211 90 98MB
German Pages 408 Year 1976
Linguistische Arbeiten
31
Herausgegeben von Herbert E. Brekle, Hans Jürgen Heringer, Christian Rohrer, Heinz Vater und Otmar Werner
Sprachtheorie und Pragmatik Akten des 10. Linguistischen Kolloquiums Tübingen 1975 Band l Herausgegeben von Heinrich Weber und Harald Weydt
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1976
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Linguistisches Kolloquium Akten des 10. [Zehnten] Linguistischen Kolloquiums Tübingen 1975. - Tübingen : Niemeyer. (Linguistische Arbeiten ; . . .) Bd. 1. ->· Sprachtheorie und Pragmatik Sprachtheorie und Pragmatik / hrsg. von Heinrich Weber u. Harald Weydt. - 1. Aufl. - Tübingen : Niemeyer, 1976. (Akten des 10. Linguistischen Kolloquiums; Bd. l) (Linguistische Arbeiten ; 31) ISBN 3-484-10246-2 NE: Weber, Heinrich [Hrsg.]
ISBN 3-484-10246-2 Max Niemeyer Verlag Tübingen 1976 Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege zu vervielfältigen. Printed in Germany
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort 0.
RÜCKBLICK WILFRIED KÜRSCHNER: Zehn Jahre Linguistisches Kolloquium
1.
2.
VII . . . .
WISSENSCHAFTSTHEORIE DIETER FREUNDLIEB: Was heißt 'Erklärung 1 in der Linguistik? Eine wissenschaftstheoretische Studie
15
HELGA ANDRESEN: Das Problem der Objektivität linguistischer Theorien
27
ESA ITKONEN: Die Beziehung des Sprachwissens zum Sprachverhalten .
39
ALICE TER MEULEN: Theory-construction in linguistics
49
BERND GOSAU: Der logische Empirismus im rationalistischen Gewand. Zum Wissenschaftsbegriff des Chomsky-Modells
61
SPRAC1JWANDEL WALTHER KINDT / JAN WIRRER: Überlegungen zum Status der Lautgesetze
75
ELKE RONNEBERGER: Performanz und Sprachwandel. Zum Wandel vom 'flektierenden' zum 'isolierenden' Sprachtyp .
87
.
.
FRANCISCO J. OROZ ARIZCUREN: Die "casilla pre-ocupada" ("vorbelegtes Fach"). Ein bei Isidor implizierter linguistischer Begriff
99
BRIGITTE SCHLIEBEN-LANGE: Für eine historische Analyse von Sprechakten 3.
3
113
SPRECHAKTBESCHREIBUNGEN WOLFGANG KLINKE: "Wie heißt die Antwort auf diese Frage?" Zum Status von Fragen und Antworten in einer Sprechakttheorie
.
JÜRGEN WALTHER: Zur Logik von Frage und Antwort
.
123 133
MICHAEL BAUMERT: Der theoretische Status der yes/no-Frage . . . . 143 SWANTJE KOCH / LUISE F. PUSCH: Bestätigen und Antworten mit dem Satzwort allerdings KRYSTYNA PISARKOWA: Zur Einordnung der performativen Verben . 4.
153 .
. 163
.
175
KOMMUNIKATIONSBESCHREIBUNGEN WERNER HOLLY: Selbst- und Partnereinschätzungen in Gesprächen BERND ULRICH BIERE: Beschreiben und Verstehen. Einige Proben bei der Beschreibung von Kommunikationen unter Kindern WOLFGANG HERRMANN: Standardsituationen. Thesen und Beispiele
187 .
. 197
SUSANNE SCHMIDT-KNAEBEL: Syntakto-semantische und pragmatische Aspekte des Sprechverhaltens bei schizophrenen Probanden . . . . 2O7
VI
5.
STILISTIK UND RHETORIK ULRICH PÜSCHEL: Überlegungen zu einer Stiltypologie
223
REINHARD KLOCKOW: Gänsefüßchen-Semantik. Eine Ergänzung zu Lakoffs "Hedges"
235
WOLFGANG BERG: Ironie KARL BERNHARD KNAPPE: Rhetorik und Pragmatik? Überlegungen zur sprachwissenschaftlichen Rhetorik 6.
7.
.
247 255
TEXTTHEORIE FRITZ PASIERBSKY: Textherstellung und Optimierung. Eine Anwendung der Operations Research in der Linguistik
269
ANNE MARIE BETTEN: Zur Sequenzierung von Sprechakten. Das Problem der Einheitenbildung in längeren Texten
279
UTA QUASTHOFF: Makrostruktur und Gliederungsmerkmale in konversationeilen Erzählungen. Gedanken zur Strukturbeschreibung von Texten
291
REINHARD WONNEBERGER: Textgliederung bei Paulus. Eine Problemskizze am Beispiel von Römer 3 , 2 1 , 1. Korinther 13 und Römer 5
3O5
SPRACHLICHES HANDELN MEINERT A. MEYER: Sprechen als Handeln. Von Wittgensteins Sprachspielen zu einer sprachlichen Handlungstheorie
317
GÖTZ HINDELANG: Aufforderungen und Handlungsabsprachen
327
RAINER WIMMER: Umgang mit Termini
337
MICHEL CAILLIEUX: Über das Klären von Begriffen. Bemerkungen über den Gebrauch von Begriff
347
ECKHARD KENDZIORRA: Sequenzierung von Sprechakten
357
AXEL HÜBLER: Syntaktiko-semantische Pragmatik
367
MANFRED PETERS: Prolegomenes ä une "grammaire des opprimes". (Prolegomena zu einer "Grammatik der Unterdrückten")
379
MITARBEITERVERZEICHNIS Die Autoren
393
Die Herausgeber
398
VORWORT
Der vorliegende Band enthält etwa die Hälfte der Referate, die auf dem 10. Linguistischen Kolloquium vom 23. bis 27. September 1975 in Tübingen gehalten wurden. Erstmals wurde es nun notwendig, die Referate in zwei getrennten Bänden herauszugeben. In diesem ersten Band sind die Referate zusanmengefaßt, die sich mit Fragen der Sprachtheorie und Pragmatik beschäftigen. Um eine bessere Übersicht zu ermöglichen, haben wir die Beiträge unseres Bandes sieben grob festgelegten Bereichen zugeordnet: Wissenschaftstheorie, Sprachwandel, Sprechaktbeschreibungen, Kcnriunikationsbeschreibungen, Stilistik und Rhetorik, Texttheorie, Sprachliches Handeln. Der Band wird eingeleitet durch Wilfried Kürschners Rückblick auf die ersten zehn Jahre des Linguistischen Kolloquiums und abgeschlossen durch Informationen über die Autoren und Herausgeber. Auf dem Plenum des 1O. Linguistischen Kolloquiums war beschlossen worden, die Akten in zwei Bänden beim Verlag Max Niemeyer in Tübingen herauszubringen. Die Beiträge sollten von den Autoren selbst nach einer einheitlichen Schreibanweisung auf Spezialpapier geschrieben und in dieser Form gedruckt werden. Dieses etwas ungewöhnliche Verfahren war, nachdem unsere Bemühungen um einen Druckkostenzuschuß ohne Erfolg geblieben waren, nötig geworden, damit die Akten überhaupt erscheinen konnten. Es erschwerte jedoch die Arbeit der Autoren und Herausgeber. Die Veran-twortung für die Form der Beiträge lag zwar bei den Autoren. Das stellte uns als Herausgeber aber in einer Reihe von Fällen zunächst vor die unangenehme Entscheidung, einen Beitrag so zu drucken, wie er war, oder ihn abzulehnen. In den meisten Fällen haben wir dann doch einen Mittelweg gefunden: Kleinigkeiten haben wir selbst in Zusammenarbeit mit dem Verlag verbessert; bei größeren Änderungen und Kürzungen haben wir den Beitrag mit der Bitte zurückgeschickt, ihn neu zu bearbeiten oder zu schreiben; wo knappe Zeit und schwierige Kommunikation dies nicht zuließen, haben wir Beiträge selbst redigiert und neu schreiben lassen. Wir sind froh, daß wir nur in einem einzigen Fall aus formalen Gründen auf einen Beitrag verzichten mußten.
VIII
Der Zusammenhang mit dem zweiten Band, der unter dem Titel "GraititBtik" von unseren Freiburger Freunden Kurt Braunrrüller und Wilfried Kürschner herausgegeben wird, ist enger als vielleicht auf den ersten Blick ersichtlich. Bei der Planung und IXtrchführung der Editionsarbeit haben wir engen Kontakt gehalten. Die Koordination für beide Bände blieb in Tübingen. In Redaktionssitzungen und langen Telefongesprächen zwischen Berlin, Freiburg und Tübingen, in denen sich der Nachttarif der Post als nützlich erwies, wurden alle auftauchenden Fragen geklärt. So sind beide Bände trotz verschiedener Herausgeber als Einheit zu betrachten. Unserer Meinung nach erfüllen beide Bände zusammen wieder jene wichtige Funktion, die schon inrner für das Linguistische Kolloquium spezifisch war: Sie geben einen Überblick über die Forschungen, mit denen sich Linguisten der jüngeren und jung gebliebenen Generation beschäftigen, sie dokumentieren die aktuellen Trends der Forschung, die sich bei deren akzeleriertem Rhythmus abzeichnen, und sie geben Anregungen für die zukünftige Entwicklung.
Tübingen, am 31. Dezember 1975
H. W. H. W.
0,
RÜCKBLICK
ZEHN JAHRE LINGUISTISCHES KOLLOQUIUM Wilfried Kürschner
Trotz des Titels soll dies kein Festvortrag werden und auch nicht der Versuch einer Ideengeschichte der Linguistik in der Bundesrepublik, wie sie sich vielleicht aus den Akten der bisherigen Linguistischen Kolloquien herausziehen lassen könnte. Ich habe mir vielmehr einfach die Referate der bisherigen Kolloquien angesehen, Berichte von Teilnehmern durchgeschaut und mich an die fünf Kolloquien erinnert, bei denen ich dabei war. Was bei dieser Vergangenheitssichtung herausgekommen ist, darüber möchte ich Ihnen berichten. Wohlbekannt ist denen, die schon öfters an einem Linguistischen Kolloquium (LK) teilgenommen haben, das Motiv, mit dem ich beginnen möchte, das Motiv der Klage nämlich, der Klage darüber, daß das Kolloquium nicht mehr das ist, was es einmal war. Ich selbst habe sie erstmals bei der Organisationsdiskussion des 5. LK 1970 in Regensburg gehört, dann bei allen späteren Kolloquien, und sie wird vermutlich auch hier in Tübingen geführt werden, spätestens beim Plenum am Freitag. Sie liegt auch gedruckt vor in Erfahrungsberichten über das 4. Kolloquium in Berlin (POSNER 1 9 7 0 ) , über das 8. in Leuven/Belgien 1973 (FALKENBERG/ÖHLSCHLÄ'GER/WIMMER 1974) und über das 9. in Bielefeld (KNOOP/RADTKE 1 9 7 5 ) . Wie sahen nun die ersten Kolloquien aus, was macht sie so nostalgisch anziehend, und was ist aus dem Unternehmen "Linguistisches Kolloquium" geworden? Über die Anfänge berichtet Peter Hartmann: Im Oktober 1966 trafen sich - auf Anregung von Herrn Dr. Meyer-Ingwersen, Assistent am Seminar für Geschichte und Kultur des Vorderen Orients der Universität Hamburg - erstmalig mehrere Assistenten und Studenten verschiedener Fächer, die ein spezifisches Interesse an Fragen der modernen Linguistik hatten. Vor allem die generative Arbeitsweise wurde in Vorträgen und Diskussionen behandelt; schließlich erschien es als begrüßenswert, ein derartiges Treffen nach Möglichkeit zu wiederholen, und zwar nach einem Jahr ... (RLK 2: IV [vgl. das Literaturverzeichnis]) Roland Posner schreibt über dieses "Treffen unzufriedener Phi-
lologie-Assistenten und CHOMSKY-Anhänger" in Hamburg-Harburg folgendes : Die Teilnehmer jenes Ersten Linguistischen Kolloquiums kamen zumeist aus den traditionell "geisteswissenschaftlichen" Fächern, sie hatten sich genügend gründlich darin umgetan, um die unkritische Faktenhuberei und die schöngeistigen Spekulationen der Kollegen als Symptome theorielosen Unvermögens einstufen zu können. Die Lektüre der gerade erst erschienenen "Aspects of the Theory of Syntax" von Noam CHOMSKY hatte ihnen gezeigt, daß es anderswo einen ernstzunehmenden Versuch gab, auf einem Teilgebiet der sogenannten Geisteswissenschaften zu exakten und empirisch überprüfbaren Aussagen zu kommen. Die CHOMSKY-Rezeption zu vertiefen und die wissenschaftlichen und hochschulpolitischen Perspektiven auszuloten, die die neue Art der Sprachwissenschaft eröffnete, war der Zweck des Hamburger Linguisten-Treffens. (POSNER 1970: 63) Da Rezeption und Auseinandersetzung mit der Chomsky-Linguistik im Mittelpunkt standen, führten die ersten Kolloquien den Untertitel "Über generative Grammatik" (RLK 2; RLK 3; das 4. LK noch in der Ankündigung in den "Linguistischen Berichten" 4 / 1 9 6 9 : 77; in der Referatensammlung (RLK 4) erscheint dann "Transformationsgrammatik" im Titel). Die im billigen und zeitanfälligen Hektographierverfahren hergestellten, z . T . die Diskussionsergebnisse mit einbeziehenden Texte der Referate des 2. und 3. Kolloquiums die Texte des 1. LK liegen mir nicht vor, sind aber 1-aut HARTMANN 1972: 91 ebenfalls "hektographiert im Selbstverlag des Sprachwissenschaftlichen Seminars in Münster" erschienen - zeigen, wie stark zunächst die generative Transformationsgrammatik (gTG) im Zentrum der Bemühungen und Debatten stand: Von den zehn Referaten des 2. LK (1967) beschäftigen sich alle entweder mit mehr theoretisch-grundlegenden Problemen der gTG oder mit speziellen syntaktischen Fragen; beide Gruppen demonstrieren Probleme an Beispielen zumeist aus dem Deutschen, aber auch aus dem Tschechischen, Italienischen und Urdu. Es geht jedoch nicht darum, die großen transatlantischen Vorbilder bloß zu imitieren - es werden eigene originelle Fragestellungen entwickelt und Revisionen der "Aspects"-Theorie vorgeschlagen, die sich aus allgemeintheoretischen Erwägungen oder der Überprüfung an Beispielen aus anderen Sprachen als dem Englischen ergeben: Die neuen Klassiker sind Orientierungspunkte und Reibungsflächen zugleich. Die Referate des 3. LK ( 1 9 6 8 ) , 15 an der Zahl, sind z . T . in glei-
eher Weise zu charakterisieren. War man jedoch 1967 noch stark mit der "Aspects"-Rezeption und -Anwendung beschäftigt, so nimmt jetzt die Kritik an der Konzeption der "Aspects" zu: Fragen der Semantik werden behandelt, Anregungen aus dem Lager der damals noch jungen Generativen Semantik dargestellt und aufgegriffen, alternative Vorstellungen vom Aufbau einer adäquaten Grammatik vorgetragen und exemplifiziert. Zugleich werden auch die Beschränkungen der Chomsky-Grammatik angegangen und wird, soweit ich sehe, erstmals im Lager der Generativisten auf die Bedeutung der Pragmatik hingewiesen. Die Referattexte des 3. LK, das, vom Lehrstuhl Linguistik I der Universität Stuttgart organisiert, vom 1. bis 4. Oktober 1968 auf der Burg Stettenfels bei Untergruppenbach (Heilbronn) stattfand, sind die letzten in der bescheidenen hektographierten paper-Form. Die Referate des 4. LK erscheinen erstmals in ordentlich gedruckter und gebundener Form: Ob es nötig, angemessen oder nicht gar schädlich sei, die Kolloquiums-Referate schon vom Äußeren her dermaßen endgültig und 'fertig' der wissenschaftlichen Umwelt (und sich selbst) zu präsentieren, dies ist seitdem eine umstrittene Frage der Plenarversammlungen. Bis auf den Umbruch in der Ergebnispräsentation steht das 4 . LK in Berlin, was die Organisationsform b e t r i f f t , noch in der Tradition der drei vorangegangenen Kolloquien: Ein kleiner Kreis junger Linguisten, zumeist Angehörige des Universitätsmittelbaus, einige (wenige) Studenten, diskutiert kompetent und möglichst repressionsfrei moderne linguistische Theorien, die in Forschung und Lehre der Bundesrepublik kaum vertreten sind. Ich stelle mir vor - ich war da noch nicht dabei -, daß man sich zugleich als Vorreiter einer neuen Linguistik und als Verschwörer gegen die alte Sprachwissenschaft und deren Establishment-Repräsentanten an der Universität fühlen konnte. Daß das zu einem Gefühl der Gruppensolidarität, aber auch zur Arroganz Uneingeweihten gegenüber führen konnte, kann man sich leicht vorstellen. Roland POSNER beschreibt dies in seinem Erfahrungsbericht sehr plastisch (1970: 6 8 f . ) . Die angedeutete Gefahr war wohl bei den ersten vier Kolloquien nicht so groß wie später, als auch diejenigen teilnehmen konnten, die keinen Vortrag halten wollten. Bis Berlin war es Prinzip, daß jeder ein Referat zur Diskussion stellte. Das war
ohne Überforderung der Teilnehmer möglich, solange sich ihre Zahl in Grenzen hielt: In Hamburg-Marburg mögen es 1966 20 Teilnehmer gewesen sein (nach HARTMANN 1972: 9 1 ) ; 1967 (1O. bis 13. Oktober) waren es im Haus Rothenberge bei Ochtrup/Niedersachsen, dem Landheim der Universität Münster, zehn Diskutanten; 1968 auf der Burg Stettenfels 19. Berlin wies schon 3O Teilnehmer a u f , von denen 27 ein Referat hielten (vgl. die, nach dem Vorwort zu RLK 4: 8 vollständige Liste der Referate in den "Linguistischen Berichten" 4/ 1969: 7 7 f . ) . Roland POSNER schreibt über sie: Das Berliner Kolloquium dauerte fünf Tage [6. bis 10. Oktober 1969] und fand in einer Villa am Wannsee statt. Etwa die Hälfte der 30 Teilnehmer nahm hier Quartier, der Rest wohnte bei Bekannten in Berlin oder war Berliner. Ein Viertel der Teilnehmer kam aus dem Ausland, Interessenten aus sozialistischen Ländern hatten keine Ausreisegenehmigung erhalten. Das durchschnittliche Alter lag zwischen 25 und 3O; alle akademischen Funktionen und Titel waren vertreten, doch waren Promovenden und Assistenten gegenüber Anfangssemestern und Habilitierten in der Mehrzahl. (197O: 64) . Was die in Berlin behandelten Themen angeht, so zeigt der Referatenband (RLK 4) nochmals vermehrte Kritik an der gTG. Bezugspunkt bleiben zwar die generativistischen Arbeiten, doch weist die Kritik an ihnen in Richtungen, die in späteren Jahren ins Zentrum des Interesses rücken oder die, von den Generativisten zunächst verkannt, wieder ins Blickfeld kommen: der verkürzende Chomskysche Kompetenzbegriff, der von der heftig debattierten kommunikativen Kompetenz abgelöst werden soll; Fragen der Verbindung der Linguistik zur Literaturwissenschaft; Grundlagenfragen: Was sind Regeln, was der kompetente Sprecher, was formale Theorien?; die Einbeziehung von Verfahren der Logik zur Darstellung der Semantik von Sätzen; Präsupposition, Topikalisierung, Referenz, Pragmatik. (Genaueres über Themen und Tendenzen in dem Erfahrungsbericht von POSNER 1970.) Wohl zusammenhängend mit einer gewissen Konsolidierungsphase der Linguistik - die strukturalistischen und generativistischen Theorien waren rezipiert, die Linguistik hatte sich an den Universitäten institutionell weitgehend durchgesetzt und war, meist innerhalb der traditionellen Philologien, zu einem 'normalen 1 Studienfach geworden, was zu einer größeren Zahl von Lernenden und Lehrenden führte - im Zusammenhang mit dieser Entwicklung und
parallel zum einsetzenden 'Linguistik-Boom 1 erfolgte eine erste Teilnehmerexplosion beim 5. LK vom 29. September bis zum 2. Oktober 1970 in Regensburg. Die Teilnehmerliste weist 88 Namen a u f , der Referatenband (RLK 5) enthält aber nur 28 Beiträge. Damit war "die herkömmliche Trennung von Referent und Konsument und die daraus resultierende Organisationsform des Frontalunterrichts", deren Aufhebung Roland POSNER (1970: 64) für Berlin noch begrüßen konnte, wieder da und ließ sich auch später nicht mehr rückgängig machen. Das Kolloquium hatte sich in Richtung auf einen Kongreß entwickelt, leider auch mit allen Begleiterscheinungen dieser Organisationsform: mit Stars und Sternchen, Profilierungsbedürfnissen und fachidiotischem Gehabe; mit Diskussionen, die manchmal nur Anlaß zur Selbstdarstellung sind oder die zur Befragung werden; mit dem Brillieren vor dem als Konkurrenten betrachteten Kollegen. Das fachliche Gespräch findet meist außerhalb der Kongreßveranstaltungen statt; persönliche Kontakte werden nicht in Plenumsdiskussionen geknüpft, sondern am Rande. Man mag dies bedauern oder für unvermeidlich halten, doch läßt sich die Entwicklung des LK nicht zurückdrehen. Neue Formen der Begegnung werden anderswo ausprobiert, z . B . die Salzburger Frühlingstagung (erstmals 1 9 7 4 ) , wo man wieder in kleiner Gruppe tagt. Daß das LK jedoch nicht tot ist, beweist die immer wachsende Zahl der Teilnehmer - der wechselnde Teilnehmerkreis (der "harte Kern" scheint mir nicht sehr groß zu sein) mag jedoch darauf hindeuten, daß viele einmal und nie wieder kommen. Wie dem auch sei, die Institution LK, die es vereinsrechtlich mit Vorstand usw. gar nicht gibt, hat eine Eigendynamik entwickelt und läuft ... Zurück zu Regensburg: Es bringt eine Fortsetzung der Diskussion der erwähnten neuen Richtungen, neben solchen Referaten, die vom erreichten Stand der gTG aus weiterdiskutieren: Logische Verfahren, Grundlagendiskussion, textgrammatische Überlegungen, pragmatische Fragestellungen. Regensburg bringt aber auch das Ende der gemeinsamen Plenumsveranstaltungen, die Aufgliederung in Sektionen, die Gefahr der Anonymität: Das LK ist eben zum Kleinkongreß geworden. Bezeichnend und erfreulich ist, daß der Untertitel "Über generative Grammatik" von jetzt ab fehlt: Das LK ist offener geworden für andere linguistische Bestrebungen als die gTG, es ist, jedenfalls seinem Anspruch nach, keine reine Spezialistentagung mehr.
8 Dann wurde das LK international: Das nächste, 6 . , Kolloquium fand vom 11. bis 14. August 1971 in Kopenhagen statt. Damit war die wünschenswerte internationale, wenn auch leider nur westeuropäische Öffnung erreicht. Trotzdem kamen, auch bei den folgenden Kolloquien, fast nur Teilnehmer aus den gastgebenden Ländern hinzu, so daß das LK, auch wenn es sich im Ausland sammelte, wesentlich ein bundesdeutsches Unternehmen blieb. Der Sammelband (RLK 6 ) , der sich m . E . etwas prätentiös "Linguistik 1971" nennt, zeigt folgendes: Neben der üblichen Weiterentwicklung oder Modifizierung der 'klassischen 1 gTG werden Postulate der Generativen Semantik verarbeitet, Montague und die "möglichen Welten 1 werden rezipiert, Filimores Kasus-Grammatik wird kritisiert, die Sprechakttheorie wird einbezogen. Bei ca. 7O Teilnehmern enthält der Sammelband 23 Referate (von 25 Autoren) Filimores Beitrag in RLK 6 ist der Text eines Gastvortrags. Man tagte, soweit ich mich erinnere, in zeitlich versetzten Plena; man hatte für jedes Referat eine Stunde Zeit zum Anhören und Diskutieren; Interessierte konnten, während im anderen Raum der nächste Vortrag lief, zur weiteren Diskussion zusammenbleiben. Geographisch umkreiste das Kolloquium von Kopenhagen ausgehend die Bundesrepublik in südlicher Richtung: Die nächsten Stationen waren Nijmegen/Niederlande und, nach einer gewonnenen Kampfabstimmung gegen Linz/Österreich, Leuven/Belgien. Es kehrte 1974 in die Bundesrepublik zurück: Bielefeld richtete das 9. LK aus. Vom 26. bis 30. September 1972 fanden sich in Nijmegen ca. 1OO Teilnehmer ein. An die 30 Referate wurden gehalten, 24 sind im Sammelband (RLK 7) abgedruckt. Es gibt nur noch wenige Beiträge zur 'reinen Syntax 1 ; Semantik, Pragmatik, Sprechakttheorie, aber auch die kontrastive Linguistik sind am stärksten vertreten und beherrschen die Diskussion. Zwar bleibt auch hier meist die gTG in ihren inzwischen vielfältigen und miteinander rivalisierenden Ausprägungen der gemeinsame Bezugspunkt; es wird jedoch versucht, neue Aspekte einzubringen und von außen kommende Ansätze, wie etwa die sprachanalytische Philosophie, verstärkt mit einzubeziehen.
In Leuven waren es beim 8. LK vom 18. bis 22. September 1973 ca. 15O Teilnehmer, fast ausschließlich aus der Bundesrepublik (ca. 9 0 ) , aus Belgien (ca. 50) und aus den Niederlanden (ca. 10). (Die Zahlen nach FALKENBERG/ÖHLSCHLÄGER/WIMMER 1974: 8 1 . ) Es wurden rund 5O Vorträge gehalten, jeweils drei parallel; für Referat und Diskussion standen nur 45 Minuten zur Verfügung. An zwei Nachmittagen fand eine Forumsveranstaltung über Probleme der Valenzgrammatik statt. Die Referate beschäftigten sich zum größeren Teil mit Fragen aus den Bereichen Semantik und Pragmatik (ca. 2 O ) , ca. zehn mit syntaktischen Problemen, die gleiche Anzahl mit allgemeinen Problemen der linguistischen Theoriebildung. Hinzukamen Referate zu Themen aus der kontrastiven Grammatik, der Phonologie und Phonetik, der Psycholinguistik und der historischen Linguistik. (Nach FALKENBERG/ÖHLSCHLÄGER/WIMMER 1974: 81 f . ) Der Referatenband hat einige Wirren mitgemacht; er steht noch immer aus, soll aber demnächst erscheinen (RLK 8 ) . Das 9. LK schließlich fand vom 27. bis 30. August 1974 in Bielefeld statt. Die Teilnehmerliste umfaßte 170 Namen. 61 Vorträge wurden gehalten, davon diejenigen, die Fragen der linguistischen Theorie und der Sprachphilosophie allgemein behandelten, in Vormittagsplena; nachmittags traf man sich in vier Sektionen mit den Themenbereichen: Pragmatik, Sprechakttheorie, Kommunikationstheorie - Syntax/Semantik (A und B) - Soziolinguistik, Psycholinguistik. Die Zuordnung der Referate aufgrund der eingereichten Abstracts war manchmal problematisch (Sie werden dies bei uns wahrscheinlich auch feststellen können), zumal die Abgrenzung der Begriffe, nach denen die Sektionen eingeteilt worden waren, selbst umstritten ist. Was die Themenauswahl anbelangt, zeigt auch das 9. LK, daß es seine Wurzeln im Generativistenlager hat: Syntax und Semantik, wie sie in den Gefilden der Generativen Syntax und der Generativen Semantik verstanden werden, und Kritik an diesem Verständnis führen wieder mit weitem Abstand. Auch die Vorträge, die sich mit der Pragmatik, der Konversationsanalyse etc. oder Psycho- und Soziolinguistik beschäftigen, lassen ihren Autor meist als einstigen oder noch immer überzeugten Generativisten erkennen. Die Öffnung des Kolloquiums, die ich oben erwähnte, ist, an den Bie-
1O
lefelder Tendenzen gemessen, eine Öffnung, die die Generative Grammatik als Ganze mitgemacht hat. Noch immer ist es ziemlich undenkbar, daß ein Referent mit einem ganz anderen Hintergrund und ganz anderen Grundannahmen seine Thesen auf dem LK vorträgt und beim nächstenmal wiederkommt. Die Klage, das LK sei nicht mehr das, was es einmal war, war auch in Bielefeld zu hören. An Vorschlägen zur Abhilfe mangelt es nicht: Den Teilnehmerkreis beschränken durch Referatzwang; nur: Hat nicht auch der bloße Konsument ein Recht, sich zu informieren, zu lernen und zu diskutieren? Die Thematik begrenzen durch Angabe von einem oder mehreren (wenigen) Generalthemen; nur: Welche Themen soll man wählen, wer soll sie wählen, wann sind sie zu wählen? Auf die Publikation der Referate verzichten, damit lebendigere Vorträge und Diskussionen zustande kommen können; nur: Gibt es nicht auch gute Gründe für eine Publikation? Bei der Abschlußdiskussion stand die Publikationsfrage neben der Frage der zukünftigen Organisationsform daher, wie schon so oft vorher, im Mittelpunkt: Wozu überhaupt eine Buchpublikation? Antworten: Damit die paper-Eingeweihten-Wirtschaft nicht gefördert wird. Damit der aktuelle Stand einer Wissenschaft - wenn auch nicht ganz ausgewogen und ganz repräsentativ - nach außen dokumentiert wird. Damit auch jüngere Linguisten eine Möglichkeit haben, ihre Arbeiten relativ rasch zu veröffentlichen, ohne auf die langen Publikationsfristen von Zeitschriften und die manchmal zensierende und seligierende Tätigkeit von Herausgebern angewiesen zu sein. So beschloß dann die Mehrheit der Referenten, die Organisatoren mit der Herausgabe eines Sammelbandes zu beauftragen. Man war sich darüber einig, daß jeder Text, sofern er eine bestimmte Länge nicht überschreitet, aufzunehmen ist - eine Zensur sollte, wie zuvor, nicht stattfinden. Was dann allerdings letztendlich publiziert wurde, war nicht das, was man beschlossen hatte: ein Auswahlband mit 18 Beiträgen, also etwa einem Drittel der Referate (RLK 9 ) . Rechtfertigungsgründe für dieses Verfahren - ein Novum in der Kolloquiumsgeschichte - wird es sicher geben. Was dennoch bei vielen Bielefelder Referenten blieb, deren Beiträge nicht aufgenommen wurden, ist, gelinde gesagt, Verwunderung.
11
Wir werden übermorgen Gelegenheit haben, über die mögliche Herausgabe der Tübinger Referate zu reden. Dann werden wir uns auch über den nächsten Tagungsort einigen. Denn daß es kein 11. LK geben sollte, ist doch irgendwie unvorstellbar. Ich meine, das Kolloquium dürfte noch eine gute Weile laufen. Es erfüllt seine ursprüngliche Funktion, repressionsarmer Raum für offene Diskussionen, bei denen man auch etwas lernen kann, zu sein, sicher eher schlecht als recht. Es gibt aber jedem, der etwas sagen möchte, die Gelegenheit dazu, ohne daß es bisher nötig war, ein Auswahlkomitee zu bemühen. Jeder, ob Student, Mittelbauer oder Ordinarius, kann sich zu Wort melden; es gibt keine geladenen 'Gäste 1 mit Hauptvorträgen. Vielleicht ist es diese trotz allem demokratische Form, die Sie und 170 Ihrer Kollegen dazu bewogen hat, nach Tübingen zu kommen. Nachtrag: Beim Plenum am Freitag, den 2 6 . 9 . , blieb die Klage aus. Man hat sich wohl mit der Entwicklung des LK abgefunden. Den Veranstaltern des 11. LK, das 1976 in Aachen stattfinden soll, wurden keine Empfehlungen zur Um- oder Neuorganisation mit auf den Weg gegeben. Erstmals verabschiedete das Plenum des LK politische Resolutionen. Die erste bat den spanischen Staatschef um Gnade für zum Tode verurteilte Spanier. Die zweite (abgedruckt in der "Zeit", 3 1 . 1 O . 1 9 7 5 : 39, in den "Linguistischen Berichten" 39/1975: 85) beschäftigte sich mit der durch den sog. "Radikalenerlaß" entstandenen Situation an den Universitäten der Bundesrepublik. Die ca. 70 Plenumsteilnehmer forderten Parteien und Regierungen a u f , der unguten Entwicklung Einhalt zu tun, und ihre Kollegen baten sie, "im Bewußtsein ihrer Verantwortung nicht müde zu werden, für eine freie Entwicklung des Forschens und Lehrens einzutreten"
Anmerkung 1
Ich habe diesen Bericht für die Veröffentlichung nicht überarbeitet, sondern den Vortragsstil beibehalten. Lediglich die Quellenangaben wurden beim Vortrag weggelassen.
12
Literatur FALKENBERG, Gabriel / ÖHLSCHLÄGER, Günther / WIMMER, Rainer ( 1 9 7 4 ) : "Das 8. Linguistische Kolloquium in Leuven (Belgien)". Zeitschrift für germanistische linguistik 2: 81-86. HARTMANN, Peter ( 1 9 7 2 ) : Zur Lage der Linguistik in der BRD. Frankfurt am Main: Athenäum. KNOOP, Ulrich / RADTKE, Ingulf I. ( 1 9 7 5 ) : "Das 9. Linguistische Kolloquium in Bielefeld (27.-30. august 1 9 7 4 ) " . Zeitschrift für germanistische linguistik 3: 67-72. POSNER, Roland ( 1 9 7 0 ) : "Viertes Linguistisches Kolloquium Berlin 1969. Ein Erfahrungsbericht". Linguistische Berichte 7: 6370. RLK 2: Zweites Linguistisches Kolloquium: "Über generative Grammatik". Haus Rothenberge bei Ochtrup/Niedersachsen. 1O.-13. Oktober 1967. Universität Stuttgart Dezember 1967 (vervielf.). RLK 3: Drittes Linguistisches Kolloquium über generative Grammatik. Burg Stettenfels bei Untergruppenbach (Heilbronn). 1.4. Oktober 1968. Universität Stuttgart. Lehrstuhl für Linguistik. Papier N r . 8 . Dezember 1968 ( v e r v i e l f . ) . RLK 4: WUNDERLICH, Dieter (ed.) ( 1 9 7 1 ) : Probleme und Fortschritte der Transformationsgrammatik. Referate des 4. Linguistischen Kolloquiums. Berlin 6.-1O. Oktober 1969. München: Hueber. (Linguistische Reihe. 8) RLK 5: STECHOW, Arnim von (ed.) ( 1 9 7 1 ) : Beiträge zur generativen Grammatik. Referate des 5. Linguistischen Kolloquiums. Regensburg, 1970. Braunschweig: Vieweg. (Schriften zur Linguistik. 3) RLK 6: HYLDGAARD-JENSEN, Karl ( e d . ) ( 1 9 7 2 ) : Linguistik 1971. Referate des 6. Linguistischen Kolloquiums. 11.-14. August 1971 in Kopenhagen. Frankfurt am Main: Athenäum. (AthenäumSkripten Linguistik. 1) - Gleichzeitig als "Kopenhagener Beiträge zur germanistischen Linguistik. 2". RLK 7: TEN GATE, Abraham P. / JORDENS, Peter (eds.) ( 1 9 7 3 ) : Linguistische Perspektiven. Referate des VII. Linguistischen Kolloquiums. Nijmegen, 26.-30. September 1972. Tübingen: Niemeyer. (Linguistische Arbeiten. 5) RLK 8: KERN, Rudolf / (THAELS, Vic [ ? ] ) ( e d [ s j . ) (soll erscheinen): Löwen und Sprachtiger. Akten des VIII. Linguistischen Kolloquiums. Löwen, 19.-22. September 1973. [Vermutlich:] Leuven/Louvain: Institut de Linguistique. RLK 9: EHRICH, Veronika / FINKE, Peter (eds.) ( 1 9 7 5 ) : Beiträge zur Grammatik und Pragmatik. Kronberg/Ts.: Scriptor. (Skripten Linguistik und Kommunikationswissenschaft. 12)
l,
WISSENSCHAFTSTHEORIE
WAS HEISST 'ERKLÄRUNG 1 IN DER LINGUISTIK? Eine wissenschaftstheoretische Studie Dieter Freundlieb
1.
Einleitung
1 . 1 . Wissenschaftstheoretische Fragen, so scheint es, befinden sich heute in Deutschland in einer Phase der Hochkonjunktur. Dafür gibt es mehrere Gründe.
Zum einen scheinen sie in der
immanenten Problementwicklung dieser Disziplin zu liegen. Die Grenzen der positivistischen Tradition in der analytischen Wissenschaftstheorie sind sowohl von innen wie auch von außen durch konkurrierende philosophische Richtungen - in den letzten Jahren allzu deutlich bewußt geworden.
Die Folgen dieser Sach-
lage liegen auf der Hand: Es hat eine Ausdifferenzierung in verschiedene Richtungen und Schulen mit beträchtlicher Aktivität eingesetzt. Zugleich, und keineswegs isoliert davon, ist aber auch das wissenschaftstheoretische Problembewußtsein der Wissenschaftler selbst - zumindest in einigen Wissenschaftszweigen - erheblich gewachsen. Offensichtlich hängt dies mit der Frage der gesellschaftlichen Relevanz bestimmter Wissenschaften zusammen. Der Nachweis für diese Relevanz und deren spezifischer Charakter ist nämlich in den nicht unmittelbar technologisch verwertbaren Wissenschaften einigermaßen stringent nur über diesen Umweg zu erreichen.
Hinzu kommt im Fall der Linguistik, daß sich hier
eine Wissenschaft etabliert hat, die sich im wesentlichen - sei es bewußt oder weniger bewußt - der analytischen Wissenschaftstheorie verpflichtet fühlt, obgleich ihr Gegenstandsbereich traditionellerweise den sogenannten Geisteswissenschaften zugehört.
Allerdings hat sie zum Teil aus den Tagen der Junggramma-
tiker mit der Erforschung der Lautgesetze auch eine eher krud positivistische Vorgeschichte. Während es anfangs die Linguistik relativ leicht hatte, ihre wissenschaftstheoretische Eigenständigkeit gegenüber der traditionellen geisteswissenschaftlichen Hermeneutik zu behaupten,
16
ist die Situation seit Beginn des Positivismusstreits und der Entwicklung der dialektisch-hermeneutischen Philosophie, im wesentlichen durch Apel und Habermas, aber auch schon zuvor durch die angelsächsische Philosophy of Action und die Philosophy of Mind in der Nachfolge des späten Wittgenstein, sehr viel schwieriger geworden, und zumindest einige Vertreter der Linguistik in Deutschland scheinen eine Abkehr vom Kritischen Rationalismus in Richtung auf die dialektisch-hermeneutische Wissenschaftstheorie für notwendig zu halten. Zugleich sind aber auch Tendenzen erkennbar, die dazu führen können, daß sich die Linguistik immer mehr an die mathematischen Disziplinen annähert und damit ihres empirischen Gehalts zunehmend beraubt wird, so daß sich die Frage, auf welche Weise die Linguistik sprachliche Phänomene erklärt, kaum noch stellt. Wenn die Frage, welche psychologische Realität sprachliche Regeln haben, nicht mehr aufgrund empirischer Daten entscheidbar ist, entsteht die Gefahr, daß linguistische Theorien uninterpretierte Kalküle bleiben. Die Lösung des Problems der empirischen Überprüfbarkeit und Falsifizierbarkeit ist gegenwärtig sogar äußerst dringlich geworden, wie aus Rudolf P. Bothas Buch "The Justification of Linguistic Hypotheses" (BOTHA 1 9 7 4 ) klar hervorgeht. Der Streit zwischen verschiedenen Theorien und Schulen innerhalb der neueren Linguistik muß letztlich folgenlos bleiben, wenn es nicht gelingt, wohldefinierte Kriterien der Akzeptabilität von Hypothesen und Theorien anhand empirischer Befunde zu formulieren und verbindlich zu machen. Die wissenschaftstheoretische Problemlage in der Linguistik ist jedenfalls heute - das wollte ich in den vorangegangenen Ausführungen zum Ausdruck bringen - alles andere als übersichtlich. Mir scheint es daher nötig zu sein, zunächst einmal etwas mehr Klarheit über die verschiedenen Positionen zu gewinnen, die dann eine philosophisch begründete Entscheidung zugunsten einer bestimmten Position erlaubt. In diesem Sinn soll meine Frage 'Was heißt Erklärung in der Linguistik? 1 ein bescheidener Beitrag zur Lösung dieses Problems sein. Ich werde dabei im wesentlichen eine am Kritischen Rationalismus orientierte Position vertreten, da ich glaube, daß diese Konzeption noch immer über die besseren Argumente verfügt.
2.
Das Problem des Gegenstandsbereichs
2 . 1 . Was nun die Frage der Erklärung angeht, so besteht wohl weitgehend ein Konsensus darüber, daß Erklärungen zu den wesentlichsten Aufgaben jeder empirischen Wissenschaft gehören, wobei ich mit dem Ausdruck 'Erklärung' hier zunächst ausdrücklich an den umgangssprachlichen Ausdruck anknüpfe. Wir glauben,ein tieferes Verständnis der Realität zu gewinnen, wenn wir bestimmte Phänomene oder Sachverhalte in ihrem Zustandekommen erklären können. Um nun aber der Frage nachgehen zu können, welche Form solche Erklärungen haben können, muß zumindest in einer vorläufigen Weise geklärt sein, mit was für einer Art von Forschungsgegenständen es die betreffende Wissenschaft zu tun hat. Und bereits hier herrscht in der Linguistik keineswegs Einmütigkeit. Im wesentlichen lassen sich zwei Positionen ausmachen. Eine, die dazu tendiert, linguistische Gegenstände als einen autonomen Bereich abstrakter Entitäten anzusehen, dessen Eigenschaften Unabhängig von konkretem Sprachverhalten bestimmt werden können, und eine andere, die sprachliche Phänomene prinzipiell als Manifestationen bestimmter humanspezifischer Fähigkeiten betrachtet. Vereinfacht ausgedrückt könnte man auch sagen: Gegenstand der Wissenschaft ist einmal die Sprache und im anderen Fall die Sprachfähigkeit. Hier stellt sich aber nun die Frage, ob es für eine empirische Wissenschaft ontologisch sinnvoll ist, einen Untersuchungsbereich von idealen Entitäten anzusetzen, denen unabhängig von konkreten Bewußtseinsinhalten oder mentalen Strukturen sprachbegabter Wesen - sozusagen für sich - bestimmte Eigenschaften wie Grammatikalität, Ambiguität, Synonymie etc. zukommen sollen. Vielleicht hilft hier ein Vergleich mit der Mathematik einerseits und der Physik andererseits weiter. In der Mathematik scheint es prinzipiell sinnvoll zu sein, z.B. einer bestimmten Zahl die Eigenschaft 'Primzahl' zuzuschreiben, unabhängig davon, ob dies dem mathematisch normal begabten Menschen bewußt ist oder nicht. Analog ist es sinnvoll, daß ein Stück Metall die Eigenschaft haben kann, magnetisch zu sein, ganz gleich, ob ir* gendwer dies weiß oder nicht. Nun sind aber sprachliche Entitä-
18
ten wie etwa Sätze keinesfalls zureichend als sprachliche Phänomene zu fassen, solange sie nur in ihren physikalischen Erscheinungsformen und Eigenschaften genommen werden.
Auch Wörter
sind, wie kürzlich von H . R . Friedman ( 1 9 7 5 ) dargelegt worden ist,
prinzipiell nicht als bloße Inskriptionen zureichend be-
schreibbar. men,
(Freilich muß man Friedman nicht unbedingt zustim-
wenn er behauptet, die Sprache der Linguistik müsse eine
'mixed-mode' Sprache sein, d.h.
sie müsse über materielle und
immaterielle Gegenstände sprechen können.
Dies hängt davon ab,
ob man die Mind-Brain-Identitätsthese akzeptiert oder nicht. Nur wenn man sie nicht akzeptiert, ist
man gezwungen, immate-
rielle Entitäten e i n z u f ü h r e n . ) Will man nun an dem Konzept autonomer sprachlicher Entitäten mit bestimmten, ihnen unabhängig von kognitiv-psychologischen Fähigkeiten zukommenden Eigenschaften
festhalten, so scheint
dies nur in Analogie zur Mathematik oder auch der Logik möglich zu sein. ten.
Eine ähnliche Position hat u.a.
Dretske
( 1 9 7 4 ) vertre-
Damit hat man aber meines Erachtens den empirischen Boden
der Sprachwissenschaft
unter den Füßen verloren.
Autonomie der
Linguistik in diesem Sinn scheint mir ein falsches Ideal zu sein Sanders
( 1 9 7 4 ) hat versucht, diese Position mit folgenden Argu-
menten zu verteidigen: So wie die Linguistik auf Äußerungen und Reaktionen von Sprechern angewiesen sei, so sei auch z . B . die Astronomie auf verschiedenerlei Meßinstrumente angewiesen.
Den-
noch gehe es der Astronomie um die Himmelskörper und der Linguistik um die Sprache, nicht um Sprecherreaktionen. ment ist
aber m . E . fehlerhaft.
kalitätsurteile selbst nur als
Dieses Argu-
Die Tatsache, daß etwa Grammati'evidence 1 gelten und nicht der
eigentliche Forschungsgegenstand
sind, bedeutet nicht, daß der
linguistische Gegenstand nicht doch psychisch-mentaler Natur ist.
Chomskys These, daß die Linguistik, wie er sie versteht,
im Grunde ein Teil der kognitiven Psychologie ist, läßt sich daher im Sinne eines konsequenten Naturalismus kritisch-rationalistischer Prägung auch wissenschaftstheoretisch rechtfertigen. Zunächst muß also festgehalten werden, daß der Erklärungsanspruch der Linguistik, sofern sie eine empirische Wissenschaft sein will, sich auf die Sprache im Sinne der humanspezifischen Fähigkeit richten muß, ein Sprachvermögen zu erwerben, zu besitzen und kommunikativ anzuwenden.
3.
Formen der Erklärung in der Linguistik
3 . 1 . Welche Formen der Erklärung kommen nun für das Phänomen des Erwerbs, des Besitzes und der Verwendung von Sprache in Frage? Hier stehen sich im wesentlichen zwei Positionen gegenüber, die man vereinfacht die kausalistische und die intentionalistische nennen könnte. Während die kausalistische davon ausgeht, daß im Prinzip auch die Wissenschaften vom Menschen als nomologische Wissenschaften betrieben werden können, glauben die Intentionalisten, daß es zumindest einen wesentlichen Bereich menschlichen Verhaltens und Handelns gibt, der nicht nach dem deduktiv-nomologischen Schema der Erklärung gemäß Hempel-Oppenheim erklärt werden kann. Während es in der angelsächsischen Philosophy of Action im allgemeinen um das Problem der Erklärung bewußt intendierten Handelns geht, tritt in der Linguistik vor allem die Frage in den Vordergrund, ob linguistische Theorien Gesetzmäßigkeiten oder Regeln repräsentieren und worin der wissenschaftstheoretische Unterschied zwischen beiden besteht. Hier ist allerdings eine differenzierte Betrachtungsweise angebracht, und zwar je nach dem Teilgebiet, um das es sich gerade handelt. Im Bereich der Sprachverwendung geht es offensichtlich u.a. auch um die Erklärung bewußten Handelns. 3.1.1. Auf dem Gebiet des Spracherwerbs scheint ein weitgehender Konsens darüber zu bestehen, daß die Linguistik hier mit genuin explanativen Theorien im Sinne der Naturwissenschaften arbeiten muß. Um die Ontogenese der Sprache zu erklären, müssen die angeborenen, anthropologisch konstanten Faktoren sowie deren Zusammenspiel mit den Umweltfaktoren erforscht werden, wie schwierig dies auch immer im einzelnen aus den verschiedensten Gründen sein mag. Auch die spezifische Natur der Sprachregeln, die vom Menschen unter Normalbedingungen als Kind internalisiert werden können, kann im Prinzip nomologisch erforscht werden. K.-O. Apel ( 1 9 7 4 ) als Vertreter der dialektisch-hermeneutischen Wissenschaftstheorie hat denn auch den Erklärungsanspruch der Linguistik in dieser Hinsicht anerkannt.
2O
3 . 1 . 2 . Ein sehr viel komplexeres Bild bietet sich dar, wenn es um den Erklärungsanspruch der Transformationsgrammatik geht, insofern sie eine Kompetenztheorie darstellt. Die wissenschaftstheoretisch unterschiedlichen Einschätzungen dieser Teiltheorie der Linguistik sind meines Erachtens bereits in bestimmten Unklarheiten bei Chomsky selbst angelegt. über die psychologische Realität eines Regelsystems, wie es die Grammatik einer Einzelsprache darstellt, hat Chomsky keineswegs einheitliche Aussagen gemacht. Einerseits strebt Chomsky für seine Sprachtheorie zumindest als Fernziel - die Ebene der explanativen Adäquatheit an, so daß im Idealfall eine Einzelsprachen-Grammatik genau das Regelsystem repräsentiert, das von den Sprechern/Hörern dieser Sprache internalisiert worden ist. Bloß deskriptiv adäquate, extensional äquivalente Grammatiken sind unter diesem Aspekt bekanntlich keineswegs gleichwertig. Bereits Notationsfragen sollen ja empirisch entschieden werden. Wenn nun ein solches Regelsystem empirische Erklärungskraft haben soll, indem es wesentliche Teilbedingungen für sprachliche Kommunikationsprozesse charakterisiert - ein Performanzmodell soll ja nach Chomsky die Kompetenztheorie als Basis enthalten -, so muß diesem Regelsystem eine irgendwie geartete psychologische Realität entsprechen. Damit nun die methodologische Forderung der prinzipiellen Falsifizierbarkeit erfüllt ist, müssen psychologische Experimente und Beobachtungen mindestens denkbar sein, die eine begründete Entscheidung über verschiedene Formen von Regeln erlauben würden. Andererseits neigt Chomsky aber dazu, die Ergebnisse psycholinguistischer Experimente, die gegen die Form vorliegender transformationeller Regeln sprechen, zu ignorieren, indem er sich auf die weniger riskante Position zurückzieht, nach der eine Grammatik in psychologisch neutraler, abstrakter Weise ein intuitives Wissen lediglich beschreibt. So hat denn Judith Greene (1972) zwischen einer (psychologisch) 'neutralen' und einer (psychologisch relevanten) 'starken' Definition des Kompetenzbegriffs bei Chomsky unterschieden und festgestellt: ... there is a distinct tendency among transformational linguists to protect their theories from psychological evidence on the basis of the first, more neutral definition of competence, while at the same time, under the guise of the stronger definition, making extensive claims
about the psychology of cognitive functioning. 1972: 99)
(GREENE
Wenn aber der Erklärungsanspruch im Sinne des Kritischen Rationalismus beibehalten werden soll, muß sich die Kompetenztheorie auf ihre starken psychologischen Implikationen im Sinne einer riskanten Theoriebildung einlassen. 3.1.3. Teilweise wohl unter dem Eindruck der Schwierigkeit, die psychologische Realität der Kompetenz empirisch erfaßbar zu machen, aber wohl eher noch aus prinzipiellen wissenschaftstheoretischen Bedenken gegen den Kritischen Rationalismus heraus, sind in neuerer Zeit zunehmend Auffassungen vertreten worden, die das Regelsystem einer Grammatik überhaupt nicht als explanative Theorie über gesetzmäßige Teilbedingungen des Sprachverstehens auffassen, sondern darin eine rationale bzw. normative Rekonstruktion des bewußten und unbewußten grammatischen Wissens der Sprecher/Hörer sehen. Wunderlich spricht in diesem Zusammenhang von der Linguistik als einer "explikativ-empirischen" Wissenschaft und sagt: "Diese Art von Sprachwissenschaft unterscheidet sich nicht grundsätzlich von der Logik" (WUNDERLICH 1974: 2 1 5 ) . Auch Habermas hat sich dieser Auffassung angeschlossen und von einem eigenen Typus rational nachkonstruierender Wissenschaften gesprochen. Nun will ich nicht bestreiten, daß man durchaus das Wissen über die Ausdrucksmöglichkeiten menschlicher Sprachen erweitern kann, indem man in einer linguistischen Konstruktsprache die natürliche Sprache normativ rekonstruiert. Dennoch scheint mir, daß man sich damit ein tiefergehendes Verständnis für das Phänomen Sprache und seine natürlichen Bedingungen und Grundlagen verstellt. Das Mißtrauen gegen einen psychologischen Reduktionismus macht sich m . E . auch in der Semantik deutlich bemerkbar. Hier sagt Wunderlich ( 1 9 7 4 ) , Bedeutungen könnten nur ausgedrückt, nicht aber bezeichnet werden, und eine Erklärung scheint er überhaupt nicht ins Auge zu fassen. Im Gegensatz zu der Auffassung Wunderlichs scheint es mir gerade der Mangel aller Semantiktheorien zu sein, daß sie das Phänomen des semantischen Verstehens immer schon voraussetzen und die Repräsentation lexikalischer Einheiten in der Form von Merkmalsbündeln über eine explikative Definition bzw. Übersetzung kaum hinaus-
22
geht. Die mentale Funktionsweise der semantischen Kategorisierung der Welt etwa wird - soweit ich sehe - noch nirgends auch nur annähernd erklärt. Die Vorstellung, daß die Kompetenz ein Wissen sei, das lediglich in Form von Regeln explizit zu machen ist, scheint mir überhaupt eher irreführend zu sein. Schon Chomsky selbst ist m. E. hieran nicht ganz unschuldig. Zur Aufdeckung der Prozesse, die faktisch das Sprechen und Verstehen von Sprache erklären könnten, auch wenn man zunächst noch von allen möglichen Performanzfaktoren und Kontextbedingungen absieht, ist das Konzept eines unbewußten Wissens heuristisch nicht sonderlich fruchtbar und hat, wie ich meine, mit zu dem Hyperrationalismus beigetragen, der sich in dem Konzept der rationalen Nachkonstruktion niedergeschlagen hat. 3 . 1 . 4 . In diesem Zusammenhang ist auch die Frage relevant, wie das Verhältnis zwischen Regeln, die die Kompetenz repräsentieren sollen, und allgemeinen Gesetzmäßigkeiten im Sinne der Naturwissenschaften zu bestimmen ist. Chomsky macht meines Wissens hierzu keine definitiven Aussagen, aber sofern diese Regeln wirklich psychologische Realität haben, haben sie auch nach Chomsky erklärungstheoretisch und prognostisch denselben Status wie andere Gesetzmäßigkeiten. Indem sie angeborene und erworbene mentale Strukturen repräsentieren, dienen sie der Erklärung und der Vorhersage intuitiver Grammatikalitätsurteile und anderer sprachlicher Verhaltensweisen. Sofern aber die Sprachregeln als allgemeinverbindliche, mehr oder weniger unbewußt befolgte Normen für grammatische Sätze aufgefaßt werden und insofern nicht Naturgesetzen gleichen, wäre folgendes zu sagen: Das Befolgen von Normen - sei es bewußt oder unbewußt - kann m . E . anderen Verhaltensformen wissenschaftstheoretisch überhaupt nicht sinnvoll als Gegensatz gegenübergestellt werden. Beide Phänomene, das Normenbefolgen wie auch das nicht normenbefolgende Verhalten können nach ihren Ursachen und Gesetzmäßigkeiten untersucht und erklärt werden. Sowohl die Art und Weise wie, d.h. in Form welcher mentaler Prozesse, eine Regel qua Sprachnorm befolgt wird, kann empirisch untersucht werden - das ist Aufgabe der Psycholinguistik
- wie auch die Frage,
warum die Sprecher im allgemeinen die Sprachregeln mehr oder weniger strikt befolgen bzw. gelegentlich nicht befolgen - eine Frage, die eher die Soziolinguistik angeht. Freilich habe ich damit einen Standpunkt eingenommen, der in der Philosophy of Action von den Intentionalisten - also etwa von Von Wright ( 1 9 7 1 ) oder Charles Taylor ( 1 9 6 4 ) - bestritten wird. Auch in der dialektisch-hermeneutischen Philosophie stößt ein solches Erklärungsprogramm auf Ablehnung. 3.1.5. Mit dem Fall der bewußten Befolgung oder sogar der bewußten Durchbrechung von Sprachregeln sind wir aber bereits voll auf dem Gebiet der Performanz, und hier scheint der intentionalistische Erklärungsanspruch noch am ehesten gerechtfertigt zu sein. Welche Argumente werden hier von den entsprechenden Positionen ins Feld geführt? Ich kann im Rahmen dieses Vortrags leider nicht im einzelnen die Diskussion rekonstruieren, die in der Philosophy of Action und der Philosophy of Mind geführt wurde und geführt wird. Wesentlich scheint mir zu sein, daß sich Kausalisten und Intentionalisten bereits in ihren metaphysischen, d . h . also nicht unmittelbar empirisch entscheidbaren, Prämissen unterscheiden. Während die Kausalisten ein allgemeines Determinismusprinzip als heuristische Leitidee der Wissenschaft akzeptieren, gehen die Intentionalisten davon aus, daß es im Bereich bewußten Handelns so etwas wie die Kantische 'Kausalität aus Freiheit' gibt, d . h . daß Menschen im Prinzip in der Lage sind, Kausalketten zu initiieren, ohne daß das Initialglied dieser Kette selbst schon determiniert gewesen ist; daß also in diesem spezifischen Sinn freie Handlungen möglich sind. Die Strategie der Intentionalisten besteht vorwiegend in dem sprach- bzw. begriffsanalytischen Nachweis, daß menschliche Handlungen - und das heißt natürlich auch Sprechhandlungen - mit einem ganz anderen Begriffsapparat beschrieben und erklärt werden als Naturprozesse. Die dialektisch-hermeneutische Philosophie von Apel und Habermas dagegen hat sich nicht nur diese Argumente zu eigen gemacht - Habermas unterscheidet strikt zwischen einer Sprache über Dinge und Ereignisse auf der einen und einer Sprache über Personen und deren Äußerungen auf der anderen Seite -, sondern gemäß der unter-
24
schiedlichen philosophischen Tradition auch auf idealistischphilosophische Konzepte des Freiheitsbegriffs zurückgegriffen. Neuerdings wurde auch verstärkt der Versuch unternommen, durch die Denkfigur der sogenannten transzendentalen Reflexion der Bedingungen der Möglichkeit rationaler Argumentation eine nichtmetaphysische Begründung der Anerkennung der Diskursteilnehmer als frei handelnder Personen zu liefern. Ich denke hier an das Apelsche Argumentationsapriori. Dennoch halte ich diesen Versuch im großen und ganzen für mißlungen. Gegen die sprachanalytischen Argumente des sogenannten New Dualism,wie die intentionalistische Richtung auch inzwischen genannt worden ist (LANDESMAN 1965), lassen sich von kausalistischer Seite folgende Einwände machen: Aus der unbestrittenen Tatsache, daß man für Handlungen teleologische oder intentionale Erklärungen in Begriffen geben kann, die nicht ohne Bedeutungsveränderung in eine physikalistische Sprache übertragen werden können, folgt noch nicht, daß prinzipiell keine naturalistische, d.h. also neurophysiologische oder sogar biophysikalische Erklärung dieser Handlung als Handlung gegeben werden kann. Ziel eines Materialismus im Sinne einer bestimmten Version der Mind-BrainIdentitätsthese ist gerade, den Nachweis der prinzipiellen Ersetzbarkeit, nicht der Reduzierbarkeit, mentaler Ausdrücke zu erbringen. Ich meine die sogenannte Displacement-Hypothese. Ferner hat auch Stegmüller neuerdings gezeigt, daß intentionale Erklärungen von Handlungen im Gegensatz zur Auffassung der Intentionalisten durchaus mit nomologischen Erklärungen derselben Handlungen kompatibel sind (STEGMÜLLER 1 9 7 5 ) . Hier kann also eine Entscheidung in der Tat nur aus praktischen Gründen getroffen werden. Die kausalistische Position steht dabei vor allem vor der immensen praktischen Schwierigkeit, daß vollständige nomologische Erklärungen für Sprechhandlungen gegenwärtig, und sicher noch auf lange Sicht, Wunschträume bleiben müssen, da unser Unwissen, was die Ursachen menschlichen Verhaltens betrifft, derzeit noch nahezu grenzenlos ist. 4.
Ergebnisse
4.1.
Was können wir nun aber als Ergebnis unserer Überlegungen
festhalten? Folgende Punkte scheinen mir hier wesentlich zu sein: Erstens muß der Linguistik generell daran gelegen sein, in dem Streit der Schulen und Richtungen mehr Klarheit über die wissenschaftstheoretischen Prämissen zu gewinnen, von denen aus argumentiert wird. Zweitens glaube ich, daß auf längere Sicht diejenige Richtung das tiefere Verständnis des Phänomens Sprache erbringen wird, die sich konsequent um die Aufdeckung der psychischen Realität sowohl des Spracherwerbs wie auch der Kompetenz- und der Performanzfaktoren bemüht, soweit eine klare Trennung der beiden letzten Faktoren überhaupt noch möglich ist, Ein Ausweichen auf weniger riskante Deutungen der entsprechenden Hypothesen macht diese zwar weniger angreifbar, dafür aber auch inhaltsleer. Ein solches Vorgehen kann dem Erklärungsanspruch 4er Linguistik nicht förderlich sein. Was schließlich die Ebene der Erklärung konkreter Sprechhandlungen angeht, so scheint mir in der augenblicklichen Situation ein kompromißloses Festhalten an einem nomologischen Erklärungsideal wenig angebracht. Hier, meine ich, sollte man durchaus zweigleisig verfahren und die logische Analyse intentionaler Erklärungsmuster ebenso weiterentwickeln, wie man versuchen sollte, die Kausalanalyse dieser Phänomene in den Griff zu bekommen.
Anmerkung Eine eingehende Begründung für diese These findet sich in meiner Dissertation "Probleme der wissenschaftstheoretischen Grundlegung einer empirisch-analytischen Literaturwissenschaft" (noch unveröffentlicht) .
Literatur APEL, K.-O. ( 1 9 7 4 ) : Transformation der Philosophie. Frankfurt am Main. BOTHA, R.P. (1974) : The justification of linguistic hypotheses. The Hague. COHEN, D, (ed.) ( 1 9 7 4 ) : Explaining linguistic phenomena. Washington. DRETSKE, F.J. ( 1 9 7 4 ) : "Explanation in linguistics". Cohen ( e d . ) .
2G
FRIEDMAN, H . R . ( 1 9 7 5 ) : "The ontic status of linguistic entities". Foundations of Language: 13. GREENE, J. ( 1 9 7 2 ) : Psycholinguistics. Harmondsworth. LANDESMAN, Ch. ( 1 9 6 5 ) : "The new dualism in the philosophy of · mind". The Review of Metaphysics. SANDERS, G.A.
( 1 9 7 4 ) : "Introduction". Cohen ( e d . ) .
STEGMÜLLER, W. ( 1 9 7 5 ) : Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie II. Stuttgart. 103ff. TAYLOR, Ch. ( 1 9 6 4 ) : The Explanation of Behaviour. London. WRIGHT, G . H . von ( 1 9 7 1 ) : Explanation and Understanding. Ithaca, WUNDERLICH, D. ( 1 9 7 4 ) : Grundlagen der Linguistik. Reinbek.
DAS PROBLEM DER OBJEKTIVITÄT LINGUISTISCHER THEORIEN Helga Andresen
0.
Die These
Sowohl für die Grammatiktheorie des frühen Strukturalismus wie auch für die generative Transformationsgrammatik läßt sich nachweisen, daß diese linguistischen Theorien die Kriterien wissenschaftlicher Objektivität nicht erfüllen können, die im Rahmen der wissenschaftstheoretischen Position des kritischen Rationalismus erarbeitet worden sind. Da es kaum ein anderes ähnlich gut ausgearbeitetes methodologisches Paradigma für empirische Theorien gibt als dasjenige des kritischen Rationalismus und da seit der generativen Transformationsgrammatik linguistische Theorien verbreitet als hypothetisch-deduktive Theorien eingeschätzt werden, führt dieser Mangel an Objektivität zu einem schwerwiegenden methodologischen Problem. Die These lautet weiter, daß im Bereich linguistischer Pragmatiktheorien diesem Problem nicht mehr ausgewichen werden kann, wie es z . B . Chomsky tut durch eine weitgehende Vernachlässigung des "context of discovery". Daraus folgt die Notwendigkeit, sich dem Problem der Objektivität
linguistischer Theo-
rien energisch zuzuwenden. 1.
Der empiristische Strukturalismus
Als Beispiel des empiristischen Strukturalismus nehme ich 2 hier Bloomfields Arbeiten. im Einklang mit den wissenschaftstheoretischen Postulaten des logischen Empirismus besteht für Bloomfield d i e
O b j e k t i v i t ä t
wissenschaftlicher E r -
kenntnis in der Rückführbarkeit der theoretischen Begriffe auf Beobachtungsdaten. Von daher gewinnt der materielle Aspekt der Sprache Priorität bei der linguistischen Analyse. Zu dem materiellen Aspekt gehören Laute und das beobachtbare menschliche Verhalten, welches die Produktion von Lauten auslöst, bzw. durch Lautketten verursacht wird. Sprachliche Bedeutung soll aus der Analyse so weit wie möglich eliminiert werden,
28
da semantische Begriffe nicht vollständig und eindeutig auf beobachtbare Daten zurückgeführt werden können. Wohlgemerkt, Bloomfield verneint nicht, daß es so etwas wie einen "mentalen" Aspekt der Sprache gebe, er hält ihn nur nicht für wissenschaftlich beschreibbar. Die Anweisungen zu linguistischen Analysen sollen so
ein-
deutig formuliert werden, daß keinerlei subjektive Momente in die Beschreibung eingehen. Unter subjektiven
Momenten
ver-
steht Bloomfield nicht nur individuelle Erfahrungen und Meinungen, sondern auch die "Verstehenshorizonte", auf die Sprecher-Hörer für die Interpretation von Lautketten
grundsätz-
lich rekurrieren müssen. So wie die semantische Interpretation von Lautketten aus dem Objektbereich der Theorie ausgespart bleibt, so ist
dem Analysator der Rekurs auf sein
sprachliches Wissen weitgehend untersagt. Der ideale Analysator verhält sich wie eine Maschine, die nach bestimmten, explizit formulierten Anweisungen Operationen zur Segmentierung und Klassifizierung von Lautketten vornimmt. Dementsprechend hat der Grammatiktheoretiker die Aufgabe, einen Algorithmus zur Sprachanalyse
zu erstellen.
In der Forschungspraxis wurden bei der Datenerhebung allerdings zahlreiche Informationen über den sozio-kulturellen Hintergrund der Informanten wirksam. Es sei daran erinnert, daß die amerikanische Linguistik in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts weitgehend durch die empirische Arbeit der Erforschung unbekannter Sprachen bestimmt wurde. Für die Aufnahme von Stammessprachen in Indianerreservaten z . B . waren selbstverständlich Kenntnisse über die indianische Kultur erforderlich; einerseits, um sich "normgerecht" verhalten zu können und damit eine Zusammenarbeit mit den Informanten überhaupt zu ermöglichen; andererseits, um Anhaltspunkte für die notwendige Interpretation des angebotenen sprachlichen Materials zu bekommen. Bloomfields methodologische Postulate
zie-
len offensichtlich auf den zweiten Teil der Analyse, nämlich die systematische linguistische Beschreibung der erhobenen (und immer schon interpretierten) Daten. Die Selbstverständlichkeit der praktischen Feldarbeit konnte darüber hinweg-
29
täuschen, daß die tatsächlich ausgeübte Forschungstätigkeit wesentlich komplexer war als von den methodologischen Postulaten zugelassen. 2.
Die generative Transformationsgrammatik
Können die von Bloomfield entwickelten methodischen Anweisungen im angedeuteten Sinne schon von beobachtungsadäquaten Grammatiken nicht voll eingehalten werden, so hat Chomsky darüber hinaus nachgewiesen, daß der Versuch, Sprachwissen aus linguistischer Theoriebildung zu verbannen, Beschreibungs4 inadäquatheiten nach sich zieht. Chomsky formulierte dementsprechend als Aufgabe einer beschreibungsadäquaten Grammatik "to give a correct account of the linguistic intuition of the native speaker". (1964: 63) Seine Theorie ist so angelegt, daß die Sprecherintuition sowohl Beschreibungsgegenstand wie zentrale heuristische Instanz darstellt, auf die während des Theoriebildungsprozesses stets rekurriert werden muß. Nur sie kann angemessene Daten liefern ( z . B . Desambiguierung ambiger Äußerungen durch Paraphrasierung), und nur sie kann letztendlich die Hypothesen der Theorie bestätigen bzw. falsifizieren. Nun ist es ja bekannt, daß die generative Theorie nicht die Sprachkompetenz empirisch vorfindlicher Sprecher-Hörer beschreiben soll, sondern die des idealen Sprecher-Hörers, der genau die Fähigkeit besitzt, jedem Satz der Sprache L, die er beherrscht, das Prädikat "grammatisch in L" oder das Prädikat "nicht grammatisch in L" zuzuordnen, Bedeutungsgleichheit und Ambiguität von Sätzen zu erkennen und die Ambiguität durch Paraphrasierung aufzulösen. Alles dieses kann er durchführen, ohne Informationen über verbalen und nicht-verbalen Kontext der in Frage stehenden Sätze heranziehen zu müssen, denn der Bezug auf situative Faktoren wird durch den theoretischen Ansatz nicht erfaßt. Die Idealisierungen, die der Konzeption des idealen Sprecher-Hörers zugrundeliegen, sind vielfach beschrieben und kritisiert worden. In unserem Zusammenhang interessieren die Konsequenzen, die aus der Konzeption des idealen Sprecher-Hörers für die Daten- und Bestätigungsbasis der Theorie und für deren Objektivität folgen.
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Die generative Theorie abstrahiert von empirischen Sprecher-Hörern in der Weise, daß sowohl individuelle Eigenschaften wie auch Gruppenzugehörigkeit und situative Bedingungen der Sprachproduktion vernachlässigt werden. Dementsprechend braucht bei der Auswahl von Informanten auf solche Faktoren keine Rücksicht genommen zu werden. Da die Theorie unterstellt, d a ß e s d a s Regelsystem einer Einzelsprache gibt, das jeder kompetente Sprecher vollständig beherrscht, eignet sicrt jeder als Informant, der normal intelligent ist und die zu untersuchende Sprache vollständig beherrscht. Linguisten können also auch sich selbst als Informanten wählen, sofern sie die genannten Bedingungen erfüllen. Die Annahme, daß "eine Sprache beherrschen" heißt "ein Regelsystem internalisiert haben", und die weitere Annahme, daß alle Mitglieder einer Sprachgemeinschaft das g l e' i c h e Regelsystem internalisiert haben, ermöglicht die theoretische Rechtfertigung d e r i n t r o s p e k t i v e n D a t e n g e w i n n u n g i n d e r Linguistik. Gelingt es Chomsky auch, die Beschreibungsinadäquatheiten und induktivistischen Unzulänglichkeiten der deskriptiven Grammatik zu überwinden, so stellt sich ihm doch das Objektivitätsproblem neu, das Bloomfield zu lösen versuchte durch weitgehende Eliminierung sprachlicher Bedeutung aus linguistischer Theoriebildung. Das Problem besteht darin, wie die Korrektheit d e r Auskünfte d e s kompetenten Sprechers n a c h g e w i e s e n werden kann. When we discuss the levels of descriptive and explanatory adequacy, questions immediately arise concerning the firmness of the data in terms of which success is to be judged (nor are difficulties lacking even on the level of observational adequacy ...). (CHOMSKY 1964: 79) Befriedigende operationale Prozeduren dafür gibt es nicht, da Sprecherurteile grundsätzlich nicht durch Meßverfahren überprüft werden können, die selbst nicht schon die Anwendung intuitiven Sprachwissens voraussetzen. Wo der Anspruch erhoben wird, daß es solche Prozeduren gebe, handelt es sich nach Chomsky entweder um Randprobleme der Sprachbe-
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Schreibung, oder die Tatsache, daß die Prozeduren den Rekurs auf Sprecherintuition erfordern, wird schlicht übersehen.
Die methodologischen Normen der generativen Theorie sind diejenigen, die von der Wissenschaftstheorie des kritischen Rationalismus entwickelt wurden; zu deren zentralen Forderungen gehört die nach intersubjektiver Nachprüfbarkeit der Aussagen von Theorien. Die theoretischen B e g r i f f e müssen operationalisierbar sein, was bekanntlich bedeutet: die Aussagen einer empirischen Theorie müssen grundsätzlich mit Handlungsanweisungen verbunden sein, und zwar mit Anweisungen zu Meßhandlungen, die primär nicht-verbaler Natur sind, so daß die Meßdaten nach den in der Theorie deduzierten Formeln zueinander in Beziehung gesetzt werden und auf diese Weise die Aussagen der Theorie bekräftigt oder erschüttert werden können. Da ein solches Vorgehen linguistischen Theorien nicht, bzw. nur um den Verlust ihres Gegenstandes, möglich ist, kommt es dazu, daß die generative Theorie, die für sich in Anspruch nimmt, die Standards moderner empirischer Theorien zu erreichen, die wesentliche Forderung nach Objektivität nicht erfüllen kann. Chomsky sieht dieses Problem und nimmt zu ihm die pragmatische Haltung ein, daß man, da zur Zeit dringend Einsichten in die Sprachstruktur nötig seien, sich um solche bemühen solle, ohne sich durch das ungelöste Objektivitätsproblem davon abhalten zu lassen. In konkreto heißt das, daß man sich an die Formulierung der Theorie macht und die ungelösten Probleme der empirischen Basis ungelöst läßt. Das bisher Gesagte sollte deutlich gemacht haben, daß das O b j e k t i v i t ä t s p r o b l e m linguistischer Theorien darin besteht, daß die Bedingungen der Datenkonstitution intersubjektive Nachprüfbarkeit der Daten im Sinne der wissenschaftstheoretischen Postulate des kritischen Rationalismus verbieten. Da der Linguist gezwungen ist, auf das Wissen des sprachbeherrschenden Individuums zu rekurrieren, können die theoretischen linguistischen Begriffe nicht auf non-verbale Handlungen zurückgeführt werden. Natürlich besteht die Möglichkeit, Informantenbefragung und Introspek-
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tion bestimmten Kontrollen zu unterwerfen, um Zufälligkeiten zu vermeiden. Aber das ändert nichts an den skizzierten grundsätzlichen Bedingungen der Datenkonstitution. 3.
Ansätze zu einer linguistischen Pragmatiktheorie
Die seit wenigen Jahren zu verzeichnenden Forderungen nach einer linguistischen Pragmatiktheorie gehen aus von einer Kritik an dem idealen Sprecher-Hörer als dem Gegenstand der generativen Transformationsgrammatik. Die weitgehende Abstraktion vom sozialen Charakter menschlicher Sprachen soll zurückgenommen werden. Linguistischen Pragmatiktheorien ist - in aller Allgemeinheit charakterisiert - die Aufgabe gestellt, eine Typisierung menschlicher Sprechhandlungen vorzunehmen, die Struktur von Folgen von Sprechhandlungen zu beschreiben und zu klären, unter welchen Bedingungen Sprechhandlungen möglich sind. Dem liegt die Annahme zugrunde, daß Sprache und Handeln miteinander verschränkt sind, daß sie eine Sinneinheit bilden, in dem das eine seinen Sinn erhält nur im Lichte des anderen und umgekehrt. Weiter liegt dem die Annahme zugrunde, daß Sprache nur dann angemessen beschrieben werden kann, wenn die "Verstehenshorizonte" der Sprecher in die Theoriebildung einbezouen werden und wenn in Rechnung gestellt wird, daß solche Verstehenshorizonte abhängig sind von den sozialen Erfahrungen der Menschen; linguistische Theorien müssen also die soziale Struktur der "Sprachgemeinschaften" berücksichtigen, was im Vergleich zur generativen Transformationsgrammatik die Annäherung der Theorie an die empirische Basis bedeutet. Ich vertrete nun die These, daß linguistische Pragmatiktheorien dann, wenn sie Ernst machen mit den Versuch, die linguistische Theorie der empirischen Basis anzunähern, notwendigerweise mit dem hier so genannten Objektivitätsproblem zu kämpfen haben. Chomsky kann den Schwierigkeiten erfolgreich ausweichen, indem er die Bedingungen der Datenkonstitution zwar zur Kenntnis nimmt, sie bei der Theoriebildung jedoch weitgehend vernachlässigt. Er stützt sich auf die ihm zur
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Verfügung stehenden Daten, die ihm im wesentlichen durch vorliegende Grammatiken (Materialsammlungen) und durch seine eigenen Sprachkenntnisse geliefert werden; ohne die Herkunft der Daten konsequenzenreich zu problematisieren, formuliert er auf ihrer Basis Hypothesen über ihre Organisation und die Bedingungen, die es Menschen ermöglichen, auf der Grundlage der ihnen vefügbaren Daten Sprache zu erwerben. Bestätigungsinstanz für die Hypothesen sind seine eigenen Sprachkenntnisse und diejenigen anderer Sprecher, wobei die Informanten nur die oben genannten Bedingungen erfüllen müssen, über den Bemühungen um die Formalisierung der Theorie können die methodologischen Probleme, die sich aus den besonderen Bedingungen linguistischer Datenkonstitution ergeben, erfolgreich verdrängt werden. Der Preis dafür ist die Gefahr, die Theorie empirisch nicht mehr überprüfen zu können, da wesentliche Aspekte von Sprache dem Abstraktionsprozeß zum Opfer fallen. Da die pragmatische Beschreibung von Äußerungen nicht eindeutig bestimmt ist durch ihre semantische Beschreibung, sondern in sie auch die Beschreibung der Situationsbedingungen und der sozialen Beziehungen der Interaktionspartner eingeht, muß eine linguistische Pragmatiktheorie die sozialen Bedingungen der Interaktionspartner in die Analyse einbeziehen können. Die hier skizzierten Aufgaben einer linguistischen Pragma tiktheorie führen zu der Notwendigkeit, dem "context of discovery" größere Aufmerksamkeit zu widmen, als es z . B. in der generativen Theorie der Fall ist. Dabei werden insbesondere die Methoden der Datenerhebung neu zu reflektieren sein, da die in der Linguistik üblichen Methoden der Informantenbefragung und der Introspektion keine angemessenen Ergebnisse liefern können.Diese Behauptung sei noch kurz begründet, bevor o ich zum Schluß komme. Vorhin habe ich gesagt, daß Chomsky i n t r o s p e k t i v e D a t e n g e w i n n u n g n u r rechtfertigen kann aufgrund der Idealisierungen, die die Konzeption des idealen Sprecher-Hörers ermöglichen. In dem Augenblick, in dem man
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den sozialen Charakter von Sprache nicht nur so versteht, daß Sprache ein funktionierendes Kommunikationsmittel in Gesellschaften ist, sondern daß darüber hinaus die soziale Bestimmtheit der Sprachbenutzer der Sprache wesentlich ist und somit zum Gegenstand der Sprachwissenschaft gehört, kann der Linguist nicht mehr überwiegend introspektiv vorgehen, will er angemessene Ergebnisse erhalten. Die Voraussetzung, die in der generativen Theorie gilt, daß alle Sprecher einer natürlichen Sprache ein identisches Regelsystem internalisiert haben, wird hinfällig. Die Theorie muß die Möglichkeit erfassen können, daß in einer Sprachgemeinschaft verschiedene, durch die gesellschaftlichen Verhältnisse bedingte Normensysteme existieren, die einander ergänzen, einander überlappen und zueinander in Widerspruch stehen. Der Linguist muß davon ausgehen, daß er keineswegs alle Normensysteme "internalisiert" oder "erfahren" hat. Introspektion mag ein nützliches Hilfsmittel für heuristische Vorklärungen bleiben, aber sie kann unter den genannten Voraussetzungen nicht als wesentliches Mittel der Datengewinnung eingesetzt werden. Auch I n f o r m a n t e n b e f r a g u n g z u m Sprachverhalten gibt keine ausreichende Datenbasis für linguistische Pragmatiktheorien ab, da Auskünfte von Personen zu ihrem Kommunikationsverhalten dadurch verfälscht sein können, daß sie sich über ihre eigenen Kommunikationsvoraussetzungen täuschen. Ein Informant müßte darüber befragt werden, wie er sich in vergangenen Sprechsituationen verhalten hat, wie er sich in zukünftigen Sprechsituationen verhalten wird, bzw. er müßte die Verhaltensweisen von fiktiven Personen in fiktiven Sprechsituationen auf ihre "Normalität" 9 hin beurteilen. Dazu ist eine Situationsdefinition notwendig, die jeder Kommunikant während jedes Kommunikationsaktes vornehmen muß. Sie umfaßt mindestens die Definition oder Kenntnis der sozialen Beziehungen zwischen den beteiligten Interaktionspartnern, wozu auch die Identifizierung des "institutionellen Rahmens" gehört, innerhalb dessen kommuniziert wird. Die Sprechsituationen sind außerordentlich komplex, so daß ihre Defi-
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nitionen zahlreiche Fehlerquellen enthalten. Erschwerend für eine linguistische Pragmatiktheorie wirkt die Tatsache, daß die intuitive Situationsdefinition während eines Kommunikationsaktes durch einen Informanten nicht übereinzustimmen braucht mit der Definition der gleichen Situation durch den gleichen Informanten während einer Befragung. Denn das Bewußtsein von den eigenen Verhaltensweisen kann in vielfacher Weise verzerrt sein, z.B. durch Wunschbilder über die eigene soziale Rolle und die daraus resultierenden Verhaltensmöglichkeiten und durch Selbsttäuschung über die eigenen kommunikativen Absichten. Bewußte und unbewußte Manipulation in Sprechakten wird kaum erfragt werden können. Ebenso wie die Introspektion kann die Informantenbefragung keine ausreichende Datenbasis für eine linguistische Pragmatiktheorie abgeben. Der Linguist muß die Möglichkeit haben, die Auskünfte der Informanten daraufhin zu überprüfen, ob sie den Interaktionsprozeß zutreffend wiedergeben, und dafür muß er diesen unabhängig von den Informantenaussagen beschreiben können. Da die bisher in der Linguistik angewandten Methoden der Datengewinnung nicht geeignet erscheinen, eine der Aufgabenstellung linguistischer Pragmatiktheorien angemessene Datenbasis zu gewährleisten, wird für die Entwicklung linguistischer Pragmatiktheorien die Klärung des Beobachtungsbegriffs zentral werden. Es erscheint mir notwendig, Verfahren zur Datengewinnung zu erarbeiten, die Beobachtung, Befragung, Introspektion und gezielte Diskussion über Kommunikationsbedingungen systematisch zueinander in Beziehung setzen. Es ist evident, daß dabei ein wesentliches Problem darin liegen wird, die Objektivität" der Datenerhebungsmethoden sicherzustellen. In diesem Zusammenhang erschien es mir sinnvoll, darauf hinzuweisen, daß die vorliegenden Grammatiktheorien der Forderung nach Objektivität im Sinne des kritischen Rationalismus nicht nachkommen können, daß also das Objektivitätsproblem kein spezielles Problem linguistischer Pragmatiktheorien sein wird, sondern ein schwerwiegendes methodologisches Problem für alle linguistischen Theorien darstellt.
