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German Pages [254] Year 2013
V
© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
Für Mone, die es auf ihre Weise begleitet
© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
Thomas Stölzel
Fragen – Lösen – Fragen Philosophische Potenziale für Therapie, Beratung und Organisationsentwicklung
Mit 4 Abbildungen und 4 Tabellen
Vandenhoeck & Ruprecht © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-40452-2 ISBN 978-3-647-40452-3 (E-Book) Umschlagabbildung: www.shutterstock.de © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: e Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
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Inhalt
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Zum Gebrauch des Buches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Empfehlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Ein Dialog zwischen »Verwandten« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Eine Frage der Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Angrenzen, Abgrenzen, Ausgrenzen – Sinn und Unsinn von Unterscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Erkenne dich selbst! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Der Kompetenzraum des Philosophierens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Lebensklugheit, Lebenskunst, »Lebenskönnerschaft«, Lebensberatung bzw. »Life-Coaching« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Metasystemisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Was wären wir ohne Fragen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 »Vizelösungen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Methodenporträts: Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 Erstes Methodenporträt: Das besondere »Arbeitsfeld« Mensch (Reflektierte Anthropologie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Das Rätsel der Sphinx . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Umgehen mit einer alten Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Arbeiten mit der persönlichen Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . 51 »Das Wir in mir« – Potenziale der philosophischen Intravision 55 Exkurs: Authentisch (sein) – wie geht das? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Die Wissenschaft vom Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
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Inhalt
Zweites Methodenporträt: Zwischen Lebens- und Meinungsgeschichten (Epistemologische Biographie) . . . . . . . . . . . 70 Der Mensch als ein animal fabulator . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Die »Wahrheiten« des autobiographischen Gedächtnisses . . . . . 78 Erfahrungen – Überzeugungen – (mögliche) Gewissheiten . . . . 88 Überzeugungen, die sich verfestigt haben: Glaubenssätze . . . . . 94 Drittes Methodenporträt: Mit sich sein, aber nicht allein (Selbstsorge und Fremdsorge) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Die Unterscheidung von innen und außen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 »Weltinnenraum« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Ich entsteht aus mir . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Bedenken, wie es um mich steht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 Selbstsorge – Begriff und Anwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Den anderen wahrnehmen (können) – Selbstsorge und Außenwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Viertes Methodenporträt: Selbstgespräch, Zwiegespräch, Metagespräch (Philosophische Dialogformen) . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Eine Grundkonstante des Lebens? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Weltzwischenräume: Grundsätzliches zum Dialog . . . . . . . . . . . . 156 Formen sokratischen Miteinanderredens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Eine lebendige Form des Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Fünftes Methodenporträt: Wissen, Nichtwissen, Lethologie (Kritische Epistemologie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Was wissen wir vom Wissen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Sicher, zu sicher, unsicher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Lethologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Experte für sich selbst werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Ausblicke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Koda: Fragen aus Antworten bilden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Chronologische Liste der Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
Danksagung
[…] man muß viel selbst beobachtet haben, um die Beobachtungen anderer so gebrauchen zu können als wenn es eigene wären, sonst liest man sie nur und sie gehen ins Gedächtnis ohne sich mit dem Blut zu vermischen. Georg Christoph Lichtenberg Es ist gut, ein Buch mit einer Danksagung zu beginnen. Es gibt dem Autor die Möglichkeit, Personen und Einflüssen seine Reverenz zu erweisen, die für die Entwicklung eigener Ideen sehr hilfreich waren und dadurch an ihrer jetzigen Gestalt ihren (mehr oder weniger großen) Anteil haben.1 Der Autor tritt dem Leser damit nicht nur in seiner Individualität, sondern – systemisch betrachtet – auch als »Geflechtwesen« entgegen, als jemand, der auf seine Weise auf Entwicklungen reagiert, Tendenzen aufgreift oder konterkariert, in bestimmten Bezügen und Zusammenhängen steht, der Anregen um- oder Traditionen fortsetzt. So möchte ich hier meinen persönlichen Dank aussprechen. Und der gilt allen Patienten, Klienten und Kooperationspartnern sowie den Teilnehmern von Fortbildungsseminaren, kasuistischen Runden und Vorträgen, die es mir über eine Reihe von Jahren möglich gemacht haben, meine Konzeptionen und Interventionen vorzustellen, anzuwenden und zu überprüfen. Namentlich möchte ich folgenden Personen danken: Matthias Ohler für die konstruktive und bereichernde gemeinsame Arbeit an verschiedenen Fortbildungsreihen und philosophischen Supervisionen in Deutschland und der Schweiz während mehrerer Jahre, für die Entwicklung der gemeinsam geleiteten Weiter1 Vgl. hierzu den Begriff Kryptomnesie (Stölzel, 1996, S. 116 f.) sowie das Spannungsverhältnis zwischen eigener, angeeigneter und fremder Meinung (auch in Analogie zum Spracherwerb, vgl. Stölzel 1998b, S. 133 ff.). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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Danksagung
bildungsreihe »Philosophisches Jahr« sowie die Anregungen, Hinweise und Ideen, die ich während dieser Zusammenarbeit von ihm erhalten habe und die mit geholfen haben, mein philosophisch-systemisches Profil zu schärfen; Peter Friedrich und Charlotte Friedli von dem Fachbereich Psychosoziales Management der Fachhochschule Nordwestschweiz für ihren tatkräftigen Einsatz bei der Etablierung des CASKurses »Angewandte Philosophie im beruflichen Kontext«, in dessen Rahmen einige der hier vorgestellten Ideen erprobt und verifiziert werden konnten; Fritz B. Simon, der die Anregung gab, philosophische Methoden durchaus breiter darzustellen; Michael Klas und Günther Zeltner für ihr Interesse an der (philosophischen) Selbstsorge, was mir die Möglichkeit gab, meine Konzeptionen hierzu zu verfeinern und zu verbessern; Günter Presting und Sandra Englisch vom Vandenhoeck & Ruprecht Verlag für ihr anhaltendes Interesse an dem Thema und ihre Bereitschaft in (rascher) Folge noch ein zweites Buch herauszubringen sowie für die gute und professionelle Zusammenarbeit; Silke Strupat für ihre sorgfältige Durchsicht auch dieses Manuskripts. Unter den Philosophischen Praktikern danke ich vor allem Gerd B. Achenbach und Anders Lindseth für konkrete Anregungen und Detlef Staude, Thomas Gutknecht und Michael Niehaus für die Möglichkeit, meine Ideen in Vorträgen und Seminaren zur Verfügung zu stellen und erproben zu können. Ich danke Gunthard Weber, der mir vor bald zwanzig Jahren die Tür zur systemischen Welt geöffnet und mich dadurch mit nachwirkenden Erfahrungen und aufschlussreichen Perspektiven in Verbindung gebracht hat. Ich danke Gabriele Lang (früher Eichler) für die mehrjährige, enge und produktive Zusammenarbeit, während meiner Ausbildung in systemischer Therapie und Beratung, die mir Gelegenheit gab, die Wirkungen systemischen Arbeitens unmittelbar kennenzulernen. Ich danke Gunther Schmidt, der mir durch seine hypnosystemische Vorgehensweise auch die Lösungswelt von Milton H. Erickson nahe gebracht hat. Ich danke Christiane Endler für die Möglichkeit, philosophisch inspirierte, lösungsdienliche Ideen im Rahmen einer großen Businessorganisation zu erproben. Ich danke Wulf Hildebrandt für die mehrjährige Kooperation im Feld der individuellen Lösungsfindung und Stressregulation. Ich danke Uli Frick vom Zentrum für Psychiatrie Emmendingen für seine Offenheit, systemische und philosophische Interventionen (in Gestalt von Weiterbildungen) in den © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
Danksagung
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psychiatrischen Kontext einbringen zu können. Die Bibliographie am Ende des Buches verzeichnet, welchen Dank ich vielen lebenden und toten Anregern schulde (ich habe darauf verzichtet, hier einen »Stammbaum« aller relevanten Einflüsse zu zeichnen, wie das Matthias Varga von Kibéd und Insa Sparrer, 2002, S. 221 ff. taten, wobei dies sicher aufschlussreich gewesen wäre). Zuletzt und zumeist (die Widmung deutet es wiederum an) danke ich meiner lieben Frau Simone Stölzel für ihre Anteilnahme, Dialogbereitschaft und Unterstützung, mit der sie den Entstehungsprozess auch dieses Buches freundlich-kritisch begleitet hat. Bedanken möchte ich mich auch bei unseren Kindern Maura, Nikolai, Valentin und Milan. Ohne ihr Verständnis und ihre Rücksichtnahme (auch den Launen des Verfassers gegenüber) wäre dieses Buch so nicht möglich gewesen. Thomas Stölzel
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Zum Gebrauch des Buches
Wahlspruch: »Ich stelle Ideen zur Verfügung und lade zu ihrer Überprüfung ein.« Das Buch, das Sie gerade in Händen halten, setzt den Band »Staunen, Humor, Mut und Skepsis. Philosophische Kompetenzen für Therapie, Beratung und Organisationsentwicklung« in verschiedener Hinsicht fort. Das heißt, es steht für sich und kann auch für sich gelesen und verwendet werden. Doch ist es durch zahlreiche Bezüge, thematische Varianten, inhaltliche Ergänzungen und Erweiterungen mit dem ersten verbunden und bildet dadurch eine Art von »zweieiigem Zwillingsgeschwister«. So wie auch die Ausrichtung auf Kompetenzen und Potenziale in eine verwandte Richtung weist. Eine weitere Gemeinsamkeit besteht im gleichen Bezugswort bzw. Attribut philosophische (und der Leser und Verwender dieses Buches wird es für sich besser nutzen können, wenn er vom ersten Buch dessen Anfangskapitel »Reizwort Philosophie« kennt bzw. sich zu Gemüte geführt hat). Dabei wird das Bezugswort bzw. Attribut philosophische hier anders verstanden und verwendet, als es (noch immer) viele Therapeuten, Berater, Coaches oder Organisationsentwickler verstehen und verwenden. Wie auch andere akademische Disziplinen hat auch die »Philosophie« eine legitime und sogar nützliche Forschungsaufgabe und besitzt gleich den anderen Universitätsfächern in erster Linie eine Theorieausrichtung. Sie jedoch ausschließlich darauf zu beziehen und zu beschränken, ließe ihr besonderes Potenzial weitgehend ungenutzt. Dieses anhand von einigen ausführlicher dargestellten Methoden nicht alleine professionellen Anwendern vorzustellen und zu erschließen, ist ein wesentliches Ziel des vorliegenden Buches. Es besteht aus drei Teilen. Den größten Raum nimmt (nicht allein quantitativ) eine Reihe von Methodenporträts ein. Hierin wird der Versuch unternommen, philosophische Perspektiven für die konkrete © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
Zum Gebrauch des Buches
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Arbeit an sich selbst, dem Team, der Organisation usw. anschaulich und zugänglich zu machen. Dieses Hauptstück wird von zwei kürzeren Texten gerahmt: einführenden Überlegungen zur Verbesserung eines interdisziplinären Methodendialogs und kurzen Ausblicken auf die gegenwärtige und die zukünftige Situation nebst einer Koda. Damit das Buch als reflektiertes und reflektierendes Anwendungsbuch wirken kann, habe ich mich dazu entschlossen, das Ausgangsmanuskript so weit zu kürzen, dass eine handliche Länge entsteht. Der Leser (wie im Vorgängerband verwende ich – ausschließlich – aus Gründen der sprachlichen Schlankheit das männliche Genus; Frauen sind hier selbstverständlich in gleicher Weise angesprochen)2 wird hier also (nur) eine Auswahl finden, doch hoffe ich genügend Material (für das eigene Nachdenken) zur Verfügung gestellt zu haben. Wie ich es in meinem Wahlspruch verdichtet habe, möchte ich nichts »lehren«; dieses Ansinnen wie der damit verbundene Gestus sind mir fremd und erscheinen mir geradezu unphilosophisch. Ideen zur Verfügung zu stellen und zu ihrer Überprüfung einzuladen, bedeutet: Ohne die Mitarbeit des Lesers geht es nicht, wobei dieser hier nicht missioniert, nicht überredet, nicht zu etwas gebracht werden soll, sondern selbstverantwortlich entscheidet, was, wie viel, wozu er die hier vorgestellten Ideen nutzen, welche er erproben, mit welchen er experimentieren möchte. Wie in dem Buch über die philosophischen Kompetenzen werden hier nicht nur Thesen aufgestellt oder Beschreibungen gegeben, sondern es wird auch zu (unterschiedlichen) Übungen eingeladen, um das hier Vorgestellte für sich und andere zu überprüfen. Dabei spreche ich Empfehlungen aus, knüpfe weitere Bezüge und beziehe ungewohnte Perspektiven. Ich nähere mich den einzelnen Themen mitunter über den Weg genauer Begriffsbeobachtungen, und das nicht allein, weil er in diesem Feld weniger begangen ist und gerade für professionelle Anwender aufschlussreich sein kann. Ich wünsche allen Lesern und Verwendern dieses Buches viele weiterführende Anstöße und Anregungen und hoffe mit meinen Ausführungen einen lebensdienlichen Zugang zum Philosophieren eröffnet zu haben, durchaus im Sinne von Ludwig Wittgenstein, der erklärt: »Die Arbeit an der Phi2 Wie Grawe, Donati und Bernauer ist es auch mir »nicht gelungen, das grammatische Geschlecht der Subjekte und Objekte unserer Sätze in eine ein-deutige Beziehung mit dem biologischen Geschlecht der Subjekte und Objekte zu bringen, die wir jeweils meinten« (1995, S. X). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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Zum Gebrauch des Buches
losophie ist […] eigentlich mehr eine Arbeit an einem selbst. An der eigenen Auffassung. Daran, wie man die Dinge sieht (und was man von ihnen verlangt)« (Wittgenstein, 1977, S. 38). Thomas Stölzel
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Empfehlung
Ich möchte Ihnen vorschlagen, bei allem, was Sie jetzt lesen werden, Ihr unmittelbares leibliches Empfinden mit einzubeziehen. In der Weise, dass Sie darauf achten, wo etwas in Ihnen auf-, wo etwas in Ihnen zugeht, wenn Sie die hier vorgestellten Gedanken, Ideen, Perspektiven, Methoden, Beispiele oder Übungen auf sich wirken lassen, sich damit auseinandersetzen oder damit experimentieren. Achten Sie bitte darauf, was es mit Ihnen macht, wenn etwas zu- oder etwas aufgeht, und ob Sie das als begrenzend, als beengend oder als erweiternd erleben. Zum Beispiel, indem Sie sich – leiblich – fragen: Was davon stärkt mich? Was davon schwächt mich? Wo geht Kraft weg? Wo kommt Kraft her?
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Ein Dialog zwischen »Verwandten«
Philosophie heißt […] von neuem lernen, die Welt zu sehen. Maurice Merleau-Ponty
Eine Frage der Kommunikation Das Beraten ist ein zentrales (und unverzichtbares) Element des menschlichen Lebens. Das reicht von profanen Entscheidungsfragen, in denen sich jemand mit sich oder anderen »berät« (was einzukaufen, was anzuziehen, was zu unternehmen sei) bis hin zu existenziellen Dilemmata, deren Klärungsarbeit sich aufwendiger gestaltet. Auch ist die Zunft der Berater, Begleiter, Therapeuten, Coaches usw. keine Erfindung des 20. Jahrhunderts gewesen, wenngleich sich das Berufsbild und Selbstverständnis in diesem Säkulum in besonderer Weise konturiert hat (vgl. Corsini, 1983; Grawe, Donati u. Bernauer, 1995).3 Beratung war, ist und wird wohl »immer« wichtig sein. Unabhängig davon, ob es sich um die verschiedenen Selbstgesprächs- (vgl. Viertes Methodenporträt), Selbstberatungs- und Selbstsupervisionsprozesse handelt oder um verschiedene Formen der Fremdberatung, Fremdsupervision oder des Beratenwerdens durch andere. Und sämtliche Beratungsprozesse finden mindestens zwischen zwei Personen, Instanzen, Teilnehmern, Aspekten statt, auch wenn sie sich in ein und derselben Person ereignen (Selbstgespräch). Beratung als eine Form des inner- wie des zwischenmenschlichen 3 Corsini (1983) hat zu Beginn der 1980er Jahre siebzig verschiedene Therapiemethoden porträtieren lassen. Grawe et al. (1995) zogen Jahre später für ihre statistischen Wirksamkeitsuntersuchungen noch eine Reihe weiterer heran (S. 735 ff.). Zwischenzeitlich dürfte die Zahl der Verfahren bei weit über hundert liegen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
Eine Frage der Kommunikation
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Austauschs stellt eine besondere Gestaltungsmöglichkeit der menschlichen Kommunikation dar. Wie auch Kommunikation das verbindende Element aller professionellen Beratungs-, Begleitungs-, Therapie- und Coachingverfahren bildet, seien diese nun ärztlich, psychiatrisch, psychotherapeutisch, (sozial-)pädagogisch, seelsorgerisch, mediatorisch oder strategisch etc. motiviert. Wie im Einzelnen auch immer vorgegangen, gearbeitet, gesprochen werden mag, welche Methoden zur Anwendung kommen, welche Veränderungen angestoßen, welche Ziele angestrebt werden, es geht in wesentlicher Weise auch um eine Verbesserung, Erweiterung, Veränderung der Kommunikation: –– mit und für sich selbst, –– mit dem eigenen Unbewussten, –– mit anderen Menschen (Lebenspartnern, Kindern, Kollegen, Herkunftssystem, Konfliktpartnern, Teams, Organisationen), –– mit bewegenden Fragen, –– mit anstehenden Herausforderungen usw. Man kann hier die Etymologie des Begriffs Kommunikation in doppelter Weise verstehen. Kommunikation leitet sich aus dem lateinischen communis her, was als Grundbedeutung für das Gemeinsame, Gemeinschaftliche steht. Allen Beratungsberufen ist – bei allen denkbaren Unterschieden im Selbstverständnis und in den Vorgehensweisen – die Kommunikation gemeinsam. Andererseits (und für diese Sicht möchte ich hier werben) dient sie gleichermaßen den Vertretern der verschiedenen Beratungsberufe wie denjenigen, die sich an sie wenden, wenn sie gemeinschaftlich die Arbeit mit und für Menschen im Austausch und in der Verständigung untereinander pflegen und die Kommunikation auch in diesem Sinne praktizieren. Über dieses grundsätzlich Verbindende sind Synergien besser auszumitteln und Prüfkriterien für einen konstruktiven Austausch leichter aufzuspüren. An dieser Stelle erhebt sich zudem die Frage: Von wie vielen Komponenten der Kommunikation kann man ausgehen? Unmittelbar erfahrbar sind: 1. die körpersprachliche, 2. die wortsprachliche, 3. die atmosphärische,4 4. die existenzielle (vgl. Jaspers in Stölzel, Th., 2012, S. 106 ff.), 4
Vgl. hier den Ansatz von Ohler und Schöll in Schweitzer und Schlippe (2012). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
16 Ein Dialog zwischen »Verwandten«
5. die energetische,5 6. die feinstoffliche/intuitive. Damit verbunden sind auch Metafragen, wie: Was beginnt in einer (professionellen) Kommunikation, was hört auf, zeigt sich, verändert sich, verschlechtert sich, verbessert sich, verlängert sich, vergrößert oder verkleinert sich? Strebt man einen konstruktiven, für alle Beteiligten bereichernden Austausch an (in unserem Fall zwischen Philosophischer Praxis, Therapie, Beratung und Organisationsentwicklung), dann empfiehlt es sich, die Frage der Kommunikation im Blick zu behalten, vor allem dann, wenn die Unterschiede überdeutlich zu werden scheinen.
Angrenzen, Abgrenzen, Ausgrenzen – Sinn und Unsinn von Unterscheidungen Wer viel einteilt, teilt wenig aus. Friedrich Georg Jünger Der Appell »Draw a distinction« des Logikers George Spencer-Brown hat ein nützliches Kriterium zur Genese von Informationen zu Bewusstsein gebracht. Er enthält »die grundlegende Operation […] von der sich all unsere Erfahrung6 ableitet: [die] Unterscheidung« (Simon, 1993, S. 55). Gregory Bateson hat diese Aufforderung Spencer-Browns zu dem informationstheoretischen Axiom verdichtet, demzufolge Information überhaupt erst dadurch entstehe, dass ein Unterschied gemacht, konstruiert, beobachtet werde, »der einen Unterschied macht« (Bateson, 1982, S. 274). Das bedeutet: Je mehr Unterscheidungen wir machen (die wenigstens einen Unterschied machen), desto mehr Unterscheidungen produzieren wir. Einer steigenden Menge an Unterscheidun5
Dort, wo die (nur wenig wortsprachlich orientierte) Vorgehensweise innerhalb von Systemaufstellungen wichtige Dynamiken aufzeigt und gute Lösungen ermöglicht, wird wesentlich diese Komponente der Kommunikation wirksam. 6 Dieser Primärdualismus sollte jedoch nicht unhinterfragt bleiben, da er sich sonst in erkenntnisverriegelnder Weise totalisiert und gegen Einsprüche immunisiert (vgl. Moldzio, 2004, S. 126 ff.). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
Angrenzen, Abgrenzen, Ausgrenzen
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gen entspricht der Zuwachs bzw. die Differenzierung an Information, die wir dadurch erhalten (können). Dieses »Mehr« kann unser Wahrnehmen und Erleben reicher und nuancierter machen; es begünstigt zudem das Erfassen von und Umgehen mit komplexen Strukturen oder Situationen – zumal wenn ein informationstheoretisches Bewusstsein dafür entwickelt wird, welche Unterscheidungen wir machen und welche Unterschiede bzw. Informationen wir dadurch überhaupt erst erzeugen. Die Möglichkeit des Unterscheidens sollte jedoch nicht ohne die systemische Komponente gesehen werden, nämlich die Beziehung, die zwischen einem Unterschiedsbilder und seinen Unterscheidungen durch die Tätigkeit des Unterscheidens entsteht und die man zu den Fragen zuspitzen könnte: Was machen (die getroffenen) Unterscheidungen mit dem Unterschiedsbilder – welche Rückkoppelungen sind hier beobachtbar? Inwieweit gilt der Satz: An seinen Unterscheidungen sollt ihr ihn erkennen? Aspekte, die uns wichtig (er-)scheinen; Akzente, die wir setzen; Perspektiven, die wir einnehmen usw. sind, informationstheoretisch betrachtet, Unterscheidungshandlungen, die uns die Möglichkeit geben, etwas neu, anders, umfassender, genauer, klarer, vollständiger wahrnehmen (und damit auch verstehen) zu können. Diese eigens oft nicht beachtete Handlungsweise sei mit folgender Übung veranschaulicht.
Wie vollständig ist »vollständig«? Wählen Sie eine Person, ein Thema, eine Frage oder ein Problem aus, das Sie gerade beschäftigt. Stellen Sie dieses mit Hilfe Ihrer Vorstellungskraft in die Mitte eines (leeren) Raumes, so dass Sie sich diesem sozusagen von »allen« Seiten nähern, es aus unterschiedlichen Positionen betrachten können. Achten Sie darauf, welche Haltungen und Reaktionen sich gewissermaßen sofort, »automatisch« einstellen, welche Sie einzunehmen gewohnt oder geneigt sind. Bringen Sie sich zu Bewusstsein, auf welchen Unterscheidungen diese wie »selbstverständlich« beruhen. Gehen Sie dann mit den Fragen um: Von wie vielen Seiten, Gesichtspunkten, Voraussetzungen usw. müsste ich diese Person, dieses Thema, diese Frage, dieses Problem betrachten, um ihm möglichst gerecht zu werden, um es möglichst gut erfassen zu können? Wann und wodurch ist meine »Vollständigkeitsgrenze« erreicht? Wie verändern sich Person, Thema, Frage oder Problem, wenn ich sie zum Beispiel durch eine phi© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
18 Ein Dialog zwischen »Verwandten« losophische, psychologische, biologische, medizinische, soziologische, theologische, linguistische »Brille« betrachte bzw. die Unterscheidungen vollziehe, auf denen diese Beobachter-Konzepte beruhen?
Unterscheidungen sind nicht nur möglich, sie sind auch unumgänglich, wenn wir etwas besser verstehen wollen. Auf diesen geistigen Handlungen basieren alle unsere Wahrnehmungen, Werte, Konzepte; sie bilden die Uroperationen unseres gesamten Welterlebens. Wenn ich hier diese »Selbstverständlichkeit« etwas genauer vor Augen zu führen versucht habe, so geschah das, um Ihren Blick im Voraus etwas zu schärfen für die Betrachtung von so unterschiedlich-ähnlichen Projekten, wie Philosophischer Praxis, (Psycho-)Therapie, Beratung, Coaching und Organisationsentwicklung, deren »Verwandtschaftsgrad« von Betrachter zu Betrachter bzw. Unterscheider zu Unterscheider durchaus wechselt. Psychologie war (auch in ihren praktischen) Aspekten lange Zeit selbstverständlicher Teil7 der Philosophie. Während der Antike gab es innerhalb der verschiedenen philosophischen Tätigkeitsfelder eine ausgeprägt existenziell-lebensdienliche Ausrichtung (vgl. Hadot, 1999; Foucault, 2004; Schmid, 1998; Horn, 1998), wurden Verfahren und Techniken – wie zum Beispiel die Selbstsorge (vgl. Drittes Methodenporträt) – entwickelt, die Vorformen späterer Therapie- und Beratungskonzeptionen darstellen. Seneca, der auch als Berater tätig war, schrieb seinem Freund Lucilius geradezu paradigmatisch: »Wissen willst du, was die Philosophie verspricht dem Menschengeschlecht? Beratung« (Seneca, 1995, S. 379). Das bedeutet: Innerhalb der Antike ist diese Unterschiedsbildung zwischen Philosophie und Psychologie (wie sie heute viele Menschen wie selbstverständlich vollziehen) noch gar nicht gemacht worden. Auch die Unterscheidung von Theorie und Praxis sowie die vornehmliche Theoriezuweisung an die Philosophie ist Folge mittelalterlicher Rollenzuweisungen (vgl. Flasch, 1986). Als Gerd B. Achenbach 1981 den Begriff »Philosophische Praxis« einführte und damit das (besondere) Potenzial philosophischer Lebensberatung akzentuierte, knüpfte er damit auch an antike Konzeptionen an und irritierte zugleich die selbstverständlich gewordene Unterscheidung (an der auch viele aka7
Vgl. Thomas Stölzel (2012, S. 14, 67 ff.) sowie außerdem Nicole D. Schmidt (1995) und Dagmar Fenner (2005). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
Angrenzen, Abgrenzen, Ausgrenzen
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demische Philosophen ihren Anteil hatten) zwischen Philosophie und Psychologie. Hinzu kommt der Umstand, dass es zu dieser Zeit die heute selbstverständlich gewordenen Beratungs- und vor allem Coachingkonzeptionen8 gar nicht gab. Zugespitzt gesagt, muss heute keiner eine standardisierte Störung, Krankheit oder Pathologie mehr als Voraussetzung anliefern, um in den Genuss und die perspektivischen Möglichkeiten professioneller Unterstützung kommen zu können. Therapie – so hatten es bereits in den 1960er Jahren die Gestalttherapeuten Miriam und Irving Polster betont – sei zu kostbar, um nur dem Kranken vorbehalten zu werden. An dieser Stelle begegnen uns zwei folgenreiche Unterscheidungen. Die Unterscheidung zwischen Therapie und Beratung9 bzw. Coaching und – noch grundlegender – die Unterscheidung zwischen gesund und krank. Alle Unterscheidungen (das sollte stets bewusst sein) sind menschengemacht bzw. von bestimmten Intentionen, Interessen und Motiven eines Beobachters abhängig. Die gegenwärtige (Psycho-)Therapie, insbesondere die humanistischen wie die systemisch-lösungsorientierten Verfahren, hat also eine andere Unterschiedsbildung vorgenommen und »behandelt« heutzutage nicht allein klinisch Auffällige oder als gestört, behindert oder beeinträchtigt Anerkannte, sondern auch »Gesunde«.10 Sie hat demnach ihr Tätigkeitsfeld von den verschiedenen Formen der Heilbehandlung hin zu verschiedenen Formen der Lebensberatung erweitert (Brandt, 2010, S. 164). Mit dieser Erweiterung begegnet sie nicht nur anderen Beratungsformen (NLP, Management- und Organi 8 Diese reichen mittlerweile in ganz therapieferne Bereiche hinein, vgl. zum Beispiel Elke Esders Buch »Coaching für Politiker« (2011), in dem sich die Autorin auch für die methodische Unterstützung »nachhaltigen Denkens« einsetzt, oder es werden literarische Ideen herangezogen, wie zum Beispiel von Peter W. Gester: »Zum Nutzen einiger Konzepte Ernst Jüngers im Coaching« (Gester, 2008, S. 233 ff.). 9 Diese ist jedoch nicht so leicht auszumitteln, da die Grenzen zwischen diesen Verfahren »so schwer zu ziehen« sind, »weil es sie in Wirklichkeit nicht gibt« (Grawe et al., 1995, S. 10). Daniel Brandt zufolge scheint die »Grenze von Psychotherapie und Philosophischer Praxis […] durch ihre jeweilige – gemeinsame – Mitte« zu verlaufen (Brandt, 2010, S. 154 f.). Das überrascht weniger, wenn man sich in Erinnerung bringt, dass Platon, Epikur, Seneca, Plutarch, Epiktet oder Marc Aurel den Philosophen als einen Arzt der Seele und der platonische Sokrates das Philosophieren als eine Praxis der Seelsorge verstanden haben. 10 Vgl. hierzu die »Differenz und Konvergenz« der beiden Interventionsformate Coaching und Psychotherapie, die Christoph Schmidt-Lellek dargestellt hat (SchmidtLellek u. Schreyögg, 2007, S. 137 ff.). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
20 Ein Dialog zwischen »Verwandten«
sationsentwicklung u. a.), sondern auch »einer wichtigen – diskutierten, umstrittenen, fruchtbaren – Gegenwartsgestalt der Philosophie« (Marquard, 1989, Sp. 1306): der Philosophischen Praxis. Und diese enthält und verkörpert, wenn sie konstruktiv11 genutzt wird, Beratungs- und Begleitungsformen, die nicht nur für die »Verwandten« alias die im selben Feld Tätigen, sondern auch für die Klienten, Kunden, Besucher nützlich sein können, wie zum Beispiel: –– die längste Tradition im Umgang mit menschlichen Themen, Fragen, Problemen aller Art; –– einen sehr großen Reichtum an verschiedenen Modellen, Techniken, Perspektiven, die auch sinnvoll in die therapeutisch-beraterischen Tätigkeitsfelder mit einbezogen werden können; –– durch die konstante Orientierung an Grundlagenfragen eine geradezu meta-supervisorische Qualität. Andererseits ist das Berufsprofil eines (durchschnittlichen) Philosophischen Praktikers noch nicht hinreichend konturiert; und so ist es noch mehr als bei eingeführteren und erprobteren Verfahren davon abhängig, wer mit welchen Vorerfahrungen und weiteren Qualifikationen als Philosophischer Praktiker tätig wird. Nach meiner Beobachtung hantieren nicht wenige Philosophische Praktiker lediglich mit einer akademischen Fachqualifikation und ohne solide (gesprächs-)therapeutische Weiterbildungen oder beraterische Praxis bzw. Menschenkenntnis, das heißt: Sie machen einen Unterschied zwischen Philosophie und Psychologie, allerdings von der anderen Seite her. Es gibt nach meiner Beobachtung jedoch auch Therapeuten, Berater, Coaches, Organisationsentwickler, die sehr methodenbefangen und ohne entwickeltes Metabewusstsein für ihre Tätigkeit unterwegs sind. Tabelle 1 zeigt, wie man die jeweils »reinen«, quasi monotheistischen Vertreter einander gegenüberstellen könnte.
11 Wie in allen anderen therapeutischen oder beraterischen Vereinigungen, Gesellschaften, Vereinen, Verbänden gibt es auch unter den Philosophischen Praktikern (IGPP, GPP usw.) viele Kontroversen, Abspaltungen und Vorverständnisse, was – gute, richtige – Philosophische Praxis sei, was nicht. Man sollte jedoch auch hier mit dem allzu menschlichen Faktor so umgehen, dass er die Arbeit mit und für andere nicht blockiert, da man hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt ist. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
Erkenne dich selbst!
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Tabelle 1: Gegenüberstellung entwicklungsfähiger Philosophischer Praktiker, Therapeuten, Berater, Coaches und Organisationsentwickler
Philosophische Praktiker
Therapeuten/Berater/ Organisationsentwickler
hantieren in der Regel unsupervidiert
erscheinen häufig methoden fixiert bis methodengläubig
agieren häufig ohne solide gesprächspsychologische Ausbildung und Erfahrung
zeigen mitunter ein schwach entwickeltes Sprach- und Metaphernbewusstsein
Doch nicht allein die pointierte Gegenüberstellung macht deutlich, dass ein konstruktiver Dialog zwischen Vertretern dieser »verwandten« Tätigkeitsfelder zum Wohle und zur Weiterentwicklung aller Beteiligten sehr nützlich wäre, zumal sich das Therapie- und Beratungsfeld zu Beginn des 21. Jahrhunderts anders darstellt als über weite Strecken des vorausgegangenen »Therapie- und Beratungs-Jahrhunderts« (vgl. Stölzel, Th., 2012, S. 78 f.). Es geht nicht zuletzt für die Patienten, Klienten, Kunden und Besucher darum, die unvermeidlichen Gemeinsamkeiten und notwendigen Unterschiede (vgl. Stölzel, 2008, S. 63 ff.) gemeinsam in den Blick zu nehmen und die Halbdurchlässigkeit von Grenzen aller Art zu gewärtigen sowie dem Phänomen der Übergängigkeit mehr Aufmerksamkeit zu schenken.
Erkenne dich selbst! Philosophieren ist keine Lehre, sondern eine Tätigkeit. Ludwig Wittgenstein In der kurzen, formelhaften Aufforderung gnôthi sautón (erkenne dich selbst),12 die an einer Säule des Apollontempels zu Delphi angebracht war und die auf Apollon selbst oder die sogenannten Sieben Weisen 12 Vgl. hierzu Gregory Batesons systemtheoretisch gestellte Frage »Wo ist meine Hand?« sowie seinen Vorschlag, Selbsterkenntnis als Selbstbeziehungsrelation (vgl. Drittes Methodenporträt) zu bestimmen (Bateson, 1987, S. 168 ff.). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
22 Ein Dialog zwischen »Verwandten«
zurückgeführt wird und bereits bei Heraklit aufscheint, finden sich philosophische und psychologische, wenn man will auch psychotherapeutische Aspekte zu einem Motiv verdichtet. Der Imperativ erkenne!, mit dem dieser durch die Jahrhunderte hallende, anthropologische Appell einsetzt, ist (nicht allein durch die Erkenntnistheorie) seit jeher ein wesentlicher Teil des Philosophierens; und die beiden Pronomina dich selbst stehen nicht nur bei der sogenannten Ich-Psychologie, sondern bei aller seelenkundlichen Beschäftigung im Mittelpunkt. Diese antike Sentenz scheint aufzuzeigen: Will man eine vertiefte, nuancierte Aufklärung und ein möglichst genaues Verständnis für die eigene Existenz gewinnen, ist das eine (Philosophie) ohne das andere (Psychologie) schwerlich zu erreichen. Da sich in der gegenwärtigen Wissenssituation diese epistemischen Disziplinen zum Teil antagonistisch gegeneinander ausdifferenziert haben, erhebt sich die Frage, ob hier auf unterschiedlichen Wegen und Weisen Ähnliches gewollt und betrieben wird und welche Auswirkungen dies für diejenigen hat, die sich an diese Disziplinen wenden. Wenn auch beide »dem« Menschen als situativem Wesen (vgl. Zweites Methodenporträt) Aufklärung und Unterstützung anbieten, um sich selbst besser und genauer zu verstehen und den Belastungen und Herausforderungen des Lebens souveräner und reflektierter begegnen zu können, so vermögen philosophische Vorgehensweisen das umfassender und voraussetzungsbewusster als therapeutisch-beraterische, die zumeist einem bestimmten anthropologischen Modell (vgl. Erstes Methodenporträt) folgen. Während skeptisch-philosophische Positionen eher von Metamodellen ausgehen. Andererseits verfügen therapeutisch-beraterische Verfahren über ein erprobteres Handlungswissen. Es geht hier jedoch nicht um ein besser oder schlechter, sondern um ein anderes Vorgehen und Selbstverständnis. Nach meiner Beobachtung stehen Philosophische Praxis und Therapie, Beratung, Coaching oder Organisationsentwicklung in einem produktiv-gestaltbaren Verhältnis13 zueinander. Das heißt, Gemeinsamkeiten und Unterschiede sind hier so verteilt, dass alle Beteiligten gut voneinander lernen, einander ergänzen, beleben, erweitern, supervidieren und damit einander 13 Man denke hier nur an Jaspers, Stierlin, Watzlawick oder Gendlin, die nicht allein qua Studium oder Ausbildung das Philosophische und das Psychologische in Personalunion in sich verbunden haben und gerade auf dieser Grundlage ihre wichtigen und innovativen Ideen entwickelten. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
Der Kompetenzraum des Philosophierens
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verbessern können. Eine philosophisch geläuterte Therapie, Beratung, Coaching oder Organisationsentwicklung etwa kann nicht nur ein reflektiertes methodologisches Bewusstsein und damit ganz andere Handlungsmöglichkeiten erlangen. Eine durch therapeutisch-beraterisches Gesprächsführungswissen oder Coaching- und Organisationsentwicklungsformate angereicherte Philosophische Praxis kann ihr Analysepotenzial und ihre Metaperspektiven konkreter einsetzen. So betrachtet, besitzt der alte anthropologische Appell auch eine interdisziplinäre Dimension. Das zeigt sich zum Beispiel in den Fragen: Als was erkennen sich diese Vorgehensweisen und wie geben sie sich selbst und anderen zu erkennen?
Der Kompetenzraum des Philosophierens Was heißt: Sich im Denken orientieren? Immanuel Kant Diese Frage Kants führt in das Zentrum praktischen Philosophierens oder Philosophischer Praxis14 – wobei Denken15 nicht allein als rational-kognitive Fähigkeit verstanden wird. Es geht um die Gesamtheit der menschlichen Existenz, die den Körper bzw. Leib als besonderes phi14 Ich kann das einschlägige Schrifttum, das sich in den letzten Jahren zu einer gewissen Breite ausgewachsen hat, hier nicht in adäquater Weise berücksichtigen. Ausführliche Literaturhinweise zu relevanten Veröffentlichungen zwischen 1982 und 2006 finden sich bei Stölzel (2009a, S. 87 f.). Aus den neueren Veröffentlichungen möchte ich auf die umfangreiche Dokumentation »Zur Einführung in die Philosophische Praxis« (Achenbach, 2010) hinweisen, des Weiteren auf »Management by Sokrates« (Niehaus u. Wisniewski, 2009), das auf die Bedürfnisse der Wirtschaft eingeht; den kasuistisch ausgerichteten »Termin bei Kant« (Mussenbrock, 2010), in dem Fallbeispiele aus der philosophischen Lebensberatung mit Theoriemodellen verbunden werden; die lebenspraktisch ausgerichtete Frage »Macht Denken glücklich?«, der Ina Schmidt auch mit Blick auf die Systemtheorie nachgeht (Schmidt, I., 2010), sowie dem Handbuch »Methoden Philosophischer Praxis«, in dem der Herausgeber Detlef Staude eine Reihe von anwendungsrelevanten Perspektiven und Vorgehensweisen versammelt hat (Staude, 2010). 15 In seinem emphatischen Aufsatz »Was heißt Denken?« hat Heidegger in dem ihm eigenen Gestus die Tätigkeit des Denkens zu bestimmen versucht (Heidegger, 1954, S. 123 ff.). In ihm findet sich auch die für viele anstößige Behauptung: »Die Wissenschaft denkt nicht« (S. 127). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
24 Ein Dialog zwischen »Verwandten«
losophisches (Resonanz-)Organ mit einbezieht und gerade von »hier« wesentliche Impulse und Auskünfte erwartet. Philosophieren bedeutet demnach eine Stärkung der Fähigkeit, sich selbst orientieren zu können, wozu die nachfolgenden Methodenporträts eine Reihe von Vorschlägen und Anleitungen vorstellen, die nicht nur für professionelle Anwender von Belang oder Bedeutung sein können. Das berührt die Frage nach dem – genuin menschlichen – Potenzial und der individuellen Weisheitsfähigkeit (vgl. Stölzel, Th., 2012, S. 41 ff.). Das eröffnet dem Einzelnen (wie auch Teams oder Organisationen) zudem persönlich ausgestaltbare Zugänge zu den Ungewissheiten und Unwissbarkeiten (vgl. Fünftes Methodenporträt), also zu jenen Bereichen des Lebens, in denen die vermeintlich sicheren Antworten, welche uns der (ständige) Erkenntnisfortschritt zu geben scheint, nicht überzeugen. Das betrifft auch Momente und Herausforderungen, in denen wir uns dazu angehalten sehen, unser Leben – wie aus einem »Weitwinkel« heraus – zu betrachten und uns beispielsweise zu fragen: –– Was bedeutet es für mich, ein gutes Leben zu führen? –– Wen oder was brauche ich dazu? –– Was weiß ich von meinen »wirklichen« Bedürfnissen? –– Worauf gründe ich? –– Wie sind die geistigen Grundlagen meines Lebens zustande gekommen? Das Besondere der Philosophie (auch als akademisches Fach)16 besteht darin, nicht über die Grundfragen hinauszukommen,17 die viele andere Disziplinen glauben längst überwunden zu haben. Das heißt, am »Boden«, bei den Fundamenten der Dinge zu bleiben; an jenem Ort, an dem »voraussetzungsüberprüfende Fragen« (Karl Popper) gestellt werden können. Wie nützlich und weiterführend sich dies in scheinbar philosophiefernen Bereichen darstellen kann, hat zum Beispiel der Personal- und Organisationsentwickler Cyrus Achouri aufgezeigt (Achouri, 2002). 16 Das mehr oder weniger (wie in anderen Fächern auch) von dem akademischen Lehrer abhängt. Der Kantianer Norbert Hinske hat auf die Unterscheidung zwischen »Philosophie lernen« und »Philosophieren lernen« hingewiesen (Hinske, 1995). 17 Odo Marquard spricht da von »einer zweieinhalbtausendjährigen Tradition der Nichteinigung ihrer Grundsatzpositionen« (Marquard, 1986, S. 113). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
Lebensklugheit, Lebenskunst, »Lebenskönnerschaft«
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Dabei sollte in diesen konkreten Anwendungsfeldern, die manche überraschen, die an der ausschließlichen Zuordnung des Philosophierens zur Theorie festhalten, die Geistbetonung nicht unterschlagen werden. Nur: Es geht hier darum, das geistige Potenzial unmittelbar lebensdienlichen Zwecken zuzuführen. Manche Philosophen können dabei durchaus »Nous-Knacker«18 bleiben und ihre betrachtsame Lebensführung, ihren bios theoretikós (Aristoteles) in perspektivenerweiternder Weise einbringen.
Lebensklugheit, Lebenskunst, »Lebenskönnerschaft«, Lebensberatung bzw. »Life-Coaching« Leben willst du: kannst du es denn? Seneca Der Begriff »Leben« ist einer der weiträumigsten, der im allgemeinen Sprachspiel verwendet wird; was wird nicht alles damit bezeichnet oder in Verbindung gebracht. Zugleich erscheint er in besonderer Weise auf jede Existenz direkt und individuell bezogen, in der Art, in der jemand von seinem Leben spricht. Auf diesen Doppelcharakter können philosophische Ansätze gut reagieren, da sie einerseits den größten »Weitwinkel« anbieten und andererseits in einer persönlichen Lebensphilosophie19 ihren unmittelbaren Ausdruck finden. Um sich bei einer so weiträumigen Angelegenheit wie dem (eigenen) Leben nicht zu verlaufen oder gar zu verrennen, ist Klugheit (vgl. Groth, 2008) geboten. Sie kann sich als ein wichtiger Orientierungsgeber, geradezu als existenzieller Kompass erweisen. 18 Diese humorvolle Charakterisierung, die mit der Homophonie »Nußknacker« spielt, deutet daraufhin, dass »die Welt den Philosophen manche Nuß zu knacken gibt« (Marquard, 1986, S. 6). Marquards Wortspiel erschließt sich, wenn man die Bedeutung des griechischen Wortes »nous« (sprich nus), was »Geist« bedeutet, berücksichtigt. Vgl. hierzu auch den (lesbaren) Aufsatz Hegels »Wer denkt abstrakt?« (Hegel, 1970). 19 Die sich natürlich ganz unterschiedlich darstellen kann. In unserer von Selbstdarstellungsinszenierungen geprägten Zeit treten Interviewformate wie »Was ist Ihre Philosophie?«, in denen auch theorieunverdächtige Menschen nach ihrer »eigenen Weltanschauung« befragt werden, verstärkt in Erscheinung. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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In seinem Dialog »Charmides« bestimmt Platon die Klugheit (griech. phrónesis) gewissermaßen als Metaperspektive, als eine Erkenntnis der Erkenntnis, die zwar schwer zu definieren sei, ohne die man aber nicht gut vorankommen könne (Platon, 2004b). Aristoteles bringt sie in Verbindung mit der Wohlberatenheit (griech. euboulía), dem Verstehen und der ausgewogenen Urteilsbildung (Aristoteles, 1985).
Was heißt »klug« für mich? Welches Verhältnis haben Sie zu und welche Vorstellung von der Eigenschaft »klug«? Welches Verhältnis zu Ihrer eigenen Klugheit? Erinnern Sie sich an Erfahrungen, bei denen Sie von jemandem sagten, er habe sich »klug« verhalten? Aufgrund welcher Kriterien oder Beobachtungen sind Sie zu dieser Einschätzung gelangt? Was hat jemand (oder Sie selbst) da getan oder unterlassen? Und beinhaltet dieses Verhalten ein Wissen oder Können, das Ihnen auch bei anderen Gelegenheiten dienlich sein könnte – oder hängt hier alles von der jeweiligen Situation ab?
Als eine Form der praktizierten Lebensklugheit wurde in der griechischen Antike (aus der ja viele Konzepte der heutigen therapeutischberaterischen Kommunikation stammen) die téchnê perì tòn bíon, zu Deutsch die Lebenskunst verstanden. Der Begriff und die damit verbundene Praxis wurden in der (akademischen) Philosophie lange Zeit unterschätzt oder unterschlagen. In der Alltagskommunikation wurde der Begriff eher abschätzig oder ironisch – »Sie sind ja ein Lebenskünstler?!« – gebraucht. Eine neuere Wiedergeburt erlebte er durch Hans Krämer und sein »Plädoyer für eine Philosophie der Lebenskunst« (Krämer, 1988). Krämer war auch der akademische Lehrer von Wilhelm Schmid, der zwischenzeitlich der wohl populärste20 Vertreter dieser Form des praktischen Philosophierens sein dürfte und sich in seinen Konzeptionen 20 Schmid hat zu diesem Themenfeld in den vergangenen zwanzig Jahren mehr als zehn Bücher unterschiedlichen Formats herausgebracht. Seine sehr gut verkäuflichen Texte haben mittlerweile auch die akademische Kritik (Kersting u. Langbehn, 2007) herausgefordert, die ihrem freien Kollegen seinen großen Erfolg nicht verzeihen kann und von der Sorge angestachelt wird, hier könnten hehre Ideen profaniert werden und mehr als nur eine entwickelte Verstandestätigkeit gefragt sein. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
Lebensklugheit, Lebenskunst, »Lebenskönnerschaft«
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eng an Foucaults »Ästhetik der Existenz« anlehnt. Schmid geht es nicht um ein »leichtes, unbekümmertes Wohlfühlglück« (Schmid, 2005, S. 7). Er möchte die Philosophie und die Lebenskunst wieder zusammenführen (Schmid, 1998) und zu einer lebensdienlichen Haltung, zu einem reflektierten Verhaltensrepertoire für das 21. Jahrhundert weiterentwickeln – also alte anthropologische Konzepte auf die »Höhe« unserer Zeit bringen bzw. daran bewähren. Eine philosophische Lebenskunst wäre, so verstanden, eine persönliche Lebensführungskunst. Schmid plädiert hierbei für eine Ausbildung des Gespürs, das die relevanten Spuren aufnimmt.21 Sein existenzieller Imperativ lautet: »Gestalte dein Leben so, daß es bejahenswert wird« (S. 23). Dieser Modus der Zustimmung kann zu der für manche Kritiker anstößigen Ausrichtung führen, »sich ein schönes Leben zu machen.« Das aber bedeutet, durch eine konstante Arbeit an sich, zu einem »erfüllten Leben beizutragen« (S. 24), das sich nicht mehr an übernommenen Normen, sondern an persönlich getroffenen (und damit auch selbst zu verantwortenden) Optionen orientiert. In Abgrenzung, stellenweise auch in Ergänzung zu dieser Lebenskunst hat Gerd B. Achenbach die »Lebenskönnerschaft« eingeführt (Achenbach, 2001), einen etwas sperrigen Begriff, dessen impliziten Anspruch sein Schöpfer selbstironisch auch gegen sich wendet: »Bin ich denn ein Lebenskönner?« (S. 11). Achenbach versucht seinen Begriff zu schärfen und zu verdeutlichen, indem er ihn in einem Aspektekatalog dem Lebenskünstler (der hier nicht abwertend verstanden wird) gegenüberstellt. Er kommt dabei zu Nuancierungen, wie: »Der Lebenskünstler gibt auf die Frage des Lebens die Antwort, während der Lebenskönner die Frage sucht, auf die das Leben die Antwort wäre« (S. 88). Dabei kann man den bei solchen Typisierungen verwendeten Singular durchaus pluralisieren, also von Fragen und Antworten sprechen. Wie Schmid grenzt sich auch Achenbach vom Boom der Lebensratgeber-Literatur ab, die ihren Lesern und Ratbefolgern leichtgängige Auskünfte zu Themen wie »How to Win Friends and Influence People«; »Wie mache ich meine erste Million« oder »Regeln erfolgreicher Menschenführung« verspricht. Ist es hierbei nicht besser, fragt Achenbach, »dass sie nicht können, was sie gern könnten?« (S. 142). 21 Er unterscheidet dabei das Spüren vom Erspüren und vom Aufspüren als zu entwickelnde Fähigkeiten (Schmid, 2005, S. 21). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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Lebensplan, Lebensform, Lebensorganisation, Lebensvollzug, Lebensführung: All diese einschlägigen Begriffe, in denen sich individuelle Lebenswünsche ausgestalten, können durch eine (reflektierte und praxisnahe) Lebensberatung verbessert werden, die den Einzelnen dabei unterstützt, für sich eine persönliche Antwort auf die Frage »Was wäre ein selbstbestimmtes Leben?«22 zu finden oder mit denen in einen klärenden Dialog zu treten, denen »keine Lebensrechnung mehr glatt aufgeht« (Achenbach, 2010, S. 49). Ferdinand Buer und Christoph Schmidt-Lellek haben den modernistischen Begriff »Life-Coaching«23 eingeführt und gemeinsam mit Kollegen anhand verschiedener Anwendungsformate einen differenzierten Zugang zu weiträumigen Perspektiven eröffnet (Buer u. Schmidt-Lellek, 2008, 2011). Sie wollen damit »die ins Coaching eingebrachten Arbeitsthemen als Lebensthemen behandeln« (Buer u. Schmidt-Lellek, 2008, S. 25) und dadurch »Bedingungen« schaffen, mit deren Hilfe »ein gelingendes Leben sinnvoll reflektiert werden« kann (Buer u. Schmidt-Lellek, 2011, S. 17). Sie ziehen hierfür »philosophische und literarische Wissensquellen« heran, die »zu einer Auseinandersetzung mit eigenen Existenzfragen einladen. […] Dazu müssen die (zum Teil sehr alten) Wissensquellen […] in einem hermeneutischen Übersetzungsprozess für heutige Fragehorizonte verstehbar und anwendbar gemacht werden« (S. 16, vgl. hierzu auch Schmidt-Lellek u. Schreyögg, 2007, S. 47 ff.). Dieses Ansinnen bringt die »Life-Coaches« bei ihrem Versuch, den »ganzen Menschen« in den Blick zu bekommen und seinem individuellen »Lebensstil« gerecht zu werden, in so große Nähe zu Philosophischen Praktikern, dass sie von diesen nahezu ununterscheidbar24 werden. Sie grenzen oder heben sich dadurch aber auch von den Coaches ab, deren Vorgehensweisen häufig allzu pragmatisch, unterkomplex oder funktionalistisch anmuten. 22 Diese Frage versucht Peter Bieri genauer zu erkunden und berührt in dem Versuch, »Autor und Subjekt meines Lebens zu werden« (Bieri, 2011, S. 9), Aspekte philosophischer Selbstsorge (vgl. Drittes Methodenporträt). 23 Zu einem grammatischen Bestimmungsversuch des (klanglich nicht unbedingt beeindruckenden) Worts »Coaching« vgl. Ohler (2011) und zu einem grundsätzlichen Bestimmungsversuch vgl. Radatz (2012). 24 Das gilt für solche, die über solide Therapie- und oder Coachingkenntnisse bzw. Erfahrungen verfügen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
Metasystemisches
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Das »Handwerk des Lebens« (Cesare Pavese) persönlich zu erlernen, kann eine zugleich lustvolle wie herausforderungsreiche Arbeit25 sein. Einfach ist sie jedoch nicht. Sie braucht ein gerüttelt Maß an geläutertem, »gesunden« Menschenverstand26 sowie die sokratische Bereitschaft, sein Leben im Hinblick auf seine Güte zu überprüfen (Platon, 1987). Genauer besehen hat man es mit zweien zu tun: mit sich und dem eigenen Leben. In dem Sinne, in dem ein menschenwissenschaftlicher Autor wie W. Somerset Maugham sagt: »Ich interessiere mich für Menschen und ihr Leben« (zit. nach Stölzel, 2009b, S. 69). Es handelt sich um ein systemisch beschreibbares Interaktionsverhältnis wie es sich exemplarisch im Selbstgespräch (vgl. Viertes Methodenporträt) zeigt.
Metasystemisches »Systemischer« ist systemischer als »systemisch«. Matthias Varga von Kibéd Die relativ neue Bezeichnung »systemisch« hat sich im Laufe ihrer erfolgreichen Verwendungskarriere auch zum Hauptwort die »Systemik« oder das »Systemische« hin erweitert27 und es mittlerweile zu einem (wissenschaftlich) anerkannten Therapie- und Beratungsverfahren gebracht (inklusive zweier Dachgesellschaften, Vokabularien: Simon u. Stierlin, 1984, und Simon, Stierlin u. Clement, 1999; Lexikon: Wirth u. Kleve, 2012, sowie einem Verlag, der ausschließlich auf systemische Produkte spezialisiert ist). Sie wurde und wird durchaus unterschiedlich definiert und verstanden (vgl. u. a. Weber u. Stierlin, 1989; Ludewig, 1992; Simon, F. B., 1993; Schmidt, G., 2004, 2005; Schlippe u. Schweitzer 1996, 2007, 2012; Willke, 2001; Varga von Kibéd, 2005), wobei die Nähe und Übergängigkeit etwa zur Systemtheorie Niklas Luhmanns (Luhmann, 1987) unterschiedliche Bewertungen (Baecker, 2010; Kühl, 25 Ich habe diese »Arbeit des Lebens« an dem Beispiel eines sehr reflektierten Autors wie Dieter Wellershoff zu skizzieren versucht (vgl. Stölzel, 2010c). 26 Zu den Implikationen dieses schillernden Begriffs und seine Nähe zum Alltagsverstand und common sense vgl. Dihle (1990). 27 Es fehlt nur noch eine Verbform wie »ich systemische« (doch die wird früher oder später noch jemand erfinden). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
30 Ein Dialog zwischen »Verwandten«
2011) erfährt. Das Wort »System« erscheint als relativ willkürlich verwendbares Begriffs-Passepartout, geradezu als »Plastikwort« (Pörksen, 1988), sofern es nicht definitorisch präzisiert und reflektiert wird, wie dies unlängst in einem differenzierten Aspektekatalog (Schlippe u. Schweitzer, 2012, S. 31 f.) unternommen worden ist. Eine der offensten28 Definitionen (Varga von Kibéd, 2005, S. 229) versteht »systemisch« als einen komparativen Begriff, ein »Aspektwechselprädikat«, das »den Übergang zu einer Sichtweise charakterisiert, die stärker von Einzelpersonen sowie Eigenschaften absieht und stattdessen Interaktionen bzw. Interaktionseigenschaften und -invarianzen, unterschiedliche Perspektiven sowie Kontexte betrachtet« (Sparrer, 2001a, S. 69). »Systemisch« wäre, so verstanden, ein erkenntnistheoretischer und eben kein ontologischer Begriff (Schlippe u. Schweitzer, 2012, S. 31). Zwar finden sich bei allen therapeutisch-beraterischen Konzeptionen – dezidiert oder uneingestanden – zahlreiche Anleihen, Bezugnahmen oder Verweise auf philosophische Theorien und Methoden (vgl. Kriz, 2001), bei den Systemikern fallen diese jedoch bereits durch die Begriffsbezeichnung besonders eng29 aus. Dass es zudem in den Vorgehensweisen eine Reihe wichtiger Gemeinsamkeiten gibt, hat Patrick Neubauer untersucht. Er kommt im Vergleich etwa zur Philosophischen Praxis auf folgende Übereinstimmungen (Neubauer, 2000, S. 136 ff.): –– Verzicht auf eine allzu fixe, festschreibende Theorie (eine »Theorie mit einem großen T«); –– ein metatheoretischer Vorbehalt gegenüber für wahr gehaltener Ansichten; –– der Autonomie des Gegenübers wird ein hoher Stellenwert eingeräumt; –– Interventionen erfolgen in Form von Anregungen, Angeboten, Anstößen oder Hinweisen; –– Verzicht auf Pathologisierungen aller Arten und der Versuch, diese einschränkenden Selbst- oder Fremdbeschreibungen wieder aufzulösen. 28 Die von einer »Sprechweise«, wie »der Systemtheorie«, absieht, als gäbe »es nur eine einzige Art und Auffassung von Systemtheorie« (Varga von Kibéd, 2005, S. 228). 29 Fritz B. Simon und Gunthard Weber (2004) haben in ihrer »Post aus der Werkstatt der systemischen Therapie« nicht nur »klassisch« therapeutische, sondern auch philosophische Vorgehensweisen verwandt, nicht allein, wenn sie das »Ding an sich« entdinglichen oder sich mit Hilfe von Robert Musil einen Möglichkeitssinn (s. »Mann ohne Eigenschaften«, 1981a, S. 16) »entzünden«. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
Metasystemisches
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Ich möchte diese Liste noch um folgende Punkte erweitern: –– reflektierter Prozess der Hypothesenbildung;30 –– existenzielle Ebenbürtigkeit von Therapeuten, Beratern, Coaches mit ihren Patienten, Klienten, Kunden; –– Tätigkeit des Verstörens und produktiven Irritierens durch unkonventionelle Interventionen und ungewohnte Denkwege; –– Bemühen um eine allparteiliche Perspektive; –– eine (nicht nur) individuumszentrierte31 Sichtweise und das Einbeziehen von relevanten Kontexten und Lebenszusammenhängen. Zwischen systemischen Gesprächsführungsmodellen und den Vorgehensweisen einer reflektierten Philosophischen Praxis gibt es eine hohe Anschlussfähigkeit – und ein großes wechselseitiges Anregungspotenzial. Die Zielsetzung systemischen Arbeitens, die Kurt Ludewig als »Angebote öffnender Ideen, Eindrücke, Phantasien; Hinterfragen lähmender Gewißheiten; Abwägen aktueller Alternativen; Ausmalen geistiger Entwicklungsmöglichkeiten« beschrieben hat (Ludewig 1992, S. 139), bündelt die autonomievergrößernde Ausrichtung einer lösungsorientierten und existenzerhellenden Philosophischen Praxis. Selbst ein überaus kritischer Beobachter kann die zahlreichen, wichtigen Impulse und Erweiterungen, die in den letzten Jahrzehnten von der systemischen Therapie ausgegangen sind (und noch weiter ausgehen), nicht ernsthaft bestreiten. Und diese Wirkung reicht weit über den klinischen Rahmen hinaus, berührt und beeinflusst Felder wie Beratung, Coaching, Supervision, Mediation, Organisationsentwicklung sowie die Welt von deren Klienten und Kunden. Und dies zum Teil sehr nachhaltig und produktiv. Um das Gute wie die Güte dieser Wirkung zu erhalten und (noch) zu verbessern, ist ein Korrektiv notwendig. Denn auch etwas, das von vielen als sehr wichtig, anregend, ja sogar unverzichtbar erlebt und/oder beschrieben wird, steht in Gefahr, sich selbst zu übertreiben (vgl. Stölzel, Th., 2012, S. 89 ff.). Metatheoretische, philosophische Perspektiven können erheblich dazu beitragen, die erfolgreichen Selbstverständlichkeiten einer 30 Bei einer zum Teil aufschlussreichen Musterung des systemischen Menschenbildes wie der ihm zugrunde liegenden Theorien (Moldzio, 2004) wird das daraus entwickelte, achtsame Verfahren der Hypothesenbildung unberücksichtigt gelassen. 31 Gemäß der Systemtheorie bildet auch das Individuum ein System und damit auch eine Umwelt für sich selbst (vgl. Selbstgespräch im Vierten Methodenporträt). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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bestimmten Therapie- und Beratungskonzeption einer wertschätzenden Überprüfung zuzuführen. Sie können auf diese Weise dafür sorgen, dass das, was an den Konzeptionen gut und eigen ist, dies auch weiter bleiben und weiter wirken kann und dass die latenten Erstarrungstendenzen nicht manifest werden. Das bedeutet zum Beispiel, dass folgende Merkmale von Modellen ausgeglichen werden können: –– die Substanzlastigkeit psychoanalytischer Modelle, –– die Empathielastigkeit personenzentrierter Modelle, –– die Relationslastigkeit systemischer32 Modelle. Auf diese Weise kann ein differenziertes Bewusstsein sowie ein kritischer Abstand für die »Stärken« der Modelle entstehen. Die mir vertraute (und am Herzen liegende) systemische Vorgehensweise bedarf meines Erachtens einer metasystemischen Perspektive, die auf verschiedene Weise in die Aus- und Weiterbildung wie die Praxis einzubringen wäre. Nach meinem Eindruck ist am Ende des Psychologie- bzw. Psychotherapie-Jahrhunderts (vgl. Stölzel, Th., 2012, S. 78 ff.) eine Phase neuer, bilanzierender und reflektierter Integration und achtsamen Methodologie geboten, die das ergänzende und korrigierende Aufeinandereinwirken unterschiedlicher Modelle berücksichtigt. Dabei kann es sich für alle Beteiligten als sehr nützlich erweisen, dass zum Beispiel aus einer metasystemischen Perspektive heraus anders gefragt, andere Fragen gestellt sowie anders reflektierte Lösungshaltungen eingenommen werden.
32 Moldzio hat darauf hingewiesen, dass die grundlegende Gegebenheit der menschlichen Leiblichkeit in der systemischen Therapie und Beratung zu wenig berücksichtigt werde (Moldzio, 2004, S. 85) und vor allem bei Simon ein leibfernes, an logischen Strukturen orientiertes Vorgehen vorherrschend sei. Nach meiner Beobachtung finden sich in den hypnosystemischen Ansätzen Gunther Schmidts und der Aufstellungsarbeit Varga von Kibéds und Sparrers leibliche Aspekte durchaus berücksichtigt. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
Was wären wir ohne Fragen?
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Was wären wir ohne Fragen? Die Fragen sind es, aus denen das, was bleibt, entsteht. Erich Kästner Sie können die Frage, die mir hier als Überschrift dient, unmittelbar zur Klärung der Frage verwenden, welche Bedeutung (das) Fragen in Ihrem beruflichen oder persönlichen Leben spielt; Sie können dabei auch diese (konkret gestellte) Frage dafür nutzen, zu überprüfen, ob Ihnen diese Frage dafür geeignet erscheint, ob sie Ihrer Meinung nach gut gestellt ist oder ob es besser wäre, eine andere Frage zu stellen. Wenn Sie so fragen, dann nutzen Sie eine metaperspektivische Form der Wissensgewinnung. Sie stellen sozusagen Fragen zweiter Ordnung, indem Sie Fragen befragen (vgl. Stölzel, Th., 2012, S. 15 ff.). Um dies gleich vorweg zu sagen: Die Stärke einer (guten) Frage liegt auch darin, einen lebensdienlichen Konjunktiv zu erzeugen; sie (genauer der Fragesteller) tut dies, indem sie bestimmte, zu überprüfende Ideen nahelegt und dazu auffordert, sich etwas Bestimmtes vorzustellen. Auf die Titelfrage angewendet hieße das, sich probeweise vor Augen zu führen, wie unser Leben aussähe, wenn es diese sprachliche und gedankliche Möglichkeit nicht gäbe. Denn wie sähe das aus: ein Mensch ohne Fragen, ohne die Möglichkeit, sich und andere etwas fragen zu können? Was bedeutete dies für sein Menschsein? Würde er dadurch den Tieren ähnlicher? Und: »Stellen« Tiere, als sogenannte Instinktwesen, keine Fragen? Ist für sie »alles« fraglos klar? Gehört also das Fragen(können) und der Drang dazu zur menschlichen Ausstattung und bildet einen QuasiInstinkt? Mit diesem imaginativen Anstoß hat die Fragewirkung jedoch erst begonnen. Es kann sehr lohnend sein, dieser Frage weiter nachzugehen; möglicherweise, indem man sie einschränkt, zuspitzt, spezifiziert. Also könnte man sich fragen: Wie sähe mein beruflicher Alltag aus, wenn mir das Fragen(können) nicht zur Verfügung stünde? Wenn es diese Erkundungs- und Kommunikationsmöglichkeit nicht gäbe? Was würde sich in der Organisation, in der oder für die ich arbeite, verändern, wenn –– keine Fragen gestellt würden (werden dürften), –– nur bestimmte Fragen gestellt würden (werden dürften), –– nur an manchen Tagen und/oder nur von bestimmten Personen Fragen gestellt würden (werden dürften)? © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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Das heuristische Mittel, etwas Bekanntes, Vertrautes, vielleicht Grundlegendes wegzudenken und damit eine andere Perspektive einnehmen zu können, hat der Experimentalphilosoph Georg Christoph Lichtenberg als »entfinden« bezeichnet. Das ist eine Tätigkeit, die von ähnlicher Wirkung sein kann wie das Erfinden. Um Ihnen die Möglichkeit zu geben, das Thema wie das Potenzial des Fragens für sich genauer betrachten zu können, möchte ich Ihnen eine Übung zum Thema Fragen vorschlagen.
Fragen als Lebensbegleiter Bringen Sie sich zu Bewusstsein, welchen Raum, welche Bedeutung (das) Fragen in Ihrem beruflichen oder persönlichen Leben einnimmt. Finden Sie für sich heraus, was Sie (dem) Fragen zutrauen, wo Sie es –– für hilf- und aufschlussreich, –– für wichtig und notwendig, –– für unverzichtbar, –– für entbehrlich, –– für störend oder gar kontraproduktiv halten. Bringen Sie sich zu Bewusstsein, welche Fragen für Sie bedeutsam sind, welche Sie möglicherweise bereits seit langem begleiten und wohl auch noch weiter begleiten werden. Finden Sie für sich heraus, welche für Sie früher wichtigen Fragen sich mittlerweile in stabile bzw. Stabilität gebende Antworten verwandelt haben. Beachten Sie die Empfindungen, die sich bei Ihnen einstellen, wenn Sie jetzt diese »alten« und beantworteten Fragen wieder betrachten. Beschäftigen Sie sich anschließend mit folgenden Fragen: Mit welchen Fragen gehe ich häufig um? Welche verwende ich gerne und bevorzugt in meinen professionellen Kontexten? Welchen Fragen traue ich viel zu? Welche Fragen (oder Arten des Fragens) gehören so sehr zu meiner Lebenspraxis, das ich dies beinahe schon als Teil meiner Identität erlebe?
Das Fragen(können) erscheint als ein Grundcharakteristikum des Menschen, als ein zentraler Teil seiner Sprachfähigkeit. Und dabei löst eben diese Fähigkeit nicht selten gemischte Gefühle aus. Kant stellt zu Beginn seiner »Kritik der reinen Vernunft« fest, dass diese »durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann; denn sie sind ihr durch die Natur © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
Was wären wir ohne Fragen?
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der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber nicht beantworten kann« (Kant, 1983a, A 11). Und der Neukantianer Hermann Cohen beschreibt die Frage als den »Hebel des Ursprungs […] den Anfang der Erkenntnis […] die Grundlage des Urteils […] den Grundstein zur Grundlage« (Cohen, 1902, S. 69). Die Beziehung zwischen der (westlichen) Philosophie zum Fragen ist eine alte,33 geradezu konstitutive; sie erscheint nicht allein Martin Heidegger als eine »Frömmigkeit des Denkens.« Wittgenstein sieht hier ein ärztliches Grundverhältnis gegeben: »Der Philosoph behandelt eine Frage; wie eine Krankheit« (Wittgenstein, 1971, S. 117). Das Fragen ist für den Menschen in doppelter Weise anfänglich. Es erzeugt und begleitet den Beginn der menschlichen Kultur wie die Orientierungsprozesse jedes individuellen Lebens. Das betrifft nicht nur die sprichwörtlichen Kinderfragen, wie sie zum Beispiel die Kinderphilosophin Eva Zoller gesammelt hat: »Weiß mein Kätzchen, daß ich ein Mädchen bin?« (Zoller, 1995, S. 67). Valéry spricht hier vom »Zeitalter des Warum« und deutet ein Wechselwirkungsverhältnis an: »Die Kinder fragen Warum? – Also bringt man sie in die Schule, die sie von diesem Instinkt kuriert und Neugier durch Langeweile besiegt« (Valéry zit. nach Stölzel, 2011, S. 64). Der Wissenschaftstheoretiker Karl Popper steht Valéry in dieser Beobachtung nahe, wenn er feststellt »daß unsere Pädagogik darin besteht, daß man die Kinder mit Antworten überhäuft, ohne daß sie Fragen gestellt haben, und auf die Fragen, die sie stellen, hört man nicht. Das ist unsere gewöhnliche Pädagogik: Ungefragte Antworten und unbeantwortete Fragen« (Popper, 1985, S. 52). Es ist eine Absicht dieses Buches, Ihnen nicht nur eine größere Zahl von Fragen, Fragemöglichkeiten und Frageweisen zu unterschiedlichen Themen (über den therapeutisch-beraterischen Rahmen hinausführend) vorzustellen, sondern Sie dazu anzuregen, Ihr Verhältnis zum Fragen zu überdenken. Das betrifft damit auch Ihr Verhältnis zu einer »natürlichen« Konsequenz Ihres Fragens: den Antworten, die Sie sich oder die Ihnen andere geben, und von denen Sie manche als gute, als für Sie passende Lösungen empfinden. Fragen kann man (nicht allein grammatisch) auf verschiedene Weise stellen. Dabei erweisen sich die Fragewörter als Richtungsgeber, die – in Gestalt der verschiedenen 33 Das beginnt mit den Vorsokratikern und ihrem Mut zu eigenen Fragestellungen. Die Frage ist die Lieblingsform des »Erfinders« der klassischen Rhetorik, Demosthenes, und des Sokrates Vorgehen könnte man als befragendes Denken charakterisieren (vgl. Viertes Methodenporträt). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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Pronomina: was, wer, wie(so), warum, weshalb, wozu etc. – bestimmte heuristische Schneisen schlagen können. Für die therapeutisch-beraterische Kommunikation ist es wichtig, zum Beispiel die folgenden Unterschiede zu beachten: 1. Das Fragewort warum verendlost durch die Vielbezüglichkeit, die es eröffnet, führt zumeist in die Vergangenheit, begünstigt das Nichthandeln usw. 2. Das Fragewort wozu aktualisiert, führt in die Gegenwart, stärkt und richtet das Handeln, macht verständlich, aus welchen Gründen etwas unterbleibt usw. Fragen34 und Antworten35 bilden ein besonderes Paar;36 es kann sich als sehr lohnend erweisen, damit bidirektional umzugehen, das heißt von den Fragen zu den Antworten und von den Antworten zu den Fragen (zurück) zu gehen (vgl. Koda: Fragen aus Antworten bilden).
Persönliches Fragebüchlein Sollten Sie Ihr Verhältnis zum Fragen intensivieren und reflektieren wollen, so lohnt es sich ein persönliches Fragebüchlein anzulegen. Sie können da zunächst Fragen anderer37 sammeln, während oder bevor Sie zu eigenen gelangen. Sie können die für Sie bedeutenden Fragen unterteilen und unterscheiden, in: –– Fragen, die ich immer wieder anders beantworte; –– Fragen, die ich gar nicht beantworte; –– Fragen, die keinen haben, der sie stellt; 34 Leiten sich aus dem mittelhochdeutschen vrag, fraga oder frege ab und stehen in einer etymologischen Beziehung zu Forschen, Bitten und Beten. 35 Wörtlich das Ant(d)e-Wort, das Wort des Anderen, der sich dadurch auch verantwortet. 36 Das vorletzte Kapitel seines (Jahrhundert-)Romans »Ulysses« hat Joyce als Katachrese, als strenge (und zugleich) parodistische Frage-Antwort-Folge gestaltet, in welchem die Hauptfigur Bloom (bevor er zu seiner Frau Molly ins Bett kriecht) nächtens in über hundert Fragen und Antworten seinen (Lebens-)Tag reflektiert. Dieses 17. Kapitel des »Ulysses« sei allen die – hauptberuflich – mit Fragen arbeiten und ihren persönlichen Umgang mit diesem Erkenntnisinstrument überprüfen möchten, als heiter-aufschlussreiche Lektüre empfohlen. 37 Vgl. hierzu einschlägige Listen und Empfehlungen (Frisch, 1992; Weber u. Stierlin, 1989; Schlippe u. Schweitzer, 1996, 2009, 2012; Simon u. Rech-Simon, 1998; Simon, 2012; Kołakowski, 2006). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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Fragen, die leicht vergessen werden; Fragen, die ich schon immer stellen wollte; Fragen, die mich auf eine wichtige Spur bringen; Fragen, denen nachzugehen einen gewissen Mut erfordert; Fragen, die mir Freude bereiten; Fragen, die mir als »Wecker« dienen usw.
