Sprachmedialität: Verflechtungen von Sprach- und Medienbegriffen 9783839447451

An historical exploration of the concept of linguistic medialities reveals the challenges which Cultural Studies are fac

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German Pages 464 Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
I. Denken / Dichten – zwischen Philosophie und Literatur
Sprache als Medium von Kunst
Textualität und Diskursivität
Synonymien: Heidegger und George
II. Schriftlichkeit, Iterabilität und Energeia des Sprechens
Aussprachen und Sprechweisen
Resonanzen. Sprachverstehen – Medialität – Iterabilität
Sprachenergie/Medienenergie
III. Dialektik und Dialogik der Medialität
Das Medium ist das Wort
Außerhalb des inneren Wortes
Materialismus der Form zwischen Kleist und Hölderlin
IV. Ethisch-politische Konsequenzen
Platon und die Politik des Rhythmus
Austin und der Hippolytos
Politiken der Zitation
V. Sprachmedialitäten zwischen sozialen und technischen Medien
„Warum gibt es überhaupt Medien, und nicht vielmehr nicht?“
Statusmeldungen
Why Did the Signifier Cross the Railroad?
Textuality and Control
Autorinnen und Autoren
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Sprachmedialität: Verflechtungen von Sprach- und Medienbegriffen
 9783839447451

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Hajnalka Halász, Csongor Lőrincz (Hg.) Sprachmedialität

Edition Kulturwissenschaft  | Band 201

Hajnalka Halász (PhD, Dr.), geb. 1984, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachgebiet für Ungarische Literatur und Kultur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Sprachtheorien des 19. und 20. Jahrhunderts sowie Medialität der Sprache. Csongor Lőrincz (PhD, Dr. habil.), geb. 1977, Literaturhistoriker und -wissenschaftler, ist Leiter des Fachgebiets für Ungarische Literatur und Kultur am Institut für Slawistik und Hungarologie der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind Literaturtheorie (u.a. Theorie des Lesens und der Lyrik), Literaturgeschichte sowie Sprach- und Kulturtheorie (u.a. Probleme der Performativität der Sprache).

Hajnalka Halász, Csongor LŐrincz (Hg.)

Sprachmedialität Verflechtungen von Sprach- und Medienbegriffen

Die Herausgeber danken Christina Kunze (Lektorats- und Formatierungsarbeiten) sowie der FONTE Stiftung zur Förderung des geisteswissenschaftlichen Nachwuchses für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4745-7 PDF-ISBN 978-3-8394-4745-1 https://doi.org/10.14361/9783839447451 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 7

I.

DENKEN / DICHTEN – ZWISCHEN PHILOSOPHIE UND LITERATUR

Sprache als Medium von Kunst Über künstlerischen Sprachgebrauch

Georg W. Bertram | 25 Textualität und Diskursivität Zur Medialität der philosophischen Rede

Gerald Posselt | 41 Synonymien: Heidegger und George

Zoltán Kulcsár-Szabó | 71

II. SCHRIFTLICHKEIT, ITERABILITÄT UND ENERGEIA DES SPRECHENS Aussprachen und Sprechweisen Die Medialität des artikulatorischen Akzents

Natalie Binczek | 99 Resonanzen. Sprachverstehen – Medialität – Iterabilität Auf den Spuren der Sprachtheorie Wilhelm von Humboldts

Csongor Lőrincz | 115 Sprachenergie/Medienenergie

Susanne Strätling | 159

III. DIALEKTIK UND DIALOGIK DER MEDIALITÄT Das Medium ist das Wort Überlegungen zu Hegels „Herr und Knecht“ im Zeitalter der Digitalisierung

Gernot Kamecke | 185

Außerhalb des inneren Wortes Die Erfindung der Sprache diesseits und jenseits des Menschen bei Herder

Hajnalka Halász | 209 Materialismus der Form zwischen Kleist und Hölderlin

Gerald Wildgruber | 237

IV. ETHISCH-POLITISCHE KONSEQUENZEN Platon und die Politik des Rhythmus

Attila Simon | 267 Austin und der Hippolytos

Zoltán Kulcsár-Szabó | 295 Politiken der Zitation Zur ethisch-politischen Dimension der Iterabilität

Matthias Flatscher | 337

V. SPRACHMEDIALITÄTEN ZWISCHEN SOZIALEN UND TECHNISCHEN MEDIEN „Warum gibt es überhaupt Medien, und nicht vielmehr nicht?“ Sprachtheorie nach fünfzig Jahren Ethnomethodologie und Konversationsanalyse

Christian Meyer & Erhard Schüttpelz | 359 Statusmeldungen Stefanie Sargnagels Gegenwart sozialer Medien

Rupert Gaderer | 385 Why Did the Signifier Cross the Railroad? The Mediality of Language according to Jacques Lacan’s Psycho-Semiotics

Robert Smid | 405 Textuality and Control The Vocabulary of Cybernetics in Wolfgang Iser’s Theories of Interpretation

Gábor Tamás Molnár | 439 Autorinnen und Autoren | 457

Vorwort

Die Beiträge des vorliegenden Bandes gehen auf zwei aufeinanderfolgende und eng miteinander verbundene Tagungen zurück, die unter dem Titel „Sprachmedialität“ im Februar 2015 sowie im November 2016 an der Humboldt-Universität zu Berlin stattfanden (veranstaltet vom Fachgebiet „Ungarische Literatur und Kultur“ des Institutes für Slawistik und Hungarologie der HU Berlin). Im Mittelpunkt der Vorträge und der Diskussionen standen die Verflechtungen zwischen Sprach- und Medienbegriffen und somit die Frage, inwiefern sich die Trennung der „Sprache“ von ihren „technischen Medien“ sowie der „Immaterialität des Sinnes“ von dessen „materiellen Trägern“ unter einem reflektiert geschichtlichen Gesichtspunkt aufrechterhalten lässt. Sprache und Medien – dies ist eine (öfters mit polemischen Akzenten artikulierte) Unterscheidung, die sich nach der sogenannten „medialen Wende“ im Diskurs der Kulturwissenschaften immer fester zu etablieren scheint und – so die Vermutung der Veranstalter der beiden Tagungen – aus einem ungeschichtlichen Verständnis der Wissenstradition, einer gegenseitigen „Vergessenheit“ der Sprach- und der Medientheorie,1 bzw. einer genetischen Unterscheidung von „sprachlichen“ und „medialen“ Ereignissen resultiert. Im Vergleich dazu bildete den Grund beider Tagungen die Anregung, Chiasmen von Sprachlichkeit und Medialität zu reflektieren, um der genuinen, zugleich jegliche Trennung zwischen Innen und Außen unterlaufenden medialen Seinsweise der Sprache näherzukommen. Das ist wohl der Grund, warum die Mehrheit der Beiträge ihre theoretische Basis bei Denkern (vor allem der Hermeneutik und der Dekonstruktion) findet, die zwar im Korpus der medienwissenschaftlichen Werke und Handbücher in

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In diesem Sinne verwies Ludwig Jäger auf die „Sprachvergessenheit“ der Medientheorie sowie die „Medialitätsvergessenheit“ der strukturalistischen Sprachtheorie und setzte diesen die Sprache als ein „Medium von Eigensinn“ entgegen. Vgl.: Jäger: Medium Sprache.

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der Regel weniger vertreten sind, die aber immer noch und gerade deshalb großen Einfluss auf das zeitgenössische Denken ausüben, weil sie noch – im Gegensatz zu vielen Theoretikern der Medienwissenschaften – über einen differenzierten, reflektierten und geschichtlich fundierten Sprachbegriff verfügen. Dies führt aber nicht zur Ausklammerung technischer bzw. medialer Faktoren, sondern – davon überzeugen die Beiträge – zur untrennbaren Verflechtung von einander gegenseitig bedingenden Aspekten, in der die Sprache nicht ohne ihre Techniken, die Technik aber nur von der Sprache her zu denken ist. „Niemals wird […] der Begriff der Technik ohne weiteres den Begriff der Schrift erhellen können“ – so ein Diktum Derridas in der Grammatologie.2 Es scheint angesichts der kulturtechnischen wie medienhistorischen und -theoretischen Überflutung der literaturwissenschaftlichen Diskurse so, als ob diese und weitere Thesen der Dekonstruktion obsolet geworden wären, als ob der Sprachund Schriftbegriff von Derrida und anderen noch zu sehr an einer sprachlichen oder zeichentheoretischen Immanenz orientiert wäre. Dabei ist das Verhältnis auch in diesem Zitat merklich anders: Technische Medialität gehört zur écriture dazu, kann von ihr nicht losgelöst werden, dennoch vermag sie die Schrift und ihre Effekte nicht zur Gänze zu erklären (und nicht umgekehrt). Es gälte daher, die Optik teilweise umzukehren und danach zu fragen, ob die medientheoretischen Ansätze und Positionen in jedem Fall der Sprache und ihrem rhetorischen, inskriptionellen wie performativen Charakter entsprechen oder gerecht werden können. Hier soll das Augenmerk vor allem auf die Arbitrarität der Sprache gelegt werden, die in der Argumentation Derridas dafür verantwortlich ist, dass Sprache auch immer schon Schrift, von dieser affiziert ist. An diesem Punkt setzten auch mehrere medientheoretische Diskurse ein und versuchten mit Hinweis auf das Arbiträre (vgl. Begriffe wie „Rauschen“, „Störung“, „Opazität“), der traditionell verstandenen Sprachlichkeit den Boden zu entziehen. Man könnte im Rückgriff auf ein weiteres, möglicherweise enigmatisches Konzept Derridas sagen, die starke Technisierung und Medialisierung des Sprachlichen sei ein Effekt oder eine Ausbreitung des „Unmotiviert-Werdens“ der Spur bzw. des Zeichens, sofern ihr Spielraum erst von diesem Ereignis eröffnet wird. Technomediale Dispositive arbeiten immer schon an diesem Unmotiviert-Werden der Spur oder des Zeichens, was nur möglich sein kann, da „es keine unmotivierte Spur [gibt]“ und „die Unmotiviertheit der Spur immer schon geworden [ist]“3. Medientheoretische Positionen speisen sich, wenn oft auch nur unbewusst, aus dem Unmotiviert-Werden und polarisieren dieses – jedoch aufgrund derselben formalen

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Derrida: Grammatologie, S. 19.

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Ebd., S. 83.

Vorwort

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Logik – in zwei Paradigmen einerseits der „Störung“ (und ihrer Äquivalente), also grob gesagt der „Unmotiviertheit“, andererseits der „Präsenz“ (und ihrer Synonyme), d.h. allgemein: der (performanztheoretischen) Motivierung. Oft kommen beide Pole im selben Diskurs zusammen, etwa in der Rede über den „Klartext“ (entgegen der spracheigenen Ambiguität). Die Frage zumindest liegt nahe, ob dadurch nicht u.a. der Geschehensaspekt des „Unmotiviert-Werdens“ verfehlt wird, wo solche Oppositionen ihre Geltung einbüßen, gerade wenn sie auch ermöglicht werden (im „Klartext“ wird Medientechnik selber zum Zeichen, d.h. sowohl zum Index als auch zum Interpretanten, und daher zu einem wirkungsvollen rhetorischen Effekt). Ferner wird vor allem die hierbei hartnäckigste Opposition unterwandert: die von Immaterialität und Materialität. Da Sprache und Textualität nur im Chiasmus der beiden zu denken sind, erweisen sich einseitige Festlegungen der sprachlichen Medialität und ihrer Ereignishaftigkeit auf der einen oder der anderen Seite als ideologische Vorannahmen. Aspekte der Medialität der Sprache sollten im Zusammenhang der wechselseitigen Bedingtheit sowie der Spannung von Ereignishaftigkeit und quasi-maschineller Produktion bzw. Iterabilität ausbuchstabiert werden. Dies gilt auch für die Frage danach, wie – wird der Chiasmus von immaterieller Materialität erst in der Dimension des Lesens vollzogen – Vollzug und Beschaffenheit der Modi und Dispositive der Lektüre, ihrer Seinsweise sich im Zuge des „UnmotiviertWerdens“ verändern. Dieses etwas enigmatische Konzept des „Unmotiviert-Werden des Symbols“ bzw. „der Spur“ („devenir-immotivé“) wird bei Derrida von einer semiologischen Arbitrarität auch unterschieden und auf die Spur bezogen als ein SpurWerden des Zeichens, jedoch nicht im kausalen Sinne. Die Unmotiviertheit ist nämlich nicht einfach als eine Eigenschaft oder Zustandsbeschreibung vorhandener Zeichen, „nicht als eine gegebene Struktur“, sondern als „Tätigkeit“, „aktive Bewegung“, also als Unmotiviert-Werden zu denken: „In Wahrheit jedoch gibt es keine unmotivierte Spur: die Spur ist indefinit ihr eigenes Unmotiviert-Werden.“4 Die Spur selbst wird also, es gibt sie nicht als solche, sondern nur in dieser doppelten, synchronen Bewegung des Einschreibens und Auslöschens als einer Bewegung des Aufschubs selbst (das Unmotiviert-Werden entspricht also der différance). Diese doppelte Bewegung geht folglich in keiner Negation auf, sie ist eine „aktive Bewegung“, mehr noch: Sie ist ein „Spiel“ (ein „Spiel der Welt“, wohlgemerkt). Derrida verweist hier auf Peirce und bezieht das Unmotiviert-Werden auf das bei diesem amerikanischen Semiotiker thematisierte „Wachsen der Symbole“, also auf den Prozess, in welchem aus Zeichen Interpre-

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Ebd., S. 88; 83.