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Anmerkungen 1
Ls m a g b e f r e m d e n , d a ß i c h mich hier a u f d e n k r i t i s c h e n Rationalismus b e z i e h e , so als gebe es eine klar umrissene wissenschaftstheoretische Schule, die nach wie vor ohne wesentliche M o d i f i k a t i o n e n oder grundsätzliche Problematisierungen hempel-Oppenheims Schema der E r k l ä r u n g s s t r u k t u r e n explanativer Theorien und die von Popper ausgearbeiteten Grundsätze wissenschaftlicher Forschung vertritt. M. E. kann uer vereinfachende Bezug a u f d e n kritischen Rationalismus hier gerechtfertigt werden, da dieses K u r z r e f e r a t keinen Raum bietet zu einer a u s f ü h r l i c h e n wissenschaftstheoretischen Diskussion und eine solche für die thesenh a f t e üarstellung des Objektivitätsproblem linguistischer Theorien zunächst nicht unbedingt notwendig ist. Denn der O b j e k t i v i t ä t s b e g r i f f , auf· den ich mich hier beziehe und der in Abschnitt 2. k u r z charakterisiert wird, ist in der szientistischen Kissenschaftstheorie nach wie vor gültig. Wegen aer s t r i k t e n Zeitbegrenzung kann die O b j e k t i v i t ä t s problematik hier nur außerordentlich v e r k ü r z t dargestellt werden; dementsprechend ist das R e f e r a t als "Diskussionsanstoß" zu verstehen, der tiefergehende Analysen zur Folge haben sollte.
2
Aus den linguistischen Arbeiten, die vor dem zweiten Weltkrieg entstanden sind, wähle ich gerade Bloomfields Werk aus, weil es - vermittelt über Z . S . Harris - am engsten in wissenschaftstheoretischem Zusammenhang mit der generativen Grammatik steht. Da mit dieser Theorie die elaboriertesten wissenschaftstheoretischen Diskussionen der Linguistik verbunden sind, muß sich jede gegenwärtige wissenschaftstheoretische Arbeit zur Linguistik m i t ihr auseinandersetzen (zum wissenschaftstheoretischen Verhältnis zwischen den Arbeiten von Bloomfield, Sapir, Harris und Chomsky vgl. ITKONEN 1974: 2 O - 4 9 ) .
3
BLOOMFIELü 1933: 139.
4
V g l . CHOMSKY 1969: 3 2 f f .
5
V g l . ANDRESEN 1 9 7 4 : 7 2 f f .
6
Z . B . CAMPBELL/WALES 197O und KANNGIESSER 1972.
7
Vgl. CHOMSKY 1969: 35.
8
Wegen der Zeitbeschränkung müssen die begründenden Argumente hier plakativ bleiben. V g l . die längeren Ausführungen in ANDRESEN i. E.
9
Der bei einer solchen Befragung vorausgesetzte Normalitätsbegriff muß selbstverständlich durch eingehende Analysen geklärt werden.
37
Literatur ANDRESEN, Helga ( 1 9 7 4 ) : Der Erklärungsgehalt linguistischer Theorien. München: Hueber. ( i . E . ) : "Das Problem der Datenerhebung und der empirischen Bestätigung linguistischer Theorien". SCHECKER, Michael ( e d . ) (i. E . ) : Methodologie der Sprachwissenschaften. Hamburg: Hoffmann und Campe. BLOOMFIELD, Leonard ( 1 9 3 3 ) : Language. New York etc. CAMPBELL, Robin/WALES, Roger ( 1 9 7 0 ) : "The Study of Language Acquisition". LYONS, John ( e d . ) ( 1 9 7 0 ) : New Horizons in Linguistics. Harmondsworth: Penguin, 2. A. 1971: 242-260. CHOMSKY, Noam ( 1 9 6 4 ) : "Current Issues in Linguistic Theory".
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DIE BEZIEHUNG DES SPRACHWISSENS ZUM SPRACHVERHALTEN
Esa Itkonen
Die Frage nach dem Gegenstand der linguistischen ( d . h . grammatischen) Beschreibung ist bis jetzt kaum auf eine befriedigende Weise beantwortet worden, und solange dies der Fall ist, bleibt auch die Frage nach dem Status der Linguistik o f f e n . .Die Transformationsgrammatik z . B . definiert den Gegenstand der Grammatik a u f eine innerlich widerspruchsvolle Weise: S o w o h l intuitives Wissen (CHOMSKY 1957: 1 3 ) a l s a u c h beobachtbare E r scheinungen ( 4 9 ) sollen durch die Grammatik beschrieben werden. Der Widerspruch wird explizit in der Behauptung, Intuitionen seien beobachtbare Erscheinungen (DOUGHERTY 1 9 7 4 : 1 3 3 ) . Hier liegt eine durchgehende Verwechslung von Wissen und Verhalten vor. Es genügt aber nicht, diese Unterscheidung einzuführen. Außerdem muß der sprachliche Wissensbegriff weiter analysiert werden. Folgende Gegenstandsbereiche sind auseinanderzuhalten: a) sprachliche Handlungen und Handlungsresultate, d . h . Äußerungen und Reaktionen auf Äußerungen, b) Akte der Vergegenwärtigung subjektiven sprachlichen Wissens, d . h . einzelne sprachliche Intuitionen, c) das subjektive sprachliche Wissen eines Sprecher-Hörers, d) der Gegenstand subjektiven sprachlichen Wissens, d . h . die Sprache als intersubjektive, soziale Entität. Ich sage hier kein Wort über die empirisch zu ermittelnden psychologischen und soziologischen Mechanismen, die Sprachverhalten kausal oder teleologisch determinieren. Sprachliche Handlungen und Handlungsresultate sind raumzeitliche, direkt beobachtbare Entitäten; sie machen den primären Gegenstand der Psycholinguistik und der Soziolinguistik aus. Zeitlich sind Intuitionen genau bestimmbar, aber räumlich nur in dem ungenauen Sinn, daß sie sich "im Kopf" des einzelnen SprecherHörers befinden. Sie sind nicht direkt beobachtbar und machen einen eventuellen Gegenstand der Psycholinguistik aus. Das subjektive sprachliche Wissen, das zum Teil mit dem sog. Idiolekt zusammenfällt, aber wegen seines bewußten Charakters von "tacit knowledge" scharf unterschieden werden muß, ist weder zeitlich
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noch räumlich eindeutig bestimmbar. Es konstituiert einen Teil des mittleren Glieds zwischen Sprache und Sprachverhalten und muß entsprechend in Erklärungen von Sprachverhalten in Anspruch genommen werden. Die Sprache als intersubjektive Entität existiert in Raum und Zeit nur in demselben indirekten Sinn wie überhaupt alle begrifflichen Entitäten, insbesondere soziale Institutionen. Ihre Existenzweise, die leicht als problematisch empfunden wird, wird unten im einzelnen besprochen. Die Sprache, wie sie hier und ähnlich z . B . in DURKHEIM (1895 / 9 . A . 1938: 6-7) und in SAUSSURE (1916 / 5.A. 1962: 31-32) definiert worden ist, macht den Gegenstand der Linguistik aus. - Teilweise ähnliche Unterscheidungen sind in DRETSKE ( 1 9 7 4 ) gemacht worden. Ich vertrete die These, daß Wissen nicht auf Verhalten reduziert werden kann. Wenden wir diese These zunächst auf subjektives Wissen im allgemeinen an. "Reduzieren" kann jetzt auf zwei verschiedene Weisen verstanden werden. Erstens kann es etwa im Sinn des logischen Empirismus der dreißiger Jahre bedeuten, daß alle theoretischen Sätze über das Wissen eines Menschen restlos in Beobachtungssätze über sein Verhalten ü b e r s e t z t werden sollen. Zweitens kann es im Sinn der heutigen hypothetischdeduktiven Wissenschaftstheorie bedeuten, daß theoretische Sätze durch die Vermittlung von sog. Korrespondenzregeln aufgrund von Beobachtungssätzen p a r t i e l l i n t e r p r e t i e r t werden sollen (vgl. z . B . NAGEL 1961: 97-105). Die erste Fassung der These ist deutlich falsch und wird heute wohl von niemandem ernstlich befürwortet. Auch die zweite Fassung ist falsch, und zwar aus dem einfachen Grund, daß noch niemals echte Korrespondenzregeln formuliert worden sind, die das Vorkommen von Wissen in einer auch nur annähernd spezifischen und festen Weise mit dem Vorkommen von Verhalten verbinden würden. Diese Tatsache liegt an dem unvoraussehbaren bzw. freien bzw. kreativen Charakter des menschlichen Verhaltens. Folglich kann Wissen nicht einfach theoretischen Begriffen der Naturwissenschaft gleichgestellt werden. Auf der anderen Seite kann man natürlich nur durch Beobachtung von Einzelhandlungen überhaupt zu ermitteln hoffen, ob jemand anderes etwas weiß oder nicht. Aber gerade die Tatsache, daß echte Korrespondenzregeln hier fehlen, beweist, daß wir es nicht mit echter B e o b a c h t u n g , sondern vielmehr mit V e r -
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s t e h e n zu tun haben. Die These, daß Wissen nicht auf Verhalten reduziert werden kann, ist ih der Tat nur eine Variante der allgemeinen antipositivistischen These, daß Verstehen nicht auf Beobachtung reduziert werden kann. Die erstere These wird z.B. in CHOMSKY (1969: 65) und in SANDERS ( 1 9 7 4 : 1 4 ) , allerdings ohne Rücksicht auf die weiterführenden wissenschaftstheoretischen Implikationen, verteidigt. Hier bin ich jedoch nicht am subjektiven sprachlichen Wissen, sondern an seinem Gegenstand, d.h. der Sprache, interessiert. Was man genauer gesagt von einer Sprache weiß, sind R e g e l n der Sprache. Es wird allgemein behauptet, daß Sprachregeln nicht gewußt werden können. Wie ich an anderer Stelle eingehender gezeigt habe, beruht diese Auffassung auf einer Verwechslung von Sprachregeln und Grammatikregeln (ITKONEN 1974: 192-203, 1975a: 3964 O 6 ) . Daß der deutsche bestimmte Artikel dem Substantiv vorangeht und nicht etwa folgt, oder daß Junge einen Menschen und nicht etwa eine Zahl bezeichnet, sind Beispiele von Sprachregeln. Diese Regeln sind durchaus trivial, aber das müssen sie auch sein, denn sonst könnten sie ja nicht mit Sicherheit gewußt werden. Transformationen sind dagegen Beispiele von Grammatikregeln. Sie können überhaupt nicht gewußt werden, weil sie ja (ziemlich unsichere) Hypothesen darüber sind, wie Sprachregeln beschrieben werden sollen. Sprachregeln sind also der Gegenstand subjektiven sprachlichen Wissens. Diejenige Fassung der in Frage stehenden reduktionistischen These, die mich hier interessiert, lautet demnach: Das (subjektive) Wissen über Sprachregeln muß auf das Wissen über Sprachverhalten reduziert werden. Oder kürzer: Sprachregeln müssen auf Sprachverhalten reduziert werden. Was hier vorliegt, ist natürlich nur ein Spezialfall der allgemeinen philosophischen Frage, ob Normativität einen eigenständigen Gegenstandsbereich bildet oder ob sie aufgrund von nicht-normativen, raumzeitlichen Entitäten definiert werden kann. Die letztere Position, die also der meinen entgegengesetzt ist, wurde kürzlich z . B . in LEWIS ( 1 9 6 9 ) und in KASHER (1972) eingenommen. Bevor ich hierzu Stellung nehmen kann, muß ich meine Auffassung über die Existenzweise der Sprache oder, genauer, der Sprachregeln ausführlicher terisieren.
charak-
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Um meine Darstellungsweise zu vereinfachen, werde ich von nun an in Übereinstimmung mit dem üblichen Sprachgebrauch durch den Terminus "sprachliche Intuition" sowohl subjektives sprachliches Wissen als auch seine Vergegenwärtigung bezeichnen. Die vermeintliche ünzuverlässigkeit der sprachlichen Intuition wird heute allgemein beklagt ( z . B . BEVER 1970, LABOV 1 9 7 2 , BOTHA 1973: 1732 O 4 ) . Im Gegensatz zum Gegenstand der Linguistik werden z . B . der Gegenstand der Physik und derjenige der Logik als objektiv gegeben hingestellt. Die soeben genannten Autoren sind der Meinung, daß die Linguistik nur dadurch eine objektive Wissenschaft werden kann, daß ihr Gegenstand auf Beobachtbares beschränkt wird. An und für sich ist Beobachtung aber ein durchaus subjektiver Akt, und zwar ein subjektiver Akt, der sich auf etwas Objektives, d . h . die physikalische Wirklichkeit, bezieht. Auf eine analoge Weise ist logische Intuition, die jeder ja nur für sich selbst besitzen kann, notwendigerweise subjektiv, sie bezieht sich aber auf etwas Objektives, und zwar - in erster Linie - auf gültige Folgerungsregeln. Meiner Ansicht nach ist es falsch, anzunehmen, daß Beobachtung von Sprachverhalten der einzige subjektive Akt innerhalb der Linguistik ist, der einen objektiven Gegenstand haben kann. Genau wie die logische Intuition bezieht sich auch die sprachliche auf etwas Objektives, und zwar auf Regeln der Sprache. Außerdem ist Intuition über Sprachregeln in bezug auf Beobachtung von Sprachverhalten insofern primär, als die Sprachregeln (die man ja weiß) die Korrektheit oder Unkorrektheit möglicher Äußerungen bestimmen, unabhängig davon, ob diese je beobachtet worden sind oder nicht (vgl. unten). In ITKONEN (1975b) habe ich die prinzipielle Ähnlichkeit von Linguistik und Logik in einigen Details nachgewiesen. Diese Ähnlichkeit beruht auf der Tatsache, daß - wenn der Geltungsbereich von Sprachregeln räumlich und zeitlich viel geringer ist als derjenige von Logikregeln - die beiden Arten von Regeln jedoch in einer prinzipiell gleichen Weise existieren. Von einer echten Regel wird gefordert, daß man imstande sein muß, sich ihrer bewußt zu werden. Eine Regel existiert also in einer Gemeinschaft nur dann, wenn jeder in ihr weiß,, (oder wissen., kann) , daß sie existiert. Damit aber die allgemein bindende Kraft der Regel zum Ausdruck kommt, wird ferner gefordert, daß jeder auch weiß 2 ,
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d a ß jeder die Existenz der Regel weiß.. . Regeln existieren also a u f d e r Ebene g e m e i n s a m e n W i s s e n s . Dieser Begriff wird z . B . in MEAD ( 1 9 3 4 : 1 5 2 - 1 6 4 ) , in SCHUTZ ( 1 9 6 2 : 312329) und in LEWIS ( 1 9 6 9 ) diskutiert. Man könnte sagen, daß sich Intuition auf Regeln bezieht, während gemeinsames Wissen Regeln erst konstituiert. Das Vorhandensein gemeinsamen Wissens garantiert, daß Verstöße gegen Regeln, d.h. unkorrekte Handlungen, in einer objektiven Weise als solche erkannt werden können. Auch Gesetzmäßigkeiten von physikalischen Vorgängen können Gegenstand gemeinsamen Wissens sein; ob sie es sind oder nicht, hat aber keine Wirkung auf ihre tatsächliche Existenz. Dagegen hört eine Regel a u f , zu existieren, wenn sie aufhört, Gegenstand gemeinsamen Wissens zu sein. Ich komme jetzt auf die Frage zurück, ob Regeln auf etwas Nicht-Normatives, Raumzeitliches reduziert werden können oder nicht. Damit hängt die Frage eng zusammen, ob eine Wissenschaft, die Regeln untersucht, als eine echte empirische Wissenschaft angesehen werden darf oder nicht. Um die Sache etwas vereinfacht auszudrücken, versucht Lewis eine Regel aufgrund von folgenden nicht-normativen Entitäten zu definieren: a) gemeinsames Wissen, b) eine Gesetzmäßigkeit (= "regularity") von nicht-normativen Handlungen, c) Erinnerungen, d) Erwartungen (LEWIS 1969: 52-60; auch BENNETT 1 9 7 3 ) . Zunächst ist zu beachten, daß das notwendige Vorhandensein gemeinsamen Wissens, das ja kein Gegenstück auf dem Gebiet der beobachtbaren, physikalischen Wirklichkeit besitzt, es schon unmöglich macht, daß eine Wissenschaft von Regeln als eine echt empirische Wissenschaft betrachtet werden könnte. In dieser Hinsicht ist der Ansatz von Lewis z . B . demjenigen Webers überlegen, der ja versucht, Regeln rein aufgrund von Handlungen und Erwartungen zu definieren (WEBER 1922 / 3.A. 1968: 4 3 9 - 4 4 6 ) . Gelingt es aber Lewis, Normativität als solche zu eliminieren? Ich will diese Frage verneinen, und zwar aus folgenden Gründen: Eine Gesetzmäßigkeit von Handlungen, insbesondere Sprachhandlungen, ist kein so einfacher Begriff, wie Lewis anzunehmen scheint. Die Rede enthält so viele unkorrekte oder sonst unvoraussehbare Äußerungen, daß die Existenz irgendwelcher Gesetzmäßigkeiten in der Rede schlechthin geleugnet worden ist ( z . B . CHOMSKY 1968: 8 6 ) . Diese Position mag übertrieben sein; soviel
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steht aber jedenfalls fest, daß jede mit einer Sprachregel verknüpfte Gesetzmäßigkeit sowohl korrekte als auch unkorrekte Handlungen enthält. Wollen wir aber das Wissen über eine Regel aufgrund von Erinnerungen an die entsprechende Gesetzmäßigkeit von Handlungen definieren, so darf diese Gesetzmäßigkeit natürlich nur aus k o r r e k t e n Handlungen bestehen. Die Normativität werden wir also nicht los. In ähnlicher Weise beziehen sich die Erwartungen nur auf k o r r e k t e Handlungen: Anders als im Zusammenhang mit rein beobachtbaren, physikalischen Vorgängen werden die Erwartungen hier nicht dadurch widerlegt, daß etwas Unerwartetes vorkommt; vielmehr liegt in einem solchen Fall nur eine unkorrekte Handlung (die ja nicht erwartet wurde) vor. Nehmen wir jedoch versuchsweise an, daß eine Regel wissen soviel heißt wie sich an die damit verknüpfte tatsächliche Gesetzmäßigkeit von Handlungen, ob korrekt oder nicht, erinnern, so würde dies notwendigerweise bedeuten, daß wir die Regel statistisch formulieren müssen und somit nicht imstande sind, den absoluten "entweder / oder"-Charakter einer echten Regel wiederzugeben. Welchen Gesichtspunkt man auch einnimmt, der Lewissche Explikationsversuch muß also als gescheitert angesehen werden. Die Relativierung des Regelbegriffs würde auch die unerwünschte Folge haben, daß ein Satz, der eine echte Regel, z . B . die Regel über den Platz des deutschen bestimmten Artikels, ausdrücken soll und dessen Wahrheit oder Falschheit auf der Hand liegt, hypothetisch gemacht wird. Das Erlernen von Regeln muß natürlich an konkreten Handlungen ansetzen, aber es geht über diese hinaus. Sozial bedingte geistige Operationen bringen die Regeln in ihrer endgültigen Form zustande, und nachher können sie nicht wieder auf Raum und Zeit zurückgeführt werden. Daß man bei raumzeitlichen Handlungen bleiben will, statt den aktiven Beitrag des (sozial bedingten) Geistes anzuerkennen, ist ein klarer Fall von apriorischem Empirizismus. Im Gegensatz dazu vertrete ich hier den rationalistischen Standpunkt. Seine Berechtigung ist im Zusammenhang mit Regeln der Logik oder Mathematik universell anerkannt, die ja auch anhand von einzelnen raumzeitlichen Handlungen erlernt werden müssen. Ich behaupte, daß es sich hier wieder einmal um eine prinzipielle Ähnlichkeit von Linguistik und Logik handelt. Es ist charakteri-
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stisch, daß Lewis eine solche Ähnlichkeit leugnet (LEWIS 1 9 6 9 :
10O) , Ein etwas andersartiger Versuch, Sprache auf Raumzeitliches zurückzuführen, wird in KASHER ( 1 9 7 2 ) unternommen. Kasher
ist
nicht direkt mit Normativität beschäftigt, weil er keinen Unterschied zwischen (normativen) Sprachregeln und
(nicht-normativen)
Grammatikregeln macht. Sollte aber sein Unternehmen gelingen, so würde dies zugleich bedeuten, daß Normativität aus der Sprache wegdefiniert worden ist.
Eine raumzeitliche Interpretation der
Sprache soll nun dadurch erreicht werden, daß grammatische Beschreibungen durch sog. Instanzfunktionen mit konkreten Äußerungen verknüpft werden. Instanzfunktionen sind aber keine Korrespondenzregeln. Sie drücken nur eine durchaus abstrakte und allgemeine Beziehung zwischen Theorie und Raum-Zeit aus. Eine ähnliche Beziehung kann zwischen jedem beliebigen B e g r i f f , insbesondere jedem logischen B e g r i f f , und irgendwelchen raumzeitlichen Entitäten formuliert werden. An und für sich besagt die
Formulie-
rung von Instanzfunktionen durchaus nichts über den spezifischen Charakter des Gegenstands der Linguistik. Zusammenfassend können wir feststellen, daß Sprachregeln, wie sie oben charakterisiert wurden, auf Nicht-Normatives nicht reduziert werden können. Dasselbe Ergebnis wird auch in FRIEDMAN (1975) erreicht. Hieraus folgt, daß Sprachregeln in bezug auf jede einzelne Sprachhandlung primär sind (vgl. DURKHEIM 1895 / 9.A. 1938: 55-57). Die Beobachtung einer konkreten Äußerung
ist
einer sprachlichen Intuition untergeordnet, die sich auf diejenigen Sprachregeln bezieht, die die Korrektheit oder
Unkorrektheit
der betreffenden Äußerung, und aller den entsprechenden
Satz ex-
emplifizierenden Äußerungen, bestimmen. Eine Grammatik beschreibt nicht Äußerungen, sondern (gemeinsames Wissen über) Sprachregeln, aufgrund derer Äußerungen als das erkannt werden, was sie sind. Grammatische Erklärungen müssen also von empirischen
Erklärungen
scharf unterschieden werden (vgl. ITKONEN 1 9 7 2 , 1 9 7 4 : 212-222, ANDRESEN 1 9 7 4 , DRETSKE 1 9 7 4 , HUTCHINSON 1974, RINGEN 1 9 7 5 ) .
46
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THEORY-CONSTRUCTION IN LINGUISTICS Alice ter Meulen
1.
Preliminaries
In the process of scientific inquiry we can distinguish three different stages. These distinctions are based on logical differences, they are logical i.n nature and cannot be demonstrated in the daily practice of the scientist. That is to say, they are idealisations of reality which will help us to clarify what is going on in the process of scientific inquiry. This is what I judge to be the proper task of the philosophy of science. We call the first stage the stage of theory-construction. This is where the pre-theoretical intuitions, knowledge and beliefs of the scientist come in,
and, indeed, play a most important
heuristic role. The way to the formulation of a theory and to the finding of the hypotheses is determined by a melange of irrational feelings, beliefs and intuitions as well as rational thinking and even argument. Philosophers of science always say that there exists no logic of discovery. The second stage in scientific inquiry is the stage of ideal formulation of the theory. The whole of hypotheses, parts and bits of loosely formulated theories are brought, or translated, if you prefer, into a logical language and interpreted in a model. In this stage it
is made clear what the theoretical component of
the theory consists of, what the observational language is - that is to say, what the theory tells us about reality, about the world - and how these theoretical and observational parts of the theory are related by rules of correspondence. This second stage is a prerequisite to the third stage, the stage of confirmation of the theory. From the logical formulation of the theory we can deduce statements about observable phenomena, we can derive predictions and explanations about the reality described by the theory. These testable consequences constitute what is called the empirical import of the theory. By contrasting the theorems deduced from the theory with the experimental results obtained or with observations made, we can see whether the theory fits reality.
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This exposition of the three stages of scientific inquiry must remain rather rudimentary and superficial. I have to ignore many problems such as, for instance, the possibility of drawing a sharp borderline between the theoretical and the observational part of the theory, or the exact form of the ideal logical formulation, or the problem of theory-ladenness of observation statements . As I said in the beginning, these distinctions of stages are logical distinctions. The process of developing a theory runs, in f a c t , in a circular way through these three stages. The spiral of theory development starts in the first stage, the theory receives a tentative logical formulation, goes through the third stage of testing and comes back to the first stage again. Gradually the theory becomes more developed, better formulated and more and more confirmed. The emphasis is shifted from the first stage to the second and third stages, once the theory becomes more established and accepted by the scientific community. 2.
Linguistic theories
We have to keep this conception of three stages of scientific inquiry in mind and ask ourselves now: What is linguistic reality, what part of the world is to be explained and described by linguistic theories? What does it mean if we say a linguistic theory fits reality? The first problem here is that theories always give only a p a r t i a l description of reality, because they are constructed from a specific point of view and a specific set of problems, determined by the basic assumptions and interests of the scientist. This is common to the formation of all scientific theories and not only to linguistics, as is sometimes suggested. Even though linguistic theories are constructed from a specific point of view, there are certain minimal requirements they must f u l f i l l . A language-specific grammar has to specify at least the set of wellformed or correct sentences of that language. This is usually done by giving a recursive definition. Further, the languagespecific grammar has to attach meanings to the sentences and to relate them to phonological objects. Here I deliberately do not
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say "sounds", for these exist in space and time and can be heard. Phonological objects are abstractions from physical sounds, just as meanings given to sentences in the semantic component of the grammar are idealisations and abstractions from the specific meanings that a sentence can have in a specific context. The grammar thus determines or produces a set of syntactical, semantical and phonological objects and specifies the way in which they are related to one another. The concrete manifestations of these objects are in space and time, in the physical world. In this narrow sense we can never say that a scientific theory talks about reality. Every theory has inherent abstractions and makes generalisations and idealisations. This is not more problematical for linguistics than for physics, for instance. A theory about gases is not directly about gas in space and time reality, but about ideal pure gases that will never be found in reality. Still we say that these theories tell us something about the world. To state clearly what it means for a physical object to 'be a manifestation' of a construct, is a very philosophical and puzzling task, with which we will not burden ourselves at this point. Thus we now have an ontology of two worlds, on the one hand a physical space and time reality, and on the other hand the world of constructs, determined by the grammar. Can we say now that the grammar is a theory about this constructed world? Is it a theory in the sense that we can formulate it in a logical ideal language? That is to say, can we derive testable consequences, true or false theorems from these grammars? I think it is a frequent and persistent misconception of many linguists - especially transformationalists - that such grammars by which sentences with meanings are produced can be conceived of as theories in this sense. There is one conclusive argument, among others of course, that clearly shows why we cannot conceive of these grammars as scientific theories about language. There are perfectly proper sentences of natural language such as it rains and it does not rain, that are produced by the grammar, so-called contradictions in logic. In the semantic part of the grammar they are shown to be always false because of the meaning of their constituents. Such sentences can never be considered as theorems of a theory, while the model
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that gives the interpretations to the theory has to make a l l sentences, all theorems true. There cannot possibly be a modeltheoretical interpretation of contradictions that makes them true. This is why we cannot equate a grammar with a theory of language. We need a theory that can be formulated in the ideal way of the second stage, a theory about the objects constructed by the grammar. There are three possible ways in which we can obtain this theory of language: 1. We can construe a theory about the grammar and its objects, in which is stated for example that the grammar is a grammar of English, or that a given sentence is a sentence of English. The theorems, deducible from this theory, will have to be statements about the grammar and about the grammatical objects. 2. We can 'translate 1 the grammar into a theory of the proper logical form. This is essentially Wang's approach. WANG ( 1 9 7 1 ) presents a general method to replace a context-free grammar by an axiom system in the language of first-order predicate logic with identity, such that the axioms and derived statements are statements about language . He claims that this method makes it possible to give deductive-nomological explanations of language phenomena. His method, however, is confronted with various difficulties. The statement "the boy are running is a sentence" is derivable in his theory, but we don't want to include in our theory statements about ill-formed sentences, because ill-formed sentences are not or should not be produced by the grammar. This problem can perhaps be overcome by differentiation in the rules of derivation, or subcategorisation of the lexical items. A more principal objection is, however, that Wang's method also fails to make clear what we mean by the expressions "sentence of a language" or "verb phrase of L" for instance. The theory should give interpretations of these expressions, express what is meant by them. 3. We can formulate the grammar from the very beginning as an axiomatised theory, as LIEB ( 1 9 7 4 ) proposed. This approach seems very promising, but premature in its formulation. I think we have to have a lot more "normal science" in linguistics, before we can attempt to bring everything into a coherent, systematised and axiomatised theory. Theories of physics have been construed and applied long before an axiomatic formulation could be given them.
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That is to say, when developing theories we should not start in the second stage, but rather we should a i m for ideal formulation and gradually approach this aim. For the sake of clarity of the exposition I will take the first alternative, the construction of a theory of language based on a grammar. I will illustrate briefly how we obtain such a theory by discussing some possible theorems that should be derivable in such a theory. Let us name the grammar in question G . Then one theorem will be:
G
is a grammar of English
This is the most general theorem about G that will always be used as a basic assumption in the derivation of other theorems about the objects constructed by this grammar. In the u n i v e r s a l theory of language, as a theory about the properties of languagespecific grammars, one has to define precisely when a grammar is a grammar of a certain language, and when a theory of language is a theory about the grammar of that language. The relations must be stated here between the constructs of the grammar and the set of axiomatic primitive terms of the theory of language. Another example of a theorem is to every well-formed string of symbols G relates a semantic interpretation, stating the meaning of those symbols and the correct phonological object This is a universal statement about the constructs of the grammar, and indirectly tells us something about the form of the grammar itself. A third example of a theorem of the theory of language will be girl is an English noun This will be called an axiom of the theory about the lexicon of the grammar. Every lexical item has to be introduced in this way as an axiom. The last instance I will give of a theorem is I am looking for a clean handkerchief is a sentence of English and can mean either 'There is a specific clean handkerchief that I am looking for 1 or ' I am looking for anything that is a clean handkerchief This is an example of a derived theorem. In its
derivation
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use is made of the general assumption that G
is a grammar
of English, and of an instantiation of the universal theorem about the grammatical objects and the relations between them, my f i r s t and second example respectively. These illustrations clarify somewhat, I hope, in what way a theory of language should be formulated and why we need it as well as a grammar, if this is what constitutes the domain of the theory which consists of the grammatical objects. Maybe I should add that these theorems should and can be formulated in a logical language, so that we see more clearly, for instance, which formulas are universal lawlike statements and which ones are individual statements. The fundamental distinction between a grammar and a theory of language has however been shown. We must conclude that transformational grammar cannot be conceived of as a theory about language, since it is not formulated as a theory from which we can derive theorems about language, about sentences and the like. Transformational grammar has not yet arrived at the second stage of ideal formulation of the grammar as an empirical theory. 3.
Psychological interpretation of grammars
I now want to discuss what I think transformational linguists mean when they talk about a psychological interpretation, psychological relevance or even psychological reality of their grammar. Nowadays it is often heard that transformational linguists never made clear what the innateness-hypothesis amounted to. Was the grammar as a whole conceived to be strictly isomorphic to certain brain processes, or to psychological processes? Or was the structure of grammar isomorphic to certain kinds of these processes, i.e. some kind of macro-isomorphism? It is never clearly stated what sort of tests could be performed to confirm or f a l s i f y this hypothesis. Was the innateness-hypothesis then immune to empirical testing, so void of any empirical import? Anyway, transformationalists have stated often enough that the grammar has to reflect the competence of the native speaker and intuitions are taken as providing evidence of this competence. It is wrong however, to equate the grammar with a psychological theory about intuitions of language, just as a grammar cannot be the same as a theory about language.
55
To give a psychological interpretation to the grammar we need a theory about the way the grammar can be related to psychological notions. This would be a task for psychology, not so much for linguistics, since this theory would require a lot of research on intuitions, how they are formed, how they can be influenced, what relations exist between them, and also research on the process of speech-perception, speech-production and language acquisition of children. If a close resemblance or similarity in structure can be shown to exist between the grammar on the one hand and the psychological theory on the other hand, then we can claim some specific psychological relevance or reality of the grammar. But, as everyone will agree, transformational grammar is far from developing such a psychological theory about the grammar or parts of it,
although
transformationalists claim this psychological relevance and even try to convince others by using this notion as "conclusive evidence" for a certain proposal or analysis. Their arguments are usually based on descriptions or so-called "explanations" of certain language phenomena, that are supported only by their own "introspective evidence", sometimes by judgements of other guists.
lin-
My point now is that these arguments can never constitute any kind of evidence for the grammar, because they are not based on any results of empirical testing. If we want to j u s t i f y the claim that the grammar is related to a testable theory, then conclusive evidence can only be found in results of observational inquiry. Intuitions can only be properly used in an empirical theory as pretheoretical research-guiding information, as I mentioned in the exposition of the three stages in scientific inquiry. It is only in the stage of theory-construction that such intuitions can be useful. As long as there is no properly formulated theory of language based on the grammar, transformational linguists cannot speak of test-procedures, conclusive evidence and confirmation of the grammar. And until there is a psychological theory about the relations of the grammar to psychological processes, we had better make no statements or claims about the psychological reality of the grammar. There is,
in fact, a real danger hidden in the trans-
formationalist arguments. Such arguments based on intuitive evi-
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dence or claims about psychological reality can exercise a very strong restrictive influence. In fact, these arguments are speculative - in the non-pejorative sense of the word -, they are immune to empirical investigation as long as they are not incorporated within a psychological theory. 4. Testing linguistic theories Theorems of the theory of language should, however, be testable. I think this would force us into methodological behaviorism, in the sense that we would have to observe what a language-user in fact says and means in concrete instances of speech-situations. This research has of course its own methodological problems as does all observational science, problems of influencing informants, honesty of answers, interpretations of the observations made, etc. I hope that I do not scare people by using the term "methodological behaviorism". This behaviorism is not Bloomfieldian. Bloomfield claims that language is nothing but observable phenomena, and rejects the use of notions such as knowledge of a language, or the use of other mental properties of language-users. This is what is called o n t o l o g i c a l behaviorism. What I mean to say is that the m e t h o d of testing our theories of language should be to observe factual speech-situations. Observations of language use provide us with statements about the factual phenomena that have to be related to our grammatical objects, the sentences, meanings and phonological objects constructed by the grammar. Only then are we justified in speaking of an e m p i r i c a l theory of language. 5. Logical grammars There is one more topic I would like to discuss, namely, the status of logical grammars, such as for example Montague-grammar. I hope that at least some of you are acquainted with the basic assumptions and principles of the theory of grammar as MONTAGUE ( 1 9 7 3 ) proposed. I can only state here briefly a few principal characteristics of his approach that are relevant to my point. For a clear and full exposition of the theory I refer to PARTEE ( 1 9 7 5 ) . Montague is primarily concerned with applying basic notions of formal semantics and model theory to the analysis of natural Ian-
57
guage. The syntax of his limited fragment of English is given in the form of a recursive definition of the syntactic categories of the vocabulary. In the semantics a model-theoretical interpretation is given to these syntactical items, constructed parallel to the recursive definition of the syntax. That is to say, for every syntactic category a corresponding semantic category - a type - is given, and to each syntactic rule that states how categories combine to form a new category, there corresponds a semantic rule which operates on the semantic types and yields the semantic type of the obtained syntactic category. This homomorphism of syntax and semantics is one fundamental principle in Montague's work. The main concern of the semantics is to give a formal definition of truth-in-a-model, under a certain interpretation, and of logical notions like "logical equivalence", "entailment", "logical consequence" and the like. In this way several intensional locutions can be adequately treated. What can we say now about the status of these kinds of grammars? In what sense can we speak of "adequately treated" as I did? I think the principal difference between these formal grammars and linguistic theories is their explicit denial of any empirical relevance. The analysis of the logical notions and of ambiguity is based on our pre-theoretical understanding of them. The theory is constructed to capture these notions by treating them explicitly and systematically in a formal framework. The theory has to define precisely what we mean by these notions, making use of pre-theoretical intuitions, which are the only evidence. The theory sharpens our intuitive understanding by forcing us to explain them in a formal manner. An equilibrium must be found between our pre-theoretical intuitions about the notions and their theoretical definitions. Besides this, formal requirements such as explicitness of formulation, simplicity and elegance of the theory - for example the parallel construction of the syntax and semantics, and the uniform treatment of proper names and quantifier phrases - consistency and generality must be fulfilled by the theory. Adequate theories are adequate because they meet these conditions to a satisfactory extent and because they give an intuitively acceptable account of the aforementioned notions.
58
The notion "intuitive acceptability" - some people prefer to call it "naturalness" - is used to express that an equilibrium between the pre-theoretical intuitions and the theory has been established. This notion is vague, and in principle so, because it is impossible to determine in an e m p i r i c a l way what it amounts to. This impossibility of direct empirical relevance makes this kind of grammar immune or rather irrelevant to empirical testing. These grammars are thus of a more theoretical interest and do not claim to predict or explain any occurrence in space and time reality. 6. Conclusions 1. Transformational grammar cannot j u s t i f y its claim to be an empirical theory of language, because a. it is not formulated in the proper logical form of a theory, with predictions and explanations derivable as theorems that are about language. b. it is based on intuitive evidence alone, and not on any observational evidence of language-use. 2. Transformational grammar cannot j ust i fy its claim to be a psychological theory about the competence of the (ideal) language-user. For this we need a psychological theory that relates the grammar, or components of it, to psychological processes. 3. An empirical theory of language is conceivable, but not yet realised. 4. Montague-grammar is a formal treatment of intuitive notions and is right in not claiming any empirical relevance, 5. It is not inconceivable that formal grammars such as Montague's can have applications, just as parts of mathematics turned out to be applicable to reality, for instance in physical geometry .
59
Footnote An example is the following. Explanandum: S ( t h e man hit the b a l l ) . Explanans is the set of sentences: 1. 2.
Λ χ Λ γ ( Ν Ρ ( χ ) Λ V P ( y ) - S (xy) ) Λ χ Λ γ ( T ( x ) A N ( y ) - NP (xy) )
3.
A x A y ( V ( x ) A N P ( y ) - VP (xy) ) .
4.
N (man)
5. 6.
Ν (ball) Τ(the)
7.
V(hit)
universal laws
antecedent conditions
Literature HEMPEL, Carl G. ( 1 9 6 6 ) : Philosophy of natural science. Englewood C l i f f s : Prentice-Hall. LIEB, Hans H. ( 1 9 7 4 ) : "Grammars as theories: the case for axiomatic grammar (part 1 ) " . Theoretical Linguistics 1: 39-115. MONTAGUE, Richard ( 1 9 7 3 ) : "Proper treatment of quantification in ordinary English". HINTIKKA et al. ( e d s . ) : Approaches to natural language: Proceedings of the 1970 Stanford Workshop on grammar and semantics. Dordrecht: Reidel. PARTEE, Barbara ( 1 9 7 5 ) : "Montague grammar and transformational grammar". Linguistic Inquiry 6: 2o3-300. WANG, J n-tin ( 1 9 7 1 ) : "Wissenschaftliche Erkl rung und generative Grammatik". HYLDGAARD-JENSEN, Karl ( e d . ) : Linguistik 1971. Frankfurt: Athen um: 5O-66.
DER LOGISCHE EMPIRISMUS IM RATIONALISTISCHEN GEWAND Zum Wissenschaftsbegriff
des Chomsky-Modells
Bernd Gosau
Es ist
üblich, bei der wissenschaftsphilosophischen Recht-
fertigung der Generativen Transformationsgrammatik den von Chomsky selbst vorgelegten Diskussionsrahmen zu akzeptieren, in dem die TG als
stärkste Waffe rationalistischer Erkenntnis-
theorie gegenüber dem empiristischen Wissenschafts- und Weltverständnis eingeschätzt wird. Kritik an dieser Auffassung richtet sich nur noch dagegen, ob die von Chomsky vorgenommene Einordnung in die Tradition des Rationalismus korrekt, schlampig oder zu unrecht vorgenommen wurde und ob das von ihm entworfene Bild des empiristischen Selbstverständnisses dem gerade letzten Stand entspricht. Jedoch lassen bereits Chomskys eigene Äußerungen innerhalb der Entwicklung der TG diese Interpretationen fragwürdig erscheinen. In der Entwurfsphase (1953-57) finden sich insgesamt nur zwei Rechtfertigungsäußerungen: Any scientific theory is based on a certain f i n i t e set of observations and, by establishing general laws stated in terms of certain hypothetical constructs, it attempts to account for these observations, to show how they are interrelated, and to predict an indefinite number of new phenomena. A mathematical theory has the additional property that predictions follow rigorously from the body of the theory. (CHOMSKY 1956: 1O5) I can see no J u s t i f i c a t i o n for the position that objectivity in linguistics is in principle something d i f f e r e n t from objectivity in physical science ... (CHOMSKY 1959: 233) Diese Position, die genausogut "empiristisch" genannt werden kann, wird während der Standardphase (1957-65) beibehalten, in der die Argumentation der ersten Phase einer Binnenrevision unterworfen wird und die mathematischen Möglichkeiten formaler Sprachsysteme mitsamt den zugehörigen Computeranalogien auf ihre Verwendungsmöglichkeit für die Grammatik einer natürlichen Sprache getestet werden - eine Arbeit, von der fast nichts in "Aspects" eingegangen ist.
Allgemeine wissenschaftstheoretische
62
Äußerungen tauchen nur 1959 in der vehement vorgetragenen Kritik an Skinners "Verbal Behavior" auf. In der Ablehnung
sei-
nes funktionalistisch-behavioristischen Ansatzes zur Erklärung des sprachlichen Verhaltens im Rahmen eines "stimulus-responsereinforcemenf-Konzepts spiegelt sich Chomskys eigene Position allerdings nur als Negativbild. Die explizite Einordnung in den Empirismus/Rationalismus-Rahmen erfolgt erst in der Revisionsphase (1965 - ? ) » in der neben drei A u f s ä t z e zur Außenrevision der TG wissenschaftstheoretische, philosophische und politische Texte treten. In diesem Zusammenhang erscheint also erst die nachträgliche Rechtfertigung der bisherigen Äußerungen zum Wissenschaftsverständnis:
1966 wird in "Cartesian Linguistics"
die TG in die Tradition der rationalistischen Philosophie des Geistes gestellt, und 196? wird die "innate-ideas"-Idee zum Testfall der Kontroverse hochstilisiert. 1972 bestimmt Chomsky noch einmal selbst seinen Standpunkt: Ich habe verschiedentlich vorgeschlagen, daß man zwischen zwei Ansätzen zur Untersuchung der Sprache und anderen kognitiven Funktionen unterscheiden könne; nennen wir sie einmal E und R t wobei von E die 'Operationen des Geistes 1 in erster Linie als ein System der 'Datenverarbeitung 1 bezeichnet werden, das ergänzt wird durch ein System von Fähigkeiten zur anfänglichen Analyse sinnlicher Erfahrung, und durch R, im Gegensatz dazu, ausgesagt wird, daß die Gestalt vorliegender Systeme des Wissens und Meinens insbesondere der Grammatik - durch angeborene Mechanismen vorherbestimmt sei und daß es der Erfahrung in erster Linie zukommt, Systeme auszudifferenzieren und zu artikulieren, die in ihrer allgemeinen Gestalt und in ihren operativen Prinzipien vorherbestimmt sind. (CHOMSKY 197^« 91) Dieser kurze Abriß macht deutlich, daß Chomsky für die ganze Zeit seiner Tätigkeit ein rationalistisches Rechtfertigungsschema rekonstruiert, obwohl sein Ausgangspunkt taxonomistisch zu kennzeichen wäre, die Arbeit am Standardmodell entlang der üblichen Theorierevision
empiristischer
Wissenschaftsauffassung
erfolgte und die endgültige Revision durch Fakten der Oberflächenstruktur Tests zugänglich Wie ist
erzwungen wurde, die allein empiristischen ist.
dieser doppelte Widerspruch: Rekonstruktion einer
rationalen Entwicklung und Revision durch empiristisch interpretierte Fakten zu erklären? Welche Rolle spielt dabei eigent-
63
lieh die Rationalismus/Empirismus-Debatte für das Grammatikmodell? Ein kurzer Blick auf die bisherige Kritik am Chomsky-Ansatz zeigt, daß diese Fragen bisher noch nicht gestellt wurden, was sich zuerst einmal dadurch erklären läßt, daß die Kritik in fünf relativ isoliert nebeneinanderstehende Typen eingeteilt werden kannt 1. Kritik am empirischen Gehalt des Grammatikmodells - Das betrifft
den ganzen Bereich der Performanz/Kompetenz-Diskussion,
2. Kritik am logischen Darstellungsteil der Grammatik - Sie erfolgt entweder an Einzelphänomenen innerhalb des Transformationssystems oder über Gesamtalternativen wie Generative Semantik. 3. Kritik an der Spracherwerbshypothese - Darunter fällt die innate-ideas-Kontroverse und der Versuch, physiologische Bestätigungen für die angeborene Initialstruktur des Geistes zu finden. k. Kritik an der wissenschaftstheoretischen Position - Es wird nachgewiesen, daß die Tradition des Rationalismus völlig anders interpretiert werden muß; daß Chomskys Kritik am Empirismus inkonsistent ist;
oder daß die Rationalismus/Empirismus-
Kontroverse eigentlich eine Idealismus/Materialismus-Debatte
sei. 5. Kritik an den politisch-praktischen Konsequenzen dee Ansatzes - Dazu gibt es meines Wissens von fachwissenschaftlicher Seite keine Äußerung. Fünf Einzelkritiken, von denen es oft den Anschein hat, wüßte die Jeweils eine nicht von den anderen, verbieten es
als al-
so, daß Fragen nach dem Zusammenhang der Komponenten untereinander überhaupt erst gestellt werden. Daß dies eventuell auch als Zeichen normaler Wissenschaft gelten könnte, sollte dabei eher beunruhigen, zumal Chomsky eigene Äußerungen zur theoretischen Rechtfertigung seines praktischen Tuns die Notwendigkeit einer Klärung dieses Widerspruchs bereits theorieimmanent deutlich gemacht haben. Eine Kritik, die .also nur die Tradition des Rationalismus anders interpretiert, ohne die mit dieser Uminterpretation
ver-
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bundenen Konsequenzen für das eigentliche Grammatikmodell aufzuzeigen, bleibt Scheinkritik am Leseverhalten eines Wissenschaftlers. Ebenso ist politischen Schriften
die nicht vorhandene Beurteilung seiner für die TG sowohl normal als auch er-
staunlich» vobei auch hier Chomskys eigene Einschätzung: Wissenschaftliche Ideen und politische Ideen können konvergieren, und wenn sie unabhängig voneinander konvergieren, weil sie sich in dieselbe Richtung entwickelt haben, so ist das schön. (CHOMSKY 1968: 182) genausowenig fUr bare Münze genommen werden sollte wie sein wiesenschaftstheoretischer Rekonstruktionsversuch. Damit also die Frage nach der Relevanz der wissenschaftstheoretischen Rechtfertigung beantwortet werden kann, muß zuerst einmal Chomskys Anspruch ernst genommen werden: Grammatikmodell, logische Darstellungsverfahren,
Spracherwerb, wissen-
schaftstheoretische Begründung und schließlich den politischen Standort in einen gemeinsamen Erklärungszusammenhang zu bringen. Daß Chomsky das nicht annähernd in seiner eigenen Arbeit gelungen ist,
ist
evident, also banal. Nur muß das dann auch für die
Kritik gelten, die die einzelnen Komponenten als losgelöste Versatzstücke behandelt und damit der Mühe enthoben ist,
die
jeweiligen Konsequenzen für den Zusammenhang des Ansatzes bedenken zu müssen, obwohl doch erst dabei eine Kritik sinnvoll zur Diskussion gestellt werden kann. Chomskys Anspruch ernst nehmen bedeutet also, von einem Modell für die wissenschaftliche Erklärung des menschlichen Sprachvermögens auszugehen, das fünf Komponenten enthält: 1. die eigentliche Grammatik, 2. deren formale Darstellung, 3· eine Hypothese über den Spracherwerbsprozeß, k. die wissenschaftstheoretische Begründung von 1.-3· und 5· eine politische Rechtfertigung. Ein Erklärungsmodell, das diese Komponenten enthält, bezeichne ich als "Chomsky-Modell" und gehe davon aus, daß erst in seinem Zusammenhang die Frage nach dem Wissenschaftsbegriff
einer
Grammatiktheorie sinnvoll gestellt werden kann. Welche Konsequenzen sich daraus für die Beurteilung der TGEntwicklung ergeben,
soll an der Explikation des "Wissen"-Be-
griffs gezeigt werden, der einen Versuch darstellt, den Zusammenhang von Grammatikmodell, Spracherwerbehypothese und wissenschaftstheoretischer Begründung herzustellen.
65
Chomsky benutzt in der Explikation die TG als
Explanansj
... to know a language is to have internalized a generative grammar (equivalently, to have developed a state of mental organisation as described by a generative grammar). ... to know a language is to have constructed, to be sure unconsciously, a specific generative grammar. (CHOMSKY 1969bi 52k) Er argumentiert weiter, man kann zwar sagen, jemand spricht gut Englisch, darf aber davon nicht auf die spezifischen Eigenschaften des diesem Wissen zugrundeliegenden mentalen Prozesses schließen. Werden diese Eigenschaften - unbewußte Regelprinzipien und damit auch unbewußte Theorien - aber als unbewußtes Wissen beschrieben, kann man anderen Personen ebenfalls eine unbewußte Theorie unterstellen, so daß bestimmte mentale Zustände aufgrund des sprachlichen Verhaltens bestimmten regelhaften Aktionen zugeschrieben werden können. Werden diese Zustände durch die Regeln einer englischen Grammatik repräsentiert, ist
Wissen Über die Sprache mit dem Konzept: "inter-
nalisation of the rules of grammar" (CHOMSKY 1969bt 524) vereinbar. Da die Regeln und Prinzipien selbstverständlich nicht alle bewußt sind - sie können also nicht eindeutig reproduziert werden - muß diese Eigenschaft zusätzlich in das Explikandum aufgenommen werden i ...'so-and-so knows the grammar of his language, its rules and principles', including those that lie beyond awareness. (CHOMSKY i969bt 52k) Der Begriff des Wissens enthält also drei Komponenten! 1. Bewußtes Wissen - Man weiß, daß Junggesellen unverheiratet sind. 2. Unbewußtes Wissen - Man weiß, daß fUr die Passivierung bestimmte Regeln gelten, kann also bestätigen,
daß ein theore-
tischer Vorschlag, z. B. die Passivtransformation der TG, der eigenen Praxis nicht widerspricht; auf diese Weise kann unbewußtes Wissen ins Bewußtsein gehoben werden. 3· Angeborenes Wiesen - Man würde die Erklärung einer Theorie akzeptieren, z. B« die zyklische Anwendung von T-Regeln oder das A-über-A-Prinzip, weil damit bestimmte Regularitäten analysiert werden können, man akzeptiert
also, daß den eigenen
66
Sprechäußerlangen angeborene Schemata zugrundegelegt werden können. Das b e d e u t e t , daß für die Erklärung zur Beherrschung einer Sprache, zum bewußten Wissen über diese Sprache, sowohl auf das unbewußte als
auch auf das angeborene Wissen zurückgegriffen
werden muß. Es wäre also bei der Analyse konkret geäußerter Sätze zu fragen, welchen Anteil die verschiedenen Wissenskomponenten jeweils an der Produktion und Interpretation haben und welche Beziehungen dafür verantwortlich
sind. Diese mögliche
Form der Rückkopplung wird durch die Konstruktionsmerkmale der TG abgeschnitten, die zuallererst die Performanz (bewußtes W . ) von der Kompetenz (unbewußtes W , ) und davon dann noch die verselle Komponente
uni-
(angeborenes W.) abgetrennt hat, so daß die
u n i v e r s e l l e G r a m m a t i k sich nur über die Kompetenz mit k o n k r e t e n Äußerungen vermitteln kann. Damit wird der Prozeß des Spracherwerbs, der doch auch die Grundlage liefern muß für das jeweilige "jetzt-und hier"-Verstehen von Sätzen, unzulässig auf die Phase des reinen Spracherwerbs durch das Kind reduziert. Eine phylogenetische Zeitspanne wird so zum ontologischen Startzustand
eines Erwerbs-
prozesses erklärt, der nach Beendigung getrost wieder vergessen werden kann. Auf diese Weise wird die Spracherwerbshypothese mit der Hypothek b e l a s t e t , eine ausreichende Differenzierung der Initialstruktur von vornherein gewährleisten
zu müssen. Die
Möglichkeit, diese Differenzierung nachträglich zu korrigieren, um die vorgegebene Grundstruktur zu verändern, ist
durch den
dann einsetzenden Erklärungsmechanismus der TG nicht mehr
dar-
stellbar. Die weitere Entwicklung der TG ist
bekannt; welche andere
Perspektive möglich gewesen wäre, hätte Chomsky den bei seiner Wissensexplikation herausgearbeiteten Charakter der Einzelkomponenten für die Grammatiktheorie beibehalten, ergibt eich aus einem Hinweis, den er selber in "Language and Mind" gibtt Es ist nicht unwahrscheinlich, daß eine detaillierte Untersuchung dieser Art zeigen wird, daß die Konzeption der universalen Grammatik als eines angeborenen Schematismus nur als eine erste Approximation Gültigkeit hat; daß ein angeborener Schematismus allgemeinerer Art es in der Tat g e s t a t t e t , versuchsweise 'Grammatiken 1 zu formulieren, die selbst festlegen, wie spätere Daten interpretiert
67
werden müssen, und die somit zur Postulierung reicherer Grammatiken führen, und so w e i t e r . (CHOMSKY 1968: Das würde eine Umformulierung der Grammatik für die liche Sprachpraxis erlauben, die Rückkopplungen zur
täg-
jeweiligen
Initialstruktur und zur individuellen Praxis des Sprechers
ent-
hält. So könnten z. B. "ältere" oder idiomatische Oberflächenstrukturen als Tiefenstrukturen funktionieren; Möglichkeiten, die meines Wissens nirgends aufgegriffen worden sind. Bei der wissenschaftstheoretischen Rechtfertigung der Spracherwerbshypothese verweist Chomsky auf die Übereinstimmung mit Peirces Logik der Abduktiom Er v e r t r i t t die Ansicht, daß angeborene Begrenzungen für zulässige Hypothesen eine Vorbedingung für die erfolgreiche Konstruktion von Theorien seien und daß der 'RateI n s t i n k t ' , der Hypothesen l i e f e r t , sich induktiver Verfahren nur für "korrektive Handlungen 1 bedient. (CHOMSKY 1968: 1^8f.) Wenn das allgemein für das Wissenserwerb gültig sei, kann nach Chomsky auch die Theoriebildung als intellektuelle Kreativität aufgefaßt werden, für die es Bedingungen gibt, "die das, was Peirce 'zulässige Hypothesen 1 nennt, bestimmen und damit die Theorien,
die zur 'wahren W i s s e n s c h a f t '
(CHOMSKY 1974: 86) Einerseits ist
gezählt werden."
die Abduktion also ein Ver-
fahren zur ontologischen Bestimmung der Initialstruktur des Geistes - wobei die weitere Entwicklung wieder unklar bleibt andererseits ist Wissenschaft,
t r i t t also in der täglichen Praxis auf und ist
daher nicht als fordert,
sie aber auch ein hie Stimmungselement wahrer logische Grundstruktur zu fassen.
Obwohl Chomsky
"eine Theorie der Abduktion zu entwickeln,
diejenigen
Prinzipien zu bestimmen, die die zulässigen Hypothesen begrenzen, oder sie
in einer gewissen Ordnung darzulegen"
(CHOMSKY
1968»
1 5 1 ) » folgt er selber dieser Aufforderung nicht, eine erstaunliche Tatsache,
wenn man bedenkt, daß sie die Begründung für
die
Zuordnung der drei Wissenskomponenten sein könnte, was einer Rechtfertigung
des eigentlichen Grammatikmodells gleichkäme.
Eine Durchsicht von Peirces Schriften zeigt, daß dieser Widerspruch nicht zufällig
ist.
Peirce geht davon aus, daß es nur drei Denkweisen gibt s Induktion,
Deduktion und Abduktion, auch "Hypothese" oder "Re-
6 troduktion" genannt. War er zu Beginn der Auffassung,
daß sich
alle Denkweisen auf den Syllogismus "Barbara" zurückführen lassen, glaubte er später, daß jede Schlußfigur als nicht mehr reduzierbare Denkform anzusehen
sei:
1. Deduktion - Der Schluß von Regel und Fall auf das Ergebnis 2. Induktion - Der Schluß von Fall und Ergebnis auf die Regel 3. Abduktion - Der Schluß von Regel und Ergebnis auf den Fall. Eine Abduktion erfolgt also, wenn eine ungewöhnliche Tatsache dadurch erklärt werden kann, daß angenommen wird, sie sei der Fall eines allgemeinen Gesetzes. Unterschieden werden drei Typen: Die Abduktion bezieht sich auf unbeobachtbare Fakten, die aber prinzipiell beobachtet werden können, auf nichtbeobachtbare Fakten wie Geschichtsdaten, die nur aus Denkmälern erschlossen werden können, und auf Entitäten, die
im Moment weder
faktisch noch theoretisch sichtbar sind. Die endgültige Fassung sieht so aus: Überraschend auftauchende Fakten werden so erklärt, daß sie als notwendige oder als sehr wahrscheinliche Konsequenzen unter den jeweils gegebenen Bedingungen vorhergesagt werden können. Dazu muß eine Hypothese (Abduktion) eingeführt werden, die konsistent in sich selbst ist
und die Fakten
wahrscheinlich erklärt. Dann werden die Konsequenzen herausgearbeitet, so daß von der Hypothese Vorhersagen über mögliche Ergebnisse von Experimenten abgeleitet werden können, dieser Schritt heißt "Deduktion". Schließlich wird die Hypothese durch Experimente und Vergleiche
der dabei gewonnenen Daten mit der
Vorhersage g e t e s t e t ; wird die Hypothese jedesmal bestätigt, gilt sie als wahre theoretische Aussage; dieser Schritt heißt "Induktion". Die Zusammenarbeit aller drei Schritte wird von Peirce im Rahmen einer normativen Wissenschaft entwickelt, in der aber die wissenschaftstheoretische Rechtfertigung der Abduktion durch die Dekduktion erfolgt: The surprising f a c t , C, is observed; But if A were true, C could be a matter of course; Hence, there is reason to suspect, that A is true is valid because the corresponding deduction is valid: If A were true, C could be a matter of course, A is true; Hence, C is true. (FANN 19701 52)
69
Neben dieser erneuten Reduktion auf einen klassischen Schluß stehen allerdings auch Äußerungen wies Now that the matter of no new truth can come from induction or deduction we have seen. It can only come from abduction; and abduction is, after all, nothing but guessing. (PEIRCE 1958» 13?) The abductive suggestion comes to us like a flash. It is an a c t o f i n s i g h t , although o f extremely fallible insight. (FANN 1970: 35) Damit hat es auch Peirce nicht vermocht, die Konsequenzen für seinen eigenen Ansatz so zu ziehen,
die Hypothesenbildung, die
gleichermaßen unabdingbar und unwissenschaftlich ist, wissenschaftliche Tätigkeit zu integrieren, daß ihr
so in die spezifischer
Charakter - einzig mögliche Quelle neuer Erkenntnis zu sein erhalten bleibt. Durch das Insistieren auf dieser Eigenschaft hat er jedoch zu verhindern gewußt, daß die Abduktion in der Dekuktion aufgehoben erscheint, den Widerspruch so wenigstens offenhaltend. wie bei
Somit stellt sich auch hier das gleiche Problem
der Spracherwerbshypothese, wo Chomsky die angeborenen
Initialzündungen des Geistes nur wieder im schwarzen Kasten des LADs verschwinden lassen kann, in dem sie weiter ihr unbekanntes, weil unbeobachtbares Wesen treiben. Der Grund liegt meiner Ansicht nach darin, daß Jedesmal die Zuordnung einer Anfangsbedingung zu einem späteren komplexen mit M i t t e i n d e r Logik allerdings eindeutig festgelegten - System erfolgen muß, das aus eben diesen Anfangsstrukturen entstanden sein soll und dessen qualitative Eigenschaften bewahren muß, und dessen empirische Konsequenzen verifizierbar oder mindestens falsifizierbar oder schließlich nur noch bestätigbar sein müssen. Das nun sind Postulate des logischen Empirismus selbst, den beide kritisieren, dem beide in ihrer eigenen Arbeit wieder aufgesessen sind. Die dem logischen Empirismus zugrundeliegende Erkenntnishaltung beschreibt Feyerabendi 1. Sie geht davon aus, daß es eine unwandelbare Basis der Erkenntnis gibt, die Information über die Welt b e r e i t s t e l l t , und auf die letztlich alle Erfahrung reduzierbar
ist.
2. Sie akzeptiert als einzige Erkenntnisbegründung induktive Systeme und betrachtet alles andere als Metaphysik, so
70
"daß
eine Theorie, die formal einwandfrei und empirisch zufrie-
denstellend ist, ihre metaphysische Vergangenheit vergessen kann und muß" (FEYERABEND 1963» 323). 3. Ihr wichtigstes Axiom ist die Theorie der wissenschaftlichen Erklärung, das Hempel/Oppenheim-Schema. Dessen Bedingungen! Folgerungen aus der erklärenden Theorie müssen mit der zu erklärenden vereinbar sein ("Konsistenzpostulat"), die Identität der wichtigsten deskriptiven Terme beider Theorien muß gewährleistet sein ("Postulat der Sinninvarianz"), spricht Feyerabend jede positive Bedeutung für die konkrete Arbeit und den Fortschritt der Wissenschaft insgesamt ab und sieht ihre Funktion nur darin, bestehende Theorien zu konservieren. Das Konsistenzpostulat
führt nämlich dazu, daß Alternativen zu
gerade bestehenden Theorien nur aufgrund von Fakten entwickelt werden können, während eine mit den Fakten verträgliche Alternative von der "alten" Theorie abgelehnt wird; der Fortschritt, der über die Revision von Begriffen führt, gerät so nicht mehr ins Blickfeld. Für den Empiristen bleibt nur noch das Sammeln von Fakten, was richtig wäre, gäbe es diese reinen Fakten. Feyerabend konzediert den zum empirischen Gehalt einer Theorie gehörenden Fakten nur eine relative Autonomie, da bestimmte Fakten erst im Rahmen einer alternativen Theorie konstituiert werden können. Daraus ergibt sichi daß die theoretische Einheit, auf die wir uns beziehen müssen, wenn wir Probleme der empirischen Prüfung und des empirischen Gehalts einer Theorie diskutieren, aus einer ganzen Reihe sich teilweise überschneidender, mit den Beobachtungen gleichermaßen vereinbarer, sich jedoch gegenseitig ausschließender Theorien besteht. (FEYERABEND 1963t 316) Die Entwicklung alternativer Theorien wäre also Bestandteil jeder wissenschaftlichen Arbeit, und erst nach dem Kontrainduktionstest sollte von einer Theorie behauptet werden dürfen, sei mit den Fakten verträglich. Demzufolge ist
sie
also auch das
Induktionsprinzip nicht mehr unhinterfragt verwendbar, da nicht immer die Wahrheit einer Aussage S nur deswegen gerechtfertigt ist,
weil die Wahrheit einer Aussag· S 1 mit geringerem empiri-
schen Gehalt gegeben ist. Feyerabends Kritik am logischen Empirismus bestätigt, was
71
Chomskys Versuche einer Rechtfertigung seiner Grammatiktheorie ergeben h a t t e n t er ist
ungeeignet, weil er den komplexen Zu-
sammenhang der Modellkomponenten nicht akzeptiert, weil er die Theoriegebundenheit von Fakten negiert, sie vielmehr mit der theologisch anmutenden Aura des letzten u n d
d a h e r
einzig
wahren Erkenntnisgrundes umgibt, weil er die Entwicklung von alternativen Theorien dem Induktionsdogma unterwirft, dem vorher schon jede immanente Kritik an der eigenen Theorie anheimgefallen war. Chomskys Revision der TG - sie erfolgte bekanntlich über Fakten der Oberflächenstruktur wie Präsupposition, Fokus, Negation, denen die Standardtheorie auch h ä t t e gerecht werden können, but this modification would be j u s t i f i e d (assuming it possible) Just in case it achieved the naturalness and explanatory force of Jackendoff's proposal ... (CHOMSKY 1969at 209) bestätigt schließlich, daß in der praktischen Entwicklung der TG der Standpunkt des logischen Empirismus nicht verlassen wurde. Chomsky konnte also weder seinem Anspruch gerecht werden, eine rationalistische Alternative zu entwickeln, dieses Gewand taugte nur zur Verdeutlichung der Schwächen der "alten" Theorie doch hat er Perspektiven dieser Alternative markiert, noch konnte er sich der faktischen Macht der herrschenden wissenschaftstheoretischen Position auf die Dauer widersetzen - doch hat er einen Anspruch formuliert, der die Dimension einer Rechtfertigung von Grammatiken vorschreibt. Es ist
deutlich, daß dieser erneute Sieg des logischen Empi-
rismus im rationalistischen Gewand als Wiederauflage der alten Idee von der Universalsprache der Wissenschaft als Universalwissenschaft der Sprache zu nicht unerheblichem Teil auf Chomskys eigenes Konto geht, daß die Ansätze zu dessen Überwindung jedoch ebenfalls
dort verzeichnet sind, und so mag das Z i t a t , mit dem
er seine Revision abschließt, Einsicht und Trost zugleich seint Very roughly, this seems to me a fair assessment of the state of the theory of transformational generative grammar - at the moment. Obviously, any such assessment must be quite tentative and imprecise at crucial points. I will be very surprised if in a similar review several years from now, or perhaps next week, I will not want to
72
present a rather different picture - surprised, and not a little disappointed as well. (CHOMSKY 1972i 199)
Literatur CHOMSKY, Noam (1956)s "Three models for the description of language". LUCE, R. D. / BUSH, R. R. / GALANTER, E. (eds.) (1965)* Readings in mathematical psychology. II. New York: Wileyt 105-124.
-— ---
---
(1957)1 "Rez. von Charles F. HOCKETTi A manual of phonology". International Journal of American Linguistics 23s 223-23^. ( I 9 6 8 ) t Sprache und Geist. Frankfurts Suhrkamp. ( I 9 6 9 a ) t "Deep structure, surface structure, and semantic interpretation". CHOMSKY ( 1 9 7 2 ) t Studies on semantics in generative grammar. The Hague t Moutoni 62-119· ( I 9 6 9 b ) : "Knowledge of language". The Times Literary Supplement, 15.5.1969l 523-525. ( 1 9 7 2 ) t "Some empirical issues in the theory of transformational grammar". CHOMSKY ( 1 9 7 2 ) s 120-2O2. (197 1 *) t "Interview mit H. PARKETT". CHOMSKY ( 1 9 7 4 ) » Thesen zur Theorie der generativen Grammatik. Frankfurts Fischers 79-124.
FANN, K. T. ( 1 9 7 0 ) s Peirce's theory of abduction. The Hague s Mouton. FEYERABEND, Paul K. (1963)s "Vie wird man ein braver Empirist? Ein Aufruf zur Toleranz in der Erkenntnistheorie." KRÜGER, Lorenz (1970)s Erkenntnisprobleme der Naturwissenschaften. Kölns Kiepenheuer und Vitschs 3O2-335. PEIRCE, Charles S. (1958)s Collected papers. VII-VIII. Cambridge (Mass.).
2,
SPRACHWANDEL
ÜBERLEGUNGEN ZUM STATUS DER LAUTGESETZE Walther Kindt/Jan Wirrer
O.
Die analytische Wissenschaftstheorie ist
bislang vor allem
an der Physik orientiert gewesen. Einerseits wurden wissenschaftstheoretische Überlegungen durch Beispiele aus der Physik verdeutlicht, andererseits wurden wissenschaftstheoretische Theorien an der Physik entwickelt, wie etwa in jüngster Zeit die Theorie SNEEDs
( 1 9 7 1 ) . Erst in den letzten Jahren sind die zwei zentralen
philologischen Disziplinen, die Linguistik und die Literaturwissenschaft, Gegenstand wissenschaftstheoretischer Reflexion geworden, B. . die Arbeiten von GÖTTNER ( 1 9 7 3 ) 1 und STEGMÜLLER den, wie z ..B ( 1 9 7 5 ) zeigen. Verglichen mit einer an den Maßstäben analytischer Wissenschaftstheorie orientierten Entwicklungsskala, hat z . B . die Physik einen hohen, die Linguistik demgegenüber einen mittleren Entwicklungsstand erreicht. Wenn nun in solchen Wissenschaften, die weniger weit entwickelt sind als die Physik, Konsens darüber erzielt werden kann, daß hier ein ähnlich hoher Standard anzustreben ist,
so kann die deskriptiv verfahrende Wissenschaftstheorie
als Orientierungshilfe bei der Weiterentwicklung eben solcher Wissenschaften dienen und damit eine normative Funktion erfüllen. Zu den hier betroffenen Wissenschaften gehört auch die Linguistik,
Um genau zu ermessen, wo in der Linguistik eine solche Fortentwicklung ansetzen soll, ist
es notwendig, den wissenschafts-
theoretischen Standard der einzelnen Teildisziplinen und Schulen zu ermitteln. Dies kann nur dadurch geschehen, daß vorliegende wissenschaftliche Argumentationen rekonstruiert und auf ihre Empirizität und logische Stringenz hin analysiert werden. Die im folgenden skizzierten Überlegungen wurden im Rahmen eines umfassenderen Vorhabens angestellt, das Karl Verners Aufsatz "Eine ausnahme der ersten lautverschiebung" zum Ausgangs-
76
punkt nimmt. Dieser Arbeit entnehmen wir die Teile, in denen wir uns mit dem theoretischen und empirischen Status der Lautgesetze und den in der historischen Sprachwissenschaft verwendeten Konstruktsprachen beschäftigen. Der vorgeschriebenen Kürze wegen können wir hier nur eine sehr 2 knappe Darstellung unserer Überlegungen geben. 1. Ein generelles Problem der historisch vergleichenden Sprachwissenschaft, dessen Wichtigkeit bei der in KINDT/WIRRER (1975) durchgeführten Rekonstruktion der Argumentation von VERNER (1877) deutlich wird, betrifft die Frage nach der empirischen Interpretation von Lautgesetzen. Konkret stellt sich diese Frage in VERNERs Aufsatz bei solchen Argumentationsschritten, wo er behauptet, dieses oder jenes Paar von Wörtern sei ein Beispiel oder Gegenbeispiel für ein bestimmtes Lautgesetz. Eine derartige Behauptung ist nicht unmittelbar zu verifizieren, sondern setzt eine präzise Bestimmung des Phonementsprechungsbegriffs voraus. Nun findet man in der einschlägigen Literatur kaum explizite Hinweise darauf, wie der Begriff der Phonementsprechung zu präzisieren bzw. unter welchen Bedingungen eine solche Entsprechung anzusetzen ist. Zu den wenigen Ausnahmen von Arbeiten, die in dieser Hinsicht genauer werden, gehören z . B . HJELMSLEV ( 1 9 6 8 ) und KATIÖIC ( 1 9 6 6 ) . Auch die Vorschläge dieser Autoren sind noch unbefriedigend, wie wir im folgenden zeigen wollen. Ziel unserer Überlegungen ist es zunächst,am Beispiel der Auffassung von Katic"ic die Probleme zu diskutieren, die bei einer Explikation der Phonementsprechungsrelation auftreten, und selbst eine Explikation vorzuschlagen. In KATICld ( 1 9 6 6 : 2O5) wird folgende Regel aufgestellt: (R) Zwischen zwei Sprachen L., und L 2 ist die kontextunabhängige Entsprechung L../p../—^ L 2 /p„/der Phoneme/p../und/p-/ anzusetzen, falls in L. und L_ wiederholt (rekurrentermaßen) solche Wörter oder Morpheme w.. € L., und w„ € L_ auftreten, die folgende Bedingungen erfüllen:
77
(B 1)
w1 und w» entsprechen sich in ihrer Bedeutung,
(B 2)
/p 1 /kommt in w.. und / p _ / i n w_ vor,
(B 3)
die Stelle, an der /p*/in w.. vorkommt, entspricht der Stelle, an der /p 2 / in w 2 vorkommt.
Zunächst ist
zu bemerken, daß die
Phonementsprechungsrelation
durch (R) nicht eindeutig bestimmt ist,
weil nur hinreichende
Bedingungen für das Vorliegen der Relation genannt werden.
Ins-
besondere geht aus (R) nicht der Gesetzescharakter L 1 / p . / —» L 2 / p 2 / hervor. Daß Phonementsprechungen tatsächlich Gesetze darstellen, zeigt sich u.a.
daran, daß sie zur Erstel-
lung von Prognosen über die Existenz nicht belegter Wörter benutzt werden. Die Regel
(R) ist
darüberhinaus
in drei Punkten
problematisch. Erstens stellt sich die Frage, was die in (R) enthaltene Rekurrenzforderung genauer bedeuten soll. KATICIC legt diese Forderung so aus, daß sie
(R) den Status einer induktiven Regel gibt,
mit Hilfe derer Aussagen über Phonementsprechungen immer nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit gemacht werden können ( 1 9 6 6 : 2 O 5 ) . Die so präzisierte Rekurrenzforderung läßt jedoch außer acht, daß Phonementsprechungshypothesen nicht nur auf induktiver Argumentation basieren, sondern selbst statistische Aussagen machen. Lautgesetze gelten nämlich in der Regel nicht ausnahmslos. Speziell lassen sich z . B . mit (R) - sofern die Akzentverhältnisse unberücksichtigt bleiben - die beiden "sich widersprechenden" Gesetze aind./t/ —» got./p/ und aind./t/ —> got./d/ aufstellen. An diesem Beispiel wird deutlich, daß die
Phonementsprechungsre-
lation als dreistellige Relation eingeführt werden seilte, wobei die dritte Stelle die Wahrscheinlichkeit angibt, mit der die jeweilige Entsprechung postuliert wird. Die Rekurrenzforderung in (R)
ist
aber zu grob, um eine Spezifikation der
zugehörigen
Wahrscheinlichkeit zu ermöglichen. Das zweite Problem, das mit (R) verbunden
ist, b e t r i f f t den
Begriff und die Bedingung der Bedeutungsentsprechung. KATICIC räumt ein, daß dieser Begriff erst noch geklärt werden muß (1966: 2 O 7 ) . Er nimmt aber an, eine solche Klärung könne im Rahmen von
78
semantischen Theorien erfolgen, sofern sie auch den Bedeutungswandel zwischen den verglichenen Sprachen berücksichtigen ( 1 9 6 6 : 2 0 9 ) . Weiterhin vermutet Katicid, daß es möglich sei,
ein Maß
für den Grad der Bedeutungsentsprechung zwischen Wörtern zu wickeln, und er meint, dieser Grad sei mitentscheidend
ent-
dafür,
mit welcher Sicherheit eine Phonementsprechung postuliert werden könne ( 1 9 6 6 : 2 O 9 / 2 1 O ) . Dieser Auffassung widerspricht bis zu einem gewissen Grade die Tatsache, daß als Beleg für ein Lautgesetz manchmal auch solche Wortpaare angeführt werden, die sich - intuitiv beurteilt - in ihrer Bedeutung überhaupt nicht
ent-
sprechen. Beispielsweise ist das bei den Wörtern lat. pacisci ( ' ü b e r e i n k o m m e n ' ) und got.
fahan
( ' f a n g e n ' ) der Fall, deren Be-
deutungen sich nur sehr indirekt, nämlich nur durch Vermittlung über aind. pacayati ( ' e r bindet") entsprechen (vgl. hierzu VERNER
1877: 9 8 ) . Angesichts eines solchen Beispiels muß man sich
f r a g e n , ob der Bedeutungsentsprechungsbegriff nicht zu stark ausgeweitet werden würde, wollte man ihn auf dieses Beispiel anwen-
den. Zweifel an der Brauchbarkeit des B e g r i f f s "Bedeutungsentsprechung" und an der Notwendigkeit der Bedingung (B 1) ergeben sich auch, wenn man den Geltungsbereich von Lautgesetzen zu bestimmen versucht. Dieser Bereich kann nicht mit der Klasse der Paare solcher Wörter übereinstimmen, die sich in ihrer Bedeutung entsprechen. Denn es darf nicht jedes bedeutungsgleiche Wortpaar, das die in einem Lautgesetz geforderte Phonementsprechung aufweist, als Beleg für das Gesetz gewertet werden (man denke z . B . an lat.
pax/
nhd. friede und das Gesetz l a t . / p / —> n h d . / f / ) . Und ebensowenig zählt jedes bedeutungsgleiche Wortpaar als Gegenbeispiel für ein Lautgesetz, wenn die zugehörige Phonementsprechung nicht vorliegt (dies b e t r i f f t z . B . lat.mater / got.
aibei ( ' M u t t e r ' ) und das
Gesetz lat. / m / — » g o t . / m / ) . Als definierende Eigenschaft des Geltungsbereichs ist u . E . die Eigenschaft anzusetzen, die HJELMSLEV (1968: 19) explizit dafür vorsieht, die er als Gleichheit von Wörtern bezeichnet
und die schon VERNER umstandslos mit dem
Zeichen "=" notiert (vgl. etwa 1877: 9 8 ) . Wir wollen diese Eigenschaft neutraler "Korrespondenz" nennen. Nun ist führung einer Korrespondenzrelation
durch die Ein-
und durch die Ersetzung von
79
(B 1) durch eine Korrespondenzbedingung nichts gewonnen, so lange man diese Relation nicht näher charakterisiert hat. Weder in der Darstellung von Verner noch der von Hjelmslev werden explizite Kriterien für die Relation angegeben. Darüberhinaus zeigt sich etwa bei einer Durchsicht der von Verner intuitiv als korrespondierend akzeptierten Wortpaaren, daß es in Einzelfällen Schwierigkeiten bereiten wird, entsprechende Kriterien zu explizieren und zu rechtfertigen. Um eine Klärung des Korrespondenzbegriffs zu erreichen, muß man wohl - so lautet unsere These - zunächst davon ausgehen, daß mit ihm ein theoretisch postulierter und nicht vollständig empirisch interpretierter Begriff vorliegt, dessen Einführung auf der intuitiven Hypothese beruht, daß in verwandten Sprachen bestimmte Teilklassen von Wörtern und Morphemen einander eindeutig zugeordnet werden können. Weiterhin muß man versuchen, die Korrespondenzrelation dadurch näher zu charakterisieren, daß man einige notwendige und einige hinreichende Bedingungen für sie formuliert. Diese Bedingungen werden teilweise theorieabhängig sein, weil bei der Annahme, daß zwei Wörter korrespondieren, oftmals schon Gebrauch von Lautgesetzen gemacht wird. Als ein grundlegendes Kriterium, von dem man offensichtlich ursprünglich bei der Aufstellung von Lautgesetzen ausgegangen ist, kann das folgende genannt werden: (K 1) Zwei Wörter oder Morpheme korrespondieren, f a l l s sie bedeutungsgleich sind, dieselbe Stellenanzahl haben und sich höchstens an einer Stelle unterscheiden. Mit Hilfe von (K 1) können z . B . äs. tehan / ahd. zehan als korrespondierend nachgewiesen werden, nicht aber lat. decem / äs. tehan oder äs. tehan / ae. tyn (alle mit der Bedeutung ' z e h n ' ) . Es liegt nahe, die einzelnen Bedingungen in (K 1) noch zu verallgemeinern, z . B . durch eine Ersetzung von "bedeutungsgleich" durch "bedeutungsähnlich" (in einem noch zu präzisierenden Sinne) . Speziell wäre dann die oben genannte Auffassung von Katicic in der Form gerechtfertigt, daß die Bedingung der Bedeutungsähnlichkeit eine wichtige Rolle für den Nachweis von Lautgesetzen spielt und daß insbesondere vom Grad der Bedeutungsähnlichkeit zwischen zwei Wörtern die Sicherheit abhängt, mit der sie als
30
korrespondierend ausgewiesen werden können. Es scheint aber im Augenblick noch nicht möglich zu sein zu entscheiden, wo die genauen Grenzen für eine Verallgemeinerung von (K 1) liegen. Darüberhinaus sind u . E . für eine Explikation weiterer, bisher implizit gebliebener Kriterien eingehende Untersuchungen notwendig, zumal damit zu rechnen ist, daß beim Vergleich zweier Sprachen jeweils spezifische Gegebenheiten berücksichtigt werden müssen. Das dritte Problem der Regel (R) b e t r i f f t die Bedingung (B 3) Einerseits bedeutet es eine unzulässige Einschränkung der Allgemeinheit, wenn man fordert, daß die einander entsprechenden Phoneme an derselben Stelle bei den verglichenen Wörtern vorkommen sollen (man denke etwa an got. fimf / ae. fif ( ' f ü n f ' ) , wo die vierte und die dritte Stelle zueinander in Beziehung gesetzt werden). Läßt man andererseits Stellenzuordnungen von allgemeinerem Typ zu, so ist nicht zu sehen, wie im speziellen Fall eine Stellenzuordnung vor einer anderen als zutreffend ausgezeichnet werden kann. Das hier angesprochene Problem ist u . E . nur dadurch lösbar, daß man die obengenannte Hypothese durch die zusätzliche Annahme ergänzt, daß die Phoneme korrespondierender Worter/Morpheme auf genau eine Weise einander zuordenbar sind. M . a . W . : als theoretische Grundrelation wird nicht die Korrespondenzbeziehung in der bisherigen Form, sondern eine verallgemeinerte dreistellige Korrespondenzrelation "w.. = w" eingeführt, bei der die Relation r vollständig oder teilweise darüber Auskunft gibt, welche Stellen in w.. und w~ einander zugeordnet werden können. Das bedeutet, daß sich die Gültigkeit von Lautgesetzen nur bei solchen Wörtern überprüfen läßt, bei denen bestimmte Informationen über die Stellenzuordnung vorliegen. In analoger Weise wie oben ergibt sich das Problem einer Explikation von Kriterien, welche die verallgemeinerte Korrespondenzrelation charakterisieren. In Erweiterung von (K 1)könnte man als besonders einfaches Beispiel eines solchen Kriteriums das folgende aufstellen: (K 2)
Zwei Wörter oder Morpheme korrespondieren und sind insbesondere an der Stelle i einander zuordenbar,
81
falls sie bedeutungsgleich sind, dieselbe Stellenzahl n > i haben und sich höchstens an der Stelle i voneinander unterscheiden. Aus (K 2) ergibt sich z . B . , daß äs. tehan / ahd. zehan korrespondieren und insbesondere an der Stelle 1 einander zuordnenbar sind. Dagegen sind bei got. f imf / ae. fif die Korrespondenz und die Zuordnung der Stellen vier und drei nicht mit Hilfe von (K 2) nachweisbar; hierzu sind zusätzliche Informationen erforderlich, und zwar u . a . die Information, daß die Stellen zwei und drei in fimf der Stelle zwei in f i f zugeordnet werden können, was bei Kenntnis des Gesetzes got. Vmf —» ae. Vf angenommen werden darf. Für eine Formulierung von gegenüber (K 2) verallgemeinerten oder von andersartigen Kriterien müssen sicher noch erhebliche Anstrengungen unternommen werden. Solche Anstrengungen sind u . E . aber insofern lohnenswert, als sie eine stärkere Systematisierung und bessere methodische Absicherung der in der historischen Sprachwisschenschaft erzielten Ergebnisse ermöglichen werden. Aufgrund der vorstehenden Überlegungen bietet es sich jetzt an, die gesuchte Exlikation für den Phonementsprechungsbegriff folgendermaßen anzusetzen: Die Entsprechung L I / p../ —^ L_ / p_/besteht mit der Wahrscheinlichkeit von x% genau dann, wenn mit x% gilt: Wenn zwei Wörter oder Morpheme w 1 £ L 1 und w_ € L„ die Eigenschaft haben, daß w 1 = w_ und daß durch r die Stelle i in w.. der Stelle j in w_ zugeordnet wird und daß schließlich /p 1 / an der Stelle i in w. vorkommt, dann 7 kommt /p 2 / an der Stelle j in w~ vor . 2. Bei der Formulierung von Lautgesetzen spielen die von der historischen Sprachwissenschaft entwickelten Konstruktsprachen wie idg. und germ, eine wichtige Rolle. Der wissenschaftstheoretische Status dieser Konstruktsprachen soll an einem kurzen Beispiel verdeutlicht werden, wobei wir das folgende Korpus aus acht Wörtern zugrundelegen, die ihrer Bedeutung nach alle " Z a h n " entsprechen:
82
got.
tunpus
as.
tand
ae. ahd.
tod zand
aind. lat. bret. lit.
dan dens dant dantis
Auf der Basis dieses Korpus sollen durch Sprachvergleich die LautQ
gesetze für den Anlaut aufgestellt werden. Dabei beschränken wir uns zunächst auf die vier germanischen Wörter:
(D (2) (3) (4) (5) (6)
g o t . / t / _ —» äs. /t/_ —> got./t/_ —* ae./t/_ —» g o t . / t / _ —» a h d . / z / _ —»
as./t/_ got. /t/ ae./t/_ got. /t/ ahd. / z / got. /t/
(7) (8) (9) (10)
as./t/_ ae./t/_ as./t/_ ahd./z/_
( 1 1 ) ae./t/_ (12) ahd./z/
ae./t/ as./t/ ahd. /z as./t/ ahd. /z ae./t/
Bei einem Vergleich von nur vier Daten kommt man also bereits auf zwölf Gesetze. Ein solches Verfahren ist im allgemeinen sehr a u f wendig und führt zu einer hohen und damit unökonomischen Zahl von Gesetzen. Eine geringere Zahl von Gesetzen erhält man, wenn man die Phonementsprechungen zwischen den vier Daten in Bezug auf eine Konstruktsprache (ks ) reformuliert. Wir erweitern daher unser Korpus um ein konstruiertes Datum, nämlich: ks Q tanbus. Formulieren wir nun die Phonementsprechungen im Anlaut der vier germanischen Daten mit Bezug auf ksn tanpus, so ergeben sich folgende acht Lautgesetze:
(13) (14) (15) (16)
ks 0 /t/_ got./t/_' ks Q /t/_ äs./t/ -
got./t/_ ks Q /t/_ as./t/_ ks 0 /t/_
( 1 7 ) ks Q /t/_
(18) ae./t/_ ( 1 9 ) ks Q /t/_ (20) a h d . / z /
ae./t/_ ks Q /t/_ ahd./z/_ ks Q /t/_
Bei Benutzung des zusätzlich angenommenen Transitivitätsgesetzes lassen sich jetzt die Gesetze (1) - ( 1 2 ) aus ( 1 3 ) - (2O) herleiten. Dazu ein Beispiel: wenn ( 1 8 ) a e . / t / _ — > ks /t/_ und ( 1 9 ) k s / t / _ — > a h d . / z / _ , dann ( 1 1 ) a e . / t / _ — > a h d . / z / _ .
