschen und den Fragen und Herausforderungen, mit denen diese Menschen umgehen. Aus diesen Erfahrungen ist die immer wieder bestätigte Überzeugung entstanden, dass diese vier Kompetenzen eine sehr gute, wirksame und lebensnahe Möglichkeit darstellen, sich mit dem eigenen Weisheitspotential (vgl. »Reizwort Philosophie«) in Beziehung zu bringen, es näher kennenlernen und besser verwenden zu können. Bei alledem sollte man nicht vergessen, dass Kompetenzen stets etwas sehr Persönliches, mit der jeweiligen Person auf besondere Weise Verbundenes darstellen. Ich spreche von den vier Kompetenzen sehr häufig in einer bestimmten Reihenfolge, in der sie auch im Titel dieses Buches stehen. Ist diese Reihenfolge zwingend oder sind auch andere denkbar? Natürlich sind sie das. Doch habe ich Gründe, das heißt überprüfte Erfahrungen, weswegen mir diese Reihenfolge (die auch eine der Entwicklungsstufen, also des Alters ist) sinnvoll erscheint. Bevor ich etwas dazu sage, möchte ich jemanden das Wort geben, der sich über das Verhältnis zwischen bestimmten Entwicklungsphasen und den damit korrespondierenden philosophischen Haltungen geäußert hat: Goethe. Er bringt das in einer aphoristischen Notiz, die sich im Nachlass fand und in der Sammlung »Maximen und Reflexionen« abgedruckt worden ist, aus seiner männlichen Sicht (die sich für Frauen möglicherweise anders darstellen würde) so zum Ausdruck: »Jedem Alter des Menschen antwortet eine gewisse Philosophie. Das Kind erscheint als Realist; denn es findet sich so überzeugt von dem Dasein der Birnen und Äpfel als von dem seinigen. Der Jüngling, von inneren Leidenschaften bestürmt, muß auf sich selbst merken, sich vorfühlen: er wird zum Idealisten umgewandelt. Dagegen ein Skeptiker zu werden hat der Mann alle Ursache; er thut wohl zu zweifeln, ob das Mittel, das er zum Zwecke gewählt hat, auch das rechte sei. Vor dem Handeln, im Handeln hat er alle Ursache, den Verstand beweglich zu erhalten, damit er nicht nachher sich über eine falsche Wahl zu betrüben habe. Der Greis jedoch wird sich immer zum Mysticismus bekennen. Er sieht, daß so vieles vom Zufall abzuhängen scheint: das © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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Unvernünftige gelingt, das Vernünftige schlägt fehl, Glück und Unglück stellen sich unerwartet in’s Gleiche; so ist es, so war es, und das hohe Alter beruhigt sich in dem, der da ist, der da war, und der da sein wird« (Goethe, 1980, S. 154).
Dass dem Staunen etwas Anfängliches eignet, ja dass es dadurch geradezu repräsentiert wird, liegt aus vielen Gründen nahe. Das Staunen als Reaktionsweise und Haltung ist vielfältig mit den jeweiligen Lebensanfängen verbunden und vermag als sekundäres Staunen (vgl. »Begriffsgeschichte« zum Staunen) der sogenannten Erwachsenen, den Anfang des eigenen philosophischen Denkens und Handelns auf unvergleichliche Weise in Bewegung zu bringen und zu halten. Der Humor repräsentiert unter anderem die Entdeckung und Verwendung jener Perspektive, ohne die das Leben zu ernsthaft, schwer und trostlos würde; in der Entwicklung eines Menschen stellt er daher bereits den Teil einer gewissen Weltverarbeitung dar, und das nicht allein, was die Reaktion auf Regeln, Normen und andere eingeübte Haltungen betrifft. Der Mut als unmittelbarer Verkörperer des Eigenwillens und Eigensinns (in der Bedeutung des Sinnes für das Eigene) vertritt die notwendigen und unvermeidlichen Konfrontationen und Abgrenzungen, die jemand ab einem gewissen Alter durchzustehen hat, um überhaupt auf seine Weise zu sich kommen zu können. Die Skepsis ist gewissermaßen die »reifste« der hier vorgestellten philosophischen Kompetenzen, die (wie auch Goethe anmerkt) erst ab einem bestimmten Alter so richtig einsetzen kann, obwohl im zweiten Lebensdezennium, während der sogenannten Pubertät, selbst bei braven Kindern und Jugendlichen (die die Normen und Wahrheiten ihrer Eltern nicht sonderlich in Frage stellen) zumindest eine gewisse »Umwertung aller Werte« vonstatten geht. Doch muss man wohl eine gewisse Zeit (ein paar Jahrzehnte) gelebt haben und eine Reihe von felsenfesten Überzeugungen und Gewissheiten gehabt und vertreten haben, um auf eine – nicht allein für sich selbst – produktive Weise skeptisch werden zu können. Über die Perspektive der verschiedenen Alterstufen der vier Kompetenzen hinaus hat sich diese Reihenfolge im therapeutisch-beraterischen Vorgehen wie in der individuellen Beschäftigung als hilfreich und weiterführend erwiesen, was jedoch nicht bedeutet, dass nicht andere Reihenfolgen möglich und sinnvoll sein und weitere Kompetenzen hinzukommen können. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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Was enthält und verkörpert eine philosophische Kompetenz alles? Ich nenne einige Elemente, von denen verschiedene im Rahmen der nachfolgenden Kapitel genauer zur Sprache kommen werden: –– einen bestimmten Teil der menschlichen Ausstattung, –– eine lebensdienliche Haltung, –– eine spezifische Erfahrungsmöglichkeit, –– eine bestimmte Wahrnehmungsweise, –– eine Position zum nützlichen wie zum möglichen Wissen, –– einen Forschungs- und Erkenntnisstimulus, –– ein heuristisches Mittel, –– einen entwickelten Charakterzug, –– eine Stimmung als Ausdruck einer bestimmten Weltsicht, –– einen Teil eines praktizierten guten Lebens. Gerade in einer Zeit wie der unsrigen, in der die suchtstiftenden Produkte der Informations- und Unterhaltungstechnologie (nicht allein bei Jugendlichen) immer mehr überhandnehmen, scheint es mir angezeigt, die spezifischen Fähigkeiten – zu denen die philosophischen Kompetenzen (die keine Maschine kann) gehören – zu stärken. Bei aller Unterschiedlichkeit der verschiedenen Kompetenzen gibt es auch bestimmte Gemeinsamkeiten. Entwickelte philosophische Kompetenzen sind in der Lage: –– die innere und äußere Selbstständigkeit zu vergrößern, –– die Selbstverantwortung und damit das geistig-seelische Erwachsenwerden zu unterstützen, –– dritte, vierte, fünfte … Lösungswege aufzeigen zu helfen und dem Schwarzweißdenken entgegenzuwirken, –– das persönliche Potential eines Menschen auf individuelle Weise nachdrücklich anzuregen. Aufgrund dieser Wirkungsmöglichkeiten sind die philosophischen Kompetenzen des Staunens, Humors, Mutes und der Skepsis bei Tyrannen, Diktatoren, religiösen, politischen oder wissenschaftlichen Ideologen, das heißt bei allen sich übermächtig oder wissend Gebärdenden, nicht sonderlich beliebt. Sie stellen für diese keine besonders begehrten Mitspieler dar. Dadurch, dass sie zudem vier persönlich wie beruflich wichtige Handlungsweisen – wahrnehmen, (sich) halten, entscheiden, (über-)prüfen – auf besondere Weise verkörpern und thematisieren, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Vier andere Mitspieler
können sie nicht nur zu anregenden und aufschlussreichen Mitspielern bei den beruflichen wie den persönlichen Spielen, sondern auch zu mächtigen Helfern bei vielen schwierigen Fragen, Situationen und Herausforderungen werden. Graphisch ließe sich das so darstellen: Humor Ein Frage der Haltung Staunen
Mut
Ein Frage der Wahrnehmung
Ein Frage der Entscheidung Skepsis
Ein Frage der Prüfung Abbildung 4: Vier philosophische Kernkompetenzen und ihr jeweiliges Handlungspotential
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Eine Notiz zur »Existentiellen Kommunikation«
Die Bezeichnung »Existentielle Kommunikation« geht auf Karl Jaspers zurück. Sie erscheint im zweiten Band seines mehrbändigen Werkes »Philosophie«, der unter dem Titel »Existenzerhellung« steht. Jaspers sagt von ihr: »Existentielle Kommunikation ist nicht vorzumachen und nicht nachzumachen, sondern schlechthin in ihrer jeweiligen Einmaligkeit« (Jaspers, 1956, S. 58). Sie sei nicht mit »gehaltvoller Kommunikation« bildungsbürgerlicher Provenienz und anderen Formen des offenen oder zweckdienlichen Austausches zu verwechseln. Sie setze die gegenseitige Bereitschaft zur Offenheit der Beteiligten voraus. Als Gespräch sei sie daher »nicht bloß eine endliche Form der Mitteilung, sondern Ausdruck für das Existenzverhältnis zweier Menschen« (S. 115). Sie bilde eine »Grenzsituation«. Mit dieser Wortprägung, die mittlerweile Teil der Alltagssprache geworden ist, beschreibt Jaspers Situationen, in denen der Einzelne mit seinen eingeübten Verhaltensoder Denkweisen an eine Grenze gerät, an der er nicht mehr weiterkommt. »Sie sind wie eine Wand, an die wir stoßen, an der wir scheitern« (S. 203). Für Jaspers geht es weniger darum, sie zu verändern, als vielmehr darum, sie »zur Klarheit zu bringen« (S. 203). Durch dieses Klären und Klarwerden fällt gewissermaßen ein anderes Licht auf die eigene Existenz; sie wird deutlicher, heller. Daher spricht Jaspers von »Existenzerhellung«. Ein organischer Weg zu einer auf das eigene Erleben gegründeten, existentiellen Kommunikation ergibt sich aus der Erfahrung des Ungenügens in menschlicher Begegnung; der Empfindung (und dem Leiden daran), mit anderen zu keinem substantiellen oder seelisch befriedigenden Austausch kommen zu können. Das kann ein wirksamer Indikator sein. Das kann die Motivation für den damit verbundenen, den durchaus nicht leichten Umgang mit den Abgründen der eigenen Existenz, zu der man anders in Beziehung tritt, stabil halten. Angewendet auf den therapeutischen und beraterischen Bereich, verstehe ich existentielle Kommunikation als eine Praxis der © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Eine Notiz zur »Existentiellen Kommunikation«
Begegnung, in der die Arbeit des Selbst-Innewerdens dialogisch32 wird und mit der damit ein wesentliches Potential des Menschen entwickelt wird: die Möglichkeit, einem anderen – wie auch sich selbst – anders, das heißt grundsätzlicher begegnen zu können. Diese Verbindung mit dem Grundsätzlichen, den Fundamenten der eigenen Existenz, öffnet den Blick, weitet die Perspektiven und hat überdies eine erdende Wirkung, da man – unabhängig von dem Problem, der Frage, dem Lösungsversuch – in einen bewussten Kontakt mit den Grundlagen der eigenen Existenz gebracht wird. Dadurch ergeben sich für die therapeutische und beraterische Kommunikation weitere klärungsdienliche Perspektiven. Das betrifft die Möglichkeit des Austausches wie die Erwartungen der Kommunikationspartner untereinander, besonders die Erwartung an den Therapeuten, Coach, Berater oder Organisationsentwickler. Die professionelle Kommunikation ist nach meinem Verständnis eine »Begegnung der dritten Art«: »Das heißt, eine wichtige Wirkung besteht bereits in dem Angebot, mit einer Person […] zu sprechen, mit der es weder private noch berufliche Berührungspunkte bzw. Kontakte gibt, also wo auch keine entsprechenden Rücksichtsnahmen nötig sind und Einschränkungen wegfallen, die es oft erschweren, das eigene Leben und das eigene Anliegen aus einer Metaperspektive zu betrachten und dadurch zu neuen Ausrichtungen und/oder Lösungen zu gelangen« (Stölzel, 2009a, S. 90). Da sich also die »Begegnungen der dritten Art« von anderen Kommunikationsformen spürbar unterscheiden und zudem einen geschützten dialogischen Raum bilden, ermöglichen sie es, auf eine klärende und lösungsdienliche Weise grundsätzlich, das heißt existentiell zu werden. Und dies weit intensiver, als dies oft bei der Alltagskommunikation möglich ist. Man kann hier Dimensionen erproben, die dann auch in anderen Momenten des eigenen Lebens Platz finden können. Der Bezug zum Grundsätzlichen, zum Existentiellen, bleibt auch nicht ohne Auswirkungen auf das (Selbst-) Verständnis des Therapeuten oder Beraters. Anders gesagt, er bringt ein Dilemma klar zu Bewusstsein, das häufig unklar bleibt oder übergangen wird. Das betrifft die Expertise und/oder Überlegenheit desjenigen, der konsultiert wird. Eine existentielle Kommunikation wird 32 Der Jaspers-Kenner, Herausgeber und Biograph Hans Saner, der auch sein letzter Universitätsassistent war, spricht vom »wechselseitigen Prozeß des Selberwerdens« (Saner, 1994, S. 94 f.). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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da möglich und fruchtbar, wo das Fachmann- oder Fachfrau-Sein um eine existentielle Präsenz erweitert, wo der professionelle Ansprechpartner das Grundsätzliche seines Menschseins mit einbringt und in »existentielle Solidarität« (Karl Jaspers) mit dem anderen tritt. Diese Herausforderung gibt dem professionellen Ansprechpartner die Möglichkeit, seine Rolle zu klären; für sich herauszufinden, wie ebenbürtig und prozessoffen er das Zusammensein und Zusammenarbeiten mit seinem Patienten oder Klienten gestaltet; welchen Bezug und welche Verbindung er zu den Grundlagen seiner eigenen Existenz hat; wie das eigene Sein und Können gegründet ist. Ich möchte diese Notiz zur existentiellen Kommunikation mit einem Blick auf ihren Namensgeber beschließen. Karl Jaspers hat eine ungewöhnliche Biographie und einen (nicht nur in seiner Zeit) ungewöhnlichen Berufsweg gehabt. In seiner »Philosophischen Autobiographie« bringt er die Grundlagen dafür, gewissermaßen den existentiellen Ausgangspunkt, so zur Sprache: »Alle Entschlüsse meines Lebens waren mitbedingt durch eine Grundtatsache meines Daseins. Von Kindheit an war ich organisch krank (Bronchiektasen und sekundäre Herzinsuffizienz). […] Die Krankheit durfte durch Sorge um sie nicht Lebensinhalt werden […] alles mußte nach ihr gerichtet werden, ohne an sie zu verfallen. […] Das Leben mußte konzentriert werden bei den ständigen Unterbrechungen, um überhaupt sinnvoll gelebt werden zu können« (Jaspers, 1957, S. 4 f.). Die Krankheit wurde erst erkannt, als Jaspers 18 Jahre alt war; sie hatte bis dahin Herz und Nieren stark belastet. Die medizinische Prognose dieser als unheilbar geltenden Krankheit lautete, die davon Betroffenen würden in ihren dreißiger Jahren elend an allgemeiner Vereiterung zugrunde gehen. Die Aussicht auf nur ein Dutzend Lebensjahre wurde durch eine Bemerkung von Jaspers’ Schuldirektor zugespitzt. Jaspers war ein schulisch erfolgreicher und dabei sehr eigenständiger Schüler, der sich scharf gegen die Aufforderung zu blindem Gehorsam abgrenzte. Nach der bestandenen Abiturprüfung bekam er von seinem Direktor zu hören: »Aus Ihnen kann ja nichts werden, Sie sind organisch krank« (Jaspers, 1967, S. 22). Jaspers hat sich von diesen medizinischen und persönlichen Prognosen nicht entmutigen lassen und ein resilientes Verhalten gezeigt, lange bevor dieser Begriff geprägt wurde und in Umlauf kam. Er wurde 86 Jahre alt und brachte – trotz zum Teil schwerer Beeinträchtigun© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Eine Notiz zur »Existentiellen Kommunikation«
gen33 – ein umfangreiches Werk hervor. Im existentiellen Widerlegen von einschränkenden Prognosen wie im Hin(ein)nehmen und (professionellen) Verwandeln des Krankseins in eine produktive Lebenskraft gibt es zwischen Karl Jaspers und Milton H. Erickson eine Reihe von Parallelen34; viele ihrer Beobachtungen und Erfahrungen sind durch das persönliche Beispiel existentiell beglaubigt und am eigenen Erleben unmittelbar überprüft. Jaspers philosophiert aus der eigenen Erfahrung heraus. Auch wenn manche seiner universitären Schriften in einer eher abstrakten Manier gehalten sind, fehlt selbst diesen nicht ein Bezug zum konkreten Dasein (ein Bezug, der vielen akademischen Philosophen ziemlich abgeht). Nachdem Jaspers aufgrund seiner chronischen Krankheit ein Studium der Jurisprudenz und den Plan, damit aktiv ins Leben einzutreten, aufgeben musste, wechselte er zur Medizin, um seine Symptomatik besser begreifen und eigenständig behandeln zu können. Er verlegte sich dort auf die Psychiatrie und promovierte mit einer Arbeit über »Heimweh und Verbrechen«, die in der Fachwelt auf Beachtung stieß. Neben seiner klinischen Ausbildung und Praxis beschäftigte er sich intensiv mit Methodenfragen des (noch jungen) akademischen Fachs Psychologie. Seine Habilitationsschrift »Allgemeine Psychopathologie« hatte unter anderem Max Weber zum Gutachter und gilt noch heute unter Fachleuten als ein methodologisch ernstzunehmendes, den Blick schärfendes Werk (vgl. Emig u. Fuchs, 2008). Darin heißt es: »Irgendwann [wird] jeder Psychologe, ob er will oder nicht, ob er es weiß oder nicht, in seiner Praxis ein existenzerhellender Philosoph«35 (Jaspers, 1965, S. 649). Nicht allein mit dieser Perspektiven-Verknüpfung baute Jaspers auf seine Weise die Brücke zur (akademischen) Philosophie. Seine wissenschaftliche Reputation war in den Folgejahren so gewachsen, dass er – ohne je ein akademisches Philosophiestudium absolviert zu 33 Der Neurochirurg Arnaldo Benini hat 2011 in dem Beitrag »Krankheit als Grenzsituation« in der NZZ (Benini, 2011) eine detailreiche Schilderung der Symptomatik gegeben, die Jaspers’ Biographie maßgeblich geprägt hat. 34 Diese verdienten, einmal genauer aufgezeigt zu werden. Siehe außerdem die Ausführungen zu Erickson in dem Kapitel »Was kann ein Mensch?« 35 Anette Suzanne Fintz, die als philosophischer Coach mit Führungskräften arbeitet, hat in anregender Weise Aspekte von Jaspers’ Existenzphilosophie mit Komponenten der Existenzanalyse und Logotherapie nach Viktor Frankl verglichen (Fintz, 2006). Zur direkten praxisrelevanten Anwendung dieses Ansatzes vgl. Fintz, 2008, und Fintz, 2011. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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haben – gegen den Widerstand der Fakultät36 zum Extraordinarius für Philosophie ernannt wurde. Sein Einstand in diese Fachrichtung war das interdisziplinäre Buch »Psychologie der Weltanschauungen«, das (wie auch andere seiner Schriften) gleichermaßen in psychologischen wie philosophischen Seminaren starke Beachtung fand. Ein für die Entwicklung des systemischen Denkens (nicht allein hierzulande) so wichtiger Vorreiter wie Helm Stierlin sieht in diesem Buch eine teilweise Vorwegnahme systemischer Perspektiven (Stierlin, 2008, S. 269). Stierlin, der wie sein einstiger akademischer Lehrer in Philosophie und Medizin gleichermaßen beheimatet ist – er hatte sich 1946/47 als Student von Jaspers Vorlesungen und Seminaren stark angesprochen gefühlt –, hat durch seine Person wie durch sein Wirken deutlich gemacht, welchen wichtigen und konstruktiven Einfluss gerade philosophische Perspektiven auf das therapeutisch-beraterische Handeln ausüben können. In der allgemeinen Rezeption wird Jaspers heute nahezu ausschließlich als »Philosoph« wahrgenommen und der sogenannten Existenzphilosophie zugerechnet. Dass sein Leben im Unterschied zu dem zeitweise mit ihm befreundeten Martin Heidegger und anderen Fachkollegen als ein Beispiel für gelebte, existentiell begründete Philosophie gelten kann, zeigt nicht allein sein reflektierter Umgang mit der konkreten existentiellen Herausforderung, die seine chronische Krankheit mit sich brachte, sondern auch sein Verhalten während des sogenannten Dritten Reichs. Hier verdoppelte sich die Todesnähe gewissermaßen. Zu den inneren Bedrohungen durch seine Symptomatik kamen äußere. Da er sich weigerte, sich von seiner jüdischen Frau zu trennen, verlor er seine Professur, erhielt Publikationsverbot und wurde zu einer nicht nur universitär geächteten Person. Als einen Ausstoß aus seiner nationalen Zugehörigkeit empfand er den Umstand, dass dem Ehepaar Jaspers der Erwerb eines gemeinsamen Grabes auf dem Heidelberger 36 Jaspers’ offene, interdisziplinäre Ausrichtung überforderte die in engen Fachgrenzen denkenden philosophischen Universitätsprofessoren, die sich schwer damit taten, diesen »Irrenarzt« als gleichwertigen Fachkollegen anzuerkennen. Solch possessiver Scheuklappenblick hat sich bei nicht wenigen Vertretern des homo academicus bis heute erhalten. So mokieren sich manche von ihnen, dass medial stark präsente und als prototypische Philosophen angesehene Autoren, wie Peter Sloterdijk oder Richard David Precht, doch eigentlich nur promovierte Literaturwissenschaftler seien. Für einen solchen Umgang mit dem geistigen Potential habe ich mir in Analogie zu dem Motto »Höhere Heiterkeit« von Thomas Mann die Charakterisierung »Höhere Beschränktheit« zurechtgelegt. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Eine Notiz zur »Existentiellen Kommunikation«
Bergfriedhof verweigert wurde. Jaspers hat nach dem Krieg, den er nur knapp überlebte – seine Deportation wurde nur durch den Einmarsch der US-Armee verhindert –, einen Ruf an die Universität Basel gerne angenommen und später die deutsche Staatsbürgerschaft zugunsten der schweizerischen aufgegeben. Sein späterer Assistent hat in dem genauen (gelegentlich sogar minutiösen) Bericht »Sterben können« (Saner, 1973) die Existenzbewährung während Jaspers letzter Lebensphase geschildert. War zu Beginn ihrer Zusammenarbeit der Umgang mit dem Assistenten distanziert und geradezu diagnostisch – »Beim Weggehen hatte ich nicht selten das unangenehme Gefühl, bis zum Schließen der Türe beobachtet zu werden, als gelte es, aus den Gesten, der Art des Gehens, aus jedem Ausdruck zu entnehmen, wer ich sei« (S. 404) –, wandelte sich dieser zu einer großen persönlichen Vertrautheit. So konnte Saner aus der Nähe die Konsequenzen aus Jaspers letzter existentieller Entscheidung angesichts seines Verfalls miterleben. Nachdem er gemeinsam mit seiner Frau die Möglichkeit eines Selbstmordes verworfen hatte, »wählte er ganz bewusst das neue Dasein als Schwerkranker. Er wollte nun erleben, wie es mit ihm zuende ging, und er tat es, bis in die scheinbar erniedrigendsten Phasen des Krankseins« (S. 497). Die Souveränität und Würde, die er dabei zeigte, waren auch Ergebnis einer »existentiellen Kommunikation« mit sich selbst. Saner überliefert einen Moment dieses Selbstgesprächs. Jaspers sagte zu ihm und zu sich: »Bei mir geht ein Prozeß vor sich. Ich bin machtlos gegen ihn. Weil ich das weiß, kann ich das Geschehen hinnehmen – ohne nur Opfer zu sein. Auch diese Zeit meines Lebens hat ihr Schönes an sich. Ich bin froh, daß ich es erleben darf« (S. 499).
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Ob eine Organisation nun die Form eines (Familien-)Unternehmens, einer Firma, eines Instituts, einer Anstalt, eines Krankenhauses, einer Schule oder Hochschule, eines Amtes oder Ministeriums, einer Kirche, eines Vereins, einer Partei, einer Bank, einer Fabrik, eines Staates oder einer Staatengemeinschaft usw. hat, findet dort mehr oder weniger statt, was die Grundetymologie des Begriffes andeutet. Organisation leitet sich von dem griechischen Wort órganon, Werkzeug her. Dieser werkzeughafte Charakter ist allen Organisationen gemeinsam. Die Unterschiede bestehen unter anderem in der Art der (verwendeten) Werkzeuge, deren Gebrauch, dem Selbstverständnis der Organisationen, ihren Satzungen, ihren Zielen, ihren Führungsstrukturen (ob sie staatlich-dekretär oder privatwirtschaftlich-autonom gesteuert werden). Im besten Fall bilden die verschiedenen Organisationsteile und das Organisationsganze ein geordnetes Wechselwirkungsgefüge; ein System mit variablen Binnenstrukturen aus Sozialsystemen, Funktionssystemen und Interaktionssystemen, die füreinander eine innere Umwelt bilden und durch Mitgliedschaft (oder andere Formen der Zugehörigkeit) einen markanten Unterschied zur äußeren Umwelt der jeweiligen Organisation aufweisen. Wie beispielsweise bei Systemaufstellungen von Organisationen immer wieder deutlich geworden ist, gibt es einen wichtigen Unterschied zum Sozial-, Funktions- und Interaktionssystem Familie. In Organisationen (gleich, welcher Art) kann man ein- und wieder austreten, in Familien nicht oder zumindest nicht so leicht und wirksam. Die Zugehörigkeit durch Geburt, Verheiratung bzw. Verschwägerung schafft eine andere Art von (seelischer) Verbindlichkeit, während es in der Selbsterhaltungstendenz, in der Orientierung an einem Status quo oder in der Neigung zur Nichtveränderung durchaus Ähnlichkeiten zwischen Familien und Organi-
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Philosophische Kompetenzen in Organisationen
sationen gibt. Eine interessante Verbindung stellen sogenannte Familienunternehmen dar.37 Als ein Netzwerk von Entscheidungs- und Kommunikationsprozessen, als ein arbeitsteiliger Zusammenschluss zum Vertreten gemeinsamer Interessen und zum Erreichen gemeinsamer Ziele zeigt sich eine Organisation auch als ein System, das sich (in gewissen Grenzen) selbst betrachtet und dadurch eine bestimmte Organisations-Ideologie zum Ausdruck bringt, die nach eher mechanistischem oder eher nicht-mechanistischem bzw. autopoietischem Strukturverständnis erfolgt und dabei verlautbart, welche Managementüberzeugungen, Menschenbilder, Motivationen die Organisation leiten und prägen. Eine Organisation kann als ein Typ eines Sozialsystems beschrieben werden, das sich über Mitgliedschaftsregeln, Personalrekrutierung und Rollenspezifikation konstituiert. Aufgrund dieser sozialen Voraussetzungen kann die Organisation sich leichter identifizierbar machen, ihre Strukturen zunehmend spezifizieren und die operationalen Entscheidungen im Hinblick auf die innere wie die äußere Umwelt der Organisation weiter ausdifferenzieren und somit die Selbststeuerungsmöglichkeiten verbessern. Ungeachtet dieser Voraussetzungen und Potentiale stehen viele Organisationen unter dem oft schwer zu regulierenden und konstruktiv umzusetzenden Druck, sich verändern zu sollen oder gar zu müssen. Im Laufe der letzten Jahrzehnte sind – häufig von externen Organisationsentwicklern – zahlreiche Methoden und Modelle entwickelt und angewendet worden, Organisationen bei diesen schwierigen Prozessen zu begleiten und zu unterstützen. Dabei sind verschiedene Erfolge erzielt und nachhaltige Entwicklungen angestoßen worden. Doch nicht allein durch weltwirtschaftliche Zusammenhänge scheinen die Deformationen durch nicht angemessen kompensierte Druck- und Belastungskonstellationen eher noch zugenommen zu haben (vgl. die steigende Burnout-Rate). Angesichts dieser Situation scheint es angezeigt, philosophische Perspektiven für die herausforderungsreiche Realität von Organisationen zur Verfügung zu stellen und passend für den jeweiligen Organisationskontext zu erschließen. Ich habe daher in den 37 Vgl. hierzu Markus Plate, Torsten Groth, Volker Ackermann und Arist von Schlippe (2011) sowie Fritz B. Simon, Rudi Wimmer und Torsten Groth (2005) und Fritz B. Simon (2002). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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Philosophische Kompetenzen in Organisationen
entsprechenden Unterkapiteln zu den einzelnen Kompetenzen einige Vorschläge gemacht, die sich im Einzelfall natürlich noch weiter ausdifferenzieren lassen. Titel wie »Die staunende, die humorbewusste, die mutige oder die skeptische Organisation« mögen vielleicht auf den ersten Blick verwundern. »Was soll das sein, wie soll das aussehen?«, mag man sich fragen. Der Vorschlag besteht, kurz gesagt, darin: das philosophische Potential, das in jedem Einzelnen vorhanden ist – und zum Beispiel in Gestalt der hier vorgestellten vier Kernkompetenzen konturierbar und handlungsrelevant gemacht werden kann – auch für Organisationen zu nutzen. Auf diese Weise können die Bilder, Identitätsmerkmale oder Metaphern, die sich die verschiedenen Organisationen selbst geben (oder die ihnen von Nichtorganisationsmitgliedern, wie Kunden, Kooperationspartnern usw., gegeben werden) sinnvoll erweitert werden.
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Staunen: Eine Frage der Wahrnehmung
Vordialog Philosophischer Praktiker: Wir sind hier zusammengekommen, um uns gemeinsam mit vier philosophischen Kernkompetenzen zu beschäftigen, die genauer kennenzulernen und zu erschließen für Ihre Arbeit wichtig und weiterführend sein kann. Therapeutin: Diese Behauptung wird noch zu belegen sein. Berater: Deswegen sind wir ja hier. Ich traue der Philosophie durchaus ein kritisches Vermögen zu… Therapeutin: … das mag wohl für Theoretisches gelten. Inwieweit das auch für unsere Tätigkeitsfelder gilt, ist für mich noch eine offene Frage … Berater: … so offen ist für mich die Frage nicht, nur möchte ich genauer wissen, wie ich – als professioneller Dialogpartner – in der Beratung mit meinen einzelnen Kunden philosophische Ideen und Methoden wie eben auch die von Ihnen sogenannten philosophischen Kompetenzen sinnvoll verwenden könnte. Organisationsentwicklerin: Mir geht es nicht allein um Einzelne. Ich arbeite mit größeren Gruppen und Strukturformen, mit Unternehmen und Organisationen, wo sehr schnell eine hohe Komplexität da ist, mit der es dann gut umzugehen gilt. Was oft nicht leicht ist, da ich oft konträre Standpunkte und Interessen gleichermaßen verstehen und ausgleichen muss. Wenn ich da durch philosophische Perspektiven wichtige Impulse für meine Arbeit bekommen könnte, wäre ich sehr dankbar. Bislang hatte ich von Philosophie eine andere Vorstellung, doch bin ich Systemikerin genug, um meine Hypothesen immer wieder zu überprüfen. Philosophische Kompetenzen klingt ja wohltuend konkret – obwohl der Begriff mir noch nicht ganz deutlich ist … Philosophischer Praktiker: … wenn das als etwas Konkretes bei © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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Staunen: Eine Frage der Wahrnehmung
Ihnen ankommt, ist mir das sehr recht und deckt sich mit meiner Intention. Was Ihre jeweiligen beruflichen Hintergründe betrifft, kann ich Ihnen sagen, daß ich in Ihren verschiedenen Arbeitsfeldern tätig war und es immer wieder bin und somit über eine gewisse Innenperspektive Ihres professionellen Handelns verfüge bis hin zu den spezifischen Herausforderungen, denen Sie sich seitens Ihrer Patienten, Klienten und Kunden gegenüber sehen. Dass es Vorbehalte gibt, was die Tauglichkeit philosophischer Ideen und Methoden für Ihr berufliches Tun angeht, ist mir willkommen, denn es nötigt mich, achtsam und sorgfältig vorzugehen und nicht zu viel vorauszusetzen, was ja durchaus im Dienst der Sache steht. Zudem scheint mir der Dialog von seinen strukturellen Möglichkeiten her gut geeignet, unterschiedliche Sichtweisen anschaulich abzubilden und eine gemeinsame Klärungsarbeit zu befördern; das kommt auch dem ursprünglichen Verständnis des Begriffs nahe. Therapeutin: Ich bin keine Altphilologin. Das müssen Sie mir schon etwas erläutern. Philosophischer Praktiker: Der für alle Formen von Beratung und Begleitung wichtige Begriff Dialog leitet sich vom griechischen Verb dialegestai her, was so viel bedeutet wie: sich klären beim Reden. Berater: Was tun wir anderes? Philosophischer Praktiker: Es bezeichnet die Möglichkeit einer Klarheitsfindung, die man für sich alleine so nicht erreichen könnte; was jedoch nicht bedeutet, dass man mit sich selbst (bzw. mit den verschiedenen Seiten, Anteilen, Regungen in sich) keinen guten klärenden Dialog führen oder einen solchen zumindest üben kann. Organisationsentwicklerin: Das wäre dann so etwas wie eine gelungene Selbstsupervision. Philosophischer Praktiker: Nur ist es eben etwas anderes, anderen Menschen und damit anderen Realitätskonstrukteuren gegenüberzusitzen, deren Weltsicht, Werte und (in unserem Fall) berufliches Selbstverständnis sich vom eigenen deutlich unterscheiden kann, bis hin zum wechselseitigen Unverständnis, was, so denke ich, nicht unser Fall sein dürfte. Therapeutin: Davon gehe ich auch nicht aus. Am besten, wir wenden uns jetzt dem zu, was Sie die philosophische Kompetenz des Staunens nennen; mit dieser wollten Sie ja beginnen. Mir ist ziemlich schleierhaft, was das sein soll und wie ich dies bei meiner Arbeit ver© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Vordialog
wenden könnte. Denn dass ich mit offenem Mund und geweiteten Augen dasitze, wird wohl meinen Patienten wenig nützen, denke ich. Organisationsentwicklerin: Staunen kenne ich natürlich und tue ich auch gelegentlich. Vielleicht zu wenig. Doch dass Staunen mit der Philosophie zu tun hat, war mir nicht bewusst. Berater: Ist es nun ein Zeichen von höherer Professionalität, wenn man staunt? Oder drückt Staunen eher aus, dass man nicht richtig durchblickt? Ich meine, das »normale« Staunen … Organisationsentwicklerin: … heißt das, es gäbe einen Unterschied zwischen dem normalen Staunen und dem philosophischen? Oder gibt’s da gar keinen? Philosophischer Praktiker: Das Staunen – das lässt sich auch hier beobachten – vermag unterschiedliche bis gegensätzliche Reaktionen auszulösen. Für manche ist es etwas zu Überwindendes, der Naivität nahes, bestenfalls ein Stimulus zu Beginn eines Erkenntnisprozesses. Andere erblicken darin ein wichtiges Element ihrer professionellen wie ihrer persönlichen Haltung zur Welt wie zu sich selbst; sie kommen erklärtermaßen aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Wobei sich die Frage erhebt, ob es sich beim Staunen um etwas handelt, das mich überkommt wie eine Stimmung, meinem absichtlichen Zugriff anscheinend entzogen, oder ob ich es selbst induzieren und womöglich wirkungsvoll verwenden kann? Wozu soll das Staunen eigentlich gut sein? Ist es überhaupt sinnvoll, wenn wir als aufgeklärte Mitglieder einer sogenannten Wissensgesellschaft wieder bzw. noch staunen? Worin könnte der spezifische Nutzen liegen, dass sich Menschen, die therapeutisch oder beratend tätig sind, wie auch solche, die an der Steigerung ihrer Erfahrungs- und Erkenntnisfähigkeit interessiert sind, mit diesem so unterschiedlich bewerteten Vermögen intensiver beschäftigen? Organisationsberaterin: Die Fragen machen mich neugierig … Berater: … am Ende hat Neugier auch etwas mit dem Staunen zu tun. Philosophischer Praktiker: Um diese Fragen (wie auch andere, die sich daraus ergeben) besser beantworten zu können, erscheint es hilfreich, zunächst das Wort und seine Verwendungsweisen genauer zu betrachten. Denn – so viel ist vermutlich bereits deutlich geworden – das Staunen ist, wie der Philosophiedidaktiker Ekkehard Martens sagt, »ein erklärungsbedürftiger Sammelbegriff für ein diffuses und ambivalentes Phänomen« (Martens, 2003, S. 15). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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Staunen: Eine Frage der Wahrnehmung
Therapeutin: Diffus und ambivalent durchaus. Damit wir sinnvoll mit der Klärung weiterkommen, fände ich es gut, wenn wir versuchten, so etwas wie einen gemeinsamen Verständnishorizont herzustellen, damit wir wissen, wovon wir reden, wenn wir hier vom Staunen sprechen, dazu noch vom philosophischen… Philosophischer Praktiker: Um hierfür einen Beitrag zu leisten, habe ich versucht, eine kleine Begriffsgeschichte zu skizzieren, welche, so hoffe ich, eine notwendige Grundorientierung vermitteln kann. Berater: Mit Etymologie, mythologischen Bezügen, von der Antike herkommend bis zu unseren heutigen Gebrauchsweisen? Philosophischer Praktiker: Hören Sie selbst …
Begriffsgeschichte Das Staunen tritt häufig (und das erhöht sofort die Komplexität) gemeinsam mit dem Zwillingsbegriff »sich wundern« auf, wie zum Beispiel in dem Sprichwort: »Da staunt der Laie und der Fachmann wundert sich.« Oder sie werden nahezu synonym verwandt, was den Bedeutungskreis in Richtung Wunder, wundervoll, wunderbar, unglaublich erweitert. So wird über Wunder der Natur, Kultur, Technik gestaunt, wie auch über etwas, das einen überrascht, verblüfft, verdutzt, das man nicht erwartet, mit dem man nicht gerechnet hat. Das Staunen ereignet sich häufig in der Kategorie der Plötzlichkeit; es bezeichnet Eindrücke und Empfindungen, die überraschend und unvermutet kommen und die einen erfreuen und bestätigen, aber auch nachhaltig irritieren können. Das Wort Staunen ist eine neuhochdeutsche Prägung und seit dem 16. Jahrhundert nachweisbar. Es wurde aus dem alemannischen stunen abgeleitet, was ursprünglich die Bedeutung von »träumerisch vor sich hinstarren« bezeichnete und etymologisch sowohl eine Verbindung mit dem lateinischen stupor wie dem französischen e(s)tonner und zum englischen astonish aufweist. Die wortgeschichtliche Nähe zwischen »erstaunen« und »erstarren« deutet darauf hin, dass das Staunen Wirklichkeitskonstruktionen aufzustören vermag, die bei dem Betroffenen einen (wenn auch heilsamen) Schreck auszulösen vermögen. Staunen wie auch Verwunderung sind, wortgeschichtlich gesehen, jüngere Begriffe für eine alte Empfindung. Sie bezeichnen »ein intelek© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Begriffsgeschichte
tuelles gefühl«, das »in feststehender tradition den sinn des griechischen thaumázein wiedergibt«, so das größte Wortkompendium der deutschen Sprache: das »Deutsche Wörterbuch« von Jacob und Wilhelm Grimm (1985, Spalte 2375). Nicht, dass nicht bereits vor den Griechen gestaunt worden wäre, doch beginnt das Staunen dort methodisch zu werden – und nicht nur das. Das Staunen wird innerhalb der griechischen Kultur als Urimpuls zum selbstständigen Denken und damit zum Philosophieren aufgefasst. Als Referenzpunkt gelten Aussagen der beiden wirkungsmächtigsten Vertreter der westlichen philosophischen Tradition: Platon und sein (ihm häufig widersprechender) Schüler Aristoteles, der ihm jedoch in diesem Punkt beipflichtet. In dem späten Dialog »Theaitetos«, der sich mit den menschlichen Wissensmöglichkeiten und Wissensgrenzen beschäftigt, lässt Platon seinen Sokrates die deutlichen Worte sagen: »Denn dieses Gefühl, das Staunen, ist das Zeichen des echten Philosophen. Es gibt nämlich keinen anderen Ursprung der Philosophie als diesen« (Platon, 1946, S. 41). Und sein berühmter und eigenwilliger Schüler und Nachfolger in der Akademie konstatiert im Buch Alpha seiner »Metaphysik«: »Aufgrund des Staunens nämlich begannen die Menschen sowohl jetzt wie auch anfangs zu philosophieren« (Aristoteles, 1989, S. 11). Die Attribute Ursprung, jetzt und anfangs sind wesentlich für die Bedeutung des Staunens – auch als philosophische Kompetenz. Karl Jaspers macht da eine weiterführende Unterscheidung: »Anfang ist etwas anderes als Ursprung. Der Anfang ist historisch und bringt für die Nachfolgenden eine wachsende Menge von Voraussetzungen durch die schon geleistete Denkarbeit. Ursprung aber ist jederzeit die Quelle, aus der der Antrieb zum Philosophieren kommt« (Jaspers, 1953, S. 18). Diese Doppelnatur (Anfang und Ursprung) bildet für das Jetzt den jederzeit möglichen Ausgangs- wie Rückbezugspunkt eigenständigen Welterfahrens; sie ist – wie noch deutlich werden wird – von besonderer Relevanz für das Praktischwerden als philosophische Kompetenz. Das griechische Wort für »Staunen/sich wundern«, thaumázein (θαυμάζειν), leitet sich von einer mythischen Figur namens Thaumas her, einer Gottheit des Meeres, deren Namen auch mit »Meereswunder« übersetzt wird. Bereits in einem der ältesten Texte der griechischen Tradition, in Hesiods »Theogonie« (Hesiod, 1985, S. 65), ist von Thaumas die Rede. Thaumas, der große Sohn des Pontos und der Gaia, zeugte mit der Okeanine Elektra Iris und die beiden Harpyien Aello © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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und Okypete. Thaumas Tochter Iris, diejenige, die – wie es heißt – die Höhe mit der Tiefe verbindet (ihr Name steht auch für den Regenbogen), symbolisiert in ihrer späteren Eigenschaft als Götterbotin offenbar auch die Philosophie, welche hier als Mittlerin zwischen Himmel und Erde aufgefasst wird. Iris ist als Tochter des Thaumas zugleich auch die Tochter des Staunens. Als Botin einer aus dem Staunen entspringenden Philosophie legt sie den Weg von den Göttern zu den Menschen zurück. So verstanden verkörpert sich die Philosophie in ihr als der Übergang von den erklärbaren zu den unerklärbaren Dingen (Stölzel, 1998b, S. 245) – oder, Heinz-von-Foersterisch gewendet, von den »entscheidbaren zu den unentscheidbaren Fragen«. Thaumázein ist außerdem (sprachlich wie von der Sache her) über das Verb theasthai mit dem Vermögen des Menschen verwandt, das überhaupt so etwas wie »Landkartenphänomene« (Watzlawick, 1992; Simon, 1993) hervorbringt: mit Theorie bzw. Theoriebildung. Beide Begriffe – das Staunen wie die Theorie – lassen sich etymologisch auf ein »intensives, offenes, geistiges Anschauen bzw. Betrachten« zurückführen. Bereits bei den beiden griechischen Gründungsvätern differenzierte sich der Gebrauch, wodurch sich bestimmte Potentiale wie Übertreibungsformen ergaben. Für Platon ist das Staunen eine philosophische Art der Wahrnehmung (Matuschek, 1991, S. 19), ein Innehalten vor dem, was der Prüfung bedarf. Sich durch Staunen der Fragwürdigkeit eines Problems, einer vermeintlichen Selbstverständlichkeit bewusst werden, bedeutet: direkt mit der Einsicht ins eigene Nichtwissen, in die »Lethologie« (Foerster u. Bröcker, 2002, S. 306) konfrontiert zu werden. Platon denkt somit das Staunen mehr vom Subjekt her. Für Aristoteles bedeutet das Staunen den Anreiz, eine ausdauernde theoretische Neugierde zu entwickeln und sich im eigenständigen Denken zu üben. Das Staunen wird hier als philosophischer agens verstanden, sich eines Themas, Gegenstands etc. betrachtend und erforschend so lange zuzuwenden, bis sich das anfängliche Staunen in ein (weiter zu prüfendes) Wissen verwandelt hat. Aristoteles denkt somit das Staunen mehr vom Objekt her (vgl. Matuschek, 1991, S. 25). Diese subjekt- wie objektgeleiteten Positionen haben in der Nachfolge zu entsprechenden Übertreibungsformen geführt. So neigten manche Platoniker dazu, die Haltung des Staunens bis zur Verzückung (ekplexis), einem ekstatischen Staunen, zu steigern, mit dessen Hilfe man © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Begriffsgeschichte
vom bloßen Schein zum Sein der Dinge, platonisch gewendet: zu den »ewigen Ideen«, vordringen kann, während andere in der Nachfolge des Aristoteles dem Staunen lediglich einen temporären Erkenntnisstatus zumaßen. Das Staunen reduziert sich demzufolge zu einem bloß anfänglichen Gefühl der Verwunderung, das dann überwunden und in ein vermeintlich sicheres Wissen verwandelt wird. Viele positivistisch orientierte Wissenschaftler, darunter nicht wenige Hirnforscher, sind Vertreter dieser Übertreibungsform. Ungeachtet der Bedeutung, die Platon und Aristoteles bereits zu ihrer Zeit hatten, ist ihren Bedeutungsgebungen schon während der Antike widersprochen worden. Vornehmlich Vertreter der stoischen Philosophie wollten sich von dem (mitunter überwältigenden) Affekt des Staunens befreien und strebten eine »staunenslose Verfassung der Seele« an. Ein wichtiges Ziel ihrer philosophischen Arbeit bestand darin, sich durch nichts verwundern zu lassen (nihil admirari) und den Zustand größtmöglicher Gelassenheit und Staunenslosigkeit (athaumasia) zu erreichen. Dieser Auffassung lag ein Weisheitsverständnis zugrunde, demzufolge der nach Weisheit Strebende sich von nichts aufregen oder verwundern lassen sollte. Während des christlichen Mittelalters wurde dem Staunen ein klar definierter Platz innerhalb der Gottesandacht (deus admirabilis) zugewiesen. Die Regungen des Staunens wurden weltanschaulich überwacht und kanalisiert. Der Einzelne sollte nur über Göttliches staunen, denn die geoffenbarte Wahrheit (so lautete die Doktrin) stehe über allem; davon abzuweichen, gefährde das Selenheil. Innerhalb einer von der Kirche überwachten, scholastisch-eingefriedeten Wissenschaft gab es für das Staunen nur wenig Raum. So blieb dieser unabhängigen, sich allen Fragen und Phänomen gleichermaßen zuwendenden, gewissermaßen anarchistischen Wahrnehmungsweise und Haltung nahezu keine Wirkungsmöglichkeit mehr. Das Staunen wurde einerseits von einem theologischen und andererseits von einem rationalen Denkkorsett eingezwängt und stranguliert. Erst ein spätmittelalterlicher Denker wie Nikolaus von Kues wagte es mit einer Perspektive wie der docta ignoratia, der »belehrten Unwissenheit« (Blumenberg, 1985, S. 46), einen alten, sokratisch inspirierten Methodenfaden wieder aufzunehmen. Wohl auch in Reaktion auf die dogmatische Inanspruchnahme durch das Christentum gibt es bei vielen Vertretern der rationalistischen frühneuzeitlichen Philosophie bis weit ins 18. Jahrhundert hinein eine spür© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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bare Zurückhaltung bis Ablehnung gegenüber den Potentialen der Verwunderung. Da es – in Gestalt eines verordneten Staunens – als ein wirksames Mittel eingesetzt werden konnte, eigenständiges Denken zu verhindern, mutierte es zu einer Pathologieform der Vernunft, wurde zu einem Widerpart von Aufklärung und der Staunende damit zum »Gegenbild des aufgeklärten Menschen« (Matuschek, 1991, S. 157). Hinzu kam der Verdacht, insbesondere bei religionskritischen Philosophen, das Staunen befördere und verstärke den bedenklichen, weil unrationalen Hang zu Wunderglauben und Schwärmerei. Erst die Perspektive einer umfassenden, die unterschiedlichen Seiten, Impulse und Bedürfnisse des Menschen gleichermaßen mit einbeziehenden Weltund Selbstzuwendung – wie sie bei Goethe und der romantischen Philosophie (Novalis, Schelling) aufscheint – befreite die erkenntnisfördernde Kraft des Staunens von klerikaler Vernutzung oder rationaler Ächtung. Der Physiker und Naturphilosoph Werner Heisenberg würdigte Goethes methodologischen Ansatz einer »anschauenden Erkenntnis« aus der belebten Natur (Heisenberg, 1967, S. 418) als wichtige Ergänzung einer das persönliche Berührtsein abwertenden, alle Phänomene in Formeln bannenden und nahezu staunensfreien dogmatischen Naturwissenschaft. In Goethes poetischem wie wissenschaftlichem Werk kommt der heuristischen Funktion des Staunens eine wesentliche Macht und Möglichkeit zu. In den Gesprächen mit Eckermann äußerte er gegen Ende seines Lebens: »Das Höchste, wozu der Mensch gelangen kann […] ist das Erstaunen« (Eckermann, 1975, S. 244). Die Philosophen des 19. Jahrhunderts schlossen sich dieser Maxime nicht an; sie neigten eher dazu, das Staunen bzw. die Verwunderung zu unterschätzen; ihre Erkenntnisintentionen waren auf anderes gerichtet und so erscheint sie zum Beispiel bei Schopenhauer in seinem ersten Hauptwerk »Die Welt als Wille und Vorstellung« geradezu als »Mutter der Metaphysik« (Schopenhauer, 1980, S. 207). Mit dem Aufkommen der Phänomenologie als Methode wird die erkenntnisfördernde Kraft des Staunens wieder wissenschaftlich ernstund auch anders wahrgenommen. Für Edmund Husserl etwa beginnt mit dem Staunen die »Theoria eigentlicher Wissenschaft« (Husserl, 1936/1982, S. 331 f.). Max Scheler erkennt in dem Umstand, dass das »intentionale Gefühl der Verwunderung […] durch den gewohntesten Gegenstand hervorgerufen werden« kann (Scheler, 1960, S. 65) das besondere Potential des Staunens. Für Martin Heidegger verkörpert © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Begriffsgeschichte
das Staunen die Grundstimmung eines jeden denkerischen Beginnens, wobei das »πάθος des Erstaunens […] nicht einfach so am Beginn der Philosophie« steht, »wie z. B. der Operation des Chirurgen das Waschen der Hände voraufgeht. Das Erstaunen trägt und durchherrscht die Philosophie« (Heidegger, 1956, S. 25). Auch andere Denker des 20. Jahrhunderts, wie unter anderem Karl Jaspers (vgl. Stölzel, 2009a, S. 104), Ernst Bloch, Ludwig Wittgenstein, Hannah Arendt, Emmanuel Lévinas, Simone Weil, Ernst Tugendhat und Jeanne Hersch, messen dem philosophischen Staunen eine wichtige Bedeutung bei. Hersch hat dem philosophischen Staunen einen enzyklopädischen Rundblick (von den Vorsokratikern bis zur Gegenwart) gewidmet, in dem sie aufzeigen möchte, »wie und worüber Menschen gestaunt«, was »sie zum Staunen gebracht, wie sie ihr Staunen ausgedrückt« haben (Hersch, 1981, S. 7). Sie hat dabei auch pädagogische Intentionen, will Staunen wecken und beispielsweise zu der Frage anregen: »Wie kommt es, daß ich mich darüber noch nie gewundert habe?« (S. 7). Sie verbindet das mit einer bestimmten anthropologischen Vorstellung, der nach »Menschen […] imstande sind, sich über das alltägliche »das versteht sich von selbst« hinwegzusetzen und grundsätzliche Fragen zu stellen« (S. 8). Wittgenstein beschreibt das Staunen als »mein Erlebnis par excellence […]. Am ehesten läßt sich dieses Erlebnis, glaube ich, mit den Worten beschreiben, daß ich, wenn ich es habe, über die Existenz der Welt staune« (Wittgenstein, 1989, S. 14). Bloch fragt, wie viele die anfängliche griechische »Wegweisung« des Staunens noch beibehalten haben (Bloch, 1969, S. 217); er differenziert zwischen einem »Selberstaunen« und einem »Urstaunen« und konstatiert, dass gerade »ganz einfache, sozusagen harmlose Eindrücke« ein Staunen hervorrufen können, welches dann »den Riß und Ritz im üblichen, gewohnten Bemerken« (Bloch, 1970, S. 16) sichtbar mache. Der Dichter und experimentelle Denker Paul Valéry (ein wichtiger Vorläufer der Kybernetik) möchte das Staunen in Erweiterung von Descartes zu einer neuen Form des Cogito entwickeln: »Du erstaunst mich, also bist du« (Valéry, 1988, S. 109). Der Physiker und Naturphilosoph Erwin Schrödinger, dessen Voraussetzungen für einen konstruktivistisch arbeitenden Therapeuten wie Paul Watzlawick von großer Bedeutung waren (Watzlawick, 1992, S. 144), spricht für viele moderne theoretische Physiker, wenn er über den Zusammenhang von Gewohnheiten und dem Staunen sagt: »Und doch staunen wir, finden uns Rätseln gegenüber, ohne sagen zu können, wie der Befund hätte sein müssen, um uns nicht © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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in Verwunderung zu setzen« (Schrödinger, 1989, S. 57). Und im Übergang zum 21. Jahrhundert, wo das (Er-)Leben vieler Menschen bis in die Alltagsdetails hinein von Verzifferung und dauerndem Umgebensein von leblosen technischen Geräten geprägt ist und maschinenontologische Sichtweisen sich zunehmend verbreiten, greift ein offener, interdisziplinärer Geist wie der Biokybernetiker und Epistemologe Heinz von Foerster den griechischen Urimpuls wieder nachdrücklich auf. Er tut es, wie 2300 Jahre vor ihm Platon, in einem Dialog, in welchem es wesentlich auch um Fragen des Wissens geht. Hier spricht ein moderner Sokrates, der sich selbst als einen »Neugierologen«38 beschrieben hat. Heinz von Foerster: »Ich möchte ununterbrochen darauf aufmerksam machen, dass alles, womit wir uns im täglichen Leben beschäftigen, unerklärlich, ein Wunder ist. Wenn wir einen Moment stehen bleiben und uns überlegen: ›Wie kommt das?‹, ›Wieso passiert das?‹, ›Wieso fliegt dieser Vogel?‹ – Es ist ja einfach unglaublich! Da sitze ich und staune und staune. Wenn es mir gelingt, andere das Staunen wieder entdecken zu lassen, bin ich schon sehr froh« (Foerster u. Bröcker, 2002, S. 33). Bevor wir daran gehen, in den nachfolgenden Unterscheidungen und Komponenten die philosophische Kompetenz des Staunens für die Bereiche Therapie, Beratung/Coaching und Organisationsentwicklung zu erschließen und als eine wichtige und weiterführende Ressource anschaulich zu machen, möchte ich jetzt abrundend kurz ein paar definitorische Bestimmungsversuche unternehmen, die für das Verständnis wie für die besonderen Wirkungsmöglichkeiten des Staunens als philosophischer Kompetenz von Belang sind. Um mit dem Staunen sinnvoll umgehen zu können, erscheint es zunächst ratsam, sich zwei grundlegende Unterscheidungen vor Augen zu führen: 1. Die Unterscheidung zwischen einem primären Staunen der Kinder (und zum Teil der Jugendlichen) und einem sekundären Staunen der sogenannten Erwachsenen. Es ist vornehmlich dieses sekundäre Staunen, das die Grundlage für eine entsprechende philosophische Kompetenz bildet.
38 Der Zusammenhang, der zwischen Staunen, Neugier und Interesse besteht, verdiente genauer untersucht zu werden als in einer Fußnote, die ich dafür nutze, um darauf hinzuweisen. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Begriffsgeschichte
2. Die Unterscheidung zwischen einem Staunen angesichts des Unerwarteten, Überraschenden, Besonderen, Ungewöhnlichen, so noch nie Gesehenen bzw. Wahrgenommenen und einem Staunen angesichts des Alltäglichen, Absehbaren, Vertrauten, Wohlbekannten, vermeintlich Banalen und Selbstverständlichen. Über die Wirkung der letzten Staunensweise teilt der Schriftsteller und poetische Wahrnehmungsforscher Heimito von Doderer die aphoristisch vorgetragene Erfahrung mit: »Nur angesichts des Selbstverständlichen kann unser Staunen unendlich bleiben. Dem Besonderen gegenüber staunt man doch einmal zu Ende, ja, man gewöhnt sich schließlich daran« (Doderer, 1969, S. 235). Das kann wiederum zu jener »Verblüffungsresistenz« führen, die Peter Sloterdijk zufolge »die aktuelle Wissenskultur« prägt und gegen die er »Verwunderungsübung[en] durchführen« möchte (Sloterdijk, 2011, S. 8, 10), welche wohl auch das Verhältnis zu den eingeübten (wissenschaftlichen) Gewissheiten anders beleuchten könnten. Wie lohnend es sein kann, gerade dem Selbstverständlichen gegenüber zu staunen, ohne dabei notwendig in ein konturloses Schwärmen oder eine lebensferne Erhabenheit zu geraten, wird sich noch erweisen. Doch zunächst abschließend ein Blick auf das Phänomen selbst. Und dieses erscheint, genauer betrachtet, durchaus proteushaft. Denn handelt es sich beim Staunen, wie die Rationalitätsforscherin Lorraine Daston meint, nun um eine »kognitive Leidenschaft« (Daston, 2001, S. 77 ff.) oder wird damit eine Stimmung, ein Erlebnis, ein Gefühl, eine Form der Naivität, eine bestimmte Wahrnehmungsweise, eine Haltung, ein Forschungs- und Erkenntnisstimulus, ein heuristisches Mittel (geeignet, um Unbekanntes, Übergangenes, Übersehenes aufzuspüren), ein Kindheitsrest oder ein geistig-seelischer Jungbrunnen gerade für höhere Jahrgänge bezeichnet, die sich für besonders aufgeklärt und wissend halten? All dies sind Komponenten und Aspekte, die sich nachweisen und aufspüren lassen. Der notwendig kurze Gang durch die wechselvolle Geschichte dieses schillernden Phänomens und seines Gebrauchs hat erahnen lassen, dass eine aufschlussreiche Spannungsbeziehung zwischen dem Staunen (jenseits einer entwicklungsbedingten Prima-vista-Erfahrung) und dem vermeintlich sicheren, weil selbstverständlich gewordenen Wissen besteht.
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Elemente für ein persönliches Staunens-Profil Um die philosophische Kompetenz des Staunens für Ihre beruflichen wie persönlichen Bedürfnisse und Herausforderungen gut nutzen und sie passgenauer entwickeln bzw. weiterentwickeln zu können, empfehle ich Ihnen, sich immer wieder mit den nachfolgenden Fragen, Übungen und Perspektivenvorschlägen zu beschäftigen. Das Profil, das Sie auf diese Weise erstellen, verbessert zudem Ihr Verständnis für sich selbst und vergrößert damit Ihr Bewusstsein für Ihre Handlungs-, Verhaltens- und Lebensmöglichkeiten. Wählen Sie sich unter den aufgelisteten Klärungshilfen die für Sie anregenden und weiterführenden aus. Welche Rolle spielt das Thema Wahrnehmung in Ihrem beruflichen wie persönlichen Leben? Welche Bedeutung hatte es in Ihrer Herkunftsfamilie und während anderer früher Prägungen? Wie wurde darüber gesprochen? Was wurde dem Wahrnehmungs-Vermögen zugetraut, was nicht? Welche Einschätzungen wurden Ihnen explizit und/oder atmosphärisch vermittelt? Wie fühlten Sie sich in Ihrer frühen Umgebung wahrgenommen? Wie haben Sie andere wahrgenommen? Wie stellen Sie sich den Wahrnehmungs-Vorgang vor? Glauben Sie, Menschen könnten die Welt direkt mit Ihren Wahrnehmungs-Organen erfahren, andere Lebewesen oder Dinge wie auch sich selbst rein und objektiv erfassen? Oder erscheint Ihnen alles, was wahrgenommen werden kann, neben der biologischen Konditionierung von den jeweiligen Prägungen, Vorerfahrungen, Vorurteilen, Wünschen, Ängsten, Hoffungen, Begierden, Bedürfnissen etc. gesteuert, gefiltert oder gefärbt? Untersuchen Sie – markante wie alltägliche – Wahrnehmungs-Erfahrungen. Beobachten Sie, was Ihnen an Personen, Situationen, Ihrer Umwelt als Erstes auffällt, was Ihnen ins Auge springt, worauf Sie (stets) achten und auf was erst später und auf was erst nach und nach. Welcher Wahrnehmungen bedarf es Ihrer Meinung nach, um an jemandem, einer Situation oder Umgebung das Ihnen wichtig Scheinende, das Wesentliche zu erkennen und zu erfassen?
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Elemente für ein persönliches Staunens-Profil
Klären Sie für sich, welches Verhältnis Sie zu der besonderen Erkenntnis- und Wahrnehmungs-Möglichkeit der sogenannten Intuition bzw. dem intuitiven Erfassen von etwas oder jemand haben. Vergleichen Sie, wann und wobei Ihre Intuitionsfähigkeit (falls Sie so etwas zu besitzen glauben) als eine Art Voraus-Wahrnehmung Ihnen etwas im Vorfeld aufgezeigt oder deutlich gemacht hat, mit Erfahrungen, bei denen das nicht der Fall war. Ermitteln Sie, was und wie viel Sie intuitiv entscheiden. Mit welchen Sinnesorganen/Körperregionen nehmen Sie bevorzugt sich selbst und Ihre Umgebung wahr? Gibt es Personen, Themen, Situationen, die Sie vor allem durch einen bestimmten Sinneskanal oder mit Hilfe einer bestimmten Körperregion wahrnehmen? Angenommen, bei einem beruflichen Thema wären Ihre eingeübten Wahrnehmungs-Möglichkeiten eingeschränkt. Auf welche anderen Kanäle, Aspekte oder Fähigkeiten würden Sie dann zurückgreifen? Was tun Sie dafür, Ihre Wahrnehmungs-Fähigkeiten zu verbessern? Wählen Sie sich Anlässe dafür aus, um ins Staunen zu kommen. Beachten Sie worüber Sie leicht ins Staunen geraten – und worüber nicht. Ist es etwas aus der Welt (eine andere Person, eine Landschaft, ein Gegenstand, eine kulturelle oder technische Hervorbringung, eine Fähigkeit etc.) oder sind Sie es selbst? Was erscheint Ihnen besonders selbstverständlich? Beschäftigen Sie sich zur weiteren Klärung mit folgenden Fragen: –– Worüber habe ich zuletzt gestaunt? –– Habe ich heute schon gestaunt? –– Was bringt mich leicht ins Staunen? –– Worüber kann ich gar nicht (mehr) staunen? –– Worüber habe ich in meinem Leben am meisten gestaunt? –– Was ist/war mein eindrücklichstes Staunenserlebnis? –– Wie reagiere ich, wenn andere sagen: Was, darüber staunst du? –– Was ist eigentlich Staunen? Was tue oder unterlasse ich dabei? –– Würde sich meine Arbeit verbessern, wenn ich mich dazu entschlösse, mehr zu staunen? © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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–– Was würde sich verändern, wenn ich meinem Lebenspartner, meinen Kindern, meinen Arbeitskollegen, meinen Freunden und Bekannten staunender begegnete? –– Angenommen, ich würde mich dazu entschließen, mehr und bewusster zu staunen (ohne es zunächst oder überhaupt anderen mitzuteilen). Woran könnte es meine berufliche und/oder persönliche Umgebung bemerken? –– Was würde sich an meinem Alltag ändern, wenn ich – probeweise – eine staunende Haltung einnähme? Welche Auswirkung hätte dies auf • mein Lebensgefühl, • meine Selbstwahrnehmung, • meine Sicherheitsbedürfnisse, • meine Gewissheiten, • mein Wohlbefinden, • meine Ziele? Versuchen Sie herauszufinden, was Sie innerlich bzw. in Ihren Selbstgesprächen tun, wenn Sie sich zum Staunen ermutigen, ins Staunen geraten oder Staunen zulassen. Mit welchen Menschen, Themen, Fragen kommen Sie nicht weiter? In welche Pattsituationen, Klemmen, Ambivalenzkonflikte geraten Sie immer wieder? Angenommen, Sie würden es – probeweise – unterlassen (krampfhaft) eine gute Lösung oder zumindest eine angemessene Reaktionsmöglichkeit zu finden und stattdessen zunächst, eine gewisse Zeit lang oder immer wieder darüber staunen. Was vermuten Sie, würde, was könnte dann geschehen? Ich lade Sie dazu ein, gerade hier zu staunen und dann zu vergleichen, was sich im Unterschied zu Ihren bisherigen Lösungsversuchen oder Verhaltensweisen zeigt. Legen Sie ein Notizbuch zum Thema Staunen an. Notieren Sie, was Ihnen zu diesem Thema in den Sinn kommt (auch Zeichnungen und andere graphische Darstellungen sind möglich). Bringen Sie dabei immer wieder Selbstverständlichkeiten, Wissenssicherheiten und eherne Gewissheiten ins Spiel bzw. in Beziehung zu dem, was Ihnen an (Ihrem) Staunen auf- und zu ihm einfällt.