Sie können es Lyrikern, wie Wisława Szymborska und Walter Helmut Fritz, gleich tun und Gedichte schreiben, die nur aus Fragen bestehen (Szymborska, 1986, S. 193 f.; Fritz, 1979, S. 268). Sie können dem Beispiel Montaignes folgen und seine skeptische Ausgangsfrage »Que sais-je?« (Was weiß ich?, Montaigne, 1998, S. 253) auf Ihre Belange anwenden. Achten Sie bei all diesen Aktivitäten darauf, welche Regungen, Gefühle und Befindlichkeiten sich einstellen oder zeigen, wenn Sie sich mit bestimmten Fragen beschäftigen. Klären Sie, wann und wodurch eine Frage für Sie gut gestellt ist und für Sie eine gute Wirkung hat. Achten Sie darauf, welche Regungen, Gefühle oder Befindlichkeiten sich bei (möglichen) Antworten auf diese Fragen einstellen oder zeigen, welche Wirkung diese Antworten auf Sie haben, welche Ihnen womöglich als Beruhigungsmittel oder gar als »Schnuller« dienen.
Ein so grundsätzliches Thema wie das Fragen bildet ein »weites Feld«; ein so weites zumindest, dass ich ihm in diesem Textrahmen nicht genauer nachgehen kann. Ich beschränke mich darauf hinzuweisen, dass (gute) Fragen eine Form des gestalteten Nichtwissens38 (vgl. Fünftes Methodenporträt) darstellen, und empfehle Ihnen, sich (gelegentlich) folgende methodologischen Fragen vorzulegen: Wie sah (meine) Welt aus, bevor ich die jetzt von mir bevorzugte Methode (Technik, Vorgehensweise, Denkstil usw.) praktiziert habe – was waren die Fragen, auf die diese Methode eine für mich passende Antwort zu geben scheint? Wann und wie übertreibe39 ich das Fragen, so dass es zu einem »Zerfra38 An einem entwickelten Verhältnis zu diesem Nichtwissen scheint nicht jeder interessiert zu sein. Ideologisch orientierte und antwortbedürftige Menschen richten sich da eher an den Verheißungen mancher »spiritueller Coaches« aus, wie: »Die Geistige Welt hat auf jede Frage eine Antwort!« 39 Als einen selbstinthronisierten Grenzwächter gegen das übertriebene, ausgeprägte, das fragenerzeugende, emphatische Fragen – vielleicht gegen das Fragen überhaupt, präsentiert sich der Psychiater Aron Ronald Bodenheimer mit seiner Abhandlung »Warum? Von der Obszönität des Fragens« (Bodenheimer, 1984). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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gen« von etwas kommt? Teile ich die Auffassung Erwin Chargaffs: »Eine Antwort, die keine Frage enthält, ist wertlos« (Chargaff, 1980, S. 167)?
»Vizelösungen« If you think you failed don’t matter try again fail again fail better. Samuel Beckett Der Begriff »Vizelösungen« geht auf Odo Marquard zurück. Marquard, der sich selbst als »Transzendental-Belletristen« charakterisiert, bringt ihn zu Beginn einer Sammlung »Philosophischer Überlegungen«, die er unter dem vizelösungshaft-anmutenden Titel »Glück im Unglück« (Marquard, 1995) zusammengestellt hat. Dort verteidigt er »in bezug auf den Menschen das Unvollkommene: die zweitbesten Möglichkeiten, die Vizelösungen, das, was nicht das Absolute ist.« Er begründet das so: »Das Absolute – das schlechthin Vollkommene und Außerordentliche – ist nicht menschenmöglich, denn die Menschen sind endlich. ›Alles oder nichts‹ ist für sie keine praktikable Devise: Das Menschliche liegt dazwischen, das Wahre ist das Halbe. So sind die Menschen diejenigen, die etwas statt dessen tun müssen, tun können und tun: Jeder Mensch ist – aus Mangel an Absolutheit – ein primärer Taugenichts, der sekundär zum homo compensator wird« (S. 9). Dieser launige Ton ist für einen deutschen Philosophen (einen akademischen zumal) eher ungewöhnlich. In seinem Pointierungsstreben gibt es eine Verwandtschaft zu Nietzsche und Cioran, in seinem Wirken als Begriffserfinder eine Nähe zu Freud40 – allerdings erscheint ein verspielter Geist wie Marquard deutlich heiterer als der in dieser Hinsicht doch eher »freudlose« Freud; eine Heiterkeit mithin, die manch40 Marquard gehört zu den psychoanalysekundigsten Philosophen seiner Generation (vgl. Marquard, 1987). Als Anreger und akademischer Lehrer Achenbachs ist er mit der »Würde eines Ahnen honoris causa der Philosophischen Praxis« bedacht worden (1987, XIII). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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mal auch die Nähe zum Kalauerhaften oder Überdrehten nicht scheut, wie zum Beispiel in Marquards Bandwurm-Begriff »Inkompetenzkompensationskompetenz« (Marquard, 1981). Zwischen einer »Philosophie des Stattdessen« (Marquard, 2000) und dem Erickson’schen Umdeuten41 gibt es (was das anthropologische Grundverständnis anlangt) eine Reihe von Gemeinsamkeiten, von denen ein entwickelter Humor nicht die unwichtigste ist. Überhaupt scheint eine humorimprägnierte (Lebens-)Haltung lösungsdienlich zu sein. Von Nossrat Peseschkian bekam ich einmal eine Geschichte zu hören; eine Kompetenzcharakterisierung, die er einem besorgten Vater gab, dessen Sohn als kleptoman beschrieben (oder anerkannt) worden war. Peseschkian, der ein entwickeltes Verhältnis zum Humor besaß, erklärte dem besorgten Vater, sein Sohn besitze die Fähigkeit, etwas zu finden, noch bevor es jemand verloren habe. Diese orientalische Bedeutungsgebung42 ist wohl für so manchen okzidental ernsthaften Menschen nicht so leicht nachzuvollziehen. Eine eindrückliche Lösungsmetapher (des okzidentalen) Menschen ist der sich selbst aus dem Sumpf ziehende Münchhausen. Diese aus dem 18. Jahrhundert stammende Geschichte (Bürger, 1978, S. 67) hat nachweislich auf den jungen Arthur Koestler horizonterweiternd gewirkt.43 Die Schilderung Koestlers hat später Paul Watzlawick zu dem konstruktivistisch-therapeutischen Bild von »Münchhausens Zopf« (in Verbindung mit »Wittgensteins Leiter«) angeregt (Watzlawick, 1992, S. 166 ff.), welches zwischenzeitlich Teil der lösungsorientierten Metaphorik geworden ist. Unabhängig davon, ob Sie sich nun »an den eigenen Händen« oder mit Zusammenarbeit anderer aus Ihrem »Sumpf ziehen«, bewahrt Sie eine Orientierung an der Vorstellung einer »Vize41 Erickson hat mit Hilfe seines Trotzes viele schwere Beeinträchtigungen überwunden und für sich und andere ungewöhnliche Lösungsideen entwickelt (vgl. u. a. Zeig, 1995, S. 25 ff., Stölzel, Th., 2012, S. 80 ff.). 42 Im Hinblick auf die Lösungsgeschichten des Rabbis Bonder (2001), dieses »jiddischen Kopps«, gilt mein Dank Matthias Ohler, der uns das Buch schenkte und sich, nachdem es lange vergriffen war, für dessen Wiedererscheinen einsetzte. 43 In Koestlers autobiographischen Schriften (Koestler, 1993, S. 35 ff.). findet sich eine genaue Beschreibung, wie er das eindrückliche Lösungsbild – des sich selbst aus dem Sumpf ziehenden Barons – bei der Überwindung einer schweren und schmerzlichen Erfahrung nutzen konnte (das dürfte Watzlawick angeregt haben). Für Koestler war dies so eindrücklich, dass er die formelhafte Abkürzung »Basu« (= der Baron im Sumpf) für sich prägte. Mit diesem Lösungsbild fand er sich gegen »Ura« (= die Urangst) besser gewappnet. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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lösung« vor den vermeintlichen Verlockungen der Ein-für-alle-Mal-Lösungen, der »Patendlösungen« (vgl. Watzlawick, 1986, S. 7 f.; Stölzel, Th., 2012, S. 38 f.). Ein Systemtheoretiker des Konflikts, wie Fritz B. Simon, hat in einem Post Scriptum zu seinem einschlägigen Dekalog die nachdrückliche Warnung ausgesprochen: »Suchen Sie auf keinen Fall eine perfekte Lösung« (2010, S. 122). Um Ihr Lösungsempfinden – gerade im Hinblick auf eine Richtgröße wie die »Vizelösungen« – näher zu bestimmen und dadurch tiefer in diesem Thema anzukommen, schlage ich Ihnen eine Übung zum Thema Lösungen vor.
Meine besten Lösungen Erinnern Sie sich an Lösungen, die Ihnen in Ihrem Leben bislang gelungen sind. Nutzen Sie die Möglichkeit, Ihre bisherigen Lösungen zu klassifizieren und zu ordnen. Zum Beispiel in die jeweiligen Arbeitsthemen oder Lebensbereiche oder hinsichtlich des Anteils, den andere Menschen, bestimmte Umstände etc. daran hatten. Welches sind die Lösungen, die Sie aus Ihrer heutigen Sicht als Ihre besten bezeichnen würden? Wie sind diese zustande gekommen? Inwieweit waren sie erwartbar oder naheliegend? Inwieweit »Kind« des Zufalls? Was haben sie Ihnen eröffnet, ermöglicht? Was eröffnen, ermöglichen sie Ihnen jetzt?
Innerhalb der Entwicklung der (deutschen) systemischen Therapie und Beratung hat eine Lösungsorientierung erst allmählich an Bedeutung gewonnen (die amerikanischen Praktiker Erickson, Haley, Weakland oder de Shazer waren da weiter). Noch während der vorwiegend familientherapeutischen Phase des Systemischen findet man in einem einschlägigen Vokabular lediglich den Begriff »Loslösung« in Verbindung mit »Entkopplung« (Simon u. Stierlin, 1984, S. 221 f.). Die jüngsten Überblicksdarstellungen (Schlippe u. Schweitzer, 2012; Wirth u. Kleve, 2012) sind da zwischenzeitlich bei den amerikanischen Lösungspionieren angekommen. Die markanteste (und am meisten reflektierte) Position hat hier Steve de Shazer vertreten und praktiziert. Nicht allein für (problemorientierte) Psychoanalytiker und Verhaltenstherapeuten sind Positionsbeschreibungen dieses Lösungsradikalisten, der in sein Vorgehen poststrukturalistische und sprachphilosophische Ansätze adaptiert © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
»Vizelösungen«
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hat, ein unerhört44 »wildes Denken«. De Shazer, der mit seinem Team (Insoo Kim Berg, Eva Lipcek u. a.) seit 1982 seine Position konsequent entwickelt und verfolgt hat (de Shazer 1989, 1992a, 1992b, 2009), erklärt, sich auf »Lösungen zu konzentrieren, anstatt Probleme zu lösen« – er pointiert dies so: »Man muß das Problem nicht kennen, um es zu lösen. […] Das Problem oder die Beschwerde hat mit ihrer Lösung nicht unbedingt etwas zu tun. […] Die Lösung hat mit dem Problem nicht unbedingt etwas zu tun« (de Shazer, 1994, S. 12). Er ist in Anlehnung an Derrida so weit gegangen, eine Schreibung, die das Wort durchgestrichen abbildet: wie »Problem«, zu verwenden (S. 102 ff.). Reflektierte und offene Philosophische Praktiker könnten hiervon einiges lernen. Die Radikalität und spezifische Kraft, die seinem das Potenzial eines Menschen konsequent aktivierenden Vorgehen innewohnen, haben die hypnosystemischen Ansätze Gunther Schmidts45 oder das tetralemma-orientierte Quer- und Ausnahmedenken Matthias Varga von Kibéds und Insa Sparrers nachhaltig beeinflusst. Bei all seiner Radikalität (die nicht wenige Pathologieapologeten verstört) strebt de Shazer jedoch keine totalen oder absoluten, keine »Patendlösungen« (Paul Watzlawick) an. Diese würden ja auch der Individualität von Problemen nicht gerecht (und könnten in einem Buch, in dessen Titel bereits Lösen zwischen Fragen steht, nicht gut vertreten werden). Ich bin jedoch von der Überzeugung geleitet, dass durch einen (konstruktiven und kritischen) Dialog zwischen allen praktisch-philosophischen »Verwandten«, alias allen philosophisch-therapeutischberaterisch Tätigen, nicht nur aufschlussreiche »Distanz-Erlebnisse« (Achenbach, 2010, S. 47) zu den eigenen propagierten Perspektiven und Methoden entstehen würden, sondern auch die Lösungsmöglichkeiten46 für alle Beteiligten erheblich verbessert werden könnten. 44 Hans-Rudi Fischer und Jochen Schweitzer überlieferten, welche Widerstände es gegen de Shazers Vorgehen seitens theoriekundiger Leser gab (Schweitzer, Retzer u. Fischer, 1992, S. 78 f.).) 45 Vgl. seinen Vorschlag eines Akzentuierungswechsels von Psychosomatischen Krankheiten zu psychosomatischen Lösungsversuchen sowie seine Metapher der Liebesaffären zwischen Problem und Lösung, die »im schönsten Falle Liebesbeziehungen mit Folgen« werden können (Schmidt, G., 2004, S. 17). 46 Und damit (wie es Schlippe und Schweitzer am Ende ihres ersten, erfreulicherweise relativierten Lehrbuchs zur systemischen Therapie und Beratung sagen) eine Sprache erlernt werden könnte, »die von dem Glauben an die Möglichkeiten von Menschen getragen ist« (Schlippe u. Schweitzer, 1996, S. 294). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
Methodenporträts: Vorbemerkungen
Die nachfolgenden Methodenporträts stellen eine Auswahl aus einem größeren Spektrum von Perspektiven und Zugängen dar, die sich bereits in Einzel-, Team- und Organisationsberatungen sowie in Supervisionen und der Fortbildungs- und Seminararbeit bewährt haben. Der Begriff »Methodenporträts« ist dabei so zu verstehen, dass auf einem überschaubaren Raum jeweils eine kleine Gesamtansicht einer bestimmten Zugangsweise vorgestellt und durch Übungen und Interventionsvorschläge nutzbar gemacht werden soll. Die jeweiligen »Gesichtszüge« einer Methode47 sind allerdings so weit ausgestaltet, dass man ihr »ins Gesicht blicken«, mit ihr in einen persönlichen Dialog treten kann; es handelt sich um Skizzen, die charakteristische Züge und Elemente erkennen lassen. Die einzelnen Methodenporträts sind so gestaltet, dass durch sie die Handlungsweisen von Therapeuten, Beratern, Coaches und Organisationsentwicklern sinnvoll erweitert und wichtige methodische Überprüfungsmöglichkeiten eröffnet werden. Das betrifft auch den Aspekt der effektiven Selbstsupervision wie überhaupt den nützlichen Abstand zur eigenen professionellen Tätigkeit und Identität. Folgende Themen/ Methodenporträts werden vorgestellt: –– Erstes Methodenporträt: Das besondere »Arbeitsfeld« Mensch (Reflektierte Anthropologie); –– Zweites Methodenporträt: Zwischen Lebens- und Meinungsgeschichten (Epistemologische Biographie); –– Drittes Methodenporträt: Mit sich sein, aber nicht allein (Selbstsorge und Fremdsorge); –– Viertes Methodenporträt: Selbstgespräch, Zwiegespräch, Meta gespräch (Philosophische Dialogformen); –– Fünftes Methodenporträt: Wissen, Nichtwissen, Lethologie (Kritische Epistemologie). 47 Zum etymologischen Verständnis dieses Wortes vgl. Stölzel, Th. (2012, S. 26 f.). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
Methodenporträts: Vorbemerkungen
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Den fünf hier vorgestellten Zugängen sind fünf Leitbegriffe zugeordnet, in denen der jeweilige Zugang exemplarisch wird. Sich darauf auszurichten, kann die Arbeit mit den hier vorgestellten Methoden erleichtern. Sie sind im Text jeweils graphisch eigens markiert. Sie beziehen sich auf die Leitbegriffe: –– Erster Leitbegriff: Menschenbild, –– Zweiter Leitbegriff: Biographie, –– Dritter Leitbegriff: Askese – Übung, –– Vierter Leitbegriff: Begegnung, –– Fünfter Leitbegriff: Sicherheit.
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Erstes Methodenporträt: Das besondere »Arbeitsfeld« Mensch (Reflektierte Anthropologie)
[…] menschlich mit Menschen über das Menschliche reden. Ludger Lütkehaus
Das Rätsel der Sphinx Der Mensch ist eine Richtung, kein Ding. Max Scheler In dem Theaterstück »König Ödipus« (Oidipus Tyrannos) von Sophokles48 fordert ein weibliches Ungeheuer die Bürger der griechischen Stadt Theben existenziell heraus – entweder sei jemand imstande, das von ihr gestellte Rätsel zu lösen oder sie verschlinge jeden Tag einen Jüngling. Dieser Bedrohung steht eine Verlockung entgegen. Denn wer das von ihr gestellte Rätsel lösen könne, der solle die Königin Jokaste zur Frau bekommen und Herrscher von Theben werden. Es ist verständlich, dass diese anarchistisch anmutende Idee den gegenwärtigen Throninhaber, Laios, in Aufregung versetzt. Um die Wucht dieser Dynamik zu verdeutlichen, übertrage man die antike Konstellation ins heutige, zumeist noch immer von männlichen Führungskräften dominierte Wirtschaftsleben. Da kommt eine fremde, weibliche Macht ins Unternehmen, stellt ein Rätsel und erklärt: Wenn dieses nicht gelöst werden könne, werde jeden Tag ein Mitarbeiter entsorgt; wer jedoch – 48 »Das Stück enthält eine intensive, untergründige Beziehung zur sokratischen Philosophie«, konstatiert der Sokratesforscher Wolfgang H. Pleger (1998, S. 19 ff.) – es stellt ein besonderes Erkenntnisdrama, ja geradezu eine dramatische Umsetzung des berühmten Delphi-Mottos dar (vgl. das Kapitel »Erkenne dich selbst!« und das vierte Methodenporträt); Sokrates soll das Theaterstück im Dionysos-Theater aufgeführt gesehen haben. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
Das Rätsel der Sphinx
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unabhängig von seiner Position innerhalb des Unternehmens – das Rätsel lösen könne, der solle ab sofort die Führung bekommen und überdies die Frau des Chefs. Ob Letzteres ähnlich verlockend wäre wie bei Sophokles, sei dahingestellt. Für den amtierenden König wie für eine heutige Führungskraft gäbe es wohl nur eine nicht bedrohliche Konstellation, nämlich, dass er imstande wäre, das Rätsel (oder Problem) selbst zu lösen. Da ihm dies bislang nicht gelungen ist, sucht Laios Rat bei einer externen Größe, die für ihre Klugheit oder gar Weisheit bekannt ist – so wie vielleicht eine heutige Führungskraft bei einer existenziellen Bedrohung des Unternehmens und/oder der eigenen Person bzw. Stellung, die Dienste eines Führungskräfte-Coachs in Anspruch nehmen würde. Laios ist also, begleitet von einer kleinen Dienerschar, unterwegs nach Delphi, um die Pythia zu konsultieren, da kommt es an einer Wegkreuzung, an der drei Wege aufeinandertreffen, zu einer schicksalhaften Begegnung, bei der die beiden Protagonisten die Identität des jeweils anderen nicht (er-)kennen: Es sind die alte und die neue (genauer: werdende) Führungskraft; es sind Vater und Sohn. Letzterer, Ödipus mit Namen, ist von seinem vermeintlichen Elternpaar (die in Wahrheit seine Adoptiveltern sind) fortgegangen, um einem bedrohlichen Orakelspruch zu entgehen. Die Weissagung lautete nämlich: Ödipus werde seinen Vater umbringen und seine Mutter heiraten. Bei seinen Adoptiveltern wäre für ihn allerdings keine Gefahr gewesen; jetzt aber steht er unwissentlich seinem wirklichen Vater im übertragenen wie im konkreten Sinne im Wege. Da man es auf Laios Seiten verständlicherweise eilig hat, zu den mächtigen Lösungshelfern zu gelangen, befiehlt man Ödipus, rasch zur Seite zu treten und den Weg frei zu machen. Und als dieser etwas zaudert, stößt ihn ein Diener barsch zur Seite. Ödipus, der als jähzornig geschildert wird, lässt sich das nicht so einfach gefallen und attackiert nun seinerseits den Diener. Daraufhin schlägt Laios, wie gesagt wird, vom Wagen herab mit dem Stachelstab nach dem Kopf des unerkannten Sohnes. Das wiederum macht diesen so blindwütig, dass er seinen Vater und alle seine Diener kurzerhand erschlägt – bis auf einen, der entfliehen kann. Nun ist der Weg nach Theben frei und zugleich der erste Teil des Orakels erfüllt. Noch bevor Ödipus die Stadt erreicht, hört er von deren Bedrohung und wie diese aufgelöst bzw. beendet werden kann. Und er erfährt, welcher Preis dem Rätsellöser versprochen wird. Machtorien© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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tiert, als vermeintlicher Sohn eines anderen Königspaares, der mit der Perspektive einer späteren Thronübernahme bzw. Führungsposition aufgewachsen ist, geht Ödipus dieser Herausforderung entgegen. Es kommt zu einer zweiten schicksalhaften Begegnung. Nun mit der Sphinx. Diese – ein Wesen mit Löwenleib und Menschenkopf – verkörpert die archaische weibliche Macht (die griechische Sphinx ist im Unterschied zum ägyptischen Pendant weiblich). Ödipus geht zu dem Felsen, auf dem die Sphinx sitzt, und lässt sich das Rätsel stellen. Es lautet so: »Ein Zweifüßiges gibt es auf Erden und ein Vierfüßiges – mit dem gleichen Wort gerufen, und auch dreifüßig. Die Gestalt ändert es allein von allen Lebewesen, die sich auf Erden, in der Luft und im Meere bewegen. Schreitet es, sich auf die meisten Füße stützend, so ist die Schnelle seiner Glieder am geringsten.«
Ödipus entgegnet der »Hüterin der Schwelle«, als welche die Sphinx in manchen Initiationspraktiken erscheint: »Den Menschen hast du gemeint, […] der, da er kaum geboren, noch auf der Erde herumkriecht, zuerst vierfüßig ist. Wenn er aber alt wird und mit gekrümmtem Nacken unter der Last des Greisentums als dritten Fuß den Stock gebraucht, dann ist er auch dreifüßig« (Kerényi, 1960, S. 83 f.).
Nachdem Ödipus das Rätsel gelöst hat, stürzt sich die Sphinx vom Felsen in die Tiefe. Dadurch erfüllt sich auch der zweite Teil des Orakels: Ödipus wird König von Theben und – unwissentlich – zum Ehemann und damit auch Sexualpartner seiner Mutter, mit der er in der Folge vier Kinder zeugen wird, für die er dann zugleich Bruder und Vater ist. Manche Deuter dieses Tragödienstoffes meinen: Die Sphinx sei nicht tot bzw. verschwunden; sie trete Ödipus nun in Gestalt Jokastes als Gattin, Mutter und Beischläferin entgegen. An dieser Stelle verlassen wir die sophokleische Tragödie und wenden uns dem Thema zu, das dem Rätsel der Sphinx zugrunde lag.
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Umgehen mit einer alten Frage
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Umgehen mit einer alten Frage Menschwerden ist eine Kunst. Novalis »Den Menschen hast du gemeint« (ánthropon katélexas), antwortet Ödipus auf die Rätselfrage. Ein Wesen, das gemäß dem Rätsel durch seine »Beinigkeit«, seinen Stand und damit seine Haltung zur Welt charakterisiert werden kann. Die komplexe Symbolik, die in der Zahlenfolge 4, 2, 3 verdichtet worden ist, kann ich hier nur andeuten. Die Zahl 4 versinnbildlicht das krabbelnde, erdnahe Kleinkind, das in seiner Unbewusstheit den Tieren ähnlich ist; die Zahl 2 versinnbildlicht das Aufgerichtetsein des Menschen, also Beweglichkeit und perspektivische Sicht, aber auch Instabilität und die Gefahr in diesem wie in jenem Sinne zu stürzen; die Zahl 3 versinnbildlicht das Alter, den gereiften Menschen, dem durch Erfahrungen ein drittes Bein »gewachsen« ist, eine Stütze, ein Stab. Dieser Stab steht nicht allein für Gebrechlichkeit, er eröffnet auch zusätzliche Möglichkeiten. Mit ihm überwindet der Mensch die Welt der Gegensätze, die konfliktträchtige Zweiheit, gleicht sich selbst aus und kann Lösungen der dritten Art finden. (»Aller guten Dinge sind drei«, sagt der sogenannte Volksmund.) Für den Menschen scheint es daher bezeichnend zu sein, dass er sich nicht nur körperlich verändern, sondern, dass er sich auch geistig und seelisch entwickeln, dass er Krisen überwinden und Reifungsschritte vollziehen kann. Er wird dadurch zu einem auto-metamorphen Geschöpf, einem Wesen, das sich durch sich selbst verwandeln kann. »Diese Entwicklung hätte ich dir oder hätte ich der oder dem gar nicht zugetraut«, hört man andere und hört man auch sich selbst bisweilen sagen. Folgt man der griechischen Rätselmetaphorik, so befindet sich der Mensch die längste Zeit seines Lebens in der Phase der Zahl 2, ja, man hat mitunter den Eindruck, manche kommen gar nicht über die Zahl 2 hinaus: der Welt der Gegensätze, des flexibel-labilen Standes, bis hin zur Ver-zwei-flung … Das Angebot, das eine philosophische Sichtweise auf das Wesen, die Eigenart und das Potenzial des Menschen eröffnet, dient der Erkundung des Grundes, auf dem sich das professionelle Zusammenkommen von Therapeut und Patient, von Berater und Klient, von Coach und Coachee, Organisationsentwickler und Organisation vollzieht. Das betrifft © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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in gleicher Weise das Beratungssubjekt wie auch denjenigen, von dem die professionelle Unterstützung oder Begleitung ausgeht. Es sind die jeweiligen Theorien über das Menschenmögliche, die einschränkenden wie die zuschreibenden Vorannahmen und Voraussetzungen, die diesen Prozess grundieren.
Erster Leitbegriff: Menschenbild Es ist leichter, den Menschen, als einen einzelnen Menschen kennenzulernen. La Rochefoucauld Der Begriff »Menschenbild« konvergiert teilweise mit dem Begriff »Anthropologie«. »Die Benennung Anthropologie ist doppeldeutig. Sie kann (wie in den analog gebildeten Begriffen: Theologie, Kosmologie, Ontologie) das Wissen oder die Wissenschaft vom Menschen meinen; sie kann aber auch den Logos des Anthropos (Menschen) selber meinen« (Löwith, 1981, S. 329). In dem Forschungsbereich der philosophischen Anthropologie49 wird versucht, zu einer Verbesserung reflektierter Menschenkenntnis beizutragen. Das führt dazu, die »Natur« und das »Wesen« des Menschen genauer und unvoreingenommener bestimmen zu wollen. Dabei tritt dreierlei in den Blick: 1. die besondere Perspektive, die sich daraus ergibt, dass der Mensch seinen eigenen Ausgangs- und Bezugspunkt bildet, wenn er versucht, sich ein »Bild« von sich zu machen; 2. der Umstand, dass man sich einer »chaotisch mannigfaltigen Sammlung sowohl expliziter als auch latenter (Vor-)Annahmen, Haltungen, Hoffnungen und Urteilen [sic!] mit handlungsanleitendem Charakter« gegenübersieht (Moldzio, 2004a, S. 24), die dann für manche zu einer »Formel des Menschen« (Danzer, 2011)50 synthetisiert werden; 49 Zur Begriffsgeschichte vgl. Marquard (1982, S. 122 ff.) sowie die einschlägigen Arbeiten von Scheler, Plessner, Gehlen; paradigmatisch dazu: »Die Stellung des Menschen im Kosmos« (Scheler, 1986). 50 Danzer hat in seiner enzyklopädischen Zusammenschau »Wer sind wir?« anthropologische Ideen und Theorien aus der Philosophie, Tiefenpsychologie, Psychiatrie, Psychosomatik und Grundlagenmedizin des 20. Jahrhunderts zusammengestellt. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
Umgehen mit einer alten Frage
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3. das systemisch beschreibbare Wechselwirkungsverhältnis der jeweiligen Menschenbilder51 zu den Weltbildern und Urbildern (Archetypen), die sie enthalten bzw. in denen sie enthalten sind. »Menschenbild« mutet geradezu wie ein konstruktivistischer Begriff an, der unmittelbar benennt, dass aus Modellen, Vorstellungen und Erfahrungen etwas gebildet, konstruiert und nicht selten fixiert worden ist. Eine Beschäftigung mit dem eigenen Menschenbild52 ermöglicht es, dieses immer wieder zu verflüssigen; das »Allzumenschliche«53 darin sichtbar werden lassen. Je genauer und besser die eigene Anthropologie, das heißt das eigene Menschenbild geklärt ist, desto größer und nachhaltiger kann die therapeutische und beraterische Wirkung sein. Um dies erreichen zu können, genügt es nicht, innerhalb einer bestimmten anthropologischen, therapeutischen oder beraterischen Theorie zu bleiben, denn diese bildet lediglich den individuellen »Aufbau«. Sondern es erweist sich als sinnvoll, gerade hier grundsätzlicher, voraussetzungsoffener, also philosophischer vorzugehen und das »Fundament« zu ermitteln und näher kennenzulernen, auf dem die jeweilige Menschensicht bzw. die professionellen Perspektiven und Überzeugungen stehen.
Nicht zuletzt in Supervisionen habe ich häufig die Klage vernommen: Trotz erprobter und gut umgesetzter Methoden und Interventionsideen sowie einer stabilen Motivation des Klienten sei man nicht so weit gekommen, wie man (eigentlich) hätte kommen können. Der
51 Moldzio unterscheidet hier drei wesentliche Funktionen, die orientierende, die identitätsstiftende und die normative Funktion (2004, S. 26). Vgl. außerdem die Typisierungen Kellers in »Anthropologie nach oben, unten und innen« (1975, S. 9). 52 Das kann bedeuten, verwandte Begriffe schärfer ins Auge zu fassen. Vgl. hierzu die feinsinnige Analyse des Personenbegriffs von Robert Spaemann, der den Unterschied zwischen »etwas« und »jemand« klären und der Frage »Sind alle Menschen Personen?« nachgehen möchte (1996). 53 Der Begriff geht auf Nietzsche, den oft galligen Meister einer philosophischen Entlarvungspsychologie zurück: »Wo ihr ideale Dinge seht, sehe ich – Menschliches, ach nur Allzumenschliches« (Nietzsche, 1969, S. 320). Mit diesem »Seuftzer«, der den meisten seiner Schriften unterlegt ist, hat er eine realistische, weniger illusionsanfällige Sicht auf den Menschen eröffnet und eine begriffliche Präzisierung beigesteuert. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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Klient habe das Angebotene nicht so für sich umsetzen können, wie er es erklärtermaßen wollte … Was stand dem im Wege? Darauf gibt es natürlich viele denkbare Antworten bzw. Hypothesen. Bei deren Überprüfung erheben sich Fragen der Art: –– Wie genau sollte ich den anderen, das Beratungssubjekt kennenzulernen versuchen, um ihn sinnvoll unterstützen oder begleiten zu können? –– Wie ist seine »Innenwelt« (vgl. Drittes Methodenporträt) und damit sein Selbstverständnis beschaffen, auf das ich von »außen« mit meinem therapeutischen oder beraterischen Handeln herantrete? –– Was sollte ich unbedingt über die Theorien, die sich jemand über sich selbst gebildet hat (vgl. Zweites Methodenporträt), wissen? –– Was gilt es dabei grundsätzlich zu berücksichtigen? Eine grundsätzliche Perspektive ist die anthropologische. Sie wird zwar, wie die Erfahrung zeigt, weniger verwendet, kann sich aber als sehr ergiebig erweisen. Dabei geht es hier weder um eine neue Theorie über den Menschen noch um das bloße Rezipieren bereits unternommener Bestimmungsversuche, sondern um die eigenen Theorien, um grundsätzliche Überzeugungen, das heißt um die Ergebnisse und Orientierungen, die jemand aus den Erfahrungen und Erkenntnissen über sich als Mensch wie über seine Mitmenschen gewonnen hat. Die Frage nach dem Menschen, seinem Wesen, seiner »eigentlichen« Natur ist alt, oft gestellt und aus verschiedenen Blickwinkeln und mit unterschiedlichen Motiven angegangen worden (anders als etwa die spezifischere Variante nach dem Vermögen des Menschen, vgl. Stölzel, Th., 2012, S. 76 ff.). Diese alte, grundlegende Frage wurde auch innerhalb der unterschiedlichen philosophischen Traditionen immer wieder gestellt. Kant zum Beispiel lässt in seiner Anthropologie die drei (ihm relevant erscheinenden) Lebensfragen: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? – in die Frage: Was ist der Mensch? münden. Es wäre sicher eine lohnende Aufgabe, die verschiedenen Antworten, die während einer über hundertjährigen Psychotherapiegeschichte54 im Umgang mit dieser Frage entwickelt worden sind, miteinander 54 Nicht mitgerechnet die Einsichten, Modelle und Beobachtungen, die der Mensch im Laufe der Kulturgeschichte über sich und seine Spezies bereits vorher gewon© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
Arbeiten mit der persönlichen Anthropologie
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zu vergleichen, die Unterschiede und vor allem auch die Gemeinsamkeiten zu ermitteln. Wohl jeder therapeutisch oder beraterisch Tätige hat im Laufe seiner beruflichen wie persönlichen Entwicklung viele (einander widersprechende) anthropologische Konzeptionen, Modelle, Settings, Charakterologien usw. aufgenommen oder sich zu eigen gemacht. Sie bilden die mehr oder weniger bewusste Ausgangsbasis, um sich eine engere oder weitere Vorstellung von der Natur des anderen verschaffen zu können, wie nicht zuletzt auch von der eigenen. Wie auf diese alte Frage jeweils geantwortet, wie mit ihr umgegangen wird, entscheidet – in weit höherem Maße als zunächst zu vermuten wäre – über das Ankommen bei anderen; über ein wirkungsvolles und passgenaues Arbeiten mit den jeweils mitgebrachten Themen oder eingebrachten Fragen.
Arbeiten mit der persönlichen Anthropologie Ein Nest aus Widersprüchen wird jede lebende Seele, sobald man sie beschreibt. Golo Mann Die Arbeit mit der persönlichen Anthropologie hat unmittelbare und zugleich nachhaltige Auswirkungen auf das therapeutische oder beraterische Handeln; sie stellt so etwas wie eine Vorbehandlung oder Vorverständigung dar, eine rahmenstiftende Voraussetzung, auf die immer wieder Bezug genommen werden kann. Dies zeigt sich an drei Aspekten: 1. Was auch als Anliegen, Problem oder Klärungswunsch zu Beginn einer Therapie, einer Beratung oder einer Organisationsentwicklung seitens des Patienten, Klienten oder der Organisation eingebracht wird, erfährt durch die Arbeit mit der persönlichen Anthropologie eine philosophische Distanznahme. Dieses Vorgehen bewährt sich vornehmlich bei Themen, in welche die Betroffenen sehr involviert nen bzw. gemacht hat und die in zahllosen Beispielen in Literatur, Kunst, Musik aufscheinen, woraus dann, beginnend mit Freud, die unterschiedlichen Therapieund Beratungsrichtungen geschöpft haben und noch schöpfen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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sind, die als schwer lösbar, massiv herausfordernd oder gar als existenziell bedrohlich erlebt werden. Das gilt aber auch für »kühlere« Anliegen oder weniger affizierte Themenbringer. Ausgehend von der eigenen Person und begleitet von einem philosophisch geschulten Dialogpartner, wird von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, das persönliche Verständnis der menschlichen Möglichkeiten und Grenzen zu ermitteln. Dies erweist sich oftmals als aufschlussreich und klärungsdienlich, auch wenn das jeweilige Therapie- und Beratungsanliegen zunächst scheinbar nur indirekt berührt wird. 2. Die konkrete Arbeit an der persönlichen Anthropologie anhand von Übungen, Fragemodulen und heuristischen Modellen fördert und entwickelt nicht allein das Selbstverständnis des jeweiligen Patienten oder Klienten für sich selbst und erhöht damit dessen Dialogfähigkeit für sich sowie die Auskunftskundigkeit für die weitere Zusammenarbeit. Sie verbessert auch die heuristischen Möglichkeiten des Therapeuten, Beraters oder Organisationsentwicklers, den individuellen Kosmos des anderen genauer kennenzulernen, indem sie ihm die Option gibt, über einen grundlegenden, aber wenig begangenen Weg einer unter Umständen ganz anders geordneten und ausgerichteten Welt zu begegnen. 3. Die Arbeit mit der persönlichen Anthropologie eröffnet einen weiteren Zugang zu den Voraussetzungen des eigenen Selbst- wie Menschenverständnisses, intensiviert den Kontakt mit den persönlichen Fundamenten und trägt auf diese Weise zur Entfaltung einer aus sich selbst geschöpften Souveränität bei, indem sich der jeweilige Patient oder Klient auf methodische Weise zu Bewusstsein bringen kann: Wovon gehe ich eigentlich »ganz selbstverständlich« aus, wenn ich mich und die mich Umgebenden als Mitglieder der Gattung Mensch bezeichne und verstehe? Die Methodenelemente der sich anschließenden Übung stellen eine Auswahl dar. Sie wurden so ausgewählt, dass das Spezifische dieses praxisrelevanten Zugangs anschaulich werden kann. Wer in seiner eigenen Praxis damit arbeiten oder umgehen möchte, dem sei empfohlen, die verschiedenen Übungsangebote und Fragen zunächst an sich selbst durchzuführen (wie es überhaupt keine schlechte Idee ist, das, was man anderen angedeihen lassen möchte, zuerst an sich selbst zu erproben – das erhöht die Kongruenz). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
Arbeiten mit der persönlichen Anthropologie
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Persönliche Anthropologie Voraussetzung: »Jede Aussage des Menschen enthält zugleich eine Aussage über ihn selbst; sie ist die Aussage eines Menschen überhaupt und zugleich die eines Menschen in einer bestimmten Denk-, Zeit- und Lebenssituation. Menschliches Leben ist daher […] indem es nach außen erkennt und schafft, immer zugleich an sich selbst hermeneutisch: Seine Äußerungen enthalten unbewusst eine Auslegung seiner selbst« (Grawe, 1980, Sp. 1059 f.). Da menschliches Leben (unabhängig davon, nach welcher Theorie man es versteht oder beschreibt) im Wesentlichen vorstellungsgeleitet erscheint und daher Perspektiven und Bewertungen stets mit Bildern oder Metaphern verknüpft sind, wird hier wiederholt auch mit dem Begriff des Menschenbildes gearbeitet. Wie kam Ihr gegenwärtiges Menschenbild zustande? Sammeln Sie Eindrücke, Ereignisse, Erfahrungen Ihres Lebens, die an Ihrer jetzigen Sicht maßgeblich beteiligt waren. Fragen Sie sich: Auf welche Situationen komme ich immer wieder zurück bzw. über was komme ich nicht hinweg? Notieren Sie, was Ihr autobiographisches Gedächtnis (vgl. Zweites Methodenporträt) Ihnen zu erkennen gibt. (Hierfür eignen sich, aufgrund der Möglichkeit, unterschiedliche Aspekte flexibel zueinander in Beziehung setzen zu können, Karteikarten besonders.) Beschäftigen Sie sich mit dem, was Sie erinnert haben. Bilden Sie Kausalitäten (Was folgt bei mir woraus? Was hat was ausgelöst oder bewirkt?). Nehmen Sie genau wahr, welche Bedingungsverhältnisse Sie in sich vorfinden, welche Erfahrungs-Bewertungs-Kreisläufe sich in Ihnen gebildet haben, welche Ordnung sich in dieser Hinsicht in Ihnen gebildet hat. Wie stellen Sie sich die sogenannte Innenwelt eines Menschen vor? Von welcher Binnenkomplexität gehen Sie dabei aus? Welcher Modelle, Konzeptionen und Metaphern bedienen Sie sich, um diesen »Raum« zu verstehen und zu beschreiben. Hat Ihre Seele (falls der Begriff für Sie eine Bedeutung besitzt) einen »Sitz« in Ihnen? Und wo? Innerhalb der philosophischen Ethologie gibt es die Vorstellung von anthropologischen Konstanten. Damit sind Verhaltensweisen, Motive und Tendenzen gemeint, die sich – wie sehr sich die jeweilige Umgebung auch verändern mag – als ausgesprochen stabil erweisen, so dass man beinahe fest mit ihnen rechnen könnte. Moralistische Autoren, die, ohne zu bewerten, menschliches Verhalten untersuchten, haben dies in aphoristischer Konzentration wiederholt zur Sprache gebracht, zum Bei© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
54 Erstes Methodenporträt spiel Rivarol (2012) in dem paradox anmutenden Motto: »Plus ça change plus c’est la même chose« (in etwa: Je mehr sich etwas ändert, desto mehr bleibt es beim Selben). Oder Maugham in der Beobachtung: »Die Sitten wandeln sich, nicht die Menschen« (zit. nach Stölzel, 2009b, S. 15). Arbeiten Sie probeweise mit dieser anthropologischen Idee. Notieren Sie, ob Sie so etwas Gleichbleibendes in Ihren Verhaltensweisen, Motiven und Tendenzen finden; um was es sich dabei handelt; was Sie möglicherweise bei anderen entdecken bzw. bemerken. Befragen Sie sich, ob die Vorstellung von anthropologischen Konstanten für Sie eher etwas Verlässliches und Orientierungsstiftendes oder eher etwas Einengendes und Festschreibendes an sich hat. Interviewen Sie sich: Welche Vorstellung vom Menschen liegt meiner therapeutischen oder beraterischen Arbeit zugrunde? Welche Modelle und Konzeptionen (oder welche Mischung davon) beschreiben meiner Meinung nach die »Natur des Menschen« am genauesten und angemessensten? Welche Methoden und Vorgehensweisen haben sich für mich bislang besonders bewährt? Welche (obwohl zunächst erfolgsversprechend) hingegen nicht? Über welche »Werkzeuge« verfüge ich, um andere Menschen (und auch mich) zu verstehen? Was ist nach meinem Verständnis in der Arbeit mit Menschen maximal erreichbar? Inwieweit stellt für mich jeder Mensch einen Sonderfall dar? Wo sehe ich mögliche Ähnlichkeiten? Wo mögliche Unterschiede?
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»Das Wir in mir« – Potenziale der philosophischen Intravision
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»Das Wir in mir« – Potenziale der philosophischen Intravision Manchmal blicke ich ratlos auf die verschiedenen Seiten meines Wesens. Ich erkenne, daß ich aus mehreren Personen zusammengesetzt bin. […] Aber was ist mein wahres Selbst? Sämtliche dieser Charaktere oder keiner? W. Somerset Maugham Das Paradigma von der Vervielfältigung (Multiplizität), das erfreulicherweise in den letzten Jahren innerhalb von Therapie- und Beratungssettings zunehmend Beachtung und auch Anwendung gefunden hat (u. a. Orban, 1996; Watkins u. Watkins, 2003; Hesse, 2003; Schmidt, G., 2004; Peichl, 2010; Fritzsche u. Hartmann, 2010; Fritzsche, 2013), bestätigt eine alte anthropologische Beobachtung. Die Beobachtung von der inneren Vielfalt des Menschen; vom Reichtum seines inneren Systems; von den Interaktionsweisen der inneren Szenarien. Zwar treten uns die sogenannten Mitmenschen stets als Einzelne entgegen (wie auch wir uns selbst, wenn wir uns beispielsweise in einem Spiegel begegnen), doch scheinen da zugleich mehr als nur einer zugegen zu sein. Und selbst der Einzelne – das zeigen unter anderem die Schauspielkunst wie auch die unterschiedlichen Stimmungslagen, in denen sich jemand befinden kann – tritt uns, wenn wir uns auf das direkt beobachtbare Äußere beschränken, nicht als ein kontinuierlich Gleicher entgegen. Dem All-ein(s)-Sein und Sich-wie-ein-Individuum-Fühlen steht die Erfahrung gegenüber, zugleich viele und ganz unterschiedliche und sogar gegensätzliche sein zu können. Diese Koexistenz von einzigartig und vielfach scheint konstitutiv für die menschliche Selbsterfahrung und damit ein grundlegender Aspekt der seelischen Anthropologie zu sein. Man findet also stets »gemischte Lagen« vor. Durch die Gestalt eines konkreten Einzelnen begegnen wir zugleich verschiedenen Einzelnen dieses Einzelnen. Das klingt paradoxer, als es sich in der jeweiligen Erfahrungswirklichkeit darstellt. Man könnte das Spezifische dieses Mischverhältnisses so beschreiben: Der Mensch fühlt, denkt und handelt stets als ein kollektiver Singular. Wir bekommen es also kaum je bloß mit einem Einzelnen zu tun, den wir mit seiner physischen Erscheinung gleichsetzen, wenn wir uns mit einem Menschen auseinandersetzen. Dieses wesentliche Strukturmerkmal wurde – lange bevor es therapeutisch oder beraterisch © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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nutzbar gemacht worden ist – in Literatur und Philosophie behandelt und beschrieben. Besonders innerhalb der sogenannten Schwarzen Romantik, einer Kulturepoche zu Beginn des 19. Jahrhunderts, sind viele Erkenntnisse der späteren Psychologie und Psychotherapie poetisch vorweggenommen worden (Stölzel, S., 2013). Darunter Einsichten über den inneren Aufbau des Menschen, seine verleugneten, abgespaltenen, seine »dunklen« Seiten, die sich zu machtvollen, autonom handelnden Teilpersönlichkeiten konturieren und, werden sie nicht ausreichend geachtet, die Steuerung der ganzen Person übernehmen und diese nicht selten in destruktive Bahnen lenken können. In dem Roman »Die Elixiere des Teufels« von E. T. A. Hoffmann (1961) wird der ehemalige Mönch Medardus in eine Irrenanstalt eingewiesen. Dort, im sogenannten Narrenturm, begegnet ihm sein ständiger Verfolger. Es ist ein vertrautes Wesen, ein Teil von ihm selbst, der sich da bemerkbar macht: sein Doppelgänger. Die sprichwörtliche Begegnung mit dem eigenen Doppelgänger bildet eines der Schlüsselmotive der Schwarzen Romantik. Das Motiv selbst ist weit älter. Es begegnet bereits in verschiedenen Mythologien, zum Beispiel in der Figur des Folgegeistes: »Danach gibt es den Menschen einmal so, wie er sichtbar leibt und lebt, außerdem aber noch einmal, und so ist er eigentlich. Dieser Eigentliche geht aber immer hinter dem Unmittelbaren her; darum heißt er der Folgegeist« (Guardini, 1960, S. 12). Dass die »Eigentlichen« im Verhältnis zu den »Unmittelbaren« verschiedene metaphorische Beschreibungen oder spezielle Benennungen erhalten haben, die überdies anklingen lassen, dass oft von mehr als bloß einem Doppelgänger ausgegangen wird, zeigt folgende Auswahl an Beispielen solcher Benennungen aus Philosophie, Literatur, Psychologie und Psychotherapie: –– »der Wagenlenker« (Platon); –– »Redenführer im Inneren« (Epiktet); –– »was ich […] sagen und als Fundament gebrauchen möchte: nämlich unsere Seele als eine Burg zu betrachten, die ganz aus einem Diamant oder einem sehr klaren Kristall besteht und in der es viele Gemächer gibt« (Teresa von Avila); –– »Wir sind alle aus Flicken und Fetzen und so kunterbunt unförmlich zusammengestückt, daß jeder Lappen jeden Augenblick sein eigenes Spiel treibt« (Michel de Montaigne); –– »Ich – ein Bündel geistiger Episoden« (David Hume); © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
»Das Wir in mir« – Potenziale der philosophischen Intravision
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–– »die Regierung meiner selbst« (Immanuel Kant); –– »mein seelisches Ober- und Unterhaus« (Georg Christoph Lichtenberg); –– »Jeder Mensch ist eine kleine Gesellschaft« (Novalis); –– »der Doppelgänger« (Fjodor M. Dostojewski); –– »Dr. Jekyll und Mr. Hyde« (Robert Louis Stevenson); –– »das Über-Ich« (Sigmund Freud); –– »der stille Teilhaber« (»the secret sharer«) (Joseph Conrad); –– »das Kern-Selbst« (Paul Federn); –– »das Es« (Georg Groddeck); –– »Ich entsteht aus mir« (Paul Valéry); –– »Ich als logischer Eigenname des Selbst« (Bertrand Russell); –– »der Schatten; fragmentarische Persönlichkeiten« (Carl Gustav Jung); –– »internalisierte Objekte« (Melanie Klein); –– »Introjekte« (Fritz und Lore Perls); –– »daß etwas beständig in uns spricht. Es sind die Stimmen der Teilpersönlichkeiten […], die ein nie verstummendes inneres Geschwätz erzeugen« (Roberto Assagioli); –– »der Andere« (Julien Green); –– »das Wir in mir« (Nathalie Sarraute); –– »Er hatte sich die sokratische Maxime des «Erkenne dich selbst!» zu eigen gemacht, und seitdem klatschte er mit sich selber über sich selbst. Jeder Mensch seine eigene Kleinstadt« (Hans Kudszus); –– »der Einzelne als Öko-System« (Gregory Bateson); –– »Ura und Basu« (Arthur Koestler); –– »das Theaterensemble in mir« (Elias Canetti); –– »das ist die Person, die wir durch die Arbeit an der Sprache hervorrufen, und die wieder verschwindet, sobald wir von unserem Tisch aufstehen« (Maurice Merleau-Ponty); –– »mein Freund Harvey« (Mary Chase); –– »Kind-Ich, Eltern-Ich, Erwachsenen-Ich« (Eric Berne); –– »Es ist natürlich immer der Körper, der die Bücher schreibt« (Claude Simon); –– »Wenn ich meine Angst und mich zusammen nehme, kann ich den Pluralis majestatis anwenden« (Ilse Aichinger); –– »Exerzitien des Selbst« (Pierre Hadot); –– »meine vielen Gesichter« (Virginia Satir); © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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–– »Ego-States« (Ich-Zustände) (John G. Watkins und Helen H. Watkins); –– »Technologien des Selbst« (Michel Foucault); –– »Jeder von uns ist eine Menschenmenge« (Piero Ferrucci); –– »Anteilspsychologie, Selbstmodelle« (Helm Stierlin); –– »Schatten-Ich« (Dieter Wellershoff); –– »die multiplen Wesen in mir« (Christa Wolf); –– »Wann immer zwei Teile im Konflikt miteinander liegen, tritt der Meta-Teil in Aktion« (Richard Bandler und John Grinder); –– »die innere Familie« (Richard C. Schwartz); –– »Jeder Mensch ist eine Beziehung zwischen Selbsten« (Stephen Gilligan); –– »das innere Team« (Friedemann Schulz von Thun); –– »die inneren Familienkonferenzen« (Gunther Schmidt); –– »Namen-Therapie ist eine Methode […] bei der Du eine aktive Rolle spielst, den verschiedenen Teilen Deines Selbst Namen und wirklichen Ausdruck zu geben« (Bruce Derman); –– »der innere Schweinehund« (Asfa-Wossen Asserate); –– »der innere Manager« (Tom und Lauri Holmes); –– »Selbst, Subselbste, Selbst-Familie« (Jochen Peichl); –– »Voice-Dialogue« (Hal und Sidra Stone); –– »Innenpolitik des Selbst, innere pólis des Selbst« (Wilhelm Schmid); –– »Selbst in Führung« (Ingeborg und Thomas Dietz); –– »Bewusstsein ist Zusammenschau« (Thomas Metzinger); –– »Kopfbewohner« (Mary Goulding); –– »Teilearbeit« (Peter Uwe Hesse); –– »Selbstanteil« (Kai Fritzsche und Woltemade Hartmann). Neben spezifischen Namen sind auch allgemeiner gehaltene im Umlauf, wie zum Beispiel Seiten von mir, Anteile meiner selbst, Teilpersönlichkeiten, Wesenszüge, Stimmen, Unter-Ichs, alter Egos, Doubles oder bestimmte Aspekte von mir. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts haben Schriftsteller wie Arthur Schnitzler oder James Joyce versucht, in der literarischen Form des inneren Monologs (der natürlich wenigstens ein Dialog, oft aber ein Polylog ist), alltägliche Bewusstseinsprozesse als ein oft subtil geführtes Selbstgespräch mit vielen Stimmen darzustellen. In dem berühmten Schlusskapitel von Joyce’ »Ulysses« etwa wird auf 75 Seiten das allmählich in den Schlaf übergehende Bewusstsein © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
»Das Wir in mir« – Potenziale der philosophischen Intravision
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einer Frau als innerer Kanon von vielstimmigen (Selbst-)Einredungen nachgezeichnet. Um das endlos wirkende, offen assoziierte und immer wieder neu einsetzende Selbstgespräch möglichst erfahrungsnah zu vermitteln, hat der Autor in acht Sätzen bis zu 25.000 Worte interpunktionslos aneinandergereiht. Wer mit den verschiedenen Formen der Teilearbeit beruflich umgeht oder umgehen möchte, dem sei die Lektüre dieses Textes nachdrücklich empfohlen.55 Die Methode der philosophischen Intravision erweitert die Prozesserfahrungen, die innerhalb der sogenannten Teilearbeit oder Ego-StateTherapie gewonnen worden sind, ins Philosophische. Das heißt: Die auf diesem Wege gewonnenen Selbsterfahrungen werden durch Befragungsformen und Metaperspektiven angereichert, die den Fokus therapeutischer oder beraterischer Haltung vergrößern. Dadurch können die besonderen Perspektiven, welche gerade diese »Innenansichten« gewähren, differenzierter betrachtet und das jeweilige Thema wirkungsvoller bearbeitet werden. Darüber hinaus eignet sich diese Methode gut für eine Selbstsupervision. In dieser wie in jener Form kann der Einzelne sein inneres (Er-)Leben als eine Form der »geselligen Vernunft« (Gottfried E. Lessing) betrachten und dem »inneren Bühnengeschehen« folgen, das sich ihm vom heilsamen Abstand eines philosophischen Logenplatzes aus darbietet und in dem er, wie im Traum, alles in einem ist (Regisseur, Drehbuchautor, sämtliche Personen, Kulisse, Atmosphäre etc. – und eben auch sein eigener Zuschauer). Dabei kommen verschiedene Okulare zur Anwendung. Als Einstieg in diese Methode schlage ich folgende Übung vor.
Philosophische Intravision Ein berufliches und/oder persönliches Thema, das einen zurzeit beschäftigt (und für das noch keine gute Lösung oder Klärung gefunden worden ist), dient als Ausgangspunkt. Man wählt drei bis vier innere Stimmen, Anteile, Seiten aus (also konturierbare Teilaspekte der eigenen Person) und charakterisiert diese (der besseren Vorstellung wie der 55 Formal innovative Autoren, wie William Faulkner und Virginia Woolf, haben in manchen ihrer Romane dramaturgisch Ensembles miteinander redender und ringender Ich-Stimmen dargestellt oder die Handlung ausschließlich aus den inneren Gesprächen der Personen erzählt (vgl. hierzu vor allem Faulkner, 2012; Woolf, 1989). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
60 Erstes Methodenporträt imaginativen Einstimmung wegen) nach Kriterien wie Alter, Geschlecht, (typische) Namen, Aussehen, Körperhaltung, Mimik, Intention, Charakter usw.56 Man fragt sich, seit wann »diese« oder »dieser« innerlich bereits dabei ist und erstellt auf diese Weise die dramatis personae, wie man sie oft auch zu Beginn des Textes eines Theaterstücks findet. Dann beginnt der Dialog, der schriftlich durchgeführt und wenigstens fünf bis sieben Seiten oder mehr umfassen sollte, um eine gewisse Dynamik abbilden zu können. Dadurch kann der innere Dialog, der sich sonst zumeist in Form von Selbstbefragens- und Selbstberatungsprozessen vollzieht (die Autorin Nathalie Sarraute spricht hier von dem »wir in mir«), zu einem äußeren Dialog werden. Die bewusste Verselbständigung und damit Verfremdung durch die zugleich inszenierten wie echten »Personen« eröffnet neue Perspektiven und Reflexionsmöglichkeiten. Es ist sinnvoll (am besten einige Tage nach der Niederschrift), den Dialog philosophisch zu betrachten und einen Kommentar hierzu abzufassen, der unter anderem bestimmten Leitfragen bzw. Okularen nachgeht, wie zum Beispiel: –– Wie ist die anteilige Gewichtung der »Personen« im Prozess des Dialogs (kommunikativer Fokus)? –– Wie ist die Auswahl der einzelnen »Personen«? Welche Beiträge von wem regen wen wozu an (interaktioneller Fokus)? –– Welche sprachlichen Mittel werden hierbei verwendet (linguistischer Fokus)? –– Wie sieht in der jetzigen Reflexion der Kommentator das ganze Geschehen (prozessualer und temporaler Fokus)? Nach einer gewissen Methodenpraxis sollten die verschiedenen Fokusse bzw. Okulare als eigene »Beobachtungspersonen« mit spezifischen Interaktionsweisen und Interessen betrachtet werden (Welche Sicht drängt sich stets nach vorne? Welche hält sich zurück? Welche bleibt ambivalent?). Diese weitere Metaperspektive wirkt nicht nur anti-chronifizierend, sie bringt auch das Eigentümliche und Selbstbezügliche dieses anthropologischen Zugangs zu Bewusstsein. Sie können diese selbstbezügliche Rahmung auch erweitern. Betrachten und beobachten Sie – von der intensiven und aussagekräftigen Signalfläche des Gesichtes zur ganzen Erscheinung übergehend – andere Men56 Vgl. hierzu die Liste, die Kai Fritzsche erstellt hat (Fritzsche, 2013, S. 65). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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schen im Hinblick darauf, welche inneren Dialoge gerade, welche wohl häufiger, welche wohl permanent in ihnen geführt werden. Ja, wie sich das »Innere« einer Person äußerlich widerspiegelt. Beachten Sie, was sich an Ihrem Blick auf einen anderen Menschen ändert, wenn Sie ihn auf diese Weise betrachten. Neben der konkreten, mit einer kleineren Gruppe »innerer Figuren« durchgeführter Themenberatung erweisen sich folgende Zugänge als hilfreich: –– Aus wie vielen inneren »Personen«57 besteht das individuelle System einer sogenannten Einzelperson? Wer ist davon gerade »in Ferien«, in »Pension geschickt« worden oder gar »gestorben« und wie wird seiner gedacht? (Diese Perspektive lässt sich sehr gut auf Organisationen und Unternehmen übertragen.) –– Welche inneren Szenarien (wie Kooperationen, Wirrwarr, Patt, Flaute, »Bürgerkrieg«, Frontstellungen, »Marktplatzgebrüll«, Versöhnung, Verleumdung, Beschwichtigung, »Diadochenkämpfe«) sind themenübergreifend bemerkbar? –– Inwieweit ist es sinnvoll, von einem »Kern-Selbst« oder einem »Bewusstseinspräsidenten« auszugehen? –– Welche Wertvorstellungen, Denkhaltungen, Glaubenssätze usw. werden themenübergreifend von den jeweiligen inneren »Personen« verlautbart? –– Inwieweit dienen diese verschiedenen inneren Dialoge der Vor- oder Nachbearbeitung von »äußeren« Gesprächen? Inwieweit – sozusagen als Parallelgeschehen – begleiten und kommentieren sie »innerlich«, was »äußerlich« miteinander kommuniziert wird?
Um es zugespitzt zu sagen: Selbstgespräch ist immer leise oder laut (Tinnitus), unterstützend, störend, aufmerksam machend, Stimmungen mit hervorbringend, Einfälle gebend, Lösungen verweigernd etc. Wer eigene Kinder hat oder die »Zivilisierung« solcher Weltneulinge genauer miterleben konnte, hat den Prozess des allmählichen Stummwerdens58 eines anfänglich noch lauten inneren Redens mitverfolgen 57 Vgl. hierzu die Ego-States oder Ich-Zustände des Kaisers Hadrian, die Marguerite Yourcenar beschreibt (Yourcenar, 1999, S. 69 ff.). 58 Nicht wenige fühlen sich merkwürdig berührt bis befremdet, wenn sie zum ersten Mal ihre Stimme, gespiegelt durch einen Tonträger, vernehmen. Man könnte hier fast von einem »Eigenstimm-Erschrecken« sprechen. Als sei es ein anderer, den © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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können. Diese Form der Selbstbeziehung scheint – anthropologisch gesehen – etwas Konstitutives zu sein. Ich werde in dem Kapitel, das der Selbst- und Fremdbeziehung gewidmet ist (vgl. Drittes Methodenporträt), diese Grundgegebenheit noch genauer beleuchten. An dieser Stelle möchte ich jedoch festhalten: Der Mensch kann als ein Bewohner zweier Dialogwelten beschrieben werden: einer zwischenmenschlichen und einer innermenschlichen. Während die zwischenmenschliche Dialogwelt nicht nur die Grundlage von Therapie und Beratung bildet, sondern des geselligen Lebens überhaupt, bekam und bekommt die innermenschliche59 oft nicht die Aufmerksamkeit, die sie verdient, obwohl – wie das die Arbeit mit den inneren »Personen« zeigt – dies nicht nur für die Betroffenen aufschlussreich sein kann. Als ein Bewohner zweier Welten führt der Mensch zugleich ein äußeres und ein inneres Leben. Es mag gerade für unsere Zeit bezeichnend sein, dass ein Wort wie inwendig, das sich früher eines regen Gebrauches erfreute, heute nahezu vergessen ist und kaum noch verwandt wird. Anders sieht es mit dem Wort auswendig aus, mit dem man es spätestens in der Schule zu tun bekam. Ähnliches gilt für die Äußerung im Unterschied zur Innerung, die bei der Erinnerung noch mit anklingt. Die Arbeit mit der Methode der philosophischen Intravision kann eindrücklich aufzeigen, wie die Innerungen mit den Äußerungen eines Menschen zusammenhängen. Bei einem Wesen, das sich gleichermaßen nach innen wie nach außen wenden kann, bildet daher das Gegensätzliche, Widersprüchliche und Spannungsvolle im Menschen einen wesentlichen Aspekt einer reflektierten Anthropologie. Bevor ich noch auf eine Haltung gegenüber der inneren Dynamik des Menschen zu sprechen komme, sei an dieser Stelle ein Exkurs eingeschaltet.
sie da zu hören bekommen: »Was, so klingt meine Stimme von außen? So hören mich andere Menschen, mit denen ich spreche? Wo es doch innerlich ganz anders klingt!« 59 Die Autorin Virginia Woolf spricht im übertragenen Sinne von »Room of one’s own« (»Ein Zimmer für sich allein«), das es einzunehmen und zu pflegen gelte (Woolf, 1981). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
Exkurs: Authentisch (sein) – wie geht das?
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Exkurs: Authentisch (sein) – wie geht das? Der Begriff der sogenannten Authentizität hat in den letzten Jahren (nicht allein in Therapeuten- und Beraterkreisen) geradezu Karriere gemacht. Es scheint mir daher angezeigt (in einem Zusammenhang, in dem über die »Natur des Menschen« nachgedacht wird), einen untersuchenden Blick auf diesen viel verwendeten Begriff zu werfen, um herauszufinden, was damit gesagt und was damit stillschweigend vorausgesetzt wird. Die sprachlichen Wurzeln dieses Begriffs liegen wieder einmal im Griechischen; die heutigen Formen leiten sich von αύθεντικός (zuverlässig, sicher, verbürgt) und von αύθεντία (Echtheit, Glaubwürdigkeit) her. Am häufigsten ist heutzutage der adjektivische – authentisch – oder der substantivische – Authentizität – Gebrauch. Die Verbalformen – authentifizieren (beglaubigen, die Echtheit bezeugen) oder authentisieren bzw. autorisieren (glaubwürdig machen) – werden erkennbar seltener verwandt. Von den antiken Verwendungsweisen, bei denen der Begriff zum Beispiel für: mit eigener Hand vollbracht, stand, oder den mittelalterlichen, bei denen er beispielsweise das Gütesiegel einer beglaubigten Handschrift bezeichnete, haben sich die modernen deutlich ins Philosophische und Psychologische (Subjektivitätstheorien) verschoben, vergleiche zum Beispiel authentischer Charakter oder authentische Empfindung mit den zuvor genannten Beispielen. In jüngerer Zeit ist eine Gebrauchstendenz zum »Plastikwort« (Pörksen, 1988) erkennbar. Das bedeutet: Allein durch die Verwendung erhält das Wort ein selbstreferenzielles Gewicht, vergleiche authentisches Management oder authentischer Führungsstil; authentisch wird so zu einer Selbstverstärkungschiffre, genauer zu seinem sich selbst bestätigendem »Gütesiegel« und scheint sich als Beschreibungs- und Qualitätskriterium menschlicher Verhaltensweisen zu bewähren. Doch inwieweit ist das, was das Wort authentisch bezeichnet, überhaupt einlösbar? Bevor ich Sie zu einer Übung einladen möchte, durch die Sie die Einlösbarkeit am eigenen Erleben überprüfen können, möchte ich Ihnen eine konturierte Position zu dieser Frage vorstellen. In seiner frühen, phänomenologisch orientierten Philosophie beschäftigt sich Jean-Paul Sartre genauer mit dem Phänomen vermeintlicher Authentizität. In einem Tagebuchheft, in dem er wichtige Aspekte seines philosophischen Hauptwerks »Das Sein und das Nichts« © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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durchdenkt, notiert er die Einschätzung: »Es stimmt, ich bin nicht authentisch. Bei allem, was ich fühle, weiß ich, noch bevor ich fühle, daß ich es fühle. Und dann fühle ich es nur noch halb, vollauf damit beschäftigt, es zu definieren und zu denken […] und dann lege ich es in Wörtern dar, ich drücke ein bißchen hier, übertreibe ein bißchen dort, und schon ist ein vorbildliches Gefühl konstruiert« (Sartre, 1984, S. 93).
Wie echt bin ich, verhalte ich mich? Nutzen Sie die nachfolgenden Fragen als klärende Sonden, mit Hilfe derer Sie Ihre Erfahrungen erkunden und Ihr Vorverständnis überprüfen: –– Ist Authentizität erreichbar? Und wenn ja, auf welche Weise? –– Woran erkenne ich, dass ich jetzt authentisch bin bzw. mich verhalte? Woran erkennen es andere? –– Wenn ich mir das aktuelle »Wir in mir« vergegenwärtige, welcher IchAnteil oder Ego-State kommt mir dann besonders authentisch vor und wie würde ich diesen beschreiben? –– Wenn ich oder andere bemerken, dass ich jetzt ganz echt bin – welche Auswirkungen hat das? Werde ich dann mehr oder weniger echt? –– Angenommen: Echtsein könnte überzeugend und glaubwürdig vermittelt werden, wie wäre diese vorgetäuschte Echtheit von echter Echtheit zu unterscheiden? –– Bildet Authentizität bzw. authentisches Verhalten so etwas wie den »Kern« meiner Identität? –– Gibt es Kriterien, anhand derer ich zuverlässig entscheiden kann, ob sich jemand echt oder unecht verhält? Und welche könnten das sein? –– Verhalten sich Kinder authentischer als Erwachsene? Und wenn ja, bis zu welchem Alter? –– Ist mein eigenes Authentischsein die echteste Rolle, über die ich verfüge?
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Die Wissenschaft vom Menschen
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Die Wissenschaft vom Menschen La vraie science et la vraie étude de l’homme, c’est l’homme. Blaise Pascal Die Widersprüchlichkeit wie die Vielschichtigkeit des Menschen zeigt sich nicht zuletzt in der Vielzahl der unterschiedlichen Antworten und Bestimmungsversuche (vgl. Buer u. Schmidt-Lellek, 2008, S. 34 f.), die auf die anthropologische Urfrage gegeben wurde: Was ist es (welche Eigenschaften sind es), die den Menschen überhaupt erst zum Menschen machen? Auf den Umstand, »dass ein Mensch […] komplizierter – unendlich komplizierter – als sein Denken« sei (Valéry zit. nach Stölzel, 2011, S. 61), hat Paul Valéry nachdrücklich hingewiesen. Ein Autor, der sich intensiv mit dem Besonderen des menschlichen Potenzials beschäftigt hat. In der Tat, eine Gesamtansicht der Gattung zu erreichen, der der Mensch selbst angehört, erscheint fraglich. Denn, so Valéry, »der Mensch selbst sieht sich nur in und durch Vereinfachungen« (S. 61). Seit der frühen Definition des Aristoteles, nach welcher der Mensch ein »gemeinschaftsfähiges und vernunftbegabtes Lebewesen« (zóon politikón kai lógon échon) sei, hat es vor allem in neuerer Zeit eine große Anzahl von Charakterisierungen dieses Lebewesens gegeben, dieses Tieres mit besonderen Eigenschaften, etwa denen eines animal symbolicums (Ernst Cassierer) oder eines animal laborans (Hannah Arendt). Doch bilden Symbolisierungs- und Arbeitsfähigkeit nicht die alleinigen Kriterien. Unter dem lateinischen Bezugswort homo wurde der Mensch genauer zu bestimmen versucht: als homo sapiens (Carl von Linné), homo ludens (Johann Huizinga), homo clausus (Norbert Elias), homo sexualis (Sigmund Freud), homo existentialis (Ludwig Binswanger), homo patiens (Heinrich Schipperges), homo compensator (Odo Marquard). Diesen Sichtweisen gesellten sich weitere Perspektiven hinzu, wie auf den hoffenden (Ernst Bloch), den lachenden und weinenden (Helmuth Plessner), den Sprache habenden (Martin Heidegger), den eindimensionalen (Herbert Marcuse), den vorprogrammierten (Irenäus Eibl-Eibesfeldt), den sich schämenden (Hans Peter Dürr), den personenhaften (Robert Spaemann), den flexiblen (Richard Sennett) und den verwalteten Menschen (Irmé © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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Kertész). Dass es sich bei dieser Aufzählung nur um eine Auswahl60 handelt, versteht sich.
Wesenszuschreibungen Überprüfen Sie: Welche der hier beispielhaft aufgelisteten Charakteristika sind für Ihr Verständnis vom Menschen und für Ihre therapeutische oder beraterische Arbeit relevant? Welche würden Sie noch ergänzen? Welche bleiben eher implizit oder durch die Art und Weise, wie Sie den professionellen Kontakt gestalten, wirksam? Wie stehen Sie zu folgender These: Der Mensch ist für sich das naheliegendste und zugleich unbegreiflichste Wesen, mit dem er es zu tun bekommen kann? Teilen Sie die Auffassung von Emmanuel Lévinas: »Einem Menschen begegnen heißt, von einem Rätsel wachgehalten werden«? Das Angebot, das eine philosophisch-anthropologische Perspektive eröffnet, besteht in der Einladung, das professionell eingeübte Menschenverständnis um grundlegende Aspekte zu erweitern. Dass sich damit ein »weites Feld« auftut, liegt in der Natur der Sache. Die Größe des Themas bietet jedoch den Vorteil, sich in der Weise oder von der Seite annähern zu können, die den eigenen Bedürfnissen am meisten entspricht. Dadurch gestaltet sich der Zugang zu diesem großen Thema übersichtlicher. Als nützlich erweist es sich beispielsweise von Ihren jeweiligen konkreten Erfahrungen ausgehend, allgemeinere Fragen zu stellen. Sie erweitern damit auf eine für Sie stimmige Weise Ihren professionellen (und auch persönlichen) Horizont. Sie erforschen die Fundamente, auf denen sich Ihr therapeutisches oder beraterisches Handeln gründet. Das können Fragen folgender Art sein: –– Was erscheint mir am Verhalten eines Menschen als besonders sicher? –– Womit, glaube ich, am meisten rechnen zu können? –– Was fällt mir als Erstes ein, wenn ich an »den« Menschen (also all diejenigen, die ich kennengelernt habe, wie auch mich selbst) denke? Erweitern Sie diese heuristischen Fragen um solche, die Sie zurzeit stark beschäftigen. 60 Ich folge hier weitgehend einer Zusammenstellung, die Gerhard Art gegeben hat (Arlt, 2001, S. 5) © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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Sollten Sie an solchen Überlegungen Gefallen finden und eine Möglichkeit sehen, sie auf eine weiterführende Art in Ihre Arbeit einzubringen, dann schließen Sie sich auf Ihre Weise »einem kontinuierlichen Strom anthropologischer Reflexion« an, von dem Hans Peter Balmer in seiner »Philosophie der menschlichen Dinge« (Balmer, 1981, S. 12) spricht. Die philosophische Tradition der Anthropologie und Psychologie wird unter dem Namen Moralistik zusammengefasst. Dieser Begriff kann vor allem im deutschen Sprachraum zu Fehleinschätzungen führen, der Vorstellung etwa, man sehe sich hier Morallehren oder gar einer »moralinsauren Haltung« gegenüber. Das Gegenteil ist der Fall. Moralistische Autoren (von Montaigne bis Cioran) untersuchen das tatsächliche Verhalten der Menschen, nicht ein vorgegebenes, an einer idealisierten Anthropologie ausgerichtetes. Sie wirken dadurch als philosophische Ethologen, was auch der lateinischen Grundbedeutung des Wortes Moral, nämlich den mores, den Verhaltensweisen, den Sitten direkt entspricht. Moralistische Autoren standen deswegen – im Unterschied zu Philosophen, die klare Weltanschauungen oder stabile Sinnbotschaften verkündigten – oft weniger im Vordergrund. Ihre Beobachtungen über den Menschen, die sie zumeist stilbewusst in antisystematischen Textformen, wie dem Aphorismus oder dem Essay vortrugen, fielen nicht selten ernüchternd oder entlarvend aus, dabei aber auch auf heilsame Weise desillusionierend. Spätere Psychologen haben (ohne groß darauf zu verweisen) sich ihrer anthropologischen Einsichten bedient. Was diese durchaus unterschiedlichen Autoren61 verbindet, ist das Bestreben angemessen, das heißt menschlich, über den Menschen und menschliches Verhalten zu reden; dabei das Allzumenschliche stets mitbedenkend. Sie wurden daher zu Recht als »Menschenwissenschaftler« (vgl. den franz. Ausdruck science de l’homme) verstanden. Die Einsichten, die sie aus dieser umfassenden Perspektive für die moderne Men61 Zu dieser durchaus heterogenen Gruppe können zum Beispiel philosophische Ethologen wie Montaigne, Gracian, La Rochefoucauld, Pascal, La Bruyère, Galiani, Vauvenargues, Montesquieu, Rivarol, Lichtenberg, Chamfort, Schopenhauer, Leopardi, Ebner-Eschenbach, Joubert, Nietzsche, Valéry, Canetti, Cioran und Gross gerechnet werden. Trotz der Unterschiede der Epoche, der Sprache, des Temperaments zwischen den einzelnen Autoren gilt auch hier, was Elias Canetti über eine Gruppe von gattungsverwandten Schriftstellern gesagt hat: »Die großen Aphoristiker lesen sich so, als ob sie alle einander gut gekannt hätten« (Canetti, 1982, S. 49). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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schenkunde gewannen, werden auch von manchen heutigen Psychiatern durchaus anerkannt, die zu der Einschätzung gelangen: »Man kann sogar sagen, dass bei den Moralisten die menschlichen Motivationen oft umfassender und gründlicher geklärt sind als bei vielen Psychoanalytikern« (Rattner u. Danzer, 2006, S. 7). Der Grund, warum ich die Moralistik an dieser Stelle und in einem Buch, das sich vornehmlich an »Praktiker des Menschenverstehens« wendet, aufgenommen habe, liegt darin, dass ich für eine bestimmte Haltung werben und für ein entsprechendes Bewusstsein sensibilisieren möchte. Diese beziehen sich auf Folgendes: Unabhängig davon, aus welcher therapeutischen oder beraterischen Richtung Sie kommen, unabhängig davon, mit welchen Methoden oder in welchen Settings Sie arbeiten, unabhängig davon, ob sich diejenigen, die sich an Sie wenden, nun als Patienten, Klienten, Kunden oder Besucher (Stölzel, 2009a, S. 93 f.) verstehen oder von Ihnen verstanden werden und unabhängig davon, welches Thema oder Anliegen diese einbringen und auf welche Ziele oder Lösungen Sie ausgerichtet sind – Sie sollten sich immer wieder neu (so, als hörten Sie zum ersten Mal davon) die Frage nach dem Menschen, genauer nach Ihren Vorstellungen von der Eigenart des Menschen stellen und sich klarmachen: Was bedeutet es für mich, auf eine menschliche Weise mit meinesgleichen umzugehen? –– Welche Art der Zusammenschau (unterschiedlicher Perspektiven) ist nötig, um den anderen möglichst umfassend und zutreffend wahrnehmen zu können? –– Welche meiner professionellen Perspektiven stehen mir dabei möglicherweise im Wege? –– Welche erweisen sich als nützlich? –– Was im Wahrnehmen- und Verstehenkönnen des anderen erscheint mir besonders wichtig? Der Begriff »Menschenwissenschaft« oder »Wissenschaft vom Menschen«62 mag manchem als zu groß oder zu generalistisch erscheinen. In der Tat kann man konstatieren: Was müsste ich alles wissen und können, um einen so umfassenden Blick überhaupt einnehmen zu 62 Es geht hierbei um ganz grundsätzliche und eben nicht fachwissenschaftlich eingefriedete Perspektiven, um »das Verstehen eines Menschen überhaupt« (Sonnemann, 2011, S. 493) sowie um die Voraussetzungen, die es für einen derart integralen Zugang zu beachten gilt. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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können? Müsste ich nicht wenigstens zugleich Biologe, Mediziner, Psychologe, Soziologe, Jurist, Historiker, Linguist, Pädagoge usw. in einem sein? Bereits der fortgesetzte Versuch eines solch umfassenden Blicks vergrößert, vertieft und verfeinert das, was sich diesem jeweils zeigt.