83 Nun mag bei einem Korpus von vier Daten die Ersparnis von vier Gesetzen den zur Erstellung der Konstruktsprache erforderlichen Aufwand ökonomisch noch nicht aufwiegen. Es ist
aber bereits in-
tuitiv einleuchtend, daß die mit der Konstruktsprache gewonnene Ökonomie wächst, wenn man mehr Daten zu ihr
in Beziehung setzt,
also z . B . unser germ. Korpus um nhd. Zahn, ne. tooth und schw. 9 tand erweitert . Ähnlich wie in Bezug auf die germanischen Daten unseres Korpus kann man auch bezüglich der vier nicht-germanischen Daten verfahren, und zwar könnte man in einer weiteren Konstruktsprache ( k s 1 ) ks 1 dont- ansetzen. Mit Hilfe dieses Datums lassen sich die Phonementsprechungen im Anlaut der vier nicht-germanischen Daten wiederum in acht Gesetzen ausdrücken. Will man Anlautgesetze über das gesamte Korpus aufstellen, so müssen zusätzlich die Phonementsprechungen zwischen ks Q und ks. formuliert werden: (21)
k s 0 / t / _ —> k S l / d / _
( 2 2 ) k S l / d / _ —»
ks Q /t/_
Bei Zuhilfenahme von kso und ks 1 reichen für unser Korpus achtzehn Anlautgesetze aus. Ohne die Konstruktsprachen müßte man demgegenüber sechsundfünf zig Gesetze aufstellen. D . h . : die Erarbeitung von Konstruktsprachen in der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft
rechtfertigt sich bereits durch die mit die-
sen Sprachen zu erreichende Ökonomie, und zwar unabhängig davon, ob ihnen eine historische Realität zukommt oder nicht. Abschließend sollen einige Bemerkungen zur historischen Interpretation der Konstruktsprachen angestellt werden. Daß oben für kso tanpus angesetzt wird, ist
zunächst nichts als eine will-
kürliche Festlegung. Man könnte stattdessen z . B . auch mit natürlichen Zahlen operieren und got.
tunpus kso1_2_34_56_ korrespondie-
ren lassen. Eine solche Sprache wäre einer graphematischen wie der oben angesetzten logisch äquivalent, nur würde die Memorierbarkeit der Gesetze vermutlich erschwert werden. Den Vorteil der einfacheren Memorierbarkeit hat ks_ tanpus gegenüber ks Q zandus nicht. Gesetze wie ( 1 3 ) bis
( 1 9 ) lassen sich unter Zugrundelegung
von kso zandus ebensogut formulieren wie unter Zugrundelegung von ks„ tanpus. Will man ksQ jedoch historisch interpretieren als
84
eine - nicht belegte - allen germanischen Sprachen gemeinsame Vorgängersprache, also als germ., so kann von den Daten tanbus und zandus nur eines richtig sein. Es muß aus den Daten also dasjenige ausgewählt werden, das mit größter Wahrscheinlichkeit der historischen Realität entspricht (vgl. dazu KATI -t.. Dieses klassische Beispiel ist gut geeignet, einen Aspekt der '^casilla pre-ocupada" zu exemplifizieren. Auch wenn wir über die Chronologie des phonetischen Lautwan-
103
dels nicht genau informiert sind, können wir mit Sicherheit annehmen, daß gat *gad suchte die Sprache nach anderen Lösungen. Mit dieser Annahme stimmt die Feststellung des FEW s.gallus 5 , 4 7 überein: In der Gaskogne ist /gallus/ nur in dem kleinen gebiet geblieben, wo der auslaut noch die Unterscheidung von gat ' k a t z e 1 ermöglichte. Der ersatz durch PULLUS hat hier zum teil begonnen,bevor die homonymie eingetreten ist... 4 . 1 . 1 . Sehen wir uns ein anderes Beispiel an, diesmal aus dem Portugiesischen: Venenum hätte im Port, laut Corominas, DCELC s. veneno durch die Zwischenstufen *veninum und * v ( e ) i n h o die Form *vinho gegeben, folglich eine homonymie genante mit vinum Auch in diesem Fall hätten wir ein im Portugiesischen fest verwurzeltes Wort vinho ' W e i n 1 , in dessen Bereich venenum durch phonetische Entwicklung kommt. Das Fach war vorbelegt; das ' G i f t ' unterlag. 4.1.2.
Diese beiden Beispiele, bei denen dank der fast nur an
einem der jeweiligen Konkurrenten stattfindenden phonetischen Entwicklung die relative Chronologie der Wörter leicht zu bestimmen ist, können wir als Fälle von chronologischer Priorität anführen. 4 . 2 . Damit wollen wir nicht etwa behaupten, daß von zwei Wörtern, die in Kollision geraten, immer das im System ältere siegen wird. Diese chronologische Priorität kommt erst dann in Betracht, wenn zur Zeit der (phonetischen) Konvergenz von zwei früher getrennten Wörtern der Homonymiekonflikt gleich akut ist. 4.2.1.
Nehmen wir das Lateinische ilia ' W e i c h e 1 , ' F l a n k e 1 .
104
Im Spanischen hätte es ija ergeben; Corominas nimmt aufgrund von verschiedenen Indizien an, daß dieses Wort im Altspanischen existiert habe, daß es aber wegen der Homonymie mit hija 'Tochter' verschwunden sei. Die chronologische Priorität war diesmal sicherlich bei ija, denn hija mußte noch die Entwicklung f >0 durchmachen. Wir sind jedoch nicht überrascht, daß in diesem Falle 'Weiche' hat weichen müssen. Sie hatte die "casilla" vorbelegt, aber der Kampf war sehr ungleich: ein so wichtiger Begriff wie "Tochter 1 stand einem viel weniger wichtigen gegenüber. Außerdem kam im System der ' S o h n ' , hijo, der keine Konkurrenz zu fürchten hatte, und der sicherlich die Priorität in der Rede hatte, der 'Tochter' zu H i l f e . Dazu kommt, daß die Homonymie nicht von vornherein "genante" war. Es würde uns überraschen, wenn der Kampf anders ausgegangen wäre, wenn hija vor *.ija - h, ,. ija hätte verschwinden müssen und sogar hijo nach sich gezogen hätte. 4.2.2.
In diesem Fall war die Priorität in der "Disponibilität"
ausschlaggebend. Dieser Prioritäts-Typ ist sicherlich ein wichtiger, nicht immer leicht kalkulierbarer Faktor bei der Entscheidung im Homonymiekonflikt gewesen. 4 . 3 . Nicht weniger schwierig zu beurteilen ist die Lage der Homonyme, die durch etwa gleich lange und nicht ohne weiteres zu datierende Entwicklung in beiden zur Homonymie bestimmten Paaren entstanden sind. Dieser Gruppe gehören beispielsweise hinojo 'Fenchel' > g a l l u au sens de "cog 1 par gat > c a t t u au sens de ' c h a t ' " . Romania 91, 101-1O6. ÜLLMANN, Stephen ( 1 9 6 2 ) : Semantics. An introduction to the science of meaning. Oxford: Blackwell. - Ü b e r s . : Semäntica. Introducci&n a la ciencia del significado. Madrid: Aguilar, 1970.
FÜR EINE HISTORISCHE ANALYSE VON SPRECHAKTEN Brigitte Schlieben-Lange
Zunächst eine Bemerkung zur "Textsorte" dieses Beitrags: wie sich bereits dem Titel entnehmen läßt, sollen nicht die Ergebnisse abgeschlossener Untersuchungen präsentiert werden; es soll sich vielmehr um ein Plädoyer für eine bestimmte Betrachtungsweise handeln, die meines Erachtens bislang in der Sprechakttheorie zu kurz gekommen ist. Es will mir nämlich scheinen, daß sich innerhalb der linguistischen Pragmatik eine ü n i v e r s a l i t ä t s a n n a h m e breitmacht, die bislang fast völlig unwidersprochen geblieben ist , jedenfalls sehr viel genauer formuliert werden müßte. Diese Universalitätsannahme wird natürlich gestützt durch das Verfahren der transformationeilen Grammatik, möglichst viele Regeln als universelle explizit zu machen und nur noch einen Rest einzelsprachlich zu fassen. Sie wird aber auch scheinbar gestützt durch gewisse sprachphilosophische Ansätze, die teilweise in der Sprachwissenschaft recht pauschal übernommen wurden» Wenn zum Beispiel Habermas im Rahmen seines Entwurfs einer Universalpragmatik, die eine Konsensustheorie von Wahrheit fundieren soll, vier Typen von Sprechakten als pragmatische Universalien aufführt und Beispiellisten zu jedem dieser Typen gibt, so ist damit nicht gemeint, daß es die einzelnen als Beispiele angeführten Sprechakte immer und überall gegeben haben müsse, z . B . "versprechen", "zitieren" usw. Er will mit seinen Sprechaktklassen lediglich Typen von Beziehungen als universelle erklären, die durch die betreffenden (oder ähnliche) Sprechakte überhaupt erst fundiert werden. Wenn "vernünftig" gesprochen werden soll, so Habermas, muß es möglich sein, das Verhältnis einer Aussage zu Wahrheit/ Falschheit zu explizieren, Bedürfnisse zu artikulieren, das Ver2 hältnis zu Normen auszudrücken. Sprachwissenschaftlich übernommen und interpretiert, sind auch andere sprachphilosophische Ansätze ( z . B . Apels "transzendentale Kommunikationsgemeinschaft" und Grices Konversationsmaximen) universalistisch mißdeutbar. Nun ist diese Art der sprachphilosophischen Fragestellung durchaus
114
legitim, und die Rede von der Universalität ist
in diesem Zusam-
menhang sinnvoll, und zwar in einer bestimmten Weise - ich komme am Schluß darauf zurück. Nicht sinnvoll scheint mir die Annahme dagegen in Hinsicht auf Beschreibung und Erklärung sprachlicher Handlungen. Sie müßte jedenfalls sehr viel genauer formuliert werden, als es bislang geschehen ist.
So spricht zum Beispiel auch Wunderlich gelegent-
lich von "naturwüchsigen" Sprechakten,
ohne daß deren Status ge-
nauer erklärt würde. Meine (zugegebenermaßen starke) These ist:
Es gibt keine univer-
sellen sprachlichen Handlungen, sondern nur je historisch bestimmte, unterschiedene, konventionalisierte sprachliche Handlun-
gen. Zum Beispiel: Es gibt nicht das "Versprechen" schlechthin, sondern nur historische Formen des Eingehens von Verpflichtungen, etwa Lehensverpflichtungen, Gelöbnisse, Vertragsverpflichtungen, 4 Verpflichtungen zwischen "mündigen Individuen". Ein Korollar meiner These ist,
daß es nur dann Sprechakte
gibt, wenn es auch Bezeichnungen (nicht notwendigerweise
Perfor-
mativa) dafür gibt. Es scheint so, daß Bezeichnungen für sprachliche Handlungen erst relativ spät entstanden sind. Andererseits setzt für mich das Verständnis von Sprechakten als
"sozialen
Handlungen", also Handlungen, denen - gemäß der klassischen Soziologie im Sinne Max Webers - ein gemeinsamer Sinn unterstellt wird, voraus, daß es möglich ist,
sie zu identifizieren und sich
über ihren Sinn zu verständigen. Im folgenden soll ein Arbeitsvorhaben zur Überprüfung und genaueren Formulierung meiner These skizziert werden. Folgende drei Schritte wären vorzusehen: A.
Überprüfung mittelalterlicher ( d . h . mittelhochdeutscher oder
altfranzösischer) Wörterbücher und Texte auf auffällige Erscheinungen im Bereich sprachlichen Handelns. Das Mittelalter wähle ich deshalb als Untersuchungsgebiet, weil das Maß an Verfremdung bereits beträchtlich ist,
man nicht so leicht in Gefahr kommt,
Ähnliches als Gleiches zu interpretieren. Der Abstand zu diesen
115
Texten ist
bereits so groß, daß das Ausmaß an Veränderung o f f e n -
sichtlich wird. B.
Formulierung eines eng begrenzten Teilgebiets als
Untersu-
chungsgegenstand . C.
Genaue Untersuchung des eingegrenzten Bereichs.
A.
A u f f ä l l i g e Erscheinungen bei Überprüfung mittelalterlicher
Wörterbücher und Literatur Hier kann man zwei Fragerichtungen
verfolgen:
- Bei der Durchsicht von Wörterbüchern kann man danach f r a g e n , welche Bereiche sprachlicher Handlungen im Mittelalter hochinstitutionalisiert waren. Wenn für einen Bereich sehr viele sprechaktbezeichnende Verben vorhanden sind, so kann man auf die besondere Wichtigkeit dieses Bereichs in der betreffenden Gesellschaft schließen ( z . B . Verwaltung, Gericht usw. heutzutage) . Es zeigt sich, daß einige Bereiche besonders gut ausgestattet sind, z . B . : Verpflichtungen Kollektive Beurteilungen Hohn / Spott Arten des Erzählens. Diese Liste ist
sicher nicht erschöpfend und bedürfte der Über-
prüfung. - Welche Merkmale fallen bei einer oberflächlichen Textlektüre a u f ? Ich habe zu diesem Zweck einige Romane von Chretien von Troyes durchgesehen. Dabei drängen sich folgende Beobachtungen
auf: 1. Sprechakte, die es auch noch heute gibt, die also die gleichen sein könnten, werden anders interpretiert. Ich will das am Beispiel "zitieren" erläutern. Auch bei Habermas kommt "zitieren" als ein Beispiel von "Kommunikativa" vor. Verständnis ist
In unserem heutigen
damit gemeint, daß es möglich sein m u ß , sprach-
lich zwischen Eigenem und Fremdem zu unterscheiden, daß Autoren ein Recht darauf
haben, zitiert zu werden, damit kenntlich wird,
wer etwas zum ersten Mal gesagt hat und wofür der Zitierende selbst die Verantwortung übernimmt. Im Mittelalter hatte dagegen das Zitieren eine gänzlich andere Bedeutung: es diente dazu, sich
116
in eine Tradition einzuordnen, insbesondere natürlich in die Tradition der Heiligen Schrift und ihrer Auslegung durch die Kirchenväter. Aber auch weltliche Autoren halten es für wichtig, sich durch die Zitierung einer Tradition, in die sie sich einreihen, zu legitimieren: Geste estoire trovons escrite, Que conter vos vuel et retreire, An un des livres de l'aumeire Mon seignor saint Pere a Biauvez. De la fu li contes estrez, Don cest romanz fist Crestiiens. Li livres est mout anciiens, Qui tesmoigne l'estoire a voire. (Cliges, v. 18-25) Ein anderes Beispiel für sprachliche Handlungen, die, wiewohl ähnlich, im Mittelalter andere Voraussetzungen und einen anderen Sinn zu haben scheinen, sind "Beurteilungen von Handlungen". Es scheint, daß "los" (Lob) und "blasme" und Ähnliches vor allem von Kollektiven ausgesprochen werden; sie sind sowohl unindividuell als auch deshalb unemotional, nicht kränkend. 2. Andere Bereiche als heute sind ritualisiert und mit performativen Verben ausgestattet. So sind zum Beispiel "presanter servise" (seine Dienste anbieten) und "congie prandre" (aus einem Dienstverhältnis zeitweilig ausscheiden) sprachliche Rituale, die durchaus in der 1. Person Singular durchgeführt werden und werden müssen. Eine interessante Frage, die sich hier anschließen ließe, ist die nach der Ungleichzeitigkeit von sprachlichen Handlungen und gesellschaftlichen Verhältnissen. Sprachliche Rituale scheinen häufig die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen sie "Sinn" haben, zu überleben. 3. Sehr häufig sind Sprechhandlungen, die Reziprozität beinhalten, oder auch feste Sprechaktsequenzen oder Bestätigungen der Annahme von Sprechakten. Zum Beispiel gibt es viele solche Sprechaktpaare wie "querre/obtreiier" (ersuchen/gewähren). Häufig werden sprachliche Handlungen explizit angenommen, sie werden bestätigt, zum Beispiel "seiremenz" und "homages" (Eide und Ehrerweise) . Solche Bestätigungssequenzen gibt es heutzutage in weit geringerem Ausmaße. Sequenzierungen erscheinen in weit höherem Maße konventionalisiert. Das heißt auch, daß Indirektheit von sprachlichen Handlungen, Ambivalenz der Interpretation oft ausgeschlossen ist. Von daher könnte auch das Problem der Perlokution
117
neu beleuchtet werden: Unter welchen Bedingungen können überhaupt bestimmte Effekte intendiert werden? B. In einem zweiten Schritt wäre ein besonderer Untersuchungsbereich auszugrenzen. So scheint mir etwa der unter 3. skizzierte Bereich besonders vielversprechend zu sein. Stimmt es, daß es ein hohes Maß an Reziprozität, an Sequenzen zum Zweck der Annahme von sprachlichen Handlungen gibt? Im Vergleich dazu scheinen die heutigen sprachlichen Handlungen, die oft analysiert worden sind: "raten", "warnen", "befehlen", ohne eine Vergewisserung gegenseitigen Interesses und ohne Versicherung des Akzeptierens zu erfolgen. C. Die eigentliche Untersuchung hätte sich auf drei Bereiche zu erstrecken: W ö r t e r b ü c h e r : Was gibt es für performative und für sprechaktbezeichnende Verben in dem gewählten Bereich? Was läßt sich den Wörterbüchern bereits über ihren Gebrauch, ihr Funktionieren entnehmen? T e x t e : Wie werden in der Literatur sprachliche Handlungen ausgeführt und angenommen? Wer tut das eine, wer das andere? Mit welchen Formeln geschieht das? Welche Zusatzbedingungen spielen eine Rolle? Was geschieht, wenn die daraus resultierenden Verpflichtungen nicht eingehalten werden? Welche Norm-/Regelverletzungen deuten sich in der Literatur an, anders: wo läßt sich aus Reaktionen schließen, daß eine gültige Norm verletzt wurde? I n s t i t u t i o n e n a n a l y s e : M i t d e r Untersuchung von Wörterbüchern und Texten müßte auf jeden Fall die Analyse der Institutionen und der Rechtsgeschichte einhergehen, wenn vermieden werden soll, daß die Untersuchung zu einer - wenn auch interessanten - Ansammlung von Wortgeschichten gerät. Nicht die semantische Beschreibung performativer oder sprechaktbezeichnender Verben sollte im Vordergrund stehen, sondern die Beschreibung der Bedingungen und der Formen sprachlichen Handelns unter anderen gesellschaftlichen Voraussetzungen.
118 Dieses Programm ist
noch weitgehend unausgefüllt.
Ich bin aber
überzeugt davon, daß sich viele Probleme der Sprechakttheorie nur durch historische Analysen klären lassen, zum Beispiel: Ritualisierung / Sinnentleerung Handlungskonsequenzen / Sanktionen Institutionalisierung Indirektheit Perlokution Sequenz ierungskonventionen. Trotzdem ist die universalistische Fragestellung sinnvoll, aber nicht als Beschreibungsmöglichkeit für sprachliche Handlungen, sondern als Frage nach den normativen Sätzen, die Kommunikation regeln, als Fundament für eine Ethik des Sprechens. Habermas 1 Sprechaktklassifizierung ist nicht deskriptiv, sondern normativ gemeint, und zwar im Sinne einer Beantwortung der Frage: Welche Beziehungen müssen Individuen herstellen können, wenn sie "vernünftig" miteinander reden können sollen? Ebenso ist Apels Annahme der Kommunikationsbereitschaft innerhalb der "community of investigators" normativ zu verstehen; ebenso sind es Grices Konversationsmaximen, was sich nicht zuletzt an der - an Q Kant angelehnten - Imperativischen Formulierung ablesen läßt.
Anmerkungen 1 2
Die einzige mir bekannte Ausnahme stellt KANNGIESSER 1974 dar. Ich beziehe mich auf HABERMAS 1971 und HABERMAS 1975.
3 4
WUNDERLICH 1 9 7 2 : 38. Interessant ist, daß explizite Versprechen heute nur Personen gegenüber gegeben werden, die man in irgendeiner Hinsicht nicht für voll nimmt, z . B . Kindern. Interessant wären in diesem Zusammenhang die Wort- und auch Sozialgeschichten von conge (Urlaub) und auch comander (befehlen, "in die Hände legen"). Vgl. dazu SCHLIEBEN-LANGE 1 9 7 4 , SCHLIEBEN-LANGE 1 9 7 5 und SCHLIEBEN-LANGE 1 9 7 6 .
5
6 7
Mir ist ein Projekt bekannt, in dem die Abfolge verschiedener Gesellschaftsformen und ihrer sprachlichen Handlungen in ihrem gegenwärtigen Nebeneinander untersucht werden sollen (Dinser/
119
Quasthoff, Berlin). Außerdem wären viele Arbeiten der Ethnography of Communication in dieser Hinsicht auswertbar. Die Schwierigkeit liegt darin, daß diese Normen des vernünftigen Sprechens doch insofern in die Sprachbeschreibung eingehen, als Indirektheit und ähnliches aufgrund der Unterstellung der allgemeinen Verbindlichkeit dieser Normen interpretiert wird (vgl. dazu SCHLIEBEN-LANGE 1975: 9 O f . ) .
Literatur HABERMAS, Jürgen ( 1 9 7 1 ) : "Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz". HABERMAS/LUHMANN ( 1 9 7 1 ) : Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Frankfurt: Suhrkamp: 1O1-141. ( 1 9 7 5 ) : Zur Entwicklung der Interaktionskompetenz. Frankfurt (Vorlesungsnachschrift). KANNGIESSER, Siegfried ( 1 9 7 4 ) : "Universelle und kontingente Bedingungen des sprachlichen Handelns (unveröffentl. M s . ) . SCHLIEBEN-LANGE, Brigitte ( 1 9 7 4 ) : "Perlokution - Eine Skizze". Sprache im technischen Zeitalter 52: 319-333. ( 1 9 7 5 ) : Linguistische Pragmatik. Stuttgart: Kohlhammer. ( 1 9 7 6 ) : "Perlokution und Konvention". GLOY, Klaus / PRESCH, Gunter ( e d s . ) : Sprachnormen III. Stuttgart: Fromann & Holzboog. WUNDERLICH, Dieter ( 1 9 7 2 ) : "Zur Konventionalität von Sprechhandlungen". WUNDERLICH, Dieter ( e d . ) : Linguistische Pragmatik. Frankfurt: Athenäum: 11-58.
3.
SPRECHAKTBESCHREIBUNGEN
"WIE
HEISST DIE ANTWORT AUF DIESE FRAGE?"
Zum Status von Fragen und Antworten in einer Sprechakttheorie Wolfgang Klinke
1.
Vorbemerkung
Bei der sprechakttheoretischen Beschreibung von Fragen treten spezifische Probleme a u f , die sich zum einen aus der Nähe von Frage und Aufforderung hinsichtlich ihrer kommunikativen Funktion ergeben, zum anderen aus der Verwendung von Fragesätzen zum Vollzug unterschiedlicher illokutionärer Akte, von denen ich hier nur VORWERFEN, VORSCHLAGEN und RATEN 1 anführen will. Als drittes kommt h i n z u , daß die Beschreibung von Fragen grundsätzlich nicht isoliert von einer Beschreibung von Antworten erfolgen sollte, um so der engen Beziehung zwischen beiden Rechnung zu tragen. Mit dieser Forderung gewinnt zusätzlich das Problem der logischen und pragmatischen Angemessenheit von Antworten Bedeutung. Schließlich wäre noch die 'rhetorische Frage 1 in eine Beschreibung einzubeziehen, deren besonderen Status bereits die traditionelle Grammatik berücksichtigt, indem sie sie als 'uneigentliche Frage' außerhalb der Systematik von Entscheidungsfragen (ja/nein-Fragen), Alternativfragen und Ergänzungsfragen (W-Fragen) stellt. Daß dabei allein die Oberflächenformen der Fragesätze Grundlage der Analyse sind, die verschiedene kommunikative Verwendbarkeit von Fragen aber unberücksichtigt bleibt, muß nicht ausdrücklich nachgewiesen werden. Im folgenden möchte ich versuchen, die kommunikative Funktion von Fragen und Antworten im Zusammenhang mit einzelnen illokutionären Akten etwas genauer zu beschreiben. Dabei sollen "rhetorische Fragen' jedoch unberücksichtigt bleiben. Außerhalb meiner Betrachtung wird auch die Problematik von Prüfungsfragen bleiben, auf die SEARLE ( 1 9 7 1 ) in seiner Beschreibung des Sprechaktes FRAGEN ausdrücklich hinweist. Als Sonderfälle von "echten 1 Fragen lassen sich Prüfungsfragen wie rhetorische Fragen m. E. am ehesten beschreiben, indem man auf der Folie eines möglichst genau definierten Sprechaktes FRAGEN abweichende bzw. ergänzende Bedingungen angibt.
124
Paralinguistische Aspekte wie Mimik und Gestik, die bei der Analyse von Frage-Antwort-Interaktionen auftauchen können (z. B. Schulterzucken statt einer Äußerung "Das weiß ich nicht" u. ä.) können hier auch nicht berücksichtigt werden. Damit ist jedoch nichts über den Stellenwert solcher nichtsprachlicher Kommunikationsmittel in einer umfassenden Beschreibung von Interaktionsprozessen impliziert. 2.
Fragesatz und illokutionärer Akt AUFFORDERN
Das grammatische System der deutschen Sprache sieht grundsätzlich drei syntaktische Muster vor, den Aussagesatz, den Fragesatz und den Befehlssatz (vom Heische- oder Wunschsatz hier einmal abgesehen). Wenn wir kommunizieren, d. h. also Sprechakte vollziehen, müssen unsere Äußerungen notwendig nach einem dieser Muster gebildet sein. Da nun weit mehr Typen von illokutionären Akten möglich sind, als syntaktische Muster zur Verfügung stehen, zwischen Satztyp und Illokutionstyp also keine 1:1-Beziehung vorliegt, kommt dem in der Äußerung verwendeten Satzmuster keine eindeutige Funktion im Hinblick auf die Determination der illokutionären Rolle zu. Diese wird erst durch den Situationskontext der Äußerung, in vielen Fällen aber auch durch die zusätzliche Verwendung von Indikatoren der illokutionären Funktion und/oder expliziten performativen Formeln endgültig bestimmt. Folgendes (an einen Filmdialog angelehnte) Beispiel weist auf eine hierarchische Ordnung der einzelnen Determinanten hin, wobei der Verwendung eines bestimmten syntaktischen Musters in der Äußerung eine untergeordnete Stellung zuzukommen scheint: (1a) Vater zum Sohn: Kannst du mir mal eben Zigaretten holen? (1b) Sohn (grunzt) (1c) Vater (nach längerer Zeit, lauter): Holst du mir j e t z t endlich Zigaretten? (1d) Sohn: Nein, verdammt nochmal! (1e) Vater (kleinlaut): War ja nur 'ne Fragel Auch wenn wir hier den besonderen Beziehungsaspekt zwischen Vater und Sohn unberücksichtigt lassen, wird deutlich, daß es sich trotz der verwendeten Äußerungsform 'Fragesatz' nicht um Fragen 'im eigentlichen Sinne 1 handelt, wie wir es intuitiv
12
verstehen: die Äußerungen (1a) und ( 1 c ) folgen vielmehr den Regeln, die SEARLE ( 1 9 7 1 : 1OO) für den illokutionären Akt AUFFORDERN gibt. Als Regel des propositionalen Gehalts finden wir "Zukünftige
[nichtverbale] Handlung A von H " ; als
Regel "Gilt als
wesentliche
ein Versuch, H dazu zu bringen, A zu tun". Wir
erwarten also hier vom Interaktionspartner eine nichtverbale Handlung A. Daß solche Äußerungen keine Informationsfragen, sondern Handlungsaufforderungen im oben beschriebenen Sinne sind, zeigt die Tatsache, daß sie mit Antwortreaktionen wie ( 2 b ) und ( 3 b ) nur dann akzeptable Sequenzen bilden, wenn diese von den entsprechenden praktischen Handlungen gefolgt oder begleitet werden: (2a)
S: Kannst du mir mal das Salz herüberreichen?
(2b)
H:
(3a)
S: Können Sie bitte meine Tasche einen Moment halten?
(3b)
H:
+
Ja. & (folgt keine weitere Handlung) Ja,
sicher. & ( f o l g t keine weitere Handlung).
Inhaltlich haben Fragesätze wie ( 1 a ) ,
( 2 a ) und ( 3 a ) die Hand-
lungsvoraussetzung bei H zum Thema, die bei für AUFFORDERN so formuliert ist:
"H ist
SEARLE ( 1 9 7 1 : 100)
in der Lage, A zu t u n . "
Das folgende Beispiel zeigt, daß nicht grundsätzlich alle Fragen nach den Fähigkeiten ( b z w . Möglichkeiten) von H, A zu t u n , Aufforderungen an H darstellen, A auch wirklich zu tun: (4a)
S: Kannst du Knöpfe annähen?
(4b)
H: Ja,
(4c)
S: Gut, dann bring 1 ich dir morgen meine Oberhemden
ich denke doch l
mit. Da sind eine ganze Anzahl abgerissen. Als Erwiderung von H könnte man sich etwa (4d)
H: Halt, so haben wir nicht gewettet!
oder
(4e)
H: Von wegen! Dir nähe ich noch lange keine an!
vorstellen, mit der sich H gegen die Interpretation von ( 4 a ) als Aufforderung
(Bitte) und von ( 4 b ) als Versprechen (einer in der
Zukunft liegenden Handlung A) wehrt. Das Verhalten von S könnten wir als
'Uberrumpelungstaktik' bezeichnen. Daß ( 4 a ) normaler-
weise keine Handlungsaufforderung darstellt, zeigt sich auch darin, daß eine Äußerung wie (4f)
H: Gerne!
die als Reaktion auf Handlungsaufforderungen durchaus adäquat
126
ist, nicht direkt auf ( 4 a ) folgen kann. Da H mit ( 4 f ) seine Einstellung zur Ausführung der Handlung A beschreibt ( ' I c h tue das g e r n e 1 ) , muß diese Handlung zuvor hinreichend nach Raum und Zeit spezifiziert worden sein. ( 4 a ) erfragt jedoch die Beherrschung des Handlungsmusters M 'Knöpfe annähen 1 ganz allgemein. Eine Spezifikation der nach dem Muster M auszuführenden Einzelhandlung A ließe sich im vorliegenden Beispiel durch die Verwendung von Sprachmitteln wie in (5) erreichen, die wir, ohne sie hier weiter analysieren zu wollen, als der Klasse der 'illokutionären Indikatoren 1 zugehörig betrachten. (5) S: Kannst du mir mal ein paar Knöpfe annähen? Auf (5) ist die Reaktion ( 4 f ) adäquat - der in der mit ( 4 a ) beginnenden Sequenz mögliche Gegenzug ( 4 d ) oder ( 4 e ) allerdings nicht mehr: das mit ( 4 f ) gegebene Versprechen kann H guterdings nicht pauschal zurücknehmen. Die obigen Ausführungen machen deutlich, daß unter bestimmten Bedingungen das syntaktische Muster 'Fragesatz 1 beim Vollzug des illokutionären Aktes AUFFORDERN verwendet wird. Gleichermaßen kann man, indem man Fragesätze äußert, andere Sprechakte vollziehen, so z. B. VORSCHLAGEN ( 6 ) , RATEN (7) und VORWERFEN ( 8 ) : (6a) Wollen wir morgen ins Kino gehen? (6b) Wie w a r ' s mit einem Spaziergang? (7a) Willst du nicht lieber erst im Sommer Examen machen? ( 7 b ) Wäre es nicht besser, wenn du zum Arzt gingest? (8a) Warum kommst du schon wieder zu spät? (8b) Wo hast du dich wieder rumgetrieben? Die der kommunikativen Verwendung dieser Äußerungen gemeinsame Aufforderungskomponente legt nahe, die verschiedenen Handlungen, zu denen aufgefordert wird, zu einer Klassifizierung von Fragen heranzuziehen. Einen solchen Ansatz regt HUNDSNURSCHER ( 1 9 7 5 : 13) an, wenn er darauf hinweist, "daß eine Typologie der Fragen zusammenfällt mit einer Typologie der Sprechakte, zu denen mit Fragen aufgefordert werden k a n n . " Das in dieser Feststellung ausgedrückte Verständnis von 'Frage' führt jedoch nicht unmittelbar zur Definition eines illokutionären Aktes FRAGEN, für den wir eine einheitliche kommunikative Funktion fordern. Im Hinblick auf den weiteren Fortgang der Argumentation empfiehlt sich daher eine strikte Trennung zwischen nach dem gleichen syntaktischen
127 Muster gebildeten Äußerungsformen einerseits und Sprechhandlungen, die sich aufgrund ihrer gleichen kommunikativen Verwendung einem einheitlichen illokutionären Akt zuordnen lassen, andererseits.
F r a g e ä u ß e r u n g e n
die nach dem syntaktischen Muster 'Fragesatz
( d . h . Äußerungen, 1
gebildet sind)
werden nach ihrer unterschiedlichen Verwendungsfunktion unter dem entsprechenden illokutionären Akt beschrieben, und zwar als e i n e
Äußerungsform unter mehreren möglichen. D i e syntakti-
schen Muster Fragesatz, Imperativsatz und Aussagesatz wie in (2a),
(9) und ( 1 O ) erscheinen dann z. B. als gleichberechtigte
Äußerungsformen des illokutionären Aktes AUFFORDERN: (2a) (9) (10)
Kannst du mir mal das Salz herüberreichen? Reich 1 mir doch bitte mal das Salz rüber! Ich hätte gerne mal das Salz.
Äußerungen, die zum Vollzug des noch zu definierenden illokutionären Aktes FRAGEN verwendet werden, wollen w i r h a n d l u n g e n 3.
F r a g e -
nennen.
Illokutionärer Akt FRAGEN
Unter den möglichen Frageäußerungen der deutschen Sprache können wir eine Menge isolieren, die wir als zeichnen.
'Informationsfragen 1 be-
Beispiele für solche Informationsfragen sind
(11)
Ist das hier der Hauptbahnhof?
(12)
Wann geht der nächste Zug nach Hamburg?
(13)
Ist heute Samstag oder Sonntag?
Von Frageäußerungen, wie sie oben unter dem illokutionären Akt AUFFORDERN beschrieben wurden, unterscheiden sich diese dadurch, daß die Handlung, zu der aufgefordert wird, durchweg sprachlicher Natur ist. satz
1
(Der Umstand, daß auf die Äußerungsform 'Frage-
unter dem illokutionären Akt AUFFORDERN neben der prakti-
schen Handlung gewöhnlich ebenfalls eine sprachliche Handlung, eine ' A n t w o r t 1 , erfolgt
(vgl.
( 2 b ) und ( 3 b ) ) , läßt sich m. E.
mit der (formalen) Notwendigkeit begründen, auf Fragesätze, unabhängig von ihrer kommunikativen Funktion, mit einem AntwortResponse zu reagieren.) Von Fragen, wie sie als
Äußerungsform
z. B. innerhalb des Interaktionsmusters BITTE -
VERSPRECHEN
vorkommen ( 1 4 ) , unterscheiden sich Informationsfragen ebenfalls durch den verschiedenen Handlungscharakter der
128 Folgehandlung 'Antwort 1 : während H mit der positiven Antwort ( 1 4 b ) eine Handlungsverpflichtung für die zukünftige Handlung A übernimmt, ist das bei einer positiven Antwort auf eine Informationsfrage nicht der Fall ( 1 5 b ) : (14a) S: Hilfst du mir morgen beim Tapezieren? ( 1 4 b ) H: Ja. (15a)
S: Hilft dir Peter morgen beim Tapezieren?
(15b) H: Ja. Dieser grundlegende Unterschied läßt sich weiter durch einen Vergleich der Sequenzen verdeutlichen, die jeweils mit der negativen Antwort ( 1 6 ) entstehen. (16) H: Nein. Auf (15a) hin geäußert ist ( 1 6 ) konversationell angemessen. Mit ( 1 4 a ) ist die Angemessenheit fraglich: gewöhnlich erwarten wir von H eine Begründung bezüglich eines Nicht-Könnens oder NichtWollens, etwa ( 1 7 ) : (17) H: Ich möchte schon, aber dummerweise muß ich morgen Überstunden machen. Die negative Antwort allein empfinden wir zumindest als 'unhöfl i c h ' , wenn nicht als 'ungewöhnlich 1 . Handlungsverpflichtungen wie bei ( 1 4 b ) können bei Sprechakten, zu denen mit Informationsfragen aufgefordert wird, nicht entstehen. Die kommunikative Funktion von Äußerungen, die wir als Informationsfragen bezeichnen, besteht also in ihrer Geltung als Versuch, H zum Vollzug eines Sprechaktes zu bewegen, der S genau die Information liefert, die er benötigt, um sein Wissen um die Welt zu vervollständigen. Die Übernahme von weitergehenden Verpflichtungen durch H ist dabei von S nicht intendiert. Ich schlage nun vor, genau diese kommunikative Funktion als konstituierend f ü r d e n i l l o k u t i o n ä r e n Akt FRAGEN anzunehmen; den von FRAGEN provozierten und nur unter Berücksichtigung seiner Sequenzabhängigkeit adäquat beschreibbaren illokutionären Akt will ich ANTWORTEN nennen. Die Regeln des illokutionären Aktes FRAGEN müßten, dem Obengesagten entsprechend, etwa wie folgt beschrieben werden können (nach SEARLE ( 1 9 7 1 ) und HUNDSNURSCHER ( 1 9 7 5 ) ) : R e g e l 1: Den propositionalen Gehalt einer Äußerungsform von FRAGEN kann jede Proposition (p) oder propositionale Funktion (Wp) 2 bilden.
129
R e g e l 2 : Voraussetzungen f ü r d e n Vollzug d e s illokutionären Aktes sind (a) S verfügt nicht bereits über die Information, die die Antwort erbringen soll; also bei ja/nein-Fragen den Wahrheitswert der Proposition ( p ) , oder, bei Ergänzungsfragen, die zur Vervollständigung der propositionalen Funktion (Wp) notwendigen Angaben. (b) S glaubt, daß H über diese Information verfügt. (c) S glaubt, daß H die Information nicht von selbst zu dem von S gewünschten Zeitpunkt liefern wird. (d) S glaubt, daß H bereit und in der Lage ist, die Information zu liefern. Anmerkung: Regel 2 (d) könnte in der Beschreibung von FRAGEN entfallen und im Zusammenhang mit dem von Grice aufgestellten allgemeinen Kooperationsprinzip (GRICE 1 9 6 8 ) beschrieben werden. Die Möglichkeit, sich bei Fragehandlungen explizit auf 2 (d) zu beziehen ( 1 8 ) , legt jedoch die Formulierung als Regel nahe. (18) Wollen Sie mir (wohl) sagen, wie ich am schnellsten zum Bahnhof komme? R e g e l
3:
S wünscht diese Information.
R e g e l 4 : D e r Vollzug einer Fragehandlung gilt a l s Versuch, H die gewünschte Information zu entlocken. Die Regeln für ANTWORTEN sähen dann etwa so aus: R e g e l 1: Den propositionalen Gehalt einer Äußerungsform von ANTWORTEN bildet entweder (a) die in der Frage ausgedrückte Proposition, versehen mit einem Wahrheitswert, also (p) oder (^p) - (Antworten auf ja/nein-Fragen), oder (b) die Ergänzuhgsangabe, die den durch das W-Element in der Frage (= Fragewort) gestellten Rahmen ausfüllt und damit die Vervollständigung der propositionalen Funktion (Wp) ermöglicht - (Antworten auf W-Fragen). Anmerkung: Für die Regel 1 (a) gilt die besondere Konvention,
130
daß bereits mit den Äußerungen " j a " b z w . ' n e i n " eine Wahrheitswertzuordnung in bezug auf die Proposition implizit geleistet wird und die ausdrückliche Wiederholung von (p) unterbleiben kann. Entsprechend gilt für 1 ( b ) , daß die Angabe der Ergänzung zu (Wp) nicht mit der Wiederholung von (p) gekoppelt sein muß: (19a)
S: Wo ist
das Städtische Krankenhaus?
(19b) (19c)
H: Das Städtische Krankenhaus ist H: Hinter dem Bahnhof.
hinter dem Bahnhof.
R e g e l 2 : Voraussetzungen: (a) H hat einen zeitlich vorausgehenden Sprechakt von S als FRAGEN erkannt und akzeptiert die für FRAGEN bestehenden Regeln. (b) H hat Beweismittel für das Bestehen oder Nicht-Bestehen des durch die Proposition (p) ausgedrückten Sachverhalts Anmerkung: Die Regel 2 (b) trägt der Forderung Rechnung, daß H 'nach bestem Wissen und Gewissen 1 die Wahrheit sagt - insofern übernimmt H beim Vollzug von ANTWORTEN die Verpflichtung, den Wahrheitsgehalt der gegebenen Information zu verteidigen, wenn es von ihm gefordert wird. Diese Art von Verpflichtung ist, da sie aus dem allgemeinen Kooperationsprinzip ableitbar ist, nicht identisch mit Handlungsverpflichtungen, wie sie bei VERSPRECHEN entstehen. R e g e l 3: H hält die Ergänzungsangabe zu (Wp) für die von S gewünschte Information. Anmerkung: Diese Regel erhält besondere Wichtigkeit, wenn das W-Element verschiedene Interpretationen zuläßt; so kann 'warum' eine Ergänzung des Grundes oder des Zwecks erfordern: (20a) S: Warum haben Lokomotiven drei Scheinwerfer? (20b) H: Weil eine gesetzliche Bestimmung es so vorschreibt. (20c) H: Damit man sie bei Nacht von Autos unterscheiden kann. Der durch das Fragewort 'wo' gestellte Rahmen kann durch lokale Ergänzungen unterschiedlichen Genauigkeitsgrades ausgefüllt werden: (21a) S: Wo befindet sich das Hauptpostamt? (21b) H: In der Innenstadt. (21c) H: In der Schillerstraße.
131
(21d)
H: 2.000 m L u f t l i n i e in östlicher Richtung von hier entfernt.
R e g e l
4:
D e r Vollzug einer Antworthandlung gilt a l s Ver-
such, S die gewünschte Information zu geben. Nach der Regelbeschreibung der illokutionären Akte FRAGEN und ANTWORTEN will ich mich noch kurz der Erörterung des Problems zuwenden, mit welchen Äußerungsformen außer Fragesätzen Fragehandlungen überhaupt vollzogen werden. Die Aufforderung an H, eine bestimmte Information zu l i e f e r n , läßt sich auf der Äußerungsebene auch explizit formulieren, h . , es besteht eine Paraphrasebeziehung
d.
zwischen Frage- und
Befehlssatz: (22a)
Wo ist
das Museum?
(22b)
Sage mir ( b i t t e ) , wo das Museum ist.
(22c)
Gib an, wo das Museum ist.
(22d)
Laß mich wissen, wo das Museum ist.
Neben direkten Fragesätzen wie ( 2 2 a ) müssen wir Äußerungen nach den Mustern ( 2 2 b ) -
( 2 2 d ) als Fragehandlungen im Sinne un-
serer Definition gelten lassen. Weitere Äußerungsformen, die Antworthandlungen von H provozieren, sind ( 2 2 e ) -
(221):
(22e)
Kannst du mir sagen, wo das Museum ist?
(22fJ
Würdest du mir sagen, wo das Museum ist?
(22g)
Du kannst mir sicher sagen, wo das Museum
(22h)
Du sagst mir j e t z t , wo das Museum ist!
(22i)
Ich wüßte gern von d i r , wo das Museum
(22k)
Ich weiß nicht, wo das Museum ist.
(221)
Antworte mir: wo ist
Prinzipiell ist
ist.
(Sag es m i r . )
das Museum?
auch eine Paraphrasierung von Fragesätzen durch
eine Form des Befehlssatzes möglich, satz aus ( 2 2 b ) -
ist.
in der der indirekte Frage-
( 2 2 k ) einer 'Nominalisierung 1 gewichen
(23)
Nenne mir den Standort des Museums.
(24a)
Warum dreht sich die Erde?
(24b)
Sage m i r , warum sich die Erde dreht.
(24c)
Nenne mir den Grund für die
ist:
Erddrehung.
Abschließend möchte ich noch auf die Fälle hinweisen, in denen als
'Antwort 1 von H ein längerer Text erfolgt. In der
132
Aufforderung zu solchen Äußerungen können Verben wie 'erklären 1 , 'beschreiben 1 und 'schildern' auftauchen (vgl. HUNDSNURSCHER 1975: 10f.): (25a) Wie funktioniert ein Computer? (25b) Sage mir, wie ein Computer funktioniert. (25c) Erkläre mir, wie ein Computer funktioniert. (25d) Erkläre mir die Funktionsweise eines Computers. Auch diese Äußerungsformen müßten nach dem vorgeschlagenen Schema beschrieben werden können.
Anmerkungen Durch Kapitälchen kennzeichne ich Namen von illokutionären Akten. (Wp) schreibe ich für propositionale Funktionen im Sinne Searles (1971: 5 1 f . ) . 'W weist dabei auf das in der Frageäußerung vorhandene Fragewort hin.
Literatur GRICE, H. P. ( 1 9 6 8 ) : Logic and conversation. Berkeley, (unveröffentlicht) HUNDSNURSCHER, Franz ( 1 9 7 5 ) : "Semantik der Fragen". Zeitschrift für germanistische Linguistik 3: 1-14. SEARLE, John R. ( 1 9 7 1 ) : Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
ZUR LOGIK VON FRAGE UND ANTWORT Jürgen Walther
1.
Vorbemerkung
Als Logik von Präge und Antwort oder interrogative Logik soll hier diejenige Wissenschaft bezeichnet werden, die sich mit der Untersuchung und der formalen Beschreibung der allgemeinen Gesetzmäßigkeiten beschäftigt, welche zwischen Fragen untereinander sowie zwischen Fragen und Antworten bestehen. Bislang ist der Erforschung dieser Gesetzmäßigkeiten nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet worden, obwohl Frage-Antwort-Strukturen sowohl in alltäglichen Gesprächssituationen als auch in wissenschaftlichen Problemlösungsversuchen eine wichtige Rolle spielen. Im folgenden sollen einige grundlegende Unterscheidungen und Bedingungen einer interrogativen Logik skizziert werden. 2. 2.1,
Zum Fragebegriff Die Grundvoraussetzung der interrogativen Logik
Als Grundvoraussetzung der interrogativen Logik kann die von verschiedenen Autoren in verschiedenen Formulierungen getroffene Feststellung gelten, daß jede Frage bereits alle Antworten, die auf sie möglich sind, enthält, m. a. W . , daß jede Frage die Klasse ihrer möglichen Antworten enthält. Diese Feststellung ist nicht so zu verstehen, daß in gegebenen Kommunikationssituationen sowohl ein Fragesteller als auch ein Antwortender sämtliche möglichen Antworten auf eine bestimmte Frage im voraus kennen oder sich aller Antwortmöglichkeiten bewußt sein müssen. Sie soll nur besagen, daß bei einer gegebenen Erwiderung auf eine Frage im Idealfall aufgrund der syntakto-semantischen Struktur der Frage entschieden werden kann, ob die Erwiderung eine Antwort enthält oder nicht. 2.2.
Fragesätze und Fragen
Ich will im folgenden zwischen Fragesatz und Frage unterscheiden.
134
Mit "Fragesatz" "bezeichne ich Ausdrücke, die durch ihre syntaktische Form allein von anderen Satztypen, etwa Aussagesätzen oder Befehlssätzen unterschieden sind. Mit dem Ausdruck "Frage" hingegen soll eine semantische Einheit bezeichnet werden. In der Umgangssprache muß nicht jeder Fragesatz unbedingt eine Frage ausdrücken, man denke beispielsweise an rhetorische 'Fragen 1 , d, h, Fragesätze, die Behauptungen oder Ausrufe ausdrücken. Auf der anderen Seite muß nicht jede Frage umgangssprachlich durch einen Fragesatz ausgedrückt werden, man denke etwa an Aussagesätze, die im Frageton gesprochen werden. In analoger Weise lassen sich Antworten und Antwortsätze unterscheiden. Als mögliche Antworten auf Fragen sollen der Einfachheit halber nur Aussagen betrachtet werden. Aussagen sind ebenfalls semantische Einheiten und nicht mit Aussagesätzen, p syntaktischen Einheiten, zu verwechseln. 2,3.
Extensionale und intensionale Fragen
Eine Frage kann die Klasse ihrer möglichen Antworten logisch auf zweierlei Weisen vorgeben: ( 1 ) dem Umfang nach; (2) dem Inhalt nach. Fragen der ersten Art nenne ich extensionale Fragen, Fragen der zweiten Art intensionale Fragen. Beispiele für extensionale Fragen sind: ( 1 ) Trinkt er Weißwein, Rotwein oder Weißherbst? ( 2 ) Trinkt er Wein? (3) Trinkt er Wein oder trinkt er keinen V/ein? Die Fragesätze "Trinkt er V/ein?" und "Trinkt er Wein oder trinkt er keinen Wein?" sind als gleichbedeutend anzusehen. Sie drücken
dieselbe Frage aus und bieten die gleichen Antwortmöglichkeiten an. Beispiele für intensionale Fragen sind: ( 4 ) Was trinkt er? ( 5 ) Wieviel V/ein verträgt er? ( 6 ) Warum trinkt er V/ein? Gegenüber den gängigen Unterscheidungen von Satzfragen/Wortfragen (FREGE 1918/19) oder Nexus-Questions/x-Questions (KATZ 1972) haben die hier vorgeschlagenen Termini "extensionale Frage" und "intensionale Frage" den Vorteil, daß sie die logische Grundbeziehung, die zwischen beiden Fragetypen besteht, zum Ausdruck bringen.
135
2.4.
Über extensionale Fragen
Extensionale Fragen enthalten ihre möglichen Antworten stets als Alternativen von Aussagen. Es sind hierbei zwei Typen extensionaler Fragen zu unterscheiden: (a) Fragen, deren mögliche Antworten sich gegenseitig ausschließen; (b) Fragen, deren mögliche Antworten sich nicht gegenseitig ausschließen. Fragen des Typs (a) nenne ich Entscheidungsfragen; Fragen des Typs (b) Alternativfragen. Diejenige Aussage, welche die möglichen Antworten auf eine extensionale Frage als Alternativen vollständig enthält, nenne ich die direkte Fragevoraussetzung der betreffenden Frage. Die direkte Fragevoraussetzung einer beliebigen Alternativfrage läßt sich formal aln Disjunktion sämtlicher möglicher Antworten ausdrücken : (FV A ) Pl v p 2 v ... v pn-1 v pn In ähnlicher V/eise läßt sich auch die direkte Fragevoraussetzung einer beliebigen Entscheidungsfrage als Disjunktion ausdrücken: (FV E ) Pl v -p, Nach der gängigen Auffassung enthalten Fragen neben der direkten Fragevoraussetzung noch eine Aufforderung, nämlich die Aufforderung, eine Antwort zu geben. Diese Bestimmung ist meines Erachtens zu weit. V'er eine Frage stellt, will nicht irgend eine x-beliebige Antwort erhalten, sondern fordert eine richtige Antwort. Diese Aufforderung drücke ich symbolisch durch ein Fragezeichen aus, das ich vor die direkte Fragevoraussetzung schreibe. Diese umfasse ich durch geschweifte Klammern. Den so entstehenden Ausdruck nenne ich einen formalen Fragesatz. (Zur Definition von "?" siehe Anm. 6) Allgemeine Alternativfragen können jetzt formal durch den folgenden formalen Fragesatz ausgedrückt werden: (FS A ) ? ( P 1 v p2 v ... v p n _ 1 v p n ) Allgemeine Entscheidungsfragen können formal durch den folgenden formalen Fragesatz ausgedrückt werden: (FS E ) ? {P1 v - Pl )
136
logisch gesehen ist es für eine Frage sowohl hinreichend als auch notwendig, daß sie eine direkte Fragevoraussetzung und eine Aufforderung zu einer richtigen Antwort enthält. 2.5.
Über intensionale Fragen
Nach FREGE (1918/19), der sich als einer der ersten um eine logische Analyse von Fragen bemüht hat, enthält eine intensionale Frage (V/ortfrage): (a) ein Prädikat ; (b) eine Aufforderung, das Prädikat zu ergänzen. Eine intensionale Frage wie: (7) V/er hat August von Kotzebue ermordet? enthält, Frege zufolge: (a) das Prädikat "x hat August von Kotzebue ermordet"; (b) die Aufforderung, die Variable durch entsprechende Konstanten zu ersetzen. Obwohl ich Fre.ges Interpretation der logischen Struktur intensionaler Fragen nicht für fehlerhaft halte, möchte ich hier einen anderen Weg der Analyse vorschlagen. Mit Freges Interpretation läßt sich nämlich nur schwer die Widersprüchlichkeit von Äußerungen wie der folgenden erklären: (I) Es gibt niemanden, der August von Kotzebue ermordet hat. Aber wer hat August von Kotzebue ermordet? Das Prädikat "x hat August von Kotzebue ermordet" ist hier sowohl in der Aussage als auch in der Frage enthalten; es kommt daher als Ursache der Widersprüchlichkeit nicht in Betracht. Der erste Satz der Äußerung enthält die Aussage, daß es niemanden gibt, der August von Kotzebue ermordet hat. Wenn eine Widersprüchlichkeit vorliegt, dann muß dieser Aussage durch die Frage widersprochen werden. Dies aber kann nur der Fall sein, wenn die Frage nicht nur das Prädikat "x hat August von Kotzebue ermordet" enthält, sondern die Aussage, daß es jemanden gibt, der August von Kotzebue ermordet hat. Diese Aussage nenne ich die direkte Fragevoraussetzung der intensionalen Frage ( 7 ) . Jede intensionale Frage enthält die direkte Fragevorausset- · zung, daß es mindestens einen Gegenstand oder einen Sachverhalt gibt, auf den das Prädikat der intensionalen Frage zutrifft. Diese direkte Fragevoraussetzung kann formal durch einen "Es
137
gibt"-Satz oder einen Existentialsatz ausgedrückt werden: (FV-j.) (Ex) f ( x ) Entsprechend können dann formale Fragesätze gebildet werden, welche intensionale Fragen ausdrücken, indem man den "Es-gibt"Satz durch geschweifte Klammern umfaßt und ein Fragezeichen davorsetzt: (FS T ) ? {(Ex) f(x)} Ein solcher formaler Fragesatz kann gelesen werden: "Für welches (existierende) gilt, daß f von x?" 2.6.
Die logische Beziehung beider Fragearten zueinander
In der hier dargelegten Scheibweise kann das logische Verhältnis zwischen intensionalen und extensionalen Fragen leicht dargestellt werden. Nach BOCHENSKI-MENKE (1965: 60) lassen sich formale "Es-gibt" Sätze folgendermaßen definitorisch auflösen : (DEF 1) " (Ex) f ( x ) " =df » f ( x . , ) v f ( x ? ) v ... v f(x n - 1 ) v f(x n ) " V/endet man diese Definition auf (FS,.) an und ersetzt entsprechend, so ergibt sich: (DEF 2) " ? {(Ex) f ( x ) } " =df " ? { f ( x j v f ( x 2 ) v ... v f ( x n _ J v f(x n )} " Das bedeutet, daß es logisch möglich ist, jede intensionale Frage in eine entsprechende extensionale Frage aufzulösen. Umgekehrt ist eine extensionale Frage in eine ihr entsprechende intensionale Frage überführbar, vorausgesetzt, die einzelnen Antwortalternativen der extensionalen Frage sind prädikatsgleich. Ein Beispiel für eine solche Überführung ist die Überführung der intensionalen Frage "Welchen Wochentag haben wir heute?" in die extensionale Frage "Ist der heutige Wochentag ein Sonntag oder Montag oder ... oder Freitag oder Samstag?" 3. 3.1«
Zum Antwortbegriff Der logische Status von Antworten
Der logische Status von Antworten ist bislang kaum problematisiert worden. Der Umgangssprache entsprechend, in der man Antworten ebenso wie Aussagen als wahr oder falsch bezeichnet, behan-
138
dein Autoren wie STAHL (1962) oder CRESSWELL (1964) Antworten als Aussagen. Unbezweifelbar enthält eine Frage ihre möglichen Antworten als Aussagen, Ich glaube dennoch, daß es notwendig ist zu unterscheiden zwischen: (a) möglichen Antworten, wie sie in einer Präge enthalten sind; (b) aktuellen Antworten, wie sie auf eine Frage gegeben werden. Aktuelle Antworten enthalten zwar Aussagen, aber zusätzlich noch eine Behauptung. Wenn jemand beispielsv/eise die Frage stellt: ( 1 ) Trinkt er Weißwein, Rotwein oder Weißherbst? so bietet er drei Aussagen als mögliche Einzelantworten an: (la) Er trinkt Weißwein. (Ib) Er trinkt Rotwein. (Ic) Er trinkt Weißherbst. Wenn jemand die Frage (1) beantwortet, so erfüllt er die in der Frage enthaltene Aufforderung, eine richtige Antwort zu geben, aktuell dadurch, (a) daß er mindestens eine der vorgegebenen möglichen Antworten auswählt; (b) daß er die Wahrheit der ausgewählten Aussage(n) behauptet. Wenn der Antwortende lediglich eine der angebotenen Antwortmöglichkeiten auswählt, diese aber als neutrale vorstellt oder gar als falsch verwirft, so erfüllt er die in der Frage enthaltene Aufforderung nicht. Sätze wie: ( I d ) Es mag sein, daß er Weißwein trinkt. (le) Er trinkt keinen Weißwein. geben also keine aktuelle Antwort auf die Frage ( 1 ) . 3.2.
Aktuelle Antworten
Aktuelle Antworten auf Fragen sind diejenigen Behauptungen, in denen die Wahrheit mindestens einer der angebotenen möglichen Antworten behauptet wird. Behauptungen mache ich dadurch kenntlich, daß ich vor die Aussage, deren Wahrheit behauptet werden soll, das Behauptungs-
139
zeichen " *· " setze: die Aussage selber umfasse ich durch geschweifte Klammern. Somit lassen sich sämtliche aktuellen Antworten, die auf die verschiedenen Fragetypen gegeben werden können, ausdrücken: (a) Aktuelle Antworten auf Entscheidungsfragen der Form ? (p, v -p,} sind die Behauptungen t- [p,} und »-{-p,,} (b) Aktuelle Antworten auf allgemeine Alternativfragen der Form ? {p„ v p p V ... v p _ „ v p }sind die Behauptungen " [ P I ) . | -fP 2 } » · · · » ^ {Pn-^-'-iPn} (c) Aktuelle Antworten auf intensionale Fragen lassen sich durch die Zurückführung der intensionalen Frage auf eine Alternativfrage mittels (DEF 2) analog zu (b) angeben. Bei aktuellen Antworten auf Alternativfragen und intensionale Fragen sind außerdem noch molekulare Antworten denkbar. 4. 4.-1.
Die Gültigkeit von Fragen und Antworten G-ültigkeitswerte von Fragen
Fragen enthalten zwar Aussagen, die wahr oder falsch sind, sind selber jedoch weder wahr noch falsch. In der Umgangssprache charakterisiert man Fragen zumeist durch Prädikate wie "sinnvoll", "nicht sinnvoll", "erheblich" usw. Um das vieldeutige V/ort "sinnvoll" und das gefühlsbetonte "erheblich" zu vermeiden, verwende ich zur logischen Charakterisierung von Fragen die Ausdrücke "i-gültig" und "i-ungültig". Die interrogativlogische. Gültigkeit von Fragen kann durch Definition auf die »'ahrheitswerte der direkten Fragevoraussetzungen zurückgeführt werden. (DEF J>] Eine Frage ist genau dann i-gültig, wenn ihre direkte Fragevoraussetzung wahr ist und genau dann i-ungültig, wenn ihre direkte Fragevoraussetzung falsch ist. Die Angemessenheit der Definition geht daraus hervor, daß der in der Frage enthaltenen Aufforderung dann und nur dann genügt werden kann, wenn die direkte Fragevoraussetzung wahr ist. 4.2.
Gültigkeitswerte von Antworten
In ähnlicher Weise können auch Behauptungen bzw. aktuellen Antworten interrogativlogische Gültigkeitswerte durch Definition
140
zugeteilt v/erden: (DEF 4) Eine Behauptung (aktuelle Antwort) ist genau dann i-gültig, wenn die behauptete Aussage wahr ist und genau dann i-ungültig, wenn die behauptete Aussage falsch ist. Diese Definition entspricht ebenfalls dem normalen Gebrauch, da man Behauptungen nur insofern als gültig anerkennt, als die behauptete Aussage wahr ist. 5. Schlußbemerkung Durch die Zurückführung interrogativlogischer G-ültigkeitpwerte auf Wahrheitswerte von Aussagen wird die Möglichkeit eröffnet, interrogativlogische Beziehungen auf aussagenlogische und prädikatenlogische Beziehungen zurückzuführen. Eine Verfeinerung und Erweiterung dieses Ansatzes könnte zu einem System einer interrogativen Logik führen, welches sowohl für die linguistische Analyse von Dialogen als auch für systematische Problemanalysen von Nutzen wäre.
Anmerkungen 1 Siehe dazu etwa BELNAP (1963: 5, 53) und STAHL (1962: 194). 2 Dies entspricht der gängigen logischen Unterscheidung von Satz und Proposition. 3 Indizierte "p" sind hier als Zeichen für Aussagenvariabeln zu verstehen. Die einzelnen Schemata werden der Einfachheit halber von mir nur in den Nominaldefinitionen (DEF 1) und (DEF 2) formal als Sätze gekennzeichnet. 4 "Prädikat" ist im Sinne der Logik aufzufassen. 5 Indizierte "x" bedeuten Individuenkonstanten. Die Anzahl der Alternativen sehe ich bei dieser Definition im Gegensatz zu BOCHENSKI-MENHE als endlich an. 6 Durch die Zuordnung von Gültigkeitswerten werden die bislang Undefiniert gebliebenen Zeichen "?»·,« H » als Funktoren definiert. Den Definitionsbereich der entsprechenden Funktionen bilden Wahrheitswerte, den Wertebereich bilden interrogativlogische Gültigkeitswerte.
141
Literatur ?>Τ'';Ιή ! ΑΡ, T'uel T). (19*5 "5): Λ ·ΪΪ nnnlynir; of nuoi-.tionr. Preliminary report, .'Jan t a. Monica: ΤΓ··!Ρ. •ROC lffliJKI, I. K./i-'E;-!"]·:, Albert (1965): Grundri der Logistik. l'aderborn: :lch ningh. , ΓΊ. J. ( 1 9 6 4 ) : "The lotfic of interrogatives". Cr:03:.3Lr'r·, J. I·: . /DUIWKT? ( e d r , . ) (ΐ9ί·Ο: V'ornicTl nyr.temr and recursive function:;, '••mnterdfin: 16-19. : y VROTi, Gottlob (1913/19): "Hie Verneinung. Mine logische Unter suchung", Ijeitr:ip;e zur Philosophie der, Deutschen Idealismus 1: 143-157. K/VI7,, J. J. (1972): .Semantic theory. Lev/ York: Harper & Row. STAIiL, Gerold (1962): "Fragenfolgen", ?:κ3!.;ΛυΚ.··; , I:. /VON KU^oC E ^.Λ, F. ( e d o . ) (1962): Logik und Logikkalk l. Freiburg: Alber: 149-158.
DER THEORETISCHE STATUS DER YES/NO-FRAGE Michael Daumert
1. Abgrenzung und Definition Bekanntlich ist der B e g r i f f 'Trage" einer von den Termini, die oft benutzt, im allgemeinen i n t u i t i v eindeutig erscheinen, deren Definition jedoch äußerst problematisch ist
. Unwidersprochen ist
lediglich die Ansicht, daß eine Frage keine syntaktische Form, sondern eine Geistcshaltung ist. BOLINGER ( 1 9 5 7 : 1)
formuliert
dies so: A question is fundamentally an a t t i t u d e , which miaht be called ' c r a v i n g ' , - it is an utterance that craves a verbal or other semiotic ( e . g . a nod) response. Leichter erscheint die b i n n e n s t r u k t u r e l l e Abgrenzung der einfachen Fragetypen untereinander: allgemein durchgesetzt
hat sich
in der Literatur über Fragen sowie in Schulgrammatiken die Vorstellung, daß es zv/ei wesensverschiedene Arten von Fragen gibt, die allerdings mit verschiedenen B e g r i f f e n beleat sind. JESPERSLN ( 1 9 2 4 : 3 O 3 ) zählt dazu a u f : Yes- or no-question or categorial question vs pronominal question, sentence question vs word question, totality question vs detail question or partial question, entscheidungsfrage vs ergänzungsfrage or tatsachenfrage, bestatigungsfrage vs bestimmungsfrage. Diese Zweiteilung
hält jedoch einer genaueren Überprüfung
nicht stand, denn in vielerlei Aspekten überschneiden sich die Funktionen der beiden als komplementär angesehenen Frageformen. Schon HARRIS
(1970: 6 6 2 ) v/endet sich gegen diese Meinung. Er
stellt f e s t , daß sich are you going? z u r ü c k f ü h r e n läßt auf I ask you whether you are going or not. Dies gilt jedoch ebenso für whFragen, z . B . when are you going? findet seine Entsprechung in !_ ask you when you are going
(oder whether you are going at
A o r . . . o r you are going at
time Z . ) Auch KATZ-POSTAL
time
( 1 9 6 4 : 75)
sehen keinen grundlegenden Unterschied zwischen diesen beiden Fragegruppen. Sie f ü h r e n die yes/no-Frage auf die wh-Frage zurück, wobei behauptet wird, daß bei der yes/no-Frage der wh-Charakter nur dadurch verdeckt wird, daß eine wh-dominierende Satzadverbialkomponente getilgt wird, wenn der Satz ein einleitendes
144
Q erhält. Diese Geuankengänge werden neben den zitierten syntaktischen Argumenten durch die semantische Interpretation und durch eine pragmatische Bewertung bestätigt. Im folgenden soll versucht werden, die yes/no-Frage in ihren verschiedenen Realisierungsformen, besonders im Hinblick auf die Antwortformen zu beschreiben. Zunächst wird auf die syntaktischen Strukturformen eingegangen und dann eine semantische Bewertung dieser Formen durch die Antworten vorgenommen. Abschließend werden die Antwortlenkung durch den Kontext und die Frageform diskutiert, sowie Überlegungen zum Gebrauch der yes/no-Fragen angestellt. 2.
Die syntaktische Form der yes/no-Frage
Die Definition der yes/no-Frage nach syntaktischen Kriterien ist vorwiegend auf der via negativa zu leisten. Sie ist gekennzeichnet durch das Fehlen eines wh-Symbols, jedoch durch das Vorhandensein einer Frageintonation im mündlichen Gebrauch sowie eines Fragezeichens im schriftlichen Gebrauch. Sie wird oberflächenstrukturell in zwei verschiedenen Fragetypen realisiert: der eingliedrigen oder eigentlichen yes/no-Frage und der zweigliedrigen oder uneigentlichen yes/no-Frage. Die eingliedrige yes/no-Frage verlangt als syntaktisch richtige Antwort A eine yes/no-Erwiderung , wie z . B . ( 1 ) Do you want to marry me? Die zweigliedrige oder uneigentliche yes/no-Frage enthält zwei Satzteile, wobei man den ersten Teil als Hinführung, den zweiten als Fragekern bezeichnen könnte. So besteht der Satz (2) Can you show me where the station is? aus der Hinführung can you show me und dem Fragekern where the station is. Als zweigliedrige yes/no-Fragen seien hier alle Fragen bezeichnet, deren Hinführung die Form einer yes/no-Frage hat, unbeschadet der Satzstruktur des Fragekerns. Letzterer kann seinerseits eine wh-Frage oder eine yes/no-Frage enthalten. Satz (2) wäre dann ein Beispiel für eine zweigliedrige yes/noFrage mit einem wh-Satz im Fragekern.
145
Demgegenüber handelt es sich bei dem Satz (3)
Can you tell me, if pragmatics is a part of linguistics? um ein Beispiel, bei dem sowohl die Hinführung als auch der Fragekern eine yes/no-Frage enthalten. Es bleibt zu überlegen, ob die beiden anderen Satzformen der traditionellen Grammatik, nämlich Aussage und Befehl, eingebettet in einer zweigliedrigen yes/no-Frage auftreten können. Dazu ist zu sagen, daß dies dann anzusetzen ist, wenn man diese Satzarten nicht syntaktisch, sondern semantisch interpretiert. Es lassen sich beide Satzformen, d . h . sowohl der verkleidete wh- Satz als auch der verkleidete yes/no-Satz ohne wesentliche Bedeutungsveränderungen in Befehlssätze reduzieren: (2a) Show me where the station
is.
(3a) Tell me if pragmatics is a part of linguistics. In diesem Fall ändert sich die H i n f ü h r u n g , während der Fragekern unverändert bleibt. Ein Befehlssatz im Fragekern ist nicht denkbar. Eine Reduktion in einen Aussagesatz ohne Änderung der Lexeme oder der Satzordnung ist
dagegen nur bei verkleideten yes/no-Fra-
gen möglich: (3b) Pragmatics is a part of linguistics. Can you tell me (if this is true or n o t ) ? Hierbei bleibt die H i n f ü h r u n g unverändert, während der Fragekern auf andere Weise interpretiert wird. Eine Aussage in der H i n f ü h rung ist nicht denkbar . Zusammenfassend können demnach folgende syntaktische Typen von yes/no-Fragen unterschieden werden: 1 . Eingliedrige yes/no-Fragen 2.
Zweigliedrige yes/no-Fragen: 2.1 2.2
mit yes/no-Hinführung und wh-Fragekern: H , + K , mit yes/nö-Hinführung und yes/no-Fragekern: H . + K -
2.3
mit imperativischer Hinführung und yes/no-Fragekern:
"imp + K y/n Es gilt zu überlegen, wie diese Typen zu bewerten sind.
146
3.
Semantische Interpretation durch die Art der Antworten
Hier wird auf eine d i f f e r e n z i e r t e Typologie der Antworten verzichtet und nur eine syntaktische Zweiteilung aller möglichen Reaktionen in yes/no-Antworten und Erörterungen vorgenommen. Unter dem Begriff Erörterung seien alle Aussagen zusammengefaßt, die umfangreicherer Natur sind, d . h . über den Informationswort yes/no hinausgehen. Antworten, die auf wh-Fragen gegeben werden, waren demnach Erörterungen . Mit H i l f e dieser beiden Gruppen soll der semantische Gehalt der yes/no-Fragen bestimmt werden. Es stellt sich heraus, daß bei Anwendung dieses Analyseinstruments folgende fünf semantische Typen zu unterscheiden sind: - Fragen, die auf eine yes- oder no-Antwort abzielen. Sie stellen den Kern der yes/no-Antworten dar. Die Frage (3) Did you get my letter? ist durch eine yes- oder no-Antwort hinreichend und vollständig beantwortet. Zusatzerklärungen sind möglich, jedoch nicht zwingend erforderlich. - Fragen, die auf eine no-Antwort oder auf eine Erörterung zielen, wie (5) Do you remember her age? Wenn der Angesprochene diese Frage nicht beantworten kann, dann ist es völlig ausreichend, die Antwort no oder ein Äquivalent wie not at all usw. zu geben. Zusätzliche Informationen wie I c a n ' t tell you sind redundant und haben allenfalls phatischen Charakter. Wenn der Angesprochene die Antwort weiß, dann sind die folgenden Reaktionsmöglichkeiten denkbar: (5a)
Yes (I do) .
(5b)
Y e s , she is 25.
(5c) She is 25. Syntaktisch korrekt sind (5a) und ( 5 b ) , da sie die in der Oberflächenstruktur der Frage verlangte Information yes enthält. Semantisch korrekt dagegen ist (5b) und ( 5 c ) , da nicht formal, sondern inhaltlich auf die Frage eingegangen wird.
147
Fragen, die auf eine yes-Antwort oder eine Erörterung zielen. Dieser Vorgang ist äquivalent zu der vorausgehenden Fragegruppe. Zu dem Satz (6) Did you do your homework, John? ist
im positiven Fall die Antwort yes, Sir hinreichend und
vollständig. Im negativen Fall wird der Lehrer ein no, Sir als aufsässig und regelverletzend ansehen, wenn nicht gleichzeitig ein Grund oder eine Entschuldigung für dieses
(Fehl-)Verhalten mitgeliefert wird, wie (6a)
No, Sir,
yesterday I had to go to the doctor.
Hierbei ist das no redundant, da es in der Entschuldigung implizit enthalten ist. Bei diesem Beispiel sind es pragmatische Gründe, die d a f ü r verantwortlich sind, ob die yes- oder dio no-EntScheidung eines zusätzlichen Kommentars bedarf.
yes/no-Fragen, die auf eine Erörterung sowohl im positiven als auch im negativen Sinn zielen. Diese Art von Fragen werden h ä u f i g in Interviews gestellt, da dort eine ausführliche Stellungnahme zu aktuellen Themen gefordert wird: (7) Mr. President, will there be a tax rising next year? Wie auch immer die Antwort aussehen mag, der Hörer erwartet neben der yes/no-Entscheidung gleichzeitig eine Begründung für die gegebene Antwort. yes/no-Fragen, die nur einen der beiden Pole ansprechen, d . h . die Antwort schon vorwegnehmen. Dies sind rhetorische Fragen, Suggestivfragen, ungeschickt formulierte didaktische 8 Fragen und emphatische Äußerungen. Während rhetorische Fragen keiner verbalen Antwort bedürfen, verlangen Suggestivfragen eine vorprogrammierte positive oder negative Antwort. Im Englischen bedient man sich dabei mit Vorliebe der sogenannten tag-questions, wie (8) You d i d n ' t get up at six o'clock, did you? Antwort no. (8a) You did get up at six o'clock, d i d n ' t you? Antwort y_es_. Hier sind bestimmte syntaktische Strukturen ein Indiz für die erwartete Antwort. Ebenso signalisieren bestimmte Lexeme, wie
148
always, all,
everybody, i.n any case eine negative Antwort,
während never, Ln no case usw. auf eine zustimmende Antwort zielen, z . B . (9) Do the four rules above generate all the sentences of English? Unberücksichtigt bleiben hier emphatische Äußerungen mit syntaktischer yes/no-Form, wie (10) Are you crazy? da sie weniger aus kommunikativen Gründen geäußert werden als vielmehr als ein Mittel zum Selbstausdruck. Als erstes Ergebnis ist also festzuhalten, daß eine syntaktische yes/no-Frage durchaus nicht zwangsläufig als Entscheidungsfrage interpretiert wird. Es ist zu untersuchen, - ob Randbedingungen, wie z . B . der Kontext für die Art der Antwort verantwortlich sind; - ob eine Beziehung zwischen der syntaktischen Form und der semantischen Funktion festzustellen ist und welcher Art diese ist. 4.
Die Antwortlenkung durch den Kontext und die Frageform
Aus dem oben Gesagten geht hervor, daß der situative Kontext von großem Einfluß auf die Art der Antworten ist. Generell kann gesagt werden, daß immer dann, wenn die Ja/Nein-Beantwortung einer Frage in unerwarteter, regelverletzender Form ausfällt - sei dies im positiven oder negativen Sinn -, diese Entscheidung zu begründen, zu erklären oder zu rechtfertigen ist. Je stärker die Abweichung ist, desto zwingender wird eine Erörterung erwartet. Zusätzlich ist eine Rollenerwartung wirksam, die bestimmt, in welcher Form und vor allem wie lang eine Antwort zu sein hat: So verlangt z . B . ein Interview, daß die Äußerungen des Interviewten ausführlicher sind als die des Interviewers. Dennoch werden gerade in dieser Textsorte häufig yes/no-Fragen gestellt, da sie dem Gefragten eine klare Entscheidung und gleichzeitig eine Begründung dafür abverlangen. Es ist jedoch nicht nur der situative Kontext, sondern auch der Fragetyp, der den Status einer Frage-Antworteinheit bestimmt.
149
Klar sind die Verhältnisse bei den zweigliedrigen yes/no-Fragen. Hier haben Hinführung und Fragekern verschiedene Funktionen. Die Hinführung f r a g t , ob der Angesprochene bereit und in der Lage ist, sich der Frage zu stellen, während der Fragekern die Frage selbst enthält. Uas bedeutet, daß zwei zeitlich nacheinander liegende Prozesse zu durchlaufen sind: der Gefragte entscheidet zunächst in der Beantwortung der in der Hinführung gestellten yes/no-Frage, ob er zu der im Fragekern gestellten Frage Stellung beziehen möchte. Wenn dies nicht z u t r i f f t , dann artikuliert er dies und die Frage ist hinreichend beantwortet. Die Antwort hat den semantischen Gehalt no,der oberflächenstrukturell verschiedenartig realisiert werden kann, wobei allerdings eine Auswahl aus einer geschlossenen Liste von Lexemen und Phrasen zu t r e f f e n ist. Falls dagegen die Hinführung mit yes zu beantworten ist, rückt der Fragekern in den Blickpunkt. Handelt es sich dabei um den FrageTVO / +Kwh' , , bekommt die aesamte Frage -^ Hy/n ^ den Status einer wh-Fra— ge. Die Antwort ist in diesem Fall identisch derjenigen, die auf eine reine wh-Frage gegeben würde, wobei allerdings ein die Hinführung beantwortendes yes möglich, jedoch nicht zwingend ist. Dies bedeutet, daß die Frage vom Typ H . +K , zu der Gruppe gehört, die entweder auf ein no oder eine Erörterung zielen. Komplizierter liegen die Verhältnisse bei der Frage vom Typ H , +K , . Da dort die gleichen beiden Prozesse durchlaufen werden wie bei der Frage vom Typ H , + , , ist eine Antwort no doppeldeutig, während ein yes normalerweise als 7vntwort auf die im Fragekern enthaltene Frage anzusehen ist. Dies sei verdeutlicht an der Frage (3) Can you tell me if pragmatics is a part of linguistics? Hier kann die Antwort no bedeuten, daß der Angesprochene - diese Frage nicht beantworten kann (Hinführungsreferenz); - die Pragmatik nicht als einen Teil der Linguistik betrachtet (Fragekernreferenz). Die Antwort yes wird hingegen als eine Bejahung der im Fragekern gestellten Frage angesehen. Auch bei den eingliedrigen yes/no-Fragen gibt es pragmatische und syntaktische Gründe für ein unterschiedliches Antwortverhalten.
150
Für die Frage (6) Did you do your homework, John? sind es pragmatische Gründe, die für die erwartete Antwort yes bzw. (no)+ Erörterung/Entschuldigung verantwortlich zu machen sind. Bei der Frage (5) Do you remember her age? ist nach syntaktisch/semantischen Gründen zu suchen. Eine Analyse eines größeren Korpus von eingliedrigen yes/noFragen zeigt, daß diese Erscheinung dann zu beobachten ist, wenn die untersuchte Frage ein Verbum des Sagens, Denkens oder des Fühlens enthält. Dies ist so zu interpretieren, daß tiefenstrukturell ein zweigliedriger yes/no-Fragesatz vom Typ H v / n + K w u gesetzt werden kann, wie z . B .
an
~
( 5 ' ) Do you remember (what) her age ( i s ) ? Andere eingliedrige yes/no-Fragen verlangen einen bestimmten situativen Kontext, wenn das Antwortverhalten der beiden Pole unterschiedlich ausfallen soll.
5.
Überlegungen zum Gebrauch der yes/no-Frage
Es bleibt nun zu diskutieren, wann die angesprochenen Fragety9' pen und wann die wh-Frage gebraucht wird . Zunächst seien die beiden als komplementär angesehenen Formen der yes/no-Frage und der wh-Frage gegenübergestellt. Der Einsatz ist selbstverständlich von dem unterschiedlichen theoretischen Status abhängig, wie er z.B. in den Begriffen des Zitats von JESPERSEN zum Ausdruck kommt: das Frageziel bestimmt die Frageform. Die Fragetypen sind nur bedingt austauschbar, wobei jedoch die yes/no-Frage, wie gezeigt wurde, Funktionen der wh-Frage übernehmen kann . Begründet ist dies darin, daß die yes/no-Frage der wh-Frage übergeordnet ist, d.h. eine wh-Frage kann erst dann beantwortet werden, wenn zuvor eine diesbezügliche yes/no-Frage bejaht wurde. So setzt sich die Beantwortung von ( 2 a ) Where is the station?