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Elemente für ein persönliches Staunens-Profil
Wenn Sie Ihr(e): –– Wahrnehmungs-Möglichkeiten verbessern, –– Wahrnehmungs-Spektrum vergrößern, –– Wahrnehmungs-Weisen genauer kennenlernen, –– Wahrnehmungs-Verständnis überprüfen, –– Wahrnehmungs-Gewissheiten verflüssigen/produktiv irritieren und dies mit der Entfaltung Ihrer persönlichen philosophischen Kompetenz des Staunens erreichen möchten, dann erweist es sich als sehr nützlich, zumindest eine Zeitlang einen alltäglichen Umgang mit Ihrem Staunen zu pflegen. Das bedeutet: Ihr Staunen in sich anwesend zu machen und als konturierbaren und damit selbstständigen Teil Ihrer Gesamtpersönlichkeit zu gestalten. Finden Sie also heraus, welche Aspekte, Typen, Funktionen usw. Ihre philosophische Kompetenz des Staunens für Sie einnehmen soll. Wäre/verkörperte das Staunen für Sie ein: –– existentieller Berater oder Therapeut, –– persönlicher Coach, –– Spezialist für Wahrnehmungsfragen, –– Entchronifizierungshelfer, –– Stimmungsaufheller, –– Verzauberer, –– Assistent für Präsenz und Gegenwärtigkeit, –– Agent des Innehaltens? Diese Liste beinhaltet nur Vorschläge, die natürlich erweitert, modifiziert oder kombiniert und natürlich alle, von der Beraterin bis zur Agentin, auch in weiblicher Form vergegenwärtigt werden können. Die Kontur und Anwesenheit dieser inneren Figur kann durch äußere Aspekte bzw. Repräsentanten verstärkt und vertieft werden. Gibt es bestimmte –– Tageszeiten, –– Personen, –– Gegenstände, –– Situationen, –– Orte und Umgebungen, die Ihre philosophische Kompetenz des Staunens verkörpern oder an, zu, bei denen es Ihnen leichter fällt, angemessen oder gut übbar erscheint – zu staunen? Die Tageszeiten zum Beispiel. Ist es – genauer betrachtet – © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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nicht höchst erstaunlich, dass wir uns, wenn wir aus dem Schlaf erwachen als so ziemlich dieselben wiederfinden, als die wir eingeschlafen sind? Ein interdisziplinär ausgerichteter Erforscher der menschlichen Kompetenz wie Paul Valéry hat das zumeist völlig unbewusste Vermögen des Menschen, sich allmorgendlich (auch vor sich selbst) als wiedererkennbare Identität zu rekonstruieren, eigens reflektiert und untersucht (Stölzel, 2011, S. 46). Um das persönliche Staunen als wirkungsvolles Instrument für die eigenen Bedürfnisse und Ziele gut weiterzuentwickeln, empfiehlt es sich, vertrauteren Umgang mit ihm zu pflegen. Es hat sich hierfür als günstig und sehr wirksam erwiesen, dieser philosophischen Kompetenz sozusagen Personenstatus zu verleihen und sie – wie ein Autor und Regisseur des eigenen Lebens – mit konkreten und anschaulichen Charakterzügen zu versehen. Also für sich herauszufinden: –– Wie (genau) sieht diese Kompetenz aus? –– Spreche ich, wenn ich mich mit ihr austausche, eher mit einem weiblichen oder eher mit einem männlichen Wesen? –– Wie alt ist sie etwa? –– Was hat sie an? Trägt sie eine charakteristische Kleidung? –– Ist sie eher klein oder eher groß (gewachsen)? –– Gibt es typische Sätze, Mottos, Gesten? –– Wo in Ihrem Körper spüren Sie sie vor allem? Wo würden Sie sie ansiedeln oder positionieren? Mit Hilfe dieser Angaben zu einem »Steckbrief« kann das persönliche Staunen zu einer Art »Ego-State« (Watkins u. Watkins, 2008), also zum Beispiel zu einem hilfreichen »Herrn« oder einer hilfreichen »Frau Staunen«, weiterentwickelt werden. Und im (Selbst-)Gespräch mit dieser hilfreichen inneren Person können zudem folgende Fragen gestellt werden, die geeignet sind, deren spezifisches Potential noch klarer und auch systemischer vor Augen zu führen: –– Was habe ich – als Staunen – zu bieten? –– Welche (Vor-)Erfahrungen gibt es mit mir? –– Was unterscheidet mich von Humor, Mut und Skepsis? –– Welche Fragen, Bedürfnisse etc. habe ich an Humor, Mut und Skepsis, um meine Kompetenz gut zur Entfaltung bringen zu können?
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Was heißt: »wahrnehmen«?
Was heißt: »wahrnehmen«? An dem Wort »wahrnehmen« fällt auf, dass es hierzu keinen direkten Gegenbegriff gibt. Denn dieser müsste ja »falschnehmen« bzw. »Falschnehmung« oder »falschnehmend« lauten. Bereits diese einfache Gegenüberstellung zeigt, dass wir selbst beim scheinbar einfachen Wahrnehmen zugleich mehr und noch anderes tun, als die Welt eins zu eins, so wie sie wirklich zu sein scheint, in uns aufzunehmen. Beim Wahrnehmen gehen wir ja (mehr oder weniger stillschweigend) davon aus, nicht grundsätzlich Unwahres zu sehen, zu hören, zu spüren usw. In dieser trügerischen Sicherheit können wir uns zumindest so lange wähnen, bis jemand anderes zu uns sagt: »Ich glaube, das siehst du falsch!«, oder wir selbst – aus welchen Gründen auch immer – zu zweifeln beginnen, ob das, was wir wahrnehmen, also für wahr nehmen, für wahr halten, als richtig, passend, korrekt betrachten, auch wirklich in dieser Weise zutrifft. So betrachtet würde Wahrnehmung nicht allein lexikalisch zwischen dem von Ideologen und Dogmatikern gern verwendeten Kraftwort »Wahrheit« und dem doch etwas offeneren, fragileren Begriff »Wahrscheinlichkeit« stehen. Denn wenn ein anderer oder gelegentlich auch ich selbst es anders wahrnimmt, wer hat dann recht? Welche Wahrnehmung ist die richtige? Meine oder die des anderen? Oder auf mich selbst angewendet: Welche meiner Wahrnehmungen trifft zu, nimmt das, um was es geht, richtig wahr? Die frühere oder die jetzige? Oder ist es so, dass jeder seine ihm eigene, (nur) für ihn geltende Wahr-Nehmung hat? Wie können wir uns dann »richtig« über die gemeinsam wahrgenommenen Dinge austauschen? Da doch jeder (zumindest teilweise) etwas anderes sieht, hört, spürt usw. und es eine gemeinsame Welt so nicht zu geben scheint? Da die hier etwas zugespitzte Problematik auf vielerlei Weisen in Therapie-, Beratungs- und Organisationsentwicklungsprozessen in Erscheinung tritt (mitunter sogar den Anstoß dazu gibt) und ich glaube, dass das besondere Wahrnehmungspotential eines entwickelten sekundären Staunens (vgl. »Begriffsgeschichte«) sehr geeignet ist, diese teils selbstverständlichen, teils verunsichernden Prozesse zu verbessern, möchte ich diesen Zusammenhang ein wenig näher beleuchten. Ich tue dies, indem ich zunächst die Tätigkeit des Wahrnehmens etwas zu charakterisieren versuche, um auf dieser Grundlage die Möglichkeiten des staunenden Wahrnehmens besser sichtbar machen zu kön© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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nen. Die für das menschliche Leben so essentielle Handlung des Wahrnehmens erscheint – grundsätzlich betrachtet – in zwei Formen, als –– äußere Wahrnehmung durch die Sinnesorgane und das sensorische Vermögen, –– innere Wahrnehmung durch das geistig-begriffliche und das seelisch-affektive Reaktionsvermögen. So bleibt, was man naive Wahrnehmung nennen könnte, vornehmlich auf die äußere Wahrnehmung bezogen und ausgerichtet auf die Tätigkeit der Sinnesorgane, die das, was uns vor Augen kommt, als real existierend und sich in einer bestimmten Weise zeigend erscheinen lässt. Während die Tätigkeit des inneren, geistig-begrifflichen und seelisch-affektiven Reaktionsvermögens, die nahezu gleichzeitig alles mit wahrnimmt, eher ausgeblendet wird. Wahrnehmen als Handlung hat, so verstanden, den Charakter einer Parallelaktion, die sich zwischen zwei intentionalen Polen ereignet: 1. der Wahrnehmung des Fremden eines Objekts, 2. der Wahrnehmung des eigenen, ein bestimmtes Objekt wahrnehmenden Subjekts. Mit dem zweiten Pol, dem Wahrnehmen des Wahrnehmens wie des Wahrgenommenen, haben sich die Phänomenologie und die ihr hier sehr benachbarte Kybernetik zweiter Ordnung beschäftigt. Die Bedeutung der inneren Wahrnehmung wurde bereits in der antiken Philosophie, vornehmlich von den Skeptikern und dem (für die konstruktivistischen Therapeuten und Berater wichtigen) Stoiker Epiktet39, erkannt. In der Folge haben neuzeitliche Denker, wie unter anderem Berkeley, Hume, Kant, Schopenhauer und Nietzsche die Wirkung der inneren auf äußere Wahrnehmungsvorgänge vielfach untersucht und so die Grundlagen für die spätere Psychologie und Psychotherapie sowie die Kognitionswissenschaften gelegt, die ihre Zuspitzung in den Ideen des sogenannten radikalen Konstruktivismus fand. Demzufolge braucht die Außen- wie die Innenwelt, um überhaupt gesehen und als solche 39 Dessen Maxime »Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern die Meinungen von den Dingen« (Epiktet, 1984, S. 24) hat vielfältig nachgewirkt und einen reflektierten Verwender konstruktivistischer Sichtweisen wie Paul Watzlawick so nachhaltig beeindruckt und beeinflusst, dass sie sich nahezu bei den meisten seiner therapietheoretischen Texte (als Leitzitat) findet. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Was heißt: »wahrnehmen«?
erkannt (das heißt auch benannt) werden zu können, einen Beobachter, der sie und sich selbst beobachtet. Wie auch immer man die Handlung des Wahrnehmens beschreiben und bewerten mag, sie stellt sich grundsätzlich als ein Außen-Innen- oder Innen-Außen-Prozess dar. Je mehr man sich mit den inneren Wahrnehmungsvorgängen beschäftigt, desto mehr büßt man die naive Vorstellung ein, dass die Welt (da draußen) wirklich so aussieht, wie sie einem erscheint. Das lässt sich an dem Phänomen der Ästhetik oder der ästhetischen Empfindung illustrieren. Denn wie mich etwas anmutet, ob ich es als schön oder hässlich, passend oder missraten, als zu groß oder nicht groß genug, zu laut oder zu leise, als grell oder farblos, als obszön oder prüde usw. empfinde, liegt weit weniger in den Dingen, Menschen oder Situationen selbst begründet, als in meiner Art und Weise, sie wahrzunehmen; in meiner persönlichen Ästhetik. Das Wort leitet sich übrigens vom griechischen aisthesis her, was Wahrnehmung bedeutet. Mein persönliches ästhetisches Empfinden als unmittelbarer Ausdruck meiner inneren Wahrnehmung legt sich wie ein (von mir häufig nicht eigens bemerkter) Filter über all das, was ich wahrnehme, um es in meinem Sinne, Geschmack und Verständnis zu färben. Der italienische Regisseur Michelangelo Antonioni, der sich in seinen Filmen immer wieder stark mit Wahrnehmungsfragen beschäftigt, hat beispielsweise in seinem 1964 entstandenem Film »Il deserto rosso« (»Die rote Wüste«) Bilder und Szenarien geschaffen, die in besonderer Weise geeignet sind, die Weltwahrnehmung eines bedrückten oder als depressiv beschriebenen Menschen visuell anschaulich zu machen. Dies gelang ihm, indem er die naturalistischen Farben veränderte. Das heißt, die Zuordnung, die wir – als wichtigste Voraussetzung für unsere gemeinsame Realität – den Gegenständen oder Dingen geben. Und der zufolge das Gras grün, der Erdboden braun oder die Tomaten rot sind. Während der Sozialisation hat dies mitunter auch anweisenden Charakter. Kinder lernen, dass das Meer blau, der Wald grün und die Sonne gelb »ist«. So sehen die Dinge aus; das heißt, so sollst du sie (künftig) sehen. In einer Szene des Films sieht eine der Hauptpersonen, Giuliana (die eine krisenhafte Identitätserfahrung durchlebt), nicht mehr die naturalistisch verabredeten Farben. So erscheinen – für sie wie den Zuschauer – ein Obstverkäufer und dessen bunte Waren ebenso wie die Straße und die Mauer, an der er steht, in einem eisigen Graublau. Antonioni führt mit visuellen Mitteln vor, wie die innere Wahrneh© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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mungsweise die äußere Welt je nach seelischer Verfassung einfärbt40 oder farblos erscheinen lässt. Das betrifft nicht allein die Buntheit oder Nichtbuntheit der Welt, sondern auch die Blickrichtung. Giuliana fragt ihren zeitweiligen Liebhaber Corrado: »Wohin soll ich schauen?« Und dieser antwortet: »Du sagst ›Wohin soll ich schauen‹. Ich sage: wie soll ich leben? Das sind die gleichen Fragen« (Antonioni, 1965, S. 44). So nehme ich als Eines wahr, was sich – phänomenologisch betrachtet – als Eines plus meine Sichtweise auf dieses Eine darstellt. Hierzu noch einmal ein Beispiel von Antonioni. Am Ende seines 1966 entstandenen Films »Blow-up« begegnet der Hauptfigur, dem Fotografen Thomas (der bereits von Berufs wegen ein Hersteller von bestimmten Wahrnehmungen ist), eine Gruppe maskierter junger Leute. Zwei aus der Gruppe imitieren auf dem Tennisplatz einen Ballwechsel in präziser Pantomime. Die anderen Gruppenmitglieder und der dazukommende Fotograf folgen dem unsichtbaren Ball mit wachsender Aufmerksamkeit. Antonionis Kamera folgt dem unsichtbaren Ball im rhythmischen Hin und Her eines wirklichen Matches. Dann scheint der unsichtbare Ball über die Umzäunung zu fliegen. Eine Spielerin bedeutet Thomas nachdrücklich, das imaginäre Ding zurückzuwerfen. Nach kurzem Zögern geht er ein paar Schritte, greift ins Gras und wirft etwas, das man nicht sieht, dessen Flugbewegung aber von Antonionis Kamera begleitet wird, zurück ins Spielfeld. Unter dem stummen Applaus der Gruppe kann das Spiel wieder weitergehen. Dann hört man plötzlich das Aufschlaggeräusch des unsichtbaren Balls. Der Film lässt offen, ob sich dieses nur im Kopf, das heißt in der inneren Wahrnehmung des Fotografen (der sich in dieses Phantasiespiel mit einbeziehen ließ) abspielt oder ob es sich jetzt um ein wirkliches Tennismatch handelt, das nicht nur zu sehen, sondern auch zu hören ist. Dieser Zusatz bleibt, meiner Beobachtung nach, für viele Menschen so lange unbemerkt, bis einer, der anscheinend dasselbe wahrnimmt, empört ausruft: »So kann man das doch nicht sehen!« Doch – man kann. Bildlich gesprochen enthält meine Welt als mein »subjektives Mosaik« (Max Wertheimer) eben andere oder zumindest andersartige Steine als die Welt eines anderen Menschen. Die Wahrnehmungsurteile, die wir fällen, gelten – wie Kant in seinen »Prolegomena« betont – bloß für uns (Kant, 1983c, S. 163); 40 In einer anderen Szene färben sich nach einem Liebesakt die Wände des Zimmers, in dem er stattfindet, rosa. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Was heißt: »wahrnehmen«?
sie bilden unsere Verknüpfungen unserer äußeren wie unserer inneren Wahrnehmungen; sie sind, wie wir uns, was wir wahrnehmen, erscheinen lassen. Das bringt den Aspekt der Verantwortung ins Spiel. Was auch immer wir wahrnehmen mögen, es ist unser Blick, unsere Sichtweise, unsere Wahrnehmungs-Entscheidung. Was wir hier in diesem Bereich entscheiden bzw. entschieden haben, können wir verändern; niemand kann uns letztlich zwingen, etwas auf eine bestimmte Weise und nur auf diese wahrzunehmen – nicht einmal wir uns selbst. Wo die Möglichkeit besteht, etwas (um-) zu entscheiden, besteht auch die Möglichkeit, etwas zu verändern. Das bedeutet: dafür die Verantwortung zu übernehmen, was man verändert oder ob man überhaupt etwas verändert, zum Beispiel an der eigenen Wahrnehmung. Ungeachtet aller lösungs- und resilienzorientierten Verfahren und unterschiedlich radikal gehandhabten konstruktivistischen Perspektiven ist nach meinem Eindruck die Macht und Möglichkeit des Wahrnehmens gerade auch im Hinblick auf Wahrnehmungs-Entscheidung und Wahrnehmungs-Verantwortung noch nicht deutlich genug im allgemeinen Bewusstsein angekommen. Ein sogenannter depressiver oder aggressiver Mensch – was auch sonst über ihn und sein Verhalten gesagt werden mag – hat sich dafür entschieden, sich und die Welt in einer bestimmten Weise wahrzunehmen, wenn er auch die Verantwortung für diese Entscheidung nicht selten auf andere und/oder seine Krankheit verschiebt. Gunther Schmidt hat in seinem hypnosystemischen Ansatz Wahrnehmung als autonome (und daher auch autonom zu verantwortende) Verkoppelungsleistung beschrieben, der eine bestimmte Aufmerksamkeitsfokussierung zugrunde liegt. Er hat dabei vorgeschlagen, statt von »Wahr-Nehmung« von »Wahr-Gebung« zu sprechen, da »jede Wahrnehmung autonom vom Wahrnehmer als Fokussierungsgeber selektiv gestaltet wird« (Schmidt, 2004, S. 181). Die Komponenten, die das Wahrnehmungserlebnis entscheidend mitgestalten und dadurch wesentlichen Einfluss darauf ausüben, wie etwas wahrgenommen bzw. was verkoppelt wird, könnte man in einer Graphik folgendermaßen darstellen:
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Vorlieben
Ziele
Empfindungen
Stimmungslagen
Intentionen das Wahrnehmungserlebnis wird beeinflusst durch
Gedächtnisinhalte
Vorstellungen
Befindlichkeiten
Werte
Aufmerksamkeitsvermögen Abbildung 5: Komponenten, die das Wahrnehmungserlebnis entscheidend mitgestalten
Wer sich mit seinem Wahrnehmungsvermögen beschäftigt, rückt sich in ein bestimmtes Verhältnis zu den, lateinisch gesprochen, data, capta und facta; also zu demjenigen, was gegeben zu sein scheint: den sogenannten Daten; demjenigen, was jemand sich aus diesen vermeintlichen Gegebenheiten herausnimmt, auf was er sich im Einzelnen kapriziert und demjenigen, was er damit anfängt, was er faktisch tut (facta oder die so sicher scheinenden, gänzlich »objektiven« Fakten leiten sich von dem Verb facere her, was tun, machen, verfertigen bedeutet; in diesem Fall ist die Etymologie sprechend). »Wahrnehmen bedeutet« – so der Leibphänomenologe Maurice Merleau-Ponty – »sich etwas mit Hilfe des Leibes zu vergegenwärtigen. Dabei hat das Ding immer seinen Ort in einem Welthorizont und die Entzifferung besteht darin, jede Einzelheit in die geeigneten Wahrnehmungshorizonte einzufügen« (Merleau-Ponty, 2003a, S. 83). Die Dimension des Leibes ist lange in den philosophischen Traditionen unterschätzt und innerhalb des ziemlich leibfeindlichen christlichen Abendlandes nicht selten unterdrückt worden. Der wahrnehmende Leib in seiner Doppelgestalt als zugleich etwas Inneres und etwas Äußeres, als Raum der konkreten wie der symbolischen Innenwelt sowie als unmittelbare Kontaktstelle zur und als Teil von der Außenwelt entziffert zuallermeist völlig richtig und erstaunlich präzise die ihn umgebenden Räume in ihrer Höhe, Tiefe, Größe und Weite, schätzt Entfernungen und Abstände aller Art genau ein und ab (was man an den doch relativ seltenen körperlichen Fehlleistungen, wie dem Vergrei© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Was heißt: »wahrnehmen«?
fen, Vertreten, dem Stolpern, Stürzen, Kollidieren etc., sehen kann) und sorgt dafür, dass weitgehend alles wie geschmiert läuft. Diese Selbstverständlichkeit des leiblich grundierten Orientierungsvermögens findet keine so reibungslose Entsprechung in der geistig-seelischen Dimension des Wahrnehmens. Da braucht man nicht erst die wahngetrübte Wahrnehmung des Fanatikers oder die des religiösen oder politischen Missionars zu bemühen, der es nicht aushält, dass andere etwas anderes wahrnehmen, etwas, das nicht seiner »wahren« Sicht der Dinge entspricht. Die Consensus-Realität, die gemeinsamen Anschauungen, der sogenannte common sense machen deutlich, dass Wahrnehmung ganz wesentlich etwas intersubjektiv Verabredetes ist. Getragen von der Bereitschaft vieler, Sinn, Ordnung, Struktur in etwas hineinzubringen, hineinzulesen, hineinzuinterpretieren, das dann die Gestalt einer gemeinsamen Welt ausmacht. Auf die Bereitschaft setzen politische wie religiöse Ideologen, rekurrieren Diktatoren oder Absolutisten jeglicher Couleur: Sie wollen, dass alle an dasselbe glauben, in dem Sinne und mit dem Effekt, dass alle dasselbe wahrnehmen. Wahrnehmbar ist das, in dem sich irgendein Sinn, eine Ordnung, ein Muster auffinden lässt, was Bekanntem, bereits Gesehenem irgendwie ähnlich oder mit diesem analogisierbar ist. Gelingt dies nicht so ohne Weiteres, so wird zur Not etwas konstruiert oder erfunden, wie Paul Watzlawick anhand der sogenannten contingent reward experiences41 aufgezeigt hat (Watzlawick, 1988, S. 147). Das Chaos als die völlige Unordnung wäre im strengen Sinne ebensowenig wahrnehmbar wie die Antimaterie, da es keine (früheren) Wahrnehmungen gibt, an die man in irgendeiner Weise anknüpfen könnte. 41 Diese hat Watzlawick im Gespräch mir gegenüber so erläutert: »[…] da wird eben – ganz planmäßig – eine Ordnung, besser die Fiktion einer Ordnung geschaffen. Und es stellt sich heraus, dass, wenn der Versuchsleiter der Versuchsperson dann erklärt, dass zwischen den Antworten der Versuchsperson und seinen Fragen überhaupt kein Zusammenhang bestanden hat, das für die Versuchsperson überaus schwer anzunehmen ist. Denn wer mit ziemlich intensiver Arbeit versucht hat, Sinn in einem scheinbaren Chaos zu finden, der gibt diesen gefundenen Sinn sehr ungern auf, wenn er sich als Unsinn herausstellt. Und wie gesagt, bei diesen Experimenten haben gewisse Versuchspersonen sogar den Versuchsleiter überzeugen wollen, dass das, was er für eine Unordnung hält, tatsächlich in Wirklichkeit eine Ordnung hat, die ihm, dem Versuchsleiter, entgangen ist« (aus einem unveröffentlichten Gespräch, das ich mit Paul Watzlawick im Oktober 1995 in München am Rande des Zweiten Europäischen Kongresses für Hypnose und Psychotherapie geführt habe). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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Das Wahrnehmenkönnen erscheint als – die – ursprüngliche Be wusstseinsqualität; was immer wir tun, denken, empfinden mögen, alles steht mit diesem elementaren Vermögen in direkter Beziehung, wird durch dieses überhaupt erst möglich. Berkeleys Maxime: »esse est percipi (Sein ist Wahrgenommen-Werden)« (Berkeley, 1979, S. 26) gilt in gleicher Weise für das Subjekt, das (sich) wahrnimmt; jegliches Selbstbewusstsein ist zum Gutteil Wahrnehmungs-Bewusstsein. Dabei ist und bleibt das Wahrnehmenkönnen, ungeachtet aller Anpassungsleistungen und intersubjektiven Verabredungen, eine sehr persönliche, geradezu einzigartige Bewusstseinsleistung. Es ist klar, dass mit dieser kurzen Charakterisierung einer so elementaren und komplexen Tätigkeit wie dem Wahrnehmen viele Aspekte des Themas nur angedeutet werden können. Andere – wie zum Beispiel der Aspekt der Projektion oder projektiven Wahrnehmung oder des Gewahrwerdens als Teil der Gestalterkennung und Gestaltbildung – müssen unberücksichtigt bleiben, nicht zuletzt aus Platzgründen.
Grundfragen zur Wahrnehmung Es ist mir an dieser Stelle vornehmlich darum zu tun, bewusstseinsbildend zu wirken, das heißt, ein Bewusstsein dafür zu wecken, sich gerade auch bei praktischen und pragmatischen Handlungen die Fragen vorzulegen: Was mache ich beim Wahrnehmen? Was heißt Wahrnehmen für mich? Was, glaube ich, kann mir meine Wahrnehmung zeigen? Eine Person, eine Situation, eine Organisation, wie ich sie sehen, wahrnehmen, wahrhaben will? Oder wie sie »wirklich« ist? Inwieweit vertraue ich meiner Wahrnehmung, baue ich auf sie?
Das Staunen – das primäre wie das sekundäre – als eine besondere Weise, die Welt zu sehen, enthält zwei wichtige Potentiale, die für das professionelle Handeln innerhalb der therapeutischen und beraterischen Kommunikation (aber nicht nur dort) von Bedeutung sind: 1. Das Staunen erzeugt ein Innehalten. Das wirkt wohltuend und perspektivenklärend. Es steht dadurch in unmittelbarer Beziehung zu der Art und Weise, wie wir die Welt wahrnehmen, was wir sicher von uns und den anderen zu wissen glauben, was wir erwarten. 2. Das Staunen macht damit eine der uns besonders selbstverständlichen Tätigkeiten – das Wahrnehmen – zum Thema. Was im Ein© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Was heißt: »wahrnehmen«?
zelnen auch den Anlass zum Staunen gegeben haben mag, es war etwas (äußerlich oder innerlich) Wahrnehmbares, etwas, zu dem ich wahrnehmend in Beziehung treten kann und das mir etwas über meine Art und Weise des Wahrnehmens aufzeigt. Und zwar so aufzeigt, wie es das Reflektieren über mein Wahrnehmen nicht vermag, nämlich intensiver, unmittelbarer, existentieller. So verstanden, erzeugt das Staunen eine besondere Art Metawahrnehmung, indem es das Bewusstsein nicht nur für die jeweilige Betrachtungsweise schärft, sondern uns aus dem normalen, durch Gewohnheiten anästhesierten Erleben weckt. Diese beiden Potentiale haben eine sehr nachhaltige Auswirkung auf unsere Wahrnehmungsgewohnheiten, also auf das, was uns ein stabiles und sicheres Gefühl für uns und unsere Umwelt vermittelt – was uns aber auch fixiert und unbeweglich machen kann. Bekanntermaßen ist es gerade Letzteres, was eine Grundlage für scheinbar unlösbare Schwierigkeiten schafft. Und so möchte ich diese grundsätzliche Besinnung über das Wahrnehmen mit einer Fallgeschichte und einer daraus abgeleiteten Übung beschließen, die das Potential des staunenden Wahrnehmens anschaulich, erlebbar und damit auch übbar macht. Es handelt sich dabei um ein Beispiel (erfolgreicher) WahrnehmungsVerschreibung. In einem Unternehmen, in dem erklärtermaßen ein sachlicher Umgangston herrscht, ist ein heftiger Konflikt zwischen zwei Mitarbeitern aufgetreten. Dieser Konflikt wird als »irgendwie« psychologisch beschrieben. Da es sich um zwei für das Unternehmen wichtige und angesehene Mitarbeiter handelt, die überdies noch vielfach miteinander kommunizieren müssen und die aufgrund bestimmter Sachkompetenzen und organisationeller Gegebenheiten nicht gut ausgetauscht werden können, hat sich die Personalleitung des Unternehmens entschlossen, den Konflikt gemeinsam mit den beiden Beteiligten (einer Frau und einem Mann) mit Hilfe von kommunikatologischen Methoden (wie Mediation und Supervision) zu bearbeiten und zu lösen. Doch ist man damit nicht viel weitergekommen als mit dem anfänglichen guten Zureden seitens anderer Mitarbeiter oder der Aufforderung der Personal- wie der Unternehmensleitung, Verständnis für die jeweils andere Seite zu entwickeln. Oder, falls dies nicht möglich sei, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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sich auf das rein Sachliche im Umgang zu beschränken und Persönliches möglichst gänzlich zu vermeiden oder gar zu ignorieren. Nach Meinung der Beteiligten war eben dies nicht möglich. Der Konflikt bestand in einer manifesten, wechselseitigen und zunehmenden Antipathie, welche die fachliche Kommunikation schwer beeinträchtigte und stellenweise sogar unmöglich machte. Da man mit dem Appell ans Einsichtsvermögen nicht weiterkam und direkte psychotherapeutische Anwendungen scheute, war man (seitens der Personalführung wie der Beteiligten) bereit – versuchsweise –, andere Vorgehensweisen zu erproben. Und da ein Mitarbeiter aus der Personalabteilung in einem Seminar bei mir für ihn gute und überraschende Erfahrungen mit den praktischen philosophischen Methoden gemacht hatte, entstand die Idee, diese Perspektiven heranzuziehen. Nach einem Vorgespräch machte ich den Vorschlag, die philosophische Kompetenz des Staunens in Gestalt einer Wahrnehmungs-Verschreibung zur Anwendung zu bringen. Dies stieß zunächst auf Widerstand und ungläubiges Zögern. Doch war man angesichts der festgefahrenen, wie erstarrt wirkenden Situation bereit, sich darauf einzulassen. Mein Interventionsvorschlag bestand in der vermeintlich einfachen Anweisung, den jeweils anderen so wahrzunehmen, als sähe man sie oder ihn zum ersten Mal und schenkte ihr oder ihm für einen Moment lang jene intensive, offene und gespannte Aufmerksamkeit, die man auf etwas, das einen stark interessiert, richtet. Dabei kann es einem anfangs durchaus bewusst sein, dass man nur so tut, als ob man gerade diesen Menschen, den man schon sehr häufig sah und erlebte, zum ersten Mal wahrnimmt. Ich empfahl für die Erprobung dieser ungewohnten Perspektive, gewissermaßen zur Erleichterung, Momente zu nutzen, wo einer der beiden Beteiligten gerade dabei ist, die Tür zu dem Raum zu öffnen, in dem der oder die andere sich aufhält, und den oder die Eintretende(n) wie etwas Neues, Unbekanntes, das jetzt zum ersten Mal auf mich zukommt, wahrzunehmen. Die Wirkung dieser Wahrnehmungs-Verschreibung war größer und nachhaltiger, als ich erwartet hatte. Zwar fingen die beiden Beteiligten nicht an, sich zu befreunden, doch begannen sie, »diese Art von Hinschauen« als für sie sinnvoll und nützlich zu erkennen und damit zu experimentieren. Denn wenn (wie früher) durch ihre starke, wechselseitige Antipathie ein Konflikt auszubrechen drohte, schob sich der andere, der verschriebene Blick wie dazwischen und milderte die © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Was heißt: »wahrnehmen«?
aufkeimende Auseinandersetzung spürbar. Das erstaunte sie und die anderen Mitarbeiter. Doch noch mehr erstaunte sie die Erfahrung, auf welche Weise man jemand (an)sehen kann und was man dann, gerade bei denjenigen, die man zu kennen glaubt, zu sehen bekommt.
Ich möchte Sie nun einladen, eigene konkrete Erfahrungen mit der wirklichkeitsverändernden Macht und Kraft des Staunens zu sammeln, damit ihre beruflichen wie persönlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten zu erweitern und sich als Wahrnehmenden anders kennenzulernen.
Der erste Blick Wählen Sie sich eine Person, die Sie besonders gut zu kennen glauben, bei der Sie über große Wahrnehmungserfahrungen verfügen, die ihnen suggerieren, dass Sie – nicht zuletzt wegen des Umfangs und der Differenziertheit ihrer Empirie mit gerade diesem Menschen – ihn so wahrnehmen können, wie dieser wirklich sei. Sie können diese hier vorgeschlagene Wahrnehmungsübung auch mit Personen durchführen, die Ihnen nach Ihrem Eindruck weniger vertraut und bekannt sind. Zu den besonders aufschlussreichen und in mehrerer Hinsicht erstaunlichen Erkenntnissen verhilft Ihnen jedoch dieser ganz andere Blick auf einen Ihnen gut Bekannten und Vertrauten. Sie können (falls Ihnen das angenehmer ist) zunächst mit einem Gegenstand, den Sie gut zu kennen glauben, Erfahrungen sammeln. Entscheidend ist, dass Sie dem anderen einen quasi ersten, einen anfänglichen Blick schenken und alles andere, was Ihnen irgend bekannt vorkommt, in den Hintergrund treten lassen. Da Sie sich zu diesem anfänglichen Blick immer wieder neu entschließen können, spielt es keine Rolle, wenn zunächst immer wieder Früheres, Bekanntes dazwischenkommt. Sie können sich von Mal zu Mal stärker auf diese gegenwärtige und sozusagen geschichtslose Wahrnehmung des anderen ausrichten. Sie können dabei erfahren, was es mit Ihnen macht, wenn Sie jemanden auf diese Weise wahrnehmen, ihn staunend so sein lassen, wie er Ihnen gerade erscheint, als reine Anwesenheit sozusagen. Sie können dabei erfahren, was Sie (oft ohne dessen gewahr zu werden) auf den anderen projizieren. Welche Gefühle, Gedanken, Erwartungen, Ängste, Wünsche, Vorurteile usw. Sie auf ihn richten, ihm zuschreiben, ihn geradezu damit »behängen«. Und Sie können dabei erfahren, was am anderen zutage tritt, sich zeigen darf, Ihnen vielleicht zum ersten Mal © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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Staunen: Eine Frage der Wahrnehmung
in den Blick kommt, was Sie nicht gewusst, nicht einmal geahnt haben, wenn Sie einen Ihnen scheinbar gut bekannten und vertrauten Menschen so wahrnehmen, als sähen Sie ihn gerade zum ersten Mal42 und betrachteten ihn aufmerksam und aufgeschlossen. Sie können, wenn Sie diese Wahrnehmungserfahrung vertiefen möchten, sich danach mit den Fragen beschäftigen: Was hat sich für mich an meinem Bild, meiner Ansicht, meiner Perspektive auf den anderen –– verändert, –– erweitert, –– konterkariert, –– ergänzt, –– verdeutlicht, –– verunsichert?
Die Methode der Wahrnehmungs-Verschreibung mag sich, wenn man noch keine eigenen Erfahrungen damit gesammelt hat, einfach, vielleicht sogar banal anhören. Doch erfordert sie, wenn man sich wirklich darauf einlässt, einigen Mut: den Mut zur Intimität. Die Einsichten und Veränderungsmöglichkeiten, die dadurch eröffnet werden, sind erstaunlich. Doch bedürfen sie der Bereitschaft, etwas bekannt und vertraut Erscheinendes, wie zum Beispiel einen anderen Menschen, einmal ganz anders wahrzunehmen.
Staunen und Wissen Wie anhand der Begriffsgeschichte aufgezeigt wurde, eignet dem Staunen etwas Anfängliches und Ursprüngliches. In seiner primären Form bildet es einen wesentlichen Teil der menschlichen Entwicklung. Für 42 Wer sich genauer für das Anfängliche bestimmter Begegnungsmomente interessiert, dem sei Ulrich Streecks »Auf den ersten Blick. Psychotherapeutische Beziehungen unter dem Mikroskop« (Streeck, 2004) empfohlen. Streeck filmte die ersten Momente von therapeutischen Situationen – das (spezifische) Betreten des Raums, den ersten, vieles vorwegnehmenden Blicktausch, körperliche Bewegungsmuster – und zeigte, wie voraussetzungsreich bereits im Nonverbalen die Grenzen von Begegnungsmöglichkeiten markiert werden. Eine gute Ergänzung zu Streecks »Mikroethnographie« bildet die Möglichkeit, mit bestimmten Kinderbüchern philosophisch umzugehen (Petermann, 2004), wie zum Beispiel mit dem intensiv staunenden Herrn Bohm (vgl. Cohen u. Landström, 1992). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Staunen und Wissen
jeden Weltneuling ist am Anfang seines Lebens zunächst alles unbekannt, unklar, unsicher, überwältigend, all seine Sinne und sein ganzes Bewusstsein herausfordernd – vielfacher und vielfältiger Anlass zum Staunen. Im Laufe der weiteren Entwicklung verwandelt sich dieses primäre Staunen allmählich in Erkanntes und Bekanntes; durch häufige Wiederholungen entstehen stabile Erwartungen und dadurch ein vermeintlich sicheres, erstes Weltwissen, wenn es auch weiterhin Dinge, Situationen und Erfahrungen gibt, die ihm die Augen weiten, den Mund offenstehen und den Atem anhalten lassen. Für Therapeuten, Berater, Coaches und Organisationsentwickler wie für ihre Patienten und Klienten eröffnet das Anfängliche und Ursprüngliche des Staunens die Möglichkeit – bevor man sich mit einer bestimmten Frage einem Problem, einer Herausforderung, einer Begegnung stellt – erst einmal zum Staunen zurückzukehren, also das Gefühl von Offenheit, Durchlässigsein, Zugewandtheit und gespannter Aufmerksamkeit in sich wieder aufzuspüren, das ehemals die Erfahrung des Staunens begleitet hat. Das ist vor allem anfangs nicht so leicht. Denn ab einem gewissen Alter kann man nicht mehr so staunen, wie man dies als Kind konnte. Es geht auch gar nicht darum, diese Reaktionsweise zu imitieren. Was es zunächst zu entwickeln gilt – will man diese philosophische Kompetenz für sich und seine Arbeit erschließen –, ist eine erhöhte Aufmerksamkeit beim Versuch, ins Staunen zu kommen. Denn dabei stellen sich nicht selten rasch Widerstände und Blockaden ein. Unser Wissen steht uns im Weg und versperrt den Zugang zu dieser vermeintlich naiven Weltwahrnehmungsweise. Es ist klar: Das Staunen, das wir als sogenannte Erwachsene praktizieren und erreichen können, ist ein wissendes, ein absichtsvoll herbeigeführtes, ein sekundäres, deswegen aber kein zweitrangiges, kein blasser Abklatsch früherer Wahrnehmungen und Empfindungen – im Gegenteil. Das sekundäre Staunen steht von Anfang an in einem intensiven Spannungsverhältnis zum Wissen, insbesondere zu demjenigen, das uns sicher, stabil, ja beinahe naturgesetzhaft erscheint; von dem wir sagen: »Das ist doch so … nicht wahr?!«, »Das ist doch logisch … oder?!« Es geht bei der Entfaltung dieser philosophischen Kompetenz darum, dieses unvermeidliche Spannungsverhältnis produktiv zu gestalten; es bildet eine wichtige Quelle der Erfahrung. Denn auf welche Weise, aus welchem Anlass, zu welchem Ziel wir auch immer staunen mögen, wir bekommen es – oft auf eine erhellende Weise – mit © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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unserem Wissen, genauer mit unserem Verhältnis zu unserem Wissen, unseren Wissenserfahrungen und Wissensbedürfnissen zu tun. Eine erste Wirkung (wenn man will, auch ein erster Erkenntnisgewinn) beim Versuch, eine staunende Haltung einzunehmen, besteht in einem erhöhten Bewusstsein für unser persönliches Wissensverhalten. Routinen, fixe Regeln und scheinbar eherne Gesetze beruhen auf einem bestimmten Umgang mit den Annahmen über die Welt wie über sich selbst. Weil wir etwas häufig oder immer so gemacht haben, weil wir uns stets so und so verhalten haben, meinen wir, wir müssten es weiterhin auf diese Weise tun. Das jeweilige Wissen über den anderen (Partner, Familienmitglied, Kooperationspartner etc.) oder ein bestimmtes Thema (zum Beispiel Strategien innerhalb einer Organisation) wird damit in einer Weise organisiert, die durch häufige Wiederholungen – sozusagen im Schmieröl der Geläufigkeit – den Anschein von Sicherheit, Handhabbarkeit, Planbarkeit vermittelt. Ohne Zweifel ist es ein Vorteil, gewisse Erwartungen zu haben. Und diese Erwartungen an die Organisation, an den anderen, an mich selbst beruhen auf Gewohnheiten. Ich kann doch (noch) sicher davon ausgehen, dass …?
Staunen und Hypothesenbildung Zu den wichtigsten therapeutischen Instrumenten systemisch arbeitender Therapeuten und Berater gehört das Arbeiten mit Hypothesenbildungen (was auch ein erhöhtes Bewusstsein für die Macht bestimmter Vorannahmen mit einschließt). Die Arbeit mit Hypothesenbildungen eröffnet eine epistemologische Brücke zur Philosophie und zeigt, wie stark gerade systemische Theorieelemente mit genuin philosophischen Herangehensweisen verbunden sind. Eine direkte Verbindung gibt es hier auch mit dem Staunen. Denn um sinnvoll mit Hypothesenbildungen arbeiten zu können, bedarf es eines differenzierten und kundigen Umgangs mit zwei wesentlichen Elementen: –– gute, das heißt weiterführende Fragen generieren und stellen zu können, –– Möglichkeiten und Perspektiven wahrzunehmen, die bislang nicht oder zu wenig gesehen und beachtet worden sind.
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Exkurs: Die Macht der Gewohnheit
Bei beiden Elementen kann gerade ein reflektierter Umgang mit dem Staunen als Metaperspektive dazu beitragen, dieses wichtige Werkzeug zu verbessern, geschmeidig zu halten und seinen Wirkungsgrad noch zu vergrößern. Denn wer damit arbeitet – ohne zu staunen –, gewöhnt sich schließlich daran. Und das hat Folgen. Um dies zu verdeutlichen, sei ein kurzer Exkurs eingeschaltet.
Exkurs: Die Macht der Gewohnheit Die Dinge sind wie sie sind, weil sie so waren, wie sie waren. Rupert Sheldrake, Die Gewohnheit der Natur
Gewohnheit kann, ganz allgemein, als eine häufig unbewusst gewordene Handlung (In welches Hosenbein steigen Sie morgens zuerst?) beschrieben werden, die alle Lebensbereiche betrifft und strukturierend auf sie einwirkt. So sprechen wir von bestimmten Bewegungs-, Verhaltens-, Ess-, Schlaf-, Trinkgewohnheiten wie auch von Kommunikations-, Glaubens-, Wahrnehmungs- und Denkgewohnheiten. Gewohnheiten sind oftmals tief in uns eingesenkt; das macht bereits die (deutsche) Sprache augenfällig. Wir wohnen gewissermaßen in unseren Ge-wohn-heiten; sie stellen so etwas wie unseren mobilen Wissens- und Verhaltensbesitz dar. Wir haben sie stets mit dabei. Sie bilden unser Lebens- und Erfahrungsgehäuse, mit dem wir in der Welt unterwegs sind. Daher galt das Reisen ja von jeher als horizonterweiternd, da es die Möglichkeit bietet, mitunter ganz anderen und andersartigen Gewohnheiten und Gewohnheitsbesitzern zu begegnen und dadurch – zumindest zeitweise – in einen gewissen Abstand zu den eigenen Gewohnheiten zu kommen und das vermeintlich Selbstverständliche des eigenen Verhaltens, Glaubens und Richtigfindens als etwas Gewordenes und nicht als etwas Selbstverständliches, eben als eine Gewohnheit erfahren zu können, bis man sich – bei entsprechender Verweildauer – auch daran wieder gewöhnt hat.
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Gewohnheiten erzeugen eine Art von »noopsychosomatischer«43 (Schmid, 2000, S. 150) Gravitation, von deren Anziehung wir uns nicht so leicht befreien können. Das weiß jeder, der versucht hat, sich von einer als schädlich erwiesenen Gewohnheit wie beispielsweise dem Rauchen oder Nägelkauen zu entwöhnen oder als zwingend empfundene, dabei aber sehr einschränkende Glaubenssätze wieder loszuwerden. Dass Gewohnheiten somit eine große Macht zukommt, wird wohl kaum jemand bestreiten; denn in gewisser Weise bedeutet menschliches Leben und Erleben: die Gewöhnung an (bestimmte) Gewohnheiten. Gewohnheiten suggerieren und strukturieren quasi natürliche Gegebenheiten wie bestimmte Muster, Lebensweisen, Bräuche, Traditionen, Rituale, Habitusformen, Zeremonien, Konventionen etc. Neben dem Nützlichen, das gerade Gewohnheiten ermöglichen, sind damit auch Assoziationen unfreiwilligen Verhaltens verknüpft, die sich in Begriffen wie Zwang, Maschine, Dressur, Marionette, Automatik, konditionierter Reflex etc. verlautbaren. Das Grundlegende und Komplexe dieses Themas wird deutlich, wenn man sich die Frage stellt: Gibt es etwas, das nicht (mehr oder weniger) mit Gewohnheiten zu tun hat, von ihnen imprägniert ist? Da wären als mögliche Gegenbegriffe Spontanität, Improvisation, das Plötzliche, Überraschende, das Unerwartete, Ungewöhnliche und eben auch das Staunen zu nennen. Diese spielen jedoch im Leben vieler Menschen wohl eine deutlich geringere Rolle als bewusste oder unbewusste Gewohnheiten. Menschlichen Gewohnheiten kommt, genau betrachtet, eine paradoxe Struktur zu, das heißt, sie können sich gleichzeitig lebenserleichternd wie lebensbeschwerend auswirken. Bedenklich werden sie dort, wo sie gänzlich unbewusst geworden sind, ein scheinbar natürliches Gepräge angenommen haben und es für den Betroffenen nicht mehr so leicht einschätzbar wird, wo eine Gewohnheit noch unterstützend und wo sie bereits schädigend wirkt. Man kann das so zuspitzen: Was wären wir ohne unsere Gewohnheiten – und was kann uns gefährlicher werden als diese? Bestimmte Gewohnheiten fundieren und etablieren unsere professionelle Identität. Sie nutzen und dienen uns bei unseren beruflichen Verrichtungen; ermöglichen vieles, was ohne sie so nicht möglich wäre. 43 Mit dieser Neubildung versucht Wilhelm Schmid den traditionellen Begriff der Psychosomatik zu erweitern, der Vorstellung der Dreigliedrigkeit des Menschen – Körper, Seele, Geist – zu entsprechen und eine zentrale Tätigkeit des Geistes – das Denken (griech. nous) – begrifflich anwesend zu machen. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Exkurs: Die Macht der Gewohnheit
Um sich dies klarer zu machen, als es oftmals geschieht oder bewusst wird, braucht man sich nur entsprechende Gewohnheitsgewinne vor Augen zu führen. Denn Gewohnheiten können –– Komplexitäten reduzieren, –– Aufmerksamkeit ökonomisieren, –– Kausalitäten erschaffen, –– das Erleben gliedern, –– Erfahrungsmöglichkeiten bahnen, –– Sicherheiten vermitteln, –– das Zukünftige erwartbar machen, –– das Identitätserleben unterstützen, –– den eigenen Stil prägen, –– das eigene Profil formen usw. Fast ist man geneigt, Gewohnheiten einen Subjektstatus zuzuschreiben oder wenigstens von bestimmten »inneren Personen« auszugehen. Im Ernst: Wer fühlt sich in der Lage, zwischen sich und seinen Gewohnheiten klar zu unterscheiden? Und da wohl ein jeder nicht nur konstruktive Regungen in sich wahrnimmt, so zeigen sich auch hier destruktive Tendenzen, lassen sich Gewohnheitsschäden ausmachen, wenn beispielsweise –– Komplexitäten holzschnittartig vereinfacht werden, –– Aufmerksamkeit soweit ökonomisiert wird, dass scheinbar Unnützes kaum mehr wahrgenommen werden kann, –– die Folgebeziehungen zwischen Ursache und Wirkung ausschließlich in bestimmter Weise beschrieben werden, –– das Erleben sich in starre Formen gliedert, –– Erfahrungsmöglichkeiten eingeschränkt und übertrieben gebahnt werden, –– der bloße Anschein von Sicherheit erzeugt wird, –– das Kommende und noch nicht Anwesende durch bestimmte Erwartungen fixiert wird, –– das Identitätserleben invalidisiert wird, –– der eigene Stil von bestimmten Konventionen diktiert wird, –– das eigene Profil durch frühere Muster überformt wird. Gerade was ein so schleichendes, allmähliches und die Aufmerksamkeit für sich selbst anästhesierendes Phänomen anlangt, so erscheint es – will man nicht als ein Gewohnheitsnarkotisierter leben – unabdingbar, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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kritische Metaperspektiven für das eigene Gewohnheitserleben zu entwickeln. Hierbei kann das Staunen – wie sonst kaum etwas – hilfreich und bewusstseinsbildend wirken, da im besonderen Bewusstseinsakt des Staunens alles, an das man sich gewöhnt hat, so dass es mitunter zu einer Art »zweiter Natur« (Blaise Pascal) geworden ist, wie neu wahrgenommen werden kann. Der Religionsphilosoph und Mathematiker Blaise Pascal beschäftigt sich in seinem Fragment gebliebenen Werk »Pensées« auch mit dem Phänomen der Gewohnheit, für die er den Begriff der zweiten Natur prägte. Darin veranschaulichte er anhand des Antagonismus »Automat« (gewohnheitsgesteuert, unbewusst) und »Geist« (wach für Gewohnheiten und deren Zustandekommen) die Macht der Gewohnheit: »Denn man darf sich nicht täuschen: wir sind ebenso Automat wie Geist, deshalb ist das eine Mittel zu überzeugen nicht allein der Beweis. Wie wenig bewiesene Dinge gibt es! Die Beweise überzeugen nur die Vernunft; die Gewohnheit macht unsere Beweise stärker und deutlicher, sie stimmt den Automaten, der den Geist, ohne daß er es merkt, mit sich zieht. Wer hat bewiesen, daß morgen Tag sein wird und daß wir sterben werden, und was gibt es, das mehr geglaubt wird? Folglich ist es die Gewohnheit, die davon überzeugt, sie macht so viele zu Christen, sie macht zu Türken, Heiden, die Berufe, Soldaten usw.« (Pascal, 1978, S. 252).
Durch die Gewohnheit kann Abwesendes anwesend gemacht werden. Das gilt nicht allein für zeittypische Realitätskonstruktionen, wie Pascal sie beschreibt: »Die Gewohnheit, den König von einer Leibwache, Trommlern, Offizieren und all dem Zeug umgeben zu sehen, was den Automaten in Schrecken versetzt, bewirkt, daß sein Antlitz den Untertanen, wenn er einmal allein und ohne Begleitung ist, Respekt und Schrecken einflößt; denn in Gedanken scheidet man seine Person nicht von dem Gefolge, das ihn gewöhnlich umgibt. Und die Menschen, die nicht wissen, daß diese Wirkung dieser Gewohnheit entstammt, glauben, sie entspringe einer übernatürlichen Kraft« (Pascal, 1978, S. 302).
Der schottische Philosoph und Historiker David Hume stößt bei sei© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Exkurs: Die Macht der Gewohnheit
nem Versuch, die Natur der Kausalität zu erforschen, auf die Macht der Gewohnheit; er kommt für sich zu dem Schluss, dass die Kausalität sich nicht unabhängig von dem, der sie beobachtet, nachweisen lasse, sondern einer bestimmten Erfahrungs- und Erwartungshaltung entspringe. Diese Einsicht Humes ist später für alle kybernetischen, systemischen und konstruktivistischen Ansätze entscheidend geworden. Gewohnheit kommt somit der Charakter einer subjektiven Kausalität zu und ist dann veränderbar, wenn das Subjekt bereit ist, sich zu verändern. In seiner »Untersuchung über den menschlichen Verstand« führt er dazu aus: »Ebensowenig ist es ein vernünftiger Schluß: bloß weil ein Ereignis in einem Falle dem anderen vorhergeht, deshalb sei das eine die Ursache und das andere die Wirkung. Ihr Zusammenhang kann ja willkürlich und zufällig und kein Grund vorhanden sein, das Dasein des einen aus dem Auftreten des anderen abzuleiten. […] anläßlich des beständigen Zusammenhangs zweier Gegenstände, z. B. Hitze und Flamme, Gewicht und Masse, werden wir allein durch Gewohnheit bestimmt, das eine beim Auftreten des anderen zu erwarten. […] Alle Ableitungen aus Erfahrung sind daher Wirkungen der Gewohnheit, nicht der Vernunfttätigkeit. […] So ist die Gewohnheit die große Führerin im menschlichen Leben. Dieses Prinzip ist es allein, das unsere Erfahrung uns nutzbringend gestaltet und uns für die Zukunft eine Kette gleichartiger Ereignisse erwarten läßt, wie die in der Vergangenheit aufgetretenen. Ohne den Einfluß der Gewohnheit blieben wir gänzlich in Unwissenheit über jede Tatsache, die über das unmittelbar dem Gedächtnis und den Sinnen Gewärtige hinausreicht. […] Die Gewohnheit ist dasjenige Prinzip […] welches […] notwenig ist zur Erhaltung unserer Art und zur Regelung unseres Verhaltens in allen Lagen und Vorkommnissen des menschlichen Lebens« (Hume, 1984, S. 55 ff.).
Das sekundäre Staunen des sogenannten Erwachsenen kann dank des ihm eigenen Aufstörungspotentials und einer gegensätzlichen Orientierung ein deutliches Bewusstsein für die Doppelnatur der Gewohnheit erzeugen und dazu beitragen, diesem wesentlich lebensmitbestimmenden Phänomen anders zu begegnen. Gewohnheiten und Erklärungen stehen in vielfacher Beziehung zueinander. Man hat sich zum Beispiel an bestimmte Erklärungen gewöhnt, da sich diese als besonders beru© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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higend, nützlich oder als strategisch sinnvoll erwiesen haben. So kann man sich zum Beispiel an die Erklärung gewöhnt haben, ein bestimmtes Gegenüber (Person, Team, Organisation) sei aufgrund verschiedener Vorerfahrungen, die man sich und anderen erklären kann, nicht mehr bereit, bestimmte Positionen aufzugeben. Diese Erklärung führt dann zu einer doppelten Stagnation. Weder muss sich das Gegenüber bewegen noch man selbst.
Staunen in der existentiellen Kommunikation Unabhängig davon, wie man seine therapeutische oder beraterische Tätigkeit versteht und praktiziert, handelt es sich dabei auch um eine existentielle Kommunikation, die zwar in Form, Inhalt, Intensität unterschiedlich ausfallen mag, jedoch diesen grundsätzlichen Bezug auch nicht völlig vermeiden kann (vgl. das Kapitel »Eine Notiz zur ›Existentiellen Kommunikation‹«). Eine Philosophische Praxis, die ihren Namen verdient, stellt so etwas wie den genuinen Ort für diese Möglichkeit dar. Doch auch Therapeuten, Berater und Coaches können davon profitieren und ihrem Tun eine grundsätzlichere Dimension verleihen. Die philosophische Kompetenz des Staunens ist dabei ein wichtiger Energie- und Perspektivengeber. Das betrifft vor allen die Bedeutung und die Wirkung, welche der Faktor der Gewohnheit in der therapeutischen oder beraterischen Arbeit hat (vgl. »Exkurs: Zur Macht der Gewohnheit«). Um mit diesem für das menschliche Leben äußerst wichtigen Faktor gut und sinnvoll umgehen zu können, lohnt es sich, sich mit dem (sekundären) Staunen vertrauter zu machen. Eine gute Voraussetzung dafür bildet gerade der sogenannte Alltag, den (meiner Beobachtung nach) nicht wenige Menschen nicht selten als grau, eintönig und erwartbar empfinden. Sie erleben offenbar vor allem Momente des »Nicht-Seins«, wie es die englische Romanautorin und Essayistin Virginia Woolf beschrieben hat. »Jeder Tag beinhaltet viel mehr Nicht-Sein als Sein […] Ein großer Teil jedes Tages wird nicht bewusst gelebt. Man geht, isst, sieht Dinge, kümmert sich um das, was zu tun ist; den kaputten Staubsauger; die Anweisungen fürs Dinner; schriftliche Anweisungen für Mabel; waschen; Essen kochen; buchbinden. Wenn es ein schlechter Tag ist, ist der Anteil des Nicht-Seins viel größer.« Auch als Kind »enthielten meine Tage also, genau wie heute, einen großen © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Staunen in der existentiellen Kommunikation
Teil dieser Watte, dieses Nicht-Seins. Woche um Woche […] verging, und nichts machte bleibenden Eindruck auf mich. Dann erfolgte, aus keinem mir bekannten Grund, ein plötzlicher Schock; etwas geschah so heftig, daß ich mich mein ganzes Leben daran erinnerte« (Woolf, 2012, S. 131 f.). Virginia Woolf nennt solche Augenblicke moments of being. In dem autobiographischen Text »A Sketch of the Past« (»Eine Skizze der Vergangenheit«), den sie gegen Ende ihres Lebens schrieb und in dem sie auch Fragen des Erinnerns und den Einfluss des Gedächtnisses auf das aktuelle Erleben und Bewerten der eigenen Person, des eigenen Lebens behandelt, sammelt sie auch einige – von außen betrachtet ganz unspektakulär wirkende – moments of being. Ein Beispiel: »Ich betrachtete das Blumenbeet an der Haustür; ›Das ist das Ganze‹, sagte ich. Ich betrachtete eine Pflanze mit weit ausladenden Blättern; und plötzlich erschien es mir ganz offensichtlich, daß die Blume Teil der Erde war; daß ein Ring umschloß, was die Blume war; und das war die wirkliche Blume; teils Erde; teils Blume« (Woolf, 2012, S. 132 f.). Der von Virginia Woolf geprägte Begriff moments of being stellt eine Sammelbezeichnung für Augenblicke außergewöhnlicher Gefühlsintensität und Bewusstseinsklarheit dar; sie enthalten Wahrnehmungen von großer Unmittelbarkeit, beinah eine Hyperbewusstheit, in die sich analytische Denkprozesse nicht bewertend oder zensierend einmischen. Bei den oftmals synästhetischen Erfahrungen bekommt die Alltagsrealität Ereignischarakter und die gewohnte Hierarchie von Erleben und Erkennen scheint momentweise wie aufgelöst. Solche moments of being bilden das Gegenstück zu gewohnten Erfahrungen und sind dadurch den Anmutungen und den inneren Bewegungen, die das (primäre wie das sekundäre) Staunen häufig begleiten, nahe. Eine weitere Verwandtschaft besteht zu den sogenannten mystischen Erlebnissen, die ein Erforscher der Kabbala wie Gershom Scholem als »im Grunde gestaltlose Erfahrungen« beschrieben hat, die in dem Moment, in dem man sich reflektierend darüber klar zu werden und sie in Sprache oder konventionelle Symbole und Bezüge zu übersetzen versucht, stets nur einen »Näherungswert« erhalten (Scholem, 1989, S. 15 f., 20), der das Eigentliche, das Besondere einer solchen Erfahrung eben nicht ausdrücken kann. Auch wenn sie – wie im Beispiel von Virginia Woolf – banal und wenig außergewöhnlich erscheinen. Charakteristisch für all diese Erfahrungen ist der Umstand, dass die das Alltagsdenken (das »Nicht-Sein«, um mit Virginia Woolf zu reden) kennzeichnende Subjekt-Objekt-Spaltung teilweise wie auf© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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gehoben wirkt.44 Das Ich bleibt durchaus ein die Welt betrachtendes Ich; nur handelt es sich hier nicht mehr um ein gewohntes, gegenständliches Betrachten. Paradox gesprochen: Es ist ein subjektgebundenes Wahrnehmen, ohne dabei subjektiv zu sein. Diese Erfahrungen können mit einem (sprachlich nur sehr andeutungsweise ausdrückbaren) Empfinden von Einssein einhergehen; mit dem von Sigmund Freud bezeichneten »ozeanischen Gefühl«. In einer Weiterentwicklung der psychoanalytischen »gleichschwebenden Aufmerksamkeit« zu einem »Hören mit dem dritten Ohr« (Reik, 1976, S. 163 ff., vgl. auch das Kapitel »Was kann ein Mensch?«) hat Theodor Reik einen ungewöhnlich offenen Welt- und Menschenzugang therapeutisch zu verwenden versucht, ohne dabei einer Sei-spontan-Paradoxie zu verfallen. Zwischen Reiks durchlässiger Wahrnehmungskonzeption und einem entwickelten sekundären Staunen gibt es manche Parallele. Ein mit Seinsfragen beschäftigter Psychologe wie Abraham Maslow hat solche existentiellen Momente als »peak experiences« (Gipfelerlebnisse) beschrieben und untersucht (Maslow, 1964). Und der Psychiater Silvano Arieti spricht von »endozeptuellen Erfahrungen« (Arieti, 1976, S. 54).45 Als weitgehend unvoreingenommenes Registrieren eines sich selbst betrachtenden Geistes gibt es auch Verwandtschaften mit einer Praxis des Metastaunens.