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| Sprachmedialität. Verflechtungen von Sprach- und Medienbegriffen

tanten, aus diesen Interpretanten wiederum Zeichen werden. Was passiert also eigentlich im Unmotiviert-Werden als einem medialen Prozess? Wenn man im Unmotiviert-Werden den Aspekt des Werdens, zugleich den der Zeichenhaftigkeit stark macht (getreu der Intention Derridas), dann wird man den folgenden, vielleicht paradoxen Sachverhalt formulieren können: Bei diesem „Werden“ als „aktiver Bewegung“ handelt es sich nicht einfach um einen Durchgang von da nach dort, um eine topologische Bewegung oder einen „Ebenenwechsel“,5 auch nicht um eine Zustandsänderung des Bewegten, sondern vielmehr um eine andere Seite, um die nicht bezeichnete Rückseite (als „unmarked space“) dieser (Übertragungs)Bewegung selbst, die von ihr selber produziert wird, gleichsam auf ihrer Immanenzebene stattfindet. Virtualität und Materialität stehen hier nicht im Gegensatz, vielmehr verschränken sie sich, indem das Virtuelle des Werdens sich als Spur einschreibt, diese zugleich als seine eigene nicht bezeichnete Rückseite auch virtualisiert oder verbirgt, diese jedoch nicht nur als eine virtuelle Spur, sondern als Spur des Virtuellen kundgibt. Der differenzerzeugende Aufschub ist in diesem Sinne zu begreifen, als Einschreiben von Differenzen qua Spuren auf einer anderen, unsichtbaren Seite der Bewegung selbst, nicht etwa zwischen vorhandenen Entitäten, also dezidiert nicht im empirisch-räumlichen Sinne. Das Zeichen als Spur wird also im Geschehen selbst, sogar das Geschehen vielleicht als Zeichen eingeschrieben. Das bedeutet auch, dass der Aufschub mitnichten als eine empirische Verschiebung zu denken ist, sondern vielmehr als eine performative Veranlassung des Unmotiviert-Werdens (in beiden Bedeutungen des Genitivs), das zugleich auch eine Differenz zwischen der Bewegung der Spur und ihrer Rückseite einschreibt, welche Differenz gewissermaßen die Spur selber ist. Man könnte hierzu auch Heidegger zitieren, der den „Einblick in das was ist“,6 etwa den Einblick in das Wesen der modernen Technik und damit die Möglichkeit der „Kehre“ oder der Wende in seinen späten Schriften im SichEreignen-Lassen der Sprache, im Sprach-Ereignis zu situieren suchte (unter diesem Gesichtspunkt stellt sich die Frage, inwiefern bzw. ob man überhaupt von einer sich bereits vollzogenen „Wende“ der Geistes- und Kulturwissenschaften reden kann, ob diese Wende in einem gewissen Sinn nicht vielmehr erst bevorsteht bzw. vom Verständnis des Sprachverhältnisses abhängt). In diesem Sinne besteht die mediale Leistung der Sprache und deren Verständnis nicht in einem bereits vorhandenen oder latenten Zustand oder in der bloßen Verräumlichung der Zeichen, deren Prozess sich durch eine „Analyse“ erschließen ließe,

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Mersch: Meta/Dia, S. 199.

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Heidegger: Die Technik, S. 44.

Vorwort

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sondern ist vielmehr das Medium oder das Sich-Ereignen-Lassen der Geschichte und somit zugleich die Chance einer – vielleicht für immer im Kommen bleibenden – „Kehre“. Denn „[e]s gibt keine natürliche Sprache nach der Art, daß sie die Sprache einer geschicklos, an sich vorhandenen Menschennatur wäre. Jede Sprache ist geschichtlich […] Auch die Sprache als Information ist nicht die Sprache an sich, sondern geschichtlich nach dem Sinn und den Grenzen des jetzigen Zeitalters, das nichts Neues beginnt, sondern nur das Alte, schon Vorgezeichnete der Neuzeit in sein Äußerstes vollendet.“7 Diese Zeilen Heideggers für „veraltet“ zu erklären, könnte man selbst als ein Zeichen des ungeschichtlichen Denkens deuten. Die Möglichkeit des „Werdens“, der Wende bzw. das Kommen des „Neuen“ hat aber genauso keine Garanten wie das Gelingen eines sprachlich-performativen Ereignisses durch keine konventionellen Bedingungen gesichert werden kann. Dennoch sind es die „gelungenen“ Interpretationen historischer, literarischer und philosophischer Texte, die die Grenzen bzw. den geschlossenen Horizont des kartesischen Denkens auf das Künftige hin öffnen oder dies zumindest versprechen können. Unserer Auffassung nach ist dieses Modell als eine Metafigur der Medialität besser geeignet, die „Metaphysik der Medialität“ zu erklären und die eigentliche mediale Dimension jeglicher Übertragungsbewegung zu spezifizieren, als das im gleichnamigen Buch von Sybille Krämer,8 aber auch bei Dieter Mersch, der Fall ist. Ihre Theorien sind an entscheidenden Punkten immer noch räumlich (in diesem Sinne cartesianisch) orientiert. Die obige Verschränkung von Übertragungsbewegung (Übertragungsereignis) und medialer Genese auf derselben Immanenzebene ist nämlich auch der Unterscheidung im Zeichen von „Meta“/ „Dia“ nicht zugänglich, sie geht dieser voraus. (Mersch versucht letztlich das Paradigma des „Dia“ für eine produktivere Bestimmung der Leitfigur der Medialität in Anschlag zu bringen, um das Metaphysische des „Meta“ zu umgehen und der medialen Immanenzebene zu entsprechen – dadurch verliert er aber das Moment des Geschehenden, der medialen Kinesis und somit auch ihre Genese.)

7

Heidegger: Der Weg zur Sprache, S. 264-264.

8

Krämer: Medium, Bote, Übertragung.

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BEGRIFFSBILDUNG – VERSCHRÄNKUNG VON SPRACH- UND MEDIENBEGRIFFEN Wenn der Artikulation der Spracherfahrung eine paradigmatische Rolle in der Frage nach den Vermittlungsprozessen zugeschrieben wird, dann lässt sich diese Priorität nicht auf den charakteristischen Code dieses Mediums oder die eigene Art und Weise der Kopplungen von Elementen zurückführen, sondern ganz im Gegenteil: Was das Medium Sprache auszeichnet, ist gerade das Fehlen oder genauer die notwendige Unterbrechung jeglicher Verbindungen, wie auch immer sie motiviert sein mögen: durch organische, technische, konventionelle oder institutionelle Gesetze. Diese Unterbrechung der Sprache und der Sprache, die erst aus einem gewissen Konzept der Schrift ersichtlich wird, ist die Bedingung ihrer Wiederholbarkeit und somit überhaupt der (Wieder-)Erkennbarkeit, der Erkenntnis und der empirischen Erfahrung. Da das Ereignis des „UnmotiviertWerdens“ die intentionalen und referentiellen Bezüge, d.h. die Bedingungen des sich selbst wissenden Bewusstseins und der Kognition – wenn auch nur für einen im gewissen Sinne fiktiven Augenblick – unterbricht, lässt es sich jeweils nur durch einen Widerstand – gegen die Sprache und die Theorie, könnte man mit Paul de Man sagen – erkennen. Diese konstitutive Negativität hat aber auch positive Effekte, auch was die Theorie- und Begriffsbildung betrifft. Es ist beispielsweise wohl kein Zufall, dass zentrale Begriffe der Geisteswissenschaften ihre performative Kraft und Operativität jeweils durch eine Interpretation erlangen, die sie von den sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften, mit denen sie empirisch und in diesem Sinne motiviert verbunden sind, entkoppeln und sie dabei in wieder lesbare „Zeichen“ verwandeln. In dieser Hinsicht ließe sich bereits die Destruktion – oder eben die produktive Zerspaltung – der Idee des sich selbst unvermittelt und unmittelbar gegenwärtigen, selbstreflexiven Bewusstseins als Folge eines sprachlichen Ereignisses – des „Unmotiviert-Werdens“ – betrachten: Ohne eine solche Entkoppelung – eine tiefgreifende, ereignishafte Zäsur in seiner (Begriffs-)Geschichte – könnte man heute kaum von seiner „Textualisierung“ oder „Mediatisierung“ reden. Obwohl bereits die phänomenologische Analyse eine – nur in der und durch die Sprache mögliche – Trennung (die Entkoppelung des jeweiligen Phänomens von den empirischen Gegebenheiten) zur Bedingung hatte, wurden die Voraussetzungen und die Reichweite dieser Fragestellung erst durch die philosophische Hermeneutik in ihrer eigentlichen Bedeutung erschlossen. Etwas aus sich selbst, als solches zu verstehen, heißt nicht die Reduktion, sondern vielmehr das Freilegen der Mitte, jener ereignishaften Vermittlung, in der etwa ein empirisch umgrenzter Begriff wieder interpretierbar wird. Radikaler noch wird die Kraft

Vorwort

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des Zeichens in „Begriffen“ freigesetzt, die sich aufgrund ihrer immanenten Spaltung bzw. Ambiguität nicht in oppositionären Denkmustern stabilisieren lassen. So unterminiert die ungreifbare, nicht-berührbare und sich den Sinnen entziehende „Materialität“ der Schrift, die sich bar jedes anwendbaren Codes mit keiner Speichertechnik und keinem materiellen Träger vergleichen lässt, die Idee der Originalität der sinnlichen Wahrnehmung und damit die Vorstellung der sinnlichen Materie. Deshalb lässt sich die „Materialität“ der Schrift mit der Materialität der Medien im Sinne von technischen Kommunikationsmitteln nicht gleichsetzen; die „Archäologie“ dieses „Speichermediums“, ihre Beschreibung und Erschließung als solche kann nur durch das Lesen im strengen Sinne, d.h. durch Interpretation erfolgen. Daher könnte man die theoretischen Reflexionen, die die Schwierigkeiten der Definition von Medienbegriffen bzw. die „grenzenlose Erweiterung“ oder die „metaphorische Verschiebung“ ihrer Bedeutung problematisieren, sogar auch als symptomatisch betrachten. Nach dem Anwendungsbereich und den Grenzen solcher Begriffe zu fragen, setzt gewöhnlich die Gegenüberstellung von Sprache und Technik, Sinn und Materie und vor allem die Vergegenständlichung von medialen Prozessen als (wiederum technisch oder materiell unterschiedenen) Einzelmedien voraus, muss das aber nicht tun. Versucht man sie wieder zu „lesen“, können sich auch andere Aspekte des medialen Vorgangs als entscheidend erweisen, die über eine objektivierende Auffassung von „Medien“ hinausgehen. Neben technisch-medialen Faktoren lassen sich etwa ethisch, politisch bzw. anthropologisch motivierte Verhältnisse auch erst von ihrem UnmotiviertWerden in ihrer eigentlichen Bedeutung verstehen. Die Verschiebung der Perspektive von der Leistung der Einzelmedien zur Leistung der Sprache kann uns eine triviale, aber umso folgenreichere Tatsache vor Augen führen: Medientheoretische Begriffe bezeichnen keine im Voraus gegebenen oder bereits vorliegenden Objekte, die unabhängig vom Akt der Bezeichnung vorhanden sind, sondern sind selbst Produkte von (Neu-)Interpretationen und somit konstitutive Bestandteile einer Begriffs-, Wissenschafts- bzw. Denkgeschichte. Dies kann unter anderem auf zwei symptomatische Merkmale dieser Begrifflichkeit aufmerksam machen. Sprach- und Medienbegriffe zeichnen sich durch eine – zwar häufig registrierte, jedoch selten analysierte – Doppeldeutigkeit und einen damit eng verbundenen Widerstand gegen die Fixierung ihres Sinnes aus. Im Spannungsfeld von Sprach- und Medientheorie zeigen sich Begriffe wie „Wiederholbarkeit“, „Materialität“ oder „Performativität“ als Homonyme, die sich nicht unmittelbar vom einen auf den anderen Bereich übertragen lassen. Diese eigenartige und jeweils unvermeidliche Spaltung und Verdoppelung wirft Fragen auf, die über die bloßen Definitionsprobleme dieser

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| Sprachmedialität. Verflechtungen von Sprach- und Medienbegriffen