151
eine positive Beantwortung der Frage (2a')
Is there a station?
voraus. Dies bietet eine Erklärungsmöglichkeit, warum yes/no-Fragen durch eine Erörterung beantwortet werden können und unter bestimmten Umständen sogar müssen. Interessant ist nun der Status der zweigliedrigen yes/no-Frage, die ja eine Zwitterstellung einnimmt. Sie hat im wesentlichen die Funktion, die eingebettete Frage (sei sie nun vom wh- oder yes/no-Typ ) in ihrer Wirkungskraft abzuschwächen. Dies geschieht dadurch, daß in der Hinführung gefragt wird, ob die nötigen Voraussetzungen, die zum Gelingen des Sprechakts erforderlich sind, überhaupt gegeben sind. Sie erhöht dadurch wesentlich den Radius der syntaktisch möglichen Antworten, wodurch von vornherein die Anzahl der unerwarteten Antworten im ROHRERschenSinn wesentlich verringert v/ird. In der Frage (11) Would you like to tell me what the time is? ermöglicht es die Hinführung would you like to tell me, daß Antworten vom Typ ( 1 1 . 1 ) Leave me alone oder (11.2)
Go away
als syntaktisch korrekt angesehen werden können, da diese Formen als
Paraphrasen von no angesehen werden können. Das erklärt auch,
daß die zweigliedrigen yes/no-Fragen insbesondere dort eingesetzt werden, wo die Gesprächspartner noch nicht so vertraut miteinander sind, d . h . sich noch nicht sicher sind, ob alle Voraussetzungen für das Gelingen eines Sprechaktes gegeben sind.
Anmerkungen 1 2
Vgl. z.B. LANGACKER ( 1 9 7 2 : 2 5 ) . R O H R E R ( 1 9 7 1 : 1 1 3 ) unterscheidet zwischen 3 Arten, nämlich Artikelfragen, partiellen Fragen und Satzfragen.
3
Yes/no-Fragen haben häufig die Umschreibung mit to do, jedoch ist dies entgegen der Meinung der Schulgrammatiker kein integrierender Bestandteil eines yes/no-Frage. Sie
152
6
7 8 9
1O
haben jedoch (im Gegensatz zu den wh-Fragen) immer "rising intonation". Die Sätze Do you want to leave me? You want to leave me? sind somit semantisch äquivalent. Dem widerspricht nicht, daß im Englischen oberflächenstrukturell eine Zustimmung durch I do, eine Ablehnung durch I_ don't oder durch Synonyme wie of course, certainly bzw. not at all usw. geleistet wird. In Sätzen wie what do you think, is pragmatics a part of ^J linguistics? ' ist ' die " ' Hinführung iinfuhrung what do do you you think " als Expansion des Fragekerns aufzufassen: sie kann vom Antwortenden außer acht gelassen werden. Dies gilt für die semantisch/syntaktische Struktur. Selbstverständlich gibt es Situationen, in denen ein Aussagesatz die Funktion eines Fragesatzes ausübt. I do bzw. I don't usw. sind somit keine Erörterungen. Dies sind Fragen vom Typ H , + . Weiterhin wäre zu untersuchen, wann Fragen in der Imperativform und wann in der Form von Aussagesätzen artikuliert werden. Der umgekehrte Prozeß ist
nicht denkbar.
Literatur BAUMERT, M i c h a e l ( 1 9 7 5 ) : "Zur Vorhersagbarkeit von Antworten im Computer-unterstützten Unterricht" . ENGEL, u . / SCHUMACHER, H. (eds.) Linguistik-Beschreibung der Gegenwartssprache. Heidelberg. BOLINGER, Dwight L. ( 1 9 5 7 ) : Interrogative Structures of American English. Alabama. HARRIS, Zellig H. ( 1 9 7 O ) : Papers of Structural and Transformational Linguistics. Dordrecht. HUNDSNURSCHER, Franz ( 1 9 7 5 ) : "Semantik der Fragen". Zeitschrift für Germanistische Linguistik 3: 1-14. JESPERSEN, Otto ( 1 9 2 4 ) : The Philosophy of Grammar. London. LANGACKER, Ronald W. ( 1 9 7 2 ) : Fundamentals of Linguistic Analysis. New York. ROHRER, Christian ( 1 9 7 1 ) : "Zur Theorie der Fragesätze". WUNDERLICH, Dieter (ed.) ( 1 9 7 1 ) : Probleme und Fortschritte der Transformationsgrammatik. München: Hueber, 1O9-126. SEARLE,John R. ( 1 9 7 1 ) : Sprechakte. Frankfurt.
BESTÄTIGEN UND ANTWORTEN MIT DEM SATZWORT ALLERDINGS Swantje Koch / Luise F. Pusch
0.
Vorbemerkung
Das Wort allerdings hat zwei Grundfunktionen, die syntaktisch, semantisch und pragmatisch klar voneinander unterschieden sind: in der ersten Funktion hat es Ähnlichkeit mit dem Satzwort j a , in der zweiten mit der Konjunktion aber. Entsprechend verwenden wir im folgenden die Namen 'ja'-allerdings und 'aber'-allerdings; vergleiche: 'ja 1 -allerdings ( 1 ) A: Glaubst du an den Weihnachtsmann? - B: Ja./Allerdings. / + Aber. 'aber'-allerdings (2) Ich glaube an Weihnachtsmänner, aber/allerdings/ ja nicht an den Osterhasen. Die syntaktischen, semantischen und pragmatischen Unterschiede zwischen aber und 'aber'-allerdings behandeln wir in KOCH/PUSCH ( 1 9 7 5 ) . In dieser Arbeit werden wir ( ' j a ' - ) a l l e r d i n g s mit ja vergleichen. Das Satzwort ja hat einen wesentlich weiteren Anwendungsbereich als 'ja*-allerdings. Der gemeinsame Durchschnitt ist die Verwendung als Bestätigung und als Antwort. Unter Bestätigung verstehen wir hier zunächst eine "positive" sprachliche Reaktion auf die Aussage eines anderen, wie im folgenden Beispiel: (3) A: Es ist ziemlich kalt hier. - B: Ja./Allerdings. Unter Antwort verstehen wir hier die positive sprachliche Reaktion auf eine Entscheidungsfrage; vergleiche: (4) A: Ist es am Südpol kalt? - B: Ja./Allerdings. Obwohl ja und allerdings hier syntaktisch gesehen gegeneinander aus·? tauschbar sind, bedeuten sie semantisch-pragmatisch natürlich nicht dasselbe. Bevor wir unten ( c f . 4 . ) eine positive Charakterisierung von allerdings versuchen, umreißen wir im folgenden den Unterschied zwischen ja und allerdings anhand syntaktischer Kontrastierungen, wobei sich bestätigen wird, daß ja viel häufiger für allerdings als allerdings für ja substituierbar ist; die Gründe für diesen Befund sind fast immer pragmatischer Natur.
154
1.
allerdings und ja nach Interrogativsätzen
Mit ja,
aber nicht mit allerdings, kann man die Erfüllung einer
Bitte zusichern; vergleiche: (5)
A: Würdest du mir (bitte) dein Auto leihen? B: Ja./ Allerdings.
Eine Bitte in der Form darf ich _._._^ / dürfen wir _._1
ist
meistens
eine Bitte um Erlaubnis; diese kann mit j a , aber nicht mit allerdings, gegeben werden; vergleiche: (6)
A: Darf ich (bitte) aufhören? - B: Ja./ + Allerdings.
Einer Aufforderung kann man durch das Ausführen der geforderten Handlung nachkommen; dies Nachkommen kann man verbal mit ja, aber mit allerdings, begleiten oder antizipieren; (7)
A: Würden Sie (bitte)
nicht
vergleiche:
(den Mantel) ablegen? -
B: Ja./ Allerdings. Ist
die geforderte Handlung eine Sprechhandlung, wie zum Beispiel
Zugeben, Gestehen oder Versprechen, so kann man mit ja,
aber nicht
mit allerdings, der Aufforderung nachkommen, d . h . die Handlung des Zugebens, Gestehens, etc. (8.1)
A:
vollziehen; vergleiche: - B: Gibst du (endlich) zu, daß
du dich geirrt hast? (8.2)
A:
Allerdings.
Gestehst du ( e n d l i c h ) , daß du mich belügen wolltest?
(8.3)
A:
Versprichst du mir, jetzt artig zu sein?
Einen Vorschlag kann man mit ja,
nicht aber mit allerdings, akzep-
tieren; vergleiche: (9)
A: Ich mach 1 dir
jetzt einen Vorschlag: Willst du das
nicht auf morgen verschieben? - B: Ja./ Allerdings. An der terminologischen ünbekümmertheit des eben Gesagten mögen die Berufspragmatiker vielleicht Anstoß nehmen; aber uns ging es hier nur um die Demonstration des folgenden Prinzips: im Gegensatz zu j_a (und nein) können mit allerdings keine anderen Sprechhandlungen vollzogen werden als die des Antwortens (und Bestätigens; cf. unten 2 . ) im oben ( O . ) besprochenen Sinne. Dies wird durch die Beobachtung bestätigt, daß allerdings sehr wohl in sämtlichen der eben angeführten Beispiele stehen kann, sofern nur der jeweils erste Satz eine "echte" Frage realisiert; das ist eindeutig der Fall, wenn das Subjekt in der dritten Person steht - vergleiche:
155
(5.1)
A: Würde Klaus mir sein Auto
(6.1)
leihen? A: Darf Werner noch ein bißchen aufbleiben?
(7.1)
A: Würde Gerald (den Mantel) ablegen?
(8.1.1)
A: Gibt Sylvia zu, daß sie sich geirrt hat?
(8.2.1)
A: Gesteht Kurt, daß er mich
(8.3.1)
belügen wollte? A: Verspricht Franz, jetzt
l
- B:
Ja. Allerdings.
artig zu sein? Allerdings ist das Auftreten der ersten oder zweiten Person in Interrogativsätzen wie ( 5 ) - ( 8 ) noch immer keine ausreichende Garantie d a f ü r , daß eine Frageinterpretation unmöglich ist. So hatten wir denn auch einige Mühe, Beispiele zu finden, in denen die von uns nicht gewünschte Frageinterpretation soweit wie möglich ausgeschlossen wäre; wir versuchten, die intendierten Lesungen mittels der Sprechaktindikatoren mal, bitte und endlich festzulegen. Es kommt sicher bei normaler sprachlicher Interaktion oft genug vor, daß die von uns dargestellten Regeln unabsichtlich oder scherzh a f t verletzt werden; so zum Beispiel, wenn man auf die Bitte "Machst du mir einen Tee?" aus der Küche wie auf eine Frage antwortet "Allerdings. (Ich bin gerade d a b e i . ) " Auf echte Fragen sind also die Antworten ja und allerdings gleichermaßen akzeptabel. 2 Schließlich unterscheiden sich allerdings und ja nach Interrogativsätzen syntaktisch dadurch voneinander, daß ersteres verschiebbar ist und Subjekt-Verb-Inversion bewirken kann; vergleiche: (10.1) (10.2) (10.3)
2. 2.1.
A: Ist das wirklich so? - B: / Allerdings/Ja, das ist so. Das ist allerdings/ ja so. Allerdings/ Ja ist das so.
allerdings und ja nach Deklarativsätzen Bestätigendes ja : allerdings
Nach Deklarativsätzen ist
in den allermeisten Fällen eine Reaktion
mit ja möglich; es kann, je nach Kontext (wir wollen auf dieses Pro-
156
blem hier nicht weiter eingehen), bedeuten 'das stimmt 1 ( j a ) oder 4 'ich nehme das zur Kenntnis 1 (i§k) · Nach Befehlen und Aufforderungen, die explizit performativ, d . h . eben mit einem Deklarativsatz, geäußert werden, kann es auch bedeuten 'ich werde/will dem Befehl / der Aufforderung nachkommen' kann, ist
( j a ) . In den Fällen, wo ja
stehen
auch allerdings möglich; es hat hier aber eine "umfassen-
dere" , die von ja . einschließende Bedeutung - sie läßt sich paraphrasieren als 'deine Feststellung stimmt mit dem, was ich weiß/meine, überein'. Vergleiche: ( 1 1 ) A: Marie sieht ganz schön müde aus. - B: Ja./Allerdings. (12)
A: In der Schweiz gibt es Hasen. - B: Ja./Allerdings.
Mithilfe der Paraphrase läßt sich zeigen, warum allerdings in den folgenden Beispielen abweichend oder auch nicht-abweichend ist. (A) allerdings ist abweichend, wenn der Deklarativsatz gar keine Feststellung, sondern einen anderen Sprechakt realisiert; c f . : ( 1 3 ) A: Ich bitte dich, jetzt endlich damit aufzuhören. (14)
B: Allerdings./Ja, ./Ja ./ Ja . . 1C W S u. A: Ich fordere Sie a u f , den Saal zu verlassen. ^_ + B: Allerdings./Ja, ./Ja ./ Ja . . Jt
(15)
51·
\w
A: Ich gelobe dir, dich mein ganzes Leben lang zu lieben. B: Allerdings./Ja, ./ Ja ./ Ja . . JC
>V
S L
(B) allerdings ist auch abweichend, wenn die Feststellung des Sprechers dem Hörer (a) notwendigerweise oder (b) nur nach Ansicht des Sprechers neu ist: ad ( a ) : Eine Feststellung ist dem Hörer notwendigerweise neu, wenn er, bevor der Sprecher sie gemacht hat, überhaupt keine Kenntnis von dem Besprochenen haben kann; dies ist normalerweise z . B . dann der Fall, wenn der Sprecher dem Hörer etwas über seinen Gemütszustand oder seine Gedanken zum Sprechzeitpunkt mitteilt - vergleiche: (16)
A: Ich erinnere mich ganz genau. B: Allerdings./Ja K ./ JaW ./ Ja S"C. .
Ein Gemütszustand (oder ähnliches) des Sprechers ist aber unter Umständen auch für den Hörer wahrnehmbar; dieser kann dann mit allerdings angemessen reagieren - vergleiche: (17)
A: Mir ist richtig traurig zumute. ·? B: Allerdings ( , das sehe/höre/... ich)./Ja, ./ Ja ./"Ja , . Vr
S w
Im Normalfall ist dem Hörer auch die Antwort auf eine von ihm gestellte echte Frage neu, die Reaktion mit allerdings dementsprechend abweichend; vergleiche:
157
(18)
A: Wo liegt eigentlich Wil? - B: Wil liegt in der Schweiz. - A: Allerdings./Ja, ./ Ja ./ Ja
.
Eine Antwort auf eine von ihm selbst gestellte Frage ist
dem Hörer
aber nicht neu, wenn seine Frage an einen Prüfling gerichtet war (19)
Lehrer: Wo liegt Wil? - Schüler: In der Schweiz. - Lehrer: Allerdings. 5 / ? Ja ./ + Ja ./Ja Yr
Jx
S L
.
- oder wenn er nach dem Stellen der Frage und vor oder während der Erteilung der Antwort auf anderem Wege die erbetene Information bekam;
cf. :
(20)
A: Wann starb Schubert? - B: Schubert starb 1828. - A:
Allerdings (, das steht hier ja a u c h ) . / J a ,•K· ./ JaVr ./Ja S L. . jid ( b ) : Es gibt auch eine Reihe von sprachlichen Indikatoren, mit denen der Sprecher deutlich machen kann, daß seiner Meinung nach seine Mitteilung dem Hörer neu sein muß: z . B . das Wort übrigens. Der Hörer kann zwar mit allerdings reagieren, aber ein solcher Dialog wirkt zumindest gestört, da diese Antwort keineswegs der Sprechererwartung entspricht; vergleiche: ( 2 1 ) A: Übrigens, ich war gestern in Kapstadt. - B: "Allerdings ./Ja, ./ Ja ./"Ja . . Ähnlich wie übrigens funktioniert die Sonderstellung des Comments in Satzkonstruktionen wie den folgenden: -
(22.1) (22.2) (22.3)
Wr
O l—
l _
A: Ich habe eine Tante, die kann j - B noch nicht mal schwimmen. : A: Neulich habe ich einen Film geseh'n, der war ganz prima! : A: Vorhin hab 1 ich einen Dackel · getroffen, der hatte einen Ringelschwanz.
2.2.
""Allerdings Ja, k" + ; Ja . l ^ w j " " J ast c
j
Fragendes ja : allerdings
BUBLITZ/RONCADOR (1975: 173) erwähnen das ja mit Frageintonation und geben das folgende Beispiel: (23) A: Du, Tante Emma hat sich die Haare blau färben lassen. B: Ja? Uns ist in diesem Zusammenhang aufgefallen, daß es ein fragendes 'ja'-allerdings nicht gibt - obwohl doch allerdings so viele Gemeinsamkeiten mit dem 'das stimmt'-jja hat und man ein fragendes ja auch als "stimmt das?'-ja. verstehen könnte. Unsere oben ( 2 . 1 . ) gegebene Paraphrase des allerdings nach Deklarativsätzen bewährt sich
158
auch hier; sie lautete 'deine Feststellung stimmt mit dem, was ich weiß/meine, überein' und läßt sich, anders als das stimmt, nicht zu einer sinnvollen Frage umformen; vergleiche: ( 2 4 ) A: Marie sieht ziemlich müde aus. - B: Allerdings? / Stimmt deine Feststellung mit dem überein, was ich weiß/ meine? Als Frage an A ergibt diese Paraphrase insofern keinen Sinn, als ausschließlich der Sprecher B die Antwort auf sie wissen kann. 3.
allerdings und ja nach Imperativsätzen
Imperativsätze realisieren in der Regel Befehle, Wünsche, Aufforderungen und Bitten; wie bereits oben angedeutet, ist eine Reaktion mit ja möglich, mit allerdings dagegen nicht, weil dieses angemessen nur auf Aussagen und Entscheidungsfragen folgen kann. Zur Verdeutlichung noch einmal ein Beispiel: (25) A: Ruf mich doch an, sobald du angekommen bist! B: Ja./ Allerdings. 4.
Aspekte der Bedeutung des Satzwortes allerdings
allerdings kann, wie gesagt, als Antwort und als Bestätigung fungieren, jedoch entsprechen diesen beiden Verwendungsweisen unserer Meinung nach nicht zwei Bedeutungen. Die uns wesentlich erscheinenden Aspekte der Bedeutung von allerdings in beiden Verwendungen werden wir im folgenden vorstellen. Wenn in Wörterbüchern und Grammatiken überhaupt von ' j a ' - a l l e r dings die Rede ist, so wird seine Bedeutung entweder mithilfe von "Synonymen" (wie selbstverständlich, gewiß, freilich, in der Tat, etc.) oder Wendungen wie "betontes ' j a ' " (Der Sprach-Brockhaus 1966: 20) oder "verstärkt eine Bejahung" (KLAPPENBACH/STEINITZ 1965: 107; KÖSTER et al. 1969: 37) umschrieben. Sicher ist allerdings "intensiver" als ja; wir wollen darauf eingehen, (a) was da eigentlich "intensiviert" wird, (b) warum der Sprecher die "intensivere" statt der einfachen Bejahung wählt und (c) wie eine solche Bejahung, je nach den Erwartungen des Hörers, auf diesen wirken kann - ohne allerdings diese drei Komplexe voneinander isoliert behandeln zu können: sie sind zu eng untereinander verbunden. Enthält die Frage oder Aussage des Sprechers A ein steigerungsfähiges Element, so bedeutet allerdings in der Regel 'Ja, sogar
159
s e h r . 1 ; vergleiche: ( 2 6 . 1 ) A: Ist Anton musikalisch? [ - B: Allerdings./Ja. ( 2 6 . 2 ) A: Hier s t i n k t ' s . j allerdings kann aber auch heißen 'Ja, sogar sehr v i e l ( e ) . ' ; c f . : ( 2 7 . 1 ) A: Gibt es in der Schweiz Hasen? l - B: Allerdings./Ja. (27.2)
A: Peter hat
(viele) Sommersprossen.
( 2 7 . 3 ) A: Haben wir noch Bier? Enthält A " s Äußerung weder ein mengen- noch gradmäßig steigerbares Element, so sind weitreichende Zusatzinterpretationen der Gesprächsteilnehmer involviert; vergleiche: (28.1)
A: Ist morgen Donnerstag?
l
(28.2)
A: Klaus wohnt in Ostereistedt. J
- B: Allerdings./Ja.
Es kann nicht genau angegeben werden, aus welchem Bereich derartige Zusatzinterpretationen stammen, da sie allein von Wissen und Meinungen der Beteiligten abhängen; z . B . hätte B auch sagen können (28.1.1)
(A: Ist morgen Donnerstag?) - B: Ja - mir ist
auch
schon ganz schlecht; ich hab' da nämlich Examen. (28.2.1) (A: Klaus wohnt in Ostereistedt.) - B: Ja - er sieht ja auch aus wie ein Osterei. In Situationen, in denen A eine Zusatzinterpretation nicht möglich ist, kann er doch immerhin der Äußerung entnehmen, daß B spezielle, ihm wichtige Gründe für die positive Antwort hat; allerdings greift insofern immer über die Erwartungen von A hinaus: A hat weder nach der Existenz noch nach der Art der Gründe gefragt. Vergleiche hierzu folgendes Beispiel: ( 2 9 ) Lehrer: Steht dieses Stück in Gis-dur? - B: Allerdings. In Beispiel (3O) wird der Journalist nicht vom Verteidiger erwarten, daß dieser seine Gründe für die Bejahung expliziert: (30)
Journalist: Ist Ihr Mandant unschuldig? - Anwalt: Allerdings. In anderen Situationen kann aber die Unterlassung der Explikation, bzw. die bloße Implikation wichtiger Gründe, verletzend, höhnisch, perfide, besserwisserisch oder auch altklug wirken; deswegen kann sie auch bewußt als Mittel der Demonstration von Überlegenheit eingesetzt werden - besonders natürlich dann, wenn der Hörer eine negative Reaktion erwartet. Vergleiche: (31)
A: Herr Doktor, muß ich sterben? - B: Allerdings.
(32) (33)
A: Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen? - B: Allerdings. A: Ich störe dich wohl? - B: Allerdings.
160
Da also allerdings seraantisch so viel komplexer ist als j a , ist es auch schwer vorstellbar, daß eine Menschenmenge spontan und im Chor allerdings statt ja brüllen wird; vergleiche: ( 3 4 ) A: Wollt ihr den totalen Krieg? - BB: ?? Allerdings! Ebenso schwer vorstellbar ist aus demselben Grund allerdings als Äußerung von kleinen Kindern; vergleiche: (35)
Mutter: Ada muß j e t z t aber a u f s Töpfchen. - Kind: ''Allerdings. Eine ganz andere Besonderheit von allerdings, die es mit bestimmten Bestätigungswörtern und -floskeln wie in der Tat, genau, das stimmt und jawohl, nicht aber mit ja, richtig und sicher, teilt, ist die Möglichkeit einer Neuakzentuierung, die wir Vorwurfsakzentuierung nennen. Sie setzt voraus, daß das Wort oder die Phrase mehrsilbig und nicht auf der ersten Silbe betont ist und besteht darin, daß die erste Silbe zusätzlich betont wird. Bei Wörtern und Phrasen mit Initialakzent (richtig, sicher) bzw. bei Einsilbigkeit funktioniert der Mechanismus nicht; wird aber z . B . ja "expandiert" zu oh j a , so ist die Neu- und damit Vorwurfsakzentuierung wieder möglich. Fest steht bei dieser Art der Akzentuierung nur, daß ein Vorwurf gemacht wird; welcher Art er ist und gegen wen er sich richtet, bleibt ohne Kontextinformation offen - vergleiche: ( 3 7 ) A: Albrecht ist schon fertig. - B: Allerdings. 1 B s Antwort kann z . B . bedeuten: (a) 'Wir wissen ja, was er für ein Streber ist.' - Vorwurf gegen Albrecht; (b) )Ja; und du hast ihn auch noch unterstützt - dabei sollte er doch so spät wie möglich fertig werden." - Vorwurf gegen A; (c) 'Ja; und du bist immer noch nicht fertig.' - Vorwurf gegen A. Interessant ist, daß die Vorwurf sakzentuierung wohl niemals einen Selbstvorwurf ( ' J a ; und ich bin immer noch nicht f e r t i g . 1 ) realisiert. Zu dem gesamten letztgenannten Komplex noch folgendes Beispiel "aus dem Leben", das wir Herrn Karl Nohl (Konstanz) verdanken: Er besuchte ein befreundetes, neu zugezogenes Ehepaar, bei dem es kriselte. Beim ersten Rundgang durch die neue Wohnung ergab sich angesichts des Schlafzimmers folgender Dialog: (38) Herr Nohl: Diese Betten sehen aber schön friedlich aus! Gastgeberin: Allerdings.
161
Anmerkungen 1
Diesen Terminus übernehmen wir von ASBACH-SCHNITKER ( 1 9 7 5 : 3 O 9 ) .
2
Um dieses ja von dem ebenfalls verschiebbaren, abtönenden ja ( c f . KOeH/FUSCH 1 9 7 5 ) noch einmal abzugrenzen, kennzeichnen wir es im folgenden durch einen Akzent.
3
Diese Verwendung von ja wird in der wohl gründlichsten Studie über ja, BUBLITZ/RONCADOR ( 1 9 7 5 ) , nur ganz am Rande behandelt; vergleiche ihr Beispiel in BUBLITZ/RONCADOR ( 1 9 7 5 : 1 7 3 ) .
4
Dieses j_a ist weder identisch mit dem auch in der Intonation unterschiedenen 'ich höre (noch) zu'-ja noch mit dem langgezogenen 'ich antworte gleich'-ja ( c f . STICKEL 1 9 7 2 : 1 4 - 5 ) .
5
Die Antwort wirkt in dieser Situation vermutlich etwas seltsam; vergleiche hierzu die Angaben zu Beispiel ( 3 O ) in 4^.
6
Wohl aber gibt es ein fragendes 'aber'-allerdings, dessen Gebrauchsbedingungen jedoch sehr speziell sind; cf. KOCH/PUSCH (1975 2.2 Ende).
Literatur ASBACH-SCHNITKER, B. ( 1 9 7 4 ) : "Zur Wiedergabe deutscher Satzpartikel im Englischen". DRACHMANN, G. ( e d . ) ( 1 9 7 5 ) : Akten der 1. Salzburger Frühlingstagung für Linguistik. Salzburg vom 24. bis 25. Mai 1 9 7 4 . Tübingen: Narr (= Salzburger Beiträge zur Linguistik. 1 ) : 303-18. BUBLITZ, W. / RONCADOR, M. v. ( 1 9 7 5 ) : "Über die deutsche Partikel j a " . BATORI, I. et al. ( 1 9 7 5 ) : Syntaktische und semantische Studien zur Koordination. Tübingen: Narr (= Studien zur deutschen Grammatik. 2 ) : 137-9O. KLAPPENBACH, R. / STEINITZ, W. ( e d s . ) ( 1 9 6 5 ) : Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. I: -deutsch. Berlin: Akademie-Verlag, zweite, durchgesehene Auflage. KOCH, Swantje / PUSCH, Luise F. ( 1 9 7 5 ) : "allerdings (und aber)". WEYDT, H. ( e d . ) ( 1 9 7 6 ) : Abtönungswörter. Tübingen: Niemeyer, (im Druck). KÖSTER, R. et al. (eds.) ( 1 9 6 9 ) : Ullstein Lexikon der deutschen Sprache. Frankfurt etc.: Ullstein. Der Sprachbrockhaus ( 1 9 6 6 ) . Deutsches Bildwötterbuch für jedermann. Wiesbaden: Brockhaus, siebente, durchgesehene Auflage. STICKEL, Gerhard ( 1 9 7 0 ) : " ' J a 1 und 'Nein 1 als Kontroll- und Korrektursignal". Linguistische Berichte 17: 12-7.
ZUR EINORDNUNG DER PERFORMATIVEN VERBEN Krystyna Pisarkowa
O.
Fragestellung
Es spukt ein Widerspruch im Titel, und zwar zwischen dem Thema und der Feststellung AUSTINs, der nach der mehrmals gestellten Frage, "mit welchen Verben man performative Akte vollzieht", zu dem Schluß kommt, daß es angebrachter wäre, statt einer Liste von "performativen Verben" eine Liste der durch entsprechende Akte ausgeübten Rollen zu verfertigen. Doch die Idee einer Verbenliste wird man in diesem Kontext nicht los. Zur Tür hinausgejagt, kehrt sie durchs Fenster zurück. Sie heißt nun Liste der Verben, "die die illokutionäre Rolle einer Äußerung explizit machen" (AUSTIN 1962 / 1 9 7 2 : 1 6 5 ) 1 . Wir finden uns vorläufig damit ab und lassen die Frage beiseite, ob es zweckmäßig ist, die Liste oder einige Listen herzustellen, wie auch die Frage, wie die Liste eigentlich heißen sollte. Sicher ist
jedenfalls, daß sich ein pragmatisch inter-
essierter Linguist Gedanken über sprachliche Einheiten machen muß, die für fundamentale Sprechakte charakteristisch sind. Wenn die Linguistik bei der Pragmatik Anleihen gemacht hat, so ist nun die Zeit gekommen, an Revanche zu denken. Ohne eine sprachwissenschaftliche Bemühung kommt der pragmatisierende Sprachwissenschaftler ohnehin schlecht weiter. Diese Bemühung könnte darin bestehen, daß man eine Menge von sprachlichen Einheiten aussondert, die verschiedene Sprechakte kennzeichnen. Daß zu diesen Einheiten bestimmte Verben gehören, unterliegt keinem Zweifel. Wir werden hier einige Überlegungen anstellen, die die Technik betreffen, wie man eine Liste von "performativen" Verben herstellt. Die Listen, die Austin gemacht hat, kann sich nur "ein Austin" leisten. Zwar kommt auch er ohne die Hilfe des Sprachwissenschaftlers nicht aus. Denn er r u f t das Wörterbuch zu Hilfe ("ein kurzgefaßtes t u t ' s " ) und geht es "offenen Sinnes" durch (AUSTIN 1962 / 1 9 7 2 : 1 6 5 ) . Doch unsere Wörterbücher erfül-
164
len - wie bekannt - kaum ihre Aufgaben. Austin kann in ihnen keine Information über die semantische Konsistenz der Verben und keine über ihre syntaktische Umgebung finden. So kommt er im Ergebnis zu fünf Klassen, die so untrennbar miteinander verflochten und miteinander verwandt sind, wie es nur die Spreohakte selbst sein können. Was hier vorgeschlagen wird, ist
eher eine grob gezeichnete
Skizze als ein fertiges Rezept . Sie entstand auf Grund der Beobachtung einer Liste von Verben, die - ehrlich gesagt - auf eine ähnliche Weise wie die von Austin aus Wörterbüchern ausgewählt wurde. Zwar waren es polnische Wörterbücher und polnische Verben, die mein Sprachgefühl als 'native speaker 1 des Polnischen aus verständlichen Gründen vorzieht, doch diese Verben wurden hinterher selbstverständlich mit entsprechenden englischen und deutschen verglichen. Die kleinen Unterschiede, die sich dabei herausstellten, waren auf dieser Etappe der Analyse unwesentlich. Auch viele der vollständigkeitshalber mit-kodierten Eigenschaften erwiesen sich als irrelevant. Wir heben hier nur ein Bündel von syntaktisch relevanten Merkmalen au» der möglichen Menge syntaktischer Eigenschaften heraus und weisen auf einige Eigenschaften hin, die möglicherweise semantisch relevant sind. Es handelt sich dabei um Eigenschaften der Verben, die einen Sprechakt explizit machen. Höchstwahrscheinlich sind e:; zugleich Eigenschaften des Sprechakts selbst. 1.
Syntaktische Eigenschaften performativer
Verben
Syntaktische Merkmale haben eine hohe Relevanz. Sie können darum als primäre Eigenschaften anerkannt werden. Nach diesem Kriterium teilen wir Sprechakte in solche ein, die kein syntaktisch relevantes (primäres) Kennzeichen haben ( 1 . O . ) , und in solche, die ein syntaktisch relevantes (primäres) Kennzeichen besitzen ( 1 . 1 . - 1 . 3 . ) · Wir unterscheiden folgende syntaktische Merkmale, die einen Sprechakt kennzeichnen: zusätzliches nicht-verbales Prädikat ( 1 . 1 . ) » daß-Sätze ( 1 . 2 . ) , modale Prägung, z . B . Imperativ ( 1 . 3 . ) .
165
1.0. Sprechakte ohne primäre syntaktische Merkmale sind Floskeln, die der Kontaktherstellung, -aufnähme, -fortsetzung und -aufgäbe dienen. AUSTIN bezeichnet sie als "behabitives" ( 1 9 6 2 : 1 5 9 ) ; in der deutschen Übersetzung heißen sie "konduktive Äußerungen" ( 1 9 7 2 : 1 7 5 ) . Man könnte sie als phatische Signale ansehen. Der Gebrauch des performativen Verbs ist fakultativ: How do you do? Willkommen! - 'Ich heiße dich willkommen 1 'Ich begrüße dich" Good bye! Auf Wiedersehn! - 'Ich verabschiede mich von dir 1 Good luck! Viel Glück! - 'Ich wünsche dir viel Glück 1
Das war nett von dir!
- "Ich danke dir 1 usw.
1.1. Sprechakte mit zusätzlichem nicht-verbalem Prädikat führen einen Sachverhalt ein. Das zusätzliche, Prädikat macht diesen Sachverhalt explizit. Das performative Verb ist in diesem Typ als Hauptprädikat notwendig. Beispiele für diesen Sprechakttyp sind die Sprechakte des Tauf ens, Ernennens, Erwählens, des Schuldigund Freisprechens sowie des Kriegerklärens: Ich x-e dich ( z u m ) X
- somit
b i s t
du X
Ich taufe dich Thomas Ich erwähle dich zum König Ich ernenne dich zum Nachfolger Ich spreche dich schuldig Ich spreche dich frei
- somit bist du Thomas - somit bist du König
Ich erkläre dir den Krieg
- somit ist
- somit bist du Nachfolger - somit bist du schuldig - somit bist du frei mit dir Krieg
Im Polnischen kann · ' durch einen prädikativen Instrumental ausgedrückt werden: nazywam ci$ Tomaszem - tym samym jestes ' Ich nenne/taufe dich. . . ' Tomasz (em) ogj!aszam cie kr6lem/ - tym samym jestes nast^pc^ winnym/niekrolem/nastepca/winny (m) / winnym niewinny (m) 'Ich ernenne dich zum1 König/Nachfolger / spreche dich s c h u l d i g / f r e i . . . Bei AUSTIN treten diese Sprechakte als "verdiktive Äußerungen" ( 1 9 6 2 / 1 9 7 2 : 1 6 7 ) auf. Der Syntax nach sind es Sprechakte, die m i t einem performativen Verb einen S a c h v e r h a l t e i n f ü h r e n , den sie durch ein zusätzliches Prädikat explizit machen. Dieses zusätzliche Prädikat ist aber kein Verbum. Es könnte ein Hilfswort sein, das auf Grund einer Kondensation in die ganze Struktur verschmolzen wurde, die dafür obligatorisch ein performatives Verb (taufen, ernennen, nennen u s w . ) verlangt.
1 . 2 . Sprechakte, d i e einen daß-Satz enthalten, bringen I n f o r m a t i o n über einen S a c h v e r h a l t . S i e sind neutral oder nicht neutral, d. h. positiv oder negativ bewertend, wenn sie neben der Information eine Stellungnahme des Senders zum Sachverhalt enthalten. Im letzteren Fall haben wir es mit einem bewertenden Sprechakt zu tun . Das performative Verb ist nicht nötig, bei negativer Bewertung möglicherweise gar nicht zugelassen, weil dabei die Perlokution eine Rolle spielt. Bei AUSTIN treten die meisten dieser Sprechakte als "expositive Äußerungen" ( 1 9 6 2 / 1 9 7 2 : 1 7 7 ) a u f . Wir erkennen in ihnen die neutralen (neutral-informierenden, deskriptiven) performativen Verben wie erklären, bekanntmachen, bestätigen, bescheinigen usw. und die bewertenden Verben wie preisen, loben, tadeln, kritisieren usw. wieder. Das faktische Vorkommen des daß-Satzes hängt von der fakultativen Anwesenheit des performativen Hauptverbs ab. Die Fähigkeit dieser Verben, den daß-Satz einzuführen, ist allgemein bekannt. Auf Grund dieser Beobachtung wurde die Idee diskutiert, daß jeder Satz 'in der Tiefenstruktur ein performatives Verb hat'4. 1.3. Modale Prägung entsteht i n Sprechakten, d i e i n E r w a r t u n g eines S a c h v e r h a l t s vollzogen werden. Zwar sind alle Sprechakte auf Grund ihrer Definition zielgerichtet, doch diese s t e u e r n ihr Ziel auf eine besondere Weise an, indem sie den Empfänger direkt zum Handeln oder zum Entschluß bringen, d. h. sein Handeln oder seine Einstellung beeinflussen und den Empfänger zu gewissen Schritten verpflichten (wollen). Diese Akte können durch den Imperativ ausgedrückt werden: Ich befehle / rate dir / bitte dich / fordere von dir: "Geh!" / "Steh auf l " . Steuernde Akte haben ihre konverse Variante. Diese besteht in einer Verpflichtung für den Sender, der sich bereit erklärt, die Erwartung des Empfängers zu erfüllen. Anstelle der Modalität wird hier ein daß-Satz benutzt. Das performative Verb ist obligatorisch: Ich verspreche / verpflichte mich / schwöre / gelobe . . . , daß ich - 'Hiermit bist du berechtigt, von mir zu fordern / 1 mir gegenüber den Imperativ zu gebrauchen .
167
AUSTIN bezeichnet die steuernden Sprechakte, die eine Erwartung des Sprechers erfüllen sollen, als "exerzitive Äußerungen" ( 1 9 6 2 / 1 9 7 2 : 1 7 O ) , ihre konverse Variante, die die Erwartung des Empfängers zu erfüllen verspricht, heißt "kommissive Äußerungen" ( 1 9 6 2 / 1 9 7 2 : 1 7 3 ) . Das performative Verbum ist nur in den steuernden Sprechakten unentbehrlich, die die Erwartungen des Empfängers erfüllen. Für die primäre steuernde Variante sind Perlokutionen nötig, wenn der Grad der erwarteten Beeinflussung (oder der negative Grad der Intention) verhältnismäßig hoch ( z . B . überzeugen) oder zu hoch ( z . B . überreden) ist. Tabelle der syntaktischen Eigenschaften ^v
Syntaktische ^•v Eigenschaft
1 . 1 . zusätz- 1 .2 * 1.3. Moda- 1 .0. liches Präd. daß -Satz lität
obligatorisch
\ Sachverhalt einführende über Sachverhalt informierende in Erwartung eines3 Sachverhalts voi: zogene
obligat. unmöglich
Sprechakt- ^v typ
fakult.
p e r f o r m a t i v e s fakultativ
V e r b fakultativ
+
deskriptivneutral be- positiv wertend negativ
+ + + +
steuernd konverssteuernd
kontaktbezogene
+ +
168
2.
Semantische Eigenschaften performativer Verben
Semantische Merkmale der den Sprechakt explizit machenden Verben scheinen sekundär zu sein. Vielleicht sind sie nur in den Sprechakten relevant, die auch ein
(primäres) syntaktisches Merkmal
haben. Dieses Merkmal haben alle außer den phatischen, kontaktbezogenen Sprechakten ( 1 . O . ) . Semantische Eigenschaften, die hier beispielhaft in Betracht gezogen werden, sind die Möglichkeit, in einem Verhältnis zur Zeit zu stehen ( 2 . 1 . ) » die Möglichkeit, eine konverse Relation
(x R y = y R x) zu bilden ( 2 . 2 . ) und die
Bewer-
tungfähigkeit bzw. die Aussage über eine positive oder negative Intention ( 2 . 3 . ) . 2.1.
Das Verhältnis zur Zeit kommt dadurch zum Ausdruck, daß das
entsprechende Verb bzw. der Sprechakt in die Z u k u n f t oder in die Vergangenheit verweisen.
Verweisung in die Zukunft tritt in
Sprechakten a u f , die einen Sachverhalt einführen ( 1 . 1 . , 2 . 1 . ) und in Sprechakten, die in Erwartung eines Sachverhalts entstehen ( 1 . 3 . , 2 . 1 . ) · Verweisung in die Vergangenheit oder Zukunft kommt in Sprechakten vor, die über einen Sachverhalt deskriptiv informieren ( 1 . 2 . , 2 . 1 . ) . Nur in die Vergangenheit verweisen bewertend informierende Sprechakte. 2.2.
Die Möglichkeit einer konversen Relation (ft von R) er-
scheint nur bei Erwartungen, wo die Richtung des Steuerns vom Sender zum Empfänger (R) wechselt
(R) zur Richtung vom Empfänger zum Sender
( 1 . 3 . , 2 . 2 . ) . Auch in dieser Gruppe ist
eine Impli-
kation enthalten. 2.3.
Eine positive oder negative Aussage über die Intention
kommt indirekt in bewertend informierenden Sprechakteri zum Ausdruck, indem sie den Sender bei negativer Intention zur Perlokution zwingt ( 1 . 2 . , 2 . 3 . ) . In steuernden Sprechakten gibt es keine Möglichkeit, negative Intentionen sprachlich auszudrücken. Unter den performativen Verben für steuernde Sprechakte gibt es aber antonymische Oppositionen
(abraten - zuraten, einlader. - ausla-
den, mahnen - warnen u s w . ) , die wie intentionsbezogene Verben aussehen, mit ihnen aber nicht verwechselt werden sollten.
169
3.
Zur Mehrdimensionalität des Sprechakts
Die von Austin bemerkte und ausführlich besprochene Tatsache, daß alle Sprechakttypen durch Ähnlichkeiten miteinander verbunden sind, bleibt gültig. Die Rolle des Sprechakts hängt letzten Endes davon ab, wie er gemeint war. Die Intention entscheidet darüber. Dieses Kennzeichen gehört aber nicht zu den sprachlichen Eigenschaften der Verben, die an der Oberfläche direkt beobachtbar sind. Es gehört zwar auch zur semantischen Struktur des Verbs, kann aber nicht als Kriterium seiner Definition dienen. Die semantische Struktur der performativen Verben ist in dem Grade vieldimensional, wieviele Dimensionen Rolle und Intention eines Sprechakts haben können. Deswegen muß jeder Versuch, eine streng ausgearbeitete, präzise und vollständige Verbenliste zu erstellen, zu Mißverständnissen oder Absurditäten führen. Die uns interessierenden Verben lassen sich in keinen dreidimensionalen Käfig hineinzwingen. . Kontaktbezogene performative Verben ( 1 . O . ) sind z . B . fähig, in ein Verhältnis zur Zeit zu treten. So verweisen begrüßen und beglückwünschen in die Zukunft, während danken, (sich) verabschieden, (sich) entschuldigen in die Vergangenheit verweisen. Sie treten aber auch in das Verhältnis positiv - negativ. Man vergleiche die antonymisehen Paare einladen : rausschmeißen, beglückwünschen : verwünschen, danken : sich beschweren. Ebenso treten Verben der Gruppe ( 1 . 1 . ) sowohl ins Verhältnis zur Zeit wie auch - dank antonymischer Paare - ins Verhältnis positiv - negativ, wie aus folgender Tabelle zu ersehen ist: NN
X Verhältnis Xv zur Zeit Wert-X. aussage \. oder Charak«: teristik derS. Intention Xv
Verweisung in die Zukunft
neutral
taufen, nennen
positiv
segnen, ernennen
negativ
verfluchen
Vergangenheit
Vergangenhe it und Zukunft
freisprechen vergeben abberufen entlassen
schuldigsprechen verurteilen anklagen
170
In Erwartung eines Sachverhalts vollzogene, steuernde Sprechakte werden durch Verben der Gruppe ( 1 . 3 . ) explizit gemacht. Diese Verben haben fters Antonyme, die einerseits in einem Verh ltnis zur Zeit stehen, andererseits an der Opposition positiv negativ teilhaben. Hinzu kommt der Gegensatz zwischen 5er Grundform (R: ich befehle dir) und ihrer konversen Variante (ft: ich schw re d i r ) . Die gegenseitigen Verflechtungen dieser Beziehungen k nnten m glicherweise in einem Koordinatensystem auf den entsprechenden Achsen ihre grob vereinfachte Widerspiegelung f i n den : Intention des Senders: Vertrauen erwecken (Illokution)
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171
4.
Schlußbemerkung
Wie grob die vorgeschlagenen Vereinfachungen auch sein mögen, ihre Aufgabe sehe ich als erfüllt an, wenn sie das Bedürfnis nach exakteren Einordnungen erwecken und den Verdacht verstärkt haben, 9 daß jede Liste performativer Verben unexakt bleiben m u ß .
Anmerkungen Für SEARLE sind es einmal "sogenannte performative Verben" ( 1 9 6 9 / 1 9 7 1 : 5O, 2 O 7 ) , ein anderes Mal einfach "performative Verben" ( 2 O 9 ) oder auch "illokutionäre Verben" ( 2 2 7 ) . Dies würde eine systematische linguistische Forschung erfordern, der eine Diskussion mit Pragmalinguisten vorausgehen müßte. Die Ableitbarkeit von Wertaussagen aus deskriptiven Aussagen ist wohl nach SEARLEs überzeugender Argumentation (vgl. 1969 / 1971: 2OO-206, 2 6 1 - 2 9 4 ) als bewiesene Tatsache anzusehen. Somit dürfte auch die Zusammenfassung der informierenden und bewertenden Sprechakte in eine gemeinsame Kategorie keine Einwände hervorrufen. Vgl. ist,
GREWENDORF ( 1 9 7 2 ) , wo auch weitere Literatur angegeben und PISARKOWA ( 1 9 7 6 ) .
Die Interpretation des Sprechakts der Verpflichtung als einer konversen Relation gegenüber dem Befehl wurde aus den Gedanken SEARLEs entwickelt, nach denen er das Sollen aus dem Sein ableitet. Sie führt sein Verfahren einen Schritt weiter. Die sprachliche Verweisung in verschiedene "Zeitrichtungen" ist trotz der Relativität der Zeiteinteilung objektiv, weil sie syntaktisch feststellbar und überprüfbar ist. Man kann nicht sagen: *Ich verspreche, daß ich das getan habe, weil versprechen in die Zukunft verweist. Ebenso kann man nicht sagen: *Ich erinnere mich, daß es regnen wird, weil erinnern in die Vergangenheit verweist (vgl. PISARKOWA 1975a, 1 9 7 5 b ) . Mit dem Verhältnis zur Zeit ist eine weitere Eigenschaft der Sprechakte verbunden. Steuernde Sprechakte enthalten eine Implikation: Wenn nicht ..., dann nicht ... (in der Z u k u n f t ) . Bewertende Sprechakte enthalten eine Begründung oder Motivation: weil / wegen . . . (in der Vergangenheit). Dies könnte als zusätzliche Formel für solche Sprechakte gelten. Die mit steuernden Sprechakten verbundenen Performativa scheinen auf einer Skala mit verschiedenen Graden der illokutionären Kraft verstreut zu sein, etwa ab fragen, bitten über verlangen bis befehlen, fordern, zwingen. Doch da die illokutionäre Kraft eines Sprechakts von außersprachlichen Faktoren (sozial: Machtverhältnisse, psychisch: Tiefe der negativen Bewertung) abhängt, müßte ein Versuch der Einstufung diese außersprachlichen Daten berücksichtigen.
172
Der Beitrag wurde von den Herausgebern für den Druck bearbeitet.
Literatur AUSTIN, John L. ( 1 9 6 2 ) : How to do things with words. London: Oxford University Press. - Übers.: Zur Theorie der Sprechakte. Stuttgart: Reclam, 1 9 7 2 . GREWENDORF, Günter ( 1 9 7 2 ) : "Sprache ohne Kontext. Zur Kritik der performativen Analyse". WUNDERLICH, Dieter ( e d . ) : Linguistische Pragmatik. Frankfurt am Main: Athenäum: 144-182. PISARKOWA, Krystyna ( 1 9 7 5 a ) : "Neutralizacja opozycji temporalnych w polskim zdaniu". IJP PAN ( e d . ) : Charakterystyka temporalna wypowiedzenia. Wroclaw: Ossolineum: 143-158. ( 1 9 7 5 b ) : "Über die Aufhebung von temporalen Oppositionen". KERN, Rudolf ( e d . ) (soll erscheinen): Löwen und Sprachtiger. Leuven/Louvain: Institut de Linguistique. ( 1 9 7 6 ) : "Pragmatyczne spojrzenie na akt mowy". Polonica 2. SEARLE, John R. ( 1 9 6 9 ) : Speech acts. London: Cambridge 'Jniversity Press.- übers.: Sprechakte. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1971 .
KOMMUNIKATIONSBESCHREIBUNGEN
SELBST- UND PARTNEREINSCHÄTZUNGEN IN GESPRÄCHEN
Werner Holly
1.
Wenn Leute mit anderen sprechen, dann kommunizieren sie
nicht n u r · über Dinge in der Welt, sondern sie machen auch Mitteilungen über sich: wie sie selbst sich fühlen und wie sie ihren Gesprächspartner wahrnehmen.
Ich will solche Mitteilungen Kontakt-
handlungen nennen und dabei Selbsteinschätzungen und Partnereinschätzungen unterscheiden. Ich habe eben absichtlich nicht gesagt: sie s p r e c h e n dann über sich, weil das relativ selten vorkommt und weil die meisten Mitteilungen, die Leute über sich und ihre Gesprächspartner machen, in andere Mitteilungen verpackt sind. Das führt mich zu der ersten Frage, mit der ich mich beschäftigen will, nämlich: wie kann man Kontakthandlungen machen? Dabei geht es mir zunächst nicht um die Betrachtung von empirischen Äußerungen, sondern mit Hilfe von konstruierten Beispielen um den Entwurf einer Typologie, die allerdings erst in den Anfängen ist. Die zweite Frage, die ich danach behandeln möchte, ist: was macht man mit Kontakthandlungen im Gespräch oder wie können Selbst- und Partnereinschätzungen aufeinander folgen? Diese Frage betrifft also den Ablauf von Kontakthandlungen im Kommunikationsprozeß, und ich möchte an einem ebenfalls konstruierten Beispiel ein mögliches Gesprächsschema darstellen. Zum Schluß möchte ich dieses Schema mit einem empirischen Beispiel,
dem Ausschnitt aus einer Talkshow, konfrontieren, um
einen weiteren Aspekt, nämlich die Entstehung von Zwischenfällen, zu diskutieren.
2. 0.
Bei der Behandlung der ersten Frage - wie kann man Kontakt -
handlungen machen? - möchte ich zunächst eine zusätzliche Klassifikation vornehmen: außer Selbst- und Partnerbezug unterscheide ich
positive und negative Einschätzungen, die ich Bestätigungen bzw. Kritiken nennen werde, und erhalte demnach 4 Arten von Kontakthandlungen, nämlich: Selbstbestätigungen (SELBE), Partnerbestätigungen (FARBE), Selbstkritiken (SELKRI), Partnerkritiken (PARKRI). Diese 4 Kategorien von Kontakthandlungen entsprechen den 4 Grundeinstellungen ("basic convictions"), die der amerikanische
Psychiater
Eric Berne im Verhalten von Individuen unterschieden hat: ich bin o.k., du bist o.k., du bist nicht o.k. (BERNE 1966: 270). Um zu sehen, wie eine dieser 4 Arten von Kontakthandlungen, und zwar PARBEen, gemacht werden können, möchte ich nun einig«; Beispiele diskutieren: (a) Sie sind charmant.
(e) Wo sind die Kinder?
(b) Sie sind lange im Filmgeschäft.
(f) Guten Tag.
(c) Wie machen Sie das?
(g) Vielen Dank.
(d) Das Wetter ist schön.
(h) Herzlichen Glückwunsch.
Zuvor aber will ich in Anlehnung an HERINGER (1974) auf einiges hinweisen. 2. 1.
Zunächst möchte ich eine bestimmte Redeweise einführer.. Ich be-
trachte diese Beispielsätze als Ergebnisse von Handlungen, die ich soweit verstehe, wie ich die Regeln, die ihnen zugrunde liegen, kenne. Die Regeln, denen diese Handlungen folgen, sind Handlungsmuster. Wenn ein Sprecher
z. B. (g) Vielen Dank
äußert, dann ist seine
Handlung nach dem Muster ^Danken'. Eine Handlung kann nun nach verschiedenen, allerdings nicht beliebigen Mustern verstanden und beschrieben werden; ich könnte hier sagen: die Handlung (g) ist nach dsm Muster N
eine Dankformel äußern', oder: sie ist nach dem Muster
N
sich höflich
zeigen' oder nach dem Muster Mie Lippen bewegen". Ich kann auch die Beziehungen zwischen diesen Mustern beschreiben,
hier z. B. durch "in-
dem' - Relationen, und sagen: die Handlung (g) ist nach dem Muster
v
sich
höflich zeigen', indem man dankt, indem man eine Dankforme] äußert, indem man die Lippen bewegt. Ich kann umgekehrt fragen, wie man eine Handlung nach dem Muster N
Danken' machen kann, und finde dann: man kann danken, inderci man
177
eine Dankformel äußert,
oder indem man lächelt, oder indem man
eine Dankrede hält usw. Die Auswahl der Muster, die ich zur Beschreibung von Handlungen heranziehe, hängt vom Ziel meiner Beschreibung ab und von meinem Vorverständnis der Handlungen, die ich beschreiben möchte. Mein Ziel ist es, etwas darüber zu erfahren, wie Gesprächspartner verbal über ihre Beziehung kommunizieren und was sie dabei im Hinblick auf den Ablauf von Interaktionen tun. Ich lege dabei ( i o f f m a n s Modell von Interaktionsritualen zugrunde (GOFFMAN 1971) und verbinde es mit Elementen der "Transaktionellen Analyse" von Berne. Ich beschreibe deshalb nur, was die Gesprächspartner hinsichtlich meiner Kategorien tun, indem sie bestimmte Sätze äußern, also inwiefern sie mit ihren Äußerungen sich bzw. den anderen bestätigen oder kritisieren. Was sie nach nicht-verbalen
Mustern tun, kann ich nicht beschreiben, und was sie
nach Mustern tun, die nicht Kontakthandlungsmuster sind, will ich nur beschreiben, soweit ich muß, denn die Gesprächspartner handeln nicht unmittelbar nach Kontakthandlungsmustern, sondern sie tun es, indem sie nach noch anderen Mustern handeln, z.B. nach dem Muster 2.2.
v
Äußern'
Ich möchte nun danach fragen, unter welchen Bedingungen ein S
PARBEen von unterschiedlicher Direktheit machen kann und betrachte dazu Beispielsätze, die sich danach unterscheiden, gung bzw. den Bezug zum Partner explizit machen, oder Fragen sind; außerdem sind,
ob sie eine Bestätiob sie Mitteilungen
mehr der Vollständigkeit halber, eini-
ge Formeln angefügt. Diese Beispiele illustrieren die (notwendig unvollständige) Zerlegung des Handlungsmusters SELBE
"Kontakthandlung':
-ÄUSS(POS, PAR)
/PARBE^MrrT(POS, PAR)^-ÄUSS(ETW, PAR) wenn Bl u. f^FRAGiETW, PAR) ÄUSS(ETW)
KONTAKT^
n
I'GRÜSS DANK -
V
wenn B2 u.
\ÄUSS(ETW, PAR) ÄUSS(ETW)
wenn B2 uj B3
SELKRI 'GLÜWÜ IPARKRI
x
' = indem
178 Bl
Eine FARBE folgt oder geht voraus, es gibt keinen Indikator für Widerspruch
B2
Äußerung kann als Mitteilung oder Frage über den Partnar erschlossen werden
B3
Äußerung kann nicht (durch ein Schlußverfahren) als PARKRI verstanden werden Die d i r e k t e F o r m e J n e r FARBE, ein direktes Kompliment, sitellt
(a)
Sie sind charmant
dar. Ich könnte sagen, der S vollzieht eine FARBE, indem er etwas Positives über seinen Gesprächspartner sagt.
Bezieht sich das positive
Prädikat auf eine Handlung, spricht man von Lob. Das heißt aber nicht, daß alle Äußerungen eines S, die ein positives Prädikat auf den Partner beziehen, eine FARBE darstellen; es müssen eine Reihe weiterer Bedingungen erfüllt sein, etwa, daß die Äußerung nicht ironisch ist, nicht in Frageform usw; deshalb formuliere ich für alle PARBEen folgende Bedingung: B3 die Äußerung kann nicht als PARKRI verstanden werden. Es wird also lediglich gesagt, da3 eine Möglichkeit einer Partnerbestätigung in einer positiven Äußerung über den Partner besteht. Aber ein explizit positives Prädikat ist nicht unbedingt erforderlich, dann, wenn eine Kontextbedingung die Meinung der Äußerung determiniert. In
(b) Sie sind lange im Filmgeschäft kann das Prädikat positiv oder negativ bewertet verstanden werden. Geht eine andere FARBE voraus, z. B. (a) Sie sind charmant, dann gilt auch das Prädikat lange im Filmgeschäft als positiv, und damit die ganze Äußerung als positive Mitteilung, es sei denn, es gibt einen Indikator für Widerspruch. Folgt die andere FARBE nach, dann kann das Prädikat sogar negativ bewertet sein; die Äußerung wird dann im Sinn von v obwohl Sie lange im Filmgeschäft sind', also in jedem Fall als FARBE verstanden. Für hinsichtlich des Kontakthandlungsmusters ambige Mitteilungen ließe sich demnach eine "A.nsteckungsregel" formulieren: nicht eindeutig wertende A.ussagen übernehmen die Wertung der vorangegangenen
179
oder nachfolgenden eindeutigen Aussage, sofern es nicht einen Indikator für Widerspruch gibt. Man könnte noch weiter gehen und sagen, daß jede Äußerung über einen Partner, die keine Kritik enthält, als positive Mitteilung gewertet werden kann, insofern als sie sein Image, d. h. sein Selbstbild bestätigt, das nicht unbedingt den allgemeinen Normen für positive Bewertung entsprechen muß. GOFFMAN (1967) beschreibt deshalb Kontakthandlungen als Rituale zur Erhaltung und Wiederherstellung von Images. Nach dem weitergehenden Verständnis von Bestätigung' kann ich aber in einem Gespräch keine Äußerung über meinen Gesprächspartner ohne eine - mindestens implizite - Bewertung machen, und das scheint mir für die meisten Situationen zu gelten. Denn auch bloße Informationen,
etwa: Es war ein Anruf für dich da. sind Ausdruck von bestätigen-
dem
Interesse und werden wie Komplimente mit Dank quittiert. Des-
halb kann die Bedingung l meiner Ansicht nach wegfallen oder einfach als Anzeichen für die Gültigkeit der 3. Bedingung gewertet werden. Zu den PARBEen zählen nach GOFFMAN (1971: lOlf.) die Akte "identifikatorischer Sympathie", die sich in interessierten Fragen nach allen möglichen Aspekten der Situation des Partners äußern.
Eine solche
Frage stellt (c) Wie machen Sie das? dar. Der S bestätigt den Partner, indem er etwas über ihn fragt, indem er etwas über ihn äußert. Ich kann natürlich auch Mitteilungen oder Fragen über den Partner machen, ohne ihn direkt
anzusprechen oder über ihn zu sprechen,
dann nämlich, wenn die Äußerung aufgrund des Kontextes durch ein Schlußverfahren auf den Partner bezogen werden kann. Ein S kann mit (d) Das Wetter ist schön zum A.usdruck bringen, daß ein Hörer recht hatte, wenn dieser vorher eine solche Prognose gestellt hat. Ein Spezialfall wäre, wenn eine solche Äußerung nur als FARBE Relevanz hätte, etwa wenn jemand (d) äußert, um mit einem ändern ins Gespräch zu kommen; dann kann aufgrund einer "konversationeilen
Implikatur", wie GRICE (1975: 45ff.)
dieses Verfahren nennt, auf den Partnerbezug geschlossen werden.
130
Ähnlich verhält es sich mit Fragen wie (e). Die Äußerungen (f), (g) und (h) sind Formeln für Begrüßungen, Danksagungen und Glückwünsche, die ebenfalls zu den FARBE gehören, ohne daß ich sie hier weiter diskutieren möchte. Natürlich kann ich eine FARBE noch anders machen, etwa nicht-verbal oder indem ich eine e r w a r t e t e K r i t i k unterlasse. Mir kam es vor allem darauf an zu prüfen, unter welchen Bedingungen ein Sprecher PA.RBEen mit unterschiedlicher Direktheit machen kann, je nachdem, ob er positive Prädikate, direkte Referenz oder keines von beiden verwendet. Damit habe ich allerdings keine eindeutigen Aussagen darüber gemacht, welche Äußerungen von einem Hörer als FARBE verstanden werden dürfen, obwohl dafür einige Anhaltspunkte gegeben wurden. Entsprechend müßten nun auch die Zerlegungen der anderer Kontakthandlungsmuster ausgeführt werden. Das will ich jedoch nicht tun, sondern ich möchte nun zur zweiten Frage kommen: was macht man mit Kontakthandlungen in Gesprächen? 3.
Dazu möchte ich mit Kategorien GOFFMANs ( 1 9 7 1 ) ein fiktives Ge-
spräch betrachten. Dabei gehe ich davon aus, daß die Äußerungen der beiden Gesprächspartner eindeutig bestimmten Handlungsmustern zugeordnet werden können, mit A.usnahme der Äußerung B2, auf di.e ich gleich noch zurückkommen werde. Äußerungen (fiktiv) Herr A und Frau B
Kontakthandlungsmuster und Gesprächsschritte n
1 PA.R B EJ
Bl: Das bin ich.
^ELBEl Bestät i |PARBEt=» Bestät
^
Zwischenf*
IPARKRB=» ^Veranl
A4: Das macht nichts.
IPARBEI=? -Entgegk
Korrekt
i k. bestätigender Austausch J
ein
B2: Es ist wichtig, wie ein Mensch denkt. A3: Sie haben meine Frage nicht beantwortet. B3: Tut mir leid.
1
A.rt des Austausche
:
A I : Sie sind charmant. A2: Wie machen Sie das?
j :
Je; tTi T ~\T
?3. 1 -
1 tl
1|
]^
korrelctiver Austausch
181
JABCDEI
vom Sprecher vollzogene Kontakthandlungsmuster
Abcde
vom Hörer verstandene Gesprächs schritte
|
? [
strittiges Muster
>
kommt an wird akzeptiert als
-M/W"
wird nicht akzeptiert,
*
sondern mißbilligt
als
löst aus Auf die FARBE von Herrn A: Sie sind charmant, antwortet Frau B
ungewöhnlich explizit: Das bin ich.
Damit ist eine Runde eines "be-
stätigenden Austauschs" erfüllt, wie GOFFMAN (1971: 97-134) diesen Typ einer Interaktion nennt; dabei werden im allgemeinen Bestätigungen gleichgültig welcher Art ausgetauscht,
so daß verschiedene strukturelle
Variationen möglich sind: FARBE - FARBE, FARBE - SELBE usw. In unserem Beispiel ist nur einer der Gesprächspartner, nämlich Frau B, im Brennpunkt des Gesprächs.
Es finden sich auch Gespräche,
in denen Kombinationen von Selbst- und Fartnereinschätzungen vorkommen und es gleichzeitig um beide Partner geht. Es folgt nun auf die erste Runde der Ansatz einer zweiten, der wiederum mit einer FARBE beginnt, mit der seltsamen Frage: Wie machen Sie das?
Auf solche und ähnliche Weise können lange,
für
beide Partner mitunter sehr angenehme Ketten von Bestätigungsrunden gebildet werden, die für Außenstehende allerdings schnell langweilig werden. Hier dagegen antwortet Frau B nicht eindeutig mit einer Bestätigung, sondern mit einer recht allgemeinen Bemerkung: Es ist wichtig, wie ein Mensch denkt indem sie nicht explizit von sich und von ihrem Charme spricht, nach dem ja gefragt war. Dies kann Herr A als Verletzung einer kommunikativen Regel auffassen, die GRICE (1975: 45) als "allgemeines Kooperationsprinzip" formuliert hat und die von jedem Gesprächspartner
einen der jeweiligen Situ-
ation angemessenen Beitrag verlangt. Damit ist der bestätigende A.ustausch durch einen Zwischenfall unterbrochen, und es muß ein "korrek-
182
tiver Austausch" (GOFFMAN 1971: 138-254) folgen; dieser korrektive Austausch soll die Verletzung der Regel in irgendeiner Form wieder gutmachen und das verletzte Image von Herrn A wiederherstellen. Dazu bedarf es zunächst einer Veranlassung in Form einer PAR KR I, die Herr A ziemlich trocken formuliert: Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Durch sie wird der Zwischenfall markiert und ein korrektiver Schritt herausgefordert. Den tut Frau B durch die gängige SELKRI Tut mir leid was von Herrn A mit einem gängigen Entgegenkommen Das macht nichts honoriert wird. Es ist durchaus üblich, daß dieser Entgegenkommensschritt im Widerspruch zu der Veranlassung steht, es kommt häufig nur auf den formalen Ausgleich des Zwischenfalls an, der nicht eine inhaltliche Wiedergutmachung einschließen muß- das wäre hier eine angemessene Antwort; deshalb kann der Ankläger in seinem Entgegenkommen gewissermaßen seine Anklage zurückziehen. Der korrektive A.ustausch ist damit vollzogen, und es kann eine neue Sequenz begonnen werden. Der in diesem Beispiel skizzierte Ablauf stellt nur eine von vielen Möglichkeiten dar, Gespräche durch bestätigende und korrektive A u s täusche zu strukturieren. 4.
Ich möchte nun diesem Gesprächsschema ein empirisches Beispiel,
den Ausschnitt aus einer Fernseh-Talkshow, gegenüberstellen,
um vor
allem einen Aspekt, nämlich die Entstehung von Zwischenfällen zu diskutieren. TV-Talkshow
ARD 1 2 . 2 . 7 5
Rosenbauer (Talkmaster)/Maria Schell/ Publikum
R o: (1) Sagen Sie, wie machen Sie das? (2) Sie, Sie sind so lange da drin. (3) Sie waren, als Sie jung waren, charmant, sind heute charmant, attraktiv. (4) Harn Sie'n Geheimrezept? Seh: (lacht) (5) Da hab ich eine ganze Menge. R o:
(6) Könn Se eins verraten?
183 Seh:
(7) Ja, also ich glaube, auf alle Fälle, daß es sehr wichtig ist, wie ein Mensch denkt, und daß er mit seinen Gedanken sein . Leben weithin formen kann, wenn er sich also nicht denken läßt von den Umständen, die um ihn herum sind, sondern wenn er die Möglichkeit erkennt, daß er durch die Steuerung seiner Gedanken sein Leben weitgehend verbessern kann.
Ro:
(8)
Seh:
(lacht)
Ro:
(10) Ich wollte gar nich so hoch ansetzen. (11) Ich hab neulich in der Zeitung gelesen
Seh:
(12) Tut mir leid, tut mir leid (lacht)
Ro:
(13) Nein, s is immer gut, wenn die Gäste tief, tiefer // als der Talkmeister
Seh:
(14) Jetzt hab ich mir so geschworen, daß ich keinen heißen Kopf krieg. (15) Jetzt hab ich doch einen.
Ich wollt gar nich (Applaus) (9)
Das ist das Geheimrezept. (Applaus)
sehen
(Gelächter) (Pause) Sie werden vielleicht bemerkt haben, daß mein fiktives Beispiel oben diesem Ausschnitt in gewisser Hinsicht entspricht; andererseits sind die Äußerungen von Herrn Rosenbauer und Frau Schell selten so einfach und direkt wie fast alle Sätze meines konstruierten Beispiels. Ich möchte auch gar nicht unterstellen,
daß beide Gespräche nach demselben Schema
sind und damit eine eindeutige Interpretation dieses Ausschnitts festlegen;
stattdessen will ich anhand der Parallelen und Unterschiede mögli-
che Variationen eines solchen Schemas aufzeigen. Es steht zwar fest, daß der Ausschnitt mit einem bestätigenden A u s tausch beginnt, aber die Äußerungen (1) bis (4) von Rosenbauer sind keineswegs eindeutig: er kann nach dem Geheimrezept fragen, warum Frau Schell immer noch Erfolge hat oder warum sie immer noch äußer2 lieh attraktiv ist ; außerdem signalisiert er durch die Verschleifungen Harn Sie n und Könn Se in (4) und (6), daß er die Fragen nicht zu ernst nimmt.
Frau Schell geht in (5) zunächst auf diesen Ton ein: Da hab ich eine ganze Menge gibt dann aber in (7) eine 60 Wörter lange Satzperiode, die sehr ernst-
184
haft vielleicht beantwortet, wie sie ihren Erfolg erklärt, auf keinen Fall aber, wie sie ihr Gesicht pflegt. In einem späteren Abschnitt des Gesprächs stellt sich aber heraus, daß es Rosenbauer gerade darauf ankam. Wenn er nun (10) äußert, Ich wollte gar nich so hoch ansetzen, kann dies als indirekte PARKRI und damit als Veranlassung verstanden werden, weil ihm die Antwort unangemessen erschien, so hoch müßte dann als Tadel von Schells Ernst gelten. (10) kann aber auch als SELKRI gesehen werden, mit der Rosenbauer seine ungenauen Fragen zu Beginn korrigieren möchte. Dafür spricht, daß er in (11) eine Äußerung beginnt, die er später dann zur Präzisierung seiner Fragen benutzen wird. Eindeutig ist erst wieder Schells Äußerung (12) Tut mir leid, tut mir leid . Damit vollzieht sie ein Korrektiv und legt Rosenbauers Äusserung (10) als Veranlassung fest; dieser läßt sich auf diese Interpretation ein und schließt in (13) ein Entgegenkommen an. Hier taucht ein Problem auf, auf das WATZLAWICK/BEAVIN/JACKSON (1967: 57ff. ) hingewiesen haben, nämlich die Frage der gliedernden Interpunktion eines kommunikativen Prozesses, d.h. hier die Schuldfrage: wer hat den ersten Zwischenfall verursacht, der ungenaue Frager oder die zu ernste Antworterin; diese Frage kann nicht objektiv geklärt werden, sondern wird immer nur zwischen den Interaktanten ausgehandelt. Dabei muß es keineswegs immer so sein, daß dem ändern die Schuld in die Schuhe geschoben wird. Maria Schell reißt sich geradezu um den Schwarzen Peter. Die Tatsache, daß Zwischenfälle, also Imageverletzungen, häufig nachträglich durch ihre Verfolgung oder Korrektur erst endgültig "gemacht" werden, ermöglicht auch die Inszenierung von Zwischenfällen durch Tricks. BERNE (1964; 1972: 35f.) hat solche Trickabläufe als Spiele analysiert, mit denen bestimmte triumphierende oder resignative Grundeinstellungen bestätigt werden; er hat dabei Verfolger- und Opferspiele unterschieden, je nachdem, zu wessen Lasten der Zwischenfall inszeniert wird. Voraussetzung scheint mir dabei die Anwendung eines offensichtlichen Betrugs oder die Ausnützung einer zweideutigen Äußerung zu sein.
185
In unserem Beispiel würde die Vagheit von Rosenbauers Fragen zu Beginn ihm die Möglichkeit geben, jede Antwort als unangemessen zurückzuweisen; er tut dies zumindest nicht explizit und man kann deshalb nicht sagen, daß er einen Verfolgertrick ausspielt. Seine doppeldeutige Äußerung in (10) ermöglicht es andererseits, daß Frau Schell sich einen Zwischenfall anlastet, obwohl sie das gar 3 nicht müßte. Hier scheint mir ein Opferspiel vorzuliegen. Solche Mißverständnisse vorzubereiten und auszuspielen, kann in manchen Gesprächen Unbehagen bereiten und die Verständigung ernsthaft stören oder gar unmöglich machen. Hier gehören diese Strategien wohl gerade zum erwarteten Reiz einer Talkshow.
Anmerkungen
GOFFMAN (1967: 60ff. ) unterscheidet entsprechend "inhaltliche und zeremonielle" Komponenten von Handlungen; WATZLAWICK/BEAVIN/ JACKSON (1967: 53) sprechen vom "Inhalts- und Beziehungsaspekt" in der Kommunikation. Daß auch bei Maria Schell diese Frage unklar ankommt, läßt sich sogar noch aus einer späteren Äußerung in einem Interview über diese Talkshow entnehmen (BARLOEWEN/BRANDENBERG, 1975: 90f. ): "Herr Rosenbauer hat, meine ich, etwas unglückliche Fragen gestellt. Er hat mich z. B. gefragt, wie ich zum Film gekommen bin o d e r wie ich es geschafft habe, so jung auszusehen. " [Hervorhebung nicht im Original]. Allein die Tatsache, daß sie später (s.Anm. 2) auf diese Gesprächspassage zurückkommt, kann als Anzeichen dafür gelten, daß sie selbst ihr Verhalten in dieser Situation als unangemessen einschätzt. GOFFMAN (1971: 211f. ) nennt solche späteren Versuche, Imageverletzungen zu korrigieren, "Nachverbrennungen".
Literatur
BARLOEWEN, Constantin von/ BRANDENBERG, Hans (ed.) (1975): Talk Show. Unterhaltung im Fernsehen = Fernsehunterhaltung? B K H X F C , Eric (1964); Games People Play. New York: Grove Press.- Übers. Spiele der Erwachsenen. Reinbek: Rowohlt, 1967
186
BERNE, Eric (1966): Principles of Group Treatment. N e w Y o r k : Grove Press. ---
( 1 9 7 2 ) : What Do You Say After You Say Hello? The Psychology of Human Destiny. New York: Grove Press. - Übers.: Was sagen Sie, nachdem Sie Guten Tag gesagt haben? Psychologie des menschlichen Verhaltens. München: Kindler 1975.
GOFFMAN, Erving (1967): Interaction Ritual. Essays in Face-to-Face Behavior, Chicago. - Übers.: Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. Frankfurt: Suhrkamp, 1971. (1971): Relations in Public. Microstudies of the Public Order. New York. - Übers. : Das Individuum im öffentlichen Austausch. Frankfurt: Suhrkamp, 1974. GRICE, H. P. (1968) : "Logic and Conversation". Unveröff. Vorlesungsmanuskript. - Wieder in: COLE, Peter/ MORGAN, Jerry L. (ed. ) (1975): Syntax and Semantics. Vol. III. : Speech Act. New York etc. HERINGER, H. J.
(1974): Praktische Semantik, Stuttgart: Klett.
WATZLAWICK/ BEAVIN/ JACKSON (1967): Pragmatics of Human Communication. New York: Norton - Übers. : Menschliche Kommunikation. Bern: Huber, 1969.
BESCHREIBEN UND VERSTEHEN
E i n i g e Probleme bei der Beschreibung von Kommunikationen unter Kindern Bernd U l r i c h Biere
1.
Vorbemerkung
Die Probleme, die sich bei der Beschreibung empirischer Kommunik a t i o n e n s t e l l e n , sind einerseits theoretischer N a t u r und betreffen die F r a g e , wie wir überhaupt zu bedeutsamen Beschreibungen im Bereich des sprachlichen
H a n d e l n s g e l a n g e n , andrerseits sind
die Probleme mehr methodologischer N a t u r und betreffen
die
Fra-
ge, wie wir zu bedeutsamen Beschreibungen von bestimmten empirischen I n t e r a k t i o n e n und Kommunikationen gelangen. Beide Arten von Problemen sind n i c h t g r u n d s ä t z l i c h verschieden, sondern hängen eng m i t e i n a n d e r zusammen.
U n t e r Betonung dieses Zusammen-
hangs werde ich anhand eines Beispiels einer Kommunikation u n t e r K i n d e r n einige Probleme der Beschreibung empirischer Kommunikationen d i s k u t i e r e n . Es gibt eine Reihe von Bereichen der Beschreibung des sprachlichen H a n d e l n s , i n denen w i r nicht m i t ten auf
B e i s p i e l e n e m p i r i s c h e
k o n s t r u i e r -
arbeiten k ö n n e n , sondern notwendig B e i s p i e l e
angewiesen s i n d ,
weil unsere alltägliche Handlungskompetenz dorthin nicht reicht, wohin wir uns mit unserer linguistischen Fachkompetenz vorwagen. Zu diesen Bereichen gehören vermutlich große Teile sozio-linguistischer Beschreibungen und n i c h t z u l e t z t die Beschreibung von Kommunikationen unter Kindern. Wenn ich anhand konstruierter Beispiele eine Theorie über S t r u k t u r e n kindlicher Kommunikationen aufstellen w o l l t e , so hätte dieses U n t e r f a n g e n nicht nur etwas Künstliches,
sondern würde
mich auch vor eine Reihe theoretischer Probleme s t e l l e n . So müßte ich etwa die implizite Annahme begründen können, daß Kinder in der Art meiner konstruierten Beispiele kommunizieren oder kommunizieren können.
188 2.
Zwei Beispiele
Obwohl sich konstruierte Beispiele nicht grundsätzlich von empirischen Beispielen unterscheiden brauchen, wird man kaum Schwierigkeiten haben, eines der folgenden Beispiele als ein empirisches, das andere als ein konstruiertes zu i d e n t i f i z i e r e n . Beispiel l A und B telefonieren. A hat dem B gerade e r k l ä r t , warum er morgen n i c h t , wie verabredet, zu B kommen k a n n . Da gibt es bei B irgendeine Störung in der Leitung und B f r a g t : "Kannst du mich verstehen?" Darauf antwortet A: "Nein, ich k a n n dich nicht verstehen." Beispiel 2 Nach einem Streit zwischen S und C um ein Holzbrett erklärt sich S bereit, (nach vermittelndem Eingreifen der älteren R) für C weitere Bretter aus dem Kinderzimmer zu holen. Da ihm die Bretter anscheinend jedoch zu schwer sind, läßt er sie auf halbem Weg liegen und k l a u t in der Küche ein Päckchen Kaugummi. S: (auf dem Gang) Kann sein ich die Bretter nich / die Bretter kann ich nich / Brettern kann ich nich heben / die Bretter »··
(S C: S: C: R: C: S: C: S:
kommt mit dem geklauten Kaugummi herein) Gib mir! Die Brettern kann ich nie / gel? // Gel? Will auch was / so eins! Da has du / da gibs du ihr so eins / ja / Sebastian. Wem gehört denn des? Gehört mir. Kann ich mal habn? Ja. // (S gibt C ein Kaugummi) Hab ich Kaugummi.
(S ist 3 Jahre alt und ein Junge, C ist 3 Monate älter und ein Mädchen, R ist 1O Jahre alt und ein Mädchen. / = Atempause; // = längere Pause; ... = unverständlich) Meine Frage ist n u n : Wie gelangt der Linguist zu seinen empirischen Beispielen bzw. zu den Beschreibungen dieser Beispiele und
189
welche Rolle spielt dabei das Verstehen? Einen Teil der mit dieser Frage angeschnittenen vielschichtigen Probleme w i l l ich an den gegebenen Beispielen zu i l l u s t r i e r e n versuchen. 2.1. Als Beispiel einer Kommunikation u n t e r K i n d e r n (es ist Beispiel 2) habe ich keine Video- oder Tonbandaufnahme abges p i e l t , ich habe Sie auch nicht a u f g e f o r d e r t , mit mir auf den Spielplatz zu gehen, um Ihnen dort eine K o m m u n i k a t i o n u n t e r Kindern "life" v o r f ü h r e n zu k ö n n e n . Ich habe Ihnen einen schriftlichen Text vorgelegt und diesen Text ein Beispiel einer Kommun i k a t i o n u n t e r Kindern g e n a n n t . Anhand dieses Beispiels w i l l ich die These i l l u s t r i e r e n , daß die Auswahl, Anordnung und s c h r i f t liche Repräsentation der gesammelten "Daten" (Beispiele von Komm u n i k a t i o n e n ) mehrfach durch Verstehensprozesse v e r m i t t e l t ist, und daß das als s c h r i f t l i c h e r Text dargebotene Beispiel einer empirischen Kommunikation als Ergebnis einer Reihe solcher Verstehensprozesse zu verstehen ist. Dies ist k e i n notwendiges Übel und kein beklagenswerter Mangel an O b j e k t i v i t ä t , sondern eine notwendige Bedingung für kommunikativ bedeutsame Beschreibungen. Was man in den Sozialwissenschaften gemeinhin Datenerhebung durch Beobachtung n e n n t , v o l l z i e h t sich n ä m l i c h nicht außerhalb sprachlicher K o m m u n i k a t i o n , Beobachtung ist hier vielmehr immer 2 eine mehr oder weniger d i r e k t e Form der Teilnahme. Bei der V e r s c h r i f t l i c h u n g einer mündlichen Kommunikation geht es nicht nur um Abhörschwierigkeiten. Auf das akustische Verstehen w i l l ich hier auch nicht weiter eingehen und im folgenden "Verstehen" verwenden im Sinn von "eine H a n d l u n g verstehen". Wo ich bei der V e r s c h r i f t l i c h u n g einen P u n k t , ein Fragezeichen oder ein Ausrufzeichen setze, hängt bereits wesentlich ab von meinem Verständnis der mit der entsprechenden Äußerung gemachten sprachlichen H a n d l u n g . Die Zeichensetzung könnte hier zum Teil sogar die gleiche Funktion übernehmen wie bestimmte beschreibende Ausdrücke. Sie indiziert/beschreibt eine Handlung als eine bestimmte Art von H a n d l u n g . So hätte ich beispielsweise für "C: Gib mir!" schreiben können "C: ( l a u t rufend) Gib mir" und vielleicht generell auf Zeichensetzung verzichten können. Oder ich hätte schreiben können "C: ( f o r d e r t ) Gib mir!" Damit hätte ich allerdings bereits ein "erzeugendes Muster" (HERINGER
190
1974), einen Teil einer Regelbeschreibung, angegeben. Mein so in der Beschreibung expliziertes V e r s t ä n d n i s der H a n d l u n g , die C macht, indem sie Gib mir ä u ß e r t , müßte ich d a n n in der weiteren Beschreibung begründen k ö n n e n . Wenn ich mit beschreibenden A u s d r ü c k e n , wie denen in Klammern, relevante nicht-sprachliche H a n d l u n g e n zu beschreiben versuche, so ist auch hier vorausgesetzt, daß ich diese H a n d l u n g e n verstehe, daß ich verstehe, welche H a n d l u n g e n im Sinn der an der Kommunikation beteiligten P a r t n e r relevant sind, und daß ich weiß, welche im Sinn meiner Beschreibungsintention relevant sein können. In unserem Beispiel kommen an solchen beschreibenden Ausdrükken vor: auf dem G a n g , S k o m m t mit dem g e k l a u t e n Kaugummi herein, S gibt C ein K a u g u m m i . Mit dem ersten Ausdruck versuche ich, die K o m m u n i k a t i o n zu l o k a l i s i e r e n . Dies scheint r e l a t i v unproblematisch, i n d i z i e r t jedoch bereits den S t a n d o r t des Beobachters bzw. den Wahrnehmungsbereich des Beschreibenden. Es ist e b e n f a l l s k l a r , daß d e r j e n i g e , der die m ü n d l i c h e K o m m u n i k a t i o n aufgenommen h a t , identisch sein muß mit d e m , der die V e r s c h r i f t l i c h u n g vorgenommen h a t . Und s c h l i e ß l i c h s o l l t e d e r j e n i g e , der die weitere Beschreibung des n u n m e h r v e r s c h r i f t l i c h t e n M a t e r i a l s v o r n i m m t , wiederum die gleiche Person sein. Nur so k a n n der Beobachter und Beschreibende sein V e r s t e h e n von der Ebene der d i r e k t e n Beobachtung bis zur Ebene der e x p l i z i t e n l i n g u i s t i s c h e n Beschreibung von Ebene zu Ebene revidieren. Denn die n a c h e i n a n d e r a b l a u f e n d e n Verstehensprozesse bedingen sich gegenseitig und k o n t r o l l i e r e n sich. In der e x p l i z i t e n Beschreibung wird schließlich versucht werden müssen, ein auf a l l e n Ebenen kompatibles Verstehen und damit eine auf a l l e n Ebenen m ö g l i c h s t k o n s i s t e n t e Beschreibung zu erzielen. In dem zweiten Ausdruck S kommt mit dem geklauten Kaugummi herein wird bereits eine sehr spezifische Angabe gemacht: mit dem geklauten K a u g u m m i . Dies ist nur deshalb s i n n v o l l , weil es für die K o m m u n i k a t i o n bedeutsam w i r d , daß S Kaugummi mitbringt. Und es ist nur deshalb m ö g l i c h , weil der Beobachter und Beschreibende diese R e l e v a n z verstanden hat. Welche K r i t e r i e n aber hat der Beschreibende für die Verwendung von g e k l a u t ? Hat S das Kaugummi w i r k l i c h g e k l a u t ? Davon abgesehen, ermöglicht das so ex-
191
p l i z i e r t e Verstehen des Beschreibenden dem Leser erst das Verstehen des Beispiels. In diesem F a l l f ü h r t der Beschreibende den Gegenstand der f o l g e n d e n K o m m u n i k a t i o n bereits vorweg ein. Sonst blieben die R e f e r e n z e n in diesem Beispiel v ö l l i g u n k l a r oder würden f ä l s c h l i c h e r w e i s e auf B r e t t e r bezogen. Auch die l e t z t e Äußerung von S Hab ich Kaugummi k a n n n i c h t u n b e d i n g t als
referenz-
k l ä r e n d angesehen werden. W i r k ö n n t e n n ä m l i c h nach d e r langen Pause nach Ja v e r m u t e n , daß S mit Hab ich K a u g u m m i e i n e n neuen Gegenstand in die K o m m u n i k a t i o n e i n f ü h r e n möchte, und daß mit dieser Ä u ß e r u n g ein neuer A b s c h n i t t der K o m m u n i k a t i o n beginne. Wir w ü r d e n d a n n unser Beispiel v i e l l e i c h t n u r bis e i n s c h l i e ß l i c h Ja beschreiben. Die Beschreibung S gibt C ein Kaugummi i m p l i z i e r t - trotz des n e u t r a l w i r k e n d e n P r ä d i k a t s gibt - daß ich die beschriebene Handl u n g von S als Geben des K a u g u m m i s verstanden habe, daß ich es also in dem Zusammenhang der K o m m u n i k a t i o n als eine R e a k t i o n von S auf die Frage oder B i t t e von C a u f f a s s e . H i e r z u s c h e i n t mir das von S geäußerte Ja einige B e r e c h t i g u n g zu geben, aber k a n n ich sicher s e i n , daß S und C den Z u s a m m e n h a n g genauso verstehen? Ich h ä t t e v i e l l e i c h t auch eine Beschreibung geben k ö n n e n wie S_ e r f ü l l t Cs B i t t e . Damit h ä t t e ich jedoch gleichzeitig die Handlung beschrieben, die C mit dem Äußern von Kann ich mal habn nach meinem Verständnis - gemacht hat. Wenn ich einen Zusammenhang h e r s t e l l e zwischen sprachlichen und nicht-sprachlichen H a n d l u n g e n wie hier zwischen Cs Frage oder B i t t e , Ss Antwort und der die B i t t e e r f ü l l e n d e n H a n d l u n g , k a n n ich das nur a u f g r u n d meines Verständnisses der Sprache bzw. der R e g e l n , nach denen dieser Zusammenhang ein solcher ist.