Moments of being Kennen Sie in Ihrem Leben solche moments of being, in denen sich die Welt und Ihr Leben unvermittelt ganz anders dargestellt hat? Lassen Sie sich etwas Zeit, sollte Ihnen beim ersten Erinnern nichts Entsprechendes einfallen. Für den Fall, dass Sie derlei noch nicht erfahren haben oder sich nicht daran erinnern können, so etwas erlebt zu haben, vergegenwärtigen Sie sich Momente Ihres Lebens, in denen Sie völlig überrascht worden sind, in denen Sie etwas erlebt haben, das Ihnen die Augen weit und den 44 Virginia Woolf hat in ihrem formal komplexesten Roman »Die Wellen« im Schlussmonolog der Figur Bernard ein nahezu »ich-loses Sehen« (Wenner, 1998) zu beschreiben versucht, bei dem Wahrnehmen, Erleben und Reflektieren nahezu in eins fallen (vgl. Woolf, 1991, S. 185 ff.). 45 Arieti hat diesen Terminus in Analogie zu engl. concept gebildet. Endozepte seien, Arieti zufolge, gestaltlos (vgl. Scholem, 1989) und daher sprachlich-kognitiv kaum mitteilbar und allein über die Empathie oder analoges Erleben zugänglich. Sie stellten Funktionen einer amorphen Kognition dar, die sich weitgehend nicht sprachlich, sondern un- oder vorbewusst vollziehe (vgl. Arieti, 1976). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Staunen in der existentiellen Kommunikation
Mund offenstehen ließ, wo Ihnen (wie man sagt) alles aus dem Gesicht fiel. Bringen Sie sich in einen Spürzugang zu dieser Erfahrung und nutzen Sie diese Erinnerung daran als persönlichen inneren Kompass, als einen Richtungshelfer für Ihre Praxis des Staunens. Die Erkenntnisqualität, die Sie bei starkem und nachwirkendem Überraschtwerden erlebt haben, kann die affektive Basis dafür bilden, die durch den Gewohnheitsblick entschärfte und schal gewordene Alltagswelt ganz anders wahrzunehmen.
Es ist klar, dass sich moments of being oder vergleichbare Erfahrungen nicht willentlich herbeizwingen oder durch bestimmte Erkenntnisrezepte »zusammenbauen« lassen. Ähnlich wie bei der meditativen Praxis geht es um ein geduldiges Üben, verbunden mit einer entsprechenden Bewusstseinsentscheidung und dem Wissen um eine asymptotische Ausrichtung. Es geht darum, sich von der Erfahrung des Lebens und Lebendigseins offener berühren zu lassen, wenngleich mir auch immer wieder Menschen begegnet sind, die mir in ihrem Ehrgeiz, sich verbissen in einen höheren Bewusstseinszustand zu meditieren, wie Erleuchtungsgestresste vorgekommen sind. Die polnische Lyrikerin Wisława Szymborska (die in vielen ihrer Gedichte auf poetische Weise philosophiert) verweist in ihrer Nobelpreisrede auf das Autonomiestiftende einer entwickelten Staunens-Bewusstheit. »Die Welt – was immer wir über sie denken, eingeschüchtert von ihrer gewaltigen Größe und unserer Ohnmacht, empört über ihre Gleichgültigkeit gegenüber dem einzelnen Leiden von Mensch, Tier und vielleicht auch Pflanze (denn woher nehmen wir die Sicherheit, dass Pflanzen nicht leiden), über ihre Räume, die die Sterne umstrahlen, um welche wiederum längst entdeckte Planeten kreisen, längst tote? noch tote? Das wissen wir nicht. Dieses unermessliche Schauspiel, für das wir zwar eine Platzkarte besitzen, deren Gültigkeit lächerlich kurz ist, ist von zwei entscheidenden Daten begrenzt; was immer wir von dieser Welt denken – sie macht uns staunen. Im Begriff ›Staunen‹ steckt jedoch eine logische Falle. Wir bestaunen schließlich das, was von bekannten, allgemein anerkannten Normen abweicht, von der Selbstverständlichkeit, die wir gewohnt waren. Eine selbstverständliche Welt aber gibt es überhaupt nicht. Unser Staunen ist autonom und ergibt sich aus keinem Vergleich« (Szymborska, 1997, S. 13). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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Das Staunen als bewusst induzierte Haltung macht einem die Ränder der verschiedenen »Realitätsbrillen« deutlicher, durch die wir die Welt – en gros wie en détail – beständig betrachten. Das gibt uns die Möglichkeit, das vermeintlich sichere, durch gewohnte Wahrnehmungen anscheinend dauernd bestätigte Wissen über sie dort, wo dieses in Erstarrung übergeht, zu verflüssigen. So verstanden, bildet das Staunen einen Agenten des vorsichtigen Wissens und leistet seinerseits einen wichtigen Beitrag zur Klärung der eigenen Erklärungsbedürftigkeit – gerade in den verschiedenen Begegnungsmöglichkeiten der therapeutischen oder beraterischen Kommunikation. Aus diesem Grund verdiente das philosophische Staunen als wichtige Basiskompetenz nicht allein in die Ausbildungscurricula von Systemaufstellern46 aufgenommen zu werden. Wer sich mit dem Ins-Staunen-Kommen schwertut oder fürchtet, dadurch für naiv und unwissend zu gelten, kann Kindern und ihrer Art des Fragens nach den vermeintlich selbstverständlichen Dingen seine Aufmerksamkeit zuwenden. Ernst Bloch hat das anscheinend getan und dabei herausgefunden: »so frisch und auf keinen Fall angelesen oder bereits abstrakt, gehören Kinderfragen nach der Zeit hierher, der Zeit, die, wie gesagt wird, alle Dinge zerstört, also auch dies Ding hier, das dem Kind auffällt, den Reifen eines alten Wagens. Der verrostete Reifen ist schon Frage genug, nun aber geht sie auch noch auf die Zeit, die den Reifen zerstört habe: Was ist die Zeit? Und die lösende, nicht lösende Kinderantwort, Staunensantwort kommt dazu: Die Zeit ist eine Uhr ohne Ziffern« (Bloch, 1970, S. 16 f.).
Das Staunen als atmosphärischer Gast Die Übung versteht sich als eine Möglichkeit, das Staunen innerhalb Ihrer therapeutischen oder beraterischen Kommunikationen – intensiver, anders oder vielleicht erstmals – vorkommen zu lassen. Da es selbst in einem scheinbar so übersichtlichen Rahmen, wie dem Einzelsetting oft nicht leicht ist, sich das, was man sich möglicherweise im Vorfeld vorgenommen hat, auch wirklich umzusetzen und sich nicht von dem Mitgebrachten des Patienten oder Klienten ablenken oder davon wegführen zu lassen, andererseits aber auch für das Aktuelle offen zu bleiben, 46 Vgl. hierzu Stölzel, 2010a, S. 10 f., sowie das Phänomenologiekapitel in »Fragen – Lösen – Fragen. Philosophische Potentiale für Therapie, Beratung und Organisationsentwicklung« (Stölzel, 2013). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Staunen in der existentiellen Kommunikation
erweist es sich als hilfreich, drei Momenten der gemeinsamen Arbeit eine besondere/eigne Aufmerksamkeit zu schenken: 1. Anfangssequenz: Das ist der Augenblick, in dem der andere den Raum des Gesprächs oder der Behandlung betritt. Die Tür wird – im wörtlichen wie übertragenen Sinn – für den anderen geöffnet. Es ist der Moment der ersten, bewussten und oft besonders aussagekräftigen Begegnung. Wie bei einem Bild, das man als Totum, als spezifische Ganzheit, auf einmal wahrnimmt, steht alles, wie es gerade erscheint, sich zeigt, auch in dem, was gerade heute, gerade jetzt möglich ist, vor einem, einem gegenüber. Das ist der Moment, in dem man das Staunen mit eintreten lassen kann. Es bleibt dabei offen, ob das Staunen als eine nur für Sie sichtbare »Person« mit hereinkommt oder als eine bestimmte, nur für Sie wahrnehmbare »Energie«. Es kann auch eine Art von (Haus-)Tier sein, das vielleicht neben Ihnen, dem anderen oder zwischen Ihnen Platz nimmt. Wichtig ist, wie sich durch das Auftreten des Staunens gleich zu Beginn der Therapie, des Coachings oder der Beratung Ihre Wahrnehmung verändert. Hinsichtlich des anderen (den Sie vielleicht schon mehrfach gesehen haben oder der Ihnen heute zum ersten Mal vor Augen tritt); hinsichtlich des (dialogischen) Raumes, den Sie gemeinsam mit Ihrem Patienten oder Klienten bilden; wie hinsichtlich des (örtlichen) Raumes, in dem diese Kommunikation jetzt stattfindet. Achten Sie darauf, welche Wirkung die Anwesenheit des Staunens auf den Beginn der gemeinsamen Arbeit hat. Welche Themen und Aspekte durch das Staunen (erst) hervorgeholt werden. Wie Sie sich fühlen, wenn das Staunen als Person, Energie, Perspektive etc. mit dabei ist. Welche Auswirkung dies auf Ihre professionelle Identität hat sowie auf das, was Sie am anderen zu erkennen, was Sie an ihm wahrzunehmen glauben. 2. Hagazussa47-Position: Diese kann zu einem zeitlich nicht festgelegten 47 Hagazussa ist ein althochdeutsches Wort für Hexe, das in seiner Grundbedeutung die Zaunreiterin oder Zaungästin bezeichnet. Der erste Wortteil Hag- steht für das Gehöft, dessen Rand, Zaun ein genuiner Ort für die Hagazussa war. Im übertragenen Sinn ist ein Zaungast jemand, der oder die sich (innerlich) an den Rand einer Situation oder Konstellation bringen und dadurch leichter eine Metaperspektive auf das Geschehen einnehmen kann; jemand, der oder die sich gewissermaßen in zwei Welten zugleich aufhält; Teilnehmer einer bestimmten Situation oder Konstellation ist und zugleich (quasi außenstehender) Betrachter des Geschehens. In gewissem Maße ist diese Position Teil einer professionellen Identität (vgl. den Unterschied der Kommunikation mit Freunden oder Bekannten). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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Moment, also in der Anfangsphase, der Mitte oder gegen Ende der Therapie, des Coachings oder der Beratung wahrgenommen werden. Sie sollte nur nicht gleich zu Beginn oder unmittelbar vor dem Ende, sondern zu einem Zeitpunkt erfolgen, wenn man bereits eine gewisse Zeit miteinander im Austausch stand und sich eine gewisse Dynamik gezeigt hat. Bringen Sie sich dafür (innerlich) in einen erkennbaren, spürbaren Abstand zum Geschehen, so als nähmen Sie für einen Moment auf einem Zaun Platz. Betrachten Sie von dieser Position aus, was durch die Anwesenheit des Staunens bewirkt worden ist (vielleicht im Unterschied zu früheren Sitzungen, als das Staunen noch nicht mit dabei war). Beachten Sie, wie Ihre Wahrnehmung des anderen jetzt ausfällt, wenn das Staunen mit dabei ist. Welche Perspektiven, Impulse, Bewertungen sich bei Ihnen einstellen. Was Sie jetzt für möglich halten. Welche Atmosphäre zwischen Ihnen und Ihren Patienten oder Klienten und in dem Raum ist, in dem Sie sich und das Staunen befinden. 3. Schlusssequenz: Das ist der Übergang zum konkreten Ende, der länger oder kürzer ausfallen kann, aber von der Dynamik her einen erkennbaren Unterschied zu anderen Phasen des Gesprächs oder der Behandlung bildet. Dieser Übergang erreicht in der Verabschiedung seinen Endpunkt und nicht selten auch seinen Zenit. Es ist der Moment, an dem etwas, das über das Gespräch hinausweist und/ oder das Stattgefundene zusammenfasst oder pointiert, zur Sprache kommt. »Das Wesentliche« – merkt ein existentieller Denker wie Emil M. Cioran (mit der ihm eigenen Zuspitzungslust) an – »taucht oft erst am Ende eines langen Gesprächs auf. Die großen Wahrheiten werden an der Türschwelle gesagt« (Stölzel, 1998a, S. 49). Ob es sich nun um große, mittlere oder kleine »Wahrheiten« handelt, nehmen Sie in diesem Moment wahr, was die Anwesenheit des Staunens mit hervor- und zu Bewusstsein bringen hilft. Wie Sie sich und den anderen jetzt wahrnehmen. Welche Wirkung das Staunen auf das hatte, was stattgefunden hat, was möglich war, was geklärt worden ist.
Die staunende Organisation Um die philosophische Kompetenz des Staunens sinnvoll für eine Organisation entwickeln zu können, sind bestimmte Vorklärungen nötig. Als Erstes gilt es herauszufinden, wie es um die Motivation angesichts einer wohl für viele zunächst fern liegenden Perspektive – wie dem Staunen © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Staunen in der existentiellen Kommunikation
innerhalb der Organisationsrealität – bestellt ist. Ob die Organisation aus verschiedenen Gründen so stark unter (Handlungs-)Druck steht, dass auch zunächst ungewöhnlich erscheinende Möglichkeiten erprobt werden sollen, vielleicht weil andere Vorgehensweisen nicht oder nur teilweise den erwünschten Erfolg gebracht, die erhoffte Wirkung gezeigt haben. Oder ob es sich um eine sehr aufgeschlossene, neugierige Organisation handelt, die offen für Experimente ist und gerade ungewöhnliche Optionen bevorzugt. In mehrfacher Hinsicht erscheint es daher günstig, auf den Aspekt des Experimentellen als atmosphärischen Indikator zu fokussieren. Dadurch kann eine hilfreiche Prozessoffenheit am besten gewährleistet und zugleich verhindert werden, dass sich in verschiedenen Teilen der Organisation die Vorstellung bildet, man müsse jetzt künstliche, scheinbar praxisferne Haltungen einnehmen und sich entsprechend verkrampfen. Auch zeigen sich – besonders unter Druck stehende – Menschen gegenüber der Offenheit, die das Experimentelle mit sich bringt, aufgeschlossener als gegenüber Konzeptionen, die bereits im Vorfeld zu viel versprechen. Man kann erst einmal (einfach) etwas ausprobieren, muss noch nichts richtig machen, kann aus dem Vollen schöpfen, bislang Unbenutztes, Nichtverwendetes entdecken und sich (mitunter) sogar lustvoll erschließen. Da aufgrund seiner anthropologischen Ausstattung nahezu jeder Mensch über philosophische Kompetenzen verfügt, wenn er auch in unterschiedlicher Bewusstheit und Intensität staunend, humorvoll/bewusst, mutig oder skeptisch agiert und reagiert, kann an dieses Vorauswissen und Vorauskönnen dann in einer für die Organisation weiterführenden Weise angeknüpft werden, wenn die philosophischen Perspektiven und lebensdienlichen Bezüge genauer erläutert (vgl. »Begriffsgeschichten«) und Teile der Elemente eines persönlichen Staunens-Profils aufgegriffen und beantwortet worden sind. Das schafft bei allen anregenden und den weiteren Prozess vielschichtig haltenden individuellen Unterschieden/Voraussetzungen im Umgang mit den einzelnen Kompetenzen eine tragfähige Gemeinsamkeit. Von dieser Basis aus, kann dann gut mit einer Organisationsentwicklung begonnen werden.
Orte des Staunens in der Organisation 1. Erarbeitung organisationsspezifischer Fragemanuale und Forschungssonden: Ausgehend von den drei nachfolgenden Grundfragen können weitere, das Individuelle einer bestimmten Organisation berücksichti© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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gende und auf die jeweiligen Organisationsbedürfnisse abgestimmte Fragen und Perspektiven als Klärungshilfen erarbeitet werden. Die Grundfragen, von denen auszugehen ist, lauten: Was würde eine entwickelte philosophische Kompetenz des Staunens der Organisation nützen (können)? Wie könnte diese sinnvoll in die Organisation integriert werden? Wo müsste sie, im Interesse der Organisation, begrenzt werden? Verkörperungen und Wechselwirkungsprozesse: Hier gilt es zunächst zu ermitteln, wer oder was innerhalb der Organisation könnte die Kompetenz des Staunens (besonders) gut verkörpern oder vertreten. Nachdem die Verkörperer und Vertreter entsprechend identifiziert, gewertschätzt, beauftragt und bereits staunend tätig geworden sind, sollten sie gerade mit den Teilen der Organisation in Austausch treten, die (sozusagen von Hause aus) mit dem Staunen nichts am Hut haben, mit dieser Kompetenz wenig anfangen können und es auf diese Weise möglich machen, einander im Austausch zu relativieren. Denn dieser – am besten in Abständen supervidierte – Austausch kann so dafür sorgen, dass bestimmte Seiten der Organisation nicht zu »staunenslastig« werden. Dadurch wird überdies eine verträgliche Kultur des Staunens innerhalb der Organisation entwickelt. Strebt man hier so etwas wie ein Rundwachstum an, dann kann man es machen wie der bekannte, gelegentlich fast hypnotherapeutisch arbeitende russische Regisseur und Schauspiellehrer Konstantin Stanislawski, von dem berichtet wird, er habe häufig übungshalber Hauptrollen mit schüchternen und vermeintlich ausstrahlungsschwachen Schauspieleraspiranten besetzt, während er dominant wirkenden, stark in den Mittelpunkt strebenden Anwärtern eher unbedeutende Nebenrollen oder Komparsenfunktionen gab. Auf diese Weise trug er dazu bei, Schauspieler zu einem größeren und ausgewogeneren Rollenspektrum anzuregen. Visualisierungen und Analogien: Um ein deutlicheres Bewusstsein für potentielle und günstige Ort(e) zu bekommen, die eine Kompetenz des Staunens innerhalb der Organisation einnehmen kann, in der oder für die Sie arbeiten, erweisen sich graphische Vergegenwärtigungen als sehr hilfreich. Dabei ist ein doppelte Perspektive einzunehmen:
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Staunen in der existentiellen Kommunikation
Tabelle 2: Perspektivenvergleich
Die Perspektive der Organisation
Die Perspektive des Individuums
die Organisation als Körper
der Körper als Organisation
–– Aus wie vielen Teilen, Bereichen besteht die Organisation, in der oder für die Sie arbeiten? –– Welche davon erscheinen Ihnen besonders wichtig? –– An welchen organisationellen Orten bzw. Leibesregionen hätte das Staunen einen guten, geradezu organischen Platz? • Im Kopfbereich und den Sinnesorganen dieser Region? • In den Extremitäten, die Handlungsfähigkeit und Bewegung gewährleisten? • In der fundamentierenden Fußregion? • Oder in der zentralen Region des Rumpfes, beispielsweise im Herzbereich?
Ein Tag des Staunens Regen Sie die Organisation, in der oder für die Sie arbeiten, dazu an, probeweise an einem ganz normalen Tag eine bestimmte philosophische Kompetenz – wie zum Beispiel das Staunen – stärker mit einzubeziehen oder zu akzentuieren. Damit die Wirkung nicht durch Verkrampfung oder künstliches Verhalten geschmälert wird, empfiehlt es sich, den Experimentcharakter dieser Maßnahme zu betonen oder, falls nötig, wieder in Erinnerung zu rufen. Es geht darum, dass etwas – wie zum Beispiel das Staunen – hinzugenommen, hineingegeben wird, so, wie sich die Organisation als System, um sich zu erhalten, Energie zuführt oder sich durch andere (von außen kommende) Ideen, Konzepte etc. anregt, anreichert, überprüft und erweitert und damit die Selbstregulierung verbessert. Es ist auch möglich, dass durch diese Maßnahme, die bereits in der Organisation vorhandene und unterschiedlich intensiv praktizierte (vielleicht unter einem anderen Namen stehende) Kompetenz des Staunens anders ins Gewahrsein kommt, gewürdigt wird und dadurch im Dienste der Orga© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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nisation planvoller und effektiver eingesetzt werden kann. Damit ein solcher Tag in einer für die Organisation nützlichen Weise durchgeführt werden kann, hat es sich als sinnvoll/gut erwiesen, auf Folgendes zu achten: –– Welche Gewohnheiten tragen und stabilisieren die Organisation – was passiert gewöhnlicherweise in ihr? Nutzen Sie diesen heuristischen Modus, die Kompetenz des Staunens, wie eine mit speziellen Wahrnehmungssensoren ausgestattete Kamera, durch die Sie blicken, durch die Ihre vertraute berufliche Umgebung ganz anders aufgefasst werden kann, durch die die organisationellen Kommunikations-, Entscheidungs- und Funktionsprozesse wie etwas Fremdes, Unbekanntes betrachtet werden können; wie etwas, bei dem Sie sich wundern, dass es genau so abläuft, wie Sie es jetzt wahrnehmen. Nutzen Sie die Möglichkeit, mit Hilfe des Staunens alles wie neu wahrnehmen zu können. –– Finden Sie heraus, wie Ihnen die Organisation erscheint. Sehen Sie diese eher als Maschine oder als Organismus, als Gehirn, als ein System, in dem eine bestimmte Kultur verwirklicht werden soll, als Fließund Wandlungsgeschehen oder vor allem als Machtinstrument oder gar als eine Form des Gefängnisses an? Welche Rolle, Funktion üben Sie/würden Sie gerne in der Organisation ausüben? –– Lassen Sie sich immer mal wieder im Laufe des Tages von (Ihrem) Staunen interviewen. Welche Fragen könnte es Ihnen stellen? Wozu würden Sie gerne befragt werden? Worüber könnten Sie am besten berichten? –– Versuchen Sie mit Hilfe des Staunens zu ermitteln, wie die Organisation sich selbst betrachtet, beschreibt. Wer (innerhalb der Organisation) diese Selbstbeschreibung mit welchen Mitteln und zu welchem Ziel durchführt.
Sich vom Staunen erholen Die Kontrahaltung der Gewohnheit als Chronifizierungsvermeider nutzen: Einige Hinweise und Tipps Es könnte sein, dass Ihnen die vielfachen und vielfältigen Aufforderungen und Anleitungen, Ihre Fähigkeit zum Staunen zu einer philosophischen Kompetenz weiterzuentwickeln, allmählich auf die Nerven gehen und sich in Ihnen der Wunsch regt, damit (zumindest eine Zeitlang) zu © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Grenzen des Staunens
pausieren. Eine wirksame Möglichkeit, dies zu tun, besteht in einer konstanten Orientierung an der Gewohnheit, an Gewohnheiten, am Gewöhnlichen. Und das stellt sich konkret so dar: 1. Blicken Sie stets auf das Bekannte, verlässlich Wiederkehrende, Vertraute, durch seine Wiederholung und sein sicheres Eintreten fast schon gewiss Gewordene. Richten Sie sich bei allem, was Ihnen begegnet, was Sie denken, was Sie empfinden, was Sie vorhaben oder wollen, ganz darauf aus. 2. Nehmen Sie fest in Ihren Gewohnheiten Platz wie in einem sicheren Gehäuse, aus dem niemand Sie vertreiben kann. Ignorieren Sie Ausnahmen, Widersprüche, plötzliche Impulse oder Eingebungen aller Art, denn durch deren unvermitteltes Auftreten lässt sich eben nicht sicher sagen, wohin diese Sie (ver-)führen. Die Gefahr, dadurch auf Abwege zu geraten und Neuem und Unbekanntem begegnen zu müssen, ist groß und keinesfalls zu unterschätzen. 3. Lernen Sie den Wert der Routine viel mehr als bislang schätzen. Üben Sie Zurückhaltung allem gegenüber, das Sie davon abbringen kann, die vertrauten, fest eingefurchten Wege nicht zu verlassen. Sie ersparen sich viel Ärger damit! 4. Vertraute Gedanken, eingeübte Reaktionen, Methoden, an die man sich gewöhnt hat, sind die besten und zuverlässigsten Freunde, die man im Leben haben kann. 5. Halten Sie sich von Menschen fern, die ständig neue Ideen haben! Gibt es denn etwas Unseriöseres als die ständige Bereitschaft zur Veränderung? 6. Alles ist dauernd in Bewegung; nichts bleibt, wie es einmal war? Na und? Bleiben Sie sich treu und trotzen Sie jedem Impuls, flexibel und situationsgerecht zu handeln. Sorgen Sie dafür, dass man wenigstens mit Ihnen keine Überraschungen erleben muss, denn: Was einmal galt, soll immer gelten!
Grenzen des Staunens Eine philosophische Kompetenz kann nach meiner Erfahrung desto besser eingesetzt und wirkungsvoller verwendet werden, je bewusster und differenzierter ein methodisch entwickelter Abstand dazu vorhanden ist. Anders gesagt, wenn es zu dem Staunen auch noch ein Meta© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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staunen gibt. Letzteres erweist sich als sehr hilfreich im Umgang mit der Selbstübertreibungstendenz48, die sich besonders nach erfolgreichem Gebrauch dieser wie auch der anderen Kompetenzen leicht einstellen kann. Gerade ein blind aufgestacheltes Staunen vermag eine Form der Begeisterung zu erzeugen, welche die eigene Existenz in einem zwar hellen, leuchtenden, aber auch monochromen Ton erscheinen und dabei andere Töne, die auch zum Leben gehören, untergehen lässt. Diese unreflektierte Form kann in ein »blödes Staunen« (Daston u. Park, 2002) übergehen. Um Sie zu einem entsprechenden Metabewusstsein – das heißt hier einem Metastaunen – anzuregen bzw. ein bereits bestehendes zu schärfen, empfehle ich einen kleinen Selbsttest.
Grenzen des Staunens Legen Sie sich die Frage vor, wo und wodurch für Sie ein weiterführendes, blicköffnendes, neue Perspektiven und Wahrnehmungs-Möglichkeiten ins Gewahrsein bringendes Staunen aufhört. Wann und weswegen es Ihnen nicht mehr angezeigt scheint. In welchen Situationen oder bei welchen Themen dies für Sie der Fall sein kann. Sie erhalten auf diese Weise auch eine deutliche Wahrnehmung für die Vorteile und den Nutzen, den eine Orientierung an der Gewohnheit mit sich bringen kann. Denn gemäß der Informationstheorie entsteht Information durch die Bildung von Unterschieden. Und je mehr und je feinere Unterschiede es gibt, desto mehr Informationen entstehen bzw. können generiert werden. Denn, wo keine Unterschiede gemacht werden können, gibt es keine Information und ohne Information können wir nichts erkennen. »Information. Jener Unterschied, der einen Unterschied macht«, wie es im Glossar von Batesons »Geist und Natur. Eine notwendige Einheit« heißt (Bateson, 1987, S. 274). Gäbe es also nur Staunen, dann gäbe es letztlich auch kein Staunen mehr, vor allem keines, mit dem Therapeuten, Berater, Coaches oder Organisationsentwickler arbeiten könnten.
48 Vgl. die Ausführungen, die ich in dem Kapitel »Was kann ein Mensch?« hierzu unternommen habe. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Humor: Eine Frage der Haltung
Vordialog Philosophischer Praktiker: Ich möchte den Gesprächsfaden wieder aufgreifen und zwar an einer Stelle, die uns alle verbindet, wie verschieden wir vier auch sonst sind. Und wie unterschiedlich unsere Patienten, Klienten oder Kunden auch sein mögen. Ich meine den Humor. Genauer: den individuellen Humorpunkt. Organisationsentwicklerin: Der sich ja bei den einzelnen Leuten an ganz verschiedenen Punkten befindet – um mal bei Ihrem Bild zu bleiben – und auch ganz unterschiedlich sensibel reagiert. Philosophischer Praktiker: Damit sind wir schon unterwegs zu einer Erkundung des Phänomens. Berater: Offenbar geht beim Humor alles ganz schnell … Therapeutin: … und mitunter auch ganz schnell schief. Dass es sich beim Humor um ein sehr komplexes Phänomen handelt, ist mir klar. Auch dass er sich zugleich sozial und individuell auswirkt. Berater: Individuell? Besitzt denn wirklich jeder Humor? Ich meine: ausnahmslos? Philosophischer Praktiker: Skeptisch betrachtet, können wir das nicht wissen. Therapeutin: Ich dachte, zur Skepsis kommen wir erst später. Sie bildet ja sozusagen das Schlusslicht von Ihrer philosophischen Kompetenzliste. Also, schlage ich vor, bleiben wir erst mal beim Humor. Und da erscheint es mir wichtig, warum das überhaupt eine philosophische Kompetenz sein soll, wie Sie das ausdrücken. Die Frage, ob wirklich jeder Humor besitzt, halte ich für nachrangig und wahrscheinlich für unbeantwortbar. Organisationsentwicklerin: Ich finde das nicht nachrangig. Denn wie soll ich gerade auch in professioneller Hinsicht – wir sind ja auch hier, um über andere berufliche Perspektiven zu reden –, wie soll © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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Humor: Eine Frage der Haltung
ich denn mit dem Humor arbeiten, wenn da gar nichts ist, was ich berühren oder erreichen könnte? Berater: Aber mit meinem eigenen Humor kann ich doch immer arbeiten. Therapeutin: Ich wäre mir da nicht so sicher, ob dies auch immer passend ist. An dem Punkt scheitern dann auch viele Humortherapeuten. So originell und menschenfreundlich deren Vorgehen auch sein mag. Außerdem ist nicht alles zum Lachen. Ja, das kann einem gerade dann vergehen, wenn es verlangt wird. Was gibt es Quälenderes als verordneten Humor? Philosophischer Praktiker: Sie haben völlig recht. An der Stelle kehrt sich dessen Wirkung geradezu um. Er verkrampft dann noch mehr, statt zu lösen und zu erleichtern. Das konzediere ich Ihnen gerne. Zudem gibt es bei der großen Gruppe der Trabanten des Humors auch solche, die sein Potential verwässern können, es seicht machen. Das ist ein alter Vorwurf seitens der Ernsthaften: Der Humor mache oder nehme die Dinge zu leicht. So, als nähme er ihnen ihr existentielles Gewicht … Organisationsentwicklerin: … und ihre Bedeutungsschwere, die vieles auch unbeweglich macht. Meine Erfahrung – gerade in Anamneserunden von Organisationsentwicklungsprozessen – ist, wenn zwischendurch gelacht oder geschmunzelt werden kann, dann wird vieles nicht nur leichter. Dann kommt der ganze Prozess auch besser voran. Wobei es auch immer welche gibt, die ernst bleiben und steif. Denen man kaum ein Lächeln entlocken kann. Therapeutin: Wenn ihnen nicht danach ist, erscheint mir das ehrlicher und passender, als wenn sie künstlich mittun würden. Sonst sind wir ja wieder beim erzwungenen Humor. Hier dann in Gestalt des Gruppenzwangs unter professionellem Druck. Berater: Was könnte man da tun? Philosophischer Praktiker: Ich gebe später, im Rahmen eines Humor-Profils, ein paar Übungsideen, wie man das persönliche Verhältnis zum Humor klären und verbessern kann. Das wäre nach meinem Verständnis ein philosophischer Ausgangspunkt: herauszufinden, was bedeutet Humor für mich, wann zeige ich ihn, wann nicht, was schließt er für mich alles mit ein, was schließt er aus, wo finde ich ihn passend, wo nicht, was könnte ich gerade mit ihm, sozusagen in seiner Begleitung, alles erreichen und wo steht er mir © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Begriffsgeschichte
und anderen im Wege usw. Wenn ich das tue, erhöhe ich die Chance, mehr und anders zu meinem Humor zu kommen. Und über die Beschäftigung mit meinem Humor anders zu mir selbst zu kommen. Das kann mich dann unabhängiger vom Humor der anderen machen, vor allem in Gruppensituationen. Therapeutin: Das verdiente, erprobt zu werden. Doch sollten wir eine gefährliche oder zumindest bedenkliche Wirkung des Humors nicht vergessen. Philosophischer Praktiker: An was denken Sie dabei? Therapeutin: An die Trabanten des Humors, wie Sie das nennen. Die sehr verletzend sein können, namentlich an die Ironie, das Aus- oder Verlachen und das Lächerlich-gemacht-Werden. Berater: Gehören die noch zum Humor? Philosophischer Praktiker: Das ist wohl eine Definitionsfrage, der man zumindest persönlich näherkommen könnte, wenn man, wie eben gesagt, das komplexe Phänomen des Humors individuell für sich zu klären versucht. Auf dieser Grundlage kann man dann meiner Erfahrung nach den Humor als philosophische Kompetenz am besten entwickeln. Berater: Dass es sich beim Humor um ein komplexes Phänomen handelt, das sehr persönlich grundiert ist und dabei in konstruktiver wie in destruktiver Weise wirksam werden kann, erscheint mir evident. Doch bevor ich an eine genauere, persönliche Klärung gehe, würde ich gerne erfahren, was man seitens der Fachphilosophen dazu gedacht hat und denkt.
Begriffsgeschichte Humor ist (etymologisch betrachtet) ein neuerer Begriff für eine alte, geradezu »urmenschliche« Eigenschaft.49 Von ihm wurde und wird behauptet: Er – der Humor – sei es, der den Menschen überhaupt erst zum Menschen – oder doch zumindest menschlicher mache. In der Geschichte der verschiedenen philosophischen Traditionen ist diese Einschätzung unterschiedlich bewertet, ja ihr ist durchaus widerspro49 Die sich regional sehr unterschiedlich ausgestalten kann; vgl. hierzu beispielsweise Herbert Schöfflers »Kleine Geographie des deutschen Witzes« (1953). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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chen worden, was man bei der alltagssprachlichen Verwendung nicht unbedingt vermuten würde. Der Gebrauch und das Verständnis gerade dieses Begriffes scheint sehr geeignet zu sein, einem unmittelbar deutlich werden zu lassen, als wessen Geistes Kind sich jemand darstellt, wenn der Humor in Erscheinung tritt. Ganz im Sinne der Einschätzung Georg Christoph Lichtenbergs (eines sehr humorbewussten und humorverständigen Denkers, von dem Goethe als Methodologe sagte, wo er einen Spaß mache, liege ein Problem verborgen, siehe Goethe, 1980, S. 139). Lichtenberg erklärt: An kaum etwas lasse sich der Charakter eines Menschen schneller und zutreffender erkennen als an einem Scherz, den er übelnehme. Folgt man dieser Einschätzung, so scheint der Humor über ein beträchtliches heuristisches50 und diagnostisches Potential zu verfügen, wobei er sich, Lichtenbergs Beobachtung nach, dabei gewissermaßen eines Scherzes oder Witzes bediene. In welchem Verhältnis der Humor zu diesen Trabanten wie auch zu anderen steht; was man über ihn und seine Geschichte ganz grundsätzlich wissen sollte, um ihn als philosophische Kompetenz gut für sich entwickeln und verwenden zu können, möchte ich im Folgenden aufzeigen. Ich beginne da direkt mit dem Wort(-leib). Dieser kommt aus dem Lateinischen und betritt erst ab dem 16. Jahrhundert die deutsche (die europäische) Sprachbühne. In seiner Ursprungsbedeutung steht er für »Feuchtigkeit«, »Flüssigkeit«, »Saft« und konnte im Lateinischen alle möglichen Arten von liquiden Stoffen (Tränen, Wein, Blut etc.) bezeichnen. In terminologischer Hinsicht wurde er in der antiken und mittelalterlichen Medizin verwandt und zwar innerhalb der sogenannten Humoralpathologie; einer »Säftelehre«, der zufolge jeder Mensch als ein Wesen erscheint, das (körperlich wie seelisch) aus verschiedenen Natursäften (humores naturalis) gemischt sei. Vor diesem Hintergrund nimmt sich der sogenannte trockene Humor als eine paradoxe, dabei durchaus aufschluss- und wirkungsreiche Gestaltung des Humors aus. Die Humoralpathologie, die lange vor der Zellularpathologie und anderen medizinisch-anthropologischen Konzeptionen in Geltung 50 Wie Lichtenberg vor ihm hat Arthur Koestler den sonst wenig beleuchteten Zusammenhang von Humor und künstlerischen wie wissenschaftlichen Entdeckungen akzentuiert und untersucht; das betrifft vor allem das Auffinden so noch nicht gesehener Zusammenhänge. Vgl. Koestlers »gerundetes Triptychon« zwischen (»HaHa – Aha – Ha«) und seinen Begriff »Bisoziation« (Koestler, 1978, S. 132, 135, 155). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Begriffsgeschichte
stand, erfreut sich auch heute als grundlegende Charakterologie des Menschen eines regen Gebrauchs, und zwar als Idee von den vier Temperamenten – sanguinisch, cholerisch, phlegmatisch, melancholisch –, die sich in unterschiedlichem Mischungsverhältnis in allen Menschen nachweisen lassen und maßgeblich sein Verhalten (mit-)steuern, oder, philosophisch gewendet, die Art seines In-der-Welt-Seins bestimmen. Überdies ist der Humor etymologisch mit dem Humus und dieser mit der Humanität verwandt. Inwieweit der Humor an sich einen guten Humus für die (doch immer wieder stark angefragte) Humanität bilden kann, ist in den konkreten Anwendungsformen genauer zu erweisen. Da von den Trabanten des Humors und ihren potentiellen Erkenntnismöglichkeiten bereits die Rede war, möchte ich diese jetzt überblickshaft zur Sprache bringen. Ich bediene mich dabei einer graphischen Darstellungsform, um das große, bunte und weitaufgefächerte Wortfeld sozusagen mit einem Blick anschaulich und erfassbar zu machen und zu zeigen, mit was man es – konkret, latent oder potentiell – auch noch zu tun bekommt, was assoziativ mit angestoßen wird, wenn man humorvoll handelt oder behandelt wird, wenn man an Humor denkt, ihn herbeiwünscht oder vermeiden will. (Wohl-)Behagen heiter
Heiterkeit
angeheitert sein
behaglich
sich erheitern
Komödie
Komödiant
Komik Komiker
komisch urkomisch
witzeln witzlos Witzfigur Witzemacher Witzblatt Hinterwitz witzig Treppenwitz Mutterwitz Witz Irrwitz Witzbold Fürwitz Aberwitz irrwitzig Witzblatt aberwitzig fröhlich froh frohgemut schadenfroh Frohsinn Freude frohlocken Fröhlichkeit sich freuen feucht-fröhlich kitzeln humorlos Humoreske kitzeliges (Thema) Humorist humorvoll Humor humorig Galgenhumor Humorlosigkeit schwarzer Humor amüsieren Neckerei Satire Vergnügen
Amüsement
satirisch
vergnüglich vergnügt sein
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Spötter
Spöttereien
Spott
spöttisch
(von Herzen) lachen sich biegen vor Lachen höhnisch auslachen Lachkrampf Lachanfall totlachen los(prusten) Lachen verlachen kranklachen zerlachen Tränen lachen lachhaft anlachen sich krumm und schief lachen (dummes) Gegrinse sich einen Ast ablachen belächeln ridikül weglächeln anlächeln Lächeln feixen grinsen ironisieren ironisch sein Lächerlichkeit lächerlich (machen) Parodie launig Ironie Laune Esprit Gegacker Wortspiel Causerie lustig kichern Verspieltheit Lust Slapstick giggeln lustlos gackern Spaßgesellschaft sich belustigen Hanswurst Spaßvogel Groteske Burleske Spaß grotesk Tölpel Gaudi absurd Clown Spaßmacher Eulenspiegeleien Hohn
Zynismus
Abbildung 6: Der Humor und seine Trabanten
Man kann sich dem Humor und seinen Trabanten auch phonetisch, das heißt durch klangliche Anmutungen nähern und mit Hilfe des Vokaldreiecks seine verschiedenen Lagen feiner unterscheiden. Der Witz etwa befindet sich gewissermaßen ganz oben. Das hat er gemeinsam mit dem Blitz oder mit spitz, wie er auch nicht selten wahrgenommen wird, während das Heitere oder der Scherz, Spaß und Lachen, Spott oder Groteske auf tieferen Ebenen changieren, wovon der Humor die unterste besetzt. Die große Bandbreite des Humors und all das, was näher oder ferner, direkter oder indirekter, zwingender oder loser mit ihm in Verbindung steht oder in Verbindung gebracht werden kann, zeigt das »Urmenschliche« dieses Phänomens, jenseits aller Kulturstufen, Mentalitäten und (geschichtlichen) Epochen. Man kann, nicht zuletzt einer besseren Übersicht wegen, die Frage stellen: Was ist es, das nicht vom Humor berührt, infiltriert oder durchtränkt, mithin sogar verwandelt werden kann? Der Ernst etwa? Der bittere, verzweifelte, heilige, der tödliche Ernst, der Ernst, der unbedingt ernsthaft sein und bleiben, der unter © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Begriffsgeschichte
allen Umständen ernstgenommen werden will? Oder wird gerade dieser wider Willen zu seiner eigenen (besten) Parodie, zu etwas unfreiwillig Komischen, über das laut oder leise gelacht oder milde gelächelt oder feinsinnig geschmunzelt wird, das einen zumindest humorvolle Gedanken eingibt oder gar ein ganz unernstes Vergnügen bereitet? Die abendländische Philosophiegeschichte beginnt gewissermaßen mit einem Lachen (vgl. Blumenberg, 1987; Richert, 2009). Platon lässt in seinem Dialog »Theaitetos« Sokrates eine bezügliche Anekdote über Thales von Milet berichten. Dieser Protophilosoph, Mathematiker und Astronom sei – so übersetzt es Martin Heidegger – »während er sich mit dem Himmelsgewölbe beschäftigte und nach oben blickte, in einen Brunnen gefallen. Darüber habe ihn eine witzige und hübsche thrakische Dienstmagd ausgelacht und gesagt, er wolle da mit aller Leidenschaft die Dinge am Himmel zu wissen bekommen, während ihn doch schon das, was ihm vor der Nase und den Füßen läge, verborgen bliebe« (Heidegger, 1962, S. 2). In dieser Anekdote wird eine bestimmte Seite des Lachens pointiert: das Lächerlichwerden eines Menschen in den Augen eines anderen. Es war das, was Platon anscheinend hervorheben wollte. Die in seinen Augen bedenkliche Seite des unfreiwillig Komischen.51 In der platonischen Philosophie gibt es »keine lächelnde Distanz, kein spielerisches Amüsement, keine leichtlebige Heiterkeit. Der Philosoph platonischen Typs lacht nicht. Es ist ihm wirklich alles ernst« (Geier, 2006, S. 16). Lässt man das Lachen und andere Formen des Humors zu, dann bekommt man es sofort mit dessen Schattenseiten zu tun. Nach allem, was wir über Platon wissen, scheint der Humor für ihn nahezu vollständig aus diesen Seiten bestanden zu haben. Er galt diesem sehr einflussreichen Denker daher als etwas, das es zu vermeiden oder gar zu bekämpfen galt. Manche Autoren gehen sogar davon aus, dass Platon den Humor aus der Philosophie austreiben 51 Der Begriff des Komischen und der Komik als eines wichtigen Trabanten des Humors leitet sich vom griechischen komós (ursprünglich kóme für Dorf, Zusammenkunft) her und bezeichnet einen fröhlichen Umzug einer Kultgemeinschaft, der dem Gott Dionysos (dem man später auch Theater weihte) gewidmet war und nicht selten orgiastische Formen annahm. So sollen bei diesen Prozessionen (dem Komostreiben) überdimensionale Phalloi, obszöne Gesänge und starker Alkoholgebrauch eine aufstachelnde und entgrenzende Rolle gespielt haben. Dieser grenzauflösende Charakter hat sich dem Komischen und der Komik erhalten, wenngleich auf andere Weise (vgl. die Komödientheorien, die seit Aristoteles entwickelt worden sind). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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wollte, wohl nicht zuletzt auch deswegen, damit dieses ernsthafte Tun durch keinen noch so milden Spott relativiert oder durch hintersinnige Ironie52 irritiert werden könne. Als Gegentypus zu dieser humorresistenten Haltung wurde der nachmals als Atomtheoretiker bekannt gewordene Denker Demokrit angesehen. Er erscheint bereits bei antiken Autoren, wie Cicero oder Horaz, als »Demokritus ridens«, als der lachende Philosoph; er gilt nicht nur als »philo-sophos«, sondern auch als »philo-gelos« (Geier, 2006, S. 9).53 Wie bei den meisten der frühen, vorsokratischen (Natur-)Philosophen sind von ihm nur Fragmente und einzelne Sentenzen erhalten geblieben. Aus den überlieferten Schriftverzeichnissen können wir erahnen, wie umfangreich und vielschichtig die Werke dieser anfänglichen Denker einst wohl gewesen waren. Daher wissen wir auch von einer Abhandlung »Über die Heiterkeit«, griechisch euthymía (der Name einer Göttin, die als Bacchantin dem Dionysos vorgetanzt haben soll), welche Demokrit begrifflich bestimmen und als Orientierungshilfe für ein gutes Leben entwickeln wollte, wie sich aus den erhalten gebliebenen »Fragmenten zur Ethik« erschließen lässt. In ihnen rät Demokrit dazu an, das »Leben so viel wie möglich in frohgemuter Gelassenheit« zuzubringen (Demokrit, 1996, S. 41). Antiken Zeugnissen zufolge soll Demokrit als Denker wie als Forscher 52 Denn gerade die Ironie wird von vielen, die den Humor eher günstig bewerten (vgl. Comte-Sponville, 1996), ängstlich betrachtet oder als bedenklich oder gar dämonisch eingestuft. Goethes Figur des Mephistopheles etwa, der auch als Prototyp des advocatus diaboli gilt, erscheint manchen als »personifizierte Ironie« (Mauthner, 1980, S. 523). Das Wort Ironie leitet sich von dem griechischen eironeía her, was Verstellung bedeutet. Eine Praxisform vollzieht sich im Modus der Umkehrung (vgl. sokratische Ironie). Ernsthaft das Gegenteil des Gemeinten zu behaupten, scheint vor allem von Menschen mit fixen Weltbildern eher als Bedrohung denn als spielerische Herausforderung wahrgenommen zu werden. 53 Gelos ist das griechische Wort für Lachen. Es begegnet zum Beispiel als Teil eines Symptombegriffs, der Gelolepsie (des Lachkrampfs), als Gelotophilie (der Hinneigung zum Lachen oder Lachenmachen) oder als Gelotophobie (der Furcht vor dem Lachen und Verlachtwerden). »Philogelos. Der Lachfreund« lautet eine Sammlung von Witzen, heiteren und komischen Begebenheiten, die uns zeigt, worüber in antiker Zeit (herzhaft) gelacht worden ist (vgl. Thierfelder, 1966). Platon hingegen war »der Erste, der das Adjektiv geloios (lächerlich) substantivierte und so geloia (das Lächerliche)« bildete, um seine Ablehnung begrifflich präziser fassen zu können (Geier, 2006, S. 29). Arthur Koestler sieht im Lachen einen »Luxusreflex«, der bereits auf eine (im Verhältnis zum Tier) höhere Entwicklungsstufe schließen lasse, da er nicht mehr unmittelbar mit dem Kampf ums Überleben zu tun habe und »uns vorrübergehend vom Streß zielgerichteter Tätigkeiten erlöst« (Koestler 1978, S. 133). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Begriffsgeschichte
die verschiedenen Formen des Humors auch persönlich verkörpert und am eigenen Beispiel veranschaulicht haben. Auf diese Weise steht er prototypisch für ein Diktum eines späteren, durchaus ernsthaften Kollegen wie Hans Blumenberg, der dekretiert: »Philosophie ist, wenn gelacht wird« (Blumenberg, 1987, S. 149). Inwieweit Demokrit mit dem Urmediziner, auf den die Ärzte noch heute ihren Eid schwören, persönlich bekannt war und in geistigem Austausch stand, ist umstritten. Doch spricht einiges dafür, dass Hippokrates bei seinen Ideen über die gesundheitsfördernden Wirkungen gerade des reflektierten Humors von Demokrit inspiriert worden ist. Sachlicher und offener als sein Lehrer in der Akademie, Platon, hat dessen berühmtester Schüler das Phänomen des Humors wie seiner Trabanten betrachtet und eine wichtige anthropologische Dimension akzentuiert. Der Mensch – so Aristoteles – sei das Wesen, das im Unterschied zu allen anderen, lachen könne. Diese Grundcharakterisierung bedeutet zugleich eine Aufwertung. Denn, was als so konstitutiv und merkmalsbildend erscheint, kann kein untergeordneter, kein unwichtiger Aspekt sein. An diese Positionsbestimmung knüpft der römische Denker Cicero an (durch dessen Kommentare viel von den griechischen Quellen indirekt überliefert ist). Für Cicero eignet dem Lachen etwas Grenzüberschreitendes, ja beinah Transzendentes. Es ist ein erlösendes Geschehen, das Schweres in Leichtes verwandeln kann – zumindest augenblicksweise. Ausgehend von Erwartungen, die enttäuscht und/oder nachhaltig irritiert werden, und gewürzt durch gut gesetzte Zweideutigkeiten kann, Cicero zufolge, ein besonderes geistiges Aroma entstehen. Das Lachen, der Humor überhaupt erscheint ihm »als ein Zusammenspiel von Philosophie und Rhetorik für das gute Leben« (Richert, 2009, S. 37). Quintillian, der als einflussreicher Lehrer der Rhetorik gewirkt hat, versuchte Ciceros Überlegungen zu einem Potential des Humors im Rahmen seiner rhetorischen Affektenlehre zu systematisieren und zu integrieren. Er unterschied dabei sieben Typen des Lachens. Das Lachen als ein wichtiger Humorerzeuger könne in unterschiedlicher Weise genutzt werden, den Menschen von bedrückenden Gefühlen befreien, ihm eine andere Perspektive zu seiner Existenz vermitteln und ihn dabei auch ethisch läutern. Bei Seneca und Plutarch wird die Heiterkeit als eine wirksame Form des Humors in Verbindung mit der tranquillitas (der Ausgeglichenheit) gebracht und als erstrebenswerte und übbare philosophische Haltung gerade für das © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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tätige und aktive Leben vorgestellt, bei dem ja zu keiner Zeit ein Mangel an allerlei Widersprüchen, Herausforderungen und Belastungen war. Plutarch hat hierzu eine eigene Schrift »Von der Heiterkeit der Seele« (Plutarch, 2000) herausgebracht.54 Die verschiedenen antiken Positionen und Akzentuierungen, die im Rahmen dieser Begriffsgeschichte nur ausschnitthaft und verkürzt zur Sprache kommen können, wären allzu unvollständig, wenn ein wichtiges und weiterwirkendes Anwendungsfeld des Humors unerwähnt bliebe: die (literarische) Komödie, deren Begründungsfigur der griechische Dramatiker Aristophanes war. In seinem Stück »Die Wolken« tritt ein »gewisser Sokrates« auf, dessen philosophische Tätigkeit verspottet wird. Das Original soll bei einer der Aufführungen (im Dionysos-Theater) zugegen gewesen und über die Aktivitäten seines literarischen Abbilds herzlich gelacht haben. Diese Souveränität war – das kann man zusammenfassend konstatieren – in der weltanschaulichen Nachfolgeorganisation, die gegen Ende der Antike stark an Einfluss gewann, nicht sonderlich verbreitet. Die Fähigkeit, über sich und damit auch über die eigenen Motive und Positionen lachen oder sich dazu in ein humorvolles Verhältnis setzen zu können, galt (und gilt) als keine Tugend, die im Christentum hoch angesehen wäre – im Gegenteil. Bereits Kirchenväter wie Klemens von Alexandrien dekretierten, dass Lachen und Lachenmachen Christen nicht gezieme. Es gab institutionalisierte Lachverbote in Klöstern55, mehr noch: Man konnte fürs Lachen sogar körperlich gezüchtigt werden (Le Goff, 2004, S. 55). Die leibliche Dimension des Humors (ober- wie unterhalb des Zwerchfells) wurde als Teufelswerk betrachtet oder zumindest als ein stark der Sünde verdächtiges Handeln geächtet und ähnlich wie eine andere Naturkraft und Lebensbekrönerin – die Sexualität – zu unterdrücken oder wenigstens zu domestizieren versucht. Das irdische Dasein wurde (im Gegensatz zum himmlischen) als Jammertal inszeniert, in dem es nur wenig zu lachen gab. Da der erklärte »Gottessohn«, Jesus von Nazareth, angeblich Zeit seines irdischen Lebens nie gelacht habe (Le Goff, 2004, S. 42 f.), wurde 54 Wilhelm Schmid, der zur Rehabilitierung des Begriffs der Heiterkeit wie zur Wiederentdeckung dieser philosophischen Haltung einiges beigetragen hat, versteht Heiterkeit als »eine gedankliche Befreiung von der Erdenschwere, ohne die Erdenschwere zu leugnen« (Schmid, 2003, S. 49, und Schmid, 1999, S. 51). 55 Mit diesem Motiv spielt der sehr bekannt gewordene Roman »Im Namen der Rose« von Umberto Eco (1982). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Begriffsgeschichte
dies als Verhaltensideal postuliert. Die christlichen Kirchen setzten auf ihre Weise die humorfeindliche Haltung Platons fort, von dessen philosophischen Konzeptionen einiges übernommen und christianisiert worden ist. Zwar haben auch die Menschen des Mittelalters (wie zu jeder anderen Epoche auch) gelacht und den Humor kultiviert und praktiziert, das öffentliche Nachdenken und das wertschätzende Untersuchen dieser genuin menschlichen Fähigkeit (auch und gerade als lebensdienliche Handlungsmöglichkeit) erhielt jedoch nahezu keinen Raum; eine Ausnahme bildete das sogenannte Osterlachen, das klerikal gesteuert und überwacht wurde. Hier wird eine Parallele zur philosophischen Kompetenz des Staunens augenfällig. Beide – das Staunen wie der Humor – verfügen über ein gewissermaßen anarchistisches Potential, da sie sich, ohne falsche Devotion, allem respektlos zuwenden können. Das irritierte und irritiert die (mehr oder weniger) autoritären Hierarchien und Ideologien. Diese fühlten und fühlen sich herausgefordert. Hinzu kommt ein anderer Umstand. Will man ein bestimmtes Weltbild möglichst gut durchsetzen und verbreiten, dann empfiehlt es sich auf eine bestimmte Tendenz im Menschen zu setzen und diese zu bedienen: das Pathos. Also die Bereitschaft, auf gewisse Inhalte starke Gefühlswerte zu übertragen und damit sozusagen den heiligen Ernst für eine bestimmte Sache oder Überzeugung zu entwickeln. Und was muss dieser (genauer dessen Vertreter) mehr fürchten als den Humor. Wie erfolgreich bestimmte Weltanschauungs-Gemeinschaften mit dem Pathos gearbeitet haben und arbeiten und wie fremd und verunsichernd ihnen der Humor und seine Trabanten gewesen sind, kann man anhand der Kulturgeschichte der letzten 2000 Jahre gut studieren. Über etwas so Elementares wie den Humor gäbe es natürlich noch viel zu sagen. Doch nicht allein aus Platzgründen beschränke ich mich auf einige Komponenten, Erscheinungsweisen und Perspektiven, die dem besseren Verständnis des Humors als philosophischer Kompetenz dienen können. Doch zunächst noch ein paar Hinweise zur Historie. Zu Beginn der sogenannten Neuzeit haben zwei miteinander befreundete Humanisten zwei Bücher herausgebracht, die den verketzerten Humor rehabilitierten. Erasmus von Rotterdam (der sich in einem Traditionsverhältnis zu Demokrit sieht) führt in seiner 1511 publizierten Schrift »Das Lob der Torheit« (2002) eine (auch über sich selbst) lachende Vernunft vor, die – in Gestalt einer als Person auftretenden und ihr Eigenlob verkündenden Torheit – imstande ist, den vermeintlich sicher wis© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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senden, glaubensbelehrten Menschen humorvoll zu läutern, und ihm helfen kann, sein närrisches Potential zu entfalten. Strenge (= humorresistente) Rationalisten werden an dieser Lobrede der Torheit auf sich selbst wohl auch heute nicht ihr Vergnügen finden. Erasmus hat sie seinem Freund Thomas Morus gewidmet, dessen latinisierter Familienname (er hieß eigentlich More) ihn zu dieser Schrift inspiriert hat. Das griechische Wort für Torheit lautet nämlich Moira (vgl. Richert, 2009, S. 118). Der Widmungsträger veröffentlichte seinerseits fünf Jahre später ein Buch, in dessen Titel ein Wort vorkommt, das nachmals geradezu Karriere gemacht hat: Utopia. Nach der Erklärung seines Verfassers sollte es durch seinen Witz heilsam wirken (Morus, 1516/2009) und das »gemeinsame, herzhafte Lachen als höchste Form von gelingender Gesellschaftskritik« (Richert, 2009, S. 136) deutlich werden lassen. Auch in den Werken anderer Autoren dieser Epoche, zum Beispiel bei Rabelais, Brant, Montaigne oder in den Briefen (des sonst oft recht rigorosen) Martin Luther an seine Frau Katharina von Bora, finden sich Plädoyers für die besondere Wirkkraft des Humors als ausgleichende Instanz widersprechender seelischer Regungen und Befindlichkeiten. In den Folgejahrhunderten verfeinert sich die Humorpraxis in ähnlicher Weise, wie sich die Sitten und Umgangsformen nuancieren (zumindest bei bestimmten, aber eben sehr einflussreichen Kreisen, wie zum Beispiel in dem mitunter kapriziösen Gedankenaustausch – jeux des maximes – der aphoristischen Moralistik). Die Satire wird spitzer, aber auch nicht weniger ätzend. In den Komödien Molières zum Beispiel werden nicht nur anthropologische Muster und Typen exemplifiziert und parodiert, sondern humorvolle Perspektiven auch als subtile politische Einflussnahmen genutzt (Molière, 1975 ff.). Jonathan Swift hat in seinem »Bescheiden[en] Vorschlag, wie man verhüten kann, daß die Kinder armer Leute in Irland ihren Eltern oder dem Lande zur Last fallen und wie sie der Allgemeinheit nutzbar gemacht werden können« (Swift, 1982, S. 513 ff.), eine satirische Interventionsidee publik gemacht, die noch die extrem zugespitzten Strategien eines humorbewussten Praktikers der Provokativen Therapie einfallslos aussehen lassen: »Indem dieser Autor den Engländern riet, die kleinen Kinder der Iren mit Blumenkohl zu verspeisen, brachte er die englische Regierung, die damals im Begriffe war, ihnen die letzten Handelsquellen zu entziehen, zur Besinnung.« So beschreibt die berühmte »Encyclopédie« noch ein halbes Jahrhundert nach dem Erscheinen der Flugschrift die © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Begriffsgeschichte
politischen Wirkungen von Swifts Humor. Dessen Lösungsvorschlag eines »humanen« Kannibalismus für die Probleme von Überbevölkerung bei gleichzeitiger Armut werden in diesem Urbuch des Konversationslexikons, in dem ab Mitte des 18. Jahrhunderts das relevante Weltwissen gesammelt, geordnet und bewertet wurde, unter dem Stichwort »Humor-Humour« wertschätzend kommentiert (vgl. Selig u. Wieland, 2001, S. 176 f.). Immanuel Kant, der für viele den kritischen »Alleszermalmer« darstellt, aber nach eigenem Bekunden zumindest einmal aus seinem »dogmatischen Schlummer« (Kant, 1983b, S. 118) geweckt werden musste, gilt auch als Prototyp des Ernsthaften, als Aufklärer höherer Sittlichkeit und Moral und als Musterbeispiel von Gedankenstrenge. Humor wird bei ihm wenig vermutet. Ein genauerer Blick, vornehmlich auf seine anthropologischen Schriften, zeigt jedoch, dass Kant nicht nur wie Demokrit oder Hippokrates die gesundheitsfördernden Wirkungen des Humors, der »ein Gleichgewicht der Lebenskräfte im Körper hervorbringt« (Kant, 1983c, S. 437) betonte, sondern ihn auch als wichtiges Element der ästhetischen Urteilskraft ansah. Begegnet der Mensch sich selbst, »so ist er ein object zum Lachen« (Dietzsch, 2004). In der Möglichkeit, zu sich selbst einen (heilsamen) Abstand einnehmen zu können, gibt es kaum eine bessere Unterstützung als den eigenen (entwickelten) Humor, das reicht nach Kants Einschätzung bis zu den Formen des »Mutterwitzes, dessen Mangel keine Schule ersetzen kann« (Kant, 1983a, S. 184). In seiner »Kritik der Urteilskraft« von 1790 bemerkt Kant, dass die Natur den Menschen in seinem bedrängten Dasein drei Erleichterungen gegönnt habe: den Schlaf, die Hoffnung und das Lachen. Sein Zeitgenosse Georg Christoph Lichtenberg, der stark vom englisch-irischen Witz56 oder wit (vgl. den Zusammenhang von wit und witness, Weisheit) beeinflusst war, entwickelte wie nur wenige Denker vor oder nach ihm die heuristischen Möglichkeiten des Humors: »Relationen und Ähnlichkeiten zwischen Dingen zu finden, die sonst niemand sieht. Auf diese Weise kann Witz zu Erfindungen leiten« (Lichtenberg, 1991, S. 225). Der methodologisch stark interessierte Goethe kommt als Leser zu der Einschätzung: »Lichtenbergs Schriften können wir uns als der wunderbarsten Wünschelrute bedienen: wo er einen Spaß macht, liegt ein Problem verborgen« (Goethe, 1980, S. 139). 56 Wie zum Beispiel vom humor- und ironiedurchtränkten Roman »Leben und Meinungen des Tristram Shandy« von Laurence Sterne (1983 ff.). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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In seiner »Vorschule der Ästhetik« (1803/1804) entwirft Jean Paul eine Theorie des Komischen, definiert den Humor als das »umgekehrt Erhabene«, als »die große Antithese des Lebens« (Jean Paul, 1995, S. 125 f.), die geeignet ist, alles Aufgeblasene, sich selbst Erhöhende und Pathetische auf ein realistisches, allzumenschliches Maß zurückzuholen. In seinen oft sprachspielerischen Romanen praktiziert Jean Paul diese Theorie, was ihm den Ruf eines gelehrten Humoristen eingebracht hat. In der Philosophie des 19. Jahrhunderts genießt der Humor häufig keine allzu große Beachtung als anthropologische Perspektive oder heuristisches Mittel; er erscheint mitunter gallig bis sarkastisch (wie etwa bei Schopenhauer) oder als wütend bis destruktiv, wie etwa bei Nietzsche, dessen Zarathustra als »gefährlicher Heiliger«, als »Wahrlacher« auftritt und erklärt, dass man nicht »durch Zorn, sondern durch Lachen tödtet« (Nietzsche, 1968a, S. 388). Andererseits spricht Nietzsche das Lachen heilig, fordert: »lernt mir – lachen« (S. 364) und will sich »sogar eine Rangordnung von Philosophen erlauben, je nach dem Range ihres Lachens – bis hinauf zu denen, die des goldenen Gelächters fähig sind« (S. 246). Bei philosophisch inspirierten Schriftstellern, wie Wilhelm Busch: »Mir scheint der Bursche hat Humor«, oder Otto Julius Bierbaum57: »Humor ist, wenn man trotzdem lacht«, kommt es dann zu sprichwörtlich gewordenen Charakterisierungen. Unter den Begründern psychotherapeutischer Verfahren haben sich Freud und Adler am ausführlichsten mit dem Phänomen des Humors und seiner Trabanten beschäftigt. Der stark von existenzphilosophischen Ansätzen beeinflusste Logotherapeut Viktor Frankl, dessen anthropologische Interventionstechnik einer paradoxen Intention auf Therapeuten und Berater der unterschiedlichsten Richtungen gewirkt hat und selbst eine Form humorbewusster Haltung darstellt58, erklärt: 57 Wie bereits gesagt können hier aus Platzgründen viele einflussreiche und schöpferische Humoristen und humorvollen Menschenbeobachter, wie unter anderem Cervantes, Voltaire, Lessing, Wieland, Heine, Nestroy, Fontane, Mark Twain, Karl Valentin oder George Bernard Shaw, nicht eigens zu Wort kommen, auch wenn sie Wichtiges zum Verständnis und der Praxis des Humors beizutragen haben. Ganz zu schweigen von den Humortechniken aus anderen künstlerischen Formen, wie der bildenden Kunst, dem Theater oder dem Film. 58 »Denn letztlich zielt die paradoxe Intention auf jenen existentiell bedeutsamen Einstellungswandel ab, der sich in der Humorreaktion anbahnt. Dies wirkt sich grundsätzlich relativierend aus« (Titze u. Eschenröder, 1998, S. 80). Die Autoren sehen Frankl als wichtigen Pionier des therapeutischen Humors an. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Begriffsgeschichte
»Der Humor würde verdienen ein Existential genannt zu werden. Nicht anders als die Sorge (M. Heidegger) oder die Liebe (L. Binswanger)« (Frankl, 1959, S. 725). Und auch innerhalb der Erickson’schen Hypnotherapie, der Provokativen Therapie von Frank Farrelly oder den verschiedenen systemischen Ansätzen spielt der Humor eine größere oder sogar wesentliche Rolle. Anders als bei den einflussreichen philosophischen Autoren (bzw. Schulen) des 20. Jahrhunderts, wie bei Heidegger, Wittgenstein, Popper oder Adorno, die deshalb als überaus ernsthaft erscheinen59 und nicht selten eine ausgleichende Selbstironie vermissen lassen. Es schien ihnen weitgehend (zumindest in ihren Werken und öffentlichen Verlautbarungen) jener »sense of humour« abzugehen, den ein Menschenkenner wie Somerset Maugham als wichtigen Aspekt einer persönlichen Lebensphilosophie sowie eines Bildungsziels ansieht: »In hope of teaching you to laugh at yourself«, sagt eine seiner Bühnenfiguren (Stölzel, 2004, S. 84). Ausnahmen (was eine philosophische Beschäftigung mit dem Humor angeht) bilden die mehr von der Fachwelt wahrgenommenen Denker, wie Henri Bergson mit seiner großen Studie »Das Lachen« (»Le rire«) oder Joachim Ritters komprimierte Analyse »Über das Lachen«. Innerhalb der Philosophischen Anthropologie ist das elementare Phänomen des Humors vor allem von Helmuth Plessner genauer beachtet worden, der zum Beispiel in »Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens« (2003) unternimmt oder eine komplexe existentielle Reaktionsweise und Haltung wie »Das Lächeln« zu erkunden versucht.60 Von den akademischen Philosophen, die in der zweiten Hälfte des 20 Jahrhunderts wirksam geworden sind, ist Odo Marquard wohl der humorvollste und zugleich humorbewussteste. Das geben nicht allein seine Selbstbezeichnung als »Transzendental-Bellerist« (Marquard über Marquard) oder Essays, wie »Exile der Heiterkeit«, mit ihrem Befund, Philosophie sei »ständig und eifrig die Überlieferin ihrer eigenen Komik gewesen« (Marquard, 1989a, S. 61), zu erkennen. Eine derart bekundete 59 »Es wird doziert, daß Denken höher stehe als Ironie und Humor, und das wird von einem Denker doziert, dem der Sinn fürs Komische vollständig abgeht. Wie komisch!« – meint Sören Kierkegaard (Kierkegaard, 1910, S. 3). Diese Einschätzung eines für das Skurrile im Menschen so empfänglichen Philosophen verdanke ich Manfred Geier. 60 Das berührt die alte Frage, welche Wechselwirkungsprozesse zwischen Humor und Weisheit stattfinden können und bringt den seit der Antike akzentuierten Topos des lächelnden Philosophen anders ins Gewahrsein (vgl. Stölzel, 2009a, S. 98). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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und praktizierte Selbstironie ist unter den staatlich besoldeten Philosophen und deren ernsthaftem Tun selten und wirkt daher wohltuend und ausgleichend. Auch ein Kritiker einseitiger und sogar »zynischer Vernunft« wie Peter Sloterdijk betreibt erklärtermaßen »Erheiterungsarbeit« (Sloterdijk, 1983, S. 26), wenngleich mit der spezifischen, bisweilen nur sehr bedingt humorvollen Selbstüberzeugtheit seiner Generation, die sich seit ihrer Formierung gegen Ende der 1960er Jahre erfolgreich als besonders wichtig inszeniert, dabei auch das Bescheidwisser-Pathos nicht scheut und in ihrer moralgetränkten Ernsthaftigkeit mitunter unfreiwillig komisch wirkt. Innerhalb des Forschungsfeldes einer »Philosophie der Gefühle« erfährt der Humor als »soziales Wahrnehmungsvermögen« und in affektiver Verbindung zum »Vergnügen an der Komik« sowie als Mittel der »Selbstdistanzierung« zumindest eine gewisse Beachtung (vgl. Demmerling u. Landweer, 2007, S. 115). In den kommentierten Tugendkatalogen, wie sie seit der Verbreitung sogenannter Philosophischer Cafés (als mehr oder weniger strukturierte Form des öffentlichen Gesprächs über grundsätzliche Themen) herausgegeben worden sind (Comte-Sponville, 1996, und in Nachfolge dazu Seel, 2011), erhält der Humor den Stellenwert einer wichtigen und wirkungsmächtigen Tugend, da »zu viel Ernsthaftigkeit […] selbst bei der Tugend, etwas Verdächtiges und Beunruhigendes« an sich hat (ComteSponville, 1996, S. 247), was freilich »die Bereitschaft« voraussetzt, »die eigene Position zur Disposition zu stellen« (Seel, 2011, S. 37), so dass der Humor sogar die Gestalt einer Metatugend einzunehmen vermag. Wenn ich im Folgenden einige Vorschläge mache, wie der Humor als philosophische Kompetenz (weiter-)entwickelt werden kann, so richte ich den Fokus vor allem auf die Aspekte Haltungswandel und Haltungsbewusstsein, wobei natürlich alle konstruktiven Potentiale dieses komplexen Phänomens – nuanciert auf den jeweiligen Fall oder das anstehende Thema – mit eingehen können. Wie kaum etwas anderes ist ein persönlich entwickelter Humor (als Fundament für die eigenen Verhaltensmöglichkeiten) in der Lage, ein Bewusstsein für die eigene Haltung (zu den anderen, zur Welt, zu sich selbst) zugleich zu schärfen und zu verbessern und damit auch tragfähige Veränderungen zu ermöglichen. Der Blick auf die Begriffsgeschichte hat erkennen lassen, wie unterschiedlich der Humor bewertet und wie vielschichtig er in Erscheinung treten kann. Mehr als in anderen Bereichen geht es hier nicht um das vermeintlich Richtige oder Falsche, sondern um das Passende, situ© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Elemente für ein persönliches Humor-Profil
ativ Angemessene. Der Humor öffnet die Tür zum Persönlichen, zur individuellen Haltung und wirkt dadurch als Gegengewicht zu unserer zunehmend technisierten, viereckigen und maschinennormierten Welt.