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Zweites Methodenporträt: Zwischen Lebens- und Meinungsgeschichten (Epistemologische Biographie)
Wie die Milchzähne gibt es auch Milchideen. In welchem Alter ersetzen wir sie allmählich? Nicolás Gómez Dávila
Der Mensch als ein animal fabulator Unabhängig von Alter, Geschlecht, kulturellen Einflüssen oder sozialer Situation vollzieht sich menschliches Leben meiner Beobachtung nach auf drei grundsätzlichen Ebenen, die vielfach und vielfältig miteinander verbunden sind: 1. einer vegetativen, 2. einer situativen, 3. einer narrativen. Während die vegetative Ebene das zumeist unbewusste, unwillkürliche Körpergeschehen (wie Atmung, Stoffwechsel, physiologische Prozesse etc.) umfasst, das sich oft am Rande des Gewahrseins abspielt und sich im einzelnen Menschen ereignet, verknüpft die situative Ebene dieses innere Erleben potenziell mit allem, was außer dem jeweiligen Einzelnen noch vorhanden ist. Dass der Mensch vornehmlich als ein Beziehungswesen erscheint, das durch komplexe Interaktionsprozesse mit seiner jeweiligen Umwelt verbunden ist, ist nicht zuletzt anhand verschiedener biokybernetischer und systemischer Perspektiven aufgezeigt worden. Diese Beobachtung wurde in dem metakommunikativen Axiom »Man kann nicht nicht kommunizieren« radikalisiert.63 63 Und dogmatisiert, wie Wolfram Lutterer innerhalb seiner groß angelegten Bate© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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Die narrative Ebene schließlich umfasst all das, was die Grundlage jeglicher sprachlicher Kommunikation und des damit verbundenen sozialen Verhaltens bildet: die Möglichkeit, etwas erzählen zu können. Diese Möglichkeit macht den Menschen unabhängig davon, als was er sich selbst oder als was ihn andere sehen, unabhängig davon, was er tun oder unterlassen mag, zu einem Geschichtenerzähler. Menschliches Leben kann daher als ein Sein in Geschichten beschrieben werden. Das beginnt beispielsweise bei den jeweiligen – bewussten oder unbewussten – Theoriegeschichten, mit Hilfe derer sich jemand zu orientieren und sein Welterleben zu verstehen versucht und die im Laufe eines Lebens vielfach erweitert, umgeschrieben bzw. aktualisiert werden. Das zeigt sich weiterhin in den jeweiligen Lebensalltagen, zum Beispiel beim Kennenlernen neuer Menschen und damit neuer Geschichten wie auch im Pflegen von Freundschaften und Beziehungen, die auch wesentlich dadurch fortbestehen und sich entwickeln, dass die gemeinsamen, miteinander verbundenen Lebensgeschichten immer wieder neu erzählt werden. Das zeigt sich auch im dauernden Umgebensein von Kulturgeschichten aller möglichen Arten und Darbietungsweisen (Philosophie, Psychologie, Literatur, Kunst, Musik, Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Wissenschaft, Religion, Historie etc.), denen man sich lesend, hörend, schreibend annähern kann, von denen man sich angezogen oder abgestoßen fühlt, die man in dieser oder jener Form in die eigene Lebensgeschichte einwebt. Leben bedeutet demzufolge: eine – wie auch immer beschaffene – persönliche Geschichte hervorzubringen. »Ein Ganzes«, wie Aristoteles in seiner Poetik, mit der ihm eigenen, nur auf die Struktur blickenden Sprödigkeit sagt, »ist, was Anfang, Mitte und Ende hat. Ein Anfang ist, was selbst nicht mit Notwendigkeit auf etwas anderes folgt, nachdem jedoch natürlicherweise etwas anderes eintritt oder entsteht. Ein Ende ist umgekehrt, was selbst natürlicherweise auf etwas anderes folgt, und zwar notwendigerweise oder in der son-Studie (Lutterer, 2000, S. 277 ff.) aufzeigt. Bateson, so Lutterer, sei anscheinend von Watzlawicks pragmatisierendem Zugriff auf seine (zum Teil mit Jürgen Ruesch) entwickelten Theorien zur menschlichen Kommunikation irritiert gewesen. Zumal sie in dem später als Grundlagenbuch empfundenen Werk »Menschliche Kommunikation« (im Original »Pragmatics of Human Communication«) von Watzlawick, Beavin und Jackson »ohne Quellenangabe als scheinbar eigene Erkenntnisse eingeführt« wurden (S. 277). Vgl. hierzu auch Jürgen Ruesch und Gregory Bateson, »Kommunikation. Die soziale Matrix der Psychiatrie« (1995). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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Regel, während nach ihm nichts anderes mehr eintritt. Eine Mitte ist, was sowohl selbst auf etwas anderes folgt als auch etwas anderes nach sich zieht« (Aristoteles, 1982, S. 25). So gesehen, lebt jeder in einer Ökologie von Geschichten, ja, dem menschlichen Dasein überhaupt eignet eine geschichtenförmige Struktur. Man kann hierbei die (im Deutschen) durch das Lautbild vorhandene assoziative Nähe zwischen einer Geschichte und etwas Geschichtetem mithören bzw. mitdenken.64 Als ein narratives Lebewesen erscheint der Mensch als eine Geschichten vernehmende, Geschichten hervorbringende und die Welt um seine Geschichten bereichernde Person und somit auch als eine Gesamtgeschichte oder ein individueller Lebensroman, bestehend aus vielerlei Subformen wie Glücks- und Unglücksgeschichten, Körper-, Gefühls-, Gedanken-, Begegnungsgeschichten etc. Für manche Menschen bildet auch ihre Krankheitsgeschichte eine wichtige Subform (vgl. Blankenburg, 1989). Man kann die Frage stellen, inwieweit jeder nicht nur seine Geschichte »ist«, sondern überdies noch eine Variante einer bestimmten Grundgeschichte darstellt, wie sie sich bereits vielfach vor ihm ereignet hat und nach ihm ereignen wird, ja, wie viele solcher Grundgeschichten es geben mag.
Eine Geschichte erzählen Sammeln Sie verschiedene Erfahrungen Ihres Lebens. Gruppieren Sie diese nach Rubriken, wie Glücks- oder Unglücksgeschichten, Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht, Schul- und Ausbildungserfahrungen, Familienerfahrungen, Glaubenserfahrungen usw. Wählen Sie sich eine davon aus, die Ihnen besonders naheliegt oder aufschlussreich erscheint. »Steigen« Sie in diese Geschichte zugleich als involvierte Hauptperson wie als »allwissender«, außenstehender Erzähler ein, so, als bereiteten Sie gerade einen persönlich inspirierten Roman mit einem bestimmten Thema oder einer durchgehenden Perspektive vor. Es ist dabei nicht wichtig, dass Sie konkret mit dem Schreiben bzw. dem schriftlichen Erzählen beginnen. Dies können Sie durchaus erst dann tun, wenn Sie entsprechend gestimmt sind und sich Zeit dafür nehmen wollen oder können. Es genügt, 64 Freud spricht in dem Briefwechsel mit seinem Freund Fließ von einer heuristischen Hypothese, von der er ausgeht: »ich arbeite mit der Annahme, daß unser psychischer Mechanismus durch Aufeinanderschichtung entstanden ist« (Freud, 1986, S. 217). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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wenn Sie die jeweilige Geschichte zunächst innerlich so weit vorbereiten, als vergegenwärtigten Sie sich die jeweiligen Umstände, den Verlauf, das Ergebnis usw., bevor Sie diese Geschichte dann einem Freund oder einer Freundin erzählen. Das kann dann auch konkret erfolgen. Es genügt aber, wenn Sie sich einen Menschen Ihres Vertrauens imaginieren, dem oder der Sie diese Geschichte erzählen. Organisieren Sie Ihr Erleben dabei so, dass Sie als Hauptperson diese bestimmte Geschichte erfahren und dass Sie genau wahrnehmen, wie Sie diese Geschichte erzählen. Wechseln Sie dafür die entsprechenden »Rollen« oder Perspektiven mehrfach durch Positionswechsel im Raum, durch Stimmlage, Gestik, Mimik etc. Notieren Sie, was Ihnen dabei aufgefallen ist, inwieweit sich Ihre (Selbst-) Wahrnehmung als narratives Lebewesen dabei verändert hat.
Ich möchte im Hinblick auf die geschichtenförmige Struktur des menschlichen Lebens zwei grundlegende Erscheinungsweisen unterscheiden: 1. die Ereignisbiographie oder äußere Lebensgeschichte; damit ist all das gemeint, von dem Sie beispielsweise in einem tabellarischen Lebenslauf chronologisch berichten: Ihr Herkommen, Ausbildung, Berufsweg, Familienstand etc., zuzüglich zu den Ereignissen, die Sie als wichtig und bestimmend für Ihr früheres wie Ihr gegenwärtiges Leben empfinden, 2. die Denkbiographie oder die innere Lebensgeschichte; damit ist das (oft unbewusste und weniger geordnete) Geflecht von biographisch mitgewachsenen Vorannahmen, Erwartungen, Meinungen, stabilen Überzeugungen, Glaubenssätzen, Denkgewohnheiten, Werten, Setzungen und persönlichen Grundvorstellungen gemeint. Dieses Geflecht betrifft gleichermaßen die gegenwärtigen, als richtig und maßgebend empfundenen Positionen wie die »über Bord geworfenen«, früheren. Von dieser Unterscheidung aus betrachtet, erscheint jeder Mensch als ein doppelter. Als jemand, der Erfahrungen mit der »äußeren« Welt gemacht, und als jemand, der – mit Hilfe »innerer« Werkzeuge – auf das Erfahrene in einer bestimmten Weise reagiert hat. Diese zweite lebensgeschichtliche Perspektive nenne ich epistemologische Biographie. Der aus dem Griechischen kommende Begriff »Epistemologie« bezeichnet nicht nur »die Lehre vom Wissen«, sondern auch das Wissen, wie man mit Wissen umgeht, welcher Status, welche berechtigten Erwartungen, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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welche Möglichkeiten und Grenzen Wissen überhaupt zukommen (vgl. Fünftes Methodenporträt). Unsere Reaktionsweisen auf die Welt sind wesentlich von einem wirklichen oder vermeintlichen Wissen über sie geleitet: von etwas zuvor Erfahrenen, das bearbeitet und damit in einer bestimmten Weise verarbeitet worden ist; das zu etwas Gewusstem geworden ist, welches unser gegenwärtiges Leben und Verhalten entscheidend mitsteuert; das Einfluss darauf hat, wie wir das, was wir erleben, bewerten und einschätzen und was wir damit für unsere Zukunft machen wollen. Da sich professionelle Kommunikationsformen, wie Therapie, Beratung, Coaching und Supervision, narrativ gesehen, als ein Geschichtenerzählen und Geschichtenkommentieren innerhalb von anderen (Meta-)Geschichten vollziehen, kann die Perspektive der epistemologischen Biographie Einblicke in die »Mechanik des persönlichen Weltverstehens« eröffnen, wie sie in dieser Form oftmals nicht zur Sprache bzw. zu Bewusstsein kommen. Das verbessert die therapeutisch-beraterischen Wirkungsmöglichkeiten zum Teil ganz erheblich.
Zweiter Leitbegriff: Biographie Jeder erfindet eine Geschichte, die er für sein Leben hält. Max Frisch Eine Biographie ist nicht allein etwas, das man »hat«; sie ist auch etwas, das man durch verschiedene Formen des erinnernden Erzählens immer wieder neu umformt, modifiziert, variiert, interpretiert, geradezu erschafft. Bereits in antiker griechischer Zeit wurde zwischen der zoe (dem natürlichen Leben) und dem bios (dem reflektierten Leben) unterschieden. Daraus ist der heutige Begriff »Bio-graphie« (»das aufgeschriebene Leben«) hervorgegangen. Dieser wird häufig auch mit dem (nicht aufgeschriebenen) Leben gleichgesetzt. Christian Kupke, der ein differenziertes Biographiekonzept vorlegt hat (Kupke, 2011), geht davon aus, dass die Lebensgeschichte eines Menschen (aufgeschrieben oder nicht) sowohl Resultat seiner Vergangenheit wie seiner Zukunft sei. Für ihn ist »Biographie« ein »selbstreflexiver« und ein »dynamischer Begriff«; ohne »zeitigendes Existieren« könne es »kein erzählendes Erinnern geben«, das gelte gleichermaßen für die »subjektive«, die »intersubjektive« wie die »klinische Biographie« (vgl. Blankenburg, 1989). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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In seinem Theaterstück »Biographie: Ein Spiel« nutzt Max Frisch (1967) den Raum der Bühne, um im »Wechsel von Spiellicht und Arbeitslicht« Varianten zur gezeigten »Realität« zu probieren (S. 111) und die (alte) Frage anschaulich zu machen, inwieweit situative Änderungen den Gesamtverlauf eines Lebens verändern, man seine Vita umschreiben und also auch für frühere Haltungen und Entscheidungen nicht mehr zur Verantwortung65 gezogen werden kann (nicht einmal von sich selbst). Das »Arbeitslicht« kann als Metapher einer reflektierenden Beleuchtung verwendet werden: In welchem Licht sehe ich heute mein früheres Leben? Dieter Thomä überprüft die narrative Empfehlung: »Erzähle dich selbst« (Thomä, 1998), die in Analogie zum delphischen Orakelspruch gebildet worden ist und die Idee variiert, das eigene Leben wie einen Roman zu (er-)leben (Polster, 1987) oder als grundlegenden Bildungsprozess zu verstehen (Bittner, 2011). Vergleiche hierzu die Perspektiven der »Biographiearbeit« und ihr Entwicklungscredo: »Ich bin, was ich werden könnte« (Wais, 1998).
Dieses »Doppelte« eines Menschen zeigt sich, wenn wir jemanden kennenlernen; denn wir erleben ihn als ein vielschichtiges Ineinander von ereignisgeschichtlicher und epistemologischer Biographie. Möchte man dies für die therapeutische und beraterische Arbeit differenzieren, so ergeben sich zwei parallele Kolumnen, so wie in den Titeln von manchen Entwicklungsromanen Leben und Meinungen von handelnden Personen (siehe zum Beispiel »The Life and Opinions of Tristram Shandy« von Laurence Sterne) unterschieden werden. Wenn wir uns in der Folge vornehmlich mit den Meinungen bzw. »Opinions« eines Menschen beschäftigen, dann folgt aus dieser Konzentration auf die epistemologische Biographie nicht, dass die ereignisgeschichtliche Seite oder Kolumne, dass 65 Ein Beispiel aus der jüngeren Zeitgeschichte ist der Fall der zweiten, der »gefälschten« Lebensgeschichte des Hans Schwerte alias Hans Schneider (vgl. Leggewie, 1998), der nach seiner nationalsozialistischen Verstrickung seine Biographie umgeschrieben und sich so eine neue Identität zugelegt hatte. Der seine Frau noch einmal heiratete, seine Kinder adoptierte, noch einmal im selben Fach promovierte, es zu hohem Ansehen (Bundesverdienstkreuz etc.) brachte und sich in seinem »neuen« Auftreten ganz anders als in seinem »ersten Leben« inszenierte. Nach seiner Enttarnung berief er sich darauf, dass die Anschuldigungen Schneider beträfen; er sei jedoch Schwerte. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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das »Life« ausgeblendet oder vergessen würde. Dies wäre schlechterdings auch nicht möglich, da die äußere Lebensgeschichte ja das »Material« für die jeweiligen »Bearbeitungen« bzw. »Verarbeitungen« geliefert hat. Arthur Schopenhauer hat (ausgehend von den biblischen siebzig Lebensjahren) das Verhältnis von »Life and Opinions« chronologisch so bestimmt: Die ersten vierzig Jahre eines Menschenlebens seien so etwas wie der (individuelle) Text, die folgenden dreißig dann der Kommentar zu diesem Text. Welche Bedeutung der Chronologie innerhalb einer epistemologischen Biographie zukommen kann, verdeutlicht Hans Blumenberg in der eher selten gestellten Frage: Seit wann bin ich? »Aufgefordert durch den delphischen Apollo und durch Sokrates, sich selbst zu erkennen, hat man nie recht gewusst, welche Frage damit denn gestellt sei. Was bin ich? Man weiß inzwischen, wie man sich zu helfen hat […]. Demgegenüber ist die Frage Seit wann bin ich? eine eher selten gestellte. Ist es nicht allzu simpel, in seine ›Dokumente‹ zu sehen, wo das Datum steht? Dennoch beginnen Lebensläufe so. […] Seit wann bin ich? Ein Exempel für den Zweifel, ob nicht unsere Erinnerung Verwechslungen unterliegt, das von anderen Gehörte für das zu halten, was wir wirklich aus eigener anschauender Erfahrung besitzen« (Blumenberg, 1988, S. 130).
Der römische Kaiser Marc Aurel beginnt das erste der zwölf Kapitel seiner persönlichen philosophischen Betrachtungen und Beobachtungen der »Wege zu sich selbst« (Marc Aurel, 2003) mit der konzisen Bilanz lebensleitender Orientierungen, die ihm andere vermittelt oder vorgelebt haben und verknüpft so Erfahrung und die Bearbeitung dieser Erfahrung dialogisch. In welcher Weise oder unter welchem Gesichtspunkt Sie sich Ihrem geistigen Leben und Erleben, Ihrem biós theoretikós (wie Aristoteles sagt) auch zuwenden, Sie tun dies zumeist in der Form eines Selbstgesprächs oder einer Selbstbesinnung. Wenn Sie mit der Methode der epistemologischen Biographie arbeiten möchten, so ist es zunächst hilfreich, auf bestimmte Weise »Stoff«66 zu sammeln. 66 Zur Frage der therapeutisch-beraterisch relevanten »Stoffgewinnung« aus biographischen Material vgl. auch das Matrix-Beratungsmodell, das Peter W. Gester entwickelt hat (Gester, 2013). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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Philosophische Miniaturen Verfassen Sie einen kleinen Text (von vielleicht zwei bis drei Seiten Umfang), der – zugleich erzählend und reflektierend – in geraffter Weise persönliche Theoriewerdungsprozesse und Überzeugungsbildungen nachzeichnet, also unter Titeln und Themen steht, wie beispielsweise: –– Da ist mir etwas klar geworden. –– Daran will/werde ich mich künftig halten. –– Das werde ich nicht vergessen. –– Das nehme ich als gegeben hin. –– Das sind wichtige Orientierungsmaßstäbe für mich. Parallel dazu können Sie mit Hilfe heuristischer Fragen die Unter- und Hintergründe eingespielter Denk- und Verhaltensweisen erforschen und dadurch ein reflektierteres Bewusstsein für Ihre persönlichen Lebensfundamente entwickeln. Entwerfen Sie anhand folgender Fragen »innere Landkarten« oder sogenannte Mind-Maps: –– Seit wann und warum/wozu glaube ich das, was mir jetzt fraglos, sicher, verbindlich und handlungsleitend erscheint? –– Auf welche Weise gelange ich zu meinen Urteilen, Haltungen, Meinungen etc.? –– Wie bewusst sind mir meine persönlichen Verarbeitungsweisen? –– Was weiß ich über das Zustandekommen meiner Überzeugungen? –– Von welchen tragenden Ideen, Perspektiven bin ich geleitet? –– Zu welchem Zeitpunkt bzw. unter welchen Umständen setzte ein sogenanntes selbständiges Denken bei mir ein?
Um all dies überhaupt tun zu können, ist es nötig, auf eine Fähigkeit zurückzugreifen, die vielen ähnlich selbstverständlich ist wie das Atmen: auf Ihr Erinnerungsvermögen, also auf das, was Paul Valéry zufolge »die Zukunft des Vergangenen« (Stölzel, 2011, S. 301) Ihres Lebens darstellt. Ihr Erinnerungsvermögen bedient sich dabei einer interaktiv damit verbundenen mentalen Instanz: Ihrem autobiographischen Gedächtnis. Damit Sie sinnvoll und ergiebig mit der Methode der epistemologischen Biographie arbeiten können, scheint es daher zunächst geboten, die Arbeitsweisen dieser mentalen Instanz genauer zu betrachten.
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Die »Wahrheiten« des autobiographischen Gedächtnisses »Das habe ich getan«, sagt mein Gedächtnis. »Das kann ich nicht getan haben«, sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – gibt mein Gedächtnis nach. Friedrich Nietzsche Der Begriff »Wahrheit« enthält ein Orientierungsversprechen – und ein moralisches Gewicht. Er bildet daher – solange man nicht paradox argumentiert – nicht nur den Gegenbegriff zum Falschen, sondern auch zu dem, was als unwahr gilt, nämlich zur Lüge. Überdies scheint »Wahrheit« auch noch ein Stabilitätsversprechen zu enthalten, denn was sich einmal als »wahr« erwiesen hat, kann doch diesen Status nicht so einfach verlieren. Oder? Da nach meinem Verständnis Philosophische Praxis sich auch dadurch bewähren kann, dass sie die Möglichkeit anbietet, grundsätzliche Themen individuell und alltagsdienlich zu untersuchen, möchte ich Ihnen als direkten Einstieg zunächst eine kleine Übung zum Thema Wahrheit vorschlagen.
Meine Wahrheit(en) Versuchen Sie, sich Ihr persönliches Verhältnis zur »Wahrheit« zu vergegenwärtigen. Sie können dabei Fragen der Art nutzen: Welche Bedeutung spielt der Begriff »Wahrheit« in meinem Leben? Welches rationale wie emotionale Verhältnis habe ich zu ihm? Was halte ich (jetzt) für »wahr«? Wie bin ich zu dieser Ansicht gelangt? War es ein allmählicher Prozess? Oder »traf« mich die »Wahrheit« wie ein »Erkenntnisblitz« und löste eine Art Samadhi-Erfahrung aus, wie dies von manchen ZenMönchen beschrieben wird? Ist »Wahrheit« für mich ein »Einzelkind«? Oder steht sie für mich in Verbindung zu gleichwertigen »Verwandten«? Gibt es, wie Robert Musil meint, »nur Wahrheiten, aber keine Wahrheit«? Oder erscheint mir der Begriff, ob nun im Singular oder im Plural gebraucht, als anmaßend, gefährlich, unrealistisch, pompös, erfahrungs- und damit entwicklungsbehindernd? Schließe ich mich gar der Überzeugung Heinz von Foersters an, der im Gespräch mit Bernhard Pörksen »Wahrheit für die Erfindung eines Lügners« hält und dessen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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Ziel es ist, »den Begriff der Wahrheit zum Verschwinden zu bringen« (Foerster u. Pörksen, 1998, S. 29)?
Was auch immer Sie herausgefunden haben mögen, Sie haben bei dieser Übung gezielt von einer Fähigkeit Gebrauch gemacht, ohne die Ihr persönliches Leben so gar nicht möglich wäre: Sie haben sich erinnert. Genauer: Sie haben sich an sich erinnert. Die Bedeutung des Gedächtnisses für das persönliche wie für das kulturelle Leben ist seit der Antike (ars memoria) nicht nur unbestritten; die Fähigkeit, von seinem Gedächtnis einen guten, will sagen zieldienlichen Gebrauch machen zu können, wurde und wird als »Eintrittskarte« in die jeweilige Kulturgemeinschaft angesehen. Wurde die Bedeutung des Gedächtnisses also von jeher hoch eingeschätzt, so ist die Bedeutung des autobiographischen Gedächtnisses innerhalb einschlägiger Forschungen erst in den letzten Jahren genauer untersucht und erkannt worden (Kotre, 1996; Schacter, 2001; Markowitsch u. Welzer, 2005; Pohl, 2007; Kühnel u. Markowitsch, 2009), wenngleich Philosophen und Künstler der verschiedenen Ausrichtungen in den Beschreibungen ihrer Erfahrungen mit ihren Gedächtnissen viele der späteren wissenschaftlich validierten Beobachtungen vorweggenommen haben. Ich möchte nun versuchen, wesentliche Einsichten, angereichert durch wissenschaftliche Ergebnisse und literarische Beispiele, im Hinblick auf die Arbeit mit der epistemologischen Biographie darzustellen. Das berührt dann auch – von Seiten der Memoria her – das Thema »Wahrheit«. Da neben dem Erleben (Gegenwartsbezug) und dem Erwarten (Zukunftsbezug) auch das Erinnern (Vergangenheitsbezug) konstitutiv für die alltäglichen Bewusstseinsprozesse wie für das menschliche Leben insgesamt ist, ist es dies auch für die hier vorgestellte Methode. Eine kritische Betrachtung des autobiographischen Gedächtnisses bildet daher eine unverzichtbare Voraussetzung, um diese Methode gut und sinnvoll verwenden zu können, und gewährt überdies Einblicke in das, was gleichsam das Herzstück der Identität eines Menschen ist; Einblicke die, so meine Beobachtung, von vielen in der gebotenen Radikalität kaum gewonnen werden. Meine Kernthese lautet: Es ist das sogenannte autobiographische Gedächtnis, welches den Menschen nicht nur zum Menschen macht, sondern die Individualität eines jeweiligen Menschen überhaupt erst hervorbringt und erhält – genauer: immer wieder erzeugt. Es stellt © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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dadurch so etwas wie sein Identitätsorgan dar, mit dessen Hilfe er sich erschaffen, entwerfen und immer wieder auf sich beziehen kann. Die Gedächtnisforscher Hans J. Markowitsch und Harald Welzer (2005) gehen davon aus, dass durch das autobiographische Gedächtnis, das »Vermögen ›Ich‹ sagen zu können und damit eine einzigartige Person zu meinen, die eine besondere Lebensgeschichte, eine bewusste Gegenwart und eine erwartbare Zukunft hat«, entsteht (S. 11). Das autobiographische Gedächtnis ermöglicht dadurch Orientierungen für zukünftiges Handeln, da Erlerntes und Erfahrenes für die Gestaltung und Planung von Zukünftigem genutzt werden können. Um diese Orientierungsleistung zu ermöglichen, muss das autobiographische Gedächtnis, so Markowitsch und Welzer, drei Merkmale aufweisen: 1. Die Erinnerungen müssen einen Ich-Bezug haben. 2. Autobiographische Erinnerungen weisen einen sogenannten emotionalen Index auf, das heißt, sie sind mit einem stärkenden oder schwächenden Gefühl verknüpft, »das uns anzeigt, welche Schlussfolgerungen aus dem Erinnern oder Wiedererkennen einer Situation sinnvollerweise zu ziehen sind« (S. 11). 3. Autobiographische Erinnerungen sind autonoëtisch, »das heißt, wir erinnern uns nicht nur, sondern können uns auch dessen bewusst sein, dass wir uns erinnern« (S. 11). Ausgehend von dem dritten Merkmal, könnte man also nicht nur von einem reflexiven, sondern sogar von einem reflektierenden Gedächtnis sprechen; gewissermaßen einer entsprechenden »inneren Person« (gemäß der Teilearbeit und der philosophischen Intravision), die unmittelbar Einfluss darauf hat, was, wann, wie erinnert oder eben nicht erinnert wird und dadurch die Grundlage für Verhaltens- und Denkprozesse wie für das jeweilige Selbstgespräch bildet. So gesehen sind Bewusstsein und autobiographisches Gedächtnis nicht zu trennen; sie generieren das Selbstbewusstsein, das eine Person von sich entwickelt. Das autobiographische Gedächtnis wirkt dabei wie ein »Wandlungskontinuum« (Markowitsch u. Welzer, 2005). Es macht die Paradoxie erlebbar, dass wir trotz aller oft tiefgreifenden Veränderungen von demselben Ich ausgehen können. Als Identitätsorgan ist das autobiographische Gedächtnis an der realen Illusionsbildung wesentlich beteiligt, all die Menschen, die jemand seit seiner Kindheit oder über lange Zeit begleiten (wie Eltern, Geschwister, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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Freunde, Partner etc.), hätten es (noch) mit derselben Person zu tun. In unserem Kulturkreis wird dieser Eindruck dadurch verstärkt, dass man zumindest seinen Eigennamen ein Leben lang behält, so als wäre man (noch) der- oder dieselbe – was wiederum auch teilweise zuzutreffen scheint. Die Gleichzeitigkeit von Veränderung und Nichtveränderung hat der den sogenannten Vorsokratikern zugerechnete Denker Heraklit vor langer Zeit so ausgedrückt: »In die gleichen Ströme steigen wir und steigen wir nicht; wir sind es und sind es nicht« (Heraklit, 1989, S. 19). Da auf den Einzelnen ständig neue (zu verarbeitende) Erfahrungen zukommen, ist dessen autobiographisches Gedächtnis ständig auf- und herausgefordert, die eigene Person durch eine fortlaufende Fein(st)veränderung so anzupassen, das heißt stabil zu halten, dass die jeweiligen Lebensumgebungen in der Ansicht bestätigt werden, es anscheinend mit demjenigen zu tun zu haben, den sie zu kennen meinen. Dadurch integriert es die verschiedenen Seiten, Anteile, Wesenzüge immer wieder zumindest so neu, dass ein Ausruf, wie ihn der amerikanische Künstler Andy Warhol nach einer längeren Trennung über seinen alten Freund Truman Capote geäußert haben soll: »Truman, du bist ganz neu der Alte!«, dieses paradox anmutende Verhältnis ausdrückt, das jeder Veränderung bzw. Entwicklung zugrunde liegt. In den Fällen, in denen sich jemand auf einmal so »komisch« (vgl. Stölzel, Th., 2012, 29 f.) zu verhalten scheint, dass er ganz ungewohnte (unangepasste) Reaktionen zeigt und man ihn fast nicht mehr wiederzuerkennen meint, kann man mit einigem Recht davon ausgehen, dass er mit seinem autobiographischen Gedächtnis einen anderen Identitätsdialog führt. Macht man sich – probeweise – die Perspektive zu eigen, es stets mit einer bestimmten Person und ihrem autobiographischen Gedächtnis zu tun zu haben,67 dann stellt sich die Frage: Wie zuverlässig ist bzw. arbeitet diese identitätsstiftende Instanz; technisch gesprochen: Wie »funktioniert« sie? Gemeinhin scheinen viele Menschen davon auszugehen, sie besäßen von ihrer jeweiligen Vergangenheit »sichere« Informationen: »Das ist doch so und so gewesen!«, »Das habe ich doch damals empfunden, erlebt – das weiß ich ganz bestimmt!« Woher nehmen wir dieses Wissen über uns sowie den Eindruck, dass dieses Wis67 Der Titel »Die Erinnerungen sehen mich«, den Tomas Tranströmer für seine kompakte Autobiographie gewählt hat, bringt diese Interaktion als Perspektivenwechsel zur Sprache (Tranströmer, 1992). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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sen sicher und verlässlich sei? Der Literaturwissenschaftler Sven Hanuschek fasst in seiner Biographie über den Schriftsteller Elias Canetti (dem Autor einer mehrbändigen, vermeintlich »wahren« Lebensgeschichte) wichtige Erkenntnisse der neueren Kognitionspsychologie zusammen, wenn er ausführt: »[…] dass wir Erinnerungen, die uns selbst betreffen, hierarchisch auf einer höheren Ebene aufbewahren als andere und dass wir Einzelheiten zu größeren Sinneinheiten verknüpfen – wir verleihen unseren Erinnerungen erst einen zusammenhängenden Sinn, und genau darin scheint die Aufgabe des autobiographischen Gedächtnisses zu liegen. Mit zunehmenden Alter werden die ursprünglichen ›authentischen‹ Ereignisse umgeformt und diesem hierarchisierten Zusammenhang eingepasst, dabei umsortiert und bearbeitet« (Hanuschek, 2005, S. 100).
Im Umgang mit der eigenen Lebensgeschichte bedeutet dies: »Wir halten das für authentisch, was unser autobiographisches Gedächtnis hergestellt hat, wir ›glauben‹ unseren Erinnerungen und schaffen uns auf diese Weise unseren eigenen Mythos« (S. 100).
Bedeutet dies, dass der Mensch an eben die »Mythen« über sich glaubt, die sein autobiographisches Gedächtnis als der identitätsbildende Teil in ihm gewissermaßen in einem Hinterzimmer seines Bewusstseins angefertigt hat? Werden da sogenannte Fakten mit Fiktionen zu einem neuen Ganzen verwoben, zu etwas, das der Schriftsteller Walter Kempowski »Faktionen« genannt hat? Ob es sich nun um »bloß« subjektive künstlerische Hervorbringungen oder um persönliche Erlebnisse oder um vermeintlich objektive wissenschaftliche Erkenntnisse handelt, wir sehen uns gewissermaßen zwei Quellen gegenüber: der jeweiligen Person und ihrem autobiographischen Gedächtnis. Dieser internalen, geistigen Grundstruktur gesellt sich noch ein weiterer Aspekt hinzu: das Gedächtnisphänomen der Kryptomnesie (vgl. Stölzel, 1996, S. 116). Wenn jemand seinen Gedankenvorrat prüft – das geht natürlich nur partiell – oder sich mit einem anderen über das, was er für seine ureigensten Gedanken hält, austauscht, so kann er bei einem kritischen Gegenüber eine Erfahrung machen, die bei den Betroffenen (beson© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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ders bei possessiven Denkern) Erstaunen bis Entsetzen auslösen kann: Meine Gedanken sind gar nicht meine Gedanken! Was liegt hier vor? Nach dem, was die Forschung bisher über dieses wichtige, aber noch wenig untersuchte Gedächtnisphänomen – in vielen Lexika und einschlägigen Kompendien fehlt dieses Stichwort! – zutage gefördert hat, handelt es sich dabei um das vollständige Vergessen früher erworbener Inhalte, deren teilweises Wiedererinnern dann als erster Einfall bzw. eigene Idee wahrgenommen wird. So überrascht es auch wenig, dass in einer Zeit wie der unsrigen, in der das Ich so sehr im Mittelpunkt steht und dadurch allenthalben überschätzt wird, das Phänomen der Kryptomnesie nicht zu den Hauptgegenständen der Forschung zählt. Es könnte zu unliebsamen Erkenntnissen kommen, so zum Beispiel zu der, dass das Ich des Forschers einen größeren Einfluss auf die sogenannte »Objektivität« hat, als gemeinhin zugegeben wird. »Die Psychoanalytische Erfahrung«, erklärt Sigmund Freud, »kann alle Tage zeigen, daß sich die scharfsinnigsten Menschen wie Schwachsinnige benehmen, sobald die verlangte Einsicht einem Gefühls widerstand bei ihnen begegnet, aber auch alles Verständnis wiedererlangen, wenn dieser Widerstand bei ihnen überwunden ist« (Freud, 1974, S. 47). Inwieweit Freud selbst das beste Beispiel für seine Beobachtungen abgeben könnte, sei dahingestellt. Festzuhalten ist dagegen, dass eine genaue und kritische Beschäftigung mit dem autobiographischen Gedächtnis uns in Kontakt mit zwei Phänomen bringt, die im Umgang mit wie bei der Herstellung »wahrer« Erinnerungen nicht ganz unwesentlich sind: der sogenannte Widerstand und die sogenannte Authentizität. Letztere genießt auch in Therapeuten- und Beraterkreisen eine oftmals derart unkritische Beachtung und Verwendung, dass dies zur Überprüfung einlädt (vgl. Exkurs im Ersten Methodenporträt).
Sich miteinander erinnern Um das bis jetzt Vorgestellte mit eigenen Erfahrungen zu verknüpfen und zu überprüfen, möchte ich Ihnen jetzt eine Übung vorschlagen: Es geht dabei um eine Art des Symmemorierens.68 Suchen Sie sich jemanden, 68 Heinz von Foerster und Ernst von Glasersfeld haben in dem als Dialog strukturierten Buch »Wie wir uns erfinden« (Foerster u. Glasersfeld, 1999) die besonderen Erkenntnismöglichkeiten einer gemeinsamen Erinnerungspraxis vor Augen geführt. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
84 Zweites Methodenporträt mit dem Sie gewisse Erlebnisse teilen, und zwar in der Weise, dass Sie mit ihr oder mit ihm etwas für Sie wie für den anderen Wichtiges erfahren haben und zwar am selben Ort und zur selben Zeit. Laden Sie den anderen ein, sich jetzt (gleich Ihnen) möglichst genau daran zu erinnern, sich die Szenerie, so genau es geht, zu vergegenwärtigen, so dass sie beide dies jetzt vor ihren geistigen Augen vor sich sehen. Notieren Sie möglichst viele Details. Vergleichen Sie dann Ihre diesbezüglichen autobiographischen Erinnerungen. Was stimmt überein? Was nicht? Welche Schlüsse ziehen Sie daraus? Beachten Sie genau, wo und wie Sie sich miteinander erinnern und wo und wie Sie sich gegeneinander erinnern. Betrachten Sie während des ganzen Prozesses Ihren persönlichen Modus des Erinnerns (nehmen Sie auch den des anderen zur Kenntnis). Diese Übung eignet sich ebenso gut für paar- und/oder familientherapeutische Kontexte wie auch für Teambildungsprozesse, das heißt, überall dort, wo das gemeinsame Tradieren einer gemeinsamen Geschichte von Bedeutung ist.
Das autobiographische Gedächtnis »lebt« jedoch nicht nur von den (wie auch immer bearbeiteten) Erinnerungen, sondern auch von einer merkwürdigen geistigen Aktivität, die häufig als ärgerlich, blockierend oder gar bedrohlich wahrgenommen wird: dem Vergessen. Betrachtet man das Vergessen linguistisch, so verstärkt sich der Eindruck einer merkwürdigen geistigen Aktivität noch. »An dem deutschen Wort vergessen ist […] die Wortbildung bemerkenswert. Das Element -gessen (vgl. englisch -get in forget) drückt wortgeschichtlich eine Bewegung aus, die zu mir hin verläuft: ich ›kriege‹ etwas. Diese Bewegung wird aber nun – ebenso wie bei dem Wortpaar kaufen/verkaufen – durch die Vorsilbe ver- in die Gegenrichtung verkehrt. Jetzt drückt das Wort ein ›Wegkriegen‹ aus. Es liegt etwas Irritierendes in dieser Umkehrbewegung, die auf andere Weise auch darin zum Ausdruck kommt, daß vergessen […] ein aktives Verb ist, also eine Tätigkeit bezeichnet, während doch unsere innere Wahrnehmung von Vorgängen des Vergessens eher darauf deutet, daß uns das Vergessen ohne unser aktives Zutun widerfährt oder ereilt« (Weinrich, 1997, S. 11 f.). Im Unterschied dazu erscheint das absichtsvolle oder willentliche Vergessen mühsamer (und wohl auch nicht selten erfolgloser). Der psychische Aufwand, den es mitunter erfordert, zeigt sich zum Beispiel in einem Selbstappell wie jener beinah schon sprichwörtlichen Notiz © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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Immanuel Kants: »Der Name Lampe muß nun völlig vergessen werden!«. Womit er seinen Kummer über das plötzliche und als treulos empfundene Verschwinden seines ihm langjährig ergebenen Kammerdieners verwinden wollte. Vielleicht kennen Sie derlei Vergessensverschreibungen und haben in ähnlicher Weise einen Mitarbeiter, Kollegen oder Kunden »zu löschen« versucht? Wie sich der jeweilige Prozess des individuellen oder gemeinsamen Wieder-Vergegenwärtigens (bzw. dessen Verhinderung) auch im Einzelnen vollziehen mag, so lässt sich für unseren Zusammenhang feststellen: Die identitätsstiftende Tätigkeit des autobiographischen Gedächtnisses ist anscheinend das Ergebnis eines komplexen und dem gewöhnlichen Alltagsbewusstsein nur sehr bedingt zugänglichen Zusammenspiels von Erinnern und Vergessen. Interdisziplinär arbeitende Forscher haben in jüngerer Zeit zunehmend die Bedeutung herausgearbeitet, welche dem Vergessen für das individuelle wie kulturelle Leben des Menschen zukommt. Es wird in diesem Zusammenhang sogar von einer notwendigen ars oblivionis, also einer »Kunst des Vergessens« gesprochen, die der bislang als wichtiger angesehenen, weil eigentlich erst kulturschaffenden Kunst des Erinnerns, der ars memoriae ebenbürtig gegenübergestellt werden könne. Denn, wie Paul Valéry pointiert zum Ausdruck bringt: »Ohne Vergessen ist man nur Papagei« (Stölzel, 2011, S. 202). In der Geschichte der künstlerischen Kreativität gibt es aufschlussreiche Beispiele für das oft subtile Zusammenspiel von Erinnern und Vergessen. In neuerer Zeit hat der innovative französische Schriftsteller Marcel Proust in seinem großangelegten Romanzyklus mit dem paradigmatischen Obertitel »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« dieses innerseelische Zusammenwirken genauer beleuchtet und dargestellt. Proust, der philosophisch von dem zeittheoretischen Denker Henri Bergson beeinflusst worden ist, unterscheidet dabei zwischen zwei autobiographischen Gedächtnissen: einem willkürlichen, dem bewussten Wollen, Auswählen und Abrufenkönnen zugänglichen (er spricht da von einer mémoire volontaire) und einem unwillkürlichen (der mémoire involontaire), dessen oft plötzliches In-Erscheinung-Treten sich keiner bewussten Intention verdankt. Es ist die letztgenannte Form des autobiographischen Gedächtnisses, die für Prousts Romanpoetik bedeutsam wird – aber nicht nur für diese. »Daher lebt der beste Teil unseres Gedächtnisses außerhalb von © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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uns. […] Außerhalb von uns? In uns, besser gesagt, doch unseren Blicken entzogen, in einer mehr oder weniger langanhaltenden Vergessenheit. Dank diesem Vergessen allein können wir von Zeit zu Zeit das wiederfinden, was wir gewesen sind« (Proust, 1995, S. 310 f.). Diese literarisch evozierte Begegnung mit einer, bildhaft gesprochen, früheren Ausgabe seiner selbst macht auch so etwas wie einen innerseelischen Anachronismus sichtbar, aufgrund dessen, wie Proust hervorhebt, »so oft der Kalender der Tatsachen nicht mit dem Kalender der Gefühle zusammenfällt« (Proust, 1999, S. 232). Den Fall, dass der »Kalender der Tatsachen« und derjenige »der Gefühle« zusammenfällt, hat Jorge Luis Borges in der Erzählung »Das unerbittliche Gedächtnis« dargestellt. Borges, der es oft gut verstanden hat, philosophische wie psychologische Fragen und Probleme über den Weg der Literatur anschaulich zu machen, erzählt hier die Geschichte eines sehr jungen Mannes, Ireno Funes, der nach einem Sturz vom Pferd zunächst sein Bewusstsein verloren hatte und querschnittsgelähmt wurde – dafür aber etwas anderes (das ihn von allen anderen Menschen unterschied) erhalten hatte. Dem Autor der Geschichte berichtete er: »[…] vor jenem regnerischen Tag, an dem das blaugraue Pferd ihn zu Boden schleuderte, sei er genauso gewesen wie alle Christenmenschen: blind, taub, zu nichts nütze, ohne Gedächtnis. (Ich versuchte, ihn an sein haargenaues Zeitgefühl, sein Namensgedächtnis zu erinnern; er ging nicht darauf ein.) Neunzehn Jahre hatte er gelebt wie einer, der träumt; er sah ohne wahrzunehmen, hörte ohne zu hören, vergaß alles, fast alles. Beim Sturz verlor er das Bewußtsein; als er wieder zu sich kam, war die Gegenwart fast unerträglich reich und klar, und ebenso seine frühesten und beiläufigsten Erinnerungen. Wenig später wurde ihm bewußt, daß er lahm war. Diese Tatsache interessierte ihn kaum. Er befand (er empfand), daß die Unbeweglichkeit ein äußerst geringer Preis sei. Jetzt waren seine Wahrnehmung und sein Gedächtnis unfehlbar. […] Zwei- oder dreimal hatte er einen ganzen Tag rekonstruiert; nie war er über etwas im Zweifel gewesen, aber jede solche Rekonstruktion hatte einen ganzen Tag beansprucht. […] Er beschloß, jeden seiner vergangenen Tage auf 70 000 Erinnerungen zu beschränken, die er später mit Ziffern bezeichnen wollte. Zwei Überlegungen hielten ihn davon ab: die Einsicht, daß die Mühe endlos sein würde, die Einsicht, daß sie sinnlos war« (Borges, 1981, S. 178 ff.). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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Mein Gedächtnis und ich Gehen Sie der Frage nach, welche Bedeutung bislang Gedächtnis, Gedächtnisprozesse oder Gedächtnisresultate in Ihrem Leben spielten; welche Erinnerungspraxis69 Sie pflegen. Wie stellen Sie sich Ihr autobiographisches Gedächtnis vor? Welche Metaphern und Bilder verwenden Sie dabei? Safe, Tresor, Truhe, Kellergewölbe, polygonaler Raum etc.? Seit einiger Zeit wird zum Beispiel im Zusammenhang mit dem sogenannten Phantomschmerz (also Empfindungen, die ein verlorenes oder amputiertes Körperteil »auslöst«) von einem Körper- oder Leibgedächtnis gesprochen. Glauben Sie, auch so etwas zu haben? Und wo und wie wäre dies dann in Ihnen lokalisiert?
Wenn wir die verschiedenen Aspekte des autobiographischen Gedächtnisses im Hinblick auf die Arbeit mit der Methode der epistemologischen Biographie betrachten, so kann man mit einigem Recht von dem Umstand ausgehen, dass der Einzelne mit Hilfe seines autobiographischen Gedächtnisses seine persönliche Lebensgeschichte, die zugleich individuell und überindividuell ist, komponiert. Aus den jeweiligen Erfahrungsinhalten entsteht dabei etwas viel Komplexeres, nämlich eine persönlich gestaltete Erinnerung. Das autobiographische Gedächtnis ist demnach kein steriles Gefäß, das die Gedächtnisinhalte unverändert bewahrt, wie etwa ein Safe die darin enthaltenen Dokumente. Die Erinnerungen verändern sich und verändern uns – es scheint demzufolge keine »reinen«, sondern nur »bearbeitete« Erinnerungen zu geben. Und so ist es »wohl nie zu spät, eine glückliche Kindheit zu haben«70 (eine Einsicht, die sowohl dem einflussreichen Hypnotherapeuten und Psychoethologen Milton H. Erickson wie auch dem Schriftsteller Erich Kästner zugeschrieben wird).
69 Virginia Woolf berichtet in metaphorischer Weise von der ihrigen: »ich [werde] einen Stecker in die Wand stöpseln; und in die Vergangenheit hineinhorchen. Ich werde den August 1890 lauter stellen« (2012, S. 127). 70 Im Hinblick auf die »Wahrheit« bedeutet dies, dass sie ähnlich persönlich ausfällt wie die individuelle Wahrnehmung und die daraus abgeleitete »Wahrgebung« (Schmidt, G., 2004, S. 179 ff.). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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Erfahrungen – Überzeugungen – (mögliche) Gewissheiten […] der Mensch ist für sich selber eine nicht endende Überraschung. Witold Gombrowicz Da im Rahmen dieses Methodenporträts die Voraussetzungen und Arbeitsweisen der epistemologischen Biographie nur überblickshaft dargestellt werden können, verzichte ich darauf, weitere Praxisformate vorzustellen. Ich möchte mich hier darauf beschränken, die komplexen Wechselwirkungsprozesse von drei wesentlichen Handlungsformen aufzuzeigen, die als mentale Strukturkonstanten wohl jeder epistemologischen Biographie zugrunde liegen, wie auch immer sie im Einzelnen ausgestaltet und gelebt werden mag. In einem weiteren Abschnitt werde ich abrundend die Wirkungsweisen eines »Produkts« dieser drei Strukturkonstanten näher zu Bewusstsein bringen und für den Umgang im therapeutisch-beraterischen Kontext erschließen. Mit den drei zentralen Handlungsformen einer epistemologischen Biographie sind Erfahrungen, Überzeugungen und (mögliche) Gewissheiten sowie deren Zustandekommen gemeint. Bevor ich dazu übergehe, die Wechselwirkungsprozesse aus meiner Sicht darzustellen, möchte ich Sie zu einer (zumindest ansatzweisen) Selbstklärung einladen. Dadurch wird gewährleistet, dass Ihre persönlichen Vorverständnisse und individuellen Gebrauchsweisen unmittelbar ins Spiel kommen. Das verankert Sie zudem direkt in Ihren jeweiligen Selbstkonzepten und Ihrer Weltsicht.
Erfahrungen – Überzeugungen – (mögliche) Gewissheiten Widmen Sie sich der Begriffserkundung der drei Begriffe Erfahrungen, Überzeugungen und (mögliche) Gewissheiten auf folgende Weise: Notieren Sie rasch, was Ihnen jeweils dazu einfällt, beinahe so, als schriebe dies ein anderer. Überlassen Sie sich dabei am besten Ihrem autobiographischen Gedächtnis. Der Schriftsteller Paul Nizon nennt dieses Am-Bewusstseinsrand-zur-Sprache-kommen-Lassen »Blindschreiben«. Lassen Sie sich überraschen, was Sie in welcher Reihenfolge zu Papier bringen – ob es einzelne, lose miteinander verbundene Stichworte oder Assoziationen, ob es bereits Ansätze zu Definitionen, ob es gar klare (Selbst-) © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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Anweisungen oder Haltungsbeschreibungen sind, die Ihnen da so »aus der Feder rutschen«. (In einem Seminarkontext können diese Begriffserkundungen auch als Dialog zwischen zwei Personen, die sich wechselweise befragen sowie einer dritten Person, die den heuristischen Prozess beobachtet und protokolliert, durchgeführt werden). Legen Sie zwischen den einzelnen Begriffserkundungen deutliche Pausen ein. Beachten Sie, mit welcher der drei Handlungsweisen Ihrer epistemologischen Biographie Sie beginnen. Sind es die Erfahrungen, denen Sie sich zuerst zuwenden? Oder (mögliche) Gewissheiten oder Überzeugungen? Und was schließt sich dem an? Folgen Sie dabei ganz Ihren Impulsen und Ihrem situativen Befinden. Wenn Sie möchten, können Sie diese spontan gewonnenen Einblicke in Ihr Denken und Verarbeiten weiter vertiefen bzw. präzisieren. Lassen Sie dafür aber mindestens einen Tag vergehen. Fügen Sie dann als Appendix zu Ihren Notizen jeweils folgende Überlegungen an: –– Wie mache ich Erfahrungen? Welche Bedeutung haben Einmaligkeit oder Wiederholbarkeit dabei für mich? Angenommen: Ich betrachte mich quasi aus den Augen eines anderen: Als was für einen Erfahrungstyp würde ich mich dann beschreiben? –– Wie bilden sich bzw. wie bilde ich Überzeugungen? Wie gehe ich dabei mit einer Komplexitätsreduktion um, wie mit der Möglichkeit, Einzelfälle zu generalisieren? Erschreckt oder erleichtert mich diese epistemologische Möglichkeit? –– Strebe ich so etwas wie Gewissheiten an? Welche sind mir verlorengegangen oder von mir aufgegeben worden? Oder »habe« ich gar keine (mehr) oder nie welche »besessen«? Falls ich über so etwas wie Gewissheiten verfüge, fühle ich mich dann von ihnen eher gestärkt oder eher belastet und eingeschränkt?
In Abbildung 1 finden Sie in Gestalt eines ausgefalteten Triptychons71 ein Organon, das Sie zur Erschließung Ihrer eigenen epistemologischen 71 Triptychon ist ein Begriff aus der Kunstwissenschaft. Das Wort selbst kommt aus dem Griechischen und bedeutet dreigefaltet (τρίπτυχος). In der Kunstwissenschaft bezeichnet es ein dreiteiliges, häufig streng symmetrisches Tafelbild (oft mit sakralen Motiven oder Funktionen); es gibt aber auch in der modernen Kunst die Verwendung des Triptychons als Ordnungsprinzip ohne direkte religiöse Bezüge, zum Beispiel um ein bestimmtes Thema zu variieren oder Motive in ein bestimmtes Verhältnis zueinander zu setzen (beispielsweise bei den Malern Otto Dix, Max Beckmann oder Francis Bacon). Die verschiedenen Bildtafeln – linker Seitenflügel, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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Biographie verwenden können. Es eröffnet Ihnen die Möglichkeit, sich anders kennenzulernen, sich leichter auf die Schliche zu kommen, die Art und Weise, wie Sie – gedanklich und konzeptionell – auf die Welt reagieren, besser auszuloten und damit die Umrisse Ihrer persönlichen Existenz genauer bestimmen zu können. Ich will versuchen, Ihnen (über die konkrete persönliche wie professionelle Verwendung hinaus) die Lebensnähe dieses Organons vor Augen zu führen. Stellen Sie sich vor, Sie seien gerade dabei, einen Ihnen bis dahin noch wenig bekannten Menschen (der Sie jedoch interessiert) näher kennenzulernen. Das Triptychon ist also zum größeren Teil noch verschlossen. Sie sind sich beide – um im Bild des Triptychons zu bleiben – bislang nur auf der Überzeugungsseite begegnet. Das ist der Teil vom Weltbild des anderen, der durch typische Äußerungen, Verhaltensweisen, Reaktionen, Kleidung und Gebaren unmittelbar an ihm beobachtbar ist. Das Triptychon ist in dieser Phase des Kontakts teilweise aufgeklappt, das Mittelstück sichtbar und mit ihm die Gegenwartsgestalt einer bestimmten Person. Im eben dargestellten Fall müssen Sie erst mal zur Kenntnis nehmen, dass sich jemand so oder so äußert oder verhält. Sie können über die Genese, die Hintergründe und (inneren) Ziele dieses verhaltenswirksam gewordenen Weltbildes nur Vermutungen anstellen. Wo es herkommt und worauf es aus ist, bleibt Ihnen zunächst noch dunkel oder zumindest undeutlich. Im Laufe des Kennenlernprozesses ist es dann nahezu unvermeidlich, dass Erfahrungen (also Aspekte des linken Seitenflügels) zur Sprache kommen, da der andere auf Ihr Interesse an ihm und Ihre Nachfragen hin unweigerlich etwas über das Zustandekommen bestimmter Überzeugungen berichtet. Dabei können Sie dann auch etwas über seine Denkgewohnheiten und die Art und Weise erfahren, wie er generalisiert, wie
Mittelstück, rechter Seitenflügel – sind oft durch Scharniere so miteinander verbunden, dass die Teile einzeln und in unterschiedlicher Reihenfolge aufgeklappt werden können. Vor allem im sakralen Gebrauch konnten Triptychoi auch abgeschlossen werden, so wie die »Innenwelt« eines Menschen, wenn er sich nicht über sie äußert, verschlossen bleibt. Als Anschauungs- und Ordnungsmöglichkeit der epistemologischen Biographie verwende ich das Triptychon als konkrete Metapher, um die Komplexität des genetischen Prozesses beim Herstellen der persönlichen Lebensphilosophie zu reduzieren und anschaulich zu machen. Außer dem Triptychon gibt es noch das Diptychon (Zweitafelbild) oder das Polyptychon (das vielteilige Tafelbild), die sich als andere Veranschaulichungsmöglichkeiten verwenden lassen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
ÜBERZEUGUNGEN
Induktionsproblem
© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
SO WAR ICH
ERINNERUNGEN IDENTITÄTSGESCHICHTE
Einordnen in ein Bedeutungsfeld SO BIN ICH
SO MÖCHTE ICH WERDEN
AUSRICHTUNGEN PLÄNE, VORHABEN
synthetische Urteile a priori
persönliche Paradigmata
größtmögliche Wissenssicherheit (und potenzielle Erstarrung)
höchster Grad des Fürwahrhaltens
ERWARTUNGEN
unterschiedliche Revisionsmöglichkeiten bzw. -bereitschaften
MÖGLICHE GEWISSHEITEN
Seitenflügel
Endform der Überzeugung
GLAUBEN
persönliche Regeln, Normen, Werte
durch eigenes Urteil gewonnene Einsichten
GENERALISIERUNGEN
individuelle Erfahrungsoffenheit bzw. Erfahrungsfähigkeit
Initialerlebnisse
persönliche Vorerfahrungen
auf Gründe gestütztes Fürwahrhalten
ERFAHRUNGEN
unmittelbare Anschauung
Mittelstück
Seitenflügel
GEWOHNHEITEN
Von der Einzelwahrnehmung zum persönlichen Begriffssystem
ERKLÄREN
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Abbildung 1: Ein Organon zur Erschließung der eigenen epistemologischen Biographie
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er singuläre Erfahrungen und Einzelfälle in (vermeintliche) Regelfälle verwandelt. Sollte der Kontakt vertrauter und die Beziehung persönlicher werden, dann kommen auch (zumindest ansatzweise) existenzielle Fundamente zur Sprache. Sie erfahren dann etwas über die grundsätzlichen Lebensausrichtungen und möglichen Gewissheiten (also die Aspekte des rechten Seitenflügels). Ihnen kann dabei erkennbar werden, was jemand (wirklich) glaubt, wovon er (sicher) ausgeht, was er (von sich, von anderen, vom Leben) erwartet. Es ist klar, dass dies hier nur eine kurze schematische Skizze darstellt, die lediglich dazu dient, das Organon als eine Perspektive der epistemologischen Biographie anschaulich zu machen. Im sogenannten wirklichen Leben vollziehen sich diese Prozesse ungleich subtiler, sprunghafter und häufig ungeordneter, wenngleich das Zusammenwirken dieser drei Strukturkonstanten (Erfahrungen, Überzeugungen, mögliche Gewissheiten) leicht sichtbar gemacht werden kann, nicht zuletzt im Prozess des näheren Kennenlernens – also beim wechselseitigen Austauschen und Kommentieren der Lebensgeschichten von zwei Menschen.
Eine Überzeugung untersuchen Die Arbeit mit dem Organon kann nicht nur für die retrospektive Sicht auf die (mitunter überraschenden) Erfahrungen, die sich beim Kennenlernen eines anderen Menschen und dessen epistemologischer Biographie ergeben, genutzt werden, sondern auch für kommende Erfahrungen dieser Art. Als einen direkten Einstieg für den professionellen wie für den persönlichen Umgang empfehle ich Ihnen Folgendes: Nehmen Sie ein bestimmtes, biographisch gewachsenes Wissen, also eine sogenannte Überzeugung, und untersuchen Sie diese auf zweierlei Weise. Erstens: Welche und wie viele Erfahrungen liegen eben dieser Überzeugung zugrunde und in welcher Weise sind diese Erfahrungen be- bzw. verarbeitet worden? Zweitens: Welche mittelbaren und unmittelbaren Auswirkungen und welchen Zusammenhang hat diese bestimmte Überzeugung auf dasjenige, was Sie jetzt als sicher ansehen, wovon Sie ausgehen, was Ihnen als eine mögliche Gewissheit erscheint? Diese Vorgehensweise muss nicht auf Einzelne beschränkt bleiben. Sie findet auch bei Teams oder Organisationen ihre sinnvolle und aufschlussreiche Anwendung. Denn auch hier wird von bestimmten (als ganz selbstverständlich emp© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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fundenen und häufig nicht mehr überprüften) Überzeugungen ausgegangen, also von einer Form des gewachsenen Wissens, die unmittelbar handlungsrelevant wird und durch die bestimmte Perspektiven und Strategien »richtig« und andere als »falsch« erscheinen. Und eben dies lohnt der Überprüfung. Denn ein bestimmter unüberprüfter Gebrauch von Überzeugungen kann auch direkte und schwerwiegende betriebswirtschaftliche Folgen haben.
Dass Überzeugungen nicht so leicht aufgegeben oder revidiert werden, ist verständlich. Sind sie doch etwas, wofür jemand bis zu einem gewissen Grad mit seiner Person einsteht; etwas, für das er gewissermaßen zeugt; stellen sie doch bestimmte Schlussfolgerungen aus Erfahrungen dar, mit denen ihn andere überzeugt haben oder er sich selbst überzeugt hat und von denen (je nach Charakter) er nun auch andere (die andere Vorerfahrungen haben als er) überzeugen will. Es gibt jedoch Erfahrungen, die eine (zumindest für manche) aufrüttelnde Kraft besitzen. Peter Sloterdijk spricht hier von »Stör-Erfahrungen«. Damit sind »Erfahrungen, Überzeugungen oder Selbstverständlichkeiten« gemeint, die »durchbrechen und eine gewisse Dissonanz gegenüber den Erwartungen enthalten. StörErfahrungen sind all jene nichtintegrierbaren Erfahrungserlebnisse, die in jedem individuellen Leben mehr oder weniger häufig auftreten. Sie umfassen die Gruppen der Erfahrungen von Zweideutigkeit, Doppelmoral, Unentscheidbarkeit von Problemen. […] Bei Stör-Erfahrungen werden übernommene Wirklichkeitsbilder revidiert und ihrer selbstverständlichen Geltung beraubt« (Sloterdijk, 1976, S. 113).
»Stör-Erfahrungen« Kennen Sie aus Ihrer Biographie (und/oder aus der von anderen) solche Stör-Erfahrungen? Wenn es Ihnen gelingt, eine solche auszumachen, dann betrachten, studieren und notieren Sie die Überzeugung(en), die Sie vor der jeweiligen Stör-Erfahrung hatten und diejenige(n), die Sie nach der Stör-Erfahrung (mehr oder weniger) freiwillig bezogen bzw. eingenommen haben. Vergleichen und beachten Sie die Unterschiede. Betrachten Sie nochmals den Erfahrungsanlass: Was hatte die Kraft, Sie geistig und seelisch so nachhaltig zu irritieren und einen Überzeugungswandel in Ihnen zu bewirken? Und könnte/würde Ihnen das jetzt mit der »neuen« Überzeugung/den »neuen« Überzeugungen auf ähnliche Weise wieder passieren? © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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Beobachtungen zeigen, dass es auch (wohl nicht wenige) Menschen gibt, die sich nicht stören lassen; die Überzeugungen revidierungsimmun halten; für die der Weg von der Besinnung zur Gesinnung ein festgelegter bleibt.
Überzeugungen, die sich verfestigt haben: Glaubenssätze Eine philosophische Biographie ist diejenige, die nicht nach der Erklärung, sondern nach der Bedeutung der Phänomene eines Lebens sucht. Nicolás Gómez Dávila Unter Glaubenssätzen verstehe ich hier weitgehend veränderungsresistente Verallgemeinerungen und Vorannahmen über Ursache, Sinn, Bedeutung und Notwendigkeit unseres Lebens, der Welt um uns herum, unseres Verhaltens, unserer Fähigkeiten und damit über unsere Identität. Manche von ihnen verdanken sich bereits sehr frühen Erfahrungen. Als Kommentarkonzentrate auf gemachte Erfahrungen (von unterschiedlichem Generalisierungsgrad) stellen Glaubenssätze so etwas wie ein »Kernprodukt« einer jeden epistemologischen Biographie dar. Sie erweisen sich nicht selten als äußerst bedenklich, da sie zumeist tief verinnerlicht und dadurch dem Betroffenen häufig unbewusst geworden sind, ihn gewissermaßen hypnotisieren und ihm dadurch die Motive und Strebungen seines Handelns verschleiern (können). Glaubenssätze vermögen es somit, viele Situationen in oft einschränkender Weise vorzustrukturieren. Sie schaffen dadurch ein Erlebnisklima, in dem es schwerfällt, andere oder neue Erfahrungen zu machen. Ihre Beliebtheit verdankt sich dem menschlichen Bedürfnis nach Komplexitätsreduktion und einer spezifischen Griffigkeit, welche Pointierung und Sprachkürze zu gewähren scheinen. Überdies werden Glaubenssätze häufig mit dem Verbum »sein« verbunden und verlautbaren sich dadurch mit der Nachdrücklichkeit und (vermeintlichen) Sicherheit eines »Ist-Satzes«. Ihre Tonlage ist nicht selten imperativisch und anweisend bis totalitär, häufig enthalten sie (implizit) ein Ausrufungszeichen. Gelegentlich sind sie gereimt oder zumindest sprachmelodisch akzentuiert. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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Andererseits bilden Glaubenssätze das Skelett einer individuellen Lebensphilosophie; sie erscheinen oftmals als nicht mehr hinterfragte »Gewissheitsglieder« innerhalb eines persönlichen Wissenskosmos. Damit das in ihnen vorhandene Orientierungspotenzial sinnvoll genutzt werden, damit, wie Jean Paul sagt, »Sprachkürze Denkweite geben« kann, bedarf es der regelmäßigen, mehrfachen Überprüfung, die nicht nur die Implikationen expliziert, sondern in erster Linie ermittelt, was einem bestimmten Glaubenssatz zufolge möglich oder unmöglich, was sinnvoll oder sinnlos ist. Denn Glaubenssätze – es handelt sich bei diesem Begriff ja um ein »durchsichtiges Wort« (Hans-Martin Gauger, 1971) – erscheinen als Sätze (also als gedanklich gestaltete Einheiten), an die geglaubt wird. Und zwar nicht selten mit unerschütterlichem Beharrungsvermögen. Nicht zuletzt aus diesen Gründen bildet die Untersuchung und Überprüfung von Glaubenssätzen ein genuines Anwendungsfeld innerhalb einer epistemologischen Biographie. Denn ein Glaubenssatz, der nicht einer gründlichen Revision unterzogen worden ist, kann sich nicht nur als übermäßig einschränkend, als fatal oder destruktiv, er kann sich als geradezu mörderisch erweisen – und dies nicht allein für den jeweiligen Einzelnen, der (fest und treu) an ihn glaubt.
Glaubenssätze formulieren Anbei zur Einstimmung eine Liste mit »hohen« und »tiefen« Glaubenssätzen, darunter auch Axiome von Philosophierenden (auf die Namensnennung wurde verzichtet, um die Sätze für sich wirken zu lassen). Es besteht die Einladung, diese Liste durch eigene Glaubenssätze zu erweitern und sich dadurch die Wirkung solcher inneren Begleiter und Richtungsgeber deutlicher vor Augen zu führen. Beispiele von Glaubenssätzen: –– »Der Mensch ist frei geboren und liegt überall in Ketten.« –– »Das Sein bestimmt das Bewusstsein.« –– »Das Problem des Menschen besteht darin, dass er nicht ruhig in einem Zimmer bleiben kann.« –– »Hauptsache ist, dir geht’s gut!« –– »Der Mensch ist schlimmer als jedes Tier.« –– »Die Vermeidung bringt es.« –– »Die verstehen sehr wenig, die nur das verstehen, was sich erklären lässt.« © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
96 Zweites Methodenporträt –– »Demokratie ist eine lausige Staatsform, aber ich kenne keine bessere.« –– »Gott ist tot.« –– »Nur die unentscheidbaren Dinge können wir entscheiden.« –– »Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt.« –– »Was wir in die Hand nehmen, wird klein.« –– »Pädagogen sind schlechte Lehrer.« –– »Geistlose kann man nicht begeistern, aber fanatisieren kann man sie.« –– »Weder leugnen noch glauben.« –– »Wenn ich oben bin, kann mir keiner was!« –– »Alles ist erlaubt – auch das Gegenteil.« –– »Das Leben ist hart.« –– »Die Welt ist meine Vorstellung.« –– »Nur ein toter Indianer ist ein guter Indianer.« –– »Vertrauen ist ethisch kaschierte Dummheit.« –– »Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.« –– »Das Bewusstsein bestimmt das Sein.« –– »Ich bin, woran ich mich erinnere.« –– »Juden sind geldgierig.« –– »Du bist, der du werden könntest.« –– »Geld ermöglicht mir fast alles, warum also sollte ich nicht nach ihm streben?« –– »Sein ist wahrgenommen werden.« –– »Frauen sind technisch unbegabt.« –– »Ich glaube nur, was ich sehe.« –– »Neger sind zum Dienen geboren – sonst sähen sie doch nicht so aus.« –– »Alles kann einem jederzeit genommen werden.« –– »Das Beste, was wir haben, ist die möglichst strenge Naturwissenschaft.« –– »Frauen haben keine Seele.« –– »Es gibt mehr zwischen Himmel und Erde als eure Wissenschaft begreifen kann.« –– »Ich weiß, dass ich nicht(s) weiß.« –– »Willst du erkennen, so lerne zu handeln.« –– »Seit ich die Menschen kenne, liebe ich die Tiere.« –– »Ich denke, also ich bin.« –– »Besitztümer sind besser als Geld.« –– »Glaubenssätze sind merkwürdige Dinge, sie machen aus ansonsten © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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friedlichen Menschen Tötungsmaschinen, die dabei keinerlei schlechtes Gewissen haben.« »Intelligenz ohne Klugheit ist gar nichts.« »Gefühle sind der Ausdruck von biochemischen Prozessen.« »Der größte Feind des Menschen ist der Mensch.« »Tiere sind keine Personen.« »Der Mensch ist das Maß aller Dinge.« »Man wird nicht als Frau geboren, man wird zur Frau gemacht.« »Zeit ist Geld.« »Erfolg setzt viel Arbeit voraus.« »Männer sind emotionale Analphabeten.« »Je mehr man die Zeit einsparen kann, desto weniger hat man.« »Nicht die Dinge beunruhigen die Menschen, sondern die Vorstellungen von den Dingen.« »Herkunft ist Zukunft.« »Trau keinem über dreißig.« »Wer viel einteilt, teilt wenig aus.« »Die wichtigste Frau im Leben eines Mannes ist seine Mutter.« »Wer schneller lebt, ist eher fertig.« »Männer müssen Uniformen tragen.« »Handle stets so, dass neue Möglichkeiten entstehen.« »Wer Gott sagt, will betrügen.« »Dem Süchtigen fehlt der Vater, dem Asketen fehlt die Mutter.« »Die Kinder müssen zum Vater.« »Ich kann allem widerstehen – nur nicht der Versuchung.« »Richtige Männer weinen nicht.« »Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.« »Beamte sind ängstlich oder autoritär – aber auf jeden Fall unkreativ. Sie mögen selbständig denkende und schöpferische Menschen nicht besonders.« »Der wichtigste Mann im Leben einer Frau ist ihr Vater.« »Rücksichtslosigkeit zahlt sich doch aus.« »Die Zeit heilt (alle) Wunden.« »Die Menschen, denen wir eine Stütze sind, geben uns den Halt im Leben.« »Wo wäre die Macht der Frauen, wenn die Eitelkeit der Männer nicht wäre?« »Lebendigkeit ist die Mitgegenwart des einen im anderen.« © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
98 Zweites Methodenporträt –– »Frauen schlafen mit Männern, damit sie mit ihnen reden. Und Männer reden mit Frauen, damit sie mit ihnen schlafen.« –– »Der Asket macht aus der Tugend eine Not.« –– »Da, wo ich bin, ist immer vorne!« –– »Undank ist der Welten Lohn.« –– …
Innerhalb eines Methodenporträts kann ich die konkrete philosophische Arbeit mit Glaubenssätzen nur anhand einiger weniger Beispiele und Übungen andeuten. Ein mögliches Vorgehen stellt sich folgendermaßen dar: Im Einzel-, Paar- oder Teamsetting wie auch im Seminaroder Fortbildungskontext wird die Aufforderung ausgegeben, fünf bis zehn eigene Glaubenssätze zu notieren. Für den Fall, dass jemandem zufällig kein Glaubenssatz einfällt (was ein Indiz dafür sein kann, dass diese so tief verinnerlicht worden sind, dass sie nicht so leicht als solche identifiziert werden können), hat sich die Vorübung als sinnvoll erwiesen, dem Betroffenen zur Selbstbefragung darüber einzuladen, welche persönlich erfahrenen oder historischen Personen einen wichtigen und nachhaltigen Eindruck oder Einfluss auf ihn ausgeübt haben oder noch ausüben. Welche der Werte oder Denkweisen, zum Beispiel des Elternhauses, ihm einleuchtend oder übernehmenswert erscheinen. Aus diesen Empfindungen können dann pointierte Anweisungssätze gebildet werden. Dies gelingt dann meist leichter als diejenigen vermuten, denen anfangs gar keine eigenen Glaubenssätze einfallen wollten. Ja, gerade sie machen nicht selten die Erfahrung, dass bei dieser Arbeit mit ihrer epistemologischen Biographie ihnen noch eine ganze Reihe anderer – lebensleitender und erfahrungssteuernder – Glaubenssätze zu Bewusstsein kommen.