Aber
k a n n ich sicher sein, daß der beschriebene Zusammenhang auch für die Kinder ein solcher ist? Wie sehr unsere Beschreibungen von K o m m u n i k a t i o n e n und Interaktionen abhängen von u n s e r m Verstehen der H a n d l u n g e n und deren Z u s a m m e n h ä n g e n , wird besonders d e u t l i c h in den ersten f ü n f
Zei-
len des empirischen Beispiels, die ja Teil der Präsentation dieses Beispiels sind. Dort werden keine sprachlichen Äußerungen z i t i e r t , es kommen nur beschreibende Ausdrücke vor. Was in
sol-
che Beschreibungen, die einen Teil der Vorgeschichte der zu beschreibenden K o m m u n i k a t i o n einholen sollen, an Verstehen
ein-
192
g e h t , ohne daß dies e x p l i z i t gemacht w i r d , ist erstaunlich. Ich w i l l nur auf einige Ausdrücke verweisen wie Streit, S e r k l ä r t sich bereit, vermittelndes E i n g r e i f e n , anscheinend, k l a u t . 2 . 2 . Bei der Beschreibung k o n s t r u i e r t e r Beispiele ergibt sich diese Art von Verstehensproblemen n i c h t . Die Präsentation konstruierter Beispiele ist unproblematischer. Der Beschreibende braucht n i c h t m ü n d l i c h e K o m m u n i k a t i o n e n in eine s c h r i f t l i c h e Form zu bringen, er hat eher das Problem, m ü n d l i c h e Kommunikationen möglichst getreu zu simulieren. So hätte ich dem kons t r u i e r t e n Beispiel l einen empirischen Anschein geben k ö n n e n , wenn ich in den z i t i e r t e n Äußerungen eine m ü n d l i c h e Sprachform 4 s i m u l i e r t h a t t e . K o n s t r u i e r t e Beispiele u n t e r l i e g e n schließlich völlig den I n t e n t i o n e n des Beschreibenden. So habe ich das Beispiel l etwa so k o n s t r u i e r t , daß darin ein M i ß v e r s t ä n d n i s vork o m m t , das o f f e n s i c h t l i c h mit einer u n t e r s c h i e d l i c h e n Verwendung von Verstehen durch A bzw. B z u s a m m e n h ä n g t . · Im Gegensatz zu einem empirischen Beispiel ist die k o n s t r u i e r te Kommunikation zwischen A und B eine von mir bereits verstandene. Das Verstehen bestimmter H a n d l u n g e n ist nicht in der Weise Voraussetzung für das Beschreiben wie im F a l l eines empirischen Beispiels. Wenn ich a u f g r u n d meiner Sprachkompetenz ein Beispiel k o n s t r u i e r e , muß ich zwar die Sprache, d . h . die R e g e l n , nach denen man in dieser Sprache h a n d e l n k a n n , k e n n e n , n i c h t aber die R e g e l n beschreiben, nach denen eine empirische Äußerung als bestimmte H a n d l u n g verstanden werden k a n n . So habe ich die sprachlichen H a n d l u n g e n von A und B explizit als ' F r a g e n ' bzw. "Antworten 1 beschreiben k ö n n e n , ohne daß ich dabei Verstehensprobleme gehabt h ä t t e . 3.
Thesen zum Zusammenhang von Beschreiben und Verstehen
Meine These
ist:
1. Die Partner können nur soweit miteinander kommunizieren und interagieren, wie sie sich verstehen. Mißverständnisse können über Beschreibungen k o m m u n i k a t i v geklärt werden. 2. Wir können die Handlungen, die die Partner in einer Kommunikation und Interaktion machen, nur soweit beschreiben, wie wir sie
193
verstehen. Und wir verstehen sie nur soweit, wie wir mit den Partnern kommunizieren bzw. kommunizieren können. Was heißt aber "eine H a n d l u n g verstehen"? Man k ö n n t e sagen, das Verstehen dessen, was jemand t u t , seiner H a n d l u n g e n , sei immer s u b j e k t i v und beruhe auf E i n f ü h l u n g . Dies entspräche in etwa der t r a d i t i o n e l l e n hermeneutischen Position. Von einer anderen w i s s e n s c h a f t s t h e o r e t i s c h e n Position her brauchte man in dem Verstehen dessen, was jemand t u t , gar kein Problem der wissenschaftlichen Beschreibung sehen. Man würde die H a n d l u n g e n als beobachtbares Verhalten ansehen und auch so beschreiben. Dies entspräche in etwa einer verbreiteten, oft positivistisch genannten A u f f a s s u n g in den Sozialwissenschaften. Unter Verzicht auf den Verstehensbegriff müßten Beschreibungen von sozialem Handeln jedoch rein äußerlich bleiben, Beschreibungen n ä m l i c h , die intentionales Handeln auf Verhalten und auf Ereignisse reduzieren würden. Wir nehmen in unserm Leben allerdings auch nicht an, daß wir u n s , wie die hermeneutische Position nahelegt, durch subjektive, e i n f ü h l e n d e Interpretationen verstehen. Wir brauchen uns nicht e i n z u f ü h l e n , um zu verstehen, welche H a n d l u n g jemand gemacht hat. Ich kann verstehen, daß jemand einen Mord begangen h a t , ohne mich da e i n f ü h l e n zu m ü s s e n . Darüber, welche Handlung als Mord z ä h l t , kann ich n i c h t s u b j e k t i v entscheiden. "Eine H a n d l u n g verstehen" soll also nicht heißen: "eine Handlung billigen/gutheißen/akzeptieren". Denn das Verstehen ist beispielsweise auch Voraussetzung f ü r das Zurückweisen einer Handl u n g , für das Fragen nach einer R e c h t f e r t i g u n g usw. Ich w i l l "eine H a n d l u n g verstehen" so verwenden: "Eine Handlung verstehen" heißt: "eine H a n d l u n g als eine bestimmte Art von Handlung verstehen". Wir können eine H a n d l u n g in einer empirischen Kommunikation dann als bestimmte Art von Handlung verstehen, wenn wir die Regel k e n n e n , nach der die Handlung in dieser Kommunikation war, wenn wir wissen, welcher Regel der Partner gef o l g t ist. "Eine Handlung beschreiben" heißt dann: "die Regel beschreiben, nach der eine Handlung ist", "die Handlung als eine bestimmte Art von Handlung beschreiben". 7
94
4.
Kommunikation unter Kindern
Was bedeutet das für Beschreibungen von emoirischen K o m m u n i k a tionen u n t e r K i n d e r n ? D i e m i t dieser Frage a u f g e w o r f e n e n Probleme w i l l ich abschließend k u r z a n d e u t e n . Ich nehme z u n ä c h s t an, daß K i n d e r in i h r e n K o m m u n i k a t i o n e n zum Teil nach anderen Regeln h a n d e l n als Erwachsene in ihren K o m m u n i k a t i o n e n , oder daß die Z u s a m m e n h a n g e der R e g e l n anders s i n d . Als Beobachter und Beschreibender beschreibe ich nun e i n z e l n e H a n d l u n g e n der K i n d e r so, wie ich sie verstehe, d . h . auf dem H i n t e r g r u n d der R e g e l n , nach denen ich im a l l g e m e i n e n selbst h a n d e l e . Diese Beschreibung hat den C h a r a k t e r e i n e r H y p o t h e s e . Denn ich k a n n n i c h t
si-
cher s e i n , daß dies die R e g e l n s i n d , nach denen die K i n d e r
tat-
Q
sächlich handeln.
Ich muß d e s h a l b w e i t e r zu beschreiben
versu-
chen, ob und wie sich die K i n d e r u n t e r e i n a n d e r verstehen. Dazu muß ich vor a ] l e r n den Z u s a m m e n h a n g der H a n d l u n g e n der Partner b e a c h t e n , denn w a s j e m a n d a l s R e a k t i o n a u f eine H a n d l u n g m a c h t , gibt mir einen Hinweis d a r a u f , wie er die H a n d l u n g des P a r t n e r s 9 verstanden h a t . E i n e w e i t e r e M ö g l i c h k e i t , unsere Beschreibungen von empirischen K o m m u n i k a t i o n e n zu verbessern, l i e g t s c h l i e ß l i c h in Beschreibungen, die die P a r t n e r in ihren K o m m u n i k a t i o n e n selbst von ihren H a n d l u n g e n geben. Solche Beschreibungen kommen in der K o m m u n i k a t i o n u n t e r K i n d e r n , soweit ich sehe, jedoch nur in begrenztem U m f a n g vor, und so ist
es - dies sei abschließend ge-
sagt - n i c h t z u l e t z t ein Teil der d i d a k t i s c h e n Perspektive
der
weiteren A r b e i t , eine G r u n d l a g e zu s c h a f f e n für die Verbesserung der Fähigkeit zur H a n d l u n g s b e s c h r e i b u n g und d a m i t zur kommunikativen K l ä r u n g von M i ß v e r s t ä n d n i s s e n .
Anmerkungen 1
Auf den Zusammenhang von Theorie und Methodologie weist CICOUREL 1964 h i n . Er betont, "daß methodologische Entscheidungen in der S o z i a l f o r s c h u n g immer ihre theoretische Entsprechungen haben." ( Ü b e r s . 1974: 11).
2
V g l . hierzu etwa HABERMAS 1970: 140. Zum Begriff der menden Beobachtung siehe CICOUREL 1964: K a p . II.
teilneh-
195
3
Dies bedeutet n i c h t , daß das akustische V e r s t e h e n für die Praxis des T r a n s k r i b i e r e n s eine u n e r h e b l i c h e R o l l e s p i e l t .
4
Ich w i l l d a m i t nicht b e h a u p t e n , daß in der V e r s c h r i f t l i c h u n g in jedem Fall versucht werden m ü s s e , die E i g e n a r t m ü n d l i c h e n Sprachgebrauchs zu e r f a s s e n . In welcher Form ich ein Beispiel darbiete, h ä n g t vom Zweck der Beschreibung ab. So werde ich mit der hier vorgelegten Form der V e r s c h r i f t l i c h u n g k a u m eine phonetische oder d i a l e k t o l o g i s c h e Beschreibung anstreben.
5
Das V e r f a h r e n der t e i l n e h m e n d e n Beobachtung scheint mir die methodologische E n t s p r e c h u n g dieser theoretischen Annahme, wo sich der B e g r i f f der Teilnahme n i c h t nur auf die tatsächliche I n t e r a k t i o n des Beobachters mit den P a r t n e r n bezieht, sondern auch auf eine p o t e n t i e l l e T e i l n a h m e , wie sie durch den H i n t e r g r u n d einer den k o m m u n i z i e r e n d e n P a r t n e r n und dem Beobachter gemeinsamen Lebensform e r m ö g l i c h t w i r d .
6
Eine Diskussion der U n t e r s c h e i d u n g von N a t u r - und Sozialwissenschaften in methodologischer H i n s i c h t f i n d e t sich bei ÖHLSCHLAGER 1974.
7
Siehe hierzu a u s f ü h r l i c h e r H E R I N G E R 1974b.
8
Auch Beschreibungen von K o m m u n i k a t i o n e n u n t e r Erwachsenen haben n a t ü r l i c h H y p o t h e s e n c h a r a k t e r , nur ist dort unsere Unsicherheit in der Beschreibung r e l a t i v gering.
9
Oft bleiben jedoch gerade die Z u s a m m e n h ä n g e der sprachlichen H a n d l u n g e n u n v e r s t ä n d l i c h , obwohl wir k e i n e n Grund haben anz u n e h m e n , daß sich die K i n d e r n i c h t v e r s t e h e n . ( V g l . BIERE / HERINGER 1973).
Literatur B I E R E , B e r n d - U l r i c h / H E R I N G E R , Hans-Jürgen ( 1 9 7 3 ) : "Kommunikation unter K i n d e r n . Ein Beispiel". L i n g u i s t i k und D i d a k t i k 16: 281-289. CICOUREL, Aaron V. ( 1 9 6 4 ) : Method and measurement in sociology. Glencoe: Free Press. - Ü b e r s . : Methode und Messung in der Soziologie. F r a n k f u r t am M a i n : S u h r k a m p , 197O/1974. HABERMAS, Jürgen (197O): Zur Logik der S o z i a l w i s s e n s c h a f t e n . Materialien. F r a n k f u r t am M a i n : Suhrkamp. H E R I N G E R , Hans-Jürgen ( 1 9 7 4 a ) : P r a k t i s c h e S e m a n t i k . S t u t t g a r t : Klett. (1974b): "Eine Regel beschreiben". H E R I N G E R ( e d . ) : 48-87. ( e d . ) (1974): Seminar: Der R e g e l b e g r i f f Semantik. F r a n k f u r t am M a i n : S u h r k a m p .
in der praktischen
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STANDARDSITUATIONEN Thesen und Beispiele
Wolfgang Herrmann
0. In der vorliegenden Arbeit sollen einige Thesen über Beg r i f f und Funktion der Standardsituation vorgetragen werden, die an anderer Stelle sprachphilosophisch begründet wurden. Sie werden im Zusammenhang dieses Aufsatzes durch Beispiele und Vorüberlegungen zur Beschreibung von Standardsituationen ergänzt. 1. Zur Überprüfung und Illustration unserer Thesen sollen die folgenden Standardsituationen herangezogen werden. 1.1. In der Standardsituation "Ein Fremder erkundigt sich nach dem Weg 1 wurden Kinder verschiedener Altersstufen um eine entsprechende Auskunft gebeten. Bei der Analyse der Äußerungen wurden nur Antworten berücksichtigt, aus denen hervorging, daß das Kind den Weg zu dem betreffenden Ziel genau kannte (Relation a ) , daß das Kind davon ausging, daß der "Fremde" den Weg nicht kennt (Relation b ) , und daß der Befragte die Frage des Fremden als Informationsfrage versteht (ohne etwa vor Entführung oder ähnlichem Angst zu haben). 1.1.1.
Standardsituation l
A: Sag 1 mal, mein Bub, ich möchte gerne zur Herzoghöhe-Schule. Kannst du mir mal sagen, wie ich da gehen muß? B: Ja, da müssen Sie jetzt hier den Berg hoch und dann rechts abbiegen zur Agip-Tankstelle. Vor der Agip-Tankstelle geht es dann - ä - na - links rein - ä - und hinten an der Kreuzung - eigentlich kann man nicht 'Kreuzung' sagen - da wo es auf der einen Seite den Berg runter geht, den Fußweg geradeaus weitergehen, bis er zu Ende ist; und dann rechts hoch und dann links - links wieder einbiegen: das ist dann der Eingang. 1.1.2.
Standardsituation l'
A: Du sag' mal, kannst du mir den Weg zur Herzoghöhe-Schule zeigen? C: Ja, da muß man da den Berg hoch. Und dann muß man hier so abbiegen. Also rechts. Und dann muß man wieder hier so abbie-
198
A: C:
A: C: A:
gen, hier - guck, so - also links. Und dann stehen da viele so rote Häuser. Ja, da stehen viele Häuser. Und wie muß man da weitergehen? Und dann muß man ganz hier so links gehen. Und dann ist hier eine Straße, und da muß man rüber gehen. Und da geht doch so ein Weg rechts. Und - Wollen Sie zur ersten Klasse, oder wohin wollen Sie? Zur dritten möchte ich. Ja, da müssen Sie geradeausgehen bis zu dem weißen großen Haus, und dann muß man nach - da so weiter (zeigt mit einem Finger nach rechts) Na, da frage ich dann am besten noch mal den Hausmeister. Vielen Dank, mein Kind l
1.2.
Nach übereinstimmenden Angaben von 42 Bayreuther Studen-
ten wurden zwei Bayreuther Speiselokale für die teilnehmende Beobachtung in der Standardsituation "Bestellung im Speiselokal' ausgewählt. Ein Lokal wurde als gutbürgerliches Eßlokal identifiziert, während das andere als Eßlokal für Unterprivilegierte bezeichnet wurde. 1.2.1.
Standardsituation 2
G : (betritt den Raum) Grüß 1 Gott! (tritt an einen Tisch, an dem bereits eine Person sitzt) Verzeihung, ist hier noch frei? Ja bitte! 1 (setzt sich und blickt sich im Raum um) (legt eine Speisekarte auf den Tisch und blickt den Gast an) (schaut zu K a u f ) Ä - a Bier bitte! Ja! (geht) K (stellt ein Bier auf den Tisch) So bittesehr - haben Sie schon was? Ja, ich hätt 1 gern (zeigt auf die Speisekarte) G l "Kasseler Rippenspeer"! K Ja! (geht) 1.2.2.
Standardsituation 3
G : (betritt den Raum) Grüß 1 Gott! G O _ Q . Grüß' Gott! fc 7 · G . : (laut) Ach, da (zeigt auf einen Tisch, an dem die Kellnerin sitzt) ist ja schon besetzt, gell? Haha! ( Z u r Kellnerin, die noch sitzt) Ein Faßquell - (lustig) schön frisch, gell? K : (steht auf und holt ein Bier) G . : (zu G _ , der an einem anderen Tisch sitzt) Was is'n das (zeigt auf den neben G 2 liegenden H u t ) f ü r ' n Suppentopf, he! G 3-9: (lachen) G 2 : Der is vai vom Chef persönlich. K : (stellt das Bier vor Gj^ auf den Tisch) Der is vai selber der Chef, gell? G : (lachen)
199
G , : (zu K.) - Gulaschsunpe nciirn 1 i c h h e u t 1 ! K : Ja! ( g e h t ) 1.3.
Standardsituation 4
"Ich schicke jemand einkaufen. Ich gebe ihm einen Zettel, auf diesem stehen die Zeichen: ' f ü n f rote Ä p f e l 1 . Er trägt den Zettel zum K a u f m a n n ; der Ö f f n e t die Lade, auf welcher das Zeichen ' A p f e l ' stent; dann sucht er in einer Tabelle das Wort ' r o t ' auf und findet ihm gegenüber ein Farbmuster; nun sagt er die Reihe der Grundzahlwörter - ich nehme an, er weiß sie auswendig bis zu dem Wort " f ü n f und bei jedem Zahlwort nimmt er einen Apfel aus der Lade, der die Farbe des Musters h a t . . . . Was ist aber die Bedeutung des Wortes " f ü n f ? - Von einer solchen war hier gar nicht die Rede; nur davon, wie das Wort " f ü n f gebraucht w i r d . " (Wittgenstein 1 9 6 9 : 290) 2. Im folgenden Abschnitt sollen einige Thesen in bezug auf Begriff und Funktion der Standardsituation anhand der vorangestellten Beschreibungen kurz illustriert werden. 2.1. Die beschriebenen Situationen 1 - 3 , die ich 'Standardsituationen' nenne, sind insofern wiederholbar, als die Erwartungen in bezug auf die Erwartungen (Normen) der mittelbar und unmittelbar Beteiligten von stets gleichen Relationen einiger Situationselemente abhängen. Beim Vergleich von Situation l und l 1 zeigt sich, daß das f ü n f j ä h r i g e Mädchen folgende Normen verletzt: (a) "Da muß man hier so abbiegen." Das Kind erwartet, daß der Ortsfremde sich nach den Zeichen seiner Finger orientiert. An der Beschreibung des 9-jährigen Jungen ist jedoch zu erkennen, daß in der betreffenden Standardsituation außersprachliche Deixis nur erwartet wird, wenn das betreffende Gelände vom Standort beider Kommunizierenden einzusehen ist ("Da müssen Sie jetzt hier der Berg hoch und dann rechts abbiegen.") (b)
"Wollen Sie zur ersten Klasse, oder wohin wollen Sie?" In der betreffenden Standardsituation werden nur Rückfragen des Erklärenden erwartet, durch die Vorkenntnisse oder ähnliche Voraussetzungen für das Verständnis der Erklärung erfragt werden. Das 5-jährige Mädchen kennt zwar die Norm in bezug auf das eingeschränkte Rückfragerecht. Aber es erfüllt diese Norm, ohne gleichzeitig eine Intention zu verwirkliehen. FLAVELL et al. (1975: 207 ff) haben gezeigt, daß die Fähigkeit, sich in die Rolle des Kommunikationspartners zu versetzen ("Rollenübernahme"), bei 5-jährigen Kindern schon in mehreren Testsituationen zu beobachten war. Für unseren Zusammenhang ist vor allem interessant, daß die betreffenden Erwartungserwartungen nicht einfach erfüllt, sondern intentionsgerecht berücksichtigt wurden. Die von FLAVELL untersuchten Kinder, die durchaus
200
in der Lage waren, dem gegenübersitzenden Erwachsenen ein Bild "verkehrt" zu zeigen, haben eine entsprechende Erwartung nicht erfüllt, wenn sie schon voraussetzen konnten, daß der Erwachsene das Bild bereits kennt. Auch das Kind in Standardsituation l ' ist zur "Rollenübernahme" bereits fähig ("Wollen Sie zur ersten Klasse, oder wohin wollen Sie?"), aber die besonderen Normen für die "Rollenübernahme" beim Erklären des Weges sind noch nicht geläufig, weil die Grammatik der Standardsituation 'Ein Fremder erkundigt sich nach dem Weg 1 noch nicht erlernt ist. 2.1.1. 'Wiederholbarkeit von Situationen 1 besagt in unserem Zusammenhang nicht, daß bestimmte Sprecher immer wieder diesel4 ben Regeln befolgen und daher gleiche Äußerungen hervorbringen , sondern daß unterschiedliche Äußerungen erkennen lassen, inwiefern immer wieder die gleichen Normen Berücksichtigung finden. Vor allem im Bereich des berufssprachlichen Unterrichts werden häufig Regeln und Vorschriften über den "richtigen" Sprachgebrauch in Verkaufsgespräch, Schulunterricht, Kellnersprache usw. gelehrt, weil man stillschweigend annimmt, Kommunikationssituationen des Berufslebens wiederholten sich, indem immer wieder gleiche Äußerungen formuliert würden. Jedoch zeigen selbst die Analysen des ersten Satzes bei der Bestellung im Speiselokal, daß nur die Relationen der Situationselemente gleich sind, nicht aber die Oberflächenstrukturen der geäußerten Sätze. 2.1.2. Die Eigenschaften der Elemente bzw. Teilsysteme einer Situation sind nicht zu verwechseln mit den Element-Relationen. Sprecher, Hörer, zu benutzende Gegenstände, mittelbar Beteiligte usw. können in einer Standardsituation Eigenschaften annehmen, die sich von den Eigenschaften der entsprechenden Situationselemente in der gleichen (nicht derselben) Standardsituation unterscheiden. Trotzdem sind in Standardsituationen diejenigen Relationen zwischen den Elementen gleich, von denen die Struktur der Äußerungen bestimmt wird. Standardsituation l verdeutlicht z. B . , daß die Eigenschaften des Fragenden bzw. des Auskunft Erteilenden für die Wiederholbarkeit der Standardsituation solange nicht von Bedeutung sind, wie sie nicht die Relationen zwischen den Situationselementen modifizieren. Wenn allerdings der Fragende in Situation l blind ist, so ist sein Verhältnis zum Gelände im Gegensatz zur beschriebenen Standardsituation neu zu bestimmen; oder wenn vor kurzem in der Umgebung des Kindes eine Entführung stattgefunden hat, so beeinträchtigt evtl. die Angst vor Entführern das Verhältnis zwischen dem Fragenden und dem Kind. 2 . 2 . Einer Äußerung kommt nur dadurch Bedeutung zu, daß das iMeinen in einer Beziehung zum "Horizont" steht.
201
Im Zusammenhang mit der Abhängigkeit von Bedeutung und "Horizont" wird vor allem auch die Situation des Grammatikers problematisch. Wenn es z u t r i f f t , daß Situation immer schon da ist und daß wir niemals außerhalb von Situation stehen (vgl. Gadamer I960, S. 2 8 5 ) , so steht auch der Grammatiker nicht außerhalb von Situation und muß kontrollierbare Verfahren der Annäherung von Beschreibungssituation und Situation des Beschreibenden entwickeln. Die teilnehmende Beobachtung ist zwar ein besonders kompliziertes Verfahren; aber es ist im Gegensatz zu Fragebogen, Interview, Beobachtung mit Hilfe von Strichlisten usw. dafür geeignet, den Abstand zwischen Eeschreibungssituation und Situation des Beschreibenden näher zu bestimmen. Die vorliegenden Situationsbeschreibungen dienen zunächst nur als Beispiele für die Demonstration einiger Normen. Eine Prüfung der Zuverlässigkeit und Gültigkeit unserer Beobachtungen wurde bisher nicht durchgeführt. 2.3. Die Konstitution von Bedeutung wird durch den intentionalen Akt des Meinens ermöglicht. Im Gegensatz zur sprachanalyal} 12 tischen These von der Unhintergehbarkeit der Alltagssprache ist davon auszugehen, daß Sprecher in Standardsituationen entsprechend ihren Intentionen bestimmte Normen bewußt oder unbewußt erfüllen und/oder andere Normen durchbrechen. Wenn die Bedeutung der ersten Äußerung in Standardsituation 2 durch ihren Gebrauch geregelt wäre, müßte für den Begrüßungsakt im bürgerlichen Eßlokal die Regel gelten: Der eintretende Gast muß eine Grußformel äußern, die nicht als Begrüßung der übrigen Gäste zu verstehen ist. Dabei wird deutlich, daß Wittgensteins Beispiel mit unserer These 2 . 2 . übereinstimmt. Denn die Bedeutung von ' f ü n f ist insofern durch den Gebrauch geregelt, als - entsprechend dem von Autor und Rezipient geprägten "Horizont" - ein Abzählen von Äpfeln in der Zahlenfolge von eins bis fünf gemeint ist. Vorstellbar wäre jedoch, daß jemand beim Verfassen eines Einkaufszettels neuartige Intentionen verfolgt. Nehmen wir an, ein Kunde, der zugleich mit dem Händler persönlich bekannt ist, bestellt fünf Elefanten, um den Adressaten wegen gewisser Prahlereien am Stammtisch zu verspotten. Der Verfasser hätte auf diese Weise durch eine ironische Anspielung die Alltagssprache "hintergangen". Die kreative Äußerung läßt besonders deutlich erkennen, daß aufgrund eines intentionalen Aktes entgegen dem Gebrauch der Bedeutung ' f ü n f im Bestellzettel 1 spöttisch ein Ding der Unmöglichkeit verlangt wird. Während in Wittgensteins Beispiel der Besteller erwartet hat, daß der Händler erwartet, ' f ü n f sei im Bestellungstext so zu verstehen, daß er einen lieferbaren Artikel nach dem anderen abzählen kann, wird im Beispiel mit den 5 Elefanten eine Erwartungserwartung (Norm) durchbrochen. Nimmt man mit Humboldt an, die Zahl möglicher Normdurchbrechungen sei unendlich , so ist Wittgensteins These von der Unhintergehbarkeit der Alltagssprache zu widersprechen. Die für unseren Zusammenhang beschriebenen Standardsituationen 2 und 3 zeigen weiterhin, daß Menschen verschiedener Gesellschaftsschichten, ohne dabei kreativ zu sein, mit Normdurchbre-
202
chungen die Alltagssprache hintergehen können. Standardsituation 2 laßt erkennen, daß im bürgerlichen Eßlokal die Norm gilt: 'Man muß auf mehreren Ebenen kommunizieren 1 ; d . h . man muß einerseits bestimmte Normen beim Bestellen beachten, während für das persönliche Gespräch mit Bekannten, die evtl. am seihen Tisch sitzen, andere Normen gelten und schließlich für das Gespräch mit weiteren Gästen, die man nicht persönlich k e n n t , wie derum ein neuer Komplex von Normen zu berücksichtigen ist. Stan dardsituation 3 zeigt, daß in bestimmten Lokalen nicht erwartet wird, daß Kommunikation auf verscniedenen Ebenen erwartet w i r d . Wenn nun ein Gast.cder n u r m it Situationen wie Standardsituation 3 vertraut ist , beim Betreten eines büraerlichen ESlokals einen der schon anwesenden Gäste zur Rede stellen würde, warum er den Gruß des Eintretenden nicht erv/idere, so wäre wiederum ein Hintergehen von Alltagssprache zu erkennen, weil deutlich würde, daß der Gebrauch der Grußformel seine Bedeutung nicht vollständig bestimmt hätte. 2.4. In Prozessen des primären Spracherwerbs wird die E r f ü l l u n g von Erwartungserwartungen und Erwarten von Erwartungen erlernt, ohne daß auf einer Metaebene die betreffenden Normen problematisiert würden. Rhode et al . 1973 haben die Situation 'Ein Fremder erkundigt sich nach dem Weg 1 nicht als Standardsituation für die grammatische Beschreibung der Sprache a u f g e f a ß t , sondern als Kommunikationssituation, in der man Daten über die Performanz verschiedener Sprecher sammeln kann. Die nicht-intentionsgerechten Normdurchbrechungen in Situation l 1 sind jedoch m. E. nicht im Bereicn der Performanzforschung zu erklären. Stattdessen zeigt der Vergleich mit Standardsituation l, daß beim primären Spracherwerb die Berücksichtigung von Normen erlernt wird und daß zunächst die E r f ü l l u n g dieser Normen eine entscheidende Rolle spielt. 2.5.
In Prozessen des sekundären Spracherwerbs v/erden z. Zt.
hauptsächlich Sanktionen gegen die Durchbrechungen von Normen verhängt und gleichzeitig auf einer Metaebene die Gültigkeit von Normen verdeutlicht. Stattdessen sind therapeutische Innovationen des Selbstverständlichen mit einer Selbstkritik in bezug auf die erworbene Grammatik zu verbinden.
Anmerkungen 1
Vgl. HERRMANN ( 1 9 7 5 ) und HERRMANN ( 1 9 7 6 a ) l
2
Eine pragmalinguistische Beschreibung dieser Situation bereits von EHLICH et al. (1972) versucht worden.
3
Zur Anwendung der systemtheoretischen Normdefinition Luh-
ist
203
4
5
6
manns vgl. SANDIG ( 1 9 7 4 ) , GLOY (1975) und HERRMANN ( 1 9 7 6 ) ! Mit H i l f e des Begriffes 'Standardsituation' wird über bisherige Ansätze der Pragmalinguistik insofern hinauszugelangen versucht, als nicht Regeln für den Vollzug von Sprechakten beschrieben werden, die in Situationen der SprachVerwendung mehr oder weniger gültig sind, sondern Situationen beschrieben werden, aus denen unmittelbar Normen (nicht Regeln) für den erwarteten Sprachgebrauch abgeleitet werden. In diesem Zusammenhang ist die von Linguisten z . Z t . kaum beachtete Literatur zur Rhetorik des Kaufmanns zu erwähnen, deren Empfehlungen als Hinweis auf Erwartungserwartungen für die grammatische Beschreibung bestimmter Standardsituationen des Verkaufsgesprächs zu nutzen sind. Zur Standardsituation 'Verkaufsgespräch vor dem Ladentisch 1 vgl. SCHATTE (1952: 26 f f ) ; MÄMECKE (1957: 68 f f ) ; GRECK (195O: 19 f f ) ; GERATHEWOHL (1951: 75 f f ) ! Zum Verkaufsgespräch von Vertretern vgl. SIMMONS (1957: 52 f f ) ; LETERMAN (1965: 11 f f ) ! Jedes der angeführten Bücher enthält z. B. andere Formulierungen für die erste Anrede des Kunden. Trotzdem werden die Relationen zwischen den Situationselementen übereinstimmend beschrieben und auch die gleichen Normen berücksichtigt. Im Zusammenhang der Beschreibung von Standardsituationen wird nicht angenommen, daß es Tiefenstrukturen von Texten gibt (vgl. dazu Brinkers Kritik am Aufbau einer "Kompetenz-Grammatik des Textes"! BRINKER (1973: 22 f f ) ) ,
7
Der Begriff wurde im Anschluß an die philosophische Hermeneutik gewählt (vgl. Gadamer 1960: 261 f f ) . Über den Zusammenhang von "Horizont" und "Reduktion von Komplexität" (LUHMANN 1972: 31 ff) vgl. HERRMANN ( 1 9 7 6 , Kapitel I I I ) !
8
SPITTELER ( 1 9 6 7 ) hat einen ersten Versuch der Beschreibung sprachlicner Normen in Hotelküchen mit H i l f e der teilnehmenden Beobachtung unternommen.
9
Die Beobachtung mit Hilfe von Strichlisten ist im Anschluß an FLANDERS (1971) vor allem im Bereich der Unterrichtsforschung üblich geworden. BERGER ( 1 9 7 4 ) vertritt die These, "daß die Bevorzugung weitgehend standardisierter Datenermittlung in der Sozialforschung zur Reduktion ihres Objektivitätsanspruchs f ü h r t . Sie schränkt einerseits den zugänglichen Bereich gesellschaftlicher Wirklichkeit und den Grad ihrer differenzierten Erfaßbarkeit erheblich ein, andererseits befördert sie eine umdeutende Selektion von Beobachtungsergebnissen vorzüglich in Richtung solcher Verhaltens- und Denkweisen der Untersuchten, die den herrschenden Normen und Ideologien einer Klassengesellschaft konform sind." (31) Für die grammatische Beschreibung von Standardsituationen kann die standardisierte Datenermittlung durch Fragebogen, Interview und Experiment nur als zusätzliche Information für die Überprüfung der Gültigkeit unserer Beobachtungen verwendet werden. Vgl. GRllMER (1974: 54 f f ) ! Vgl. GRÜMER (1974: 5 5 ) ; "Wir sind mit Mayntz der Meinung, daß die Validitäts- und Zuverlässigkeitskontrolle in einem
10
204
11
strengen Sinne nur in strukturierten Beobachtungen unter experimentellen Bedingungen möglich ist, glauben aber, daß sie auch in allen anderen Beobachtungsverfahren der empirischen Sozialforschung unbedingt beachtet werden und Anstrengungen zu einer Lösung unternommen werden sollten." Vgl. auch FRIEDRICHS et al. (1973: 153 f f ) ! TUGENDHAT (197O: 5) kritisiert aus der Sicht der sprachanalytischen Philosophie, daß nach Ansicht der phänomenologischen Sprachtheorie "das Phänomen des Bewußtseins die Intentionalität ist, das meinende Gerichtet-Sein auf einen Gegenstand."
12
Vgl. die Belege für Wittgensteins Kritik der sogenannten "Gegentheorie" bei SAVIGNY (1974: 15 f f ) !
13
Es ist nicht beabsichtigt, an dieser Stelle ein grundlegendes Kriterium für die Beurteilung kreativer Äußerungen zu formulieren. Vgl. KNOOP ( 1 9 7 3 ) 1 In bezug auf den Zusammenhang von Situationsgrammatik und sozialer Schicht wurde bisher fast nur die Sozialisation durch die Familie berücksichtigt (vgl. Hager et al. 1971: 231 f f ) , während beispielsweise zum sprachlichen Lernen in Banden und Berufsgruppen zur Zeit noch keine linguistischen Untersuchungen vorliegen. Vgl. erste Ansätze zum Begriff der "sozialen Topik" bei QUASTHOFF (1973: 64 f f ) ; zur Theorie des abweichenden Verhaltens vgl. KECKEISEN (1974: 37 ff) über das sogenannte "interaktionistische Karriere-Modell"!)
14 15
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SYNTAKTO-SEMANTISCHE UND PRAGMATISCHE ASPEKTE LEG SPHLCHVERHALTENG BEI SCHIZOPHRENEN PKG3ANDEN Susanne Schmidt-Knaebel
Es gibt eine Fülle von L i t e r a t u r zur k o g n i t i v e n und Sprechp e r f c r m a n z schizophrener Probanden. Bei der L e k t ü r e vor allem der neueren l e r n t h e o r e t i c c h e n A r b e i t e n f i e l r.ir a u f , daß die Ergebnisse der schizophrenen Versuche/Gruppen h ä u f i g als stark u n e i n h e i t l i c h , z . T . ai s widersprüchlich c h a r a k t e r i s i e r t werden, ohne daß die meines Erachtens grundlegende A o o r i e , mit der sich diese Art von Untersuchungen k o n f r o n t i e r t sieht, er2 kann t und p r o b l e m a t i s i e r t würde. 1 " In diesen". Zusammenhang erscheint das Experiment von J . L . HARRIS (195 ) w i c h t i g , der mit H i l f e eines Perzeptionstests v e r s u c h t e , eine /.-roße Gruppe von 100 Schizophrenen nach leichten, mittleren und schweren Krankheitsgraden zu subklassifizieren. Der Versuch mißlang, aber er ist erwähnenswert, weil sich hier - meines Wissens zum ersten und einzigen Kai seit BLEULER - das Bestreben erkennen läßt, die Differenzierung des bislang recht globalen Schizophreniebegriffs mit experimentellen Mitteln weiter voranzutreiben. Ich möchte zunächst kurz auf eine kommunikationstheoretische Hypothese zur Entstehung schizophrener Störungen eingehen, die sich bereits im V o r f e l d linguistischer Betrachtung befindet: JACKSONs und BATESONs double-bind-Theorie. Ihr liegt die Vorstellung zugrunde, daß menschliche Kommunikation auf zwei Ebenen v e r l ä u f t , der verbalen und einer non-verbalen. Die Informationen, die auf digitalem Wege vom Sprecher zum Hörer übermittelt werden, können den mit analogen Kitteln gegebenen Informationen widersprechen. Tritt diese Art von widersprüchlicher Kommunikation in einer Beziehung auf, in der einer der beiden Partner vom anderen abhängig ist - und das ist in der Mutter-Kind-Dyade in besonders starkem Maße der Fall -, dann kann sich für das Kir.d eine permanente lebensbedrohliche Konfliktsituation ergeben: Es wird in einer solchen Konstellation praktisch für jede Eigenaktivität bestraft
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und muß deshalb versuchen, dieser Notlage durch die mehr oder minder vollständige Aufgabe seines verbalen und non-verbalen Handelns zu entkommen. J. HALEY hat auf der Basis dieser Hypothese das Sprechverhalten Schizophrener untersucht und es als konsequente Reaktion auf eine Sozialisationsproblematik des skizzierten Typs beschrieben. Er zerlegt die aktuelle Dialogsituation in vier Kinimalelemente: 1. Ich 2. sage etwas 3. zu dir ^. in dieser tj Situation. In der Angst vor den gewohnten Sanktionen versucht der Schizophrene, sein Sprechhandeln so einzurichten, daß er jede gegebene Information selbst sofort wieder zurücknimmt, um nicht darauf festgelegt und dafür bestraft werden zu können. Diesen Zweck kann er, so HALEY, dadurch erreichen, daß er mindestens eins der oben genannten vier Dialogelemente leugnet. Eine bekannte Strategie zur Leugnung des Ich ( =Dialogelement 1) ist die schizophrene Aussage vom Typ: 'In mir sitzt ein anderer, der hat das gesagt'. In HALEYs Beispiel versucht einer der beiden schizophrenen Sprecher, sich dem Gespräch zu entziehen, indem er die Situation ( =Dialogelement 4) leugnet und das Krankenhaus als Flugplatz bezeichnet; auf diese Weise identifiziert er sich selbst und seinen Gesprächspartner mit Maschinen und deutet mit diesem metaphorischen Ausdruck an, daß Verständigung zwischen ihnen nicht möglich oder nicht erwünscht sei. Hier wird zugleich der Kern des schizophrenen Kommunikationsparadox erkennbar, die Grundaussage: 'Ich kommuniziere n i c h t ' , von der WATZLAWICK sagt, daß sie sinnlos sei. HALEYs Beobachtung, daß schizophrene Sprecher bereits gegebene Informationen wieder zurücknehmen, ergänzt die Ergebnisse einer ganzen Reihe von anderen Arbeiten verschiedenster Provenienz, die ebenfalls den pathologischen Mangel an Information bei schizophrenem Sprechen ins Zentrum der Betrachtung stellen. Die Schulpsychiatrie bietet für diesen Zusammenhang zwei verschiedene Begriffe an: Von der erwähnten Zurücknahme des Gesagten, dem "schizophrenen Zurücknehmen", unterscheidet man das "schizophrene Vorbeireden". Ich glaube nun, daß bei
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HALEY und auch sonst in der psychiatrischen und linguistischen Literatur der Unterschied zwischen diesen beiden verbalen Verhaltensweisen des Schizophrenen zu wenifj beachtet wird. In den1. Bestreben, den Begriff "Schizophrenie" zu d i f f e r e n z i e r e n , schlage ich deshalb vor, von der Beobachtung dieser beiden Arten des Sprechverhaltens ausgehend, zunächst einmal zwei verschiedene Typen von schizophrenen Patienten zu unterscheiden: Typ I spricht viel und hastig, er erweckt den Eindruck, als ob er das eigentlich Gerneinte mit wortreichen Tiraden zuzudecken bestrebt sei. Dabei verwendet er eine ganze Reihe von sprachlichen Kitteln, die ihm dazu dienen, jede gegebene Information kurz- oder langfristig wieder zurückzunehmen. Sein Sprechverhalten ist gekennzeichnet durch die oft beobachteten Manierismen, reiche Ketaphorik und das Phänomen der sog. "Paralogik". Unbehandelt und im Extremfall kann dieses Sprechen - über zunächst vereinzelte Neologismen - zu einer vollständigen Privatsprache des Patienten degenerieren; diese Erscheinung ist der Psychiatrie als "Zungenreden", bzw. "Glossolalie" gut bekannt. Typ II zeigt demgegenüber wenig Neigung zum Verbalisieren. Sein Sprechen läßt sich als eher lethargisch, zäh und stockend beschreiben. Diese Sprechstrategie würde ich als "marginal" oder "aussparend" bezeichnen, weil der eigentliche Kern der Aussage mit digitalen Mitteln gewöhnlich keinen Ausdruck findet. Hierher gehören die ebenfalls hinlänglich bekannten magischen Formalismen mancher Schizophrenen (z.B. Zahlen-, Namenoder Buchstabensymbolik) und der oft beobachtete Hang zu stereotypen Wiederholungen. Unbehandelt und im Extremfall wiederum entwickelt sich dieses Krankheitsbild über immer länger werdende Schweigeperioden zum totalen Mutismus. Wenn ich die zwei Typen von verbalem Verhalten, die ich bei schizophrenen Probanden unterscheide, als "Sprechstrategien" bezeichne, muß ich mit Widerspruch rechnen, weil die Frage, ob und inwieweit Schizophrene bewußt handeln können, keineswegs geklärt und - "vor allem in der Tradition der psychoanalytischen
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Psychosentheorie - b e r e i t s weitgehend zugunsten des "Unbewußt" beantwortet worden ist. Legt man jeiloch eine Definition wie die von R . D . LAING zugrunde, wonach das "Unbewußte" das ist, was wir uns selbst und/oder unserem Gesprächspartner nicht mittei7 len, dann erweist es sich als ungenau, schizophrenes Sprechen einfach als "möglichst informationsarm" zu beschreiben. Meine These ist, daß der Schizophrene sehr wohl in der Lage sein kann, auf die j e w e i l s a k t u e l l e D i a l o g s i t u a t i o n mit ihrer Fülle von möglichen N u a n c e n angemessen zu reagieren. Je nachdem, zu welchem der beiden Sprechtypen er gehört, wird er unter günstigen Bedingungen entweder ruhiger und unnietaphorischer (= Typ I) oder mehr und themeribezogener (= Typ II) sprechen als unter Bedingungen, die seine Angst erhöhen. Die Psychologie des schizophrenen Patienten wird uns beschrieben als ein Z u s t a n d intensiven und permanenten Schuldgefühls und eines d a r a u s folgenden konstant erhöhten Angstniveaus. Der Schizophrene - so möchte ich diese Grundbefindlichkeit mit Termini der Pragmalinguistik formulieren - fühlt sich ständig als A n g e k l a g t e r , und ich sehe deshalb kein Hindernis, sein Sprechhandeln als ein Oszillieren zwischen den Sprechakten des Leugnens und des Gestehens zu bezeichnen. Er gibt nicht einfach "wenig", sondern nach Überprüfung der Situation entweder bewußt keine oder wohldosierte verbale Informationen. Seine Tragik und seine Chance dabei ist, daß er nur den digitalen Teil der von ihm gemachten Mitteilungen wirklich kontrollieren kann. Jede Psychotherapie muß, so meine ich, an Q diesem Punkt ansetzen. 1 Ich möchte nun auf die eingangs erwähnte Schwierigkeit der Psychiatrie zurückkommen, die verschiedenen Erscheinungsformen schizophrener Störungen zu einer experimentell fundierten Skala der Krankheitsgrade in ein System zu setzen. Ich glaube, daß das Studium des Sprechverhaltens bei Schizophrenen eine solche Klassifizierung nach Schweregraden nicht nur grundsätzlich ermöglicht, sondern auch im Einzelfall wichtige Indizien für die Einordnung eines Patienten in dieses noch zu erstellende System zu liefern vermag. Ich skizziere im folgenden einen solchen
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Versuch, wobei ich die Terminologie BLEULEHs aus Gründen der Verständlichkeit beibehalte, obwohl ich mir darüber klar bin, daß die bekannten psychiatrischen Begriffe teilweise eine erhebliche Unideutung erfahren. I n d e r H e b c p h r e n i e , besonders i n ihren ersten, leichteren Stadien, sind die geleugneten Inhalte noch am deutlichsten faßbar und (Teil-)Geständnisse des Patienten dementsprechend noch am ehesten zu erwarten. V: a s hier geleugnet v.'ird, sind vor allem die G e f ü h l e des Patienten, und zv.'ar in individueller Selektion. Es ergeben sich dadurch zwei Varianten: Patienten, die Tendenz zeigen, ihre negativen Gefühle zu leugnen, die also besondere Schwierigkeiten haben, Haß, Verzweiflung, Enttäuschung zu erleben und zu verbalisieren, v/erden als "manisch" bezeichnet; ihre Grundaussage läßt sich mit 'Mir geht es immer prima 1 auf die Formel bringen. Demgegenüber gelten Patienten, die dazu neigen, ihre positiven Gefühle (Freude, Sympathie, Hoffnung usw.) zu leugnen und die ständig zu sagen scheinen: 'Mir gelingt ja doch nie etwas 1 , als"depressiv". Die Nähe der Grenze zum phasischen Psychosentyp (manisch-depressive Erkrankung) einerseits und zu den neurotischen Zuständen andererseits ist hier noch deutlich erkennbar. In fortgeschrittenem Stadium tritt bei hebephrenen Patienten ein Symptom auf, das als "gestörter Affekt" bezeichnet wird. Es gilt dem Psychiater als ein wichtiges Charakteristikum dieser Form der Schizophrenie und wird gewöhnlich als "unangemessener Ausdruck von Gefühlen" beschrieben. Im Rahmen der double-bindHypothese stellt sich dieses Verhalten dagegen als mehr oder minder krasser Widerspruch zwischen den verbalen und den nonverbalen Gefühlsäußerungen des Patienten dar. Ein solcher Fall liegt vor, wenn z.B. ein Patient Ihnen präzise berichtet, wie ihn gestern sein Vater ermordet habe, wobei er Ihnen gleichzeitig durch Mimik, Gestik und Tonfall anzuzeigen versucht, daß er übe-r diesen Vorfall sehr amüsiert sei und von Ihnen eine entsprechende Reaktion erwarte. Das etwas befremdende, hilflos wirkende Lachen des Patienten, das solche Szenen begleiten kann, hat als "hebephrenes Lachen" Eingang in die psychiatrische Literatur gefunden.
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Die Abweichung im Sprachgebrauch, die mit der hebephrenen Störung einhergeht, erweist sich für den Linguisten als zunächst mit semantischen Mitteln beschreibbar: Es handelt sich um eine Unsicherheit im Gebrauch eines bestimmten, eng umschriebenen Feldes von Bedeutungen, der sog. "Affektwörter". Diese Unsicherheit findet ihren Ausdruck darin, daß extreme lexikalische Gegensätze aus diesem Bereich miteinander verwechselt, d.h. semantische Oppositionen nicht ausreichend als solche erkannt und behandelt werden. Einander widersprechende Aussagen werden so kurz hintereinander "gesendet", daß im Hörer der Eindruck entsteht, sie sollten einander gegenseitig aufheben. Der hebephrene Schizophrene sagt seinem Gesprächspartner entweder gleichzeitig auf verschiedenen Informationskanälen oder in unmittelbarem verbalem Nacheinander: 'Ich lache 1 und 'Ich weine'; es ist deutlich, daß dieses Verhalten eine Form der erwähnten Informationszurücknahme darstellt. Die P a r a n o i a (der "Verfolgungswahn") ist ein Stadium der Schizophrenie, in dem die ursprünglich geleugneten Inhalte ganz hinter dem L e i d e n des Patienten zurücktreten. Von der Hebephrenie aus gesehen, bedeutet es meiner Ansicht nach einen entscheidenden Schritt in Richtung auf die Verschlechterung des Krankheitsbildes. Hier können Gefühle überhaupt nicht mehr erlebt und verbalisiert werden, so daß eine gefährliche Lücke entsteht, in die die A n g s t als das große "Anti-Gefühl" einströmen kann. FREUD in seinem Aufsatz "Über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia" ^ hat anhand des Tagebuchs von Daniel Paul SCHREBER das Sprechen dieser Patienten mit ihren latenten oder manifesten homosexuellen Neigungen in Zusammenhang und auf eine heute noch gültige Formel gebracht; statt: 'Ich liebe ihn' sagt der Paranoiker: 'Er verfolgt mich'. Linguistisch betrachtet ist klar, daß hier nicht mehr nur eine semantische Störung vorliegt, sondern daß jetzt auch syntaktische Kategorien benötigt werden, um dieses Sprechverhalten zu beschreiben. Das wichtigste syntaktische Charakteristikum paranoischen Sprechens ist dabei die wachsende Verunsicherung in der Unterscheidung und im Gebrauch von Aktiv und Passiv.
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Diese Schwäche kann sich im syntaktischen Bereich als Vertauschung der ersten und zweiten Aktanten um das finite Verb herum manifestieren; aber auch der Umgang mit den semantischen Mitteln zum Ausdruck von Aktiv und Passiv unterliegt zunehmendem Verfall, wobei eine Tendenz zu passivischen Ausdrucksformen unverkennbar ist. In einem zweiten, schwereren Stadium der Paranoia kann das dazu führen, daß einzelne Elemente aktivischen Ausdrucks - wie z.B. die zweiten Aktanten - immer mehr aus der Sprache des Patienten schwinden. So degeneriert das Gefühl, von einem Menschen verfolgt zu werden, schließlich zu der vagen Vorstellung, von einer Maschine ferngesteuert und selbst ein Roboter zu sein. 10 Hier spiegelt die Sprache die zunehmende Vereinsamung des psychotischen Menschen, der am Ende der paranoischen Regression dazu neigt, kompensierend in den sog. "Größenwahn" zu verfallen und aktantenlos zu sagen: 'Ich bin Gott 1 . In der K a t a t o n i e , dem letzten und schwersten Stadium der Schizophrenie, wird schließlich auch die Angst unterdrückt zugunsten einer A r t v o n T e i l n a h m s l o s i g k e i t , die auch als "schizophrener Autismus" bezeichnet wird, und die den Psychiater bei jeder Form von Therapie vor große Probleme stellt. Diese Form des Verhaltens wird häufig mit dem schizophrenen Mutismus gleichgesetzt oder doch in seine unmittelbare Nähe gebracht. Das ist meiner Ansicht nach nicht haltbar, und ich möchte deshalb am Schluß noch einmal auf die vorgeschlagene Unterscheidung der zwei Sprechtypen bei Schizophrenen zurückkommen: Schweigen kann zweifellos eine autistische Form der Kommunikationsverweigerung sein; es ist das letzte und stärkste Mittel des wortkargen Katatonen vom Typ II. Daneben gibt es aber eine Art zu reden, die den Gesprächspartner ebenso wirkungsvoll zurückweist. Von dieser Art ist das Sprechen des wortgewandten Katatonen vom Typ I. Er hält sein Gegenüber mit Hilfe von Worten auf Distanz, und zwar tritt jetzt ein sprachliches Symptom auf, das sich mit syntaktischen und semantischen Kategorien nicht ausreichend beschreiben läßt, sondern mit Begriffen der
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linguistischen Pragmatik beschrieben werden muß: die sog. "Paralogik" des wortreichen Katatonen. Ein Beispiel dafür ist die Antwort einer Patientin, die ich zu einem Ausflug im Auto mitnehmen wollte und die diesen Vorschlag mit dem Argument zurückwies: 'Sie wissen doch, daß ich sowas nicht machen kann, weil ich doch früher kochen konnte.' 11 Je angsterregender eine Situation für diesen Typ von Patienten ist, desto hastiger und beredter wird er versuchen, sein Denken und Handeln, d.h. seine meist negativen Entscheidungen zu rechtfertigen; treibt der Gesprächspartner ihn durch ungeschicktes Verhalten zusätzlich in die Enge, so wird der Patient den Bezug zur Realität zunehmend und unter Umständen vollständig verlieren, so, daß er wahllos Argumente häuft, die wir, wenn wir sie aufeinander und auf den ursprünglich diskutierten Sachverhalt beziehen, als abweichend einordnen müssen. Schizophrene Wahnvorstellungen, so meine ich, sind ein solcher mißglückter Versuch zu argumentieren. Sie erscheinen in einem ersten Stadium der Katatonie noch vereinzelt, um dann, wenn die schizophrene Regression weiter fortschreitet, zu einem paralogischen System ("Wahnsystem") zusammenzuwachsen. Am Ende mündet diese pathologische Entwicklung in die bereits erwähnte Privatsprache, die mit der Muttersprache des Patienten unter Umständen nur noch die Matrix der Phoneme gemeinsam hat. *·)
Ich bin der Überzeugung, daß die Psychotherapie der Psychosen eine dringende - wenn auch bislang noch nicht allerorts anerkannte - Notwendigkeit ist und daß das G e s p r ä c h im therapeutischen Umgang mit schizophrenen Menschen eine zentrale Rolle spielen sollte. Die Möglichkeiten, die ich hier sehe, werden jedoch meines Erachten« heute noch nicht ausreichend genutzt, weil es in diesem Bereich kaum interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Psychiatern, Psychologen und Linguisten gibt. Dieser Beitrag sollte die wichtigsten Grenzübergänge im Sprechverhalten der Schizophrenen markieren und zeigen, daß es bei gemeinsamem Bemühen möglich sein müßte, den genauen Sprachstatus eines zu explorierenden Patienten zu erheben und für die psychiatrische Diagnose nutzbar zu machen.
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Anmerkungen 1
Die schulpsychiatrische Einteilung der sog. "Geisteskrankheiten" in phasische und Prozeßpsychosen stammt von KRAEPELIN (1883), die Charakterisierung der früher so genannten "Dementia praecox" als "Schizophrenie" und ihre Unterteilung in einen Formenkreis von mindestens drei Varianten (Hebephrenie, Paranoia und Katatonie) geht auf BLEULERs Darstellung (1911) zurück: phasische Psychosen Prozeßpsychosen (Schizophrenien) manisch-depressive -^ \_ ^"~^^ Erkrankung (MDE) Hebephrenie Paranoia Katatonie 2 Als einige Beispiele für viele nenne ich drei amerikanische Dissertationen, deren Ergebnisse z.T. bereits sanktionierte und vielgebrauchte Subklassifizierungen wie die nach Good premorbid vs. Poor premorbid patients oder "Prozeß- vs. reaktive Schizophrenie" wieder in Frage stellen: FOLEY (1967X BRUNELL (1970) und WATSON (1970). Die folgenden beiden, ebenfalls US-amerikanischen Arbeiten setzen sich über die bloße Konstatierung hinaus mit den theoretischen und methodologischen Konsequenzen des genannten Problems auseinander: SACKS (1967) und TRUE III.(1962). 3 In diesem Zusammenhang wäre auch die Dissertation von WEBB (1968) zu nennen; hier wird im Rahmen der Aufmerksamkeitsforschung der Versuch gemacht, neurotische und psychotische Kognitionsstile zu unterscheiden. Dabei ließ sich mit experimentellen Mitteln außer der genannten Unterscheidung auch eine Differenzierung zwischen paranoischem und nichtparanoischem kognitivem Stil nachweisen. Die vor allem in der US-amerikanischen Literatur mit Hilfe der Subklassifizierung in Paranoid vs. Non paranoid schizophrenics gewonnenen Ergebnisse würde ich in jedem Falle übernehmen, wobei ich diese Unterteilung in die Nähe der westeuropäischen Begriff s-Dichotomie "akuter vs. chronischer Fall" ebenso wie meiner eigenen im folgenden zu entwickelnden Skala zwischen "leichten" und "schweren Fällen" bringen würde. k BATESON, G. / JACKSON, D.D. (1969). In: BATESON/JACKSON ( e d s . ) : 11-42. 5 HALEY, J. (1969). In: BATESON/JACKSON ( e d s . ) : 81-105. - Vgl. auch WATZLAWICK et al. (1972). 6 Eine interessante Parallele ergibt sich zu Beobachtungen, die FREUD anhand des Sprechverhaltens und der Träume sog. neurotischer Patienten macht: "Nehmen Sie irgendeine politische Zeitung zur Hand, Sie werden finden, daß von Stelle zu Stelle der Text weggeblieben ist und an seiner Statt die Weiße des Papiers schimmert. Sie wissen, das ist das Werk der Zeitungszensur. An diesen leer gewordenen Stellen stand etwas, was der hohen Zensurbehörde mißliebig war, und darum wurde es entfernt. Sie meinen, es ist schade darum, es wird wohl das Interessanteste gewesen sein, es war 'die beste Stelle 1 . Andere Male hat die Zensur nicht auf den fertigen Satz gewirkt. Der Autor hat vorhergesehen, welche Stellen
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die Beanständigung durch die Zensur zu erwarten haben, und hat sie darum vorbeugend gemildert, leicht modifiziert, oder sich mit Annäherungen und Anspielungen an das, was ihm eigentlich aus der Feder fließen wollte, begnügt. Dann hat auch das Blatt keine leeren Stellen, aber aus gewissen Umschweifen und Dunkelheiten des Ausdrucks werden Sie die im vorhinein geübte Rücksicht auf die Zensur erraten können." (S. FREUD, Gesammelte Werke XI, S. 139. Zit. nach LANG (1973) 110/1). LAING (1973) 30. Einen ähnlichen Gedanken weist LANG (1973) 120/1 bereits bei FREUD nach, wobei sich das Unbewußte als ein unterdrücktes, nicht geführtes Gespräch darstellt, das im Traum an die Oberfläche drängt. JUNG (1968), SCHILDER (1939), WOLMAN (1967), SEARLES (1961) und FREEMAN (1969). Nützlich sind für diesen Zusammenhang auch beide Teile des Forschungsberichtes von LANG, P.J. / BUSS, A.H. (1965). FREUD (1911) 134-203. Zu dieser Problematik gibt es einen interessanten psychoanalytischen Aufsatz älteren Datums: TAUSK (1919). Einen guten Einblick in die umfangreiche Diskussion zum Begriff der schizophrenen "Paralogik", die auch unter dem Stichwort "thinking disorder" erscheint, geben: DOMARUS (1964), ARIETI (1955), .GOTTESMAH/CHAPMAN (I960), JOHNSON (1968), SCHRÄG (1967) und ALDIN (1967). Der bekannteste deutschsprachige Schizophrene, der bereits genannte Daniel Paul SCHREBER, gilt zwar als Prototyp des Paranoikers, und das gewiß zu Recht, weil sein Tagebuch die Symptomatik des Verfolgungswahns in ihrer ganzen Bandbreite belegt. Es sind hier aber in der Form der Scheinargumentation bereits deutlich erkennbare frühkatatone Züge zu beobachten: Die Schwierigkeiten, die mir [beim Klavierspielen, Anm.d. Vf. ] in den Weg gelegt wurden, spotten jeder Beschreibung. Lähmung der Finger, Veränderung der Richtung meiner Augen, damit ich die richtigen Noten nicht soll finden können, Ablenkung der Finger auf unrichtige Tasten, Beschleunigung des Tempos durch verfrühtes In-Bewegung-Setzen meiner Fingermuskel waren und sind noch jetzt alltägliche Erscheinungen. Am Klavier selbst wurden mir (glücklicherweise in den letzten Jahren erheblich seltener) sehr häufig Klaviersaiten durch Wunder entzweigeschlagen, im Jahre 1897 hat die Rechnung für zersprungene Klaviersaiten nicht weniger als 86 Mark betragen. Es ist dies einer der wenigen Punkte, bei denen ich einen auch für andere Menschen überzeugenden Beweis für die Wirklichkeit der von mir behaupteten Wunder liefern zu können glaube. Oberflächliche Beurteiler könnten vielleicht zu der Annahme geneigt sein, daß ich selbst durch unvernünftiges Lospauken auf das Klavier die Schuld an dem Zerspringen der Klaviersaiten getragen habe; in diesem Sinne hat sich z.B. auch meine eigene Frau, vielleicht nach entsprechenden Meinungskundgebungen der Ärzte
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mehrfach mir gegenüber geäußert. Demgegenüber behaupte ich - und ich bin der Überzeugung, daß mir darin jeder Sachverständige recht geben muß - daß ein Zersprengen von Klaviersaiten durch bloßes Aufschlagen auf die Tasten, und wenn es noch so gewaltsam geschieht, schlechterdings unmöglich ist. Die kleinen Hämmerchen, welche mit den Tasten in Verbindung stehen und ganz lose an die Saiten anschlagen, können auf die leteteren niemals eine solche Gewalt ausüben, daß ein Zerspringen möglich wäre. Es mag es nur jemand einmal versuchen, meinetwegen selbst mit einem Hammer oder einem Holzklotz auf die Tasten loszuhauen, er wird damit vielleicht die Klaviatur zertrümmern, aber niemals eine Saite zum Springen bringen können. Daß in den letzten Jahren das Zerspringen der Klaviersaiten seltener geworden ist - ab und zu kommt es auch jetzt noch vor -, ist lediglich darauf zurückzuführen, daß die Gesinnung der Strahlen (Gottes) infolge der beständig zunehmenden Seelenwollust eine weniger unfreundliche gegen mich geworden ist (worüber später das Nähere), und daß dieselben überdies neuerdings durch andere auch für sie (die Strahlen) noch unerquicklichere Zustände, insbesondere das sogenannte 'Brüllen' genötigt wurden, in dem Klavierspielen eine der für alle Teile angenehmsten Arten der Zeitausfüllung zu finden. SCHREBER (1973) 203/4.
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5.
S T I L I S T I K UND RHETORIK
ÜBERLEGUNGEN ZU EINER STILTYPOLOGIE U l r i c h Püschel
0. Das ziel der folgenden ausführungen besteht darin, einige erste Überlegungen zurr problem der stilistischen gliederung einer einzelsprache, hier des deutschen, zur diskussion zu stellen. Dabei bildet die skizzierung des hier vertretenen S t i l b e g r i f f e s den ausgangspunkt.Die sich daran anschließende kurze e i n f ü h r u n g der Prager theorie der Schriftsprache bietet die Möglichkeit, den zugrundegelegten s t i l b e g r i f f mehr zu k o n k r e t i s i e r e n . Daran schließt sich die diskussion der beiden für diesen beitrag zentralen fragestellungen an, in welchen 1 Verhältnis verschiedene gliederungsmöglichkeiten des gesaivtsysteirs einer einzelsprache zu seiner stilistischen gliederung stehen und wie es überhaupt möalich i s t , das Stilsystem einer einzelsprache wie des deutschen zu entwerfen. 1.
Ein hauptkritikpunkt an der strukturalistischen sprachauffas-
sung war in der jüngsten Vergangenheit die feststellung, daß die in der strukturalistischen tradition fest verankerte kennzeichnung der spräche als eines systems von zeichen und regeln zu deren Verknüpfung eine unzulässige verobjektivierung der spräche oder zumindest doch eine starke Verkürzung darstelle, da die funktionen, die an spräche geknüpft sind, und damit die rückbindung von spräche an reale Sprachteilhaber ausgeblendet erscheinen. In dieser hinsieht ist eine neuorientierung in der Sprachwissenschaft zu konstatieren, die unter dem etikett pragmatik f i r m i e r t , wobei mit dieser, etikett keinesfalls einheitliche aiffassungen abgedeckt werden. Ohne nun darüber in eine diskussion einzutreten, soll für die hier verfolgten zwecke der explikation einer Stilauffassung auf die folgenden punkte zurückgegriffen werden; dabei kann jedoch auf keinerlei einzelheiten eingegangen werden: (a) Menschliche sprachVerwendung ist in form des Sprachhandelns teil des menschlichen handelns und zwar speziell teil des sozialen handelns, der Interaktion. (b) Menschliche handlungen sind regelgeleitet. Handeln setzt dementsprechend im prinzip die beherrschung der regeln voraus, nach
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denen gehandelt wird. Soziale handlungen, in denen sich handelnde an handlungspartnern orientieren und sich auf diese beziehen, setzen weiter im prinzip voraus, daß die ihnen zugrundeliegenden regeln von den an den Interaktionen beteiligten beherrscht werden; damit ist die Verständlichkeit der handlungen gesichert. (c) Eine wichtige eigenschaft, die eine regel zur regel nacht, ist ihre geltung (andere wichtige eigenschaften von regeln werden diskutiert in HERINGER 1974 a und HERINGER 1974 b ) . In diesem sinne repräsentieren die regeln normen des handelns (vgl. zum normenbegriff STEGER 1971). (d) Die linguistik beschäftigt sich mit den formen und möglichkeiten des Sprachhandelns, indem sie die Regeln beschreibt und erklärt, die das sprachliche handeln leiten. Diese recelbeschreibungen beziehen sich nicht nur auf handlungssorten, sprechakttypen usw., sondern im gleichen maße auf regeln des referierens, auf regeln für syntaktische konstruktionen, auf regeln zur bildung vcn lauten oder lautsequenzen usw. Obwohl die hier beispielhaft zitierten arten von regeln unterschiedlichen status besitzen, erlaubt doch der regelbegriff als ein generalnenner, den Zusammenhang verschiedener ebenen und aspekte bei der Sprachbeschreibung herzustellen. Die beherrschung der sprachlichen mittel, gefaßt als Sprachkompetenz, braucht nicht mehr losgelöst von den regeln ihrer kommunikativen aktualisierung, gefaßt als kommunikative kom.petenz, vorgestellt zu v/erden. Die teilkompetenzen lassen sich vielmehr als ineinander eingebettet auffassen, so daß ihr innerer zusapimenhalt und das ineinandergreifen der verschiedenartigen regeln deutlich w i r d . Diese einbettungshierarchie wäre zu erweitern um die nichtsprachliche soziale handlungskompetenz und die handlungskompetenz, die auch die nichtsozialen formen des handelns umfaßt. (e) Die geltung der regeln für sprachliches handeln, denen normative k r a f t zugeschrieben w i r d , ist in umfang und reichweite unterschiedlich. Besonders deutlich wird dies bei scheinbar konkurrierenden regeln, deren befolgung jedoch unterschiedlichen und unter umständen sich gegenseitig ausschließenden bedingungen unterliegt, (vgl. dazu z . b . QUASTHOFF 1975, die sich in ihren ausführungen auf die ansätze Labovs b e z i e h t ) . (f) Aufgrund der ungleichen geltung lassen sich die regeln, die die scrachlichen handlunasmcalichkeiten und -formen in einer einzel-
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spräche organisieren, zu komplexen von regeln gleicher geltung zusammenschließen. Die kriterien,mit deren h i l f e die die geltung der regeln einschränkenden bedingungen zu beschreiben sind, wären noch näher zu bestimmen. (g) Diese regelbündel oder generalregeln sollen Stile heilten. Solch einer als stil bezeichneten generalregel kommen die gleichen eigenschaften zu wie allen anderen regeln auch, wobei wiederum nur die geltung von Stilen und damit ihr normativer Charakter hervorgehoben v/erden soll. Offen kann im augenblick bleiben, ob solche Stile in form verschiedener regelinventare zu beschreiben sind oder in einem globalsystem, in dem alle regeln unter angäbe ihrer einschränkenden bedingungen nur einmal zu erscheinen hätten (vgl. QUASTHOFF 1975 in auseinandersetzunq mit Labov). 2. Als anknüpfungspunkt für eine stilistische gliederung der deutschen spräche kann die im Prager Strukturalismus entwickelte theorie der funktionalen Stile dienen. Die wähl gerade dieses ansatzpunktes resultiert zum einen aus der beobachtung, daß die Überlegungen der Prager schule mit dem oben skizzierten stilbegriff in beziehung gesetzt werden kann, und zum ändern, daß die Prager theorie der Schriftsprache einen versuch darstellt, ein geschlossenes Stilsystem zu entwerfen. Das zurückgreifen auf einen solchen theoretischen ansatz soll keinesfalls seine ungeprüfte Übernahme bedeuten, sondern dient eher dem zweck, denkanstöße zu erhalten, die man sich auch oder zusätzlich in ganz anderen Wissenschaftstraditionen wie der sowjetischen Stilistik, der soziolinguistischen diskussion, der ethnographie der kommunikation oder der bilingualismusforschung zu verschaffen ve rmag. 2.1. In der Prager theorie werden die verschiedenen formen der sprachVerwendung oder stile nach kommunikativen funktionen unterschieden: HAVRÄ.NEK (1971, der hier stellvertretend für die Prager theorie zitiert wird) teilt nach der einfach mitteilenden funktion (kcnversationssprache), nach der fachlich/sachlich mitteilenden funktion (fachsprache/wissenschaftssprache) und nach der poetischen funktion von spräche (dichtersprache) ein. Diese unterschiedlichen verwendungsweisen sprachlicher m.ittel werden als funktionalstile bezeichnet. Entsprechend deren skizzierten auffassung von stil sind die funktionalstile als regelbündel oder generalregeln zu
2.26
interpretieren, nach denen sich sprachliche äußerungen bilden lassen b z w . nach denen sich sprachlich handeln läßt, da sie die auswahl spezifischer sprachlicher irittel zu ganz bestimmten, wenn auch relativ allgemein formulierten kommunikativen zwecken determinieren . 2 . 2 . Der Prager ansatz, der hier nur grob angedeutet ist, kann in vielerlei hinsieht k r i t i s i e r t und problematisiert werden, vor allen dingen im hinblick auf die kommunikativen funktionen als die einzigen kennzeichen der funktionalst!le. Sind bestimmte schwächen dieses konzeptes aber erst einmal e r k a n n t , so läßt es sich in vielen punkten um.formulieren, modifizieren und erweitern. Dies gilt besonders für die integrationsmöglichkeit z u s ä t z l i c h e r , das sprachhandeln determinierender f a k t o r e n , die für die beschreibung von Stilen herangezogen werden können wie komjnunikationspartner, situation, ort, zeit, richtungswechsel, Öffentlichkeitsgrad, kanalbeschaffenheit usw. (vgl. STEGER 1974). Diese möglichkeit hat z . b . SCHWIDT (1973) gesehen, der die funktionalstile ganz offensichtlich als diskurstypen in seine theorie des kommunikativen handlungsspiels eingeführt hat. Wie allerdings die kategorie diskurstyp mit anderen, das kommunikative handlungsspiel konstituierenden kategorien in Verbindung steht bzw. wie die einzelnen diskurstypen inhaltlich zu beschreiben sind, führt Schmidt nicht aus. Er setzt die existenz von diskurstypen und der diskurstypologie einfach voraus. 3. Vor dem bisher skizzierten hintergrund sollen nun zwei (teil) Probleme formuliert werden, deren behandlung schon vor jeder konkreten berröihung um die frage einer stilistischen gliederung des deutschen notwendig erscheint. Es handelt sich dabei um die fragen, (a) wie eine solche stilistische gliederung mit anderen möglichkeiten der beschreibung von Varietäten innerhalb des deutschen zusammenhängt und (b) unter welchen theoretischen bedingungen sich ein system von Stilen für eine einzelsprache überhaupt erstellen läßt. 3.1. Auch wenn in der jüngsten geschiente der Sprachwissenschaft die betrachtung einer einzelsprache als eines homogenen, in sich nicht variierenden gebildes eine große rolle gespielt hat und zum teil noch spielt, so ist doch letztlich die tatsache nie geleugnet worden, daß jede natürliche und unter natürlichen bedingungen
ver-
wendete spräche als ein mehr oder weniger heterogenes inventar sprachlicher mittel beschrieben werden muß. Je nach blickrichtung kann das homogenitätspostulat, das jedem augenschein widerspricht, als linguistische verirrung abgetan oder als bewußte Verkürzung in bestimmter absieht legitirriert werden. Es gibt nun eine ganze anzahl von kriterien, irit deren h i l f e sich die heterogenität strukturieren läßt, die in der folgenden liste ohne anspruch auf Vollständigkeit zusammengestellt sind: (a) das areale kriterium oder die kommunikative reichweite (b) das soziale kriteriuir. oder schichten-/gruppenspezifische eigenschaften (c) das generationale kriterium oder altersspezifische eigenschaften (d) das professionale kriterium oder beruflich-fachliche eigen-
schaften (e) das präskriptiv-normative kriterium. (die entsprechend negativ bewertete entfernung einzelner Sprachvarianten von der hochspräche) (f) das interferentionale kriterium (g) das sprachgeschichtliche kriterium (h) das (funktional) stilistische kriteriuir. 3.2. Bei der bettachtung einer solchen aufzählung drängt sich die frage a u f , ob die genannten einzelkriterien gleichwertig sind. Zumindest für einige der genannten punkte könnte eine gleichgewichtigkeit aus der tatsache abgeleitet werden, daß mit den in ihnen enthaltenen kriterien teildisziplinen in der Sprachwissenschaft begründet worden sind, so z . b . dialektologie/areallinguistik, soziolinguistik (im sinne der kode-theorie), interferenzlinguistik, historiolinguistik, (funktional)Stilistik usw. Dieses argument sagt aber eigentlich nur etwas über die Wertschätzung und die interessen der Sprachwissenschaftler bei der thematisierung der einzelnen aspekte aus. Die frage nach der gleichgewichtigkeit und die nennung einiger teildisziplinen könnte leicht einem falschen eindruck Vorschub leisten, daß nämlich hier die auffassung vertreten werden solle,die einzelnen kriterien und damit die mit ihnen konstituierten Objekt- wie metabereiche seien voneinander unabhängig. Das genaue gegenteil ist der f a l l . Obwohl z . b . in der dialektologie/ areallinguistik die areale distribution sprachlicher erscheinungen
228
im Zentrum steht »haben in ihr
zumindest implizit auch andere ge-
sichtspunkte eine rolle gespielt, so z . b . in der Vorstellung, daß die mundarten als spräche der bäuerlichen grundschicht einen älteren zustand des deutschen repräsentieren würden (sprachgeschichtliches k r i t e r i u m ) , in der Verbindung von dialekt und bäuerlicher grundschicht (soziales k r i t e r i u m ) , in der negativen bewertung des hochsprachefernen cialektes oder besser des ortsgebundenen Jargons oder der gossensprache (präskriptiv-normatives k r i t e r i u m ) , in der Untersuchung des bäuerlichen Wortschatzes (professionales kriterium) . Weitere hinweise dieser art lassen sich finden. Auch wenn die verabsolutierung von beschreibungskriterien in begründbarer weise vorgenommen werden kann, läßt sich nicht vermeiden, daß zumindest indirekt andere kriterien mit einfließen. Die behauptung des Zusammenhanges von kriterien der genannten art bedeutet noch immer nicht eine beantwortung der frage nach ihrer möglichen gleichgewichtigkeit. Es soll nun behauptet werden, daß der (funktional) stilistische gesichtspunkt alle anderen gesichtspunkte überlagert. Anders ausgedrückt bedeutet das, daß es sinnvoll erscheint, die angeführten kriterien in eine beschreibung der kategorie stil einzubringen. Diese feststellung ist eigentlich nicht weiter erstaunlich, da funktion in der Prager theorie kommunikative funktion meint und oben stil als ein ausgezeichnetes bündel von regeln des sprachlichen handelns eingeführt worden ist. Geht man von einer zweifachen funktion der spräche aus, nämlich von spräche als mittel des denkens/erkennens und spräche als mittel der kommunikation/des handelns, so findet sich die zweite bestimmung in der (funktional)stilistischen gliederungskategorie wieder. Kommunikative funktion bzw. der handlungsaspekt sind dann in bezug auf spräche als die allgemeinsten Charakterisierungen zu betrachten, die den verschiedenen genannten kriterien zumindest implizit zuzuordnen sind. Dementsprechend bildet das (funktional)stilistische kriterium den übergeordneten gesichtspunkt, auf den alle anderen kriterien zu beziehen sind. Der versuch einer umfassenden differenzierung einer einzelsprache müßte es sich also zum ziel setzen, ein Stilsystem dieser spräche zu entwickeln. Eine beschränkung auf bestimmte teilbereiche, wie sie sich weithin im Prager ansatz in der behandlung der Schriftsprache als Standardsprache findet, wäre dann nicht mehr zulässig. Durch die anbindung des stil-
229
b e g r i f f s an den handlungs- und regelbegriff gewinnt die kategorie stil bedeutung für die beschreibung einer einzelsprache insgesamt. 3.3. Es bedarf wohl keiner weiteren diskussion, daß ein Stilsystem für das deutsche nicht einfach zu erstellen sein wird. Andererseits liegen in vielen sprachwissenschaftlichen teilbereichen zahlreiche ergebnisse von zugegebenermaßen ganz unterschiedlicher qualität und schwer vergleichbarer form vor und werden laufend weiter angeboten. Es müßte nun möglich sein, aus den verschiedenartigen und unter unterschiedlichen Vorzeichen erzielten ergebnissen zumindest den rahmen eines umfassenden Stilsystems zu entwickeln, das sicherlich erst einmal hypothetischen Charakter trüge. 4.1. Große Schwierigkeiten bei der entwicklung des angestrebten Stilsystems wird die frage der anzahl der anzunehmenden Stile bereiten. So konstatiert Riesel, daß die existenz der funktionalstile unbestreitbar sei, unbeantwortet bleibe aber die frage, " w e l c h e funktionalen Stile/Substile u n d w i e v i e l e objektiv nachgewiesen werden können." (RIESEL 1975, 50) Konkret lautet also die frage, ob es neben z . b . von Riesel ( z . b . RIESEL 1975, 50-51) oder Havränek ( z . b . HAVRÄNEK 1971, 29) angeführten funktionalstilen weitere gebe wie etwa einen Unterrichtsstil, einen sprachstil der akademischen gremien, einen verkündungsstil der kanzel, einen stil der Sportsprache, der politischen spräche usw. Die genannten bestimmungsschwierigkeiten scheinen durch den wünsch verursacht, zahl u n d a r t d e r funktionalstile o b j e k t i v , wie Riesel sagt, nachweisen zu wollen. Damit ist zum einen gemeint, daß die Stile tatsächlich existent sind; zum anderen und dies ist eine weitergehende interpretation des zitierten wunsches - verbirgt sich dahinter die Vorstellung, daß es eine feste zahl exakt beschreibbarer stile geben müsse. Diese hätten dann auch untereinander in einem bestimmten Zusammenhang zu stehen, sie müßten kurzum ein system von funktionalstilen bilden mit allen konsequenzen, die in dem systembegriff liegen. Wenn dem tatsächlich so wäre, dürfte es allerdings die festgestellten Schwierigkeiten beim beschreiben des Stilsystems gar nicht geben. Als schluß aus dieser beobachtung bleibt also festzuhalten, daß ein system von funktionalstilen sich offenbar keineswegs von selber ergibt. Natürlich gibt es auch eine andere lösungsmöglichkeit für das dilemma von behaupte-
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ter existenz und beschreibungsschwierigkeit: Man könnte nämlich sagen, daß das Stilsystem in der spräche sehr wohl existiere, daß es sich aber bislang dem zugriff auch der scharfsinnigsten linguisten entzogen habe. Dieser ausweg darf hier jedoch nicht beschritten werden, da diese Vorstellung deir. oben eingeführten regelbegriff v/iderspricht, nach dem die regeln sprachlichen handelns weithin unbewußt beherrscht und befolgt werden, im. prinzip aber expliziert werden können. 4.2. Das aufgeworfene probier, einer stilistischen gliederung einer einzelsprache läßt sich nicht dadurch lösen, daß man sich darüber streitet, ob die zahl der stile mit f ü n f , sieben oder zehn angemessen erfaßt sei. Sinnvoller erscheint es dagegen zu sein, bei der frage nach der systemhaftigkeit des Stilinventars anzusetzen und abzuklären, wie diese postulierte systemhaftigkeit zu verstehen und zu bewerten ist. Zu diesem zwecke wäre eine allgemeine abklärung des systembegriffs in der linguistik notwendig. Dazu nur die folgenden bemerkungen: (a) Das inventar von regeln zum Vollzug sprachlicher handlungen ist prinzipiell o f f e n . Diese behauptung ist weder überraschend noch neu, knüpft sie doch, wie BENES und VACHEK (1971, XXIII) sagen, an an "die klassische Prager Auffassung der Sprache als o f f e nes System, das sich im ständigen Umbau befindet und mannigfache Funktionen erfüllt" und wird auch anderweitig vertreten. Wenn dem gesamten regelsystem Offenheit zugeschrieben wird, dann gilt das auch für die sub- oder teilsysteme. (b) Die postulierte Offenheit kann erklären, warum die beschreibung einer einzelsprache in form eines gesamtsystems oder in form von sub- oder teilsystemen häufig nur unter anwendung von "strukturaler gewalt" geleistet werden kann. Was sich an einzelerscheinungen nicht in das erstrebte system einpaßt, wird einfach ausgelassen, bleibt als nicht systemkonforme ausnahire unerklärt oder wird durch kräftige Idealisierung (deutlicher: manipulation) des materials überspielt. In diesem vorgehen dokumentieren sich die Schwierigkeiten, die dabei entstehen, wenn das prinzipiell offene, aber mit systemhaften zügen ausgestattet Inventar sprachlicher mittel zum zwecke linguistischer behandlung in ein geschlossenes beschreibungssystem überführt werden soll. (c) Die aufgäbe der Sprachwissenschaft besteht darin, die möglich-
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keiten, formen und iritteldes sprachlichen handelns zu beschreiben und zu erklären. Dazu gehört auch die systematische erfassung dieser mittel, wobei es jedoch eine frage der beschreibungsadäquatheit ist, auch die das systeir als ergebnis der systematischen erfassung störenden erscheinungen einzubeziehen. Dazu ist
es zum einen not-
wendig, die behandlung der als ausnahmen usw. betrachteten erscheinungen genau zu explizieren; die manipulation des materials wird durchsichtig und legitimiert aus den explizit dargestellten beschreibungsmodi und -zwecken. Zum anderen ist es sinnvoll, nach beschreibungsmöglichkeiten zu suchen, die ohne aufgäbe der angestrebten systematischen erfassung es doch erlauben, bislang als störend betrachtetes in das system einzubeziehen. Ein Vorschlag, wie eine solche modifikation von Systemen sprachlicher mittel aussehen kennte, wurde im rahmen des Prager Strukturalismus entwickelt. Es handelt sich dabei um die Unterscheidung von Zentrum und peripherie eines systems. Nach verschiedenen kriterien ( z . b . dem grad der integration, der zahl und art der wahrgenommenen funktionen, der teilhabe an einer unterschiedlichen zahl von korrelationen) sind Unterscheidungen von Zentrum und peripherie im bereich der phonemik, morphemik, Wortbildung und lexik vorgenommen worden (vgl. die beitrage in TRAVAUX 1 9 6 6 ) . Dieses prinzip muß sich auch auf ein stilsystem übertragen lassen, wobei allerdings nicht die bisher genannten kriterien herangezogen werden könnten. Es könnte aber in einem ersten schritt auf einen verschlag von Popela zurückgegriffen werden, der die Unterscheidung von Zentrum und peripherie nach dem grad der abstraktheit b z w . konkretheit der in einem system beschriebenen erscheinungen b z w . ihrer beschreibungskategorien vornimmt (POPELA 1 9 6 6 ) . Für das Stilsystem würde das bedeuten, daß es nach dem grad der allgemeinheit der Stile b z w . der zur beschreibung der stile verwendeten kategorien zu gliedern wäre. So wäre z . b . ein elementarer nichtöffentlicher verkehrsstil allgemeiner und damit mehr im Zentrum des systems angesiedelt als der nichtöffentliche stil im berufs- und verhandlungsverkehr, da in diesem der nichtöffentliche bereich in bestimmter weise eingeschränkt erscheint, (beispiele nach HAUSENBLAS 1971) . Diese Unterscheidung von Zentrum und peripherie eröffnet zudem noch die möglichkeit im peripheren bereich eine grenze zu ziehen, die bestimmte erscheinungen aus dem Stilsystem ausscheidet; d.h. es können entscheidungen darüber ge-
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troffen werden, welche sprachlichen mittel noch als einen stil bildend betrachtet werden sollen und welche schon nicht mehr, (d) Die Zuweisung der stile zu den verschiedenen Positionen iir system und die entscheidung darüber, ob bestimmte erscheinungen noch als stile aufgefaßt werden sollen oder nicht, hängt von den verwendeten klassifikationskriterien ab. Die zahl und art der bemühten Kriterien entscheidet über die zahl und art der anzusetzenden stile. Wären nun diese Kriterien in der spräche selber objektiv vorgegeben und damit entweder statistischen erhebungen oder der reinen Introspektion zugänglich, so könnte über sie und das mit ihnen zu begründende Stilsystem kein streit entstehen. Natürlich sind solche kriterien in gewisser weise doch schon in der spräche vorgegeben, da sich bestimmte sprachliche erscheinungen durchaus durch erkennbare gemeinsame eigenschaften auszeichnen und dementsprechend zu gruppen zusammenschließen lassen. Die explikation solcher vorgegebenen Verhältnisse im rahmen einer linguistischen beschreibung führt jedoch nicht zu zweifelsfreien ergebnissen im sinne der oben angesprochenen Objektivität, da die grenzen einer systematischen darstellung sprachlicher erscheinungen fließend sind. Die zahl und art der anzunehmenden kriterien und damit auch der anzusetzenden stile ist deshalb als willkürlich zu betrachten, wobei mit Willkür gemeint ist, daß nicht von vornherein eine bestimmte zahl als die einzig richtige angenommen werden kann. Nicht gemeint ist jedoch, daß nicht bestimmte gründe angegeben werden könnten, warum diese oder jene erscheinung als stil betrachtet werden soll, eine andere jedoch nicht. Kriterien dafür könnten z . b . die relative invarianz der jeweiligen erscheinungen sein (alltagsrede vs. spräche der twens) oder ihre relevanz für die gruppe der Sprachteilhaber ( z . b . ausklammerung von Sondersprachen wie rotwelsch oder rockersprache). Solche kriterien erlauben entScheidungen darüber, ob eine bestimmte erscheinung noch als in den peripheren Systembereich gehörig oder schon als außerhalb des systems befindlich betrachtet werden soll. Die entscheidung über den umfang und die art eines Stilsystems hängt sicherlich auch nicht zuletzt von den mit seiner erstellung verbundenen Zielsetzungen ab. So wird z . b . das Stilsystem, zur Charakterisierung der lexikalischen einheiten in einem Wörterbuch für ausländer anders aussehen als das system, das bei der dokumentarischen erfassung des Wortschatzes einer einzelsprache Verwendung finden müßte.