Elemente für ein persönliches Humor-Profil Um die philosophische Kompetenz des Humors für Ihre beruflichen wie persönlichen Bedürfnisse und Herausforderungen gut nutzen und sie passgenauer entwickeln bzw. weiterentwickeln zu können, empfehle ich Ihnen, sich immer wieder mit den nachfolgenden Fragen, Übungen und Perspektivenvorschlägen zu beschäftigen. Das Profil, das Sie auf diese Weise erstellen, verbessert zudem Ihr Verständnis für sich selbst und vergrößert damit Ihr Bewusstsein für Ihre Handlungs-, Verhaltens- und Lebensmöglichkeiten. Wählen Sie sich unter den aufgelisteten Klärungshilfen, die für Sie anregenden und weiterführenden aus. Welche Rolle spielt das Thema Haltung in Ihrem beruflichen und persönlichen Leben? Welche Bedeutung hatte es in Ihrer Herkunftsfamilie und während anderer früher Prägungen? Wie wurde darüber gesprochen? Wie der Zusammenhang zwischen einer inneren Haltung (auch in Bezug auf Wertvorstellungen, Überzeugungen und Ähnliches) und einer äußeren Haltung (auch in Bezug auf Erscheinungsbild, Image und Ähnliches) gesehen, bewertet und verstanden? Welche Haltung hat man Ihnen in Ihrer frühen Umgebung entgegengebracht? Welche Haltung haben Sie eingenommen? Was zeichnet für Sie eine gute Haltung aus? Was müsste diese enthalten? Was tut jemand oder müsste jemand tun, um eine in Ihrem Sinne gute Haltung einnehmen zu können? Wie stehen Sie da – jetzt, hier, in Ihrer gegenwärtigen Lebenssituation? Angesichts der Fragen, Aufgaben, Herausforderungen, denen Sie sich jetzt gegenübersehen? Untersuchen Sie, aus welchen Komponenten sich eine gute Haltung Ihrer Ansicht nach zusammensetzt. Ermitteln Sie, welche Aspekte hierfür ganz © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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wichtig, ja unverzichtbar, welche weniger wichtig, welche austauschbar oder sogar nur gelegentlich von Bedeutung sind. Reflektieren Sie den Begriff Haltung: Beachten Sie genau, welche Assoziationen, Erlebnisse, Metaphern Ihnen hierbei in den Sinn kommen. Klären Sie zum Beispiel, ob dieser Begriff für Sie etwas Statisches, Fixes, Statuarisches, möglicherweise etwas Fundamentbildendes und damit Sicherheitsgebendes an sich hat oder ob er etwas für Sie darstellt, das sich erst aus dem Zusammenfluss verschiedener flüssiger Komponenten immer wieder neu herstellt bzw. hergestellt wird und sich als Antwort auf Interaktionen oder andere Haltungen ergibt und dadurch als geschmeidig erscheint. Woran bemerken Sie die Grund-Haltung einer bestimmten Person, eines Paares, einer Gruppe, einer Organisation? Wodurch wird diese für Sie besonders gut erkennbar (sprachlich oder körpersprachlich, vom Habitus her, durch symbolische Gesten usw.)? Nehmen Sie eine Erfahrung, bei der Ihnen dies ganz augenfällig war: Betrachten Sie, wie Ihnen in diesem Fall eine bestimmte Haltung entgegengebracht worden ist. Was Sie daran als stimmig, was möglicherweise als aufgesetzt oder vorgenommen empfunden haben. Gibt es eine Haltung, die Sie niemals/unter keinen Umständen aufgeben würden? Welche Haltungen scheinen Ihnen bei anderen fragwürdig – welche bei Ihnen selbst? Welche Haltungen erleichtern Ihrer Erfahrung nach einen konstruktiven Umgang zwischen Menschen, welche behindern ihn? Welche Beziehung besteht für Sie zwischen einer (bestimmten) Haltung und einem (bestimmten) Verhalten? Ergibt sich das eine kausal aus dem anderen oder sehen Sie da eher ein Wechselwirkungs-Gefüge? Untersuchen Sie den Zusammenhang zwischen Humor und Haltung. Sammeln Sie Beispiele hierzu. Klären Sie für sich die Frage, in welcher Weise/Menge der Humor enthalten sein sollte, damit das Verhalten, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Elemente für ein persönliches Humor-Profil
das sich daraus ergibt, für alle Beteiligten eine möglichst konstruktive Wirkung entfalten kann. Glauben Sie, man (oder gar Sie selbst) könnte(n) ziemlich humorlosen Menschen, Humor beibringen oder sonstwie vermitteln? Und wie müsste, könnte dies geschehen? Nehmen Sie eine ernste Angelegenheit, ein Problem, einen Konflikt, eine Herausforderung, von der Sie sich gerade belastet, verunsichert oder (zumindest teilweise) überfordert fühlen, und betrachten Sie diese – probehalber – mit einer humorvollen Sichtweise. Was verändert sich dadurch? Falls dies für Sie zu mühsam oder nicht recht möglich sein sollte, dann nähern Sie sich dieser ernsten Angelegenheit durch zwei Perspektiven bzw. zwei Beschreibungsweisen: Beschreiben Sie, um was es geht, zunächst möglichst ohne Humor und dann mit möglichst viel Humor, am besten schriftlich in zwei nebeneinander stehenden Kolumnen, wobei es sich als sinnvoll erweist, wenn Sie ein Blatt im Querformat nehmen und zwischen den beiden Kolumnen Platz lassen, um dort oder am Rand Gemeinsamkeiten und Unterschiede notieren zu können. Vergleichen Sie dann die beiden Perspektiven. Wie könnte man Ihrer Meinung nach Humor und Provokation auf eine zugleich wertschätzende und wirksame Weise miteinander verbinden – gerade auch innerhalb schwieriger persönlicher oder organisationeller Veränderungsprozesse? Was tun Sie dafür, um Ihren Sinn für den Humor (weiter-)zuentwickeln? Was löst bei Ihnen nahezu immer Humor aus? Wo fällt es Ihnen hingegen sehr schwer und erscheint es Ihnen nahezu unmöglich, humorvoll zu reagieren? Wurde in Ihrem Elternhaus oder während anderer früher Prägungen viel gelacht? Worüber – worüber nicht? Welche Formen von Humor (vgl. »Begriffsgeschichte«) wurden praktiziert? Was wurde dem Humor an sich zugetraut?
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Beschäftigen Sie sich zur weiteren Klärung mit folgenden Fragen: –– Wann und worüber habe ich zuletzt richtig gelacht oder humorvoll reagiert? Und wie wurde (sofern es eine soziale Situation war) darauf reagiert? –– Habe ich heute schon gelacht oder eine andere Form des Humors gezeigt? –– Wie müsste eine Situation beschaffen sein, bei der mir keine Form des Humors passend oder angemessen erscheint? –– Worüber habe ich in meinem Leben am meisten gelacht? –– Was ist/war mein eindrücklichstes Humorerlebnis? –– Welche Form des Humors erscheint mir besonders nahe an meinem Verständnis von Humor: das Lachen, das Lächeln, der Witz, der Spaß, die (Selbst-)Ironie, die Heiterkeit, die gute Laune, das Fröhlichsein, das Amüsement etc.? –– Wie reagiere ich, wenn andere sagen: »Was, darüber lachst du?« –– Was ist eigentlich Humor? Was tue oder unterlasse ich dabei? –– Würde sich meine Arbeit verbessern, wenn ich mich dazu entschlösse, mehr Humor zu zeigen? –– Was würde sich verändern, wenn ich meinem Lebenspartner, meinen Kindern, meinen Arbeitskollegen, meinen Freunden und Bekannten humorvoller begegnete? –– Angenommen, ich würde mich dazu entschließen, humorbewusster zu leben (ohne es zunächst oder überhaupt anderen mitzuteilen). Woran könnte es meine berufliche und/oder persönliche Umgebung bemerken? –– Was würde sich an meinem Alltag ändern, wenn ich – probeweise – eine humorvolle Haltung einnähme? Welche Auswirkung hätte dies auf • mein Lebensgefühl, • meine Selbstwahrnehmung, • meine Sicherheitsbedürfnisse, • meine Gewissheiten, • mein Wohlbefinden, • meine Ziele? Versuchen Sie herauszufinden, was Sie innerlich bzw. in Ihren Selbstgesprächen tun, wenn Sie sich zu einem humorvollen Verhalten ermutigen, ins Humorvolle geraten oder Humor zulassen.
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Mit welchen Menschen, Themen, Fragen kommen Sie nicht weiter? In welche Pattsituationen, Klemmen, Ambivalenzkonflikte geraten Sie immer wieder? Angenommen, Sie würden es – probeweise – unterlassen (krampfhaft) eine gute Lösung oder zumindest eine angemessene Reaktionsmöglichkeit zu finden, sondern zunächst eine gewisse Zeit lang oder immer wieder eine humorbewusste Haltung einnehmen. Was, vermuten Sie, würde, was könnte dann geschehen? Ich lade Sie dazu ein, gerade hier Ihren Humor einzusetzen und dann zu vergleichen, was sich im Unterschied zu Ihren bisherigen Lösungsversuchen oder Verhaltensweisen zeigt. Legen Sie ein Notizbuch zum Thema Humor an: Notieren Sie, was Ihnen zu diesem Thema in den Sinn kommt (auch Zeichnungen und andere graphische Darstellungen sind möglich). Bringen Sie dabei immer wieder Haltungsfragen und Verhaltens-Gewissheiten ins Spiel bzw. in Beziehung zu dem, was Ihnen an (Ihrem) Humor auf- und einfällt. Wenn Sie Ihr(e): –– Verhaltens-Möglichkeiten verbessern, –– Verhaltens-Spektrum vergrößern, –– Verhaltens-Weisen genauer kennenlernen, –– Verhaltens-Verständnis überprüfen, –– Verhaltens-Gewissheiten verflüssigen/produktiv irritieren und dies mit der Entfaltung Ihrer persönlichen philosophischen Kompetenz des Humors erreichen möchten, dann erweist es sich als sehr nützlich, zumindest eine Zeitlang einen alltäglichen Umgang mit Ihrem Humor zu pflegen. Das bedeutet: Ihren Humor in sich anwesend zu machen und als konturierbaren und damit selbstständigen Teil Ihrer Gesamtpersönlichkeit zu gestalten. Finden Sie also heraus, welche Aspekte, Typen, Funktionen usw. Ihre philosophische Kompetenz des Humors für Sie einnehmen soll. Wäre/verkörperte der Humor für Sie ein: –– existentieller Berater oder Therapeut, –– persönlicher Coach, –– Spezialist für Verhaltensfragen, –– Helfer bei allen Formen von Übertreibungstendenzen, –– Stimmungsaufheller, –– Antagonist des Selbst- wie des Fremdpathos, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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–– Assistent für das Allzumenschliche, –– Supervisor im Umgang mit humorresistenten Personen, –– Kommentator von paradoxen Erfahrungen? Diese Liste beinhaltet nur Vorschläge, die natürlich erweitert, modifiziert oder kombiniert und natürlich alle, von der Beraterin bis zur Kommentatorin, auch in weiblicher Form vergegenwärtigt werden können. Die Kontur und Anwesenheit dieser inneren Figur kann durch äußere Aspekte bzw. Repräsentanten verstärkt und vertieft werden. Gibt es bestimmte –– Tageszeiten, –– Personen, –– Gegenstände, –– Situationen, –– Orte und Umgebungen, die Ihre philosophische Kompetenz des Humors verkörpern oder an, zu, bei denen es Ihnen leichter fällt, angemessen oder gut übbar erscheint – Humor zu zeigen? Um den persönlichen Humor als wirkungsvolles Instrument für die eigenen Bedürfnisse und Ziele gut weiterzuentwickeln, empfiehlt es sich, vertrauteren Umgang mit ihm zu pflegen. Es hat sich hierfür als günstig und sehr wirksam erwiesen, dieser philosophischen Kompetenz sozusagen Personenstatus zu verleihen und sie – wie ein Autor und Regisseur des eigenen Lebens – mit konkreten und anschaulichen Charakterzügen zu versehen. Also für sich herauszufinden: –– Wie (genau) sieht diese Kompetenz aus? –– Spreche ich, wenn ich mich mit ihr austausche, eher mit einem weiblichen oder eher mit einem männlichen Wesen? –– Wie alt ist sie etwa? –– Was hat sie an? Trägt sie eine charakteristische Kleidung? –– Ist sie eher klein oder eher groß (gewachsen)? –– Gibt es typische Sätze, Mottos, Gesten? –– Wo in Ihrem Körper spüren Sie sie vor allem? Wo würden Sie sie ansiedeln oder positionieren? Mit Hilfe dieser Angaben zu einem »Steckbrief« kann der persönliche Humor zu einer Art »Ego-State« (Watkins u. Watkins, 2008), also zum Beispiel zu einem hilfreichen »Herrn« oder einer hilfreichen »Frau Humor«, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Was heißt: (sich) »halten«?
weiterentwickelt werden. Und im (Selbst-)Gespräch mit dieser hilfreichen inneren Person können zudem folgende Fragen gestellt werden, die geeignet sind, deren spezifisches Potential noch klarer und auch systemischer vor Augen zu führen: –– Was habe ich – als Humor – zu bieten? –– Welche (Vor-)Erfahrungen gibt es mit mir? –– Was unterscheidet mich von Staunen, Mut und Skepsis? –– Welche Fragen, Bedürfnisse etc. habe ich an Staunen, Mut und Skepsis, um meine Kompetenz gut zur Entfaltung bringen zu können?
Was heißt: (sich) »halten«? Genauer betrachtet, erscheint »halten« als ein Grundwort des (menschlichen) Lebens. Die erstaunlich große Zahl an Vorsilben und Varianten geben »halten« als einen ganz wichtigen Interaktionsbegriff, als eine geradezu erzsystemische Vokabel zu erkennen. Das zeigt sich nicht allein an einem bestimmten Verhalten eines Menschen oder eines anderen Lebewesens, an dessen spezifischen Verhaltensweisen, die für einen anderen, davon Betroffenen schwer erträglich und kaum auszuhalten sind, so dass er auf die Idee verfallen, oder anders gesagt, es für angezeigt halten könnte, eine Verhaltenstherapie durchzuführen, um nicht länger ungehalten sein zu müssen. So weit ein kleines Wortspiel, das einige Varianten andeutet. Bevor ich zu dem weiten Wortfeld und breiten Nuancierungsspektrum dieses Grundwortes komme, möchte ich zunächst kurz bei dessen Kernsemantik etwas verweilen; gewissermaßen beim »Halten« ein wenig anhalten. Dabei kommen zwei benachbarte Fähigkeiten in den Blick. Zum einen bedeutet »halten« ganz wörtlich: etwas zum Stehen, zum Stillstand bringen können; es fungiert hier als ein Synonym von stoppen oder bremsen. Zum anderen bedeutet »halten« etwas in den Griff zu bekommen; etwas zu fassen und damit etwas zu machen; es zum Beispiel in der Hand, am Körper, am Boden, in der Luft zu halten; es in sich, für sich und bei sich zu (be-)halten; sich also so damit zu beschäftigen, dass dann daraus eine bestimmte Haltung erwächst. Halten ist in der einen wie in der anderen Weise mit wichtigen persönlichen Handlungen, wie der Identitätsbildung und der Individualitätsbehauptung, intensiv verbunden. Sich bestimmte Aspekte, Ideen, Anregungen aus dem unaufhörlichen Flie© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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ßen des Lebens herausnehmen zu können, etwas nicht einfach wieder wegrauschen zu lassen, sondern es – geistig wie materiell – zu späterem Gebrauch zu bewahren, sich damit in ein bestimmtes Verhältnis zu setzen, ihm einen bestimmten Wert zu geben oder es in eine orientierende Maxime zu verwandeln, die einem Halt gibt und an die man sich (dann) halten kann, die möglicherweise sogar Teil des eigenen Lebensfundaments wird, ja zum Unterhalt beiträgt und in diesem wie in jenem Sinne unterhaltend wirken kann. Halten steht dafür, eine wie auch immer geartete Kontur hervorzubringen, etwas Festes, (Be-)Greifbares, ein Stück geronnener Individualität, die gleichermaßen einen Orientierungspunkt wie einen Bremsklotz darstellen kann. Halten beschreibt und bezeichnet die Position, die wir oder die anderen im gemeinsamen Lebensraum einnehmen, die Ausgangspunkt, Mittel und Ziel eines persönlichen Verhaltens ausmacht. Dass das Sichhalten nicht allein auf die bislang verwendeten, direkten Ableitungen beschränkt bleibt, sondern sich, wie angedeutet, in ein weites Wortfeld und breites Nuancenspektrum ausdifferenziert, versucht die nachfolgende Zusammenstellung zu Bewusstsein zu bringen. Sie ist so angeordnet, dass unterschieden wird zwischen Tätigkeitsformen und Handlungsweisen, solchen, die nichtreflexiv gebraucht werden, wie solchen, in denen die Selbstbeziehung betont wird, abgeleiteten Nomen, Komposita und Begriffen sowie Redewendungen und idiomatischen Prägungen. Tätigkeitsbegriffe: einhalten – mithalten – abhalten – innehalten – aushalten – auseinanderhalten – zusammenhalten – maßhalten – dagegenhalten – erhalten – geheim halten – vor(be)halten – weghalten – hinhalten – behalten – warmhalten – kalthalten – ungehalten sein – offenhalten Reflexive Verwendungen: (sich) festhalten – (sich) zuhalten – (sich) bedeckt halten – (sich) zurückhalten – (sich) daran halten – (sich) gut halten – (sich) Tiere, Fahrzeuge halten – (sich) eine Geliebte / einen Geliebten halten – (sich) ruhig halten – (sich) aufhalten – (sich) aus allem heraushalten – (sich) etwas darauf zugute halten – (sich) tapfer halten – (sich) auf seinem Posten halten Abgeleitete Nomen, Komposita und Begriffe: der Halt – das Verhalten – der Inhalt – der Hinterhalt – der Aufenthalt – der Vorbehalt – die Halt© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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losigkeit – der Unterhalt / die Unterhaltung – die Halteseile / die Haltekräfte – die Haltung – der Haltungswandel – die Gesunderhaltung Redewendungen und idiomatische Prägungen: das ist eine Frage der Haltung – große Stücke auf jemanden halten – die Stellung halten – jemanden oder etwas für etwas Bestimmtes (Freund, gutes Buch etc.) halten – einen Zustand aufrechterhalten – keinen Anhaltspunkt haben – eine Diät einhalten – Gericht halten über – es gibt kein Halten mehr – den Halt verlieren – sein Wort halten – Vorbehalte haben – das kann ich nicht behalten – jemand ist nicht zu halten – den Rekord halten – jemanden die Treue / bei der Stange halten –– eine bestimmte Haltung einnehmen – wie wollen wir es damit halten? – eine Norm einhalten – etwas ins Licht halten – etwas in Händen halten – es nicht auseinanderhalten können – Regeln einhalten – eine Rede halten – jemanden streng halten – Unterricht halten – Wache halten – gehalten sein – haltbar sein – haltlos werden – etwas geschlossen / verborgen halten – von etwas abgehalten werden Diese Zusammenstellung versteht sich nicht als ein philologischer Exkurs (der auch wegfallen könnte), sondern als der Versuch, auf synoptischem Wege anschaulich zu machen, wie körperliche Positionsbeschreibungen, seelische Reaktionsweisen und geistige Perspektiven im Falle des »Haltens« auseinander hervorgehen, zusammenwirken, sich bedingen oder variieren, dabei neue Schattierungen hervorbringend. Sie veranschaulicht zudem, welch großes Spektrum menschlicher Handlungsmöglichkeiten mit Hilfe dieses Grundwortes ausgedrückt werden kann, so dass man sich die Frage stellen könnte, welche Aspekte und Bereiche des Lebens hierbei nicht zur Sprache kommen. Nicht zuletzt durch die Hypnotherapieforschung ist der konkretistische Bezug von Beschreibungsweisen, Redewendungen und Metaphern eingehender untersucht und dabei aufgezeigt worden, wie stark auch Abstraktionen im körperlichen Erleben verankert sind. So dass zum Beispiel jemand, der sehr an sich hält, nicht allein mit seinem Reden leicht ins Stocken gerät; dass die Haltlosigkeit nicht nur eine bestimmte psychische Verfassung darstellt, sondern auch das körperliche Erleben, das Erscheinungsbild eines Menschen beeinflusst und verändert; dass der Umstand, sich geistig oder seelisch aufrecht halten zu müssen, Auswirkungen nicht allein auf die Wirbelsäule hat, dass ein bestimmter Haltungswandel © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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unmittelbar mit leiblichen Regungen räsoniert (einem wird die Luft genommen oder man kann endlich wieder frei durchatmen) und dass der Versuch, sich metaphysisch an etwas festzuhalten, Halt in einer Idee oder Überzeugung zu finden, physische Folgen und Entsprechungen aufweist bis in Tonus und Muskulatur hinein. Der Humor als philosophische Kompetenz verkörpert nicht allein eine bestimmte Haltung – Haltung verstanden als unmittelbarer, verhaltenswirksamer Ausdruck der Denkweise eines Menschen. Er ist auch (wie kaum etwas sonst) in der Lage, erstarrte Haltungen zu verflüssigen, sie als solche überhaupt sichtbar zu machen. Er schafft damit ein Bewusstsein für die Wechselwirkungsprozesse von äußerem und innerem Halt(en) und Verhalten.
Den eigenen Halt erkunden Sie können das an sich selbst testen, indem Sie sich zum Beispiel fragen: Was ist es, das mir einen Halt in meinem Leben gibt und damit auch mein Verhalten prägt? Welche Auswirkungen hätte es auf mein körperliches Empfinden, wenn ich diesen (geistigen oder seelischen) Halt verlöre und mein Verhalten verändern müsste? Welche Beziehungen bestehen bei mir zwischen meinem geistigen/seelischen Rückgrat und meinem körperlichen? Woran zeigt es sich in meinem leiblichen Halten und Verhalten, dass ich nicht mehr bereit bin, etwas auszuhalten? Wo und wie wird das spürbar?
Der philosophische Anthropologe Erich Rothacker spricht bei der Reflexion über den Begriff Haltung von dem Umstand der »erlebten Lage« (Rothacker, 1934, S. 44) als einer Verhaltensantwort auf bestimmte Erfahrungen. Ob jemand glaubt, sich bei ähnlichen Anlässen wieder krümmen, beugen, verkrampfen, wegducken, buckeln oder sich in die Brust werfen, sich ausagieren, ausweiten, geradezu vergrößern zu müssen, bleibt nicht ohne direkte Wirkung auf sein Denken und Fühlen; auf sein ganzes Selbstverständnis. Zwischen Haltungen und Gewohnheiten gibt es viel Gemeinsames. Bei oberflächlicher Betrachtung scheinen sie nahezu dasselbe zu sein, da es nicht sogleich erkennbar ist, inwieweit eine Haltung sich einer bestimmten Gewohnheit verdankt oder eine Gewohnheit zu einer bestimmten Haltung geworden ist. Beide bewähren sich im Reduzieren von Komplexität, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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unterstützen dadurch die Fähigkeit, leichter handeln und besser eine Position beziehen zu können. Beiden eignet somit etwas Normatives, Richtungsweisendes, wie es sich bei den persönlichen Grundhaltungen zeigt, die einzunehmen man sich gewöhnt hat (da man sich und sein Leben nicht dauernd neu erfinden kann, auch wenn es gerade das ist, was viele Mystiker nahelegen oder gar fordern). Ethos lautet der griechische Begriff für eine solche Grundhaltung, die mehr ist als eine bloße Gepflogenheit, wie es sich zum Beispiel im Ethos des Arztes zeigt. Die Urbedeutung von Ethos, nämlich Wohnung, Wohnort, ein fester Platz, an den man sich gewöhnt hat, deutet wiederum die Beziehung zwischen Haltung und Gewohnheit an. Eine Haltung, ein bestimmtes Ethos, kann sich zum Habitus verflachen. Zu einer Form des Gehabes und des Gebarens werden, die so äußerlich sein kann wie der uniformierende weiße Kittel des Arztes oder Wissenschaftlers. Ob es möglich ist, den jeweiligen Humor nicht nur als Teil einer persönlichen Eigenart zum Ausdruck zu bringen, sondern ihn auch zu einem therapeutischen oder beraterischen Instrument weiterzuentwickeln, hängt viel davon ab, wie sich jemand hält, welches Verhalten er sich selbst gegenüber an den Tag legt. Das bildet die Basis seiner Glaubwürdigkeit. Denn wie dem Sorgen oder dem Führen ist auch dem (Sich-)Halten eine grundlegende Bidirektionalität eigen. Sichhalten macht sich in zwei Richtungen bemerkbar: der Welt wie auch mir selbst gegenüber. Nach außen wie nach innen. Das fordert einen ständigen Ausgleich und fördert den Sinn für ein Gleichgewicht, für einen ausgeglichenen Wechsel unterschiedlicher Blickrichtungen oder Perspektiven. Der Humor als philosophische Kompetenz lebt von und durch den Wechsel gegensätzlicher Fähigkeiten. Es werden dabei –– Haltungen bezogen (das kann eine Position sein, die quer zu vielen anderen steht, wo zum Beispiel der Witz gerade darin liegt, etwas dagegenzusetzen), –– Haltungen aufgelöst (zum Beispiel, indem man die eigene so weit treibt, bis auch die des anderen oder der anderen in Bewegung kommen). Wird nur eine der humorgenerierenden Fähigkeiten praktiziert, erlahmt deren relativierende Kraft, verfestigt sich zu einer bestimmten Haltung oder wird konturlos. Um gerade mit und durch den Humor weiterzukommen, bedarf es dieser beiden gegensätzlichen Fähigkeiten. Es gibt © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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hier auch eine Analogie zur Fähigkeit des Gehens als der Voraussetzung – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne – einen bzw. seinen Weg beschreiten und damit vorankommen zu können. Das Gehen als Tätigkeit, als Praxis, beruht auf dem konstanten und ausgeglichenen Wechsel gegensätzlicher Fähigkeiten zur –– Labilität (die konkret darin besteht, einen Fuß anzuheben, in die Luft und voranzubringen, dabei aber an Halt, an Stabilität zumindest zeitweise einzubüßen), also Offenheit zu gewährleisten, –– Stabilität (die konkret darin besteht, den anderen Fuß umso fester am Boden halten zu können und das Vorwärtsstrebende, labile Bein auszugleichen), also Festigkeit zu gewährleisten. Dieser rhythmisierte, fortlaufende Wechsel von einer Stabilität zur Labilität und von der Labilität zur Stabilität usw. bildet die Grundlage unserer äußeren wie unserer inneren Bewegungen. Anderenfalls ergeht es uns wie jenen Realpolitikern, von denen Ernst Bloch scherzhaft sagt, dass sie mit beiden Beinen so fest am Boden der Tatsachen stünden, dass sie sich gar nicht mehr bewegten. Der Humor hat viele Gesichter und Erscheinungsformen (vgl. »Begriffsgeschichte«). Er kann unter anderem erleichtern, Spannung nehmen, übertriebenem Ernst schlagartig die Luft herauslassen, Verbissenheit ins Schmunzeln über sich selbst auflösen, die Lebensstimmung heben und verbessern, das Abstruse und Absurde im scheinbar Normalen und Richtigen aufzeigen, das Kleine groß und das Große klein machen usw. All dies kann in der einen oder anderen Weise beim Humor als philosophische Kompetenz mit einfließen und nutzbar gemacht werden. Neben der relativierenden Kraft des Humors gibt es auch eine heuristische. Und diese erweist sich im therapeutischen wie im beraterischen Kontext nicht selten als besonders aufschlussreich. Der Humor bewährt sich da als ein subtiler Aufspürer verdeckter oder unbewusster Haltungen; von Haltungen mithin, die für viele so unbemerkt, so selbstverständlich geworden sind wie beispielsweise die persönliche Gangart; von Haltungen, die zwar Sicherheiten vermitteln, aber Weiterentwicklungen im Wege stehen, die stabilisieren und dabei einschränken. Die heuristische Kraft des Humors richtet sich auf das Charaktergehäuse, das, was fest, was zu fest geworden ist, bei Personen, bei Situationen, bei Organisationen. Der Humor kann sichtbar und spürbar machen, was geschieht, wenn geglaubt wird, bestimmte © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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Haltungen dürften nicht aufgegeben werden. Eine besondere Wirksamkeit erzielt der Humor als philosophische Kompetenz dort, wo er in zweifacher Weise zur Anwendung gebracht werden kann. Das kann auf heilsame und dabei menschlich verträgliche Weise aufrütteln oder wenigstens in Schwingung bringen. Wie dieser Haltungsspezialist in beraterischen Prozessen verwendet werden kann und welche Bedeutung dabei einem zweiten Humor, einem Metahumor zukommt, möchte ich versuchen, anhand der nachfolgenden Fallgeschichte und einer Übung deutlich zu machen. Ich werde von einer Frau konsultiert, die, nachdem auch ihr drittes und jüngstes Kind eingeschult worden ist und zudem einen Hortplatz erhalten hat, nun endlich (wie sie betont) »wieder richtig arbeiten kann«. Sie habe vor ihrer Mutterschaft als Psychologin in verschiedenen (zum Teil auch kirchlichen) Beratungsstellen gearbeitet und ist jetzt sehr froh, eine gute Stelle im Personalbereich einer Biomarkt-Ladenkette gefunden zu haben. Dies umso mehr, da ihr »eine gute und richtige Ernährung« bereits, bevor sie Mutter geworden sei, wichtig war. Doch leider werde dieser an sich sehr erfreuliche Umstand durch einen »inneren Konflikt« verschattet. Ich sei ihr durch ihren Mann empfohlen worden, der ein Seminar bei mir besucht und ihr von den ihm überraschend lebensnah erscheinenden philosophischen Methoden und Perspektiven erzählt habe. Überdies sei ihr sehr sympathisch, dass ich (wie sie durch ihren Mann erfahren habe) selbst Vater mehrerer Kinder sei und dadurch Einblicke »in diese sehr wichtige, aber auch sehr anstrengende Arbeit« und die damit verbundene Lebensweise hätte. Ihr Problem sei aber nicht, glaube sie, »direkt psychologischer Art«, obwohl sie denke, dass Psychisches überall mit dabei sei, wo es um Menschen gehe. Ein Kollege von ihr habe es als »ideologisches Thema« bezeichnet, was sie zunächst für abwegig gehalten und zurückgewiesen habe. Sie sei sogar etwas gekränkt gewesen, als sie diese Einschätzung gehört habe, da sie sich nicht für eine Ideologin halte. Später habe sie gedacht: »Da kann vielleicht doch etwas dran sein.« Und da nach ihrem Verständnis die Betrachtung von ideologischen Themen mehr ins Feld des Philosophischen falle, wolle sie dies jetzt im Rahmen »eines philosophischen Coachings oder einer philosophischen Therapie« untersuchen und, wenn möglich, für sich klären. Ihr Fall sei in Kürze der: Durch ihr Verhalten löse sie bei ihren Kollegen häufig Kopfschütteln und »sar© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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kastisches Gelächter« aus, was sie irritiere und auch verletze. Der Spott ihrer Kollegen gelte der Art und Weise, wie sie mit dem Thema gesunde Ernährung, ökologische Landwirtschaft und fairem Handel umgehe. Wie überaus ernsthaft, streng und nachdrücklich sie ihre Überzeugungen da zum Ausdruck bringe. Sie könne nach diesen Reaktionen der Kollegen oft nicht mehr richtig arbeiten, weil sie darüber nachdenken müsse, was sie »eigentlich falsch gemacht« habe. Dieser Umstand belaste sie zusätzlich. Sie nehme dieses Thema auch mit nach Hause und beginne schon, ihrem Mann damit lästig zu fallen, der ihr empfohlen habe, die Reaktionen der Kollegen entweder zu ignorieren (dann würden die von selber aufhören) oder ihrerseits dagegen anzulachen. Das sei für sie jedoch nicht drin. Sie sei ein sehr ernsthafter Mensch; vielleicht zu ernsthaft. Im ersten Teil unserer Zusammenarbeit beschäftigten wir uns verstärkt mit der von mir entwickelten Methode der epistemologischen Biographie (vgl. »Fragen – Lösen – Fragen«, Stölzel, 2013), was für sie eine Reihe wichtiger Erkenntnisse über ihre Denkstile und Verarbeitungsweisen erbrachte, die ihr in dieser Weise noch nicht bewusst waren, trotz mehrerer psychotherapeutischer Fortbildungen und einiger Selbsterfahrung. Dabei trat auch zutage, dass vier Generationen ihrer Vorfahren, und zwar aus beiden Herkunftslinien, Theologen oder Pfarrer bzw. Pfarrfrauen gewesen seien; darunter ein amerikanischer Zweig, den sie als besonders sektiererisch und unduldsam beschrieb. Aber im Grunde seien »es alle ziemlich engagierte und aufopferungsbereite, aber auch recht humorlose Leute gewesen«. Nach allem, was sie selbst erlebt oder gehört habe. Da wir durch die Arbeit mit ihrer epistemologischen Biographie ein gewisses Verstehensfundament gewonnen hatten, schlug ich ihr vor, – um eine für sie direkt spürbare, praktische Wirkung zu erzielen – mit den philosophischen Kompetenzen zu arbeiten und begann, ihr die vier Kernkompetenzen vorzustellen. Mit dem Staunen konnte sie einiges anfangen, das löse bei ihr (wie sie sagte) »spontan so etwas wie religiöse Gefühle aus«; der Mut sei wichtig, ganz bestimmt; die Skepsis sei wohl auch nötig – doch nicht zu sehr! Der Humor brachte sie zum Verstummen und ins Grübeln. Was daran eine Kompetenz und gar eine philosophische sein solle, war ihr nicht klar. Der Humor könne doch sehr leicht zu einer Waffe werden, mit der andere Menschen lächerlich gemacht werden könnten. Auch sei ja vieles in der Welt nicht zum Lachen, ganz und gar nicht! Nach einigem Zögern war sie bereit, sich © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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mit ihrem Humor zumindest probeweise näher zu beschäftigen und den Versuch zu unternehmen, ihn besser kennenzulernen. Bei unseren nächsten Zusammenkünften berichtete sie erstaunt, dass das sie irritierende und kränkende Verhalten seitens ihrer Kollegen deutlich zurückgegangen sei, »obwohl ich doch gar nichts verändert habe«. Auch ihr Mann und ihre Kinder reagierten anders auf sie. Das erfreue und verunsichere sie gleichermaßen; sie könne es sich eben nicht recht erklären. Vom Gefühl her habe dies wahrscheinlich etwas mit der Beschäftigung mit ihrem Humor zu tun. Manchmal (berichtet sie etwas verlegen) »habe ich einfach schmunzeln müssen, wenn ich bemerkte, wie ernsthaft ich mich mit meinem Humor beschäftigt habe«. Sie entdecke immer mehr Dimensionen des Humors, die sie vorher gar nicht wahrgenommen und hier auch gar nicht vermutet habe. Gerade auch das Philosophische des Humors werde ihr zunehmend deutlicher. Aus verschiedenen Gründen (Urlaub, berufsbedingte Abwesenheiten) entstand eine größere Pause in unserer sonst eher regelmäßigen Zusammenarbeit. Bei unserem nächsten Wiedersehen sprach sie von einem mühsamen und zähen Kampf, der in ihr stattfinde, zwischen ihrem »neuen Freund, dem Humor«, der jetzt fast jeden Tag »irgendwie mit dabei ist« (sie habe sich ein stilles Begrüßungsritual überlegt, wie sie diesen neuen Freund morgens gleich mit aufwecken könne) und ihrer »alten Haltung, die mich nicht loslassen, die mich weiterhin festhalten will«. Diese Haltung habe, denke sie, viel mit ihren Vorfahren und deren humorloser Lebenshaltung zu tun. Sie beschrieb den inneren Kampf als zäh, als mühsam, doch sei sie zuversichtlich, dass sie mit Hilfe des Humors allmählich zu einer anderen Haltung finden könne. Auch sei sie (trotz Familienaufstellungserfahrung) überrascht gewesen, wie stark und verhaltensbestimmend (dabei ihr unbewusst) die Denkweise ihrer Vorfahren in ihr weiterlebe. Die Versuche ihrerseits, in inneren Gesprächen »diese Geister meiner Vergangenheit« zum Humor zu bekehren, seien ziemlich gescheitert. Doch habe ihr dann wieder das Schmunzeln geholfen. Mit dessen Hilfe könne sie jetzt sogar gelegentlich über »die da und ihre Humorlosigkeit« lächeln. Auch sei sie nun neugieriger geworden, sich mit den drei anderen Kompetenzen näher zu beschäftigen. Doch wolle sie zuerst den Humor »noch mehr Platz in mir geben«. Ich stellte hierfür die Idee zur Verfügung, immer mal wieder die Perspektive eines »zweiten Humors« zu beziehen und sich © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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genau und freundlich dabei wahrzunehmen, wie der »erste Humor«, den sie für sich als Alltagsbegleiter gefunden habe, allmählich ihre frühere Haltung verändere, wo und wie das gelinge und wo und wie das weniger oder nicht gelinge. Durch ihren Umzug in ein anderes Bundesland – ihr Mann hatte eine neue Arbeit gefunden und sie konnte eine ähnlich gute Stelle an dem neuen Ort bei ihrem früheren Arbeitgeber finden – kam unsere Zusammenarbeit schneller als geplant zu Ende. In den beiden Telefonaten, die wir nach größerem Zeitabstand miteinander führten, berichtete sie, dass es zwar immer wieder »Rückschläge« gebe und sie dann ziemlich humorlose Tage erlebe; sie lasse sich jedoch dadurch nicht entmutigen. Die Wahrnehmung des »zweiten Humors« über den »ersten« sei ihr sehr hilfreich und nützlich. Sie glaube für sich, am Anfang eines längeren Prozesses zu stehen, was die grundsätzliche Überprüfung ihrer Lebenshaltungen gerade mit Hilfe des Humors betreffe. Doch denke sie jetzt »diesen Prozess gut für mich allein gehen« zu können. Zudem habe sie in ihrem Mann einen guten Gesprächspartner. Mit der abstrakt-theoretischen Philosophie könne sie noch immer nicht viel anfangen, was jedoch das Praktische der Philosophie betreffe, da sei sie sehr froh, dass sie dies zunehmend mehr für sich entdecke und entwickle.
Ich möchte Sie nun einladen, einige Erfahrungen mit Ihrem zweiten Humor oder Metahumor zu machen. Wie bereits mehrfach gesagt, bleiben die Kompetenzen, die jemand für sich im Laufe seines Lebens entwickelt, direkt mit ihm verbunden, sind Ausdruck seiner Eigenart, zumal die philosophischen. Im besonderen Maß gilt das für den Humor, der so individuell ausfällt wie derjenige, der ihn zeigt.
Doppelte Humorperspektive Wählen Sie sich ein Thema, eine Person oder eine Situation, auf die sie geneigt sind eher ernsthaft oder gar angespannt zu reagieren. Verabreden Sie mit sich, probeweise zumindest etwas humorvoller damit umzugehen; möglicherweise entdecken Sie dabei Anlässe oder Gelegenheiten, etwas von Ihrem Humor zu zeigen oder diesen sinnvoll einzubringen. Das wären dann die Aktivitäten des »ersten Humors«. Den zweiten oder Metahumor setzen Sie gewissermaßen ein wenig außer© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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halb von sich und des betreffenden Themas, der Person oder Situation ein. Verleihen Sie ihm sozusagen dafür eine Art Röntgenblick, mit dessen Hilfe er das geistig-seelische Skelett Ihrer Haltungen wahrnehmen kann; mit dem er erfassen kann, wie Sie sich innerlich halten oder glauben, halten zu müssen, um ein bestimmtes Verhalten, wie eben das bei dem gewählten Thema, der Person oder Situation, überhaupt zeigen zu können. Der Wahrnehmungsfokus des zweiten oder Metahumors ist der eines Verhaltensforschers, der sich zunächst ein möglichst klares Bild davon verschafft, was wann wie abläuft und sich mit Veränderungsvorschlägen erst noch zurückhält. Zur Vertiefung der Beobachtungen und zur Verbesserung ihrer Haltungen angesichts dieser für sie ernsthaften oder anspannenden Sache können Sie die gesammelten Eindrücke in einem inneren Dialog zwischen Ihrem ersten und Ihrem zweiten Humor weiter verarbeiten. Hören Sie dabei zu, was diese beiden Kompetenzen zur Sprache bringen, am besten schriftlich. Sie können den Gewinn dieser Übung dadurch vergrößern, dass Sie sich zuvor immer wieder mit dem Thema Halt(-en) bzw. Haltung einnehmen beschäftigen. Zum Beispiel, indem Sie sich die Fragen vorlegen: Wie bringe ich eine bestimmte Haltung zustande? Wodurch halte ich sie aufrecht? Welche Teile von mir sind daran besonders beteiligt? Wodurch sieht man oder spürt man mir diese Haltung möglicherweise an?
Für diese Übung benötigt man eine gewisse Vorstellungsbereitschaft, etwas Flexibilität und einige Erfahrung im bewussten Umgang mit Selbstgesprächen (vgl. »Fragen – Lösen – Frage«, Stölzel, 2013). Die doppelte Humorperspektive kann eine besondere Sicht auf die eigene Person und die zu Haltungen gewordenen (oft unbewussten) Vorstellungen und Überzeugungen eröffnen, wie man sie sonst nicht leicht durch sich selbst bekommt oder erfährt: Man kann zu sehen und noch mehr zu spüren bekommen, wie man es – gerade in eher humorlosen Momenten – fertigbringt, sich in bestimmter Weise zu (ver-)halten.
Humor in der existentiellen Kommunikation Humor (diese Position ist mir immer wieder begegnet) sei mit dem Ernst, den die berufliche Welt, das Arbeitsleben nun einmal fordere, nicht gut zu verbinden; ein Freizeitvergnügen, das der Entspannung © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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diene (was wohl bedeutet, dass eine entspannte Haltung bei einer professionellen Tätigkeit von manchen als deplaziert empfunden wird); eine Naturbegabung eben, über die manch einer einfach nicht verfüge. Während meiner Weiterbildung in systemischer Therapie und Beratung arbeitete ich mehrere Jahre regelmäßig in einer psychotherapeutischen Praxis mit. Ich erinnere mich an eine Paartherapiesitzung, bei der die Psychiaterin und ich sowie das Paar, das uns konsultiert hatte, immer wieder in ein heftiges und lösendes Lachen gerieten. Wir waren dabei anscheinend so laut und durchdringend geworden, dass später ein Kollege, dessen Praxisraum angrenzte, leicht beleidigt seiner Verwunderung darüber Ausdruck gab, was dies denn für eine Behandlung sei, bei der so viel und so anhaltend gelacht werde. In psychoanalytischen Kreisen gilt der konkret frei gesetzte Humor eher als verpönt. Das mag mit der ambivalenten Haltung zu tun haben, die der Begründer dieser Methode dem Humor gegenüber einnahm. Denn einerseits war Freud ein passionierter Witzesammler und Witzeanalysierer, ein Leser Lichtenbergs (von dem er sich zu vielem anregen ließ, nicht allein zur Fehlleistungstheorie), der die Bedeutung des Humors nicht nur im Verhältnis zum sogenannten Unbewussten hoch bewertete und sehr wohl um die kompensatorische Wirkung dieser Naturgabe auf das soziale Leben wusste. Andererseits scheint Freud (ganz konträr zu seinem Namen) keinen starken Zugang zu den freudvollen Seiten des Humors besessen oder gesucht zu haben, sich mehr auf das Unglück und auf all das, bei dem einen das Lachen vergeht, ausgerichtet zu haben; überdies erklärte er, nur im »Zustand des Mittelelends« gut schreiben zu können. Umso erfreulicher ist es, dass bereits vor 14 Jahren zwei Psychologen einen Band »Therapeutischer Humor. Grundlagen und Anwendungen« (Titze u. Eschenröder, 1998) herausgebracht haben und vor einigen Jahren in Leipzig ein »Deutsches Institut für Humor« gegründet worden ist, das die heilsamen und klärenden Wirkungen dieser Naturgabe auch für die nicht selten verbissene Arbeitswelt zu erschließen versucht (vgl. Kresse u. Ullmann, 2008). Denn dass der Humor oft fehlt, dafür gibt es leider viele Beispiele. Besonders aufschlussreich sind solche, bei denen er nicht einmal vermutet wird. Das Magazin »Der Spiegel« berichtet von so einem erhellenden Missverständnis: »Die generalisierte Heiterkeitsstörung (GHKS) […] beschreibt dem Fachblatt Forum der Psychoanalyse zufolge einen persistierenden fröhlichen Gemütszustand. Selbst wenn die Betroffenen mit abgrundtiefen Erfahrungen konfrontiert würden, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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könnten sie sich ›von ihrem Zustand der Heiterkeit nicht distanzieren oder diesen verändern‹. Etliche Leser haben sich beim Autor, dem Psychiater Ulrich Streeck, nach weiterführender Literatur erkundigt – und so erst erfahren, dass der Beitrag über die GHKS eine Satire war. Manche Kollegen nähmen ihm das bis heute übel, erzählt Scherzbold Streeck – wer weiß, vielleicht sind die Genarrten an der ›posttraumatischen Verbitterungsstörung‹ erkrankt« (Blech, 2012). In einer Zeit, in der sich die Zunahme von Pathologisierungen als recht gewinnträchtig erweist (vgl. die vermeintliche Symptomatik von ADHS) und die diagnosefähigen Störungen exponentiell zugenommen haben (vgl. das Ansteigen von 26 anerkannten seelischen Störungen beim sogenannten DSM bis zu 394 beim DSM-IV), erscheint es nicht sehr verwunderlich, wenn einer so anarchistischen und in keinem hohen rationalen Ansehen stehenden Fähigkeit wie dem Humor zu Leibe gerückt wird – und sei es auch nur spaßeshalber. Wobei es einigen Humors bedarf, um den Gemütszustand der ironieresistenten Leser Streecks zu ertragen … Marco Aldinger, der nach eigenen Angaben die Schwertkunst Kendo und Zen praktiziert (was immer das heißen mag), betreibt Bewusstseinserweiterung als »BewußtseinserHeiterung« (Aldinger, 1998). Das heißt, er zeigt zumeist in kurzen Texten auf, welch bewegende, weil haltungserschütternde (und sie dadurch überprüfende) Wirkung dem reflektierten Humor eigen sein kann. In einer bezüglichen Liste wird sichtbar gemacht, wie sich das individuelle Ende durch die vorausgehenden Ausrichtungen der jeweiligen Lebensform zu ergeben scheint.
Wenn der Tod kommt, dann ist Sense »Meister, wie vollzieht sich dieser Prozeß, den wir Sterben nennen?« »Nun, es gibt zwar nur einen Weg, geboren zu werden, aber unzählige zu sterben. Und so stirbt jeder nach seiner Art: Der Pfarrer – segnet das Zeitliche. Der Nachtwächter – entschläft. Der Rechtsanwalt – tritt vor den höchsten Richter. Der Chemiker – scheidet. Der Dieb – stiehlt sich davon. Den Elektriker – trifft der Schlag. Der Jäger – geht in die ewigen Jagdgründe. Der Ungläubige –muß dran glauben. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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Der Vegetarier – beißt ins Gras. Dem Schneider – reißt der Lebensfaden. Der Schauspieler – tritt von der Bühne ab. Der Hektiker – findet die ewige Ruhe. Der Florist – verwelkt. Der Hippie – geht auf einen neuen Trip. Der Bergmann – fährt in die Grube. Der Alkoholiker – säuft ab. Der Berufsberater – wird abberufen. Der Gärtner – geht ein. Dem Uhrmacher –schlägt das letzte Stündchen. Der Geradlinige – wird um die Ecke gebracht. Der Musiker – geht flöten. Die Wäscherin – hat ausgerungen. Der Intellektuelle – gibt den Geist auf. Der Matrose – geht über Bord. Der Optiker – schließt die Augen. Die Putzfrau – wird zu Staub. Den Bauern – holt der Sensenmann. Der Maurer – kratzt ab. Der Metzger – geht den Weg allen Fleisches.« »Und du, Meister? Wie wirst du sterben?« »So, wie ich es täglich mache.« »Aber, Meister!« »Also gut, Ernst beiseite – ich treffe den Wahren Meister« (Aldinger, 1998, S. 137 f.).
Die Grenzen, wo ein blickweitendes Wortspiel in einen Kalauer übergeht, sind natürlich fließend. Kaum etwas (wie bereits mehrfach gesagt) ist so sehr auch eine Geschmacksfrage wie der persönliche Humor bzw. das persönliche Verhältnis zu ihm; »auch wenn es nichts (mehr?) zu lachen geben sollte, einen Grund zum Lachen gibt es sicherlich: man selbst« (Aldinger, 1998, S. 14).
An- und Abwesenheit des Humors Ich möchte Sie zu einem kleinen Gedankenspiel (einem experimentierenden Hypothesenbilden) einladen, bei dem Sie selbst am besten wissen © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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oder entscheiden (können), ob und inwieweit dies mit der sogenannten Realität (so, wie Sie diese erleben) zu tun hat oder nicht. Angenommen, der Humor bzw. seine konstruktiven Trabanten würden: –– weggehen, –– fehlen, –– verboten sein, –– für schädlich, unsinnig, unnötig erklärt werden, –– aus der Organisation entfernt werden. Was geschähe dann mit einer: –– bestimmten Religion, Konfession, einem fixierenden Glaubenssystem oder sonst einem Monotheismus, –– einer festen politischen Überzeugung, –– einem ausschließenden Wissenschaftsverständnis, –– einem persönlichen Weltbild oder Wertesystem, –– einem bestimmten therapeutischen oder beraterischen Modell?
Der Humor – gerade als lebens- und lösungsdienliche philosophische Kompetenz – bewährt sich nach meinem Verständnis als Vielheitsund Verschiedenheitsbewahrer, als praktizierender toleranter »Polytheist«. Er kann auf unvergleichliche Weise erkennbar machen, was geschieht, wenn nur einem Gott gedient, nur für eine Idee gelebt, nur an eine (eben die richtige) Methode geglaubt wird. Besonders deutlich wird das dort, wo zu viel Macht akkumuliert und dies ideologisch begründet wird, wie zum Beispiel in der Unfehlbarkeitsdoktrin des Pontifex. Das gilt auch für die nahen Vertreter des vermeintlich einen Vertreters des Einen (ob als metaphysische Person oder politische Ideologie). So sind mir die Mitglieder der Kurie wie des Politbüros – was ihre Selbstüberzeugtheit und ihr Sendungsbewusstsein betrifft – oft nahezu identisch erschienen, natürlich abzüglich ihrer unterschiedlichen Gewandung. Das unvermeidliche Einseitigwerden des befohlenen Einen, die Gewalttätigkeit des Mono vermag kaum etwas so erhellend zu entlarven wie der reflektierte – menschenfreundliche und biophile – Humor. Und so ist er (vor allem in der Gestalt seines Trabanten, der Selbstironie) in bestimmten Kreisen ein sehr rarer Gast und wird kaum betrieben. Nicht einmal hinter vorgehaltener Hand. »Und ein Weiser ohne Humor – ist das überhaupt ein Weiser?« (Comte-Sponville, 1996, S. 248). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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Für Therapeuten, Berater und Coaches, die mit ihren Patienten, Klienten oder Kunden in einer existentiellen Kommunikation stehen, kann es sehr aufschlussreich sein, die Veränderungen auf der aussagestärksten sozialen Fläche, dem Gesicht, dadurch genauer wahrzunehmen, dass sie beispielsweise die individuellen Ausprägungen des latenten Humors bemerken. Das heißt zum Beispiel, die subkutane Bereitschaft zu lachen oder zu lächeln als Ausdruck einer geistig-seelischen Veränderungs-Gestimmtheit zu erkennen. Das liefert für konstruktive Gesprächsverläufe oft wichtige Indikatoren und hilft verfestigte Sichtweisen gewissermaßen von innen her aufzulösen. Dafür erweist es sich günstig (sozusagen als persönliche Feldforschung) den Humor fremder Kulturen aufmerksam zu betrachten. Dass Humor nicht allein eine Altersfrage ist und das mitunter subtragische und pathetische Lebensgefühl jüngerer Menschen für höhere Jahrgänge Stoff zumindest für eine milde Form der Erheiterung darstellt, ist bekannt. Wie sehr Humor eine durch die Mentalität bedingte, mithin nationale Angelegenheit ist, zeigt zum Beispiel eine Erfahrung, die Paul Watzlawick von sich als Autor überliefert. Sein Long-Bestseller »Anleitung zum Unglücklichsein« war dies für die europäischen, speziell für die deutschsprachigen Länder. In den USA floppte das Büchlein und stieß auf Unverständnis, ja sogar Ratlosigkeit. Im Lande des »Pursuit of Happiness«, wo sich nicht selten missionarischer Eifer mit einem Mangel an Selbstironie verbindet, besaß man anscheinend kein Organ für den hintergründigen und doppelbödigen Witz einer Anleitung, welche die Wege zum persönlichen Unglück verbessern und methodisch handhabbar machen wollte (vgl. hierzu auch Watzlawicks »Gebrauchsanweisung für Amerika«, die der Autor nach jahrzehntelanger Landeserfahrung und aus der Sicht eines humorvollen und perspektivenbewussten Österreichers schrieb; sie enthält gerade für konstruktivistisch orientierte Therapeuten, Berater und Coaches einiges an aufschlussreichem Material, Watzlawick, 1978). Im Nachgang zweier längerer Thailandfahrten habe ich ein längeres Manuskript erstellt (Stölzel, 2002), in dem sich eine Reihe ethologisch-ethnologischer Skizzen befinden, darunter solche über die wohl signifikanteste Mimik im »Land des Lächelns«. Ich zitiere hier daraus, um ein wenig zur eigenen Blickschärfung anzuregen: »Von dem genau beobachtenden Darwin habe ich gelernt, auf Unterschiede in der Filigranmuskulatur zu achten. Also zum Beispiel zu © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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bemerken, ob ein Lächeln mit dem orbicularis oculi (dem Wangenheber) oder ohne diesen Muskel erfolgt. Paul Ekman, ein ehemaliger Photograph und ethologischer Erforscher menschlicher Gesichtssignale, meint, Darwins Beobachtung habe sich in diesem Falle als haltbar erwiesen und bewährt. Ekman spricht von einem ›AugenmuskelLächeln‹ und einem ›Lächeln ohne Augenmuskeln‹. Ersteres zeige mit hoher Wahrscheinlichkeit ein fröhliches und von Herzen kommendes Lächeln; letzteres ein bloß eingeübtes und simuliertes an. Neurophysiologisch betrachtet, gehe mit dem ›Augenmuskel-Lächeln‹ ein sogenanntes Hirnaktivitätsmuster einher, das fehle, wenn ohne Augenmuskel gelächelt werde. Es versteht sich, daß man solche Parameter nicht zu stereotyp anwenden darf. Doch bei behutsamen Gebrauch besitzen sie gerade auch im ›Land des Lächelns‹ einen gewissen Erkenntniswert. […] *Das Lächeln ist hierzulande nicht nur eine Geste, die als mimisches Gleitmittel das Sozialleben erleichtert; es ist auch, vermute ich, Ausdruck einer Lebenshaltung, die über den buddhistischen Einfluß der freundlich-wertschätzenden Respektbekundung vor allem Kreatürlichen hinausreicht. Denn es gibt wohl kaum ein mimisches Mittel, das dem Lächeln in der Möglichkeit, die verschiedensten und vor allem auch widersprüchlichsten Regungen auszudrücken, vergleichbar wäre. Der philosophische Anthropologe Helmuth Plessner hat in einem konzisen Aufsatz über das Lächeln [2003] diesen und andere Aspekte anregend beleuchtet. Berücksichtigt man ferner den Umstand, welch großer Konfliktvermeidungsdruck hierzulande auf den Menschen lastet, ist es also von dieser Warte aus betrachtet, nicht sehr verwunderlich, daß das Lächeln in Thailand eine solch allgegenwärtige und wichtige Rolle spielt. Mögen die Thais auch anders sozialisiert sein als etwa die Europäer, mag das nationale Temperament auch weniger aufbrausend sein als etwa das der mediterranen Völker, ihr seelischer Affekthaushalt ist von dem anderer Menschen nun wiederum auch nicht so verschieden. Darauf deuten außerdem die mitunter tödlichen Folgen eines ›Gesichtsverlustes‹ oder einer anderen ›Ehrverletzung‹; die auffallend hohe Zahl der Verkehrstoten; die erstaunlich unverhohlene Faszination beim Betrachten von Bildern zerfetzter oder verstümmelter Körper. Die sog. crime magazins, in denen es Photoserien von Morden und Unfällen gibt, sollen bei den harmonieorientierten Thais recht © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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beliebt sein. Ich habe selbst mehrfach die sonst lethargisch-friedlich lächelnden Einheimischen zu mehreren mit geröteten Köpfen und aufgeregt plappernden Stimmen über solche Magazin gebeugt gesehen. Vielleicht läßt sich aus diesem widersprüchlichen Eindruck folgender Schluß ziehen: Das thailändische Lächeln ist deswegen hier allenthalben anzutreffen, weil es als soziale Geste besonders gut unterschiedliche Empfindungen auszudrücken vermag. Es hilft als Beschwichtigungsmimik den zur Konfliktscheu erzogenen Thais soziale Situationen zu entschärfen – vor allem auch im Umgang mit Fremden (zu Beginn jeglichen Kontakts wird erst einmal gelächelt); als habituell eingeübtes Gesichtssignal verweist es auf das hiesige buddhistische Verständnis von der Achtsamkeit und Höflichkeit anderen Wesen gegenüber; in ihm zeigen sich die kindlich-heiter-gemüthaften Seiten eines sonnenverwöhnten Volkes. Die meisten Thais, die ich lächeln sah, tun dies auch mit den Augen. Das gibt dieser Mimik, obwohl sie häufig praktiziert wird, etwas Glaubwürdiges. In Europa oder noch mehr in den USA, wo das aufgesetzte ›Cheese-Lächeln‹ verbreitet ist, würde ich nicht zu einem solchen Eindruck kommen. Und das liegt wohl nicht nur daran, daß dort die Augen oft nicht mitlächeln. Vielleicht rührt der glaubhafte Ausdruck dieser Alltagsmimik auch daher, daß die Thais in ihrem Lächeln widerstrebende Empfindungen auf eine stimmige Weise ausdrücken können. Das ehrlich Wirkende käme demzufolge aus einem echten Ventilbedürfnis. Müssen sie doch ihrem strikten Verhaltenkodex gemäß anders erscheinen, als sie sich wohl oft fühlen. Und welche Miene könnte dies kongruenter versinnbildlichen. Außerhalb des Soziallebens scheint dem Lächeln eine weit geringere Bedeutung zuzukommen. So habe ich die Thais, wenn sie für sich waren oder sich unbeobachtet wähnten, kaum je lächelnd angetroffen. Eine Parallele zum westlichen Kulturkreis, wo das Lächeln für sich selbst als Lebenshaltung und philosophische Verhaltensweise leider auch recht rar ist« (Stölzel, 2002, S. 156 ff.).