Anatomie eines Glaubenssatzes Wählen Sie einen bestimmten Glaubenssatz aus, vielleicht einen, von dem Sie sich mehr eingeschränkt als gestärkt fühlen. Schreiben Sie diesen Satz in großen Lettern auf ein Flipchart oder eine Metaplanwand oder (falls beides nicht zur Hand oder verfügbar ist) bringen Sie diesen Aufschrieb an einer geeigneten Wandfläche oder Tür an. Wichtig: Wählen Sie, was den konkreten Anbringungsort betrifft, Ihre individuelle Augenhöhe, so als blickte Sie eine Person, die hinter dem Glaubenssatz steht, direkt © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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an. Lassen Sie sich von dieser Person (oder sind es mehrere?) eine Zeit lang anblicken und achten Sie darauf, wie Sie zurückblicken. Werden dabei Ihre Augen eher größer, weiter oder eher schmaler und enger? Was in Ihnen weitet, lockert, was verengt, verspannt sich? Suchen Sie diese »Person« mehrfach auf. Folgen Sie dabei (was die Frequenz betrifft) Ihrem Gefühl. Notieren Sie die Einfälle, Assoziationen, Körperreaktionen, Impulse, die sich bei Ihnen vor, während und nach den Begegnungen mit der/den »Glaubenssatz-Person(en)« eingestellt haben. Lassen Sie ein paar Tage verstreichen. Nehmen Sie den Satz wieder vor. Nutzen Sie dabei sprachphilosophische Mittel. Untersuchen Sie, wie »der« Satz »argumentiert«, welche Wortarten (Verben, Nomen, Adjektive, Personalpronomina, Negationspartikel usw.) vorkommen oder fehlen; wie der Inhalt, die jeweilige Information sprachlich »gestrickt« ist. Vergleichen Sie dieses Analyseergebnis mit Ihren Notizen über die Begegnungen mit der/den »Glaubenssatz-Person(en)«. Welche Perspektiven und Einsichten ergeben sich daraus? Sie können sich von dem bestimmten Glaubenssatz eine Zeit lang innerlich begleiten lassen wie von einem Familienmitglied oder wie weiland James Stewart von seinem Freund Harvey. Nutzen Sie die »Glaubenssatz-Person(en)« als bewusste/n Berater oder Kommentator/en dessen, was Sie zurzeit erleben, fühlen oder denken.
Die Arbeit mit der epistemologischen Biographie kann auf verschiedene Weise dazu beitragen, mit persönlichen Glaubenssätzen anders (beispielsweise philosophischer) umzugehen; sie zu hinterfragen, statt eine kritische Prüfung zu umgehen, das heißt weiter an sie zu glauben und dadurch in ihrem Bann zu bleiben.
Das »Gespräch« von Glaubenssätzen Innerhalb von Teams oder Organisationen lassen sich Glaubenssätze als Teil von spontanen Sprechcollagen verwenden. Die einzelnen Team- oder Organisationsmitglieder lassen sich jeweils von einem bestimmten Glaubenssatz vertreten. Das heißt: Sie wählen einen Glaubenssatz aus, der sie behindert und/oder stärkt (also in einer bestimmten Weise »geladen« ist). Und dann beginnt einer, seine (also des Glaubenssatzes) Botschaft zu verkünden und ein anderer Glaubenssatz antwortet, widerspricht oder ergänzt. Dies alles vollzieht sich in einer offenen, impulsgeleiteten Atmosphäre. Ein oder mehrere nicht involvierte Beobachter nehmen die © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
100 Zweites Methodenporträt Struktur dieses »Gruppengesprächs« genau wahr, achten darauf, was sich an was koppelt, was sich verstärkt, was erstmals richtig herauskommt, was dagegen unterdrückt oder verdrängt wird. Diese spontane Sprechcollage einzelner Glaubenssätze lässt sich in verschiedenen Team- und Organisationsprozessen, und besonders bei Teambildungs- oder sogenannten Changeprozessen, Fusionen etc. als wichtiges Erkenntnismittel für die jeweilige Interaktions-Kultur sehr gut verwenden.
Ich möchte dieses Methodenporträt, in welchem ich ja nur ein paar Einblicke geben konnte, mit zwei Übungen beschließen, die beide gut für sich allein durchgeführt werden können, wobei sich die erste, »Wichtige Überzeugungen ermitteln« aber auch sehr gut als einstimmende Vorübung für die zweite »Momentaufnahme meiner Weltsicht« eignet. Bei beiden geht es darum, ein philosophisches Lebensgefühl zu vertiefen und für die Gestaltungsmöglichkeiten der persönlichen Existenz zu nutzen. Anders gesagt: von der Perspektive Gebrauch zu machen, sich zwischen den eigenen Lebens- und Erlebensformen und den Meinungen darüber einzufinden und damit probeweise in einer dritten, skeptischen (vgl. Stölzel, Th., 2012, S. 257 f.) etwas heimisch zu werden; also eine Position einzunehmen, die einen anderen Einblick in die und Überblick von der eigenen Existenz eröffnet.
Wichtige Überzeugungen ermitteln In dieser Übung geht es darum, Überzeugungen zur eigenen Lebenszeit, zu Lebensmöglichkeiten und Lebensanliegen auszumachen sowie (Auf-)Spür- und Formulierungszugänge mit Hilfe von Satzanfängen zu bekommen. Beenden Sie bitte nachfolgende Satzanfänge mit Ihren jeweiligen Überzeugungen: –– Es ist (schon) zu spät, um … –– Es ist (noch) zu früh, um … –– Es ist (jetzt) der richtige Zeitpunkt, um …, weil … –– Ich brauche (erst einmal) Zeit, um … –– Wenn … endlich kommen würde, dann würde … –– Wenn ich drei (wesentliche) Wünsche frei hätte, dann wären das … –– Wenn ich … aufgeben könnte/würde, dann könnte/würde ich … –– Morgens, wenn ich aufwache, denke/fühle ich gleich … © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
Überzeugungen, die sich verfestigt haben: Glaubenssätze 101
–– Abends, wenn ich einschlafe, denke/fühle ich noch … –– Ich habe genügend Kraft, um … –– Ich teile meine Kraft so ein, dass … Diese Liste kann durch weitere Satzanfänge ergänzt oder durch Modifikationen der bereits aufgelisteten variiert und so für den eigenen Gebrauch verfeinert werden.
Wie zuvor bereits angedeutet, kann es sich als durchaus sinnvoll für die (Auf-)Spürzugänge erweisen, die sich aus dem Ergänzen der Satzanfänge ergeben haben, nach einer gewissen Zeit die nachfolgende Übung »Momentaufnahme meiner Weltsicht« anzuschließen.
Momentaufnahme meiner Weltsicht Suchen Sie sich einen passenden Platz, das heißt einen, der jetzt zu Ihrer Stimmung, Ihrem Befinden passt. Das kann draußen in der Natur sein (an einem Gewässer, auf einem Berg, an einem Baum, auf einer Wiese usw.) oder in dem Gewimmel einer Straße oder in der angenehmen Belebtheit eines Cafés oder drinnen in Ihrer Wohnung, Ihren Arbeitsräumen, dort, wo Sie eine Zeit lang (vielleicht eine halbe oder dreiviertel Stunde) ungestört für sich sein können. Wählen Sie eine passende Zeit dafür aus: morgens vor der Arbeit, vormittags, nachmittags, abends oder nachts. Wenn die Raum- und Zeitkoordinaten für Sie stimmen, dann nehmen Sie etwas Papier zur Hand. Schauen Sie sich freundlich, wenn möglich sogar heiterdistanziert zu bei dem, was Sie schreiben, also sprachlich und gedanklich vor sich hinstellen, was Sie aus sich herauskommen lassen, wenn Sie mit Fragen der Art umgehen: Wie bewege ich mich gerade durch mein Leben? Welche Sätze, welche Hoffnungen und Wünsche, welche Ängste und Zweifel begleiten, welche Impulse und Ideen bewegen mich gerade? Und wie nimmt sich das aus, im Vergleich zu dem, was ich schon erlebt, erfahren habe? Wie zu dem, wo ich hin will, auf das ich aus bin? Was in meinem Leben erscheint mir besonders wichtig? Und wie nahe bin ich an dem dran? Wie stehe ich »der Welt« jetzt gegenüber: enttäuscht, reserviert, abwartend, hoffend, lächelnd, zufrieden?
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Drittes Methodenporträt: Mit sich sein, aber nicht allein (Selbstsorge und Fremdsorge)
[…] es findet sich ebensoviel Verschiedenheit zwischen uns und uns selber wie zwischen uns und anderen. Michel de Montaigne
Die Unterscheidung von innen und außen […] und wir werden uns darüber klar sein müssen, daß die Dialektik des Drinnen und des Draußen sich in unzähligen Nuancen vervielfältigt und abwandelt. Gaston Bachelard Bevor das methodische Instrument einer entwickelten Selbstsorge genauer vorgestellt wird, möchte ich zunächst einige grundlegende Bedingungen zur Sprache bringen, welche die Ausgangsbasis für das Folgende bieten. Ich beginne mit einer Leitunterscheidung. Diese betrifft die Raumpolarität, die wir alltags ganz selbstverständlich verwenden, und das im konkreten wie im übertragenen Sinne. Gemeint ist die Semantik von »innen« und »außen«. Was uns diese beiden adverbialen Bestimmungen des Ortes im Austausch mit uns selbst wie in der Kommunikation mit anderen ermöglichen, wie grundlegend sie die Welt, in der wir leben, gliedern helfen, ist häufig kaum bewusst (wie zahlreiche Gesprächserfahrungen zeigen). Doch ohne diese aus dem unmittelbaren Körpererleben stammende Leitunterscheidung kämen nicht nur alle Selbst- und Fremdsorgekonzeptionen nicht aus, auch das gesamte Subjektivitäts- und Identitätserleben als Grundlage für jede Form von therapeutischer und beraterischer Kommunikation setzt © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
Die Unterscheidung von innen und außen
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diese polare Unterscheidung wie selbstverständlich voraus. Das reicht von Metaphern, wie: »Ich habe gerade den Kopf mit anderem voll«; »In deiner Haut möchte ich nicht stecken«; »Du hast doch gemerkt, was in ihr vorging«; »Ich kann doch schließlich nicht in dich hineinschauen«, »Wenn du wüsstest, wie es gerade in mir aussieht« und Ähnlichem, bis hin zu Begriffskonstruktionen, wie Innen- oder Außenperspektive. Wir »äußern« uns oder »kommen nicht aus uns heraus«, »behalten alles in uns drin«, wollen eine gute »Außenwirkung« haben und verfügen über so etwas wie »innere Landkarten«, erklären eine bestimmte Selbstdarstellung für bloß »äußerlich«, sind auf »innere Werte« ausgerichtet, sagen, das berühre doch nur das »Äußere«, etwas stelle sich »von außen ganz anders dar« als »von innen«, und geben dabei nicht jeder Person Einblick »in unser Inneres« usw. Es gibt noch eine dritte grundlegende Örtlichkeit. Das ist die paradoxe Zone72 der Grenze (von »innen« und »außen«); sie gehört sowohl (noch) zu etwas »Innerem« wie auch (bereits) zu etwas »Äußerem« und damit in gleicher Weise zu dem einen wie zu dem anderen, so wie beispielsweise die Uferlinie zugleich den äußersten Saum des Gewässers wie des Landes bildet.
An einem Ort des Zugleichs Stellen Sie sich gedanklich oder konkret an den Saum eines Flusses, auf die Bodenleiste einer Tür, an den Rand einer Mauer oder einen anderen Grenzraum. Lassen Sie Ihren Blick mal in die eine, mal in die andere Richtung gehen. Werden Sie dabei Teil von dem, auf das Sie jeweils blicken. Wechseln Sie die Blickrichtung wie die Teilhabe an diesem wie an jenem Raum mehrfach ab. Nehmen Sie die Unterschiede bewusst und mit ruhiger Aufmerksamkeit wahr. Gehen Sie dann dazu über, das Besondere des Raumes zu erspüren, auf dem Sie sich jetzt gedanklich oder leibhaftig
72 Diese besondere Örtlichkeit hat der Dichter Gerhard Rühm in einem Gedicht anschaulich gemacht und damit die oft wenig beachtete Zone der Übergängigkeit genauer betrachtet: »ichiges fließend / wo wird die quelle zum bach / wo mündet der fluss ins meer / wann wechselt der tag mit der nacht und / wann ist es morgen / wo scheiden sich haut und berührung / wann hat mein atem mich wirklich verlassen / ist nicht mehr der meine / wann werden speise und trank teile von mir / wo beginne wo ende ich / wann wurde ich ich / wann bin ich es nicht mehr / sehe ich mich erblicke ich ein gegenüber« (Rühm, 1990, S. 275). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
104 Drittes Methodenporträt befinden. Wie fühlt sich dieser Platz an? Wie empfinden Sie sich an dieser dritten Position, diesem Sowohl-als-auch, diesem Ort des Zugleichs?
Auf der Körperebene repräsentiert die Haut jene paradoxe Zone, wo »innen« und »außen« ununterscheidbar ineinander übergehen; sie bildet das, was ich vom anderen unmittelbar erfassen, begreifen kann und zugleich seinen Rand, der all das, was in ihm ist, umspannt und umhüllt. Diese konkrete Erfahrungsmöglichkeit des Körpers, seine haptische Dreidimensionalität hat verschiedene Vorstellungen und Metaphern über die sogenannte Innenwelt eines Menschen bis hin zu den Behältertheorien des Geistes oder der Erkenntnis und des Wissens grundiert oder überhaupt erst hervorgebracht. Körper als Behälter erscheinen als etwas, in das man einerseits etwas hineingeben, dauerhaft verwahren oder in dem man es zumindest zeitweise behalten und aus dem man andererseits etwas herausnehmen oder herauskommen lassen kann. Die Innen-außen-Unterscheidung kennzeichnet den materiellen wie den geistigen Stoffwechsel. Sich etwas anzueignen, intus zu haben, was einem vorher fremd, was außen war, bedeutet auch, durch das Aufnehmen von äußeren Räumen (und seien diese auch die Raumstrukturen von essbaren oder lesbaren Körpern) den eigenen Raum zu vergrößern oder zu verwandeln. Schopenhauer beschreibt in seinen »Parerga und Paralipomena« die Gemeinsamkeit dieser Verwandlungsprozesse: »Zu verlangen, daß einer alles, was er je gelesen, behalten hätte, ist wie verlangen, daß er alles, was er je gegessen hat, noch in sich trüge. Er hat von diesem leiblich, von jenem geistig gelebt und ist dadurch geworden, was er ist« (Schopenhauer, 1976, S. 657). Die Frage, inwieweit die aus dem konkreten Körpererleben kommende und zu seelisch-geistigen Begriffen abstrahierte Innen-außenUnterscheidung ein Bewusstseinsprodukt ist, das erst durch die mentalen Operationen einer Bewusstseinsbildung, über das Bewusstsein eines Selbstbewusstseins also, entsteht, kann ich hier nicht ausführlicher erläutern. An dieser Stelle geht es mir vor allem darum, deutlich zu machen, dass all unser Verhalten, Bewerten und Reflektieren von dieser grundlegenden Unterscheidung präformiert und durchdrungen ist. Bei dem, was wir tun, fühlen oder denken, gehen wir von bestimmten Voraussetzungen, sprich: von bestimmten »gedanklichen Orten«, aus, nähern uns – geistig wie konkret – anderen Positionen an, vergrößern oder verkleinern damit das Feld, in dem wir unsere Existenz (in © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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dieser wie in jener Weise) verräumlichen. Die jeweiligen Lebensräume, strukturiert durch Innen/Außen und die Grenzen, die sich daraus ergeben, schaffen jene orientierende Plastizität des Erlebens, Vorstellens und Denkens, auf die wir uns immer wieder beziehen können. Das gilt nicht zuletzt auch für jene Prozesse, durch die wir uns mit uns und mit anderen verständigen und dadurch auch räumlich zu erkennen geben.
»Weltinnenraum« Was ist, ist und ist aufgehoben im wandlosen Gefäß des Raums Ernst Meister Die Begriffe Außen- bzw. Innenwelt sind gebräuchlich. Nicht zuletzt auch deswegen, weil das menschliche Leben wesentlich durch die Räume und durch jene größeren und kleineren Welten mitbestimmt wird, in denen es stattfindet. Von Anfang an (bereits als Embryo) sind wir nicht nur zeitliche, also sich fortschreitend verändernde, sondern auch räumliche Lebewesen, stets umgeben von zum Teil sehr verschiedenen Räumen. Räume sind damit größere oder kleinere Welten, die uns mehr oder weniger ansprechen und in denen wir uns mehr oder weniger wohlfühlen. Somit gibt es stets ein Hinter- oder Vor-mir, ein Nebenmir oder ein Um-mich-herum; etwas, auf dem ich stehen, gehen, sitzen oder liegen kann; etwas, das über mir ist, zu dem ich (hin-)aufblicken kann. Schließlich bewohnen wir ja auch – als unmittelbarste Lebensumgebung – konkret wie metaphorisch unseren eigenen Leib. Und dieser eigenleibliche Raum erscheint als besondere existenzielle Bühne. Der Leibphänomenologe Maurice Merleau-Ponty bezeichnet das Verhältnis der Person zu ihrem Leib als Wohnverhältnis – j’habite mon corps. Dieses besondere Binnenverhältnis ermöglicht uns, so Merleau-Ponty, jedes Milieu der Welt bewohnen zu können. So gesehen ist die geläufige Unterscheidung zwischen Innen- und Außenwelt leiblich grundiert – wobei der Leib im Deutschen sinnvoll vom Körper unterschieden werden kann, wenngleich beide Begriffe häufig synonym verwandt werden. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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»Unter dem Leib verstehe ich zunächst das Gegenstandsgebiet der leiblichen Regungen, die am eigenen Leib ohne Beistand des Betastens und Besehens gespürt werden können, wie z. B. Angst, Schmerz, Schreck, Hunger, Durst, Wollust, Behagen, Frische, Mattigkeit, Einund Ausatmen«, erklärt der Leibdenker und Begründer einer »neuen Phänomenologie« Hermann Schmitz73 (Schmitz, 2000, S. 245). Dabei erhebt sich die Frage, wo genau die »leiblichen Regungen« stattfinden: In den Organen? In den Gedanken? Oder im Blut, in den Nervenbahnen als den Verbindungsstoffen zwischen dem Geistigen und dem Materiellen? Oder liegt da ein Entsprechungs- und Stellvertreterverhältnis vor, von dem psychosomatische Sichtweisen ausgehen, aber ebenso zum Sprichwort gewordene Sichtweisen, in denen es etwa heißt: Etwas drehe »einem den Magen um«, »eine Laus« sei »einem über die Leber gelaufen« oder etwas sei »einem zu Herzen gegangen«? Wenn ich mir ans Herz fasse oder ein Organ berühre, das »sich meldet«, dann wird meine Selbstbeziehung – eine besondere, genauer besehen rätselhafte Interaktion –, die uns in der Folge noch genauer beschäftigen wird, aktiviert, und zwar konkret, gewissermaßen körperlich. Intensiviert wird diese Erfahrung der körperlichen Selbstsorge durch die Doppelempfindung, die entsteht, wenn meine eine Hand meine andere berührt oder untersucht. Aktives und Passives, spürende und gespürte Hand gehen dann vexierbildhaft ineinander über. Feine Unterscheidungen erweisen sich oft als nützlich, da sie unsere Wahrnehmungsmöglichkeiten verfeinern. So auch diejenige zwischen Körper und Leib, welche die deutsche Sprache eröffnet. Andere Sprachen müssen da umschreiben (living body, corps vécu). Allerdings ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass zum Beispiel beim englischen body mehr als nur der Körper gemeint ist, was unter anderem beim Gebrauch des Kompositums somebody, bei dem (irgend-)ein Körper für jemand steht, oder auch des Kompositums nobody, bei dem kein Körper für niemand steht, deutlich wird. Der Mensch wäre – so betrachtet – zugleich ein körperliches und 73 Dessen innovativer und methodisch differenzierter Ansatz stellt viele vertraute anthropologische Vorstellungen in Frage, darunter auch tradierte Überzeugungen über die (seelische) Innenwelt des Menschen. Ich kann in diesem Rahmen nur auf diese Differenz hinweisen. Zwischenzeitlich sind in verschiedene Heilberufe und therapeutisch-beraterische Formate die Konzeptionen von Schmitz in die konkrete Arbeit aufgenommen worden (vgl. Becker, 2013). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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ein leibliches Wesen und der eigene Körper dasjenige, was man unter Zuhilfenahme der Augen, Hände, Füße, der Zunge, der Nase, der Ohren sehen, tasten, befühlen, riechen und möglicherweise auch hören kann. Dabei bedarf die »unterhaltendste Fläche auf der Erde«, wie Lichtenberg sagt, »die vom menschlichen Gesicht«, jedoch anderer Hilfsmittel (eines Spiegels, glatter Wasseroberflächen oder ab einer gewissen Nähe der Pupillen eines Mitmenschen), um von uns selbst gesehen werden zu können. Ein Gedanke, bei dem es sich gelegentlich etwas zu verweilen lohnt: Wir sehen dasjenige von uns, was am deutlichsten und dabei differenziertesten unsere Individualität und unser aktuelles Befinden ausdrückt, nicht unmittelbar. Wir sehen uns nicht (direkt) beim Sehen. Wir sehen nicht, wie wir in die (Außen-)Welt blicken, wenngleich es möglich ist, unsere Art des Sehens fühlend wahrzunehmen – von innen her. Dem Körper ist eine Grenzstruktur eigen; er bildet damit ebenfalls eine paradoxe Zone; er ist zugleich äußerlich wie auch innerlich; genauer, er bildet den äußeren Innenraum eines Menschen, das Rundumberührbare, die Kontaktstelle zur Welt, versinnbildlicht durch das Grenzorgan, die Haut (mit ihren »Fenstern« und »Pforten«), welche das »Gehäuse« der Person umschließt wie eine Mauer. Dadurch ist das, was ich über verschiedene Sinnesorgane an mir wahrnehmen kann, klarer und konturierter als dasjenige, was meinen Körper umschließt.
Eine Tür zur »inneren« Burg Das besondere Wohnverhältnis, von dem Merleau-Ponty spricht, das eine Person zu ihrem Körper und Leib »hat«, lässt sich auch auf die konkreten Wohn-, ja Lebensräume übertragen. Und so unterscheiden wir auch hier Außen- von Innenräumen, wobei ja die letzteren weit mehr von unserer persönlichen Gestaltung geprägt, ja in gewissem Sinne von uns imprägniert sind. Deshalb werden die sogenannten Privatwohnungen oft als der äußere Innenraum eines Menschen beschrieben und empfunden – private »Gefäße«, zu denen nicht ein jeder zugelassen wird. In ähnlicher Weise gilt dies auch für die verschiedenen Seelenräume unserer Innenwelt. Eine Metapher der Stoiker und Teresa von Avilas (1979)74 aufgrei74 In ihrem Buch »Die innere Burg« (»Castillo interior«) nähert sie sich über sieben (Seelen-)Wohnungen den genauer zu erforschenden Innenräumen des Menschen an. Diese auf die Veranlassung ihres Beichtvaters im Jahr 1577 unternommene Selbsterkundung ist christlich inspiriert, so dass ihre oft sehr bildstarke Argu© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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»Wie stellen Sie sich eigentlich Ihre Innenwelt vor?« Ich habe diese Frage wiederholt zu Beginn von Beratungen gestellt, unabhängig davon, ob der Akzent nun auf einer philosophischen, systemisch-psychotherapeutischen oder auf einer Coaching-Ausrichtung meines Gegenübers lag. Das Stutzen und Nachdenklichwerden über diese, wie ich zumeist vernahm, unerwartete und zugleich als interessant, aufschlussreich und wichtig empfundene Frage, macht etwas von der existenziellen Kluft erkennbar, die zwischen den elementaren Orientierungsbedürfnissen des Einzelnen (Wie »funktioniere« ich eigentlich?) und dem wirklichen oder bloß vermeintlichen Wissen über die menschliche Natur liegen (vgl. Erstes Methodenporträt). mentation in ein fixes metaphysisches System eingebunden bleibt. Zeitgleich mit dieser spanischen Mystikerin und Neuordnerin des Karmeliterordens erforschte Michel de Montaigne in seinem »Turm« (der noch heute zu besichtigen ist) mit Hilfe seiner Essays (einer Textform, die unmittelbar auf ihn zurückgeht) auf ganz andere Weise und ohne dabei an ein bestimmtes Weltbild gebunden zu sein, seinen »Weltinnenraum«. Dieses poetische Kompositum ist eine Prägung von Rainer Maria Rilke (Rilke, 1951, S. 77), die zu ganz unterschiedlichen Deutungen Anlass geboten hat. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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Gerade wie in diesem Fall, wo es um so etwas anscheinend Selbstverständliches und Alltägliches wie die eigene Innenwelt geht, einen »Raum« also, von dem schier jeder (sei er auch sonst überhaupt nicht an psychologischen Theorien oder Themen interessiert) sicher davon ausgeht, dass er so was »habe«. Denn Worten und Begriffen wie innen oder Innenwelt kommt eine, so scheint es uns, unmittelbare Evidenz zu, da wir als »räumliche Lebewesen« ständig ganz konkret die Erfahrung von innen und außen machen können, häufig von innen nach außen gehen oder umgekehrt von außen nach innen, wenngleich auch manche von uns sich ganz in sich zurückzuziehen und andere ganz aus sich herauszugehen scheinen. Das erleichtert jedoch nicht unbedingt die Antwort auf die Frage, wie es in mir (drinnen) aussieht. Paul, eine Figur in dem Roman »Der Liebeswunsch« von Dieter Wellershoff, ist von Beruf Arzt, auch Operateur. In einer Szene des Romans führt er an einem Mann mit einem Bauchspeichelkarzinom eine Totalresektion durch – und entfernt damit Teile einer konkreten Innenwelt. Nachdem die Körpermauer aufgebrochen, das heißt die Bauchdecke geöffnet und von Wundhaken auseinandergezogen worden ist, zeigt sich dem anatomiekundigen Mediziner ein vertrauter, sonst aber den Blicken verschlossener, ein innerer Ort. »Stück für Stück schob er das gelöste Bauchfell hoch, und dann blickten sie in die feuchte Tiefe des Bauchraumes mit seinen dunkelbraunen, grünen und gelb-rosa gefärbten Organen« (Wellershoff, 2000, S. 255). – Sieht zumindest das Äußere unserer Innenwelt so aus, dunkelbraun, grün und gelb-rosa gefärbt? Und wie ist, räumlich gedacht, das Innere unserer Innenwelt – unsere Gedanken, Ideen, Gefühle, Empfindungen, unsere Erinnerungen, Vorstellungen, Ängste, Wünsche – gefärbt? Grau wie jene Hirnzellen, von denen manch positivistischer Hirnforscher meint, mit Hilfe sogenannter bildgebender Verfahren zeigen zu können, das sich hier unser inneres, unser geistiges Leben abspiele – so, als sei das Innere, das Geistige unmittelbar und direkt sichtbar zu machen? Einer der reflektierteren Vertreter seiner Zunft, Wolf Singer, der seinen Laborzugang zu Gehirn und Bewusstsein (als den potenziellen Räumen der Innenwelt) durch eigene Meditationserfahrungen erweitert hat, berichtet in dem Essay »Auf dem Weg nach innen« von den enormen Schwierigkeiten, die der modernen Hirnforschung entgegentreten, wenn versucht wird, mit kausal-analytischen Werkzeugen in die innersten Sphären des Menschseins vorzudringen: »Die Erforschung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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des menschlichen Gehirns ist ein eigentümliches, weil letztlich zirkuläres Unterfangen. Ein kognitives System versucht sich selbst zu ergründen, indem es sich im Spiegel naturwissenschaftlicher Beschreibungen betrachtet. Solange es nur um Erklärungsmodelle für sensorische oder motorische Leistungen geht […] gleichen die erkenntnistheoretischen Fragen denen der übrigen Wissensdisziplinen. Ganz anders jedoch, wenn es Ziel ist, Erklärungen für jene mentalen und psychischen Funktionen zu finden, die den Menschen ausmachen; wenn es um Erklärungsmodelle für die kognitiven Leistungen geht, […] wenn die Frage beantwortet werden soll, ob wir erklären können, wie aus dem Zusammenspiel von Nervenzellen, von materiellen Bausteinen also, mentale Phänomene hervorgehen – Gefühle, Gedanken, Erinnerungen, Aufmerksamkeit und Intentionen« (Singer, 2002, S. 9). Die Frage nach der Beschaffenheit der eigenen Innenwelt, wie sie sich aus der Untersuchung jener rätselhaften Selbstbeziehung ergibt, wird ungut verengt, nähert man sich ihr ausschließlich anatomisch, physiologisch oder psychologisch. Die philosophische Perspektive, angereichert durch die Haltung der Philosophischen Praxis als des Versuchs, das Lebensdienliche des eigenen Nachdenkens und Erforschens zu unterstützen, erscheint mir gerade hier unverzichtbar. Denn bei allem, was selbst die skeptischen und weniger objektivitätsgläubigen Hirnforscher bei ihren einschlägigen Untersuchungen der »Denkmaterie« des Gehirns noch herausfinden mögen, bleibt doch die Gefahr bestehen, dass die Innenwelt des Menschen, das Seelisch-Geistige zu einem Reiz-Reaktionsschema trivialisiert oder direkt in der Hirnsubstanz verortet wird. Welche Vorstellung man im Einzelnen auch von dem Geistigen haben mag, so wird Geist zumeist als immateriell oder wenigstens feinstofflich oder ätherisch verstanden. Der Konterbegriff dazu, das Materielle, ist – auch für phänomenologisch gestimmte Beobachter – ein weit geringeres Veranschaulichungsproblem. Ich brauche nur nach etwas Konkretem zu greifen, mich selbst zu berühren und habe unmittelbar Materielles in der Hand oder vor Augen, zumindest die materielle Seite von etwas. Anders das Geistige: Wie sieht »etwas« aus, das ich nicht (direkt) sehen, fühlen, tasten; das ich nicht konkret und unmittelbar wahrnehmen kann? Von der Gestalt des Geistigen machen sich viele (darunter auch Hirnforscher als moderne, selbsterklärte Innenweltexperten) in unserer reichlich materialistischen Zeit kaum © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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einen rechten Begriff. Das wird zum Beispiel an Reaktionen deutlich, mit denen vermeintlich unterrichtete Kreise, die sich auf ihre Verstandeskräfte viel zugute tun, auf die sogenannte Irrlehre und vermeintlich reine Placebomedizin der Homöopathie reagieren, wenn beispielsweise ein Laborbefund präsentiert wird, der besagt, in dem jeweiligen Arzneimittel sei gar nichts von dem Stoff, den die Verpackung ausweise, enthalten, sondern nur der Lösungsstoff, also Alkohol oder Zucker. Das Lösungsmittel, genauer der Trägerstoff des Geistigen – Papier, das bedruckt, Tonbänder, die besprochen, Leinwände, die bemalt werden können etc. – ist jedoch grundsätzlich nicht identisch mit dem Geistigen an sich. Viele Hirnforscher oder Schulmediziner verwechseln hier Information und Informationsträger. So, als trüge man zwei vom Inhalt her gänzlich verschiedene Bücher ins Labor, um sie dann – materiell – genauer bestimmen zu lassen. Und wenn es sich bei diesen beiden Büchern, sagen wir, um Goethes Faust und das Telefonbuch von Berlin handelte, welche jedoch als Buch in genau gleicher Weise hergestellt worden wären, so ergäbe die Analyse einen isomorphen Befund: die gleiche Druckerschwärze, das gleiche Leinen, der gleiche Leim etc. – und zugleich und in vieler Hinsicht zwei ganz verschiedene Bücher. Ein Unterschied jedoch, den die chemische Bestimmung des Informationsträgers nicht zutage fördern kann, die zwar sehr genau die Materie, nicht aber den »Geist« des jeweiligen Buches erfassen kann. Wir können hier das Feld einer fehlgeleiteten Homöopathiekritik wieder verlassen und allgemeiner fragen: Was bedeutet das für die hier angestellten Überlegungen? Wäre demzufolge das Geistige – was man sich auch immer darunter vorstellen mag – dann als »reine« Information beschreibbar? Diese Überlegung berührt ein altes philosophisches Problem, nämlich die Frage, ob der Geist die Materie oder die Materie den Geist erzeugt oder ob beide Ergebnis eines Wechselwirkungsprozesses sind. Zu welcher Seite man auch tendieren mag, es lohnt sich, immer mal wieder bei der Frage zu verweilen, ob es möglich ist, dass hochspezialisierte Nervenzellen (sozusagen aus sich heraus) ein Phänomen wie Geist »gebären« oder sonst wie hervorbringen können, jenen »immateriellen Stoff«, der die Voraussetzung für alle mentalen Fähigkeiten bildet. Wenn also ein Phänomen wie der Geist an sich keinen festen Ort hat, dann kann er potenziell überall sein. Somit auch außerhalb einer © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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Person. Es gibt Denktraditionen, welche die Seele75 nicht in der Person vermuten, sondern als eine Sphäre oder ein Fluidum beschreiben, das den Menschen wie eine zweite, »gläserne« Haut umhüllt und umgibt. Das hat Berührungspunkte mit dem Begriff der Aura, der innerhalb der kabbalistischen Anthropologie als feinstofflicher Speicher verstanden, von der christlichen Ikonographie als Lichtmantel oder von Malern wie Hieronymus Bosch als transparente, den Körper umfangende Hülle, gewissermaßen als seelische »Eiblase« gemalt worden ist, sowie auch mit dem des Charismas, jener mitunter sehr wirkungsvollen, materiell nicht fassbaren »Ausstrahlung« einer bestimmten Person. Gilt dies auch für meinen Geist? Ja, was ist das überhaupt: mein Geist? Ist es dasselbe oder wenigstens teilweise dasselbe wie mein Bewusstsein, meine Seele, meine Individualität, meine Identität, meine Persönlichkeit, mein subjektives Empfinden? Und wie steht es mit Begriffen wie Ich und Selbst? Hat man es da mit synonymen Worten zu tun? Und was bedeutet das für die daraus abgeleiteten Termini, wie Ego, Es, Über-Ich, das Vorbewusste oder das Un- und Unterbewusste, das multiple Selbst? Das sind natürlich weiträumige Fragen; und sie führen in viele Richtungen. Folgt man ein wenig der Idee, der Geist oder das Geistige sei so etwas wie die reine, an keinen bestimmten Träger oder Körper gebundene Information, so würde dies auch bedeuten, dass der Geist an sich gewissermaßen ortlos wäre. Dieser Umstand ist ähnlich schwer vorstellbar wie der Versuch, die »reine« Information von dem jeweiligen Informationsträger zu trennen. Zwar bereitet es wenig Schwierigkeiten, eine bestimmte Information von einer geschriebenen in eine gesprochene, gemalte, komponierte usw. Form zu transferieren – doch das bedeutet lediglich einen Wechsel des Trägers. Der Umstand, dass wir Information und Informationsträger stets gleichzeitig und als eine Einheit wahrnehmen, bleibt bestehen. Ja, als die Welt sinnlich wahrnehmende Wesen betrachten wir diese Einheit als derart selbstverständlich, dass wir zum Beispiel einen Menschen stets als dieses bestimmte Zugleich wahrnehmen – bis zu dem Moment, wo wir ihn oder sie als Leiche (also nur noch als ausgedienten Informationsträger) sehen. 75 Das Stichwort Seelensitz war den Herausgebern des »Historischen Wörterbuchs der Philosophie«, des größten und umfangreichsten Fachkompendiums, einen Eintrag wert. Was zumindest darauf hindeutet, dass die »Ortschaft der Seele« auch ein philosophisch relevantes Thema ist. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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Bei dem Versuch, den Ort oder Raum näher zu bestimmen, an bzw. in dem sich die rätselhaft bleibende Selbstbeziehung ereignet, kann es einem ergehen, wie es weiland Aurelius Augustinus vor über 1600 Jahren erging, als er eine vermeintlich einfache, weil alltägliche Frage für sich zu beantworten versuchte: »Quid est ergo tempus?« Jene berühmte Frage, die der Bischof von Hippo Regius und nachmals heiliggesprochene Kirchenvater im XI. Buch seiner »Confessiones« stellt, lautet, ausführlich übersetzt: »Was ist denn nun eigentlich die Zeit?« Und diese Frage erscheint nicht weniger bedeutsam als die erste grundsätzliche Reflexion, die er unmittelbar daran anknüpft: »Wer kann das leicht und schnell erklären? Wer kann das nur in Gedanken erfassen, um es dann mit Worten zu erklären? Und doch sprechen wir in unseren Alltagsreden von nichts Vertrauterem und Bekannterem als der Zeit. Wenn wir über die Zeit sprechen, wissen wir, was das ist; wir wissen es auch, wenn ein anderer zu uns spricht. Was also ist die Zeit? Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich es; wenn ich es jemandem auf seine Frage hin erklären will, weiß ich es nicht« (Augustinus, 1993, S. 251).
Was Augustinus in seinen »Confessiones« – bei dem Versuch, Klarheit über die eigene Lebenspraxis zu gewinnen – so lapidar wie unabweisbar zur Sprache bringt, läuft auf die paradox anmutende Erfahrung hinaus, dass Zeit gleichermaßen eine uns vertraute wie eine uns unbekannte Größe darstellt. Sie ist messbar und zugleich ungreifbar. In dieser Erfahrung mit dem merkwürdigen Doppelcharakter der Zeit steckt noch eine weitere Irritation. Und diese geht über das Erfassenwollen und Erklärenkönnen eines Phänomens wie der Zeit hinaus. Sie bildet so etwas wie eine Trennlinie, einen Limes, eine Wegscheide zwischen einer vorphilosophischen und einer philosophischen Lebensform: Es ist das Gewahrwerden der Einsicht, dass ich im unbewussten, beinahe automatenhaften Vollzug des Lebens über ein schlafwandlerisch sicheres Gebrauchswissen verfügen kann, beispielsweise von etwas scheinbar so Selbstverständlichem wie der Zeit. Wird jedoch etwas so Grundsätzliches und Alltägliches, das jeder zu kennen vermeint, eigens zum Thema, so macht sich nicht selten eine Verstörung bemerkbar, ein Befremden darüber, dass gerade dasjenige, was sich bislang als so sicher und vertraut erwies, im Lichte einer kritisch-sorgfältigen Betrachtung unsicher und unvertraut erscheint. So, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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als ob der Firnis, der durch den geläufigen Umgang entstanden ist und die Unbegreiflichkeit der Phänomene verborgen hielt, abgebröckelt sei und etwas in dieser Weise noch nie Gesehenes zu erkennen gäbe. Was für ein Erfassenwollen und Erklärenkönnen einer so grundsätzlichen Dimension wie der Zeit gilt, scheint in ähnlicher Weise auch für jenen Raum zu gelten, in welchem sich »meine Innenwelt« befindet, sich mein geistig-seelisches Leben ereignet, in welchem ich mir (selbst) begegne. Denn wenn man über sogenannte innere Erfahrungen spricht, von Selbstgesprächen erzählt oder von Momenten berichtet, in denen man sich sich selbst gegenüber fremd oder besonders nahe fühlte, von Momenten gar, wo man von sich selbst überrascht worden ist, scheint dies innerhalb der Alltagskommunikation mühelos verstanden zu werden; ja beide Seiten scheinen ohne Weiteres zu wissen, wovon die Rede ist und wie und wo sich das Erzählte abspielt.
Ich entsteht aus mir […] stehenbleiben zu können und mit sich zu verweilen. Seneca Es gibt eine alltägliche und gewissermaßen ununterbrochene Erfahrung, die auch nach über hundert Jahren Psychotherapiegeschichte mit einer Unzahl von Methoden zur Selbsterforschung und Selbsterkenntnis kaum etwas von ihrer Rätselhaftigkeit eingebüßt hat: die Selbstbeziehung. Jenes besondere Verhältnis, das jeder zu sich selbst unterhält und das Grundlage, Rahmen und Möglichkeitsraum für all die Beziehungen bildet, die jemand zur Welt und damit auch zu den anderen Menschen, den sogenannten Seinesgleichen eingeht. Seinesgleichen? Wie ähnlich ist mir ein anderer, womöglich vertrauter oder mir gar naher Mensch, in dessen Nähe ich mich wohl und von dem ich mich besonders gut verstanden fühle? Phänomenologen sprechen, wenn sie vom Mitsein mit den anderen sprechen, von dem anderen als einem Fremdbewusstsein. Der andere ist anders als ich, mir fremd – doch auch nicht völlig. Denn es wird eine wesentliche Gemeinsamkeit unterstellt, und die bildet eine Brücke. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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Der andere ist wie ich mit einem Bewusstsein begabt, ganz unabhängig davon, welchen Gebrauch er oder sie davon macht. Wie viele Unterschiede es zwischen Mensch und Mensch und zwischen Bewusstsein und Bewusstsein auch geben mag, so kann man – auch angesichts einer tätigen Skepsis – füglich von einer zweiten wesentlichen Gemeinsamkeit ausgehen; und diese besteht in der Selbstbeziehung, die nicht nur ich zu mir, die auch der andere – so darf ich vermuten – zu sich selbst unterhält. Wie unterschiedlich die jeweilige Praxis der Selbstbeziehung auch sein mag – die Struktur ist es nicht. Selbstbeziehung: Das Abstrakte, das dieser Begriff auch an sich hat, wird schnell fasslich und konkret, wenn man ihn sich in Aktion vorstellt. Was geschieht, wenn ich mit mir selbst in Beziehung trete, wenn ich zum Beispiel anderen von mir erzähle und dadurch sozusagen in Doppelgestalt eines beschriebenen und eines beschreibenden Ichs in Erscheinung trete? Oder wenn ich mit mir selbst spreche: freundlich, fordernd, nachsichtig, streng, mitfühlend, gnadenlos, begütigend, selbstbewusst, schüchtern, laut, leise oder auch ehrlicher, als ich es anderen gegenüber oft bin? Um dies überhaupt tun zu können, ist es nötig, mich gewissermaßen zu verdoppeln oder zu halbieren, also aus »einem« Ich gewissermaßen »zwei« zu machen. Denn wie sollte es sonst möglich sein, dass ich über mich spreche, von mir berichte oder erzähle, unabhängig davon, ob der Adressat nun ein anderer, also jemand aus der sogenannten Außenwelt, oder ob ich es selber bin, genauer eine Seite, ein Anteil aus meiner sogenannten Innenwelt, der (zumindest zu diesem Zeitpunkt) nicht mit dem Berichtenden oder Erzähler völlig zusammenfällt, der ich ja auch bin. Diese wie selbstverständlich praktizierte Paradoxie oder, anders gewendet, Verdoppelung oder Halbierung des Bewusstseins ist so grundlegend und alltäglich wie oft unbemerkt und unbeachtet. Denn wie könnte sonst mein geistig-seelisches Leben möglich sein, wenn ich nicht in der Lage wäre, mich zu mir selbst in Beziehung zu setzen, Erfahrungen zu verarbeiten, Pläne zu schmieden, auf mich zu reagieren, mich zu entwickeln? Andererseits ist diese Form des Selbstkontakts derart selbstverständlich und nahezu automatisiert, dass sie häufig nicht mehr eigens jene Aufmerksamkeit bekommt, die sie durchaus verdient. Viele Schwierigkeiten, die Menschen mit sich (selbst) wie mit anderen haben (und die nicht selten schwer lösbar scheinen), haben hier ihre Wurzel, in jener paradox anmutenden Zone, in der ich mir selbst begegne, in © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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einem inneren Dialog zwischen mir und mir. Doch wo findet diese Begegnung der teils selbstverständlichen, teils besonderen Art eigentlich statt? Diese an sich naheliegende Erfahrung ist – wie wir gesehen haben – nicht so leicht zu beantworten. Denn Antworten auf sie, besser gesagt die Versuche, Antworten zu finden, berühren bestimmte Glaubens- oder Wunschvorstellungen, berühren Überzeugungen oder sogar mögliche Gewissheiten, an denen sich Menschen orientieren. Sie vermitteln Ideen, welche Theorien und Metaphern verwandt werden können, um den besonderen Ort näher zu kennzeichnen oder zu beschreiben, aus dem heraus jemand die Welt, in der er lebt, wie auch sich selbst erfährt. Bei dieser Klärungsarbeit können sich die erfahrungsorientierten Möglichkeiten, die eine Methode wie die epistemologische Biographie (vgl. Zweites Methodenporträt) bietet, als sehr nützlich und weiterführend erweisen. Im Unterschied zu den Strukturen des jeweiligen »Weltinnenraums« kann man sich die Dynamik der Selbstbeziehung leichter verdeutlichen. Da eine bewusste Gestaltung der Selbstbeziehung einen wichtigen Aspekt innerhalb der Arbeit mit der (eigenen) Selbstsorge darstellt, möchte ich an dieser Stelle (vorbereitend auf die nachfolgenden Konzeptionen) zunächst die diadische Struktur einer jeglichen Selbstbeziehung vor Augen führen. Den Ausgangspunkt bildet dabei die anthropologische Konstante: Ich bin stets im Gespräch mit mir. Daraus ergeben sich Selbstgesprächsvarianten, wie zum Beispiel: –– »Ich berate mich mit mir.« –– »Ich komme nicht mehr mit mir zurecht.« –– »Ich kann mich gut leiden.« –– »Ich hadere mit mir.« –– »Ich freue mich an mir.« –– »Ich stehe neben mir.« –– »Ich bin bei mir angekommen.« –– »Ich sehe mir nichts nach.« –– »Ich habe mich verloren.« –– »Ich bin vor mir erschrocken.« –– »Ich bin neugierig auf mich geworden.« –– »Ich muss mit mir zu Rate gehen.« –– »Ich kann mir das nicht verzeihen.« –– »Ich bin mit mir befreundet.« –– »Ich muss mich zusammenreißen.« © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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–– »Ich kann mich nicht verstellen.« –– »Ich kann mich nicht dazu bringen.« –– … Diese Liste stellt eine Auswahl dar. Es besteht die Einladung, diese Varianten durch eigene Selbstgesprächserfahrungen zu ergänzen bzw. zu erweitern.76 Ob sie nun Ausgangspunkt oder Ergebnis eines Selbstgesprächs bilden, viele (vielleicht sogar die wesentlichen) Identitätserfahrungen stammen aus den inneren und zuallermeist stummen Kommunikationsformen, die jemand mit sich selbst praktiziert, bevor er sich dann in dieser oder jener Weise äußert oder verhält. Diese dialogischen Begegnungsweisen mit sich selbst genau kennenzulernen, stellt eine zentrale Voraussetzung jeglicher Selbstsorgepraxis dar. Den Möglichkeiten, die ein solches genaues Betrachten und Beachten dieser Form des Selbstkontakts eröffnet, stehen auch Gefahren entgegen, die sich oft als subtil erweisen. Etwa narzisstische Fallstricke, in denen man sich verheddert, oder die Tendenz, sich in sich selbst zu versenken oder in sich selbst zu verlaufen und so sich selbst (wieder) zu verlieren. Dagegen kann es sich als hilfreich erweisen, den Prozessbeginn des Selbstkontakts eigens zum Thema zu machen.
Sich zu sich umdrehen Das Bild des Umwendens, der Umkehr zu sich selbst gehört zu den alten und essenziellen Erfahrungen des Menschseins. Antike Begriffe wie ἐπιστροφή, μετάνοια oder conversio bezeugen dies. Ihnen liegt die Vorstellung zugrunde, dass eine kreisförmige Bewegung zu den vollkommenen, das heißt vollständigsten Handlungen gehört. Die folgende Übung will anschaulich machen, wie wir in der Umkehr, der Umwendung zu uns selbst mit Hilfe des Vorstellungsvermögens eine kreisförmige Bewegung hin zu uns selbst vollziehen – nicht, um mit uns selbst zu verschmelzen, wie das manche mystische Exerzitien anstreben, sondern um uns sorgfältig zu betrachten und in eine neue Form des Kontakts mit uns zu tre76 Vgl. hierzu das neunte Hauptstück »Der Mensch mit sich allein« in Nietzsches »Menschliches-Allzumenschliches«. Diese Folge aphoristischer Texte kann einen an der Beobachtung seines Selbstgesprächs Interessierten stimulierende Perspektiven vermitteln (Nietzsche, 1988, S. 317 ff.). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
118 Drittes Methodenporträt ten. Hierfür ist es gut, sich an einen ruhigen Ort zu begeben. Dort suche ich mir etwas, was ich eine Zeitlang genau, gespannt und voller Interesse betrachten kann. Nach einer gewissen Zeit beginne ich den Vorgang des Wahrnehmens, des Schauens von innen her wahrzunehmen, das heißt, ich »befühle« beispielsweise meine Augen sowie das Wahrnehmen jenes Gegenstands, den ich ausgewählt habe, bis ich gleichzeitig ihn wie auch mich selbst als Wahrnehmenden eben dieses bestimmten Gegenstands zu bemerken und zu erfassen beginne. Dann stelle ich mir vor, wie ich den Blick von dem ausgewählten Gegenstand weg- und (in einer 180-GradDrehung) auf mich selbst zuwende, als seien meine Augen, mein Wahrnehmungsvermögen so etwas wie eine Filmkamera, die auf ihren Ausgangspunkt zurückgeschwenkt wird. Wenn ich meine Selbstbeziehung in dieser Weise gestaltet habe, kann ich beginnen, folgenden Fragen nachzuspüren: Was bekomme ich jetzt – durch diese umgekehrte Blickbahn – zu Gesicht? Ist es etwas Neues, bislang nicht Gesehenes? Mutet es mich angenehm oder eher unangenehm an? Fühle ich mich davon befremdet oder im Gegenteil sehr vertraut? In welche Bereiche meiner selbst, die mir bislang dunkel geblieben sind, fällt jetzt Licht?
Bedenken, wie es um mich steht Ich bin, aber ich habe mich noch nicht. Ernst Bloch Der Begriff der Selbstsorge geht auf die frühe griechische Philosophie zurück. Durch ihn wie seinen Gebrauch wird deutlich, dass während der Antike Philosophie und Philosophieren als etwas durchaus Praktisches, Lebensnahes, ja, Lebensdienliches angesehen wurden. Das sokratisch-mäeutische Philosophieren etwa war zu einem wesentlichen Teil Seelsorge. So überliefert beispielsweise Platon (2004b) in dem Dialog »Alkibiades« eine Beratungssituation dieses jungen gleichnamigen Atheners, der sich mit Sokrates über seine persönliche und berufliche Entwicklung austauscht. Sokrates ist hierbei als eine Art »philosophischer Berater« tätig. Alkibiades strebt ein Führungsamt in der Polis an, das heißt, er möchte sich um die anderen kümmern. Sokrates konfrontiert ihn mit © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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der Frage, ob er sich, da er sich um die anderen kümmern wolle, auch bereits in ausreichender Weise um sich selbst gekümmert habe. Alkibiades verneint dies. Seine Antwort wirkt bewusstseinsbildend, jedoch nicht nur für ihn selbst, sondern auch für die antiken wie für die heutigen Leser dieses Dialogs. Denn es erhebt sich die Frage, was denn das eigentlich heiße und bedeute, sich um sich selbst zu kümmern, in angemessener Weise für sich selbst zu sorgen. In dieser Situation deutet sich zudem gewissermaßen paradigmatisch auch das Verhältnis zwischen guter Fremdsorge und einer entwickelten Selbstsorge an. Dabei wird rasch deutlich, dass Selbstsorge mehr ist, als sich beispielsweise in ausreichender Weise zu kleiden, zu ernähren, für Ruhe, Schlaf, Entspannung, Ausgleich etc. zu sorgen, also den Impulsen der Selbsterhaltung nachzugehen. Dabei ist auch diese Praxis der Selbsterhaltung – wie dies Forschungen zum sogenannten Burn-out überdeutlich zeigen – durchaus nicht so selbstverständlich, wie man vielleicht meinen sollte. Was das Verhältnis zwischen einer entwickelten Selbstsorge und einer guten Fremdsorge anlangt, gibt Michel Foucault eine Einschätzung, die auf den ersten Blick verwundern mag: »Nehmen wir zum Beispiel Sokrates. Das ist genau der, der die Leute auf der Straße oder die Jungen im Gymnasium anspricht und sie fragt: Beschäftigst du dich mit dir selbst? […] Das ist der Mann, der sich um die Sorge der anderen kümmert: das ist die besondere Position des Philosophen. Aber im Fall des vereinfachend gesagt freien Mannes bestand, glaube ich, die Forderung […] darin, daß, wer sich richtig um sich selbst kümmert, sich deshalb den anderen gegenüber richtig verhalten kann. Eine Polis, in der sich jeder auf die richtige Art um sich selbst kümmern würde, wäre eine Polis, die gut funktionierte« (Foucault, 1985, S. 15).
Was soll es, so könnte man fragen, dem anderen denn nutzen, wenn ich mich um mich selbst kümmere? Ist die Fremdsorge, das aktive Interesse an den anderen für das menschliche Zusammenleben nicht wichtiger als eine Selbstsorge, die leicht in einen Egoismus oder Narzissmus münden und diese gar als Wohltat für die Gemeinschaft verbrämen kann? Hinzu kommt die Frage, was damit gemeint ist, wenn Foucault erklärt, dass, wer sich richtig um sich selbst kümmere, sich deshalb den anderen gegenüber richtig verhalten und ihnen somit nutzen könne. Und © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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dabei bezieht sich Foucault auf keinen Zeitgenossen, sondern auf einen Menschen der Antike, einen sehr prominenten dazu, nämlich Sokrates, dessen Leben von zahlreichen Legenden umrankt ist und dessen Wirken von späteren Deutungshoheiten in Anspruch genommen wird (vgl. Viertes Methodenporträt). Gilt denn, was für Menschen der Antike, die unter ganz anderen Umständen gelebt haben als wir, möglicherweise gegolten haben mag, auch für uns Heutige? Dass die Beschäftigung mit einem Begriff wie der Selbstsorge viele Fragen aufwirft, liegt in der Natur der Sache. Und die Sache ist alt, ebenso wie die Beschäftigung damit, womöglich älter als die Antike, wenngleich aus dieser Kulturperiode erste genaue Konzeptualisierungen überliefert sind. Foucault kommt hierbei das Verdienst zu, durch seine Bekanntheit, ja Berühmtheit, die er schon zu seinen Lebzeiten erreicht hatte, sozusagen mit großer Strahlkraft den Blick auf philosophische Verhaltensformen geworfen zu haben, die in Vergessenheit geraten waren. Er spricht hierbei auch von einer »Ästhetik der Existenz« (Foucault, 2007, S. 280 ff.). Außer Foucault sind – was die Erforschung der antiken Selbstsorgepraktiken betrifft – vor allem noch Paul Rabbow, Pierre Hadot,77 Wilhelm Schmid78 und Christoph Horn zu nennen. Was ist jedoch genau unter Selbstsorge zu verstehen und wie kann diese innerhalb der therapeutischen und beraterischen Kommunikation sinnvoll genutzt werden? An dem Wort fällt zunächst auf, dass es ein Kompositum ist, das heißt eine »Begriffsvermählung« aus zwei deutschen Bestandteilen, die wir für sich genommen einzeln, alltags wie auch in der professionellen Kommunikation ganz selbstverständlich verwenden und die hier in diesem Sinnzusammenschluss (vgl. Stölzel,
77 Hadots Untersuchungen sind zeitlich denen Foucaults vorausgegangen. Als bestallter Philosophieprofessor betont er: Alle theoretischen Diskurse seien nichts gegen ein philosophisch geführtes Leben. Vgl. hierzu seine Bücher: »Philosophie als Lebensform« (1981) und »Wege zur Weisheit« (1999). 78 Der so etwas wie der deutsche Statthalter foucaultscher Selbst-Technologien geworden ist. Schmid hat bei der Ausarbeitung seiner »Philosophie der Lebenskunst« (Schmid, 1998) Foucaults Forschungsergebnisse und Ideen zu einer philosophischen Lebenspraxis weiterentwickelt und dabei unter anderem aufgezeigt, welche Bedeutung der Selbstsorge auch bei Fragen der Selbsterkenntnis zukommt. In seinem Buch »Mit sich selbst befreundet sein« (Schmid, 2004) hat er seine Lebenskunstkonzeption im Hinblick auf die Selbstbeziehung erweitert und als Verfasser des Lexikonartikels »Selbstsorge« im »Historischen Wörterbuch der Philosophie« diesen Begriff auch mit Bezug zur Gegenwart aktualisiert. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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Th., 2012, S. 37 ff.) eine bestimmte Eigenbedeutung erhalten. Beginnen wir also damit, uns diese Alltagsbegriffe etwas genauer anzusehen. Selbst, umgangssprachlich selber, ist ein altes Pronomen, das sich bereits im Gotischen und Althochdeutschen nachweisen lässt. Es bezeichnet das Eigentümliche, Unverwechselbare und Persönliche eines Wesens: »ich bin es selbst« oder »mein anderes, besseres, mein wahres Selbst«; »ich komme vor lauter Ablenkung kaum noch zu mir selbst«. Grammatisch gesehen, erscheint es außerdem im adverbialen Gebrauch: »selbst seine Freunde konnten ihn nicht aufhalten«; »selbst wenn es dazu kommen sollte« oder als Demonstrativpronomen zur Bezeichnung einer spezifischen Identität: derselbe, dieselbe, dasselbe, dieselben. Begriffsgeschichtlich betrachtet, gewinnt das Selbst vor allem in der Neuzeit und hier seit der sogenannten Aufklärung besondere Bedeutung, was sich auch anhand zahlreicher Komposita zeigt, die mit dem Wortteil Selbst- gebildet werden und entscheidende Aspekte und Themen des persönlichen wie sozialen Menschseins zur Sprache bringen. Hierzu einige alphabetisch geordnete Beispiele: Selbstachtung – Selbstaneignung – Selbstbefriedigung – Selbstbehauptung – Selbstbeobachtung – Selbstbesinnung – Selbstbestimmung – Selbstbewusstsein – Selbstbeziehung – Selbstdenken – Selbsterfahrung – Selbsterhaltungstrieb – Selbstfindung – Selbstgefühl – Selbstgespräch – Selbstliebe – Selbstlosigkeit – Selbstmächtigkeit – Selbstmanagement – Selbstmord – Selbstorganisation – Selbstreferenz – Selbstsucht – Selbsttäuschung – Selbstüberschätzung – Selbstüberwindung – Selbstverantwortung – Selbstverständnis – Selbstvertrauen – Selbstverwirklichung – Selbstverzicht – Selbstwahrnehmung – Selbstwert – Selbstzweck. Das Selbst scheint nahezu bei allem, was das menschliche Leben ausmacht, an wesentlicher Stelle mit dabei zu sein. Auffällig ist, dass wir nicht von Ich-Mord oder Ich-Vertrauen, sondern von Selbstmord oder Selbstvertrauen sprechen. Und der berühmte, durch die Jahrtausende hallende anthropologische Appell, der in die Säulen des Tempels zu Delphi geritzt worden war, fordert nicht zur Ich-Erkenntnis auf, sondern lautet in direkter deutscher Entsprechung des griechischen gnôthi sautón: »Erkenne dich selbst!« Das kann zu folgender Überlegung führen: Ist das Ich eines Menschen von seinem Selbst unterschieden? Ist das eine im anderen enthalten? Oder wie darf man sich dieses – man kann wohl sagen: Selbstverhältnis – vorstellen? Wenn wir fragen, wie sich die beiden, gerade auch für die therapeutisch oder beraterische Kommunikation höchst relevanten Begriffe Ich und Selbst zueinander © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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verhalten, fragen wir zugleich nach mehr. Denn mit dieser Bestimmungsfrage kommt ein ganzes Begriffsfeld genauer in den Blick. Und da bekommt man es mit verwandten und benachbarten Begriffen zu tun, wie Geist, Bewusstsein, Seele, Individualität, Identität, Person, Persönlichkeit, Subjektivität; aber auch mit den aus beiden Begriffen abgeleiteten, wie zum Beispiel Ego, Es, Über-Ich, dem Vorbewussten, dem Un- und dem Unterbewussten bis hin zum multiplen Selbst. Es geht im Folgenden nicht darum, entsprechende Definitionen zu sammeln. Wir bräuchten da ja nur die Philosophie- und Psychologiegeschichte entsprechend zu mustern und würden finden, dass auf diese für das Menschsein wichtigen Aspekte ganz unterschiedlich geantwortet, dass ganz verschiedene, zum Teil einander widersprechende Konzeptionen vom Wesen des Menschen und seiner Innenwelt entworfen worden sind. Überdies hat es die Mehrzahl der Begriffe mittlerweile zu lexikalischen Ehren gebracht, was manche Zeitgenossen dazu verführt, einfach nur nachzuschlagen, um dann zu »wissen«, was darunter zu verstehen sei, als handle es sich hier um einen dinghaft zu machenden Gegenstand. Mein »Ich«, mein »Selbst« würden dadurch zu einfachen Gattungsbegriffen, wie zum Beispiel Haus, Baum, Buch, und wären keine grammatischen Funktionsworte mehr. Doch selbst wenn man entsprechende Lexika oder Fachkompendien konsultiert, wird man keine einheitlichen Begriffsbestimmungen finden. Das kann zu der Überlegung führen, dass gerade hier keine fest umrissenen Definitionen möglich, ja, dass sie nicht einmal wünschbar sind. Ludwig Wittgenstein hat mit seinem perspektivischen Instrument einer Familienähnlichkeit (Wittgenstein, 1971, S. 48–59), welches die Gleichzeitigkeit von Ähnlichem und Verschiedenem sichtbar machen kann, eine geschmeidige, die Nuancen erhaltende Beschreibungsmöglichkeit entwickelt. Er versteht hierunter ein Gewebe sich teilweise überschneidender Übereinstimmungen einer gemeinsamen Phänomengruppe, welche, oder auch eines Begriffsfeldes, welches unterschiedliche Merkmale aufweist, wie analog dazu in einer konkreten Familie. Wittgenstein illustriert das anhand des Begriffs »Spiel«, der bekanntermaßen ja Vieles und Vielfältiges bezeichnet: Kartenspiele, Brettspiele, Feldspiele, Schauspiele, Beispiele, Glücksspiele, Olympische Spiele, Heimspiele, Kinderspiele, Ballspiele, Spiele der Erwachsenen, Gastspiele, Wettspiele, bis hin zu Begriffs- oder Sprachspielen, um nur einige Bezeichnungen zu nennen. »Wenn wir ›schauen‹, ob allen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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Spielen etwas gemeinsam ist, bemerken wir, dass sie nicht durch ein einzelnes Merkmal vereint sind, sondern durch ein Netz von einander überlappenden und durchkreuzenden Ähnlichkeiten, genauso wie die verschiedenen Mitglieder einer Familie einander in verschiedener Hinsicht ähneln (Gestalt, Züge, Augenfarbe etc.). Was den Begriff zusammenhält und ihm eine Einheit gibt, ist nicht ein ›einzelner Faden‹, der durch alle Fälle liefe, sondern gleichsam ein Einander-Übergreifen verschiedener Stränge, wie in einem Seil« (Wittgenstein, 1971, S. 87). Dieses perspektivische Instrument lässt sich auch gut dafür verwenden, die Verwandtschaftsverhältnisse von Ich und Selbst wie der direkt benachbarten Begriffe zu untersuchen und zu klären.
Familienähnlichkeit als perspektivisches Instrument Nehmen Sie eine ausreichend große Papierfläche (DIN A2 oder A3, Metaplanwand, Flipchart) und ordnen Sie die oben erwähnten Begriffe in der Weise an, wie Sie dies für sich als richtig und stimmig empfinden; wie Sie die Begriffe Ich, Selbst et. al. verwenden. Achten Sie darauf, welche Begriffe Sie ins Zentrum, welche Sie an den Rand, welche Sie dazwischen setzen. Finden Sie dadurch heraus, welche Begriffe (und damit verbundenen Themen und Aspekte) für Sie unmittelbar neben- oder gar ineinander stehen, welche etwas, welche weit voneinander entfernt, welche in welcher Position zueinander stehen. Entwickeln Sie die jeweiligen Bedeutungen, die diese Begriffe für Sie besitzen, vor allem aus den für Sie sich ergebenden »Familienbeziehungen«. Welcher Begriff »erzeugt« welchen anderen? Welche sind miteinander »verschwistert«, »verschwägert«, wer steht für wen »Pate« usw.? Welche Bedeutungen bekommen jetzt die beiden Begriffe Ich und Selbst für Sie? Und wie würden Sie jetzt deren Verhältnis beschreiben?
Im Unterschied zu einem schwer auslotbaren Begriff wie dem Selbst, ist der zweite Bedeutungsteil des Kompositums Selbstsorge, die Sorge, leichter zu bestimmen. Die Sorge tritt ja nicht nur hier auf; sie begegnet auch in Begriffsverknüpfungen, so in Substantiven wie der Vorsorge, der Nachsorge, der Fürsorge oder der weiter oben erwähnten Seelsorge; sie begegnet in den Adverbien sorglos oder sorgfältig bzw. sorgsam im Sinne von behutsam oder achtsam (sowie in den zugehörigen Adjektiven); sie begegnet in dem Verb (sich) sorgen und somit gleichfalls in © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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dem Verb (sich) kümmern, da dieses oft synonym zum ersteren verwendet wird. Und was bedeutet es, sich um sich selbst oder um das Selbst zu kümmern bzw. zu sorgen? Die beiden Verben, sich kümmern bzw. sich sorgen, haben im Deutschen zwei Bedeutungsvalenzen: 1. Ich kann mich sorgen oder bekümmern. 2. Ich kann für etwas wie mich selbst sorgen oder mich um etwas (zum Beispiel eben um mich selbst) kümmern. Beim Begriff der Selbstsorge fließen diese beiden Valenzen ineinander, wobei der Akzent auf der zweiten liegt, dem Mich-aktiv-um-etwasKümmern oder Für-etwas-Sorgen, in dem Fall um oder für mich selbst. Damit anzufangen, sich um sich selbst zu sorgen, kann der Beginn einer konstruktiven Selbstsorge sein, sofern aus diesem Sich-selbst-Wahrnehmen eine entsprechende Aktivität hervorgeht, und man nicht in einem passivischen Sich-selbst-Bedauern verharrt. Die Selbstsorge unterstützt dadurch die eigene Selbstbeziehung und kann dafür sorgen, eine lebensdienliche Mitte zwischen Selbstvergessenheit oder Selbstverlorenheit und Selbstbesessenheit oder Selbstüberhöhung zu finden. Es geht bei der Selbstsorge also um eine Form der konstruktiven Selbstfreundschaft, die ihrerseits wiederum eine Folge einer angemessenen Annahme der eigenen Person und des Übens bzw. der Arbeit am eigenen Selbst darstellt. So empfiehlt der Philosoph Seneca, der auch als Führungs- und Politikberater tätig gewesen ist: »Eigne dich dir an – lerne, dich zu erwerben« (Seneca, 1995, S. 133). Er deutet damit an, dass es im Vollzug des erwachsenen Lebens ganz wesentlich auch darum geht, sich selbst wirklich in Besitz zu nehmen (vgl. Sloterdijk, 2011, S. 24 f.). Dies ist jedoch nicht so einfach, wie es vielleicht auf den ersten Blick aussehen mag. Es setzt die kontinuierliche und stabile Bereitschaft voraus, an sich selbst zu arbeiten. Seinem Freund und Briefpartner Lucilius, mit dem er sich über Formen und Erfolge der Arbeit an sich selbst austauscht, teilt Seneca mit: »Worin ich vorangekommen bin? Mein Freund zu sein, habe ich begonnen« (Seneca, 1995, S. 33). Und dieser zugleich kritische wie wertschätzende Umgang mit sich selbst79, ist ebenfalls nicht sehr verbreitet. Es geht also bei der Selbstsorge darum, 79 Vgl. hierzu Wilhelm Schmid »Mit sich selbst befreundet sein« (Schmid, 2004) und als anderen Zugang, der sich auf Schmid bezieht, Siegfried Essen »Selbstliebe als Lebenskunst« (2011). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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ein Gespür für realistische Wachstumsmöglichkeiten der eigenen Person zu entwickeln und sich mit einer entsprechenden konstruktiven Selbstaufmerksamkeit sich selbst zuzuwenden, wobei konkrete Übungen den Veränderungsprozess unterstützen und strukturieren können. Die Selbstsorge ermöglicht es dem Einzelnen, das eigene Leben auf eine philosophische Weise zu führen. Das bedeutet: es auf eine übende Weise zu führen, also weder in Perfektionismus noch in Resignation zu verfallen, sondern achtsam und verantwortungsbewusst die eigenen Veränderungsmöglichkeiten in den Blick zu nehmen.
Im Gespräch mit mir80 Beschäftigen Sie sich, am besten schriftlich, mit den nachfolgenden Fragen. Es ist dabei nicht nötig, die Fragen »zu Ende« zu beantworten. Es geht vielmehr darum, sich von den Fragen befragen zu lassen, sie gewissermaßen als hilfreiche Dialogpartner in diesen Prozess der Selbstklärung mit einzubeziehen. Das kann auch über diese Übung hinausgehen und eine wichtige Grundlage für die eigene Selbstsorgepraxis bilden. Fragen Sie also bzw. lassen Sie sich befragen: Wie gut oder schlecht sorge ich für mich? Was verstehe ich unter guter Selbstsorge? Was würde sich in meiner Arbeit und in meinem Leben überhaupt verändern, wenn ich mehr oder anders für mich sorgen würde? Woran wird für mich erkennbar, dass ich gut für mich sorge? Wie könnte mir eine gute und entwickelte Selbstsorge dabei helfen, meine Werte, Ziele, Ansprüche und Ideale im konkreten Alltag besser zu verwirklichen? Wenn Sie diese Forschungsperspektiven noch weiter vertiefen möchten und sich noch anders ergründen wollen, dann empfehle ich nach einem gewissen zeitlichen Abstand (einem Tag oder etwas mehr) die nachfolgende Übung: Beschäftigen Sie sich 15 Minuten mit Erfahrungen, durch die Sie von etwas, jemanden oder sich selbst entmutigt worden sind. Vergegenwärtigen Sie sich, was Sie damals entmutigt hat bzw. wie Sie es geschafft haben, sich selbst zu entmutigen. Untersuchen Sie dann ebenfalls 15 Minuten in ähnlicher Weise Erfahrungen, durch die Sie von etwas, 80 Die Selbsterforschung ist eine philosophische Tätigkeit, die nicht erst mit Sokrates eingesetzt hat; sie findet sich auch bei den sogenannten Vorsokratikern. Heraklit bekundet in seinen Fragmenten: »ich habe mir selbst nachgeforscht« (Heraklit, 1989, S. 31). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
126 Drittes Methodenporträt jemanden oder sich selbst ermutigt worden sind. Vergegenwärtigen Sie sich, was Sie damals ermutigt hat, wie Sie es geschafft haben, sich selbst zu ermutigen und welche Auswirkungen dies hatte.81
Selbstsorge – Begriff und Anwendung Der aus der antiken philosophischen Lebenspraxis stammende Begriff Selbstsorge (griech. epimélia heautoû) bezeichnet die entwickelbare und lebensdienliche Fähigkeit, sich in angemessener Weise sich selbst zuwenden zu können, um das je eigene Potenzial im dynamischen Spannungsverhältnis von eigenen und fremden Bedürfnissen allmählich zu entfalten. Durch diese Form einer bewussten und reflektierten Aufmerksamkeit für sich selbst kann die eigene Selbstbeziehung und damit auch eine angemessene Achtsamkeit für andere sowie für die Fremdsorge überhaupt verfeinert und verbessert werden. Damit bildet eine entwickelte Selbstsorge eine wesentliche Grundlage für die Praxis der persönlichen Lebensführung. Um das besondere Potenzial der Selbstsorge für professionelles wie persönliches Handeln zu einer guten und praxisnahen Entfaltung zu bringen, erscheint es mir wichtig, drei grundlegende Anwendungsformen zu entwickeln und zu praktizieren: 1. Selbstsorge als Haltung (Aspekte der Selbstwahrnehmung), 2. Selbstsorge als spezifische Aufmerksamkeit (Aspekte der Selbst beziehung), 3. Selbstsorge als Übung (Aspekte der Selbstpraxis). Mit Hilfe dieser konkreten Anwendungsformen können neue und bislang noch ungenutzte Zugänge zur persönlichen Selbstorientierung eröffnet werden. Auf dieser Basis lässt sich die herausforderungsreiche Arbeit, der sich eine Führungskraft gegenüber sieht, besser bewältigen; das gilt sowohl für die jeweilige Selbst- wie auch Fremdverantwortung.