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5. In diesem beitrag sind nur einige wenige punkte, die im Zusammenhang mit der erarbeitung der stilistischen gliederung einer einzelsprache zu beachten sind,angesprochen worden und auch diese nur recht allgemein. Vor allen dingen konnte nur sehr wenig im hinblick auf die praktische erarbeitung eines solchen Stilsystems gesagt werden. Soviel sollte jedoch deutlich geworden sein: Die bewältigung der theoretischen Probleme einmal vorausgesetzt, kann das Stilsystem des deutschen nur in vorläufiger und hypothetischer weise aufgrund des materials in zahlreichen einzeldarstellungen (und bis zu einem gewissen grade auch der Sprachkompetenz des bearbeiters) ausgearbeitet werden. Ein solches system könnte dann den ausgangspunkt für empirische einzeluntersuchungen abgeben.
Literatur
BENES, Eduard und Josef VACHEK (1971) ( H r s g . ) : Stilistik und Soziolinguistik. Beiträge der Prager Schule zur strukturellen Sprachbetrachtung und Spracherziehung. 2. A u f l . München: List (Berichte und Untersuchungen aus der Arbeitsgemeinschaft für Linguistik und Didaktik der deutschen Sprache und Literatur. Serie A Berichte, Nr. 1) HAVRANEK, Bohuslav ( 1 9 7 1 ) : "Die Theorie der Schriftsprache". BENES/ VACHEK 1971, 19-37 HAUSENBLAS, Karel ( 1 9 7 1 ) : "Stile der sprachlichen Äußerung und die Sprachschichtung". BENES/VACHEK 1971, 38-53 HERINGER, Hans Jürgen ( 1 9 7 4 a ) : Praktische Semantik. Stuttaart: Klett HERINGER, Hans Jürgen (1974 b ) ( H r s g . ) : Seminar: Der Regelbegriff in der praktischen Semantik. Frankfurt: Suhrkamp (suhrkamp taschenbuch Wissenschaft. 94) POPELA, Jaroslav ( 1 9 6 6 ) : "The functional structure of linguistic units and the system of language". TRAVAUX 1966, 71-8O QUASTHOFF, Uta (1975) : " 'Homogenität' versus 'Heterogenität' als Problem einer historischen Sprachwissenschaft". Ehrich, Veronika und Peter Finke ( H r s g . ) : Beiträge zur Grammatik und Pragmatik. Kronberg/Ts.: Scriptor, 1-21 RIESEL, Elise ( 1 9 7 5 ) : "Grundfragen der Funktionalstilistik". Linguistische Probleme der Textanalyse. Jahrbuch 1973 des Instituts für deutsche Sprache. Düsseldorf: Schwann, 36-53 (Sprache der Gegenwart. 35)
234
SCHMIDT, Siegfried J. ( 1 9 7 3 ) : "Texttheorie/Pragmalinguistik". Althaus, Hans Peter, Helmut Henne und Herbert Ernst Wiegand: Lexikon der Germanistischen Linguistik. Tübingen: Niemeyer, 233-244 STEGER, H u g o ( 1 9 7 1 ) : "Sprachverhalten-Sprachsystem-Sprachnorm". Jahrbuch der deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 1970. Heidelberg, Darmstadt: Schneider, 11-32 STEGER, Hugo, Karl-Helge DEUTRICH und Gerhard SCHANK ( 1 9 7 4 ) : "Redekonstellation und Sprachverhalten". Lehrgang Sprache. Einführung in die moderne Linguistik. Weinheim: Beltz. Tübingen: Niemeyer, 1O11-1056 TRAVAUX linguistiques de Prague (Prague: Academia, iditions de l'Academie Tchecoslovaque des Sciences) 2. 1966
GANSEFÜSSCHEN-SEMANTIK
Eine Ergänzung zu Lakoffs "Hedges" Reinhard Klockow
1.
"Fuzziness", "hedges" und Anführungszeichen
In neinem Aufsatz "Hedges" setzt sich G. Lakoff mit dem Phänomen der "fuzziness" vieler umgangssprachlicher Begriffe auseinander, d.h. mit der bekannten Tatsache, daß diese Begriffe oft keine scharfen Grenzen haben, was zu Unsicherheiten oder Meinungsverschiedenheiten bei ihrer Applikation führen kann. Während aber daraus gewöhnlich die Notwendigkeil; standardisierter oder künstlicher Wissenschaftssprachen abgeleitet wird, versucht Lakoff umgekehrt die logischen und mengentheoretischen Mittel zu entwickeln, mit denen man die "fuzziness" in den Griff bekommen und ausdrücken kann, was charakteristisch für die umgangssprachliche Kommunikation ist: nämlich daß ein Prädikat oft nur in gewissem Grad oder in gewisser Hinsicht auf einen Gegenstand zutrifft und dementsprechend ein Satz nicht einfach wahr, falsch oder unsinnig ist, sondern in gewissem Grad oder in gewisser Hinsicht wahr, falsch, unsinnig. Damit ist ein wichtiger Schritt in Richtung auf eine adäquatere Semantik der natürlichen Sprachen vollzogen. Eine besondere Rolle spielen in Lakoffs Untersuchung die sog. "hedges" ("Hecken"), d.h. Ausdrücke wie sort of, par excellence, technically/loosely speaking usw., die eine Prädikation nach Grad oder Hinsicht ihres Zutreffens modifizieren, indem sie als eine Art Filter jeweils nur bestimmte Bedeutungskomponenten des betroffenen Ausdrucks durchlassen. Voraussetzung für ihre Anwendbarkeit ist die "fuzziness" des Prädikats. Mit den Worten Lakoffs: "Hedges" sind "words whose meaning implicitly involves fuzziness - words whose job is to make things fuzzier or less fuzzy" (LAKOFF 1972: 195). Ich möchte hier nicht auf die formalen Einzelheiten des Aufsatzes eingehen, sondern lediglich die Aufmerksamkeit auf ein Element lenken, das Lakoff in seiner Liste von "hedges" nicht
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aufführt und dessen Erwähnung in diesem Zusammenhang vielleicht überrascht: auf die Anführungszeichen ( A Z ) . Meine These ist, daß die AZ in bestimmten Verwendungsweisen (nicht in allen) zu den "hedges" zu rechnen sind, und zwar (wie sort o f « loosely speaking usw.) zur Gruppe der "deintensifier": sie signalisieren, daß die Anwendung des Ausdrucks auf den gemeinten Gegenstand, Sachverhalt usw. gewissen Reserven unterliegt; das aktuell Gemeinte entspricht nicht völlig dem von diesem Ausdruck üblicherweise Bezeichneten. In der Terminologie von S.J. SCHMIDT: Kanonische und situative Instruktion decken sich nicht (1973: 85). Hier sollen in informeller V/eise einige Konstellationen dieses Auseinanderfalls betrachtet werden. Dabei werde ich die Wirkung der AZ folgendermaßen beschreiben: AZ suspendieren ad hoc bestimmte, von Fall zu Fall verschiedene Bedeutungskomponenten (Anwendungskriterien) des eingerahmten Ausdrucks. Oder in einer anderen Redeweise: AZ signalisieren, daß nicht alle Bedingungen für die konventionskonforme Anwendung des Ausdrucks erfüllt sind1. Mit dem semantischen Filtereffekt ist die kommunikative Leistung der AZ noch nicht vollständig erfaßt. In eine adäquate Paraphrase müssen auch pragmatische Gesichtspunkte - Stichwort Zi2 tat - eingehen. Das soll am Schluß kurz angedeutet werden . 2.
Präsentation von Beispielen
2.1.
AZ und verbale "hedges"
Die These, daß AZ als eine Art "hedge" aufzufassen sind, wird durch die distributioneile Beziehung zwischen AZ und verbalen "hedges" gestützt. 2.1.1.
Kopräsenz von AZ und verbalen "hedges"
Eine Reihe von verbalen "hedges" tritt oft zusammen mit AZ auf. So könnte man sich LAKOFFs Beispielsatz (I) Esther Williams is a regular fish (1972: 197). auch mit AZ beim metaphorisch verwendeten Prädikat vorstellen: ( I I ) Esther Williams is a regular "fish". Authentische Beispiele für diese Konstellation sind nicht schwer zu finden, etwa
237
(2)
(3)
Aber schon Chapmans Zahlen zeigen eindrucksvoll, daß ein Reaktor . . . zunächst einmal nur gewissermaßen den "Ersatz" für die Energie erzeugt, die sein Bau verbraucht hat. (ZEIT 6 (1975; Ein Röntgenbild ist letztlich ein "Schattenriß" des durchstrahlten Objekts. (Frankf . Rundsch. [FR] 205
(1969) 33)
2.1.2.
Alternation von AZ und verbalen "hedges"
Instruktiv für die Rolle der AZ sind Fälle, in denen sie als Alternative zu verbalen "hedges" bei mehrmaligem Vorkommen desselben Ausdrucks auftreten. Hier liefert der Text selbst das verbale Äquivalent der AZ und demonstriert ihre Funktionsgleichheit: (4) [Überschrift:] "Flußbett" auf dem Mond Wie Astronaut Stuart Rosa . . . mitteilte , wurde eine Art Flußbett festgestellt, das sich von den normalen Rillen und Vertiefungen auf dem Erdtrabanten unterscheidet. Das "Flußbett" ist auf Filmen ... zu erkennen. (FR 57 (1971) 18) (5) [Überschrift:] "Schlager" in großer Zahl Sogenannte Messeschlager gab es in großer Zahl. (FR 103 (1970) 16) 2.1.3.
Sogenannt und in Anführungszeichen
Man kann eine Reihe von Ausdrücken aufzählen, bei denen oder an deren Stelle AZ auftreten können, was darauf hindeutet, daß ihr An wendungs Spielraum größer ist als der der einzelnen verbalen "hedges" . Zu einem dieser Ausdrücke besteht allerdings eine privilegierte Beziehung, so daß er oft als das Äquivalent der AZ schlechthin angesehen wird: zu sogenannt . Der Hinweis auf die sogenannte DDR kann hier genügen (vgl. auch (5)) . Im Schlußteil ist darauf kurz zurückzukommen. AZ sind ein so praktisches Mittel zur Modalisierung der Anwendung eines Ausdrucks, daß sie in Form der Redewendung in Anführungszeichen in die gesprochene Sprache übergegangen sind, oft begleitet von entsprechenden Gesten. Beispiele dafür in schriftlich konzipierten Texten sind naturgemäß selten, etwa (6) Eine solche deutsche Literaturwissenschaft jedenfalls, Germanistik nur noch in Anführungszeichen, könnte verglichen mit der bisherigen gesellschaftlich produktiv werden. (Reinhard Baumgart)
238
2.2.
AZ ohne Unterstützung verbaler "hedges"
2.2.1.
Evidenz für die semantische Relevanz der AZ
Daß die "situative Instruktion" eines Ausdrucks mit AZ tatsächlich anders ist als die desselben Ausdrucks ohne AZ, zeigen Beispiele, in denen sich beide Vorkommensweisen gegenüberstehen: (7) Allerdings werden wir es nicht tun, weil ja derzeit nur "Krise" herrscht und keine Krise uns treibt. (Süddt. Zeitung [SZl 11 (1974) (8) Die Königin und die "Königin": Die Kriminalbuch-Autorin Agatha Christie begrüßt Elizabeth. (ZEIT 9 (1975) 12) Bestünde kein Unterschied in der aktuellen Bedeutung der beiden Vorkommen von Krise bzw. Königin, hätte man es in (7) mit einer Kontradiktion (X ist eine Krise und keine Krise) und in (8) mit einer befremdlichen Wiederholung zu tun. - Aus dem nur in (7) geht hervor, daß eine "Krise" offenbar weniger ernsthaft ist als eine Krise (vgl. auch das nur in ( 6 ) ) . Generell gilt, daß ein durch einen Ausdruck in AZ bezeichnetes Element kein vollgültiges Glied der betreffenden Klasse ist. 2.2.2. 2.2.2.1.
Einige Arten der semantischen Intervention der AZ Konflikt verschiedener Bedeutungskomponenten
Bei der sprachlichen Kategorisierung von Gegenständen, Vorgängen usw. kommt es zu Komplikationen, wenn das Bezeichnete zwar einige der für die problemlose Anwendung eines Ausdrucks erforderlichen Eigenschaften aufweist, andere aber nicht. AZ suspendieren die aktuell nicht zutreffenden Bedeutungskomponenten (.die von unterschiedlichem Rang sein können^). So stehen in (4) zwei Kriterien für die Zusprechung des Prädikats Flußbett in Konflikt: das definitorische der Entstehungsweise (Erosion durch einen Wasserlauf bestimmter Größe) und ein eher akzessorisches (die Gestalt des Objekts). Die Prädikation geschieht aufgrund des letzteren. Durch AZ wird die zentrale Bedeutungskomponente suspendiert. Umgekehrt sind in (9) die primären Bedingungen für die Anwendung von leben gegeben (anschließend erscheint dann auch Leben ohne Modalisator). Die AZ signalisieren die Nichterfüllung von Zusatzkriterien wie 'menschenwürdig 1 ; "leben" ist hier synonym mit vegetieren: (9) Obwohl in Chile jetzt eiskalter Winter herrscht, hat man Luis Corvalan in eine kalte Dunkelzelle eingesperrt.
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Hier "lebt" er in strenger Einzelhaft ... Das Leben von Luis Corvalan ist in höchster Gefahr. (Chile-Informationen Nr. 7, Göttingen, Sept. 1975, S.4) Die partielle Unangemessenheit eines Ausdrucks kann sich im Konflikt seiner Bedeutungskomponenten mit denen anderer Teile der Äußerung manifestieren. AZ markieren die Stelle, deren Gültigkeit Einschränkungen unterliegt, z.B. (10) ["Ein Schlagzeuger, der auf der Trommel] ganze Dialoge aus Dramen mit den Fingern "spricht". (SZ 24-7 ('73) 12) (11) Streik wegen besserer Bezahlung "verliehener" Hafenarbeiter. (FR 203 (1970) 2) In (10) suspendieren die AZ eine etwa als 'oral-verbal' zu umschreibende Bedeutungskomponente von sprechen, die in Widerspruch zur Adverbialphrase mit den Fingern steht. In (11) wird die Selektionsbeschränkung 'Sachbesitz' aufgehoben, die normalerweise für das Objekt von verleihen gilt. - Dabei sind die AZ durchaus nicht immer redundant. Z.B. wird der Inhalt des Satzes (12) Deutschlands Nichtraucher "rauchen" mehrere Milliarden Zigaretten jährlich. (SPIEGEL 20 (1974) 103) durch Verschiebung der AZ auf Nichtraucher stark verändert: (12') Deutschlands "Nichtraucher" rauchen mehrere Milliarden Zigaretten jährlich. Während (12) vom Passivrauchen redet, könnte sich (12') auch auf angebliche Nichtraucher beziehen, die heimlich doch rauchen. Aufschlußreich sind Beispiele wie das folgende: (13) Fünfundzwanzig Jahre - das sind allenfalls fünf Studenten" generationen" und eine Generation Hochschullehrer. (ZEIT-Magazin 50 (1973) 16) Hier stehen sich zwei Applikationen des Prädikats Generation gegenüber, von denen die eine durch AZ problematisiert wird. Gleichzeitig läßt der Kontext das Motiv für die unterschiedliche Behandlung erkennen: Für den Schreiber kann anscheinend von Generation im eigentlichen Sinn des Wortes nur in bezug auf einen Zeitraum von ca. 25 Jahren die Rede sein. Beispiele wie dieses zeigen, daß AZ zum Indikator für die individuellen semantischen Systeme der Sprachteilhaber werden können; vermutlich ist nicht für alle Sprecher der Ausdruck Studentengeneration ein Widerspruch in sich, der durch AZ entschärft werden müßte.
Schließlich noch zwei Belege dafür, wie derselbe Ausdruck in verschiedenen Kontexten aus unterschiedlichen Gründen in AZ gesetzt werden kann: (14) (TUber Trinidad:] ... Demonstrationen, auf deren Höhepunkt ein Teil der 900 Mann starken "Armee" ... die Hauptstadt zu besetzen versuchte. (SZ 283 (1973) 11) (15) Es gelang ihm fsc. Ben Gurionl sogar, die vorher bekämpften Terrortruppen zionistischer Extremisten mit den verschiedenen "Armeen" der politischen Organisationen ... zu einer Streitmacht von knapp 50000 Soldaten zusammenzuschweißen. (SZ 279 (1973) 3) (14) und (15) verhalten sich fast komplementär zueinander: In (14) handelt es sich zwar um eine Armee im definitorischen Sinn (laut Duden-Bedeutungswörterbuch "alle Soldaten oder Truppen eines Staates"), doch macht ihre zahlenmäßige Schwäche sie zu einem eher kuriosen Vertreter der Gattung. Die Armeen in (15) genügen zwar anscheinend eher dem quantitativen Kriterium, nicht aber der Bedingung, der Verteidigungsapparat eines Staates zu sein. Man kann aus einer solchen Gegenüberstellung schließen, daß es mindestens so viele Anlässe zum Gebrauch von AZ bei einem Ausdruck gibt, wie dieser Bedeutungskomponenten hat. 2.2.2.2.
Relativierung oder Suspendierung von Bezugsnormen
Einen charakteristischen Effekt lösen AZ bei nur in Kontexten wie dem folgenden aus: (16) Die Inflation in der BRD beträgt nur 6,5#. Durch nur wird ausgedrückt, daß der angegebene Prozentsatz unter einem ändern (vorher genannten, erwartbaren, normalen usw.) Wert liegt. Diese Bewertung als 'relativ wenig 1 wird präsupponiert, wie sich mit den üblichen Tests (Negation, Frage, Fortsetzung) zeigen läßt . Behauptet wird lediglich die Zahlenangabe. Wenn man nur in AZ setzt (161) Die Inflation in der BRD beträgt "nur" 6,556. kommt ein neuer Vergleichsmaßstab ins Spiel, vor dem 6,5# Inflation nicht wenig, sondern zuviel sind (etwa das vom Sprecher als notwendig erachtete Maß an GeldwertStabilität in einer intakten Wirtschaft). Die entgegengesetzte Bewertung wird aber dadurch nicht aufgehoben. AZ bei nur lösen also einen Normenkonflikt auf der Ebene der Präsuppositionen aus. Besonders deutlich wird dieser Konflikt durch die metasprachliche Parenthese im folgenden Beleg:
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(17)
Us Lsc. les Francais qui ne portent pas en vacances] reprfesentaient 59$ de la population francaise en 1965 Us n 'en representent plus, si 1'on ose dire, "que" 51,856 en 1974. (Le Nouvel Observateur 561 (1975)
In den folgenden Beispielen geht es um räumliche und zeitliche Orientierungsprinzipien: (18) Der Astronaut, der ... teilweise "auf dem Kopf" schwebte ... (Gott. Tageblatt 180(1971) 1) (19) Stellen wir uns Astronomen in diesen Gegenden des Alls vor, die "gleichzeitig" mit unserer Beobachtung die Erde anvisieren. (CARTER / MUIR 1969: 726) In der in (18) beschriebenen Situation hat die von Positionsangaben wie auf dem Kopf vorausgesetzte Orientierung am Erdmittelpunkt ihre Gültigkeit verloren (sie kommt nur sekundär, über das Bild auf dem Fernsehschirm wieder ins Spiel) . Analoges gilt für gleichzeitig (19) bei Anwendung auf Ereignisse in weit auseinanderliegenden Teilen des Weltraums, wie der Text anschließend unter Bezug auf die Relativitätstheorie erläutert. In beiden Belegen zeigen die AZ die Hinfälligkeit des normalerweise vorausgesetzten Bezugssystems an. - Generell läßt sich beobachten, daß Klassifikationsbegriffe (besonders solche mit wertenden Komponenten und speziell das Wort normal) eine gewisse Anfälligkeit für AZ auf weisen: man benutzt sie, ohne sich mit dem dahinter stehenden Bezugsrahmen identifizieren zu wollen. 2.2.2.3.
AZ und Präsuppositionen
In den zuletzt behandelten Fällen, aber auch bei der Verletzung von Selektionsbeschränkungen intervenierten die AZ auf der Ebene der Präsuppositionen (bei Annahme eines weiten Präsuppositionsbegrif f s) . In der Präsuppositionsliteratur werden AZ gelegentlich als Störfaktor erwähnt. So spricht Hintikka (laut JÄRBORG 1974: 6) von einem "inverted-comma use" von to know« bei dem die charakteristische Präsupposition der Wahrheit des Komplementsatzes nicht gilt, vgl. (20) Hans weiß, daß Erna ein Kind erwartet. (20') Hans "weiß", daß Erna ein Kind erwartet. In (20') ist der Schreiber im Gegensatz zu Hans offenbar nicht der Ansicht, daß Erna ein Kind erwartet. "Weiß" läßt sich paraphrasieren durch glaubt zu wissen, bei dem die erwähnte Wahr-
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heitspräsupposition aufgehoben, wenn nicht gar in ihr Gegenteil verkehrt ist. AZ spielen auch eine Rolle in FILLMOREs Analyse der Verben chase und escape (1971: 581 f . ) . Chase z.B. präsupponiert laut Fillmore, daß das vom Objekt bezeichnete Wesen sich schnell bewegt. Als "apparent counter-example", bei dem diese Präsupposition nicht resistent gegenüber der Negation ist, führt er an: (21) I didn't 'chase 1 the thief; as it happened, he couldn't get his car started. Fillmore erklärt solche Fälle plausibel als "semi-quotations" AZ sind ja ursprünglich Zitatzeichen. Dabei geht er offenbar davon aus, daß (Halb-)Zitate eine besondere Präsuppositionsstruktur haben. Das führt zur Frage der sog. eingebetteten Präsuppositionen, die hier nicht erörtert werden kann, obwohl sie in diesem Zusammenhang zweifellos genauere Betrachtung verdient. Ob die AZ eine Präsupposition oder eine andere Bedeutungskomponente betreffen, ist nicht generell festzulegen, sondern muß von Fall zu Fall entschieden werden. Dem folgenden Satz z.B. kann man mindestens zwei Interpretationen geben: (22) Jean a "divorce". Entweder suspendieren die AZ die Präsupposition, daß Jean verheiratet war; dann könnte (22) z.B. besagen, daß sich Jean von seiner Freundin getrennt hat. Oder sie betreffen die Behauptung; dann könnte (22) etwa bedeuten, daß sich Jean mit seiner Frau so verkracht hat, daß sie wie geschiedene Leute leben. 5. 3.1.
Zwei mögliche Motive für den Gebrauch von AZ Sprachnot
Es ist eine alltägliche Erfahrung, daß man nicht immer die Wörter findet, die genau das ausdrücken, was man sagen will. Entweder sie fallen einem nicht ein, oder man kann sie aus irgendwelchen Gründen nicht benützen (Sprachtabus; Fachterminologie vor Laien usw.); oder man kennt sie nicht; oder sie existieren ganz einfach noch nicht. Die Bezeichnungsschwierigkeiten resultieren z.T. aus der erwähnten Unscharfe, aus der nur "partiellen Intension" (WUNDERLICH 1974-: 270) vieler umgangssprachlicher Begriffe; z.T. aus der Tatsache, daß beständig neue Ausdrucksbedürfnisse
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auftreten, die sprachlich, gewissermaßen nicht vorgesehen sind (vgl. die Beispiele zur Weltraumfahrt). Der hier illustrierte Ausweg aus dem Bezeichnungsdilemma besteht in der Wahl eines annäherungsweise zutreffenden Ausdrucks und dem gleichzeitigen Hinweis auf die Diskrepanz zwischen kanonischer und situativer Instruktion. AZ etablieren eine (nicht-explizite) Ketakommunikation, in der der Leser aufgefordert wird, eine vom üblichen abweichende situationsgerechte Interpretation des Ausdrucks vorzunehmen. Als Paraphrase für eine referierende Uominalphrase in AZ wäre etwa denkbar: "dasjenige, das man provisorisch (in Ermangelung eines treffenderen Ausdrucks) als ' . . . ' bezeichnen könnte" . Damit werden die Modalisierung der Bezeichnungsrelation und der metalinguistische Charakter explizit. 3.2.
Polemik
In anderen, hier bewußt vernachlässigten Fällen hat der Gebrauch der AZ eine polemische Note, die mit ihrer Ursprungsfunktion als Zitatzeichen Zusammenhangb. Ausgangspunkt ist die Tatsache, daß die Wörter der natürlichen Sprachen in vielfältiger Weise die Marken ihrer Benutzer und ihrer Verwendungsgeschichte tragen. Der Gebrauch eines Wortes kann bestimmte Milieus, Meinungsgruppen, Ereignisse usw. evozieren. Umgangssprachliche Begriffe sind nicht nur unscharf, sondern auch inkonsistent, d.h. ihre Intension kann von einer Benutzergruppe zur ändern variieren (vgl. WUNDERLICH 1974: 202 f . ) . Daher dann der berühmte "Streit um Worte" (LÜBBE 1967): man bestreitet bestimmte Applikationen eines Begriffs; man spricht dem Gegner das Recht zum Gebrauch bestimmter Begriffe ab; man erklärt die gegnerischen Begriffe für inhaltsleer, widersinnig usw. - Es ist ein übliches Mittel der Polemik, die Worte des Gegners ironisch aufzunehmen, um die Absurdität seiner Ansprüche bloßzustellen. In schriftlichen Texten sind AZ ein beliebtes Ironiesignal, was zugleich ein Licht auf das Wesen der Ironie wirft: sie ist nicht bloß, wie üblich, semantisch zu definieren als der Ausdruck des Gemeinten durch sein Gegenteil, sondern zugleich pragmatisch als Imitation, Zitat (evtl. fiktiv) einer bestrittenen Position. Als Paraphrase einer referierenden Nominalphrase in ironischen AZ könnte man sich z.B. folgende Beschreibung vorstellen: "dasjenige, das NN
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fälschlich (demagogisch usw.) als '...' bezeichnet". Die Referenz geschieht hier also durch Rekurs auf eine fremde, nicht gebilligte Bezeichnungsweise. Hier ist auch der Platz von Attributen wie sopenannt, angeblich, vermeintlich. Fseudo- usw. Der Gebrauch der AZ lenkt also die Aufmerksamkeit einerseits auf die Komplikationen des Formulierungsprozesses, andrerseits —\ auf die Art, in der auch außerhalb von manifesten Zitaten oder Kontexten der propositionalen Einstellung beständig auf andere Äußerungen, andere Meinungen, andere Sprachrailieus, andere "mögliche Welten" verwiesen werden kann. Diese implizite Dialogik von Texten darf bei der Konstruktion eines adäquaten linguistischen Beschreibungsapparats nicht unberücksichtigt bleiben.
Anmerkungen 1
Die beiden Redeweisen sind nicht äquivalent. Die erste lehnt sich an Lakoffs Behandlung der "hedges" an. Die zweite scheint mir den Gegebenheiten besser zu entsprechen, doch lasse ich die Entscheidung hier offen und verwende beide Formulierungen nebeneinander. 2 Eine umfassende Beschreibung der Funktionen der AZ soll meine Dissertation (i.Vorb.) liefern. 3 Lakoff unterscheidet mit Hilfe einiger "hedges" vier Typen: "definitional", "primary", "secondary" und "characteristicthough-incidental". 4 Anders HÖRN (1969).
Literatur CARTER, John / MUIR, Percy H. (eds.) (1969): Bücher die die Welt verändern. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft. FILLMORE, Charles J. (1971): "Types of lexical information". STEINBERG, Danny D. / JAKOBOVITS, Leon A. (eds.): Semantics. Cambridge: University Press: 370-392. HORN, Laurence H. (1969): "A presuppositional analysis of only and even". Papers from the fifth regional meeting, Chicago Linguistic Society: 98-107. JÄRBORG, Jerker (1974): "On interpreting prepositional attitudes". Göteborg: Logical Grammar Reports 10 (vervielf.)
245
LAKOFF, George (1972): "Hedges. A study in meaning criteria and the logic of fuzzy concepts". Papers from the eighth regional meeting, Chicago Linguistic Society: 183-228. LÜBBE, Hermann (1967): "Der Streit um Worte. Sprache und Politik". GADAMER, Hans-Georg (ed.): Das Problem der Sprache. München: Fink: 351-371. SCHMIDT, Siegfried 3. (1973): Texttheorie. München: Fink. WUNDERLICH, Dieter (197*0: Grundlagen der Linguistik. Reinbek: Rowohlt.
IRONIE Wolfgang Berg
1. Vorüberlegung Literaturwissenschaft, Rhetorik und Stilistik scheinen sich einig darüber zu sein, was unter Ironie zu verstehen sei. Ironie liegt demnach dann vor, wenn "das Gegenteil von dem gemeint (istj , was mit den Worten gesagt wird." (KAYSEH 1948: 111-12). Ironie ist "der Ausdruck einer Sache durch ein deren Gegenteil bezeichnendes Wort" (LAUSBERG 196o: 3o2) oder dann gegeben, wenn "jemand das Gegenteil dessen sagt, was er meint". (ASMUTH/BERG-EHLERS 1974: 129) Nun kann aber der Widerspruch zwischen tatsächlicher, aktueller Bedeutung eines Satzes und der buchstäblichen, allgemeinen allein noch nicht ausreichend Ironie charakterisieren, da aie damit noch nicht von der Lüge abgegrenzt wäre. Entscheidend ist für Ironie im Gegensatz zur Lüge, daß der genannte Widerspruch offenbar und merklich ist. Der ironische Sprecher lügt nicht, täuscht letztlich auch nicht, läßt ja merken, daß er täuscht, daß er es nicht so meint. Ironie glückt dann, wenn Sprecher und Hörer gleichermaßen realisieren, daß allgemeine und aktuelle, eigentliche und uneigentliche Bedeutung auseinanderfallen. Es gibt im allgemeinen keinen Hinweis "ich werde nun ironisch, realisiere dies im folgenden !", der ausdrücklich eine Äußerung als ironisch kennzeichnet. Vielmehr müssen Sprecher und Hörer über Hegeln verfügen, die ihnen erlauben, eine Äußerung als ironisch zu realisieren. Diese Regeln zu formulieren, ist eine linguistische Aufgabe. 2. Lob
Die Geschichte der Rhetorik zeigt, daß Ironie zumeist als eine Form der Verstellung und Scheinhaftigkeit aufgefaßt wurde; insbesondere bestehe Ironie darin, durch Lob zu tadeln und durch Tadel zu loben (KNOX 1961: 2 1 ) . Nun sind aber Lob und Tadel Handlungen, die vornehmlich vermittels der Sprache vollzogen werden, mithin Sprechakte.
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Dagegen spricht nun keineswegs die Tatsache, daß explizit performative Sprechakte des Lobens oder Tadeins wie in Beispiel ( 1 ) nicht allzu geläufig sind. Dafür gibt es eine Reihe pragmatisch äquivalenter Ausdrücke, so die Beispiele ( 2 ) , (3) und vor allem Formen wie ( 4 ) : ( 1 ) Ich lobe Dich hiermit dafür, daß D u . . . (2) Es ist löblich, daß D u . . . (3) Lobenswerterweiee hast D u . . . (4) Ich finde es gut, daß Du... Notiert man den Sprecher einer Äußerung mit "X", den Hörer mit " ", eine beliebige Handlung mit " Z " , setzt man ferner die atomaren Prädikate " . . . S A G Z U . . D A S S . . . " oder kürzer " . . . S A G Z U . . . ( . . . . ) " und " . . . I S T GUT11 an, dann kann man ( 1 ) bis (4) in der Formel (5) zusammenfassen, diese wiederum zu (6) dekomponieren. ( 5 ) X lobt für Z (6) X SAGT ZU (Z IST GUT) (6) erklärt die Inakzeptabilität einer Äußerung der Form (7) (7) X lobt für Z , findet aber Z gut insofern, als der behauptete Widerspruch (aber) nach der semantischen Dekomposition nicht besteht. Die Aufrichtigkeit eines Sprechaktes besteht darin, daß der Sprecher glaubt, was er sagt. Aus (6) läßt sich so die Bedingung der Aufrichtigkeit eines Lobes (8) formulieren: (8) X glaubt (Z ist gut) 3 Jemanden für etwas zu loben, ohne dies gut zu finden, ist unaufrichtig. Dies kann für die Beispiele (9) und ( 1 o ) z u t r e f f e n , wenn der mit ( 1 1 ) referierte Sachverhalt wahr ist. (9) Dein Aufsatz ist lobenswert ( 1 0 ) Du hast ja wieder einen schönen Aufsatz geschrieben ( 1 1 ) Der Lehrer lobt den Schüler für den Aufsatz, ohne ihn gut zu finden Eine solche Unaufrichtigkeit kann in Hinsicht auf ein anderes Ziel zu rechtfertigen sein, wie in ( 1 2 ) : ( 1 2 ) Um dem Schüler Mut zu machen/um das Selbstvertrauen des Schülers zu stärken, lobt der Lehrer den Schüler, ohne... Diese Unaufrichtigkeit mag für Dritte merklich sein, soll es aber um ihrer Zielsetzung willen nicht für den Adressaten sein.
249
Äußert hingegen ein Lehrer ( 1 o ) , wenn der Schüler zugleich weiß, daß der Lehrer ( 1 o ) nicht aufrichtig geäußert haben kann, etwa weil ihm der Aufsatz mit Korrekturen übersät und mit einer 6 zensiert zurückgegeben wurde, dann kann er ( 1 o ) nur als ironisch auffassen. Daß der Lehrer mit ( 1 o ) etwas anderes als ein Lob ausdrücken wollte, weil er die Bedeutung des Wortes schön oder Bedingungen des Sprechaktes des Lobens nicht kennt, kann nicht ohne weiteres angenommen werden, schließlich wäre damit ja eine Grundlage menschlicher Kommunikation, die Annahme, daß die Kommunikationspartner ihrer Sprache mächtig sind, erschüttert. Andrerseits können sich zwei Kommunikationspartner durchaus dadurch unterscheiden, daß für den einen ( z . B . Lehrer) schön, zumal bei entsprechender Tongeste, von vornherein nur noch gleichbedeutend mit unschön idiomatisiert ist. Die Unterschiede der Idiolekte, Soziolekte und Dialekte in Bezug auf ursprünglich ironische Idioms können hier nicht weiter verfolgt werden. 3.. Tadel durch Lob Realisieren Sprecher und Hörer eines Sprechaktes des Lobens gleichermaßen, daß er so, als Lob nämlich, nicht gemeint sein kann, müssen sie wohl dem Sprechakt einen anderen Charakter geben. Die traditionelle Rhetorik sah die Punktion der Ironie darin, aus einem expliziten Lob einen faktischen Tadel zu machen. Dagegen spricht jedoch zunächst, daß die Bedingungen der Aufrichtigkeit eines ironischen Lobes ( 1 5 ) und die einer Tadelshandlung ( 1 4 ) logisch nicht äquivalent sind: ( 1 3 ) NICHT (X GLAUBT (Z IST G U T ) ) ( 1 4 ) X GLAUBT (Z SCHLECHT) Dies läßt sich aus den Teilsätzen deutlich ersehen: (15) (16) (17) (18)
X GLAUBT X GLAUBT NICHT (X X GLAUBT
( Z IST GUT) (Z IST NICHT SCHLECHT) GLAUBT ( Z IST G U T ) ) ( Z NICHT GUT)
( 1 5 ) und ( 1 6 ) sind deshalb nicht äquivalent, weil die von gut und schlecht konstituierte Skala des Bewertens Zwischenwerte kennt. 5 (18) ist in der negativen Wertung weit stärker als ( 1 7 ) , das ja nur ein positives Urteil ausschließt.
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Die fraglichen Äquivalenzen werden freilich, in der Konversation vielfach hergestellt. Ist eine negierte Behauptung aus dem Textzusammenhang heraus nicht als Zurückweisung ihrer positiven, aktuell thematischen Entsprechung einzustufen, sondern als eigenständige Behauptung, so wird sie meist stärker aufgefaßt als sie ist, wird disjunktive Logik unterstellt; behauptet zum Beispiel jemand ( 1 9 ) , so wird eine solche Behauptung nur als erheblich gelten, wenn man ( 2 o ) mitverstehen kann (DUCROT 1969: 1 4 6 ) . ( 1 9 ) Jakob verachtet Wein nicht ( 2 0 ) Jakob trinkt sehr gern Wein Unter der Bedingung solcher pragmatischer Postulate und Konversationsregeln können die Aufrichtigkeitsbedingungen ironischen Lobens und faktischen Tadeln äquivalent gesetzt werden. Dann aber bedeutet ein unaufrichtiges Lob, etwa ( 1 o ) mit Bedingung ( 1 3 ) , nicht nur nach der Intention des Sprechers, sondern auch pragmatisch realisierbar faktischen Tadel. Faktisches Lob durch expliziten Tadel zu realisieren, ist ganz analog prinzipiell möglich, empirisch jedoch nicht häufig. Dafür mag ein Grund darin zu sehen sein, daß Kommunikationspartner lieber Lob äußern oder hören, wenn auch mitunter nur scheinbares, anstatt zu tadeln oder getadelt zu werden. 4. Merklichkeit Woher nun bezieht der Partner eines ironischen Sprechers sein Wissen darüber, daß dieser Sprecher die Aufrichtigkeitsbedingungen seines Sprechaktes absichtlich und offenbar nicht erfüllt? Bei unseren Beispielen (9) oder ( 1 o ) kann der Hörer, der Schüler, mit einer gewissen Sicherheit darauf schließen, daß das Lob im Grunde Tadel darstellt, wenn er weiß, daß der Lehrer ein grundsätzlich ironischer Mensch ist, für Aufsätze nur Ironie übrig hat, für seine Aufsätze nur Ironie übrig hat, den Aufsatz in Wahrheit schlecht findet oder grundsätzlich alle seine Aufsätze schlecht findet, folglich auch den konkret vorliegenden. (MUECKE 1972: 37) Die Kointentionalität der Ironie beruht hier also darauf, daß Bedingungen der Art von ( 2 1 ) und ( 2 2 ) gegeben sind, woraus ( 2 3 ) folgt: (21) weiß (X ist ironisch) (22) weiß (nicht (X glaubt (Z ist g u t ) ) )
251
(23) weiß (X meint nicht, was er sagt) Die Merklichkeit von Ironie ergibt eich darüberhinaus dadurch, daß die ironische Äußerung wörtlich genommen im Gegensatz zu allgemeingültigen Normen und Werten stünde, daher zu Gunsten letzterer eben ironisch zu lesen ist. Denken wir uns die folgende Äußerung in einem Dialog zwischen 2 Personen namens Hans und Maria, nachdem Maria den hierin angesprochenen Sachverhalt herbeigeführt hat: ( 2 4 ) Schön, daß Du mein Auto zu Schrott gefahren hast. ( 2 5 ) Es ist wirklich nett von Dir, daß Du mein hart erarbeitetes, heißgeliebtes Auto zu Schrott gefahren hast. Nun mögen in der Gesellschaft, der Hans und Maria zugehören, die folgenden Sätze gelten: ( 2 6 ) Niemand findet es gut, wenn sein Auto zu Schaden kommt oder ( 2 7 ) Wer sich eine Sache hart erarbeitet hat, findet es nicht gut, dieser Sache verlustig zu gehen. Werden diese Allgemeinsätze nicht durch Zusatzbedingungen außer Kraft gesetzt, z.B. durch ( 2 8 ) , machen sie die Äußerungen ( 2 4 ) oder ( 2 5 ) unglaubwürdig, auffällig, uneigentlich. (28) Hans ist gut versichert Hans verwickelt sich in Widersprüche, wenn er sein Auto zwar hart erarbeitet hat, seinen Verlust aber als gut empfindet, schließlich findet doch niemand einen solchen Verlust gut. Warum sollte es also Hans tun? ( 2 4 ) kann er nicht so gemeint haben. Eine Hörerstrategie,die dies erschließt, gehört zur damit unterstellten Kompetenz, Widersprüche in einem Text wahrzunehmen und ist mit der Absicht verbunden, solche Widersprüche gegebenenfalls aufzulösen, in der Annahme, daß kein Sprecher widersprüchliche Texte produziert. Teilen Sprecher und Hörer nicht dasselbe Wertsystem oder sind sie sich ihrer unterschiedlichen Wertorientierung im einzelnen nicht bewußt, schlägt diese Art von Ironie, wenn sie nicht anders, parasprachlich signalisiert ist, vermutlich fehl.
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5. Effekt
Ein Sprecher S äußere zur Zeit t Q zu einem Hörer H den Zweisatztext (29-30): ( 2 9 ) Peter hat seine Frau immer geehrt. (30) Jetzt hat er aufgehört, sie zu schlagen. S präsupponiert mit (3o) sicherlich ( 3 1 ) , behauptet mit ( 2 9 ) auch (32): (31) (vor t Q ) Peter schlägt seine Frau (32) (vor t ) Peter ehrt seine Frau Ist für S und H ein Satz wie (33) gültig, dann ist der Text (29-3o) vollkommen kohärent und akzeptabel. (33) Wer seine Frau schlägt, ehrt sie. (34) Wer seine Frau schlägt, ehrt sie nicht. Gilt jedoch ( 3 4 ) , dann ist, an diesem Satz gemessen, der vorliegende Text, was die Behauptungen (31) und ( 3 2 ) betrifft, widersprüchlich. Ist S der Auffassung ( 3 4 ) , kann er (29-3o) nicht so gemeint haben, wenn er nur aufrichtig ist, logisch denkt und die Bedeutung des von ihm produzierten Textes kennt. Genaugenommen kann er ( 2 9 ) nicht so gemeint haben, denn die Faktizität des in (3o) angesprochenen Sachverhaltes ( 3 1 ) ist nicht ohne weiteres bestreitbar. ( 2 9 ) ist also die schwächere Tatsachenbehauptung und wird folglich ironisch zurückgenommen. Worin besteht nun der besondere stilistische Effekt eines solchen Textes im Vergleich zum Text (35-36)? (35) Peter hat seine Frau nicht immer geehrt. (36) = (3o) Zusammen mit dem mitgedachten Postulat (34) ist Text (35-36) logisch und semantisch kohärent. Eine solche Kohärenzerwartung wird auch an (29-3o) herangetragen; sie erfüllte eich, wenn der Sprecher die Wertaussage (33) teilte. Eben diese lehnt er jedoch ab, weist er zurück; er stellt ihr (34) entgegen. Damit hat diese Form von Ironie ZitatCharakter: indem der Sprecher einen Text produziert, der nach seinem Wertsystem nicht stimmig ist, zitiert er faktisch nur jene, nach deren Wertsystem er es ist. Indem der Sprecher eine zitierte Behauptung, ein vorgestelltes Lob und damit das zugehörige Wertsystem zurückweist, an seine Stelle das eigene gruppenspezifische oder allgemeingültige setzt, aktiviert er WertentScheidungen, bei sich und dem Hörer.
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Ironie ist eine gruppenspezifische, - verbindende und - unterscheidende Sprechhaltung.
Anmerkungen 1 2
3
4
5 6 7
Die Entgegensetzung von allgemeiner und aktueller Bedeutung ist problematisch, kann hier jedoch nicht w e i t e r diskutiert werden. Formel (6) ist der speziellen Fragestellung entsprechend stark vereinfacht, berücksichtigt nicht die teöglichkeit, daß der Adressat eines Sprechaktes des Lobens und die gelobte Person nicht identisch sind. liier nicht aufgeführt ist eine weitere bedingung: die Person muß in irgendeiner Form für die handlung Z verantwortlich sein. Zugleich ist damit eine weitere Möglichkeit unaufrichtigen, ironischen Lobens e r ö f f n e t : Jemand für etwas loben, das er nicht getan hat (aber tun s o l l t e ) . Einige Beobachtungen deuten darauf hin, daß der Gebrauch textkonstituierter Ironie nicht in allen sozialen Schichten üblich und geschätzt ist. Soziolinguistische Untersuchungen dazu liegen nicht vor. Auf diese Tatsache baut die rhetorische Figur der Litotes. wieder , das in ironischen Äußerungen häufig vorkommt, weist auf solche Folgerungen in kontinuierlichen Sozialbeziehungen hin. Diese Verbindung zum Zitat ist auch daran zu erkennen, daß Ironie vielfach wie ein Zitat mit Anführungsstrichen gekennzeichnet w i r d . ( 2 9 ) könnte man ja auch so schreiben: ( 2 Q 1 ) Peter hat seine Frau immer "geehrt".
Literatur ASMUTH, Bernhard/BEKG-EHLEKS, Luise ( 1 9 7 4 ) : Stilistik, Düsseldorf : Bert elsmann. DUChOT, Oswald ( 1 9 6 9 ) : "Presupposes et Sous-Entendus". Langue Frangaise. Decembre 1969: S. 3o-43. - Übers.:"Präsuppoaitionen und Mitverständnisse". PETÖFI, Janos S./FRANCK, Dorothea ( e d s . ) ( 1 9 7 3 ) : Präsuppositionen in Philosophie und Linguistik. Frankfurt/M.: Athenäum: 241-258. KAYSEK, Wolfgang ( 1 9 4 8 ) : Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft. Bern: Francke. S.Auflage 1959.
254
KNOX, Norman ( 1 9 6 1 ) : The word irony and its context. 15oo-1755, Dunham: 3-16. Übers.: "Die Bedeutung von ' I r o n i e ' . Einführung und Zusammenfassung." HASS, Hans Egon/MOHKLÜDER, Gustav Adolf ( e d s . ) : I r o n i e als literarisches Phänomen. Köln: Kiepenheuer 1973: 21-3o. LAUSBERG, Heinrich ( 1 9 6 o ) : Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. München:Hueber. MUECKE, Douglas C. ( 1 9 7 2 ) : " The communication of verbal irony". Journal of Litterary Semantics: 35-42.
RHETORIK UND PRAGMATIK?
Überlegungen zur sprachwissenschaftlichen Rhetorik Karl-Bernhard Knappe
1.
Tendenzen der Verbindung von rhetorischer und pragmatischer Sprachbetrachtung
1.1. Zentrale Bezugspunkte der Rhetorik als Theorie und Praxis intentionsgeleiteten Sprechens sind seit Aristoteles Sprachbenutzer und Redesituation. Unter der Fragestellung, ob eine Verbindung rhetorischer und pragmatischer Analyse und Theoriebildung nützlich ist , soll im folgenden überlegt werden, ob 1. der 1 kommunikationsethische' rhetorisch-pragmatische Ansatz von Kopperschmidts Allgemeiner Rhetorik als sinnvolles Inbezugsetzen beider Disziplinen erscheint; ob 2. die aus sprachphilosophischem Erkenntnisinteresse aufgestellten Sprechaktregeln Searles auch für die Analyse rhetorischer Sprechakte hilfreich sind und 3. ob möglicherweise rhetorisches Sprechhandeln mit Einbeziehung der zwischen beiden Partnern der rhetorischen Kommunikation, Redner und Auditorium, obwaltenden Verstehensbedingungen präziser zu beschreiben ist. Dabei ist vorauszusetzen, daß die Rezeption des Auditoriums eine Leistung der es formenden unterschiedlichen Individuen ist, und daß rhetorische Strategie gleichsam über der Menge von Regeln operiert, die ihnen allen gemeinsam sind. 1.2. Josef Kopperschmidt umreißt 1973 Rhetorik als "Theorie und Praxis einer praktischen Vernunft" (KOPPERSCHMIDT 1973a: 2O) und versteht sie in seiner "Allgemeinen Rhetorik" als "Grammatik des vernünftigen Redens", deren Prämissen die Konsens-Theorie, die 'kommunikative Kompetenz 1 und der "Diskurs 1 bei Habermas sind (KOPPERSCHMIDT 1 9 7 3 b ) . In diesen Rahmen ist der Abschnitt "Sprechakttheorie und Pragmatik" in der "Analyse des Persuasiven Sprechaktes" gestellt (1973b: 7 4 f f . ) . Analog zum Searleschen Ansatz führt er dort den 'Persuasiven Sprechakt' ein, der zunächst als 'Argumentation' "angemessen" (ebda. 82) beschrieben sei, und der entsprechend Regeln unterliegt. Diese sieben Regeln aber
256
"können ... nur die idealisierten Bedingungen des Gelingens eines Persuasiven Sprechaktes als Voraussetzung eines möglichen Uberzeugungserfolges" angeben (ebda. 8 3 ) . Hier schlägt Searles Auffassung sprachlichen Handelns in Sprechakten als heuristische Voraussetzung seiner Untersuchungen zu Referenz und Prädikation (in nicht idealem, wohl aber typisiertem Sprechen) bei Kopperschmidt um in die Gestaltung von Sprechaktregeln als ethische Postulate. Den Rhetoriker, der konkretes rhetorisches Sprechen untersuchen möchte, verblüffen vor allem Regel 5 und 6: (5) Der Persuasive Sprechakt gelingt dann und nur dann, wenn S bereit ist, sich gegebenenfalls von den Argumenten des Kommunikationspartners überzeugen zu lassen. (6) Der Persuasive Sprechakt gelingt dann und nur dann, wenn S sich verpflichtet, gemäß seiner Überzeugung zu handeln. Diese Verbindung von Rhetorik und Pragmatik aber steht den empirischen Sprechakten täglicher Rhetorik als Postulat gegenüber, und es mag bezweifelt werden, daß sie die realistische rhetorisch-pragmatische Analyse von Hörer- und Sprechertätigkeit sinnvoll erweitert, denn es ist die Aufgabe sprachwissenschaftlicher rhetorischer Analyse, in synchronen Korpora Regeln aufzusuchen, die für intentionsgeleitetes Sprechen konstitutiv sind, und annähernd (etwa in 'Produktionsnormen 1 ) zu klassifizieren. Damit verbietet sich Vereinseitigung in Repetition (historischer) normativer Systeme wie in Richtung bloß spekulativer Theorie. 2. 2.1.
Rhetorik und Sprechakttheorie als pragmalinguistische Teiltheorie Rhetorisches Argumentieren in der Meinungsrede
Eine Festlegung der Intention des Redners auf die Herstellung praktischer Vernunft kann für die Erfassung rhetorischer Argumentation täglicher Kommunikation im rhetorisch-pragmatischen Sinn keine Basis sein. Bei Aristoteles, wieder bei PERELMAN 197O und TOULMIN 1958 ist die Form rhetorischen Argumentierens - neben der Affektstimulierung - der praktische Syllogismus, das Enthymem. So entstehen "enthymemisch-argumentative Texte" (SCHNELLE 1975: 6 7 ) , deren Konsequenzrelationen keine sprachsystematischen/logischen Konsequenzrelationen zu sein brauchen.
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Textkohärenz kann stets von den "aktuellen Bedingungen der Verwendung" (ebda. 64) der Einzelsequenz allein bestimmt sein. Die pragmatische Analyse dieses Aspekts rhetorischer Argumentation kann nicht vom Postulat eines Konsensus über die "materiale Gültigkeit" der "argumentativen Prämissen" als Voraussetzung des rhetorischen Schlusses her gelöst werden; ein entsprechender 'Diskurs' ist der Meinungsrede fremd (vgl. KOPPERSCHMIDT 1973b: 13O; dazu MAAS/WUNDERLICH 1 9 7 2 : 2 5 8 f f . ) . Das unten vorgelegte Beispiel zeigt eher, daß es auf eine 'emotionale Gültigkeit' enthymemischer Schlußprämissen ankommt, die je situativ bestimmt in unterschiedlichen Interaktionsmodi kommunikativ realisiert wird. 2.2.
Gedankenfigur/Argumentationsfigur/rhetorischer
Sprechakt
Unsere Überlegungen seien am Beispiel der Sprechakttheorie in der Fassung Searles verdeutlicht. Das Kontinuum einer Gesamtargumentation (rhetorische Rede) gliedert sich in mehr oder weniger systematisch kohärente Einzelargumentationshandlungen, die (hierarchisch) im Redeaufbau angeordnet werden. Ihre Form ist, als kleinste Einheit der Gesamtsequenz, die Argumentationsfigur. Damit sind nicht beliebige Figuren und Tropen gemeint, sondern wesentlich Gedankenfiguren, "figurae sententiae" (LAUSBERG 1967 §§ 3 6 3 - 4 4 7 ) . Jede Argumentationsfigur (AF) ist eine inhaltlich gegliederte Sequenz (im Gegensatz zu rein phonetischen, morphologischen oder syntaktischen Extensionsfiguren), damit meist eine satzübergreifende Äußerung. Jede dieser Äußerungen ist im üblichen Sinne pragmatisch situiert. Ihre Wirkung auf das Auditorium steht im Vordergrund des rhetorischen Interesses, sie resultiert aus der aktualen Einschätzung dieser pragmatischen Situiertheit, der Kenntnis der für sie konstitutiven Regeln. Diese Wirkung nennen Dubois et al. das "Ethos" der Figur, einen affektiven Zustand, der beim Empfänger durch eine besondere Nachricht ausgelöst wird, und dessen spezifische Qualität in Abhängigkeit von einer bestimmten Anzahl von tauch pragmatischen!] Parametern variiert ... Der Wert, der einem Text zukommt, ist ... eine A n t w o r t des Lesers oder Hörers." (Dubois et al. 1 9 7 4 : 2 4 2 ) . Die AF wird von uns limitiert nach den herkömmlichen rhetorischen Definitionen, wie sie etwa in Prokatalepse, retorsio argu-
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menti, concessio, descriptio gegeben werden. Ihre Ausgliederung im Redekontinuum ergibt sich aus Form und zugeordneten Inhalten, empirisch auch aus Gliederungssignalen des Redners. Eine satzübergreifende Limitierung scheint so gesichert, der Übergang zu für die AF konstitutiven Sprechaktregeln möglich. Eine illokutive Kraft des rhetorischen Sprechaktes kann nicht sinnvoll bezweifelt werden. Um deutlich zu machen, daß er insbesondere intent ionsgeleitetem Sprechen entspringt, führen wir terminologisch 'rhetorische K r a f t 1 ('rhetorical f o r c e ' ) als Spezifikation von 'illokutive K r a f t " ein. So setzen wir an, daß es Regeln für den Sprachgebrauch gibt, der als Indikator der AF und ihrer rhetorischen Kraft dient (vgl. SEARLE 1971: 9 7 ) . So wie Searles zur Lösung sprachphilosophischer Fragen eingeführte Regeln systemseitig klassifizierende sind und aktuale Kommunikation mit ihnen nur systemseitig beschrieben werden kann, so ist die AF eine virtuelle, systemseitige Figur, die in der Rede konkret "ausgefüllt" (DÜBOIS et al. 1974: 25) wird. Insofern ist es sinnvoll, von 'Sprechakttypen 1 wie 'Sprechakten', von 'AF-Typen 1 wie von 'AF 1 zu sprechen, die Regeln aber aus performanzseitiger Analyse zu gewinnen. Im folgenden beschreiben wir einen konkreten rhetorischen Sprechakt (rSA) unter Zuhilfenahme Searlescher Regeln. Freilich ergibt sich für die Rhetorik von vornherein die Frage, ob es sinnvoll ist, Regeln des rSA zu beschreiben, ohne deutlich zu machen, daß sie ihren Status vor allem in der Relation zum 'perlokutiven' E f f e k t , besser 'Ethos' im oben definierten Sinne, gewinnen. 2.3.
Textbeispiel (Tonbandaufnahme)
Debatte des Deutschen Bundestages am 1 7 . 9 . 7 5 (1) Wenn es um die verfassungsmäßigen Interessen der Bundesländer geht / wäre es eine schlimme Sache / wenn der eine oder andere nur wegen seines Parteibuches anders entscheiden würde / nur meine Damen und Herren / (Zwischenrufe) und das ist der erlement / (Zwischenrufe) ich komme gleich darauf, verehrter Kollege Ehrenberg / (2) nur es ist ein elementares Mißverständnis einer Verfassungsordnung / wie sie im Grundgesetz niedergelegt wird, wenn hier ein so ungewöhnlich zynisch gefährlicher Satz aus dem Munde des Kanzlers kommt / indem er sagt / der Bundesrat / und dazu im Gegensatz / das gewählte Parlament / (3)
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Herr Bundeskanzler / was ist das für ein Verfassungsverständnis in dieser Bundesrepublik Deutschland? (Ovationen, Beifall, 24 s e k . ) (4) Ich muß Ihnen schlicht und einfach sagen / angesichts der Geschichte / der von uns gemeinsam getragenen Geschichte unserer Bundesrepublik in über 25 Jahren / angesichts der Bedeutung bei allem was es da gab zwischen Bundestag und Bundesrat / zwischen diesen beiden Kammern der nationalen Gesetzgebung / ist doch ein solcher Satz aus des Munde des Regierungschefes gänzlich unerträglich in diesem Lande / (Beifall ca. 11 s e k . ) (Gesamtdauer: ca. 10O sek.; / = vom Redner gesetzte deutlich wahrnehmbare Einschnitte.) Der Text realisiert die AF der Unterstellung. Ich paraphrasiere (vgl. UNGEHEUER 1 9 7 4 : 2O) - im folgenden bezeichnet als 'Makroproposition 1 P der AF - : ( 1 ) Bei verfassungslegitimierter Interessenvertretung der Länder im Bundesrat ist parteibuchbestimmtes Verhalten schlimm. ( 2 ) ( 3 ) Der Kanzler, indem er einen Legitimationsunterschied (Gegensatz) zwischen Bundesrat und gewähltem Bundestag behauptet, handelt gegen die Verfassung. (4) Ein solcher Kanzler (Synekdoche) ist heute nach 25 Jahren unerträglich in unserer Bundesrepublik. Die AF beginnt, nach einer Einstimmung über Signalworte ( 1 ) , bei ( 2 ) , endet m i t ( 4 ) . 2.4.
Analyse des rhetorischen Sprechaktes
Der AF-Typ Unterstellung (als indirekter Sprechakt) wird als Behauptung eingesetzt. Deren illokutiver E f f e k t ist aber nach den Regeln Searles hier nicht darstellbar: für P gilt z . B . 'Der Redner hat keine Beweismittel für die Wahrheit von P; es ist irrelevant, ob das Auditorium das Behauptete weiß 1 (Einleitungsregeln) ; daß der Redner P glaubt, ist nicht konstitutiv für die rhetorische Kraft der AF (sincerity-rules); das aktivierte Meinen des Auditoriums (A) entspringt nicht der Versicherung einer wirklichen Sachlage (essential rules) (vgl. SEARLE 1971: 1OO) . Für den AF-Typ wie für seine Rezeption gelten andere Konventionen. Aus Raumgründen seien unsere Überlegungen weiter an einer Unterfigur der AF, der rhetorischen Frage (rF) bzw. der 'interro2 gatio 1 (3) verdeutlicht. Als Modus in der AF vermittelt sie zusätzlich die die rhetorische Evidenz verstärkende Entrüstung des Redners. Ihre Rezep-
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tion in der Kommunikation wäre auch durch Regeln des Hörerverhaltens zu beschreiben. In der vorgelegten AF erzeugt sie den affektischen Höhepunkt der Argumentation und ist dabei der grundlegende Schlußsatz des Enthymems, dessen conclusio (4) ist. Den Schlußsatzcharakter erlangt sie durch rhetorische Evidenz, indem sie zusätzlich als Apostrophe ("Herr Bundeskanzler") und über das emotiv-positiv besetzte (BADURA 1973: 54) aggregierte Symbol (KLAUS 1971: 56) 'Verfassungsverständnis 1 die affektive Stimulierung steigert. So stellt sie die Affirmation her, die Thema der AF ist. Dem rhetorisch-terminologisch Dargestellten korrespondieren pragmatische Faktoren, die an anderer Stelle zusammenzustellen wären. Hier betrachten wir die rF als rSA um zu sehen, wie weit damit die rhetorische Kraft beschreibbar wird. Als offenbare Fragehandlung an den Angesprochenen, deren Voraussetzungen vor ihm und vor A dargelegt sind, entspricht sie einem Erwartungshorizont (vgl. MAAS/WUNDERLICH 1972: 2 1 4 ) ; die Prämissen sind enthymemisch gewonnen ( 2 ) ; so wird sie zur Behauptung der AF. In pragmatischer wie rhetorischer Hinsicht ist eine Frage auf eine Aufforderung reduzierbar (MAAS/WUNDERLICH 1972: 2 1 3 ) . Es empfiehlt sich, die Frage nach Indikatoren der rhetorischen Kraft nach Searles Regeln für a) Frage, b) Aufforderung, c) Behauptung (SEARLE 1971: 100f.) zu erörtern. Zur Verdeutlichung mag die Behandlung von zwei Regeltypen hinreichend sein: im folgenden behandeln wir 'sincerity-rules' und 'essential rules' so, daß wir an den markierten Stellen jeweils unsere Ergebnisse zu Searles Formulierungen geben. 1) Sincerity-rules: a) S (= Redner, künftig als ' R ' ) wünscht keine Information. b) R wünscht, daß A die Unterstellung als mögliche Aussage realisiert. c) R muß P nicht glauben. 2) Essential rules: a) P gilt weder bei A noch bei 'Gefragtem' als Versuch, eine Information zu entlocken. b) 1. Äußerungsbezug A: P gilt als Versuch, A dazu zu bringen, die Unterstellung P zu glauben (zu 'realisieren'). 2. A'ußerungsbezug 'Gefragter': P gilt nicht als Versuch, ihn zur gleichen Realisierung zu bringen.
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c) P ist ausdrücklich nicht die Versicherung des Inhaltes, daß P eine wirkliche Sachlage darstelle - allein die Annahme wird eröffnet. So scheint allenfalls eine Illokution als Aufforderung naheliegend. Es ist aber deutlich, daß eine performative Übersetzung "ich fordere dich hiermit a u f , P zu glauben 1 den Zweck der rF zunichte machen müßte, abgesehen davon, daß sie so Konversationsmaximen, damit aber auch rhetorische Maximen, verletzt. So ist die rF keine Aufforderung, eine Unterstellung als solche zu glauben; gleichwohl zielt sie aber als Modus der Kommunikation gerade auf diese kommunikative Realisierung, um sie zur Basis für innere (evtl. auch äußere) Handlungen von A zu machen; das ist das Charakteristikum ihrer rhetorischen K r a f t . Diese ist so mit den Kategorien der Sprechakttypen 'Behauptung/Aufforderung/Frage 1 bzw. für deren Paraphrasen systemseitig nicht zu fassen. Will man die Rede vom rSA beibehalten, so zeigt u.a. der Anteil der AF an mehreren Illokutionstypen die Notwendigkeit, weitere kommunikativ relevante Elemente zur Fixierung der konstitutiven Regeln dieses Sprechaktes heranzuziehen. 3.
Sprechakt und modale Komponente der Rede
3.1. Die Tatsache des Zusammenhanges zwischen sprachlicher Formulierung (Form und Inhalt) der Äußerung, ihrer pragmatischen Situierung in der Kommunikationssituation und ihrer Effizienz als Handlung zur Initiierung von Handlungen ist die Basis rhetorisch-pragmatischer Analyse und Theoriebildung. Sprechakttypen sollten unter rhetorischem Blickwinkel letztlich handlungstheoretisch fundiert sein, um so dem Rhetoriker einen brauchbaren Ansatz zur Analyse der ihn interessierenden Sprachgebrauchsstrategie zu ermöglichen. Die pragmatischen Überlegungen bei Kopperschmidt und Searle trugen insbesondere nichts zu der Frage bei, wie der Modus einer Nachricht (des 'materialen Inhaltes', vgl. UNGEHEUER 1972: 1 8 ) , auch eine regelgeleitete Form des Sprachverhaltens, und seine Rezeption als Sprechakt beim Hörer beschreibbar sein könnte oder wieweit die Hörertätigkeit konstitutiv für den rSA ist und wie der Modus einer Nachricht im Felde R-A-Situation Effizienz ge-
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winnt. So wäre die von Ungeheuer definierte "modale Komponente 1 einer Rede (vgl. UNGEHEUER 1972: 18) zur sprachwissenschaftlichen und handlungstheoretischen Deskription der wesentlichen Wirkung der rhetorischen Funktion, "die Aufmerksamkeit auf die Nachricht selbst zu lenken" (DUBOIS et al. 1974: 2 8 9 ) , zu nutzen 3 . 2 . Die Modalität einer Nachricht, Kernstück der rhetorischen Leistung und Grundlage der Analyse der rhetorischen Kraft, wird durch spezifische Abwahl von Paraphrasen in AF realisiert, deren Zustandekommen aus der rednerischen Kenntnis ihrer modalisierenden Funktion erwächst. So müßten Regeln nach Searle entsprechend ergänzt werden um die Darstellung des Anteils, den die modale Komponente am Gelingen des rSA bei R und A hat. So gilt, daß die Analyse des rSA aus einer Kombination von Bedingungen und Regeln eines zugrundeliegenden Sprechakttyps mit den ihn aktual konstituierenden modalen Bedingungen und Regeln erwachsen muß. Modale Subkomponenten (UNGEHEUER 1974: 26 u. passim) haben dabei Anteil an allen Regeltypen für den rSA wie Eingangsbedingungen, Proposition, Einleitungsvoraussetzungen, Ernsthaftigkeit und Wesentlichkeit. Im folgenden ordnen wir, um den möglichen Weg einer dem Rechnung tragenden regelhaften Beschreibung des rSA versuchsweise anzudeuten, unsystematisch Regeltypen und modale Subkomponenten nach ihrer gegenseitigen Relevanz einander zu. Dabei gehen wir von unserer AF als empirischer Basis aus und verfahren so, daß wir unter a) Regeltypen und Subkomponenten anordnen und unter b) den empirischen Bereich der AF (als rSA) angeben, der auf ihre Realisierung verweist. 1) Kommunikationsbedingungen: a) Die sozial institutionalisierten Interaktionselemente der Kommunikation wie des Modus stehen situativ für R und A fest. b) Die AF ist in einer Bundestagsrede situiert, die durch Medien (Öffentlichkeitscharakter) übertragen wird. 2) Regeln des propositionalen Gehaltes: a) Die fundamentale Kommunikationsintention ist, P zu kommunizieren. P kann, da Produkt enthymematischer Rhetorik, nur erschlossen werden (VerStehensvarianten denkbar). b) Die Teilpropositionen von (1) bis (3) werden in affektstimulierendem Sprachgebrauch zur Affirmation von P mit der Teilproposition der conclusio (4) verbunden.
263
3) Einleitungsregeln: a) Es wird akzeptiert, daß R glauben machen kann und darf, daß P eine zuverlässige Beschreibung ist (Erwartungshaltung von A ) . Die konkrete Relativierung ( 1 ) bis (4) gewinnt argumentative Funktion und läßt P möglich, nicht absurd erscheinen (die Frageform an der Kernstelle hat den emotiven Wert der Behauptung; als Behauptung expressis verbis würde sie Gegenäußerungen stimulieren). b) Die Rede wird nicht zurückgewiesen; der Argumentationsgang von P gilt als politische Argumentation. 4) Ernsthaftigkeitsregeln: a) "Für die Verstehensprozesse beider Seiten ist damit eine Supposition festgelegt" (UNGEHEUER 1 9 7 4 : 2 7 ) , die dahingehend modalisiert, daß R mit seiner auf (1) bis (4) gestützten Darstellung der Möglichkeit von P Wahrheitsanspruch erhebt und will, daß A handelnd Konsequenzen zieht. b) Die R (und der Öffentlichkeit) signalisierte Rezeption von P durch A zeigt, daß diese Supposition erkannt ist und besteht. 5) Wesentliche Regeln: a) Die AF gilt als ein auf Kenntnisse und Beweise gestützter Versuch, A von P zu überzeugen und so zum Tun aufzufordern. b) Signale von A wie 4 b ) . Aus der vergleichenden Betrachtung größerer Rede-Korpora dürfte, wenn die hier angedeuteten Faktoren und Komponenten analytisch zusammengesehen werden, sich die Frage beantworten lassen, ob für den rSA 'Unterstellung' konstitutive, allgemeinere Regeln erschließbar sind. Akzeptiert man die Limitierung des rSA nach den - der Beobachtung konkreter gesprochener Sprache und ihrer Wirkung entsprungenen - Systematisierungen der Rhetorik, könnte untersucht werden, ob auf dem vorgeschlagenen bzw. einem ähnlichen Weg präzisere, redner- und hörerbezogene Beschreibung des rSA als Interaktionselement täglicher Kommunikation-möglich wird. In der Verbindung sprach- und handlungstheoretischer Aspekte von Kommunikation ergibt sich dann aber ein weites Feld fruchtbarer Zusammenarbeit zwischen 'Rhetorik und Pragmatik'.
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Anmerkungen 1
2
Im wesentlichen werden folgende Auffassungen von Rhetorik diskutiert und zu Überlegungen der Pragmatik in Beziehung gesetzt: 1. Die traditionelle, eher normative Rhetorik und (literarische) Stilistik (BREUER 1 9 7 4 ; DUBOIS et al. 1 9 7 4 ; SPILLNER 1974) gibt das Modell ab, von dem aus Breuer ( 1 9 7 4 : 1 4 2 f f . ) "Textprozesse" pragmatisch analysieren will. Heuristische Einheiten sind dabei "Argumentationsmuster" und Figuren als kleinste Einheiten der Konstitution von Textprozessen; im Gegensatz zu unseren Argumentationsfiguren werden 'Argumentationsmuster 1 als "Formen, Gattungen" und so als "syntaktische Muster höherer Komplexität" (BREUER 1974: 167 f f . ) verstanden. 2. Im Gegensatz zu 1. und eher sprachwissenschaftlich orientiert erscheint Rhetorik als 'Rhetorische Kommunikation 1 (GEISSNER, KOPPERSCHMIDT u . a . ) . Dahinter steckt der Grundgedanke einer - graduell bis zur Un-Rhetorik gehenden - Analogie zwischen Rhetorik und dialogischem Sprechen. Vielfach wird bei diesen Autoren eine wissenschaftstheoretische Affinität zur Pragmatik-Diskussion im Bereich der "Ethik der Kommunikation" (vgl. APEL 1973: 4 2 9 ) deutlich. Helmut Geißners "Theorie der rhetorischen Kommunikation im Schnittpunkt von Sprachtheorie und Handlungstheorie" (zuletzt GEISSNER 1975: 7) ist sich dabei noch bewußt, daß Rhetorik "nur Mittel zu sozialem Handeln ist, aber noch nicht das soziale Handeln selbst" (GEISSNER 1975: 1 6 9 ) . Für den 5. Band der Reihe "Sprache und Sprechen 1 hat er eine Abgrenzung der Rhetorik zur Pragmalinguistik angekündigt. Eine Formulierung dieser Art wird im Deutschen auch als Ausruf aufgefaßt, der aber dann bei uns einer Thematisierung des Verfassungsverständnisses erst f o l g e n müßte (exclamat i o ) . Im strengen Sinn besteht diese aber "in der Umwandlung eines Aussagesatzes in einen Ausruf" (LAUSBERG 1 9 6 7 : § 4 4 6 ) , die Satzform wird beibehalten. Für die Definition als rhetorische Frage/interrogatio (rF) spricht neben der syntaktischen Form, daß sie auf Fragevoraussetzungen aufbaut (2) und einen Fragebereich eröffnet ("Arten von Verfassungsverständn i s 1 ) ; für die Rhetorizität spricht, daß sie durch "Evidenz ... der Unnötigkeit der fragenden Formulierung" Affekte stimuliert; eine Antwort wird nicht erwartet, weil die rF "die der exclamatio ... nahestehende Formulierung einer Aussage" ist. Gleichwohl sind "die Grenzen [zwischen interrogatio und exclamatio] fließend" (LAUSBERG 1 9 6 7 : §445; 2 , 3 ) .
Literatur ARISTOTELES: Rhetorik. Paderborn: Schöningh, 1959. Topik. Hamburg: Meiner, 1968. APEL, Karl-Otto ( 1 9 7 3 ) : "Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik". APEL, Karl-Otto: Transformationen der Philosophie. II: 358-436.
265
BADURA, Bernhard ( 1 9 7 3 ) : Sprachbarrieren. Zur Soziologie der Kommunikation. Stuttgart-Bad Cannstatt: Fromann, 2. A. BREUER, Dieter ( 1 9 7 4 ) : Einführung in die pragmatische Texttheorie. München: Fink. DUBOIS, Jacques / EDELINE, Francis / KLINKENBERG, Jean-Marie / MINGUET, Philippe / PIRE, Francois / TRINON, Hadelin ( 1 9 7 4 ) : Allgemeine Rhetorik, übersetzt und herausgegeben von Armin Schütz. München: Fink. GEISSNER, Helmut ( 1 9 7 5 ) : Rhetorik und politische Bildung. Kronberg: Scriptor. HENNE, Helmut ( 1 9 7 5 ) : Sprachpragmatik. Nachschrift einer Vorlesung. Tübingen: Niemeyer. KLAUS, Georg ( 1 9 7 1 ) : Sprache der Politik. Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften. KOPPERSCHMIDT, Josef ( 1 9 7 3 a ) : "'Kritische Rhetorik 1 statt 'Moderner wissenschaftlicher Rhetorik 1 ". Sprache im technischen Zeitalter 45: 18-58. - Wieder in: DYCK, Joachim (ed.) ( 1 9 7 4 ) : Rhetorik in der Schule. Kronberg: Scriptor, 2O4235. [Im Inhaltsverzeichnis dort falscher Titel; richtiger Beitragstitel: "Kritische Rhetorik".] ( 1 9 7 3 b ) : Allgemeine Rhetorik. Stuttgart etc.:
Kohlhammer.
LAUSBERG, Heinrich ( 1 9 6 7 ) : Elemente der literarischen Rhetorik. München: Hueber, 3 . A . 1973. MAAS, Utz / WUNDERLICH, Dieter ( 1 9 7 2 ) : Pragmatik und sprachliches Handeln. Mit einer Kritik am Funkkolleg "Sprache". Frankfurt: Athenäum. PERELMAN, Ch. / OLBRECHTS-TYTECA, L. ( 1 9 7 0 ) : Traite de l'Argumentation. La nouvelle rhetorique. Brüssel: Editions de l'Institut de Sociologie, 2 . A . 197O. SCHNELLE, Helmut ( 1 9 7 5 ) : "Zur Explikation des Begriffs 'Argumentativer Text 1 ". Sprache der Gegenwart 35: 54-77. SEARLE, John ( 1 9 7 1 ) : Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay. Frankfurt/Main: Suhrkamp. SPILLNER, Bernd ( 1 9 7 4 ) : Linguistik und Literaturwissenschaft. Stilforschung, Rhetorik, Textlinguistik. Stuttgart etc.: Kohlhammer. TOULMIN, S. ( 1 9 5 8 ) : The uses of argument. London: Cambridge University Press. UNGEHEUER, Gerold ( 1 9 7 2 ) : "Aspekte sprachlicher Kommunikation". UNGEHEUER, Gerold ( e d . ) : Sprache und Kommunikation. Hamburg: Buske: 9-23. ( 1 9 7 4 ) : "Was heißt: 'Verständigung durch Sprechen 1 ?". Sprache der Gegenwart 26: 7-38.
6.