Begriffe weit hinausgehen: Woran liegt ihre scheinbar unbegrenzte Flexibilität? Warum lässt sie sich widersprüchlich bewerten und gleichzeitig mit unterschiedlichem Vorzeichen versehen, indem man sie sowohl als metaphorische Ausdehnung als auch als metonymische Verschiebung deuten und somit sowohl auf die Kontinuität als auch auf die Inkompatibilität der verschiedenen Anwendungsbereiche schließen kann? Der Band setzt sich zum Ziel, Begriffe – analytisch, systematisch, historisch – zu thematisieren, die „Schnittstellen“ zwischen Sprach- und Medienbegriffen, Sprach- und Medientheorien markieren können. Dieses Vorhaben kann die Unverzichtbarkeit gewisser Begriffe und Konzepte für beide Felder aufzeigen, wenn auch nicht in identischer Weise. Begriffe wie „Artikulation“, „Akzent“, „Rhythmus“, „Resonanz“, „Energeia“, „Differenz“, „Wiederholung“ und andere werden – zwischen begriffsgeschichtlichen und systematischen Annäherungen – aufgegriffen und ihre wechselseitige Übersetzbarkeit zwischen Sprachen und Medien erprobt (auch der Begriff der „Übersetzung“ und seiner medienhistorischen und -theoretischen Pendants). Somit kann man durch die Transposition etwa medientechnologischer Begriffe der genuinen Medialität der Sprache näherkommen. Man würde in den Beiträgen des Bandes vergeblich nach den Zügen eines einheitlichen Sprach- und Medienbegriffs suchen, was nicht der Verschiedenheit oder der Dispersität theoretischer Vorannahmen geschuldet ist, sondern vielmehr den gemeinsamen Ausgangspunkt in Hinsicht auf die Auswahl der analysierten Texte bzw. die Praxis des Lesens signalisiert: Die Beiträge gewinnen ihre Einsichten jeweils durch das genaue Lesen bzw. die geschichtliche Kontextualisierung philosophischer und literarischer Texte, die somit als ein historisches Vorbild oder ein „Ursprung“ von Sprach- und Medienbegriffen betrachtet werden können. Daraus wird ersichtlich, warum gerade die literarische Sprache bzw. die Fragen der Kunst in der vorliegenden Thematik eine paradigmatische Rolle spielen. In diesem Sinne argumentiert Georg W. Bertram in seinem Beitrag dafür, die Medialität der Sprache – entgegen der sprachphilosophischen Tradition und in Anlehnung an die philosophische Hermeneutik – von einer „lyrischen Konstellation“ her zu denken, die nicht nur der Sprache der Lyrik, sondern jeder Äußerung von vornherein inhärent ist bzw. diese mitkonstituiert. Zur Operationalisierung dieser Grundannahme kunstphilosophischer Theorien schlägt er das Begriffspaar Artikulation/Explikation vor, deren Aspekte sich gegenseitig bedingen und in jeder Sprachverwendung zur gleichen Zeit vollzogen werden. Explikation bedeutet in diesem Zusammenhang das selbstthematisierende Potenzial

Vorwort

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der Sprache, das nicht nur ihre ästhetische Selbstpräsentation ermöglicht, sondern vielmehr die Bedingung des Verstehens, der Subjektbildung und dadurch der Kritik bzw. der Veränderung ist. Auch Gerald Posselts Beitrag liegt die Annahme der grundsätzlichen Textualität der philosophischen Sprache sowie der bildenden Rolle ihres Mediums zugrunde, die in den erkenntnistheoretisch orientierten Diskursen in der Regel ausgeklammert wird, wodurch die Konsequenzen, die jedoch ihren Erkenntnisgewinn und ihr Selbstverständnis prägen, übersehen werden. Der Beitrag diskutiert die Frage, inwiefern sich die immanente Sprachlichkeit des Denkens auf die Subjektauffassung philosophischer Texte auswirkt bzw. diese verändert. Die Praxis der philosophischen Argumentation wird ins Licht von historischen sowie textuellen Praktiken der Selbstautorisierung gerückt, deren Funktionieren und Analysierbarkeit am Beispiel der Schriften von Michel Foucault gezeigt werden. Die gegenseitige Bedingtheit und ungreifbare Differenz von literarischer und philosophischer Sprache bzw. Sprache und Denken, deren Gedanken mehrere Beiträge des Bandes aufgreifen und den zuerst Heidegger in seiner eigentlichen Reichweite erkannte und entsprechend artikulierte, wird im Beitrag von Zoltán Kulcsár-Szabó an Heideggers George-Lektüren untersucht und in einen neuen Fragehorizont gestellt. Denn das analysierte Gedicht (Das Wort) zeugt nicht nur von der wesentlichen Erfahrung, vom Entzugs des Wortes (und der Sprache), sondern spricht bzw. widerspricht zugleich diesem Denken/Gedanken, insofern es in Synonymen, zum Verwechseln ähnlichen Worten zur Sprache kommt. Die wesentliche Stille und das einfache Fehlen bzw. der Entzug des Wortes und das Rauschen der Wörter können nicht auseinandergehalten werden, wodurch die fragilen Grenzen zwischen der Möglichkeit und der Unmöglichkeit, dem Gelingen und dem Misslingen der Medialität als Übersetzungsarbeit sichtbar werden. Natalie Binczek versucht, anhand von Derridas einschlägigen Werken die Bedingungen einer „Grammatologie“ des Sprechens und dadurch die differentielle Konstitution der Rede zu erschließen. Auch wenn bereits die Medienarchäologie Kittlers auf die Trennbarkeit der Stimme vom sprechenden Subjekt durch technische Speichermedien hinwies, erweist sich „der vokalische Akzent“, der die Artikulation ermöglicht und ihr zugleich vorausgeht, als wesentlicherer, weil der Sprache immanenter, Einschnitt in den scheinbar kontinuierlichen Vorgang der Rede. Den vokalischen Akzent, wie an der lautlichen Differenz von Schibboleth/ Sibboleth gezeigt wird, kann man weder erlernen noch speichern oder über ihn verfügen, weshalb er einer instrumentalisierenden Sprachauffassung widersteht. Er stellt zugleich die Konzepte der Muttersprache, die sie als ein akzentfreies Sprechen beschreiben (und ebenso die Oppositionen von

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Zentrum und Peripherie, Norm und Dialekt) in Frage, insofern der vokalische Akzent auch und erst recht dann wirkt, wenn er in der Hochlautung unhörbar geworden ist. Csongor Lőrincz liest Wilhelm von Humboldts Schriften in Hinsicht auf die (Sprach-)Medialität des Verstehens, d.i. eine Medialität, die das Verstehen von innen heraus konstituiert. Dabei erweist sich die „Resonanz“ – ein auf den ersten Blick im Hintergrund stehender, jedoch oft wiederkehrender Begriff Humboldts – als eine der wichtigsten Triebfedern der Sprachprozesse, die auf alle Ebenen der Sprache am Werk ist. Diese „stimulierende Kraft“ oder „enérgeia“ fügt sich aber nicht in die organizistischen Deutungskonzepte dieser Sprachtheorie, die sie als eine unteilbare und rein immaterielle ‚Fähigkeit des Geistes‘ begreifen. Wie der Beitrag zeigt, wird sie vielmehr durch eine Wiederholung von Zäsuren, d.h. eine Iterabilität, ins Werk gesetzt, die der kognitiven und sinnlich wahrnehmbaren Dimension vorausgeht. Das „bildende Organ“ des Gedanken erhält seine Intensität durch das Zusammenwirken von untrennbaren Kräften, das den Gegensatz von Natur und Kultur untergräbt und den – somit nicht bloß immateriellen – Bereich des Bewusstseins als eine somatisch gestimmte Sphäre der Resonanz neu denken lässt. Susanne Strätling stellt den Gegensatz von Schrift und Rede im Zusammenhang der Humboldtschen Sprachphilosophie in Frage. Mit der Humboldtschen Tradition ist nicht nur die Leitdifferenz von ergon und enérgeia in ‚die Sprache‘ eingezogen. Mit ihr einher geht auch eine Positionierung zur Schrift: Niemals kann der Graphie das Attribut der enérgeia zugesprochen werden. Wo die tätige enérgeia der Sprache sich in gewissen dogmatischen, normativen und systematischen Zwangshandlungen zum ergon verfestigen mag, bleibt die Schrift prinzipiell von allen Impulsen des Energetischen abgekoppelt. Der Beitrag diskutiert die poetischen Konsequenzen und Resonanzen dieses Versuchs einer Neubegründung der Sprach- und Schriftwissenschaft über den Begriff der Energie. Dabei geht es um Anschlüsse und Begriffskonkurrenzen aus medien- und technikphilosophischen wie auch aus lebens- und wissensphilosophischen Kontexten (Kraft, Wille, Spannung, Information, Elan, Strom). Attila Simon zeigt die mediale und zugleich politische Bedeutung des Rhythmus in Platons Schriften (Timaios und Gesetze) auf, in denen er das komplexe Zusammenspiel von verschiedenen Komponenten im Chortanz sowie den Zusammenhang von sinnlicher Wahrnehmung und Moral bzw. materiellen und immateriellen Elementen untersucht. Im „Gesamtkunstwerk“ des Chortanzes spielt der Rhythmus keine marginale, sondern vielmehr eine zentrale Rolle, da er zwischen Teilnehmer und Zuschauer, Natürlichem und Kulturellem, Körperlichem und Geistigem, Sinnlichem und Verständlichem den Übergang schafft und

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sie in ein harmonisches Ganzes organisiert. Es ist die als solche nicht greifbare Wirkung des Rhythmus, die die politischen und moralischen Werte der Zusammengehörigkeit vermittelt und durch das Kunstwerk das Ganze der Gemeinschaft präsentiert. In seinem anderen Beitrag wendet sich Zoltán Kulcsár-Szabó den Bedingungen der Performativität der Sprache zu. Sein Ausgangspunkt ist Austins Sprechakttheorie bzw. das Problem der „inneren Akte“ (d.i. der Dimension der Moral), die Austin einerseits aus seiner Theorie ausschließt (indem er sie für „fiktiv“ erklärt), andererseits durch konventionelle Bedingungen ersetzt: Dafür stehen der Imperativ der „Ernsthaftigkeit“ und der Sprechakt des Schwurs, die letztlich jeder Äußerung innewohnen und ihr performatives Gelingen sicherstellen sollen. Laut der ausführlichen Analyse von Euripides’ Hippolytos (aus dem Austin sein Beispiel nimmt) erweist sich der Schwur als die Voraussetzung (notwendige Autorisierung) der Rede, über die, da Sprechen und Meinen unvereinbar sind, gerade der Mensch nicht verfügt. In der antiken Praxis sind es die Götter bzw. ihre – einander oft widersprechenden – Gesetze, die die Bedingungen reiner Performative herstellen, denen aber die menschliche Sprache stets ausgeliefert ist und dieser Exponiertheit gewissermaßen durch die Einsetzung von Konventionen und Institutionen des so gedachten Sprachlichen entgegenarbeitet. Matthias Flatscher unternimmt in seinem Beitrag den Versuch, die Subjektauffassung des politischen Diskurses und die daraus resultierende Vorstellung der Verantwortung von einem zeichentheoretischen Standpunkt aus zu revidieren. Zunächst zeigt er am Beispiel von öffentlichen Äußerungen österreichischer Politiker, inwiefern die Bezugnahme auf die ursprüngliche Intention, die die Kontinuität zwischen Meinen und Sagen und somit gleichsam ihre Glaubwürdigkeit wiederherstellen sollte, durch die grundsätzliche Iterierbarkeit des Zeichens (nach Derrida) unterminiert wird. Das Verhältnis des Subjekts zu seiner Rede ist demnach weder transparent bzw. authentisch, noch lassen sich die beiden voneinander einfach entkoppeln, was ein Neu-Denken des Begriffs der Verantwortung bzw. des damit verbundenen Subjekts erfordert. Die ethisch-politischen Implikationen der Iterabilität werden anhand von Judith Butlers Theorie der Performativität in Erwägung gezogen. Gernot Kamecke zeigt im Hegelschen Bild von Herr und Knecht den exemplarisch-historischen Ursprung moderner Medienbegriffe auf. Dieses Modell ist nicht nur die Grundlage moderner Epistemologien, sondern liefert zugleich eine der ersten Theorien der Vermittlung oder der Medialität, deren Aufgabe darin besteht, der jeweiligen Verbundenheit sowie der Wechselwirkung zwischen Geist und Natur bzw. dem Subjekt und der phänomenalen oder eben der technischmateriellen Welt zu entsprechen. Der Beitrag zeigt, inwiefern diese Grundform