81 Zur methodischen Entfaltung der philosophischen Kompetenz des Mutes vgl. Stölzel, Th. (2012, S. 222 ff.). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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Dritter Leitbegriff: Askese – Übung Der Asket macht eine Tugend aus der Not. Friedrich Nietzsche Der Begriff löst heutzutage vor allem Assoziationen aus, die durch eine bestimmte Verwendungsweise der christlichen Traditionen geprägt worden sind. Dies hat die produktive Ursprungbedeutung ziemlich verzerrt. Bereits Nietzsche hat die Frage gestellt: »Was bedeuten asketische Ideale?« (Nietzsche, 1980, S. 339 ff.), und in subtilen Beobachtungen die damit verbundene Anmaßung in einprägsamer Weise aufgespießt. Bert Hellinger pointiert aus seiner familientherapeutischen Sicht einen hier obwaltenden Mangel: »Dem Asketen fehlt die Mutter« (Hellinger, 1995, S. 46). Was man über Anmaßung oder Mangel denken mag, ein Blick auf das (Fremd-)Wort erweist sich hier als aufschlussreich. Das griechische Verb askein bedeutet schlicht üben, es bedeutet jedoch weder, dass der Übende (der Asket) dabei in irgendwelcher Weise enthaltsam zu sein (oder zurückgezogen zu leben) braucht, noch, dass ein enthaltsames oder zurückgezogenes Leben ein besseres, ein anzustrebendes wäre. Foucault hat (um die Urbedeutung wieder hervortreten zu lassen) daher von »Asketik« (vgl. Menke, 2003) gesprochen und den Begriff »Technologien des Selbst« (Foucault, 1993, S. 24 ff.) ins Spiel gebracht. Und damit ein existenzielles Üben bezeichnet, durch das der Einzelne in einer »Kultur seiner selber« sein Leben (zumindest phasenweise) übend leben kann (Foucault, 1989, S. 53 ff.). Entscheidend ist hier der Gedanke der persönlichen Selbstpraxis, die den »Alltag als Übung« (Dürckheim, 1966) zu nutzen versteht. Das Lebensdienliche eines konkreten und reflektierten Übens besteht darin, sich kontinuierlich verbessern, anders bei sich ankommen, sich mehr hervorbringen und in Besitz nehmen82 zu können. Dabei erweisen sich selbstgestaltete wie biorhythmisch gegebene Rituale als unterstützend (Starobinski, 1989). »Asketik« in diesem Sinne ist kein monastisches, sexualitäts- oder weltverneinendes (genauer weltvermeidendes) Ideal, 82 Dieses Ziel verfolgten nachweislich von der stoischen Philosophie inspirierte Denker, die sich beständig schweren Herausforderungen und Fremdeinflüssen ausgesetzt sahen, wie zum Beispiel Marc Aurel. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
128 Drittes Methodenporträt sondern ein methodischer Weg, zu sich selbst zu kommen, insbesondere für diejenigen, die »voll« in ihrem Leben stehen und sich darin (noch) intensiver erfahren wollen.
Die Selbstsorge erweist sich nicht allein für Führungskräfte als ein lohnendes und die Lebensqualitäten bis zur Klärung von Sinnfragen entscheidend verbesserndes Tätigkeitsfeld (vgl. Schmidt-Lellek, 2008, S. 205 ff.). Nimmt man die Idee und Erfahrung ernst, die der Teilearbeit und der philosophischen Intravision (vgl. Erstes Methodenporträt) zugrunde liegen, so ist jeder zumindest der »Bewusstseinspräsident« der eigenen »inneren Gesellschaft«. Allerdings sehen sich beispielsweise Ärzte, Therapeuten, Berater und diejenigen, die im psychosozialen Feld tätig sind, häufig einer starken Beanspruchung durch eine intensive Fremdsorge gegenüber, anders als diejenigen, die in weniger fremdsorge-beanspruchenden Berufen arbeiten. Wenn sich die Praxis der Selbstsorge auch für alle lohnt, die an einem bewussten und selbstverantwortlichen Leben interessiert sind, so erscheint sie für die sogenannten Führungskräfte jedoch besonders angezeigt. Denn Führung zeigt sich als eine bidirektionale Tätigkeit; das bedeutet, dass sie sich zugleich in zweierlei Richtungen vollzieht: zu mir selbst hin (Selbstführung), also nach innen, wie in gleicher Weise zu den anderen hin (Fremdführung), also nach außen. Damit ist Führung ein inneres und äußeres Tun. Was die Dynamik zwischen Fremdsorge und Selbstsorge betrifft, so handelt es sich hierbei gewissermaßen um die »Dynamik von siamesischen Zwillingen«, also ein Voraussetzungsverhältnis, bei dem das eine nicht ohne das andere zu haben ist. Dieses Voraussetzungsverhältnis lässt sich kurz so umreißen: Um andere gut führen zu können, ist es nötig, die Führungskraft immer wieder in die Lage zu versetzen, gerade auch sich selbst führen zu können, bzw. immer wieder an dieser zentralen Fähigkeit zu arbeiten. Auf diesem Wege kann die philosophische Selbstsorge, mit Hilfe entsprechender Übungen und Rhythmen (vgl. Starobinski, 1989), zu einer nachhaltigen und krisenfesten Führung anleiten. Eine Führungskraft, die sich übend um die Verbesserung der eignen Selbstsorge bemüht, kann dadurch ihre atmosphärische Ausstrahlung und Vorbildfunktion verbessern. Das »Ansteckende« von tätiger Selbstsorge für die anderen, das heißt also diejenigen, die von der Führungs© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
Letzte Fragen
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kraft geleitet werden, macht sich unter anderem in Komponenten wie Achtsamkeit, Nachdenklichkeit, Klarheit und Beweglichkeit bemerkbar; Komponenten, die sich allesamt auf das Klima der Organisation günstig auswirken und dadurch die produktiven Wechselwirkungsprozesse zwischen Führungskräften und Mitarbeitern zu stärken vermögen. Die Arbeit an sich selbst, die durch die Praxis der Selbstsorge angeleitet und verbessert wird, kann dadurch von allen Mitgliedern der Organisation als eine lohnende und lebensbegleitende Tätigkeit erfahren werden. Im günstigsten Falle wird dadurch eine krisenstabile »Seelenruhe« erreicht, jene tranquillitas animi, von der Seneca spricht und die sich gerade heutzutage, da Herausforderungen und Verunsicherungen ständig zunehmen, als hilfreicher Stabilitätsgeber erweisen kann. Die konstruktive Selbstnähe, die eine entwickelte Selbstsorge, im Unterschied zu einer egozentrischen Selbstbezogenheit ermöglichen und viabel halten kann, eröffnet auch andere Blicke auf das eigene »Seelenhaus«. Der Verleger und Schriftsteller Michael Krüger hat Zugänge zu einem solchen in einem Gedicht so beschrieben: Letzte Fragen Mein Haus hat sechs Türen, alle aus gutem Holz. Die erste verhandelte zu lange mit dem Architekten über den Platz, der ihr zukomme, und wurde geschlossen. Die zweite ist allergisch gegen Licht Und lässt sich bei Tag nicht öffnen. Die dritte steht nur im Traum offen Und zeigt einen alten bärtigen Engel, der seine Pflicht tut. Die vierte führt in die heile Welt Und wird nicht mehr benutzt. Die fünfte sucht ihre Form Nach dem Maßstab des Möglichen. Die sechste ist unsichtbar. Seit Jahren fahre ich mit den Händen Die Wände ab, um sie endlich zu finden. Ich weiß genau, dass sie existiert. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
130 Drittes Methodenporträt Natürlich wäre es möglich, dem Haus eine weitere Tür zu verpassen, wie alle Freunde mir raten. Aber lieber reiße ich das Haus ab, um in den Trümmern Eingang zu finden. (Krüger, 2003, S. 45)
Die Heftigkeit, welche die Schlusszeile andeutet, findet sich nicht selten auch bei sogenannten Burn-out-Erfahrungen. Für manche mag es leichter, mag es angemessener, mag es vielleicht der einzige Weg sein, das »alte Haus«, sprich die in den sogenannten Burn-out führenden Denkhaltungen und Wertvorstellungen abzureißen als dem Ganzen eine weitere Tür, das heißt neue Denkhaltungen und Wertvorstellungen hinzuzufügen. Manchmal ist es nötig, die eigene epistemologische Biographie (vgl. Zweites Methodenporträt) umzuschreiben bzw. sie vielleicht überhaupt erst mal zur Kenntnis zu nehmen. Als zugleich wirkungsvolle Burn-out-Prophylaxe wie auch als Einführung in die übende Selbstsorge sei eine Übung zum Thema philosophische Viertelstündchen empfohlen.
Sich mit sich verabreden – philosophische Viertelstündchen »Es ist eine ganz bekannte Sache«, sagt Georg Christoph Lichtenberg, »daß die Viertel-Stündchen größer sind als die Viertelstunden.« Chronometrisch oder quantitativ betrachtet, bildet der Zeitraum einer Viertelstunde ein 96stel eines vollen Tages. In einer Zeit wie der unsrigen, die nicht unwesentlich durch Zeiteinsparungsmaschinen wie Autos, Flugzeuge, Hochgeschwindigkeitszüge, Spülmaschinen, Waschmaschinen, Faxe, E-Mails etc. geprägt ist und in welcher mit immer ausgeklügelteren Zeitmanagementsystemen eigentlich – zumindest quantitativ – mehr Lebenszeit für Wesentliches zur Verfügung stehen müsste als früher, wird oft über Zeitmangel geklagt. Ein alltagsphilosophisches Mittel dawider wäre, sich täglich für eine Viertelstunde (die sich auch mal zu einem »Viertelstündchen« auswachsen kann) alleine mit sich selbst zu verabreden, um das eigene Befinden zu erkunden, mit sich zu Rate zu gehen und sich selbst wichtige Fragen zu stellen, wie unter anderem: Bin ich da, wo ich gerade bin, an einem für mich guten Platz? Was ist mir wirklich wichtig? Und was könnte ich dafür tun? Wie möchte ich leben? Und wie © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
Den anderen wahrnehmen (können) – Selbstsorge und Außenwelt
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viel von diesem Wie habe ich bereits verwirklicht? etc. Ein philosophisches Viertelstündchen ist selbst für chronisch zeitknappe und schwer beschäftigte Menschen durchaus einzurichten und kann die anderen 95 Viertelstunden günstig beeinflussen.
Den anderen wahrnehmen (können) – Selbstsorge und Außenwelt Der Mensch wird am Du zum Ich. Martin Buber Die These, mit der ich das Verhältnis von Selbstsorge und Fremdsorge zunächst etwas beleuchten möchte, lautet: Wenn wir wahrnehmen, dann machen wir etwas mit der Welt – und damit auch mit den anderen, die wir wahrnehmen. Um dies zunächst ein wenig zu illustrieren, gebe ich zwei Beispiele. In der Erzählung »Störfall« berichtet die Schriftstellerin Christa Wolf, was sie von ihrer Tochter über den Enkelsohn erfährt: »Er sause den ganzen Tag mit dem Fahrrad draußen rum. […] Übrigens beschäftigt er sich gerade mit den letzten Fragen des Daseins. Heute zum Beispiel habe er, auf dem Klo sitzend, seinen Vater durch die Tür gefragt: Papa, wie kommt eigentlich die große Klotür in mein kleines Auge rein? – Erbarm dich! Habe ich gesagt. Und weiter? – Natürlich habe sein Vater ihm daraufhin eine exakte Zeichnung angefertigt: die Klotür, das Auge, in dem die Lichtstrahlen sich kreuzen, der Weg über den Sehnerv zum Sehzentrum im Gehirn. Und daß es Sache des Gehirns sei, das winzig kleine Abbild im Bewußtsein des Empfängers wieder auf normale Klotürgröße zu bringen. – Und? Hat er sich zufriedengegeben? – Du kennst ihn doch. Weißt du, was er gesagt hat? Er hat gesagt: Und wie kann ich sicher sein, daß mein Gehirn mir die Klotür wirklich auf die richtige Größe bringt? – Tja, habe ich nach einer Pause gesagt. Du, übrigens: Wie kann man da wirklich sicher sein? – Jetzt hör aber auf, hat meine ältere Tochter mich zurechtgewiesen« (Wolf, 1987, S. 126 f.).
Und Gregory Bateson, der für die Entwicklung des systemischen Denkens und der Kybernetik entscheidende geistige Vorarbeit geleistet © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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hat, beschreibt ein Wahrnehmungsexperiment, das er zu Beginn eines Vortrags mit dem Titel »Krankheiten der Erkenntnistheorie« 1969 auf Hawaii durchgeführt hat: »Zunächst möchte ich Sie bitten, mir in einem kleinen Experiment zu folgen. Ich darf Sie einmal bitten, ein Handzeichen zu geben. Wieviele von Ihnen werden damit übereinstimmen, daß Sie mich sehen? Ich sehe eine Reihe von erhobenen Händen – also nehme ich an, daß die Verrücktheit die Geselligkeit liebt. Natürlich sehen Sie mich nicht ›wirklich‹. Was Sie ›sehen‹ ist ein Bündel von Informationen über mich, die Sie zu einer bildlichen Vorstellung von mir synthetisieren. Sie machen dieses Bild« (Bateson, 1981, S. 614).
Das Wahrnehmungsexperiment von Bateson läuft auf die Frage hinaus: Sehen Sie mich? Oder: Sehen Sie »nur« das Bild, das Sie sich von mir machen? Und: Ist das dasselbe? Was die Frage von Christa Wolfs Enkelsohn und die Experimentidee von Gregory Bateson verbindet, ist ein altes Problem, das Denkerinnen und Denker aller Zeiten umgetrieben hat. Ein Problem, das modernen Neurophysiologen, Wahrnehmungspsychologen und Hirnforschern die Grenzen ihrer Wissenschaft bewusst macht sowie radikale wie auch weniger radikale Konstruktivisten nachhaltig beschäftigt: Nämlich die Kluft zwischen der physischen Außenwelt und unserem Bewusstsein von ihr, von der Erscheinung und der sogenannten Wirklichkeit. Dieses alte und dabei ganz aktuell gebliebene Problem lässt sich in Fragen verdichten, die – nimmt man sie ernst und untersucht sie rückhaltlos – die eigenen Lebensfundamente durchaus in Schwingung bringen können: Ist die Welt »wirklich« so, wie sie mir erscheint? Sieht jeder die Welt auf seine Weise? Leben wir also alle in derselben Welt? Es gibt innerhalb der philosophischen Traditionen eine Methode, die sich vornehmlich mit derlei Fragen beschäftigt: die Phänomenologie, das ist die Lehre von den Erscheinungen, mit deren Hilfe untersucht wird, wie es möglich ist, dass mir die Welt – die sogenannte Außenwelt, aber damit zusammenhängend auch die, genauer: meine sogenannte Innenwelt – erscheint, dass ich sie als solche wahrnehmen kann. Die Phänomenologie befasst sich demnach mit etwas ganz Naheliegendem, Alltäglichen und Lebensvoraussetzendem. Denn gibt es, zumindest während unseres Wachseins, einen Moment, in dem wir nicht wahr© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
Den anderen wahrnehmen (können) – Selbstsorge und Außenwelt
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nehmen? Und zugleich beschäftigt sie sich mit den höchst komplexen Bedingungen und Voraussetzungen unseres Welterlebens. An dieser Stelle will ich versuchen, das mit der Phänomenologie intensiv verbundene Thema der Wahrnehmung dialogisch zu wenden, das heißt der Frage nachgehen: Was bedeutet es, den anderen »wirklich« wahrzunehmen? Und was bedeutet das Phänomen der Wahrnehmung für die Praxis der Selbstsorge? Denn Selbstsorge, so meine Beobachtung, ist vor allem für diejenigen eine Art Reizwort, die (aus welchen Gründen auch immer) die zugleich mühevolle und mitunter desillusionierende Arbeit an sich selbst scheuen. Sie stellen die Praxis der Selbstsorge gewissermaßen unter den Generalverdacht, eine Tätigkeit zu sein, bei der man sich (mit vorgeblichen selbsttherapeutischen Absichten) verstärkt sich selbst zuwende – und dabei den anderen und dessen Bedürfnisse nicht sehe und es folglich auch an einer entsprechenden Fremdsorge fehlen lasse. Wenn man die Aufforderung Senecas, »nimm dich für dich selbst in Anspruch« (Seneca, 1995, S. 3) ernst nimmt und eine Metapher Voltaires (das bescheidene Fazit am Ende seines »Enttäuschungsromans« »Candide«), der Empfehlung, »seinen Garten zu bestellen« (cultiver son jardin), folgt, dann bekommt man es anders mit sich zu tun. Das bedeutet zugleich: Wenn ich es anders mit mir zu tun bekomme, dann bekommen es auch die anderen, die Außenwelt überhaupt, anders mit mir – das heißt mit einer durch die Praxis der Selbstsorge veränderten Selbstbeziehung – zu tun. Das hat dann auch unmittelbare Auswirkungen auf den Wahrnehmungsprozess. Wahrnehmen erscheint, genauer betrachtet, als eine bidirektionale Tätigkeit; sie geht gleichermaßen nach innen wie nach außen. Der Aufmerksamkeitsstrahl hat somit gleichzeitig zwei Richtungen: auf die anderen wie auch auf mich selbst zu. Ich möchte an dieser Stelle für einen Moment bei dem Wort Wahrnehmung, einem Kompositum mit zwei Wortteilen, verweilen (vgl. hierzu Stölzel, Th., 2012, S. 131 ff.). Wahr-Nehmen lässt sich auch als ein Für-wahr-Nehmen lesen. Damit kommt durch das Wort Folgendes zum Ausdruck: Ich nehme das für wahr an, was ich jetzt wahrnehme. Nehmen hat dabei etwas ähnlich Aktives wie facere (machen) bei dem Begriff Fakten. Bereits das Wort lässt anklingen, dass ich etwas mit der Welt mache, selbst dann, wenn ich vermeintlich rein passiv jemandem nur zuhöre oder ein Buch, ein Bild, einen Film bloß rezipiere. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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Nebenbei sei angemerkt: Nach meiner Erfahrung ist zum Beispiel eine empathische Handlung wie das Zuhören (das professionelle wie das nichtprofessionelle) eine intermediäre Befindlichkeit, bei der Aktivität und Passivität ineinander übergehen und folglich nicht klar unterschieden werden kann, ob es sich beim Zuhören nun um eine aktive Passivität oder eine passive Aktivität handele. Beim Wahrnehmen des anderen bekommen wir es mit einem spezifischen Ausdruck der Selbstbeziehung zu tun, die oft den Weg zum anderen behindert oder gar verstellt und die das Verständnis der Menschen füreinander nicht gerade erleichtert; ich meine: die sogenannte Projektion. Jenen inneren Prozess, in welchem ich etwas von mir in den anderen hineinsehe, hineinlese, hineinhöre usw. Dass dies ein altes Thema ist, kann man zum Beispiel im Theaterstück »König Ödipus« von Sophokles, von dem ja bereits andernorts die Rede war (vgl. Erstes Methodenporträt), studieren. Zu Beginn dieses berühmten Stücks lässt Ödipus einen Mörder suchen, der er – ohne zu diesem Zeitpunkt dafür ein Bewusstsein zu haben – selbst ist. Ein anderer wird bezichtigt, etwas getan zu haben, was Ödipus’ Tat war. Solange, bis der »blinde Seher« Teiresias auftritt und ihm sagt, dass jenes, was er draußen bei anderen suche, sich in ihm selbst befinde; er fordert ihn also, modern gesprochen, auf, die Projektion zurückzunehmen. Dieser Aufforderung des Teiresias lohnt es sich zu folgen, wenn man den Versuch unternehmen will, einen anderen wirklich wahrzunehmen. Und man tut gut daran, beim Wahrnehmen des anderen stets kritisch die Frage mitlaufen zu lassen: »Ist« der andere wirklich so, wie er mir jetzt »erscheint«? Indem wir von dem anderen all jene Begleitvorstellungen wegnehmen, in die wir ihn beim unreflektierten Betrachten nicht selten gesteckt haben (wie in ein Kleidungsstück unserer Vorstellungen, Wünsche, Ängste, Ansprüche etc., das nicht zu ihm passt oder gehört), geben wir ihm die Möglichkeit, anders von uns wahrgenommen werden zu können. Darin steckt eine große Chance – für beide.
Einander sehen Wählen Sie sich einen Menschen Ihres Vertrauens aus (innerhalb eines Seminar- oder Fortbildungskontextes einen Teilnehmer, der Sie anspricht). Stellen oder setzen Sie sich ein bis zwei Meter so einander gegenüber, dass Sie sich gut sehen können und betrachten Sie – ohne dabei mit© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
Den anderen wahrnehmen (können) – Selbstsorge und Außenwelt
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einander zu sprechen – einander, etwa zehn Minuten lang. Nehmen Sie wahr, wann Sie etwas zu dem anderen sagen oder ihn etwas fragen wollen; nehmen Sie wahr, das was das ist, was Sie sagen oder fragen wollen, ohne es jedoch auszudrücken. Achten Sie genau darauf, wie es Ihnen dabei geht, wenn Sie dies – zumindest wortsprachlich – nicht ausdrücken. Achten Sie darauf, wie sich Ihr Blick von innen her anfühlt, wie die besondere Signalfläche Ihres Gesichts. Achten Sie darauf, ob und was Sie möglicherweise mit Ihren Augen oder mimisch stellvertretend zum Ausdruck bringen. Geben Sie sich möglichst vollständig der Wahrnehmung des anderen hin (alles, was sonst noch gerade in der Welt passieren mag, an was Sie denken könnten, ist jetzt unwichtig oder zumindest nachrangig). Allein die Gegenwart des anderen zählt und bildet das Zentrum Ihrer Aufmerksamkeit. Lassen Sie sich von dem anderen anmuten, seiner Präsenz, seiner körperlichen Erscheinung, seinem (spezifischen) Ausdruck. Nehmen Sie wahr, was das in Ihnen auslöst, wenn Sie (zumindest zeitweise), dem anderen in die Augen blicken, ohne zu sprechen. Nehmen Sie wahr, welche Assoziationen, Wünsche, Befürchtungen in Ihnen aufsteigen, wenn Sie den anderen offen und mit ungeteilter Aufmerksamkeit wahrnehmen, sich ihm in dieser Weise zuwenden. Nehmen Sie wahr, wie Sie all die sich einstellenden Begleitgedanken und -gefühle allmählich abstreifen und zur Seite legen, wie Sie den anderen von all den Projektionen und Zuschreibungen, die Sie in ihn hineingesehen oder ihm angeheftet haben, allmählich befreien, so dass er vor Ihnen jetzt in seiner ureigensten Gestalt erscheinen kann, gewissermaßen pur. Was ist es, das Sie jetzt vor Augen bekommen und was macht es mit Ihnen, wenn Sie den anderen in seinem ureigensten Ausdruck erblicken? Lassen Sie sich Ihrerseits von dem anderen betrachten. Geben Sie sich seiner Wahrnehmung möglichst vollständig hin; gleichsam von Ihrer breitesten Seite her. Geben Sie sich dem anderen zu erkennen als denjenigen oder diejenige, als den oder die Sie sich selbst wahrnehmen. Achten Sie darauf, wie es Ihnen dabei geht, wenn Sie sich (zumindest ansatzweise) dem anderen so zeigen, stumm. Ist es leichter, dies zu tun bzw. den anderen wahrzunehmen, wenn Sie nicht das »Entschärfungs-« und Erklärungsinstrument der Wortsprache verwenden? Gönnen Sie sich, bevor Sie möglicherweise nach der Übung miteinander ins Gespräch kommen, noch einen letzten intensiven und umfassenden Blick auf den anderen.
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Die philosophisch-phänomenologischen Wahrnehmungspraxis bringt die Bewegung des Innehaltens oder Zum-Innehalten-gebracht-Werdens durch den anderen unmittelbar zu Bewusstsein und zeigt auf, was geschieht, wenn die Projektionen zurückgenommen werden. Hierbei kann die Haltung eines achtsamen Staunens (vgl. Stölzel, Th. 2012, S. 126 ff.) unterstützend wirken. Das erzeugt – als Folgebefindlichkeit – einen Zustand erhöhter Achtsamkeit. Hinzu kommt die Komponente eines wissenden Nichtwissens (vgl. Fünftes Methodenporträt). Das bedeutet in unserem Zusammenhang: Sie bleiben sich des Umstands bewusst, dass Sie ungeachtet all Ihres Sachwissens und ihrer dialogischen Fähigkeiten und Fertigkeiten (vgl. Viertes Methodenporträt) sich im Umgang mit dem anderen, gerade auch, was die Einschätzung von dessen Motiven und Verhaltensweisen betrifft, nie ganz sicher sein können. Es bleibt zuallermeist ein Rest, und in diesem kann sich das Entscheidende befinden. Der Dialogdenker und Religionsphilosoph Martin Buber hat in seiner epistemologischen Biographie (vgl. Zweites Methodenporträt) eine zwischenmenschliche Erfahrung beschrieben, die andeutet, wie stark innere Vorentscheidungen (seien sie nun verständlich oder nicht) das, was in einer Begegnung möglich ist, bestimmen können. Buber leitet diese Erfahrung mit der für eine epistemologischen Biographie charakteristischen Perspektive ein: »Es geht hier nicht darum, von meinem persönlichen Leben zu erzählen, sondern einzig darum, von etlichen in meiner Rückschau auftauchenden Momenten Bericht zu erstatten, die auf Art und Richtung meines Denkens bestimmenden Einfluß ausgeübt haben. Die früheste Erinnerung, die für mich in dieser Weise charakterisiert ist, stammt aus meinem vierten Lebensjahr. Etwa ein Jahr vorher war das Heim meiner Kindheit in Wien durch die Trennung meiner Eltern zusammengebrochen. Damals war ich zu meinen Großeltern väterlicherseits nach Lwow (Lemberg), der damaligen Hauptstadt des österreichischen ›Kronlands‹ Galizien, gebracht worden. […] Das Haus, in dem meine Großeltern wohnten, hatte einen großen quadratischen Innenhof, umgeben von einem bis ans Dach reichenden Holzaltan, auf dem man in jedem Stockwerk den Bau umschreiten konnte. Hier stand ich einmal, in meinem vierten Lebensjahr, mit einem um mehrere Jahre älteren Mädchen, der Tochter eines Nachbarn, deren Aufsicht mich © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
Den anderen wahrnehmen (können) – Selbstsorge und Außenwelt
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die Großmutter anvertraut hatte. Wir lehnten beide am Geländer. Ich kann mich nicht erinnern, daß ich zu meiner überlegenen Gefährtin von meiner Mutter gesprochen hatte. Aber ich höre noch, wie das große Mädchen zu mir sagt: ›Nein, sie kommt niemals zurück.‹ Ich weiß, daß ich stumm blieb, aber auch, daß ich an der Wahrheit des gesprochenen Wortes keinen Zweifel hegte. Es blieb in mir haften, es verhaftete sich von Jahr zu Jahr immer mehr in meinem Herzen, aber schon nach etwa zehn Jahren hatte ich begonnen, es als etwas zu spüren, was nicht bloß mich, sondern den Menschen anging. Später einmal habe ich mir das Wort ›Vergegnung‹ zurechtgemacht, womit etwa das Verfehlen einer wirklichen Begegnung zwischen Menschen bezeichnet war. Als ich nach weiteren zwanzig Jahren meine Mutter wiedersah, die aus der Ferne mich, meine Frau und meine Kinder besuchen gekommen war, konnte ich in ihre noch immer zum Erstaunen schönen Augen nicht blicken, ohne irgendwoher das Wort ›Vergegnung‹, als ein zu mir gesprochenes Wort, zu vernehmen. Ich vermute, daß alles, was ich im Lauf meines Lebens von der echten Begegnung erfuhr, in jener Stunde auf dem Altan seinen ersten Ursprung hat« (Buber, 1986, S. 9 ff.).
Nachwirkende Begegnungen Es gibt die Möglichkeit, die eigene epistemologische Biographie retrospektiv zu akzentuieren, das heißt ein Thema, genauer einen Strukturaspekt des eigenen Lebens als eine chronologische Folge von Varianten zu betrachten. Sammeln und vergegenwärtigen Sie aus Ihrer jetzigen Sicht wichtige Begegnungen Ihres Lebens, so als schrieben oder erzählten Sie Ihr Leben als Begegnungsgeschichte mit anderen Menschen. Wählen Sie des Umfangs und der besseren Bearbeitung wegen, drei bis vier nachwirkende und für Ihr Beziehungs(er)leben konstitutive Begegnungserfahrungen aus. Vergegenwärtigen Sie sich, wie Sie bei den jeweiligen Begegnungen für sich selbst und wie Sie für den anderen gesorgt oder nicht gesorgt haben. Was war hilfreich und unterstützend dabei, was behinderte oder verhinderte weitere Begegnungsmöglichkeiten? Kam es nach einer gewissen Zeit oder durch gewisse Umstände gar zu einer »Vergegnung«? Falls dies der Fall war, welche inneren Haltungen wurden dabei sichtbar und wie gestaltete sich Ihre Selbstbeziehung dabei?
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So viel sollte deutlich geworden sein: Die Arbeit mit der eigenen Selbstsorge ist kein Vehikel dafür, die Zeit und Mühe, die man dafür aufbringt, sich sich selbst zuzuwenden, als Flucht vor der jeweiligen Fremdsorge zu benutzen. Zwar kann die Praxis der Selbstsorge, wie jede andere Methode auch, übertrieben oder missbraucht werden, doch ist sie von ihrer ursprünglichen Konzeption her (in antiken wie modernen) Gebrauchsweisen ursächlich mit der Fremdsorge verbunden; ja, man kann den unmittelbaren und fühlbaren Einfluss auf die Fremdsorge geradezu als Gütezeichen und Prüfkriterium einer Selbstsorge ansehen, die zu der lebensdienlichen Entwicklung eines »Selbst« beiträgt. Besonders deutlich wird das in Bereichen und Arbeitsfeldern, in denen »viel geholfen wird« und wo dieses fürsorgliche Handeln zumindest dem Gewissen der jeweiligen Helfer zu dienen scheint.83 Dabei erscheint, bei Lichte besehen, die sozial oft sehr gut beleumundete Handlung des Helfens und Tätigseins für andere in ihrer Wirkung auf die, denen geholfen, für die gesorgt wird, nicht unproblematisch. Das bedeutet in unserem Zusammenhang, dass eine Fremdsorge, deren Tun nicht durch eine entsprechende Selbstsorge geprüft und ausgeglichen wird, schnell »einseitig« (im Wortsinne) werden kann. Während dort, wo eine entwickelte Selbstsorge im Dienst einer Fremdsorge steht, die wohl selbstverantwortungsförderndste Form des Helfens: die Hilfe zur Selbsthilfe auf eine tragfähige Weise praktiziert werden kann. Denn gerade die beruflich intensiv mit der Fremdsorge Befassten sollten stets im Bewusstsein behalten, dass das vermeintliche gute Helfen mindestens zwei bedenkliche bis problematische Wirkungen haben kann: 1. infantilisierend (der, dem geholfen wird, wird dabei kleiner, unmündiger und unselbständiger gemacht, wie beispielsweise in einer Eltern-Kind-Beziehung oder einer Experten-Laien-Beziehung), 2. invalidisierend (der, dem geholfen wird, wird kränker, schwächer, gestörter gemacht, gesehen oder behandelt als er es ist oder sein könnte, wie beispielsweise in einer Alkoholiker/Ko-AlkoholikerBeziehung). 83 Eine menschenwissenschaftlich orientierte Autorin wie Marie von Ebner-Eschenbach hat dieses spezifische Verhältnis von Helfer und Geholfenem so ausgedrückt: »Die Menschen, denen wir eine Stütze sind, geben uns den Halt im Leben« (EbnerEschenbach, 1986, S. 17). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
Den anderen wahrnehmen (können) – Selbstsorge und Außenwelt
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Dem schließt sich die Frage an: Wer dient hierbei wem? Paul Watzlawick hat einmal – ganz im Sinne des Musil’schen Möglichkeitssinns84 – die Überlegung angestellt, was wäre, wenn sozusagen über Nacht (wie bei der de Shazer’schen Wunderfrage) nur ein Viertel der als krank, gestört, hilfs-, behandlungs- oder wenigstens unterstützungsbedürftig eingestuften Menschen wie durch Zauberhand ganz gesund und autonom würden. Zumindest volkswirtschaftlich betrachtet, entstünde dadurch ein so immenser Schaden, dass dies niemand im Ernst wünschen dürfte – wohl am wenigsten diejenigen, die professionell helfen, pflegen, therapieren, behandeln, betreuen, begleiten, unterstützen usw. »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« – heißt es in Markus, Vers 12, 29 ff. Ich habe den zweiten Satzteil hier kursiv gesetzt, da er, meiner Beobachtung nach, häufig bei denen, denen es erklärtermaßen »nur um den anderen bzw. dessen Wohl geht« (vgl. Gilligan, 1999), eben nicht die Beachtung findet, die er bekommen müsste, um dem anderen in selbstverantwortlicher und auch realistischer Weise helfen oder meinetwegen gar lieben zu können. Um diesen zweiten Satzteil (genauer, um das, was er thematisiert) kümmert sich auch wesentlich die auf Fremdsorge ausgerichtete Selbstsorge. Bleiben wir noch für einen Moment im jüdisch-christlichen Kontext. In der Textsammlung, die unter dem griechischen Wort Biblia (das Buch) zusammengefasst und kanonisiert worden ist, begegnet einem mehrfach die Beschreibung: »Er erkannte sie.« Oder: »Sie erkannte ihn.«85 Wahrnehmen und Erkennen: Diese Beziehungen bezeichnen eine intensive und gewissermaßen naturwesenhafte Begegnung mit dem anderen, während und durch die sexuelle Begegnung, in der ich nicht nur den oder die andere(n) anders wahrnehmen kann, sondern auch mich selbst in meinen Wahrnehmungsmöglichkeiten. Das fördert ohne jeden Zweifel – die biblische Beschreibung deutet es an – die Erkenntnis(-fähigkeit).
84 »Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird bezweifeln, daß er seine Daseinsberechtigung hat, dann muß es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann« (Musil, 1981a, S. 16). 85 Das hebräische Wort für »erkennen« lautet »jada«; es gehört zu den meistverwendeten Worten des Alten Testaments. Es bezeichnet nicht allein den geistigen Vorgang der Wahrnehmung, sondern auch den existenziellen, leiblich-körperlichen, in der Weise, dass dieser in seiner spürbaren Konkretheit stets mitgemeint ist, da der Geschlechtsakt hier auch als eine Form des unmittelbaren Erkennens verstanden wird. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
Viertes Methodenporträt: Selbstgespräch, Zwiegespräch, Metagespräch (Philosophische Dialogformen)
Das Wort gehört halb dem, der spricht, und halb dem, der angesprochen ist. Michel de Montaigne
Eine Grundkonstante des Lebens? Das Individuum ist Dialog. Man spricht zu sich – man sieht sich, beurteilt sich. Darin besteht der große geistige Schritt. Paul Valéry Als Einstimmung in die Welt des Dialogs möchte ich Ihnen eine Übung vorschlagen (auch hier gilt wieder, bevor Sie die Übung oder Varianten davon anderen anbieten, führen Sie diese zunächst für sich durch, am besten mehrfach).
Einheitserfahrungen Die sogenannte Einheit bzw. das Einswerden oder gar Einssein ist etwas, nach dem viele Menschen (bewusst oder unbewusst) zu streben scheinen. Dies wird in verschiedenen Bereichen zu erzielen versucht: In ekstasenahen oder verschmelzungsmotivierten Erlebnissen, allein oder in Gruppen (bei Konzerten, Meditationen oder Ähnlichem), in sexuellen Begegnungen, in religiösen Handlungen oder politischen Überzeugungen, mit Hilfe von Drogen oder Tranceinduktionen, bei künstlerischen Projekten oder in karitativer Praxis, grundsätzlich im »Aufgehen« in einer © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
Eine Grundkonstante des Lebens?
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bestimmten Tätigkeit, bei der man sich selbst und damit auch die Zeit und den Ort nahezu vollständig »vergisst« und ganz mit dem verschmilzt, was man gerade tut oder erlebt (wie dies zum Beispiel bei sogenannten Flow-Erfahrungen beschrieben wird, während derer das Aufmerksamkeitserleben so verändert und konzentriert wird, dass der Handelnde mit seiner Handlung eins zu werden scheint). All diese Erfahrungsmöglichkeiten setzen voraus, dass ich mein »alltägliches« Ich (zumindest zeitweise) aufgebe oder quasi gar auflöse und damit auch ein mehr oder minder stark entwickeltes Kontrollbedürfnis. Das ist eine Vorstellung oder Vorbedingung, die manchen Angst macht oder doch wenigstens Unruhe bereitet, welche dann überhaupt solche Erfahrungen gar nicht oder nur in sehr dosierter Form suchen. Haben Sie in Ihrem bisherigen Leben schon einmal so etwas wie Einheit, Einswerden oder Einssein erfahren? Was verbinden Sie mit diesen Worten bzw. Begriffen? Suchen Sie sich einen passenden Ort und eine stimmige Zeit(spanne), um sich in aller Ruhe zu erinnern oder sich mit diesen Fragen zu beschäftigen. Was kommt Ihnen dabei in den Sinn? Was haben Sie möglicherweise erlebt? Was war der Auslöser einer solchen Erfahrung? Haben Sie bewusst danach gestrebt oder etwas dafür getan, dass Ihnen dergleichen »passiert« oder kam dies ganz überraschend, ja geradezu ungewollt? Könnten Sie beschreiben oder nachempfinden, was Sie erlebt haben? Was war anders als das, was Sie sonst erfahren? Und was verändert sich, was verschwindet, was bleibt davon, wenn Sie jetzt versuchen einen Erinnerungs- oder Spürzugang zum damaligen Erleben herzustellen oder womöglich anderen davon zu erzählen? Diejenigen, die über solche Erfahrungen nicht verfügen oder mögliche situative »Angebote« bislang nicht wahrgenommen oder gar gemieden haben, möchte ich jetzt dazu einladen, sich (probeweise und ganz für sich) mit dieser Erfahrungsmöglichkeit zu beschäftigen. Wählen Sie sich als Einstiegshilfe ein Thema, das Sie stark interessiert oder beschäftigt und eine Umgebung, in der Sie sich besonders wohl fühlen und beginnen Sie damit, die Grenzen Ihres Körpers und die Richtung Ihrer Gedanken und Gefühle mit dem zu verbinden, wo und wie Sie sich jetzt befinden. So als finge die Grenze, der Übergang zwischen Ihnen und Ihrer Umgebung und Ihnen und Ihren Gedanken und Gefühlen an, sich allmählich zu verwischen, zu verschwimmen, aufzulösen, so dass zwischen Ihnen und wo und wie Sie sind oder worauf Sie ausgerichtet sind, kein Unterschied, kein Abstand mehr ist … Verweilen Sie in diesem »Zustand«, bis Sie von © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
142 Viertes Methodenporträt außen oder innen zurückgeholt werden in Ihre normalen Befindlichkeiten. Achten Sie darauf, was Sie zurückholt und wie Sie diese Rückkehr erleben und wie Ihnen Ihre vertraute Welt jetzt – nach und durch diese Erfahrung – vorkommt.
Ganz unabhängig davon, »wie viel« Einheit Sie erlebt haben mögen, so ist das Bewusstsein von einer solchen Erfahrung von ganz anderer Art als das Einheitserleben selbst. Denn die Beziehung, die Sie dazu haben oder entwickeln, bildet (strukturell betrachtet) selbst wieder eine Zweiheit: eben Sie und diese besondere Erfahrung bzw. Ihr Verhältnis zu dieser. Innerhalb einer solchen Erfahrung gibt es keine Sprache, da Sprache, das Dialogische überhaupt, mindestens eine Zweiheit, zwei Pole, Personen etc. voraussetzt, die miteinander in Beziehung stehen. Innerhalb der Einheit kann es so etwas wie Sprache, wie Dialog nicht geben, da die Beziehungspartner gewissermaßen in eins fallen, eins und damit ununterscheidbar geworden sind. Alles Sprachliche, Dialogische braucht hingegen, um als solches überhaupt entstehen zu können, die unterschiedsbildende Zweiheit, das andere, das anders ist als ich, oder den anderen, der anders ist als ich und für den ich anders bin als er. Wenn es also innerhalb solcher Einheitserfahrungen kein anderes (das sich benennen ließe), keine Sprache, keinen Dialog gibt, dann kann man über das dort Erfahrene auch nicht sprechen. Nicht einmal annäherungsweise. In den verschiedenen philosophischen Traditionen ist auf diesen Punkt immer wieder Bezug genommen worden, zum Beispiel bei einem Denker des 20. Jahrhunderts wie Ludwig Wittgenstein, der gegen Ende seines »Tractatus«, in der Proposition 6.522 deduziert: »Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische« (1963, S. 115). Ein weiteres Beispiel findet sich bei dem Philosophen, der geradezu als eine Gründungsfigur des abendländischen Denkens angesehen wird: Platon. In dem buchkapitellangen »Siebten Brief«, der eine Art komprimierter Autobiographie des griechischen Denkers darstellt, erklärt Platon: Über den Kern seiner philosophischen Tätigkeit gebe es von ihm keine Schrift und könne es keine geben, denn dieser berühre das Unaussprechbare. Um was es dabei gehe, sei nicht sagbar (arheton), »denn es läßt sich nicht in Worte fassen, wie andere Wissenschaften, sondern aus dem Zusammensein in ständiger Bemühung um das Problem und aus dem Zusammenleben entsteht es plötzlich wie © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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das Licht, das von einem abspringenden Funken entfacht wird, in der Seele« (Platon, 1955, S. 199 f.).86 Es scheint sich auch hier um Erfahrungen zu handeln, die insofern gewissermaßen außerhalb der Sprache und damit des Kommunizierbaren liegen, als dass sie zwar als Möglichkeit, nicht aber als mitteilbare Einsicht benannt und beschrieben werden können. Die Worte Einheit, Einswerden und Einssein werden ähnlich wie der Begriff »Unendlichkeit« innerhalb der verschiedenen Sprachen und Sprachspiele verwandt und mit einem konkreten Sinn belegt. Sie bezeichnen – genauer besehen – jedoch etwas, das sich in der kommunikativen Situation des Erfahrungsaustauschs auflöst. Sie weisen, zumindest hypothetisch, über den Rand des Sagbaren hinaus. Ob und inwieweit solche Erfahrungen möglich oder anstrebenswert sind, möchte ich an dieser Stelle nicht untersuchen. Es geht mir vielmehr darum, deutlich und auch erfahrbar zu machen, dass sich diesseits von (potenziellen) Einheitserfahrungen menschliches Leben – und damit auch alle Themen von Therapie, Beratung und Organisationsentwicklung – grundsätzlich dialogisch vollzieht. So gehe es, sagt Martin Buber, grundsätzlich darum, »sich über Situationen zu verständigen«, denn: »Nicht die Dinge, sondern die Situationen sind primär« (1962, S. 448). Es sind also stets mindestens zwei im Spiel, nicht nur, wenn einer einem anderen begegnet, sondern auch, wenn er als Einzelner, als sogenanntes Individuum, sich selbst begegnet und mit sich ins Gespräch kommt (vgl. Drittes Methodenporträt). Und so betrachtet, stellt sich der sogenannte Monolog – sei er nun von innerer oder äußerer, lauter oder stiller Art – stets als ein Dialog im oder durch den Einzelnen dar, sonst wäre er nicht darstellbar und es käme nichts zur Sprache.87 Ebenso wenig lässt sich beispielsweise ein Begriff wie »Unordnung« absolut verwenden. Jede Unordnung wird durch eine Ordnung, die per definitionum auch vorhanden sein muss, geordnet, das heißt, begrenzt. Wenn ich zum Beispiel von einem »völlig« unordentlichen Schrank 86 Unabsichtlichkeit, die – wie Ernst Bloch betont (1969, S. 219 f.) – die goldene Perle findet, scheint noch am ehesten geeignet, zumindest an den Rand einer unaussprechlichen Einheitserfahrung zu gelangen. Auf die kontrovers geführte Fachdebatte um Platons ungeschriebene Lehre möchte ich hier nicht eingehen. 87 »Nie ist Sprache gewesen, ehe Ansprache war«, erklärt der Dialogdenker Buber (1962, S. 447). Das gilt auch für den Einzelnen, der durch sich selbst angesprochen wird. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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in einem zumindest weniger unordentlichen Zimmer spreche, dann spreche ich von einer (mehr oder weniger) relativen Unordnung; das ist zumindest der unreflektierte Sprachgebrauch. Gäbe es »nur« Unordnung, dann käme nicht nur Ordnung nicht mehr vor; die Unordnung selbst könnte als solche gar nicht wahrgenommen werden. In ähnlicher Weise setzt die allem Dialogischen zugrunde liegende Zweiheit die Einheit voraus, die innerhalb des Sprachspiels eine sinnvolle Funktion, ja, eine Art Fundament bildet, aber durch die Sprache eben nicht adäquat beschrieben werden kann. Wir können nur sinnvollerweise von Einheit sprechen, weil wir von ihr als dem Gegenbegriff zur Vielheit oder mindestens zur Zweiheit sprechen. Ob wir Einheit erfahren können, ist die Frage. Keine Frage jedoch, scheint mir, ist es, dass wir nur beschränkt über Einheitserfahrungen – angemessen (das heißt im Sinne der Einheit) – sprechen oder sonst wie kommunizieren können, nämlich, ohne dabei jemals das der Einheit Eigentümliche, das, was sie von jeder Vielheit oder Zweiheit kategorial unterscheidet, aufzulösen. Denn die Einheit ist und bleibt jenseits aller Sprache und allen Kommunizierens. Die Form von (ständig) praktizierter Zweiheit, die der Einheit am nächsten ist, ist das Selbstgespräch, der Dialog mit sich selbst. Nicht zuletzt auch deswegen, weil dieser sich im Einzelnen, im Individuum88 ereignet und zugleich in paradoxer Gestalt erscheint: Es erscheinen zwei oder mehrere oder viele, die doch nur ein Einzelner sind (vgl. Drittes Methodenporträt). Wie grundlegend und alles persönliche Leben und Erleben voraussetzend das (innere) Selbstgespräch ist, zeigt sich 88 Das heute sehr gebräuchliche, lateinische Lehnwort – wörtlich das »Unteilbare« – wurde während der Renaissance geprägt. In ihm verlautbart sich eine Vorstellung der stoischen Philosophie, der zufolge alles Existierende nicht weiter unterteilt werden kann, ohne seine jeweilige Eigenart zu verlieren. Dass sich die Individualität eines Menschen jedoch aus vielen (oft heterogenen) Teilen zusammensetzt, zeigt die kritische Selbstwahrnehmung unmittelbar. Hier deutet sich ebenfalls ein paradoxes Spannungsverhältnis an, wie zwischen dem Einzelnen, der zugleich Viele ist. In einer anthropologischen Reflexion Karl Löwiths – »Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen« – findet hierbei der Begriff Person Verwendung, »weil der Mensch, sofern er sich mitteilen kann, kein Individuum, sondern eine in erste und zweite Person teilbare und so durch Gemeinsamkeit bestimmte ›Person‹ ist« (Löwith, 1981, S. 189), wobei die »Möglichkeit eines einzigartigen Verhältnisses zu sich […] Individualität« konstituiert (S. 187). Für Löwith ist erst »eine durch den anderen zu sich selbst gekommene Person, ein Mitmensch« (S. 185) und dadurch dialogfähig. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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zum Beispiel bereits in hermeneutischen Alltagshandlungen. Möchte ich etwas oder jemanden gut, besser oder überhaupt verstehen, dann entwickelt sich in mir der Verstehensprozess als ein selbstdialogischer Prozess, der häufig als solcher gar nicht bemerkt wird. Das, was ich verstehen möchte, wird so lange in mir hin und her bewegt, durch Fragen und Antworten, die wieder neue Fragen erzeugen, die wiederum neue Antworten verlangen und so fort, so lange durch »Vermutungen und Widerlegungen« hindurchbewegt, so lange in verschiedenen Regionen und Erfahrungsbezirken meiner selbst, die mit anderen Regionen und Erfahrungsbezirken meiner selbst in Austausch stehen vielfach und vielfältig hin und her gewendet – bis mein Verständnis für etwas oder jemanden etwas größer, besser oder tiefer geworden ist. Allen körperlichen und leiblichen, allen seelischen und geistigen Prozessen, allen Erfahrungen, Einsichten, Plänen, Stimmungen, Wünschen, Ängsten, Zwängen, Hoffnungen, kreativen Ideen usw. eignet eine dialogische Struktur; stets ist etwas mit etwas anderem in mir im Gespräch. Ganz unabhängig davon, ob diese inneren Unterredungen als angenehm oder unangenehm, als einträchtig oder kontrovers, als aufregend oder langweilig, als belebend oder ermüdend empfunden werden, unabhängig davon, ob sie zu dem gewünschten Ziel oder überhaupt zu einem Ziel führen. Möchte man die eigene professionelle Dialogfähigkeit verbessern und das Verständnis für die Dynamik von Zwiespracheprozessen bei anderen vertiefen, empfiehlt es sich, dem ständigen gesprächsartigen Hintergrundgeräusch des eigenen Bewusstseins größere Aufmerksamkeit zu schenken; diesem »inneren Radio« genauer zuzuhören. Man kann dabei einer Tendenz innewerden, die Martin Buber als »Sprachstrebigkeit« bezeichnete, der zufolge das »Innesein […] immer wieder danach [strebt], Sprache, Denksprache, begreifende Sprache zu werden« (Buber, 1962, S. 444). Man könnte das etwas formelhaft so ausdrücken: Das menschliche Leben erscheint als ein gesprächsförmiger Prozess. Das gilt insbesondere für Prozesse des Dazulernens, der sinnvollen Veränderung, der Innovation und Erweiterung. Durch seine dialogischen Fähigkeiten und Möglichkeiten zeigt und bewährt sich der Mensch als ein relationales Wesen. Die »Urdistanz« (Buber) zur Einheit eröffnet den dialogischen Raum. Da die verschiedenen Formen des Selbstgesprächs die existenzielle Voraussetzung des Lebens bilden, können sie nicht nur © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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als Fundament untersucht, sondern auch als Bezugspunkt, Vergleichsgröße und Prüfkriterium genutzt werden für all die Dialoge, die man nicht (nur) mit sich führt.
Sich zuhören Nehmen Sie ein bevorstehendes Gespräch, dem Sie mit ambivalenten Gefühlen entgegensehen, als Übungsstück. Hier eignet sich besonders ein Telephongespräch, da dabei die Gesamtwahrnehmung des anderen auf einen Sinneskanal verdichtet und der wortsprachliche Ausdruck konzentriert erscheint. Führen Sie im Vorfeld mit sich ein Gespräch über dieses Gespräch. Zunächst zur Einstimmung mündlich (wie Sie es vielleicht ohnedies tun würden, wenngleich halbbewusst und unzusammenhängend). Zeichnen Sie dann dieses vorweggenommene Gespräch (möglichst ausführlich) auf oder schreiben Sie es nieder. Verwenden Sie zwei Varianten. Geben Sie dem anderen (mit dem Sie bald sprechen werden) eine eigene Stimme und führen Sie das Gespräch als Kommunikation zwischen zwei Partnern durch, deren einer Sie selbst sind. Wählen Sie dann (zum Vergleich) eine dritte Person aus, die beiden Stimmen zuhört, so, als ob Sie zwei Seiten in sich zuhörten. Diese dritte Person folgt der für Sie ambivalenten Unterredung und kann dabei Kommentare abgeben oder Vorschläge machen. Sich (ganz unabhängig vom Thema) den anderen genau vorzustellen und dessen Redebeiträge, Fragen und Erwiderungen zur Sprache zu bringen, stärkt die empathische Kompetenz. Diese weiterzuentwickeln und zu verfeinern, verbessert Ihre dialogischen Möglichkeiten und kann gerade im Umgang mit »schwierigen« Dialogpartnern von großem Vorteil sein. Sie können zudem die vorweggenommenen Gespräche während des zu führenden neben sich liegen haben und gerade bei »häkeligen« Partien als besondere Perspektiven nutzen oder sich davon überraschen lassen, was Sie jetzt sagen. Die vorweggenommenen, probeweise geführten Gespräche können auch für die Nachgespräche (mit der Erfahrung, wie es »gelaufen« ist) und für weitere Selbstgespräche verwendet werden. Eine weitere Variante besteht darin – gerade bei aufgeregten und aufregenden Gesprächen – nach »innen« zu lauschen und wahrzunehmen, welcher Dialog als Parallelgespräch oder Kommentardialog dort »abläuft«.
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Wie sich diese Prozesse auch immer in Ihnen vollziehen mögen, Sie begegnen sich dabei in zwei Rollen: –– derjenigen, durch die Sie etwas zu sich sagen, –– derjenigen, durch die Sie etwas von sich zu hören bekommen. Über die Bedeutung dieser selbstkommunikativen Position merkt ein genauer Erforscher menschlicher Selbstbeziehungsprozesse wie Paul Valéry an: »Mit Hilfe der innerlich zugeflüsterten und gehörten Worte erforsche ich mein Denken, meinen Besitz, mein Mögliches – durchwandere ich mich Wort für Wort; ohne sie wäre nichts in meinem Inneren klar. […] Das Wort als Kommunikation des Menschen mit sich selbst (dieser Mensch ist sein eigener erster Zuhörer –), als Manifestation des inneren Arrangements, das gerade getroffen wurde« (zit. nach Stölzel, 2011, S. 278).
Es gibt Phasen, Situationen oder Anlässe, in denen das innere Selbstgespräch89 über alltägliche Konflikte und Herausforderungen hinaus aufgeladen wird, sich energetisiert. Hierfür zwei Beispiele: In unserer reiz- und informationsübersättigten Zeit ist die Schlaflosigkeit ein häufig beklagter Zustand, der die davon Betroffenen nicht nur körperlich erschöpft und an den Rand ihrer Kräfte bringt. Betrachtet man die damit einhergehende Ruhelosigkeit, das nervöse sich Hin- und Herbewegen für sich, dann scheinen sich bereits auf körperlicher Ebene intensive, innerseelische Dialogprozesse auszudrücken, so, als rängen mindestens zwei Seiten eines Menschen unablässig miteinander, ohne jedoch zu einer beruhigenden Klärung finden zu können. Als eine Weltbegegnung der dritten Art zwischen Schlafen und Wachen erhalten (während dieser Phase des Für-sich-Seins) viele unterdrückte, vermiedene oder verschobene Selbstgespräche eine eigene »Bühne«, auf der sie dann in ungeheurer Weise gleichermaßen in Bewegung und zum Stillstand gebracht werden können. In den sogenannten weißen Nächten (franz. nuits blanches) mit ihrem besonderen Zeiterleben und ihrer nicht ungefährlichen Vergrö89 Wer dieser besonderen Kommunikationsform – sprachanalytisch – genauer nachgehen möchte, kann dies zum Beispiel mit Hilfe von Ernst Tugendhats Interpretationen des Sichzusichverhaltens am Beispiel Heideggers tun (Tugendhat, 1979, S. 164 ff.). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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ßerungskraft erscheinen die Tagesgedanken in einem eigentümlichen Licht und einer zugeschärften Perspektive. Der rumänische Schriftsteller-Philosoph E. M. Cioran, der selbst vielfach an Schlaflosigkeit litt und ihr zugleich viele luzide Einsichten und Momente verdankte, sagt über das Potenzial der Insomnie: »Die Schlaflosigkeit spendet uns ein Licht, das wir zwar nicht wünschen, zu dem wir aber unbewußt hinstreben. Wir verlangen danach, gegen unseren Willen, gegen uns selbst. Durch sie hindurch und zu Lasten unserer Gesundheit. […] Und doch befreien uns die schlaflosen Nächte einzig von unseren Bequemlichkeiten und unseren Fiktionen, um uns vor einen versperrten Horizont zu stellen: Sie beleuchten unsere Sackgassen« (zit. nach Stölzel, 2002, S. 173).
Das Gebet (insbesondere das sogenannte Herzensgebet) hat als Teil einer spirituellen Praxis eine lange anthropologische Geschichte. Ob dabei der im Gebet angesprochene »transzendentale Gesprächspartner« zuhört oder gar antwortet, sei hier dahingestellt – sofern man dieser stark sehnsuchtsimprägnierten Kommunikationsform überhaupt analytisch nahekommen kann, ohne ihren (möglicherweise wirkungsvollen) Zauber zu zerstören. Die spanische Mystikerin und Karmeliterin Teresa von Avila hat in ihrer Konzeption »Die innere Burg« das Beten als Möglichkeit der Selbstzuwendung sowie als regelhafte Form der Andacht auf eine Weise beschrieben, die (hypnotherapeutisch betrachtet) durchaus Gemeinsamkeiten mit säkularen Trance-Induktionen aufweist. Wer mit welcher Absicht oder auf welche Weise auch immer betet, bekommt zumindest stumm, in tonloser Lippenbewegung oder murmelnd die eigene Stimme zu hören, die betend spricht. Diese Form des Selbstgesprächs weist – unabhängig von den jeweiligen metaphysischen Konzeptionen – so manche Parallele mit dem auf, was in meditativen Praktiken zu Wort und Bewusstsein kommt.
Unausgesprochenes Beschäftigen Sie sich mit folgenden Fragen: Was sind die Themen, Hoffnungen, Ängste, Wünsche, die Sie nicht mitteilen, das heißt, die Sie nicht mit anderen teilen wollen (oder können) und die dadurch die Inhalte Ihrer Selbstgespräche bilden? Was würde sich für Sie ändern, wenn Sie sich © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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dazu entschlössen, etwas davon anderen mitzuteilen, es also künftig mit jemandem teilen zu können? Welche Auswirkungen, vermuten Sie, hätte das zum ersten Mal Mitgeteilte auf das andere Nichtmitgeteilte?
Selbstgespräche bilden einen größeren Kanon, als man zunächst vielleicht vermuten würde. Die Abstufungen und Formen sind sowohl inhaltlicher wie formaler, mitunter auch didaktischer Art. Das Anregende etwa von Wittgensteins Argumentationsstil besteht zum Gutteil darin, dass er häufig mit sich ein Gespräch vor dem Leser führt; ohne dabei privatistisch zu werden. Er sieht sich vielmehr beim Reflektieren zu und ermöglicht dem Leser, bei dem Tastenden, Abwägenden und Prüfenden dieses Denkgesprächs mit sich selbst, teilnehmen zu können. Zur Abrundung möchte ich jetzt Auszüge aus drei Gesprächen, die Paul Valéry, Albert Kreinheder und Aurelius Augustinus mit sich selbst auf dem Papier geführt haben, beispielhaft vorstellen. Es geht dabei um eine alltägliche (und dabei höchst rätselhafte) Erfahrung, um eine schmerzhaft-einschränkende Situation und um die Voraussetzungen einer transzendentalen Orientierung. Um das Erwachen und Personwerden des Bewusstseins anschaulich darzustellen, hat sich Valéry in zwei argumentativ miteinander ringende Ich-Instanzen aufgeteilt. In dem literarisch gestalteten Schlagabtausch zwischen einem A und einem B, der unter dem Titel »Inneres Zwiegespräch« steht, kommt eine selten genauer betrachtete Alltagserfahrung zur Sprache. In der Tat ist diese allmorgendliche Bewusstseinsleistung höchst merkwürdig und erstaunlich. Es bedarf komplexer, dabei kaum deutlich zu Bewusstsein kommender mentaler Aktivitäten, um fugenlos wieder an den anzuknüpfen, der man tags zuvor war, das Ich gewissermaßen wieder genauso herzustellen, um sein Leben weiter mit sich führen zu können. »A: Raffe dich auf! … Verlasse diesen Augenblick! … Ordne deine Kräfte! … Befreie den, der du bist, aus diesem lebenden Lehm, der in Gestalt eines niedergeschlagenen und verlassenen Menschen in der ungeordneten Wäsche deines Lagers ruht … Kehre ins Leben zurück! Es ist an der Zeit. Die Nacht löst sich auf. […] B: Hab Erbarmen! Ich kann nicht. Du verlangst schier Unmögliches! Mein Körper hat das Gewicht der ganzen Erde, die unter mir liegt. Wie © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
150 Viertes Methodenporträt soll ich aufstehen? Wie soll ich das ganze Sein und das ganze Nichtsein, die in mir so eng vereint sind, gleichzeitig emporheben? […] Laß mich … Ach! … Laß mich! … A: Nein. Ich dränge darauf, daß du dich wieder aufbaust. […] Entspanne Arme und Beine und nimm hierbei wahr, wie sich deine Macht über sie bis ans Ende dieser Glieder erstreckt. Sei Herr über deine Blicke und gestalte selbst den Raum, anstatt allen Zufälligkeiten einer farbigen Fläche unterworfen zu bleiben … Zeichne also mit diesem beweglichen Blick die klaren Umrisse der Gegenstände nach. Versichere dich aber auch deines inneren Vermögens. […] B: Was verlangst du noch von mir? […] A: Sporne dein Denken an. Setze auf jeden Punkt, der in deinem Geist zu keimen beginnt, den Stachel des Begehrens und die Macht der Ausdauer, so daß die Gesamtheit aller Analogien, das Potential wechselseitiger Resonanzen und die Menge der Möglichkeiten, die in dir vorhanden sind, diesen Keim vollkommen zur Entfaltung bringen. B: Schweig! Schon die Erinnerung an meine Kräfte bedrückt mich. Du mahnst mich mit aller Macht an die unendliche Mühe, die es mich kostet, um dieser halbtoten Existenz zu entrinnen … Gewähre mir wenigstens genügend Zeit, um ohne allzu große Mühe und ohne Bedauern vom Zustand eines Dinges in den Zustand eines Tieres überzuwechseln und dann vom Tier zum Menschen und schließlich vom Menschen zum eigenen Selbst, zum einmaligen Wesen … A: Ich sehe, das Schwierigste ist vollbracht. Du stützt dich bereits auf deinen Ellenbogen. B: Ach … Ja, ich erwache … Ich verharre nicht länger in dem unsicheren Gleichgewicht zwischen Allem und Nichts […] A: Du wirst dir selbst unähnlich werden, wie ein lockeres Seil dem selben Seil unähnlich wird, sobald es gespannt ist. B: Vielleicht. Merkwürdigerweise fühle ich mich zunächst aber nur meinen Mächten ausgeliefert. Mein Gedächtnis bedrängt und verfolgt mich. Mein Intellekt fordert mich heraus, und mein Handlungsvermögen strömt in meine Muskeln, so daß sie hart werden, doch noch ohne Ziel … Fühlen, Können, Wollen, Wissen, Müssen … Alle diese Dämonen des Tages recken und strecken sich. A: Betrachte diesen unberührten Tag … […] B: Ach … Warum soll ich wieder zu etwas werden? Warum hast du mich aus diesem leuchtenden Schlamm zwischen Wachsein und Schlaf her© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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vorgeholt? Warum wieder zu einem Herrn Soundso werden … Zu dem, der meinen Namen trägt, der in meine Angewohnheiten, Hemmungen, Meinungen eingepfercht und mit so vielen Dingen ausgestattet ist, die ganz anders hätten sein können. […] A: Ich sehe, daß du nachdenkst, daß du Ideen zusammenfügst, daß du deinem Denken Form gibst. […] B: Du hast vielleicht recht. A: Du scheinst mir jetzt völlig wach zu sein, wieder hergestellt, wieder aufgebaut … B: Woran erkennst du das? A: Daran, daß wir einer Meinung sind. Nun gibt es zwischen uns keinen Platz mehr für VAGE DINGE. […] Aber was tust du denn? Du springst aus deinem Bett? B: Ich bin aufgestanden … Ich stehe auf meinen Beinen. Ich trete und poche mit meinen nackten Fersen auf die Realität des Sinnlichen … A: Es ist eine Art Staatsstreich … Und nun? … Ziehst du dich an? […] B: Ich werde tun, was nötig ist. Ich verspüre urplötzlich eine unglaubliche Energie. Ich fühle mich mit Leben erfüllt und ängstige mich fast vor der Freiheit zu denken und zu handeln, die mich jetzt überkommt und so heftig erregt mit all den Schwierigkeiten und Sorgen, die meine Seele zuvor bedrückten« (Valéry, 1990, S. 145 ff.).
Der Analytiker Albert Kreinheder präsentiert ein kurzes Stück inneren Dialogs und betrachtet es aus der Perspektive der Jung’schen Psychologie. Er »zerfällt« dabei in zwei gegensätzliche Positionen vertretende Teile, die miteinander ins Gespräch kommen. Es ist der Ausschnitt einer Bewusstwerdungs- und Heilungsgeschichte, die der Autor anhand einer bestimmten theoretischen Konzeption (in der das sogenannte Unbewusste beinahe personal wirkt) selbst interpretiert. Kreinheders Beispiel zeigt, welche Möglichkeit ein schriftlich geführter Prozess aktiver Imagination eröffnen kann, welche »münchhausischen Möglichkeiten« sich intrapsychisch dadurch ergeben. »Vor zwei Jahren schien mein Leben noch wunderschön zu sein. Ich hatte Anerkennung in meinem Beruf gefunden, meine Gesundheit war ausgezeichnet, und ich glaubte alles in allem, daß es mir recht gut gehe. An diesem scheinbaren Höhepunkt meines Lebens bekam ich rheumatoide Arthritis. Dadurch wurde ich zwangsläufig eine Art Anti© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
152 Viertes Methodenporträt held. Ich litt unter heftigen Schmerzen an allen Gelenken, sogar die Kiefergelenke taten mir weh. Etwa zwei bis drei Stunden nach dem Aufstehen war ich trotz meiner sitzenden Tätigkeit so erschöpft, daß ich mich wieder ins Bett legen mußte. Meine Schultern und Ellbogen waren dann so steif, daß ich ohne fremde Hilfe keine Jacke anziehen konnte und nicht in der Lage war, mich im Bett aufzurichten. Ich habe alles versucht, ich bin zu Ärzten, Chiropraktikern, Ernährungsspezialisten, Masseuren und Kartenlegern gegangen, all dies schien nichts zu nutzen. Als ich nicht mehr weiter wußte, entschloß ich mich, mit dem Schmerz zu reden. Hier ist ein Beispiel für einen solchen Dialog: Ich: Du hast mich fest im Griff, und du läßt nicht los. Wenn du unbedingt meine volle Aufmerksamkeit haben willst, bitte, du hast sie. Ganz gleich, was ich tue, ich muß mich immer auch um dich kümmern. Selbst jetzt, wo ich schreibe, spüre ich dich in meiner Hand und auch sonst überall im Körper. Du machst mir schreckliche Angst. Ich habe keine Kontrolle über dich, keine Macht, dich zu beeinflussen. Du brauchst nur noch ein bißchen weiterzugehen, dann bin ich völlig hilflos. Wirst du denn nie aufhören? Warum bist du hier? Schmerz: Ich bin hier, um deine Aufmerksamkeit zu bekommen. Ich mache dir meine Präsenz bewußt. Ich demonstriere dir meine Macht. Ich bin mächtiger als du. Mein Wille ist stärker als deiner. Du kannst mich nicht beherrschen, aber ich kann dich leicht beherrschen. Ich: Aber warum mußt du mich mit deiner Macht zerstören? Schmerz: Das tue ich, weil ich es nicht länger mitmache, daß du mich nicht beachtest. Du sollst demütig vor mir auf die Knie fallen, denn ich bin DER, der wie kein anderer ist. Ich bin der Anfang aller Dinge, alles entspringt aus mir, ohne mich ist nichts. Ich möchte immer ganz eng mit deinen Gedanken verbunden sein. Deshalb halte ich dich fest im Griff meiner Macht und sorge dafür, daß du nur an mich denkst. Jetzt, wo ich in dir präsent bin, kannst du nicht mehr so leben wie vorher und die gleichen Dinge tun. Diese Dialoge gaben meinem Gebrechen einen Sinn. Vorher war mein Schmerz nur ein Fluch, der eliminiert werden mußte. Jetzt erscheint er als ›der-eine-der-wie-kein-anderer-ist‹. Und dieser eine wollte mit mir eine intime Beziehung haben. Jetzt wurde mir etwas klar, was vorher für mich nur Worte gewesen waren: Unsere Wunde ist die Stelle, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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an der unser Selbst einen Zugang zu uns findet. Das Elend, das uns zustößt, kann die Erwählung sein, der Aufruf zur Individuation. Mir wurde bewußt, daß ich mein Leben ändern mußte. Es ist erstaunlich, wie völlig egozentrisch Menschen mit Zwanzig, Dreißig, ja sogar noch mit Vierzig sein können, ohne dadurch in ihrem Gedeihen behindert zu werden. Aber früher oder später zeigt sich die größere Persönlichkeit. ›Die Zeit wird kommen‹, sagte mein Schmerz zu mir, ›da werde ich allen jenen Dingen ein Ende bereiten, die dir mehr bedeuten als deine Liebe zu mir.‹ Und dann sagte er noch: ›Es ist so dringend nötig und so wichtig, daß du mich liebst und bei mir bleibst, daß dich alles, was dir wichtiger erscheinen könnte als ich, zum Krüppel machen und lähmen wird. Zuallererst mußt du mich lieben. Mich nicht zu beachten, bedeutet Tod, Krankheit und Zerstörung.‹ Wenn jemand krank oder neurotisch wird, heißt das nicht, daß er eine minderwertige Person mit einem fehlerhaften Charakter ist. In gewisser Weise ist es ein positives Zeichen für ein Wachstumspotential, so als wäre in ihm eine größere Persönlichkeit, die sich an die Oberfläche drängt. Als die Arthritis kam, nahm ich meine Analyse wieder auf. Ich nehme an, ich tat das, weil ich Arthritis hatte. Aber die Absicht meines Unbewußten war wahrscheinlich umgekehrt. Die Arthritis war gekommen, damit ich die Analyse wieder aufnahm. Wir sind nie völlig analysiert. Wenn sich die Lebensbedingungen verändern, gibt es neue psychische Inhalte, die integriert werden müssen. Wenn ein Fenster zur Welt der Archetypen erst einmal aufgestoßen worden ist, gibt es keine Möglichkeit mehr, es wieder zu schließen. Entweder wir gehen mit dem Drang zur Individuation, oder er wächst und wendet sich gegen uns« (Kreinheder, 1991, S. 228 f.).
Im Unterschied zu Valéry und Kreinheder, die ihre inneren Dialoge im 20. Jahrhundert zu Papier gebracht haben, fand das Gespräch, das Augustinus mit seiner »Vernunft« führt, zu einer Zeit statt, in der die sogenannte Antike in das sogenannte Mittelalter überging. Augustinus zeigte sich hierbei durchaus perspektivenbewusst. Er prägte für seine inneren Unterredungen einen Titel, der im Original »Soliloquia« lautet und sprachlich unmittelbar den seltsamen Umstand wiedergibt, das es ja ein Einzelner ist, der da mit und über sich spricht – auf der Suche nach seinem Gott und der Frage, wie viel er von »ihm« kennenlernen kann. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
154 Viertes Methodenporträt »Wie ich mich lange Zeit mit den verschiedensten Gedanken trug und viele Tage ernsthaft mich selber suchte und was für mich ein Gutes sei oder ein Übel, das es zu meiden gilt, da sagte plötzlich zu mir – vielleicht ich selber, vielleicht ein Zweiter, in mir oder außer mir (ich weiß es nicht, und doch möchte ich gerade dies so gerne wissen …) – nun, da sagte zu mir die Vernunft: Merk auf! Nimm an, du hättest eine Entdeckung gemacht: wem willst du sie anvertrauen, um zu anderem weiterschreiten zu können? – Augustinus: Dem Gedächtnis doch am besten. – Vernunft: Ist dieses so gut, daß es alle deine Funde getreulich aufbewahren kann? – Augustinus: Das wird schwer sein, oder vielmehr ganz unmöglich. – Vernunft: Drum muß man schreiben. Doch was willst du tun, da deine Gesundheit die Schreibarbeit nicht erlaubt? Diktieren darf man solche Dinge nicht; denn sie verlangen nach reiner Einsamkeit. – Augustinus: Du hast recht, und so weiß ich ganz und gar nicht, was ich tun soll. – Vernunft: Bete um Gesundheit und Hilfe, die dir die Erfüllung deiner Wünsche ermöglicht, und schreibe auch schon dieses Gebet nieder, auf daß dein Erzeugnis dir neuen Mut gebe. Fasse darauf deine Funde zu wenigen schlüssigen Sätzen kurz zusammen und verlange nur nicht nach der Aufmunterung eines großen Leserkreises. Es wird dies für einige wenige unter deinen Mitbürgern genügen. – Augustinus: So will ich tun. […] Vernunft: Was willst du also wissen? […] Augustinus: Gott und die Seele will ich erkennen. Vernunft: Weiter nichts? Augustinus: Gar nichts. Vernunft: Also, fang an zu fragen. Doch erkläre mir zuvor, an welchem Punkte der Darstellung Gottes du wirst sagen können: es ist genug. Augustinus: Ich weiß nicht, bis zu welchem Punkte er mir dargestellt werden muß, damit ich sagen kann: es ist genug. […] Vernunft: Was tun wir also? Meinst du nicht, du müßtest zuerst wissen, bei welchem Punkte der Gotteserkenntnis es dir genug wäre, so daß du nicht, wenn du das Ziel schon erreicht hast, weiter suchtest? […] Augustinus: … aber [ich] liebe […] nichts anderes als Gott und die Seele und von beiden weiß ich nichts. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
Eine Grundkonstante des Lebens?
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Vernunft: Liebst du also deine Freunde nicht? Augustinus: Wie könnte ich sie nicht lieben, da ich doch die Seele liebe. Vernunft: So liebst du folglich auch Flöhe und Wanzen? Augustinus: Die Seele, sagte ich, liebe ich, nicht das Beseelte. Vernunft: Dann sind entweder deine Freunde keine Menschen, oder du liebst sie nicht; denn jeder Mensch ist doch etwas Beseeltes, und du sagtest eben, Beseeltes liebest du nicht. Augustinus: Doch, sie sind Menschen, und ich liebe sie, nicht deswegen, weil sie beseelt, sondern deswegen, weil sie Menschen sind, das heißt, insofern sie vernunftbegabte Seelen haben, die ich auch noch bei einem Räuber liebe. […] Vernunft: Das anerkenne ich. Doch wenn jemand zu dir sagen würde: ›Ich will dich Gott so gut kennen lassen, wie du deinen Freund Alypius kennst‹ – würdest du dich bei ihm nicht bedanken und sagen: ›Es ist genug‹? Augustinus: Bedanken würde ich mich schon, aber nicht sagen, es sei genug. Vernunft: Warum denn, bitte? Augustinus: Weil ich Gott nicht einmal so gut kenne wie den Alypius, und doch kenne ich auch den Alypius nicht gut genug. Vernunft: Dann sieh dich vor, daß nicht Vermessenheit dich treibt, wenn du Gott bis zur Genüge kennen willst, während du doch den Alypius nicht einmal genügend kennst. Augustinus: Dein Schluß ist nicht zwingend. […] Vernunft: Gerade deswegen haben wir doch diese zwanglose Art des Gespräches gewählt, das ich, da wir allein mit uns selber sprechen, ›Selbstgespräche‹ nennen und betiteln will. Dieses Wort ist zwar eine Neubildung und vielleicht etwas gewagt, doch ist es für den Gegenstand, der bezeichnet werden soll, einigermaßen zutreffend […] indem ich selbst an mich Fragen stelle und mir selber die Antwort gebe. […] Darum brauchst du nicht zu zögern, wenn du dich unbedacht irgendwo festgelegt hast, zurückzugehen und dich zu befreien« (Augustinus, 1986, S. 9, 19, 101 f.).