Der Schriftsteller und kulturkritische Essayist Dieter Wellershoff (vgl. Stölzel, 2010b) hat als ein dem Lachen eher vorsichtig gegenüberstehender Beobachter mit scharfem analytischen Blick und gehörigem inneren Abstand das »Lachen von Lachgemeinschaften«, bei dem es einem »das Lachen verschlägt« oder verschlagen kann, beschrieben. Er © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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unterscheidet dabei »beipflichtendes und befreiendes Lachen«: »Bei den vielleicht bezeichnenderweise sehr seltenen Gelegenheiten, bei denen ich ein Kabarett besucht habe, ist es mir meist schwergefallen zu lachen. Was mich allenfalls zum Lachen gebracht hat, waren kleine mimische Extras der Darsteller […], fast nie war es die Hauptsache, der satirische Angriff, die Bloßstellung des satirischen Objekts selbst« (Wellersdorf, 1976, S. 425). Wellershoff schildert sein Unbehagen in den Chorus der Lacher so einfach einzustimmen, auch wenn er mit der Kritik des satirischen Angriffs übereinstimmt. Er bekundet seine Reserviertheit gegen die planierende Wirkung des Gelächters, das als Gruppengeste etwas Normierendes bekomme und das subversive Potential des Humors ins Leere laufen lasse. »Dieses prompte Beipflichten durch Gelächter störte mich. Sie waren alle so rasch zu haben. Sie wollten unbedingt zu denen gehören, die im Recht waren, und das fegte mit einverstandenem Gelächter jeden Widerstand, jedes Bedenken hinweg. Es kam mir so vor, als würde man von der Satire abgefragt: Bist du dafür, hast du die richtige fortschrittliche Gesinnung, dann gib sie zu erkennen durch Lachen und Klatschen. Es waren simple Ja-Nein-Entscheidungen, die verlangt wurden. […] Differenziertes Urteil, eigene Sicht, komplexes Verstehen waren nicht mehr gefragt, wenn das Stichwort für das gemeinschaftsbildende Lachen fiel.« Dem setzt Wellershoff die Beobachtung entgegen: »Aus ganz anderen Quellen scheint mir das Lachen zu kommen, das durch groteske oder absurde Darbietungen ausgelöst werden kann. Es ist ein befreiendes, ein anarchisches Lachen, das sich dem Wegfall von Realitäts- und Vernunftzwängen verdankt, die seine in ihm freigesetzten Energien bisher gebunden haben. Es ist ein Lachen vitaler Zustimmung zu unerwarteten Möglichkeiten, ein Lachen der Ausschweifung, der emotionalen Abreaktion, das sich von keiner Moral regieren läßt« (Wellershoff, 1976, S. 425).
Der Humor als atmosphärischer Gast / Die humorbewusste Organisation / Orte des Humors in der Organisation An dieser Stelle möchte ich Ihnen nachdrücklich empfehlen, diese drei Übungen analog zu den ausführlich beschriebenen Übungen im Staunens-Kapitel durchzuführen (vgl. dazu »Das Staunen als atmosphärischer Gast«, »Die staunende Organisation« und »Orte des Staunens in der Organisation«). Sie brauchen dabei lediglich die philosophische © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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Kompetenz des Staunens jeweils durch den Humor und die mit ihm verbundenen Haltungs-Möglichkeiten ersetzen.
Ein Tag des Humors Regen Sie die Organisation, in der oder für die Sie arbeiten, dazu an, probeweise an einem ganz normalen Tag eine bestimmte philosophische Kompetenz – wie zum Beispiel den Humor – stärker mit einzubeziehen oder zu akzentuieren. Damit die Wirkung nicht durch Verkrampfung oder künstliches Verhalten geschmälert wird, empfiehlt es sich, den Experimentcharakter dieser Maßnahme zu betonen oder, falls nötig, wieder in Erinnerung zu rufen. Es geht darum, dass etwas – wie zum Beispiel der Humor – hinzugenommen, hineingegeben wird, so wie sich die Organisation als System, um sich zu erhalten, Energie zuführt oder sich durch andere (von außen kommende) Ideen, Konzepte etc. anregt, anreichert, überprüft und erweitert und damit die Selbstregulierung verbessert. Es ist auch möglich, dass durch diese Maßnahme, die bereits in der Organisation vorhandene und unterschiedlich intensiv praktizierte (vielleicht unter einem anderen Namen stehende) Kompetenz des Humors anders ins Gewahrsein kommt, gewürdigt wird und dadurch im Dienste der Organisation planvoller und effektiver eingesetzt werden kann. Damit ein solcher Tag in einer für die Organisation nützlichen Weise durchgeführt werden kann, hat es sich als sinnvoll/gut erwiesen, auf Folgendes zu achten: –– Auf welchen Haltungen ruht gewissermaßen die Organisation? Welche werden besonders oft gezeigt? Welche aus welchen Gründen eher vermieden? Welche gelten als unerwünscht und werden sogar geahndet und bekämpft? Nutzen Sie bei diesem heuristischen Modus die Kompetenz des Humors wie »philosophische Röntgenstrahlen«, mit deren Hilfe Sie die Grundhaltungen, sozusagen das Skelett, erkennen können, auf denen die in der Organisation gezeigten Verhaltensweisen ruhen. Erforschen Sie diese, möglichst ohne sie zu bewerten. Es geht nicht darum, etwas zu entlarven oder sich zu mokieren, sondern darum, etwas genauer erfassen und möglicherweise besser verändern zu können. –– Finden Sie heraus, welche Formen des Humors in der Organisation gezeigt werden und in Erscheinung treten (dürfen). Wo gibt es in der Organisation den meisten Humor und wo den wenigsten? © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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–– Versuchen Sie mit Hilfe des Humors zu ermitteln, wo Ihnen möglicherweise ein Haltungswandel im Organisationsalltag angezeigt scheint. Wo er sich Ihnen als wichtig, dringend oder unvermeidlich darstellt. –– Lassen Sie sich immer mal wieder im Lauf des Tages von (Ihrem) Humor interviewen. Welche Fragen könnte er Ihnen stellen? Wozu würden Sie gerne befragt werden? Worüber könnten Sie am meisten, am besten berichten? –– Untersuchen Sie mit Hilfe der Kompetenz des Humors, welche Bereiche, Interaktionsformen und Funktionszusammenhänge Ihnen besonders verfestigt und starr, welche Ihnen offener und flexibler erscheinen.
Sich vom Humor erholen Die Kontrahaltung des Ernstes als Chronifizierungsvermeider nutzen: Einige Hinweise und Tipps Es könnte sein, dass Ihnen die vielfachen und vielfältigen Aufforderungen und Anleitungen, Ihre Fähigkeit den Humor zu einer philosophischen Kompetenz weiterzuentwickeln, allmählich auf die Nerven gehen und sich in Ihnen der Wunsch regt, damit (zumindest eine Zeitlang) zu pausieren. Eine wirksame Möglichkeit, dies zu tun, besteht in einer konstanten Orientierung am Ernst, Ernsthaften und Ernstnehmen. Und das stellt sich konkret so dar: 1. Um den Ernst, das Ernsthafte, für sich besser zu erschließen, sollten Sie sich darin üben, bei jeder noch so kleinen oder geringfügigen Heiterkeit, jedem Anflug von Komik oder Witz, den darin unvermeidlich enthaltenen Ernst aufzuspüren. Fassen Sie diesen fest ins Auge und versuchen Sie ihm ähnlich zu werden. Lassen Sie dabei alles andere an sich abtropfen. 2. Blicken Sie Ihre Umwelt (besonders Ihre persönliche Umgebung) nicht zu freundlich an. Trainieren Sie sich am besten vor dem Spiegel die Mimik der Verbissenheit an. Lernen Sie so am eigenen Leib den Reichtum milde säuerlicher und zart verquälter Gesichtsausdrücke kennen. Experimentieren Sie mit diesem Wissen. 3. Nehmen Sie Verspannungen und Verhärtungen in sich wahr. Verwenden Sie diese als stabile Haltgeber; so kontrollieren Sie sich und Ihren Einflussbereich weit besser und verhindern störende Wirkungen des Humors. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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4. Verbinden Sie Ihre Orientierung am Ernst, an der Ernsthaftigkeit mit dem Gefühl einer konstanten Freudlosigkeit. Auf diese Weise können Sie Ihrem Leben den Charakter der Erwartbarkeit und der spezifischen Würde des Ertragens verleihen. 5. Dulden Sie auch in Ihrem persönlichen Umfeld keinen Humor. Nehmen Sie die Scherze der anderen möglichst übel. Seien Sie nachtragend! Das Leben ist alles andere als lustig. 6. Halten Sie sich von heiteren Menschen fern! Auf der Welt gibt es so viel Schlimmes und Trauriges, dass eine humorvolle Grundhaltung ihr gegenüber geradezu frivol erscheint.
Grenzen des Humors Mehr als bei den anderen Kompetenzen scheinen hier die Grenzen auch eine Frage des (wie im Einzelfall auch immer gelagerten) guten Geschmacks zu sein. Ohne Zweifel können Aspekte oder Trabanten des Humors zu einer wirkungsvollen, mitunter sehr verletzenden Waffe gemacht werden. Wiederum andere können als übertriebenes Distanzierungsmittel verwendet oder bei Gelegenheiten und Anlässen so gebraucht werden, dass sich ein anderer zu Recht nicht mehr ernstgenommen fühlt. Hier ist einiges Fingerspitzengefühl vonnöten. Zudem ist zu berücksichtigen, dass der Humor eine nach Art, Erscheinungsweise und Intensität sehr individuelle Angelegenheit ist. Um Sie zu einem entsprechenden Metabewusstsein – das heißt hier einem Metahumor – anzuregen bzw. ein bereits bestehendes zu schärfen, empfehle ich einen kleinen Selbsttest.
Grenzen des Humors Legen Sie sich die Frage vor, wo und wodurch für Sie ein weiterführender, blicköffnender, neue Perspektiven und Verhaltens-Möglichkeiten ins Gewahrsein bringender Humor aufhört. Wann und weswegen er Ihnen nicht mehr angezeigt scheint. In welchen Situationen oder bei welchen Themen dies für Sie der Fall sein kann. Sie erhalten auf diese Weise auch eine deutliche Wahrnehmung für die Vorteile und den Nutzen, den eine Orientierung an dem Ernst mit sich bringen kann. Denn, wo keine Unterschiede gemacht werden können, gibt es keine Information und ohne © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Grenzen des Humors
Information können wir nichts erkennen. »Information. Jener Unterschied, der einen Unterschied macht«, wie es im Glossar von Batesons »Geist und Natur. Eine notwendige Einheit« heißt (Bateson, 1987, S. 274). Gäbe es also nur Humor, dann gäbe es letztlich auch keinen Humor mehr, vor allem keinen, mit dem Therapeuten, Berater, Coaches oder Organisationsentwickler arbeiten könnten.
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Vordialog Philosophischer Praktiker: Es mag Sie überraschen, dass ich den Mut als eine – philosophische – Kompetenz betrachte und ihn hier gewissermaßen an die dritte Stelle rücke. Berater: Zwischen Humor und Skepsis. Doch sollte der Mut nicht am Anfang stehen, sozusagen als Antreiber und grundsätzlicher Beweger von allem? Organisationsentwicklerin: Zumindest bei den schwierigen Situationen, mit denen wir beruflich ja nicht selten zu tun haben. Da würde dem Mut wohl eine Anfangsposition zukommen. Therapeutin: Anfangsposition oder nicht. Ich kann sagen, dass ich überrascht war, dass ich durchaus überrascht war, dass Sie den Mut als eine philosophische Kompetenz auffassen, wobei mich bei Ihnen allmählich nicht mehr viel überrascht… Philosophischer Praktiker: … sollten Sie sich etwa schon an mich und meine Eigenwilligkeiten gewöhnt haben? Therapeutin: Eigenwilligkeiten? Ich würde sagen: unorthodoxe Positionen. Philosophischer Praktiker: Diese Beschreibung akzeptiere ich gerne. Berater: Ihre unorthodoxen Positionen in Ehren. Doch steht für mich zumindest das Philosophische nicht allein für das Grundsätzliche, sondern auch für die rücksichtslosen Fragen nach dem Grundsätzlichen, die sich von keiner Autorität einschüchtern lassen. Organisationsentwicklerin: Darin läge dann also das Unorthodoxe. Berater: Gewissermaßen. Organisationsentwicklerin: Und dafür braucht man wohl Mut. Und viele haben den Mut nicht, Grundsätzliches, also auch ihre © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Vordialog
Fundamente, egal ob nun persönliche oder berufliche, in Frage zu stellen oder wenigstens genauer und eingehender zu betrachten. Berater: Oft denke ich, das ist es, worauf es ankommt. Wenn ich dem Klienten vermitteln kann oder er in Folge unserer Zusammenarbeit selbst darauf kommt, es zulässt und sich eingesteht: dass es keine sinnvolle Weiterentwicklung geben kann, ohne die eigenen Fundamente und damit auch scheinbar sichere Positionen in Frage zu stellen oder rückhaltlos zu überprüfen. Therapeutin: Einen gewissen Rückhalt braucht es meiner Erfahrung nach schon, wenn sich etwas gut entwickeln bzw. weiterentwickeln soll. Philosophischer Praktiker: Der Mut, zumal der philosophisch entwickelte, vermag einen besonders guten Rückhalt zu vermitteln. Einen Rückhalt, der im Einzelnen persönlich gegründet ist. Der es erleichtern kann, rückhaltloser zu fragen. Auch wenn sich das zunächst paradox anhören mag. Therapeutin: Für mich klingt das eher nach einem schwer erreichbaren Ideal. Organisationsentwicklerin: Wo wären denn da für Sie die Stellen oder Orte, wo der Mut bei jedem Einzelnen konkret angesiedelt wäre? Philosophischer Praktiker: In den verschiedenen philosophischanthropologischen Konzeptionen gibt es die Übereinstimmung, dass der Mut in der körperlichen bzw. leiblichen Mitte, in der Region des Rumpfes also, verortet wird. Wobei es bei den verschiedenen Konzeptionen unterschiedliche Positionen, sozusagen Lagen gibt. Eine siedelt ihn mehr in der Bauch-, eine andere mehr in der Herzregion an. Beide jedoch an zentralen Schauplätzen im Menschen. Organisationsentwicklerin: Das leuchtet mir ein, wenn ich an Redewendungen denke wie: beherzt handeln, oder: das dreht einem den Magen um. Philosophischer Praktiker: Hinzu kommt eine nicht allein etymologische Verbindung, die zwischen dem Mut und dem Gemüt besteht. Organisationsentwicklerin: Das war mir so nicht bewusst. Das macht mich nachdenklich, und da stellt sich mir die Frage: Wo wären die körperlichen Orte oder Leibesregionen, die dem Gemüt zugeschrieben werden? © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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Philosophischer Praktiker: Das berührt die alte Vorstellung des Seelensitzes. Therapeutin: Kann man Gemüt und Seele so völlig gleichsetzen? Berater: Spannender als terminologische Präzision an diesem Punkt finde ich es, die Frage körperlich und leiblich in sich zu bewegen und spürend herauszufinden, wo man das Gemüt stimmig in sich verorten würde. Intuitiv glaube ich nicht, dass ich es im Gehirn unterbringen würde. Therapeutin: Bei all dem Spüren ist mir noch nicht recht deutlich geworden, was das Philosophische des Mutes sein könnte. Dass er mit Gefühlen zu tun hat, ist ja klar. Aber mit dem Denken… Philosophischer Praktiker:… auch auf die Gefahr hin, Ihnen auf die Nerven zu gehen, würde ich auch diesen Alltagsbegriff, den wir ja alle so viel und leichtfertig im Munde führen, zunächst für sich klären und herauszufinden versuchen, was Sie meinen, wenn Sie vom Denken oder dem Denken sprechen. Und zwar möglichst genau und rückhaltlos, ohne die Anleitung anderer, wie Kant sagt. Das heißt unabhängig von all den Autoritäten und festen Bezugsgrößen, auf die Sie sich sonst verlassen. Gut möglich, dass Ihnen dabei das Philosophische des Mutes besser aufgeht, als wenn ich es Ihnen – dazu noch in aller Kürze – zu erläutern versuche. Organisationsentwicklerin: Der philosophische Mut scheint also, nach Ihrem Verständnis, viel mit dem Überwinden und AußerKraft-Setzen von Normen und Vorgaben zu tun zu haben. Also so etwas wie eine geistige Überwindungshandlung darzustellen. Philosophischer Praktiker: Wobei ich weder den Mut noch den Menschen überhaupt auf das Geistige beschränken würde. Ein wichtiges Potential der Philosophischen Praxis besteht für mich darin, persönliche wie berufliche Fragen nicht nur grundsätzlicher, sondern auch umfassender betrachten zu können. Auf den Mut angewendet, hieße das: die geistigen, die seelischen und die körperlichen bzw. leiblichen Ausdrucksformen und Verhaltensweisen gleichermaßen mit einzubeziehen. Zumal gerade bei diesem Wort und diesem Begriff eine große Menge an Nuancen hervorgebracht worden ist, um den Menschen und seine unterschiedlichen Mut-Möglichkeiten zu beschreiben. Berater: Meine Neugier ist geweckt.
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Begriffsgeschichte
Begriffsgeschichte Mut scheint auf den ersten Blick kein philosophischer Begriff 61 zu sein. In der Tat fehlt er in vielen einschlägigen Wörterbüchern und Kompendien. Diese schwache lexikalische Präsenz scheint dafür zu sprechen, dass dieser Begriff wenig mit Philosophie zu tun hat. Doch muss einen dieser Umstand (genauer betrachtet) nicht gänzlich überraschen, wenn man bedenkt, dass viele Herausgeber und/oder Verfasser solcher offizieller Nachschlagewerke Beamte sind oder sich in einem behördlich strukturierten Rahmen bewegen – und Mut gehört zu den eher nicht allzu häufig antreffbaren beamtlichen oder behördlichen Tugenden (wie Kollegen, die mehrfach mit sogenannten Non-Profit-Organisationen gearbeitet haben, bestätigen), wenngleich der Mut als Charaktereigenschaft oder Temperamentsstrebung natürlich auch hier (wie überall, wo Menschen sind) begegnet. Ist dies der Fall, dann jedoch weniger in der Form einer entwickelten philosophischen Kompetenz, zu deren begrifflichen Verständnis ich im Folgenden einige Überlegungen anstellen möchte, die ihn und seine Verwendungsmöglichkeiten klären und als philosophische Kompetenz erkennbarer machen. Mut ist ein altes, sogenanntes gemeingermanisches Wort; das heißt, es kommt ähnlich lautend und in vergleichbarer Bedeutung auch in anderen Sprachen der Sprachfamilie vor, so zum Beispiel als mod (im Dänischen und Schwedischen), als mood (im Englischen) oder als muot (im Niederländischen). Die niederländische Schreibung ist der althochdeutschen muote recht nahe. Unter muote (der Vorläuferbezeichnung des heutigen Muts) verstand man ehemals (Seelen-)Kraft, Begehren, aber auch Sinn und Gesinnung. Für den bedeutenden mystischen Denker Meister Eckart, der auch sehr sprachschöpferisch gewirkt hat (vgl. Stölzel, 2010b, S. 6) repräsentierte die muote und das aus ihr entspringende gemüete (die Vorform des Begriffs Gemüt)62 gewissermaßen die 61 Dabei ist es – Schopenhauer zufolge – der Mut, keine Frage auf dem Herzen zu behalten, was den Philosophen mache. Daher erblickt er in der Figur des Königs Ödipus, welcher den Einflüsterungen der »Jokaste in sich« widerstehe, ein Urbild des philosophischen Menschen (Schopenhauer 1992, S. 16). Zu dieser existentiellen Introspektion gehört einiger Mut. Vgl. hierzu das Anthropologiekapitel in Thomas Stölzel: »Fragen – Lösen – Fragen« (erscheint im Frühjahr 2013). 62 Dieser Begriff erscheint durchaus in philosophischen Wörterbüchern und Kompendien. Das wohl umfangreichste und renommierteste Nachschlagewerk, »Das historische Wörterbuch der Philosophie«, verzeichnet die Stichworte Gemüt, Gemüts© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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Wesensmitte eines Menschen, sein vitales und spirituelles Zentrum. Der Mut verkörpert, so verstanden, das westliche Pendant zum östlichen Hara, den Sitz des Selbstgefühls. Es ist jener Ort, der im Harakiri nach genauen rituellen Vorgaben zerstört wird.63 Die Begriffe Mut und Gemüt haben in den antiken Sprachen ihre Entsprechungen im griechischen thymós oder im lateinischen animus, während der oft mit dem Mut zusammengebrachte Begriff der Tapferkeit seine Entsprechung in der andreía oder der virtus hat. Eine nicht nur leiblich grundierte Beziehung zwischen Mut und Herz deutet auch der Begriff Courage an, der sich aus dem französischen cœur herleitet und in deutschen idiomatischen Wendungen, wie »sich ein Herz fassen«, »beherzt handeln«, »Courage zeigen« oder der bekannten »Zivilcourage«64, Anwendung findet. Der »deutsche« Mut verfügt über einen erstaunlich großen Bedeutungshof und ein weitreichendes, fein ausdifferenziertes Wortfeld. Was die Größe und Ausdifferenzierung angeht, gibt es eine Ähnlichkeit zu dem Humor und seinen Trabanten. Ein direkter philosophischer Bezug des Begriffs Mut wird in den nominalen Ableitungen, wie der »Vermutung« oder der »Mutmaßung«, sowie in den zugehörigen Tätigkeiten, in diesem Falle also in »vermuten« bzw. »mutmaßen«, deutlich. Doch betrachten wir zunächst den Begriff und sein unmittelbares – in anthropologischer Hinsicht sehr aufschlussreiches – Umfeld etwas genauer. Da gibt es nicht nur die »Anmut«, die Martin Seel zufolge »eine grundlegende soziale Erscheinungsform menschlicher Schönheit« darstellt, die »nicht an irgendwelche Symmetrien des Körperbaus gebunden« ist (Seel, 2011, S. 93), sondern auch die »Demut« (und das damit verbundene »demütigen«), den »Opfermut«, den »Löwenmut«, den »Wagemut«, der bis zum »Todesmut« reichen kann, den »Edelmut« und das »edelmütig Sein«, den »Hochmut«, aber auch den »Großmut« wie den »Kleinmut«, den »Mutwillen«, bewegung und Gemütsruhe, gibt jedoch keinen Verweis darauf, welcher nicht nur etymologische Zusammenhang zwischen dem Mut und dem Gemüt besteht, wenngleich der Hinweis gegeben wird, dass seit der frühen deutschen Mystik das Gemüt die gesamte innere Welt eines Menschen umfasse. 63 Zu den Hintergründen dieser extremen Form der Selbstüberwindung und den Zusammenhang mit einem Mut, der sich gegen sich selbst wendet, vgl. »Mut in der existentiellen Kommunikation«. 64 Vgl. hierzu die Überlegungen, die Odo Marquard über diese »zivile« Form des Mutes auch im Unterschied etwa zum soldatischen anstellt (Marquard, 2004, S. 25 ff.). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Begriffsgeschichte
den »Missmut«, den »Unmut«, den »Wankelmut«, den »Schwachmut«, aber auch den »Heldenmut«, der durchaus »übermütig« ausfallen kann und für manche eine »Zumutung« darstellt, die nicht über eine entsprechende »Langmut« verfügen oder »sanftmütig« oder »einmütig« gestimmt sind – die allesamt genauere Auskunft darüber geben, wie es mit dem persönlichen Mut gerade aussieht, welche Schattierungsmöglichkeit jetzt oder häufig oder gar grundsätzlich erkennbar ist. Nicht zu vergessen die für die Entwicklung eines Menschen so wichtige und folgenreiche »Ermutigung« bzw. »Entmutigung« mit ihren Handlungsformen (sich) »ermutigen« bzw. (sich) »entmutigen«. Der Mut ist auch auf die Bildung von Vor- bzw. Eigennamen wie zum Beispiel Almut, Helmut, Heilmut oder Hartmut übergegangen und hat zu einer Reihe von Redewendungen oder idiomatischen Beschreibungen geführt, wie unter anderem »guten Mutes sein«, »dabei ist mir nicht wohl zumute«, »immer frisch bei Mute«, »der Mut ist dahin«, »Mut einflößen«, »da sinkt mir der Mut«, »mit festem Mut«, »ich fühle Mut durch meine Adern fließen«, »das gibt mir Mut«, »seinen Mut unter Beweis stellen«, »neuen Mut fassen«, »sein Mütchen kühlen«, »Mut schöpfen«, »jemandem Mut zusprechen« oder »den Mut haben, die Dinge beim Namen zu nennen«. Man könnte die Philosophie-, ja die Kulturgeschichte überhaupt, auch als Ermutigungsgeschichte schreiben. Als eine Historie, in der der Akzent auf der Fähigkeit zur (Selbst-)Überwindung läge; auf der Erweiterung bisheriger Denkgrenzen und Verhaltensnormen. Das könnte dann (zumindest was das westliche Denken betrifft) mit den sogenannten Vorsokratikern beginnen. Bei aller Unterschiedlichkeit der einzelnen Vertreter wie ihrer Forschungsrichtungen und methodischen Annäherungen besteht die verbindende Gemeinsamkeit darin, den Erkenntnismut aufgebracht zu haben, sich bei der Beobachtung der Welt (und spiegelbildlich dazu von sich selbst) vornehmlich an den eigenen Wahrnehmungen und Gedanken orientiert zu haben und nicht (mehr) an den Vorgaben vermeintlich metaphysischer Ordnungen oder theologischer Machtgebote. Das bedeutet auch: sich irritierenden und widersprüchlichen Einsichten gestellt zu haben, die diese autonomen Erkundungen mit sich brachten. Vereinfacht dargestellt, kreisten die Vorstellungen der vorsokratischen Denker um vier Themen(-komplexe), die vielfältig miteinander verbunden sind: –– den Kosmos als das Ganze, was wahrgenommen werden kann, und die Erscheinungsformen, in denen es vorgefunden wird, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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–– den Anthropos als die Vorstellungen, die sich der Mensch über sich, seine Eigenart und seine Stellung im Ganzen macht, –– den Logos als die genaue Beschaffenheit und die Anwendungsmöglichkeiten jenes Vermögens, das den Menschen von anderen Wesen unterscheidet, –– die Physis als die Dichte, Tiefe, Form, Gestalt usw. der Kohärenz und Konsistenz, mit der das Ganze unmittelbar erfahrbar und erforschbar wird. Im Zentrum stand der Einzelne, der den Mut fasste, dem ungeheuren Kosmos, den er um sich herum vorfand, in den er sich gestellt sah, wie auch denjenigen, den er in sich wahrnahm – »Der Seele Grenzen kannst du nicht ausfinden, auch wenn du gehst und jede Straße abwanderst; so tief ist ihr Sinn«, betont Heraklit (Heraklit, 1989, S. 17) –, selbstständig, sozusagen ohne weltanschauliches Netz, gegenüberzutreten, und der sich dabei bewährte. Sokrates scheint – darin stimmen die verschiedenen Stränge der Überlieferung überein – den Mut besessen zu haben, vor dem Athener Gericht existentiell für seine Lebensform einzustehen; dem eigenen Tod philosophisch, das heißt mit erarbeiteter Gelassenheit zu begegnen und die Möglichkeit zur Flucht (die bestanden zu haben scheint) auszuschlagen. Der platonische Dialog »Phaidon« überliefert Szenen und Äußerungen des Sokrates an seinem Sterbetag, darunter diese, dass er nicht wisse, wer den besseren Weg einschlage, er, der sein gewohntes Leben nun sehr bald verlassen werde, oder die, die noch weiter am Leben blieben. Darin dokumentiert sich eine mutgrundierte Offenheit, auch angesichts des eigenen Endes auf ein weltanschauliches Geländer zu verzichten, anhand dessen man den vermeintlich sicheren Übergang in eine andere Welt gehen kann. Sein Schüler Platon bewies praktischen wie theoretischen Mut. Er ließ sich mehrfach als philosophischer Politikberater in ein undurchsichtiges Herrschaftsmilieu einladen, geriet dabei in Gefangenschaft und sogar in Todesgefahr. Obwohl diese Unternehmungen für ihn bedrohlich waren und nicht den angestrebten Erfolg brachten, ließ er sich nicht entmutigen, sondern begründete eine Akademie (die zum Vorbild für alle späteren ähnlichen Einrichtungen wurde) und stellte sich der Aufgabe, die Vielgestalt seines Wissens und seiner Erfahrungen in einem Werk zusammenzufassen und darzustellen, das dem Leser die Möglichkeit geben sollte, das eigene Leben geistig anders in Besitz nehmen zu können © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Begriffsgeschichte
(und zukünftige Philosophen besser auf ihr Tun vorzubereiten). Sein Schüler Aristoteles brachte den Mut auf, lange in Athen zu leben und in Platons Akademie zu arbeiten, obwohl er als Nicht-Athener keine Aussicht hatte, das Bürgerrecht zu erwerben, als Makedonier mit engen Beziehungen zum dortigen Königshof (er wurde als Prinzenerzieher des Thronfolgers Alexander, des nachmaligen »Großen«, ausgewählt) immer wieder als Feind angesehen und sogar bedroht wurde, so dass er schließlich, um sein Leben zu retten, als älterer Mann aus Athen fliehen musste.65 In einem seiner letzten Werke, der »Nikomachischen Ethik«, die seinem Sohn Nikomachos gewidmet ist und eine Art Summa seiner lebensphilosophischen An- und Einsichten bildet, verortet er auch den Mut: »Bei den Affekten der Furcht und der Zuversicht ist der Mut die Mitte. Wer hier durch Übermaß fehlt, hat, wenn es durch Furchtlosigkeit geschieht, keinen besonderen Namen […], geschieht es aber durch ein Übermaß von Zuversicht, so heißt er tollkühn, wer aber durch ein Übermaß von Furcht und einen Mangel an Zuversicht fehlt, heißt feige« (Aristoteles, 1985, S. 37). In diesem geistesgeschichtlich gesehen frühen Bestimmungsversuch wird gerade für diese philosophische Kompetenz etwas Grundlegendes angedeutet: die Notwendigkeit des Ausgleichs, des Ausgeglichenen, der mittleren Lage. Hinzu kommt ein wesentliches Begleitphänomen des Mutes: die Zuversicht. Sie erscheint wie ein Zwillingsgeschöpf, das stets mit dem Mut auftritt oder in ihm enthalten ist. Denn wie groß oder klein, stark oder schwach, klar sichtbar oder kaum erkennbar eine Ermutigung durch den eigenen Mut ausfallen mag, ist bei diesem Prozess auch das Zutrauen beteiligt. Es entwickelt sich und reift gemeinsam mit dem Mut, so dass »sich trauen« und »Mut haben« nahezu synonym verwendet werden können. Übermaß wie Mangel an Zuversicht temperieren den (individuellen) Mut. Für die (Weiter-)Entwicklung dieser philosophischen Kompetenz eröffnet das Zutrauen einen wichtigen Zugang. Da das Zutrauen geradezu als eine Art Gradmesser verwendet werden kann, wie sehr oder wie weit jemand der Welt oder sich selbst traut, können auf diesem Weg die Beschaffenheit der persönlichen Lebensfundamente genauer bestimmt und der Boden für die Entwicklung des eigenen Muts besser bereitet werden. Aristoteles 65 Wie Sokrates wurde auch Aristoteles wegen Gottlosigkeit (Asebie) angeklagt, doch wollte er »den Athenern nicht Gelegenheit […] geben, sich zum zweitenmal an der Philosophie zu versündigen« (Rose, 1968, S. 419). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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erscheint als jemand, der persönlichen Mut bewies (angesichts seiner unsicheren Lebenssituation in Athen), und als Denker, der das Phänomen Mut ganz grundsätzlich definitorisch zu präzisieren versuchte. Sein Verortungsversuch kann als ein Ausgangspunkt für das Verständnis des Mutes (auch als entwickelbare philosophische Kompetenz) genommen werden. Betrachten wir noch ein weiteres Beispiel. Boethius markiert (neben Augustinus) den Übergang von der sogenannten Antike zum sogenannten Mittelalter. Als prototypische Figuren des Übergangs vereinigten sie charakteristische Perspektiven der einen wie der anderen Epoche in sich. Ähnliches ließe sich für Erasmus von Rotterdam oder Paracelsus (oder gar Luther) beim Übergang zur sogenannten Neuzeit, rund ein Jahrtausend später, sagen. Das letzte Werk des Boethius (2005) ist nicht allein wegen seines Titels »Trost der Philosophie« (»Philosophiae Consolationes«) sprichwörtlich geworden. Es ist im Gefängnis kurz vor seinem Tod entstanden. Boethius galt als einer der Letzten, die den Umfang der antiken Philosophie noch in sich vereinigten, und hatte vor seiner Inhaftierung das höchste Staatsamt magister officiorum bekleidet. Als Opfer einer politischen Intrige wurde er inhaftiert und zum Tode verurteilt (der Gotenkönig Theoderich ließ ihn auf grausame Weise erdrosseln). In seiner allerletzten Lebensphase ist Boethius angesichts seines bevorstehenden Schicksals stark deprimiert und verzweifelt. Da erscheint ihm, wie er sagt, »die Dame Philosophia« und leistet ihm existentiellen therapeutischen Beistand. Sie hilft ihm, gegenüber der grausigen »Wankelmütigkeit des Schicksals« allmählich eine gleichmütigere Haltung einnehmen zu können.66 Davon handelt, das beschreibt das Buch. Es ist eine »Heilung durch Argumentation« (Flasch, 2005, S. 149). 66 Die »Dame Philosophia« wird zu einer konturierten inneren Figur, zur imaginären Gestalt eines Person gewordenen Potentials, psychologisch gesprochen zu einem »Ego-State« (Watkins u. Watkins, 2008). Auffallenderweise ist es eine weibliche Person, wie eben die Philosophie oder die Weisheit weiblich sind, die in einer stark paternalistisch, männerdominierten Welt, in der Frauen wenig zu sagen und kaum etwas zu entscheiden hatten, Boethius Kraft und Klarheit vermittelt, die seinen Mut wecken und stärken kann (vgl. hierzu auch Gruber, 2011). Die besondere Erfahrungsperspektive der Todeszelle beschreibt aus eigenem Erleben auch Arthur Koestler (Koestler, 1993, S. 207–220), der für einen systemisch-konstruktivistisch arbeitenden Therapeuten mit philosophischem Hintergrund, wie es Paul Watzlawick ist, aufschlussreiche Einsichten über das Zustandekommen wie das Auflösen unserer Wirklichkeitskonstruktionen bietet und den Mut zu einem ganz anderen Blick eröffnet. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Begriffsgeschichte
Lang ist die Liste derer, die – aus religiösen, naturwissenschaftlichen oder politischen Einsichten oder überprüften Überzeugungen – den Mut aufbrachten, Meinungen und Beobachtungen zu äußern, welche den Rahmen der autoritären oder gar totalitären Systeme, denen sie häufig selbst angehörten, überstiegen. Diese unerwünschten Erweiterungen stießen auf heftigen, bisweilen Tod oder Verfolgung bringenden Widerstand. So wurde der wichtige theologische Denker Meister Eckhart von Mitgliedern seines Ordens angezeigt, musste sich rechtfertigen, wurde vom Pabst verurteilt und sah einem Inquisitionsprozess entgegen. Der Philosoph Nikolaus von Kues, der vielfach mit der Kirche verbunden war und dessen Orientierung an einem sokratischen Nichtwissen im Gegensatz zu den Doktrinen des Katholizismus stand, musste sorgfältig mit den Mächtigen lavieren, um sich nicht wegen seiner Ansichten in Gefahr zu bringen. Johannes Hus und Giordano Bruno wurden wegen ihrer Ansichten – zu denen sie den Mut hatten, öffentlich zu stehen – verbrannt, Galileo Galilei gezwungen, seine Wahrnehmungen öffentlich zu widerrufen. Paracelsus wurde wegen seiner akademischen und medizinischen Neuerungen (er wagte es, seine Vorlesungen auf Deutsch zu halten und sie dadurch allgemeinverständlicher zu machen) ausgegrenzt und ausgestoßen. Luther konnte sein Leben nur dank politischer Unterstützer retten. Montaignes Essays kamen auf den Index. Die Werke unter anderem von Descartes, Spinoza, Voltaire, Montesquieu, Diderot, Rousseau mussten teilweise anonym oder unter falschem Namen erscheinen, um ihre Verfasser nicht ernstlich in Gefahr zu bringen. Hume und Kant wurden von ihren gläubigen und dogmatischen Kollegen scharf persönlich attackiert und diskreditiert.67 Die mutig gegen den jeweiligen Zeit- oder Wissenschaftsgeist vorgebrachten Hypothesen und Beobachtungen Hahnemanns, Freuds, Groddecks, Koestlers, Orwells, Flecks, Foersters, Feyerabends, Hellingers trugen ihnen viel Ablehnung und Widerstand ein – nicht, weil sie notwendigerweise richtiger, einfach, weil sie anders waren und starr gewordene vermeintliche Sicherheiten irritierten. Dabei sind es nur einige der Bekannteren, die ich hier aufzähle. Sie verbindet (mehr oder weniger und auf unterschiedliche Weise) jener Impuls, der in einer 67 Lichtenbergs Appell zu einem Mut der Infragestellung: »Zweifle an allem wenigsten ein Mal, und wäre es auch der Satz: zweimal 2 ist 4« (Lichtenberg, 1991, S. 453), plädierte für eine offenere Vernunft, die bei geschlossenen Weltbildern nicht nur in seiner Zeit auf kein allzu großes Verständnis stieß. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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bestimmten Sprechhandlungsweise, die Martin Luther zugeschrieben wird, ihren geradezu topischen Ausdruck findet, der eine Nähe des Mutes zum Trotz andeutet, jenem: »Hier stehe ich und kann nicht anders.« In diesem übermächtigen Mutimpuls kommt in purer, nachdrücklicher, vielleicht etwas theatralischer Weise zum Ausdruck, dass es doch auch anders gehen können dürfte, als es bislang gehen durfte. Es scheint so, als ob sich in einem Menschen der leisere, vorsichtigere, latentere, der kleine oder halbe Mut vieler wie in einer Spektrallinse zuweilen bündelte und zu einer bewegenden und verändernden Kraft würde. Dieser geballte, kompromisslos wirkende Mut ist für die, die ihn verkörpern und zum Ausdruck bringen, nicht ungefährlich, wie die Kulturgeschichte immer wieder zeigt. Um zu verhindern, dass Menschen für das Verlautbaren ihrer Ansichten verfolgt oder ausgegrenzt werden oder schlimmstenfalls mit ihrem Leben dafür bezahlen müssen, stand ein Wahlspruch der sogenannten Aufklärung – jenes sapere aude, von dem bereits die Rede war (vgl. »Reizwort Philosophie«) und das man deutsch mit dem Satz wiedergeben kann: »Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen«; und dies, so Kant, ohne die Anleitung anderer, will heißen: den Mut aufzubringen, auch gegen die Meinung anderer denken oder angehen zu können, und seien es auch diejenigen, die einem geistig oder persönlich nahestehen. Die philosophisch geschulte Lyrikerin Ingeborg Bachmann verleiht in ihrem Gedicht »Alle Tage« gewissermaßen eine anarchistisch-poetische Auszeichnung. »für die Flucht vor den Fahnen, für die Tapferkeit vor dem Freund, für den Verrat unwürdiger Geheimnisse und die Nichtachtung jeglichen Befehls« (Bachmann, 1978, S. 46).
Dass Mut viele Nuancen und Strebungen enthält, wird ja bereits durch das große Wortfeld des Begriffs deutlich. Und so ist der Mut, für den weiterwirkende Personen wie beispielsweise Luther oder Kant stehen, bei weitem nicht die einzige Form, die etwas Wichtiges, Anstehendes voranbringen kann. »Vorsichtiger Mut zählt doppelt« bekam ich vor vielen Jahren von einem erfahrenen Ausbildungsdozenten zu hören. Das gilt wohl für den stillen, leisen, den geräuschlosen in gleicher Weise. Das für die eigene (Weiter-)Entwicklung durchaus Förderliche des Mutes © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Begriffsgeschichte
besteht in dem intensiven und realistischen Kontakt zu der Größe und Beschaffenheit der eigenen Angst bzw. Ängste. Hier gibt es besondere Berührungspunkte. Ein philosophischer Ethologe wie Günther Anders empfiehlt daher: »Habe den Mut, Angst zu haben« (Anders, 1981, S. 98). Der Mut-Angst-Zusammenhang beschreibt durchaus ein weites Feld. Hätten wir vor nichts Angst, bedürfte es auch nicht des Mutes, also der Fähigkeit: Ängste (genau) wahrzunehmen, ihnen zu begegnen, sie zu überwinden, denn: »Was beweist unsere Angst anderes, als dass wir Mut bräuchten?« (Comte-Sponville, 1996, S. 74). Im Gelände des MutAngst-Zusammenhangs kann man unterschiedlichen Verbindungsformen begegnen. Eine der wirkungsmächtigsten ist der Mut zur Verzweiflung. Er stellt sozusagen die Höchstform des Entschlossenseins dar. Ein Schriftsteller der Renaissance, François Rabelais, hat in seinem großen satirisch-philosophischen Roman »Gargantua und Pantagruel« einer Erfahrung Ausdruck gegeben, die guten Strategen und Machttaktikern, die es verstehen, mit Ängsten von Menschen vorteilsbringend umzugehen, bekannt ist: »Es ist eine gute Kriegsregel, daß man dem Feind nicht zur Verzweiflung treiben soll; denn die Not richtet seine Kraft und seinen Mut, die bereits wankend und hinfällig wurden, wieder auf und verdoppelt sie. Kein besseres Rettungsmittel für entmutigte und erschöpfte Truppen, als daß sie auf gar Rettung nicht mehr hoffen können« (Rabelais, 1982, S. 150). In Japan, wo seit langem die vielleicht radikalste Kultur der Selbstüberwindung praktiziert wird (vgl. »Mut in der existentiellen Kommunikation«), kennt man neben dem Wort Yuki noch viele weitere Begriffe für Mut. So steht etwa der Begriff Daitan dafür, etwas beherzt in Angriff zu nehmen. Der Mut gilt als eine »Maxime der Tat« (Möller, 1993, S. 171), die als wichtige ethische Prämisse angesehen wird. So glänzt – nach dem Verständnis des Bushido, der Ethik der Samurai – im Schwert die Persönlichkeit des Einzelnen. Die spezifische Geisteshaltung praktizierten Mutes wird nicht als etwas Selbstverständliches, sondern durch bestimmte Übungen erst zu Entwickelndes angesehen. Daher nimmt die Ermutigung zum Mut hier eine große Bedeutung ein; nicht zuletzt in der spirituellen Praxis des Zen, den man auch als einen praktizierten Mut im Umgang mit existentiellen Paradoxien beschreiben könnte. Odo Marquard hat zu einem »Mut zur Bürgerlichkeit« (Marquard, 2004, S. 91 ff.) aufgerufen und dies philosophisch damit begründet, dass in dieser gemäßigten Lebensform das Individuum besser geschützt sei © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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und sich individueller entwickeln könne als bei dezidiert unbürgerlich auftretenden Philosophien, wie etwa bei Heidegger oder Sartre, die ja beide nachweislich zum rechten bzw. linken Totalitarismus tendiert haben. Diese »Apologie der Bürgerlichkeit verteidigt die Mitte«, das heißt in Marquards Verständnis, »das Geregelte gegenüber dem Erhabenen, die Ironie gegenüber dem Radikalismus, die Geschäftsordnung gegenüber dem Charisma, das Normale gegenüber dem Enormen, das Individuum gegenüber der finalen säkularen Heilsgemeinschaft, kurzum: die Bürgerlichkeit gegenüber ihrer Verweigerung« (Marquard, 2004, S. 94). In einer intellektuellen Öffentlichkeit, in der sich die Mehrheit als links und unbürgerlich definierte, gehörte zu diesem Bekenntnis der Bürgerlichkeit ein gewisser Mut. Die Begriffsgeschichtler Armin Regenbogen und Uwe Meyer unterscheiden in einem aktuellen »Wörterbuch der philosophischen Begriffe« zwischen dem »physischen Mut, der auf Körperkraft und -schulung beruht und [dem] moralischen Mut, der aus der klaren Einsicht in das Notwendige und aus dem Verantwortungsbewußtsein, verbunden mit Willens- und Charakterstärke […] entsteht und dazu befähigt, das für wahr und gut Erkannte gegen Widerstände und Einschüchterungen zu bekennen und durchzusetzen« (Regenbogen u. Meyer, 1998, S. 433). Innerhalb der modernen Therapieformen gilt der Individualpsychologe Alfred Adler mit seiner »Erziehung zum Mut« (Adler, 1982, S. 189 ff.) geradezu als »Begründer der Ermutigungspsychologie« (Frick, 2007). Theo Schoenaker präzisiert das so: »Das Wort Ermutigung gehört nach dem Duden mit der Vorsilbe ›er‹ zu der Gruppe von Wörtern, die die Erreichung eines Zwecks ausdrücken, z. B. schwerer machen ist erschweren, leichter machen ist erleichtern, mutiger machen ist ermutigen. So ist der Prozeß des Ermutigens zu definieren als jedes Zeichen der Aufmerksamkeit, das anderen oder uns selbst Mut macht […] Das heißt auch: Ermutigung ist das, was als Ermutigung empfunden wird. Die Definition bezieht sich auf das Ergebnis« (Schoenaker, 1996, S. 109). Ein Praktiker des therapeutischen und beraterischen Mutes wie Jürg Frick erweitert diese definitorische Perspektive um die grundlegende Komponente: »Wenn wir die Begriffe ›ermutigen‹ und ›entmutigen‹ betrachten, so enthalten beide das Wort Mut: Mut ist wichtiger Bestandteil des Selbstbewusstseins« und »Ermutigung ist sozusagen das Kernstück, die Basis einer gelungen Entwicklung« (Frick, 2007, S. 48, 52). Wie kann man dem persönlichen Mut begegnen? Wie © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Begriffsgeschichte
ihn richtig einschätzen? Dafür eignet sich nach meiner Erfahrung vor allem eine offenere, das eigene Gegenübersein stärkende Wahrnehmungsweise, die in dem Begriff selbst enthalten ist: die Anmutung; genauer das sich Anmuten lassen, das eine ähnlich intermediäre Form der Zuwendung darstellt wie die aktive Passivität oder passive Aktivität in der Praxis des Zuhörens. »Unsere durchschnittliche Lebensform ist durch eine zugreifende Wahrnehmungsweise und zielgerichtetes Handeln bestimmt. Dadurch wird nicht nur im Alltag das, was uns anmutet, übergangen, es kommt auch in der Theorie zu kurz […]. Die Anmutungen sind dafür verantwortlich, daß uns überhaupt etwas betrifft« (Böhme, 1998, S. 7 f.). Für die (Weiter-)Entwicklung des Mutes zu einer philosophischen Kompetenz bedeutet dies, immer wieder Ideen und Vorstellungen, die innerhalb der verschiedenen Traditionen hervorgebracht worden sind, mit einem entsprechenden Anmutungsmut zu begegnen. Zur Klärung des eigenen Mut-Bildes eignen sich besonders gut Überprüfungen einschlägiger Definitionen aphoristischer Art; da Aphorismen sich oft wie Titel darstellen, die der Leser durch seine eigenen Texte ergänzen muss, ist es möglich, sich über den Prozess der Überprüfung eigenständige Reflexion anzueignen bzw. eine geklärte Position zu den Definitionen einnehmen zu können. Zwei Beispiele von Hans Kudszus: »Charakter ist Mut zur Monotonie.« Oder: »Gedanken ›reifen‹ nicht, nur unser Mut zu ihnen« (Kudszus, 1970, S. 16, 89). Das sapere aude, zu dem die Aufklärungsphilosophie im geistigen und gedanklichen Bereich ermuntert, oder eine Ermutigung zum Mut, welche bestimmte therapeutische Richtungen (allen voran die Individualpsychologie) für den seelischen und sozialen Bereich anregen möchte, blieben unvollständig, würde nicht jene Zone des Menschen eigens mit einbezogen, die vor allem im sogenannten christlichen Abendland lange ausgeblendet, unterschätzt oder gar bekämpft wurde: der Körper bzw. der Leib. Doris Croome spricht hier von einer »neuen Aufklärung« und fordert dazu auf: »Habe den Mut, Dich Deiner Sinne, Deiner Gefühle und Deiner Körperwahrnehmung zu bedienen« (Croome, 2007, S. 238). Der persönliche Mut kann nach meinem Verständnis dann sinnvoll zu einer philosophischen Kompetenz weiterentwickelt werden, wenn alle drei Bereiche gleichermaßen in diesen Prozess integriert werden. Das hat dann auch Auswirkungen auf die anderen Kompetenzen und auf die Frage, welche Rolle der Mut hier spielt und ob man, was ComteSponville über den Mut als Tugend sagt, auch über den Mut als philo© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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sophische Kompetenz sagen könnte: »Alle Tugenden hängen zusammen, und alle hängen vom Mut ab« (Comte-Sponville, 1996, S. 75).
Elemente für ein persönliches Mut-Profil Um die philosophische Kompetenz des Mutes für Ihre beruflichen wie persönlichen Bedürfnisse und Herausforderungen gut nutzen und sie passgenauer entwickeln bzw. weiterentwickeln zu können, empfehle ich Ihnen, sich immer wieder mit den nachfolgenden Fragen, Übungen und Perspektivenvorschlägen zu beschäftigen. Das Profil, das Sie auf diese Weise erstellen, verbessert zudem Ihr Verständnis für sich selbst und vergrößert damit Ihr Bewusstsein für Ihre Handlungs-, Verhaltens- und Lebensmöglichkeiten. Wählen Sie sich unter den aufgelisteten Klärungshilfen die für Sie anregenden und weiterführenden aus. Welche Rolle spielt das Thema Entscheidung in Ihrem beruflichen wie persönlichen Leben? Als was für einen Entscheidungs-Typ würden Sie sich selbst beschreiben? Entscheiden Sie (sich) eher schnell, leicht, langsam, mühsam oder lässt sich in Ihrem Fall eine Tendenz nicht so klar benennen? Welche Einschätzungen kennen Sie von anderen? Wie treffen Sie Entscheidungen? Wie gehen Sie dabei vor? Was hat sich für Sie dabei bewährt, was erweist sich dabei als eher hilfreich, was als eher hinderlich, was als letztlich entscheidend? Erinnern Sie sich an eine (oder mehrere) Entscheidungs-Situation(en). Welche Phasen, Entwicklungen, Prozessschritte können Sie jetzt dabei unterscheiden? Welche davon war(en) letztlich entscheidend? Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen Entscheidungen und Unterscheidungen, und wie würden Sie diesen beschreiben? Welche Bedeutung hatte das Thema Entscheidung in Ihrer Herkunftsfamilie oder während anderer früher Prägungen? Wie wurde darüber gesprochen? Galt es – grundsätzlich – als etwas Schwieriges, Belastendes oder zumindest Unerfreuliches? Oder war eher das Gegenteil der Fall? Wie © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Elemente für ein persönliches Mut-Profil
haben Sie Entscheidungen aus Ihrer frühen Umgebung aufgenommen? Wie begegneten andere Ihren Entscheidungen bzw. reagierten auf das, was Sie entschieden haben? Was brauchen Sie, um sich gut entscheiden zu können? Reflektieren Sie den Begriff Entscheidung. Beachten Sie genau, welche Assoziationen, Erlebnisse, Metaphern Ihnen dabei in den Sinn kommen. Untersuchen Sie die Auswirkungen dieses Begriffs in zwei einander gegenüberstehenden Kolumnen oder Feldern: Tabelle 3: Freude an und Angst vor Entscheidungen
Freude an Entscheidungen und am Entscheiden auf der geistigen, seelischen und körperlichen Ebene, für Sie selbst, für andere (darunter vor allem solche, die von Ihnen geführt werden oder stärker von Ihrem Verhalten abhängig sind)
Angst vor Entscheidungen und vorm Entscheiden auf der geistigen, seelischen und körperlichen Ebene, für Sie selbst, für andere (darunter vor allem solche, die von Ihnen geführt werden oder stärker von Ihrem Verhalten abhängig sind)
An was denken Sie (welche mentalen Konzepte aktivieren Sie zum Beispiel), wenn Sie das Wort Entscheidung hören, lesen oder aussprechen? Was empfinden Sie (welche Erfahrungen bzw. welche Verarbeitungen dieser Erfahrungen erinnern Sie zum Beispiel), wenn Sie das Wort Entscheidung hören, lesen oder aussprechen? Was spüren Sie (welche Körperteile, welche Leibesregionen melden sich zum Beispiel mit welchen Regungen, Impulsen), wenn Sie das Wort Entscheidung hören, lesen oder aussprechen? Woran nehmen Sie wichtige Entscheidungen bei anderen wahr – woran bei sich selbst? Welche Entscheidungen würden Sie jetzt (mit dem Wissen um das Danach) anders fällen – welche sehen Sie jetzt (noch immer) als richtig, passend, angemessen etc. an? © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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Was verlangen Sie sich bei Entscheidungen (mitunter) ab – was anderen? Was tun Sie dafür, um Ihre Entscheidungs-Fähigkeiten zu verbessern? Erinnern Sie sich an Mut-Momente in Ihrer Biographie, in denen Sie sich – aus freien Stücken oder durch situativen Druck – dazu entschlossen haben, sich von bisherigen Verhaltensweisen oder Selbstbeschränkungen weg- und auf neue oder andere Handlungsmöglichkeiten zuzubewegen: Was gab Ihnen dabei den entscheidenden Impuls, den Mut, dies zu tun? Gehen Sie – auch mit Hilfe Ihres Körpergedächtnisses – zu solchen Phasen des Übergangs zurück und betrachten Sie die Person, die Sie damals waren durch die Augen der Person, als die Sie sich jetzt wahrnehmen mit einem freundlich-interessierten Blick. Achten Sie darauf, wie Sie dieser Veränderungsprozess jetzt anmutet. Gibt es Themen oder Herausforderungen in Ihrem jetzigen Leben, bei denen Sie etwas, einigen oder all Ihren Mut brauchen? Nutzen Sie dabei das Wissen, das Sie über Ihre bereits erfahrenen Mut-Momente gewonnen haben. Achten Sie genau darauf, was Ihnen jetzt anders vorkommt und was gleich oder doch zumindest sehr ähnlich geblieben ist. Nehmen Sie wahr, wo und wie Sie sich dabei ermutigen oder entmutigen. Wodurch könnten Sie Ihr Zutrauen verlieren? Wodurch können Sie Ihr Zutrauen stärken oder vergrößern? Welche Vermutungen bereiten Ihnen Sorge, machen Ihnen Angst oder zumindest ein ungutes Gefühl? Welche Vermutungen geben Ihnen Hoffnung, vermitteln Ihnen Kraft oder zumindest ein stärkendes Gefühl? Gibt es etwas, dass Sie im Umgang mit Einzelnen, Paaren, Gruppen, Organisationen – grundsätzlich – mutmaßen, eine Hypothese, von der Sie ausgehen, die Ihrem Menschenverständnis zugrunde liegt? Welchen Zusammenhang nicht allein sprachlicher Art sehen Sie zwischen Mut und Gemüt bzw. gemütlich oder der Gemütlichkeit? © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Elemente für ein persönliches Mut-Profil
Wählen Sie Anlässe dafür aus (oder gestalten Sie Herausforderungen in der Weise), dass Sie Ihre individuellen Mut-Möglichkiten noch genauer kennenlernen und erproben können. Schattieren Sie dabei Ihre Handlungsweisen. Beginnen Sie mit dem »kleinen« Mut (den vielleicht niemand außer Ihnen bemerkt) und gehen Sie dann zu den Bereichen, bei denen bereits etwas mehr Mut verlangt ist, um sich schließlich Themen und Situationen zu stellen, bei denen Sie einiges riskieren, die für Sie eine spürbare Überwindung darstellen. Achten Sie bei all diesen Erprobungen darauf, wie Ihnen jeweils zu Mute ist, und achten Sie darauf, sich nicht zu viel und nicht zu wenig zuzumuten. Reflektieren Sie den Begriff Mut. Untersuchen Sie, welcher implizite und explizite Appell für Sie möglicherweise in diesem Begriff steckt. Angenommen, Sie wollten Mut mit einem Bild oder Vergleich anschaulich machen. Wie sähe dieses oder dieser dann aus? Welche anderen Begriffe, Vorstellungen, Handlungsweisen sind Ihrer Meinung nach mit dem Mut verbunden oder diesem benachbart? Klären Sie für sich, welches Verhältnis Sie zum Beispiel zwischen dem Mut und der »Tapferkeit«, dem Mut und der »Zivilcourage«, dem Mut und dem »Trotz« sehen. Was ist es, für das Sie gar keinen Mut benötigen und Ihrer Prognose nach auch zukünftig keinen Mut benötigen werden? Beschäftigen Sie sich zur weiteren Klärung mit folgenden Fragen: –– Wann und wobei habe ich mich zuletzt mutig verhalten? –– Habe ich heute schon Mut gezeigt? –– Was fordert (sogleich) meinen Mut heraus? –– Wann und wobei verliere ich meinen Mut oder fühle ich mich von ihm verlassen? –– Wo habe ich in meinem Leben den meisten Mut gezeigt? –– Was ist/war meine eindrücklichste Muterfahrung? –– Wie reagiere ich, wenn andere sagen: Was, dafür brauchst du Mut? –– Was ist eigentlich Mut? Was tue oder unterlasse ich dabei? –– Würde sich meine Arbeit verbessern, wenn ich mich dazu entschlösse, mehr Mut zu zeigen? –– Was würde sich verändern, wenn ich meinem Lebenspartner, meinen Kindern, meinen Arbeitskollegen, meinen Freunden und Bekannten mutiger begegnete? © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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–– Angenommen, ich würde mich dazu entschließen, mehr Mut zu entwickeln (ohne es zunächst oder überhaupt anderen mitzuteilen). Woran könnte es meine berufliche und/oder persönliche Umgebung bemerken? –– Was würde sich an meinem Alltag ändern, wenn ich – probeweise – eine mutige Haltung einnähme? Welche Auswirkung hätte dies auf • mein Lebensgefühl, • meine Selbstwahrnehmung, • meine Sicherheitsbedürfnisse, • meine Gewissheiten, • mein Wohlbefinden, • meine Ziele? Versuchen Sie herauszufinden, was Sie innerlich bzw. in Ihren Selbstgesprächen tun, wenn Sie sich zum Mut ermutigen, Mut fassen oder Mut zulassen. Mit welchen Menschen, Themen, Fragen kommen Sie nicht weiter? In welche Pattsituationen, Klemmen, Ambivalenzkonflikte geraten Sie immer wieder? Angenommen, Sie würden es – probeweise – unterlassen, (krampfhaft) eine gute Lösung oder zumindest eine angemessene Reaktionsmöglichkeit zu finden, sondern zunächst, eine gewisse Zeit lang oder immer wieder Mut entwickeln. Was, vermuten Sie, würde, was könnte dann geschehen? Ich lade Sie dazu ein, gerade hier sich und anderen Ihren Mut zu zeigen und dann zu vergleichen, was sich im Unterschied zu Ihren bisherigen Lösungsversuchen oder Verhaltensweisen zeigt. Legen Sie ein Notizbuch zum Thema Mut an. Notieren Sie, was Ihnen zu diesem Thema in den Sinn kommt (auch Zeichnungen und andere graphische Darstellungen sind möglich). Bringen Sie dabei immer wieder Verunsicherungen, Bedrohungen und angstauslösende Themen ins Spiel bzw. in Beziehung zu dem, was Ihnen an (Ihrem) Mut auf- und einfällt. Wenn Sie Ihr(e): –– Entscheidungs-Möglichkeiten verbessern, –– Entscheidungs-Spektrum vergrößern, –– Entscheidungs-Weisen genauer kennenlernen, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Elemente für ein persönliches Mut-Profil
–– Entscheidungs-Verständnis überprüfen, –– Entscheidungs-Gewissheiten verflüssigen /produktiv irritieren und dies mit der Entfaltung Ihrer persönlichen philosophischen Kompetenz des Mutes erreichen möchten, dann erweist es sich als sehr nützlich, zumindest eine Zeitlang einen alltäglichen Umgang mit Ihrem Mut zu pflegen. Das bedeutet: Ihren Mut in sich anwesend zu machen und als konturierbaren und damit selbstständigen Teil Ihrer Gesamtpersönlichkeit zu gestalten. Finden Sie also heraus, welche Aspekte, Typen, Funktionen usw. Ihre philosophisches Kompetenz des Mutes für Sie einnehmen soll. Wäre/verkörperte der Mut für Sie ein: –– existentieller Berater oder Therapeut, –– persönlicher Coach, –– Spezialist für Entscheidungsfragen, –– geistig-seelisches Rückgrat, –– Kraft- und Zutrauensgeber, –– Entwicklungsgehilfe für Schlagfertigkeit und Präsenz, –– Assistent der eigenen Wesensmitte, –– Agent der Autonomie. Diese Liste beinhaltet nur Vorschläge, die natürlich erweitert, modifiziert oder kombiniert und natürlich alle, von der Beraterin bis zur Agentin, auch in weiblicher Form vergegenwärtigt werden können. Die Kontur und Anwesenheit dieser inneren Figur kann durch äußere Aspekte bzw. Repräsentanten verstärkt und vertieft werden. Gibt es bestimmte –– Tageszeiten, –– Personen, –– Gegenstände, –– Situationen, –– Orte und Umgebungen, die Ihre philosophische Kompetenz des Mutes verkörpern oder an, zu, bei denen es Ihnen leichter fällt, angemessen oder gut übbar erscheint – Mut zu zeigen? Um den persönlichen Mut als wirkungsvolles Instrument für die eigenen Bedürfnisse und Ziele gut weiterzuentwickeln, empfiehlt es sich, vertrauteren Umgang mit ihm zu pflegen. Es hat sich hierfür als günstig und sehr wirksam erwiesen, dieser philosophischen Kompetenz sozusagen Personenstatus zu verleihen und sie – wie ein Autor und Regis© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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seur des eigenen Lebens – mit konkreten und anschaulichen Charakterzügen zu versehen. Also für sich herauszufinden: –– Wie (genau) sieht diese Kompetenz aus? –– Spreche ich, wenn ich mich mit ihr austausche, eher mit einem weiblichen oder eher mit einem männlichen Wesen? –– Wie alt ist sie etwa? –– Was hat sie an? Trägt sie eine charakteristische Kleidung? –– Ist sie eher klein oder eher groß (gewachsen)? –– Gibt es typische Sätze, Mottos, Gesten? –– Wo in Ihrem Körper spüren Sie sie vor allem? Wo würden Sie sie ansiedeln oder positionieren? Mit Hilfe dieser Angaben zu einem »Steckbrief« kann der persönliche Mut zu einer Art »Ego-State« (Watkins u. Watkins, 2008), also zum Beispiel zu einem hilfreichen »Herrn« oder einer hilfreichen »Frau Mut«, weiterentwickelt werden. Und im (Selbst-)Gespräch mit dieser hilfreichen inneren Person können zudem folgende Fragen gestellt werden, die geeignet sind, deren spezifisches Potential noch klarer und auch systemischer vor Augen zu führen: –– Was habe ich – als Mut – zu bieten? –– Welche (Vor-)Erfahrungen gibt es mit mir? –– Was unterscheidet mich von Staunen, Humor und Skepsis? –– Welche Fragen, Bedürfnisse etc. habe ich an Staunen, Humor und Skepsis, um meine Kompetenz gut zur Entfaltung bringen zu können?