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der dialektischen Erkenntnis als historisch-systematisierende Interpretationsfigur moderner Mediologien dienen kann: Während sich Medien nach McLuhans Auffassung als eine Art von medialer Ausweitung des Selbst entfalten, wird das dialektische Verhältnis in der Kittlerschen Medienarchäologie unterbrochen, das paradoxerweise gerade die Möglichkeit einer geschichtlichen Betrachtung der Technik untergräbt. Hajnalka Halász analysiert Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache, um die Entstehung des Konzepts des „inneren Wortes“ – eine der wichtigen Grundlagen hermeneutischer Sprachauffassungen – zu erschließen. Durch das Erkennen des Wechselverhältnisses zwischen Sprache und Denken gelingt es Herder, über die Widersprüche des kartesischen Denkens hinauszugehen bzw. seine abstrakten Unterscheidungen zu unterwandern und somit der äußeren Instrumentalisierung der Sprache entgegenzuwirken. Die Verinnerlichung der Sprache im Konzept des inneren und „wahren“ (jenseits von richtig und falsch sprechenden) Wortes führt aber zum unbemerkbaren, wenn auch notwendigen Ausschließen einer Sphäre, die man mit Nietzsche „aussermoralisch“ nennen könnte. Am Beispiel der Parabel über den Wolf und das Lamm bzw. der Ambiguität der Tierfiguren wird gezeigt, welche Fragen und Probleme in der inneren Sphäre der Sprache unnennbar bzw. unsagbar bleiben. Gerald Wildgrubers Beitrag diskutiert den Formbegriff von Kleist anhand seines Textes Brief eines Dichters an einen anderen. In seiner Lektüre erweist sich die literarische Form als eine Abstraktion, die durch eine materialistische Auffassung scheinbar an und für sich bzw. unabhängig vom Sinn und vom Inhalt des Gedichtes erscheint. Die Form dient in Wahrheit dem Sich-Zeigen des Sinnes bzw. dem Erscheinen-Lassen des Inhalts, in dessen Vermittlung sie sich aufhebt, weshalb sie nicht als eigenständige Größe abstrahiert werden kann. Diese Kleistsche Theorie wird Hölderlins Formauffassung gegenübergestellt, die zwar – scheinbar ganz im Gegenteil – für die „Zuverlässigkeit“ bzw. „Eigenständigkeit“ der Form plädiert, jedoch lässt sich keine der beiden Auffassungen in einer binären Opposition von Form und Inhalt situieren. Christian Meyer und Erhard Schüttpelz argumentieren in ihrem Beitrag in Rückgriff auf ethnomethodologische und konversationsanalytische Forschungen für eine gewisse „Eigenmedialität“ der Sprache: Die Sprache sei ihr eigenes Medium, weil sie sozial konstituiert ist, welche Konstitution ihrerseits auf sprachliche Verfahren angewiesen ist. Die Autoren zeigen an einer Reihe von Aufzeichnungen bzw. Transkripten, wie die einzelnen Komponenten der Kommunikation und der Medialität, die man in der Regel voneinander unterscheidet und als von vornherein Gegebenes betrachtet, in Wahrheit durch einen wechselseitigen und gleichsam ereignishaften bzw. nicht planbaren Vollzug der Kooperation, des ge-

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meinsamen Handelns, der Interaktion, der Assistierbarkeit und der „Zwischenleiblichkeit“ entstehen. Mittel und Gegenstand, Subjekt und Objekt des Tuns und des Sprechens, Führender und Geführter bzw. Determination und Freiheit des Handelns lassen sich in sprachlich-sozialen Praktiken nicht voneinander trennen, auch wenn sich die Beteiligten als selbstständig erleben. Rupert Gaderer stellt die Veränderung der literarischen Kommunikation unter den Bedingungen sozialer Medien in den Mittelpunkt. In seinem Beitrag analysiert er die Publikationen – Facebook-Einträge und die daraus entstandenen Bücher – von Stefanie Sargnagel, die im Schnittpunkt von digitalen und analogen Medien sowie Statusmeldungen und Kommentaren entstanden sind und somit ein literatur- und mediengeschichtlich einmaliges Phänomen darstellen. Schreibtechnologien und die damit verbundenen Konventionen der Kommunikation lassen sich nicht von der Selbstinszenierung der Erzählinstanz und ihrer Reflexionen trennen, was nicht nur von deren epistemologischer Auswirkung zeugt, sondern auch die Unverzichtbarkeit bzw. die Untrennbarkeit literatur-, kommunikations- und medienwissenschaftlicher Deutungsweisen vor Augen führen kann. Robert Smid fragt in seinem Beitrag in Hinblick auf die Lacansche Psychosemiose danach, inwiefern das Reale, das nach Lacan den Sinnprozessen widersteht, dennoch eine konstitutive Rolle im Akt der Bezeichnung spielt. Wenn reale bzw. sinnlose Buchstaben Teil eines algorithmischen Prozesses werden, können sie durch eine Wiederholung, die jenseits der Dimension der symbolischen Repräsentation erfolgt, die Kette der Signifikanten kodieren. Dieser Algorithmus ist zwar im Bereich des Imaginären formalisierbar, jedoch lässt er sich nicht kodieren, auch wenn er alle weiteren Kodierungsprozesse moduliert. Somit führt der Weg des Signifikanten vom real-inskriptionellen Buchstaben über die graphische Polyphonie des Imaginären bis zu den sinnlich-erkennbaren Oppositionen des Symbolischen. Gábor Tamás Molnár untersucht das Verhältnis von Sprach- und Medienbegriffen in Wolfgang Isers Schriften. Auf den ersten Blick scheint es, als ob sich Isers Denken mit der Zeit von den Problemen der Literatur und der Sprache immer mehr entfernte, insofern er sich in seinen letzten Werken den Fragen nach den allgemeinen Bedingungen der Kommunikation zuwandte bzw. eine technische Terminologie die Oberhand gewann. Molnár stellt die Entwicklung und den Zusammenhang kommunikations- und medienwissenschaftlicher Begriffe der früheren und der späteren Werke dar und zeigt, inwiefern die Probleme des Fiktiven, des Imaginären, der Autopoiesis und der Virtualität bereits in den literaturwissenschaftlichen Schriften vorhanden sind bzw. dass die Funktion dieser Begriffe in Wahrheit darin besteht, die Oppositionen zwischen Text und

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Leser oder Fiktion und Realität zu überwinden und dadurch die Sprache vor einer technisch-instrumentellen Reduktion zu bewahren. Wollte man den methodologischen Gewinn der vorliegenden Analysen abschätzen, kommt man nicht umhin, immer wieder auf eine gewisse Zirkularität der Geschichtlichkeit zurückzukommen: Die künftigen Herausforderungen und Aufgaben der Kulturwissenschaften können erst von ihrer Geschichte bzw. der geschichtlichen Betrachtung von Sprach- und Medienbegriffen her sichtbar und entsprechend formuliert werden. Diese Betrachtung zeigt die Gegenüberstellung von Sprache und Technik und dadurch eine Reihe von Oppositionen, die sie nach sich ziehen (Materialität vs. Immaterialität, Natur vs. Kultur, Ereignis vs. Maschine, Leib vs. Sprache), als eine moderne Entwicklung bzw. Folge der Ausdifferenzierung der Wissenschaften, die jedoch jederzeit und in jedem Zeitalter am Werk ist, da sie in Wahrheit von einer immanenten Tendenz der Sprache (einer instrumentalistischen, zum Teil kartesischen Sprachauffassung) motiviert wird. Deshalb kann es nicht überraschen, dass bestimmte Phänomene oder Faktoren der Kommunikation, die scheinbar erst im technischen (oder eben im digitalen) Zeitalter möglich geworden sind (Speicherungs-, Wiederholungsund Autorisierungstechniken, die nicht auf Repräsentation angewiesen sind; Autopoiesis; Virtualität; Iterabilität) bereits in den – zum Beispiel antiken oder romantischen – Sprachbegriffen, wenn auch unter anderen Stichworten, implizit vorhanden sind. Wie die Analysen zeigen, können diese – materiellen und zugleich immateriellen bzw. kulturellen und zugleich organisch-biologischen – „Techniken“ ihre Wirkung erst dann ausüben, wenn sie aus den Sprachprozessen nicht ausdifferenziert und dadurch nicht zu leeren Begriffen werden. Etwa die Trennung von Natur vs. Kultur zu unterlaufen, kann z.B. in einer leiblichkeitsbezogenen, Begriffe des „Lebens“ in der sprachlichen Dimension neu justierenden, „biopoetischen“ Auffassung der Sprache münden, zumindest Ansätze in dieser Richtung anzeigen. Vielleicht noch wichtiger erscheint es indes einzusehen, warum diese – in vielen der Beiträge durch eine minutiöse Interpretation ausgearbeiteten – Fragen der Sprachauffassung sich nicht auf die inneren Angelegenheiten von einzelnen Fachwissenschaften beschränken lassen. Denn erst auf dieser Grundlage wird es überhaupt möglich, sich mit den ethisch-politischen Fragen, mit denen uns die „moderne Technik“ bzw. die Veränderung der Bedingungen der Kommunikation konfrontiert, auseinanderzusetzen. Es ist kein Zufall, dass es in der Regel gerade die Theorien des technischen Apriori sind, die sich – wenn auch unbewusst – in den unlösbaren Widersprüchen der instrumentalistischen oder strukturalistischen Zeichentheorien verwickeln und dadurch in einem reduzierten Innenbereich der

Vorwort

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Sprache gefangen bleiben, von dem her sie keinen Einblick mehr in die Dimension der Singularität, des Subjekts, der Moral, der Geschichte (der Ereignishaftigkeit und Performativität des „Werdens“) oder der Politik gewinnen können. Keine Theorie kann diese Dimension definitiv-definitorisch erreichen, jedoch sind es die sich wandelnden bzw. stets im Werden befindlichen Begriffe von ‚Sprachmedialitäten‘, die den Weg zu ihrer Thematisierung eröffnen können. Stets eingedenk des Sachverhaltes, dass die Medialität der Sprache nicht „ist“, sondern vielmehr geschieht im Sinne des „es gibt“ bei Heidegger.9 Eine technische Speicherung dieses Geschehens erfährt angesichts einer Verborgenheit ebendieses Geschehens unübersehbare Grenzen – zugleich kann sie das Sichverbergen der Sprache auch auslösen oder intensivieren. Die Herausgeber*innen

LITERATUR Derrida, Jacques: Grammatologie, übers. von H.-J. Rheinberger/H. Zischler, Frankfurt a.M. 1974. Heidegger, Martin: Der Weg zur Sprache, in: ders., Unterwegs zur Sprache, Stuttgart 1959, S. 239-268. — Die Technik und die Kehre, Stuttgart 1962. — Das Wesen der Sprache, in: ders., Unterwegs zur Sprache (= GA12), Frankfurt a.M. 1985, S. 147-204. Jäger, Ludwig: Medium Sprache. Anmerkungen zum theoretischen Status der Sprachmedialität, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 54 (2007), S. 8-24. Krämer, Sybille: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität. Frankfurt a.M. 2008. Mersch, Dieter: Meta / Dia. Zwei unterschiedliche Zugänge zum Medialen, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 1 (2010), S. 185-208.

9

Heidegger: Das Wesen der Sprache, S. 182.

I. Denken / Dichten – zwischen Philosophie und Literatur

Sprache als Medium von Kunst Über künstlerischen Sprachgebrauch Georg W. Bertram

In der Sprachphilosophie herrscht grundsätzlich eine Tendenz vor, ästhetischen beziehungsweise künstlerischen Sprachgebrauch in der Theoriebildung nicht gesondert zu bedenken. Andere Fragen stehen im Zentrum sprachphilosophischer Arbeit: in erster Linie die Frage, was sprachliche Bedeutung ausmacht und wie sie zu erklären ist, und in zweiter Linie die Frage, wie Sprache mit der Welt zusammenhängt. Viele sprachphilosophische Positionen gehen dabei von einem Primat des Aussagesatzes aus. Auch dies mag ein wichtiger Grund dafür sein, dass ästhetische oder künstlerische Fragen keinen prominenten Eingang in die Sprachphilosophie finden. Die Tendenz, von der hier die Rede ist, prägt unterschiedliche Traditionen des Nachdenkens über Sprache. Sie findet sich nicht nur in der sprachanalytischen Tradition nach Gottlob Frege, sondern trifft auch auf größere Teile des strukturalistischen Sprachdenkens zu. Eine Ausnahme unter den sprachphilosophischen Traditionen des 20. Jahrhunderts ist die Hermeneutik. Sowohl bei Heidegger als auch bei Gadamer spielen künstlerische sprachliche Praktiken im Rahmen ihrer Sprachphilosophien eine große Rolle. Die in der Sprachphilosophie leitende Tendenz schlägt besonders auch dort durch, wo Sprache als Medium gedacht wird. Das Nachdenken über die Medialität der Sprache ist an der Frage orientiert, inwiefern Sprache den menschlichen Geist und das menschliche Weltverhältnis unhintergehbar durchdringt. So liegt es nahe, Sprache als das Medium zu begreifen, das den Zusammenhang zwischen Denken und Welt herstellt. Eine besondere ästhetische oder künstlerische Dimension spielt bei der Analyse dieses Zusammenhangs naheliegenderweise erst einmal keine Rolle. Man kann die Begründung für die Abstinenz der Sprachphilosophie in Bezug auf ästhetischen oder künstlerischen Sprachgebrauch auch aus ästhetischer be-