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Weltzwischenräume: Grundsätzliches zum Dialog Das Wort, das gesprochen wird, hier wird’s geäußert, dort vernommen, aber sein Gesprochensein hat das Zwischen zum Ort. Martin Buber Das Bewusstwerden für den Dialog eröffnet den Blick auf einen eigentümlichen, schwer fasslichen Raum: den Zwischenraum. Alles, was Menschen miteinander oder mit Tieren, Pflanzen, Umgebungen oder sogar (leblosen) Gegenständen tun, anfangen, vollziehen usw., findet zwischen ihnen statt, zwischen den Menschen oder zwischen den Menschen und Tieren, Pflanzen, Umgebungen oder sogar leblosen Gegenständen. Der Umstand mutet derart selbstverständlich an, dass er eigens kaum in den Blick kommt. Den Blick dafür wieder geschärft zu haben, ist das Verdienst von Martin Buber und seiner Philosophie des Dialogs. Buber erklärt in seiner eigenwilligen Diktion: »Wenn etwa zwei Menschen ein Gespräch miteinander führen, so gehört zwar eminent dazu, was in des einen und des anderen Seele vorgeht, was, wenn er zuhört und was, wenn er selber zu sprechen sich anschickt. Dennoch ist dies nur die heimliche Begleitung zu dem Gespräch selber, einem sinngeladenen phonetischen Ereignis, dessen Sinn weder in einem der beiden Partner noch in beiden zusammen sich findet, sondern nur in diesem ihrem leibhaften Zusammenspiel, diesem ihrem Zwischen« (Buber, 1962, S. 272).
Buber hat wiederholt versucht, diesen rätselhaft-selbstverständlichen Raum, diese »schwingende Sphäre zwischen den Personen, die Sphäre, die ich das Zwischen nenne« (Buber, 1960, S. 10) zu beschreiben und in ihrer elementaren Bedeutung für das Miteinander zu verdeutlichen. Für ihn stellt sie »eine Urkategorie der menschlichen Wirklichkeit« dar (Buber, 1982, S. 164) und bildet so etwas wie eine dritte Dimension, die eine Erweiterung üblicher Perspektiven ermöglicht: »Die den Begriff des Zwischen begründende Anschauung ist zu gewinnen, indem man eine Beziehung zwischen menschlichen Personen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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nicht mehr, wie man gewohnt ist, entweder in den Innerlichkeiten der Einzelnen oder in einer sie umfassenden und bestimmenden Allgemeinwelt lokalisiert, sondern faktisch zwischen ihnen. Das Zwischen ist nicht eine Hilfskonstruktion, sondern wirklicher Ort und Träger zwischenmenschlichen Geschehens; es hat die spezifische Beachtung nicht gefunden, weil es zum Unterschied von Individualseele und Umwelt keine schlichte Kontinuität aufweist, sondern sich nach Maßgabe der menschlichen Begegnungen jeweils neu konstituiert« (S. 164).
Es ist der Charakter des persönlichen, von zwei Individuen erzeugten Raumes, was diesen besonderen zwischenmenschlichen Ort oft weniger deutlich zu Bewusstsein kommen lässt. Für Buber und seine Philosophie des Dialogs ist dieser »Ort« wesentlich, auch und gerade, wenn dessen genauere Beachtung zunächst ungewohnt anmutet: »Die von mir in einer späteren Phase meiner Arbeit eingeführte Kategorie des Zwischen ist verschiedentlich in Frage gestellt worden. Das habe ich vorausgesehen, aber ich konnte die Einführung nicht vermeiden. […] Ich gehe von einer einfachen realen Situation aus: zwei Menschen sind in einem echten Gespräch90 begriffen. […] Es erweist sich, daß die geläufigen Kategorien dafür nicht ausreichen. Ich verzeichne: erstens die »physischen« Phänomene der beiden redenden und sich gebärdenden Menschen, zweitens die »psychischen« Phänomene dessen, was dabei »in ihnen« vorgeht; aber das sinnhafte Gespräch selbst, das zwischen den beiden Menschen vor sich geht […] ist unverzeichnet geblieben. Was ist seine Art, was ist sein Ort? Meine Bestandsaufnahme kommt ohne die Kategorie, die ich das Zwischen nenne, nicht aus« (Buber, 1963, S. 604 f.). 90 Was er unter einem »echten« oder »wirklichen« Gespräch versteht, hat Buber am Beispiel von konkreten Lebensbezügen zu veranschaulichen versucht: »Ein wirkliches Gespräch (d. h. ein nicht vorher in seinen einzelnen Beiträgen verabredetes, sondern ein völlig spontanes, in dem jeder unmittelbar zu seinem Partner spricht und dessen unvorsehbare Erwiderung hervorruft), eine wirkliche Lehrstunde (d. h. weder eine betriebsmäßig wiederholte noch aber eine, deren Ergebnisse der Lehrende schon vorweg weiß, sondern eine sich in gegenseitigen Überraschungen entwickelnde) […] eine nicht gewohnheitsmäßige Umarmung […] – das Wesentliche davon vollzieht sich nicht in dem einen oder anderen Teilnehmer […] sondern im genauesten Sinn zwischen beiden, gleichsam in einer nur ihnen beiden zugänglichen Dimension« (Buber, 1986, S. 165). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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Wie man auch zu einer solchen Kategorie stehen mag, ob man sie mitvollzieht oder nicht; sie stellt eine Erweiterung dar und bringt allein dadurch neue oder zumindest andere Möglichkeiten der Wahrnehmung zu Bewusstsein. Bubers Kategorie »Zwischen«91 ist innerhalb therapeutischer Konzeptionen92 weit weniger beachtet worden, als sie es als dritte, grundlegende Örtlichkeit verdient.93 Eine Ausnahme bildet die Konzeption einer »Heilung aus der Begegnung« des jungianischen Psychotherapeuten Hans Trüb. Dieser berichtet über seine therapeutische Tätigkeit: »Oft sage ich Menschen: ich behandle doch nicht Sie in der Stunde – das ist ja nur ein äußerlicher Aspekt und Schein. Für die Psychotherapie ist ernsthaft festzuhalten, daß wir […] beide ein Drittes behandeln. […] Das liegt zwischen uns, worum es geht« (1951, S. 103).
Wie bereits im dritten Methodenporträt angedeutet, wird – räumlich betrachtet – das seelische wie das kommunikative Leben mit Hilfe von Innen-außen-Metaphern zum Ausdruck gebracht. Bubers wichtiger anthropologischer Hinweis besteht nun darin, aufgezeigt zu haben, dass sich nicht bloß etwas »in«, »an« oder »außerhalb« von uns ereignet, sondern eben auch »zwischen« uns. Aufgrund seiner Orientierung an der besonderen Örtlichkeit des »Zwischen« gelangt Buber zu einer pointierten Bestimmung des Dialogischen: »Die Sphäre des Zwischen91 Vgl. hierzu Theunissens Kommentar zu »Bubers Theologie des Zwischen« (Theunissen, 1981, S. 330 ff.), der das besondere »Zwischen« zwischen dem Menschen und dessen metaphysischen Begegnungsmöglichkeiten reflektiert. 92 Während einer Amerikareise Bubers kam es (auf einer Fachtagung) zu einer Begegnung mit Carl Rogers, die in einem Dialog über den Dialog als Beratungsmodell stattfand (Buber u. Rogers, 1992). Die Begegnung hat bei Beiden nachgewirkt. Bei Rogers, indem er »sein klienten-zentriertes Konzept zu einem dialogischen Konzept« erweiterte (Groddeck, 2002, S. 123 f.); bei Buber, indem er von der Offenheit Rogers’ berührt worden ist, »so daß ein wirklicher Dialog entstehen konnte und nicht nur eine verabredete Aufführung« (S. 123 f.) – wobei sich Buber mitunter über das naive (amerikanische) Menschenbild von Rogers wunderte. Vgl. hierzu auch die Gegenüberstellung der Konzeptionen von Achenbach, Rogers und Buber, welche die israelische Philosophische Praktikerin Shlomit Schuster unternommen hat (Schuster, 1996, S. 247 ff.). 93 Unter den Systemaufstellern – bei deren Arbeit es ja ganz konkret um Zwischenräume geht – haben sich Matthias Varga von Kibéd und Insa Sparrer zu dem Einfluss von Bubers Kategorie auf ihre Vorgehensweisen bekannt (Varga von Kibéd, 2005, S. 201). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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menschlichen ist das Einander-Gegenüber; ihre Entfaltung nennen wir das Dialogische« (Buber, 1962, S. 272). Anders gesagt: Für die Kultivierung des Dialogs kommt es auf die Entwicklung des jeweiligen »Zwischen« an. Dadurch, dass Buber die grammatisch oft unbedacht verwendete Präposition zwischen zum Hauptwort, zum Begriff gemacht, ja geradezu aufgeladen hat, hat er eine Perspektive geschaffen, mit der menschliche Beziehungen anders wahrgenommen und umfassender erlebt werden können. Damit Sie diesen Aspekt von Bubers Philosophie des Dialogs für Ihre Arbeit wie Ihr Leben gewinnbringend nutzbar machen und zugleich überprüfen können, ob Sie damit etwas anfangen können (und was), möchte ich Sie zu einer Übung einladen.
Erkundung des Zwischen Das Mitsein ist größer als das Sein. Martin Heidegger Da unser Leben wesentlich dadurch zu charakterisieren ist, dass es nicht nur ein (rätselhaftes) Sein, sondern, mit Heidegger zu reden, auch ein »Mitsein« darstellt, lässt sich das persönlich erfahrene »Zwischen« gut und nuanciert erkunden. Denn als situative Lebewesen (vgl. Zweites Methodenporträt) sind wir ja nicht allein, sondern stets umgeben von anderem, mit dem wir in Beziehung treten und damit auch den besonderen gemeinsamen Raum eines »Zwischen« erzeugen können. Beginnen Sie mit dem, was Sie gerade umgibt. Ein Gegenstand, vielleicht ein leerer Stuhl, der sich gerade in Ihrer Blickbahn befindet. Eine Pflanze oder ein Tier, das jetzt einen Teil Ihrer unmittelbaren Umgebung bildet. Oder, angenommen Sie sind gerade in einem öffentlichen Verkehrsmittel, auf der Straße, im Cafe, im Amt oder Geschäft, bei einer persönlichen oder beruflichen Zusammenkunft, wo Sie von anderen Menschen umgeben sind. Wählen Sie ein bestimmtes Gegenüber aus und beginnen Sie – diskret und genau – jenen Raum wahrzunehmen, der sich zwischen Ihnen und dem ausgewählten Gegenüber befindet. Suchen Sie, wenn es sich dabei um eine Person handelt, zunächst keinen direkten Augenkontakt. Berühren Sie den anderen auch nicht. Erkunden Sie stattdessen, so als ob Sie über feine atmosphärische Tastorgane verfüg© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
160 Viertes Methodenporträt ten, den Raum, der sich zwischen Ihnen und dem gewählten Gegenüber befindet; jenes »leere« Stück räumlichen Abstands, der zwischen Ihnen und dem anderen ist und in dem nichts außer »Luft« zu sein scheint. Was können Sie dort wahrnehmen? Wie fühlt sich dieser Raum an? Wie fühlen Sie sich, was bemerken Sie, wenn Sie sich auf diese »feinstoffliche« Zone ausrichten? Was verändert sich, wenn Sie sich, statt sich direkt auf den anderen auszurichten, auf das gemeinsame »Zwischen« ausrichten – jenen Raum, der als solcher bestehen bleibt, auch wenn sich Ihr Gegenüber mal näher, mal ferner zu Ihnen befindet? Fühlen Sie sich dem anderen verbundener oder bemerken Sie einen Abstand, den Sie so bislang nicht bemerkt haben? Sollte diese Art der Erkundung für Sie keinen guten Zugang zu der Buber’schen Kategorie eröffnen, dann nähern Sie sich dem Thema durch Imagination. Vergegenwärtigen Sie sich für Sie wichtige Personen, Lebewesen, Gegenstände, Umgebungen und treten Sie über die Vorstellung mit Ihnen in Beziehung. Nehmen Sie dabei den Raum, den Sie dabei mit dem jeweiligen anderen bilden, wahr. Was ist es, das Sie mit dem anderen verbindet? Wie würden Sie diese Verbindung beschreiben? Was bringt nach Ihrem Eindruck jeder in den gemeinsamen Beziehungsraum ein? Was stellt sich sofort/schnell/nach und nach/immer wieder ein, wenn Sie mit dem anderen zusammenkommen oder zusammen sind? Diese Übung lässt sich auch so schattieren, dass Sie ein dafür offenes Gegenüber in Ihre Erkundung einbeziehen und gemeinsam, das gemeinsam hervorgebrachte »Zwischen« betrachten. Das kann nicht allein Ihren persönlichen Beziehungen und Verbundenheiten mit dem anderen eine zugleich achtsame und reflektierte Dimension verleihen, sondern auch Ihren professionellen. Die Erkundung des »Zwischen« ist gut geeignet, Ihre jeweilige Dialogbereitschaft und damit Ihre (Mit-)Verantwortung für das berufliche oder private Miteinander deutlicher ins Gewahrsein zu bringen und so Ihre Handlungs- und Reaktionsweisen zu verbessern.
Martin Buber definiert den Menschen vom Dialog her. Er erklärt: »Mensch sein heißt, das gegenüber seiende Wesen sein« (Buber, 1986, S. 83). Für ihn ist der Mensch wesentlich ein dialogisches Geschöpf, zu dessen Grundkonstanten gehört, ein Du für jemanden zu sein. Mit seiner anthropologischen Verortung hat Buber auf seine Weise eine zentrale Orientierung des systemischen Ansatzes vorweggenommen, der zufolge Menschen als relationale Lebewesen verstanden werden, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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deren Handeln durch ein dauerndes Sichbeziehen auf jemanden oder etwas beschreibbar ist. Und so kann es für diejenigen, die mit diesem Ansatz arbeiten (oder sonst für ihn sensibilisiert sind), anregend und aufschlussreich sein, sich mit Bubers Philosophie des Dialogs genauer zu beschäftigen als ich dies hier aus Platzgründen tun kann. Einen guten Einstieg hierfür bildet die Entwicklung eines Bewusstseins für das »Zwischen«, das heißt, sich des »Zwischens« erst einmal überhaupt bewusst zu werden, und ein praktisches Umgehen mit ihm. Die verstärkte Aufmerksamkeit für das Interpersonale macht deutlich, welch hoher Anteil unserer sogenannten Wirklichkeit Ko-Genesis-Prozessen, also gemeinsam geschaffenen Realitäten, zukommt. Das hat dann auch Auswirkungen auf verdinglichende Zuschreibungen. Wenn zum Beispiel manche Männer davon sprechen, sie wären mit tollen Frauen im Bett gewesen (falls diese gemeinsame Wirklichkeit eine wirklich vollzogene gewesen sein sollte und nicht nur Teil ihrer Imagepraxis), dann ist dieses »Tolle«, worauf sie anspielen, etwas Gemeinsames, etwas miteinander Hervorgebrachtes gewesen oder mit Buber zu reden, ein bestimmtes »Zwischen«, das sich durch eine dialogische Haltung zweier Menschen konstelliert94 hat und kein Attribut oder »Zubehör« einer bestimmten Person, das sich wie ein technisches Gerät auf Bedarf anschalten lässt. Was ein anderer Mensch für mich bedeuten mag, was ich in ihm sehen (oder nicht sehen), als was ich ihn ansehen mag –, die Praxis einer dialogischen Haltung gibt mir die Möglichkeit, auf den jeweils anderen als Gegenüber zu reagieren, als jemanden (oder etwas), dem ich begegnen kann.
Vierter Leitbegriff: Begegnung Das deutsche Wort »Begegnung« ist insofern ein »durchsichtiges« (Gauger, 1971), indem es ermöglicht, sich unmittelbar vor Augen zu führen, was als konkreter Sinn in ihm steckt. Genau betrachtet verklammern sich in diesem Wort zwei Bedeutungen, die in einer gewissen Spannungsbeziehung zueinander stehen (können). Da ist zunächst etwas Räumliches, sozusagen Grundlegendes. Das Gegenübersein von min94 Für Buber (1962) schließt dies auch Mentales ein: »Geist ist nicht im Ich, sondern zwischen Ich und Du.« Er formuliert hier ein Interaktionsphänomen, das systemischen Prämissen nahekommt. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
162 Viertes Methodenporträt destens zwei Personen oder Wesenheiten, die sich in einer bestimmten körperlichen, seelischen oder geistigen Lage zueinander befinden und sich dadurch auf die eine oder andere Weise »begegnen« können – was selbst bei sehr einträchtigen und harmonischen »Begegnungen« die Beimischung von Konfrontation kaum je völlig verliert. Dieser Aspekt bildet das verklammernde Element, was aus meinem Gegenüber, aus dem anderen einen Gegner machen kann. Jemanden, der konturiert die Gegenmeinung zu meiner Ansicht vertritt und dadurch das Gegenteil zu mir verkörpert. Das kann eine für alle Beteiligten sehr förderliche Erfahrung sein, die sich perspektivenerweiternd und relativierend auswirkt. So verstanden, schützen Gegner vor Selbstübertreibungs tendenzen; sie weisen auf den sprichwörtlichen »Balken im eigenen Auge« hin, den der andere weit deutlicher und rascher sieht als man selbst. Das macht Menschen – vor allem solche, die sich weiterentwickeln möchten – begegnungsbedürftig; denn das »Zwischenmenschliche erschließt das sonst Unerschlossene« (Buber, 1962, S. 286). Zumindest besteht das Potenzial dazu, vor allem dann, wenn ein Gegenüber einen gewissen Begegnungsmut aufbringt, seinem Gegenüber nicht nur zu begegnen, sondern dort, wo es angebracht scheint, auch entgegenzutreten, gewissermaßen zu »begegnern«. Diese sich direkt aus der Wortbetrachtung ergebenen Komponenten können zur Klärung der Frage »Was macht Begegnung aus?« herangezogen werden. Das berührt zudem das Verhältnis zum Dialog. Und, damit zusammenhängend, die Bereitschaft zur Selbstkorrektur eines Systems oder einer Organisation. Diese Bereitschaft drückt sich zum Beispiel in folgender Frage aus: Welche Gegnerschaften gibt es in einem Individuum, einem Paar, einer Familie, einem Team, einem Unternehmen etc. und wie können diese so ausbalanciert werden, dass ein übersummenhafter Effekt oder Gewinn für alle Beteiligten entsteht, der wiederum gute Auswirkungen auf die Begegnungsbereitschaft mit einem neuen, noch unbekannten Gegenüber hat? Gegner zu finden, ist nicht schwer (was über deren Begegnungsbereitschaft noch nicht viel aussagen muss). Man braucht nur eine Meinung, Haltung, eine Position etwas intensiver, nachdrücklicher, pointierter zu vertreten und schon generiert man sich einen Gegner, der dann in manchen Fällen, wie zum Beispiel Ernst Jünger aus eigener Erfahrung weiß, zu einem »Verfolger vom Dienst« mutieren kann. Hier © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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taucht dann früher oder später der Begriff »Feind« auf und mit ihm klare Unterschiede zum »Gegner«. Als »Feind« tritt jemand in Erscheinung, der etwas oder jemanden weghaben möchte, der keinen Zugang zu den heilsamen, perspektivenerweiternden und relativierenden Aspekten der Gegnerschaft findet, sondern das, was anders erscheint (als er selbst), für gefährlich, ungut, bekämpfenswert erachtet und es am liebsten eliminiert sehen möchte. Bei stark ideologisch orientierten Menschen kann man nicht selten eine gewisse Verfeindungsbereitschaft beobachten. Dem steht auf politischer Ebene die Notwenigkeit einer Opposition entgegen, die eine wichtige regulative Idee innerhalb der demokratischen Traditionen verkörpert. Epistemologisch verstanden, verbindet die beiden Seiten, die sich (ob als Gegenüber oder als Gegner) begegnen, das gemeinsame Nichtwissen (vgl. Fünftes Methodenporträt), das aller sinnvollen Relativierung zugrunde liegt. Martin Buber hat den Begriff »Vergegnung« geprägt (vgl. Drittes Methodenporträt) und damit auf innere Vorentscheidungen hingewiesen, die neue Begegnungen nahezu unmöglich machen. Daraus braucht nicht notwendigerweise Gegner- oder gar Feindschaft zu erwachsen. Doch verweigert zumindest einer der Beteiligten die Rolle des Gegenübers so nachdrücklich, dass es zu keiner bereichernden Begegnung mehr kommen kann.
Unter den neueren Dialogdenkern ist Martin Buber wohl der bekannteste und während einer gewissen Zeitspanne sogar der prominenteste gewesen, beileibe jedoch nicht der einzige. Sein dem Dialog und dem Dialogischen gewidmetes Werk bildet eine Synthese aus Vorgefundenem, wobei manche Akzentsetzungen unmittelbar auf ihn zurückgehen dürften. Die neuere Dialogik (damit ist die des 20. Jahrhunderts gemeint, die einschlägige Ideen von Jakobi, Feuerbach, Cohen, Dilthey fortsetzt) war auffallenderweise eine deutsch-jüdische Angelegenheit. Sie trat kurz nach dem Ersten Weltkrieg in Erscheinung und wirkte (in ihren Grundpositionen) über den Zweiten hinaus. Zu ihr gehören Denker wie Franz Rosenzweig, Ferdinand Ebner, Martin Buber, Karl Löwith, Emmanuel Lévinas, Hermann Levin Goldschmidt, Eugen RosenstockHussey und Michael Theunissen. Ihre theoretischen (und mitunter auch praktischen) Bemühungen gelten der Erkundung des Dialogs: seinen Voraussetzungen, seinen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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Grundlagen, seinem Potenzial. So wie innerhalb der neueren Sprachphilosophie durch die grundlegenden Reflexionen Wittgensteins und seiner Nachfolger ein linguistic turn stattgefunden hat, so gab es innerhalb der philosophischen Anthropologie einen dialogic turn, der die elementare Bedeutung des Menschen als Zwiesprachewesen hervorhob und untersuchte. Es waren, wie angedeutet, vornehmlich Menschen aus jüdischen Sozialkontexten – ob nun säkularisiert (wie Löwith), religiös (wie Lévinas) oder gar erklärter »Erzjude« (wie Buber) –, deren Blick sich auf den Menschen als dialogisches Wesen richtete. Einen Einfluss auf diese Orientierung hatte wohl auch ein bestimmter Dialogstil, die nicht selten hadernde Zwiesprache, welche die Juden in ihrer verfolgungsreichen Geschichte mit ihrem Jachwe führten; ein Dialogstil, der sich von dem eher ehrfurchtsgeleitetem Umgang des aus dem Judentum hervorgegangenen Christentums mit ihrem Gott deutlich unterschied. So berichtet zum Beispiel Christiane Kubrick, die Frau des bekannten Filmregisseurs, wie ihr (als norddeutsch sozialisierter Protestantin) bange wurde, wenn ihr perfektionistischer Mann wütend die Faust erhob und, den Blick grimmig nach oben gewandt, heftig gegen eine Himmelsmacht anfluchte, die in Gestalt eines dummen Zufalls seine wohldurchdachten Pläne zu durchkreuzen schien. Neben dem dialogfördernden, quasi ebenbürtigen Umgang mit ihrer transzendentalen »Bezugsperson« war es die stark empfundene Nähe zur deutschen Sprache und dem sich darin ausdrückenden Denkstil (das Jiddische ist ja zum Gutteil aus dem Mittelhochdeutschen gebildet worden), was auf die Eigenart dieser Dialogiker (namentlich Bubers) größeren Einfluss ausübte. Und so ließen sich viele im deutschen Sprachraum sozialisierte Juden die praktizierte Nähe zur deutschen Kultur auch angesichts der nationalsozialistischen Ausgrenzungs- und Vernichtungspolitik nicht nehmen.95 Sie widerstanden den Versuchen Hitlers und seiner willigen Schergen die »deutsch-jüdische Liebesgeschichte« (Sebastian Haffner) endgültig 95 Es gab ab den 1940er Jahren geradezu ein eigenes »Leben der deutschen Sprache in Jerusalem« (Rudolf Lennert), das heißt einen aktiven Kreis von größtenteils aus Deutschland vertriebenen Juden, die im orientalischen Umfeld die deutschjüdische Kultursymbiose fortsetzten. Zu ihnen gehörten unter anderem Philosophen, Schriftsteller und Pädagogen, wie Gershom Scholem, Martin Buber, Ernst Simon, Else Lasker-Schüler, Ludwig Strauß, Werner Kraft, Tuvia Rübner und Elaazar Benyoëtz. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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zu zerstören. Die Beziehung Bubers zu Deutschland blieb auch nach dem sogenannten Holocaust eng. Werner Kraft überliefert, Buber sei ihm, wenn er von Reisen aus Deutschland zurückkehrte, »frischer und aufgeschlossener« erschienen (Kraft, 1966, S. 23). Buber hat für sein deutsch geschriebenes Werk hierzulande mehrere Literaturpreise erhalten und sich durch seine religionsphilosophischen Schriften um einen interreligiösen Dialog bemüht. Zum Teil gemeinsam mit Franz Rosenzweig übersetzte er die hebräische Bibel ins Deutsche, wobei er auf die Bezeichnung »verdeutscht von Martin Buber und Franz Rosenzweig« bestand und auf die Buchumschläge drucken ließ. Als praktizierender Dialogiker96 hat er versucht, das besondere deutsch-jüdische Verhältnis auch nach der Katastrophe der Hitlerjahre fortzusetzen. Diese Dialogbereitschaft mit den »Todesmeistern aus Deutschland« (Paul Celan) brachte ihm bei seinen späteren Landsleuten viel Feindschaft und Ablehnung ein. Das verschärfte sich noch, als er gegen Ende seines Lebens vehement für ein offenes, ebenbürtiges Gespräch mit den Arabern eintrat. Um diese Anmerkungen zur deutsch-jüdischen Dialogbeziehung nicht zu einem Exkurs auswuchern zu lassen und mich auf eine Bewusstmachung und Klärung des Dialogbegriffs und der Dialogpraxis gerade auch für Therapeuten, Berater, Coaches und Organisationsentwickler zuzubewegen, möchte ich kurz Beobachtungen von zwei Dialogdenkern zur Sprache bringen. In seiner Habilitationsschrift »Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen« von 1928 (sie hatte Heidegger zum Erstgutachter) betont Löwith die Bedeutung des dauernden Aufeinander-Bezogenbleibens und der gemeinsamen, miteinander geschaffenen Welt als der Grundlage für das individuelle Leben. Er kritisiert die »Mitweltvergessenheit«97 mancher Philosophen, namentlich des deutschen Idealismus, die gewissermaßen im Individuum versin96 Buber hat seinen Unterweisungsstil (er war auch Professor) in einem Text, der bezeichnenderweise den Titel »Antwort« trägt, so beschrieben: »Ich habe keine Lehre. Ich zeige nur etwas. Ich zeige Wirklichkeit, ich zeige etwas an der Wirklichkeit, was nicht oder zu wenig gesehen worden ist. Ich nehme ihn, der mir zuhört, an der Hand und führe ihn zum Fenster. Ich stoße das Fenster auf und zeige hinaus. Ich habe keine Lehre, aber ich führe ein Gespräch« (Buber, 1963, S. 593). 97 Vgl. hierzu Bildungen wie »Seinsvergessenheit« (Heidegger) oder »Geburtsvergessenheit« (Arendt); Bildungen, die darauf hinweisen, dass bei aller hektischen Aktivität und allem narzisstischen Getriebe der Umstand häufig in Vergessenheit gerät, dass man bei allem, was man tut oder erlebt, ist und trotz fortschreitender Jahre einmal auf die Welt gekommen ist. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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ken. Welt bedeutet für Löwith stets Mitwelt. »Jedes ›ich denke‹ setzt schon ein Du, überhaupt ein Objekt voraus« (Löwith, 1981, S. 25). Das hat unmittelbare Konsequenzen für die Lebensqualität: »Als Individuum ein Mitmensch sein und diese Rolle haben und spielen, machen den Ernst und den Reiz des menschlichen Lebens aus, dessen Wohl- und Übelbefinden, dessen Glück und Unglück vorwiegend durch das Verhältnis des einen zum anderen bestimmt ist« (S. 197).
Gemäß eines kulturanthropologischen Diktums von Martin Buber, wonach keine Sprache gewesen sei, bevor Ansprache gewesen sei – was bedeutet, das Linguistisches und Dialogisches nahezu in eins fallen – und die Menschen ihr Menschsein dadurch praktizierten, dass sie füreinander »Redegesellen« (Jacob Grimm) seien, widmet Löwith einer Form des Angesprochenwerdens seine Aufmerksamkeit: dem BeimNamen-Nennen. Löwith weist dabei darauf hin, dass der »sogenannte Eigenname« eines Menschen ein »Fremdname« sei, »ein zunächst von anderen gegebener und für andere bestimmter Name« (S. 36). Der Eigenname macht eine Individualität sozial und dialogisch handhabbar, indem er wesentlich dazu beiträgt, eine bestimmte Person als genau diesen Einzelnen erscheinen zu lassen und von anderen leicht identifizierbar zu machen. Einer/jemand, der persönlich angesprochen werden kann. Man stelle sich vor, wie sich ein persönlicher (oder gar ein problematischer) Dialog vollziehen würde, wenn die Möglichkeit dieser Form von Individualitäts-Kennzeichnung entfiele. Hermann Levin Goldschmidt steht in direkter Tradition zu Martin Buber, insbesondere was die Pflege des dialogischen Lebens sowie den jüdisch-christlichen Austausch betrifft. Er betreibt »Philosophie als Dialogik«98 (Goldschmidt, H. L., 1993), welche »allein Philosophie zwar nicht begründet, aber ohne die keine Philosophie begründet ist« (S. 208). Wie andere Dialogiker (in der Nachfolge Jacobis) geht auch er 98 Durch die er sich (polemisch) von anderen philosophischen Grundhaltungen, wie zum Beispiel der Dialektik abgrenzt. Denn diese erscheint ihm als »der Versuch einer Dialogik – im Monolog« und »der Dialektiker ist und bleibt zuletzt Herr sämtlicher Widersprüche« (Goldschmidt, H. L., 1993, S. 197 f.). Das kann man so verstehen, dass ein Dialektiker sich einer dialogischen Begegnung mit einem anderen nicht wirklich aussetzt, denn die Befremdung könnte seine wirkliche oder vermeintliche Souveränität im Umgang mit Widersprüchen möglicherweise in Gefahr bringen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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von der Frage aus: »Gibt es einen Menschen ohne andere Menschen?« (S. 189). Zugleich warnt Goldschmidt vor einem »Pandialogismus«, denn dieser fordere: »Alles soll sich mit allem begegnen und auseinandersetzen: ohne Rücksicht auf eigene und fremde Würde, Größenordnung, Rangordnung, Einteilung und Schichtung soll jedes Ich mit jeder anderen Gemeinschaft, jedem anderen Ich und jedem anderen Etwas ›ins Gespräch kommen‹« (S. 199). Indem Goldschmidt diese Begleitaspekte zur Sprache bringt, stellt er (implizit) die Frage nach Umständen und Voraussetzungen, die das Gelingen eines Dialogs auch zwischen sehr unterschiedlichen Partnern gewährleisten helfen und die für die Bildung ihres »Zwischen« von Bedeutung sind und den Möglichkeitsraum entscheidend mitbestimmen. Nun ist der Begriff »Dialog« bzw. »dialogisch« häufiger gefallen, ohne als Wort, als Begriff eigens genauer betrachtet worden zu sein. Ich habe mich ihm zunächst über etwas zu nähern versucht, das für ihn konstitutiv zu sein scheint: jenen besonderen Raum, der entsteht, wenn zwei Menschen (oder andere Wesenheiten) miteinander in Beziehung kommen oder in persönlichem Austausch stehen; jenen Raum, den Buber als ihr »Zwischen« bezeichnet. Man könnte ihn auch als jenes »Beziehungskind« beschreiben, das zwei Menschen, zwei Dialogpartner, durch eine bestimmte (nur ihnen eigene) Art des Miteinanderseins und Miteinanderumgehens hervorbringen und dem sie sein spezifisches Gepräge geben. Und so scheint eine Beziehung zwischen zwei Menschen, zwei Dialogpartnern aus drei Elementen zu bestehen: dem einen, dem anderen und ihrem »Zwischen«. In dem einschlägigen Buch »Zwiesprache. Traktat vom dialogischen Leben« (Buber, 1978) werden (wie bei anderen Quellen) die Worte »Gespräch« und »Dialog« nahezu synonym verwandt. Heißt das, sie bezeichnen nahezu dasselbe? Ich habe zur Klärung grundlegender Begrifflichkeiten ein bestimmtes Frageverfahren vorgeschlagen (Stölzel, Th., 2012, S. 15 ff.), das mit zwei Fragetypen experimentiert. Hier angewendet, bedeutet das, zu ermitteln: Auf was komme ich, was fällt mir ein oder was wird deutlich, wenn ich kontrastiv: 1. die ontologische Frage stelle, also frage: Was ist ein Dialog?, und 2. die heuristische Frage stelle, also frage: Was kann ich über einen Dialog überhaupt herausfinden? Das Umgehen mit diesen beiden kontrastiven Fragetypen und die unterschiedliche Art von Antworten, die Sie dadurch erhalten kön© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
168 Viertes Methodenporträt
nen, erzeugen einen erkenntnisdienlichen Begleiteffekt: Sie werden auf die Art des Fragens aufmerksam, beginnen die Fragen selbst zu befragen. Womöglich finden Sie auf diesem Wege eine dritte, vierte, fünfte … Frageform, die Ihren persönlichen Wissensbedürfnissen entspricht und das, was Sie über diesen (oder andere) Begriff(e) erfahren möchten, klarer zu Bewusstsein bringt. Was Sie im Einzelnen über diesen Begriff und Ihr Verhältnis zu ihm ermittelt und geklärt haben mögen, Sie bewegten sich dabei enger oder weiter im Assoziationsfeld des Begriffs »Dialog«. Round-Table-Gespräch
Debatte
Interview Konversation
Geplauder
Zwiegespräch
Gespräch
Talkshow Plausch
Austausch
Dialog
Erörterung Gesprächskultur
Tratsch
Streitgespräch
Vieraugengespräch
Unterhaltung
Smalltalk
Befragung
(Podiums-)Diskussion
Besprechung
Hickhack Gedankenaustausch
Diskurs Redeschlacht
Meinungsaustausch Beratschlagung
Kolloquium
Verhandlung
Aussprache
Redekur (talking cure)
Abbildung 2: Assoziationsfeld zum Begriff Dialog
Unterschiedsbildende Fragen Diese Übung lässt sich gut in Organisationen und in der Arbeit mit größeren Gruppen anwenden. Von den Themen, die für eine Organisation relevant sind, wird gemeinsam eines ausgewählt. Danach wird die Gruppe/ Organisation in zwei gleichgroße Teilgruppen geteilt. Eine Gruppe arbeitet mit der ontologischen Frage: Was ist …?, die andere mit der heuristischen Frage: Was kann ich über … überhaupt herausfinden? Jede Teilgruppe wählt zwei Beobachter, die den Klärungsprozess beobachten und zwei »Pressesprecher«, die nach Abschluss der Übung die Prozessbeobachtungen und die Ergebnisse der jeweiligen Teilgruppe vorstellen. Ermitteln Sie dann, welcher Fragetyp zu welcher Art von Wissen (ver-) führt und was es für das Unternehmen bedeutet, mit einem unternehmensrelevanten Thema, einer unternehmensrelevanten Frage ontologisch oder heuristisch umzugehen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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Der Begriff »Dialog« – ein Stereotyp99 unserer vermeintlichen Ge sprächskultur – erscheint vor allem im öffentlich-medialen Raum häufig als ein Modewort, dem alles Mögliche zugetraut, das mit vielen Zuschreibungen versehen wird und mitunter sogar dazu beitragen soll, das Unmögliche möglich zu machen. So wird zum Beispiel von einer Zusammenarbeit, einem Lernen, einer Politik oder einer Entwicklung im Dialog gesprochen; die tendenziöse Devise ausgegeben: Dialog oder Krieg; zu einem Dialog der Kulturen, Religionen, Konfessionen, Weltanschauungen, Interessengruppen oder gar der Düfte angeregt; ein (offener) Dialog mit der jüngeren Generation oder zwischen den Geschlechtern gefordert; ein Dialog mit der Natur erwünscht. Oder es wird betont, dass Politik und Wirtschaft in einem (guten) Dialog miteinander ständen, dass Poesie, Wissenschaft, Medizin, Sprache, Kunst, Therapie etc. sich als Dialog verständen. Oder es wird erklärt: Gegner oder gar Feinde seien in einem (konstruktiven) Dialog miteinander; in einem mörderischen Konflikt gebe es wieder Hoffnung auf einen (befriedenden) Dialog; Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften hätten (endlich) wieder den Dialog aufgenommen; Führungskräfte pflegten einen (wertschätzenden) Dialog mit ihren Mitarbeitern; (sogenannte) Wissenschaftler und (sogenannte) Esoteriker könnten sich im Dialog (anders) begegnen oder progressive und konservative Kräfte durch einen Dialog ein (besseres) Verständnis füreinander entwickeln usw. Der »Dialog« wird häufig mit Verben oder Attributen des Beginnens, des Verständnisses, der Offenheit, der Bewegung, der Ebenbürtigkeit und der Hoffnung verbunden, wobei jedoch auch schlechter Dialogstil konstatiert, Unwillen zum Dialog bescheinigt oder gar wegen Dialogunfähigkeit entlassen oder abgewählt wird. Und so könnte man sich fragen, was dieses Zauberstabwort eigentlich enthält oder zu versprechen scheint. Nähert man sich ihm auf etymologische100 Weise, dann tritt Folgendes zutage: »Dialog« ist ein zweigliedriges Kompositum, das aus griechischen Wortteilen besteht. Die Vorsilbe dia ist durch viele andere Komposita, die sie eröffnet, geläufig, wie unter anderem Dia 99 Der Dialogforscher Martin F. Meyer spricht von einer Chiffre »zur Kodierung mikrosozialer Verhältnisse« (Meyer, 2006, S. 83) und weist auf den Internetauftritt der SPD hin. 100 Astrid Nettling spricht da ganz wortbedeutungsnah von einem »Hindurchführen des Logos« (Nettling, 1994, S. 19), der etymologische Zugang sollte jedoch verwendungsbewusst erfolgen (vgl. Stölzel, Th., 2012, S. 28 ff.). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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betes, diabolisch, Diadem, Diagnose, diagonal, Diakon, Diarrhoe, Dialyse, Diamant, Diaphragma, Diaspora, Dialekt; sie kann je nach Kontext bedeuten: (hin-)durch, zwischen, hin und her, auseinander, gänzlich. Der Wortteil log ist eine Kurzform des sehr bedeutungshaltigen Wortes Logos, das nicht nur in antiker Zeit (als es gebildet wurde), sondern auch heute verschiedene Bedeutungskomponenten in sich vereinigt, die vom Sprachlich-Rhetorischen bis zum Mathematisch-Analytischen reichen. Führt man diese Wortteile unter dem Gesichtspunkt der Bedeutung zusammen, so gelangt man zu dem spezifischen Sinn, dass Sprache und Denken miteinander zusammen, (hin)durch, hin und her gewendet, gebracht werden, so dass etwas zwischen ihnen und den Beteiligten entstehen kann. Diesen allgemeinen Bestimmungsversuch könnte man so pointieren: Ein Dialog ermöglicht den Versuch, etwas mit Hilfe bzw. durch ein Gespräch zu klären; das schließt eine sichtbar werdende Unklarheit (oder Aporie) mit ein. Im Dialog werden zwei Handlungsweisen verknüpft. Erstens dialegein, was bedeutet, etwas zerlegen, auseinanderlesen, (zer-)gliedern, und zweitens dialegesthai, was bedeutet, einen Klärungsprozess gemeinsam, im ebenbürtigen Miteinander zu vollziehen. Denn bei allem Auseinandernehmen – sowohl analytisch wie dynamisch – wird auch das gemeinsame Tun akzentuiert, sonst müsste man ja von einem Zerspräch und nicht von einem Gespräch sprechen. Doch sind nun Dialog und Gespräch identische und austauschbare Begriffe? Einer der gründlichsten Dialogforscher, Rudolf Hirzel, gibt da zu bedenken: »Zwar ist jeder Dialog ein Gespräch, aber nicht jedes Gespräch ein Dialog« (Hirzel, 1895/1963, S. 2). »Oder« – fragt Hirzel mit dem Charme eines wilhelminischen Gelehrten101 – »fällt es etwa Jemand ein, jedes Gespräch oder die Gesprächsketten, die sich anmuthsvoll um Kaffee- oder Biertisch schlängeln, als Dialoge zu bezeichnen?« (S. 2). Als solche könnte kein »Austausch von allerlei Nachrichten höherer oder niederer Gattung« in Frage kommen noch »der bunte Wechsel mehr oder minder geistreicher Bemerkungen, das Springen der Unterhaltung von einem Gegenstand zum anderen« (S. 4). Ein Dialog wäre – unabhängig davon, wie er im Einzelnen geführt wird oder welche Themen er behandelt – demnach ein Gespräch, das 101 Sein zweibändiges Grundlagenwerk »Der Dialog« erschien erstmals 1895 und hat bislang, was die Fülle der Beispiele und das Engagement für das Thema wie die Akribie der Darstellung betrifft, keinen Nachfolger gefunden. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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über die (bloße) Austausch- und Mitteilungsfunktion hinausgeht und in dem narzisstische Motive (das Funkenschlagen mit Worten oder das Ausstellen von Bildungsgütern) nur eine geringe Rolle spielen. Um eine bündige Definition gebeten, würde ich sagen: Ein Dialog vollzieht sich als ein Klärungsgeschehen; als Bewegung gemeinsamer Bewusstwerdung; als eine Erörterung in Gesprächsform, die vom Wissen über interpersonale Prozesse geprägt ist; als ein Verfahren sich relativierender Mehrstimmigkeit – und als eine philosophische Praxis. Ist die Beziehung und Begriffsverwendung von Dialog und Gespräch von einer gewissen Übergängigkeit gekennzeichnet, so lassen sich zur sogenannten Konversation deutlichere Unterschiede ausmachen. Natürlich ist Konversation nicht gleich Konversation, wenn auch das verbindende, das charakteristische Element als der Versuch beschrieben werden kann, »in möglichst angenehmer Weise durch Reden die Zeit aus[zu]füllen« (Hirzel, 1895/1963, S. 4). Die Grad- und Qualitätsunterschiede sind beträchtlich; sie reichen von der Konversation als Kunstform, die auf heiter-verspielte Weise zu vernachdenklichen versteht und den Causeur als Typus hervorgebracht hat, bis zu den massenmedialen Schrumpfformen der sogenannten Talkshows (die man sinngemäß als Offenbarwerden, als Zeigen des Geschwätzes übersetzen kann). Diese sind – selbst wenn sie »ernste« oder »tiefe« Themen behandeln und weniger hahnenkampfartig inszeniert werden – auch nur von einem mittelmäßigen Dialog denkbar weit entfernt. Abrundend möchte ich (wir bewegen uns ja im Feld des Dialogs) einige strukturelle Formen aufzeigen, die etwas Übersicht in diesem übergängigen Feld ermöglichen (Tabelle 2). Tabelle 2: Dialogformen
Selbstgespräch
»innerer Monolog«, Sonderform Gebet
Unterweisungsgespräch
didaktischer Dialog
Streitgespräch
agonaler Dialog
Beratungsgespräch
konsiliarischer Dialog
Mäeutisches Gespräch
sokratischer Dialog
Definitionsgespräch
zum Beispiel platonischer Dialog
Totengespräch
»dialogues des morts«
Metagespräch
zum Beispiel Bateson’scher Metalog
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Die Beispiele und Gegenüberstellungen, die ich hier gebe, können und wollen keine umfassende Dialogtheorie ersetzen. Sie dienen vornehmlich dazu, das eigene Dialogverständnis zu erweitern und gegebenenfalls zu überprüfen. Auf die Begriffe und Verfahren, die in der modalen Kolumne erscheinen, werde ich im Folgenden noch genauer eingehen. Sie werden hier aus Gründen des besseren Überblicks vorweggenommen. Doch zunächst möchte ich die Wahrnehmung für eine elementare Tätigkeit schärfen, die in allen Gesprächs- und Dialogformen praktiziert wird: das Zuhören(können). Für den Dialogdenker Karl Löwith ist Sprechen von vorneherein ein Miteinandersprechen. Und jedes Gespräch besteht aus den beiden Grundrollen, der des Sprechenden und der des Hörenden. Innerhalb der Gesprächsforschung – sei sie nun linguistischer, historischer oder psychologischer Provenienz – fällt auf, dass der Sprechende oft mehr im Fokus der Aufmerksamkeit steht als der Hörende, als sei dieser wichtiger als jener. Dabei ist es der Hörer, der das Gespräch eröffnet (Schmitz, 2000, S. 319). H. Walter Schmitz sieht den Hörer geradezu »als Gesprächskonstrukteur« (S. 317). Er weist, um seine Position zu veranschaulichen, auf eine bedenkenswerte Nuance hin. Denn im Unterschied zum oft reflektierten Vorverständnis sprechen wir nicht, um gehört zu werden, sondern, weil wir gehört werden (S. 319). Der Hörer wäre demnach der Primäre, derjenige, der den Sprecher erst zu einem macht. Und innerhalb dieser Primärposition gibt es zum Beispiel für Löwith durchaus Gradunterschiede und Voraussetzungen. »Eigentlich Hörender ist nur der erwiderungsfreie Zuhörende. Dieser ist weder verschwiegen, noch hört er bloß zu, um entgegnen zu können, sondern er ist ein solcher Hörer, der sich etwas sagen läßt« (Löwith, 1981, S. 132). Hören und noch mehr das Zuhören(können) scheint keine Angelegenheit zu sein, die sich von selbst versteht.102 Das betrifft bereits ihren energetischen Status. Wie ich bereits an anderer Stelle ausgeführt habe, ist nicht so ohne Weiteres zu entscheiden, ob es sich beim (Zu-)Hören nun um eine aktive oder passive Handlung oder eher um eine intermediäre handelt, also eine passive Aktivität oder eine aktive Passivität, wobei auch diese durchaus nicht auf dasselbe hinausläuft. 102 So spricht man keinen Befund eines Organdefekts aus, wenn man jemanden fragt: »Kannst du nicht hören?!« © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
Formen sokratischen Miteinanderredens
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Ein relativ neues und besonderes »Zwischen« (sein Begriffsschöpfer würde seinen Begriff hier wohl nicht als passend empfinden) entsteht durch das für manche bereits habituell gewordene Zusammensein mit und Bezogensein auf vermeintlich »sprechende« und »hörende« Maschinen. Zum Beispiel beim »Begrüßtwerden« durch einen Apparat, der diese Geste des Kontaktaufnehmens simuliert. »Unser digitaler Alltag« – konstatiert der Kulturwissenschaftler Thomas Macho – »wird von gesprächigen Apparaten geprägt. […] Sie kontaktieren ihre Benutzer, verlangen Bestätigungen, Passwörter oder Zeitangaben« (2011, S. 20). Das vermeintliche Nähe- und Kontaktangebot solcher »Kontaktmaschinen«, suggeriert durch einschmeichelnde, Verständnis verheißende Stimmlagen, scheint bei der wachsenden Zahl der Alleinwohnenden und Kinderlosen Anklang zu finden, denen diese verkrüppelten Begegnungsformen zu genügen scheinen. Macho zitiert den Befund des Zivilisationskritikers Henry David Thoreau, der vor über 150 Jahren (als der Lebensalltag noch kaum von Maschinen bestimmt war und schon gar nicht von »redenden« oder »hörenden«) zu der Einsicht gelangte: »Men have become the tools of their tools« (Menschen sind die Werkzeuge ihrer Werkzeuge geworden). So ergibt sich die Frage: Wer steuert hier den Dialog?
Formen sokratischen Miteinanderredens In der gesamten philosophischen Tradition gibt es wohl kaum jemanden, der so sehr mit dem Dialog, der dialogischen Praxis, dem dialogischen Denken in Verbindung zu bringen wäre, wie der Athener Sokrates, von dessen persönlichem Leben wir jedoch nur wenig wissen. Wenn also von der historisches Figur des Sokrates vieles im Dunkeln bleibt, so erstrahlt die philosophisch-dialogische Figur (wie sie uns vor allem Platon, Xenophon und Aristophanes überliefern, die Sokrates persönlich gekannt haben) in umso hellerem Licht. Mehr als andere Denker vor oder nach ihm, erscheint er nicht allein als Person, sondern als Verkörperung eines bestimmten Denk- und Lebensstils, geradezu als eigener »Typus«103. Als ein naher Verwandter des Sokrates 103 Als solchen charakterisiert ihn Gernot Böhme und widmet diesem »Typ« ein eigenes Buch (Böhme, 1992). Andere Forscher sehen in ihm den »Beginn des philosophischen Dialogs« (Pleger, 1998). Für den Dialog-Enzyklopädisten Hirzel stellt er geradezu einen »Dialogmenschen« dar (Hirzel, 1895/1963). Manche erblicken in © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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erscheint uns heute der Biokybernetiker, Epistemologe und skeptische Menschenfreund Heinz von Foerster, dessen Schriften bereits ein eminent dialogischer Charakter eigen ist. Bestehen diese doch zum größten Teil aus gedruckten Gesprächen mit einem oder mehreren Partnern oder aus Vorträgen (die ähnlich wie die Apologie des Sokrates direkte Ansprachen an sein jeweiliges Publikum enthalten) und sich unmittelbar an ein konkretes Gegenüber wenden. Fände sich ein entsprechender »Platon«, so ließen sich aus dem offenen, fragenerzeugendem Denken Foersters eine Reihe ähnlicher Dialoge gewinnen, die nicht allein für mehr oder weniger radikale Konstruktivisten von Interesse und Belang sein könnten. Menschen, die bestimmte Lebensthemen eindrücklich akzentuiert haben, erhalten mitunter von der Nachwelt eine besondere Attribuierung; das heißt, ihr Eigenname wird zum Adjektiv erweitert. So gibt es neben den Eigenschaftsworten »freudianisch«, »jungianisch«, »kafkaesk« oder »foersterisch« auch die Bezeichnung »sokratisch«. Was heißt nun »sokratisch« – und was könnte es für Therapeuten, Berater, Coaches oder Organisationsentwickler bedeuten? Was wäre davon für ihre Arbeit fruchtbar zu machen und könnte sie bereichern? Ich will versuchen, einige Aspekte anschaulich zu machen. Platon zufolge besaß Sokrates ein spezifisches Verhältnis zum Wissen. Dies wurde in der Maxime pointiert: »Ich [Sokrates] weiß, dass ich nichts weiß« (Zur Genese dieser Maxime vgl. Stölzel, Th., 2012, S. 44 ff.). Wenn Sokrates erklärt, zu wissen, dass er nichts weiß, so könnte man davon ausgehen, dass er eine Vorstellung davon hatte, was Wissen sei. Wie könnte er sonst so klar empfinden, was das bedeutet: nichts zu wissen, bzw., was nicht Nichtwissen sei. Dieses sokratische Wissensverständnis könnte bedeuten, dass Sokrates auf ein anderes (als das übliche) Wissen hinaus- und damit den traditionellen Wissensbegriff erweitern wollte. Das würde dann die oft als Paradoxie empfundene Wissensmaxime weniger paradox machen. ihm aufgrund seiner mäeutischen Haltung und Vorgehensweise den Archetypus des Therapeuten, Beraters oder Coaches, wollen dem exemplum Socratis als dem Typus reflektierter Lebensführung folgen, propagieren gar ein »Management by Sokrates« (Niehaus u. Wisniewski, 2009), legen für Manager »Dialoge mit Sokrates« nahe (Voltz, 1996; Starck, 1978), versuchen sokratische Gesprächsverfahren für Verhaltenstherapeuten zu erschließen (Stavemann, 2002), begründen eine »Neue Sokratik« (Nelson, 1996; Heckmann, 1993) oder sehen Sokrates politologisch, als »philosopher citizen« (Blücher, 1996). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
Formen sokratischen Miteinanderredens
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Der traditionelle Wissensbegriff leitet sich häufig vom Spezialisten oder Experten bzw. von deren Wissen, genauer deren Wissenszuschreibung her (vgl. Fünftes Methodenporträt). Ein Experte oder Spezialist, heißt es, sei jemand, der von einer bestimmten Sache (besonders) viel wisse, sie (durch und durch) kenne; zumindest (viel besser) als andere. Darum sehen ihn andere als Experten oder Spezialisten an. Sokrates nun hat ein Verfahren entwickelt und praktiziert, die Viel- und Besserwisser, genauer: deren wirkliches oder vermeintliches Wissen zu prüfen. Diese »philosophischen Untersuchungen«104 finden sich in verschiedenen platonischen Dialogen abgespiegelt, die als Definitionsdialoge bezeichnet werden, wie zum Beispiel der Dialog »Charmides«. Dort werden bestimmte Wissensinhaber geprüft. So soll der Fromme sagen, was Frömmigkeit, der Tapfere, was Tapferkeit, der Besonnene, was Besonnenheit – denn nun wirklich – sei. Dieses Rede- und Antwortstehen wird innerhalb der platonischen Philosophie als logon didonai bezeichnet. Das bedeutet (als Experte) die relevanten Informationen geben zu können. Und der platonische Sokrates hat immer wieder gezeigt,105 dass diejenigen, die in einer Sache als besonders wissend gelten, dies eben nicht können, zumindest nicht in ausreichender, fundamentgebender Weise. Daraus kann man folgenden Schluss ziehen: Wenn nicht einmal diese Experten etwas sicher sagen können, wie ist es dann um das Wissen und dessen Qualität überhaupt bestellt? Der platonische Sokrates ist angesichts dieser erwiesenen Unsicherheit des vermeintlich sicheren Wissens nicht verzweifelt oder dogmatisch geworden (wie viele vor und nach ihm), sondern hat einen Haltungswandel nahegelegt. Seine Haltung zielt (nach meinem Verständnis) auf ein Metawissen. Sein erklärtes Nichtwissen hat keinen explizierbaren Inhalt; es ist demnach kein Was-Wissen. Eher könnte man es als Dass104 Unter diesem Titel wurde Wittgensteins zweites Hauptwerk publiziert. Wittgenstein gestaltet seine »Untersuchungen« zwar nicht als Dialoge, führt aber häufig – in Gestalt erkundender Selbstgespräche – einen Dialog mit sich vor dem Leser. 105 Er hat sich dabei mitunter des Mittels der sogenannten sokratischen Ironie bedient (der Begriff geht auf Sören Kierkegaard zurück). Das ist (ganz wörtlich) eine Form der Verstellung, in der sich Sokrates als unwissend, leichtgläubig oder gar beeindruckt von den Argumenten und dem Wissen seiner Gesprächspartner zeigte, um diese zu einer möglichst genauen Schilderung ihres (vermeintlichen) Wissens anzureizen und sie danach um so präziser zum ungewollten Eingeständnis ihres Nichtwissens zu bringen. Manche empfinden dieses »augenzwinkernde« Vorgehen als unlauter. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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Wissen beschreiben, als ein dialogisch bedeutsames Wissen vom Wissen, ein Wissenswissen. Dies kann geübt und verfeinert werden, wie noch zu sehen sein wird. Von dem, was wir über Sokrates’ Biographie wissen,106 gehören die Informationen, sein Vater Sophroniskos sei als Bildhauer, seine Mutter Phainarete als Hebamme tätig gewesen. Ihr Sohn habe die Tätigkeitsfelder seiner Eltern miteinander verbunden und ins Seelisch-Geistige transferiert. Dies wird bei seinem Verfahren der Mäeutik oder Maieutik deutlich. Als maieutiké techné (deutsch Hebammenkunst) bezeichneten die Griechen die Fähigkeit einer (guten) Hebamme, ein Kind gesund auf die Welt zu bringen bzw. den Mutter-Kind-Prozess der Geburt sachkundig zu unterstützen. Sokrates empfand sich als eine Art Hebamme und sein dialogisches Handeln als Hebammenkunst. Er sah sich als jemanden, der zwar keine Kinder auf die Welt bringen helfe (wie seine Mutter), aber seine Gesprächspartner dabei unterstütze, ihre Lösungen und das für sie relevante Lebenswissen zu »gebären«. Sein methodisches Vorgehen hatte auch etwas von einer »geistig-seelischen Bildhauerarbeit« an sich, durch die er – was unbewusst, schemenhaft und vage vorhanden war – zu einer klar und deutlich sagbaren Form herauszuplastizieren half. In dem Dialog »Theätet« (in manchen Übersetzungen trägt er den klangvolleren Namen »Theaitetos«) bringt der platonische Sokrates sein Verständnis von Mäeutik oder Maieutik zur Sprache, indem er auf einen inneren Zustand seines Gesprächspartners reagiert. Vorausgegangen war der Klärungsversuch der grundlegenden Frage, was Wissen eigentlich sei. In der Übersetzung des Altphilologen und Philosophiedidaktikers Ekkehard Martens hört sich das so an: »Theätet: Glaube mir, Sokrates, ich habe mir dies schon oft klarzumachen versucht, wenn ich die Fragen hörte, die von dir im Umlauf sind. Aber ich kann mich weder selber überzeugen, daß ich hierzu etwas Haltbares beitragen kann. […] Andererseits aber kann ich von dieser Frage auch nicht loskommen. Sokrates: Das kommt von deinen Geburtswehen, lieber Theätet. Du bist nicht inhaltsleer, sondern gehst schwanger. 106 Hier kann man ja (sokratisch inspiriert) fragen, ob dieses Wissen »wahr« sei oder es sich bloß um eine Zuschreibung handle. Das wenige, was wir über Sokrates Leben »wissen«, stammt von Platon oder dem spätantiken Philosophen-Biographen Diogenes Laertius, der seine Vita des Sokrates damit beginnt. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
Formen sokratischen Miteinanderredens
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Theätet: Darüber weiß ich nichts, Sokrates. Wie mir zumute ist, habe ich gesagt. Sokrates: Das ist ja eigenartig; hast du denn nicht gehört, daß ich der Sohn einer tüchtigen und zupackenden Hebamme bin, der Phänarete? Theätet: Doch, das habe ich schon gehört. Sokrates: Und auch, daß ich dieselbe Kunst ausübe? Theätet: Nein, nie. Sokrates: Es stimmt aber. […] Das Wichtige an meiner Kunst ist jedoch die Fähigkeit, mit allen Mitteln zu prüfen, ob die Überlegung […] ein bloßes Trugbild und etwas Falsches herausgebracht hat oder etwas Lebenskräftiges und Wahres. Denn auch hierin trifft auf mich dasselbe wie auf die Hebammen zu: ich bringe keine klugen Gedanken hervor. Und was mir schon viele vorgeworfen haben, daß ich nämlich immer nur die anderen frage, selber aber in keinem Punkt irgend etwas zutage fördere, da ich eben keine Klugheit besäße, so ist dieser Vorwurf berechtigt. […] Ich selber bin also überhaupt nicht klug und kann auch keinen Fund als Erzeugnis meiner Seele vorweisen. Dagegen lassen einige von denen, die mit mir zusammen sind, anfangs zwar recht wenig an Klugheit sehen, aber im Laufe unseres Zusammenseins machen alle […] für sich selbst und auch die anderen überraschende Fortschritte. Und dabei lernen sie offensichtlich nie auch nur irgend etwas bei mir, sondern finden selber viele hervorragende Wahrheiten bei sich heraus und bringen sie hervor« (Platon, 1981b, S. 25 ff.).
Das Entscheidende an diesem Verfahren scheint sein nicht invasiver Charakter zu sein. Das bringt die Maieutik als Form dialogisch praktizierter Empathie in eine Nähe zu späteren Methoden, wie dem klientenorientierten Ansatz von Carl Rogers oder der pädagogischen Konzeption Maria Montessoris, die unter dem Motto steht: »Hilf mir, es selbst zu tun.« Diese Zurückhaltung und Nichteinmischung haben manche Kritiker dem platonischen Sokrates nicht so ohne Weiteres abgekauft. Sein vorgebliches Nichtwissen und die offensiv bekundete mangelnde Klugheit wurden als ironische Maske, als Trick angesehen, als der Versuch, sich seinem Gesprächspartner unterlegen107 zu zeigen, während 107 Wenn man wollte, könnte man hier von einem philosophischen »Columbo-Effekt« sprechen. Dieser geht auf die Figur des Inspektors Columbo zurück, einer in den 1960er Jahren des vergangenen Jahrhunderts entstandenen »Filmperson«. Diese arbeitet erfolgreich damit, sich von anderen unterschätzen zu lassen, um © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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er – in verdeckter impliziter Dialogregie – die Fäden des Gesprächs zieht und am Ende als philosophischer »Sieger«, sogar als ein besonders bescheidener, dasteht. Das maieutische Verfahren enthält bestimmte Vorgehensweisen, die zum Teil von analytischen Kommunikationsforschern erschlossen worden sind. Michael Hanke beispielsweise hat in einem Merkmalskatalog (vgl. 1986, S. 34) das »Wesen« dieses sokratischen Verfahrens so bestimmt: 1. Maieutik heißt griechisch »Hebammenkunst«. 2. Maieutik ist eine Vorgehensweise. 3. Maieutik findet im Gespräch statt. 4. Maieutik ist sokratisch. 5. Maieutik erfordert wenigstens zwei Gesprächsteilnehmer. 6. Maieutik impliziert eine Rollenverteilung Maieut – Partner. 7. Der Maieut führt den/hilft dem Gesprächspartner. 8. Der Gesprächspartner formuliert Erkenntnisse. Wie die Textgespräche der platonischen Dialoge nehmen auch viele mündlich geführte therapeutische oder beraterische Unterredungen ihren Ausgang in mehr oder weniger stark empfundenen existenziellen Aporien.108 Was im Einzelnen auch dazu geführt haben mag, so lässt sich häufig eine ähnliche Grundstruktur erkennen. Diese kann man verkürzt und in sokratischer Begrifflichkeit folgendermaßen darstellen: Jemand hat die (schmerzliche) Erfahrung gemacht, dass etwas ganz anders gekommen ist, als er erwartet hatte, dass sich (plötzlich) ihm vertraute Menschen ganz anders verhalten, dass sie etwas tun, was seine Wertvorstellungen irritiert und sein (sicheres) Weltgefüge erschüttert, so dass er nicht mehr weiß, wie es jetzt weitergehen soll. Oder jemand ist auf ein Problem »gestoßen«, dass »entstand«, weil er sie zu bestimmten Verhaltensweisen und Aussagen zu provozieren und so leichter überführen zu können. Die von Peter Falk eindrücklich verkörperte (und u. a. von Klaus Schwarzkopf meisterhaft synchronisierte) Columbo-Figur hinterließ durch ihren spezifischen Gestus einen starken Eindruck und hat den Philosophen und Wissenschaftstheoretiker Paul Feyerabend gereizt, Drehbücher für diese TV-Serie zu schreiben, und den Regisseur Wim Wenders dazu angeregt, Columbo als Columbo in seinem Film »Der Himmel über Berlin« auftreten zu lassen. 108 Der aus dem Griechischen entlehnte Begriff kann in seiner Bedeutungsspanne von einem Gefühl des Nicht-mehr-gut-Weiterkommens bis zur Ausweglosigkeit reichen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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eine Frage, ein Thema, eine Haltung (wirklich) klären oder (grundsätzlich) verstehen wollte und bei diesem Klärungsversuch immer mehr Unklarheiten und Unsicherheiten »erzeugte«, so dass selbst dasjenige, was ihm zuvor klar und verständlich schien, diesen sicherheitsgebenden Status allmählich zu verlieren drohte. In den Begriffen einer sokratischen Maieutik hieße das: Eine bestimmte Sicht auf die Welt und/oder die eigene Person (Doxa) wird in ihrem relativen Charakter deutlich und erweist sich nicht als das, für was sie bislang gehalten wurde, nämlich als ein sicheres Wissen (Episteme). Die Krise oder Aporie macht den bloßen Meinungscharakter (Doxa) des vermeintlich sicheren Wissens (Episteme) deutlich. Wird diese Erkenntnis wirklich an- und ernstgenommen (wie in manchen platonischen Dialogen exemplarisch vorgeführt), dann entsteht etwas, das vorher so nicht vorhanden war: ein existenziell geprüftes Wissen, das auf das »Geländer« einer Meinung verzichtet, die sich als sicheres Wissen ausgibt (und Doxa nicht mit Episteme verwechselt). Das scheint für manche die Krise, die Aporie noch zu verstärken. Und in der Tat ist diese Phase des maieutischen Gesprächs der dialogische Zeitraum, in dem Widersprüche und Ausweglosigkeiten noch dadurch zuzunehmen scheinen, dass der sokratische Maieut von der Gelegenheit Gebrauch machen kann, auf weitere Unklarheiten und Unsicherheiten hinzuweisen. Er wirkt dabei nicht allein argumentativ, sondern auch atmosphärisch. Das bedeutet: Er erzeugt mit seinem Dialogpartner die Stimmung einer rückhaltlosen Realitätswahrnehmung, die geeignet ist, so manch stabile Realitätskonstruktionen sozusagen verpuffen zu lassen, was nicht selten zugleich als erschreckend wie befreiend erlebt wird. Der Höhepunkt dieser Phase und der Übergang zur nächsten bilden sozusagen den epistemologischen »Knackpunkt«. Dieser erfordert erhöhte Achtsamkeit und eine feine empathische Zuwendung zum anderen, da er sonst leicht überreizt oder übersehen werden kann und die krisengenerierte Offenheit und entwickelte Irritationsbereitschaft in ihr Gegenteil umschlagen können. Der Gesprächspartner kann sich dann verschlossener und dogmatischer zeigen (um wenigstens den Anschein einer Sicherheit zu finden oder aufrechtzuerhalten) und sich aus der gemeinsamen, perspektivenerweiternden Erkundung zurückziehen. Das auf den platonischen Sokrates zurückgehende maieutische Verfahren bildet den Versuch, einem Gesprächspartner beim Hervorbringen sozusagen lebensfähiger Gedanken zu begleiten und zu unter© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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stützen. Dabei kommen zwei ineinander übergehende Prozessschritte zum Tragen. Der erste besteht im (mitunter zugeschärften) Aufzeigen ungünstiger Lebenskonzepte, Wertvorstellungen und Ziele (wobei ein Bewusstsein für weitere unüberprüfte Lebenskonzepte, Wertvorstellungen und Ziele erzeugt wird, die ihrerseits überprüft werden), bis sich beim Gesprächspartner die Bereitschaft zeigt, sich und sein Leben anders zu fundieren. Während des zweiten Schrittes arbeitet der Maieut mit der Offenheit, die durch den empathisch begleiteten Irritationsprozess entstanden ist. Er schafft einen geschützten Gesprächsraum, der es dem anderen ermöglicht – unterstützt durch die aufmerksame Gegenwart des Maieuten und dessen rückhaltloses Fragen –, sich selbst anders wahrnehmen und das, was sich auf diese Weise zeigt, auf die Welt bringen zu können. Der platonische Sokrates hat mit dem Verfahren der Maieutik wichtige Elemente der humanistischen wie der systemisch-lösungsorientierten Therapie- und Beratungsmethoden vorweggenommen. Doch birgt das maieutische Verfahren auch Unterschiede. Diese bestehen: –– im rückhaltlosen Fragen, das durch das epistemische Instrument eines wissenden Nichtwissens alle vermeintlichen Gewissheiten einer Prüfung unterzieht; –– in einer weitgehenden Abstinenz methodischer Richtlinien, die gerade, wenn sie erfolgreich zu sein scheinen, unbemerkt erstarren und selbst offenere und reflektiertere Methoden dogmatisieren können (vgl. den »Mechanismus« der Selbstübertreibungstendenzen, Stölzel, Th., 2012, S. 89 ff.); –– in Vorbehalten gegenüber grundsätzlichen Antworten, wie dem Ansinnen, solche finden zu wollen. Anhand einer Figur wie dem platonischen Sokrates lässt sich zeigen,109 wie nah, wie nahezu deckungsgleich in antiker Zeit Bereiche und Tätigkeitsfelder waren, die heute in Philosophie einerseits und Psychotherapie sowie weiteren Beratungsformen andererseits auseinandergerückt worden sind. In seiner berühmten Verteidigungsrede, der »Apologie« konstatiert der platonische Sokrates, dass viele seiner Mitbürger sich zwar eifrig um ihren sozialen Status, ihr An- und Aussehen sowie ihre 109 Das gilt nicht nur für diesen, sondern ließe sich in ähnlicher Weise auch für Epikur, Epiktet, Marc Aurel oder Boëthius sagen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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monetären Belange kümmerten, diesen Eifer aber vermissen ließen, wenn es darum gehe, »einen möglichst guten Zustand« ihrer »Seele« zu erreichen (Platon, 1987, S. 22). Für diesen Befund könnte man auch in unserer Zeit mühelos Beispiele finden. Man braucht sich nur den Kosten- und Gefühlsaufwand zu verdeutlichen, den nicht wenige Zeitgenossen für eine »Ich-Verstärkungsmaschine« wie ein entsprechend repräsentatives Auto bereitwilligst aufbringen, aber eine deutlich kostengünstigere Therapie-, Beratungsoder Coachingmaßnahme (mit deren Unterstützung sie intensiv an sich arbeiten könnten) als viel zu teuer empfinden. Sich um die eigene Seele zu kümmern (epimelesthai tes psyches) war ein wichtiger Teil des sokratischen Philosophierens, wenngleich darunter etwas anderes verstanden wurde als in der späteren, ideologisch eingefriedeten christlichen Seelsorge. Von ihren Gründungsmythen an erscheint Philosophie eng verbunden mit Psychologie als einer Wissenschaft von der Seele (wobei es in antiker Zeit diesen Begriff so nicht gab, die Beschäftigung damit aber sehr wohl), wie auch das spätere akademische Fach Psychologie sehr lange selbstverständlicher Teil des akademischen Faches Philosophie war. Zwischen dem Vorgehen eines nichtinvasiven Therapeuten, Beraters oder Organisationsentwicklers und den maieutischen Verfahren gibt es (wie bereits angedeutet) eine Reihe von Gemeinsamkeiten. Zu den Unterschieden gehört eine Perspektive, die sich die eben genannten Berufsgruppen zunutze machen und zum Wohle ihrer Patienten, Klienten und Kunden einsetzen können: die epistemologische. Jene Perspektive, die sich als hilfreich erweisen kann, (bloße) Meinung von (geprüftem) Wissen besser zu unterscheiden und die Übergänge genauer wahrzunehmen.
Meinen, zu wissen – die persönliche Meinungslandschaft erkunden So, wie Sie Ihr Leben in bestimmten Landschaften und Umgebungen verbringen, so leben Sie auch in inneren »Örtlichkeiten«. Nicht selten begegnet man dort analogen Verhältnissen. So bilden zum Beispiel wichtige Erfahrungen, die jemand gemacht sowie die Konsequenzen, die er daraus gezogen hat, miteinander einen Ordnungszusammenhang und damit eine Art innerer Landschaft bzw. die geistig-seelische Umgebung, aus der heraus jemand sein Leben führt. Unabhängig davon, wie diese im Einzelnen aussehen mag, spielen darin das für sicher gehaltene Wis© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
182 Viertes Methodenporträt sen (als Fundamentgeber) und die beweglicheren Meinungen (als Aufbauten) eine wichtige, strukturgebende Rolle. Unabhängig davon, was Ihr Klient als Thema einbringt, und unabhängig davon, wie existenziell Sie dies anmutet, kann es sehr aufschlussreich sein, »sokratisch« zu arbeiten, und zwar zu Beginn, als Begleitperspektive, als Kontrast oder Ergänzung Ihrer sonstigen Vorgehensweisen. »Heiße« Themen können dadurch in klärungsdienlicher Weise »gekühlt« werden. Das bedeutet: Betrachten Sie das, was jemand von sich kundgibt, unter epistemologischen Gesichtspunkten. Finden Sie gemeinsam mit dem anderen heraus, welchen Wissensstatus er den verschiedenen Aspekten seines Themas gibt. Was daran (vorläufigen) Meinungs-, was (sicheren) Wissenscharakter hat. Wenden Sie sich, nachdem dies geklärt worden ist, gemeinsam dem Teil des Themas zu, der anscheinend Wissenscharakter besitzt. Arbeiten Sie zum Beispiel mit der Frage: Angenommen, bei unserer sorgfältigen Untersuchung stellte sich heraus, dass auch dem allergrößten Teil des vermeintlich sicheren Wissens bloß Meinungscharakter zukäme, der das, was als gewiss, als gegeben, als unverrückbar erscheint, austauschbar machte – was würde dies verändern? Begegnen Sie dabei Ihrem Gegenüber nicht als »Wissender«, sondern als jemand, der dem anderen als achtsamer Klärungshelfer dient und mit ihm gemeinsam herauszufinden versucht, wie der »Boden« beschaffen ist, auf dem sich der andere innerlich bewegt.