Was heißt: »entscheiden«? Die Frage nach dem »Entscheiden« oder der »Entscheidung« ist mit zwei elementaren Aspekten des persönlichen Lebens eines Menschen unauflösbar verbunden. Was auch immer entschieden werden oder worauf sich die jeweilige Entscheidung im Einzelnen beziehen mag, treten diese beiden gleichzeitig mit auf, ohne dabei oftmals eigens bemerkt zu werden. Das gilt vor allem für den ersten, den existentiellen Aspekt. Ich meine damit das kreatürliche Rätsel oder Geheimnis jedes Lebens. Den Umstand, dass man sich mit jedem Atemzug fürs Weiterleben entscheidet. Genauer: Man wird geatmet – und zwar durch sich selbst. Dieses unwillkürliche, alles voraussetzende Geschehen, diese © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Was heißt: »entscheiden«?
existenzerhaltende Entscheidung ereignet sich zuallermeist am Rande des Gewahrseins. Wir bemerken und beachten sie nicht; zumindest so lange, bis uns etwas oder jemand den Atem nimmt. Es gibt verschiedene Theorien und Vorstellungen darüber, was diesen Impuls auslöst und immer wieder neu auslöst. Doch wie unwillkürlich, unbemerkt, unbeachtet oder unbewusst die Entscheidung zum Weiterleben sich auch vollzieht, sie verläuft letztlich nicht ohne unsere Zustimmung. Was wir im Einzelnen tun oder lassen mögen, wie wir uns selbst und unserem Leben gegenüberstehen, ob wir es eher optimistisch oder eher pessimistisch betrachten; ja selbst, wenn wir alles als ganz vergeblich und aussichtslos ansehen, entscheiden wir uns dafür, uns durchs Weiteratmen dauernd am Leben zu erhalten, unsere gesamte Physiologie, unser Herz und Gehirn mit frischem Sauerstoff zu versorgen und so auf ganz basaler Ebene funktionstüchtig zu erhalten. Zugespitzt gesagt: Noch bevor wir uns oder etwas entscheiden, haben wir uns bereits entschieden – nämlich fürs Weitermachen, fürs Weiterleben, fürs Dasein und Dableiben. Der andere Aspekt, der grundsätzlich bei allen Entscheidungsprozessen mit zugegen ist, betrifft die Freiheit, und zwar insbesondere in Gestalt des sogenannten freien Willens. Wobei es natürlich klar ist, dass manche, vielleicht sogar viele Entscheidungen eher unfreiwillig zustande kommen; und so hört man nicht selten die Klage, man habe sich da gar nicht frei entscheiden können. Andere, Vorgesetzte, der Lebenspartner, die eigenen Kinder oder Eltern, die sogenannten Umstände oder gar die vermeintlichen »Sachzwänge« hätten da für oder gegen einen entschieden. Komplexer und weit weniger klar stellt sich die Frage nach dem freien Entscheiden, wenn man zum Beispiel die Entscheidungen genauer betrachtet, von denen man selbst oder andere glauben, sie seien aus ganz freien Stücken und eigener Zustimmung heraus entschieden worden. Das berührt dann das eigene anthropologische Vorverständnis. Die Instanzen oder Bereiche, durch die jemand glaubt, er könne etwas frei entscheiden. Ich möchte das an dieser Stelle nicht genauer verfolgen, jedoch der Beobachtung Ausdruck verleihen, dass – bei Lichte besehen – die Frage der scheinbar autonomen Entscheidungsinstanzen einer Person keine leicht entscheidbare Frage ist. Man braucht dabei gar nicht so weit zu gehen, wie zum Beispiel der englische Biologie Richard Dawkins in seinem Buch »Das egoistische Gen«, in dem er die Behauptung vertritt, es sei das Gen, das unbedingt © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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weiterleben wolle, das alles entscheide, und nicht der anscheinend vernünftige Mensch aufgrund rationaler Erwägungen.
Frage nach dem sogenannten freien Willen Die Frage nach der Möglichkeit eines sogenannten freien Willens ist eine alte philosophische Frage, auf die zum Teil ganz unterschiedliche Antwortversuche gegeben worden sind. Da sie uns an anderer Stelle wieder begegnen wird, möchte ich sie jetzt nicht weiter vertiefen. Wenn Sie jedoch den Zusammenhang zwischen Entscheiden und Freiheit für sich untersuchen wollen, dann empfehle ich Ihnen, folgenden Fragen und Erfahrungen genauer nachzugehen: –– Was in Ihrem Leben glauben Sie ganz frei und »völlig« aus sich heraus entschieden zu haben? –– Welche Entscheidungen hat man Ihnen abgenommen/nimmt man Ihnen ab? –– Wie frei fühlen Sie sich bei Ihren Entscheidungen? –– Wie unabhängig sind Sie Ihrer Meinung nach von Vorlieben, von Symoder Antipathien, Stimmungen, emotionalen Widerständen, Gruppenzwängen, persönlichen Interessen, Überzeugungen, Werten usw.? –– Wie kommt der Eindruck von Freiheit bei Ihnen zustande? Anders gefragt: Woran erkennen Sie für sich, dass Sie sich frei fühlen (können)? –– Worin fühlen Sie sich besonders unfrei?
Der Bereich, der vielfach mit dem Entscheiden verbunden ist, in dem gute und nachhaltige Entscheidungen verlangt werden (und das am besten sofort), wo viel davon abhängt, wie sich jemand entscheidet, sind Veränderungen oder wie es im Denglisch des Fachjargons heißt: die »Change-Prozesse«. Das Gewinnbringende und Erkenntnisdienliche von Veränderungen jeglicher Art besteht in dem Umstand, bisherige Entscheidungen anders zu Bewusstsein zu bringen. Denn das, was jetzt zur Disposition steht, was als nicht mehr passend erscheint, was sich als unzureichend und problematisch erweist, ist ja nicht selten auch ein Teil von Entscheidungen gewesen, die man damals nach bestem Wissen und Gewissen getroffen hat. Und so ist man sicher gut beraten, erst einmal den Drang nach eifrigem Wandel und dessen suggestiven Verheißungen ein wenig zu widerstehen. Sich stattdessen vor © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Was heißt: »entscheiden«?
Augen zu führen, was und wie viel von dem, unter dem ich als Einzelner, mein Team oder die Organisation heute leide(t), was ich oder wir umgehend zu verändern wünschen, von mir, von uns (wie bewusst oder frei auch immer) so entschieden worden ist. Das An- und Ernstnehmen der Entscheidungen, die zumindest den Zustand mitbedingt haben, in dem ich jetzt lebe und arbeite, erzeugt ein heilsames Innehalten. Dieses Innehalten ist geeignet, eine weitere grundsätzliche Entscheidung, die ich mehr oder weniger bewusst immer wieder neu treffe – wenn auch nicht so andauernd wie das (unwillkürliche) Atmen – mir klarer ins Gewahrsein und damit auch in den Bereich meiner Verantwortung zu bringen: die Entscheidung für ein eher gutes oder ein eher schlechtes Leben. Das berührt das jeweilige Selbstverständnis an einem neuralgischen Punkt; dem Punkt, wie aktiv oder passiv ich mir mein Leben gestalte. Ob ich »den Lauf der Dinge über mich entscheiden« lasse, als einer, dem »alles nur geschieht«, oder »das Sein […] mit dem Bewußtsein« ergreife: »Es muß entschieden werden« (Jaspers, 1956, S. 8); ferner welche Möglichkeiten ich zwischen diesen unterschiedlichen Entscheidungsweisen sehe. Entscheiden erscheint oft unter dem Modus der Wahl, einer Wahl für diese oder jene Handlungsalternative. Wobei die Entscheidung, etwas zu tun oder zu (unter-)lassen nicht selten die kleinste Menge der Alternativen darstellt. Da ist oft noch etwas, das man auch tun oder (unter-)lassen, für das man sich auch entscheiden oder entschieden haben könnte. Im Nachhinein scheint es manchmal so auszusehen, als ob eben dies genau das Richtige, die richtige Entscheidung gewesen wäre. Wie bereits gesagt, ist die vermeintliche Freiheit bzw. die freie Wahl, sich so oder anders entscheiden zu können, eine nicht leicht zu entscheidende, eine oftmals unentschiedene, in ihren Tiefen womöglich unentscheidbare Frage. Das heißt: Wir hantieren auch hier mit Glaubens-, mit Überzeugungsideen und persönlichen Gewissheiten. Und diese können bei entsprechendem Entscheidungsdruck ziemlich in Bewegung kommen. Dass das Entscheiden bereits zu Beginn unserer Kulturentwicklung als eine durchaus häkelige Angelegenheit betrachtet worden ist, deuten die begrifflichen Entsprechungen in alten Sprachen an. So ist im Griechischen das Wort krisis das Wort für Entscheidung. Und das lateinische decisio lässt anklingen, dass es manchmal durchaus geboten erscheint, sich dezidiert zu entscheiden, auch wenn die letztliche Unabsehbarkeit einer noch so wohl abgewogenen, gut durchdach© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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ten, vielfach erprobten und sorgfältig berechneten Entscheidung stets gegeben bleibt. Wie sehr der »böse« Einfluss unkalkulierter Umweltfaktoren jeden fein ausgetüftelten Plan zu durchkreuzen vermag, ist allen Strategen bekannt. Ein winziges Detail, ein »Schmetterlingseffekt« kann alles durcheinanderbringen. Das betrifft in gleicher Weise Entscheidungen im Hinblick auf ein Ziel wie solche im Hinblick auf die möglichen Wege, dieses Ziel zu erreichen, wie Aristoteles in seiner »Nikomachischen Ethik« feinsinnig unterscheidet (Aristoteles, 1985, S. 49 ff.). Das Schwierige, was zu ermitteln, was herauszufinden ist, betrifft das Entscheidungskriterium als den Helfershelfer in Entscheidungssituationen. Was ist dafür geeignet? Was hat sich wodurch als besonders passend erwiesen? Welches Verfahren erscheint angezeigt? Die »gordische« Methode oder eine andere? Der Einfluss bestimmter Entscheidungsregeln ist schwer zu überschätzen. Hier macht sich eine Komponente des sogenannten Induktionsproblems bemerkbar. Die Größe einer bestimmten Erfahrungsstatistik scheint bestimmte Wege nahezulegen, wie man jeweils vorzugehen, nach welchen Kriterien man was wie zu entscheiden hat. Ich habe versucht, dies am Beispiel der sogenannten Systemaufstellungen bewusst zu machen (Stölzel, 2010a, S. 12 f.). Aus der Frage, welches Kriterium man nun im Einzelfall zur Anwendung bringen mag, das heißt beim Entscheiden mitentscheiden lässt, ergeben sich bestimmte Entscheidungstypen, so sind nicht allein viele im wirtschaftlichen oder organisationellen Kontext darauf aus, –– den erwarteten Nutzen, Vorteil oder Gewinn zu maximieren, –– den erwarteten Schaden, Nachteil oder Verlust zu minimieren. Was die Umstände anbelangt, unter denen zumeist entschieden wird, kann man – allgemein gesprochen – vier grundsätzliche Entscheidungstypen unterscheiden: 1. Entscheiden unter dem Kontextfaktor Sicherheit, 2. Entscheiden unter dem Kontextfaktor Risiko, 3. Entscheiden unter dem Kontextfaktor Unsicherheit, 4. Entscheiden unter dem Kontextfaktor Unwissen. Zudem ist bei den unterschiedlichen Entscheidungskriterien und Kontextfaktoren nicht leicht auszumitteln, wie groß, wie letztlich entscheidend der Einfluss des jeweiligen Vorgefühls, der Ahnung, der intuiti© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Was heißt: »entscheiden«?
ven Einschätzung ausfällt. Wie dadurch möglicherweise rationale oder vielfach erprobte und bewährte Vorgehensweisen außer Kraft gesetzt werden. Unabhängig davon scheint der Erfahrungssatz einige Evidenz beanspruchen zu können: Zum Entscheiden braucht man Mut, so wie man auch Mut braucht, um etwas nicht zu entscheiden.
Anatomie eines Entscheidungsprozesses Imaginieren oder erinnern Sie die Anatomie eines Entscheidungsprozesses. Bringen Sie sich zu Bewusstsein, wie Sie dabei vorgegangen sind. Was genau Sie getan haben, um etwas zu entscheiden, um es gut entscheiden zu können. Wo Sie gezögert, wo Sie rasch gehandelt haben. Wie Sie diese Situation – die Entscheidungssituation – im Unterschied zu anderen Situationen erleben bzw. erlebt haben. Erproben Sie dabei folgende Instrumente und Perspektiven: –– das geistige Schwert als Medium des Trennens und Voneinander-Scheidens (Worin besteht, bildlich gesprochen, die »Scheide«, mit der Sie etwas entscheiden? Auf welches Wissen greifen Sie dabei zurück?), –– die Treue zur eigenen Überzeugung (Welcher Anteil Ihrer Vorer fahrungen, Ihres Menschenbildes, Ihrer Weltsicht ist hierbei von Bedeutung?), –– den Blick für das Mögliche (Welchen Einfluss hat der Aspekt des Potentiellen, gerade auch im Hinblick darauf, was Sie für wahrscheinlich halten?), –– den Aspekt der Überwindung (Was hält Sie noch, was hält Sie immer wieder davor zurück, bestimmte Dinge – endlich – zu entscheiden?), –– den Aspekt des Danach (Welche Empfindungen stellen sich bei Ihnen ein, wenn Sie etwas entschieden, eine Entscheidung vollzogen, das heißt mitunter etwas voneinander getrennt, geschieden bzw. in eine neue Beziehung zueinander gebracht haben?).
Da in unserer hochtechnisierten und ungesund beschleunigten Zeit viele Entscheidungen zunehmend rascher, unverzüglicher gefällt werden, dabei noch möglichst gut, präzise, wohldurchdacht, auf Sach- wie auf Menschenkenntnis beruhend, zudem elegant, nachhaltig und ausgewogen, also am besten salomonisch, wenn nicht gar weise ausfallen sollen (was viele Menschen unter einen erheblichen Druck bringt), kann es sich durchaus lohnen, andere Quellen und Fähigkeiten, die einen © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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bei den nicht selten schwierigen Prozessen wirkungsvoll unterstützen können, genauer kennenzulernen und zu erproben. Und da die Beziehung zwischen Mut und Entscheidung sozusagen organischer Natur ist, hat die Weiterentwicklung des eigenen Mutes zu einer philosophischen Kompetenz vielfache und weitreichende Auswirkungen auf die eigenen Entscheidungsfähigkeiten. Dabei kann es zu Überraschungen kommen. Zum Beispiel hinsichtlich dessen, was alles zum Mut gehört und wofür es auch Mut braucht, wie es anhand der nachfolgenden Fallgeschichte und Übung deutlich werden kann. Ein Bekannter, der in der Verwaltung tätig ist, erzählt mir von einem Kollegen aus einem anderen Amt. Dieser sei »in Nöten« wegen eines »Positionswechsels«. Durch die schwere Erkrankung seines Chefs und dessen kurzzeitig später erfolgten Frühpensionierung sei er jetzt, auch aufgrund seiner Sachkenntnis, zu einer Stelle »aufgerückt worden«, um die er sich nie beworben, die er für sich nicht angestrebt habe. Und je länger er in dieser unangestrebten Position sei, desto unwohler fühle er sich. Die Blicke der Kollegen, denen er jetzt vorstehen müsse und denen er nun nicht mehr nah sein könne, wie auch die Beobachtung seiner Person durch höhere Stellen setzten ihm mitunter sehr zu. Da er eine Familie (und infolgedessen hohe Kosten) und überdies eine pflegebedürftige Mutter zu versorgen habe, sei die spürbar bessere Besoldung ihm durchaus willkommen. Und so wolle, könne er diese Stelle nicht gut wieder aufgeben, obwohl er denke, er könnte hier allmählich krank werden. Er stecke also »irgendwie in einer Art Dilemma«. Auf die vorsichtige Andeutung seiner Mutter gegenüber, dass ihm die neue, überraschend zugefallene Position nicht so behage, habe er zu hören bekommen, da müsse man sich halt »zusammenreißen«. Mit diesem Rat könne er wenig anfangen. Wenn er das höre, habe er das Gefühl, sein mögliches Erkranken könnte schneller als befürchtet wahr werden. Zudem sei er enttäuscht von dieser Äußerung gewesen, da er sich an seine Mutter als an jemanden gewandt habe, die durch ihr Alter »ziemlich außerhalb des Arbeitslebens steht und aus dieser Position heraus eher einen hilfreichen Einfall haben« könnte. Mit seiner Frau könne er darüber nicht gut reden, da sie sich sehr wenig für seine Arbeit interessiere und ziemlich mit den Kindern und ihren Freundinnen beschäftigt sei. Mein Bekannter teilt mir weiter mit, dass er, da er sich um den © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Was heißt: »entscheiden«?
Kollegen ernstliche Sorgen mache, ihm von mir und der Möglichkeit, sein Dilemma in einer Beratung zu bearbeiten, erzählt habe. Nach einigem Zögern habe dieser ihm »versprochen«, sich mit mir in Verbindung zu setzen. Die Situationsbeschreibung, die jener Kollege mir zu Beginn unseres ersten Arbeitstreffens gibt, entspricht ziemlich genau den Schilderungen meines Bekannten. Auf meine Frage, was für Fähigkeiten ihm seiner Meinung nach nutzen könnten, um seine Lage zu verbessern, entgegnet er, ihm fehlten viele Fähigkeiten, darunter vor allem Entschlusskraft und die Fähigkeit, sich klar für etwas zu entscheiden. Er sei in seinem Leben »immer irgendwie so dahingeflossen«. Schule und Ausbildung seien für ihn kein Problem gewesen. Die Staatsstelle wäre ein Einfall seiner Herkunftsfamilie gewesen; denn »da ist es immer viel um Sicherheit gegangen«, darum, »eine feste und sichere Position zu erlangen, die einem niemand wegnehmen kann«. Auch seine Ehe schildert er eigentümlich distanziert. Er komme mit seiner Frau gut zurecht. Recht nahe sei man sich nicht. Doch das störe weder sie noch ihn. Alles »fließt eben so dahin«, in abgesicherten Bahnen. Auch das Verhältnis zu seinen Kindern beschreibt er weitgehend als freundlich. Man möge einander, doch sehe er sie oft »wie durch eine Scheibe«. Es gelingt mir, ihn für die Möglichkeiten der philosophischen Kompetenzen zu interessieren. Ich schlage ihm vor, sich probeweise wie in die Mitte eines Quadrats von Staunen, Humor, Mut und Skepsis zu stellen und diese als mögliche Helfer wahrzunehmen, die ihm bei der für ihn schwierigen und oft unangenehmen Führungsposition unterstützen könnten. Er ist überraschend schnell dazu bereit. Als erste Reaktion teilt er die »spontane Empfindung« mit, »sich nicht mehr so allein und ganz auf sich selbst verwiesen« zu fühlen. Mehrfach betrachtet er die Ecken des Teppichs, auf dessen Mitte er steht. Er scheint sich ohne mein weiteres Zutun dafür entschieden zu haben, dort quasi Personen zu imaginieren, die er nun so betrachtet, wie man potentielle Gesprächspartner ansieht, die für einen als Kooperationspartner in Frage kommen könnten. Auf meine Nachfrage erklärt er, mein Hinweis auf die Kompetenzen als »mögliche Helfer« habe gleich etwas bei ihm in Bewegung gebracht. Außerdem wolle er, dass bei unserem Gespräch etwas für ihn Nützliches herauskomme, seine »Lage im Büro« sei für ihn ja recht belastend. Mehrfach lässt er den Blick kreisen und bleibt immer wieder in einer Ecke hängen. Hier stehe, erläutert er mir, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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der Mut. Ich schlage ihm vor, bis zu unserem nächsten Arbeitstreffen einige Zeit vergehen zu lassen, um bestimmte Erfahrungen mit sich zu machen und so Material zu sammeln, mit dem wir dann weiterarbeiten könnten. Hierfür empfehle ich ihm, den Mut, zu dem er spontan einen Vorstellungszugang als einer Quasi-Person gefunden habe, als Begleiter im Amt und, wenn er wolle, auch außerhalb des Amtes einfach mit dabei sein zu lassen, wann immer ihm das nötig oder sinnvoll scheine, um sich auf diese Weise ein wenig an dessen Präsenz zu gewöhnen. Zur weiteren Vertiefung lege ich ihm nahe, viel über den Mut nachzudenken und am besten zu notieren, was ihm hierzu alles einfalle, wie er mutiges Verhalten bewerte, ob er Beispiele für konstruktiven wie für gefährlichen Mut kenne usw. Überdies empfehle ich ihm, weitere Perspektiven einzunehmen, zum Beispiel genau wahrzunehmen, welche körperlichen Reaktionen, Impulse und Empfindungen er bei dem Umgang mit dem Mut an sich bemerke, welchen Platz das Thema Mut und Entscheidung in seinem Weltbild und seinem Wertesystem einnehmen würden und welche Reaktionen sich bei seinen Überzeugungen zeigten, wenn er sich verstärkt damit beschäftigte. Als wir uns nach größerem Zeitabstand wiedersehen, kann er einiges berichten. Seine berufliche Umgebung betrachte ihn mit einem merkwürdigen »Doppelblick«. Er werde zuerst so angesehen wie immer, wie früher auch, und dann kurz danach wie noch einmal, als habe der erste Eindruck keine rechte oder befriedigende Information erbracht, als wären die anderen sich nicht mehr so sicher, es noch mit demselben zu tun zu haben, den sie zu kennen meinten. Das gelte auch für Zuhause. Er habe sich »eine quasi philosophisch abgeklärte Haltung zugelegt« und nehme alle Reaktionen erst einfach mal zur Kenntnis, »wie bei einer Datenerhebung« und ohne größer darauf zu reagieren. Dabei helfe ihm der Mut; der sei, so komisch das vielleicht klingen mag, »sein Assistent und auch ein wenig sein Freund geworden«. Bei diesem neuen Umgang sei ihm ein Film eingefallen, den er als Kind und Jugendlicher mehrfach gesehen habe: »Mein Freund Harvey« mit James Stuart. Und statt des Hasen haben er jetzt den Mut als eine hilfreiche Person aus seiner Vorstellung gefunden. Körperlich spüre er das Mut-Thema in seinen Schultern; er habe dann öfters den Drang, die Schultern wie einzudrehen und den oberen Rücken nach hinten wegzudrücken. Auch spüre er etwas in der Bauchregion, ihm werde dann leicht übel »und die ganze Region fühlt sich irgendwie schwach und instabil an«. Als © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Was heißt: »entscheiden«?
besonders mutig wären ihm seine Eltern und seine ganze Umgebung nicht vorgekommen, ein paar Mitschüler vielleicht, die hätten einiges riskiert. Und ein Großonkel, der habe während der NS-Zeit dem Widerstand angehört und sei im Zuge der Verfolgung dann umgekommen. Den sehe er als ein Beispiel für den gefährlichen Mut an.
In der Folge haben wir während mehrerer Arbeitstreffen, zum Teil tiefer lotend und seine Weltsicht und sein Wertesystem mit einbeziehend, mit dem Mut als philosophischer Kompetenz gearbeitet. Allmählich beginnt sich eine Entwicklung anzudeuten, die er als eine spürbare Verbesserung seiner Situation bezeichnet. Abschließend ein Ausschnitt aus einer Phase unserer Zusammenarbeit, an der sich eine Stockung zeigt, die überwunden werden kann. Er sei froh, erklärt er, über das, was sich bereits bei ihm getan habe (auch weil er mit einer solchen Verbesserung gar nicht gerechnet habe) und für die guten Entwicklungen, die sich für ihn unter anderem darin zeigten, dass ihn der Blick der anderen kaum mehr irritiere und er so etwas wie eine vergrößerte Neugier auf Menschen entwickelt habe, speziell für deren unterschiedliche Verhaltensweisen. Auch gefalle es ihm, dass die guten Veränderungen langsam kämen und subtil seien, denn dann könne er sie besser kontrollieren, zumindest glaube er das. Doch dann gebe es aber leider auch immer wieder Momente, da sei sein Mut wie verschwunden, so als habe der »unerlaubt Urlaub genommen«. Das seien Momente, habe er beobachtet, in denen es um Entscheidungen gehe, vor allem solche, die rasch gefällt werden müssten und bei denen er den Eindruck habe, sie seien schwerwiegend und er müsse da sehr aufpassen, dass er nichts falsch entscheide. Und in diesen Momenten sei statt des Mutes dieses »schwache und instabile Gefühl da«. Manchmal komme ihm das so vor, als sei dies auch Teil seines Mutes. »Nur eben der feige, der ängstliche Teil davon«, und mit dem könne er in solchen Entscheidungssituationen nichts anfangen. Und alle Versuche, sich willentlich zur Entscheidungsfreude zu ermannen, womöglich tapfer zu sein, brächten genauso wenig wie der Appell seiner Mutter, sich »zusammenzureißen«. Meine Interventionsidee besteht darin, ihm, »der ja für Datenerhebung etwas übrig habe«, ein philosophisch-ethologisches Forschungsprojekt vorzuschlagen, das unter © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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dem Titel »Zweierlei Mut« firmiert. Er solle zunächst den Mut zur Entscheidungskraft, zur Tapferkeit, zur Zivilcourage untersuchen, dann den Mut zur Mutlosigkeit, zur Entscheidungsschwäche, zur fortgesetzten Ambivalenz und hierbei mögliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede ermitteln. Die zweite Mutform macht ihn stutzig, aber auch neugierig. Ich gebe ihm hierfür eine Maxime des Philosophen Günther Anders als Orientierungsgeber mit: »Habe den Mut, Angst zu haben.« Und ich trage ihm auf, diese Forschungen nicht nur an sich, sondern auch an anderen, die ihm begegneten und mit denen er zu tun habe, zu unternehmen, bei den anderen diskret und nur sich und seinem gewachsenem Interesse für die Unterschiedlichkeit menschlicher Verhaltensweisen folgend. Die Wirkung ist für ihn sehr gut, ja »geradezu erstaunlich«. Dass Entscheidungsschwäche, chronische Ambivalenz, Unentschlossenheit – wenn man sie unter anderen Vorzeichen betrachtet und als Fähigkeiten ernstnimmt (denn man zeigt diese ja mit einem gewissen Beharrungsvermögen und gegen manchen Widerstand anderer) – einigen Mut verlangen, ist ihm eine sehr hilfreiche Perspektive. Sie hilft ihm dabei, mit Selbstabwertungen schneller aufzuhören, vermittelt ihm ein anderes Körpergefühl, vor allem in der Bauchregion, aber auch im Schulterbereich, und bringe »einige Dinge bei mir zum Laufen«. Und den Satz von Günther Anders, den habe er sich »gewissermaßen in mein Stammbuch geschrieben«.
Ich möchte Sie einladen, diese Perspektive des Mutes als philosophische Kompetenz für sich zu erproben. Die Erfahrungen, die Sie damit machen können, sind geeignet, Ihren Blick auf das Phänomen wie auf die Eigenschaft des Mutes, des Mutigseins zu erweitern. Denn dass der Mut etwas mit Entschluss- oder Entscheidungskraft, mit Tapferkeit oder Zivilcourage zu tun hat, darüber besteht wohl weitgehend Konsens. Ganz anders verhält es sich mit Verhaltensweisen, die eher dem Gegenbegriff des Mutes, nämlich der Feigheit, der Schwäche oder der Angst zugerechnet werden. Für diese glaubt man gar keinen Mut zu brauchen.
Doppelte Mutperspektive Nehmen Sie als Ausgangspunkt ein Thema oder eine Situation, bei der Sie mit Ihren Entscheidungen nicht zufrieden sind, wo Sie möglicherweise mit sich hadern, sich Ihren Mangel an Mut, an Entschlusskraft © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Mut in der existentiellen Kommunikation
oder Ihre konstante Ambivalenz dazu vorwerfen. Suchen Sie dann einen Ort in sich, in Ihrem Körper auf, eine leibliche Region, in der Sie Ihren Mut gut wahrnehmen und klar spüren können. Lassen Sie sich dabei von Erfahrungen leiten, bei denen Sie Ihrer Meinung, Ihrem Verständnis nach mutig gehandelt, sich mutig verhalten und also auch so etwas wie eine mutige Physiologie entwickelt haben. Lassen Sie sich Zeit, bis Sie an dem Ort Ihres leiblichen Selbst wirklich angekommen sind, bis Sie Ihren Mut als Kraftquelle, als vitalen Raum in sich spüren. Durch den Sie das »Ich bin, ich bin da, ich bin jetzt und hier da« zu sich sagen hören, durch den Sie »Ja« zu sich, zu Ihrer Eigenart sagen. Von dem aus Sie sich fürs Weiterleben entscheiden. Wenn Sie sich mit Ihrem Mut in dieser Weise verbunden haben, dann betrachten Sie das Thema oder die Situation noch einmal, das oder die Sie als Beispiel für Mutlosigkeit oder Entscheidungsschwäche gewählt haben. Untersuchen Sie, gewissermaßen als Ethologie Ihrer selbst, was nötig war, um dieses vermeintlich schwache und mutlose Verhalten zu zeigen, es wiederholt zu zeigen, es aufrechtzuerhalten, dabei zu bleiben. Nehmen Sie wahr, welche Entscheidungskraft, welchen Mut Sie hierfür benötigten. Vergleichen Sie dann die Praxis dieses Mutes zur Mutlosigkeit mit dem Mut, den Sie mit der Tapferkeit, der Zivilcourage verbunden sehen. Durch die Perspektive von zweierlei Mut können Sie die Wahrnehmung auf Ihre verschiedenen Entscheidungen und Entscheidungsprozesse vertiefen und das Verständnis von sich als jemanden, der sich so oder so entscheidet, vergrößern. Wenn vom Verhalten gesagt wird, dass man dies nicht nicht tun könne (vgl. hierzu Lutterer, 2000, S. 277), dass man, was immer man tue, sich in bestimmter Weise verhalte, so könnte man Ähnliches auch vom Entscheiden sagen. Wie sich eine Situation, eine Aufgabe, eine Herausforderung im Einzelnen auch darstellt, sie kann nicht unentschieden bleiben. Auch wenn es auf den ersten Blick so aussehen mag. Und so ist verschiedener Mut vonnöten und zu entwickeln, je nachdem, ob man sich dafür entscheidet, sich zu entscheiden, oder ob man sich dafür entscheidet, sich nicht zu entscheiden.
Mut in der existentiellen Kommunikation Der Mut hat viele Gesichter und ist zugleich (als philosophische Kompetenz) oft weniger leicht erkennbar als Staunen, Humor oder Skepsis. Das © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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liegt zum Teil wohl auch an den vielfältigen Nuancen, in die sich diese Fähigkeit ausdifferenzieren kann (vgl. »Begriffsgeschichte«). Hier gibt es eine gewisse Verwandtschaft zum Humor. Wie bei diesem ist auch die Vorstellung des Mutes stark von persönlichen Werten imprägniert. Das wird zum Beispiel in dem individuell oft recht unterschiedlich bewerteten Zusammenhang zwischen Mut und Tapferkeit deutlich. Möchte man in dem therapeutischen oder beraterischen Kontext mit dieser philosophischen Kompetenz arbeiten, so erweist es sich als sehr hilfreich, den Mut als individuelle Strebung klar herauszuplastizieren, das heißt von anderen Strebungen, mit denen er verbunden oder in denen er enthalten ist, zu isolieren, um ihn in seiner puren und klaren Kraft sichtbar und spürbar zu machen. Wird ein in dieser Weise sichtbar und spürbar gemachter Mut durch philosophische Perspektiven angereichert, dann steckt in ihm eine enorme Bewegungs- und Verwandlungsenergie. Er kann geradezu zum Zauberstab werden, der alles, was er berührt, in Bewegung bringt und verwandelt. Ich lade Sie ein, diese These in einer Übung (mit Material aus Ihren eigenen Erfahrungsbeständen) zu überprüfen und sich damit in eine intensivere Beziehung zu Ihrem Mut zu begeben.
Ermutigungs- versus Entmutigungserfahrungen Erstellen Sie zwei Listen. Notieren Sie auf der ersten einige Ermutigungserfahrungen, die Sie in Ihrem Leben gemacht haben. Bringen Sie sich dabei zu Bewusstsein, was Sie zu was ermutigt hat, welche für Sie und Ihr Leben möglicherweise wichtigen Entscheidungen und Veränderungen dadurch angestoßen worden sind (vielleicht manchmal nur durch einen Blick, eine Berührung oder ein knappes Wort zur rechten Zeit), gehen Sie ein wenig den Auswirkungen dieser Ermutigungen nach, mit der Frage: Wo würde ich heute wohl stehen, mich befinden, wäre ich damals nicht dazu ermutigt worden bzw. hätte mich dazu ermutigen lassen? Notieren Sie auf der anderen Liste einige Entmutigungserfahrungen, die Sie in Ihrem Leben gemacht haben. Bringen Sie sich dabei zu Bewusstsein, wer Sie bei etwas entmutigt hat, welche für Sie und Ihr Leben möglicherweise wichtigen Entscheidungen und Veränderungen dadurch verhindert worden sind (vielleicht manchmal nur durch einen Blick, eine Berührung, ein entsprechendes Wort im entscheidenden Moment). Gehen Sie ein wenig den Auswirkungen dieser Entmutigungen nach, mit der Frage: Wo würde ich heute wohl stehen, mich befinden, wäre ich nicht damals entmutigt © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Mut in der existentiellen Kommunikation
worden oder hätte mich entmutigen lassen? Gehen Sie dann innerlich zwischen diesen beiden Erfahrungsfeldern mehrfach hin und her und nehmen Sie dabei einen Spürkontakt zu Ihrem Mut auf. Wie fühlen Sie ihn jetzt und wie tritt er Ihnen jetzt entgegen? Diese Übung ist gut geeignet, sich mit der Form und der Gestalt des eigenen Mutes in Verbindung zu bringen.
Von dem Psychoonkologen Wolf E. Büntig hörte ich vor vielen Jahren eine dreigliedrige Unterscheidung des lebensdienlichen Mutes. Büntig hat im Kontext des häufig angeschwärzten und mitunter einseitig verwendeten Wortes Aggression (vgl. die lateinische Grundbedeutung von aggredi: heranschreiten, unmittelbar an etwas herangehen) das Verhältnis von konstruktiver Aggression zum Mut beschrieben. Aggression, so Büntig, zeige sich –– im Mut, auf das, was man braucht, zuzugehen, –– im Mut, von dem, was man nicht braucht, wegzugehen, –– im Mut, gegen das, was einen bedroht, anzugehen. Der Mut, wie er in einer individuellen philosophischen Kompetenz (weiter-)entwickelbar ist, wäre demzufolge auch ein wichtiger Aufspürer dessen, was man wirklich braucht (in seinem Leben, in seinem Beruf), im Unterschied zu den vielen künstlichen oder narzisstischen Bedürfnissen, die eine ausschließlich am Profit interessierte Unterhaltungsindustrie zu suggerieren versucht. In meinen Vorannahmen zur Philosophischen Praxis (Stölzel, 2009a, S. 100 f.) unterscheide ich drei miteinander verbundene Bereiche, in denen Mut als philosophische Kompetenz innerhalb der existentiellen Kommunikation unmittelbar wirksam werden kann: 1. Mut zur Infragestellung: Damit meine ich die Bereitschaft, alles – und sei es noch so anerkannt und scheinbar gesichert – durch die eigenen kritischen Fähigkeiten auf eine produktive Weise in Frage zu stellen. Dabei wird außerdem das eigene denkerische Selbstbewusstsein gegenüber den philosophischen Traditionen gestärkt und die Fähigkeit des sekundären Staunens aktiviert. 2. Mutmaßungskompetenz: So nenne ich das Vermögen und die Bereitschaft, die eigene Skepsis kommunizierbar zu machen, das heißt die eigenen Vermutungen so darzustellen, dass sie denkanreizend wirken und andere zu einem möglichst radikalen Mut zur Infragestellung animieren können. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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3. Mut zu sich selbst: Dieser Mut ist gekennzeichnet durch eine möglichst ismen-freie68 Orientierung an sich selbst. Hierbei erweist es sich als nützlich, die Mutmomente in der eigenen Biographie aufzusuchen, also die Augenblicke und Phasen genauer zu betrachten, in denen man sich aus freien Stücken oder durch situativen Druck von übernommenen Denkweisen weg- und auf eigene Überlegungen und damit auch auf neue Handlungsmöglichkeiten zubewegt hat. Der Mut, der als Überwindungshandlung wie als Überwindungsleistung auf unvergleichliche Weise ein vitales, belebendes und bewegendes Antriebsgefühl zu erzeugen vermag, kehrt sich in seinen destruktiven Ausprägungen gewissermaßen gegen sich selbst; wird dann geradezu nekrophil69. Da der Mut nicht allein in Form der sogenannten Zivilcourage ein großes soziales Prestige genießt und als Tugend im hohen Ansehen steht (zum Beispiel in der problematischen Überhöhung der Figur des Helden) möchte ich hier auch ein wenig Verständnis für den Sinn der Feigheit und das Konstruktive der Angst wecken, nicht nur, was den bedrohlichen und (selbst-)zerstörerischen Mut alias den Übermut oder die Tollkühnheit angeht. Wenn man sich mit dem Mut als einer entwickelbaren philosophischen Kompetenz beschäftigt, sollte man meines Erachtens im Auge zu behalten versuchen, wie viel Gutes die Feigheit haben kann, vor was uns die Angst geschützt hat, kurz: was alles glücklicherweise unterblieben ist und unterbleibt, weil diese beiden Gegenkräfte wirksam geworden sind und wirksam werden. Dabei ist es natürlich genauso wichtig, Feigheit und Angst nicht überhandnehmen zu lassen; darin liegt ein wichtiges Korrektiv einer entwickelten philosophischen Kompetenz, die sozusagen realistisch von den individuellen Rändern des persönlichen Mutes ausgeht. Nicht zu vergessen die alte moralistische Einsicht, dass vieles, darunter viel Übles, nicht etwa aus Einsicht, sondern aus Angst vor Bestrafung unterbleibt. Was die (auto-)destruktiven Formen des Mutes angeht, so gibt es 68 Vgl. hierzu die wortspielerisch vorgetragene und bedenkenswerte Selbsteinschätzung des Bio-Kybernetikers und Epistemologen Heinz von Foerster: »Ich bin kein Konstruktivist. Ich gehöre zu keinem -Ismus. Ich bin Anti-Ismist« (Foerster, 1997, S. 55). 69 Vgl. die Unterscheidung zwischen einem biophilen und einem nekrophilen Charakter, die Erich Fromm unternimmt und anhand einer Reihe von sozialpsychologischen Falldarstellungen als »Anatomie der menschlichen Destruktität« (Fromm, 1980) anschaulich macht. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Mut in der existentiellen Kommunikation
hier leider viele Beispiele und es steht zu vermuten, dass diese bedenkliche Liste von Belegen auch zukünftig nicht abnehmen wird. »Jede Zivilisation hat ihre Form von Angst, jede Zivilisation hat ihre Form von Mut«, erklärt der Tugendforscher Comte-Sponville (Comte-Sponville, 1996, S. 59). Die japanische hat (wie in der Begriffsgeschichte zum Mut angedeutet) die wohl rigorosesten Traditionen des finalen, des selbstmörderischen Mutes hervorgebracht. Dafür stehen nicht allein die sprichwörtlichen Kamikaze-Handlungen während des Zweiten Weltkriegs, welche den heutigen Selbstmordattentaten vorangegangen sind. Durch den Harakiri70 oder Seppuku haben eine lange Reihe von japanischen Künstlern und Schriftstellern ihrem Leben ein oft verfrühtes, ritualisiertes und schmerzliches Ende bereitet. Wie unter anderem der Nobelpreisträger und Autor der »Handtellergeschichten« Yasunari Kawabata oder der Schriftsteller und Schauspieler Yukio Mishima. Mishimas Seppuku war ein spektakuläres Blutbad. Er wurde von einem Freund enthauptet, nachdem er, wohl unter größten Schmerzen, die destruktiven Gebärden des Stechens und Schneidens, des Hara-Zerstörens, an sich selbst vor vielen Soldaten (und einem gefesselten General) als öffentliche Protestkundgebung vollzogen hatte. Marguerite Yourcenar hat den Hintergründen dieser destruktiven Muthandlung einen hellsichtigen Essays gewidmet (Yourcenar, 1985). Der große Essayist und Kritiker Jean Améry, der als Jude schwere, das Urvertrauen nachhaltig beschädigende Foltererfahrungen von NS-Schergen erdulden musste – seine Schilderung »Die Tortur« (Améry, 2002, S. 55 ff.) gehört zu den beklemmendsten Schilderungen dieser Art – und das KZ Auschwitz überlebte, setzte mit annähernd 66 Jahren seinem Leben selbst ein Ende. Bevor er dies tat, veröffentlichte er mit »Hand an sich legen« einen Diskurs über den Freitod, der die Befindlichkeit eines Suizidanten – vor dieser Überwindungshandlung – mit hoher analytischer Schärfe auf70 »Es gab zwei Arten von Harakiri,« – sagt der Japan-Kenner Basil Hall Chamberlain in seinen »Things Japanese« – »das obligatorische und das freiwillige. Das erste war eine Gunst, die die Regierung Verbrechern aus der Samurai-Klasse gewährte, indem sie ihnen gnädig erlaubte, sich auf diese Weise aus dem Leben zu schaffen, anstatt sie den Händen des Henkers auszuliefern. Zeit und Ort wurden dem Verurteilten offiziell bekanntgegeben und Beamte wurden beordert, dem Akt beizuwohnen. Die Sitte ist erloschen. Das freiwillige Harakiri vollzogen Männer in schweren Sorgen, auch aus Anhänglichkeit an einen gestorbenen Vorgesetzten und um gegen das Unrecht eines lebenden Vorgesetzten zu protestieren, wenn andere Proteste nicht fruchteten« (Chamberlain, 1991, S. 291). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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zeigt und die eigene intellektuell vorausbeschrieben hat. Wobei man sich grundsätzlich fragen könnte, ob es nicht mehr Mut braucht, wenn man in existentielle Schwierigkeiten gerät, sich gescheitert, behindert, blockiert oder ent-täuscht wähnt, einfach weiterzuleben. Der bekennende Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer hat bei seinen Erkundungen einer nicht allein autodestruktiven Grandiosität, verbunden mit einem »apokalyptischen Bedürfnis«, das viele Selbstmordattentäter bekunden, eine präzise und bildkräftige Metapher gefunden, welche diese grausige Übertreibungsform des tödlichen Mutes charakterisiert: »Der Mensch als Bombe« (Schmidbauer, 2003), und damit verdeutlicht, zu was eine so wichtige anthropologische Fähigkeit wie der Mut verkommen kann.
Der Mut als atmosphärischer Gast/Die mutige Organisation/Orte des Mutes in der Organisation An dieser Stelle möchte ich Ihnen nachdrücklich empfehlen, diese drei Übungen analog zu den ausführlich beschriebenen Übungen im Staunens-Kapitel durchzuführen (vgl. dazu »Das Staunen als atmosphärischer Gast«, »Die staunende Organisation« und »Orte des Staunens in der Organisation«). Sie brauchen dabei lediglich die philosophische Kompetenz des Staunens jeweils durch den Mut und die mit ihm verbundenen Entscheidungs-Möglichkeiten ersetzen.
Ein Tag des Mutes Regen Sie die Organisation, in der oder für die Sie arbeiten dazu an, probeweise an einem ganz normalen Tag eine bestimmte philosophische Kompetenz – wie zum Beispiel den Mut – stärker mit einzubeziehen oder zu akzentuieren. Damit die Wirkung nicht durch Verkrampfung oder künstliche Verhalten geschmälert wird, empfiehlt es sich, den Experimentcharakter dieser Maßnahme zu betonen oder, falls nötig, wieder in Erinnerung zu rufen. Es geht darum, dass etwas – wie zum Beispiel der Mut – hinzugenommen, hineingegeben wird, so wie sich die Organisation als System, um sich zu erhalten, Energie zuführt oder sich durch andere (von außen kommende) Ideen, Konzepte etc. anregt, anreichert, überprüft und erweitert und damit die Selbstregulierung verbessert. Es ist auch möglich, dass durch diese Maßnahme, die bereits in der Orga© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Mut in der existentiellen Kommunikation
nisation vorhandene und unterschiedlich intensiv praktizierte (vielleicht unter einem anderen Namen stehende) Kompetenz des Mutes anders ins Gewahrsein kommt, gewürdigt wird und dadurch im Dienste der Organisation planvoller und effektiver eingesetzt werden kann. Damit ein solcher Tag in einer für die Organisation nützlichen Weise durchgeführt werden kann, hat es sich als sinnvoll/gut erwiesen, auf Folgendes zu achten: –– Wie finden in der Organisation Entscheidungsprozesse statt? Wie wird zumeist entschieden? Auf welchen Grundlagen und innerhalb welcher Kontextfaktoren? In welcher Weise werden Entscheidungen kommuniziert? Nutzen Sie bei diesem heuristischen Modus die Kompetenz des Mutes wie ein haptisches Instrument, mit dem Sie gewissermaßen die Dichte und Festigkeit besser betasten und erfassen können. Wobei es auch hier darauf ankommt, niemanden (keinen Entscheider oder Mitentscheider) zu entlarven oder bloßzustellen, sondern verschiedene Entscheidungsprozesse auf eine mitunter entschiedene und für die Organisation nützliche Weise zu untersuchen. –– Finden Sie heraus, welchen Stellenwert, welche Bedeutung, welches Ansehen die Kompetenz des Mutes in der Organisation genießt. –– Welche Teile, Bereiche der Organisation sind Ihrem Eindruck nach (besonders) entscheidungsfreudig? Welche weniger? Ist diese Neigung oder Tendenz so verteilt (oder ausgeglichen), dass es für die Organisation günstig ist? Oder scheinen Ihnen hier Veränderungen geboten oder gar notwenig? –– Lassen Sie sich immer mal wieder im Lauf des Tages von (Ihrem) Mut interviewen. Welche Fragen könnte er Ihnen stellen? Wozu würden Sie gerne befragt werden? Worüber könnten Sie am meisten, am besten berichten? –– Betrachten Sie mit Hilfe der Kompetenz des Mutes die Seiten der Organisation, die Ihnen ängstlich und entscheidungsschwach vorkommen und versuchen Sie zu ermitteln, was diese bräuchten, um mehr Mut und eine größere Entschiedenheit zeigen zu können.
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Mut: Eine Frage der Entscheidung
Sich vom Mut erholen Die Kontrahaltung der Feigheit als Chronifizierungsvermeider nutzen: Einige Hinweise und Tipps Es könnte sein, dass Ihnen die vielfachen und vielfältigen Aufforderungen und Anleitungen, Ihre Fähigkeit zum Mut zu einer philosophischen Kompetenz weiterzuentwickeln, allmählich auf die Nerven gehen und sich in Ihnen der Wunsch regt, damit (zumindest eine Zeitlang) zu pausieren. Eine wirksame Möglichkeit, dies zu tun, besteht in einer konstanten Orientierung an der Feigheit und (noch besser) an der Ängstlichkeit und Angst. Und das stellt sich konkret so dar: 1. Lernen Sie mutige Menschen zu verachten. Entdecken Sie deren Wichtigtuerei. Erkennen Sie, wie diese den Mut dabei als willigen Helfershelfer verwenden. 2. Welchen Aufforderungscharakter eine Situation zunächst auch haben mag, misstrauen Sie allen Einladungen, aus sich herauszugehen und in kommunikativer Hinsicht etwas zu riskieren. Bleiben Sie bei sich und in sich! Es lohnt sich nicht, sich zu überwinden. Kaum ist es wert, das zu versuchen. 3. Beobachten Sie Personen mit sogenannter Zivilcourage genauer. Zeigen diese nicht ein aufdringliches, geradezu missionarisches Gebaren und fordern einen dazu auf, es ihnen gleichzutun? Sie können die Welt einfach nicht in Ruhe lassen und erzeugen viel unnötigen Wirbel und vermeidbare Aufregung. 4. Tapferkeit – vor allem die vor dem sogenannten Freund – ist eine sozial unverträgliche Handlungsweise, die menschliche Beziehungen unnötig belastet. Wer will denn schon alles so genau wissen? Außerdem danken einem die anderen so etwas grundsätzlich nicht – im Gegenteil! 5. Bei Konflikten im beruflichen oder privaten Umfeld sollte man sich möglichst neutral verhalten. Besser gar keine Meinung äußern bzw. haben als eine falsche. So ersparen Sie sich viel unnötigen Ärger. 6. Es gibt viele Dinge auf dieser Welt, die uns nicht gefallen. Warum etwas verändern wollen? Sollen sich doch die anderen bei dem Versuch, die Welt zu verbessern, die Hände schmutzig machen. Wir können gut und gerne darauf verzichten.
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Grenzen des Mutes
Grenzen des Mutes Als ich vor langer Zeit meinen Zivildienst in einem Fachkrankenhaus für junge Suchtkranke absolvierte und stärker in die therapeutische Arbeit einbezogen war, bekam ich von dem Leiter der Einrichtung (einem Gestalttherapeuten und Gestaltsupervisor) mehrfach die Aufforderung zu hören, jeden Tag auch dafür zu nutzen, sich mit kleineren, mittleren und größeren Ängsten auseinanderzusetzen und sich etwas einfallen zu lassen, diese zu überwinden. Diese Aufforderung wurde mit dem Hinweis versehen, die jeweilige Tagesform zu berücksichtigen, das heißt die Größe der Überwindung mit der aktuellen inneren Verfassung in ein gutes Verhältnis zu bringen. So könne man jeden Tag etwas »weiter« werden – und, so würde ich heute ergänzen, den eigenen Mut genauer kennenlernen und als Kompetenz besser entwickeln. Denn gerade bei einem so mächtigen Überwindungshelfer wie dem (persönlichen) Mut stellt sich die Frage: Wann wird dieser gefährlich und löst möglicherweise das Gegenteil des Erwünschten oder Angestrebten aus? Um Sie zu einem entsprechenden Metabewusstsein – das heißt hier einem Metamut – anzuregen bzw. ein bereits bestehendes zu schärfen, empfehle ich einen kleinen Selbsttest.
Grenzen des Mutes Legen Sie sich die Frage vor, wo und wodurch für Sie ein weiterführender, blicköffnender, neue Perspektiven und Entscheidungs-Möglichkeiten ins Gewahrsein bringender Mut aufhört. Wann und weswegen er Ihnen nicht mehr angezeigt scheint. In welchen Situationen oder bei welchen Themen dies für Sie der Fall sein kann. Sie erhalten auf diese Weise auch eine deutliche Wahrnehmung für die Vorteile und den Nutzen, den eine Orientierung an der Feigheit mit sich bringen kann. Denn, wo keine Unterschiede gemacht werden können, gibt es keine Information und ohne Information können wir nichts erkennen. »Information. Jener Unterschied, der einen Unterschied macht«, wie es im Glossar von Batesons »Geist und Natur. Eine notwendige Einheit« heißt (Bateson, 1987, S. 274). Gäbe es also nur Mut, dann gäbe es letztlich auch keinen Mut mehr, vor allem keinen, mit dem Therapeuten, Berater, Coaches oder Organisationsentwickler arbeiten könnten.
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Vordialog Philosophischer Praktiker: Bei der Skepsis befinden wir uns wohl bei der schwierigsten philosophischen Kompetenz; zumindest bei der voraussetzungsreichsten. Bei der, die eine gewisse Reife und Lebenserfahrung voraussetzt, über die Sie alle verfügen und vermutlich die Mehrzahl Ihrer Patienten, Klienten und Kunden auch. Es sei denn, Sie arbeiten vornehmlich mit Kindern, Jugendlichen oder sehr jungen Erwachsenen. Therapeutin: Gibt es denn Ihres Erachtens ein bestimmtes Alter für die Skepsis, eines, wo diese besonders wichtig ist? Philosophischer Praktiker: Es gibt nach meiner Beobachtung hier einige Parallelen mit dem Staunen. Doch würde ich nicht so weit gehen, zwischen einer primären und einer sekundären Skepsis zu unterscheiden. Dieser Unterschied scheint mir beim Staunen sehr wichtig und eine Voraussetzung für die Weiterentwicklung gerade dieser Kompetenz, da ja das primäre Staunen ein wesentlicher Teil der persönlichen Sozialisation, der individuellen Genese ausmacht und natürlich und geradezu unvermeidlich ist … Organisationsentwicklerin: … und die Skepsis nicht? Philosophischer Praktiker: Nicht in der Weise, wie das beim Staunen der Fall ist. Berater: Was heißt das? Heißt das, erst muss man glauben, an etwas Bestimmtes glauben, zumindest eine Zeitlang, um es dann später in Zweifel ziehen zu können? Zugespitzt gesagt: um überhaupt etwas zum Zweifeln zu haben? Therapeutin: Diesen Punkt sollten wir uns genauer ansehen, finde ich. Organisationsentwicklerin: Aber kann es nicht auch sinnvoll sein, über seine Zweifel ins Zweifeln zu kommen? Philosophischer Praktiker: Eben. Das bildet meiner Meinung nach © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Vordialog
sogar eine wichtige Voraussetzung, gewissermaßen einen Zweifel zweiter Ordnung. Organisationsentwicklerin: Also ähnlich wie die Wirklichkeit oder die Kybernetik zweiter Ordnung. Philosophischer Praktiker: Hm. Wobei die skeptischen Verfahren und die Skepsis als philosophische Kompetenz nicht auf den Zweifel und das Zweifeln zu reduzieren sind. Skepsis bedeutet mehr. Berater: Da ich vielleicht naiverweise Skepsis und Zweifeln so ziemlich in eines gesetzt habe, würde mich der Mehrwert interessieren, den Sie hier so energisch andeuten. Philosophischer Praktiker: Ich würde das lieber in der Begriffsgeschichte tun, sozusagen en bloc. Für den Moment kann ich Ihnen sagen, dass bereits in der Antike, als dieser Begriff geprägt worden ist, eine gewisse Schattierungsbreite vorhanden war. Das nahm seinen Ausgang auch bei Wahrnehmungsfragen. Zum Beispiel bei der Möglichkeit, alte, vertraute, sichere Wahrnehmungen zu überprüfen und neue, ungewohnte, vielleicht unerlaubte machen zu können. Organisationsentwicklerin: Die Wahrnehmungsfrage ist für mich ein guter Anknüpfungspunkt und deckt sich mit meinen Erfahrungen. Für mich bedeutet Skepsis oder skeptisch sein in erster Linie einen Perspektivenzuwachs. Ich sehe darin die Chance, andere Perspektiven zu verwenden und etwas anders anzuschauen, als man es zunächst oder vielleicht üblicherweise tut. Therapeutin: Das klingt ja alles sehr nützlich und sinnvoll. Doch welche Gefahren gibt es, die in dem Gebrauch der Skepsis schlummern? Philosophischer Praktiker: Es gibt natürlich auch hier – wie überall, wo es um entwickelte Fähigkeiten geht – die Gefahr einer Selbstübertreibungstendenz. Vor allem dann, wenn sich die Skepsis als nützlich und sinnvoll erweist und dafür Applaus erhält. Ich habe deshalb bei der Kompetenz allgemein auf diesen wichtigen Punkt, der in der Begeisterung für eine erfolgreich praktizierte Fähigkeit oft unterschätzt wird, hingewiesen. Berater: Sie würden also dazu anraten, der eigenen Skepsis gegenüber skeptisch zu bleiben? Philosophischer Praktiker: Unbedingt. Sonst verkommt eine lebensdienliche Skepsis leicht zu einem bescheidwissenden Skeptizismus. Therapeutin: Und welche Gefahren im Skepsisgebrauch sehen Sie noch? Außerhalb der Selbstübertreibungstendenz, die ja, wenn ich © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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Sie richtig verstehe, für alle Theorien, Methoden und Kompetenzen gleichermaßen gilt? Philosophischer Praktiker: Nun, die Skepsis kann – bildlich gesprochen – dafür sorgen, dass die Tür zu einer Frage oder zu einem Thema nicht weit genug aufgeht oder ganz zubleibt. Weil da grundsätzlich oder zu früh zu viele Vorbehalte da sind. Es ist also eine Frage des Zeitpunkts, wann die Skepsis eingesetzt wird. Und natürlich auch eine Frage der Quantität. Also zum Beispiel auf das Zweifeln angewandt, geht es darum, ein Zuviel wie ein Zuwenig an Zweifel zu vermeiden. Das erfordert, wenn Sie wollen, einen gewissen Sinn für Proportionen. Ein Gespür für die Dosis an sinnvoller Irritation. All dies kann man bei der Entwicklung der Skepsis als philosophischer Kompetenz üben und verfeinern. Berater: Ich denke, es wäre gut, sich nun diese philosophische Kompetenz, von der Sie sagen, sie sei schwierig und voraussetzungsreich, genauer, das heißt wohl skeptisch, anzusehen und damit dieses Wort und diesen Begriff und wie sie gebraucht worden sind, sorgfältig zu betrachten.