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| Georg W. Bertram

ziehungsweise kunstphilosophischer Perspektive geben: Die ästhetische beziehungsweise künstlerische Verwendung eines symbolischen Mediums ist demnach ein spezifischer Gebrauch dieses Mediums. Demnach gibt es symbolische Medien wie Sprache, Musik und Bild. Von diesen Medien kann man in unterschiedlicher Weise Gebrauch machen. Die Gebrauchsweisen, die man von den Medien jeweils macht, lassen sich dabei in nicht-ästhetische und ästhetische differenzieren. Im Rahmen einer solchen Differenzierung gelten nicht-ästhetische Gebrauchsweisen als primär. Es ist demnach in erster Linie erforderlich, diese Gebrauchsweisen aufzuklären. Dies ist eine Sache der Sprachphilosophie beziehungsweise einer allgemeinen Philosophie symbolischer Medien. Wenn man hingegen ästhetischen Sprachgebrauch aufklären will, muss man sich an die Ästhetik beziehungsweise Kunstphilosophie wenden. Noch einmal anders gesagt: Wenn es einerseits das Funktionieren von Sprache gibt und andererseits eine ästhetische Weise, mit dem, was so funktioniert, umzugehen, dann sollte Sprachphilosophie sich, diesem Verständnis gemäß, mit dem Funktionieren von Sprache überhaupt auseinandersetzen, Ästhetik hingegen mit ästhetischen Gebrauchsweisen von was auch immer. Analog kann man sagen, dass es eine allgemeine Bestimmung von Musik gibt. Wer Musik in diesem allgemeinen Sinn in ihrem symbolischen Funktionieren begreift, hat demnach Mittel an der Hand, um zum Beispiel Popmusik in ihrem Funktionieren als Musik zu begreifen. Davon unterschieden ist Kunstmusik, deren Funktionieren sich nicht unter Rekurs auf Musik als symbolisches Medium begreifen lässt. Um sie zu begreifen, bedarf es vielmehr der Ästhetik beziehungsweise der Kunstphilosophie. In analoger Weise ließe sich eine solche Verteilung von Zuständigkeiten auch noch einmal für Bildlichkeit, für Tanz oder für andere symbolische Medien durchbuchstabieren. Die Trennung von symbolischer Funktion und ästhetischem Gebrauch aber gilt es zu hinterfragen. Entsprechend will ich in diesem Aufsatz für die These argumentieren, dass es für Sprache zentral ist, in künstlerischen Texten genutzt werden zu können. In Begriffen des Mediums gesagt: Das symbolische Medium der Sprache hat auch eine konstitutiv künstlerische Seite. Wenn man Sprache als Medium des menschlichen Welt-, Fremd- und Selbstverhältnisses zu denken sucht, muss auch dieser Seite Rechnung getragen werden. Es handelt sich dabei nicht um einen Anhang zu einer Analyse, wie Sprache als Medium funktioniert, sondern um ein für diese Analyse zentrales Element. Das somit vorgezeichnete Programm, das ich in dem folgenden Text in ersten Zügen angehen will, kann ich auch noch einmal in anderer Weise motivieren, indem ich auf eine kunstphilosophische Problematik verweise, die im

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Hintergrund meiner Überlegungen steht. Ich habe dargelegt, dass die Abstinenz der Sprachphilosophie gegenüber künstlerischer Sprachverwendung mit einer bestimmten Konzeption von Kunstphilosophie korrespondiert, die das Künstlerische als etwas begreift, das zum Beispiel in unterschiedlichen symbolischen Medien realisiert werden kann. Was Kunst ausmacht, besteht demnach unabhängig von bestimmten Medien und Verfahrensweisen, wie sie in einzelnen Künsten zum Tragen kommen. Kunst wäre in dem Sinne einheitlich verfasst, als dass sie in unterschiedlichen Medien jeweils in strukturell gleicher Weise realisiert ist.1 Dies aber suggeriert eine Einheit dessen, was ich hier das Künstlerische nenne, und die es gleichermaßen zu hinterfragen gilt. Kunst ist als irreduzibel plural zu begreifen. Sie wird in Romanen anders realisiert als auf Tafelbildgemälden und in abendfüllenden Opern. Das aber heißt, dass die unterschiedlichen Medien, in denen Kunst realisiert wird, ihrerseits je unterschiedlich zur Realisierung von Kunst beitragen. Trotz aller Zusammenhänge zwischen den Künsten im Rahmen von Kunst insgesamt gilt es so, Künste aus der Unterschiedlichkeit der Medien heraus zu begreifen, in denen sie realisiert sind.2 In Bezug auf Sprache heißt das: Im Medium der Sprache (in den sprachlichen Künsten) gibt es eine für Sprache spezifische Weise, Kunst zu realisieren. In diesem Sinne gilt es, die Relevanz sprachlicher Kunst für die Sprache zu begreifen. Dieses Ziel will ich in den folgenden Überlegungen in Grundzügen in Angriff nehmen. Ich frage also, inwiefern für Sprache eine besondere Weise künstlerischer Hervorbringungen konstitutiv ist. Oder anders gefragt: Worin besteht die für Sprache als Medium spezifische künstlerische Dimension? Meine Überlegungen gliedern sich in drei Teile: Im ersten Teil führe ich eine für das Nachdenken grundlegende Unterscheidung ein: die Unterscheidung zwischen Artikulation und Explikation in der Sprache. Mit diesen Begriffen bezeichne ich zwei Dimensionen von Sprache, die konstitutiv zusammenhängen, aber zugleich doch in der Analyse getrennt werden müssen, um das Funktionieren von Sprache zu begreifen. Vor diesem Hintergrund kann ich dann im zweiten Teil künstlerischen Sprachgebrauch als eine besondere Form der Explikation, also einer der beiden Dimensionen von Sprache bestimmen. Der dritte Teil hat dann die Aufgabe, ab-

1

Ein solcher Ansatz in der Ästhetik stützt sich dabei in erster Linie auf die Kantische Tradition des Nachdenkens über das Schöne; vgl. hierzu beispielhaft Rüdiger Bubner: Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik.

2

In der Tradition lässt sich für einen solchen Ansatz in der Ästhetik besonders Hegels System der Künste als wichtiges Paradigma nennen. Vgl. hierzu unter anderem Feige: Kunst als Selbstverständigung, S. 156ff.

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schließend einige Konsequenzen meiner Überlegungen für die Sprachphilosophie und für die Analyse von Sprache als symbolischem Medium zu skizzieren.

1.

SPRACHE ALS ARTIKULATION UND EXPLIKATION

Sprache artikuliert die Welt. Mittels sprachlicher Ausdrücke halten wir Unterschiede als Unterschiede fest und bringen so Struktur in all das, womit wir tagein tagaus befasst sind. Wie bereits Herder festgehalten hat, erlaubt Sprache uns aufgrund dieser Artikulation das Vergangene, das Gegenwärtige und das Zukünftige zu verbinden.3 Sprachliche Artikulation lässt uns so auf Abwesendes ausgreifen und erlaubt es uns, mit dem, was uns gegenwärtig ist, in Beziehungen zu Abwesendem umzugehen.4 Wenn wir diesen Gedanken hermeneutisch fassen, besagt er: Wer Sprache versteht, für den ist die Welt als eine Welt wiederkehrender und sich unterscheidender Gegenstände artikuliert. Wer Sprache versteht, bewegt sich in einer strukturierten Welt.5 Für das Verständnis sprachlicher Bedeutung hat die Dimension der Artikulation eine wichtige Konsequenz: Sprachliche Bedeutung ist von Grund auf welthaltig. Sprachliche Bedeutung ist nicht unabhängig von der Welt konstituiert und muss erst noch mit dieser Welt in Kontakt gebracht werden. Sie steht immer schon in Kontakt zur Welt. Sprache als Medium ist so grundlegend in das Weltverhältnis derjenigen, die Sprache verstehen, eingelassen, dass die Beziehung zwischen Sprache und Welt niemals grundsätzlich in Frage zu stehen vermag. Mit Blick auf Fragen sprachlicher Bedeutung kann man es so sagen: Sprache entwickelt nicht aus sich heraus Bedeutung, sondern ist bedeutungsvoll aufgrund ihrer Verwobenheit in die Welt.6 Das Verstehen von Sprache geht aber nicht in der Dimension der Artikulation auf. Um dies zu begreifen, ist ein kurzes Gedankenexperiment hilfreich: Nehmen wir an, wir begegnen einem Menschen, der unsere Sprache in dem Sinne perfekt beherrscht, dass er sprachliche Ausdrücke immer passend verwendet. Wenn wir ihn aber zum Beispiel fragen, was ein Baum ist, sagt er immer

3

Vgl. hierzu Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache, Erster Teil.

4

In ganz anderer Weise findet sich dieser Gedanke artikuliert bei Derrida: Signatur Ereignis Kontext.

5

Martin Heidegger bestimmt in Sein und Zeit „Rede“ in diesem Sinn als „Gliedern der Verständlichkeit“ (Heidegger: Sein und Zeit, S. 161).

6

Vgl. zur Genese dieses hermeneutischen Gedankens in der Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts Bertram u.a.: In der Welt der Sprache.

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nur: „Ein Baum ist ein Baum!“ Wenn wir ihn danach fragen, was Transzendentalphilosophie ist, reproduziert er akkurat Sätze der Philosophie Kants. Wenn wir mit einem entsprechenden sprachlichen Verhalten länger konfrontiert sind, werden wir zunehmend in Zweifel darüber geraten, ob ein solcher Sprecher tatsächlich versteht, was er sagt. Wir werden den Argwohn hegen, er habe nur – wodurch auch immer – gelernt, sprachliche Ausdrücke so zu verwenden, wie wir sie verwenden, verstehe sie aber letztlich nicht. Das Gedankenexperiment zeigt, dass sich sprachliches Verstehen nicht einfach in richtiger Verwendung sprachlicher Ausdrücke erschöpft. Zu ihm gehört auch, dass man Sprache zu thematisieren vermag. Die grundlegende Gestalt einer solchen Thematisierung ist die Erläuterung eines sprachlichen Ausdrucks in eigenen Worten. Wer gefragt wird, was Transzendentalphilosophie ist, kann entsprechend zum Beispiel sagen, dass es sich um eine Neubegründung von Metaphysik aus der Struktur der Erfahrung handelt. Er kann auch sagen, dass man Transzendentalphilosophie nur begreifen kann, wenn man das Transzendentale von dem unterscheidet, was transzendent ist. Entscheidend für das, was Verstehen ausmacht, ist nicht, eine bestimmte Thematisierung zu beherrschen und hervorzubringen, sondern überhaupt dazu in der Lage zu sein, sprachliche Ausdrücke in ihrer Bedeutung thematisieren zu können. Sprache ist also nur in dem Maße ein Medium des Verstehens, in dem ihre Artikulationen mit der Möglichkeit der Thematisierung verbunden sind. Ich bezeichne die Dimension von Sprache, die damit angesprochen ist, als Explikation. In der Sprache hängen Artikulation und Explikation von Grund auf zusammen.7 Auf der einen Seite leisten sprachliche Ausdrücke aus ihrer Einbettung in die Welt heraus Artikulation und sind ein irreduzibles Moment eines strukturierten Weltverhältnisses. Auf der anderen Seite führt die Strukturierung, die durch Sprache mit konstituiert wird, nur dann zu Verstehen, wenn die Strukturen auch thematisiert werden können. Es ist entscheidend, die für Sprache konstitutive Dimension der Explikation nicht falsch zu verstehen. Sie wäre falsch verstanden, wenn man denken würde, dass sprachliche Ausdrücke immer thematisiert werden. Das ist offensichtlich nicht der Fall. Diejenigen, die Sprache verstehen, gebrauchen Sprache oft, ohne ihrem sprachlichen Ausdruck als solchem eigens Aufmerksamkeit zu schenken. Sie sprechen einfach miteinander, schreiben sich Nachrichten und denken in Sprache vor sich hin. Dennoch können sie immer zu einer Thematisierung dessen, was sie sagen und womit sie sprachlich konfrontiert sind, übergehen.

7

Vgl. zur Unterscheidung von Artikulation und Explikation der Sprache weitergehend Bertram: Die Sprache und das Ganze, IV. und V. Kap.

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Dies geschieht zum Beispiel dann, wenn ein sprachlicher Ausdruck nicht verstanden oder wenn er als unangemessen und merkwürdig wahrgenommen wird. Jederzeit kann es zum Beispiel in einer Diskussion dazu kommen, dass die Art und Weise, wie gesprochen wird, zum Gegenstand der Diskussion wird. Dies zeigt, dass im sprachlichen Verstehen Explikation immer mit im Spiel ist, auch wenn es oftmals nicht zu Explikationen kommt. Sprachliches Verstehen geschieht immer im Horizont von Explikationen. In diesem Sinne ist die Dimension der Explikation konstitutiv für sprachliches Verstehen. Zwei Aspekte dieser explikativen Dimension können ihre Relevanz für sprachliches Verstehen weiter beleuchten. Der erste Aspekt besteht in dem Potential der sprachlichen Thematisierung von Sprache, das Verhältnis von Sprache und Welt zu beleuchten. Wer fragt, ob eine Handlung kränkend, missachtend oder verletzend war, unterscheidet zwischen dem sprachlichen Ausdruck und dem, was durch ihn in der Welt artikuliert wird. Die Thematisierung stellt so eine Distanz zwischen Sprache und Welt her.8 Diese Distanz ist wichtig für eine Kritik von Sprache und für ihre Präzisierung. Auch wenn die Welt uns immer bereits in sprachlicher Strukturierung begegnet, bindet uns keine bestimmte sprachliche Struktur einfach als solche. Immer ist es grundsätzlich möglich, strukturelle Zusammenhänge der sprachlichen Artikulation zu hinterfragen und dabei auch zu verändern. Wenn wir Sprache im hermeneutischen Sinn als unhintergehbare Dimension des Weltverhältnisses begreifen, folgt damit also nicht, dass wir durch die sprachliche Tradition, in die wir hineinwachsen, einfach festgelegt sind. Sprachliches Verstehen ist nicht nur unhintergehbar, sondern birgt zugleich auch das Potential von Kritik und Veränderung. Dieses Potential können wir noch besser verstehen, wenn wir uns dem zweiten Aspekt von Explikation zuwenden, den es zu beleuchten gilt. Diesem Aspekt können wir uns annähern, indem wir noch einmal auf das oben angeführte Gedankenexperiment zurückkommen. Zentral für dieses Gedankenexperiment ist der Gedanke, dass jemand, der sprachliche Ausdrücke zwar korrekt gebraucht, aber nicht zu thematisieren weiß, uns zunehmend als jemand erscheint, der Sprache nicht versteht. Das können wir auch anders sagen: Jemand, der Sprache bloß korrekt verwendet, sie aber nicht zu thematisieren weiß, erscheint uns nicht als ein in seinem Sprechen eigenständiges Subjekt.