TEXTTHEORIE
TEXTHERSTELLUNG UND OPTIMIERUNG
Eine Anwendung der Operations Research in der L i n g u i s t i k Fritz Pasierbsky
In dem Vortrag, der a n h a n d eines T e x t h e r s t e l l u n g s m o d e l l s mehr ein Programm einer L i n g u i s t i k der O p t i m a l p l a n u n g skizzieren als empirisch abgesicherte Ergebnisse vorlegen w i l l , sollen folgende Punkte behandelt werden: Erstens soll auf die entscheidungstheoretische Struktur von Erzeugungsprozessen sprachlicher Äußerungen eingegangen werden, worunter immer T e x t h e r s t e l l u n g s p r o z e s s e verstanden werden. Damit soll verdeutlicht werden, in welchem l i n g u i s t i s c h e n Rahmen sich F r a g e s t e l l u n g e n ergeben, d i e eine A n w e n d u n g m a t h e m a t i s c h e r Verfahrensweisen der Operations Research n ü t z l i c h machen. Zweitens soll am Beispiel von m e h r s t u f i g e n Textherstellungsprozessen v e r d e u t l i c h t werden, in w e l c h e r Weise sich Prozesse der Erzeugung sprachlicher Äußerungen mit H i l f e der Operations Research, hier der dynamischen Optimierung, analysieren, modellieren und berechnen lassen. Drittens sollen einige Probleme und Perspektiven einer an der Operations Research o r i e n t i e r t e n L i n g u i s t i k a u f g e z e i g t werden. V e r s c h i e d e n e w i s s e n s c h a f t l i c h e D i s z i p l i n e n ( z . B . d i e psychol i n g u i s t ! sehe Theorie von der S p r e c h t ä t i g k e i t , e i n z e l n e Ansätze d e r f u n k t i o n a l e n S p r a c h b e t r a c h t u n g , b e s t i m m t e V a r i a n t e n d e r neueren T e x t t h e o r i e u s w . ) h a b e n z u d e r E r k e n n t n i s b e i g e t r a g e n , d a ß die Erzeugung sprachlicher Äußerungen entscheidungstheoretisch b e g r ü n d e t ist. A u f d e r G r u n d l a g e d e s v o n A . R . L U R I J A (1959) entwickelten Modells der stufenweisen Erzeugung von Äußerungen, d a s u n t e r a n d e r e m ü b e r d i e b e i A . A . L E O N T ' E V (1969; d t . 1971) m o d i f i z i e r t e Form E i n g a n g i n d i e m o d e r n e S p r a c h w i s s e n s c h a f t g e funden hat, lassen sich folgende vier Merkmale der Erzeugung sprachlicher Äußerungen erklären: 1. Der Prozeß der 'Erzeugung s p r a c h l i c h e r Äußerungen besitzt eine Stufenstruktur. Das Erzeugungsmodell, das zum Beispiel
270
A. A. L E O N T ' E V (1975: 152)v o r s c h l ä g t , geht von f o l g e n d e n Stufen aus (dort Etappen genannt): a. einer Etappe der Motivierung der Äußerung; b . e i n e r E t a p p e d e r I d e e ( d e s P r o g r a m m s , d e s P l a n s ) d e r Äußerung; c. e i n e r E t a p p e der V e r w i r k l i c h u n g der Idee ( d e r R e a l i s i e r u n g des P l a n s ) ; d. e i n e r E t a p p e des V e r g l e i c h s der R e a l i s i e r u n g der Idee mit der Idee selbst. Ein V e r g l e i c h dieses Stufenmodell s mit dem Modell p s y c h o l i n g u i s t i s c h e r E i n h e i t e n v o n C h . E . O S G O O D ( 1 9 6 5 ) oder m i t d e m S i n n ··* Text-Modell v o n I . A . M E L ' C U K (1974) wäre h i e r n ü t z l i c h , l i e g t aber a u ß e r h a l b des h i e r gesetzten Rahmens. 2. Auf e i n e r oder auch auf mehreren dieser Stufen f i n d e t eine Programmierung der Äußerung statt. Die A u f f a s s u n g , bei der Untersuchung der Sprache nicht von einem fertig a u s f o r m u l i e r t e n Text a u s z u g e h e n , s o n d e r n d i e A r t u n d W e i s e z u b e s c h r e i b e n u n d z u e r k l ä r e n , w i e d i e s e r Text v o r h e r p r o g r a m m i e r t w i r d , ist heute weit verbreitet, w e n n g l e i c h über die Struktur einer solchen " P l a n u n g der Redetätigkeit" bzw. "inneren Programmierung d e r Ä u ß e r u n g " ( O b S C e e j a z y k o z n a n i e I , 1 9 7 0 : 336; d t . 1973: 2 7 4 ) noch k e i n e sicheren E r k e n n t n i s s e gewonnen wurden. 3. Die vorhergehende P r o g r a m m i e r u n g der zu erzeugenden sprachlichen Äußerung kann als eine Abfolge von Entscheidüngen auf verschiedenen E n t s c h e i d u n g s e b e n e n k o n z i p i e r t werden. Diese A u f f a s sung von der Existenz einzelner Entscheidungsebenen entspricht verschiedenen Modellen der neueren Texttheorie; vergleiche z. B. S. J. SCHMIDT (1973: 161 f . ) , der von einer " E n t s c h e i d u n g s s e q u e n z auf einer Hierarchie von Entscheidungsebenen" spricht. 4. Die stufenweise E r z e u g u n g s p r a c h l i c h e r Äußerungen über verschiedene Entscheidungsebenen hin v o l l z i e h t sich als ein Optimierungsprozeß . Die "innere Programmierung der Äußerung" ist ein z i e l g e r i c h t e t e r Prozeß, der erst d a n n E r f o l g h a t , wenn bestimmte Z i e l g r ö ß e n e i n bestimmtes M a x i m u m oder M i n i m u m e r r e i c h t haben. Eine O p t i m i e r u n g findet zum Beispiel statt bei der Auswahl einer Sprecherstrategie, bei der Gedankenauswahl und Gedankenführung
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des zu erzeugenden Textes usw. Zum B e i s p i e l werden von diesen Zielgrößen bestimmte für die Kommunikation notwendige M i n i m a l werte n i c h t e r r e i c h t , wenn s e m a n t i s c h e A p h a s i e v o r l i e g t . Es zeigt sich n u n , daß zur Analyse von Textherstellungsprozessen die Verfahrensweisen der Entscheidungstheorie, die sich unter anderem in der von R. C. J E F F R E Y (1967) e n t w i c k e l t e n Form als Ents c h e i d u n g s_T_o_gJJ< b e g r e i f t , aus f o l g e n d e n G r ü n d e n n i c h t a u s r e i c h t : Die E n t s c h e i d u n g für die V e r t e x t u n g s m ö g l i c h k e i t e n auf den einz e l n e n Stufen des Textherstellungsprozesses werden n i c h t unabhängig von den Entscheidungen auf den n a c h f o l g e n d e n Stufen get r o f f e n , sondern die E i n z e l e n t s c h e i d ü n g e n werden unter Beachtung der Optimalbedingungen für den Gesamtprozeß der Textherstellung vorgenommen. Durch diese Feststellung wird das charakteristische Merkmal von Textherstellungsprozessen hervorgehoben, daß irgendwelche Entscheidungen für Vertextungsmöglichkeiten, die auf einer bestimmten Stufe getroffen werden, den H a n d l u n g s s p i e l r a u m für Entscheidungen auf den folgenden Stufen einschränken und daß eine akzeptable Textherstellung nicht nur von Einzelentscheidüngen abh ä n g i g ist, sondern v o n d e r G e s a m t h e i t a l l e r E n t s c h e i d u n g e n i m Textherstellungsprozeß. A l l e Entscheidungsstufen stehen miteinand e r i m V e r h ä l t n i s e i n e r t e m p o r a l e n I n t e r d e p e n d e n z ( H . H A X 1974: 70). Ein mehrstufiger Entscheidungsprozeß mit einer solchen Struktur ist aber gerade Gegenstand der O p e r a t i o n s Research, und zwar der von R. BELLMAN (1957) e n t w i c k e l t e n dynamischen Programmierung bzw. dynamischen Optimierung. Daß auf die innere Programmierung von Äußerungen die V o r s t e l l u n g e n v o n O p t i m a l pl a n u n g z u t r e f f e n , d i e v o n d e r O p e r a t i o n s R e s e a r c h i n e i n e m a l l g e m e i n e n M o d e l l e n t w i c k e l t w e r d e n , möge f o l g e n d e Ü b e r l e g u n g von H. MOLLER-MERBACH (1973) z e i g e n , der den theoret i s c h - m e t h o d o l o g i s c h e n A u s g a n g s p u n k t der Operations Research folgendermaßen beschreibt: Jedes bewußte z i e l g e r i c h t e t e m e n s c h l i c h e H a n d e l n l ä ß t s i c h in die vier Phasen der P l a n u n g , der Entscheidung, der D u r c h f ü h r u n g und der K o n t r o l l e g l i e d e r n . Dabei entspricht die Planungsphase der Entscheidungsvorbereitung. Üblicherweise strebt man nach o p t i m a l e m H a n d e l n . Das erfordert, daß schon bei den E n t s c h e i d u n g e n und bei der vorausgehend e n P l a n u n g e i n O p t i m i e r u n g s z i e l z u b e r ü c k s i c h t i g e n ist. Dabei ist es p r i n z i p i e l l g l e i c h g ü l t i g , welches Ziel im konkreten Fall gewählt wird. Eine Entscheidung, bei der
das Optimierungsziel erreicht wird, sei als optimale Entscheidung bezeichnet. Die P l a n u n g , die dieser optimalen Entscheidung vorausgeht, sei Optimalplanung genannt. ( E b d . : 1) Eine Ü b e r e i n s t i m m u n g der von MÜLLER-MERBACH genannten vier Phasen der Planung, der Entscheidung, der D u r c h f ü h r u n g und der Kontrolle mit dem Vier-Stufen-Moden von LEONT'EV ist o f f e n s i c h t l i c h . Der Textherstellungsprozeß läßt sich jetzt in seiner a l l g e m e i n e n Struktur folgendermaßen beschreiben (zur Modellierung mehrstufig e r E n t s c h e i d u n g s p r o z e s s e v e r g l e i c h e z u m B e i s p i e l H . H A X 1974; J e . S . V E N T C E L 1 1972; W . D O C K / M . B L I E F E R N I C H 1 9 7 H : 2 9 0 f f . ; M a t h e m a t i s c h e S t a n d a r d m o d e l l e . . . 1972: 5 8 9 f f . ) : E i n Text T'ist i m V e r l a u f s e i n e s H e r s t e l l u n g s p r o z e s s e s a u s e i n e m A n f a n g s z u s t a n d S in e i n e n E n d z u s t a n d SM zu ü b e r f ü h r e n . S ist, wenn wir von dem V i e r - S t u f e n - M o d e l l von A. A. L E O N T ' E V (1975) a u s g e h e n , der Z u s t a n d des Textes T , der zu B e g i n n der E t a p p e der M o t i v i e r u n g der Ä u ß e r u n g besteht. Der Z u s t a n d S^ e x i s t i e r t , wenn d e r Text T nach A b s c h l u ß d e r E t a p p e d e s V e r g l e i c h s d e r R e a l i s i e r u n g d e r Idee m i t d e r Idee s e l b s t v o r l i e g t . I n e i n e r r e a l e n G e s p r ä c h s l a g e e n t s p r i c h t S der Text T in e i n e r weder g e p l a n t e n noch g e ä u ß e r t e n F o r m . E s h a n d e l t s i c h u m e i n e n T e x t , d e r n u r d e r realen M ö g l i c h k e i t nach existiert. Mit der B e g r i f f l i c h k e i t der TG k ö n n t e m a n s a g e n , e i n Text T i m Z u s t a n d S e x i s t i e r e i n d e r "immanenten Sprachkompetenz", in der der ( i d e a l e ) Sprecher "die Mittel bereithält zum Ausdruck beliebig vieler Gedanken und zu angemessenen Reaktionen in b e l i e b i g v i e l e n neuen S i t u a t i o n e n " (N. CHOMSKY d t . 1969: 16). Der Z u s t a n d S^» d a g e g e n b e s t e h t d a n n , wenn der Text T f e r t i g ges p r o c h e n oder g e s c h r i e b e n v o r l i e g t , a l s R e s u l t a t d e r s p r a c h l i c h e n "Performanz". Die Anwendung der V e r f a h r e n s w e i s e n der Operations Research bietet nun gegenüber kybernetischen Methoden den V o r t e i l , den Übergang von S in 5 n i c h t a l s " b l a c k box" - L i n g u i s t e n o p e r i e r e n gern mit dem B e g r i f f des F i l t e r s - zu b e h a n d e l n , sondern gerade diesen O b e r g a n g m o d e l l i e r e n zu k ö n n e n . Der O b e r g a n g von S in Sw k a n n m i t d e n M i t t e l n d e r d y n a m i s c h e n O p t i m i e r u n g gerade h i n s i c h t l i c h derjenigen Tatsache c h a r a k t e r i s i e r t werden, daß zwischen Sprachkompetenz und Sprachperformanz kein direktes V e r h ä l t n i s besteht. \J
- - « · · .- ,
nun
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N . C H O M S K Y ( d t . 1969: 1 4 ) b e m e r k t h i e r z u : " E i n e A u f z e i c h n u n g n a t ü r l i c h e r Rede z e i g t stets z a h l r e i c h e f a l s c h e A n s ä t z e , A b w e i c h u n g e n von Regeln, Abänderungen der Strategie mitten im Sprechen u s w . " Diesen charakteristischen übergangsmerkmalen können nichtterminale Textzustände zugeordnet werden. Ein jeder nichtterminale Z u s t a n d S , d e n d e r h e r z u s t e l l e n d e Text a u f e i n e r b e s t i m m t e n Stufe e i n n i m m t , kann mit H i l f e numerischer Parameter ^ s --
s^ i
,
sb> < 2 )
,
. . . ,
sb ( M >
b e s c h r i e b e n w e r d e n . D i e M e n g e a l l e r z u l ä s s i g e n W e r t e s*· ' . . . b i l d e n d e n Z u s t a n d s r a u m ^. D i e D i m e n s i o n d e s R a u m e s , M , h ä n g t von der A n z a h l der Z u s t a n d s k o o r d i n a t e n ab. Als die wichtigsten Parameter, die als Bedingungen für die Auswahl von T e x t h e r s t e l l u n g s h a n d l u n g e n a u f t r e t e n , können nach den E r g e b n i s s e n v o n P . K . A N O C H I N (1966) u n d a n d e r e n f o l g e n d e F a k t o r e n g e r e c h n e t w e r d e n ( s i e h e A . A . L E O N T ' E V 1975: 1 6 6 f f . ) : 1 . D i e d o m i n i e r e n d e M o t i v a t i o n oder d a s M o t i v d e r g e s a m t e n T ä t i g k e i t , i n d i e d i e S p r e c h t ä t i g k e i t e i n g e b e t t e t ist. G e h t m a n zum B e i s p i e l davon a u s , daß eine S p r e c h t ä t i g k e i t und d a m i t die Erzeugung sprachlicher Äußerungen in einer problematischen Gesprächslage ihren A n f a n g nimmt, dann sind durch diesen Parameter a l l e Faktoren anzugeben, die auf eine Lösung des Problems gerichtet sind. Die Erzeugung sprachlicher Äußerungen wird zum Beispiel solchen Auswahl bedingungen unterworfen, die zu einer Befriedigung eines Bedürfnisses, eines Interesses usw. führen können. Die numerische Berechnung kann zum Beispiel nach dem Bayesschen P r i n z i p erfolgen, das zu einem Erwartungswert der Wünschbarkeit gelangt ( s i e h e g e n a u e r e s b e i R . C . J E F F R E Y 1967: 1 4 f f . ) . 2 . D i e S i t u a t i o n s a f f e r e n z ( o b s t a n o v o C n a j a a f f e r e n c i j a ) . Darunter versteht ANOCHIN "die Gesamtheit all der äußeren E i n f l ü s s e der Situation auf den Organismus, die zusammen mit der Ausgangsm o t i v a t i o n den O r g a n i s m u s so v o l l s t ä n d i g wie m ö g l i c h über die Auswahl d e r j e n i g e n H a n d l u n g e n i n f o r m i e r e n , die der im gegebenen Augenblick vorliegenden Motivation am meisten entspricht" (zit. n a c h A . A . L E O N T ' E V 1975: 167). H i e r z u gehören d i e F a k t o r e n a. "all das i n n e r h a l b der S i t u a t i o n , was von der j e w e i l i g e n T ä t i g k e i t , von den u n s e r e r H a n d l u n g vorausgehenden Hand-
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l u n g e n , unabhängig ist und nur passiv an der Auswahl des Real i s i e r u n g s V e r f a h r e n s f ü r d i e S p r e c h h a n d l u n g t e i l n i m m t " , b. "all das i n n e r h a l b der S i t u a t i o n , was mit den vorangegangenen Handlungen im Rahmen des Tä'tigkeitsakts zusammenhängt, was durch diese Handlungen hervorgebracht wurde" (A. A. L E O N T 1 E V 1975: 1 6 7 f . ) 3. Das Image des Resultats (G. A. MILLER / E. GALANTER / K. H. P R I B R A M 1960), auch "Modell des K ü n f t i g e n " g e n a n n t . Nach N. A. B E R N S T E J N (1966) i s t e i n e M o d e l l i e r u n g d e s K ü n f t i g e n n u r m ö g l i c h , wenn "durch E x t r a p o l a t i o n dessen, was vom Gehirn aus der Information in der gegebenen S i t u a t i o n , aus den ' f r i s c h e n Spuren1 der u n m i t t e l b a r v o r a n g e g a n g e n e n W a h r n e h m u n g e n , aus der gesamten früheren E r f a h r u n g des I n d i v i d u u m s und s c h l i e ß l i c h aus a l l jenen a k t i v e n Proben und P r ü f u n g e n a u s g e w ä h l t w i r d , w e l c h e zu der Klasse von Handlungen gehören, die b i s l a n g äußerst summarisch als ' O r i e n t i e r u n g s r e a k t i o n e n ' b e z e i c h n e t werden ..." (zit. nach A . A . L E O N T ' E V 1975: 168). Es kann davon ausgegangen werden, daß sich die verschiedenen Zustände des Prozesses der Erzeugung s p r a c h l i c h e r Äußerungen durch E n t s c h e i d u n g e n ( u n t e r a n d e r e m d i e v o n S . J . S C H M I D T 1973 g e n a n n ten "motivierten Selektionen") e » e ^ ) , e < 2 ) , ...,
e
in einem gewissen zulässigen Bereich, d. h. .innerhalb des jeweils vorliegenden Textrepertoires, steuern lassen. Durch die Entscheid u n g e n , d i e e i n e m E n t s c h e i d u n g s r a u m £ a n g e h ö r e n , w i r d d e r Obergang des Textes aus einem gegebenen Z u s t a n d in einen anderen Zustand bewirkt. Die N E n t s c h e i d u n g e n b i l d e n eine Folge mit e, = (e\l], e ( 2 ) , ..., e ^ M ) ) e E. mit j = l, 2, ..., N, j j j j j wobei N die S t u f e n z a h l des E n t s c h e i d u n g s p r o z e s s e s a n g i b t . Das E n d e r g e b n i s der E n t s c h e i d u n g s f o l g e ist der E f f e k t Z. Z ist eine F u n k t i o n der Steuerungen in a l l e n Stufen Z = Z ( e j , e 2 , .. ., e N ) .
Gesucht ist die optimale Entscheidungsfolge, bei der der Effekt maximal wird:
275
max
c
Da s o w o h l der A n f a n g s z u s t a n d S des h e r z u s t e l l e n d e n T e x t e s T a l s a u c h d e r E n d z u s t a n d S^ n i c h t v o l l d e t e r m i n i e r t ist, s o n d e r n b e s t i m m t e n B e s c h r ä n k u n g e n u n t e r w o r f e n ist, v o r a l l e m B e s c h r ä n k u n g e n d e r S y n o n y m i e ( s i e h e J u . D . A P R E S J A N 1974; z u d e r a l l g e meinen Struktur derartiger Beschränkungen siehe Je. S. VENTCEL' 1972: 133), w i r d v o n d e r Z u g e h ö r i g k e i t v o n S 0 u n d 5 z u b e s t i m m ten Zustandsbereichen gesprochen, und zwar gehört S zum Bereich der A n f a n g s z u s t ä n d e S : S0n 6 S„0
und S0 z u m B e r e i c h d e r E n d z u s t ä n d e Su: S. e S w .
Die dynamische S t r u k t u r i e r u n g von Texten läßt sich dann f o l g e n dermaßen a l s dynamische O p t i m i e r u n g s a u f g a b e f o r m u l i e r e n : Aus der Menge der m ö g l i c h e n E n t s c h e i d u n g e n £ ist e i n e o p t i m a l e F o l g e von N E n t s c h e i d u n g e n e
_Cj J
- V( ce (·1 > > e -< 2 ) »
~
e
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· · · >
e ( M ) )) ^e E-i *· Ji ~- l * 2»
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J
J
· - · »
NN
a u s z u w ä h l e n , durch die sich ein Zustand i, · ( s < " . , < 2 > . . . . . s
eS
N
e i n e s v o r g e g e b e n e n Systems m i t d e m A n f a n g s z u s t a n d S e r m i t t e l n l ä ß t , so daß ein E f f e k t Z m a x i m a l w i r d . H i e r z u s i n d N Ü b e r g ä n g e Ü von T e x t z u s t ä n d e n e r f o r d e r l i c h , und es g i l t :
Dabei s i n d die E n t s c h e i d u n g e n e. von den Z u s t ä n d e n s - ,, n i c h t
—J aber vom bisherigen Prozeßverlauf abhängig B L I E F E R N I C H 1972: 2 9 2 ) .
J - J. ( s i e h e W. DOCK / M.
Der Übergang von einer Stufe der T e x t h e r s t e l l u n g zu e i n e r anderen Stufe, zum Beispiel von der Etappe des Programms der Äußerung zur R e a l i s i e r u n g des Programms, wird als in der Zeit ablaufend modell i e r t , w o h i n g e g e n d i e S t u f e n s e l b s t a l s s y n c h r o n b e g r i f f e n werden. M i t d e n E n t s c h e i d u n g e n £ g r e i f t m a n n u r z u g e w i s s e n Z e i t punkten in den Textherstellungsprozeß ein, während in der Zwis c h e n z e i t d i e S t r u k t u r i e r u n g d e s Textes a u f e i n z e l n e n Stufen
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nach den für diese Stufen s p e z i f i s c h e n Gesetzen ( z u m Beispiel den syntaktisch-grammatischen Gesetzen zur R e a l i s i e r u n g des Programms der Äußerung) abläuft. Dies e n t s p r i c h t der a l l g e m e i n e n A u f f a s s u n g über stufenweise Optimierung: F ü r d a s d y n a m i s c h e V e r h a l t e n d e s Systems w i r d e i n e s t u f e n weise E n t w i c k l u n g vorausgesetzt, d. h. man v e r e i n b a r t , nur zu gewissen Z e i t p u n k t e n in den A b l a u f e i n z u g r e i f e n , um die nächste Stufe f e s t z u l e g e n . In der Z w i s c h e n z e i t l ä u f t dieser so e r k l ä r t e m e h r s t u f i g e Prozeß nach s y s t e m s p e z i f i s c h e n Gesetzen ab, über die n a t ü r l i c h h i n r e i c h e n d I n f o r m a t i o n e n bek a n n t s e i n m ü s s e n . ( M a t h e m a t i s c h e S t a n d a r d m o d e l l e . . . 1972: 590) Bezeichnet man die vom Entscheidenden (d. h. Textproduzenten) nicht beeinflußbaren Datenkonstellationen mit X N ( N = l , 2 , 3, 4 ) ,
ergibt sich für den Gesamtprozeß der Textherstellung folgendes B i l d ( v e r g l e i c h e d a s a l l g e m e i n e r e M o d e l l b e i H . H A X 1974: 7 0 ) :
s
l '·
1
i
s
S %
N = 4 ~t k
C t
Die Probleme und Perspektiven, die das vorgeschlagene Operations Research-Model l a u f w i r f t , s i n d so m a n n i g f a l t i g , daß ich hier nur e i n i g e davon andeuten k a n n . Von den v o r d r i n g l i c h zu lösenden Problemen ist wohl das Problem der M e h r s t u f i g k e i t selbst zu behandeln. Es muß aber darauf h i n g e w i e s e n werden, daß es für die Anwendung der Operations Research auf l i n g u i s t i s c h e s Material prinzipiell nicht darauf ankommt, ob der Erzeugungsprozeß sprachlic h e r Ä u ß e r u n g e n d i s k r e t oder s t e t i g ist, d a b e i d e r M o d e l l i e r u n g k ü n s t l i c h S c h n i t t e g e l e g t w e r d e n k ö n n e n . D a s noch z u l ö s e n d e Pro-
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b l e m b e s t e h t v i e l m e h r d a r i n h e r a u s z u f i n d e n , w e l c h e P r o z e s s e tats ä c h l i c h (psychologisch, l i n g u i s t i s c h usw. nachweisbar) in einem V e r h ä l t n i s temporaler Interdependent (siehe oben) stehen, da nur solche Erzeugungsstrukturen sprachlicher Äußerungen dynamisch optimiert werden können. Weiterhin kann zum jetzigen Stadium der Entwicklung und Anwendung e i n e s s o l c h e n M o d e l l s noch n i c h t d a v o n a u s g e g a n g e n w e r d e n , d a ß b e r e i t s a l l e i n e i n e m s o l c h e n Prozeß z u b e o b a c h t e n d e n Größen n u merisch erfaßt wären. A l l e r d i n g s s t e l l t gerade ein Modell wie das hier skizzierte dynamische Optimierungsmodell präzise die Aufgabe, welche Faktoren zu q u a n t i f i z i e r e n s i n d und an welcher Stelle d e s G e s a m t m o d e l l s s i e a l s n u m e r i s c h e Größen e i n z u f ü h r e n s i n d . D i e P e r s p e k t i v e n , d i e s i c h f ü r e i n e L i n g u i s t i k d e r O p t i m a l pl a n u n g ergeben, können selbst als optimal angesehen werden. Es ist nicht schwer n a c h z u w e i s e n , daß die l i n g u i s t i s c h e T h e o r i e n b i l d u n g , zum B e i s p i e l in ihrer Forderung nach einem K r i t e r i u m der A k z e p t a b i l i tät, s o w i e d i e S p r a c h l e h r f o r s c h u n g , L o g o p ä d i e u s w . i m p l i z i t O p t i m i e r u n g s a u f g a b e n s t e l l e n , für die nach meiner M e i n u n g bei Anwendung von Verfahrensweisen der Operations Research gemeinsame Lös u n g s a l g o r i t h m e n g e f u n d e n werden k ö n n e n .
L i teratur ANOCHIN, P. A. (1966): "Kibernetika i integrativnaja d e j a t e l ' nost' mozga". ("Kybernetik und die integrative Tätigkeit des G e h i r n s " . ) X V I I I Me2dun. psicholog. kongress. Moskau. APRESJAN, Ju. D. (1974): LeksiEeskaja s e m a n t i k a . S i n o n i m i f e s k i e sredstva jazyka. ( L e x i k a l i s c h e Semantik. Die synonymischen Mittel der Sprache.) Moskau. BELLMAN, R. (1957): Dynamic Programming. Princeton. BERN$TEJN, N. A. (1966): Ocerki po f i z i o l o g i i d v i z e n i j i f i z i o l o g i i a k t i v n o s t i . ( S t u d i e n zur Physiologie der Bewegungen und zur Physiologie der A k t i v i t ä t . ) Moskau. CHOMSKY, N. (1965): Aspects of the theory of syntax. Cambridge / Mass, (deutsche Übersetzung;) ( d t . 1969): A s p e k t e d e r S y n t a x - T h e o r i e . F r a n k f u r t / M . DUCK, U. / B L I E F E R N I C H , M. (1972): Operationsforschung. Mathematische Grundlagen, Methoden und M o d e l l e . Bd. 2. Berlin. HAX, H. (1974): Entscheidungsmodelle in der Unternehmung / Einführung in Operations Research. Reinbek b. Hamburg.
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ZUR SEQUENZIERIMG YON GPRECHAKTEN
Das Problem der Einheitenbildung in längeren Texten Anne Marie Betten
1.
Abgrenzung des Untercuchungsbereichs
Die folgende Erörterung steht in Zusammenhang mit den in der linguistischen Pragmatik bisher ungeklärten Fragen über den Umfang einzelner Sprechakte, ihr Verhältnis zu grammatischen Einheiten wie dem Satz und die Art ihrer Abfolge in längeren Texten. Ich beschränke mich dabei im wesentlichen auf eine Untersuchung, nach welchen Kriterien Sprechhandlungen in fortlaufenden Texten speziell gesprochener Sprache bisher isoliert und bestimmt wurden. Dies geschieht überwiegend in Form einer Besprechung verschiedener neuerer Arbeiten, die z.T. parallel zueinander entstanden sind, deren Ergebnisse aber für eine sinnvolle Zielsetzung weiterer Forschungen zueinander in Beziehung gesetzt werden müßten. 2. Kritische Erörterung bisheriger Ansätze 2.1. Bei SEARLE (1971: 34·) findet sich nicht mehr als die Bemerkung, daß es "für jeden möglichen Sprechakt einen möglichen Satz oder eine mögliche Reihe von Sätzen gibt, dessen b z w . deren aufrichtige Äußerung in einem bestimmten Zusammenhang den Vollzug jenes Sprechaktes bildet". 2.2. Charakteristisch für die unterschiedlichen Meinungen über den Umfang eines Sprechakts in der ersten Erörterungsphase ist ein Diskussionsprotokoll in GÜLICH/RAIBLE (1972: 51), wo Werner Kummer auf eine entsprechende Frage antwortet, er habe "im Moment" nur die Satzgrenze als Abgrenzungskriterium, während van Dijk betont, ihm ginge es "um den Hinweis darauf, daß Anfang und Ende einer Argumentation bestimmen, daß ein 'speech-act 1 für den ganzen Text und nicht für jeden einzelnen Satz gilt". Die Idenp tifizierung von 'speech-acts' mit Sätzen sei problematisch.
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2.3- SANDIG (1973) kritisiert, daß die Sprechakttheorie bislang nur an Sätzen und konstruierten Satzfolgen entwickelt worden sei. An drei Textbeispielen untersucht sie das Verhältnis der Sprechakte zueinander. Während sich der Text 'familiäres Gespräch ' als Folge von Sprechakten erweist, für deren Kohärenz auch die "nichtverbale Handlungsfolge" berücksichtigt werden muß (S.19) > scheint andererseits der Text 'Wahlaufruf "durch eine Hierarchisierung von Sprechakten gebildet" zu sein und wird von ihr als "ein einziger komplexer Sprechakt" betrachtet, was sie mit der "das Ziel der Kommunikation einheitlich bestimmenden Kommunikationsintention" begründet (S.20). Wit der Unterscheidung von linearen und hierarchischen Beziehungen zwischen Sprechakten führt Sandig wichtige Unterscheidungsmerkmale für Texte ein, doch bleiben gerade über die Art der Hierarchisierung viele Fragen offen, besonders dann, wenn die kommunikative Funktion eines Textes nicht von der Kommunikationssituation her eindeutig bestimmbar und seine Textsortenzugehörigkeit nicht offensichtlich ist. Für solche Fälle bleibt zu fragen, nach welchen Kriterien der übergreifende, komplexe Sprechakt zu ermitteln wäre, ob außersprachlich, z.B. aufgrund der Intention des Sprechers oder Schreibers (wie bei Sandig) oder der Wirkung des Textes auf den Hörer oder Leser (sofern ermittelbar), oder etwa durch eine Häufigkeitsanalyse der auf ele•z mentarer Ebene vorkommenden Sprechakte. 2.4. MARTENS' (1974) Analyse von Familiengesprächen ist einer der wenigen ausführlichen Versuche, Alltagsgespräche auf der 4. Sprechaktebene durchzugliedern. Sie strukturiert ihr Material nach 'Interaktionssituationen 1 und 'Kommunikationssequenzen 1 , deren Abgrenzung gegeneinander sich für sie "aus den dialogisch notwendigen wie auch inhaltlich-thematisch gegebenen Abfolgen von Sprechhandlungen" (S.102f.) ergibt. Sprechhandlungen, denen eine oder mehrere kommunikative Funktionen zugesprochen werden können, sind die kleinsten Einheiten, bei denen Martens' Analyse ansetzt. Sie betont jedoch, daß diese einzelnen kommunikativen Handlungen - im Gegensatz zu ihrer Behandlung in der frühen Sprechakttheorie - ihre Bedeutung "erst in bezug zu anderen Sprechhandlungen" (S.103) bekommen, und daß erst ihre Abfolge den spezifischen Charakter der von ihr untersuchten Sprechhand-
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lungskomplexe oder einer ganzen Kommunikationssequenz ausmache. Auf der Sprechhandlungsebene ergeben sich jedoch mehrere Probleme, die typische Schwierigkeiten für die Einheitenbildung bei längeren. Dialogen aufzeigen, weshalb ich etwas genauer auf sie eingehen möchte: Beim Vergleich der Numerierung der Sprechhandlungen (bei Martens abgekürzt SNR), die als "inhaltlich abgrenzbar" und "mindestens eine kommunikative Funktion" beinhaltend definiert sind (S.110), mit der der Sprecherbeitrüge (SP), die u.U. mehrere Sprechhandlungen umfassen können, fällt a u f , daß bei Unterbrechung mit späterer Fortsetzung die Nummer des Beitrags dieselbe bleibt, während die Sprechhandlung eine neue Nummer erhält. Auf diese Weise werden bloße 'Weiterführungen' als neue Sprechhandlung angesetzt, während doch vielmehr anzunehmen wäre, daß hier die Numerierung der Sprechhandlung dieselbe bliebe, hingegen ein neuer Sprecherbeitrag gezählt würde. Interessant sind ferner Erläuterungen wie die, daß ein Rechtfertigungsakt zunächst durch eine Begründung und in seinen Weiterführungen "in Form eines Berichts" vollzogen werde (S.212f., SNH 6,11,13il5). Dieses Beispiel weist auf das Problem, daß bisher in der Sprechakttheorie Kategorien wie Bericht und Begründung nicht deutlich getrennt werden. Die Arbeit an Texten zeigt jedoch, daß eine Unterscheidung zwischen der grammatischen Form einer Äußerung (z.B. Aussagesatz), ihrer Funktion als Behauptung, Bericht, Frage etc. (die man vielleicht nicht, wie dern zeit üblich, als illokutive Akte, sondern eher als formale Kategorien einer Dialoggrammatik ansehen sollte) und ihrer 'eigentlichen 1 illokutiven Kraft (wie Begründung, Rechtfertigung) vorgenommen werden müßte. Zusätzlich stellt sich dann die Frage, ob eine Äußerung mehrere Illokutionen zugleich haben kann (z.B. Begründung = Rechtfertigung) und wie deren Relation zueinander beschaffen ist, ob z.B. eine die andere dominiert und wie dies zu ermitteln wäre. Martens setzt hier mehr oder weniger 'Rechtfertigung' als 'eigentliche 1 oder Oberste' illokutive Kraft an, wobei sie dies wohl aus dem Kontext und ihren sonstigen psychoo logischen Analysen folgert. Gar nicht erörtert wird bei Martens das Verhältnis des Umfangs eines Sprecherbeitrags zu grammatischen Einheiten. Bei
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längeren Äußerungen sind manchmal mehrere oprechhandlungen anges e t z t , die mal als neuer üatz transkribiert werden (vgl. G.211 oNR 6/7), mal durchgeschrieben sind (üNH 16/17). Man würde auch gern erfahren, aufgrund welcher Kriterien Martens vielen elliptischen Batzen oder auch nur Wortgruppen eine Illokution zuordnet. Die Frage nach linguistischen Indikatoren illokutiver Funktionen v/ird nur kurz angeschnitten ( ü . 4 4 f . ) ? auf die gerade in gesprochener Sprache dabei so wichtige Rolle der Partikeln, einleitenden Floskeln, Wiederholungen u.a. wird jedoch nicht hingewiesen· 2.5. Genauer hat sich RATH (1973) mit den zuletzt genannten Formen beschäftigt. Ihm geht es um die Frage, wie auch aus vagen, mehrdeutigen, unvollständigen Formulierungen, wie sie in der gesprochenen Sprache häufig vorliegen, die propositionalen und illokutiven Indikatoren bestimmt werden können. Bei dem Versuch einer Ordnung der illokutiven Aspekte nach linguistischen Gesichtspunkten führt er zusätzlich zu den sonst schon vielfach behandelten 'performativen Ausdrücken' auch Nominalisierungen wie meiner Meinung nach, Partizipialisierungen wie o f f e n gesagt und in der Kategorie ' A f f i r m a t i o n 1 u.a. performative Verben wie ich stimme dir zu, stereotype Ausdrücke wie du hast recht a u f , sowie eine eigene Kategorie 'Konstruktionsübernahme 1 . Bei all diesen Floskeln zeigt Rath, daß es sich um oprechakte handelt, die keine Proposition haben, sondern reine Illokution seien (RATH 1973: 177f.)· 2.6. Die verschiedenen Klassen solcher teilweise rein illokutiven Äußerungen sind auch bei SINCLAIK/COULTHARD (1975) genauer als bei Härtens erfaßt. Folgende Einheiten werden bei ihrer Analyse von Unterrichtstexten hierarchisch unterschieden: Die Unterrichtsstunde (lesson) besteht aus einer oder mehreren 'transactions' (sie entsprechen etwa den Kommunikationssequenzen bei Martens), die sich ihrerseits aus mehreren 'exchanges' zusammensetzen; letztere sind unter thematischen und strukturellen Aspekten zusammenfaßbare Sprecherbeiträge. (In einer freien Konversation wäre diese Einheit eventuell im Umfang ganz anders, falls sie nicht neu definiert werden m ü ß t e . ) In einem gewissen Gegensatz zu Martens wird bei der weiteren Analyse grundsätzlich
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davon ausgegangen, da3 die Grenze einer Äußerung für die Einbeitenbildung ungeeignet sei; diese läge vielmehr h ä u f i g mitten in der Äußerung:. Als Beispiel d a f ü r werden Wiederholungen der Ä u ß e r u n g des Vorredners angeführt (vgl. R a t h ) , die h ä u f i g am Anfang einer Äußerung stehen, erf;t danach werde zu etwas Lleuen n übergegangen. Die zwei Grundtypen von ' e x c h a n g e ' , 'boundary' (vielleicht mit ' a b g r e n z e n d e 1 oder 'dialogstrukturierende 1 ÄUSserung zu ü b e r s e t z e n ) und ' t e a c h i n g ' (eine ganz textsortenspezifische Einheit), bestehen wiederum aus verschiedenen ' m o v e s ' (insgesamt 5 Typen) und diese schließlich aun einem oder mehreren ' a c t G " als unterster Einheit. Das Verhältnis zu den grammatischen Einheiten i:Jt durchaus r e f l e k t i e r t : Häufig decken sich ' a c t 1 und O a t z , doch kann ein ' a c t ' auch aus Wortgruppen und einzelnen Wörtern bestehen (dies ist besonders bei den Schülerantworten der F a l l ) . Die Äußerung eines Sprechers wird also viel feiner strukturiert als bei hartens, und besondere Aufmerksamkeit gilt den untersten kommunikativen Einheiten und ihrer linguistischen Realisierung, vor allem auch den ' a c t s ' der Gliederung, Eröffnung, Bestätigung u.a. (Äußerungen wie now, yes, good, fine, right, hm, oh oder Wiederholungen werden in verschiedene Akt-Klassen eingeteilt, je nach ihrer kommunikativen Funktion.) 5. Überlegungen zu einer weiterführenden Behandlung von Sprechaktabgrenzungen. 3.1. In den zuletzt genannten Arbeiten zur gesprochenen Sprache (RATH 1973, S1NCLAIR/COULTHARD 1975) wurde mehrfach die Bedeutung der Analyse jener kleinen und kleinsten Einheiten angesprochen, die vor ihrer Behandlung im Rahmen der Sprechakttheorie bereits als Gliederungssignale in der Dialoganalyse eine wichtige formale und funktionale Deutung fanden, vgl. GULICH (1970), STELLMACHER (1972), WACKERNAGEL-JOLLES (1973). Letztere beziehen noch stärker als Gülich über Partikel und Wiederholungen hinaus auch Floskeln und (wie z.T. auch Rath) längere stereotype Redewendungen in ihre Analyse mit ein. Dennoch kann man sagen, daß die Untersuchung dieser Einheiten im gesprochenen Deutsch noch in den Anfängen steckt. Vor der Untersuchung der Bedeutung dieser Gliederungssignale nicht nur für größere Dialogeinheiten, sondern auch für die Ab-
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grenzung linearer Abfolgen von Sprechhandlungen, wie SANDIG (1973) sie für ein spontanes Gespräch festgestellt hat, muß zunächst eine umfassende, textsortenspezifische Erfassung aller infragekommenden Formen stehen. Diese hätte selbstverständlich nur von 'echten' Texten auszugehen und nicht, wie es im folgenden z.T. der Fall ist, von Beispielen, die der eigenen Kompetenz entstammen (obgleich ja auch diese ein Produkt kommunikativer Erfahrungen ist). Die folgenden Gedanken sind daher nur als Skizze einer notwendigen Vorarbeit zur Frage der Einheitenbildung in gesprochener Sprache zu verstehen. 3.2. GÜLICH (1970) hat beobachtet, daß z.B. in einer Quizsendung und einer Nachrichtensendung sehr unterschiedliche Eröffnungssignale verwendet werden: Während es im Quiz fast nur kurze und stereotype sind, finden sich in den Nachrichten als einer der geschriebenen Sprache bedeutend näher stehenden Textsorte vielfältigere und explizitere Formen (S.133f.). Bei WACKERNAGELJOLLES (197.5) und auch RATH (1973) tritt die Frage der Textsortenspezifik der Gliederungssignale weniger in Erscheinung, da beide nur Texte der salopperen, spontanen Alltagssprache auswählen. Bei Erzählungen und Beschreibungen in der Alltagssprache liegen für Verknüpfungen oder als Einleitungssignale für neue Abschnitte und dann« dann, da, also dann, .ja dann, da...da... weit an der Spitze, bei Antworten auf Fragen als Eröffnungssignale ja, also, au, eh, du, hm, t.ja. Wenn man jedoch von den eine Redekonstellation prägenden Merkmalen auch nur eines variiert, indem man z.B. von ungleichem Rollenverhältnis oder geringerem Bekanntheitsgrad zwischen den Sprechern, oder stärkerer Vorbereitetheit aufs Thema, oder 1 "? einem höheren Öffentlichkeitsgrad des Gesprächs ausgeht, so ändert sich das Repertoire bereits erheblich; d.h. in den meisten Fällen werden die Eröffnungs-, Unterbrechungs-, Wiederaufnahme- und Schlußsignale, wie Gülich es beobachtet hat, expliziter und damit zugleich nuancierter, da alles oder zumindest vieles, was mit einem spontan gesprochenen .ja oder hm paralinguistisch und/oder mimisch-gestisch übermittelt wurde, nun verbalisiert wird - wenngleich die Zahl der Illokutionen dadurch
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nicht unbedingt steigt und die Stereotypizität auch bei den expliziten Floskeln groß ist. Ein Beispiel aus den Textsorten 'etwas gehobeneres Gespräch 1 bis 'öffentliche Diskussion 1 (wobei die Änderung wenigstens bei einem der oben genannten Faktoren liegt) für Eröffnungssignale des neuen Sprechers, wenn dieser anderer heinung als sein Vorredner ist, soll dies verdeutlichen: (1) Aha, Sie meinen also, daß... (2) Ja, das glaube ich auch, aber... (3) Hm, ja, so kann man es sicher auch sehen, aber ich denke eben auch an... (4-) Ja, ja, ich verstehe schon, was Sie meinen, aber glauben Sie nicht (eigentlich) auch... Je offizieller die Situation ist bzw. je mehr die Partner die Diskussion zu ihrer intellektuellen Selbstdarstellung benützen und je weniger es auf die Erhaltung guter zwischenmenschlicher Beziehungen ankommt, desto wahrscheinlicher fallen die hier überall noch vorangesetzten Partikel wie ja, h m , aha fort. Nach der Klassifikation von SINCLAIR/COULTHARD (1975) wäre zu überlegen, wieweit bei diesen Beispielen die Partikel am Anfang nicht doch als eigener Akt aufzufassen sind, z.B. nach ihrer Diktion als 'evaluation 1 . Bei den hier vorkommenden Formen, die alle affirmativ oder zumindest neutral konstatierend sind, scheint die kommunikative Funktion vor allem die zu sein, das Interesse an weiterem positivem Partnerkontakt, trotz dem folgenden, in der Intonation der Partikel eventuell schon anklingenden Einwand, kundzutun. Dies wird besonders deutlich, wenn man in der Textsorte 'spontanes, privates Gespräch' explizite Äquivalente vergleicht, die diese vorsichtige psychologische Vorbereitung des Partners nicht berücksichtigen, weil man sich seiner sicher ist oder glaubt, einen offenen Konflikt nicht scheuen zu müssen oder zu dürfen. Die Einleitungspartikel sind dann meist gleich verneinend, adversativ und verbinden sich häufig mit grob umgangssprachlichen Wendungen: (5) Nee, also da bin ich ganz anderer Meinung. (6) Nee, also das glaub 1 ich nicht. (7) (Also/Nee) Mensch, so'n Quatsch/Blödsinn! (8) Ach du lieber Gott, das ist doch wohl nicht dein Ernst, was du da verzapfst?! *
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3·3· Wenn man diese Beispiele durch v/eitere, z.B. aus dem Bereich der './iedereröffnungssignale bei vorheriger Unterbrechung oder Themawechsel und ähnlichen Grenzstellen in Dialogen ergänz14 te, auch Schlußsignale einbezöge und die Untersuchung auf weitere Redekonstellationstypen ausdehnte, so würde sich zeigen, daß für alle Signale verschiedenste Repertoires vorhanden sind, die vom Sprecher beherrscht werden müssen, um sozial anerkannt zu werden. Die hier noch im Vordergrund stehende Untersuchung der Gliedcrungssignale als Indikatoren der illokutiven Funktion aer folgenden oder vorangegangenen Äußerung(en) oder als Einheiten mit selbständiger kommunikativer Funktion wäre dann, wie oben angedeutet, zu der beim jetzigen Diskussionsstand noch nicht zu lösenden Frage auszuweiten, inwieweit durch diese Gliederungssignale nicht nur größere kommunikative Einheiten, sondern alle Folgen von Sprechhandlungen in gesprochener Sprache deutlich voneinander abgegrenzt werden.
Anmerkungen 1
Ich komme daher nicht grundsätzlich auf solche Sprechaktabfolgen wie Frage-Antwort, Vorwurf-Rechtfertigung zu sprechen, bei denen nach WUNDERLICH (1974: 3^7) aufgrund der Obligation zur Fortsetzung des Dialogs echte Sequenzen, im Gegensatz zu losen Verkettungen, vorliegen, wie sie z.B. von REHBEIN (1972) oder auch von FRITZ/HüNDSNURSCHER (1975) zur VorwurfRechtfertigungs-interaktion mit allen möglichen Reaktionsmustern untersucht werden, obgleich die Analyse der konversationellen Repertoires bei Fritz/Hundsnurscher auch bei meiner Fragestellung eine Rolle spielt (vgl. Abschnitt 3)· 2 Neuerdings finden sich dagegen bei van D1JK (1975 : 38) Sätze wie "it is the sentence boundary which is necessary for a distinction of different illocutionary acts". Dies steht jedoch in Zusammenhang mit seinen Untersuchungen zum Verhältnis von Illokution und Proposition, die ihn zu folgenden Schlüssen veranlassen: "...each illocutionary act must be propositionally based ... complex or compound propositions are expressed as sentences. Sequencing of speech acts, thus, requires sequences of sentences" (S.50); vgl. auch Anm.8. 3 Beispiele für ein solches Verfahren finden sich bei BEILHAHDT/KüBLER/STEINBACH (1975), wo auf der Grundlage von Habermas, Wunderlich und Watzlawick verschiedene "Grundformen des Gesprächs" unterschieden werden. Für die Analyse eines
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'Verhörgespräche' werden z.B. folgende Arbeitsanregungen gegeben: "Wie drückt sich in den Sprechhandlungen die institutionelle Überlegenheit des Gerichts aus? Welcher Sprechhandlungen bedient eich Johanna? ... Versuchen Sie, das Gespräch in verschiedene Befragungsabläufe zu gliedern, in denen das Gericht sich wiederholt, d . h . mit denselben Mitteln immer dasselbe Ziel zu erreichen sucht". (S.46f.) Es ist zu vermuten, daß die mit diesem Arbeitsheft arbeitenden Schüler die Aufgabe nur in groben Zügen beantworten v/erden; andernfalls waren sie den Linguisten weit voraus. 4 Fairerweise muß darauf hingewiesen werden, daß die Lösung der linguistischen Probleme nicht das eigentliche Anliegen von hartens Arbeit, sondern eher L i t t e l zum Zweck; ist. Der linguistische Beitrag spiegelt jedoch genau den Stand der Diskussion mit allen -iängeln wider. 5 Vgl. die daraus abgeleiteten k o m m u n i k a t i v e n Grundmuster, die in Beziehung zur Situation dieser Familie und der Institution Familie überhaupt gesetzt werden. - Die genannten .Einheiten sind bei hartens somit auch teilweise linguistisch definiert und nicht nur rein soziologisch wie die sonst vergleichbaren Entsprechungen bei Dell H y m e s : speech situation, speech event, speech act. 6 Ein Beispiel unter vielen von o.210-213= SNK 11,13,15 erscheinen unter SP jeweils als V5, wobei 11 als "Weiterführung der Rechtfertigung V3" und 13 u. 15 als Weiterführungen von V5 erläutert werden. 7 Die Zusammenstellung von "Statement, question, command, advice, warning, suggestion, promise, etc." unter "illocutionary force" im Hand-out Fig.3 von C.S.BUTLER 1 s Referat "Modality, modulation, and illocutionary meaning: a systematic approach" auf dem Frühjahrstreffen der LAGE, Nottingham, 7.4.1975, ist charakteristisch für die derzeitige unmodifizierte Behandlung. 8 Ich sehe auch noch keine Lösung dieser Frage durch van DIJK (1975), dessen Beispiele für das Verhältnis zwischen einer Behauptung (assertion) und einer Bitte (oder einem Versprechen) von 2 getrennten expliziten Äußerungen ausgehen, z.B. "I have no money. Can you lend me ten dollars?" (S.38). Wenn er auch zu dem Schluß k o m m t , daß die Behauptung hier nur eine Hilfsfunktion erfülle für die folgende Frage, weshalb man sagen könne, "the utterance of the whole sequence is a request", so geht er doch nur davon aus, daß die Bitte auch allein durch den 2.Sät z geäußert werden könnte. Daß dies jedoch auch (speziell in mündlichen Kommunikationssituationen) nur durch Äußerung des I.Satzes möglich ist, interessiert ihn in seinem Argumentationszusammenhang nicht. 9 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt GLÖCKNER (1975), der bei Antworten zwischen einer reaktiven und einer initiativen Phase unterscheidet, zwischen die noch weitere Phasen (berichtende, meinungsäußernde etc.) eingeschoben sein können. lü Vgl. z.B. S.96: Die I.Äußerung des Lehrers umfaßt 3 'exchanges', 4 ' m o v e s ' und auch 4 ' a c t s ' . 11 Dies ist meine ganze Ausbeute aus umfangreicher Lektüre der
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Interview-Texte in WACKERNAGEL-JüLLEü (1973), H.Fichtes Interviews aus dem Palais d ' A m o u r etc. (Reinbek 1972) und den psychoanalytischen Interviews aus S.u.H.Goeppert, Sprache und Psychoanalyse (Heinbek 1973). Das Ergebnis deckt sich mit den bisherigen Untersuchungen völlig. 12 In Anlehnung an die von der IdS-Forschungsstelle Freiburg aufgestellte Merkmalsmatrix. 13 Auch hier zeigt sich wieder, daß die Wahl stereotyper Formeln vom Hörer oft als am meisten aggressiv bewertet wird; vgl. dazu BETTEN (1975). 14- Im mündlichen Vortrag wurden dazu Beispiele aus verschiedenen Textsorten angeführt. 15 Die Beherrschung der situationsadäquaten Repertoires gerade der Gliederungssignale ist das, was Ausländern normalerweise lange Schwierigkeiten macht, aber auch bei Leuten aus Schichten, die über keine große sprachliche Variabilität verfügen, leicht als unpassende, deplazierte Redeweise abqualifiziert wird. 16 Die Verwendung der Termini 'illokutive 1 und 'kommunikative 1 Funktion müßte wohl auch einmal genauer definiert werden, als es bisher (und auch hier) geschieht.
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289
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MAKROSTRUKTUR UND GLTED.'iHUNGSMT'MUiMALj·; IN KONV^SATIONELLEii ERZAHLUNGEN* Gedanken zur S t r u k t u r b e S c h r e i b u n g von T e x t e n
Uta
0.
Quasthoff
Vorbemerkungen
Die folgenden Überlegungen stehen vor dem Hintergrund des Problems möglicher "Ebenen" bei der strukturellen Beschreibung von Texten, d.h.
sie
stehen in Zusammenhang mit der Frage, ob
es methodisch notwendig bzw. sinnvoll ist, "Texttiefenstruktur"
so etwas wie eine
anzusetzen und wie diese gegebenenfalls
in groben Zügen auszusehen hätte. Dabei wird auf Basis einer ersten empirischen Auseinandersetzung mit Texten eines bestimmten Typs - der konversationellen Erzählung - für die Annahme einer zugrundeliegenden semantisch fundierten Struktur plädiert, wobei hier in der Hauptsache mit der Art der Relation zwischen der
M
0berflächen l t erscheinung
eines Textes und
den "tiefenstrukturell" beschreibbaren textuellen Gliederungskategorien argumentiert wird. Daraus folgt erstens, daß der "Textoberfläche" eine eminent wichtige, systematisierbare
Funk-
tion bei der Produktion und Rezeption von Texten zugeschrieben wird, die Erklärungsversuche mithilfe von Zufälligkeiten eindeutig ausschließt. Es folgt aber zweitens, daß eine nur "oberflächensyntaktische"
Textanalyse zum strukturellen Ver-
ständnis eines Textes und dessen Simulation nicht ausreicht. Texte - und damit auch Erzählungen - werden innerhalb des generellen text- bzw. sprachtheoretischen Ansatzes als
Ein-
heiten kommunikativen Handelns aufgefaßt, die regelgeleitet und als Handlungsabläufe strukturierbar sinds Der Auseinandersetzung mit allgemein texttheoretischen Problemen liegt exemplarisch ein "Texttyp" zugrunde, der mündlich konstituiert
ist
und seine Funktion innerhalb des interaktiven Wechselspiels von Alltagsgesprächen
hat.
Eine konversationeile Erzählung ist
also
- informell definiert - ein mündlich konstituierter Handlungsoder Ereignistext, wobei die folgenden Einschränkungen gelten:
292
- Der Text wird in einer direkten Kommunikationssituation als Teil eines größeren konversationellen Zusammenhangs geäußert, ist
also eine Folge von elementaren Sprechakten,
die ihrerseits als eine komplexe Sprechhandlung innerhalb des Textganzen fungiert. - Der Sprecher ist
identisch mit einer in die komplexe Hand-
lung/das Ereignis als Gegenstand der Erzählung verwickelten Personen (Agent, Opfer, Beobachter - Diese Handlung/dieses Ereignis ist
...). einmalig und erfüllt ge-
wisse Minimalbedingungen von Ungewöhnlichkeit. 1. 1.1.
Zwei mögliche Formen der Strukturbeschreibung von Texten Die Konzeption van Dijks
Teun van Dijk geht schon 1972 von der Notwendigkeit einer tiefenstrukturellen Beschreibungsebene für Texte ausi "Texts have to be conceived of as having a surface structure of sentences and a global deep structure which can be considered to be a semantic abstract underlying the text." (VAN DIJK 1972» 139f.) Die Argumente für diese Annahme faßt er in der
folgen-
den Weise zusammen: (i) texts can not be mentally processed (produced and interpreted) as a coherent whole without underlying 'plans'. (ii) the derivation of a semantically coherent sequence of sentential S R ' s [semantic representations] can only be accounted for when global lexico-semantic constraints determine the selection of its lexicoids. (VAN DIJK 1972 6 ) In seinen jüngsten Arbeiten wird dieser Entwurf einer Makrostruktur (im folgenden} MS) als
dem Text zugrundeliegender ab-
strakter Plan, der in einer Semantiksprache auszudrücken
ist,
erheblich konkretisiert und vor allem um die empirische Überprüfung seiner psychologischen Implikate bereichert. Da das direkte textuelle Korrelat der MS eines Textes die Zusammenfassung (·»summary") des Textes ist,
die zusammengesetzt
ist
aus den von van Dijk sogenannten "Makropropositionen", ist
die
MS des Textes die zu der Zusammenfassung explizierte Struktur3 beSchreibung.
293
1.2.
Die Konzeption von Gülich und Raible
Auch Gülich und Raible verwenden den Begriff der MS als
Text-
spezi fikum, jedoch,anders als van Dijk, als eine rein "oberflächenstrukturelle" Kategorie: Es wird dabei von der Hypothese ausgegangen, daß der Leser oder Hörer einer sprachlichen Mitteilung in der Lage sein muß, die Makrostruktur des Mitgeteilten an der Text'Oberflache", d.h. an dem Text, wie er in seiner linearen Abfolge tatsächlich vorliegt, zu erkennen. (GÜLICH/RAIBLE 197^t 7^. Vgl. auch RAIBLE 197*M 131.) Aus dieser Ausgangshypothese wird abgeleitet, daß "unter Teiltexten 1 Einheiten verstanden werden, die nicht nur thematisch, sondern auch und zuallererst formal abgrenzbar sein müssen." (GÜLICH/RAIBLE 197^1 75). Verschiedene sprachliche Formen,
die
zueinander in einem hierarchischen Verhältnis stehen, fungieren als Gliederungssignale im Erzähltext und konstituieren durch ihr Auftauchen eine jeweils textsortenspezifische Makrogliederung, die für den Fall der Erzählung ganz ähnlich aussieht wie die von van Dijk vorgeschlagene - eine Ähnlichkeit, die auf beider Nähe zu dem Strukturmodell von LABOV/VALETZKY (1967) zumindest in der Wahl ihrer Strukturelemente - der von van Dijk sogenannten "Makrokategorien" - zurückzuführen ist. Da der Text eine Einheit von Form und Bedeutung ist,
muß, gemäß
der Gülich/Raible-Hypothese, die makrostrukturelle Gliederung allein an der Ausdrucksseite des Textes ablesbar seint Der Hörer/Leser erkennt sozusagen die MS eines Textes, bevor er die Form-Bedeutungs-Zuordnung vorgenommen hat. Diese Hypothese von Gülich/Raible wäre nur dann zu bestätigen, wenn sich nachweisen ließe, daß die MS eindeutig und vollständig durch die "oberflächenstrukturellen" Gliederungssignale der von GUlich vorgeschlagenen Art determiniert würde, wenn der Hörer zum Erkennen dieser Struktur also keinerlei zusätzliche Informationen semantischer oder pragmatischer Art benötigte. In gewisser Weise ist
allerdings diese Bedingung bereits
in dem Modell von Gülich/Raible wegen des Status eines der vorgeschlagenen Gliederungsmerkmale selbst verletzt! Als makrostrukturelles Gliederungssignal bei Erzählungen soll u.a. 1
die
"Veränderung in der Konstellation der Handlungsträger * fungieren, eine Kategorie, die nun eindeutig semantisch ist. Da
294
dieses Merkmal zvar häufig,
aber nicht immer, mit dem rein
"oberflächenstruktureBen" Merkmal der "Renominalisierung" also der Wiederaufnahme eines zuvor pronominalisierten Ausdrucks durch ein Nomen - zusammentrifft,
läßt sich die "Ver-
änderung in der Konstellation der Handlungsträger" auch nidit reduzieren auf ein Signal der durch die Gülich/Raible-Hypothese geforderten Art. Venn im folgenden die genannte Bedingung hinsichtlich der Relation zwischen Gliederungssignalen und MS ansatzweise empirisch überprüft wird, so liegt diesem Unternehmen die Annahme zugrunde, daß ein sinnvoller Begriff von MS die alleinige formale Ableitung aus "Oberflächen"merlcraalen ausschließt. Jedoch kommt dem Vorgehen von Gülich/Raible
ein hoher heuristi-
scher Wert zu, wenn man es nicht verabsolutiert, sondern wenn m a n e s benutzt, u m festzustellen,
w i e w e i t
oberflächen-
syntaktische Informationen für die Bedeutungskonstitution eines sprachlichen Ausdrucks und damit für das Hörerverstehen tragen. Die Hypothese einer semantischen zugrundeliegenden MS verleitet allzu leicht zum Ignorieren der entsprechenden Signale im Erzähltext bei der strukturellen Analyse. Damit ist die Gefahr gegeben, diese hochgradig regelmäßigen und auch wohl regelgeleiteten Oberflächenphänomene als zufällig im Sinne einer strikt linguistischen Analyse anzusehen. So dürfte es kein Zufall und auch nicht nur mit der Komplexität der Materie zu erklären sein, daß bisher kaum detaillierte Untersuchungen zum Verhältnis zugrundeliegende MS - "Oberfläche" vorliegen. 2. 2.1.
Beziehungen zwischen Makrostruktur und Erzähltext Das methodische Vorgehen
Am Beispiel einer konversationeilen Erzählung soll geprüft werden, ob - wie es die Gülich/Raible-Hypothese impliziert die Makrostruktur durch die im Text auftauchenden Gliederungssignale eindeutig und vollständig bestimmbar ist.
Die an dieser
Erzählung zu beobachtenden Befunde hinsichtlich der Relation von GliederungsSignalen und makrostrukturell bestimmten Zäsuren werden auf einer allgemeineren Ebene zumindest tendenziell durch die übrigen untersuchten Erzählungen (ca.
30) meines
295
Korpus
4
spontaner Alltagsgespräche
bestä tigt. Zu dieser einen 3 Erzählung wird nach dem van Dijkschen Verfahren die MS expliziert, d.h.
auf Basis der "summaries"der Originalerzählung,
die mir von 10 Informanten geliefert wurden, habe ich unter Benutzung der in allen Zusammenfassungen vorkommenden Details eine "Normalform" der Zusammenfassung zu "Erna geht aus"
er-
s t e l l t , über der dann nach dem etwas vergröberten Verfahren van Dijks und unter Verwendung der von ihm eingeführten ''Makrokategorien" die Makrostruktur zu der konversationeilen Erzählung "Erna geht aus" in Form einer Art Textstrukturbaum darzustellen ist. 5 Ein möglicher Einwand gegen dieses Verfahren läge in einer zu starken Verschiedenheit
der MS-Konzepte bei van Dijk einer-
seits und Gülich/Raible andererseits, die einer Verwendung des einen Begriffs
in der Argumentation gegen eine andere Konzep-
tion entgegenstehen würde. Vie bereits erwähnt, arbeiten jedoch beide MS-Begriffe in Anlehnung an Labov/Waletzky mit demselben Grundinventar an Makrokategorien und zugrundeliegenden Prämissen, so daß die Begriffe zumindest mit Bezug auf Erzählungen bis zum gewissen Grade durchaus austauschbar sind. Für die Verwendung des van Dijkschen Verfahrens spricht neben seiner empirischen Eingebundenheit, daß bei der Verwendung von solchen MS-Beschreibungen, die im Rahmen der Hypothese von der Oberflächendeterminiertheit der MS erstellt worden sind - wie die von Gülich/Raible - die Gefahr besteht, daß die Strukturbeschreibung unter der Hand im Sinne der durch die Gliederungssignale vorgegebenen Annahme gerät. Damit wäre natürlich die Beweiskraft des Verfahrens aufgehoben. Im folgenden werden drei der von Gülich/Raible diskutierten Gliederungssignale, nämlich "Substitution auf Meta-Ebene", "Episodenmerkmale" und Tempuswechsel, exemplarisch auf Basis der vorliegenden Erzählung in ihren Beziehungen zur MS untersucht. Dies geschieht erstens mit dem Ziel, durch die empirische Überprüfung der genannten Bedingung bezüglich der eindeutigen und vollständigen Determination der MS durch die Gliederungsmerkmale Aussagen Über den anzunehmenden Status einer MS zu machen} zweitens sollen die dabei gemachten Beobachtungen erste Hin-
296
weise zum Verhältnis zwischen zugrundeliegenden Bedeutungsstrukturen und Erzähltexten geben. Auf der Grundlage solcher Beobachtungen wären dann in der Zukunft die ÜberfUhrungsmechanismen von zugrundeliegenden MSen in die Oberflächenform von Texten formal zu explizieren. 2.2.
"Substitution auf Meta-Ebene"
Ein "meta-narrativer Satz" in der Art von Ach, da muß ich euch ne Geschichte erzählen findet sich zwar aus konversätionstechnischen Grilnden recht häufig zu Beginn von konversationeilen Erzählungen; in meinem Korpus liegt allerdings auch außerhalb der hier als Beispiel fungierenden Erzählung kein einziger diesbezüglicher Fall vor.
Selbst wenn man davon ausgeht, daß
dieser Befund trotz aller unserer Bemühungen um eine "natürliche" Gesprächssituation möglicherweise interviewbedingt
ist,
so bleibt dennoch festzustellen, daß ein derart sporadisch angewandtes Merkmal wie die "Substitution auf Meta-Ebene" keinesfalls als Mittel zur eindeutigen und vollständigen Delimitation von Erzählungen in mündlichen Gesprächstexten fungieren kann. - Bei schriftlichen und insbesondere literarischen Texten dürfte der Fall anders liegen. So sind auch meine Bemerkungen generell nur mit Bezug auf konversationeile Erzählungen zu verstehen und machen keine
Aussage über die mögliche Gültigkeit
der Gülich/Reible-Hypothese im Zusammenhang mit literarischen Texten, an welchen sie ja vornehmlich entwickelt wurde - allerdings mit dem Anspruch der Übertragbarkeit auch auf mündliche Erzähltexte (u.a. GÜLICH 1975l l ) . 2.3.
"Episodenmerkmale"
Zeitbestimmungen, die auf die Einmaligkeit des erzählten Geschehens verweisen, werden bei Gülich/Raible "Episodenmerkmale" genannt. Diese Gliederungssignale
sind damit sozusagen per de-
finitionem erzählungskonstituierende Merkmale im hier zugrundeliegenden Verständnis. In ihrer Funktion als Gliederungesignale sollte man mithin zumindest die "absoluten Episodenmerkmale", die immer zeitliche Einmaligkeit signalisieren, mit Sicherheit zu Beginn einer Erzählung oder einer Episode erwarten können
297
(GÜLICH 1975: 2 9 f f . ) . Diese Erwartung wird aber in etwa der Hälfte der untersuchten Erzählungen wie auch in dem hier vorliegenden Text nicht e r f ü l l t . Die Einmaligkeit des Geschehens dem Hörer entweder aus dem größeren Gesprächskontext oder
ist ein-
fach aufgrund des Fehlens von Iterationsmerkmalen auch ohne exp l i z i t e Zeitangabe ersichtlich. "Relative Merkmale", die je nach Art des vorausgegangenen absoluten Merkmals als Episoden- oder als
"Iterationsmerkmale"
fungieren können, könnten eine textinterne Gliederungsfunktion haben und zur Markierung makroStruktureil bedingter Zäsuren dienen. GÜLICH/RAIBLE ( 1 9 7 ^ 1 92) wollen sie aber nur dann als Gliederungssignale behandelt wissen, wenn sie
in Verbindung mit
dem schon erwähnten Merkmal "Veränderung in der der Handlungsträger" vorkommen. Damit ist
Konstellation
aber, wie gezeigt
wurde, die Ebene der formalen "Oberflächenstrukturierung"
ver-
lassen und mithin die Überprüfung der Beziehung von "Oberflächenmerkmalen" zur MS anhand des Auftauchens von relativen Episodenmerkmalen nicht nach diesem Vorschlag möglich. Man könnte jedoch, über Gülich/Raible hinausgehend,in "markierte" und "unmarkierte" relative Merkmale unterteilen. Zu letzteren würden - bezogen auf Erzählungen - etwa und dann. dann etc.
gehören. Wenn man die markierten relativen Episoden-
merkmale ihrer textinternen Gliederungsfunktion nach mit den absoluten Episodenmerkmalen gleichsetzt, dann ergibt sich mit Bezug auf die hier zugrundeliegende Erzählung das Folgende: Die beiden vorkommenden Formen auf einmal (z.
18, p. k) und in-
dem (Z. k2, p. 6) stehen jeweils zu Beginn der Komplikation. Derselbe Befund ergibt sich bei einem sehr hohen Anteil der untersuchten konversationeilen Erzählungen. Wo sich ein anderes Bild zeigt, ist
fast immer der komplikative Teil der Erzählung auch
bedeutungsmäßig nicht derart deutlich herausgehoben wie im vorliegenden Beispiel. Zusammenfassend läßt sich also sagen, daß die Gliederungsfunktion absoluter und "markierter" relativer Episodenmerkmale im Hinblick auf semantisch deutlich ausgeprägte Komplikationen offensichtlich von den bisher diskutierten Signalen
am eindeutigsten ist.
Trotzdem erfüllen auch diese Merkma-
le die von GÜLICH ( 1 9 7 5 « 3*0 postulierte stufenweise Abgrenzungefunktion in immer kleinere Texteinheiten keinesfalls.
298
2.k.
Tempuswechsel
Auffallend ist
der fast durchgängige Gebrauch des Präsens in
der Beispielerzählung.
Die Durchsicht des Materials in dieser
Hinsicht ergibt zweierlei: Einerseits kommt diese Form überraschend häufig vor, was mit der "Schriftferne" der Sprecher zusammenhängen mag. Jedenfalls
spricht die Durchgängigkeit des
Präsensgebrauchs in der vorliegenden Erzählung dagegen, die Erscheinung als gezielt und kontrastiv eingesetztes Stilmittel im Sinne der Tradition des 'Historischen Präsens' zu interpre7 tieren . Andererseits läßt sich beobachten, daß das Präsens vornehmlich an den Stellen a u f t r i t t , nis-
an denen das erzählte Ereig-
bzw. Handlungskontinuum sprachlich in Kleinsteinheiten
zerlegt, sozusagen "atomisiert" wird. Sätze also, die komplexe Handlungen/Ereignisse beschreiben - (Meier hat gebaut) -
ste-
hen nicht im Präsens. Diese "atomisierende" Form der sprachlichen Repräsentation des Geschehens ist
mit der MS korrelierbar:
Sie tritt fast nur in den Action- und Event-Teilen der Erzäh8 lung auf. In diesen Teilen der konversationellen
Erzählung, d. h. in
("atomisierten" - elementaren) Handlungs- oder Ereignissätzen, kann also entweder das Präsens oder das Präteritum durchgängig verwendet werden,oder der Sprecher kann zwischen beidem wechseln, ohne daß der zeitreferentielle Bezug dadurch berührt wird; die beschriebenen Handlungen oder Ereignisse sind eindeutig in der Vergangenheit lokalisiert. Diese Beobachtung legt die Vermutung nahe, d a ß d a s Tempus konversationeilen
in
d i e s e n
T e i l e n
der
Erzählung nichts über den Zeitbezug aussagt,
daß also hier Tempusgebrauch und Tempuswechsel anders erklärt Q werden müssen. Ausgeschlossen sind aus diesem "zeitlosen" Freiraum demnach: ( l ) Zustandsbeschreibungen, (2) Für den Hörer bestimmte Kommentare (meist durch Partikeln markiert),
(3) "Itera-
tionssätze", die wiederholt vorkommende Handlungen/Ereignisse beschreiben. Außerdem wird auch die Vorzeitigkeit nicht
affiziert,
Der Tempuswechsel vom Präsens zu einer Vergangenheitsform etwa, hinter dem man bei fast durchgängigem Präsensgebrauch in der Erzählung eine makrostrukturelle
Relevanz vermuten könnte,
299
kann also drei Ursachen haben: ( l ) Die makrostrukturelle Zäsur zwischen Action/Event und Result ist
- falls im Action/
Event-Teil das Präsens benutzt wurde (und ' R e s u l t 1 als Zustandsbeschreibung realisiert wird) durch einen Terapuswechsel markiert.
in
j e d e m
F a l l
(2) Dieser Wechsel
ist
aber auch dann obligatorisch - wie gezeigt wurde - wenn n e r h a l b
i n-
der Action/Event-Teile orientierende oder evalua-
tive Elemente eingeschoben werden. Der Tempuswechsel ist
also
in seiner Indizfunktion hinsichtlich der Art der makrostrukturellen Zäsur nicht eindeutig. (3) Es kann sich um "nicht-obligatorischen" Tempuswechsel handeln, d. h. um den Wechsel zu Vergangenheitsformen in den Fällen innerhalb der Action- und Event-Teile,
in denen sowohl das Präsens als auch eine Vergan-
genheitsform ohne wesentlichen Bedeutungsunterschied stehen könnten. Es ist
also f e s t z u s t e l l e n , daß auch der Tempuswechsel
dem Hörer nicht als
sicheres Gliederungssignal zur Erstellung
der MS eines Textes dienen kann, weil er erstens nicht auftreten muß, und weil er zweitens - wenn er a u f t r i t t - an unterschiedlichen makrostrukturellen
Zäsuren - und nicht nur dort -
auftritt. Trotz der Vorläufigkeit der geschilderten Beobachtungen, die - wie alle Eigenheiten unkontrollierten mündlichen Sprechens ihre ganze Regelhaftigkeit und Systematik erst in der quantitativen Analyse größerer Korpora zeigen dürften,
läßt sich das
Folgende f e s t h a l t e n : Die Hypothese, die MS einer Erzählung sei vom Hörer/Leser ausschließlich den "oberflächensyntaktisehen" Gliederungssignalen des Erzähltextes zu entnehmen, wird durch den empirischen Befund erschüttert. Die exemplarische Überprüfung im Fall der "meta-narrativen Sätze", der absoluten und relativen Episodenmerkmale sowie des Tempuswechsels, ergab, daß die Gliederungssignale
zwar in einer z. T. auffälligen
Syste-
matik auf die MS beziehbar sind, daß diese Beziehung aber nicht eindeutig und die MS nicht vollständig daraus ableitbar ist.
So
sind diese Signale auf der "Oberfläche" mehrdeutig, sie können ihre Signalfunktion nur im Zusammenspiel mit einer semantischen Desambiguierung erfüllen.
300
ANMERKUNGEN *
Das Papier gehört in den Rahmen der Arbeit in der Projektgruppe "Konversationelle Erzählung: Theorie und Empirie" an der Freien Universität Berlin, in der ich seit einiger Zeit mit Studenten zusammen an den Problemen einer Theorie der konversationellen Erzählung arbeite. Diesen Studenten verdankt das Papier Kritik und Anregungen.
1
Wenn hier und im folgenden von "Texttiefenstruktur" und "Textoberfläche" die Rede ist, so sind diese Ausdrücke in gewisser Veise metaphorisch zu verstehen. Eine Nähe zum Standardmodell generativer Satzgrammatik soll mit den Ausdrücken keinesfalls, eine Analogie zu van Dijks generativsemantischem Textmodell nur in einigen Punkten suggeriert werden.
2
Zur Kritik daran vgl. etwa DASCAL/MARGALIT 197^$
3
Zur Verdeutlichung vgl.
k
Bei diesem Korpus handelt es sich um zu einem Teil transskribierte Tonbandaufnahmen, die unter Benutzung der - etwas modifizierten - Labovschen Erhebungstechniken im Rahmen der erwähnten Projektgruppe entstanden sind.
5
Die Übernahme des van Dijkschen Verfahrens zur Explizierung der Makrostruktur geschieht primär aus heuristischen Gründen und bedeutet nicht, daß wir vollständig mit der Konzeption und vor allem auch mit der Beschreibungsform der MS bei van Dijk übereinstimmen. Z. B. müßte mindestens die Kategorie der Evaluation anders behandelt werden. Außerdem bleibt das schwierige Problem, das in der Nicht-Linearität von MS und der Linearität der "Textoberfläche" liegt, ungelöst. Zur Erläuterung des MS-Baums: Unter ' C o n t e x t 1 versteht van Dijk "biophysische", "soziohistorische" und ähnliche Gegebenheiten. 'NEGR' bzw. ' ± Result 1 bezeichnen die für den Agenten positiven bzw. negativen Ergebnisse von vollzogenen Handlungen oder Ereignissen.
6
Stattdessen finden sich sehr häufig zu Beginn der Erzählung evaluative Momente oder abstracts im Sinne von LABOV ( 1 9 7 2 ) , die Nachfragen der Hörer provozieren sollen. Es gibt aber auch sehr viele "gleitende Übergänge".
7
Vgl. zu dem kontrastiven Charakter des Historischen Präsens WEINRICH (196^: 1 2 6 f . ) .
8
Mit dieser Beobachtung ist zu erklären, daß bei der Wiedergabe von Dialog - also einer stark "atomisierten" Repräsentation des Geschehens, die ebenfalls an die Action- und Event-Teile gebunden ist - zumindest im norddeutschen Sprachraum das Präsens fast durchgängig ist.
9
Dieselbe Beobachtung ist natürlich auch die Basis für die Verwendung des 'Historischen Präsens' als literarisches Stilmittel. Es wäre interessant festzustellen, ob hierfür neben den besonderen stilistischen - dieselben Beschränkun-
113ff.
Anhang.
301 kungen gelten wie Tür den Präsensgebrauch in konversationellen Erzählungen. Literatur ABERLE, Gerhard ( 1 9 7 1 ) : Frankfurt/Main.
Stehkneipen,
Gespräche an der Theke.
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302
WEINRICH, Harald ( 1 9 6 4 ) ? Tempus. Besprochene und erzählte W e l t . Stuttgart. WUNDERLICH, Dieter ( 1 9 7 0 ) : Tempus und Z e i t r e f e r e n z im Deutschen München.
Anhang Im Vortrag wurde der Text einer etwa 2 1/2 Minuten langen Tonbandaufnahme gelesen und als Handout vorgelegt; aus Raumgründen kann hier nur ein Ausschnitt, der p, und p des "summary" entspricht, gedruckt werden. Die Aufnahme machte Claudia Hufenreuter. Kontext: Die Sprecherin, ?O, Berliner R e n t n e r i n , hat in den 20er Jahren viele verschiedene Arbeiten gemacht, unter anderem einmal Eier gestapelt. Eines Tages w o l l t e ein Arbeitskollege, "der Bulgare" mit ihr ausgehen. "Normalform" des "summary" p :
Erna hat sich mit einem Bulgaren verabredet.
p :
Ihre Mutter u n t e r s t ü t z t diese Beziehung aufgrund guter Erfahrungen mit Bulgaren.
p :
Erna zieht Sonntagskleidung an und geht zum Treffpunkt.
p.:
Unterwegs findet sie in einer Menschenmenge ihren betrunkenen Vater und Onkel.
p_: ·*
Sie s c h a f f t beide in eine Kutsche mit der A b s i c h t , nach Hause zu bringen,
pfi o p :
Der Bulgare erscheint kurz vor der Abfahrt der Kutsche,
p0:
Erna schickt den Bulgaren daraufhin weg.
p_:
Sie s c h a f f t Vater und Onkel nach Hause.
o
sie
Der Vater schlägt den Bulgaren.
Ausschnitt aus der Transkription 18: 19: 20: 21: 22: 23: 2k: 25:
uff eenmal seh ick an die Beene von die Weiba - da kullern ja. Menschen [l: MhMJ und ick nu in Wichs und j e t z seh ick bloß n Manschestaanzuch ick saje/meine Dam - meine H e r r s c h a f t n / [ l a u t ] saj ick machense Platz [Steht auf und breitet die Arme aus, um zu zeigen, wie sie sich Platz geschaffen hat] ick komm hier durch - is det mein Vata. [l:Mhm] Mensch det h ä t t s t e ma sehn solln ick saje /aba Vati - (un dann) weg hier/ saj ick [empörter und energischer Ton] in wat fürn Ton nich
303
26: 27: 28: 29: 29a: 30: 31: 32: 33» 3**: 35:
und dann kam denn der Eiserne Gustav ick saje halt - - - nimm ma mit und da sacht der eene junge Mensch zu mir - du - Frollein da hint is noch eener der kommt a n j e k u l l e r t is det mein Onkel. I: Ach du Schreck Nu harn die - nu war det so schlecht mit de Arbeit und alles na und du weeßt ja wie det is un da harn se een getütat un da harn se een üban Dürscht getrunkn. J e t z hab ick nu mitn Eisernen Gustav - da hab ick mein Vata erst drinnnejehabt dann hab ick mein Onkel drinne ...
304
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TEXTGLIEDERUNG BEI PAULUS
Eine Problemskizze am Beispiel von Römer 3 , 2 1 , 1.Korinther 13 und Römer 5 Reinhard Wonneberger
1.
Problemstellung
Wie die Paulusbriefe zu gliedern sind, ist nicht nur eine exegetische Spezialfrage, sondern hat weitreichende Konsequenzen für die Bestimmung von Thema und Zweck eines Briefes und seine literarkritische Beurteilung (Teilungshypothesen). Obwohl häufig umstritten, werden die Fragen der Briefgliederung nur selten explizit behandelt, und eine spezifische Methode dafür gibt es nicht. So muß die Paulusexegese schon bei der Ausbildung im Proseminar meist hinter der methodisch ausgefeilteren Evangelienexegese zurückstehen. Vor die Aufgabe gestellt, eine Methode für die Textgliederung zu entwerfen, werden wir bei der Frage ansetzen, wie der unbefangene Hörer in einem längeren Text die Übersicht behält. Diese Frage ist von GÜLICH/RAIBLE (1973; 1 9 7 4 ) dadurch beantwortet worden, daß sie einen Text als eine Hierarchie von Teiltexten auffassen, deren Stellung und deren Grenzen in der Hierarchie durch besondere Merkmale meist am Anfang, seltener auch am Ende des Teiltextes signalisiert werden? sie heißen Textgliederungssignale Wir werden also zunächst versuchen, für die Paulusbriefe eine Liste solcher Signale zusammenzustellen. 2.
Textgliederungssignale
Da eine kommentierende Darstellung aus Platzgründen hier nicht möglich ist, stellen wir unsere vorläufigen Ergebnisse in Form einer Tabelle zusammen. Die einzelnen Merkmale sind in drei Gruppen geordnet, die sich etwa so charakterisieren lassen: die Einbettungssignale haben es mit verschiedenen Textebenen zu tun, die metakommunikativen Signale beziehen sich auf den Text zurück, zu dem sie selbst gehören, und die dritte Gruppe enthält die Beziehungen zwischen den Teiltexten.
306 BEZEICHNUNG
BEISPIEL
STELLE
wir wissen, daß wie geschrieben steht diese Seligpreisung also
R 3,19 R 3,4 R 4,9
EINBETTUNGSSIGNALE
Auffassungen Zitate Substitution
METAKOMMUNIKATIVE SIGNALE
Konmunikat ionssituation Mitteilungsabsicht Dialogrolle Partner Per forma t iva
(Präskript)
R 1,1-7
ich will nicht, daß ihr nicht wißt
R 1 ,13
was sollen wir also sagen du als Jude ich ermähne euch
R 6,1 R 2,17 R 12,1
also, aber, denn, zwar (keine Satzrelatoren) der Gruß mit der meinigen Hand des Paulus um wieviel mehr; nicht nur als ihr Knechte wart (Parallelismus membrorum)
R 3,1ff 1 .K 13 1 .K 1 6 , 2 1
ANSCHLÜSSE
Satzrelatoren Asyndeta Renominalisierung Angaben Gliedsätze Relationen
R 3,9.11 R 6,2O R 3,4
Tab.1: Textgliederungssignale bei Paulus 3. Hierarchieprobleme Wir greifen nun aus der Liste der Textgliederungssignale ein Element heraus, das bisher vor allem als Anzeichen für eine stilistische Verwandtschaft zwischen den Paulusbriefen und der stoisch-kynischen Diatribe angesehen worden ist: was (sollen wir) also (sagen)? Diese Wendung kommt im Römerbrief zehnmal vor. In dem Kommentar von KÄSEMANN ( 1 9 7 3 ) tritt sie meist als Beginn eines neuen Gliederungsabschnittes a u f . Die Abschnitte schwanken jedoch zwischen der zweiten und der vierten Gliederungsebene, und an zwei Stellen macht Käsemann gar keinen Einschnitt. Dieser Befund w i r f t die Frage nach den verschiedenen Hierarchieebenen eines Textes
auf. Gülich/Raible haben für die Textgliederungssignale eine Prioritätenliste angegeben. Diese Liste deckt sich allerdings nicht ganz mit den oben genannten Merkmalen, und es bedarf weiterer Regeln, um aus ihr die Hierarchieebenen eines Textes ableiten zu können. Die folgende Tabelle soll uns daher zu einer ersten
307
Übersicht über die Gliederungskraft (1) (2) (3) (4) (5) (6)
der Merkmale verhelfen.