Unter den 43 Schriften, die das »Corpus Platonicum« umfasst, machen die 36 Dialoge nicht nur in quantitativer Hinsicht das Hauptstück aus. Sie gehören zu den ersten vollständig überlieferten Werken der (westlichen)110 Philosophie. Sie stellen (nicht allein formal) eine Weiterentwicklung der Spruchprosa der Vorsokratiker, der Reden und Vorträge der Sophisten zu einer genuinen Form der Sokratik dar. Wenn auch, beginnend mit den Systematisierungen durch Aristoteles, der Briefform Epikurs, den Maximen Epiktets (und später Gracians und La Rochefoucaulds) oder den philosophischen Erzählungen (von Voltaire 110 Bei der Dialogform handelt es sich um keine genuine »Erfindung« der Griechen. Die »Babylonische Theodizee«, die »Upanischaden«, die Gespräche Kung-futses (Konfuzius’) oder Buddhas, dialogische Partien des Buches Hiob, die teilweise ebenso alt und teilweise deutlich älter sind als die Hervorbringungen Platons, wären hier unter anderem zu nennen (vgl. Hösle, 2006, S. 79 ff.) und deuten daraufhin, wie grundlegend, kultur- und epochenübergreifend diese Form ist. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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bis Camus), noch andere Darstellungsformen philosophischer Ideen oder Interventionen entwickelt worden sind, so kommt der Dialogform ein Sonderstatus zu. Das zeigt sich nicht allein darin, dass seit Platons geschriebenen Gesprächen viele namhafte Denker diese Form verwendet, variiert und nuanciert haben. Zu ihnen gehören unter anderem Plutarch, Cicero, Lukian, Boëthius, Augustinus, Nicolaus von Kues, Erasmus, Galilei, Fontenelle, Berkeley, Voltaire, Hume, Rousseau, Diderot, Lessing, Wieland,111 Herder, Kierkegaard, Hartmann, Valéry (vgl. Stölzel, 2011, S. 45), Buber, Heidegger, Bateson, Foerster, Murdoch, Feyerabend und Tugendhat, um nur die bekanntesten zu nennen. Es ist nicht nur unter Fachleuten immer wieder die Frage gestellt worden, warum ein philosophischer Autor wie Platon, der das abendländische Denken so nachhaltig beeinflusst hat, sich fast ausschließlich der Dialogform bediente. Unter den Antworten, die man geben könnte, scheinen mir folgende relevant: –– Bevor er Sokrates persönlich kennenlernte und sein Schüler wurde, hatte er Gedichte und Dramen geschrieben, war also mit dieser Form vertraut. –– In einer noch ziemlich schriftlosen Epoche (wie der griechischen Antike), in der man stark auf mündliche Überlieferungen angewiesen war (oral history), konnten die dem Gespräch nachgebildeten Dialoge leichter memoriert und verschiedene Wissensinhalte besser weitergegeben werden. –– Platon war durch den »Justizmord« (vgl. Stölzel, Th., 2012, S. 44 ff.) an seinem geliebten Lehrer nachhaltig verstört und wollte ihn, seine Eigenart, seine dialogischen Vorgehensweisen zumindest schriftlich wiedererstehen lassen; er hat ihm dadurch ein geistiges Weiterleben ermöglicht und ihn geradezu unsterblich gemacht. –– Die dialogische Persönlichkeit seines Lehrers, dessen Logos Sokratikos, war für Platon mit einer bestimmten Form des Philosophierens untrennbar verbunden. 111 Als (literarischer) Gattungsname ist »Dialog« 1770 durch Wieland ins Deutsche gekommen. Der spöttische Wieland war auf diesem Feld recht aktiv. Er übersetzte, kommentierte und erläuterte den antiken Dialogiker Lukian, schrieb mehrere Dialogromane sowie Streitgespräche, in welchen er als Zeitgenosse die unterschiedlichen Positionen zur Französischen Revolution deutlich machte. Zu den Werken, in denen Erzählerisches und Dialogisches miteinander verbunden wurden, gehören zum Beispiel die Dialogromane Denis Diderots oder Arno Schmidts. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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Die platonischen Dialoge mit der Hauptfigur Sokrates enthalten natürlich viel, worauf ich im Rahmen dieses Buches nicht eingehen kann. Es sei nur kurz angedeutet, dass sie neben der philosophischen Position ihres Autors eine Art Sammelbecken zeitgenössischer Denkstile und Lebensweisen bilden, die Platon durch »seinen« Sokrates überprüfen lässt. Sie sind – was das Dialogische betrifft – von unterschiedlicher Qualität. Manche, wie etwa der für die politische Philosophie aufschlussreiche Dialog »Politeia«, enthalten lange erzählerische Partien und wirken eher lehrbuchhaft als dialogisch; in anderen erscheint die Dialogstruktur mehr formal und die Gesprächspartner werden zu bloßen »Abnickern« sokratischer Ausführungen, die dann lediglich Bestätigungspartikel von sich geben. Die natürlicher wirkenden Dialoge sind durch die Befindlichkeiten und Wissenszustände der Teilnehmer gekennzeichnet, die vom Schwanken und Staunen bis zum Verwirrtsein und aporetischen Erleben reichen können und durch Dynamiken wie den Abbruch und Neubeginn des Gesprächs geprägt sind und das mitunter um- und abwegige Hin und Her der Argumentationsbewegung direkt abbilden. Die neuere Platonforschung unterscheidet in Platons Gesprächswerk verschiedene Dialogtypen (Pleger, 1998, S. 199 ff.): –– den eristischen Typ; dabei handelt es sich um ein Streitgespräch, das mit dem Ziel geführt wird, den Gesprächspartner zu widerlegen, ohne dabei eigene Thesen zu entwickeln; Aspekte davon finden sich beispielsweise in dem Dialog »Euthydemos«; –– den didaktischen Typ; das ist ein Lehrgespräch, bei dem einer der Dialogpartner die Antwort oder Lösung bereits zu kennen scheint und sie durch methodisches (Heraus-)Fragen zutage fördern möchte; Aspekte davon finden sich beispielsweise in dem Dialog »Menon«; –– den antagonistischen Typ; hier geht es nicht allein um die Widerlegung eines Dialogpartners, sondern auch um den Versuch, durch Behauptung und Widerlegung zu einer haltbareren Aussage zu gelangen; man könnte ihn auch als falsifikationistisches Gespräch bezeichnen; Aspekte davon finden sich beispielsweise in dem Dialog »Protagoras«; –– den synergetischen Typ; dieser stellt (nach Platons Verständnis) die am höchsten entwickelte Form des philosophischen Dialogs dar. Allen Gesprächspartnern ist ihr fundamentales und fundiertes Nichtwissen bewusst; sie begegnen sich lethologisch (vgl. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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Fünftes Methodenporträt) auf Augenhöhe, argumentieren nicht kämpferisch, sondern tragen in freundschaftlicher Atmosphäre unterschiedliche Auffassungen eines Themas zusammen, prüfen gemeinsam Ideen und praktizieren damit eine multiperspektivische Klärungsarbeit. Aspekte davon finden sich im Dialog »Sophistes«. Typologien können wichtige Tendenzen zwar sichtbar machen, stellen jedoch auch Vereindeutigungen dar. Wie in anderen Bereichen gibt es auch in der »Wirklichkeit« der platonischen Dialoge verschiedene Mischformen und Überschneidungen. Wie ein philosophisches Gespräch im Einzelnen auch geführt werden mag, entscheidend – so der Dialogforscher Martin F. Meyer – ist: »Der in Fragen und Antworten verlaufende Prozess der Meinungsprüfung. […] Sich im philosophischen Dialog unterreden, ist eine Praxis, eine Lebensform, der es ganz entscheidend darum geht, sich über sich selbst klar zu werden. […] Dialogische Praxis ist insofern Anleitung und Übung für ein gutes Leben« (Meyer, 2006, S. 9). Besondere Perspektiven gewähren sokratisch inspirierte Dialoge, wenn der Erfahrungswinkel verkürzt ist oder bis ins Jenseitige ausgeweitet wird, wenn entweder ein noch recht »junger« oder ein von den »Toten erweckter« Sokrates dialogisch in Erscheinung tritt. Ein Beispiel für den »jungen« Sokrates findet sich in der von unterschiedlichen Autoren geschriebenen Dialogfolge »Papa, Charly hat gesagt …« (Helmlé, 1975), die aus einem intergenerationellen Zwiegespräch zwischen einem Vater und einem Sohn besteht. Durch die Art seines Fragens steht der Sohn in der sokratischen Tradition. Er prüft Begriffe. Er deckt das bloß vermeintliche und uneingestanden widersprüchliche Wissen des Vaters auf und führt vor, wie eine aus dem Nichtwissen kommende Frageweise einen »Wissenden« in die Aporie führen kann und was eine unverbildete, von Wissensanmaßungen befreite und dabei höchst aufmerksame Haltung über das vermeintlich Bekannte herauszufinden vermag. Der Sohn steht damit in direkter Beziehung zu einem anderen »jungen« Sokrates: dem Kind, das im dem philosophischen Märchen »Des Kaisers neue Kleider« von Hans Christian Andersen auftritt und mit einer Wahrnehmung nicht zurückhält, welche die »Wissenderen« nicht sehen (wollen). Gewissermaßen spiegelbildlich zu den Fragen und Einsichten eines »jungen« Sokrates erscheinen die sogenannten Totengespräche. Sie eröff© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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nen einen (eigentlich unmöglichen) Perspektivenzuwachs. Sie begegnen uns bereits in den ältesten Texten der westlichen Tradition. So suchen in der Odyssee Homers oder im Alten Testament Lebende den Rat von Nicht-mehr-Lebenden, werden Tote – ihrer vorauswissenden, jenseitigen Perspektiven wegen – »konsultiert«. Im zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung hat der spätantike Autor Lukian von Samosata (inspiriert durch Platons Dialoge) die Totengespräche als literarische Gattung entwickelt. Sie dienten ihm vornehmlich als eine spezielle Form der Satire, durch die er menschliche Eitelkeiten auch über das Grab hinaus entlarven konnte, indem er aufzeigte, dass die »Dortigen« wie auch die (stets Spott herausfordernden, sehr menschlichen, griechischen) Götter es nicht anders trieben als ganz gewöhnliche Menschen zu Ihren Lebzeiten. Lukian hat überdies noch andere Formen von Dialogen entwickelt, wofür beispielsweise seine »Hetärengespräche« (Lukian, 1985) stehen. Im 17. Jahrhundert nahm Bernard de Fontenelle, welcher der moralistischen Tradition (vgl. Erstes Methodenporträt) zugerechnet wird, diese Perspektive wieder auf. Daher stehen seine Texte unter dem Titelmotiv »Noveaux Dialogues des Morts« (Fontenelle, 1989, 1991). Auch andere Autoren, von Fénelon bis Brecht und Arno Schmidt, haben diese Gattungen praktiziert. Dabei sollte man zwei Grundformen unterscheiden: die Gespräche, welche die Toten miteinander führen, was zu entsprechenden Bemerkungen über die Noch-nicht-Toten führt, und die Gespräche, die ein Noch-Lebendender mit einem Toten führt, nicht selten aus einer konsilatorischen Motivation heraus. In einem Beispiel der ersten Art bringt Fontenelle zwei berühmte Tote zusammen: Sokrates und Montaigne. Ihre aus »dem Jenseits kommenden« Einschätzungen des Menschen könnten einen fortschrittsgläubigen oder ideologisch befrachteten Leser nervös machen oder solchen, die das Frühere, das Antike idealisieren, den Star stechen (Fontenelle, 1989, S. 84 ff.). Durch ihre, den Alltagshorizont übersteigende Ausrichtung ist die ungewöhnliche Perspektive von Totengesprächen innerhalb der therapeutisch-beraterischen Kommunikation gut nutzbar. Sie kann zu besonderen Aufschlüssen führen und noch ungesehene Lösungswege in den Blick bringen. Um diesen Perspektivenzuwachs unmittelbar anschaulich und erfahrbar zu machen, möchte ich Ihnen die anschließende Übung vorschlagen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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Im Gespräch mit Toten bzw. mit einem imaginierten Anderen Diese Übung eröffnet verschiedene Varianten. Sie können sich an jemanden »wenden«, den Sie (gut) gekannt haben, der Ihnen in der einen oder anderen Form nahestand. Es kann sich um eine persönlich erlebte und jetzt tote Person handeln (wie zum Beispiel einen Familienangehörigen); es kann sich um jemanden handeln, den Sie persönlich zwar nicht erlebt bzw. kennengelernt haben, der aber für Sie und Ihr Leben eine gewisse Bedeutung besaß, mit dem Sie innerlich oft beschäftigt waren (wie zum Beispiel jemanden, den Sie nur durch seine Hervorbringungen und/oder sein öffentliches Wirken »kennengelernt« haben). Nehmen Sie ein Thema, das für Sie einen wichtigen, aktuellen Lebensbezug aufweist und für das Sie bislang noch keine gute Klärung oder Lösung gefunden haben. Suchen Sie einen günstigen Ort und eine passende Zeit. Richten Sie Ihre Gedanken auf den von Ihnen gewählten Toten. Lassen Sie sich von ihm »aufsuchen«. Achten Sie darauf, wie Ihnen der vertraute Tote erscheint, welchen Abstand er zu Ihnen »einnimmt«, wie er Sie »betrachtet«. Schildern Sie dann, worum es geht, was Sie in dieser Angelegenheit bereits unternommen haben. Wie »reagiert« der Tote? Wie stellt sich Ihr Thema aus »seiner Sicht« dar? Was »empfiehlt« er Ihnen? Nehmen Sie diese Sonderperspektive genau wahr, die sich aus dem Umstand ergibt, dass aus Sicht eines Toten die oft den Blick verstellenden Freuden und Mühen des Lebens ganz anders betrachtet werden können. Sollte ein solches »Gespräch« für Sie (aus welchen Gründen auch immer) nicht gut durchführbar sein, dann können Sie mit der Variante einer besonderen Selbstbegegnung Erfahrungen sammeln. Imaginieren Sie sich als alten Menschen, als 70- oder 80-jährige Person, die Sie (möglicherweise) einmal sein werden. Zum Beispiel, indem Sie an ein Fenster Ihrer Wohnung oder Ihres Hauses treten und durch dieses so lange hindurchblicken, bis Sie ein Gesicht wahrnehmen – das Gesicht der Person, die Sie als alter Mensch sein werden. Nehmen Sie wahr, wie diese gereifte Person jetzt auf Sie, Ihr Leben und das Thema blickt, für das Sie bislang noch keine Klärung oder gar Lösung gefunden haben. Öffnen Sie dann dieser »gereiften« Person die Tür und bitten Sie sie herein. Hören Sie ihr zu. Was sagt, empfiehlt, rät sie? Was zeigt sie Ihnen auf? Überraschen Sie diese Hinweise und Beobachtungen? Beruhigen diese Sie und vermitteln Ihnen Klarheit und Kraft? Fertigen Sie davon (wie auch von den Gesprächen mit den Toten) ein Gedächtnisprotokoll an. Geben Sie die© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
188 Viertes Methodenporträt sen Gesprächsaufzeichnungen eine dialogische Form. Das ermöglicht Ihnen, auf das, was gesagt wurde, was Sie gehört oder erfahren haben, immer wieder zurückkommen und sich das Hin und Her dieses besonderen Gespräch deutlicher vergegenwärtigen zu können.
Ich möchte abschließend auf eine methodische Gesprächsform zu sprechen kommen, die allein durch ihren Namen (aber nicht nur dadurch) einen deutlichen Bezug zum platonischen Sokrates und seinen dialogischen Vorgehensweisen erkennen lässt: die sogenannte Neosokratik oder das Sokratische Gespräch. Mit der Entwicklung und Praxis dieser Methode sind maßgeblich zwei Personen verbunden: Leonard Nelson und Gustav Heckmann. Sie standen vor allem während der Gründungsphase dieser Dialogform in einer Art Lehrer-Schüler-Verhältnis zueinander, lassen aber (vor allem in der Folge) Akzentunterschiede erkennen. Im Jahr 1922 – in der Phase, als die ersten psychotherapeutischen Methoden ihr Selbstverständnis wie ihre Auswirkung zunehmend zu kodifizieren versuchten – hielt der akademische Philosoph Leonard Nelson (1882–1927) in Göttingen den Vortrag »Die sokratische Methode« (Nelson, 1996). In diesem erinnerte er in geradezu paradigmatischer und appellativer Weise an die lebensdienliche Praxis der Wissensprüfung und das damit verbundene geistig-seelische Mündigwerden als einer unverzichtbaren Voraussetzung der persönlichen Selbstverantwortung. Unter seinen Zuhörern befand sich ein junger Physiker, der Philosophie bislang nur als Nebenfach betrieben hatte: Gustav Heckmann (1898–1996). Die durch den Vortrag empfangene sokratische Inspiration wurde sozusagen zur Hauptsache seines (sehr langen) Lebens. Heckmann arbeitete in der Folge in der von Nelson begründeten Philosophisch-Politischen Akademie mit, unterrichtete in dem von Nelson begründeten Landschulheim »Walkmühle« Kinder und Erwachsene in Mathematik und Physik nach sokratischer Methode und beteiligte sich als Redakteur bei der Zeitung »Der Funke«, in der versucht wurde, die Machtergreifung Hitlers mit publizistisch-argumentativen Mitteln zu verhindern. Heckmann emigrierte Ende 1933 über Dänemark nach England und setzte dort seine sokratische Tätigkeit fort. Er kehrte 1945 nach Deutschland zurück und begann sogleich, Pädagogik und Philosophie an der Pädagogischen Hochschule in Hannover zu unterrichten (und dadurch eine sokratisch-politische Bildungsarbeit zu betreiben, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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die man als eine philosophische »Reeducation« beschreiben könnte). Er wurde Direktor dieser Hochschule und Vorsitzender des Lehrerverbandes Niedersachsen und entwickelte die philosophische Gesprächsführung zu einer lehr- und übbaren Form weiter, die heute unter dem Begriff Sokratisches Gespräch firmiert.112 1982 hielt Heckmann, hochbetagt und überaus dialogerfahren, seine letzte Veranstaltung an der Hochschule ab: ein »Sokratisches Gespräch«. Bevor ich einige Voraussetzungen für eine (nach Heckmanns Ansicht) gelingende Gesprächsführung vorstelle, möchte ich zunächst eine sehr allgemeine Definition der sokratischen Gesprächsführung geben. Sokratisch113 kann »ein Gespräch« genannt werden, »in dem durchgängig ein gemeinsames Erwägen von Gründen stattfindet« (Heckmann, 1993, S. 13). Von Befürwortern wie Gegnern dieser Gesprächsmethode wurde verschiedentlich die Frage gestellt, inwieweit dieses »gemeinsame Erwägen« dazu diene, der »Wahrheit« einer bestimmten Frage näherzukommen oder diese sogar erreichen zu können (Horster, 1994). Was grundlegende Haltungen (und damit auch die zur »Wahrheit«) angeht, gibt es, wie bereits angedeutet zwischen Nelson (dem Anreger) und Heckmann (dem Fortführer) durchaus differente Akzentsetzungen, die sich zum Teil wohl auch aus der unterschiedlich großen Empirie und Dialogpraxis ergeben (Heckmann wurde mehr als doppelt so alt wie sein ehemaliger Lehrer und hatte allein dadurch mehr Möglichkeiten, die Methode zu überprüfen und ausreifen zu lassen). Wie man die Diskrepanzen in pointierter Weise kolumnenartig einander gegenüberstellen könnte, zeigt Tabelle 3.
112 Die von Leonard Nelson angeregte und verbreitete, von Gustav Heckmann, Nora Walter, Detlef Horster, Gisela Raupach-Strey und Dieter Krohn weiterentwickelte Methode, ist in der Gesellschaft für Sokratisches Philosophieren (GSP) organisiert, die ihrerseits Seminare und Weiterbildungen anbietet. 113 Michael Niehaus versteht das Sokratische Gespräch auch als »Instrument des Debriefing«, durch das »das Wesentliche einer Erfahrung«, der »Kern, der alle Einzelerfahrungen miteinander verbindet« sichtbar gemacht werden kann (Niehaus, 2009, S. 236 ff.). Er gibt zur konkreten Vorgehensweise einen Interviewleitfaden (S. 238 ff.). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
190 Viertes Methodenporträt Tabelle 3: Gegenüberstellung von Heckmann und Nelson
Leonard Nelson
Gustav Heckmann
ethisch-moralischer Rigorismus
menschenfreundliche Toleranz
Humorlosigkeit
Humor
theoretische Menschenliebe
praktische Menschenliebe
Neigung zum System
keine geschlossene Theoriebildung
absolute Wahrheitsauffassung
relativer Wahrheitsbegriff
Gemeinsam ist beiden Sokratikern in ihrer Vorstellung eines Sokratischen Gesprächs die Aktivierung gemeinschaftlichen Denkens, die Prüfung von Gründen und Gegengründen (und damit ein gewisser Bezug zur Skepsis, vgl. Stölzel, Th., 2012, S. 258 f.) und das Verfahren einer sogenannten regressiven Abstraktion. Das bedeutet: Durch ein untersuchendes Zurückgehen auf die Prinzipien gewisser Handlungen wird auf achtsame Weise der Weg von den Urteilen zu deren Voraussetzungen beschritten; etwas Allgemeines wird nicht einfach postuliert, sondern in seiner Beziehung zum konkreten Einzelfall erschlossen. Eine wichtige Erweiterung, die auf Heckmann zurückgeht – und geradezu ein »Markenzeichen« des Sokratischen Gesprächs geworden ist – ist das sogenannte »Metagespräch«.114 Während das jeweilige Thema im »Sachgespräch« dialogisch untersucht wird, wird dieses Gespräch in einem »Metagespräch« seinerseits untersucht. Dabei kommt der Prozess und die Dynamik des »Sachgesprächs« genauer in den Blick, Inhaltliches tritt hier zurück. Die dialogische Struktur und ihre impliziten Voraussetzungen geraten dagegen in den Vordergrund. Heckmann fand heraus, dass sich die Qualität der gemeinsamen dialogischen Untersuchung sowie die Beziehung der einzelnen Dialogpartner spürbar verbesserte, wenn er in bestimmten Intervallen den Teilnehmern die Möglichkeit gab, in einem eigens markierten Gesprächsrahmen mitzuteilen und zu reflektieren, wie sie die Art des Gesprächs wahrnehmen und dessen Dynamik empfinden würden. Ein »Metagespräch« als ein Gespräch über das »Sachgespräch« kann auch dann eingeschoben werden, wenn einer der Teilnehmer darum 114 Über dessen Beziehungen zu den Metalogen Gregory Bateson siehe das nächste Kapitel. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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bittet, zum Beispiel, weil aus seiner Sicht das »Sachgespräch« gerade einen ungünstigen Verlauf zu nehmen beginne. Vom Gesprächsleiter ist an dieser Stelle einiges Gespür und ein gewisser Menschenverstand nötig, um das Sokratische Gespräch nicht zu einer (reinen) Selbsterfahrungsgruppe werden zu lassen (in der nahezu alles ausagiert werden kann) – also genau zu unterscheiden, welche geäußerte Befindlichkeit der Qualität der gemeinsamen Untersuchung nützt und welche vor allem den narzisstischen Bedürfnissen des jeweiligen Teilnehmers. Das »Metagespräch« bietet zudem den Raum, den Gesprächsleiter nach seiner Vorgehensweise und die Teilnehmer nach ihren Irritationen und/ oder Erkenntnisgewinnen zu befragen sowie Vorgehensweisen und Erkenntnisgewinne in Frage zu stellen. Da bereits mehrfach von einem Gesprächsleiter die Rede war, nun etwas zur Form des Sokratischen Gesprächs und zu den Faktoren, die nach Heckmanns Meinung und Erfahrung wesentlich dazu beitragen können, dass es gelingt, das heißt, dass alle daran Beteiligten mit einem spürbaren Zuwachs an Klärung und einem »anderen« Lebensgefühl daraus hervorgehen. Ein Sokratisches Gespräch ist in aller Regel kein Dialog zwischen zwei Personen, sondern ein strukturiertes und moderiertes Gespräch zwischen bis zu sechs Personen und einem Gesprächsleiter. Dieser sollte einiges an dialogischem Wissen besitzen und/oder entsprechende Fortbildungen (sokratische Lehrgespräche) besucht haben, vor allem über eigene reflektierte Gesprächserfahrungen verfügen. Heckmann weist auf sechs Maßnahmen115 hin, auf die ein Gesprächsleiter achten sollte (vgl. Heckmann, 1993, S. 85 ff.): 1. Die Teilnehmer auf ihr eigenes Urteilsvermögen hinweisen – der Gesprächsleiter hält sich mit der Kundgabe seiner eigenen Meinung zurück, um die Denk- und Erkenntnisprozesse der Teilnehmer nicht zu stören oder bereits im Vorfeld entsprechend zu beeinflussen, indem er seine Ansicht der zu erörternden Sache irgendwie nahelegt. 115 Die Berliner Sokratiker Jens Peter Brune und Horst Gronke haben mit Inhaftierten der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel über längere Zeit Sokratische Gespräche durchgeführt, die (wie sie dokumentieren) den daran Beteiligten eine andere, eine philosophische Fundierung ihrer eigenen Person aufzeigen halfen (Brune, 2005, S. 76 ff.). Sie entwickelten dabei einen eigenen Maßnahmenkatalog (S. 78). Zum Modell des Sokratischen Dialogs in der berufsbezogenen Beratung vgl. SchmidtLellek u. Schreyögg (2007, S. 189 ff.). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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2. Die Teilnehmer dazu bringen, im Konkreten Fuß zu fassen – indem er zum Beispiel dazu auffordert, einen allgemein formulierten Gedanken durch ein Beispiel anschaulich zu machen und sich beim Fortschreiten zu allgemeinen Einsichten den Zusammenhang mit dem Konkreten stets bewusst zu halten. Aber auch, indem er die Teilnehmer dazu auffordert, eigene Erfahrungen einzubringen. Selbsterlebtes wirkt stärker auf den philosophischen Prozess als Angenommenes oder Übernommenes oder gar Konstruiertes. 3. Das Gespräch als Hilfsmittel des Denkens voll ausschöpfen – das bedeutet, darauf zu achten, ob und inwieweit die Teilnehmer einander verstehen und wo dies zweifelhaft erscheint; eine genauere Verständigung herbeizuführen suchen, also den Teilnehmern ein doppeltes Bemühen zuzumuten: einmal die eigenen Gedanken verständlich auszudrücken, sodann das Bemühen, die Gedanken des anderen (in seinem Sinne) aufzufassen. Der Gesprächsleiter kann dazu beitragen, indem er nachfragt: Wie hast du ihn/sie (zum Beispiel Lisa) verstanden? Und zu ihr (Lisa): Bist du in deinem Sinne verstanden worden? Indem der Gesprächsleiter bei einem Nichtverstehen die Teilnehmer auffordert, ihm zu helfen, das besser zu verstehen, trägt er dazu bei, das Gespräch als machtvolles Mittel zur Klärung und Vertiefung des Denkens aller daran Beteiligten zu entwickeln. 4. Festhalten an der gerade erörterten Frage – wenn das Gespräch (wie es für jeden lebendigen Austausch natürlich ist) gelegentlich in benachbarte Fragen abgleitet, dafür Sorge tragen, dass die relevante, die zu untersuchende Frage im Mittelpunkt bleibt (gerade auch an den Kreuzwegen der gemeinsamen Untersuchung) und dies so lange, bis diese einvernehmlich gelöst oder in begründeter Weise das Übergehen zu einer anderen Frage gemeinsam beschlossen wird. 5. Hinstreben auf einen Konsensus – es geht dabei darum, über das persönliche Meinen hinaus auf intersubjektive Positionen zu kommen (was auch ein wesentliches Motiv für das Führen eines Sokratischen Gesprächs bildet). Selbst wenn gemeinsam ein Konsensus gefunden worden ist, behält auch dieser den Charakter des Vorläufigen; denn niemals – betont Heckmann – wird eine Aussage erreicht, die neuer Revisionsbedürftigkeit grundsätzlich entzogen wäre. Vielmehr kommt es darauf an, Begriffe zu finden, die bis auf Weiteres der kritischen Prüfung standhalten, bis sich ein Zwei© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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fel, zum Beispiel in Gestalt eines nicht (genau genug) erwogenen Gesichtspunkts meldet … 6. Lenkung – der Gesprächsleiter ist vom gemeinsamen dialogischen Forschen freigestellt; er beobachtet sorgfältig den Weg, den das Gespräch nimmt, wacht darüber, dass die wesentlichen Fragen angemessen behandelt werden und verhindert dadurch, dass das Gespräch zerfließt oder versandet (das Schicksal vieler ungeleiteter Gespräche, nach Heckmanns Beobachtung). Das jeweilige Teilziel – die Klärung einer bestimmten Frage – bleibt dem Hauptziel – den Teilnehmern zum Erreichen von überprüften Einsichten zu verhelfen – untergeordnet. Dabei kann eine Tafel (oder gemäß heutigem Gebrauch ein Flipchart oder eine Metaplanwand) verwendet werden, auf der die Erkenntnisse, die für den weiteren Verlauf relevant und präsent sind, präzise formuliert werden. Charakteristisch für die Sokratischen Gespräche ist es, dass man sich für den Prozess des Prüfens, Klärens und Erkenntnisbildens Zeit lässt.116 Das mag für Menschen verwunderlich sein, die glauben, viele Entscheidungen ließen sich in »Mausklick-Geschwindigkeit« oder doch erheblich rascher abhandeln, als dies selbst in kürzeren117 Sokratischen Gesprächen vollzogen wird. Diese Form des klärenden Gesprächs widersteht der weitverbreiteten Eile und Hektik unserer Zeit, ermöglicht ein menschliches Zeitmaß für eine grundlegende Klärung und macht dabei dialogisch erfahrbar, wie viel Unklares, Unbeachtetes, Aufschlussreiches in vermeintlich selbstverständlichen Themen steckt. Ausgangspunkt, Anreiz und »Kompassnadel« für das spätere Gesprächsergebnis bildet eine klar formulierte Frage. Die Bedeutung des platonischen Sokrates bestand für Nelson und Heckmann darin, den Wert des Untersuchens vermeintlich klarer Mei116 Das berichten und bestätigen Einsteiger in diese Dialogform immer wieder (vgl. hier zum Beispiel Niehaus u. Wisniewski, 2009, S. 91 f.). 117 Manche Sokratiker führen bis zu sechs Tage lang ein Gespräch über eine einzige Frage. Heckmann berichtet über seine einschlägigen Universitätsseminare, »je etwa zwanzig 90-Minuten-Sitzungen, also eine Arbeitszeit von etwa dreißig vollen Stunden« aufgebracht zu haben (Heckmann, 1993, S. 15), wobei dies, Teilnehmerberichten zufolge, nicht als unnötig gelängt empfunden wurde. In seinem Grundlagenbuch (Heckmann, 1993) hat er in fünf Kapiteln jeweils in einem differenzierten Verlaufsbericht nebst didaktischem Kommentar Einblicke in von ihm geleitete Gespräche gegeben. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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nungen (sowie des »sicheren« Wissens) deutlich aufgezeigt zu haben. Dabei sollte jeder Einzelne vom Konkreten ausgehen und die Methodenfrage »Wie kann philosophische Einsicht gewonnen werden?« stets mitberücksichtigen. Die Wirkung eines weiterführenden Sokratischen Gesprächs hat Heckmann gewissermaßen als atmosphärische Dialektik, als die »Wirkung von Innerem auf Inneres« charakterisiert (Heckmann, 1993, S. 98). Das bedeutet, dass es – neben der zu untersuchenden Frage – auf eine dialogisch-sokratische Haltung ankommt. Diese kann der Einzelne in seinen wirklichen (Wissens-)Bedürfnissen erreichen. Welche Ansichten in einem um Klärung bemühten Sokratischen Gespräch auch aufeinander treffen mögen, der dialogerfahrene Heckmann gibt grundsätzlich zu bedenken: »Man sollte nicht von wahren oder falschen Meinungen sprechen, denn für diesen Unterschied gibt es kein Kriterium. Man sollte statt dessen die Meinungen danach beurteilen, ob sie einem guten Leben dienen oder ihm im Wege stehen« (S. 129).
Aus sokratischer Perspektive Sokratische Gespräche erfordern Geduld, gegenseitige Toleranz und einiges an dialogischer Disziplin. Das sollte man nicht unterschätzen. Wer sein Wissen darüber und seine Praxis davon vertiefen möchte, dem seien Weiterbildungen durch die Gesellschaft für Sokratisches Philosophieren (GSP) empfohlen. Als selbstgestalteter Einstieg in diese Methode kann es sich als aufschlussreich erweisen, damit in strukturierter Weise zu experimentieren. Dafür genügen anfangs die Orientierung an dem hier dargestellten Maßnahmenkatalog Heckmanns und eine Frage, die – zum Beispiel in einer Organisation – mehrere Personen gleichermaßen beschäftigt. Bei der Wahl des Gesprächsleiters sollte man mit Umsicht vorgehen und einen erfahrenen Menschen dafür auswählen. Die Gruppe sollte insgesamt die Größe von sieben Personen nicht überschreiten; es handelt sich ja nicht um eine Diskussionsrunde, sondern um eine Vorübung und Erprobung eines Sokratischen Gesprächs, für das man sich Zeit nehmen sollte. Falls dies schwer einzurichten ist, sollte das Gespräch unbedingt zu anderer Zeit fortgesetzt werden. Es gibt zudem die Möglichkeit, Sokrates als innere Person, als EgoState (vgl. Erstes Methodenporträt) in sich zu entwickeln. Das kann zum Beispiel bedeuten, sich die Fragen zu stellen: Wie bewege ich mich in © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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meinem Leben, wenn mich »einer wie Sokrates« begleitet? Wie betrachte ich ihn? Wie er mich? Wie wirkt sich das auf meine Selbstsupervisionsprozesse aus? Wie auf die Forschungs- und Klärungsprozesse während eines Sokratischen Gesprächs?
Eine lebendige Form des Denkens Wenn ich mit mir spreche, etwas erlebe, fühle, wahrnehme usw., so kann ich dies nur tun, weil es in mir einen bis ins Vorsprachliche reichenden Austausch gibt, zwischen einem, der gerade etwas erlebt, fühlt, wahrnimmt usw., und einem, der dieses Erleben, Fühlen, Wahrnehmen usw. registriert. Diese existenzielle Diade von Ich und Ich bildet gewissermaßen die beiden Grundpole derselben Person. Wir können also – wenn es um die »Natur des Menschen« geht – von dieser elementaren, alles voraussetzenden Zweiheit in der Einheit, von mindestens zwei Polen in ein- und demselben Menschen ausgehen. Mit dem platonischen Sokrates und Karl Popper gesprochen, können wir auch das nicht sicher wissen, kommt auch diesem Wissen der Status von »Vermutungswissen« zu. Die Erfahrungen, die wir mit uns selbst machen, erweisen sich jedoch als sehr geeignet, mögliche Einwände zu falsifizieren, so dass wir hier wenigstens von einem gut überprüften und überprüfbaren Wissen ausgehen können. Bildet das (innere) Gespräch die Lebenskonstante, die existenzielle Grundstruktur, so kann es – in entwickelter Form – die Tätigkeit des Denkens enorm vitalisieren und korrigieren, also zugleich anregen und ausgleichen. Und dies in einer Weise, wie es (meiner Beobachtung nach) keine andere Form kann. Das mag zum Teil auch darin begründet sein, dass das Dialogische als äußeres Gespräch mit anderen die elementare Bewusstseinstätigkeit, das beständige Hin und Her von Impulsen, Informationen, Reflexionen unmittelbar abbildet oder wenigstens ziemlich kongruent nachzeichnet. Dem menschlichen Leben, das ich als ein Sein in Geschichten zu bestimmen versucht habe (vgl. Zweites Methodenporträt), wäre demnach als narrative Grundgestalt das Dialogische eigen. Als Form des reflektierten und reflektierenden Gesprächs eröffnen Dialoge einen Raum, in dem das Philosophische unmittelbar praktisch und erkenntnisdienlich werden kann. In seinem Dialog »Sophis© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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tes« bezeichnet Platon das Denken selbst als Dialog (2004a, S. 119) und bei Lukian tritt der Dialog personifiziert als »Sohn der Philosophie« auf. Betrachten wir jenseits solcher Attribute, was ein (philosophischer) Dialog kann und möglich118 macht: –– Meinung und Gegenmeinung und weitere, über das Für und Wider hinausgehende Ansichten können nahezu synchron auftreten, einander wechselseitig relativierend. –– Ein Thema, eine Frage, ein Anliegen kann gemeinsam solange auseinandergenommen119 werden, bis sich neue, so noch nicht gesehene Aspekte zeigen. –– Auf die Widerspruchsvielfalt, die wohl bis zu einem gewissen Grad jeder Mensch in sich bemerkt und die ein wesentliches Ferment seines seelisch-geistigen Lebendigsein ausmacht, kann angemessener reagiert werden. –– Eine Form des reflektierten Miteinanders wird geschaffen, bei welchem Positionen und Personen zusammenkommen, die sonst nicht zusammenträfen, geschweige denn miteinander reden würden; sie erhalten dadurch die Möglichkeit, einander nicht nur besser, sondern auch Seiten voneinander kennenzulernen, die sie nicht beim anderen vermutet hätten. –– Die häufig unbewusst gewordenen Denkhandlungen des genauen Fragens und differenzierten Antwortens werden bewusster praktiziert. –– Es wird ein anderer Zugang zur Größe des eigenen Wissens und zur Begrenztheit der eigenen Erfahrung eröffnet; formal zeigt sich das darin, dass es innerhalb des (philosophischen) Dialogs keine übergeordnete, keine nicht unterbrochene Äußerung gibt, sondern einen Austausch zwischen Partnern, der es möglich macht, dass jede120 Äußerung unmittelbar konterkariert, in Frage gestellt und überprüft werden kann. 118 Vgl. hierzu den einschlägigen Katalog »Merkmale einer dialogischen Haltung«, den Christoph Schmidt-Lellek auch im Hinblick auf das Thema Verantwortung zusammengestellt hat (Schmidt-Lellek, 2008, S. 237 ff.). 119 Vgl. die ursprüngliche Bedeutung von dialégein: »aussondern«, »zergliedern«, »auseinanderlesen« etc. 120 Aus diesem Grund gehört der Dialog oder das erkundende Gespräch nicht zu den bevorzugten Gattungen oder Kommunikationsformen autoritärer oder autoritätsgläubiger Menschen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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–– Es kommt zu unerwarteten Erkenntnisgewinnen, da man (selbst bei einem genau verabredeten Thema) zuvor nicht weiß und wissen kann, welche Fragen gestellt, welche Nebenwege beschritten, welche Antworten gegeben oder Standpunkte bezogen, welche Übereinkünfte oder Oppositionen entstehen werden; dadurch kann sich eine, für alle Beteiligten klärungsdienliche und verständnisvertiefende Offenheit bilden, die über die Behandlung des Themas hinaus bereichernd wirkt. –– Das Unerwartete, das selbst noch dem strukturierten Dialog eigen ist, erfährt eine Steigerung dadurch, dass ich mich bisweilen Fragen stellen, Antworten geben oder Positionen beziehen sehe, dass ich mich Dinge sagen höre, dass ich Reaktionen zeige, die allesamt mehr noch als die anderen mich selbst in aufschlussreicher Weise überraschen können. Man könnte sich fragen (und dies ist mehr als Gedankenspiel denn als Polemik gemeint), wie die gegenwärtige (akademische) Philosophie aussähe, wie sie aussehen, sich selbst verstehen, anregend über die akademische Welt hinauswirken könnte, wenn die überaus abstrakten und/oder allzu systematisierten Ansichten sozusagen in zweiter Gestalt in eine Dialogform gebracht, wenn Traktate in reflektierte und reflektierende Gespräche verwandelt würden? Wenn man auf diese Weise einem der beiden Begründerfiguren auch formal näherkäme? Dabei handelte es sich dann natürlich um geschriebene Gespräche. Doch hätten diese zumindest potenziell die Chance – durch das unvermeidbare Lebendige und Offene jedes ernstzunehmenden Dialogs – lebensnäher und lebensdienlicher zu sein, ohne dabei notwendigerweise an gedanklichem Wert und Anreiz einzubüßen – im Gegenteil. Es kann nicht nur für die Leser, es kann auch für die Autoren von Vorteil sein, gute Gegenpositionen zu den eigenen festen Überzeugungen zu entwickeln und in erhellender Weise »auftreten« zu lassen. Das gibt vielen Themen ihre (natürliche) Mehrdeutigkeit zurück und vergrößert die Empathie für fernliegende und auf den ersten Blick abwegig erscheinende Sichtweisen. Im besten Fall kann es – im griechisch-agonalen Sinne – zu einem anregenden Wettstreit der Meinungen kommen, der für alle von Nutzen ist: für das Thema, den Leser und den Autor. Innerhalb von Teams oder Organisationen ist es bis zu einem gewissen Grad unverzichtbar, klare Richtlinien, fixe Abläufe, geordnete Struk© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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turen zu entwickeln und zu etablieren, also das Systematische zu betonen. Wie vielfach zu beobachten ist, geht damit jedoch eine Tendenz zur zunehmenden Erstarrung einher; feste Strukturen neigen nach einer gewissen Zeit (Wiederholungseffekt) dazu, ein »Eigenleben« zu führen und die Handlungsfähigkeit – vor allem unerwarteten Faktoren gegenüber – stark einzuschränken (was man in sogenannten Nonprofit-Unternehmen gut studieren kann). Um solchen für Teams wie Organisationen mitunter »lebensgefährlichen« Tendenzen sinnvoll entgegenwirken zu können, bietet das Dialogische ein gutes Gegenmittel an. Es kann zudem die andere Grundform – den Prozess – sinnvoll vorkommen lassen und deutlicher zu Bewusstsein bringen. Da die Belebungskraft des Dialogischen bis zum Anarchistischen hin reichen und viel Unübersichtlichkeit und Instabilität damit einhergehen kann, ist auch eine gewisse Begrenzung geboten. Ein Weg, das Dialogische in Teams und Organisationen weder überwertig werden zu lassen noch es allzusehr zu bändigen, besteht im Bewusstsein für die Dynamik, in der sich die Formen des absichtsvollen Miteinanders vollziehen (siehe Abbildung 3). Offenheit Ordnung als produktiver Faktorals produktiver Faktor
Dialog als Form Prozess System Hierarchie als Form
Erstarrung Beliebigkeit als Selbst-als Selbstübertreibungstendenz übertreibungstendenz Abbildung 3: Dynamik des absichtsvollen Miteinanders
Wenn Sie daran interessiert sein sollten, das Dialogische im Team- bzw. Organisationsalltag mehr zu akzentuieren und zugleich eine ausgeglichene Dynamik zwischen Prozess- und Systemaspekten zu befördern, dann lohnt es sich, den Fragen der nächsten Übung genauer nachzugehen.
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Das Dialogische als Korrektiv –– Inwieweit kommt Dialogisches in den Teams oder Organisationen, in denen oder für die Sie arbeiten, vor? –– Wer repräsentiert und befördert dies? Und mit welchen Argumenten? –– Wer bekämpft und behindert dies? Und mit welchen Argumenten? –– Welche Möglichkeiten sehen Sie, Dialogisches in Teams und Organisationen, in denen oder für die Sie tätig sind, gewinnbringend zu etablieren? –– Wie könnte in den Teams und Organisationen, für die Sie und in denen Sie arbeiten, Prozess und System gut miteinander verbunden werden? Und was wäre hierfür hilfreich bzw. eine grundlegende Voraussetzung?
Wenn ich hier für das besondere Potenzial des Dialogischen werbe und es sogar als ausgesprochen lebendige Form des Miteinanderdenkens bezeichne, kann es nicht darum gehen, ein unreflektiertes Loblied anzustimmen. Das Dialogische kann (wie andere Vorgehensweisen oder Haltungen) missbraucht oder einseitig werden, sich übertreiben. Ein Dialogdenker wie Hermann Levin Goldschmidt warnt vor einem »Pandialogismus« (1993, S. 199) und den damit verbundenen Versuchen, den Dialog als Allheilmittel zu ge-, genauer: zu missbrauchen. Eine wirksame Maßnahme, wie der Dialog (wenn ich ihn hier einmal so personifizieren darf) vor möglicher Selbstübertreibung geschützt werden kann, eröffnet das »Metagespräch«, das der Sokratiker Gustav Heckmann eingeführt (Klafki, 2002, S. 94) und vom diskursiven Klärungsgeschehen des »Sachgesprächs« abgekoppelt hat, was der Dynamik eines Sokratischen Gesprächs etwas Übersichtliches, dabei aber auch etwas Künstliches geben kann. Das Neben-, In- und Durcheinander dieser beiden Elemente (Sachund Metaebene) eines um Klärung bemühten Gesprächs machen die »Metaloge« Gregory Batesons deutlich. Sie erscheinen daher lebensnäher als die mitunter stark kontrollierten Sokratischen Gespräche. Lebensnäher? Es handelt sich (zumindest was Bateson betrifft) um keine Gesprächsprotokolle, sondern um geschriebene Gespräche, also um gestaltete, literarisierte Dialoge, die jedoch Inhalte und Dynamiken wirklich geführter Unterredungen in kondensierter und zugespitzter Form wiedergeben. Sie weisen damit (wie manche platonische Dialoge) einen »halb-fiktiven« Charakter auf (Lutterer, 2000, S. 80). Sie verdanken sich einem bestimmten biographischen Hintergrund. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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Der interdisziplinäre Denker und Forscher, der Metawissenschaftler121 Gregory Bateson war durch die Scheidung von seiner ersten Frau und eine berufliche Neuorientierung von seiner ersten, damals neunjährigen Tochter Mary Catherine räumlich getrennt, wollte jedoch an ihrer geistigen Entwicklung, ihrer epistemologischen Biographie (vgl. Zweites Methodenporträt) teilhaben. Bei den eher seltenen persönlichen Begegnungen kam es zu intensiven Gesprächen,122 die der Vater dann in seinen »Metalogen« nachverarbeitete und sie mit seinen eigenen Ideen – die für das kybernetische und systemische Denken folgenreich geworden sind – in Verbindung brachte. Die räumliche Trennung wurde 1948 vollzogen; es war auch das Jahr, in dem der erste Metalog entstand. Bateson hat in den folgenden Jahrzehnten eine Reihe von Metalogen geschrieben, zunächst einzeln veröffentlicht und später in seinen Büchern gesammelt. In seinem letzten, gemeinsam mit Mary Catherine verfassten Buch »Wo Engel zögern. Unterwegs zu einer Epistemologie des Heiligen« (Bateson u. Bateson, 1993) tritt die frühere Metalog-Partnerin auch als Autorin von eigenen Metalogen auf. Warum spricht Bateson von Metalogen und nicht einfach von Dialogen? Was er mit diesem Begriff bezeichnen will, erläutert er in einer »Definition« genannten Vorbemerkung seines Buches »Ökologie des Geistes«123 folgendermaßen: »Ein Metalog ist ein Gespräch über ein 121 Gregory Bateson hat wesentlich zum Bewusstsein und zur Verwendung des Begriffspartikels Meta- – das eine abstandnehmende, umfassende und sich selbst reflektierende Position bezeichnet – beigetragen. Vgl. hierzu Begriffe wie Metakommunikation, Metabewusstsein, Metaebene, Metaperspektive, Metalernen, Metamuster, Metakompetenz (Stölzel, Th., 2012, S. 92 ff.). Viele von Batesons Texten erscheinen nicht unbedingt leicht zugänglich, obgleich sie vom Gehalt her sehr substanziell sind. Ähnliches ließe sich über Jean Piaget sagen. Wie dieser ist Bateson ein Autor, auf den mehr verwiesen wird, als dass man ihn liest. Einen guten und zugänglichen Einstieg in sein Denken bieten seine »Metaloge«. 122 Vgl. hierzu die Perspektiven der Tochter (Bateson, M. C., 1986, S. 55 ff.). Dort berichtet sie auch von der Struktur des Austausches, den sie als Erwachsene mit ihrem Vater führte und charakterisiert diesen als »Form eines Streitgesprächs« und »als Tanz« (S. 212). 123 Der Titel dieses von vielen als sein Hauptwerk angesehenen Buches ist leider nur verstümmelt ins Deutsche übersetzt worden. Im Original lautet er: »Steps to an Ecology of Mind«. Dass bei einem Buch eines überzeugten Prozessdenkers und achtsamen Epistemologen, wie es Gregory Bateson war, der so wichtige Zusatz »Steps to« (also »Schritte zu« oder »Auf dem Weg zu«) einfach weggelassen wurde, ist weder zu verstehen noch zu entschuldigen. Das verfälscht sozusagen die Zielsetzung des Buches vom ersten Wort an. Der deutsche Titel vermittelt ein gravi© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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problematisches Thema. In diesem Gespräch sollten die Teilnehmer nicht nur das Problem diskutieren, sondern die Struktur des Gesprächs als ganzes sollte für eben dieses Thema relevant sein« (Bateson, 1981, S. 31). Für Bateson übersteigt das auch den zwischenmenschlichen Rahmen, »die Geschichte der Evolutionstheorie ist zwangsläufig ein Metalog zwischen Mensch und Natur, in dem die Entstehung und Wechselwirkung von Ideen notwendig den Evolutionsprozeß exemplifizieren muß« (S. 31). Hier nun ein Beispiel für einen (klassischen) Bateson’schen Metalog, der sich, zumindest in seiner verschriftlichten Form, als ein ZweiPersonen-Gespräch vollzieht. Der 1953 im »Review of General Semantics« erstmals veröffentlichte Metalog behandelt ein altes sokratisches Thema und trägt den der Tochterfrage entlehnten Titel »Wieviel weißt du?«. Bei der Klärung dieser Frage geraten verschiedene Gesprächsebenen in aufschlussreicher Weise durcheinander. Hören wir einigen Abschnitten dieser Unterredung zu. »Tochter: Pappi, wieviel weißt du? Vater: Ich? Hmmm – ich habe so etwa ein Pfund Wissen. T: Sei nicht albern. Ist es ein Pfund Sterling oder ein Pfund Gewicht? Ich meine, wieviel weißt du wirklich? V: Also gut, mein Gehirn wiegt etwa zwei Pfund, und ich nehme an, ich benutze etwa ein Viertel davon – oder nutze es effektiv zu einem Viertel aus. Also sagen wir, ein halbes Pfund. T: Aber weißt du mehr als Johnnys Vater? Weißt du mehr als ich? V: Hmmm – ich kannte mal einen kleinen Jungen in England, der seinen Vater fragte: ›Wissen Väter immer mehr als Söhne?‹, und der Vater sagte: ›Ja‹. Die nächste Frage war: ›Pappi, wer hat die Dampfmaschine erfunden?‹, und der Vater sagte: ›James Watt‹. Darauf der Sohn: ›– aber warum hat sie dann nicht James Watts Vater erfunden?‹ T: Ich weiß. Ich weiß mehr als dieser Junge, weil ich nämlich weiß, warum es nicht James Watts Vater war. Weil erst mal ein anderer was anderes denken mußte, bevor irgendwer eine Dampfmaschine bauen konnte. Ich meine, so was wie – ich weiß nicht – aber es mußte eben tätisch-hegelianisches Gepräge, dass dann selbst der deutsche Text nicht an sich hat. Bei seinem bereits erwähnten, letzten Buch war man respektvoller und übersetzte den Untertitel »Towards an Epistemology of the Sacred« mit »Unterwegs zu einer Epistemologie des Heiligen«. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
202 Viertes Methodenporträt irgendwer Öl entdecken, bevor irgend jemand eine Maschine bauen konnte. V: Ja – da besteht schon ein Unterschied. Ich meine, es bedeutet, daß alles Wissen irgendwie miteinander verstrickt ist oder verwoben, wie Stoff, und jedes Stück Wissen hat nur Sinn und Nutzen durch die anderen Stücke – und … T: Meinst du, wir sollten es mit dem Metermaß messen? V: Nein, das nicht. T: Aber genau so kaufen wir doch Stoff. V: Ja. Aber ich habe nicht gemeint, daß es Stoff ist. Nur so ähnlich – und sicher wäre es nicht so flach wie Stoff – sondern hätte drei Dimensionen – vielleicht vier. T: Was meinst du, Pappi? V: Ich weiß es doch selbst nicht, mein Schatz. Ich habe nur versucht, darüber nachzudenken. […] V: Ich glaube, wir sind heute morgen nicht so gut in Form. Vielleicht versuchen wir es mal mit einem anderen Weg. Worüber wir nachdenken müssen, ist, wie die Wissensstücke miteinander verwoben sind. Wie sie einander helfen. T: Wie tun sie das? V: Na ja – es ist, als würden manchmal zwei Tatsachen zusammengefügt, und alles, was man hat, sind eben nur zwei Tatsachen. Aber manchmal fügen sie sich nicht einfach zusammen, sondern multiplizieren sich – und man hat vier. T: Man kann doch nicht ein mal eins nehmen und dann vier rauskriegen. Du weißt, daß das nicht geht. V: Oh. […] V: Ich glaube, es geht doch. Wenn die multiplizierten Dinge Wissensstücke, Tatsachen oder so was sind. Denn jedes von ihnen ist ein doppeltes Etwas. T: Verstehe ich nicht. V: Gut – zumindest ein doppeltes Etwas. T: Pappi! V: Nimm das Spiel ›zwanzig tragen‹. Du denkst an irgendwas. Nehmen wir an, du denkst an ›morgen‹. Gut. Dann frage ich, ›Ist es abstrakt?‹, und du sagst: ›Ja‹. Mit deinem ›Ja‹ erhalte ich nun eine doppelte Infor© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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mation. Ich weiß, daß es abstrakt und daß es nicht konkret ist. Oder sagen wir so: durch dein ›Ja‹ kann ich die Zahl der Möglichkeiten dessen, was das Ding sein kann, halbieren. Und das heißt, mit eins über zwei multiplizieren. […] T: Ich mag Arithmetik nicht, Pappi. V: Ja, ich weiß. Das Ausrechnen ist langweilig; aber einige der Ideen darin sind amüsant. Und du wolltest doch wissen, wie man Wissen mißt, und wenn man anfängt, irgendwas zu messen, dann kommt man immer zur Arithmetik. T: Bisher haben wir überhaupt noch kein Wissen gemessen. V: Nein. Ich weiß. Aber wir haben einen oder zwei Schritte gemacht, um herauszufinden, wie man Wissen mißt, wenn man das will. Und das heißt, wir wissen jetzt ein bißchen mehr darüber, was Wissen ist. T: Das wäre ja eine komische Art Wissen, Pappi. Ich meine, etwas über das Wissen zu wissen – würden wir denn diese Art Wissen auf dieselbe Weise messen? […] T: Pappi, hat jemals irgendwer gemessen, wieviel jemand weiß? V: Oh, ja. Oft. Aber ich weiß nicht so genau, was die Antworten bedeuten. Man macht das mit Untersuchungen und Tests und Fragebögen, aber es ist so, als wollte man die Größe eines Stücks Papier dadurch herausfinden, daß man mit Steinen danach wirft. T: Wie meinst du das? V: Ich meine – wenn man mit Steinen aus der gleichen Entfernung nach zwei Stücken Papier wirft und herausfindet, daß man das eine öfter trifft als das andere, dann wird wahrscheinlich das, welches man am häufigsten getroffen hat, größer sein als das andere. Auf dieselbe Weise wirft man bei einer Untersuchung eine Menge Fragen auf die Studenten, und wenn man herausfindet, daß man bei dem einen Studenten auf mehr Wissensstücke trifft als bei den anderen, dann meint man, dieser Student muß mehr wissen. Das ist die Idee dabei. T: Aber könnte man denn auf die Weise auch ein Stück Papier messen? V: Natürlich könnte man das. Es könnte sogar ein ganz guter Weg sein, es zu tun. Wir messen eine ganze Menge Sachen auf diese Weise. Zum Beispiel beurteilen wir, wie stark eine Tasse Kaffee ist, indem wir schauen, wie schwarz er aussieht – das heißt, wir achten darauf, wieviel Licht er schluckt. Anstatt Steine werfen wir Lichtwellen darauf, es ist dieselbe Idee. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
204 Viertes Methodenporträt T: Oh. […] V: Laß uns bei der Frage bleiben, wie man Wissen mißt – Arithmetik besteht aus einer Reihe von Tricks, klar zu denken, und das einzige, was daran Spaß macht, ist eben die Klarheit. Und das Wichtigste bei der Klarheit ist, daß man nicht Ideen vermischt, die in Wirklichkeit voneinander getrennt sind. Die Idee von zwei Orangen ist tatsächlich etwas anderes als die Idee von zwei Meilen. Wenn du sie nämlich zusammenzählst, hast du nur noch Nebel im Kopf. T: Aber Pappi, ich kann Ideen nicht getrennt halten. Müßte ich das denn tun? V: Nein – nein – natürlich nicht. Verbinde sie. Aber zähle sie nicht zusammen. Das ist alles. Ich meine – wenn die Ideen Zahlen sind, und du willst zwei verschiedene Arten verbinden, dann mußt du sie miteinander multiplizieren. Oder sie durcheinander dividieren. Und dann wirst du eine neue Art Idee erhalten, eine neue Art Quantität. Hast du Meilen im Kopf und daneben Stunden, und du dividierst die Meilen durch die Stunden, dann kriegst du ›Meilen pro Stunde‹ – das ist eine Geschwindigkeit. T: Ja, Pappi. Und was würde ich bekommen, wenn ich sie multiplizierte? V: Oh – hm – ich nehme an, das wären Meilen-Stunden. Ja. Ich weiß, was das ist. Ich meine, was eine Meilen-Stunde ist. Es ist das, was man dem Taxifahrer bezahlt. Sein Taxometer mißt Meilen, und er hat eine Uhr, die Stunden mißt, und der Taxometer und die Uhr arbeiten zusammen und multiplizieren die Stunden mit den Meilen, und dann multipliziert er die Meilen-Stunden mit etwas anderem, das aus Meilen-Stunden Dollars macht. T: Ich habe mal ein Experiment gemacht. V: Ja? T: Ich wollte rausfinden, ob ich zwei Gedanken gleichzeitig denken kann. Also dachte ich ›Es ist Sommer‹, und ich dachte ›Es ist Winter‹. Und dann versuchte ich, die beiden Gedanken gleichzeitig zu denken. V: Und? T: Aber ich merkte, daß ich nicht zwei Gedanken hatte. Ich hatte nur einen Gedanken darüber, zwei Gedanken zu haben. V: Genau, das ist es. Du kannst Gedanken nicht vermischen, du kannst sie nur verbinden. Und letzten Endes bedeutet das, daß man sie nicht zählen kann. Denn Zählen ist nichts anderes, als Dinge zu addieren. Und das geht meistens nicht. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
Eine lebendige Form des Denkens
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T: Haben wir dann in Wirklichkeit nur einen großen Gedanken, der aus vielen kleinen Verzweigungen besteht – vielen, vielen Verzweigungen? V: Ja, ich glaube, aber ich weiß es nicht. Jedenfalls halte ich das für eine klarere Ausdrucksweise. Ich meine, es ist klarer, als über Wissensstücke zu reden und den Versuch zu machen, sie zu zählen. T: Pappi, warum benutzt du die übrigen drei Viertel deines Gehirns nicht? V: Oh, ja – das – weißt du, das Problem ist, daß ich auch Lehrer in der Schule hatte. Und die haben etwa ein Viertel meines Gehirns mit Nebel gefüllt. Und dann habe ich Zeitungen gelesen und auf das gehört, was andere Leute sagten, und da war ein weiteres Viertel vernebelt. T: Und das andere Viertel, Pappi? V: Oh – das ist der Nebel, den ich selbst erzeugt habe, als ich versuchte nachzudenken« (Bateson, 1981, S. 53 ff.).
Wenn ich meine philosophisch-systemische Arbeit unter den Begriff Metaloge stelle bzw. damit zusammenfasse (vgl. www.metaloge.de), dann ist dies weit umfassender zu verstehen als die anregenden VaterTochter-Gespräche, mit denen Bateson seine interdisziplinären Bücher angereichert124 hat. Zwar bilden sie durchaus ein Forum, in welchem in offener Weise Grundlagenfragen (wie auch die Tätigkeit des Grundlagenfragens) erörtert werden, doch folgt das Szenario – nicht allein,
124 Die »Ökologie des Geistes« wird durch sieben Metaloge eingeleitet, die den Leser auf die Eigenart des »lockeren und strengen Denkens« (Holl, 1985) Batesons einstimmen und rund ein Sechstel des umfangreichen Werks ausmachen. Der Metalog in »Geist und Natur« (Bateson, 1982) mit dem lakonischen Titel »Na und?« bildet das Schlusskapitel, »steht ›meta‹ zu den gesamten vorhergehenden Ausführungen des Buches und bildet überdies eine Brücke« zu dem gemeinsam mit Mary Catherine verfassten »Wo Engel zögern«, das »hier bereits angekündigt wird« (Lutterer, 2000, S. 213 f.). War die »Tochter« in diesem Metalog bereits älter und damit zu einer wissenderen Gesprächspartnerin geworden, nimmt sie bei »Wo Engel zögern« geradezu einen Rollenwechsel vor. Die sieben Metaloge dieses Buchs weisen vor allem die »Tochter« als Verfasserin aus; der »Vater« tritt nur einmal als Ko-Autor in Erscheinung. Leider sind (mindestens) fünf weitere Metaloge Gregory Batesons teils weder ediert noch publiziert worden (Lutterer, 2000, S. 257, 328), darunter ein thematisch so relevanter wie »A Way of Seeing«, der allein 35 Seiten umfasst. Ihre Publikation und Übersetzung bildet das, was man ein Desiderat nennt. Nicht zuletzt deswegen, weil ein »systemischer Ziehsohn« diesen »geistigen Vater« als »einen der wichtigsten Denker des [20.] Jahrhunderts« charakterisiert hat (Stierlin, 1981, S. 7). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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was das Personal angeht – keinem festgelegten Schema (anders als in den Bateson-Büchern).125 Mir ist es vornehmlich darum zu tun, ein methodologisches Bewusstsein zu entwickeln und in lebens- wie erkenntnisdienlicher Weise nutzbar zu machen. Dabei orientiere ich mich bei diesem zweigliedrigen Kompositum (vgl. Stölzel, Th., 2012, S. 28 ff.) an seiner Etymologie. Als Sinnzusammenschluss (vgl. Stölzel, Th., 2012, S. 37 ff.) klingt in dem Begriff Metaloge etwas an, das man als perspektivenbewusstes Denken übersetzen könnte; als ein Denken über das Denken in Gestalt eines Gesprächs; als eine geistige Aktivität, die sich einem Thema oder Problem durch eine Vielzahl unterschiedlicher Blickpunkte nähert; als ein sich selbst beobachtendes Interaktionsgeschehen, das sich im Dialog vollzieht. Dadurch beinhaltet es noch andere Komponenten als ein (klassischer) Dialog, dessen Grundlagen, Elemente und Außenansichten miteinbezogen werden. Bateson hat in seinem Begriffsverständnis darauf hingewiesen, dass die Struktur des Gesprächs für das jeweilige Thema relevant ist oder sich in ihm widerspiegelt. Nach meiner Erfahrung zeigt sich jedes Thema oder Problem, das eingebracht wird, als eine aufschlussreiche Gemengelage. Man kann dieser »Zusammengestalt« anders nahekommen (auch im Sinne einer Lösung), wenn man es nicht nur inhaltlich oder formal angeht oder gar unter dem (scheuklappenbildenden) Blick einer bestimmten Methode. Stattdessen führt die Frage »Was glauben Sie, wie viele Seiten hat Ihr Thema oder Problem und welche Voraussetzungen sind in ihm enthalten?« weiter, auch wenn sie zunächst die Komplexität zu vergrößern scheint. Eine Klärungshilfe kann da durchaus die Segmentierung des Dialogs in Sach- und Metagespräch bieten, wie sie Heckmann vorgeschlagen und praktiziert hat. In einer metalogischen Haltung verbinden sich philosophische und systemische Potenziale zu einer integrativen Handlungsform. Der Vielzahl und Vielfalt an Implikationen, die selbst in einem »simplen« Thema oder Problem stecken, kann dadurch angemessener begegnet werden. Die metalogische Haltung eröffnet dem Menschen als einem Metawesen (vgl. Stölzel, Th., 2012, S. 41 f.) einen Raum, sich zu klären und dabei sich und seine Möglichkeiten anders kennenzulernen. 125 Inwieweit Bateson die von ihm entwickelte Form mündlich auch mit Kollegen, Mitarbeitern und Kontrahenten pflegte, verdiente untersucht zu werden. Vgl. hierzu Lipset (1982) und Brockmann, »About Bateson« (1979). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
Fünftes Methodenporträt: Wissen, Nichtwissen, Lethologie (Kritische Epistemologie)
»Meister, ich weiß, daß ich nichts weiß.« »Gar nichts weißt du!« Marco Aldinger
Was wissen wir vom Wissen? Nicht jeder, der zu viel weiß, weiß dies. Stanisław Jerzy Lec Zur persönlichen Einstimmung in dieses grundlegende und voraussetzungsreiche Thema möchte ich Ihnen eine orientierungsstiftende Übung nahelegen. Die Übung »Mein sicherstes und unsicherstes Wissen« kann als Ausgangspunkt sowie als immer wieder aufzusuchender Bezugsrahmen genutzt werden.
Mein sicherstes und unsicherstes Wissen Versuchen Sie, zunächst folgende Fragen für sich zu klären: –– Was ist das sicherste Wissen, über das ich verfüge? –– Was ist das unsicherste Wissen, über das ich verfüge? Nutzen Sie dazu ein querliegendes Blatt und notieren Sie darauf einen Skalierungsrahmen von Beispiel 1 bis 10. Markieren Sie auf der einen Seite des Blattes einen Raum für das sicherste und auf der anderen Seite einen Raum für das unsicherste Wissen. Dadurch ergibt sich ein größerer Zwischenraum für all das Wissen, das für Sie dazwischen liegt. Notieren Sie einiges davon, jeweils in der für Sie bestehenden Nähe zu dem einen oder dem anderen Pol. Sie können den Orientierungsgewinn die© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
208 Fünftes Methodenporträt ser Übung für sich dadurch vergrößern, dass Sie sich vor, während oder nach der Skalierung mit folgenden Fragen auseinandersetzen: –– Was weiß ich wirklich sicher? –– Ist dies eines oder mehreres? –– Wie bin ich zu diesem Wissen gelangt? –– Durch konkrete Erfahrungen? Durch Nachdenken? –– Warum erscheint mir gerade dieses Wissen so stabil bzw. so wenig zu erschüttern?
Unsere Epoche unterscheidet sich von vorhergehenden durch verschiedene Maximalitäten. Mit der Beschreibung »unsere Epoche« meine ich die Spanne von 1945 bis zur Gegenwart – einen Zeitraum, der mit Attributen wie »Atomzeitalter«, »Informationsgesellschaft« oder neuerdings sogar »Wissensgesellschaft« versehen wird. Die Maximalitäten zeigen sich unter anderem in zwei Aspekten gewissermaßen planetarischen Ausmaßes: –– in dem Selbstzerstörungspotenzial (das auch nach 1989 noch besteht), –– in der Maximierung des Wissensangebots, wohlgemerkt: des Wissensangebots, nicht des Wissens. Wohl zu keiner Zeit sind die Bedrohung, die von Menschen für Menschen und ihre Lebensräume ausgegangen ist, und der Umfang, die Vielfalt und die Differenzierung des Wissensangebotes gewaltiger gewesen als in unserer Epoche. Ob und inwieweit jedoch mit der Maximierung des Wissensangebots auch sowohl die Verarbeitung als auch die Verarbeitbarkeit der maßlos angewachsenen und angebotenen Datenberge (als welche das Wissen zunächst erscheinen mag) in gleicher Weise an Umfang, Vielfalt und Differenzierung zugenommen haben, ist die Frage. Angeblich soll sich alle fünf Jahre die Zahl der Informationen, die zur Verfügung stehen, verdoppeln und das Wissen der Menschheit innerhalb von drei bis fünf Jahren durch neue Erkenntnisse überholt sein. Bei solchen »Fakten« fällt zunächst auf, dass Zahlen und damit die Idee der Quantifizierung als (adäquate) Messgröße ins Spiel gebracht werden. Diese Beobachtung lässt sich zu der Frage zuspitzen: Kann Wissen (adäquat) gemessen, verziffert, quantitativ erfasst werden? Und falls dies zufriedenstellend gelingen sollte, gibt es neben der Quantität auch eine Qualität des angeblich ständig weiterwachsenden und sich © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
Was wissen wir vom Wissen?
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dauernd erneuernden Wissens? Und ist auch diese (adäquat) messbar? Falls ja, auf welche Weise kann das geschehen?126 Auf dem Weg zu einem möglichen Antwortversuch schlage ich folgende Differenzierung vor: Wissen kann ganz allgemein in zwei Aspekte unterschieden werden: –– in die Wissensmenge (quantitativer Aspekt), –– in die Wissensgüte (qualitativer Aspekt). Wobei die Wissensgüte schwerer zu ermitteln sein dürfte als die Wissensmenge, wie auch das Zählen einfacher ist als das Erfassen eines Gütekriteriums. Direkt damit verbunden ist die Frage, ob mit einer Zunahme der Wissensmenge in vergleichbarer Weise auch die Wissensgüte zunimmt. Eine differenzierte Behandlung dieser Frage scheint mir ebenso wichtig, ja im Zeitalter des Internets vielleicht sogar noch dringlicher als die Demokratisierung des Wissenszugangs.
Wissensmenge und Wissensgüte He is overnewsed, but underinformed. Amerikanisches Journalistensprichwort Versuchen Sie probeweise Ihr persönliches Wissen zu quantifizieren bzw. zu qualifizieren. Notieren Sie beispielsweise auf einem Blatt Ideen, wie Sie Ihr Wissen als Menge, und auf einem anderen Blatt, wie Sie dessen Güte bestimmen127 könnten. Wie verändert sich dabei Ihr Verhältnis zu dem, was Sie wissen? Erscheint Ihnen dabei Ihr Wissen sicher, verlässlich oder das Gegenteil? Wie fühlt sich das an? Beschäftigen Sie sich dann eingehender mit der Frage: Wie sind Wissensmenge und Wissensgüte in mir verteilt? Wie sind sie in dem Team oder der Organisation, in der oder für die ich arbeite, verteilt? Und möchte(n) ich/wir etwas daran verändern? 126 Vgl. hierzu Wittgensteins Beobachtung: »Wenn ich sage: ›Ich war nie in Kleinasien‹, woher kommt mir dieses Wissen? Ich habe es nicht berechnet, niemand hat es mir gesagt; mein Gedächtnis sagt es mir. – So kann ich mich also nicht darin irren? Ist hier eine Wahrheit, die ich weiß? – Ich kann von diesem Urteil nicht abgehen, ohne alle anderen Urteile mitzureißen« (Wittgenstein, 1970, S. 108). 127 Hierfür können Sie sich von einer Unterscheidung anregen lassen, die Erwin Chargaff vorschlägt. Sie können Ihr Wissen einteilen in: »1) ich weiß, daß […], 2) Ich weiß, wo« was unterschiedliche »Rangordnungen« ergibt (1982, S. 11). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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Durch das Internet sind zwischenzeitlich die Möglichkeiten des Wissenszugangs in einer Weise potenziert, dynamisiert und wohl auch trivialisiert worden, dass ethische Regulative (die sich eher einer Entschleunigungsperspektive verdanken) bislang kaum Wirkung zeigen konnten. Möchte man mit diesem neuen Medium produktiv umgehen, so ist es nötig, sich mit einer weiteren Frage zu konfrontieren, nämlich: Ist es wünschbar und sinnvoll, alles menschengemachte Wissen zugänglich zu machen, und was geschieht, wenn dies gemacht wird?128 Ich erspare es Ihnen und mir, hier die vielfach wiederholte These von der Bedrohung durch ständig weiterwachsende Informationsmassen zu wiederholen und apokalyptische Szenarien zu entwickeln. Ich vermute, die Zukunft ist offener, als wir glauben. Ob heutzutage wirklich mehr relevantes Wissen vorhanden ist bzw. erzeugt wird als jemals zuvor, vermag ich nicht zu entscheiden und ich bezweifle, dass es diejenigen können, die behaupten, alle fünf Jahre verdopple sich das gesamte Menschheitswissen. Mir erscheinen derartige Quantifizierungen wenig belangvoll im Vergleich zu einer philosophischen Beschäftigung mit diesem Thema. Vor allem das lebensdienliche Philosophieren erweist sich hier als ein stärkender Anachronismus. Denn im Unterschied zu vielen anderen Disziplinen, die ihre Wissensbestände im Lauf der Zeit vergrößern konnten, ist das lebensdienliche Philosophieren über die Grundfragen129 der menschlichen Existenz nicht hinausgekommen bzw. ihnen konstant treu geblieben. Und in diesem Unbeantwortetsein liegt eben das Stärkende. Grundfragen, das sind Fragen, die (oft unbemerkt) unserem alltäglichen Leben zugrunde liegen, es fundamentieren, die fraglich bleiben, ohne oft selbst in Frage gestellt zu werden. Eine davon dient diesem Kapitel als Überschrift. Bevor ich etwas zu ihrer Eigenart sage, gebe ich dem konstruktivisti128 Vgl. hierzu die ironisch-enigmatische (Meta-)Geschichte »Die Bibliothek von Babel« (Borges, 1981), die für manche wikipediaorientierte Wissensbenutzer aufschlussreich sein kann. 129 Zu diesen zählen unter anderem: Wie versteht sich der Mensch? Besitzt er einen freien Willen? Verfügt er über eine unsterbliche Seele? Wo kam er vor seiner Zeugung her? Was geschieht mit ihm nach seinem Tod? Hat das menschliche Leben einen Sinn und wenn ja, wie kann dieser gefunden werden? Was bezeichnen wir als Glück? Wie kann die alte Aufforderung »Erkenne dich selbst!« eingelöst werden? usw. »Natürlich können wir viel mehr Fragen beantworten, als Pythagoras je hätte stellen wollen; aber was die alten Weisen wirklich fragten, ist noch immer unbeantwortet« (Chargaff, 1982, S. 26). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
Was wissen wir vom Wissen?
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schen Epistemologen Ernst von Glasersfeld das Wort, der das Thema spielerisch angeht: »Ich weiß, daß ich weiß, aber nicht, wie ich weiß, was ich weiß. Das ist ein Rätsel, mit dem ich gerne spiele. […] Ich weiß, daß ich weiß, und ich mag wissen, was ich weiß. Aber ich weiß nicht, wie ich weiß, noch was dieses Wesen ist, das den Prozeß des Verstehens vollzieht. Wir nennen dieses Wesen schlicht ›Ich‹ oder ›Selbst‹« (Glasersfeld, 1997, S. 32, 36 f.).
Was wissen wir vom Wissen? Man bezeichnet die Relation, die in dieser Frage aufscheint, als Selbstreferenz (Selbstrückbezüglichkeit); etwas macht sich dabei selbst zum Thema. Die gewohnten Relationen zwischen Subjekt und Objekt werden irritiert, das Feld der Paradoxie berührt. Was können wir vom (genauer: von unserem) Wissen sagen, was von ihm erwarten? Von dem Wort können wir sagen, dass es als ein Präterio-Präsens erscheint (wie das die Linguisten nennen), dass »Wissen« also eine vergegenwärtigte Vergangenheit darstellt. Die zum Hauptwort gemachte Tätigkeit »wissen« (althochdeutsch wizzan) leitet sich von der indogermanischen Wurzel ueid (sehen, erblicken) ab. Es gibt (etymologisch) eine direkte Beziehung von »ich weiß« und »ich habe gesehen«.130 Diese Beziehung kann man auch als Bedingungsverhältnis – »ich weiß [es], weil ich [es] gesehen habe« – verstehen, womit sich eine direkte Verbindung von den beiden grundlegenden Tätigkeiten »wissen« und »wahrnehmen« ergibt. Um den Charakter von »Wissen« – von dem Aristoteles sagt, alle Menschen strebten von Natur aus131 danach – noch etwas mehr zu verdeutlichen und zugleich die Komplexität dieses grundlegenden Begriffs zu reduzieren, seien kurz einige Komponenten und Aspekte aufgezählt, unter denen »Wissen« erscheint, und zwar unter anderem: –– als die zentrale Struktur (Voraussetzung, das Produkt oder Begleitphänomen) jeglicher Wissenschaft, 130 Zu dem Zusammenhang von Wissen, Wissenschaft, Weisheit und Autopsie (im Sinne von auto opsis) vgl. Stölzel, Th. (2012, S. 60). 131 Hervorhebung von mir, die auf den Umstand hinweist, wie erfolgreich die Beschulung als Praxis der Wissensunlust für nicht wenige Menschen gewirkt hat, die nach der Schule kein großes Interesse an der Erweiterung ihres Wissens mehr zeigen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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als wissenschaftlich geprüftes Wissen, als persönliches, durch Erfahrung erworbenes Wissen, als bedeutsame Ressource, als besondere »Ware«, als unmittelbar mit einem »Wissensbesitzer« verbunden, somit stets personengebunden, als Resultat eines Erkenntnisprozesses, als Instrument der Erkenntnis(-bildung), als Begründung und Erklärung, als »Macht« (Francis Bacon), etwas regelgeleitet bewirken zu können, als Grundlage des (professionellen) Handelns.