8

Die Wichtigkeit von Distanz im sprachlichen Weltverhältnis betont auch Gadamer, ohne deutlich genug zu sehen, dass hierfür die explikative Dimension von Sprache grundlegend ist; vgl. Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 448.

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Dies gibt uns einen Hinweis darauf, dass die sprachliche Dimension der Explikation wichtig für Prozesse der Subjektivierung ist.9 Wir können diesem Gedanken folgendermaßen weiter Kontur verleihen: Durch Thematisierungen sprachlicher Ausdrücke eignen Sprecherinnen und Sprecher sich diese Ausdrücke an. Sie sichern sich einerseits das Verständnis dieser Ausdrücke; andererseits geben sie ihnen aber auch immer wieder eigene Beleuchtungen. Explikationen erlauben ihnen so, in ihrem Sprechen Selbstbewusstsein zu gewinnen. Selbstbewusstsein ist in diesem Kontext nicht als eine Voraussetzung von Subjektivität zu begreifen, sondern als ein Moment der Subjektivität, das sich graduell ausbildet. Eine entsprechende Ausbildung von Selbstbewusstsein basiert auf Praktiken; sprachliche Thematisierungen von Sprache sind genau solche Praktiken.10 Durch sie formen wir uns zu den Subjekten, die wir sind, und als die wir in Auseinandersetzungen mit anderen Anerkennung finden. Ich will meine skizzenhaften Ausführungen zu zwei grundlegenden Dimensionen sprachlichen Verstehens dadurch resümieren, dass ich den Zusammenhang zwischen Artikulation und Explikation betone. Artikulation und Explikation spielen in sprachlichem Verstehen grundsätzlich zusammen. Die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke ist einerseits darin begründet, dass wir mit ihnen Aspekte der Welt artikulieren können, und andererseits darin, dass wir die Ausdrücke in ihrem artikulativen Potential thematisieren können (zum Beispiel auch dadurch, dass wir fragen, wie man etwas besser sagen könnte). Artikulation ist also nicht als Grundlage zu verstehen, von der aus – im Sinne einer Praxis zweiter Ordnungen – Explikationen möglich werden. Beide Dimensionen sind gleichermaßen grundlegend und lassen sich aus diesem Grund nicht voneinander trennen.

2.

KÜNSTLERISCHER SPRACHGEBRAUCH ALS EXPLIKATIVER SPRACHGEBRAUCH

Meine bisherigen Ausführungen zur Explikation mögen den Eindruck erwecken, es handele sich bei explikativen sprachlichen Praktiken immer um metasprachli-

9

In Auseinandersetzung mit Donald Davidson betont John McDowell auch den subjektkonstitutiven Charakter von Sprache, ohne ihn allerdings mit einer besonderen sprachlichen Dimension, derjenigen der Explikation in Verbindung zu bringen; vgl. McDowell: Gadamer and Davidson, S. 184.

10 In sehr abstrakter Form hat Hegel den Gedanken gefasst, dass Selbstbewusstsein auf Praktiken der Thematisierung beruht. Vgl. hierzu unter anderem das Geistkapitel von Hegel: Phänomenologie des Geistes, z.B. S. 376ff., 468ff.

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che Aussagen des Typs „‚Sun‘ (im Englischen) bedeutet (im Deutschen) Sonne“. Dieser Eindruck aber ist irreführend. Sprachliche Explikationen gehen über Metasprache im engeren Sinn hinaus. Dies festzustellen ist insbesondere entscheidend, um literarischen Sprachgebrauch in Bezug auf die Unterscheidung von Artikulation und Explikation zu verorten. Denn literarischer Sprachgebrauch ist – und dies ist der Gedanke, dem ich mich nun zuwenden will – insgesamt als explikativer Sprachgebrauch zu begreifen. Offensichtlich aber bestehen literarische Texte zumeist nicht aus metasprachlichen Aussagen. Wir müssen die Thematisierung von Sprache in der Sprache also weiter fassen, als ich es bislang suggeriert habe, um ein Verständnis von Literatur als Explikation zu gewinnen. Gehen wir von einigen Beispielen aus: Erzählerische Texte thematisieren bestimmte Sprechweisen genauso wie Figuren auf einer Theaterbühne. Die Thematisierung funktioniert in erster Linie so, dass Sprechweisen auffällig gemacht werden – zum Beispiel dadurch, dass in der Prosa oder auf der Bühne ein Kontrast von Sprechweisen bei unterschiedlichen Figuren hergestellt wird. Genauso werden auch einzelne sprachliche Ausdrücke thematisiert – indem sie beispielsweise auffällig gebraucht werden. Auch der Rhythmus von Sprache kann betont werden – oder die ihr inhärente Musikalität. Auch die bloße klangliche Härte von Sprache kann in Literatur thematisch werden oder das, was Roland Barthes „die Rauheit der Stimme“ („le grain de la voix“) nennt.11 Ich halte es für aufschlussreich, lyrischem Sprachgebrauch in diesem Zusammenhang eine besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Das hilft uns, die mit narrativen Texten immer wieder verbundene Diskussion über fiktionalen Sprachgebrauch vom Nachdenken über den explikativen Charakter literarischen Sprachgebrauchs außen vor zu halten.12 Immer wieder wird die Spezifik literarischer Sprachlichkeit dadurch verunklart, dass sie von der Frage des Zusammenhangs zwischen Sprache und Welt her verstanden wird. So stehen im Zentrum der sprachphilosophischen Thematisierung von Literatur immer wieder Fragen der Semantik fiktionalen Sprachgebrauchs.13 Damit aber wird gerade die explikative Dimension literarischen Sprachgebrauchs eher in den Hintergrund gerückt. Es mag aus semantischer Perspektive aufschlussreich sein, die Bedeutung fiktionalen Sprachgebrauchs aufzuklären – dies klärt aber gerade die Besonderheit literarischen Sprachgebrauchs nicht auf. Aus diesem Grund komme ich hier auf Lyrik zu sprechen.

11 Vgl. Barthes: Die Rauheit der Stimme. 12 Vgl. zu Ansätzen, literarischen Sprachgebrauch in erster Linie von seiner Fiktionalität her zu deuten, unter anderem Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. 13 Vgl. hierzu besonders Gabriel: Fiktion und Wahrheit.

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Lyrischer Sprachgebrauch ist immer wieder als Sprache eines lyrischen Ich bestimmt worden.14 Diese Grundbestimmung von Lyrik besagt unter anderem: Lyrischer Sprachgebrauch ist ein in besonderer Weise innerlicher Sprachgebrauch. Er leistet den Ausdruck einer spezifischen subjektiven Perspektive.15 Auch wenn diese Grundbestimmung nicht unplausibel ist, ist sie aus sprachphilosophischer Perspektive zumindest einseitig. Die lyrische Sprache ist nicht in besonderer Weise subjektiv-ausdruckshaft wie zum Beispiel die Bekundung eines inneren Zustands. Sie ist vielmehr ein Sprachgebrauch, in dem das sprachliche Material als solches in den Vordergrund tritt. Dies betrifft alle Ebenen: die Klanglichkeit und Lautlichkeit sprachlicher Ausdrücke, die einzelnen sprachlichen Ausdrücke in ihren je spezifischen Bedeutungsnuancen und die syntaktischen Zusammenhänge. Charakteristisch für lyrische Sprache ist nicht das Subjektiv-Ausdruckshafte, sondern das Hervortreten sprachlichen Materials. Entscheidend ist nun die Antwort auf die Frage, worin dieses Hervortreten begründet ist. Wodurch kommt in einem Gedicht die Thematisierung sprachlichen Materials zustande? Ausschlaggebend sind hier die Zusammenhänge zwischen sprachlichen Ausdrücken, die ein Gedicht herstellt. Diese Zusammenhänge lassen sich mit dem von Benjamin und Adorno vielfach gebrauchten Begriff der Konstellation fassen:16 Ein Gedicht stellt eine Konstellation sprachlichen Materials her. Diese Konstellation entfaltet aus sich heraus Bedeutung. Auch wenn ein Gedicht sich aus sprachlichen Ausdrücken einer natürlichen Sprache zusammensetzt, gewinnen diese Ausdrücke in dem Gedicht aus ihm selbst heraus Bedeutung.17 Das zeigt sich dann, wenn man das Gedicht zu verstehen sucht. Auch wenn man die Bedeutung spezifischer sprachlicher Ausdrücke aus der natürlichen Sprache kennt, versteht man diese Ausdrücke im Rahmen des Gedichts noch nicht unbedingt. Das Gedicht transformiert ihre Bedeutung,

14 Vgl. zum Begriff des lyrisches Ich insgesamt Burdorf: Einführung in die Gedichtanalyse, S. 167-215. 15 Vgl. hierzu Hegels Begriff der lyrischen Poesie; Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik, S. 415ff. 16 Vgl. zu diesem Begriff bei Benjamin und Adorno; Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 214f.; Adorno: Ästhetische Theorie, S. 135, 137, 141. 17 In sehr markanter Weise heißt es in diesem Sinn bei Adorno: „Entledigt kein Wort, das in eine Dichtung eingeht, sich ganz der Bedeutungen, die es in der kommunikativen Rede besitzt, so bleibt doch in keiner, selbst im traditionellen Roman nicht, diese Bedeutung unverwandelt die gleiche, welche das Wort draußen hatte.“ (Adorno: Engagement, S. 410).

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zumindest in einer gewissen Hinsicht. Genau diese Erfahrung machen diejenigen, die sich mit einem Gedicht auseinandersetzen, zwangsläufig. In einem Gedicht geht es so nicht primär um den Ausdruck eines lyrischen Ich, sondern um die sprachliche Konstellation, die im Gedicht hergestellt ist. Ich nenne diese Konstellation eine lyrische Konstellation. Diese Konstellation ist die Grundlage dafür, dass sprachliche Materialität thematisch wird. Die Beziehungen, in die einzelne sprachliche Ausdrücke gestellt werden, führen dazu, dass diese Ausdrücke in neuer Weise beleuchtet werden. Sie zeigen Seiten an ihnen, die man in ihrem alltäglichen Gebrauch nicht oder zumindest nicht primär wahrnimmt. Sprachliche Ausdrücke treten aus diesem Grund hervor. Sie werden in ihren Eigenheiten thematisiert. Eine solche Thematisierung kann sehr viele Dimensionen betreffen: die bloße Materialität, die Rhythmizität und Klanglichkeit, die Bedeutung, das Potential zu einem Gebrauch im Rahmen von Theoriebildung und vieles andere mehr. Die Konstellation, aus der eine solche Thematisierung hervorgeht, kann sich genauso auf phonetische, lexikalische und syntaktische Aspekte stützen. Durch solche Aspekte wird die Stellung der sprachlichen Ausdrücke in dem jeweiligen Gedicht bestimmt. Ein lyrischer Text realisiert so aus sich selbst heraus Explikation. Er stellt aus sich heraus Thematisierungen von Sprache her. Die Grundlage dafür ist die lyrische Konstellation. Es ist an diesem Punkt entscheidend, an die Aspekte von Explikation zu erinnern, die ich zu Ende des letzten Teils angesprochen habe. Die Thematisierung von Sprache geht von Individuen aus, die dadurch Prozesse der Subjektivierung anstoßen. Insofern ist es unvollständig zu sagen, eine lyrische Konstellation realisiere Explikation. Alle sprachliche Thematisierung von Sprache geht letztlich von denjenigen aus, die Sprache gebrauchen – so auch die Explikationen, die lyrische Konstellationen leisten. Subjekte verändern sich und die Welt, in der sie leben, durch die Thematisierungen von Sprache, die sie hervorbringen. Auch lyrische Konstellationen haben dieses Potential. Lyrische Konstellationen können damit auch als Grundlage des lyrischen Ich verstanden werden. Letzteres ist entsprechend nicht als Niederschlag eines künstlerischen Subjekts zu verstehen, das sich in einem Gedicht ausdrückt. Es ist vielmehr eine subjektive Stimme, die sich durch die im Gedicht hergestellte Konstellation konstituiert. Das Gedicht entwickelt mit seiner Konstellation gewissermaßen eine eigene Sprache. Genau diese Sprache lässt sich als Artikulation einer eigenen, einer subjektiven Stimme verstehen. Das Sprechen des Gedichts geht also in seiner Eigenheit nicht auf ein künstlerisches Subjekt zurück. Es entwickelt aus sich heraus eine Eigenheit, die nicht zuletzt auch denjenigen, die Gedichte schreiben, besondere Formen der Subjektivierung