Begriffsgeschichte Das Wort »Skepsis« löst nicht selten starke Gefühle aus; sowohl bei denen, die es vermeiden, wie auch bei denen, die es verwenden (wie bewusst oder reflektiert dies im Einzelnen auch ausfallen mag). Die spezifische Ruhe oder Beruhigung, die eine vermeintlich feste oder sichere persönliche Überzeugung zu gewähren scheint, kann durch die Skepsis unliebsam gestört, ja geradezu aufgeschreckt werden, unabhängig davon, ob sie sich nun auf politische, religiöse oder wissenschaftliche Gewissheiten bezieht. Dem Wort und seinem Gebrauch scheint eine gewisse Unruhe und Unsicherheit anzuhaften oder zumindest in dessen Gefolge zu sein und damit für solche, die (gerne) Unruhe und Unsicherheit verbreiten oder verkörpern (wollen), ein gutes oder gar ideales begriffliches Sprungbrett zu bieten. Andere wiederum hängen sich das Prädikat »Skeptiker« wie eine Goldkette um und drücken damit ihre scheinbare Überlegenheit und die pathetische Abgeklärtheit aus, auf niemanden oder nichts mehr hereinzufallen, oder nobilitieren ihr Lebensunbehagen, ihre Griesgrämigkeit, ihren Pessimismus oder © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Begriffsgeschichte
Zynismus gar zu einer »skeptischen Position«. Man kann sich fragen, was das alles mit Skepsis zu tun hat, besonders mit einer, die sich zu einer philosophischen Kompetenz weiterzuentwickeln lohnt. Es könnte sich also als durchaus nützlich erweisen, ein Wort, das nicht wenige im Munde führen und das sich vielfacher und dabei unterschiedlicher Verwendung erfreut – die von einem Abwertungsetikett (und Synonym für unproduktive Bedenkenträgerei) bis zu einem Erkenntnisideal oder Ausdruck philosophisch »entfaszinierter« (E. M. Cioran, siehe Stölzel, 2002, S. 174) Lebenshaltung reicht – etwas genauer zu betrachten und sich dazu in ein anderes Verhältnis zu setzen; was auch bedeutet, die Assoziationen zu überprüfen, die das Wort Skepsis in einem auslöst. Mit der Tätigkeit des Überprüfens haben wir bereits einen Königsweg zu dessen (ursprünglichen) Bedeutung eingeschlagen. Skepsis ist ein alter, aus der antiken griechischen Philosophie stammender Begriff. Er geht auf philosophische Haltungen und Perspektiven Pyrrhon von Elis’, einem Generationsgenossen Epikurs und Aristoteles’ zurück und leitet sich von dem Verb skeptesthai her, was so viel bedeutet wie »umherspähen, suchen, prüfen, genau betrachten«71 – und dies von möglichst vielen Seiten und aus unterschiedlichen Perspektiven. Das ist auch ein Grund, warum Skepsis und Zweifel – wie es bei vielen bedeutungsverengten Verwendungsweisen geschieht – nicht einfach gleichzusetzen sind, obwohl es bei beiden Erkenntnistätigkeiten viel Gemeinsames gibt. Das Wort Zweifel leitet sich wie Zweck, Zweig, Zwilling, Zwitter, Zwist, Zwirn, Zwielicht oder Zwietracht von dem bereits im Althochdeutschen verwendeten Zahlwort »Zwei« her und bezeichnet, genau betrachtet, eine zweifache Möglichkeit, während bei der skeptischen Praxis (wie wir noch sehen werden) zwar das Gegenüberstellen von Meinung und Gegenmeinung von Belang ist, aber gleichzeitig auch (und fast noch mehr) das umfassende Untersuchen und genaue Prüfen. Kurz gesagt: Bewusstes, methodisches, rücksichtsloses Zweifeln (vor allem gegenüber dem sich als sicher Gebärdenden) ist
71 Die Schattierungsbreite des Wortes skeptesthai hat bereits in der Antike zu verschiedenen, benachbarten Bezeichnungen geführt, die jedoch in der Grundbedeutung einer aufmerksamen, vorsichtigen Betrachtungsweise konvergieren. »Man bezeichnete die Pyrrhoneer als Aporretiker (Ausweglose), als Skeptiker (Prüfende), weiterhin als Ephektiker (Leute, die ihr Urteil zurückhalten), als Zetetiker, das heißt als Suchende« (Nickel, 2012, S. 128). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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in der Skepsis wohl enthalten, ja eine Praxisform von ihr, die Skepsis geht jedoch nicht im Zweifel und im Zweifeln72 auf. Das Erkenntnisverhalten, das sich in der Skepsis ausdrückt, hat nicht erst mit Pyrrhon begonnen. Er hatte Vorläufer. Zum Beispiel unter der Gruppe von (Natur-)Philosophen, die später als Vorsokratiker bezeichnet worden sind. Allen voran in Xenophanes, in dessen erkenntniskritischem Diktum:73 »Sichere Wahrheit erkannte kein Mensch und wird keiner erkennen Über die Götter und all die Dinge, von denen ich spreche Selbst wenn es einem einst glückt, die vollkommene Wahrheit zu künden, Wissen kann er sie nie: es ist alles durchwebt von Vermutung« (Xenophanes, zitiert nach Popper, 1994, S. 38),
bereits eine wichtige skeptische Prämisse pointiert und der formelhaften Position vom wissenden Nichtwissen des platonischen Sokrates vorgearbeitet wird. Aber auch Heraklit problematisiert in seinen Fragmenten (1989) wiederholt das naive Vertrauen in die Sinnesorgane; Parmenides betont den bloßen Meinungscharakter des vorgeblich sicheren Wissens; Protagoras bezweifelt, ob man jemals zu so etwas (Absolutem) wie Wahrheit kommen könne und Demokrit akzentuiert das für jeglichen Wissensfortschritt unverzichtbare Problembewusstsein. Doch seit Pyrrhon werden diese erkenntniskritischen Haltungen methodischer und verdichten sich in dem Vorbehalt, ob über die Menschen und Dinge, so wie sie uns erscheinen, überhaupt ein zutreffendes Urteil abgegeben werden kann. Dieser Vorbehalt liegt allen sogenannten skeptischen Tropen (Gesichtspunkten) zugrunde 72 »Wobei die Kraft des Zweifels […] weiter reichen [muss] als bis zur Diskreditierung missliebiger Gegenansichten, soll er für skeptisches Philosophieren in Betracht kommen.« Dies gibt Andreas Urs Sommer in seiner Anleitung »Die Kunst des Zweifelns« (Sommer, 2005, S. 17) zu bedenken, in welcher er davon ausgeht, dass das Zweifeln keine leichte, sondern eine durchaus zu übende Haltung sei. Der Begründerfigur der Skepsis, Pyrrhon, erweist Sommer in seinem lesenswerten »Lexikon der imaginären philosophischen Werke« (Sommer, 2012) eine ironische Referenz. 73 Das für einen Wissenschaftstheoretiker wie Karl Popper (der es auch besonders sinnverdeutlichend übersetzt hat) eine große epistemologische Bedeutung hatte (Popper, 1994, S. 38). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Begriffsgeschichte
und bildet zudem den Impulsgeber für jegliche skeptische Aktivität. Es hat bereits während der Antike verschiedene skeptische Strömungen gegeben, die sich alle mehr oder weniger auf Pyrrhon beziehen und sich darin unterscheiden, wie radikal oder umfassend skeptische Positionen im Einzelnen vertreten werden. So lassen sich eine universelle und eine partielle Ausrichtung mit je einer absoluten und einer relativen Form unterscheiden. Die universelle Ausrichtung in ihrer absoluten Form behauptet, dass so etwas wie Wahrheit für immer und jeden unerkennbar sei, während die relative Form sich auf den gegenwärtigen Zustand des Skeptikers bezieht. Beiden Formen der universellen Ausrichtung ist gemeinsam, dass sie sich gegen eine Erkennbarkeit der Wahrheit eines Urteils oder einer Einschätzung wenden. Die partielle Skepsis bezweifelt lediglich nur die Berechtigung bestimmter Urteile; in ihrer absoluten Form wird behauptet, diese seien auf jeden Fall unerkennbar, in der relativen Form wird konzediert, dass es hier Unterschiede gäbe (vgl. Hossenfelder, 1974, S. 1953). Alle diese Ausprägungen stimmen jedoch in dem anthropologischen Befund überein, dass sich Menschen kaum je in einer Situation befinden, in der sie sicher sagen könnten, dass das, was sie für wahr halten auch wirklich wahr sei, so dass es sich also bei einer sogenannten Gewissheit um eine recht gebrechliche Angelegenheit handelt. Der wichtigste Gewährsmann für die Überlieferung der antiken Skepsis ist Sextus Empiricus (Hossenfelder, 1985; Flückiger, 1990; Bächli 1990; Ricken, 1994; Vogt, 1998; La Sala, 2005), ein Arzt und Philosoph, welcher wohl der Medizinerschule der Empiriker (daher sein Beiname) angehörte. Sein »Grundriß der pyrrhonischen Skepsis« (Sextus, 1968) – entstanden nach Marc Aurels Tod, also gegen Ende des zweiten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung – fasst die verschiedenen Positionen sowohl in erkenntnistheoretischer wie lebenspraktischer Weise zusammen und stellt den zusammenhängendsten Text der frühen Skepsis dar. Das griechische Original wurde 1562 von Henri Estienne ediert und ins Lateinische übersetzt und hinterließ einen stark nachwirkenden Eindruck unter anderem auf Michel de Montaigne (der vielen als Pyrrhoniker galt) und dessen Praxis des Essays als einer Textform, die sich bereits in ihrer offenen, an der eigenen Wahrnehmung ausgerichteten Form gegen die Absolutheitsansprüche einer vermeintlichen Wahrheit wendet. Seine berühmte Frage: »Que sait-je?« (Was weiß ich?) ist von Sextus wesentlich mitinspiriert worden. In dessen »Grundriß« (Sex© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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tus, 1968, S. 102 ff.) finden sich auch jene skeptischen Tropen, die als offene Argumentationsfolge Wahrnehmungsprozesse und ihre skeptischen Konsequenzen pointieren. Sie bilden einen Bezugsrahmen für diejenigen, die daran interessiert sind, ein skeptisches Bewusstsein zu entwickeln und entsprechend zu verfeinern. Sie stellen sich im Einzelnen folgendermaßen dar: Der erste Tropus bezieht sich auf die Unterschiedlichkeit der Lebewesen und deren entsprechend unterschiedlich spezifiziertes Wahrnehmungsvermögen; so verfügen beispielsweise Hunde über eine bessere Geruchsorientierung als Vögel, die wiederum ein besser ausgebildetes optisches Vermögen besitzen. Demzufolge erscheint es fragwürdig, warum gerade Menschen die Welt wahrheitsgemäß erkennen sollten. Der zweite Tropus bezieht sich auf die Verschiedenheit der Menschen untereinander in körperlicher, seelischer und geistiger Hinsicht sowie im Hinblick auf Temperament und Charakter. Der dritte Tropus gründet sich auf die Verschiedenheit der einzelnen Sinnesorgane. »So ist der Apfel« – wie Diogenes Laertius in seiner Kurzvita zu Pyrrhon anmerkt – »für das Auge blassgelb, für den Geschmack süß, für den Geruch wohlduftend. Und die nämliche Gestalt erscheint nach Verschiedenheiten der Spiegel bald so, bald anders. Daraus folgt also, dass dem Erscheinenden die eine Form nicht mehr zukommt als die andere« (Diogenes Laertius, 2008, S. 189). Der vierte Tropus bezieht sich auf die unterschiedlichen Stimmungen, Lebensumstände, Ideosynkrasien der Einzelnen, die je nach Alter, Gesundheit, »Normalität« (oder besser Angepasstheit) ein je anderes Erscheinungsbild der Welt erzeugen können. Und so erhebt sich die Frage, wieso die Sicht des »Normalen« die Welt »richtiger« wahrnehmen sollte als die Sicht eines »Nicht-Normalen« bzw. für verrückt Geltenden. Der fünfte Tropus betrifft die verschiedenen Raumpositionen und ihren Einfluss auf die Wahrnehmung. »So sieht der entfernte quadratische Turm rund aus, das gerade Ruder im Wasser gebrochen, der Taubenhals wechselt nach Position seine Farbe und die Sonne erscheint im Zenith klein, am Horizont aber groß. Kein Objekt also lässt sich in seinem An-Sich74 erkennen, weshalb hier wie auch in allen übrigen Fällen Urteilsabstinenz angezeigt ist« (Jürß, 2001, S. 14). 74 Dieser Tropus hat eine wichtige Erkenntnis und Grunderfahrung der Phänomenologie vorgenommen (vgl. das Phänomenologiekapitel in »Fragen – Lösen – Fragen. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Begriffsgeschichte
Der sechste Tropus bezieht sich auf die Mischungen und Verbindungen, modern gesprochen auf den Kontextfaktor. Einer kühlen Hand, in lauwarmes Wasser getaucht, erscheint dieses eher warm, einer heißen eher kalt. Wie ist nun das Wasser wirklich? Die Dinge werden von dem, was sie umgibt, mit dem sie verbunden sind oder das auf sie einwirkt, gefärbt, temperiert, imprägniert etc., so dass wir ihre »Reinheit« kaum je erkennen können. Der siebte Tropus bezieht sich auf den Wandel der Qualität und der Quantität im Hinblick auf eine zutreffende Einschätzung und im Hinblick auf die Wirkung. Das griechische Wort pharmakón etwa heißt sowohl Heilmittel als auch Gift, es ist also auch hier keine Frage des An-Sichs, sondern eine der Dosis. Der achte Tropus bezieht sich nochmals auf die grundlegende, allem innewohnende Relativität, modern gesprochen auf die »Unschärferelation«, die durch die Beobachtung eines Beobachters entsteht und nimmt Positionen des Radikalen Konstruktivismus und der Kybernetik zweiter Ordnung vorweg. Der neunte Tropus bezieht sich auf die Fortdauer der Erscheinungen, auf den Einfluss der Gewohnheit und Gewöhnung hinsichtlich dessen, was wahrgenommen wird. Bei fortgesetzt strahlendem, wolkenlosem Wetter etwa wird der Strahlungsgeber, die Sonne, kaum mehr eigens bemerkt. Bei gegenteiliger Witterung deren Auftreten jedoch verstärkt zur Kenntnis genommen. Der zehnte Tropus bezieht sich auf die Verschiedenheit der jeweils herrschenden Moralvorstellungen, Werte, Gebräuche, religiösen Traditionen etc., die dasjenige, was wahrgenommen wird, ganz unterschiedlich erscheinen lassen und die entsprechenden Eindrücke entscheidend vorprägen, so dass manchem dasselbe als passend oder als ungerecht vorkommt und somit doch nicht dasselbe zu sein scheint, zumindest nicht für den jeweiligen Betrachter. Die in der antiken Skepsis entwickelten Tropen bieten auch heute noch die Möglichkeit, sich klar darüber zu werden, wie sehr selbst eine vermeintlich einfache Wahrnehmung der Welt (oder von sich selbst) vom unterschiedlichen Perzeptionsvermögen, der Individualität des Einzelnen, von den verschiedenen Abbildungsweisen seiner SinnesPhilosophische Potentiale für Therapie, Beratung und Organisationentwicklung«; Stölzel, 2013). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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organe, dem Einfluss seiner Stimmungen, Ziele und Lebensumstände, seiner aktuellen inneren und äußeren Temperatur, der Beziehung von Qualität und Quantität, dem Einfluss durch seine Beobachterposition, der Macht der Gewohnheit und den unterschiedlichen Überzeugungen und persönlichen Vorlieben im Verhältnis zu anderen mitbestimmt wird. Angesichts einer derart individuumsgeprägten und kontingenten75 Sicht der Dinge kann man sich fragen, wie sich der Glaube an ein »richtiges« politisches Ideal oder System, ein bestimmtes Gottesbild oder eine fixe transzendentale Überzeugung und die feste Ansicht, dass es so etwas wie wissenschaftliche Objektivität und den damit verbundenen, »unvoreingenommenen« Blick auf den Forschungsgegenstand gibt, überhaupt hat bilden können. Natürlich kann man einwenden, dass viele Menschen nicht nach ihrer persönlichen, religiösen oder wissenschaftlichen Meinung gefragt worden sind, sondern sich mehr oder weniger an bereits geschaffene Strukturen anpassen mussten. Doch darf man vermuten, dass die Motive und Intentionen der politischen, religiösen oder wissenschaftlichen Strukturbildner noch von anderen Faktoren gesteuert werden als denen, Ordnung und Überblick und damit Sicherheit schaffen zu wollen. Was könnte einer offenen, experimentierenden und über-prüfenden Haltung, wie sie eine entwickelte Skepsis verkörpert und praktiziert, mehr entgegenstehen als Macht(streben), Glaubensbereitschaft oder Angst? Und so ist es wohl keine allzu große Überraschung, wenn die Dogmatiker der verschiedenen Zeiten und Epochen, die zumeist eine »kompakte Majorität« bildeten, der Skepsis, milde geredet, wenig abgewinnen konnten.76 In der antiken Skepsis wurde ein Verfahren entwickelt, das unter dem Namen Isosthenie bekannt wurde. Dieses Verfahren bildet einen so grundlegenden Teil der skeptischen Praxis, dass es bereits eigens in frühen, pointierten Bestimmungsversuchen über das Vorgehen und Ziel skeptischer Bemühungen erscheint: 75 Man kann hier ein Gedankenspiel mit sich durchführen. Angenommen, man wäre in eine andere Familie, Nation, Zeit hineingeboren oder als Mann bzw. als Frau auf die Welt gekommen: Welche Auswirkungen hätte das auf die persönliche Wahrnehmung der Welt und einen selbst? Würde man noch annähernd dasselbe sehen, richtig finden, ablehnen etc., was einem heute so sicher und gewiss erscheint? 76 Nicht wenige empfanden die Skepsis als die »rastlos arbeitende Guillotine der Philosophie«, die »Autoritäten köpft« (Albrecht, 1995, Spalte 964). Deswegen ist sie bei autoritären Denkern wie deren autoritätsgläubiger Gefolgschaft gleichermaßen unbeliebt. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Begriffsgeschichte
»Was Skepsis ist Die Skepsis ist die Kunst, auf alle mögliche Weise erscheinende und gedachte Dinge einander entgegenzusetzen, von der aus wir wegen der Gleichwertigkeit der entgegengesetzten Sachen und Argumente zuerst zur Zurückhaltung, danach zur Seelenruhe gelangen« (Sextus, 1968, S. 94).
Isosthenie bedeutet, wörtlich übersetzt, die gleiche Stärke (iso-sthenos). Gemeint ist damit die gleiche Stärke von Meinung und Gegenmeinung und die damit einhergehende – viele Dogmatiker verstörende – Gleichwertigkeit gegensätzlicher Standpunkte, von der Sextus in seiner Definition spricht. Ich möchte das Motiv für ein Verfahren wie die Isosthenie kurz kulturgeschichtlich beleuchten. Bereits zu Lebzeiten Pyrrhons waren so viele verschiedene, einander oft widersprechende Theorien, Methoden, Glaubenssätze und Überzeugungen entwickelt worden und im Schwange, dass sich eine Orientierung in diesem disparaten Wissenskosmos als schwierig darstellte. Welcher Theorie, Methode sollte man folgen? Welchen Glaubenssatz übernehmen? Welche Überzeugung sich zueigen machen? Da doch alle gleichermaßen behaupteten, wahr und gut zu sein, und selbst bei genauerer Betrachtung zumindest ansprechende oder aufschlussreiche Aspekte enthielten. Es stellte sich also ein gewisses heuristisches Problem: Wie konnte man herausfinden, ob und was die jeweiligen Theorien, Methoden etc. taugten, da doch die individuelle Befragung nur ein oft recht einseitiges Bild ergab, da die jeweilige Theorie, Methode etc. für sich selbst gewissermaßen als Propagandist auftrat und ihre Überlegenheit und Gütequalität betonte? Das (wenn man will, methodologische) Verfahren der Isosthenie war der Versuch, das Problem, wenn nicht zu lösen, so doch anders betrachten und untersuchen zu können. Eine Theorie, Methode, ein Glaubenssatz etc. darf sich sozusagen im besten Licht präsentieren, alle ihre/seine Vorzüge, Perspektivengewinne, Handlungsmöglichkeiten usw. darstellen. Zu der Meinung, die die jeweilige Theorie, Methode etc. vertritt, gibt es nach der Beobachtung der Skeptiker auch eine Gegenmeinung, die vom Gegenteiligen ausgeht und zu gegenteiligen Schlüssen kommt. Auch diese darf sich in ähnlicher Weise präsentieren. Der Skeptiker betrachtet nun beide Meinungen als etwas Gleichwertiges, Gleichstarkes, gleich Überzeugendes, ohne einer den Vorzug zu geben oder sie als überlegen anzusehen. Man © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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könnte sagen, er lässt sich von beiden gleichermaßen anmuten. Denn zur skeptischen Wahrnehmung gehört ein gewisser Mut. Die skeptische Wahrnehmungsweise konturiert in isosthenischer Praxis gewissermaßen eine dritte Betrachterposition. Wenn also, so die skeptische Erfahrung, nicht (so leicht oder überhaupt) herauszufinden ist, welche der beiden entgegengesetzten Meinungen die richtigere, passendere, bessere, nützlichere etc. darstellt, dann, so das skeptische Resultat, scheint es angezeigt, sich eines (festschreibenden) Urteils zu enthalten. Die Urteilsenthaltung, das aus dem prüfenden gegensätzlicher Positionen erwachsene Nichtwissen oder zumindest Nicht-sicher-Wissen bildet eine wichtige skeptische Reaktionsweise; sie wird auch Epoché genannt77 und bereitet das Ziel (zumindest der pyrrhonischen) Skepsis vor: die Seelenruhe (Ataraxie), ein Zustand, der auch als »Meeresstille des Gemüts« (Arthur Schopenhauer, 1982, S. 558) bezeichnet worden ist und einen ganz anderen, einen skeptisch geläuterten Blick auf die Welt eröffnen kann. Verkürzt gesagt: Skepsis hat viel zu tun mit Wahrnehmung und Wissen, genauer mit überprüfter Wahrnehmung und überprüftem Wissen; mit dem Einfluss, den unser oft nicht deutlich zu Bewusstsein kommendes Wissen, Glauben und Meinen, mit einem Wort, unsere Vor-Urteile auf das haben, was wir wahrnehmen und wie wir es wahrnehmen. Skepsis als philosophische Kompetenz hat dadurch auch viel mit der des Staunens zu tun, und zwar in der Weise, dass beide einander besonders gut ausgleichen und ein Korrektiv füreinander bilden können. Ich möchte die Praxis der Isosthenie an einem Beispiel kurz zu verdeutlichen versuchen. Nehmen wir zur Veranschaulichung ein Gegensatzpaar, wovon die eine die andere Seite lange heftig bekämpft, verfolgt und stigmatisiert hat78 (mit nicht selten tödlichem Ausgang für eben diese andere Seite) und das auch heute noch für viele Menschen eine gewisse Rolle spielt: das Gegensatzpaar Christ –Atheist. Aus der Perspektive eines isosthenisch untersuchenden Skeptikers stellen sich die gegensätzlichen Positionen als sehr ähnlich dar. Der Skeptiker könnte weiterhin herausfinden, dass sie sogar Überzeugungen teilen, 77 Dieser Begriff nimmt innerhalb der phänomenologischen Praxis eine wichtige Rolle ein; vgl. hierzu das Phänomenologiekapitel in »Fragen – Lösen – Fragen. Philosophische Potentiale für Therapie, Beratung und Organisationsentwicklung«. 78 Wer sich hierfür genauer interessiert, kann dies, gerade, was den Aspekt des Philosophischen betrifft, zum Beispiel an der Biographie David Humes studieren. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Begriffsgeschichte
die im Kern als nahezu identisch erscheinen. Beide gehen davon aus, dass etwas ganz sicher, unbezweifelbar ist. Nämlich: dass es einen Gott oder eine vergleichbare transzendentale Instanz gibt bzw. dass es keinen Gott oder keine vergleichbare transzendentale Instanz gibt. Im Wissen dieses vermeintlichen Wissens sind sich beide Positionen sicher. Hierin sind sie nahezu identisch und wären austauschbar, wenn da nicht ein Unterschied sozusagen im jeweiligen Vorzeichen (plus oder minus) bestünde. Eine weitere Gemeinsamkeit lässt sich mitunter in ihrem Missionismus, das heißt in dem Drang beobachten, gefragt wie ungefragt andere, noch nicht Wissende vom vermeintlich sicheren Wissen zu überzeugen. Gerade die isosthenische Betrachtungsweise vermag die Beobachtung zu bestätigen, dass sogenannte Gegensätze einander oft viel ähnlicher sind, als sie es selbst voneinander behaupten oder es viele andere glauben. Eine Position, die nur etwas von der einen oder anderen Seite abwiche, wäre, so gesehen, viel unterschiedlicher, als diese zueinander. Welche Position bezieht nun eine skeptische Sichtweise in dieser für viele Menschen wichtigen Frage? Kurz gesagt: die Position des Nicht-sicher-wissen-Könnens. Denn ein isosthenisch untersuchender Skeptiker bekennt sich dazu, dass er nicht wisse, ob nicht vielleicht doch die christliche Position Recht habe, und dass er ebenfalls nicht wisse, ob nicht vielleicht doch die atheistische Position Recht habe; was er jedoch wisse, sei der Umstand, dass er es eben nicht sicher wisse(n) (könne). Dieses sichere Wissen ex negativo hat zu allen Zeiten vielen Menschen nicht genügt, nicht allein in Glaubensfragen. Sie wollten, suchten, strebten nach Gewissheit. Wenn nötig, auf Biegen und Brechen. Und so ließe sich (vgl. die »Begriffsgeschichte« zum Mut) die Kulturund Philosophiegeschichte auch als Skepsisgeschichte schreiben – als den unterschiedlichen Drang zu, die Angst vor, den Umgang mit skeptischen Praktiken, Positionen und Ergebnissen. Ja, man kann sogar die Frage stellen, inwieweit etwas philosophisch genannt zu werden verdient, das nicht zumindest über eine halbwegs entwickelte Skepsis (genauer den Mut dazu) verfügt. Gerade im Verhältnis zu sich selbst bzw. den eigenen Methoden. So erscheint es naheliegend, dass ein stark systematisierendes Denken die Skepsis nicht sehr (hoch-)schätzt. Denn desto sicherer das System gegründet scheint, umso mehr ignoriert oder attackiert es skeptische Vorbehalte oder Überprüfungsmöglichkeiten. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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So gesehen ist jedes System in Gefahr zu einer Art Denk-Theologie79 zu werden. Offenere Denkformen wie das aphoristische oder essayistische Reflektieren scheinen davon weniger bedroht. Im Rahmen einer kurzen Begriffsgeschichte kann ich die Weiterentwicklung der antiken Skepsis natürlich nur sehr ausschnitthaft wiedergeben. Nach allem, was bisher gesagt wurde, bildet es wohl keine allzu große Überraschung, dass dem skeptischen Prüfen und Denken während des sogenannten Mittelalters keine große Wirkungsmöglichkeit eingeräumt wurde, wenngleich es natürlich auch während dieser Epoche skeptische Fragen, Einwände, Positionen gab, nur dass diesen keine größere Öffentlichkeit gewährt wurde. Für das Aufgreifen der antiken Skepsis und Wiederanknüpfen an diese stellt ein eigenwilliger Denker der Renaissance, Michel de Montaigne80, eine wichtige Brückenfigur dar; er war an deren Wiedergeburt maßgeblich und nachwirkend beteiligt. Für einen kulturgeschichtlich argumentierenden Essayisten wie Ralph Waldo Emerson erscheint er in dessen Sammlung »Repräsentanten der Menschheit« (»Representive Men«) neben Platon, Swedenborg, Shakespeare, Napoleon und Goethe (die alle charakterisierende Epitheta erhalten) als »Montaigne oder der Skeptiker« (1989). Viele der Denker und Autoren, die sich selbst als Skeptiker bezeichnen oder in begründeter Weise von anderen so bezeichnet worden sind, haben sich mit Montaigne und seiner Perspektive von dem »ewigen Schaukeln der Dinge« beschäftigt und sich von seiner »blicköffnenden Weisheit« (Hugo Friedrich), in der sich seine Skepsis ausdrückte, anregen, herausfordern und zu eigenen Nuancierungen provozieren lassen. Wer gehört zu dieser Gruppe von philosophischen Autoren, die skeptische Methoden (weiter-)entwickelt, auf konturierte Weise skeptische Positionen bezogen, über skeptische Potentiale nachgedacht haben – die also (mehr oder weniger) als Metaskeptiker tätig geworden sind? Ich nenne (einigermaßen chronologisch) einige wichtige: Hume, Lichtenberg, Schopenhauer, Nietzsche, Valéry, Maugham81, Wittgenstein, 79 »Das Philosophieren im sokratischen und skeptischen Sinn hört auf, wo der Glaube beginnt«, konstatiert Karl Löwith (Löwith, 1985, S. 225). Und so lassen sich innerhalb der Philosophiegeschichte immer wieder Denker finden, die einer politischen oder religiösen Ideologie auf den Leim gegangen sind. 80 Der manchen akademischen Erforschern der Skepsis als besonders lebensnaher, als reflektiert hedonistischer Skeptiker gilt (vgl. Richter 1906, S. 65 ff.). 81 Vgl. hierzu meinen Essay »Ich finde keine Antwort darauf. William Somerset Maugham als Skeptiker«, in Stölzel, 2009b, S. 7–19, sowie die Konturierungen © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Begriffsgeschichte
L. Marcuse, Löwith, Popper, Chargaff, Cioran, von Foerster, Kolakowski, Feyerabend und Odo Marquard. Descartes und Kant, die ein geradezu methodisches Verhältnis zum Zweifel und zum Zweifeln besaßen, stellen genauer betrachtet Sonderfälle dar, da sie in ihrem starken Systematisierungsdrang gewissermaßen ihre skeptischen Tendenzen und Impulse selbst wieder exorziert haben.82 Eine geläuterte Position nimmt der Kantianer und Kant-Herausgeber Wilhelm Weischedel in seiner »Skeptischen Ethik« ein, wenn er etwas zähneknirschend eingesteht: »Philosophische Ethik ist heute ehrlicherweise nur83 als Skeptische Ethik möglich«, da skeptisches Philosophieren eben das »radikale Fragen« und das »Fraglichmachen und Infragestellen« am besten gewährleiste (Weischedel, 1976, S. 13, S. 37 f.). Angesichts der Fülle des Materials beschränke ich mich auf einige Akzentsetzungen, die mir dafür geeignet scheinen, beim (Weiter-)Entwickeln der Skepsis als philosophischer Kompetenz mitbedacht und mitberücksichtigt zu werden. Denn gerade bei der Praxis der Skepsis wird deutlich, wie radikal man fragt bzw. etwas sicher, richtig oder als gewiss Geltendes in Frage stellt. »Zumeist sind wir weder radikal skeptisch, noch radikal gläubig. Wir zweifeln und glauben gewöhnlich nur bis zu einem ›gewissen‹ Grad« (Löwith, 1985, S. 218). Die Frage, die also eine sinnvolle skeptische Praxis stets begleitet, ist die Metafrage nach der Art und Weise der gebotenen Radikalität des mehr oder weniger rückhaltlosen Prüfens und Hinterfragens, wobei – das zeigt selbst eine moderate Skepsis – es durchaus lohnend und erkenntnisfördernd sein kann, den »gewissen« Grad zumindest gelegentlich zu erhöhen. Zu den moderaten Skeptikern gehört David Hume, der zwar anders als Issac Newton nicht der Überzeugung ist, endgültiges Wissen, zum Beispiel in Gestalt von vermeintlich unumstößlichen Naturgesetzen erlangen bzw. finden zu können, andererseits aber auch seinen skeptischen Zweifeln misstraut und erklärt: »A true sceptic will be different von Ciorans skeptischen Positionen, in Stölzel, 1998a, S. 50–109 und Stölzel, 2002, S. 174–184, außerdem den Skepsisgebrauch von Paul Valéry, in Stölzel, 2011, S. 307–322. 82 Von Kant etwa ist – nach dem Abschluss seiner dritten Kritik – die Äußerung überliefert, hiermit sei sein »kritisches Geschäft« beendet (vgl. Stölzel, 1999, S. 282). Für einen wahren Skeptiker wäre zu seinen Lebzeiten ein solches Ende schwer vorstellbar, da seine Neigung zum Prüfen eigentlich nicht zu einem Ende kommen kann. 83 Wobei dieser sprachliche Absolutismus des Systematikers Weischedel manchem Skeptiker wohl aufstoßen würde. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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of his philosophical doubts, as well as of his philosophical conviction« (Hume, 1985, S. 273), woraus man den Schluss ziehen könnte: Eine Skepsis, die sich selbst gegenüber nicht skeptisch bleibt, erstarrt zum Skeptizismus. Skepsis hätte demnach viel mit praktiziertem Ausgleich und Selbstkorrektur zu tun. Einen Königsweg ins skeptische Handeln weist Georg Christoph Lichtenberg. Dieser Meister der Sprachkürze (und wohl größte deutschsprachige Aphoristiker), der als Professor für Experimentalphysik wie als Experimentalphilosoph in Göttingen tätig war und nicht allein als Methodologe unter anderem. Goethe und die Humboldtbrüder nachhaltig beeinflusste, braucht hierfür nur vier (!) Worte, wovon zwei Verben, das heißt Tätigkeitsbeschreibungen sind. Sein skeptischer Appell lautet: »Weder leugnen noch glauben« (Lichtenberg, 1980, S. 853). Man kann sich fragen: Wie ist das gemeint? Die Frage stellt sich für dogmatisierende Denker, die gewohnt sind eine bestimmte Position zu beziehen, ohnedies. Denn, was bleibt ihnen noch zu tun, da beide gegensätzlichen Handlungsweisen gleichermaßen ausgeschlossen scheinen. Man kann Lichtenbergs Aufforderung so verstehen: zunächst nichts (erscheine es noch so befremdlich und abwegig) abzuwehren oder auszuschließen, also zu »leugnen«, und sich auch an nichts (erscheine es auch noch so haltgebend und orientierungsstiftend) zu hängen oder darauf zu fixieren, also zu »glauben«, sondern gewissermaßen eine dritte Position einzunehmen, die im übersummenhaften Ausgleich der beiden antagonistischen Verhaltensweisen besteht. Diese dritte Position vergrößert zudem die isosthenische Perspektive, die Lichtenberg möglicherweise als Anregung diente. Im Umsetzen seines skeptischen Appells können zudem die drei anderen philosophischen Kompetenzen praktiziert und geübt werden. Denn um eine solche dritte Position einzunehmen, braucht es einigen (entwickelten) Mut; es ist ja viel leichter und erscheint naheliegender, sich auf eine Position zu versteifen. Der Humor kann hierbei für ein entsprechendes Bewusstsein der eigenen Haltung sorgen und das Staunen einen die vermeintlich bekannten Dinge und Menschen ganz anders wahrnehmen lassen. Wittgenstein hat sich etwas so Bekanntem, Vertrautem, Voraussetzungsbildendem wie der Sprache und ihrem Gebrauch philosophisch auf eine Weise genähert, dass er das Medium, das auch viele Skeptiker oft ganz unhinterfragt und selbstverständlich verwenden – die Wortsprache – zum Hauptgegenstand seiner »Philosophischen © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Begriffsgeschichte
Untersuchungen« gemacht hat. Er zeigte damit auf, welche – gerade für Sprachberufe wie Therapeuten, Berater, Coaches und Organisationsentwickler – wichtigen und aufschlussreichen Erkenntnisse mit dieser Form der Annäherung gewonnen werden können. Der Logiker und Philosophiehistoriker Wolfgang Stegmüller hat diese Form von Grundlagenskepsis als »Hyperskepsis« bezeichnet (Stegmüller, 1989, S. 9). Daraus ergibt sich eine Unterscheidung von expliziter Skepsis (Thesen, Argumentation) und impliziter Skepsis (Sprache als Form, Mittel und Grundlage des Argumentierens). Eine andere Art von Skeptiker stellt der rumänische Schriftsteller-Philosoph E. M. Cioran dar. Man könnte ihn als »Temperamentskeptiker« bezeichnen, der das eigene Lebensgefühl stark in seine Bezweiflungshandlungen mit einbezieht und eine »Praxis des Taumels« exerziert. Für die (Weiter-)Entwicklung der Skepsis zu einer philosophischen Kompetenz kann sein methodischer Vorschlag, diese als »eine Übung in Entfaszination« (Stölzel, 2002, S. 174) zu nutzen, sehr gut verwendet werden, zumal nicht wenige noch immer von so etwas wie Wahrheit bzw. der Möglichkeit, eine solche zu finden oder erreichen zu können, fasziniert sind. Als eine Art Antidot können da die »Gespräche für Skeptiker« wirken, die der Bio-Kybernetiker und Epistemologe Heinz von Foerster mit Bernhard Pörksen unter dem Titel: »Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners« (Foerster u. Pörksen, 1998) geführt und damit neben der Wahrheitsproblematik84 auch das alte epimedeische Paradoxon skeptisch intoniert hat. Zuletzt möchte ich einige skeptische Positionen von Odo Marquard vorstellen. Marquard, der der sogenannten »skeptischen Generation« (Helmut Schelsky) angehörte85, hat sich seit seines Wissenschaftlerlebens als akademischer Philosoph und darüber hinaus (vgl. Stölzel, 84 Skepsis sei zwar auch Wahrheitssuche, »aber so« – präzisiert Karl Löwith – »daß der Untersuchende auf der Suche bleibt« (Löwith, 1985, S. 219). 85 Der Soziologe Schelsky versucht damit jene Generation typologisch zu fassen, die, vornehmlich in den 1920er Jahren geboren, die NS-Zeit als ältere Jugendliche oder junge Erwachsene erlebt hat und sich deswegen keiner »Ideengläubigkeit auf Gedeih und Verderb [mehr] ausliefert« und starke Vorbehalte gegenüber allen »intellektuellen Planungs- und Ordnungsschemata, die das Ganze in einem Griff zu erfassen und zu erkennen glauben«, anmeldet (Schelsky, 1963, S. 74). Zu ihr gehören Intellektuelle wie unter anderem Dieter Wellershoff und Hermann Lübbe. Marquard hat sich seinerseits zu Schelskys Typologisierungsversuch geäußert (Marquard, 1981, S. 4–9). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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2009a, S. 107) mit verschiedenen Formen und Anwendungsmöglichkeiten der Skepsis befasst. In einem Steckbrief »wanted the sceptics« (Marquard, 1982, S. 218–221) gibt er – metaskeptisch, also »zweifelsbezweifelnd« – Typenbeschreibungen, von denen ich einige Charakteristika wiedergebe. Skeptiker reagieren, Marquard zufolge, nicht selten moralistisch (also nicht moralisch), das heißt: »sie rechnen damit, daß Menschen auch im Sinne des Allzumenschlichen menschlich sind« und bleiben jeglichem Absolutheitsanspruch gegenüber zurückhaltend. Marquard präzisiert das so: »der pyrrhonische Skeptiker weiß also beileibe nicht absolut nichts, er weiß nur nichts Absolutes. Der Skeptiker zersetzt nicht, er mäßigt. Drum auch ist sein skeptischer Zweifel niemals absolute Intervention, sondern nur Intervention gegen Absolutes.« Hinzu kommt der Einfluss der Gewohnheiten: »Die Skeptiker realisieren, daß des Menschen Leben sich unvermeidlich überwiegend im Usuellen, im Üblichen hält […] und zwar wegen der Langsamkeit [der] todesbefristeten Kürze« des Lebens, »denn wie schnell wir auch denken und handeln: wir bleiben zu langsam […]. Für eine Absolutmachung unseres Lebens sterben wir zu schnell. Darum – das realisieren die Skeptiker – verbleiben wir unvermeidlich im Nichtabsoluten, Kontingenten, Zufälligen: dem, was auch anders sein könnte.« Skepsis schärft zudem, betont Marquard, den »Sinn für Gewaltenteilung«, indem sie dazu beiträgt, »Singularisierungsschäden« zu vermeiden, »und zwar durch Pluralisierungen etwa mit Hilfe buntheitsbewahrender Entschleunigung […] historisch durch Teilung der Geschichte in Geschichten […] hermeneutisch durch Teilung des Verständnisses in Verständnisse, schließlich skeptisch durch Teilung der Philosophie in Philosophien.« Eine metaskeptische Skepsis wird dadurch zum Fürsprecher eines »Lob[s] des Polytheismus« (Marquard, 1981, S. 91 ff.) und dies nicht allein in Glaubensfragen. Die reifste Frucht der Skepsis wäre demnach eine (realistische) Toleranz. Für Lezcek Kolakowski bildet sie ein »Seminarium«, das heißt ein Samengehäuse einer Toleranz, die aus dem Nicht-sicher-Wissen kommt. Wer sich dazu entschließt, »gesteht damit zugleich ein, daß es nicht den wahren religiösen Glauben, die unerschütterliche politische Überzeugung, die unwandelbare Weltanschauung gibt« (Sontheimer, 1974, S. 32). Es ist mir am Ende dieser kurzen Begriffsgeschichte wichtig, noch einmal zu betonen, dass eine Skepsis, die sich nicht selbst gegenüber © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Elemente für ein persönliches Skepsis-Profil
skeptisch bleibt, leicht in Gefahr gerät, sich zu einem gläubigen Skeptizismus zu verfestigen, also nur einen Vertreter mehr abgäbe in jenem »Wirrwarr von Ismen« (Glasersfeld, 1981, S. 18), zu dem viele ursprünglich oft anregende Denk-, Glaubens- und Handlungsweisen, die uns umgeben, erstarrt sind. Die Skepsis verlöre damit ihre lösende und klärende Kraft, gerade auch für denjenigen, der sie anwendet. Der metaskeptische Umgang mit der eigenen skeptischen Haltung macht überdies deutlich, dass viele, die sich (aus welchen Gründen auch immer) mit diesem Etikett versehen, oft nicht weniger dogmatisch agieren, als jene, gegen die sie sich vermeintlich skeptisch wenden. Der Wert und der Nutzen der Skepsis liegt in dem Bewusstsein für die Notwendigkeit, die Formen und die Grenzen des (Über-)Prüfens. Eine in solcher Weise konstruktive Skepsis verhält sich selbstreferenziell und steht sozusagen unter dauernder Selbstbeobachtung. Dadurch wird klar, dass auch ein Skeptiker – unvermeidlicherweise – in Grenzen dogmatisiert, dass auch seine Position ein Fundament besitzt (da er, logisch betrachtet, seine Voraussetzung nicht in gleicher Weise in Frage stellen kann, wie das, was er untersucht und überprüft). Eine entwickelte Skepsis bewährt sich (auch sich selbst gegenüber) dadurch, dass sie mehr auf Hypothesen als auf Diagnosen, also mehr auf Möglichkeiten als auf Festschreibungen ausgerichtet ist – und sich damit begnügt, zu sagen, wie die Menschen und Dinge erscheinen, statt wie sie vermeintlich sind.
Elemente für ein persönliches Skepsis-Profil Um die philosophische Kompetenz der Skepsis für Ihre beruflichen wie persönlichen Bedürfnisse und Herausforderungen gut nutzen und sie passgenauer entwickeln bzw. weiterentwickeln zu können, empfehle ich Ihnen, sich immer wieder mit den nachfolgenden Fragen, Übungen und Perspektivenvorschlägen zu beschäftigen. Das Profil, das Sie auf diese Weise erstellen, verbessert zudem Ihr Verständnis für sich selbst und vergrößert damit Ihr Bewusstsein für Ihre Handlungs-, Verhaltens- und Lebensmöglichkeiten. Wählen Sie sich unter den aufgelisteten Klärungshilfen die für Sie anregenden und weiterführenden aus. Welche Rolle spielt das Thema (Über-)Prüfung in Ihrem beruflichen und persönlichen Leben?
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Welche Bedeutung hatte es in Ihrer Herkunftsfamilie und während anderer früher Prägungen? Entstammen Sie (Ihrer heutigen Sicht nach) eher einem Feld von gläubigen oder eher einem von zweifelnden Menschen oder erlebten Sie da gemischte Positionen? Auf welche Resonanz ist Ihre Bereitschaft oder Neigung zum Nach- und Hinterfragen gestoßen? Fühlen Sie sich als jemand, der genau betrachtet und geprüft worden ist? Und wie ist es aufgenommen worden, wenn Sie prüfend Ihre frühe Umgebung zur Kenntnis genommen und untersucht haben? Was erscheint Ihnen (besonders) nötig, gut geprüft bzw. sorgfältig überprüft zu werden? Was tun Sie innerlich (das heißt im Gespräch mit sich selbst), wenn Sie jemanden oder etwas prüfen bzw. überprüfen? Wie sieht dabei Ihr Selbstgespräch aus bzw. was bekäme zum Beispiel ein naher Freund von Ihnen zu hören, wenn Sie diese Unterredung mit sich laut führen würden? Was erscheint Ihnen besonders fragwürdig? Mit welchen Sinnesorganen, Körperteilen, Leibesregionen, Gedanken, Hypothesen, Fragen, Perspektiven usw. prüfen Sie etwas oder jemanden? Wie gehen Sie dabei vor? Was steht am Anfang Ihrer Überprüfung, was in der Mitte, was am Ende? Gibt es etwas, das Ihrer Meinung und Erfahrung nach – nicht – der Prüfung bedarf? Wo sehen Sie die Grenzen des Prüfens? Was kann mit diesem Mittel nicht herausgefunden, was muss (guten oder weniger guten Gewissens) geglaubt werden? Bei welchen Personen oder Situationen halten Sie sich oder scheuen Sie zurück, diese genauer zu betrachten und zu untersuchen, sie also auf die eine oder andere Weise einer Prüfung zu unterziehen? Was könnten Sie dabei möglicherweise zu sehen bekommen?86 86 In einer seiner eindrücklichen Bildergeschichten (Loriot, 2008, S. 375), in denen es Loriot versteht, komplexe soziale Situationen in einer Reihe von vier, fünf Folgebildern zu verdichten, zeigt er einen offenbar sehr kurzsichtigen Mann, der seine Umgebung extrem verschwommen wahrnimmt, wie er gemeinsam mit seiner Frau zum Optiker geht. In dem Moment, in dem er die Brille aufsetzt, wer© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Elemente für ein persönliches Skepsis-Profil
Beschreiben Sie den Zusammenhang, der für Sie zwischen der Überprüfung und der Wertschätzung (einer Person, einer Gruppe, einer Organisation) besteht. Ermitteln Sie dabei, was an einem sorgfältigen Prüfen geeignet ist, um wertschätzend zu wirken bzw. eine bereits bestehende Wertschätzung zu vergrößern. Wählen Sie ein Thema aus, bei dem es konträre Meinungen und Ansichten gibt und Sie mal zu der einen, mal zu der Gegenmeinung tendieren, sich also nicht recht (oder grundsätzlich) entscheiden können oder wollen. Sammeln Sie gute Gründe und plausible Argumente für die eine Seite oder Ansicht (so, als wären Sie gewissermaßen deren Verteidiger oder Pressesprecher) und sammeln Sie dann gute Gründe und plausible Argumente für die andere, gegenteilige Seite oder Ansicht (so, als wären Sie gewissermaßen deren Verteidiger oder Pressesprecher). Gehen Sie zunächst in die eine, dann in die andere Position und identifizieren Sie sich jeweils stark damit, so, als ob Sie die Welt nun von dieser oder von jener Seite aus betrachteten oder durch diese oder jene Brille sähen. Wechseln Sie dann in eine dritte Position, von der Sie aus einiger Entfernung (Weitwinkel) und in gleichem Abstand zu den beiden konträren Sichtweisen erkennen können, dass Meinung und Gegenmeinung in etwa gleich stark, gleich attraktiv, gleich nachvollziehbar etc. erscheinen. Achten Sie darauf, ob und inwieweit sich (durch diese und aus dieser dritten Position heraus) eine dritte Wahrnehmung, Perspektive, Lösungsidee zu dem gewählten Thema bildet oder einstellt.
den alle Konturen scharf und er schaut seine Frau an, die alles andere als hübsch aussieht. Daraufhin sieht man, wie er die Brille freiwillig wieder absetzt und einträchtig Arm im Arm mit seiner Frau das Geschäft wieder verlässt. Die Moral von der Geschicht’: Es kann sich als durchaus beziehungserhaltend erweisen, mitunter nicht zu scharf hinzuschauen. In eine ähnliche Richtung (wenn auch anders) geht ein »Ausfall«, den Oliver Sacks in der kasuistischen Darstellung »Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte« schildert, in der ein Patient, als er sich von Sacks verabschieden will, nach dem Kopf seiner Frau greift und versucht, ihn sich aufzusetzen (Sacks, 1987, S. 23 ff.). Wobei der Titel dieser neurologischen Geschichte – er lautet im Original »The man who mistook his wife for a hat« – nicht ganz korrekt ins Deutsche übersetzt worden ist, so dass die implizite Pointe verloren ging. Mistook, die Vergangenheitsform von to mistake, bedeutet wörtlich übersetzt »falschnehmen« bzw. von einer falschen Voraussetzung ausgehen, etwas falsch, das heißt fehlerhaft wahrnehmen. Das ist etwas anderes, als es bloß zu verwechseln. So könnte der Titel besser lauten: Der Mann, der seine Frau für einen Hut hielt. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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Welche Rolle spielen Fragen oder das Fragen an sich in Ihrem beruflichen und persönlichen Leben? Einen wie großen Anteil (vermuten Sie) haben Fragen oder das Fragen an sich in Ihrer Alltagskommunikation? Und welche Art von Fragen sind es, die Sie anderen und sich selbst stellen? Erachten Sie das Fraglichmachen und Infragestellen für eine wichtige, hilfreiche und konstruktive Tätigkeit oder sehen Sie es eher als etwas Bedenkliches, Zersetzendes, unnötig Verunsicherndes oder Gefährliches an? Wie und wodurch könnte man Ihrer Meinung nach herausfinden, wann das Konstruktive des Fraglichmachens und Infragestellens ins Destruktive übergeht? Reflektieren Sie den Begriff Skepsis. Was beinhaltet dieser für Sie? Untersuchen Sie das Verhältnis, das für Sie zwischen der Skepsis, dem Zweifeln, dem Suchen und dem Fragen besteht. Wählen Sie Anlässe aus, die Ihnen geeignet erscheinen, Ihre Skepsis zu erproben. Was erscheint Ihnen nicht ganz glaubwürdig, was unklar und unsicher? Was macht Sie stutzig, nachdenklich, lädt Sie zu genauerer Betrachtung, eingehender Untersuchung oder besserer Überprüfung ein? Entwickeln Sie dabei ein skeptisches Bewusstsein für die Art und Weise Ihres Betrachtens, Untersuchens und Überprüfens. Versuchen Sie sich vor Augen zu führen, was Sie dabei möglicherweise zu stark betrachten oder gewichten und was eher weniger, was kaum, was gar nicht. Richten Sie sich – probeweise – auf die bislang weniger oder nicht berücksichtigten Untersuchungs- und Überprüfungsformen aus und finden Sie dadurch heraus, was sich dann an dem ändert, dem Sie fragend und zweifelnd gegenüberstehen. Beschäftigen Sie sich zur weiteren Klärung mit folgenden Fragen: –– Was hat zuletzt Skepsis bei mir ausgelöst? –– Bin ich heute schon etwas mit Skepsis begegnet? –– Was macht mich rasch skeptisch? –– Wodurch löst sich meine Skepsis auf oder kommt zum Erliegen – und was passiert dann? –– Was hat in meinem Leben die meiste/größte Skepsis ausgelöst? –– Was ist/war meine eindrücklichste Skepsiserfahrung? © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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–– Wie reagiere ich, wenn andere sagen: Was, das macht dich skeptisch? –– Was ist eigentlich Skepsis? Was tue oder unterlasse ich dabei? –– Würde sich meine Arbeit verbessern, wenn ich mich dazu entschlösse, mich mehr zur Skepsis zu entwickeln? –– Was würde sich verändern, wenn ich meinem Lebenspartner, meinen Kindern, meinen Arbeitskollegen, meinen Freunden und Bekannten skeptischer begegnete? –– Angenommen, ich würde mich dazu entschließen, mich mehr und bewusster zur Skepsis zu entwickeln (ohne es zunächst oder überhaupt anderen mitzuteilen). Woran könnte es meine berufliche und/ oder persönliche Umgebung bemerken? –– Was würde sich an meinem Alltag ändern, wenn ich – probeweise – eine skeptische Haltung einnähme? Welche Auswirkung hätte dies auf • mein Lebensgefühl, • meine Selbstwahrnehmung, • meine Sicherheitsbedürfnisse, • meine Gewissheiten, • mein Wohlbefinden, • meine Ziele? Versuchen Sie herauszufinden, was Sie innerlich bzw. in Ihren Selbstgesprächen tun, wenn Sie sich zur Skepsis ermutigen, skeptisch werden oder Skepsis zulassen. Mit welchen Menschen, Themen, Fragen kommen Sie nicht weiter? In welche Pattsituationen, Klemmen, Ambivalenzkonflikte geraten Sie immer wieder? Angenommen, Sie würden es – probeweise – unterlassen, (krampfhaft) eine gute Lösung oder zumindest eine angemessene Reaktionsmöglichkeit zu finden, sondern zunächst eine gewisse Zeit lang oder immer wieder dazu eine skeptische Haltung einnehmen. Was, vermuten Sie, würde, was könnte dann geschehen? Ich lade Sie dazu ein, gerade hier Skepsis zu entwickeln und dann zu vergleichen, was sich im Unterschied zu Ihren bisherigen Lösungsversuchen oder Verhaltensweisen zeigt. Legen Sie ein Notizbuch zum Thema Skepsis an. Notieren Sie, was Ihnen zu diesem Thema in den Sinn kommt (auch Zeichnungen und andere graphische Darstellungen sind möglich). Bringen Sie dabei immer wieder © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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Selbstverständlichkeiten, Wissenssicherheiten und eherne Glaubensgewissheiten ins Spiel bzw. in Beziehung zu dem, was Ihnen an (Ihrer) Skepsis auf- und einfällt. Wenn Sie Ihr(e): –– Prüfungs-Möglichkeiten verbessern, –– Prüfungs-Spektrum vergrößern, –– Prüfungs-Weisen genauer kennenlernen, –– Prüfungs-Verständnis überprüfen, –– Prüfungs-Gewissheiten verflüssigen/produktiv irritieren und dies mit der Entfaltung Ihrer persönlichen philosophischen Kompetenz der Skepsis erreichen möchten, dann erweist es sich als sehr nützlich, zumindest eine Zeitlang einen alltäglichen Umgang mit Ihrer Skepsis zu pflegen. Das bedeutet: Ihre Skepsis in sich anwesend zu machen und als konturierbaren und damit selbstständigen Teil Ihrer Gesamtpersönlichkeit zu gestalten. Finden Sie also heraus, welche Aspekte, Typen, Funktionen usw. Ihre philosophische Kompetenz der Skepsis für Sie einnehmen soll. Wäre/verkörperte die Skepsis für Sie ein: –– existentieller Berater oder Therapeut, –– persönlicher Coach, –– Spezialist für (Über-)Prüfungsfragen, –– Urteilsenthalter, –– Helfer zur Drei- oder Mehrwegorientierung, –– Fragengenerierer, –– Assistent für Klarheit und Illusionsbewusstheit, –– Agent der Metaperspektiven? Diese Liste beinhaltet nur Vorschläge, die natürlich erweitert, modifiziert oder kombiniert und natürlich alle, von der Beraterin bis zur Agentin, auch in weiblicher Form vergegenwärtigt werden können. Die Kontur und Anwesenheit dieser inneren Figur kann durch äußere Aspekte bzw. Repräsentanten verstärkt und vertieft werden. Gibt es bestimmte –– Tageszeiten, –– Personen, –– Gegenstände, –– Situationen, –– Orte und Umgebungen,
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die Ihre philosophische Kompetenz der Skepsis verkörpern oder an, zu, bei denen es Ihnen leichter fällt, angemessen oder gut übbar erscheint – Skepsis zu entwickeln? Um die persönliche Skepsis als wirkungsvolles Instrument für die eigenen Bedürfnisse und Ziele gut weiterzuentwickeln, empfiehlt es sich, vertrauteren Umgang mit ihr zu pflegen. Es hat sich hierfür als günstig und sehr wirksam erwiesen, dieser philosophischen Kompetenz sozusagen Personenstatus zu verleihen und sie – wie ein Autor und Regisseur des eigenen Lebens – mit konkreten und anschaulichen Charakterzügen zu versehen. Also für sich herauszufinden: –– Wie (genau) sieht diese Kompetenz aus? –– Spreche ich, wenn ich mich mit ihr austausche, eher mit einem weiblichen oder eher mit einem männlichen Wesen? –– Wie alt ist sie etwa? –– Was hat sie an? Trägt sie eine charakteristische Kleidung? –– Ist sie eher klein oder eher groß (gewachsen)? –– Gibt es typische Sätze, Mottos, Gesten? –– Wo in Ihrem Körper spüren Sie sie vor allem? Wo würden Sie sie ansiedeln oder positionieren? Mit Hilfe dieser Angaben zu einem »Steckbrief« kann die persönliche Skepsis zu einer Art »Ego-State« (Watkins u. Watkins, 2008), also zum Beispiel zu einem hilfreichen »Herrn« oder einer hilfreichen »Frau Skepsis« weiterentwickelt werden: Wie sieht Ihre Skepsis aus: weiblich, wie es die deutsche Grammatik nahelegt, also ähnlich wie die Weisheit? Und im (Selbst-)Gespräch mit dieser hilfreichen inneren Person können zudem folgende Fragen gestellt werden, die geeignet sind, deren spezifisches Potential noch klarer und auch systemischer vor Augen zu führen: –– Was habe ich – als Skepsis – zu bieten? –– Welche (Vor-)Erfahrungen gibt es mit mir? –– Was unterscheidet mich von Staunen, Humor und Mut? –– Welche Fragen, Bedürfnisse etc. habe ich an Staunen, Humor und Mut, um meine Kompetenz gut zur Entfaltung bringen zu können?
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Was heißt: »prüfen«? Das Wort »prüfen« für sich genommen weckt zunächst nicht selten Assoziationen und Erinnerungen aus dem Schul-, Hochschul-, wie überhaupt aus dem Ausbildungsbereich. Es lässt also an Orte und Gelegenheiten denken, wo es so etwas wie Prüflinge und Prüfer gibt und es darum geht, eine (wie auch immer geartete) Prüfung möglichst (gut) zu bestehen, sich prüfen zu lassen und damit dann auch (mehr oder weniger genau) überprüft zu werden; wo demzufolge auch spezifische Ängste und Unterlegenheits- bzw. Abhängigkeitsgefühle und andererseits Machtgebaren, Überlegenheitsgefühle und mitunter auch sadistische Impulse als Klimafaktoren mit zugegen sind. In der Schule gehe es weniger darum – so der ehemalige Lehrer und spätere Schriftsteller Peter Bichsel –, etwas zu lehren, als es vielmehr »prüfbar« zu machen (Bichsel, 1982, S. 32). Ob dies nur auf den Schulkontext zutrifft, bleibt die Frage … Das mittelhochdeutsche brüewen oder prüewen, auf welches das heutige »prüfen« zurückgeht, wurde aus dem lateinischen probare entlehnt, das durch Ableitungen, wie zum Beispiel das Approbiertwerden eines Arztes, (er-)proben, (aus-)probieren, über ein probates Wissen verfügen oder die Probe, in unserer Sprache anwesend ist. Sprach- und bedeutungsverwandt damit sind auch der Beweis, französisch preuve, sowie der Probierstein bzw. Prüfstein als Vorläuferbezeichnungen des heutigen Prüfkriteriums, das als heuristisches Hilfsmittel gebraucht wird, um etwas besser herausfinden, um es genauer überprüfen zu können. Die Bedeutungspalette von »prüfen« umfasst unterschiedliche Aspekte und Schattierungen, wie: etwas erwägen, erkennen, erweisen, beweisen, berechnen, schätzen oder überhaupt bemerken. Unabhängig davon, in welcher Hinsicht man prüfend tätig ist oder wird, setzt dies neben entwickelten Fähigkeiten auch einen gewissen Mut voraus. Jemand, der etwas sorgfältig überprüft, wird dadurch nicht unbedingt beliebter, sondern provoziert Abgrenzungen. Nicht jeder, der von einer bestimmten Theorie oder Methode überzeugt ist, wird sich leicht damit anfreunden, dass ein anderer deren angebliche Richtigkeit, Wirkungskraft oder Zuverlässigkeit nachprüft. Das genaue, gründliche Prüfen erzeugt so nicht allein im traditionellen Prüfungsbereich von Schule oder Hochschule gewisse Begleitempfindungen, die der Prüfende aushalten muss, soll der Entwicklung einer bestimmten Sache, Person oder Organisation gedient werden. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Was heißt: »prüfen«?
1963 veröffentlichte Karl Popper eine Sammlung philosophischer Texte zu unterschiedlichen Themen, die unabhängig voneinander »sich trotzdem zu einer ganzen – einer vielstimmigen These« verbinden (Popper, 2005, S. 560). Er gab dieser Sammlung den Titel »Conjectures and Refutations«, deutsch »Vermutungen und Widerlegungen«. In diesem Titel steckt in komprimierter Form Poppers philosophische Überzeugung, dass die Stärke einer (wissenschaftlichen) Behauptung gerade darin läge, sich selbst zum Gegenstand ihrer Überprüfung zu machen. Rund dreißig Jahre zuvor hatte er seinen Erstling, die wissenschaftstheoretisch Epoche machende »Logik der Forschung«, mit dem Satz eröffnet, dass die wissenschaftliche Tätigkeit nicht nur darin bestehe, Sätze und Systeme aufzustellen, sondern diese auch »systematisch zu überprüfen« (Popper, 2005, S. 3). Letzteres versteht sich durchaus nicht von selbst. Denn nicht allein viele Wissenschaftler sind von ihren Theorien und Erkenntnissen so angetan, dass es ihnen – trotz aller plakativ bekundeten Objektivität – nicht leicht fällt, diese selbst zu kritisieren, geschweige denn möglicherweise für unzureichend zu halten oder für nur sehr eingeschränkt gültig zu erachten.
Theorien, Methoden und ihre Ausnahmen Nehmen Sie (auch um ein wenig zu überprüfen, wie es Ihnen damit geht) eine Theorie, ein Verfahren, eine Methode, die Sie anspricht, die Sie gerne verwenden, mit der Sie bevorzugt arbeiten, die Sie mögen, vielleicht auch deswegen, weil sie besonders gut zu Ihrem Welt- und Selbstverständnis passt, weil sie Ihnen Ihre Umwelt und Innenwelt so schön und einleuchtend erklärt, wie möglicherweise zum Beispiel: –– die Psychoanalyse (orthodoxer oder weniger orthodoxer Form), –– die Analytische Psychologie Jungs, –– die Individualpsychologie Adlers, –– die leib- oder körperorientierten Verfahren nach Reich, Dürkheim, Loewen, Gendlin oder Keleman, –– die empathieorientierten Vorgehensweisen nach Rogers, –– die Systemtheorie und die verschiedenen Formen der systemischen Therapie und Beratung, –– die Gestalttherapie und die Hakomi-Methode, –– die Hypnotherapie nach Erickson und deren Weiterentwicklungen, wie zum Beispiel den hypnosystemischen Ansatz von G. Schmidt, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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die Systemaufstellungen (nach oder nicht nach Hellinger), das sogenannte NLP, die sogenannte Theorie U, die Ego-State-Therapy
oder einen anderen Ansatz, mit dem Sie als Therapeut, Berater, Coach oder Organisationsentwickler praktisch umgehen. Suchen Sie Gegenargumente, erinnern Sie Fälle oder Beispiele, wo die von Ihnen propagierte Methode (oder die Methodenverbindung) nicht passte, nicht angezeigt war, wo Sie Ihnen möglicherweise schädlich oder gar gefährlich erschien. Spüren Sie Ausnahmen auf, die den Regeln oder Grundannahmen der von Ihnen propagierten Verfahren zuwiderlaufen, diese in Frage stellen und eigentlich so nicht vorkommen dürften. Nehmen Sie dabei genau wahr, welche Empfindungen und Reaktionen sich während und nach diesen Entdeckungen bei Ihnen zeigen. Stellen Sie dann, was Ihnen als Arbeitswerkzeug lieb, teuer und erprobt ist, geistig vor sich hin, wie einen Gegenstand Ihrer Vorstellung, so dass Sie wechselweise näher herantreten, davon Abstand nehmen, darum herumgehen und dieses »Methodenwesen« von allen Seiten betrachten können, fast so, als stünde Ihnen jetzt die von Ihnen bevorzugte Methode oder Theorie wie eine vertraute Person gegenüber. Sie können auch, wenn dies für Sie einladender sein sollte, mit dem Vorstellungsbild der Beziehung zwischen Bildhauer und Modell arbeiten. Wichtig ist, dass sie den kritisch prüfenden Blickkontakt mit Ihren Überzeugungen suchen und eine Zeitlang beibehalten. Untersuchen Sie in der Folge mögliche Unterschiede Ihrer Haltung und Ihres Selbstverständnisses vor wie nach diesen Begegnungen. Bringen Sie sich dabei deutlich zu Bewusstsein, welche Mittel Sie verwenden, um etwas zu überprüfen.
Als unser zweites Kind im sogenannten Krabbelalter war und bereits eine starke Neugier auf die Welt entwickelt hatte, stibitzte er sich eine kleine Gesichtsbürste und begann, sie als Erkenntnisinstrument zu verwenden. Sich zügig auf Händen und Knien fortbewegend, dabei die Gesichtsbürste stets in einer Hand mit sich führend, hielt er vor einzelnen Dingen oder Gegenständen an und begann, sie mit der Bürste – teils vorsichtiger, teils fester – zu beklopfen. Mit gespannter Aufmerksamkeit (sein Gesicht zeigte die reine, die helle Erwartung) nahm er Unterschiede wahr, je nachdem, ob die Gesichtsbürste – von uns bald © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Was heißt: »prüfen«?
sein »Organon« genannt – auf Holz, Stein, Kunststoff, Metall, Glas, auf Gepolstertes oder Gefedertes, auf Hohlräume oder auf feste Körper traf. Die Welt war ihm etwas zu Beklopfendes; etwas, das durch dieses Medium genauer kennengelernt und eingeschätzt, dessen unterschiedliche Konsistenz und Kohärenz geprüft werden konnte; und dies in feinen Abstufungen, je nach Art und Stärke des Klopfens respektive Prüfens. In seinen methodologischen und wissenschaftstheoretischen Schriften hat Popper immer wieder versucht, die verschiedenen Grade von Prüfbarkeit genauer zu bestimmen. Er ist dabei von der – vielfach überprüften – Annahme ausgegangen, dass sich nichts endgültig beweisen (vgl. die etymologischen Anmerkungen zu Beginn dieses Kapitels) lasse, dafür aber stets weiter überprüft werden könne. Das fatale Bestreben, vom Besonderen, vom Einzelfall mehr oder weniger unmittelbar auf das Allgemeine, auf die Vielzahl zu schließen, lässt sich sowohl in den Sozial- wie in den Naturwissenschaften nachweisen. Dies findet sich auch jenseits der Fachdisziplinen, im sogenannten Alltagsleben. Eines wird zum sicheren Muster für vieles genommen. Es bezeichnet so etwas wie die Geburtsstunde von Vorurteilen aller Art und zugleich das Ende jeglicher Offenheit für andere Erfahrungen. In einer Weltsicht, wo beispielsweise Männer rational, Frauen emotional, Deutsche zuverlässig, Südländer schlampig, Juden geldgierig oder wenigstens allzu geschäftstüchtig sind, sind Ausnahmen nicht erwünscht. Ja, die Struktur solcher All-Sätze sieht sie gar nicht vor. Popper spricht in diesem Zusammenhang von dem sogenannten Induktionsproblem. Damit wird, kurz gesagt, die Handlungsweise beschrieben, Erkenntnisse, die man über eine Teilmenge gewonnen hat (was bereits ein Minimum an Empirie voraussetzt), nahezu umstandslos auf eine Gesamtmenge anzuwenden. Eine Therapeutin etwa überträgt eine Reihe von Beobachtungen, die sie zum Beispiel über Interaktionen in Familien gemacht hat, auch auf diejenigen Familien, die sie noch nicht näher kennengelernt hat; desgleichen verfährt ein Organisationsentwickler mit bestimmten Mustern, die ihm in Organisationen mehrfach aufgefallen sind. Man generiert also aus einer Reihe von ähnlichen Beobachtungen – generalisierend – eine oder mehrere fixe Regeln und starre Erwartungen, die dann auch auf noch nicht beobachtete Fälle angewandt werden. Solche Induktionsschlüsse hat es zum Beispiel zu Beginn der sogenannten Aufstellungsarbeit vielfach gegeben (vgl. Stölzel, 2010a, S. 13). Doch bei weitem nicht nur dort! Sie kommen leicht da zustande, wo man keine neuen © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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oder anderen Beobachtungen oder Erfahrungen machen möchte, sich fest in eine bestimmte Theorie eingemauert hat oder völlig mit einer bestimmten Perspektive verschmolzen ist; wo eine Überprüfung der eigenen Ansichten in der gebotenen Schärfe unterbleibt und/oder wo es kein oder nur ein sehr unterentwickeltes Bewusstsein für die fortlaufende Tätigkeit des Induzierens, das heißt Eingebens, Hineinbringens bestimmter (Vor-)Meinungen und (Vor-)Urteile in das eigene Welterleben und Weltbewerten gibt und damit auch kein deutliches Problembewusstsein für das Induktionsproblem. Dadurch bleibt die Chance ungenutzt, der Frage nachzugehen, inwieweit jeder Mensch einen Einzelfall darstellt und jede vermeintlich noch so bekannte Situation oder Konstellation Aspekte und Elemente enthält, für die noch keine vermeintlich sicheren Regeln oder Vorannahmen gefunden worden sind, die in das Methodengehäuse, mit dem man sich gewöhnt hat umzugehen, nicht hineinpassen. Die früheren Beobachtungen und Erfahrungen schränken die neuen, erst noch zu machenden ein, drücken ihnen gewissermaßen ihren Stempel des Vorauswissens auf. Das ist bis zu einem gewissen Grad unvermeidlich. Es wird dort bedenklich, wo diese Imprägnierung – die einige Ähnlichkeit mit dem Mechanismus einer sogenannten selbsterfüllenden Prophezeiung hat – wie automatisch abläuft und nicht kritisch überprüft wird. Gerade sogenannte erfahrene Menschen sind hiervon besonders bedroht. Sie verfügen über einen so großen und reichhaltigen Beobachtungsschatz, dass es Ihnen – wenn sie keine sich selbst überprüfende Haltung einnehmen – schwerfällt, neue, das heißt andere Erfahrungen zu machen. Sie stecken in ihrem Wissen nicht selten wie in einem Kokon, durch den etwas nicht schon Bekanntes kaum noch hindurchdringt; es sei denn, sie schenken diesem Kokon hin und wieder eine kritisch prüfende Aufmerksamkeit. Eine gute und wirksame Möglichkeit, prüfend tätig zu werden, besteht im Aufspüren von Ausnahmen. Mit der Aufforderung, Gegenargumente gerade für die bevorzugt angewandten Theorien und Methoden zu finden, hat Popper die erkenntnisträchtige Perspektive aufgezeigt, die ein prüfender Blick auf Ausnahmen eröffnen kann. Zwischen seinem falsifikatorischen87 Ansatz und dem Ernstnehmen und ausgiebigen 87 Bei dem es darum geht, das Falsche (lat. aus falsus und facere, machen, tun), das Unpassende, Unrichtige klar herauszustellen; den Punkt oder Bereich zu benennen, wo eine bestimmte Regel oder ein vorgegebenes Schema nicht zutrifft, wo sie sich als unhaltbar erweisen. Eine bestimmte Methode oder Theorie kann, Pop© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Was heißt: »prüfen«?