Metakommunikative Sätze Substitution auf Metaebene Episoden- und Iterationsmerkmale Veränderung der Konstellation der Handlungsträger Renominalisierung Satzkonjunktionen und Satzadverbien
Tab.2: Prioritätenliste der Textgliederungssignale (Zusammenfassung der Abschnitte in GÜLICH/RAIBLE 1974: 8 7 f f )
Die Anwendungsmöglichkeiten der Merkmale und Prioritäten werden wir j e t z t an drei Textbeispielen darstellen. 4.
Logisches und eschatologisches Gegenüber (R 3 , 2 1 )
Das brisanteste Beispiel ist R 3 , 2 1 , weil es sich dabei um einen neutestamentlichen Zentraltext handelt, dessen Abgrenzung und Einordnung m . W . noch nie infrage gestellt worden ist. Nach herkömmlicher Auffassung steht jetzt aber ist die Gerechtigkeit Gottes sichtbar geworden (R 3 , 2 1 ) im Gegenüber zu denn es wird offenbart der Zorn Gottes (R 1 , 1 8 ) . Der Vergleich beider Sätze im Griechischen zeigt aber, daß höchstens eine vage semantische Parallelität besteht. Sollte hingegen Text-Parallelität vom Autor beabsichtigt sein, warum hätte er dann Verbum, Tempus und Wortstellung gewechselt? Und darf man wirklich annehmen, daß der Autor den Text über einen so weiten Abstand hinweg parallelisieren wollte? Gewiß nicht, denn inzwischen sind ja auch höherwertige Textgliederungssignale aufgetreten, z . B . der Wechsel der angeredeten Partner (R 2 , 1 . 1 7 ) . Vor allem aber besteht eine enge Beziehung zum unmittelbar vorangehenden Kontext. Denn die Form 'nyni 1 weist gegenüber dem bedeutungsgleichen ' n y n ' drei wichtige Einschränkungen auf: sie steht nur an der Satzspitze, ist stets gefolgt von 'de' (aber) und steht im Römerbrief viermal im Gegenüber zu
308
einem Bisher, das entweder durch einen als-Satz (R 6,20; 7 , 5 ) oder durch einen wir wissen, daß - Satz (R 3 , 1 9 ; 7 , 1 4 ) dargestellt wird. Wenn diese Überlegungen z u t r e f f e n , dann hätte das weitreichende Folgen nicht nur für die Gliederung des Briefes, sondern auch für Thema und Argumentationsgang. Auch die Konstruktion der Verse 24-26 läßt sich nur klären, wenn dabei textlinguistische Beobachtungen herangezogen werden, in diesem Fall die Renominalisierung (WONNEBERGER 1 9 7 4 : 1 5 4 f f ) . 5.
Text und Kommentar ( 1 . K . 1 3 )
Das Hohelied der Liebe wird in der Regel in drei Hauptteile gegliedert: V.1-3; V . 4 - 7 ; V . 9 - 1 2 ; vgl. zum Folgenden SCHÜTTPELZ (1973 passim). Während die ersten beiden auch formal einheitlich sind, treffen im dritten Teil unterschiedliche Elemente zusammen. Die Satzverbindung ist generell asyndetisch. Erst in V . 9 steht das erste ' g a r ' ( d e n n ) des Kapitels. Weiter wird zwischen Sachaussage in der 3.Person und Personalaussagen in der I.Person gewechselt und innerhalb letzterer nochmals zwischen Singular und Plural. Interpretiert man diese Beobachtungen nach der Prioritätenliste ( s . o . ) , dann sind V . 9 f und V . 1 2 a durch ein Merkmal der Stufe (6) gekennzeichnet. Hingegen findet sich in V . 1 1 ein Iterationsmerkmal (solange), also ein Merkmal der Stufe ( 3 ) , gemeinsam mit einem Wechsel der Person, Stufe ( 4 ) . Letzteres Merkmal kehrt wieder in V . 1 2 b . Die I.Person Plural geht Hand in Hand mit Stufe (6) , die 1 .Person Singular mit St.ufe (3) bzw. (4) . Gleichzeitig korrespondiert die 1.Person Singular mit dem nämlichen Merkmal im ersten Abschnitt des Kapitels ( V . 1 - 3 ) . Daher wäre zu folgern, daß V . 9 f und V.12a kommentierende Anmerkungen des Paulus sind. In V.11 beginnt dann ein eigener Teil des Kapitels; er ist dann nicht eine Erläuterung zu V.8-10, wie es das Stichwort zunichtemachen nahelegen könnte, sondern schlägt die Brücke zu V.1-3: indem sich die Ich-Person des Anfangs im Sprichwort ( V . 1 1 ) der eschatologischen Erfüllung vergewissert, betont sie zugleich dialektisch das Gegenteil; die Erfüllung steht in der Gegenwart noch aus. Nicht die Scheinwerte aus V.1-3, sondern nur jene Werte können den Mangel beheben, die als Binde-
309
glied zwischen Jetzt und Eschaton oualifiziert sind, wie V.8-10 gezeigt haben. Der argumentative Kontrast für das jetzt aber (vgl. Kap. 5 . ) liegt hier nicht wie sonst in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft (dann V . 1 2 ) , und bleiben meint, daß die genannten Verhaltensweisen als einzige den Ausweg aus dem Dilemma des Noch-Nicht weisen können. Unter diesen Voraussetzungen ergibt sich auch ein nahtloser Übergang zum ethischen Imperativ in 1 . K 1 4 , 1 . Auch hier legt also die Berücksichtigung der Textgliederungssignale eine andere Gliederung nahe: der Mittelteil über die Liebe (V.4-10) ist zweigliedrig; der erste Teil behandelt die Verhaltensweisen der Liebe ( V . 4 - 7 ) , der zweite ihren Stellenwert (V.8-10); den Rahmen bilden die Abschnitte V.1-3 und V.11-13, in denen es um das Verhalten des weisheitlichen Ich geht. Aus dieser anderen Sicht der Gliederung ergeben sich einige Folgerungen für die Auslegung des Kapitels, die im Rahmen einer umfassenden Exegese zu entfalten wären. 6.
Ein Gliederungsversuch (R 5)
Römer 5 ist als Testfall besonders geeignet, weil hier zwei verschiedenartige Probleme zusammentreffen. Fraglich ist einmal, wo der Haupteinschnitt für die Briefgliederung zu machen ist, und zum anderen, ob zu Beginn der zweiten Hälfte des Kapitels ein Anakoluth anzunehmen ist. 6.1.
Die Kontroverse um die Kontextgliederung
Wo nach der Abrahamperikope (R 4) der Gedankengang neu einsetzt, ist bisher umstritten. Drei Lösungen sind vorgeschlagen worden: der Anfang (R 5 , 1 ) , die Mitte (R 5 , 1 2 ) und der Beginn des nächsten Kapitels (R 6 , 1 ) . Die Mitte hat die geringste Wahrscheinlichkeit für sich, da ihr Textgliederungssignal allenfalls auf Stufe (6) anzusiedeln ist. Zwischen den beiden anderen Möglichkeiten ist die Entscheidung schwieriger, da beide mindestens auf Stufe (3) angesetzt werden können und beide Oyn 1 (also, nun) als zusätzliches Textgliederungsmerkmal der Stufe (6) aufweisen. Bisher ist meist der Anfang des Kapitels bevorzugt worden, wie der folgende Gliederungsausschnitt zeigt:
310
D) 5,1 - 8,39: Die Glaubensgerechtigkeit als Wirklichkeit eschatologischer Freiheit I. 5,1-21: Freiheit von der Todesmacht 1. 5,1-11: Der paradoxe Stand im Gottesfrieden 2. 5,12-21: Die Herrschaft des letzten Adams II. 6,1-23: Freiheit von der Sündenmacht Tab.3: Gliederungsausschnitt
zu R 5 (KÄSEMANN 1973: V)
Wie die Überschriften zeigen, ist die Gliederung vor allem an inhaltlichen Gesichtspunkten orientiert. Natürlich spielen die inhaltlichen Gesichtspunkte für die Textgliederung eine wichtige Rolle; sie haben aber den Nachteil, daß sie meist nicht eindeutig sind: es lassen sich meist mehrere Gliederungen durch inhaltliche Argumente stützen. Aber während R 5,1 auch dem Inhalt nach als Folgerung aus dem vorangegangenen Schriftbeweis anzusetzen ist, handelt es sich bei R 6 , 1 um einen metakommunikativen Satz und damit um ein Merkmal der Stufe ( 1 ) . Es wäre also R 4 in engen Zusammenhang zu R 5 zu rücken und der Haupteinschnitt demgemäß erst nach R 5 zu machen. Vor einer abschließenden Entscheidung wären die Gliederungsprobleme jedoch im Rahmen des ganzen Briefes zu untersuchen. Wenden wir uns daher jetzt dem anderen Problem des Kapitels zu. 6.2.
Überlegungen zur Binnen-Gliederung
Am Anfang unseres Textes treten drei Gliederungssignale a u f : Aussage in der I.Person; Resümierung der vorangehenden Argumentation (als Gerechtfertigte); Partikel ( a l s o ) . Diese Signale heben den Text vom vorangehenden Kontext ab und setzen ihn auf die gleiche Ebene wie den in R 4 , 1 (was sollen wir also sagen . . . ) beginnenden Text. Der nächste Teiltext beginnt in R 5,3; denn durch die Ellipse des Prädikates in R 5,3 (aber nicht nur, sondern auch) wird nochmals die vorangegangene Aussage evoziert. Daher steht dieser Teiltext auf derselben Stufe wie der vorangehende. Mit da wir wissen daß (R 5,3b) wird das Folgende eingebettet, ist also eine Stufe tiefer anzusetzen. Es handelt sich um einen Kettenschluß, der über die Satzgrenzen hinwegreicht. Er stellt die Beziehung zwischen Drangsal und zuschanden werden her, die von den Psalmen her vorgegeben ist.
311 Die einzelnen Glieder des Kettenschlusses sind als parallel anzusetzen, auch die mit elliptischem Prädikat. Auch die den Kettenschluß abschließende Wendung gehört auf dieselbe Stufe. Sie lehnt sich eng an den Kettenschluß an, da zwar ein anderes Prädikat steht, aber der für den Kettenschluß charakteristische Objekt-Subjekt-Tausch auch hier durchgeführt ist. Durch weil (R 5 , 5 ) wird eine neue Einbettung angezeigt, und gleich darauf eine weitere durch wenigstens wenn (R 5 , 6 ) , falls diese Lesart vorzuziehen ist. Die beiden nächsten, mit denn versehenen Sätze gehören auf dieselbe Ebene. Schwieriger ist die Entscheidung schon bei denn es erweist Gott seine Liebe (R 5 , 8 ) . Die Themaaufnahme mit Gott und Liebe aus V.5b und die ungewöhnliche Voranstellung des Prädikates nötigen dazu, die Wendung wieder eine Stufe höher anzusetzen, so daß sie auf dieselbe Stufe kommt wie weil die Liebe Gottes ausgegossen ist in unsere Herzen (R 5 , 5 b ) . Durch weil (R 5 , 8 ) wird dann eine Aussage eingebettet, die über die exkursartigen Bemerkungen von V . 7 hinweg wieder den eigentlichen Gegenstand aufgreift. Wo aber ist der nächste Satz anzusetzen? Zunächst sind vier Merkmale zu beobachten: der Anschluß um wieviel mehr, der Satzrelator also, eine Resümierung des vorangehenden Satzes durch die Partizipialkonstruktion und die I.Person Plural in der Hauptaussage. Diese Merkmale erinnern an V . 1 . Einer Parallelisierung widerspricht aber, daß der Komparativ ( V . 9 ) eine semantische Leerstelle aufweist; da die vorangehende Paradoxie des Sterbens für Sünder der generellen Aussage vom Liebeserweis Gottes als Begründung untergeordnet ist, wird man die Leerstelle am besten auf den Liebeserweis Gottes (V.8) beziehen und beide Sätze auf dieselbe Stufe setzen. Der folgende Satz beginnt wie schon V.3 mit nicht nur, sondern auch (R 5 , 1 1 ) . Anders als oben steht aber das Verbum nicht f i n i t , sondern als Partizip. Darin liegt das entscheidende Merkmal für die Zuweisung der Hierarchiestufe. Denn stünde das Verbum finitum, dann bezöge sich die Wendung auf die unmittelbar vorangehende Aussage wir werden gerettet werden (R 5 , 1 O ) . Daß hier das Partizip steht, soll diesen an sich naheliegenden Bezug vereiteln. So wird sichergestellt, daß die Wendung als gleichrangig zu der obigen ( V . 3 ) erkannt wird.
312
Für V . 1 2 ist bisher mit einem Anakoluth gerechnet worden (KÄSEMANN 1 9 7 3 : 1 3 7 ) . Dann ist aber nicht recht zu sehen, welche Funktion V.11 für die Argumentation hat, und vor allem bleibt völlig unklar, worauf sich dessentwegen ( V . 1 2 ) eigentlich bezieht. Wir nehmen daher an, daß der Wie-Satz ( V . 1 2 ) durch dessentwegen ( V . 1 2 ) als Begründung in den vorangehenden Satz eingefügt wird; zur Konstruktion WONNEBERGER 1974: Regel ( 2 2 ) und ( 2 5 ) ; ein vergleichbarer Fall ( 2 . K 5 , 2 f ) ist in WONNEBERGER 1975 analysiert. Die Adam-Christus-Typologie ( V . 1 2 f f ) nimmt also die gleiche Textposition ein wie die Passage über das Zuschandenwerden ( V . 3 f f ) . Für den Rest des Kapitels begnügen wir uns mit der Bestimmung des nächsten übergreifenden Merkmals. Es ist die metakommunikative Wendung was sollen wir also sagen (R 6 , 1 ) , die wieder die I.Person Plural aufnimmt und darüberhinaus die Kommunikationssituation thematisiert. 6.3.
Struktogramm-Darstellung
Wir fassen unsere Überlegungen in einer Art Struktogramm (vgl. NASSI/SHNEIDERMANN 1 9 7 3 ) zusammen. Dazu wird jedes Textgliederungssignal in den waagerechten Balken eines Winkels geschrieben, der Rest des Teiltextes in das Rechteck, das durch den Winkel aufgespannt wird. Der senkrechte Balken läuft so lange weiter, bis er durch einen neuen Winkel abgebrochen wird. Das ist nur bei einem Merkmal gleicher oder höherer Stufe möglich. Der senkrechte Balken zeigt also an, wie lange ein Gliederungssignal in Geltung bleibt. Die Darstellung wird rekursiv fortgeführt, indem im Rechteck eines Winkels die Teiltexte tieferer Stufe nach demselben Verfahren dargestellt werden. Liest man das Struktogramm von oben nach unten, so entspricht es bis auf die Wortstellung dem normalen Text, liest man es von links nach rechts, so zeigt die Anzahl der senkrechten Balken an, auf welcher Hierarchiestufe man sich bewegt.
313
Also
571 (PARTIZIP) l gerechtfertigt aus dem Glauben haben wir Frieden mit Gott durch unsern Herrn Jesus Christus, durch den wir auch Zugang erhalten haben im Glauben 2 zu der Gnade, in der wir stehen, und wir rühmen uns aufgrund der Hoffnung auf die Herrlichkeit Gottes aber nicht nur, sondern wir rühmen uns auch in den Bedrängnissen (PARTIZIP)
wissend, daß ] die Bedrängnis Geduld wirkt aber die Geduld Erprobung aber die Erprobung Hoffnung aber die Hoffnung läßt nicht zuschanden werden. weil die Liebe Gottes ausgegossen ist in unseren Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben wenigstens wenn 6 Christus, da wir schwach waren, noch rechtzeitig für Gottlose gestorben ist denn kaum dürfte einer für einen Gerechten sterben denn für das Gute dürfte vielleicht einer sogar wagen zu sterben aber es zeigt Gott seine Liebe uns gegenüber, w e i l ~ ~ ~ als wir noch Sünder waren, Christus für uns gestorben ist. also um wieviel mehr werden wir, uetzt durch sein Blut gerechtfertigt, durch ihn vom Zorn gerettet werden; 10 denn wenn wir als Feinde mit Gott versöhnt worden sind durch den Tod seines Sohnes um wieviel mehr werden wir als Versöhnte gerettet werden durch sein Leben 11 aber nicht nur sondern wir rühmen uns auch in Gott durch unseren Herrn Jesus Christus, durch den wir jetzt die Versöhnung erlangt haben, um dessentwegen, 12 | wie ... (ADAM-CHRISTUS-TYPOLOGIE)... also 6,1 |was sollen wir sagen?
Tab.4: Struktogramm zu R 5
314
7.
Fazit
Die hier vorgestellten Beispiele sind mit doppeltem Zweck gewählt worden; zum einen sollen sie zeigen, wie eine textlinguistische Methode zur Auslegung herangezogen werden kann und welche möglichen Ergebnisse damit erzielt werden können; zum anderen sollen sie aber auch verdeutlichen, welche K l u f t zwischen einer streng abgegrenzten linguistischen Teiltheorie und einer um Verstehen bemühten Textinterpretation zu überbrücken ist. Der hier eingeschlagene Weg bedarf ebenso der empirischen Fortentwicklung wie der theoretischen Vertiefung. Gilt es einerseits, die Liste der Textgliederungssignale zu vervollständigen und zu präzisieren, so werden andererseits die Teiltexte auch unter den Gesichtspunkten einer Sprechakt- oder Sprachhandlungstheorie zu betrachten sein. Dabei sind drei Anforderungen exegetischer Art im Auge zu behalten, nämlich durch explizite Diskussion der Gliederungsalternativen neue Gesichtspunkte für die Fragen nach Thema und Abfassungszweck eines Briefes zu erarbeiten; durch präzise Abgrenzung der Einheiten die Voraussetzungen für eine Art Formgeschichte bei Paulus zu schaffen; ein im Proseminar vermittelbares Methodenfundament der Paulusexegese zu entwickeln.
Literatur GÜLICH, Elisabeth / RAIBLE, Wolfgang ( 1 9 7 3 ) : "Textsorten-Probleme". Linguistische Probleme der Textanalyse. Jahrbuch 1973 des Instituts für deutsche Sprache. Düsseldorf: Schwann: ( 1 9 7 5 ) : 144-197. / RAIBLE, Wolfgang ( 1 9 7 4 ) : "Überlegungen zu einer makrostrukturellen Textanalyse. J.Thurber, The Lover and his Lass". GÜLICH, E./HEGER, K./RAIBLE, W. (eds.) ( 1 9 7 4 ) : Linguistische Textanalyse. Überlegungen zur Gliederung von Texten. Hamburg: Buske: 73-126. KÄSEMANN, Ernst ( 1 9 7 3 ) : An die Römer. Tübingen: Mohr. NASSI, I. / SHNEIDERMANN, B. ( 1 9 7 3 ) : "Flow Chart Techniques for Structured Programming". SIGPLAN Notices 8: 12.
SCHÜTTPELZ, Oda ( 1 9 7 3 ) : Der höchste Weg. 1.Korinther 13. (masch. Diss. Heidelberg). WONNEBERGER, Reinhard ( 1 9 7 4 ) : Syntax und Exegese. Eine generative Theorie der griechischen Syntax und ihr Beitrag zur Auslegung des Neuen Testamentes, dargestellt an 2.Korinther 5,2f und Römer 3,21-26. (masch.Diss. Heidelberg). WONNEBERGER, Reinhard ( 1 9 7 5 ) : "Der Beitrag der generativen Syntax zur Exegese. Ein Beispiel (2.Kor 5 , 2 f ) und neun Thesen". Bijdragen 36: 312-317
7,
SPRACHLICHES HANDELN
SPRECHEN ALS HANDELN
Von Wittgensteins Sprachspielen zu einer sprachlichen Handlungstheorie Meinert A. Meyer
1. Jede Art der Sprachbetrachtung muß nach Ludwig Wittgensteins Auffassung eine übersichtliche Darstellung der Sprache liefern (WITTGENSTEIN 196O: § 1 2 2 ) . Das klingt zunächst beinahe naiv, was denn sonst. Informativ wird diese Behauptung erst, wenn sie richt i g betont wiedergegeben wird: e i n e übersichtliche Darstellung. Die Kriterien für die Übersichtlichkeit der Darstellung ergeben sich durch den jeweils zu explizierenden Zweck der Sprachbetrachtung, durch das Ziel der Untersuchungen also. Während es Wittgensteins Ziel in den "Philosophischen Untersuchungen" war, philosophische Probleme sprachanalytisch aufzulösen, muß es erlaubt sein, diese Zweckbestimmung der Sprachbetrachtung zu ändern und dennoch von Wittgensteins Sprachkonzeption - kritisch - auszugehen. Das versuche ich in der nun folgenden Erörterung. Als ein legitimes Interesse der heutigen Linguistik läßt sich angeben: Wie ist die Befähigung zum sprachlichen Handeln zu erklären? Mit Wittgenstein formulieren wir diese Frage um: Wie erwirbt man die Befähigung zum sprachlichen Handeln? 2. Wittgenstein ging bei seinen sprachphilosophischen Untersuchungen derart vor, daß er primitive erdachte oder in der normalen Sprache vorfindliche Sprachspiele beschrieb. Eines der bekanntesten ist das zweite Sprachspiel der "Philosophischen Untersuchungen", in welchem sich zwei Bauarbeiter mit Hilfe von nur vier Wörtern verständigen . Man könnte zur Veranschaulichung an ein Gastarbeiter-Sprachspiel denken, wenn das nicht gleich abwertend mißverstanden würde und wenn man davon absähe, daß die beteiligten Gastarbeiter eine derartig primitive Kompetenz ja allein in ihrer Gastlandsprache, nicht aber in ihrer Heimatsprache besitzen.
318
Das Wittgensteinsche Sprachspiel läßt sich in einer Matrix darstellen, die die Handlungsmöglichkeiten der Beteiligten wiedergibt: Spieler B bringt ...
P1ATTE +1
PLATT&"
Spieler A sagt: ...
&AUCEN
+1
EINE SÄULE. •M
Die Darstellung des Sprachspiels in einer Matrix - ich übernehme sie aus David K. Lewis' Buch "Convention. A philosophical study" - macht deutlich, daß die beiden Spieler, A und B, vor der Aufga be stehen, jeweils ihre eigene Handlung mit der des anderen zu koordinieren. A hat in diesem Spiel vier Möglichkeiten und B hat vier; das ergibt zusammen sechzehn mögliche Koordinationen. Erstrebt werden aber von den beiden Spielern nur vier dieser sechzehn Möglichkeiten: daß B auf den Ruf Würfel hin tatsächlich einen Würfel bringt, nicht etwa eine Säule, auf den Ruf Säule hin tatsächlich eine Säule, usw. Die angestrebte Wahl erhält für bei de Spieler einen positiven Wert ( " + 1 " ) . Das Sprachspiel kann in dreifacher Hinsicht handlungstheoretisch charakterisiert werden, was wir hier nicht weiter explizie ren. Erstens, A und B k ö n n e n etwas, eben dieses handlungs dienliche Sprachspiel; zweitens, A und B haben im Sprachspiel je
319
weils E r w a r t u n g e n i n bezug a u f d a s Verhalten d e s a n deren, und drittens, aie individuellen Handlungen erscheinen A und B im Rahmen des Sprachspiels als s i n n v o l l . Es geht hier um die Lösung von Koordinationsproblemen mit Hilfe von Sprachzeichen; a a s heißt, e s geht u m sprachliche I n t e r a k t i o n . 3. Wir fragen nun im /»nschluß an Wittgenstein nach den Bedingungen, unter denen die Verständigungsmöglichkeiten in diesem primitiven Sprachspiel derart e r w e i t e r t werden können, d a ß es der normalen Sprache, unserer Sprache also, angenähert wird (vgl. dazu WITTGENSTEIN 196O: G 8) . Wittgenstein nimmt selbst Erweiterungen seines Sprachspiels vor. Es besteht ja zunächst nur aus vier Wörtern. Er führt ein (WITTGENSTEIN 196O: $§ 8, 15 u. 1 9 ) : (1) (2) (3) (4)
(5)
Farbwörter mit H i l f e von Farbmuster-Tafeln: Würfel + rote Farbtafel = Bring mir einen roten W ü r f e l . Zahlwörter: eins, zwei, drei, usw.; wiedergegeben als a, b, c usw. Hinweisende Gesten (Demonstrativa): dieses und dorthin. Die Unterscheidung von Subjekt und Prädikat (Argument und Funktion) usw.: vom Ausruf Platte zum zweiteiligen Satz Bring mir - eine Platte und dann zum vierteiligen Satz Bring - mir - eine - Platte. Eigennamen für Werkzeuge, abgehoben von den Stoffnamen: Bring m i r e i n e n Hammer, aber: Bring m i r d e n Würfel . (Wittgenstein unterscheidet damit in diesem primitiven Sprachspiel noch nicht zwischen Eigennamen wie Franz usw. und bestimmten Beschreibungen wie der Hammer usw.)
4. Wittgenstein erörtert nun eine Reihe von Problemen, die sich für ihn bei diesen Erweiterungen des primitiven Sprachspiels in Bezug auf die normale Sprache ergeben. Auf diese Probleme kommt es uns eigentlich an. 4 . 1 . Wittgenstein kritisiert die von ihm selbst früher vertretene referentielle Bedeutungstheorie. Das brauche ich hier nicht zu explizieren .
320
4.2.
Die Bestimmung verschiedener Wortarten läßt sich, wie Witt-
genstein sagt, immer nur "vom ganzen übrigen Mechanismus" der Sprache her verständlich machen (WITTGENSTEIN 1960: § 6; vgl. S 1 2 ) . Dementsprechend läßt sich die Analyse eines Satzes nur von seiner Stellung innerhalb eines Sprachsystems her rechtfertigen. Wittgenstein verknüpft mit dieser formalsprachlich anmutenden Aussage jedoch gleich eine Warnung. Das Beherrschen einer Sprache im Sinne der Systemkenntnis ist nicht ein Phänomen, das die jeweilige Verwendung einzelner Sätze begleitet (WITTGENSTEIN 196O: § 2 o ) . Wenn der Bauarbeiter sagt: Bring mir eine Platte, dann denkt er nicht zugleich daran, daß der Gehilfe ihm n i c h t eine Säule, n i c h t einen Würfel bringen soll, usw. Das heißt, die im System möglichen Negationen des geäußerten Satzes sind vorausgesetzt, aber nicht mitgedacht. Wittgensteins Kriterium der übersichtlichen Darstellung erlaubt hier eine erste Kritik an seinem Vorgehen. Er erörtert nicht, welche Wortart-Kombinationen im Sprachspiel verboten sind. Ein Beispiel dafür aus der erweiterten primitiven Sprache läßt sich jedoch leicht angeben. Die Zahlwörter dürfen nicht mit Eigennamen verknüpft werden, vielmehr nur mit Stoffnamen; also: Bring mir zwei Würfel usw., aber nicht: Bring mir zwei (den Hammer). 4.3.
Wittgenstein betont weiter, daß die hinweisende Definition
nicht ausreicht - wie das in der referentiellen Bedeutungstheorie vorausgesetzt wurde - um die Verwendung von Wörtern zu erlernen. Dadurch, daß man auf etwas zeigt, ist noch nicht entschieden, a l s w a s dieses "etwas" genommen werden soll. Hinweisendes Definieren ist undurchsichtig. Wittgenstein formuliert das Problem in der "Philosophischen Grammatik" wie folgt: Aber was ist denn das für ein Prozeß, wenn mir Einer verschiedene Dinge als Beispiele für einen Begriff zeigt, um mich darauf zu führen, das Gemeinsame in ihnen zu sehen; und wenn ich es suche und nun wirklich sehe? (WITTGENSTEIN 1969: 2 7 1 ) Ich meine nun, daß man die Kompetenz, die ein Kind erworben hat, das tatsächlich mit solchen vom Konkretum abstrahierenden "Begriffen" umgehen kann, a l s Befähigung z u m V e r a l l g e m e i n e r n kennzeichnen sollte. Nur über den Schritt des Verallgemeinerns läßt sich ein primitives Sprachspiel in ein komplexeres Sprachspiel verwandeln. In Wittgensteins Beispiel - nur durch
321
Verallgemeinerungen der Interaktionssituation, die mit den vier Ausrufen Platte, Würfel, Balken, Säule gekennzeichnet war, läßt sich die Handlung des Bringens, der Gegenstand Platte, die Ortsangabe dorthin, die Anzahl 2, 3 usw. erfassen. 5. Wittgenstein stellt nun auch die traditionelle Frage, wodurch sich Aussagen von Befehlen und Fragen unterscheiden (WITTGENSTEIN I960: §§ 2 1 , 2 2 ) , betont aber gleich, daß damit die Menge der Satztypen nicht erschöpfend angegeben ist; es gibt in unserer Sprache eine unbegrenzbare Mannigfaltigkeit von Arten von Sätzen (WITTGENSTEIN 1960: § 2 3 ) . Die Mehrzahl dieser Sätze dient dem Vollzug sprachlicher Handlungen. Wenn man nun - gegen Wittgensteins Intentionen - eine formal orientierte Satzanalyse durchzuführen versucht, dann zeigt sich, daß eine weitere Kritik an seinem Sprachspielkonzept erforderlich wird. Der besondere Status von A u s s a g e n gegenüber anderen Satztypen bleibt unexpliziert. Das möchte ich nun erläutern. Wittgenstein warnt zurecht davor, einen Aussagesatz als aus zwei Akten bestehend aufzufassen, einerseits dem Akt, etwas zu erwägen - den propositionalen Gehalt - und andererseits dann das Erwogene zu behaupten, es zu verneinen, als Frage hinzustellen, es zu bejahen usw. (WITTGENSTEIN 196O: § 22) . Es erscheint mir deshalb im Anschluß an Wittgenstein sinnvoll, von sprachlichen Teilhandlungen zu sprechen, die zusammen erst eine vollständige sprachliche Handlung darstellen. Die Unvollständigkeit der Teilhandlungen besteht darin, daß sie im Hinblick auf primitivere Beispiele verallgemeinert sind; es bleibt jeweils etwas offen, was durch die somit notwendigen Ergänzungen erst bestimmt wird. Im Beispiel des Befehls Bring mir - einen Würfel können wir dementsprechend die Teilhandlungen der Gegenstandsidentifikation und der Handlungsangabe unterscheiden. Wichtig ist aber, daß erst in einer Sprache der angegebenen Komplexität diese Unterscheidung möglich ist. In unserer Lewis-Matrix führte das - was wir nicht darzustellen brauchen - bei zwei Teilhandlungsmöglichkeiten, z.B. bringen und zerschlagen, und den vier nunmehr zu Gegenständen "degradierten" Elementen Platte, Würfel, Balken, Säule zu 64 möglichen Kombinationen, von denen jeweils 8 im Koordinationsspiel begrüßt
322
würden. Anders herum, es ließen sich in der primitiven Sprache 8 verschiedene korrekte Sätze bilden. Mit dieser Erweiterung haben wir aber noch nicht Befehle von Fragen und Aussagen (Behauptungen) abgehoben. Dafür müssen wir noch eine Analyse-Dimension einführen, die im Austin-Searle 1 sehen Sprachmodell der illokutionären Rolle des Satzes bzw. dem illokutionären Akt entspricht. Folgendes Koordinationsspiel wäre denkbar. A kann erstens befehlen, einen der vier Gegenstände zu bringen oder zu zerschlagen, und er kann zweitens fragen, ob B einen der vier Gegenstände bringe oder zerschlage. Darauf kann B erstens die gewünschte materielle Handlung ausführen, d . h . , den jeweiligen Gegenstand bringen, und er kann zweitens mit Ja oder Nein auf die Frage antworten und sich dann entsprechend verhalten. Das ergibt insgesamt 192 mögliche Koordinationen, von denen 96 korrekt sind. Die sprachlichen Handlungen A 1 s und die Reaktionen B's'sind nunmehr dreigliedrig. Sie enthalten erstens eine Gegenstandsidentifikation, zweitens eine Handlungsangabe und drittens die Bestimmung des Koordinationsaspekts in der illokutionären Rolle. Nun sind die Antworten von B allemal korrekt, ob B mit Ja oder mit Nein antwortet, solange sie Antworten auf A ' s Fragen sind. Es scheint sich damit gar nicht mehr um Koordinationsprobleme zu handeln. Denn, was immer B sagt, es ist die richtige Antwort. Die Zurückweisung dieser scheinbaren Unangemessenheit unserer Matrix für die Beschreibung von Fragen und Antworten ist m . E . darin zu sehen, daß die Antworten im Koordinationsspiel nur eine i n d i r e k t e Verwendung haben. Sie ermöglichen A, sich auf weitere (spätere) Handlungen von B einzustellen. Sie sind deshalb für ihn informativ. Wir sagen, die Antworten dienen A als G r ü n d e f ü r sein eigenes (späteres) Handeln. Wir gehen deshalb einen Schritt weiter und sagen, daß die Antworten, i n Isolation betrachtet, A u s s a g e n sind. Aussagen sind wahr oder falsch; sie sind neutral im Hinblick auf die direkte Lösung von Koordinationsproblemen; es bleibt, wie Lewis formuliert, der Diskretion des Hörers überlassen, wie er auf eine solche Aussage reagiert (LEWIS 1969: 1 4 4 ) . B ' s Aussage, daß er keine weitere Platte bringe, kann so zum Beispiel der Grund für A sein, eine Pause einzulegen.
323
Unser erweitertes Koordinationsspiel läßt sich nun in zweifacher Hinsicht handlungstheoretisch charakterisieren. Erstens, dem Gesprächspartner wird ein gewisses Maß an Rationalitat unterstellt. Man mutet ihm zu, Aussagen, die zunächst "neutral" sind, als 4 Gründe zum eigenen Handeln zu verstehen . Zweitens, d e m Gesprächspartner wird p r i n z i p i e l l K o operationsbereitschaft unterstellt. Ohne sie käme keiner Aussage eine Funktion zu; sie "hinge" gleichsam "in der L u f t " , sie wäre nicht informativ. Wir fassen diese prinzipielle Bereitschaft als allgemeines Interaktionsprinzip und erhalten so verallgemeinernd für jede Art sprachlicher u n d nicht-sprachlicher Handlung e i n E r k l ä r u n g s s c h e m a , d a s a u s einem Handlungsprinzip, d e m Grund oder den Gründen zum Handeln und der tatsächlichen Ausführung der Handlung besteht. Ein solches Schema kann als praktischer Syllogismus bezeichnet werden. D . S . Shwayder erläutert in seinem Buch "The stratification of behaviour" den Begriff des (allgemeinen) Handlungsprinzips (principle of reason) wie folgt: My thesis is ... that the 'major premise' of a practical syllogism formulates the principle by which the 'minor premise 1 is seen to be a reason for doing the act which is the 'conclusion 1 . I wish also to claim that in deliberation a fact is seen to be a reason for acting only in the light of some such principle of reason. When an animal acts upon a reason falling under a principle of reason ( e . g . , duty, honesty, advantage, hunger), we may call that the principle of his act. Such principles are invoked by observers as principles of actexplanation. (SHWAYDER 1965: 1O2) Handlungen unterscheiden sich von Ereignissen dadurch, daß man für sie Handlungsprinzipien angeben kann und sprachliche Handlungen fallen alle zumindest unter das Kooperationsprinzip. 6. Fassen wir unsere Erörterungen zusammen, indem wir die Frage stellen, unter welchen Bedingungen die sprachliche Kommunikation in unserem Sprachspiel n i c h t zum Erfolg führen wird. Diese Frage erlaubt uns, die aufeinander aufbauenden Aspekte, unter denen sprachliche Handlungen betrachtet werden können, zu explizie-
ren.
324
6.1. Das Spiel funktioniert nicht, wenn A etwas sagt, was B rein akustisch nicht versteht. A muß dann seine Äußerung deutlicher wiederholen. 6.2. Das Spiel funktioniert weiterhin dann nicht, wenn A einen nicht wohlgeformten Satz produziert, sodaß B nicht weiß, wie er reagieren soll. Nicht wohlgeformte Äußerungen blockieren die angestrebte Koordination. Die Kompetenz zur Erzeugung wohlgeformter Sätze kann man als formale Kompetenz bezeichnen. 6.3. Das Spiel funktioniert dann nicht, wenn der geäußerte Satz zwar wohlgeformt ist, aber der Kommunikationssituation unangemessen erscheint. B weiß nicht, wie er reagieren soll, obwohl er korrekt reagieren möchte. Eine solche Blockierung kann erst in einer Sprache auftreten, die so komplex ist, daß Äußerungen von A für B einen Spielraum lassen, innerhalb dessen er eine angemessene Reaktion finden muß. In unserer primitiven Sprache ist diese Komplexität erst mit der Einführung von Fragen und Antworten erreicht, wenn diese Antworten Gründe für verschiedenartige Handlungen sein können. 6 . 4 . Letztlich funktioniert das Sprachspiel dann nicht, wenn die allgemeine Bedingung für die erfolgreiche Durchführung sprachlicher Handlungen nicht erfüllt ist, die Kooperationsbereitschaft der Interagierenden. Wenn wir dem anderen im Sprachspiel Nichteinhaltung des Kooperationsprinzips unterstellen müssen, dann sanktionieren wir das damit, daß wir die Kommunikation abbrechen. Das Prinzip der Kooperation expliziert so die moralische Dimension sprachlichen Handelns. Wir gehen davon aus, daß Kooperation dem "tiefen Bedürfnis nach Übereinstimmung" (Wittgenstein) entspricht und damit zugleich eine der grundlegenden Bedingungen für die Befriedigung menschlicher "Bedürfnisse" ist (Karl Marx). Aus diesem Prinzip abzuleiten, daß wir uns tatsächlich immer kooperativ verhalten, wäre natürlich unsinnig . Das Prinzip läßt sich in seiner Anwendung auf sprachliche Interaktion zweifach spezifizieren. Ich muß mich wahrhaftig und ich muß mich sprachlich konsistent verhalten. Dies sei abschließend an einem negativen Beispiel verdeutlicht.
325
7.
Mit dem Satz Ein Kreter sagt, daß alle Kreter lügen wurde
schon in der Antike auf ein Kommunikationsproblem hingewiesen. Kommunikation kann selbstwidersprüchlich werden. Wir wissen nicht, wie wir den Kreter verstehen sollen. Die erfolgreiche Kooperation zwischen dem Nichtkreter B und dem Kreter A bestünde darin, daß B dem A nicht mehr glaubt. Sprachliche Kooperation setzt aber gerade voraus, daß man dem Gesprächspartner glaubt. Dies läßt sich in einer Lewis-Matrix zeigen:
Hörer B reagiert so:
ER GLAobT A NICKT
Z
ICH LOGE."
ICH Sprecher A sagt: ..
ER.
ICH
KKKT
D'E.
-
-1
· \ SfcCE. DIE «AHRH&T"
Wir haben in unserem Beispiel einen Fall vorliegen,.in dem die formale Kompetenz der Sprecher offensichtlich in die Irre läuft. Da es z.B. grairanatisch-semantisch korrekt ist, den Satz A sagt zu B, daß C ein Auto kaufe umzuwandeln in den Satz A sagt zu B, daß er selbst, A also, ein Auto kaufe, nimmt man an, daß auch für den Satz A sagt zu B, daß C lüge diese Umwandlung erlaubt sein müsse. Sie ergibt aber den paradoxen Satz A sagt zu B, daß er selbst, A, lüge. Paradox ist dieser Satz allerdings erst, wenn man die Frage stellt, wie B auf diese Aussage r e a g i e r e n soll. Das Lügner-Paradox demonstriert so, daß Syntax und Semantik immer von einer sprachlichen Pragmatik her zu konzipieren sind. Das heißt, es zeigt sich, daß für die Beschäftigung mit dem Phänomen der Sprache eine sprachliche Handlungstheorie als Rahmentheorie zu erstellen ist.
326
Anmerkungen 1
Der Sprachspielbegriff wird von Wittgenstein - seinem philosophischen Therapie-Programm entsprechend - vieldeutig und unpräzise verwandt; wir picken e i n e Variante heraus, die Verwendung des Begriffs im Sinne einer primitiven aber vollständigen Sprache. 2 Vgl. dazu MEYER 1976: Kap. III. 3 Diese Kritik richtet sich gegen Frege und Russell; sie träfe aber auch Searle und Habermas. 4. David S. Shwayder bestimmt Gründe so: A reason is defined as a fact, knowledge of which on the part of an animal might serve as an explanation of his movements. (SHWAYDER 1965: 88) 5. Vgl. WATZLAWICK / BEAVIN / JACKSON 1 9 6 7 / 1 9 6 9 : 2O9; GRICE 1969: I I . 6 / 7 ; HAYAKAWA 1 9 4 1 / 4 . A . o. J g . : V I I , 16 u. 1 1 O .
Literatur GRICE, H. Peter ( 1 9 6 9 ) : Logic and conversation. Berkeley mimeo (vervielf.). HAYAKAWA, S.I. ( 1 9 4 1 ) : Language in thought and action. New York: Hartcourt, Brace, & World, 4.A. 1967. - Übers.: Semantik. Sprache im Denken und Handeln. Darmstadt: Verlag Darmstädter Blätter, 4.A. o.Jg. LEWIS, David K. ( 1 9 6 9 ) : Convention. A philosophical study. Cambridge, Mass.: Harvard University Press. - übers.: Konventionen. Eine sprachphilosophische Abhandlung. Berlin: de Gruyter, 1975. MEYER, Meinert A. ( 1 9 7 6 ) : Formale und handlungstheoretische Sprachbetrachtung. Eine problemgeschichtliche Untersuchung. Stuttgart: Klett (im Druck). SHWAYDER, David S. ( 1 9 6 5 ) : The stratification of behaviour. London: Routledge & Kegan Paul. WATZLAWICK, Paul / BEAVIN, Janet H. / JACKSON, Don D. ( 1 9 6 7 ) : Pragmatics of interactional patterns, pathologies, and paradoxes. New York: W . W . Norton. - Übers.: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. Bern etc.: Huber, 1969. WITTGENSTEIN, Ludwig ( 1 9 6 0 ) : Philosophische Untersuchungen. Schriften I. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. ( 1 9 6 9 ) : Philosophische Grammatik. Schriften IV. Frankfurt a . M . : Suhrkamp.
AUFFORDERUNGEN UND HANDLUNGSABSPRACHEN
Götz Hindelang
1. Handlungsabsprachen Im Folgenden soll versucht werden, Aufforderungen nicht als isolierte kommunikative Akte zu begreifen, sondern sie aus ihrer Funktion innerhalb größerer kommunikativer Zusammenhänge zu erklären. Betrachten wir der Einfachheit halber nur zwei Sprecher X und Y, so läßt sich der übergreifende Interaktionsrahmen, in dem Aufforderungen gesehen werden sollen, wie folgt abstecken: X und
sprechen zusammen über zukünftige Handlungen von X oder
oder von beiden, mit dem Z i e l , aus den in der gegebenen Situation möglichen Handlungsalternativen die optimale herauszufinden. Einen solchen Gesprächstyp will ich Handlungsabsprache (HA) nennen.
Geht man davon aus, daß sich die besprochene Handlung un-
mittelbar an das Gespräch anschließt, kann man folgende zentralen Phasen innerhalb einer HA unterscheiden: a) Situationsanalyse: X und
müssen sich über die bestehenden
Verhältnisse V klar werden. In diese Phase gehört auch die Diskussion der Frage, wie die Verhältnisse V aussehen, die sich aus V zwangsläufig oder mit hoher Wahrscheinlichkeit entwickeln werden. b) Situationsbewertung: X und
müssen V bzw. V
sie müssen p r ü f e n , inwieweit V oder V
bewerten, d . h .
für sie angenehm oder
unangenehm, zulässig oder nicht zulässig, wünschenswert oder veränderungswürdig ist. c) Zielanalyse:
X und
müssen einen Zustand Z f i n d e n , den
sie
als optimale Entwicklung aus V einschätzen und deshalb anstreben wollen. d) Handlungsanalyse: X und
müssen verschiedene Handlungsmög-
lichkeiten diskutieren, durch die man V in Z überführen kann. e) Agentenanalyse: Sind die einzelnen Handlungstypen gefunden, die von V nach Z führen, muß besprochen werden, wer die
Hand-
lungen ausführen soll. In dieser Phase werden Fragen der Fähigkeit und Bereitschaft von X und Y, gewisse Handlungen zu machen, relevant.
328
f) Handlungszuweisung ( H Z ) : Den Abschluß einer HA bildet die Handlungszuweisung; sie faßt die Ergebnisse der HA zusammen, indem sie festhält, wer welche Handlung auszuführen hat. Typischerweise verlaufen Handlungsabsprachen so, daß weder X noch genau wissen, was zu tun ist. Man kann dann auch von dem Interaktionsmuster 'gemeinsam planen' sprechen (vgl. dazu FRITZ 1 9 7 4 ) . Eine Sonderform der HA kann dadurch zustande kommen, daß z.B. X für sich alle Punkte a) bis f) schon durchdacht hat und auch jeweils zu einer Lösung gekommen ist, und durchweg zustimmt. Ein Beispiel für eine solche HA wäre ( 1 ) . (1) X: "Mein Goldhamster sitzt da oben auf der Gardinenstange." (Situationsanalyse von V) Y: "Tatsächlich!"
X: "Wenn er einen ungeschickten Schritt macht, fällt er herunter und bricht sich das Genick. (Analyse von V) Das wäre entsetzlich für mich." (Bewertung von V ) Y: "Natürlich." X: "Er muß deshalb sofort da runter. (Zielanalyse) Wenn man einen Stuhl auf den Tisch stellt, könnte man hinaufsteigen und ihn herunterholen." (Handlungsanalyse) Y: "Das müßte gehen." X: "Ich bin schon zu alt für solche Kletterpartien, aber du bist doch geschickt und schwindelfrei." (Agentenanalyse) Y: "Klar!" X: "Also, dann hol' mir den Hamster da mal runter." (Handlungszuweisung) Die HZ ist eine Aufforderung an Y, eine bestimmte Handlung zu machen; sie folgt als Ergebnis aus den von X in der HA entwickelten Überlegungen. Das argumentative Schema, das (1) zugrunde liegt, könnte man als eine Form praktischen Schließens auffassen und wie folgt allgemeiner darstellen: a) Der Sachverhalt p besteht. b) Der Sachverhalt p soll nicht bestehen bleiben. c) Der Sachverhalt g soll eintreten. d) Die Ausführung der Handlung H führt von p nach q. e) Du kannst H ausführen. Ich kann oder will H nicht ausführen. f) Also: Mach H!
329
Eine solche Argumentationsfigur soll Aufforderungsschluß (AS) genannt werden; die einzelnen Punkte a) - e) sind dann entsprechend als Prämissen der Schlußfolgerung f) anzusehen. Zusammengefaßt lautet meine These also: isolierte Aufforderungen können als auf die Konklusion reduzierte Aufforderungsschlüsse verstanden werden. Der Aufforderungsschluß selbst stellt das Argumentationsskelett von Handlungsabsprachen dar. Im folgenden soll nun untersucht werden, ob diese These für die Entwicklung einer Typologie der Aufforderungen und für die Erklärung der sogenannten "indirekten Aufforderungen 1 nützlich sein kann. 2. Typologie der Aufforderungen Aus den oben entwickelten Überlegungen geht hervor, daß 'eine HZ machen 1 und 'eine Aufforderung machen 1 Namen f ü r das gleiche verbale Handlungsmuster sind. Dieses sehr allgemein angesetzte Muster hat verschiedene wichtige Untermuster. Die Kriterien zu ihrer Unterscheidung sollen aus einer näheren Analyse der möglichen Formen der Situationsbewertung gewonnen werden. Dabei sind folgende Fragen relevant: a) für wen ist
es vorzuziehen,
daß der Sachverhalt p nicht bestehen bleibt, und b) gibt es außer den individuellen
Präferenzen von X und
bezüglich p Normen,
die das Bestehen oder die Beseitigung von p betreffen? Geht man wieder von einer Interaktion zwischen X und fest, daß x derjenige ist,
aus und setzt
der die Aufforderung macht, so kann
man folgende Konstellationen unterscheiden: Typ 1: Der Sachverhalt p soll nicht so bleiben, weil X p negativ bewertet.
hat keine Präferenzen bezüglich des Bestehens
oder der Beseitigung von p. .Es gibt keine expliziten Normen, die etwas über die Zulässigkeit von p sagen. Typ 2: Der Sachverhalt p soll nicht so bleiben, weil
negativ
bewertet. X hat persönlich keine direkten Präferenzen bezüglich des Bestehens oder der Beseitigung von p. X macht eine H Z , weil er weiß oder glaubt, daß
negativ bewertet. Es gibt keine ex-
pliziten Normen, die etwas über die Zulässigkeit von p sagen. Typ 3: Der Sachverhalt p soll nicht so bleiben, weil X und negativ bewerten. X macht eine HZ, weil er weiß oder glaubt, daß auch negativ bewertet. Es gibt keine expliziten Normen, die etwas über die Zulässigkeit von p sagen.
330
Typ 4: Der Sachverhalt p soll nicht bestehen bleiben, weil eine allgemeine Norm vorschreibt, da p nicht bestehen darf. X macht sich zum Vertreter dieser Norm; dabei ist es gleichg ltig, ob er pers nlich eine direkte Pr ferenz bez glich des Bestehens oder der Beseitigung von p h a t . Typ 5: Der Sachverhalt p soll nicht so bestehen bleiben, weil X p negativ bewertet. Es besteht eine Norm, die besagt, da X gegen ber Υ die Zul ssigkeit von gewissen Sachverhalten bestimmen kann. Fordert Χ Υ a u f , p zu beseitigen, entsteht f r Υ so die abgeleitete Norm, da p nicht bestehen darf. Um eine bersichtliche Darstellung der· Pr ferenz- und Obligationsvoraussetzungen bei den einzelnen Typen geben zu k nnen, sollen folgende Abk rzungen eingef hrt werden: P ( ^ p , p ) f r: A zieht die Tatsache, da p nicht besteht, dem Zustand, da p besteht, vor. Damit ist nur ausgedr ckt, da A will, da p verschwindet; welcher Zustand q anstelle von p treten soll, ist hier nicht relevant. ^ p a ( ^ P / p ) f r: Es ist A pers nlich gleichg ltig, ob p besteht oder nicht. 0(pT%p) f r: Es besteht eine allgemeine Norm, die besagt, da p beseitigt werden mu . Ist die Norm nicht allgemein g ltig, sondern besteht sie nur f r A, schreibe ich: O(pT^p) a . 'υΟ(ρΤ'ν,ρ) f r: Es gibt keine Norm, die die Zul ssigkeit von p regelt. Vernachl ssigt man die Rolle doxastischer Ausdr cke, die ja zumindest f r Typ 2 und 3 eine Rolle spielen, kommt man zu folgender
bersicht:
Typ 1: Typ
2:
Typ 3: Typ 4: Typ
5:
P Kp, p) χ , < 3 , C , c > , . . . , < 8 , A , h » }, gemäß Abkürzungsvereinbarung: < l , A , a > = h^ usw. darstellbar als { < h>| t h 2 » h j , . . . ,hQ >}. G ' s Interpretation von hp und der Entscheidungsprozeß zu h, seien in folgenden Stufen dargestellt: 1. Die (äußere) Handlung h2 wird relativ zu einer Situation S und einem Handlungssystem L (NOWAKOWSKA 1973: I32ff) interpretiert als Instanz einer Form (eines Handlungsschemas), Form(h 2 ,S,L) = f ( h 2 ) . 2. Der Handlung hp wird relativ zu S, L und f(hp) eine Bedeutung vom Typ w ("ist Ausdruck negativer Wertung") zugeordnet, B e d ( h 2 , f ( h p ) , S , L ) = w ( h p ) . Der Name des Handlungstyps "jmd. eine Nase drehen" umfaßt sowohl den Formaspekt (Handlungsschema) als auch den Bedeutungsaspekt (Abwertungssinn). 3. h2 wird relativ zu S, L, f(h 2 ) und w(hp) eine Menge subjektiver und objektiver Konsequenzen (als deren Sinn) zugeordnet, zusammengefaßt unter Handlungsbezeichnungen wie "Beleidigung"
361
oder "Affront". Hier soll nur eine objektive Konsequenz interessieren: die Obligation für C zu einer Handlung, die hp kompensiert oder eine derartige Kompensation einleitet. Sinn(h 2 ,w(h 2 ),f(h 2 ),S,L) = O c/& Komp(h 2 ). 3 4. OQ / G Komp(h 2 ) wird eine Menge von Handlungen zugeordnet, die diese Obligation erfüllen (können), Erf(OQ/«Komp(n 2 )). 5. Gemäß dem weiteren Verlauf von (1) können wir intrapolieren, daß C in einem Dilemma steht: a) erfüllt er die Obligation, dann kann A hp als nicht als Beleidigung intendiert hinstellen, indem er negiert, daß w(h~) 4 mit dem Ziel (target ) C intendiert sei. Damit kann er C als zu empfindlich und streitsüchtig deklarieren, damit - gemessen am Anlaß - als lächerlich, folglich entehrt hinstellen; b) erfüllt C die Obligation nicht, so kann er als Feigling, folglich ebenfalls entehrt deklariert werden. Der Fall a) bezieht sich auf eine allgemeine Norm (Friedensbruch) i mit bezug auf diese Norm kann A dem C ggf. die Verantwortlichkeit für eine tätliche Auseinandersetzung zuschieben. Im Fall b) wird diese Norm gewissermaßen außer acht gelassen. Dieses Dilemma kann als Sonderfall der von BACKHAUSEN (o.J.: 14-ff.) beschriebenen Interpretationskonflikte aufgefaßt werden. BACKHAUSEN zeigt, daß Interpretationen von Handlungen (Interaktionen) und Situationen prinzipiell konfliktär sind, weist aber auch darauf hin, daß sich - da Kommunikationen faktisch funktionieren - zur Lösung von Kommunikationsproblemen kontrakonfliktäre Verhaltensweisen herausgebildet haben müssen. Eine der möglichen kontrakonfliktären Handlungen in (1) nach h« ist h,, die Frage nach der Intention von A bei h-. Damit verletzt C weder das Verbot (Friedensbruch), noch ist h, als Nichterfüllung der Obligation zu werten. Die durch hp erzeugte Situation läßt sich in einem Entscheidungsbaum darstellen mit
S
S,,, t
V
S/
S
= C
S0, U
t = lächerlich(C) u .= feige(C) v = -t . -u
S
3'
362
h^ Erf(O c ^ G Komp(h 2 )), -h^ t Erf (00^& (1 2 ) ) tu : eine kontrakonfliktäre Handlung (Frage nach Intention) und einer Bewertungsfunktion über Situationselemente s^, sodaß w ( t ) w ( u ) und w ( t ) w ( v ) . In solch einer Situation wird G sich für h, entscheiden. S^ müßte weiter spezifiziert werden, dahingehend daß A seinerseits vor einem Dilemma steht, ähnlich dem C ' s . S^ ist ein Quasientscheidungsmoment (NOWAKOWSKA 1973: 14-9ff) in dem Sinn, daß mit der Wahl von h, weder t noch u determiniert oder eliminiert werden, d. h. der Ausgang der Auseinandersetzung "bleibt offen. In (1) zeigt sich, daß die Kontrahenten mit ihren Äußerungen jeweils solche Quasientscheidungsmomente erzeugen. Keiner von beiden manövriert den anderen in eine Situation, in der dieser durch seine Entscheidung ein bestimmtes Resultat determiniert. 2.2. In die Analyse von (1) geht u. a. die Voraussetzung ein, daß der Handlung h~ per Konvention Sinn zugeordnet werden kann. Für die Partizipanten der Interaktion kann der von A intendierte Sinn klar erkennbar sein. Bezogen auf eine übergeordnete Norm, die ev. von Nicht-Partizipanten anzuwenden ist, muß C versuchen, A dazu zu bringen, seine Intention explizit zu machen (d. h. explizit zu machen, daß h 2 an C gerichtet war). A dagegen muß vermeiden, seine Intention explizit zu machen, und versuchen, C dazu zu bringen, daß er sich hinreißen läßt, offensichtlich Streit anzufangen« Gelingt der Versuch von C, dann gilt hp objektiv als Beleidigung und rechtfertigt eine Handlung C ' s , die bezogen auf h~ als Sanktion gelten kann. Gelingt der Versuch A 1 s , dann wird h~ zur Beurteilung einer als Sanktion intendierten Handlung unerheblich: prozessual kann A sich damit aus der Klemme ziehen, daß er seine Intention bei h^ negiert. Insofern sind kontrakonfliktäre Handlungen nicht nur Mittel zur Lösung subjektiver Interpretationskonflikte, sondern auch Verfahren der Zuordnung objektiven Sinnes. 2.3· Der letzte Satz läßt sich für andere Folgehandlungen verallgemeinern: Festlegung des Sinns einer Handlung erfolgt durch eine Sequenz von Handlungen. Im Extrem ist diese Sequenz eine
363
Einerfolge, etwa eine Akzeptieren-Handlung. Trivialerweise ist die Unterlassung derjenigen Handlungen, die geeignet sind, die mit einer vorangehenden Handlung intendierten oder erwartbaren Konsequenzen zu eliminieren, Bedingung der Determination eben dieser Konsequenzen. 2.4. Ein Beispiel zur Festlegung von Konsequenzen: Sei F eine Folge von Sequenzen von Handlungen der Länge n mit alternierenden Partizipanten (Kontrahenten) A und B, wobei jede Sequenz f. eine Einerfolge der Form < n , p , h > sei, mit n e N, und h H. f^ sei eine Handlung von A, die geeignet ist, B zu beleidigen. Eine Beleidigung kann zwei Funktionen haben - H e r a u s f o r d e r u n g oder D e m ü t i g u n g (BOURDIEU 1965) je nachdem, ob der Betroffene sozial in der Lage ist, die Beleidigung als Herausforderung anzunehmen oder nicht. B 1 s Reaktion auf f ^ sei, nichts zu tun (Unterlassung), f„ = < 2 , B , 0 > ; 0 in f~ kann eine Handlung folgender drei Kategorien sein: I g n o r i e r e n , H i n u n t e r w ü r g e n oder S c h m o l l e n . I g n o r i e r e n kann i n zwei Funktionen verwendet werden: Ü b e r s e h e n / Ü b e r h ö r e n - B zeigt, d a ß e r f^. a l s Herausforderung interpretiert und zu einer Auseinandersetzung (Erfüllung der damit etablierten Obligation) sozial fähig ist (z. B. A zu sanktionieren), aber davon abzusehen bereit ist; d. h. B macht A das Angebot, f,. sozial zu annullieren - akzeptiert A dieses Angebot, verpflichtet er sich, B nicht weiter anzugreifen. R e t o r s i o n - B drückt Dominanz über A aus, erfüllt damit die durch f^ etablierte Obligation und etabliert eine gleichartige Obligation für A. S c h m o l l e n - i s t Unterwerfungs- u n d Beschwichtigungsgeste, wird durch Mimik und/oder Unterbrechung bzw. Abbruch des sozialen Kontakts markiert. H i n u n t e r w ü r g e n - drückt Subordination B 1 s aus; B kann - zumindest temporär - die Beleidigung nicht als Herausforderung annehmen, muß sich also demütigen lassen. A kann auf f~ reagieren, indem er eskaliert, d. h. seine Angriffe fortsetzt, oder ebenfalls 0 wählt.
364
E s k a l i e r e n 1. A thematisiert 0 in fp, deutet fp als Schmollen oder Hinunterwürgen, oder als mißlungenen Versuch, fx, zu ignorieren. Je nach Antezedens macht A den B lächerlich oder provoziert ihn; 2. A wählt eine stärkere Beleidigung (als f,,). Wenn A eskaliert, kann B auf die Handlungen von A nicht lange mit Handlungen vom Typ 0 reagieren: versucht er, die Handlungen von A fortgesetzt zu ignorieren, läuft er Gefahr, sich lächerlich zu machen. Insgesamt werden dann seine Handlungen als Hinunterwürgen, A 1 s Angriffe als Demütigungen interpretiert. A reagiert auf fp mit 0 in dieser Position kann 0 nicht als Ignorieren gedeutet werden, sondern als 1. A akzeptiert B's Angebot; Antezedens: Übersehen; 2. A steckt zurück, etwa weil er erkennt, daß B ihm überlegen ist oder bereit zu einer Auseinandersetzung ist, die A nicht durchstehen kann; Antezedens: Retorsion; J>. A begnügt sich mit seinem Sieg über B; Antezedens: Hinunterwürgen oder Schmollen (bei Schmollen: A erfüllt die Obligation, seinen Angriff zu beenden). Ist fp ambig, dann führt die folgende Eskalation zu einer Desambiguierung: entweder wird B gezwungen, die Beleidigungen hinzunehmen, oder er nimmt die Herausforderung an, wodurch fp als Hinunterwürgen bzw. Ignorieren gedeutet wird. Anders ist es, wenn A auf fp mit 0 reagiert: fp wird nicht desambiguiert. f, ist dann dreifach ambig, d. h. jeder der Kontrahenten kann seine Version der Handlungssequenz vor Dritten vertreten, läuft aber Gefahr, daß Dritte unter Berücksichtigung zusätzlicher Kriterien (wie Wissen über die Kontrahenten) sein Verhalten negativ b e w e r t e n , z . B. als Schwäche auslegen. Um dieser Gefahr zu entgehen, wird A ggf. eine andere Handlung als 0 in f, wählen. Will nun B die Möglichkeit der Interpretation seiner Handlungen als Schwäche nicht in Kauf nehmen, muß er seinerseits zum Angriff übergehen, indem er z. B. 0 in f~ als Retorsion und darüberhinaus bezüglich A ' s Reaktion als gelungene Einschüchterung deklariert.
365
3. Die auf Sprechakte - oder Sequenzen von Sprechakten - möglichen Reaktionen lassen sich als Schritte im Prozeß der Aushandlung von Interaktionsbedingungen begreifen. Insofern Sprechakten eines Agenten A mögliche Reaktionen eines Agenten B, diesen wiederum Reaktionen des Agenten A usw. zuordnen lassen, sind - zumindest potentiell - Sprechaktsequenzen antizipatorisch von den Interagenten aufkonstruierbar. In Vorwegnahme möglicher Verläufe der Interaktionen und deren Konsequenzen können die einzelnen Sprechakte bewertet und Entscheidungen über ihre Durchführung getroffen werden. Andererseits können bestimmte Sequenzen routinisiert werden bzw. in bestimmten sozialen Gruppen als präferierbare ausgearbeitet werden. Damit werden bestimmte Konsequenzen dieser Sequenzen in hohem Maße erwartbar; d. h. - in Gleichsetzung von Konsequenzen mit Interaktionsbedingungen - Askribierbarkeit und Askription sozialer Positionen wird erwartbar. Folgen dagegen auf Sprechakte Reaktionen, die diesen Sprechakten bisher nicht als mögliche zugeordnet waren, oder werden bestimmte Reaktionen weniger erwartbar oder nicht mehr möglich, so heißt das, daß die den jeweiligen Sprechakten zugrundeliegenden Konzepte verändert werden.
Anmerkungen 1 2.
cf. KUMMER 1974-» I974a; ein Versuch, auf der Basis von KUMMER 1974- Obligationen als Faktoren der Strukturbildung von Monologen darzustellen, ist KENDZIORRA 1974. "Beleidigung" steht hier und im folgenden als Sammelbegriff, der verschiedene Formen wie "üble Nachrede" oder "Verleumdung" umfaßt (analog juristischer Diktion: "Grund- und Auffangtatbestand" ).
3
Anders als bei den "klassischen" Sprechakten wird ein Agent B durch einen Sprechakt eines Agenten A nicht diesem, sondern der relevanten Gruppe G oder qua Interiorisation des "generalisierten anderen" sich selbst, seiner Ehre u . a . verpflichtet.
4
cf.
5
"Unterlassung" ist zweischneidig: Macht läßt sich am besten dann demonstrieren, wenn dem Betroffenen dessen Ohnmacht bewußt wird; bei-Beleidigungen: wenn er eine Herausforderung nicht annehmen kann. Cf. dazu den von SUSAN ERVINTRIPP (1973) mitgeteilten Bericht von Dr. Poussaint:
LABOV 1972.
366
"What's your name, boy?" the policeman asked ... "Dr. Poussaint, I ' m a physician ..." "What's your first name, boy?" ... "Alvin." Dr. Poussaints Kommentar dazu: "As my heart pulpitated, I muttered in profound humiliation ... For the moment, my manhood had been ripped from me — No amount of self-love could salvaged my pride or preserved my integrity ... (I felt) self-hate."
Literatur
BACKHAUSEN, Wilhelm J. (o. J. ) :Grundzüge eines Konmunikatormo dells als ST-System. Hamburg: Buske BOURDIEU, Pierre (1965): "The Sentiment of Honour in Kabyle Society". In: PERISTIANY, J. G. (ed. ) Honour and Shame. The Values of Meditteranean Society. London: Weidenfeld and Nicolson: ERVIN- TRIPP, Susan M. (1975): "The Structure of Communicative Choice". ERVIN-TRIPP, Susan M. : Language Acquisition and ComTn.unicative Choice. Essays, selected and introduced by Anwar S. Oil. Stanford, C a l i f o r n i a : Stanford University Press: 302-73.
KANNGIESSER, Siegfried (1973): "Aspekte zur Semantik und Pragmatik". Linguistische Berichte 24: 1-28. KENDZIORRA, Eckhard (1974): Zur Struktur des Erzählens. Ein Problem der Texttheorie. Nag. Arb. FU-Berlin (unveröff.). KUMMER, Werner (1974): Elemente einer formalen Texttheorie. Berlin (unveröff.). --(I974a): Grundlagen der Texttheorie. Zur handlungstheoretischen Begründung einer materialistischen Sprachwissenschaft. Reinbeck b. Hamburg: Rowohlt . NOWAKOWSKA, Maria (1973): Language of Motivation and Language of Action. The Hague: Mouton. LABOV, William (1972): "Rules for Ritual Insults". In: SUDNOW, David ( e d . ) : Studies in Social Interaction. New York: The Free Press: 120-69WUNDERLICH, Dieter (1972): "Mannheimer Notizen zur Pragmatik". In: MAAS, Utz / WUNDERLICH, Dieter: Pragmatik und sprachliches Handeln. Frankfurt: Athenäum, 2. A. 1974. --(1974): Grundlagen der Linguistik. Reinbeck b. Hamburg: Rowohlt . --(1974a): "Towards an integrated theory of grammatical and pragmatical meaning"·
(demnächst) Festschrift
für
. Bar-Hillel.
SYNTAKTIKO-SEMANTISCHE PRAGMATIK
Eine Skizze
Axel Hübler
. . . i c h sagte darauf zu dem K n a r r e n , daß ich ein solcher werden möchte wie einmal ein anderer gewesen ist, womit ich ausdrücken wollte, wann denn mein Kopf wieder leichter sein werde. (aus: "Kaspar" von Peter Handke) 1.
Standortbestimmung
1.1.
Eine Trennung zwischen pragmatischem und konversationellem
Aspekt von Sprachäußerungen scheint systematisch notwendig; dabei zeigt sich der pragmatische Aspekt dem konversationellen als vorgeschaltet. 1.2.
Es kann eine pragmatisch dimensionierte Grammatik formu-
liert werden, die in einem Normen-, genauer Regelsystem zur Generierung von pragmatisch wohlgeformten illokutiven Sprechakten besteht. 1 1.2.1.
Die Domäne eines solchen Modells ist
nicht die smpirische
Pragmatik, sondern eine Universalpragmatik. Habermas zufolge kehren in jeder möglichen Redesituation allgemeine Bestandteile wieder, die durch die Performanz einer bestimmten Klasse von sprachlichen Ausdrücken jedesmal von neuem erzeugt werden. Diese allgemeinen Strukturen möglicher Redesituationen sind Gegenstand der Universalpragmatik oder einer, wie ich vorschlagen möchte, Theorie der kommunikativen Kompetenz. Aufgabe dieser Theorie ist die Nachkonstruktion des Regelsystems, nach dem wir die Situationen möglicher Rede überhaupt hervorbringen... (Habermas 1971: 102) Im Unterschied zu Habermas möchte ich das Spektrum möglicher Redesituationen indes eingrenzen. Es ist
eine Grundannahme von mir,
daß sich die meisten scheinbar selbständigen (universalen) Redesituationen de facto auf eine Grundsituation reduzieren lassen, die als quasi-normierend charakterisierbar ist. Die kommunikative Kompetenz verliert damit ihren hoch idealischen Charakter als gesellschaftliche Utopie und schraubt sich zurück auf einen Entwurf
368
des Bestmöglichen innerhalb des Gegebenen. Es besteht konkret in der Perspektive einer symmetrischen Verteilung der Chancen auf alle, ihren Bedürfnissen mit anderen und durch andere und auf andere nachgehen zu können. 1 . 2 . 2 . An dieses Konzept der gewissermaßen idealen Realkompetenz sind nun nicht nur das pragmatische Universale geknüpft, sondern auch seine entsprechenden sprachlichen Strategien, das sind Umsetzungsprozeduren, die zu alternativen Sprechakten führen, welche die Sprechakttheorie als direkte und nicht-direkte zu klassifizieren pflegt. Das (linguistische) Modellparadigma nun, das für eine solche Perspektive am adäquatesten erscheint, ist das generativ-transformationelle. Ihre (universale) Tiefenstruktur repräsentiert dabei jeweils den pragmatischen Gehalt. Ihre Transformationen sind das regelhafte System, das u . a . unterschiedliche Oberflächensprechakte (genauer, ihre Strukturen) von dieser Basis deriviert; von daher erhält es den Status eines Strategiesystems. Eine solche generative Pragmatik sollte die generative Semantik miteinschließen, insofern sie deren natürliche Fortsetzung und Ergänzung zu sein scheint. 1.2.3. Die Beziehung einer solchen Pragma-Grammatik zur Konversationsanalyse läßt sich nun präzisieren. Das generative Pragmatikmodell formuliert in seinem transformationeilen Teil für jede Basis Sets alternativer Operationen, die als disjunktiv (im nichtexklusiven Sinn) strukturierte Strategien zur Realisierung eines pragmatisch gleichen Gehalts angesehen werden können; die Konversationsanalyse hingegen spezifiziert u . a . diese, indem sie sie durch Bindung an situative Bedingungen vereinzelt. Beispiel: Unter der situativen Bedingung C_ gilt die Strategie T., aus der Klasse T der strategischen Alternativen pragmatisch gleicher Gehalte. 1.3. Die nachfolgenden Ausführungen sind als Beitrag gedacht, das Konzept des pragmatischen Strategiesystems zu präzisieren als in ihm hinterlegte Menge sprachlicher Realisierungsmöglichkeiten eines gleichen pragmatisch-illokutiven Gehalts. In der allgemeinen Verfügbarkeit der verschiedenen Strategien scheint die ideale Realkompetenz als Ziel sowohl gesellschaftlicher wie auch sprachdidaktischer Praxis aufgehoben zu sein.
369
2.
Versuch einer Typologie normierender Sprechakte
2.1. Von Wright hat in "Norm and Action" ( 1 9 6 3 ) ein logisches Kalkül entwickelt, mit dessen Hilfe es möglich wird, eine meiner Fragestellung angepaßte Typologie zu entwickeln. 2.2. Sprechakte, die Quasi-Normen erstellen, sind an das Konzept des Wechsels gebunden. Von Wright nennt vier elementare T-Ausdrücke einer Logik des Wechsels ( 2 9 ) , wobei T das Symbol für Wechsel und p das für den propositionalen Gehalt ist: p T ~ p ; ~ p T p; p T p; ~ p T ~ p . (Beispiele im nicht-normierenden Sinn wären etwa die Handlungen Fenster schließen, Fenster ö f f n e n , Fenster offen halten, Fenster geschlossen halten). Wenn wir in freier Variation für p n setzen als Symbol für eine Norm, ~n für die Negation einer Norm (jedoch nicht im Sinne der Permission), d als Symbol des Aktes selbst, so ergeben sich für unseren Sprecher vier (normierende) Akte -^n T n; d n T ~ n ; d n T n; d -vn T ~ n . Sie sind paraphrasierbar als Einsetzung einer Norm, als AußerKraft-Setzung einer konversationeil bereits erstellten Norm (Disagreement) , als Fortsetzung einer (bereits eingesetzten) Norm (Agreement). Wenn die Interpretation der beiden Ausdrücke d n T~n und d n T n die Normierung bereits als Reaktion ausweist, so wäre der vierte normierende Akt d *« n T ~n als Zweit-Reaktion zu bezeichnen, d . h . : ein Sprecher akzeptiert das Disagreement des Partners in bezug auf die von ihm, dem Sprecher, gesetzte Norm. Doch dieser letzte Typ wird nicht weiter berücksichtigt. 2.3. Damit ist das dialogische Moment in die Betrachtung des Sprechaktes eingeflossen. Wir finden es in quasi aufgesogenem Zustand in einer Sprechaktdichotomie wieder, die zwischen initiativ e n u n d responsiven Akten unterscheidet. I n i t i a t i v e Akte lassen sich durch Performative des Aufforderns, Bittens, Fragens charakterisieren. Ihnen gemeinsam ist - und darin liegt das Initiative -, daß der Sprecher zunächst und vor allem im direkten Rekurs auf seine bestimmten Zielvorstellungen eine noch aufzufächernde diesbezügliche (funktionale) Aufgabe an den Angesprochenen delegiert. D e r r e s p o n s i v e A k t läßt sich
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durch Performative wie zustimmen, verbieten, erlauben, versprechen, verweigern, ablehnen etc. explizit machen. Wesentliches Merkmal dieser Kategorie ist, daß der Sprecher einen Akttyp der ersten Sorte von Seiten des Gesprächspartners (als tatsächlich oder möglich) präsupponiert, dabei aber auf die eigene Interessenlage zurückgreift und mithin letztlich - wenn auch durch fremden Anstoß - selbstreflexive Intentionen verfolgt, im Grenzfall aber zumindest sich die fremde Position zu eigen macht. Dabei sind Akte dieses Typs oft insofern komplizierter, als sie auch zwei Normen erstellen können (Normenkonjunkte): die eine ist dann selbstreflexiv, weil der Sprecher in Übernahme der fremden Norm sich selbst zum Normsubjekt macht, die andere bindet gleichzeitig auch den Partner in eine Norm ein, etwa die, seinen Anspruch als (vorläufig) befriedigt anzusehen und folglich gleichsam 'Ruhe zu geben'. 2 . 3 . 1 . Das vom Sprecher als Quasi-Normautorität initiativ Normierte, der Norminhalt, ist als Akt beschreibbar, dessen Aktant (das Normensubjekt) immer (oder auch) der Angesprochene ist. Für die Handlungen, die ein Sprecher als Norminitiator auf diese Weise an einen Angesprochenen delegieren kann, schlage ich eine Zweiertypologie vor. Die erste ist sozusagen Operativ 1 ausgerichtet und zielt auf eine außersprachliche Aktion des Angesprochenen ab, die eine Veränderung oder Bewahrung der physikalisch definierten Realsituation bewirken soll ( z . B . daß ein Fenster, das geschlossen ist, nicht mehr geschlossen ist, oder daß ein Fenster, das geschlossen ist, aber vom Wind aufgestoßen zu werden droht, geschlossen b l e i b t ) . Die andere initiative Sprechaktsorte bilden, wenn man so will, konversationeile Akte, die sich als Aufforderung an den Partner zur (positiven) Re-Aktion auf eine eigene Aktion darstellen. Beispiel: "Ich mache jetzt das Licht aus" als Aufforderung an den Partner, diesen Plan gutzuheißen. Es ist die Aufforderung des Sprechers an den Angesprochenen, ihn in seinem Vorhaben zu ermuntern - ein Akt, den man auch als Reinforcement bezeichnen könnte. 2 . 3 . 2 . Responsiv normierende Akte sind durch den Bezug auf den normierten Akt entsprechend komplexer. Als Agreement in eine ope-
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rative Aktnorm machen sie den Sprecher selbst zum Normsubjekt und damit zum Aktanten (ein entsprechendes Performativ ist z . B . versprechen, etwas zu t u n ) ; als Disagreement machen sie den anderen zum Subjekt seiner eigenen Norm ( z . B . M a c h ' s doch s e l b s t l ) , sofern nicht gar eine neue Gegennorm erstellt wird. Response auf Reinforcement - Normen im Sinne von Agreement bzw. Disagreement sind positive Normierungen, wenn sie auch im Falle von Disagreement keinen Innovationscharakter haben. Die von Wright formulierte Bedingung, d a ß für d p T p / p T ~ p d i e Voraussetzung i s t (Felicity Condition), gilt für den Dialogfall auch dann, wenn die Bedingung nur potentieller Natur ist. Daß beispielsweise die Zustimmung eine positive Obligation darstellt, läßt sich daran ermessen, daß bei Nicht-Einlösung von Seiten des Partners der Sprecher als Consident dieses Unterlassen auf selten des Partners mit Fug hinterfragen kann. 2 . 3 . 3 . Initiativ- und Responsivakte sind mithin nicht grundverschieden. Ihre Verschiedenartigkeit läßt sich vielmehr dahingehend eingrenzen, daß Responsivakte lediglich ein 'Mehr 1 aufweisen. Wenn ich mich also nachfolgend ausschließlich auf Initiativakte konzentriere, so gelten meine Beobachtungen zugleich auch für Responsivakte; sie wären in einer umfassenderen Untersuchung nur um den Teil zu ergänzen, der sich aus den Besonderheiten des Responsivcharakters ergibt, 2.4. In bezug auf den propositionalen Gehalt lassen sich die (initiativen) Normierungsakte nach Wright durch vier jeweils äquivalente Zuordnungen subsystematisieren. Das Symbol O (Obligation) steht dabei für den Normierungsakt, d und f repräsentieren den normierten Akt positiv (do) bzw. negativ (forbear). a.
O d (p T p)
O f
(p T ~ p )
b. O d (p T ~ p ) c. O d (~p T p)
O f (p T p) O f (~p T ~p)
d. 0 d (~p T ~ p )
Of
(~p T p)
Die parallel notierten d- und f-Ausdrücke sind identisch, sie beschreiben also den gleichen Akt; die entsprechenden Normen sind ebenfalls identisch. Denn für alle Paare gelten die gleichen Felicity Conditions, die jeweils der T-Ausdruck der zweiten Repräsentation angibt. Die vier Alternativbeschreibungen
von 0-Aus-
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drücken lassen sich paraphrasieren als: a. b. c. d. 3.
Obligation, Obligation, Obligation, Obligation,
daß daß daß daß
es es es es
dabei bleibt, eintritt, daß eintritt, daß dabei bleibt,
daß p der Fall p nicht der Fall nicht p nicht der Fall daß nicht p der Fall.
Die syntactico-pragmatische Repräsentation
3.1. Die nachfolgenden (vereinfachten) Baumdiagramme orientieren sich weitgehend an dem von McCawley (1971 a) benutzten Schema. Sie übersetzen die in 2 . 4 . aufgeführten Ausdrücke. Zugleich führen sie aber noch die Größen Sprecher/Angesprochener ein, insofern für den Sprechakt die Quasi-Normautorität im Sprecher, das Quasi-Normsubjekt im Angesprochenen personalisiert sind. Der obligierte propositionale Gehalt wird dabei im Sinne der generativen Semantik und ihrem logischen Äquivalent, dem Prädikatenkalkül, in Argumente und Prädikat aufgefächert, die ihrerseits, je nach Komplexität, weiter analysiert werden müßten. 3.1.1.
(a)
>
(I)
OBLIGARE
NEGÄ EINTR NEGATION Präd
Argument
Argument
Bei normierten operationalen Akten muß noch eine zusätzliche Intention (INT) verzeichnet sein, da von der Normautorität ein Mißlingen des normierten Aktes von selten des Normsubjektes nicht ausgeschlossen werden kann. Die Notation des BEWIRKEN (CAUSE)Komplexes mit dem eingebetteten TUN-Prädikat folgt Dowty ( 1 9 7 2 ) , mit leicht modifizierten semantischen Primen. Paraphrase a) Ich obligiere, daß du intendierst, daß dein Tun bewirkt, daß es nicht eintritt, daß nicht p « daß p bleibt. b) Ich obligiere, daß du intendierst, daß dein Tun verhindert, daß es eintritt, daß nicht p.
373
3.1.2. ( b ) · OBLIGARE
(ID
EGO_ INT
TU
BEWIRKEN
TUN
tu EINTRETEN NEGATION
Prädikat
Argument
Argument
Paraphrase a) Ich obligiere, daß du intendierst, daß dein Tun bewirkt, daß es eintritt, da9 nicht p. b) ich obligiere, daß du intendierst, daß dein Tun verhindert, daß p bleibt. 3.1.3. Die initiativen Normakttypen (c) und (d) lassen sich wie folgt repräsentieren: (c) » (III) OBLIGARE
EINTRETEN NEGA1 NEGATION Prädl
(d)
Argument
Argument
(IV)
OBLIGARE
TU
NEGATION EINTRETEN
Pr&dlTcat
Argument
Argument
Die Paraphrasen sind ganz analog zu denen in 3.1.1. und 3.1.2. zu bilden. Alle Strukturbäume beziehen sich auf (initiative) Nonnakte für Operative 1 Akte.
374
3.1.4. Der (initiative) Normakt für einen Reinforcement-Akt von Seiten des Normsubjektes zurück an die Normautorität unterscheidet sich von den obigen Stammbäumen dadurch, daß jeweils der -Knoten über dem INT entfällt und dem S-Knoten über BEWIRKEN ein zusätzlicher Knoten (mit BEWIRKEN und EGO als Konstituenten) nachgeschaltet wird.
OBLIGARE BEW
Paraphrase: Ich obligiere, daß du gutheißt, daß mein Tun veranlaßt, d a ß . . . 3.2. Die Transformation der Prädikatenanhebung stellt dann eine Paraphrasenklasse möglicher Strategien direkter Aufforderungen her, die durch Konversationsregeln spezifizierbar ist. 4.
Nicht direkt normierende Sprechakte und ihre Repräsentation
4.1. Die normierende Funktion tritt in solchen Sprechakten nur vermittelt in Erscheinung, die sich durch Deklarativa (Konstativa) und Interrogativa phänomenal verdeutlichen lassen. 4 . 2 . Waren bei den Repräsentationen direkter initiativer Normakte pragmatischer Gehalt und 'wörtliche 1 Bedeutung identisch, so müssen sie bei den indirekten auseinanderfallen. Mein Strukturbaumvorschlag ist quasi bi-sentential konstruiert; er charakterisiert die pragmatische Funktion einer Äußerung, die die Norm nicht thematisiert, gleichwohl als einen normierenden. Er sollte im Idealfall - die gesamte Bedeutungsdimension erfassen, also auch linguistische Präsuppositionen. 4 . 2 . 1 . Aus Platzgründen können nicht für alle vier normierenden Akttypen der jeweilige zugrundeliegende Strukturbaum für die entsprechenden nicht-direkten Akte aufgeführt werden. Als Beispiel wähle ich deshalb den Akttyp aus 3.1 .1 ., der bei von Wright als O d (p T
0 01 3 > N
01
M
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4J •H 4J
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14
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