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erlauben. Das lyrische Ich ist so als eine Instanz der eigenen Sprachlichkeit des Gedichts zu begreifen – kurz gesagt: als eine poetologische Größe. Der Begriff der lyrischen Konstellation, dem ich nun erste Konturen verliehen habe, ist insgesamt für ein Verständnis von Literatur aufschlussreich. Auch wenn erzählerische Texte oder Theaterstücke nicht so verfasst sind wie Gedichte, lassen sie sich doch mit dem an Gedichten entwickelten Begriff der lyrischen Konstellation begreifen.18 Betrachten wir zum Beispiel erzählerische Texte. In ihnen tritt im Normalfall das sprachliche Material nicht in der gleichen Weise in den Vordergrund wie in einem Gedicht. Dennoch stellt sich auch in einem erzählerischen Text eine eigene Struktur her. Die narrativen Elemente, aus denen er sich zusammensetzt, bilden eine Konstellation und damit auch eine Art eigener Sprache. Die Konstellation eines erzählerischen Textes funktioniert in den meisten Fällen anders als bei einem Gedicht: Es geht in ihr nicht nur um die Auffälligkeit von Sprache als solcher und um ihre Bedeutungsmomente, sondern um narrative und affektive Zusammenhänge, die hervortreten. Dennoch ist dabei auch die in und durch Sprache hergestellte Konstellation entscheidend. Wenn man den Begriff der lyrischen Konstellation entsprechend auf Literatur insgesamt ausweitet, ist es in diesem Sinn wichtig, zwei Hinsichten zu unterscheiden: Auf der einen Seite gilt grundsätzlich für sprachliche Kunst, dass sie eine sprachliche Konstellation herstellt. Die sprachlichen Einheiten, die im Herstellen entsprechender Konstellationen zum Tragen kommen, sind dabei vielfältig. In Gedichten sind vielfach einzelne sprachliche Ausdrücke entscheidend; in Theaterstücken Äußerungen von Figuren und in erzählerischen Texten narrative Sätze beziehungsweise Satzzusammenhänge. Auch wenn hier wichtige Unterschiede bestehen, die sich noch weit feinkörniger analysieren ließen, kommt dennoch jeweils in und durch Sprache eine Konstellation zustande. Diese Konstellation ist grundlegend für das jeweilige sprachliche Kunstwerk. Auf der anderen Seite tritt in den unterschiedlichen Typen von Literatur Sprache in verschiedener Weise hervor. Explikation betrifft hier jeweils sehr unterschiedliche Aspekte von Sprache. In einem sehr allgemeinen Sinn kann man sagen, dass Explikation immer auch die Materialität von Sprache betrifft – aber eben unterschiedliche Aspekte dieser Materialität: Klanglichkeit und Rhythmizität habe ich bereits mehrfach angesprochen. Sprechweisen und Aus-

18 Heidegger vertritt in seinem Kunstwerk-Aufsatz die These, alle Kunst sei Dichtung; vgl. Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 58ff. Auch wenn ich es aus bereits angedeuteten Gründen für problematisch halte, alle Künste in einheitlicher Weise begrifflich zu fassen, lässt sich Heideggers These gut im Sinne des hier Dargelegten verstehen: Alle sprachlichen Gattungen realisieren Dichtung.

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sagearten gehören genauso zu einer Materialität, die in literarischen Texten thematisiert wird, wie das Sprechen zu Anderen und sprachliche Spannungsbögen. Literarische Texte der unterschiedlichen literarischen Gattungen beleuchten solche Aspekte in sehr divergenter Weise. Damit kommen auch je andere Horizonte von Sprache zum Tragen: unter anderem ihre Bedeutungsferne, ihre Affektivität und ihre Sozialität. Die literarische Explikation von Sprache macht in diesem Sinn nicht bei bloßer Sprache Halt, sondern bezieht all das ein, womit Sprache von Grund auf zusammenhängt. Sprache zu thematisieren, so zeigt sich damit, betrifft nicht nur die lautliche oder semantische Seite sprachlicher Ausdrücke, syntaktische Verknüpfungen oder pragmatische Kontextualisierungen. Es betrifft auch den Zusammenhang von Narrativität und Subjektbildung, die ethische Dimension sprachlichen Ausdrucks und die verletzende Gewalt von Sprache. All dies kann in literarischen Texten in den Vordergrund treten. Und die Grundlagen dieses Hervortretens sind die in diesen Texten hergestellten Konstellationen, die ich insgesamt mit dem Begriff der lyrischen Konstellation bezeichne.

3.

SPRACHE ALS KÜNSTLERISCHES MEDIUM: KONSEQUENZEN FÜR DIE SPRACHPHILOSOPHIE

Literatur stellt das Nachdenken über Sprache grundsätzlich vor die Frage, wie die literarische Thematisierung von Sprache funktioniert. Für Sprache als Medium des Verstehens ist es konstitutiv, thematisiert zu werden. Dies schließt alle Formen der Thematisierung ein, die in Sprache möglich sind, also auch die Literatur. Insofern ist der Begriff der Sprache als symbolisches Medium auch damit verbunden, Sprache als literarisches und damit künstlerisches Medium zu begreifen. Zu Sprache als Medium gehört nicht nur die Art und Weise, wie sie unser Verhältnis zur Welt, zu Anderen und zu uns selbst prägt. Es gehören zu ihr auch unterschiedliche Formen der Selbstthematisierung. So stehen wir vor der Frage, inwiefern Sprache ein Medium der literarischen Selbstthematisierung ist. Was heißt es, die Medialität von Sprache in dieser Hinsicht zu begreifen? In erster Linie gilt es hier, die Medialität von Sprache vom Begriff der lyrischen Konstellation her zu denken. Oder noch einmal anders gefragt: Inwiefern ist Sprache grundsätzlich ein Medium der Kunst? In Begriffen philosophischer Disziplinen gefragt: Inwiefern leistet Sprachphilosophie grundsätzlich einen Beitrag zur Philosophie der Kunst? Wenn man Sprache als ein symbolisches Medium begreift, geht man – ich habe das schon gestreift – in erster Linie von ihrer Medialität im Zusammenspiel

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von Denken und Welt aus. Diese Medialität habe ich oben mit dem Begriff der Artikulation gefasst. Nun hat sich gezeigt, dass Sprache darüber hinaus noch in einer anderen Weise medial konstituiert ist: Sie kann im Rahmen selbstthematisierender Praktiken verwendet werden. Sprache ist Medium der Thematisierung sprachlicher Artikulation. Diese Medialität der Selbstthematisierung aber kennt ihrerseits unterschiedliche Ausprägungen. Will man sich ihrer künstlerischen Dimension widmen, dann gilt es, lyrische Konstellationen als Aspekt der besonderen Medialität von Sprache zu denken. Lyrische Konstellationen entstehen dadurch, dass sprachliche Elemente (unterschiedlicher Art) in Beziehungen zueinander gestellt werden, aus denen heraus sie Bedeutung entfalten. Charakteristisch für die Thematisierung, die Sprache hier erfährt, ist entsprechend, dass die Thematisierung von sprachintern hergestellten Beziehungen ausgeht. Vergleichen wir dazu genauer die Struktur der Medialität der künstlerischen Selbstthematisierung von Sprache mit metasprachlichen Aussagen. Metasprachliche Aussagen beziehen sich auf objektsprachliche Ausdrücke, die sie in irgendeiner Hinsicht thematisieren. Die Thematisierung geht hier davon aus, dass die artikulierende Objektsprache ihrerseits artikuliert wird. Metasprache wird so typischerweise als Sprache zweiter Stufe gedeutet, wobei die Medialität von Sprache sich hier in ihrer Struktur erst einmal nicht unterscheidet.19 Dies ist bei der künstlerischen Selbstthematisierung von Sprache anders. In ihrem Fall kommt es erst einmal zu keinem direkten artikulierenden Zusammenhang. Dies manifestiert sich in der Auseinandersetzung mit lyrischen Texten auch darin, dass man sich immer wieder fragen kann, wovon diese Texte überhaupt handeln. Man nehme zum Beispiel lyrische Texte von Hölderlin oder von Baudelaire: Bei ihnen kann man mit guten Gründen um ein Verständnis ringen, wovon überhaupt die Rede ist. Daraus folgt aber nicht, dass die Texte bedeutungslos wären. Sie gewinnen vielmehr dann Bedeutung, wenn man ihnen intern folgt, wenn man sich mit den Beziehungen auseinandersetzt, die sie zwischen einzelnen sprachlichen Elementen herstellen. Sprache löst sich hier, so kann man den internen Charakter der Bedeutungskonstitution resümieren, in gewisser Weise von ihrer artikulativen Dimension. Sie funktioniert in ihrer künstlerischen Artikulation aus sich heraus. Die gewisse Eigenständigkeit von Sprache in ihrer künstlerischen Selbstthematisierung kann man folgendermaßen in den Begriff von Sprache als Medium

19 Ein entsprechender Begriff von Metasprache kann sich unter anderem auf die wegweisenden Arbeiten von Alfred Tarski stützen; vgl. Tarski: Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten Sprachen.

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einzeichnen: Sprache kann als Medium auch Strukturen entfalten, die die eigene Medialität durchbrechen und so befragen. Das heißt: Sprache kann sich aus dem medialen Zusammenhang lösen, in dem sprachliche Artikulationen, Denken und Welt verklammert sind. Wenn Sprache in der künstlerischen Selbstthematisierung aus eigenen Konstellationen heraus funktioniert, kündigt sie in ihrem Funktionieren partiell diesen Zusammenhang auf. Es ist entscheidend, diese partielle Aufkündigung nicht als bloße Ablösung zu begreifen. Die gewisse Eigenständigkeit künstlerischer Selbstthematisierung wirkt auf den medialen Zusammenhang sprachlicher Artikulation zurück. Sie ist in diesem Sinn als ein Aspekt sprachlicher Medialität zu begreifen. Von ihrer künstlerischen Selbstthematisierung her ist Sprache so als ein immer schon gebrochenes Medium zu begreifen. Die sprachlichen Artikulationen, die unser Weltverhältnis von Grund auf prägen, sind grundsätzlich mit Distanzierungen verbunden, in denen wir unseren sprachlichen Artikulationen neue Anstöße geben. Zuspitzend gesagt: Lyrische Konstellationen entfremden uns von sprachlichen Artikulationen, die uns vertraut sind – Sprache ist ein Medium mit dem Potential der Selbstentfremdung. Ich gebrauche den Begriff der Entfremdung hier nicht in einem primär gesellschaftskritischen,20 sondern in einem konstitutionslogischen Sinn:21 Er ist in dieser Perspektive ein grundlegendes Moment der Konstitution von Freiheit. Das ist folgendermaßen zu begreifen: Nur dann, wenn die Praktiken, die uns selbstverständlich sind, in ihrer Selbstverständlichkeit nicht das letzte Wort haben, können wir Freiheit gewinnen. Der mit dem Begriff der Entfremdung umrissene Zusammenhang gilt in besonderer Weise auch für die Medialität der Sprache: Wir können in unseren sprachlichen Artikulationen nur dadurch Freiheit gewinnen, dass wir uns von ihnen immer wieder zu entfremden vermögen. Genau in dieser Hinsicht kommt der künstlerischen Selbstthematisierung von Sprache eine besondere Wichtigkeit zu. Mit ihr konstituiert sich Sprache als ein von Grund auf mit Selbstdistanzierung verbundenes Medium. Künstlerischer Sprachgebrauch bricht die Medialität sprachlicher Artikulation auf und eröffnet so Spielräume für immer neue sprachliche Artikulation. An diesem Punkt will ich noch einmal daran erinnern, dass ich den Begriff der lyrischen Konstellation zwar unter Rekurs auf lyrische Texte eingeführt habe, dass ich mit diesem Begriff aber literarische Texte insgesamt in ihrem Funktionieren charakterisiere. Für literarische Texte gilt demnach grundsätzlich,

20 Vgl. hierzu zum Beispiel Jaeggi: Entfremdung. 21 Vgl. hierzu mit Blick auf Hegel meine Interpretation der Phänomenologie des Geistes; Bertram: Hegels „Phänomenologie des Geistes“, S. 197ff.