Betrachten von Ausnahmen, zum Beispiel innerhalb der systemisch-lösungsorientierten Vorgehensweisen, besteht eine Verwandtschaft. Beide enthalten das Potential, sich selbst (in Grenzen) entideologisieren zu können. Doch setzt die Bereitschaft, dieses Potential für sich wie für die eigene Arbeitsweise auszuschöpfen, ein geistig-seelisches Erwachsensein voraus, das – genau betrachtet – nicht so häufig anzutreffen ist, wie man vielleicht meinen sollte. Viele sich als aufgeklärt präsentierende Menschen suchen in Gestalt von sicheren Theorien und Methoden nicht selten Vater- oder Mutterfiguren, die für sie eine Art »Glaubens-Schnuller« bereithalten, durch den sie sich angesichts einer komplexen und widersprüchlichen Welt zu beruhigen hoffen. Ein Überprüfen würde da ja bedeuten, freiwillig an dem Ast zu sägen, auf dem dauerhaft Platz zu nehmen man sich entschieden hat. Am Beispiel von geschlossenen Weltbildern, wie dem Marxismus oder der Psychoanalyse (vgl. Grünbaum, 1987), hat Popper aufgezeigt, wie diese sich erfolgreich gegen Einwände und Gegenargumente immunisieren und damit auch den Erkenntniswert von Ausnahmen geringschätzen oder gar ignorieren. Verführerisch an solchen gegen Ausnahmen resistenten Weltbildern scheint die suggestive Quantität der voraussagbaren Erfahrungen zu sein.
Theorienetze Auf wie vielen Einzelbeobachtungen fußt das Fundament der festen Überzeugungen, die Sie als Therapeut, Berater, Coach oder Organisationsentwickler methodisch anwenden? Welche Erkenntnischance geben Sie da einer (störenden) Ausnahme? Stellt diese für Sie nur etwas dar, das – quantitativ betrachtet – die Regel(n) bestätigt, nach der / nach denen Sie vorgehen? In der »Logik der Forschung« erklärt Popper: »Die Theorie ist das Netz, das wir auswerfen, um die ›Welt‹ einzufangen – sie zu rationalisieren, zu erklären und zu beherrschen. Wir arbeiten daran, die Maschen des Netzes immer enger zu machen« (Popper, 2005, S. 36). Wie sind Ihre »Theorienetze« beschaffen? Wie eng sind dort die Maschen mittlerweile geworden? per zufolge, erst dann (wissenschaftlich) ernstgenommen werden, wenn sie sich zumindest eine Zeitlang gegen Falsifikationen behaupten kann und sich mit ihren Hypothesen über die Welt bis auf Weiteres bewährt. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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Wenn man sich mit den eigenen (Über-)Prüfungsgewohnheiten näher beschäftigt – zum Beispiel, indem man sie skeptisch von möglichst vielen Seiten betrachtet, ohne einer Perspektive den Vorzug zu geben –, dann begegnet man damit auch früher oder später den persönlichen Sicherheitsbedürfnissen; demjenigen, dem man traut oder auf das man vertraut. Das berührt dann auch die Grenze oder den Übergang zum Misstrauen. Die Frage, wodurch dieses geweckt wird und wodurch es wieder verschwindet. Bei alledem erweist sich das Vertrauen als eine ebenso wichtige, stellenweise sogar unverzichtbare, wie auch fragile und nicht selten leicht irritierbare Angelegenheit. Es setzt eine Bereitschaft voraus, die oft weniger in den Blick kommt. Man könnte sie das Vorvertrauen nennen. Dies steht in direkter Beziehung zu den persönlichen Werten und Überzeugungen; zu demjenigen, was zumindest weniger überprüft wird, mehr oder weniger festzustehen scheint und eine Art von persönlicher Gewissheit bildet. Wird das Vertrauen nun enttäuscht oder gar missbraucht, so ist diese gewissermaßen fundamentierende Schicht mitbetroffen. Das kann dann zu tiefergehenden und nachhaltigen Irritationen führen. Ein grundlegender Zweifel tritt in Erscheinung. Er nagt an den Fundamenten und lässt sich nicht so leicht vertreiben oder besänftigen. Er kann grundsätzlich werden. Er kann sich zum Beispiel in der Frage verlautbaren: Wem kann man überhaupt trauen und aus welchen Gründen? Selbst wenn Gründe gefunden werden, die ausreichend scheinen, um wieder Vertrauen zu fassen und Sicherheit zu bekommen, können sich neue Zweifel einstellen, die diese Gründe für unsicher, ja für besonders trügerisch erachten. In einem Gespräch, das ich mit Paul Watzlawick geführt habe, beschrieb er aus seiner kommunikatologischen und konstruktivistischen Sicht das interaktive Phänomen Vertrauen folgendermaßen: »Kann ich dir vertrauen? Stellen Sie sich mal vor, wer wird da jemals ›Nein‹ sagen? Denn wenn ich glaube, wirklich vertrauenswürdig zu sein, sage ich selbstverständlich ›Ja‹. Und wenn ich die Absicht habe, den Betreffenden zu hintergehen, sage ich selbstverständlich ›Ja‹. […] Ein geschickter Betrüger kann sehr wohl eine Situation schaffen, die definitiv und klar ist. Da gibt’s keine Sicherheit. Vertrauen ist und bleibt eine verwundbare Sache, und wer eben Angst davor hat, dass sein Vertrauen missbraucht wird, der wird Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, die dann die anderen als Beweis für die Hinterhältigkeit und Aggressivität des Ersten sehen« (aus einem unpublizierten Gespräch mit Paul Watzla© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Was heißt: »prüfen«?
wick, das im Oktober 1995 in München, am Rande des Zweiten Europäischen Kongresses für Hypnose und Psychotherapie nach Milton H. Erickson geführt wurde). Die philosophische Kompetenz der Skepsis ist in der Lage, die Handlung des (Über-)Prüfens zu versachlichen und auf eine bewusstseinsbildende Weise mit grundsätzlichen Aspekten zu erweitern. Das Prüfen als (epistemologische) Handlung erhält die Aufmerksamkeit, die es verdient. Das betrifft die Voraussetzungen, die Grenzen sowie den Vorgang des Prüfens selbst.
Fragen und Prüfen –– –– –– ––
Was tue ich, wenn ich etwas prüfe? Welches Vorwissen kommt in welcher Weise zum Einsatz? Auf was vertraue ich da und aus welchen Gründen? Ab wann und wodurch erscheint es angezeigt, diesem Vorwissen (das ja für das Ergebnis meiner Prüfung von Bedeutung ist) kritisch gegenüberzutreten? –– Auf welche Weise kann das notwendige Vertrauen in die eigenen Prüfungsformen mit der nicht weniger notwendigen Überprüfung eben dieser Prüfungsformen zum Ausgleich gebracht werden?
Das sind einige der Fragen und Forschungssonden, durch die eine tätige Skepsis dazu beitragen kann, den nicht allein für den professionellen Kontext so wichtigen Vorgang des Prüfens deutlicher und klarer zu machen. Dadurch kann außerdem erreicht werden, dass latente wie manifeste Beiklänge des Misstrauens, die nicht allein atmosphärisch störend oder belastend wirken, verstummen oder anders betrachtet werden können. Das damit einhergehende Gefühl des Überwachtwerdens, der Eindruck, zu Unrecht dauernd überprüft oder in allem nachgeprüft zu werden, kann stattdessen einer Praxis des genauen Hinschauens und von möglichst vielen Seiten Betrachtens Platz machen. Ich möchte diesen Aspekt des (Über-)Prüfen-Könnens anhand einer Fallgeschichte und einer Übung zu verdeutlichen versuchen. Eine Gruppe junger Dozenten und potentieller Anwärter auf die Position eines Fachhochschulprofessors ist damit beauftragt worden, die Konzeption zu einem Studiengang zum Thema »Soziales Coaching zur © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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Verbesserung von kommunikativen Prozessen in Organisationen« zu entwickeln. Die Motivation dafür war anfänglich groß. Die Beteiligten trugen Ideen aus verschiedenen Wissens- und Praxisfeldern zusammen. Einen großen Stellenwert gaben sie Ideen aus dem Bereich der Systemtheorie und der Autopoiesis. Nach der Vorstellung ihres Entwurfs vor der Hochschulleitung und einer Reihe ausgewählter, erfahrener Kollegen, zum Teil aus anderen Fachbereichen, trat eine subtile, aber nachhaltige Verstörung ein. Bei einem Nachtreffen der Arbeitsgruppe war der Eindruck ziemlich einhellig, ihre Konzeption sei nicht sonderlich gut angekommen; sie sei in hintergründiger (manche sagten auch »hinterhältiger«) Weise belächelt, jedenfalls nicht sehr ernstgenommen worden. Je länger sie sich darüber austauschten, desto unsicherer wurden sie, ob sie manche Reaktionen des Gremiums nicht überbewerten, manchem »Augenbrauenheben oder Schmunzeln« nicht zu viel und gar die falsche Bedeutung geben würden. Bei einem weiteren, kurz danach anberaumten Treffen war ein Teil der Arbeitsgruppe der Meinung, die Reaktion des Gremiums sei doch ziemlich zurückhaltend, ja beinahe schon desinteressiert gewesen, während andere die Ansicht vertraten, Begeisterung sei im professionellen Kontext, zumal unter Kollegen, kaum zu erwarten und die etwas unterkühlte Reaktion sei so zu interpretieren, dass man jetzt weiterarbeiten solle, um weitere Ergebnisse vorstellen zu können. Wieder andere fanden es verwunderlich bis befremdlich, dass diese so schwer einschätzbare Resonanz gerade bei dem Thema der »Verbesserung kommunikativer Prozesse in Organisationen« aufgetreten sei. Die Zweifel, wie die Reaktion letztlich zu bewerten sei, blieben bestehen, vergrößerten und verstärkten sich in der Folge noch weiter. Es wurde die Meinung laut, es zeige sich, dass man für die gestellte Aufgabe nicht recht qualifiziert sei, da man die Resonanz auf die eigene Arbeit nicht richtig einschätzen könne. Die Idee, bei einzelnen Mitgliedern des Gremiums oder gar der Hochschulleitung genauer nachzufragen, wurde aufgegeben, da man die Sorge hatte, dies könnte als Unsicherheit bezüglich der eigenen Konzeptionsideen ausgelegt werden. Die Weiterarbeit kam kaum voran. Die anfänglich große Motivation war »wie verpufft«. Verschiedene Zweifel lähmten das Vorankommen. Hinzu kamen Zweifel über diese Zweifel, genauer über deren Berechtigung. Manche waren nahe daran, die Arbeit an diesem Projekt aufzugeben. Schließlich wurde der Entschluss gefasst, sich externe Unterstützung © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Was heißt: »prüfen«?
und Klärungshilfe zu holen. Ein Mitglied der Arbeitsgruppe wurde damit beauftragt. Er wandte sich an mich, da er (wie auch zwei andere Mitglieder) »der Meinung ist, die Sache soll am besten von einer grundsätzlichen Perspektive aus betrachtet und behandelt werden«. Und da komme »am ehesten eine philosophische« in Betracht. Genaueres Nachfragen bestätigte meine Vermutung, dass »der Zweifel an uns selbst« in der Priorität der Klärungsarbeit »an erster Stelle steht«, insbesondere das Verhältnis zum Zweifel, der Zweifel über den Zweifel, seine (realistische) Berechtigung. Angesichts dieser Sachlage machte ich den Vorschlag, die philosophische Kompetenz der Skepsis als Klärungshilfe beizuziehen. Nach einer Erläuterung, wie meines Erachtens die Skepsis zu verstehen und sinnvoll zu nutzen sei (vgl. »Begriffsgeschichte«), gab ich ihm – da der Wunsch nach einer grundsätzlichen Betrachtung geäußert worden war – als ersten Klärungsschritt drei Fragen bzw. Anleitungen zur persönlichen Orientierungsbildung mit.
Orientierungsbildung 1. Was ist es, das Ihnen in Ihrem Leben sicher zu sein scheint, an das Sie glauben, von dem Sie überzeugt sind, das Sie bislang auch Einwänden und Infragestellungen gegenüber weiter vertreten können? Was davon macht sich in Ihrer Arbeit wie bemerkbar? Sammeln Sie Beispiele hierfür (falls vorhanden) und listen Sie diese nach Evidenzfolgen auf. 2. Was ist es, das Ihnen in Ihrem Leben unsicher zu sein scheint, an das Sie nicht (mehr) glauben können oder wollen, das Ihnen besonders fragwürdig, zweifelhaft und überprüfenswert erscheint, das Ihre Skepsis auf den Plan ruft, für das Sie nicht (mehr) eintreten würden? Was davon macht sich in Ihrer Arbeit wie bemerkbar? Sammeln Sie Beispiele hierfür (falls vorhanden) und listen Sie diese nach Evidenzfolgen auf. 3. Wo und wie nehmen Sie Zweifel oder skeptische Empfindungen körperlich wahr? In welchen Leibesregionen bemerken Sie diese? Geben Sie dem Zweifel (wenn das für Sie plausibel und stimmig ist) eine oder mehrere Stimmen. Hören Sie diesen zu, notieren Sie deren Aussprüche und finden Sie dabei heraus, ob es sich da jeweils um Aussprüche eines »alten« (also lange schon bestehenden) oder eines »neuen« (erst unlängst aufgetretenen) Zweifels handelt. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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Bei unserer nächsten Zusammenkunft wurde mir berichtet, dass die Fragen bzw. Anleitungen gut angekommen und intensiv bearbeitet worden seien, mit der Folge, dass man sich häufiger getroffen und auch (angeregt durch die Fragen und Anleitungen) persönlicher ausgetauscht habe. Das sei zum Teil recht aufschlussreich gewesen und habe der Akzeptanz und dem Vertrauen untereinander gedient. Zudem habe man gemeinsam einen guten Grund gefunden, eine nächste Vorstellungsrunde des Projekts vor dem Gremium zu verschieben und damit Zeit zu gewinnen, um die begonnene und »von manchen als ziemlich spannend empfundene Klärungsarbeit« fortsetzen zu können.
In der Folge kam es auch zu Einzelgesprächen mit anderen Teilnehmern der Arbeitsgruppe mit zum Teil anderen Ausrichtungen. Da sich das Themenspektrum auch für die Gruppe bald vergrößerte und die Aspekte Kommunikation und »Sozialcoaching« stärker hinzukamen, beschränke ich mich (auch aus Platzgründen) auf die Phase, in der die Kompetenz der philosophischen Skepsis wirksam gemacht werden konnte. Mir wurde von der Reaktion einer Teilnehmerin berichtet, die zwar mit den »Fragen und Anleitungen durchaus etwas anfangen kann«, der aber das Wort Zweifel »Bauchschmerzen bereitet«. Das sei für sie kein gutes Wort. Es mache sie auf eine Weise unsicher, die sie als unproduktiv empfinde. Sie wisse dann »gar nicht mehr, wem oder was sie überhaupt richtig vertrauen kann«; das gelte auch für sie selbst. Wir verabredeten, statt mit dem Wort Zweifel mit dem Begriff Skepsis zu arbeiten und dadurch den Fokus von (grundsätzlicher) Infragestellung auf umfassende und genaue Untersuchung (vgl. »Begriffsgeschichte«) zu verschieben. Ferner vereinbarten wir einen Teil der Skepsis als »Zweifelsprüfer« zu verwenden, das heißt eine Art Forschungsinstanz zu schaffen, die von einem Teilnehmer übernommen und/oder als innere Person imaginiert werden könnte. Aufgabe der Forschungsinstanz wäre es, den Übergang auszumitteln, wo und wodurch ein Zuwenig an Zweifel bzw. ein Zuviel an Zweifel entstünde. Bevor dies in der Gruppe (also auch am gemeinsamen Projekt) angewendet werde, empfahl ich, dass dies zunächst jeder Teilnehmer für sich selbst erproben solle (am besten mit Themen, die für sie persönlich von Bedeutung seien und in der Gruppe nicht veröffentlicht werden brauchten). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Was heißt: »prüfen«?
Die Vorschläge konnten von allen Teilnehmern aufgegriffen und angewendet werden, wenn auch mit zum Teil unterschiedlicher Intensität. Sie bewährten sich in der Gruppe insgesamt als nützliche und aufgreifenswerte Prüfungsinstrumente, gerade deshalb, »weil die Metaebene«, das skeptische Untersuchen des angemessenen Zweifelsmaßes, »eine andere Souveränität im Umgang mit der eigenen Unsicherheit vermittelt hat.« Die Gruppe insgesamt war erstaunt, wie sicher, »wie anders sicher«, sie die genauere Beschäftigung mit ihren Zweifeln (besonders auch mit den Zweifeln über ihre Zweifel) machte und wie sich eine bewusste und reflektierte Skepsis als Prüfinstrument verwenden ließ, um sich Klarheit darüber zu verschaffen, wann sich Zweifel als produktiv erweisen und wann er lähmend oder verstörend wirkte.
Ich möchte Sie einladen, die Skepsis als Prüfinstrument im Umgang mit Ihren Zweifeln genauer kennenzulernen. Anders gesagt, dieses Prüfungsinstrument zu überprüfen und sich neben Ihren skeptischen Fähigkeiten auch einen Zugang zu einer Metaskepsis zu erschließen. Wenn von allen hier vorgestellten philosophischen Kompetenzen gesagt werden kann, um sie gut und sinnvoll für sich und andere einsetzen zu können, ist es nötig, aus der jeweiligen Kompetenz heraus eine abstandund übersichtschaffende Perspektive zu entwickeln, so gilt dies für die philosophische Kompetenz der Skepsis in besonderem Maße. Da diese sonst leicht zu einer Doktrin werden kann, die einen – rechthaberischen – »Ismus« mehr erzeugt, den Skeptizismus nämlich.
Zweifel und Zweifel der zweiten Ordnung Wählen Sie ein Thema, bei dem Sie ins Zweifeln kommen, das immer wieder Zweifel bei Ihnen auslöst, die sich nicht so leicht beruhigen, nicht so ohne Weiteres durch (rationale) Erklärungen oder Begründungen narkotisieren lassen. Besonders gut wäre es, wenn Sie ein Thema fänden, das bei Ihnen nicht allein Zweifel, sondern auch Zweifel über diese Zweifel auslösen würde so dass gewissermaßen »Zweifel der zweiten Ordnung« erzeugt würden. Bringen Sie sich zu Bewusstsein, auf welche Weise Sie etwas untersuchen oder (über-)prüfen, wie Sie dabei vorgehen, welche Instrumente Sie dabei verwenden, welche Art von Fragen Sie stellen, von welchen Gesichtspunkten Sie ausgehen, welche Perspektiven Sie beziehen usw. Es ist durchaus von Vorteil, wenn Sie eine Prioritätsliste © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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erstellen und sich damit ein Spektrum vor Augen führen, welches Ihre Untersuchungs- und Prüfungsweisen – geordnet nach Bedeutung und Häufigkeit der Verwendung – aufzeigt. Nähern Sie sich dann dem Thema, als sei dies eine Person, die Sie bereits seit längerem kennen oder der Sie zumindest mehrfach begegnet sind und von der Sie jetzt eine möglichst genaue Personenbeschreibung anfertigen wollen. Beschränken Sie sich dabei auf das äußere Erscheinungsbild. Versuchen Sie, Antworten auf folgende Fragen zu finden: –– Wie sieht mein Zweifel aus? –– Was verkörpert er, was bringt er zum Ausdruck? –– Wie steht er da? Wie groß oder klein ist er? –– Wie ist er sonst noch beschaffen? –– Welche Seiten von ihm machen mich besonders aufgeregt, unsicher oder ratlos? –– Welche Impulse gehen von ihm aus? –– Was behauptet er, welche Reden führt er? –– Wie sieht er aus, wie mutet er mich an, wenn ich mich kleiner mache? –– Wie sieht er aus, wie mutet er mich an, wenn ich mich größer mache? –– Wie sieht er von der Seite, wie von hinten aus? –– Wie erscheint mir sein Profil? Bringen Sie dann die Prioritätsliste Ihrer Untersuchungs- und Prüfungsweisen und Ihren »Steckbrief« miteinander in Beziehung, so als wären Sie zum Beispiel der Chef einer Personalabteilung eines Unternehmens, der diese Informationen nutzt, um sich in ein gutes Verhältnis zu einem anstrengenden, aber auch wichtigen Mitarbeiter zu bringen und dessen Auftreten und Wirken für das Unternehmen möglichst nutzbringend zu gestalten. Das heißt, damit dieser sich nicht immer wieder wie ein Störenfried aufführt, der den ganzen Laden durcheinander bringt, sondern so beachtet wird, dass seine Qualitäten sinnvoll zur Geltung kommen können. –– Welche Entscheidungen treffen Sie im Umgang mit diesem Mitarbeiter? –– Welche ihrer Untersuchungs- und Prüfungsinstrumente kommen dabei zur Anwendung? –– Welchen Stellenwert geben Sie ihm? –– Welche Ihrer Untersuchungs- und Prüfungsinstrumente können Sie dabei überprüfen? © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Skepsis in der existentiellen Kommunikation
Skepsis in der existentiellen Kommunikation Im Umgang mit der Skepsis als philosophischer Kompetenz kann man nicht vorsichtig genug sein – führt Sie doch früher oder später zu erhöhter Selbsterkenntnis. Gerade für vermeintlich aufgeklärte und tolerante Menschen kann es hierbei zu unliebsamen Überraschungen kommen. Zu der Beobachtung nämlich, dass man viel dogmatischer agiert und reagiert, als es einem das Selbstbild – ein nicht skeptisch untersuchtes – schmeichelnd nahelegt. Oder dazu, dass man anders aus seinem Gewohnheitsschlaf aufgestört oder seiner Verhärtungen bewusst wird als durch das Staunen oder den Humor. Der platonische Sokrates hat sich und seine Art des Fragens in seiner Apologie mit einem stechenden Insekt verglichen, das die vor sich hin dösenden Rinder alias seine Mitbürger durch seinen philosophischen Stachel aus dem Schlummer unhinterfragter Überzeugungen und existentieller Anästhesien wecke. Man kann sich gerade mit der Skepsis sehr unbeliebt machen, auch wenn man sich dazu auffordern ließ, diese anzuwenden (vgl. »Begriffsgeschichte«). Man kann da die Erfahrung machen, dass es viele doch lieber nicht so genau wissen wollen, wie es zuerst den Anschein hatte. Ein Leben ohne (feste) Meinungen setzt eine Art von besonderer Orientierung voraus: die Orientierung an einer sicheren Unsicherheit. Und diese kann soziale Irritationen mit sich bringen, da viele doch andere Formen von Sicherheit anstreben als das fragile Fundament, das die Vermutung gewährt. Man muss als Skeptiker nicht einsam werden, doch ist man für Gruppen und Gemeinschaften, die sich in politischer oder religiöser Hinsicht an fraglosen Gewissheiten ausrichten, nicht recht verträglich. Das gilt auch für die (nicht zu geringe) Gruppe der Vernunftgläubigen; vielleicht gerade für diese. Ich möchte hier nicht von einer skeptischen Praxis abraten – im Gegenteil; aber darauf hinweisen, auf was man sich einlässt, wenn man es mit der Skepsis als philosophischer Kompetenz ernst meint. Möchte man diese mit Gewinn innerhalb der therapeutischen oder beraterischen Kommunikation verwenden, so ist man gut beraten und wirkt zudem für seine Patienten und Klienten überzeugender, wenn man bestimmte Fragen und Positionen (zumindest teilweise) für sich geklärt oder bearbeitet hat. Hierbei kann einem einstimmenderweise folgende Übung dienlich sein.
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Die persönlichen Gewissheitsbedürfnisse Legen Sie sich – am besten mehrfach und/oder zu verschiedenen Zeiten, Stimmungen, Konstellationen – folgende Fragen bzw. Reflexionssonden vor: –– Welche Gewissheitsbedürfnisse habe, welche minimalen Sicherheiten brauche ich? –– Welche meiner Überzeugungen ist am wenigsten verhandelbar? –– Welche Denkgewohnheiten würde ich nur sehr ungern aufgeben oder modifizieren? –– Durch welche skeptische Pforte kann der Zweifel das Gehäuse meiner Wissensfundamente betreten? –– Wo stehen meine ideologischen Mauern, auf was gründen sie und wie sind sie im Einzelnen beschaffen?
In seinem »Tagebuch einer Schnecke«, das er vornehmlich für seine Kinder geschrieben hat und das spürbar von den »Sudelbüchern« des »Spötters und Lachgrubenstellers«, dem »Selbstdenker« Lichtenberg, wie der »Zettelmühle Jean Pauls« (Grass, 1997, S. 181) inspiriert ist, imaginiert Günter Grass den Zweifel als eine beschreibbare Person und konterfeit ihn als skurrilen Kauz: »Stellt euch Zweifel als jemand vor, an dem alles schief war: die rechte Schulter hing, das rechte Ohr stand ab, gleichfalls rechts kniff sein Auge und hob den rechten Mundwinkel. In solch verzogenem und aller Symmetrie feindlichem Gesicht herrschte eine fleischige, von der Wurzel weg nach links ausscherende Nase. Mehrere Haarwirbel verhinderten einen Scheitel. Nur wenig, immer zum Rückzug bereites Kinn. Ein in sich verrutschtes Kerlchen, zum Zappeln und Kniewippen neigend, sonderlich und reich an schnarrenden Nebengeräuschen, schwach auf der Brust. Oder – Kinder – stellte euch Zweifel lieber nicht mickrig und zwinkernd vor […] Oder – Kinder – stellt euch Zweifel überhaupt nicht vor. Er bestand ja aus Widersprüchen, sah niemals eindeutig aus […]. Selbst mir, der ich seit Jahren mit ihm umgehe, will es nicht gelingen, sein Aussehen zu begrenzen, seine Nase gestupst, sein linkes Ohrläppchen angewachsen, seine Hände nervig nervös zu nennen. Stellt euch Zweifel beliebig vor. Sagt: Von streng asketischer Blässe. Sagt: Eckig verschlossen. Sagt: Bäurisch gesund. Sagt: Unauffällig. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Skepsis in der existentiellen Kommunikation
Nur soviel gilt: er humpelte nicht. Er trug keine Brille. Kein Kahlkopf. Kürzlich noch […] sah ich ihn und war sicher, daß Zweifels Skepsis grauäugig blickt« (Grass, 1997, S. 27 f.).
Angenommen, Sie würden ein Kurzporträt Ihres Zweifels unternehmen, ihn zu personifizieren versuchen: Wie sähe dieser bei Ihnen aus? Was wäre charakteristischerweise an ihm zu erkennen? Wie blickte dessen (= Ihre) Skepsis? Eine sprichwörtliche Figur des Skeptikers im Rahmen der biblischchristlichen Tradition ist der ungläubige Thomas; jener Jünger des nazarenischen Jesus, der dessen leibliche Auferstehung bezweifelte und sich weigerte zu glauben, wenn er sich nicht zuerst haptisch davon überzeugen könne. Laut des Johannesevangeliums forderte Jesus Thomas zu der sprichwörtlich gewordenen Überprüfungshandlung auf (seinen Leib und seine Wunden konkret zu berühren) und von der Möglichkeit handgreiflicher Gewissheit Gebrauch zu machen. Was Thomas jedoch unterlässt. »Warum er nicht tut, was er […] zuvor begehrt hat […] verrät das Evangelium nicht. […] Der Leser muss sich aufs Ausspinnen und Mutmaßen verlegen« (Wenzel, 2012; siehe auch Most, 2007). Eine solche schwankende Gläubigkeit war den späteren Dogmatikern und Kanonisten wohl stets befremdlich; sie konnte die Glaubensfesten irritieren und zur Nachahmung verleiten. Das ist vermutlich auch ein Grund, warum die Worte Jesu, die im Thomas-Evangelium enthalten sind (Schmidt, 1977), nicht kanonisiert wurden und dieses Evangelium zu den Apokryphen gehört.
Fragen zu Gläubigkeit und Gewissheit –– Welches Maß an handgreiflicher Gewissheit benötigen Sie, um etwas ganz sicher glauben zu können? –– Oder behagt Ihnen bereits der Begriff Gewissheit und die Vorstellung des ganz Sicheren nicht sonderlich? –– Wie andere politische oder religiöse Heilsversprechen erklärt auch das (biblische) Christentum diejenigen für selig, die – im Unterschied zum ungläubigen Thomas – nicht sehen bzw. berühren und doch glauben. Welches Maß an grundsätzlicher glaubender Zuversicht scheint Ihnen innerhalb Ihrer therapeutischen oder beraterischen Arbeit sinnvoll und förderlich, nicht zuletzt im Hinblick auf die Verantwortung, die Sie Ihren Patienten oder Klienten gegenüber empfinden? © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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–– Wie viel Gläubigkeit erscheint Ihnen unprofessionell und ethisch fragwürdig? –– Wo sehen Sie da für sich eine Grenze?
Die Existenz einer metaphysischen Instanz, wie sie durch ein bestimmtes Gottesbild entsteht, hat Menschen wohl seit der Zeit umgetrieben, seit das menschliche Bewusstsein eine solche Idee erstmals hervorbrachte. Die Frage nach der Existenz eines Gottes scheint ohne Glauben bzw. Unglauben schwer entscheidbar. Brechts »Herr Keuner« jedoch zeigt einen Weg auf, wie man mit dieser Frage umgehen kann, ohne sie zu umgehen; er fragt beinah systemisch, wenn er sich bei seinem Befrager nach den Auswirkungen einer bestimmten Antwort erkundigt: »Die Frage, ob es einen Gott gibt Einer fragte Herrn K., ob es einen Gott gäbe. Herr K. sagte: ›Ich rate dir, nachzudenken, ob dein Verhalten je nach der Antwort auf diese Frage sich ändern würde. Würde es sich nicht ändern, dann können wir die Frage fallenlassen. Würde es sich ändern, dann kann ich dir wenigstens noch soweit behilflich sein, daß ich dir sage, du hast dich schon entschieden: Du brauchst einen Gott‹« (Brecht, 1953, S. 104).
Von einem Gespräch, das Ludwig Tieck mit Arthur Schopenhauer geführt haben soll, wird berichtet, Schopenhauer habe ihn in dessen Verlauf gefragt: »Was, Sie brauchen einen Gott?« Zwei Jahre später trug er in eines seiner Manuskriptbücher eine Art von gereimtem Aphorismus ein, mit dem er auf ironische Weise gegensätzliche Positionen miteinander verknüpft: »Gebet eines Skeptikers Gott – wenn du bist – errette aus dem Grabe Meine Seele – wenn ich eine habe« (Schopenhauer, 1985, S. 190).
Welche Möglichkeiten sehen Sie – ob nun ironisch oder nicht – gegensätzliche Positionen aus Ihren beruflichen oder persönlichen Erfahrungen miteinander zu verknüpfen? Wie würde ein entsprechendes Gebet bei Ihnen möglicherweise aussehen? Eine Weiterentwicklung skeptischen Untersuchens, Befragens und Betrachtens bildet das systemische Therapie- und Beratungsverfahren © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Skepsis in der existentiellen Kommunikation
des sogenannten Zirkulären Fragens, das ursprünglich von der »Mailänder Gruppe« um Mara Selvini Palazzoli entwickelt (Selvini Palazzoli et al., 1981, S. 23–39) und später zu einem systemischen »Markenzeichen« weiterentwickelt worden ist (Simon u. Rech-Simon, 1998, S. 7 ff.). Die Nähe zum skeptischen Handeln wird vor allem dort erkennbar, wo es sich um das Sichtbarmachen (und -werden) unterschiedlicher Bedeutungsgebungen und Realitätskonstruktionen ein- und derselben Person oder Situation handelt und ein Bewusstsein dafür entsteht, wie viel der Einzelne von sich aus in etwas hineingibt, -liest, -hört, -deutet und wie sich die wechselseitigen Interaktionsprozesse verändern können, wenn er seine Sicht- bzw. Deutungs- und Beschreibungsweise ändert, er seine Rolle des Beobachterseins (vgl. Tomm, 1994) in ihrer existentiellen Tragweite zu erfassen beginnt. Eine besonders eindrückliche Verbildlichung skeptischer Perspektiven und Einsichten stellt der Film »Rashomon«88 von Akira Kurosawa dar, in dem Handlungs- und Metaebene – durch die Berichte, Fragen und Kommentare der Involvierten, der Beobachter wie eines Unbeteiligten, der die Perspektive des Filmzuschauers verkörpert – klar markiert sind. Es geht um einen Mordfall, einen Raub und eine (mögliche) Vergewaltigung. Im Laufe des Films werden nach und nach vier Varianten derselben Geschichte erzählt, die einander (zumindest in Teilen) widersprechen und sowohl die Sichtweisen der direkten Beteiligten wie auch der Beobachter des Geschehens wiedergeben. Überdies wird – durch den Mund eines Mediums – die Sichtweise des Ermordeten dargestellt, die wiederum teilweise von den anderen Darstellungen abweicht. Der Film bietet keine Auflösung, lässt die unterschiedlichen Sichtweisen auf dieselbe Handlung gleichberechtigt nebeneinander (be-)stehen, überlässt es damit dem Zuschauer, sich für eine zu entscheiden oder für keine oder sich eine eigene zu bilden (möglicherweise aus einer Mischung der gezeigten). Was jedoch deutlich wird, ist der 88 Kurosawa verbindet in dem Drehbuch zu diesem Film zwei Erzählungen des japanischen Autors Ryunosuke Akutagawa (Akutagawa, 1991), der früh durch Selbstmord aus dem Leben schied, zu einer intensiven und dynamischen Geschichte, die in ihren reduzierten, symbolisch verdichteten Bildräumen an Choreographien des No-Theaters denken lässt. Der Erwerb der DVD und das (mehrfache) Betrachten dieses Films kann gerade für systemisch-konstruktivistisch orientierte Therapeuten, Berater und Coaches sehr aufschlussreich sein und eine visuelle Unterstützung bei der persönlichen Weiterentwicklung der Skepsis als philosophischer Kompetenz bedeuten. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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Umstand, dass die direkt Beteiligten wie die Beobachter das Gewesene in ihrem Sinn, zu ihrem Vorteil und nach ihrem Verständnis, dadurch, dass sie es berichten, verändern89. »Das Entsetzliche ist« – sagt eine der Figuren, ein junger idealistischer Mönch, der sich in seiner Glaubensgewissheit irritiert sieht – »dass es keine Wahrheit zu geben scheint.« Während eine andere Figur, ein unbeteiligter vazierender Landstreicher (der die Perspektive des Filmzuschauers verkörpert), dem die verschiedenen Varianten des Geschehens berichtet werden, erklärt, einfach eine gute Geschichte hören zu wollen, und dabei anscheinend keine »wahre« erwartet und so die moralischen Kommentare des jungen Mönchs barsch zurückweist. Kurosawas Film wirkt wie eine Paraphrase auf die skeptischen Tropen (vgl. »Begriffsgeschichte« zur Skepsis) und zeigt, dass die Skepsis keine bloß (alt-)europäische, aus der antiken griechischen Philosophie kommende Angelegenheit ist, sondern eine Perspektive und Haltung darstellt, welche das Überprüfen des Wahrgenommenen in seiner existentiellen Bedeutung kultur- und epochenübergreifend anschaulich macht.
Die Skepsis als atmosphärischer Gast / Die skeptische Organisation / Orte der Skepsis in der Organisation An dieser Stelle möchte ich Ihnen nachdrücklich empfehlen, diese drei Übungen analog zu den ausführlich beschriebenen Übungen im Staunens-Kapitel durchzuführen (vgl. dazu »Das Staunen als atmosphärischer Gast«, »Die staunende Organisation« und »Orte des Staunens in der Organisation«). Sie brauchen dabei lediglich die philosophische Kompetenz des Staunens jeweils durch die Skepsis und die mit ihr verbundenen (Über-)Prüfungs-Möglichkeiten ersetzen.
89 Den Regieassistenten, die ihm vom Studio zugeteilt wurden und die Mühe hatten, das Offene der Filmhandlung zu verstehen, erklärte Kurosawa: »Die Menschen sind unfähig, aufrichtig zu sich selbst zu sein. Sie können nicht über sich sprechen, ohne das Bild zu schönen […] Dieser Film ist ein Rollbild, das im Entrollen das menschliche Ich enthüllt. Sie sagen, das Drehbuch sei Ihnen völlig unverständlich geblieben. Nun, das liegt daran, daß die Psyche des Menschen unauslotbar ist« (Kurosawa, 1986, S. 217 f.). – Wenn dies kein skeptischer Befund ist … © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Skepsis in der existentiellen Kommunikation
Ein Tag der Skepsis Regen Sie die Organisation, in der oder für die Sie arbeiten, dazu an, probeweise an einem ganz normalen Tag eine bestimmte philosophische Kompetenz – wie zum Beispiel die Skepsis – stärker mit einzubeziehen oder zu akzentuieren. Damit die Wirkung nicht durch Verkrampfung oder künstliches Verhalten geschmälert wird, empfiehlt es sich, den Experimentcharakter dieser Maßnahme zu betonen oder, falls nötig, wieder in Erinnerung zu rufen. Es geht darum, dass etwas – wie zum Beispiel die Skepsis – hinzugenommen, hineingegeben wird, so wie sich die Organisation als System, um sich zu erhalten, Energie zuführt oder sich durch andere (von außen kommende) Ideen, Konzepte etc. anregt, anreichert, überprüft und erweitert und damit die Selbstregulierung verbessert. Es ist auch möglich, dass durch diese Maßnahme, die bereits in der Organisation vorhandene und unterschiedlich intensiv praktizierte (vielleicht unter einem anderen Namen stehende) Kompetenz der Skepsis anders ins Gewahrsein kommt, gewürdigt wird und dadurch im Dienste der Organisation planvoller und effektiver eingesetzt werden kann. Damit ein solcher Tag in einer für die Organisation nützlichen Weise durchgeführt werden kann, hat es sich als sinnvoll/gut erwiesen, auf Folgendes zu achten: Wie viel und welche Kritik ist in der Organisation erwünscht und wird sogar belohnt? Was soll geprüft, überprüft, nachgeprüft werden? Was hingegen nicht? Nutzen Sie bei diesem heuristischen Modus die Kompetenz der Skepsis als Perspektivenprüfer, mit dessen Hilfe Sie herausfinden können, von welchen und wie vielen Seiten eine für die Organisation wichtige Frage oder ein Thema betrachtet werden sollte. –– Finden Sie heraus, welchen Stellenwert, welche Bedeutung, welches Ansehen die Kompetenz der Skepsis in der Organisation genießt. Welche Bereiche, Teile der Organisation neigen sozusagen von sich aus zu einer skeptischen Haltung? –– Welche Themen werden im Organisationsalltag zumeist ausgespart, nicht beachtet, kommen selten oder gar nicht in den Blick? –– Was erscheint Ihnen als der sicherste Grundsatz der Organisation? Welche Vorgehensweise, Devise etc. bedarf Ihrem Eindruck nach nicht der (Über-)Prüfung? Von was kann man verlässlich aus, auf was sicher zurückgehen? –– Lassen Sie sich immer mal wieder im Lauf des Tages von (Ihrer) Skepsis interviewen. Welche Fragen könnte sie Ihnen stellen? Wozu © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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würden Sie gerne befragt werden? Worüber könnten Sie am meisten, am besten berichten? –– Versuchen Sie mit Hilfe der Kompetenz der Skepsis zu ermitteln, welche Strukturen, Kommunikationsformen usw. innerhalb der Organisation geschaffen werden können, um den Wert des Fragens, fraglich Machens, in Frage Stellens so zu installieren, dass diese Tätigkeit in den verschiedenen Bereichen und Teilen der Organisation sinnvoll praktiziert werden kann und der allgemeinen Weiterentwicklung dient. Versuchen Sie dabei auch Schutzmechanismen zu ermitteln, die den destruktiven Gebrauch dieser Überprüfungsformen verhindern.
Sich von der Skepsis erholen Die Kontrahaltung der Gläubigkeit als Chronifizierungsvermeider nutzen: Einige Hinweise und Tipps Es könnte sein, dass Ihnen die vielfachen und vielfältigen Aufforderungen und Anleitungen, Ihre Fähigkeit zur Skepsis zu einer philosophischen Kompetenz weiterzuentwickeln, allmählich auf die Nerven gehen und sich in Ihnen der Wunsch regt, damit (zumindest eine Zeitlang) zu pausieren. Eine wirksame Möglichkeit, dies zu tun, besteht in einer konstanten Orientierung an der Gläubigkeit und (noch besser) an einem unerschütterlichen Glauben. Und das stellt sich konkret so dar: 1. Bleiben Sie den Ansichten und Werten Ihres Elternhauses und anderer früher Prägungen treu! Gehen Sie sicher davon aus, das für Sie Wichtige bereits zu wissen und dies nicht weiter überprüfen zu brauchen. 2. Lernen Sie, sich vor der (ungesunden) Tätigkeit des Zweifelns und Infragestellens zu ekeln. Das schützt Sie wirksam davor, verunsichert zu werden, und erspart Ihnen viel Zeit und Ärger. 3. Wickeln Sie sich in Ihren Glauben wie in eine warme und dichte Decke ein. Nutzen Sie diese gewissermaßen als Dämpfer und Schutzschild gegen die mitunter unangenehmen Spitzen und Kältewellen, die von einer genauen und umfassenden Betrachtung oder Untersuchung, von etwas Sicherem ausgehen könnten. 4. Gläubige Menschen sind so angenehm; sie überzeugen durch die Stärke und Unerschütterlichkeit Ihrer Überzeugung. Ihre Welt ist klar und geordnet. Alles findet seinen festen Platz darin; und das Störende, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Grenzen der Skepsis
Unsichere, Fragwürdige ist ausgeschieden und entfernt. Nehmen Sie sich solche Menschen zum Vorbild! 5. Lernen Sie, abweichende Meinungen grundsätzlich als falsch und dumm zu betrachten. Es kann nur eine Wahrheit geben – nämlich die Ihrige. 6. Wenn jemand versucht, bei Ihnen um Verständnis für seine eigenen Positionen zu werben – die von Ihrem eigenen Standpunkt abweichen –, so hören Sie ihm am besten gar nicht erst zu. Seien Sie höflich, aber bestimmt. Nicht jeder verfügt über ein so vernünftiges, stabiles Weltbild wie Sie. Es lohnt sich nicht, darüber zu argumentieren – Sie sind ohnehin im Recht.
Grenzen der Skepsis Dass es gerade einer gut entwickelten Skepsis gegenüber der Skepsis bedarf, soll diese – vielleicht irritationsträchtigste – der hier behandelten philosophischen Kompetenzen produktiv werden und bleiben und nicht in einen selbstüberzeugten Skeptizismus versteinern, ist hoffentlich im Laufe dieses Kapitels deutlich geworden. Eine ungebändigte Skepsis kann eines der wichtigsten Wachstumspotentiale blockieren, die uns zur Verfügung stehen. Ich meine die Erfahrungsoffenheit, die wir gerade auch scheinbar (allzu) bekannten und vermeintlich feststehenden Situationen unseres Lebens gegenüber einnehmen können. Wann und wie eine existentiell tätige Skepsis diese Erfahrungsoffenheit unterstützt und vergrößern hilft und wann und wodurch sie diese behindert oder gar verhindert, ist oft nicht leicht zu entscheiden und erfordert einen sorgfältigen und geschärften Blick (den wiederum eine intensive Beschäftigung mit der individuellen Kompetenz der Skepsis fördern kann). Um Sie zu einem entsprechenden Metabewusstsein – das heißt hier einer Metaskepsis – anzuregen bzw. ein bereits bestehendes zu schärfen, empfehle ich einen kleinen Selbsttest.
Grenzen der Skepsis Legen Sie sich die Frage vor, wo und wodurch für Sie eine weiterführende, blicköffnende, neue Perspektiven und Überprüfungs-Möglichkeiten ins Gewahrsein bringende Skepsis aufhört. Wann und weswegen sie Ihnen © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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nicht mehr angezeigt scheint. In welchen Situationen oder bei welchen Themen dies für Sie der Fall sein kann. Sie erhalten auf diese Weise auch eine deutliche Wahrnehmung für die Vorteile und den Nutzen, den eine Orientierung an der Gläubigkeit mit sich bringen kann. Denn, wo keine Unterschiede gemacht werden können, gibt es keine Information und ohne Information können wir nichts erkennen. »Information. Jener Unterschied, der einen Unterschied macht«, wie es im Glossar von Batesons »Geist und Natur. Eine notwendige Einheit« heißt (Bateson, 1987, S. 274). Gäbe es also nur Skepsis, dann gäbe es letztlich auch keine Skepsis mehr, vor allem keine, mit der Therapeuten, Berater, Coaches oder Organisationsentwickler arbeiten könnten.
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In der Mitte eines Quadrats: Philosophische Kompetenzen im Alltag
Ihr haltsamen vier, ihr Ecken der Gegend! Ernst Meister
Eine besonders wirksame Möglichkeit, Herausforderungen, Schwierigkeiten oder Problemen anders zu begegnen, eröffnet das Zusammenspiel der vier hier vorgestellten philosophischen Kernkompetenzen. Dies erweist sich auch dann als sinnvoll, wenn man zu manchen Kompetenzen ein intensiveres Verhältnis besitzt (oder entwickeln konnte) als zu anderen. Wichtig – und für ein gutes Zusammenwirken entscheidend – ist der gleiche Abstand oder das gleiche Verhältnis, in das man sich zu allen vier Kompetenzen bringt; dies gibt überdies manchem die Chance, sich mit weniger nahen Kompetenzen vertrauter zu machen. Genau genommen, hat man es mit acht Fähigkeiten zu tun. Denn ein zusätzlicher Gewinn, den eine genauere Beschäftigung mit den eigenen philosophischen Kompetenzen bietet, besteht (wie bereits mehrfach gesagt) darin, es mit deren Gegenteilen einmal anders zu tun zu bekommen. Das heißt, bei der hier vorgeschlagenen Positionierung sind auch die Gewohnheit, der Ernst, die Feigheit oder Angst und die Gläubigkeit mit zugegen, jedoch in ihrer bearbeiteten, geläuterten Form, in der sie die jeweilige Kompetenz ausgleichen, vor Selbstübertreibung schützen und so gewissermaßen entideologisieren. Es wäre nach meinem Verständnis auch ein idealistisch verengtes und lebensfernes Menschenbild, wenn der Einzelne nicht mehr seine sinnvollen Gewohnheiten, seine ernsthaften Ausrichtungen, die zu seiner Persönlichkeit mit hinzugehörenden Feigheiten und/oder Ängste sowie seinen Glauben und seine Gläubigkeitsbedürfnisse haben dürfte. Und so geht es folglich bei der individuellen Entwicklung der hier vorgestellten philosophischen Kompetenzen nicht darum, deren Gegenstrebungen »wegzumachen«, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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In der Mitte eines Quadrats: Philosophische Kompetenzen im Alltag
sondern vielmehr darum, diese zu bearbeiten und zu verwandeln; zum Beispiel in etwas, das die jeweilige Kompetenz verträglicher, menschlicher macht und der Tendenz zu einer Monokultur entgegenwirkt. Ich möchte dies anhand einer Übung zu verdeutlichen versuchen. Diese Übung kann in verschiedenen Varianten durchgeführt werden. Wie die Erfahrung zeigt, hat sie starke Auswirkungen auf die (inneren) Kommunikationsprozesse, in denen jemand mit sich selbst steht (und die auch stets eine mehr oder weniger bewusste, mehr oder weniger gelungene Form von Selbst-Supervision darstellt). Dadurch unterstützt diese Übung mit allen vier philosophischen Kompetenzen in perspektivenschaffender Weise die persönliche Selbstsorge – und die jeweilige Fremdsorge (vgl. das Selbstsorgekapitel in »Fragen – Lösen – Fragen. Philosophische Potentiale für Therapie, Beratung und Organisationsentwicklung«, Stölzel, 2013). Sie eignet sich also besonders für Menschen, die nicht allein mit verschiedenen inneren Personen umgehen (müssen), sondern oft spiegelbildlich dazu auch für andere (Untergebene, Mitarbeiter, Kooperationspartner) Verantwortung tragen, wiewohl sie auch für Nichtführungskräfte aufschlussreich sein kann, da diese ja sozusagen Führungsverantwortung für sich selbst, genauer, mit Novalis zu reden, zumindest für die »kleine Gesellschaft« übernehmen, aus der sie bestehen.
In der Mitte eines Quadrats Wählen Sie ein Thema, eine Frage, ein Anliegen oder ein Problem, das Sie zur Zeit beschäftigt, welches Sie lösen oder klären oder zumindest genauer betrachten möchten. Begeben Sie sich als jemand, der gerade mit diesem Thema, dieser Frage, diesem Anliegen, diesem Problem innerlich umgeht, in die Mitte eines Teppichs oder Raumes. Verweilen Sie dort ein wenig in dieser Position. Nehmen Sie wahr, was Sie jetzt fühlen, welche Regungen sich zeigen, welche Gedanken sich melden. Lassen Sie dann das Staunen, den Humor, den Mut, die Skepsis auftreten und geben Sie ihnen vier Plätze. In der Weise, dass jede philosophische Kompetenz sich in etwa dem gleichen Abstand zu Ihnen wie auch untereinander befindet und eine Ecke des Raumes – der Betrachtung, der Beratung, der Klärung – den Sie jetzt gemeinsam miteinander (sozusagen zu fünft als eine Art Quintessenz) bilden, ausfüllt. Wenden Sie sich jeder einzelnen Kompetenz so zu, wie Sie einen guten Bekannten ansehen würden, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
In der Mitte eines Quadrats: Philosophische Kompetenzen im Alltag
dessen Fähigkeiten Sie schätzen. Finden Sie heraus, ob es besser ist, wenn die einzelnen Vertreter der jeweiligen Kompetenzen lebende Personen, sie charakterisierende Gegenstände oder imaginierte Repräsentanten vertreten. Sie können hier (falls dies möglich ist) auch variieren und experimentieren. Wichtig ist, zu bemerken, dass mit dem Auftreten und Positionieren des Staunens, Humors, Mutes oder der Skepsis jetzt gewissermaßen vier Spezialisten anwesend sind, die – in reflektierter Form – vier lebensdienliche Handlungsoptionen, wie Wahrnehmen, (sich) Halten, Entscheiden und (Über-)Prüfen verkörpern. Wenden Sie sich zunächst der Kompetenz zu, von der Sie vermuten, diese könnte Ihnen zu dem, was Sie gerade umtreibt, am meisten sagen, Ihnen Wichtiges aufzeigen oder verdeutlichen. Achten Sie darauf, wie sich die anderen philosophischen Kompetenzen dazu verhalten, was von ihnen kommt. Stellen Sie Fragen und befragen Sie das Staunen, den Humor, den Mut, die Skepsis je nachdem, was diese verkörpern. Das heißt: entsprechend der Perspektiven, welche der Aspekt des Wahrnehmens, (sich) Haltens, Entscheidens oder (Über‑)Prüfens jeweils auf Ihr Thema, ihre Frage, ihr Anliegen oder ihr Problem hat, und finden Sie heraus, wie sich dieses/diese, aus der jeweiligen Perspektive betrachtet und befragt, jetzt für Sie darstellt, was sich verändert, was gleichbleibt, was neu oder anders hinzukommt oder erscheint. Graphisch könnte man dies so darstellen:
Staunen
eine Frage der Wahrnehmung Was nehme ich wahr?
Humor
eine Frage der Haltung Wie verhalte ich mich?
Ich im Gespräch mit mir Themen, Fragen, Anliegen, Probleme
Mut
eine Frage der Entscheidung Wie entscheide ich?
Skepsis
eine Frage der Prüfung Wie prüfe ich?
Abbildung 7: In der Mitte eines philosophischen Kompetenzquadrats © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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Sie können den Betrachtungs- und Befragungsprozess dadurch erweitern und differenzieren, dass Sie zu den gegenwärtigen philosophischen Kompetenzen noch deren Gegensätze hinzutreten lassen. So dass damit neben dem Staunen die Gewohnheit, neben dem Humor der Ernst, neben dem Mut die Feigheit oder Angst, neben der Skepsis die Gläubigkeit stünde und sich die Zahl der Perspektiven verdoppelte. Diese komplexe Befragung sollten Sie jedoch am besten mit der moderierenden Anwesenheit eines philosophisch geschulten Therapeuten, Beraters, Coachs oder Organisationsentwicklers durchführen.
Der Umgang mit den einzelnen philosophischen Kompetenzen hat, für sich genommen, in verschiedenen Kombinationen im kleineren wie größeren Zusammenspiel auf das Innenleben eine stärkende Wirkung, so als würden die Kraftfelder des persönlichen »Weltinnenraums« (Rilke) gleichsam austariert. Das bleibt nicht ohne eine ausgleichende Wirkung nach außen; manchmal bis tief in die jeweiligen Arbeits- und Lebensumgebungen hinein. Ein gutes und geübtes Zusammenspiel und Zusammenwirken dieser vier Kompetenzen vermittelt eine stabile Beweglichkeit, in der feste und flexible Tendenzen und Bedürfnisse zu einem übersummenhaften Ganzen zusammenfinden und dem Einzelnen die Möglichkeit geben, sich in seinen existentiellen Angelpunkten genauer wahrnehmen zu können. Er erhält zudem einen anderen Blick für das philosophische System in sich selbst, so wie es sich zum Beispiel in dem Zusammenspiel und Zusammenwirken dieser vier philosophischen Systemmitglieder zeigt. Die hier etwas genauer vorgestellten Kompetenzen könnten eine wichtige und viable Brücke zum Beispiel zu den verschiedenen Formen systemischen Arbeitens und Reflektierens schlagen, was den gegenseitigen Austausch zwischen Therapeuten, Beratern, Coaches, Organisationsentwicklern und ihren Patienten und Klienten befördern und sich für beide Seiten bereichernd auswirken könnte, vor allem für jene, die an der Erweiterung ihres Potentials interessiert und bereit sind, sich auf andere Perspektiven einzulassen.
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Chronologische Liste der Übungen
Reizwort Philosophie Das innere Lexikon (S. 18) Grundsätzliche Frageformen (S. 23) Die eigene Sprache untersuchen (S. 30) Die Verwendung von Komposita (S. 40) Kriterienkatalog zur Weisheit (S. 43) Erwartungen an die Wissenschaft (S. 55) An der Hand einer Überzeugung (S. 58) Das eigene Denken sehen (S. 65) Von sich selbst überrascht werden (S. 66) Philosophische versus ideologieträchtige Beschreibungsweisen (S. 71) Was kann ein Mensch? Genese der persönlichen Fähigkeiten (S. 77) Tagebuch der Fähigkeiten (S. 87) Fragen zur Treffsicherheit (S. 94) Das seelische Lebensalter ermitteln (S. 96) Staunen: Eine Frage der Wahrnehmung Grundfragen zur Wahrnehmung (S. 138) Der erste Blick (S. 141) Moments of being (S. 152) Das Staunen als atmosphärischer Gast (S. 154) Die staunende Organisation (S. 156) Orte des Staunens in der Organisation (S. 157) Ein Tag des Staunens (S. 159) Sich vom Staunen erholen (S. 160) Grenzen des Staunens (S. 162) Humor: Eine Frage der Haltung Den eigenen Halt erkunden (S. 188) © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
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Chronologische Liste der Übungen
Doppelte Humorperspektive (S. 194) An- und Abwesenheit des Humors (S. 198) Humor als atmosphärischer Gast (S. 203) Die humorbewusste Organisation (S. 203) Orte des Humors in der Organisation (S. 203) Ein Tag des Humors (S. 204) Sich vom Humor erholen (S. 205) Grenzen des Humors (S. 206)
Mut: Eine Frage der Entscheidung Frage nach dem sogenannten freien Willen (S. 230) Anatomie eines Entscheidungsprozesses (S. 233) Doppelte Mutperspektive (S. 238) Ermutigungs- versus Entmutigungserfahrungen (S. 240) Der Mut als atmosphärischer Gast (S. 244) Die mutige Organisation (S. 244) Orte des Mutes in der Organisation (S. 244) Ein Tag des Mutes (S. 244) Sich vom Mut erholen (S. 246) Grenzen des Mutes (S. 247) Skepsis: Eine Frage der Prüfung Theorien, Methoden und ihre Ausnahmen (S. 273) Theorienetze (S. 277) Fragen und Prüfen (S. 279) Orientierungsbildung (S. 281) Zweifel und Zweifel der zweiten Ordnung (S. 283) Die persönlichen Gewissheitsbedürfnisse (S. 286) Fragen zu Gläubigkeit und Gewissheit (S. 287) Die Skepsis als atmosphärischer Gast (S. 290) Die skeptische Organisation (S. 290) Orte der Skepsis in der Organisation (S. 290) Ein Tag der Skepsis (S. 291) Sich von der Skepsis erholen (S. 292) Grenzen der Skepsis (S. 293) In der Mitte eines Quadrats: Philosophische Kompetenzen im Alltag In der Mitte eines Quadrats (S. 296) © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403594 — ISBN E-Book: 9783647403595
Literatur
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Saner, Hans (1994). Einsamkeit und Kommunikation. Essays zur Geschichte des Denkens, Basel: Lenos. Scheler, Max (1960). Probleme einer Soziologie des Wissens. In: Die Wissensformen und die Gesellschaft, Gesammelte Werke, Band 8. Herausgegeben von Maria Scheler. Bern: Francke. Schelsky, Helmut (1963). Die skeptische Generation. Düsseldorf u. Köln: Eugen Diederichs. Schmid, Wilhelm (1999). Heiterkeit. Rehabilitierung eines philosophischen Begriffs. Die Zeit, Nr. 41 vom 7. Oktober 1999, S. 51. Schmid, Wilhelm (2000). Schönes Leben? Einführung in die Lebenskunst. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Schmid, Wilhelm (2003). Heiterkeit. Die Wiederentdeckung einer philosophischen Haltung, Psychologie Heute, August 2003, S. 46–48. Schmidbauer, Wolfgang (2003). Der Mensch als Bombe. Eine Psychologie des neuen Terrorismus. Reinbek: Rowohlt. Schmidt, Gunther (1999). Hypno-systemische Kompetenzentfaltung. In: Heribert Döring-Meijer (Hrsg.), Ressourcenorientierung – Lösungsorientierung (S. 70–129). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Schmidt, Gunther (2004). Liebesaffären zwischen Problem und Lösung. Hypnosystemisches Arbeiten in schwierigen Kontexten. Heidelberg: Carl Auer. Schmidt, Gunther (2005). Einführung in hypnosystemische Therapie und Beratung. Heidelberg: Carl Auer. Schmidt, Karl O. (1977). Das Thomas-Evangelium. München u. Engelberg/Schweiz: Drei Eichen. Schoenaker, Theo (1996). Mut tut gut. Bocholt: RDI. Schöffler, Herbert (1955). Kleine Geographie des deutschen Witzes. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Scholem, Gershom (1989). Zur Kabbala und ihrer Symbolik. Frankfurt a. M.: suhrkamp taschenbuch wissenschaft. Schopenhauer, Arthur (1982). Die Welt als Wille und Vorstellung, Band I, Arthur Schopenhauer, Sämtliche Werke. Textkritisch bearbeitet und herausgegeben von Wolfgang Freiherr von Löhneysen. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Schopenhauer, Arthur (1980). Die Welt als Wille und Vorstellung, Band II, Arthur Schopenhauer, Sämtliche Werke. Textkritisch bearbeitet und herausgegeben von Wolfgang Freiherr von Löhneysen. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Schopenhauer, Arthur (1985). Der handschriftliche Nachlaß, Band 3: Berliner Manuskripte (1818–1830). Herausgegeben von Arthur Hübscher. München: dtv klassik. Schopenhauer, Arthur (1992). Der Briefwechsel mit Goethe und andere Dokumente zur Farbenlehre. Herausgegeben von Ludger Lütkehaus. Zürich: Haffmans. Schrödinger, Erwin (1989). Mein Leben, meine Weltsicht. Zürich: Diogenes. Seel, Martin (2011). 111 Tugenden, 111 Laster. Eine philosophische Revue. Frankfurt a. M.: S. Fischer. Selig, Anette, Wieland, Rainer (2001). Die Welt der Encyclopédie, ediert von Anette Selig & Rainer Wieland. Aus dem Französischen von Holger Fock, Theodor Lücke, Eva Moldenhauer und Sabine Müller. Frankfurt a. M.: Die Andere Bibliothek bei Eichborn. Selvini Palazzoli, Mara, Boscolo, Luigi, Cecchin, Gianfranco, Prata, Guiliana (1981). Hyopthetisieren – Zirkularität – Neutralität: Drei Richtlinien für den Leiter einer Sitzung. Familiendynamik, 6/2, 23–39.
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