Betrachten wir das praktische, handlungsrelevante Wissen von Therapeuten, Beratern, Coaches oder Organisationsentwicklern, so können wir aus der Perspektive der Frage »Was wissen wir vom Wissen?« sagen: Es erscheint als theorieimprägniert und erwartungsgeleitet. Das bedeutet, es gibt stets ein Wissen vor dem (angewandten) Wissen, das wesentlich durch die Bedürfnisse des Wissensanwenders gesteuert wird. Dieses (fundamentierende) Voraussetzungswissen bleibt oft unbemerkt oder zumindest weniger im Fokus einer kritischen Aufmerksamkeit als das Anwendungswissen. Die Frage nach der Eigenart und Grundlage (unseres) Wissens ist nicht eine Frage, die erst die »Wissensgesellschaft« gestellt hat. Einen zentralen Referenztext bildet hier der platonische Dialog »Theätet« oder »Theaitetos« (Platon, 1946, 1981b, 1991). Er enthält ein prüfendes Gespräch (vgl. Viertes Methodenporträt), in dem der platonische Sokrates mit den Mathematikern Theodoros und Theätet/Theaitetos drei Positionen untersucht: –– Wissen als Wahrnehmung, –– Wissen als (richtige) Meinung, –– Wissen als (richtige) Meinung, die erklärt werden kann. Am Ende des Dialogs steht (wie so oft) die Aporie in Gestalt des Nichtwissens oder der Lethologie, in der selbstbezüglichen Erkenntnis, dass sich der Charakter des »Wissens« nicht trennscharf erfassen lässt, dass »das« Wissen mit unseren Wissenstechniken nicht zureichend bestimmt werden kann. Es gibt also keine (befriedigende) Definition, von der wir »sicher« ausgehen können. Folgt man den sorgfältigen Argumenten des platonischen Sokrates, dann steht der mit gehörigem Selbstbewusstsein © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
Was wissen wir vom Wissen?
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lancierte Begriff einer »Wissensgesellschaft«132 auf ziemlich wackeligen Füßen. Und noch mehr gilt dies für den daraus abgeleiteten und zwischenzeitlich bei der Organisationsberatung angekommenen und rege verwendeten Begriff »Wissensmanagement«.133 Die Wissensfrage ist eine, an der man nicht vorbeikommt (außer man möchte sich gar nicht weiterentwickeln oder wenigstens die eigene Kompetenz erhalten). Direkt damit verbunden sind Überlegungen der Art: Wie kann man für sich relevantes von irrelevantem Wissen, nützliche von schönen, aber weniger nützlichen Kenntnissen (über die man aber doch gerne verfügte) unterscheiden? Wie steht es mit dem Verhältnis von altem (bewährtem) zu neuem (noch nicht bewährten) Wissen? Es ist klar, dass Neues erfunden oder entwickelt wird – ist das Alte damit jedoch entwertet oder gar unwichtig geworden? Wie ließe sich dieses Verhältnis produktiv gestalten? Wie gut kennt man frühere Erkenntnisse oder Methoden, die angeblich von aktuellen überholt worden seien eigentlich? Erwin Chargaff überliefert hierzu eine Anekdote, die Kaiser Wilhelm I. als eine für ihn wichtige (Meta-)Erfahrung zum Besten gegeben habe: »Als er noch König von Preußen war, besuchte er einmal das Bonner Observatorium und fragte den Direktor jovial: ›Na. lieber Argelander, was gibt’s Neues am Sternenhimmel?‹ Die prompte Gegenfrage von Argelander war: ›Kennen Majestät das Alte schon?‹« (Chargaff, 2000, S. 259). Im Alltag sind wir alle gewissermaßen Ptolemäer. Für uns geht die Sonne allabendlich unter und erwacht (wie das bei Homer so schön heißt) »rosenfingrig«. Dass die Erde eine Kugel sein und sich um die Sonne drehen soll, hat man uns beigebracht; es ist kein Erfahrungswissen; es widerspricht unserer Erfahrung sogar, da uns unsere Anschauung etwas anderes zeigt. Bevor ich diese ins Thema einführenden Überlegungen beschließe, möchte ich Ihnen noch eine wichtige Unterscheidung vor Augen führen bzw. Sie daran erinnern. Die Unterscheidung von explizitem und 132 Der auf eine Übersetzung der knowledge society (Peter F. Drucker) zurückgeht und eine Gesellschaft charakterisiert, in der andauernd Wissen »produziert« wird. 133 Vgl. hierzu die differenzierte Begriffsanalyse, die Michael Niehaus unternommen hat (Niehaus, 2009, S. 224 ff.). Auf dieser Grundlage kann Niehaus schlüssig den bloßen Warencharakter, die »McDonaldisierung des Wissens« (S. 229) aufzeigen. Demzufolge könnte man nicht von einer Wissens-, sondern höchstens von einer »Meinungsgesellschaft« sprechen. Denn wie soll man etwas managen, dessen Status nicht wirklich geklärt ist? © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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implizitem Wissen. Ersteres erscheint leichter zugänglich als Letzteres. Auf den Umstand, »daß wir mehr wissen, als wir zu sagen wissen«, hat der Erkenntnistheoretiker Michael Polanyi hingewiesen (Polanyi, 1985, S. 14). Wendet man diese Prämisse auf Teams und Organisationen an, wo mehr Wissen »versammelt« ist als bei einem Einzelnen, dann kann dies auch zu der Einsicht führen, dass wichtiges Wissen nicht allein »von außen« zugeführt oder eingebracht zu werden braucht. Möchte man dieses implizite Wissen erschließen, dann ist es hilfreich herauszufinden, was die einzelnen Team- oder Organisationsmitglieder »ganz selbstverständlich« können (vgl. Stölzel, Th., 2012, S. 77 f., 87 f.). Also ginge es darum herauszufinden, wie man es beispielsweise fertigbringt, so selbstverständliche Dinge zu tun, wie gehen, schreiben, Fahrrad oder Auto fahren. Wissen Sie genau, wie Sie schreiben? Welche einzelnen (Mikro-)Bewegungen Sie in welcher Folge bzw. welchem Zusammenspiel ausführen, um ein flüssiges Schriftbild zu erzeugen? Oder wissen Sie das nicht so genau, obwohl Sie es schon tausend und mehr Mal getan haben? Die Beschäftigung mit dem persönlichen impliziten Wissen dient zudem als gute Vorbereitung auf eine Frage, die für die persönliche Orientierung und Motivation von Bedeutung ist.
Wie viel und welches Wissen brauche ich? Wäre ich zufrieden, wenn zum Beispiel die »Existenz« meiner Gottesvorstellung134 bewiesen werden könnte? Würde ein solcher Beweis meinen Glauben stärken? Oder ein gegenteiliger Beweis meinen Unglauben festigen? Für Martin Heidegger ist Denken »die Achtsamkeit auf das Wesenhafte. In ihr besteht das wesentliche Wissen« (Heidegger, 1982, S. 4). Welches für Sie »wesentliche Wissen« entsteht, wenn Sie sich achtsam den für Sie wichtigen Dingen Ihres Lebens und Arbeitens zuwenden? Ermitteln Sie auf diesem Wege Ihre persönlichen Wissensbedürfnisse. Finden Sie heraus, wie Ihre persönlichen Wissensbedürfnisse genau aussehen, was dieses »wesentliche Wissen« beinhaltet und wie es beschaffen ist.
134 Vgl. hierzu den Essay »In Gegenwart des abwesenden Gottes« von Georges-Arthur Goldschmidt (2003). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
Sicher, zu sicher, unsicher
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Unabhängig davon, zu welcher (Wissens-)Haltung Sie, das Team oder die Organisation, in der oder für die Sie arbeiten, gekommen sind, welchen Status Sie »dem« (menschlichen)135 Wissen geben, es lohnt sich, einer Bemerkung Wittgensteins genauer nachzuspüren und herauszufinden, was sein Vorschlag für Sie bedeuten, was er Ihnen erschließen könnte: »Immerhin ist es wichtig, sich eine Sprache vorzustellen, in der es unseren Begriff ›wissen‹ nicht gibt« (Wittgenstein, 1970, S. 145).
Sicher, zu sicher, unsicher Zweifle an allem wenigstes einmal, und wäre es auch der Satz zweimal 2 ist 4. Georg Christoph Lichtenberg Eine besondere »Lockspeise« scheint wohl für viele Menschen die Aussicht auf »sicheres« Wissen darzustellen. Dadurch werden diejenigen, die es zu besitzen scheinen und zu vermitteln versprechen, für diejenigen, die es suchen, zu wichtigen Bezugspersonen. Das gibt Orientierung und erzeugt Gefolgschaft. Man muss nicht misanthropisch gestimmt sein, um diese anthropologische Tendenz als bedenklich stark entwickelt und geradezu unerschütterlich wahrzunehmen. Dies gilt auch für unsere »aufgeklärten« Zeiten. Sicheres Wissen scheint aber (vor allem bei häufigem und längerem Gebrauch) eigentümlich stumpf und auf eine andere Art gefährlich zu werden, als wenn einem – entwicklungsbedingt – sozusagen die epistemologische Unschuld genommen wird. So kann oder konnte es sich als lebensgefährlich darstellen, wenn man den Mut aufbringt oder aufbrachte (vgl. Stölzel, Th., 2012, S. 217 ff.), die strukturschaffende Sicherheit einer etablierten Meinung in Frage zu stellen oder über sie hinauszugehen. Die andere Seite, die Seite der »Besitzer« sicheren Wissens, die sich durch solche Grenzüberschreitungen herausgefordert fühlt und fühlte,
135 Zu der methodologischen Frage nach dem Wissen der Tiere und Pflanzen vgl. Popper (1995). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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hat ein Philosophiehistoriker wie Kurt Flasch136 in einem bekannten Beispiel so pointiert: »Der Papst schreibt, Eckhart habe mehr wissen wollen, als sich gehört« (Flasch, 2010b, S. 152). Mag auch ein (normaler) Mitteleuropäer nicht mehr existenziell bedroht sein, wenn er herauszufinden versucht, wie es um die Güte und Festigkeit des eigenen wie des anerkannten Wissens steht, so stellt sich ihm doch weiterhin die Frage, von was er ausgeht bzw. ausgehen kann – eine Frage, um die es in der nächsten Übung geht.
Welchen Status gebe ich meinem Wissen? Er brauchte seine Ansichten nicht zu ändern – die Ansichten änderten ihn. Wiesław Brudzinski Eine Möglichkeit, dieser Frage nachzugehen, eröffnet der nachfolgende »Dreiklang« sicher – zu sicher – unsicher. Er kann als eine Folge von Prüfsonden verwendet werden. Meditieren Sie mit Hilfe der Fragemodule den Status, den Sie nicht allein Ihrem professionellen Wissen geben. 1. Sicher: Welche Form hat sicheres Wissen für mich? Wie wird sicheres Wissen ausgedrückt – in welcher Form erscheint es (mir)? Welche Bedeutung hat sicheres Wissen für mich, und wie kann sich diese verändern? Welche Empfindungen bemerke ich an mir, wenn ich zum Bespiel von »sicheren Fakten« spreche oder höre? Wie nutze ich mein sicheres Wissen, um Komplexität zu reduzieren? Wenn ich an »sicher«, »Sicherheit geben« usw. denke, welche Erlebnisse kommen mir dann in den Sinn? Welche Sicherheit »gibt« mir meine Berufsqualifikation? Wie viel und welche Sicherheit brauche ich – wenigstens? 2. Zu sicher: Was macht mich – besonders – sicher? Wie entstehen Überzeugungen in mir und unter welchen Umständen »verfestigen« sich 136 Kurt Flasch gehört hierzulande zu den Professoren, die eine zugleich gut lesbare und kunstvolle Diktion betreiben. Das macht auch seine wissenschaftlichen Texte für akademische Verhältnisse sehr zugänglich. Zudem ist Flasch einer der besten Kenner mittelalterlichen Denkens sowie der Auswirkungen auf heutige Erkenntnisstile. In seiner jüngsten Studie »Warum ich kein Christ bin« (Flasch, 2013) untersucht er klarsichtig und auf persönliche Weise ein Dogma, das die westliche nachantike Welt nachhaltig geprägt hat und damit auch die Konzeptionen der aus ihr hervorgegangenen Therapie- und Beratungsmethoden. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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diese zu sicherem Wissen? Was ist eine Gewissheit für mich – und wie viele »habe« ich davon? Was geschieht, wenn ich mich zu sicher fühle? Erachte ich Gewissheit(en) für ein geeignetes Navigationsinstrument? Wenn ich an Erfahrungen denke, in denen ich mich – zu – sicher gefühlt habe, an welche denke ich dann? Auf welche Gewissheiten möchte ich nicht verzichten – welche Sicherheit ist gewissermaßen identitätsbildend für mich? 3. Unsicher: Was geschieht, wenn keiner sich auskennt? Wie stehe ich zu Wittgensteins Prämisse »Ein philosophisches Problem hat die Form: ich kenne mich nicht aus« (Wittgenstein 1971, S. 69)? Wie würde ich den Zusammenhang von Unsichersein bzw. Unsicher-geworden-Sein und Offenheit, Flexibilität, Lernvermögen beschreiben? Wie viel und welche Unsicherheit wirkt stärkend, weil entdogmatisierend auf mich? Wie hängen reflektierte Unsicherheit und Hypothesenbildung für mich zusammen? Wenn ich mich an unsichere Momente (auch als Folge von zu sicheren Annahmen) erinnere, was fällt mir dann ein? Welche Wirkung hat der Sokrates zugeschriebene Satz: »Ich weiß, dass ich nichts weiß«, auf mich und welche Sicherheit steckt in dieser souverän verlautbarten Unsicherheit?
Fünfter Leitbegriff: Sicherheit Das Wort »sicher« fungiert als sprachliches Zeichen für die Beschreibung von etwas, das als zuverlässig, verbürgt, geschützt, geborgen, bestimmt, gewiss, eben sicher erscheint oder angesehen wird. Worte dienen nicht allein als sprachliche Zeichen, sondern sind uns seit unserer Kindheit bekannt und vertraut. Sie sind sehr eng und auf vielfältige Weise direkt mit unseren Erfahrungen verbunden, geradezu leiblich präsent, da sie das Erfahrene bezeichnen und beschreibbar machen. Mitunter kommt ihnen sogar ein Stellvertreterstatus zu. Ohne diese Verbundenheit wären hypnotische Induktionen oder Beeinflussungsversuche seitens Propaganda und Werbung so gar nicht möglich. Das Nomen »Sicherheit« überträgt die Zuschreibungen an etwas Gegenständliches, an etwas, das jemandem Sicherheit »gibt«. Das hat unmittelbare Auswirkungen auf die persönlichen Handlungskonzepte. Darauf gründet die (oft nicht mehr untersuchte) Überzeugung: Sicheres Wissen bilde die Grundlage für richtige Entscheidungen. Darauf gründen sich auch die Verheißungen religiöser, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
218 Fünftes Methodenporträt politischer oder wissenschaftlicher Ideologen und darauf berufen sich die Objektivitätsgläubigen. Diese Orientierung an (greifbarer) Sicherheit kann die Innovationsbereitschaft lähmen und den Wert des Experimentellen unterschätzen oder gar bekämpfen. Gerade für Menschen, die unfreiwillig entscheidende und nachwirkende existenzielle Erschütterungen erfahren haben, kann das Suggestionsangebot überschaubarer, stabiler Verhältnisse so groß werden, dass Einförmigkeit die Folge ist. Ein Beispiel hierfür (auf politischer Ebene) ist die hierzulande bislang erfolgreichste Wahlkampfkampagne, die Konrad Adenauer 1957 unter den Slogan: »Keine Experimente!«, stellte. Das vermeintlich Sichere und Richtige erzeugt ein Vertrauen, das sich als »ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität« (Luhmann, 2000) bewährt. Einer solchen Lebenshaltung gegenüber nimmt sich eine These wie »2 x 2 = Grün« (Foerster, 1999), die von einem naturwissenschaftlich geschulten und in der Welt der Zahlen stark beheimateten Denker stammt, wie ein erkenntnistheoretischer Anarchismus aus, der stabile Ordnungsfundamente nachhaltig irritiert und verunsichert.
Wenn man an einem konstruktiven Umgang mit den eigenen Wissenssicherheiten interessiert ist, dann lohnt es sich, das persönliche Skepsisprofil zu entwickeln (vgl. Stölzel, Th., 2012, S. 265 ff.). Die Entfaltung der philosophischen Kompetenz der Skepsis kann sehr gut dafür genutzt werden, für sich oder das Team bzw. die Organisation, in der oder für die man arbeitet, das passende Maß an Infragestellung zu finden und damit ein Zuviel oder Zuwenig an Zweifel zu verhindern. Denn: »Daß es mir – oder Allen – so scheint, daraus folgt nicht, daß es so ist. Wohl aber läßt sich fragen, ob man dies sinnvoll bezweifeln kann« (Wittgenstein, 1970, S. 9). Der sinnvolle Zweifel und die produktive Skepsis differenzieren dasjenige, wovon ich sicher ausgehen zu können glaube, in verschiedene Wissenstypen137 von unterschiedlicher Tragfähigkeit. Das schärft zudem den Blick für das Wissen, das von »der« Wissenschaft 137 Heideggers Unterscheidung von »zuhandenem« und »vorhandenem« Wissen, die er bei der Analyse des »Zeugs« und »dessen, was Zeug zu Zeug macht, der Zeughaftigkeit«, anstellt (Heidegger, 2006a, S. 68 ff.), nimmt spätere Differenzierungen Gilbert Ryles in Definitionswissen (knowing that) und Handlungswissen (knowing how) vorweg. Am Beispiel des Hammers (den Watzlawick zum systemischen Sub© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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hervorgebracht wird. Wissenschaftlichem Wissen138 wird heutzutage ein ähnlicher Status eingeräumt wie im sogenannten Mittelalter kirchlich dekretierten Wahrheiten (vgl. Stölzel, Th., 2012, S. 53 ff.). Es dient vielen Menschen als Gewissheitsspender und verträgt als regelgeleitetes Vorgehen nicht zu viele Ausnahmen.139 Betrachtet man »die« Wissenschaft zum Beispiel in Gestalt von (menschlichen) Wissenschaftlern etwas genauer, dann begegnen einem zwei Wissenstypen, der Wissenschaftler und der Wissensverwalter (siehe Tabelle 4). Tabelle 4: Gegenüberstellung von Wissenschaftler und Wissensverwalter
Wissenschaftler
Wissensverwalter
»schafft« ganz dem Begriff folgend (neues) Wissen
beginnt (etwas später) dieses (neu geschaffene) Wissen aufzubereiten und zu ordnen
ist vor allem an Fragen orientiert
ist vor allem auf Antworten ausgerichtet
beschäftigt sich mehr mit Ausnahmen
beschäftigt sich mehr mit Regeln
wirkt eher belebend
wirkt eher beruhigend
vornehmlich an Entdeckungen und Weiterentwicklungen interessiert
vornehmlich an Vermittlungen und »Sicherstellungen« interessiert
bereit, sich verunsichern zu lassen und Unsicherheiten als heuristische Impulse zu nehmen
mehr auf Sicherheit und ihre sorgfältige Begründung ausgerichtet, den Wert von Sicherheit schätzend
jekt seiner bekannten Geschichte mit dem Hammer gemacht hat, siehe Watzlawick, 1983) und in der Tätigkeit des Hämmerns, erschließt Heidegger die Unterschiede dieser beiden Wissensformen. 138 Ich möchte an dieser Stelle auf die lesenswerten Werke Ludwik Flecks und seine Beobachtungen zum Denkstil und Denkkollektiv hinweisen, an denen niemand vorbeigehen sollte, der an einem kritisch-realistischen Verhältnis zu »der« Wissenschaft interessiert ist (vgl. Fleck, 1980, 1983, 2011; Stölzel, Th., 2012, S. 54). Heinrich Blücher sieht Philosophie als »dritten Denkweg« an, der »sich jeglicher metaphysischen Voraussetzung, sei sie in der Maske der Wissenschaft, der Religion oder der Ideologie, kritisch entgegensetzt« (Blücher, 1996, S. 571). 139 Die Tetralemmaarbeit, die Matthias Varga von Kibéd und Insa Sparrer (2002) entwickelt haben, erschließt die Potenziale des Quer- und Ausnahmedenkens auf geradezu methodische Weise und bildet als Haltung ein wichtiges Korrektiv zu konventionellen Vorgehensweisen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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Um es mal etwas flapsig-amerikanisch zu sagen: Beide können einen »guten Job« machen. Überdies sind beide für unsere sogenannte Wissensgesellschaft wichtig. Der eine Typus hat heuristische, der andere didaktische Qualitäten. Doch sollte man sie nicht verwechseln oder für ein- und dasselbe halten, auch wenn sie bisweilen in ein- und demselben vorkommen mögen (wenngleich selten in ausgewogener Tendenz). Zudem dürfte der Wissensverwalter als »Spezies« deutlich zahlreicher sein als der (echte) Wissenschaftler. Wie auch in ähnlicher Weise (meiner Beobachtung nach) mehr Menschen auf Antworten und Regeln als auf Fragen und Ausnahmen ausgerichtet sind.140 Man kann das verstehen. Letztere verunsichern und bringen möglicherweise alles durcheinander, während erstere Sicherheit und Verlässlichkeit zu versprechen scheinen. Beide haben zu tun, was immer sie auch machen. Der an den Möglichkeiten angewandter Weisheit interessierte Herr K. Bertolt Brechts (vgl. Stölzel, Th., 2012, S. 61 f.) bringt das für sich (und wohl nicht nur für sich) auf die Beobachtung: »Mühsal der Besten ›Woran arbeiten Sie?‹, wurde Herr K. gefragt. Herr K. antwortete: ›Ich habe viel Mühe, ich bereite meinen nächsten Irrtum vor‹« (Brecht, 1953, S. 116).
Lethologie Ich weiß, daß ich nichts weiß – und kaum das. Karl Popper Das Wort »Lethologie« ist eine Schöpfung Heinz von Foersters. Den Anlass dazu wie die damit verbundene Intention hat sein Schöpfer so beschrieben: »Ich möchte eine Lehre des Nichtwissens; jedoch nicht in 140 Valéry zum Beispiel ist erkennbar dem Wissenschaftler-Typus zuzurechnen. In seinen »Cahiers« finden sich viele Äußerungen zu seinem Selbstverständnis, zum Beispiel die Feststellung: »Täglich neue Fragen« (Stölzel, Th., 2011, S. 322). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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negativer Form. […] Wir haben ja Ausdrücke für die Abwesenheit von Sinnen. Also zum Beispiel einen Menschen, der nicht sieht, nenne ich nicht einen Nichtsehenden, sondern den Blinden. Einen Menschen, der nicht hört, nenne ich nicht einen Nichthörenden, sondern den Tauben. Jetzt wollte ich etwas Ähnliches für jemanden finden, der nicht weiß; und da ist mir die Situation mit der Lethe141 eingefallen; dass, wenn man die Lethe überschreitet, man eben nichts mehr weiß. Daher habe ich gesagt: Ich möchte die Lehre des Nichtwissens Lethologie nennen, weil das eine Lehre ist, die das Negative positiv betrachtet« (Foerster u. Bröcker, 2002, S. 306). Wer intensiveren Umgang mit Kindern hat, kann die Wirkung des Wortes »nicht« deutlich erfahren. Kinder sind von sich aus (also gewissermaßen der Natur nach) Positivisten, allerdings nicht in einem wertenden, sondern im lateinischen Wortsinne, also orientiert an dem, was da, was vorhanden142 ist. Paläolinguistischen Untersuchungen zufolge, ist die Beziehung zu einem Ja (als etwas Anwesendem) tiefer im Menschen angelegt als zu einem Nein (als etwas Nichtanwesendem).143 Gibt man einem Kind etwa die Anweisung: »Vergiss nicht, das zu erledigen!«, so erhöht man die Wahrscheinlichkeit deutlich, dass der Auftrag nicht ausgeführt wird, da das Kind das »nicht« aus der Botschaft herausfallen lässt und damit einen anderen Auftrag hört. Denn es bedeutet eine größere Bewusstseinsleistung, sich ein Nicht vorzustellen als ein Nichttun nicht auszuführen. Die späteren »Spiele der Erwachsenen« mit mehrfachen Verneinungen können ebenso anregend sein, wie der Gebrauch von Negatio141 Unterweltlicher Fluss in der griechischen Mythologie: Eine Seele, die aus dem Wasser der Lethe trank, verlor die Erinnerung an das irdische Leben und damit an all das, was sie je gewusst hat. 142 Vgl. hierzu den Ansatz der in diesem Sinne »Positiven Psychotherapie« Nossrat Peseschkians (z. B. in Peseschkian, 1979). 143 Robert Musil hat mit Hilfe seiner Romanfigur Törleß aufgezeigt, welche Schwierigkeiten auch Jugendliche noch haben, wenn sie es mit den im Mathematikunterricht vermittelten »negativen« oder »imaginären« Zahlen zu tun bekommen und deren Status ernst nehmen: da man ihnen gesagt habe, der Unterricht sei »eine Vorbereitung für das Leben« und: »Jede Zahl, ob sie nun positiv ist oder negativ, gibt zum Quadrat erhoben, etwas Positives.« Noch schwerer die Vorstellung der »imaginären Faktoren«, dass nämlich »ganz solide Zahlen, die Meter oder Gewichte oder etwas Greifbares darstellen« am »Ende der Rechnung« als »ebensolche« dastehen, obwohl sie »durch etwas zusammen[hängen], das es gar nicht gibt« (Musil, 1981b, S. 73 f.). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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nen in der Umgangssprache oder in der therapeutisch-beraterischen Kommunikation aufschlussreich ist; auch wenn es nicht ums Wissen oder Nichtwissen geht. Möchte man Abstand zu einem anderen oder zu einem Thema finden, leistet die Negation wirksame sprachlich-atmosphärische Schützenhilfe. Ein anderer oder dessen Aktionen werden »gar nicht so schlecht« gefunden, vom Wetter wird gesagt, »es regnet nicht«, man hat mit jemandem »keine Probleme« und »nichts dagegen« usw. Man sorgt auf diese Weise für Distanz. Während einer Mitarbeit im klinischen Kontext habe ich vor vielen Jahren die aufschlussreiche Erfahrung machen dürfen, wie schwer es vielen fällt (selbst für einen verabredeten Zeitpunkt), ausschließlich »positiv« zu kommunizieren. Mit den Patienten wurde vereinbart (auch als Folge vieler Konflikte untereinander), ein Verhaltensexperiment durchzuführen: Eine Woche lang sollte wertschätzend miteinander umgegangen werden. Das bedeutete, man sollte den anderen anblicken, wenn man mit ihm sprach (am besten freundlich); etwas an ihm finden (entdecken), auf das man wertschätzend hinweisen konnte und versuchen, alle Verneinungen möglichst zu vermeiden. Das Verhaltensexperiment erzeugte einen spürbaren, länger nachwirkenden »Klimawandel« und vergrößerte die zwischenmenschliche Empathie und Intimität, wenngleich es vor allem anfangs vielen erhebliche Schwierigkeiten bereitete, auf Negationen zu verzichten.
Die Wirkung von Nicht Beobachten Sie eine Zeit lang Ihr eigenes (professionelles) Sprachverhalten (als wären Sie ein wenig ein psycholinguistischer Erforscher Ihrer selbst). Achten Sie darauf, wie Sie mit Negationen umgehen, was diese –– eröffnen oder ermöglichen, –– behindern oder erschweren, –– welche Stimmungen sie erzeugen oder Atmosphären sie schaffen, –– was es genau bedeutet und wie es sich anfühlt, etwas nicht zu tun, nicht zu denken, nicht zu glauben etc.
Die bekannte, formelhafte Selbstaussage: »Ich weiß, dass ich nichts weiß«, die dem platonischen Sokrates zugeschrieben wird (vgl. Viertes Methodenporträt), bedeutet, dass wir in dieser Form des Nichtwissens © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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nicht nichts wissen,144 sondern sehr wohl wissen145 und unmittelbar erfahren können, was geschieht, wenn uns – zum Beispiel als Therapeuten, Berater, Coach oder Organisationsentwickler – diese sichere Unsicherheit über unser Wissen nicht bewusst wird. Für die Erkenntnis, dass menschliches Wissen unsicher, vorläufig und bloß hypothetisch ist, hat der stark von Sokrates inspirierte Methodologe Karl Popper den anschaulichen Begriff Vermutungswissen geprägt. Allem Wissen komme, so Popper, allein der Status von Vermutungswissen zu. Und die größte Wissenssicherheit, die wir erreichen könnten, sei das persönlich erfahrene Wissen von dem hypothetischen Charakter all unseres Wissens. Was uns neben unserer Sterblichkeit verbindet, ist unser Nichtwissen, unsere lethologische Disposition. Es ist neben unserer Sterblichkeit wirklich das unterschiedslos Verbindende zwischen Menschen. Hierin sind sich alle gleich, und sogar gleicher als in jedem (real existierenden) Kommunismus oder sonstigen Egalitätsversprechen. Denn was der Einzelne im Einzelnen auch zu wissen oder zu können glaubt, auf was er sich im besonderen versteht (oder glaubt zu verstehen), im fundamentalen Nichtwissen lösen sich diese Fähigkeiten und Unterschiede auf. Das war wohl zu keiner Zeit eine populäre Ansicht. Mit ihr ließ(e) sich kein (selbstüberzeugter) Staat machen. Es kostete manch lethologischen Naturen146 wie Sokrates das Leben (vgl. Stölzel, Th., 2012, S. 44 ff.). Dieses Maß an Relativierung ist selbst vielen »aufgeklärten« Geistern zu viel. Auch sie legen Wert darauf, ihre tiefverwurzelten Überzeugungen nicht allzu sehr zu überprüfen. Dabei könnte sich dies durchaus lohnen, wie die nachfolgende Übung zeigt.
144 In seiner Untersuchung »Professionelles Nicht-Wissen« macht Matthias Nörenberg in anregender Weise deutlich, welche »Reflexionskompetenz« gerade sokratischlethologische »Einredungen« in der Sozialen Arbeit eröffnen können. Vgl. hierzu auch Andersons und Goolishians (1992) therapeutischen Ansatz des Nichtwissens und des Klienten als Experten. 145 Für Heinrich Blücher, den Ehemann Hannah Arendts, hat dieses Wissen geradezu definitorischen Charakter: »Philosophie bedeutet nichts weiter als die Bereitschaft des Menschen, dessen gewärtig zu sein, was er nicht weiß« (Blücher, 1996, S. 571). 146 Als eine solche darf man den Biochemiker und Epistemologen Erwin Chargaff wohl bezeichnen. Chargaff spitzt das Thema für sich so zu: »Es gibt kein Recht auf Wissen, aber es gibt ein Recht auf Nichtwissen« (Chargaff, 2002, S. 18). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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Verwelkte Überzeugungen Sammeln Sie lethologische Erfahrungen aus Ihrem Leben. Erinnern Sie sich an früheres – ganz sicher scheinendes – Wissen, das Sie jetzt anders, das heißt nicht mehr als so (tod-)sicher ansehen, das für Sie den Charakter von sozusagen »verwelkten Überzeugungen« angenommen hat. Untersuchen Sie den Erklärungsgewinn, den diese zwischenzeitlich »verwelkten Überzeugungen« einmal für Sie besaßen. Finden Sie heraus, was Sie an Ihrer jetzigen Unsicherheit sicher macht. Beobachten Sie »wissende«, das heißt von ihrem Wissen überzeugte Menschen sowie deren »felsenfeste« Überzeugungen.
In einer so wissensgläubigen, wissensbetonten, wissensfixierten Welt wie der unsrigen ist das Eingeständnis des eigenen Nichtwissens für viele Menschen nicht einfach und doch kann es auch eine Voraussetzung für höchste Ehren sein. In ihrer Nobelpreisrede gibt die Lyrikerin Wisława Szymborska zu bedenken: »[…] alles Wissen, aus dem nicht neue Fragen aufkeimen, ist schnell ein totes Wissen, verliert die Temperatur, die das Leben braucht. Im Extremfall, den wir aus der alten und neuen Geschichte […] kennen, wird es sogar für ganze Gesellschaften zur tödlichen Gefahr. Deshalb sind für mich die drei kleinen Wörter ›Ich weiß nicht‹ so vertraut und kostbar. Zwar klein, aber mit starken Flügeln. Sie machen unser Leben weiter und weiter. […] Hätte Isaac Newton nicht gesagt: ›ich weiß nicht‹, dann hätte es in seinem kleinen Garten zwar Äpfel hageln können, aber er hätte sich bestenfalls nach ihnen gebückt und sie mit Appetit verspeist. Wenn Maria Skłodowska-Curie, meine Landsfrau, nicht zu sich gesagt hätte: ›Ich weiß nicht‹, dann wäre sie sicher Chemielehrerin in einem Pensionat für junge Damen aus gutem Hause geblieben, und bei dieser – ebenfalls ehrenwerten – Arbeit wäre ihr Leben verflossen. Aber sie sprach sich immer wieder vor ›Ich weiß nicht‹, und genau diese Worte führten sie, sogar zweimal, nach Stockholm« (Szymborska, 1997, S. 11).
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Experte für sich selbst werden Nie haben die Menschen weniger von sich gewußt als in diesem »Zeitalter der Psychologie«. Sie können nicht stillhalten. Sie fahren ihren eigenen Verwandlungen davon. […] Sie sind lieber alles andere, als was sie sein könnten. Im Auto fahren sie durch die Landschaften ihrer eigenen Seele, und da sie nur bei den Benzin-Stationen halten, glauben sie, daß sie daraus bestehen. Elias Canetti Das Wort »Experte« übt auf viele Menschen eine beruhigende, orientierungsstiftende Wirkung aus. Da tritt jemand auf oder wird ins Spiel gebracht, der etwas von der Sache zu verstehen scheint. Ein Experte, ein Fachmann. Unklares verschwindet, Behauptungen werden überprüft. Verlässliches Wissen tritt an ihre Stelle – etwas, auf das ich mich verlassen kann, oder? Sehen wir uns das Wort und seine Begriffsverwandten etwas genauer an: Erst ab dem 18. Jahrhundert ist das althochdeutsche vach nach dem Gebrauch für Gebäudebeschreibungen (»Fachwerk«) zur Bezeichnung eines bestimmten Wissensgebiets geworden. Später kommt dann der Mann vom Fach, der Fachmann oder homme de métier hinzu. Friedrich Schiller bringt den »Sachverständigen« ins allgemeine Sprachspiel. Im 19. Jahrhundert treten dann der »Spezialist«, die »Autorität«, die »Kapazität«, die »Koryphäe« oder eben der »Experte« in Erscheinung. Dieser leitet sich vom Lateinischen expertus (erprobt, erfahren, verständig) ab; er versteht es, Experimente durchzuführen und/oder Expertisen zu erstellen. Er wird häufig synonym mit dem »Fachmann« verwendet, klingt jedoch etwas edler, bedeutender. Er tritt nicht selten als »Gutachter« auf oder wird als solcher herangezogen. Hier kann er bis ins Juristische hinein wirksam werden. Sein Wort hat Gewicht. Vorausgesetzt, er wird von anderen (für) gut erachtet. Dann kann er nach begründetem Gutdünken,147 dessen Kennzeichen es ist, in einer Fachsprache (Expertendeutsch) abgefasst zu sein, seine Kenntnisse zur 147 In dieser Position wird er (in der Regel) genauso wenig überprüft wie ein Prüfer, so dass es keine Experten für Experten gibt. Hier wäre eine Untersuchung mit sys© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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Verfügung stellen, bis durch ein Gegengutachten ein »Fachsimpeln« im engeren Kreis, eben unter Experten einsetzt. Ein Fachmann oder Experte wird als jemand beschrieben oder angesehen, der von einer – bestimmten – Sache viel weiß oder versteht, zumindest erkennbar mehr als andere. Bei seinem Gegentyp, dem Generalisten, geht man nicht von solcher Tiefe oder Gründlichkeit aus, traut ihm jedoch mehr Überblick und Umsicht zu. Die Enge seines Gesichtskreises kann einen Fachmann in einen Fachidioten148 verwandeln, sorgt dieser nicht selbst für einen Ausgleich. Dabei kann ihm die Frische und Offenheit eines Laien,149 eines Amateurs oder Dilettanten helfen. Dabei sind die beiden letzteren Begriffe aus dem Französischen und Italienischen entlehnt worden und bezeichnen in ihren Ausgangssprachen jemanden, der etwas liebt bzw. den etwas entzückt. Je mehr der Experte an Prestige150 gewann und damit an Einfluss zunahm, desto mehr wurden die Gegenbegriffe bzw. -typen abgewertet, als ob die Begeisterung für eine Sache unwichtig wäre. Wenn ich hier das Wort »Experte« und sein begriffliches Umfeld ein wenig unter die Lupe genommen habe, so um deutlich zu machen, dass es kein unproblematisches Wort ist, das ich hier mit einer anderen Vorstellung in Verbindung bringe und geradezu in einen Appell verwandle: Experte für sich selbst zu werden. Das Vorhaben klingt egozentrischer, als es ist. Durch die Ausrichtung auf »jenes kleine Gebiet, das du selbst bist« (Marc Aurel, 2008, S. 55), kann man sich nicht nur selbst besser kennen- und verstehen lernen und eine tiefere Verträglichkeit mit sich selbst erreichen, sondern dies auch für den Umgang temischen Perspektiven aufschlussreich, um beispielsweise herauszufinden, wie der Expertenstatus eines Experten zustande gekommen ist und wie er sich erhält bzw. erhalten wird. 148 Erwin Chargaff schlägt im Dienste der Bewusstseinsbildung eine Übersetzung in »professional idiot« vor, was den Sinn aufschlussreich verschiebt und rückübersetzt den »Berufsidioten« ergäbe (Chargaff, 1982, S. 28). 149 »Und wer wäre in unserer hochspezialisierten Welt nicht zu neunundneunzig Prozent Laie?«, fragt Erwin Chargaff (2000, S. 244). 150 Vgl. hierzu die genaue Analyse der »Experten als Funktionäre der Verwirklichung«, die Uwe Pörksen unternommen hat. Für ihn gehört »Experte« zu den »Plastikwörtern« (Pörksen, 1988, S. 85 ff.), außerdem die wissenschaftstheoretischen Beobachtungen Paul Feyerabends über »Die Rolle der Fachleute in einer freien Gesellschaft« (Feyerabend, 1985), die den Blick dafür schärfen können, wo und wie sich eine Demokratie in eine Expertokratie verwandeln kann. Wer wollte denn einem Experten begründet widersprechen – er weiß es doch einfach besser, nicht wahr?! © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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mit den anderen. Möchte man dies versuchen, so ist man zunächst gut beraten, den Expertenbegriff genauer zu betrachten.
Die Bedeutung von Experten (für mein Leben) Nutzen Sie folgende Fragen, um die Bedeutung dieser (Bescheid-)Wissenden für Ihr berufliches wie privates Leben zu untersuchen und möglicherweise zu klären: –– Welche Erfahrungen habe ich bislang mit Experten gemacht? –– Wie fühle ich mich im Umgang mit ihnen oder ihren Texten, Einschätzungen, Kundgaben? –– Werde ich im Umgang mit ihnen eher »jünger« oder bleibe ich auf existenzieller Augenhöhe? –– Was erwarte, möchte ich von Experten, was traue ich ihnen zu – was nicht? –– Halte ich mich selbst für einen Experten (und/oder werde ich von anderen für einen gehalten)? –– Was macht diese »Wissensrolle« mit mir?
Experten in ihrem Selbstverständnis, Gebaren, in ihrer Wirkung genauer zu beobachten, ist aufschlussreich, nicht zuletzt für einen reflektierten Umgang mit eigenen Wissensansprüchen, für die ich in diesem Methodenporträt werben, zu dem ich anleiten möchte. »Da staunt der Laie und der Fachmann wundert sich.« Das Sprichwort pointiert und nuanciert ein bestimmtes Wissensverhalten. Es deutet an, dass auch Fachleute sich (noch) wundern können, wobei es auch solche gibt, die das nicht mehr tun. Der staunende Experte – das ist für manches Selbstverständnis wie für einen bestimmten anweisungsempfänglichen Laien ein Widerspruch in sich. Bei Lichte besehen, kann man (grundsätzlich) zweierlei Fachleute unterscheiden: –– diejenigen, die sich – bei all ihrem Fachwissen – einen direkten Zugang zum Staunen und damit zur Offenheit und Selbstrelativierung erhalten haben, ja diesen eher noch vergrößern; –– diejenigen, die sicher davon ausgehen, dass gerade ihr umfassendes und gründliches Wissen sie in die Lage versetze, auf etwas so laienhaftes, weil uninformiertes wie das Staunen verzichten zu können.
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Zwischen diesen (gegensätzlichen) Typen gibt es natürlich Mischformen, wobei sich gewisse Tendenzen erkennen lassen. Wenn ich davon ausgehe, dass jeder Mensch (mehr oder weniger) Fachmann für sich und damit auch für sein Leben werden könnte, weil er über ein einzigartiges und unersetzliches Wissen über sich verfügt, dann könnte er damit auch sein Verhältnis zu den diplomierten Fachleuten ändern. Und zwar zu seinem Nutzen. Ich will das an einem Beispiel zu verdeutlichen versuchen: Angenommen, jemand konsultiert wegen einer leiblichen Beschwerde einen Fachmann, einen Arzt. Da er Schmerzen im Knie hat, sucht er einen Orthopäden auf. Gerät er an einen pathologieorientierten Schulmediziner (mit maschinenontologischer Ausrichtung), so wird sich das ärztliche Gespräch im heuristischen Miteinander als gewünschte oder gewohnte One-up-Kommunikation vollziehen. Der (Fach-)Arzt weiß Bescheid, gibt Bescheid, »verbietet« (einem Erwachsenen immerhin) bestimmte Dinge, »erlaubt« andere – und der Patient folgt (mehr oder weniger). Es ist eine infantilisierende Kommunikation (vgl. Drittes Methodenporträt), in der verschiedene Perspektiven einer reflektierten Epistemologie ausgespart werden – womöglich die für den Patienten relevanten. Betrachtet man solch ein »Wissensgespräch« mit den Perspektiven einer reflektierten Epistemologie, dann könnte sich der Austausch anders gestalten, und zwar mit »Wissensgewinnen« für beide Beteiligten. Schematisch gesprochen lässt sich dieser Gewinn in einer strukturierten Verbindung folgender verschiedener Wissens- bzw. Erfahrungszugänge ausmachen: 1. dem persönlichen Erfahrungswissen des Patienten über sein Knie, seinen bewussten und unbewussten Umgang mit diesem Körperteil sowie mit dessen Bedeutung, die es in seinem leiblichen Ensemble einnimmt; etwas, das der Arzt so nicht wissen und nicht erfahren kann; 2. dem persönlichen Erfahrungswissen des Arztes über sein eigenes Knie (das gerade keine Beschwerden bereitet) und über das Knie des Patienten, weil beide charakteristische Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufweisen; 3. dem fachlichen Erfahrungswissen des Arztes, der mehr von Knien weiß als der Patient und dadurch über eine umfassendere Perspektive verfügt; 4. dem gemeinsamen Bewusstwerden ihrer unterschiedlichen Wissenszugänge und der Erkenntnis, dass keine Sicht die andere voll© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
Experte für sich selbst werden
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ständig ersetzen kann, dass beide Dazulernende mit anders gelagerten Wissensgrenzen sind, dass sich hier unterschiedliche Experten begegnen, die füreinander (potenziell) aufschlussreiche Expertisen abgeben. Ein Gespräch, das nur andeutungsweise so verläuft bzw. organisiert wird, ist für die Beteiligten aufschlussreicher als jegliche One-up-Kommunikation. Was ich hier für das ärztliche Gespräch skizziert habe, lässt sich auch auf andere Kontexte übertragen. Es kann die heuristische Qualität deutlich verbessern und im Prozess des Miteinander-Herausfindens die existenzielle Ebenbürtigkeit der Beteiligten erhalten, ohne die jeweiligen Erfahrungsunterschiede zu nivellieren. Dafür ist es nötig, alle Wissenszugänge gleichermaßen mit einzubeziehen und vor allem dem unter dem vierten Wissens- und Erfahrungszugang Gesagten mehr Beachtung zu schenken, als dies aus einer vermeintlich nötigen Abkürzungspragmatik heraus geschieht. Damit diese Form des Austausches zu einer gelingenden Kommunikation werden kann, erweist es sich als sehr hilfreich, das Expertentum für sich selbst (methodischer) zu entwickeln. Unabhängig davon, ob man sich einer Einschätzung anschließt, der zufolge sich viele »aufgeklärte« Menschen wie »seelische Analphabeten« (Ingmar Bergman) verhalten, habe ich immer wieder die Erfahrung gemacht, dass viele von der Möglichkeit, sich selbst besser und genauer kennenzulernen und ihr Wissen über sich zu vergrößern und zu verfeinern, wenig Gebrauch machen, gerade auch in den sogenannten helfenden Berufen. Und so möchte ich als eine Möglichkeit, die eigene Individualität genauer zu bestimmen, die sich anschließende Übung zum persönlichen Fingerabdruck vorschlagen.
Mein geistig-seelischer Fingerabdruck Der Fingerabdruck eines Menschen macht ihn unterscheidbar. Er ist ein körperliches Abbild seiner Individualität. Durch ihn wird jemand unverwechselbar. Das haben die Kriminalisten genutzt, um jemanden als diesen einen, bestimmten Menschen zu identifizieren. Dabei fallen die Unterschiede zwischen den Fingerabdrücken von verschiedenen Personen sowohl beim körperlichen wie beim geistig-seelischen Fingerabdruck oft gar nicht allzu groß aus, was – beim körperlichen – bereits © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
230 Fünftes Methodenporträt der Augenschein erkennen lässt. Es gibt jedoch so etwas wie eine Minimaldiskrepanz. Es ist die spezifische Eigenart von jemandem, das, was ihn unmittelbar ausmacht. Dasjenige, das ihn nicht allein von anderen unterscheidet, sondern das nur er auf seine Weise entwickeln kann. Nehmen Sie einen Spürzugang zu sich auf. Versuchen Sie zu erkunden, wie Ihr geistig-seelischer Fingerabdruck beschaffen ist. Gönnen Sie sich in Ihrem Alltag Momente, diesem Wissen über sich Raum zu geben. Lassen Sie sich überraschen, was Ihnen da von sich begegnet, was sich von dem zeigt, das Sie ausmacht. Möglicherweise können Sie von diesem Wissen auch etwas für Ihren Umgang mit anderen (Kollegen, Mitarbeitern, Freunden etc.) einbringen, das dann als Form einer erarbeiteten Klarheit (zum Beispiel als Führungskraft) eine gute Wirkung hat und andere dazu anregt, auf ihre Weise das Ihre zu tun.
Indem Sie sich auf diese Weise sich selbst zuwenden, indem Sie den Versuch unternehmen, Experte für sich selbst zu werden, lösen Sie auch einen zentralen Wahlspruch der sogenannten Aufklärung151 persönlich ein: Sapere aude! (Wage, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!).152 Im Einlösen dieses Appells werden Sie nicht nur unverwechselbar, sondern auch unersetzbar. Mag Ihnen das, was Sie durch sich selbst »besitzen«, auch nicht sehr viel oder sehr bedeutend erscheinen; es ist etwas, über das so nur Sie verfügen. Sie werden dadurch für sich selbst (vgl. Drittes Methodenporträt) wie für die anderen zu einem Dialogpartner (vgl. Viertes Methodenporträt), mit dem umzugehen sich lohnt. Eine Form des Expertentums, von der wichtige Impulse ausgehen können.
151 Kant präzisiert das so: »Selbstdenken heißt den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst [….] suchen; und die Maxime jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung« (Kant, 1983b, S. 283). 152 Vgl. hierzu das Beispiel, das ein homme de cahiers wie Paul Valéry in seiner Form der reflektierten Selbst-Praxis gibt (Stölzel, 2011, S. 35 ff.; Burghart, 2013, S. 402 ff.). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
Ausblicke
Irritation ist kostbar. Niklas Luhmann Ähnlich wie die philosophischen Kompetenzen des Staunens, Humors, Mutes und der Skepsis (Stölzel, Th., 2012) lassen sich die hier porträtierten Methoden einzeln wie auch als mehr oder weniger vollständiges Ensemble nutzen. Sowohl die Kompetenzen als auch die Methodenporträts entfalten jedoch jeweils in einem geordneten Zusammenwirken ihre größte Kraft. Sie eröffnen dann einen Prozess, durch den Einzelne, Teams und Organisationen ihre Arbeits- und Lebensmöglichkeiten neu überprüfen und für sich zu anders fundierten Einsichten und Handlungsoptionen gelangen können. Als anwendungsbezogene Zusammenschau bilden sie einen stufenförmigen Weg, der in fünf Schritten die »Welt« von Einzelnen, Teams oder Organisationen neu ausrichten kann und ein konkretes Weiterbildungsangebot darstellt (siehe Abbildung 4). 3. Umgang mit sich selbst
2. Persönliches Wertesystem
1. Reflektierte Anthropologie
4. Dialogformen
5. Wissensgewissheit
Abbildung 4: Das fünfstufige Modell für Individual-, Paar-, Team- und Organisationsentwicklung und dessen methodischen Zugänge im Überblick
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Ausblicke
Unabhängig davon, auf welche Weise im Einzelfall mit den hier porträtierten Methoden gearbeitet werden mag, ob sie mehr für persönliche oder für Fragen des Klienten oder der Organisation genutzt werden sollen – es erweist sich als hilfreich, sich an den jeweiligen Leitbegriffen zu orientieren; sie als Klärungshelfer zu verwenden, die in die jeweilige Mitte der Methode führen. Das bedeutet konkret: –– mein Menschenbild (wie das der anderen) genauer zu untersuchen, –– meine Biographie als geistiges Reservoir und persönliche Wissensgeschichte zu erschließen, –– die Askese-Übung als reflektierte Handlung zu vollziehen und mit den für mich (wichtigen) Themen oder Menschen übend umzugehen, –– die Begegnung begegnungsbewusst zu gestalten und dem mir Entgegenkommenden Interesse entgegenzubringen, –– meine Sicherheitsbedürfnisse genauer kennenzulernen. Methoden kommen und gehen, werden mitunter als ultimative Ideen und Lösungen gehandelt – und präsentieren sich dabei nicht selten als der sprichwörtlich alte Wein in neuen Schläuchen. Durch sie wird auf (bislang nicht oder schlecht beantwortete) Fragen reagiert, Antworten werden versprochen oder Lösungswege aufgezeigt. Im Umgang mit ihnen lohnt es sich daher, zu klären: Sind das, was durch die Methoden bearbeitet oder gelöst werden soll, anthropologische Konstanten, also Herausforderungen, Probleme, Schwierigkeiten etc., die konstant geblieben sind und bereits Menschen in früheren Zeiten umgetrieben haben? Oder handelt es sich um eine neue Form von Herausforderungen, Problemen, Schwierigkeiten etc.? Wie viel Altes steckt in diesem Neuen? Worunter leiden heutzutage viele Menschen? Was wünschen sie zu verändern? Welche Metapathologien und Metalösungen sind erkennbar? Worin bestehen die existenziellen Nöte und Bedürfnisse zu Beginn des 21. Jahrhunderts, zu einem Zeitpunkt, zu dem (zumindest in der westlichen Welt) viele: –– mindestens mit einem Dach über ihrem Kopf versorgt sind, –– sich ausreichend oder sogar gut ernähren können, –– sich in vielfacher Weise (fort-)bilden und (weiter-)entwickeln können, –– über einen (so noch nie dagewesenen) Maschinenpark von Unterhaltungs- und Kommunikationstechnologie verfügen, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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–– ihre sexuelle Identität wie ihre familiären Lebensformen individueller als je zuvor gestalten können, –– aber auch konstant eindrucksübersättigt sind und sich zunehmend mehr an die Geschwindigkeit und »Viereckigkeit« von Maschinen anpassen? Fragen der unterschiedlichsten Art begleiten uns ständig, von unserem Anfang bis zu unserem Ende. Wie freiwillig Fragen gestellt, welchen Fragen man sich im Einzelnen ausgesetzt sieht, was man fragwürdig oder zumindest fraglich findet, welche Fragen offen bleiben mögen – es bleiben (genügend) Fragen bestehen. Der Mensch ist ein Lebewesen, das fragen kann und auch fragen muss (Zwierlein, 2013). Denn es gibt etwas in ihm, das – laut, leise oder stumm – fragt. Das wissen will. Und er kann dabei vielen Fragen nicht entgehen, darunter auch schwierigen, die er sich, die ihm andere oder die ihm die Situation stellt. Sie auf Dauer zu ignorieren, nützt wenig. Offene Fragen verlangen irgendwann (eher früher als später), noch vor ihrer möglichen Beantwortung Beachtung. Dabei geht es meines Erachtens nicht darum, sie durch rasche Antworten sozusagen wasserdicht zu schließen. Eher scheint es geboten, auf eine persönliche und produktive Weise mit offenen Fragen des eigenen Lebens umzugehen, anstatt sie zu umgehen. Das kann beispielsweise bedeuten, sich auch den neuen Fragen zuzuwenden, die durch die Antworten auf alte Fragen entstehen. Die Fragefähigkeit ist als individuelles philosophisches Potenzial wohl in jedem Menschen angelegt. Sie wird jedoch – durch die verschiedenen Prägestationen, die jemand bis zum Erwachsenenalter durchläuft – nicht selten verschüttet oder blockiert. Sie ist somit bei anstehenden Veränderungen, Entwicklungen, Krisen oder schwierigen Lebensumständen, wo sie einen wichtigen Beitrag zur Selbsthilfe bzw. Selbstorientierung leisten könnte, oft nicht mehr (ausreichend) verfügbar. Es lohnt sich also, diese Fähigkeit wieder zu entdecken und weiterzuentwickeln. Das Fragen gehört neben dem Staunen und dem Experimentieren zu den wichtigsten Formen kindlicher Welterkundung. Ein erwachsener Mensch hat, wenn er staunt, fragt und experimentiert, dem Kind viel an Bewusstsein und Erfahrung voraus. Dieses Mehr gilt es, nutzbar zu machen: als Bewusstsein von und Erfahrung mit bedeutsamen, bedrängenden oder beunruhigenden Fragen, die jemanden einfach nicht loslassen wollen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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Ein solcher Umgang mit Fragen wirkt sich auch auf die Lösungen aus, auf das, was am besten sofort, wenigstens bald, auf jeden Fall gut oder zumindest nachhaltig gelöst werden soll. Dabei bleibt offen, ob man durch diesen Lösungsdrang etwas oder jemanden loswird, sich von etwas oder jemanden (wirklich) lösen kann und was man damit auf- oder auslöst; ob die Lösung die erwünschte Lockerung bringt und so ein gegebenes Lösungsversprechen eingelöst werden kann. Eine Verbindung von philosophischen und systemisch-lösungsorientierten Perspektiven kann dazu beitragen, die beiden – nicht allein für Therapeuten, Berater, Coaches oder Organisationsentwickler – wichtigen (Wissens-)Handlungen, das Fragen und das Lösen, neu zu bedenken und sich für das berufliche oder persönliche Leben anders zu erschließen. Können wir über unsere Zukunft wenig sicher wissen (vgl. Fünftes Methodenporträt), so steht zu vermuten, dass uns Fragen und das Fragen bleiben und wir uns weiterhin aufgefordert finden oder fühlen werden, etwas (wie auch immer) zu lösen und dabei neue, bislang noch unerprobte Lösungswege einzuschlagen, ohne damit je zu »Patendlösungen« (Paul Watzlawick) zu gelangen.
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Koda: Fragen aus Antworten bilden
Fynn, das ist der Spitzname eines anonym bleibenden irischen Mathematikers, der als junger Mann philosophische Gespräche mit einem fünf- bis achtjährigen Mädchen namens Anna führt, die –mit unverbildetem Weitblick und unerschrockenem Staunen – die (normale) Welt betrachtet und hellsichtige Beobachtungen und Kommentare abgibt153 und mit Fynn gelegentlich Wissensspiele spielt. Einem ihrer ungewöhnlichen Spiele gebe ich hier gerne das letzte Wort. »Nun gab es ein winziges, quirliges Ding, einen rothaarigen Dämon von dreiviertel Meter Länge, und dieser Dämon sprach mit mir, flüsterte mir zu, alles ist falsch, was du bisher gelernt hast. Jeder Satz, jedes Wort, jede Zahl, jeder Atemzug ist die Antwort auf eine Unzahl von unausgesprochenen Fragen. […] Ich sah zuerst die Antwort und ging dann rückwärts, einen langen Weg, bis ich auf die Frage stieß. ›Wenn es ganz furchtbar viele Fragen für eine einzige Antwort gibt, das ist doch lustig … oder?‹ Aber mit einem lustigen Spiel war Anna nicht zufrieden. ›Jetzt spielen wir das mal so: Du sagst eine Antwort, und ich mach Fragen dazu.154 Und wenn du eine Antwort weißt, auf die ich mir bloß eine einzige Frage ausdenken kann, dann hast du gewonnen.‹ Es stellte sich heraus, je weniger Fragen es auf eine Antwort gab, desto wichtiger und ernsthafter waren diese Fragen. Was für eine verkehrte 153 Wie zum Beispiel ihre Überlegungen zu den »ungefragten Fragen« und der Tendenz der Menschen, alles (auch sich selbst) »in Schachteln einzusperren«. Sie machten, so Anna, da auch nicht vor ihrem Gott halt; den ließen sie auch nicht frei, sondern sperrten ihn in eine Mausefalle, genannt Kirche ein (Fynn, 2000, S. 151 f.). 154 »Auf welche Fragen werden hier eigentlich Antworten gegeben?«, fragt Bernhard H. F. Taureck. Er hat unter dem Titel »Die Antworten der Philosophen« ein Lexikon vorgelegt, das den Kontext von 45 (philosophischen) Fragen erkundet und dabei den Wechselwirkungsbeziehungen zwischen diesen Fragen und den gegebenen Antworten nachgeht (Taureck, 2009). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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Koda: Fragen aus Antworten bilden
Welt. Es machte mir mehr und mehr Spaß, auf Antworten Squillionen von Fragen zu wissen. Ich dachte mir einen grotesken Haufen Unsinn aus, und die Antwort war immer gleich. Im Fragenstellen kam ich mir vor wie der Klassenprimus, der ich nie sein wollte. Jetzt wusste ich, wie der sich gefühlt haben musste. Stolz, befriedigt, ich bin der Größte. Nur das andere Ende der Skala machte mir Sorgen. Ich fand keine einzige Antwort, auf die es nur eine einzige Frage155 gab« (Fynn, 2000, S. 67 f.).
155 Wie sich aus einer einzigen Frage der gewichtigen und grundlegenden Frage »Wie soll ich leben?« zwanzig anregende Antwortvarianten bilden lassen, hat die Autorin Sarah Bakewell am Beispiel Montaignes anschaulich vorgeführt (Bakewell, 2012). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
Chronologische Liste der Übungen
Ein Dialog zwischen Verwandten Wie vollständig ist »vollständig«? (S. 17) Was heißt »klug« für mich? (S. 26) Fragen als Lebensbegleiter (S. 34) Persönliches Fragebüchlein (S. 36) Meine besten Lösungen (S. 40)
Erstes Methodenporträt Persönliche Anthropologie (S. 53) Philosophische Intravision (S. 59) Wie echt bin ich, verhalte ich mich? (S. 64) Wesenszuschreibungen (S. 66)
Zweites Methodenporträt Eine Geschichte erzählen (S. 72) Philosophische Miniaturen (S. 77) Meine Wahrheit(en) (S. 78) Sich miteinander erinnern (S. 83) Mein Gedächtnis und ich (S. 87) Erfahrungen – Überzeugungen – (mögliche) Gewissheiten (S. 88) Eine Überzeugung untersuchen (S. 92) »Stör-Erfahrungen« (S. 93) Glaubenssätze formulieren (S. 95) Anatomie eines Glaubenssatzes (S. 98) Das »Gespräch« von Glaubenssätzen (S. 99) © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
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Chronologische Liste der Übungen
Wichtige Überzeugungen ermitteln (S. 100) Momentaufnahme meiner Weltsicht (S. 101)
Drittes Methodenporträt An einem Ort des Zugleichs (S. 103) Eine Tür zur »inneren« Burg (S. 107) Sich zu sich umdrehen (S. 117) Familienähnlichkeit als perspektivisches Instrument (S. 123) Im Gespräch mit mir (S. 125) Dritter Leitbegriff: Askese – Übung (S. 127) Sich mit sich verabreden – philosophische Viertelstündchen (S. 130) Einander sehen (S. 134) Nachwirkende Begegnungen (S. 137)
Viertes Methodenporträt Einheitserfahrungen (S. 140) Sich zuhören (S. 146) Unausgesprochenes (S. 148) Erkundung des Zwischen (S. 159) Unterschiedsbildende Fragen (S. 168) Meinen, zu wissen – die persönliche Meinungslandschaft erkunden (S. 181) Im Gespräch mit Toten bzw. mit einem imaginierten Anderen (S. 187) Aus sokratischer Perspektive (S. 194) Das Dialogische als Korrektiv (S. 199)
Fünftes Methodenporträt Mein sicherstes und unsicherstes Wissen (S. 207) Wissensmenge und Wissensgüte (S. 209) Wie viel und welches Wissen brauche ich? (S. 214) Welchen Status gebe ich meinem Wissen? (S. 216) Die Wirkung von Nicht (S. 222) © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404522 — ISBN E-Book: 9783647404523
Chronologische Liste der Übungen
Verwelkte Überzeugungen (S. 224) Die Bedeutung von Experten (für mein Leben) (S. 227) Mein geistig-seelischer Fingerabdruck (S. 229)
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Singer, Wolf (2002). Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Sloterdijk, Peter (1976). Literatur und Organisation von Lebenserfahrung. München: Hanser. Sloterdijk, Peter (2011). Streß und Freiheit. Berlin: Suhrkamp. Sonnemann, Ulrich (2011). Daseinsanalyse, »Existence and Therapy«. Wissenschaft vom Menschen. In Schriften, Band 2. Herausgegeben von Paul Fiebig. Springe: zu Klampen. Spaemann, Robert (1996). Personen. Versuche über den Unterschied zwischen »etwas« und »jemand«. Stuttgart: Klett-Cotta. Sparrer, Insa (2001). Konstruktivistische Aspekte der Phänomenologie und phänomenologische Aspekte des Konstruktivismus. In Gunthard Weber (Hrsg.), Derselbe Wind lässt viele Drachen steigen. Systemische Lösungen im Einklang (S. 68–97). Heidelberg: Carl Auer. Starck, Siegfried, Starck, Inge (1978). Sokrates für Manager. Düsseldorf u. Wien: Econ. Starobinski, Jean (1989). Die Tages-Ordnung. In Rudolf Wendorff (Hrsg.), Im Netz der Zeit. Menschliches Zeiterleben interdisziplinär (S. 27–47). Stuttgart: S. Hirzel. Staude, Detlef (Hrsg.) (2010). Methoden Philosophischer Praxis. Ein Handbuch. Bielefeld: transcript. Stavemann, Harlich H. (2002). Sokratische Gesprächsführung in Therapie und Beratung. Weinheim u. Basel: Beltz. Stierlin, Helm (1979). Individuation und Familie. Studien zur Theorie und therapeutischen Praxis. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Stierlin, Helm (1981). Einleitung. In Gregory Bateson, Ökologie des Geistes. Übersetzt von Hans Günter Holl (S. 7–10). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Stierlin, Helm (2008). Karl Jaspers »Psychologie der Weltanschauungen« im Lichte systemisch-therapeutischer Erfahrung. In Knut Emig, Thomas Fuchs (Hrsg.), Karl Jaspers Philosophie und Psychopathologie (S. 269–278). Heidelberg: Carl Winter. Stölzel, Simone (2012). Unendliche Weiten. Lösungsorientiert denken mit Captain Kirk, Mister Spock und Dr. McCoy. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Stölzel, Simone (2013). Nachtmeerfahrten. Die dunkle Seite der Romantik. Berlin: Die Andere Bibliothek. Stölzel, Thomas (1996). Gedankenlaufbahnen – zur »Psychognomik« der Assoziation bei Lichtenberg und Groddeck. In Gerd Overbeck (Hrsg.), Auf dem Wege zu einer poetischen Medizin (S. 104–118). Frankfurt a. M.: VAS. Stölzel, Thomas (1998a). Ein Säulenheiliger ohne Säule. Erfahrungen mit E. M. Cioran. Graz u. Wien: Droschl. Stölzel, Thomas (1998b). Rohe und polierte Gedanken. Studien zur Wirkungsweise aphoristischer Texte. Freiburg: Rombach. Stölzel, Thomas (1999). Pfennigswahrheiten und klare Fragmente: Einige Überlegungen zu Lichtenberg und Valéry als Selbstdenker. In Jürgen Schmidt-Radefeldt (Hrsg.), Paul Valéry. Philosophie der Politik, Wissenschaft und Kultur (S. 271–283). Tübingen: Stauffenberg. Stölzel, Thomas (2004). »Das Normale ist das seltenste Ding auf Erden«. Der Menschenkenner und Gentleman-Autor W. Somerset Maugham. In Thomas Stölzel, Simone Stölzel (Hrsg.), Notizbuch eines Schriftstellers. Aus dem Englischen von Irene Muehlon und Simone Stölzel. Mit einem Essay von Thomas und Simone Stölzel (S. 9–85). Zürich: Diogenes.
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Literatur
Stölzel, Thomas (2008). Unvermeidliche Berührungspunkte – notwendige Abgrenzungen. Einige Ideen zur Verhältnisbestimmung von Philosophischer Praxis und Psychotherapie. In Thomas Gutknecht, Beatrix Himmelmann, Thomas Polednitschek (Hrsg.), Philosophische Praxis und Psychotherapie. Gegenseitige und gemeinsame Herausforderungen (S. 63–72). Münster: LIT. Stölzel, Thomas (2009a). 29 Vorannahmen zur Philosophischen Praxis. In Thomas Gutknecht, Thomas Polednitschek, Thomas Stölzel (Hrsg.), Philosophische Lehrjahre. Beiträge zum kritischen Selbstverständnis Philosophischer Praxis (S. 85–112). Münster: LIT. Stölzel, Thomas (2009b). Ich finde keine Antwort darauf. W. Somerset Maugham als Skeptiker. In Thomas Stölzel, Simone Stölzel (Hrsg.), Denken mit Maugham. Über Skepsis und humorvolle Resignation, die Natur des Menschen und den Beruf des Schriftstellers, mit Essays von Thomas und Simone Stölzel (S. 7–19). Zürich: Diogenes. Stölzel, Thomas (2010a). So bleibt alles durchwebt von Vermutungen. Anregungen und Positionen aus der Philosophischen Praxis. praxis der systemaufstellung. Beiträge zu Lösungen in Familien und Organisationen, 1, 9–14. Stölzel, Thomas (2010b). Der Zufall als Anwalt der Freiheit. Ein paar Anmerkungen zu einem großen Thema. Revue für postheroisches Management. Zufälle, 6, 6–11. Stölzel, Thomas (2010c). Den Tiefengehalt einer Situation erkunden. Dieter Wellershoffs autobiographische Prosa als eine »Arbeit des Lebens«. In Werner Jung (Hrsg.), Literatur ist gefährlich. Dieter Wellershoff zum 85. Geburtstag (S. 77–96). Bielefeld: Aisthesis. Stölzel, Thomas (2012). Staunen, Humor, Mut und Skepsis. Philosophische Kompetenzen für Therapie, Beratung und Organisationsentwicklung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Stölzel, Thomas (Hrsg.) (2011). Ich grase meine Gehirnwiese ab. Paul Valéry und seine verborgenen Cahiers. Ausgewählt und mit Begleittexten und einem Essay von Thomas Stölzel. Frankfurt a. M.: Die Andere Bibliothek im Eichborn Verlag. Stölzel, Thomas, Stölzel Simone (Hrsg.) (2002). Zersplitterte Gewißheiten. Ein Cioran-Lesebuch. Mit Begleittexten von Thomas und Simone Stölzel. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Szymborska, Wisława (1986). Hundert Freuden. Herausgegeben und übertragen von Karl Dedecius. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Szymborska, Wisława (1997). Die Gedichte. Herausgegeben und übertragen von Karl Dedecius. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Taureck, Bernhard H. F. (2009). Die Antworten der Philosophen. Ein Lexikon. Paderborn: Wilhelm Fink. Theunissen, Michael (1981). Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart. Berlin u. New York: Wilhelm de Gruyter. Thomä, Dieter (1998). Erzähle dich selbst. Lebensgeschichte als philosophisches Problem. München: C. H. Beck. Tranströmer, Tomas (1992). Die Erinnerungen sehen mich. Aus dem Schwedischen von Hanns Grössel. München: Hanser. Tugendhat, Ernst (1979). Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Valéry, Paul (1990). Inneres Zwiegespräch. Übersetzt von Eliane Blüher Werke in sieben Bänden. Herausgegeben von Jürgen Schmidt-Radefeldt. Band 2: Dialoge und Theater. Herausgegeben von Karl Alfred Blüher. Frankfurt a. M.: Insel.
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Literatur
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Varga von Kibéd, Matthias (2005). Metakommentar. In Gunthard Weber, Gunther Schmidt, Fritz B. Simon, Aufstellungsarbeit revisited … nach Hellinger? (S. 200– 250). Heidelberg: Carl Auer. Varga von Kibéd, Sparrer, Matthias, Sparrer, Insa (2002). Ganz im Gegenteil. Heidelberg: Carl Auer. Voltz, Tom (1996). Dialoge mit Sokrates. Lektüre für Manager. Zürich u. Düsseldorf: Walter. Wais, Mathias (1998). Ich bin, was ich werden könnte. Entwicklungschancen des Lebenslaufs. Ostfildern: edition tertium. Watkins, John G., Watkins, Helen H. (2003). Ego-States – Theorie und Therapie. Aus dem Amerikanischen von Irmela Köstlin. Heidelberg: Carl Auer. Watzlawick, Paul (1977). Die Möglichkeit des Andersseins. Zur Technik der therapeutischen Kommunikation. Bern u. a.: Hans Huber. Watzlawick, Paul (1983). Anleitung zum Unglücklichsein. München: Piper. Watzlawick, Paul (1986). Vom Guten des Schlechten oder Hekates Lösungen. München: Piper. Watzlawick, Paul (1992). Münchhausens Zopf oder Psychotherapie und »Wirklichkeit«. München: Piper. Watzlawick, Paul (Hrsg.) (1981). Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Beiträge zum Konstruktivismus. München: Serie Piper. Weakland, John H. (1995). Metalog: Was ist Geisteskrankheit? Übersetzung von Fritz B. Simon. In Hans Rudi Fischer (Hrsg.), Die Wirklichkeit des Konstruktivismus (S. 349–352). Heidelberg: Carl Auer. Weber, Gunthard, Stierlin, Helm (1989). In Liebe entzweit. Die Heidelberger Familientherapie der Magersucht. Reinbek: Rowohlt. Wehr, Gerhard (1996). Martin Buber. Leben. Werk. Wirkung. Zürich: Diogenes. Weinrich, Harald (1997). Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens. München: C. H. Beck. Weinrich, Harald (2000). Linguistik der Lüge. München: Beck. Weizsäcker, Viktor von (1987). Meines Lebens hauptsächliches Bemühen. In Viktor von Weizsäcker, Gesammelte Werke, Band 7: Allgemeine Medizin. Grundfragen medizinischer Anthropologie. Herausgegeben von Peter Achilles, Dieter Janz, Martin Schrenk und Carl Friedrich von Weizsäcker (S. 372–392). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Wellershoff, Dieter (2000). Der Liebeswunsch. Köln: Kiepenheuer & Witsch. Wiesengrund-Adorno, Theodor (1964). Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Willke, Helmut (2001). Systemisches Wissensmanagement. Stuttgart: Lucius & Lucius. Wirth, Jan, V., Kleve, Heiko (2012). Lexikon des systemischen Arbeitens. Grundbegriffe der systemischen Praxis, Methodik und Theorie. Heidelberg: Carl Auer. Wittgenstein, Ludwig (1963). Tractatus logico-philosophicus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Wittgenstein, Ludwig (1970). Über Gewißheit. Herausgegeben von G.E.M. Anscombe und G. H. von Wright. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Wittgenstein, Ludwig (1971). Philosophische Untersuchungen. Frankfurt a. M.: suhrkamp.taschenbuch Wittgenstein, Ludwig (1977). Vermischte Bemerkungen. Eine Auswahl aus dem Nachlass. Herausgegeben von Georg Hendrik von Wright unter Mitarbeit von Heikki Nyman. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Wolf, Christa (1987). Störfall. Darmstadt u. Neuwied: Luchterhand.
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Literatur
Woolf, Virginia (1981). Ein Zimmer für sich allein. Aus dem Englischen von Renate Gerhardt. Frankfurt a. M.: Fischer. Woolf, Virginia (1989). Die Wellen. Aus dem Englischen von Maria Bosse-Sporleder, Frankfurt a. M.: Fischer. Woolf, Virginia (2012) Augenblicke des Daseins: Autobiographische Skizzen. Herausgegeben von Klaus Reichert, übersetzt von Brigitte Walitzek. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag. Yourcenar, Marguerite (1999). Ich zähmte die Wölfin. Die Erinnerungen Hadrians. Aus dem Französischen von Fritz Jaffé. Zürich: Manesse. Zeig, Jeffrey K. (1995). Die Weisheit des Unbewußten. Hypnotherapeutische Lektionen bei Milton H. Erickson. Heidelberg: Carl Auer. Zoller, Eva (1995). Die kleinen Philosophen. Vom Umgang mit »schwierigen« Kinderfragen. Freiburg: Herder. Zwierlein, Eduard (2013). Magna Quaesto. Der Mensch als große Frage. Berlin: Matthes & Seitz.
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