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dass sie eine eigene Struktur entwerfen, aus der heraus sich ein eigenständiges Bedeutungsmoment ergibt. Auch wenn narrative und theatrale Texte in vielen Hinsichten anders funktionieren, teilen sie doch ein grundsätzliches Moment künstlerischen Funktionierens mit lyrischen Texten. Genau dieses Moment ist entscheidend für eine Bestimmung der Medialität der Sprache. Es verändert die Struktur dieser Medialität in einer entscheidenden Hinsicht. Sprache ist als Medium von künstlerischem Sprachgebrauch geprägt. Dieser Sprachgebrauch trägt ein entscheidendes Moment von Distanzierung in das Medium ein. Das Medium gewinnt dadurch Freiheitsspielräume, die für sprachliche Praktiken zentral sind. Wir verstehen die wesentlich mit Selbstthematisierung verbundene Sprachlichkeit unseres Weltverhältnisses aus diesem Grund nicht, wenn wir künstlerischen Sprachgebrauch nicht in seiner konstitutiven Bedeutung für Sprache als Medium begreifen. Literatur ist eine dem Medium der Sprache eingeschriebene Form der Freiheit.

LITERATUR Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M. 1970. — Engagement, in: ders., Noten zur Literatur, Frankfurt a.M. 1974, S. 409-430. Barthes, Roland: Die Rauhheit der Stimme, in: ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt a.M. 1990, S. 269-278. Benjamin, Walter: Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: ders., Gesammelte Schriften I, Frankfurt a.M. 1974, S. 303-430. Bertram, Georg W.: Die Sprache und das Ganze. Entwurf einer antireduktionistischen Sprachphilosophie, Velbrück 2006. — Hegels „Phänomenologie des Geistes“. Ein systematischer Kommentar, Stuttgart 2017. — /Lauer, David/Liptow, Jasper/Seel, Martin: In der Welt der Sprache. Konsequenzen des semantischen Holismus, Frankfurt a.M. 2008. Bubner, Rüdiger: Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik, in: ders. (Hg.), Ästhetische Erfahrung, Frankfurt a.M. 1989, S. 9-51. Burdorf, Dieter: Einführung in die Gedichtanalyse, 3Stuttgart 2015. Derrida, Jacques: Signatur Ereignis Kontext, in: ders., Randgänge der Philosophie, 2Wien 1999, S. 325-351. Feige, Daniel M.: Kunst als Selbstverständigung, Paderborn 2012. Gabriel, Gottfried: Fiktion und Wahrheit. Eine semantische Theorie der Literatur, Stuttgart 1975.

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Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 6Tübingen 1990. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes (= Werke in 20 Bänden, Band 3), Frankfurt a.M. 1970. — Vorlesungen über die Ästhetik, (= Werke in 20 Bänden, Band 15) Frankfurt a.M. 1970. Heidegger, Martin: Der Ursprung des Kunstwerkes, in: ders., Holzwege, Frankfurt a.M. 1950, S. 1-72. — Sein und Zeit, 16Tübingen 1986. Herder, Johann Gottfried: Abhandlung über den Ursprung der Sprache, Stuttgart 1986. Jaeggi, Rahel: Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems, Frankfurt a.M. 2005. McDowell, John: Gadamer and Davidson on Understanding and Relativism, in: J. Malpas u.a. (Hg.): Gadamer’s Century. Essays in Honor of Hans-Georg Gadamer, Cambridge, MA 2002, S. 173-193. Tarski, Alfred: Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten Sprachen, in: K. Berka/L. Kreiser (Hg.): Logik-Texte, 3Darmstadt 1983, S. 445-546. Zipfel, Frank (Hg.): Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft, Berlin 2001.

Textualität und Diskursivität Zur Medialität der philosophischen Rede Gerald Posselt Sokrates: O Phaidros, wenn ich den Phaidros nicht kenne, muß ich mich ja selbst vergessen haben. […] Ich weiß gar wohl, hörte der eine Rede des Lysias, so hat er sie nicht nur einmal angehört, sondern den Lysias immer wieder aufs neue oftmals reden lassen, und der gehorchte ihm auch gern. Ihm aber ist auch das nicht genug gewesen, sondern zuletzt hat er das Buch genommen, und selbst, was ihm am besten gefiel, nachgesehen. […] Und zur Stadt hinaus ging er, um sie recht einzulernen. Als er dann einem begegnete, der krank ist an der Sucht Reden anzuhören, freute er sich schon […], daß er einen Genossen haben würde an seiner Entzückung, und hieß ihn mitgehn. Wie nun der Liebhaber von Reden ihn bat, herzusagen, machte er den Spröden, als hätte er nicht Lust; am Ende aber würde er, auch wenn Niemand […] zuhören wollte, mit Gewalt die Rede sagen. Platon: Phaidros 228a-c

Platons Dialog Phaidros beginnt mit einer der vielleicht berühmtesten Leseszenen der Philosophie. Nachdem Phaidros sich in seiner Hoffnung enttäuscht sieht, er könne sich mit seinem Redevortrag an Sokrates erproben, widmen sich beide der gemeinsamen Lektüre von Lysiasʼ Text über die Liebe. Als der eigentliche „Liebhaber von Reden“ stellt sich dabei niemand anderer als Sokrates

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selbst heraus, auch wenn er letztlich dem geschriebenen Text gegenüber der memorierten Rede den Vorzug gibt. Damit exemplifiziert diese Szene das angespannte Verhältnis der Philosophie zu Rede und Text. Denn Philosophie besteht wesentlich aus geschriebenen und gelesenen Texten und vollzieht sich in Reden wie Monolog, Dialog oder Diskussion, die in der Regel selbst wiederum als Texte gegeben sind, als solche zirkulieren und sich verbreiten, aber auch verlorengehen oder unlesbar werden können. Tatsächlich scheint die textuelle Verfasstheit oder Textualität für die Philosophie – zumindest für die griechische Philosophie – wesentlich zu sein. So ist, wie Sybille Krämer festhält, die „einzigartige Inszenierung dialogisch-agonaler Mündlichkeit im Medium der Textualität“ ein charakteristisches Kennzeichen des griechischen Denkens: „Was ‚philosophieren‘ bedeutet, kann also nicht unabhängig von den Medien philosophischer Arbeit und Artikulation beantwortet werden“1 und, da Texte das ausgezeichnete Medium der Philosophie sind, auch nicht unabhängig von der Frage, was Texte eigentlich sind. Gerade ihre textuelle Verfasstheit, ihr Gegebensein in Texten und durch Texte, wird jedoch von der westlichen Philosophie seit ihrer Entstehung im antiken Griechenland systematisch ausgeblendet. Möglich wird dies dadurch, dass Sprache in der Regel als ein transparentes Medium vorgestellt wird, das für die Vermittlung von Wahrheit und Erkenntnis zwar notwendig ist, diese selbst aber nicht berührt. So ist nach Jacques Derrida der „philosophische Text […] – obschon immer geschrieben – als philosophischer daraufhin entworfen […], vor dem bezeichneten Inhalt, dessen Träger er ist, zurückzutreten“.2 Das gilt a fortiori für das sprechende, lesende oder schreibende Subjekt. Während infolge des linguistic turn im 20. Jahrhundert weitgehend anerkannt wird, dass Sprache und – in weiterer Folge – Medien wesentlich an der Konstitution und Konstruktion unserer Wirklichkeit beteiligt sind, wird das Subjekt im Allgemeinen als ein neutrales Autorsubjekt vorgestellt, das durch die textuellen und diskursiven Praktiken, die es vollzieht, weder betroffen noch verändert wird.3

1

Krämer: Erfüllen Medien eine Konstitutionsleistung?, S. 78. Vgl. auch Münker: After the Medial Turn, S. 16: „Sowohl die Tätigkeit des Philosophierens (als sprachlich vollzogene) als auch ihr Gegenstand (als sprachlich artikulierter) sind […] grundsätzlich nur als medial realisiert zu denken.“ Entsprechend lokalisiert Münker den medial turn der Philosophie in der Generalisierung „sprachphilosophischer Erkenntnisse“ (ebd., S. 18).

2

Derrida: Grammatologie, S. 276. Vgl. aus sprachanalytischer Perspektive Davidson: Seeing Through Language.

3

Prominente Beispiele für die Ausblendung der Frage der Subjektkonstitution sind Habermas, Brandom oder Searle. Obwohl diese Autoren die Bedeutung der Sprache für

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Tatsächlich scheint die Annahme eines rationalen Subjekts, das jedem Denkvollzug zugrunde liegt, während es selbst „einen unbeweglichen und zeitlosen Ort außerhalb der materiellen Welt einnimmt“4, für weite Teile der Philosophie nach wie vor konstitutiv zu sein. Trifft es dagegen zu, dass Medien generativ sind, sofern sie „nicht einfach Botschaften [übertragen], sondern […] eine Wirkkraft [entfalten], welche die Modalitäten unseres Denkens, Wahrnehmens, Erfahrens, Erinnerns und Kommunizierens prägt“, sodass „sich die Frage nach der ‚Natur‘ von Medien zur Frage nach der Medialität unseres Weltverhältnisses [erweitert]“5, dann lässt sich fragen, welche Konsequenzen sich daraus für die Rolle und den Status des medienverwendenden Subjekts ergeben, das danach strebt, die Wahrheit zu finden und zu artikulieren. Ein solches Subjekt wäre, so die Vermutung, nicht länger ein gleichsam neutrales oder transzendentales Subjekt, das durch die medialen Prozesse selbst nicht berührt wird; vielmehr hätten wir es mit einem Subjekt zu tun, das durch die diskursiven Praktiken, die es vollziehen muss, um die Wahrheit zu erfahren, zugleich konstituiert und transformiert wird. Daraus ergeben sich weitreichende Konsequenzen für das Selbstverständnis der Philosophie als einer ausgezeichneten Weise der Wahrheitsfindung und der Argumentation. Denn wenn das Individuum erst eine Reihe von textuellen und diskursiven Praktiken durchlaufen muss, um als rationales Subjekt autorisiert zu sein, dann hätten Texte nicht nur eine demonstrative, sondern auch eine praktische Dimension. Darüber hinaus wäre es nicht länger möglich, gleichsam von außen und im Vorhinein die Kriterien dafür festzulegen, wer als wahrsprechendes Subjekt qualifiziert ist und welchen argumentativen Regeln dieses Sprechen folgen muss. In den Fokus rückt damit – neben den textuellen und diskursiven Verfahren, die uns als rationale Subjekte qualifizieren – die Frage, was überhaupt als Argument zählt und was es ‚eigentlich‘ heißt zu argumentieren. Um diese Fragen zu erörtern, werde ich in vier Schritten vorgehen: Zunächst soll im Anschluss an Samuel IJsseling nach der Textualität der Philosophie gefragt werden sowie nach den Implikationen, die sich daraus für den Akt des Lesens und die Lektüre von Texten ergeben. IJsseling spricht in diesem Zusammenhang auch von einer „rhetorischen Lektüre“ von Texten, die er einer philosophischen und einer hermeneutischen Lektüre entgegenstellt. Ein paradigmati-

die „Konstruktion unserer sozialen Wirklichkeit“ ausdrücklich betonen, klammern sie die Frage, wie wir durch Sprache als Subjekte konstituiert und qualifiziert werden, weitgehend aus. 4

Bartels: Subjekt, S. 1549.

5

Krämer: Was haben die Medien, der Computer und die Realität miteinander zu tun?, S. 14.

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sches Beispiel einer rhetorischen Lektüre liefert, wie ich argumentieren werde, Michel Foucault mit seinem Text „Mein Körper, dies Papier, dies Feuer“, der 1972 als Erwiderung auf Jacques Derridas Kritik an Foucaults Wahnsinn und Gesellschaft erscheint. Foucault unternimmt in diesem Text nicht nur eine differenzierte Lektüre von Descartesʼ Meditationen, sondern erhebt zugleich gegen Derrida den Vorwurf, er würde diskursive Praktiken ‚textualisieren‘ und auf bloße Textspuren reduzieren.6 Dagegen entwickelt Foucault eine „doppelte Lektüre“ der Meditationen als demonstrativer Beweisführung und diskursiver Übung, die das meditierende Subjekt betrifft und modifiziert. Diese doppelte Lektüre gilt nicht nur für die Meditationen, sondern lässt sich, so die These, auf alle (philosophischen) Texte übertragen. Damit liefert sie zugleich ein Modell, um der Textualität, Historizität und Rhetorizität des philosophischen Diskurses Rechnung zu tragen. Ziel der folgenden Überlegungen ist es daher nicht, einen weiteren Beitrag zu der eher unglücklich verlaufenen Debatte zwischen Foucault und Derrida zu liefern;7 vielmehr soll ausgelotet werden, welche Konsequenzen sich aus Foucaults doppelter Lektüre für das Selbstverständnis der Philosophie als einer ausgezeichneten Form des Wahrsprechens und Argumentierens ergeben. Dies führt mich schließlich zu einem erweiterten Wahrheitsbegriff, der seine Geltung gerade aus der Verschränkung von Beweis und Übung erhält.

6

Foucault: Mein Körper, dies Papier, dies Feuer, S. 41.1. Der Text wird im Folgenden nach der Übersetzung von Rüdiger Campe unter Angabe von Seite und Spalte zitiert. Er wurde in der Übersetzung von Hans-Dieter Gondek in den zweiten Band der Dits et Ecrits wieder aufgenommen.

7

Die Literatur zur Foucault-Derrida-Debatte ist mittlerweile recht umfangreich. Vgl. u.a. Felman: Madness and Philosophy, Said: The Problem of Textuality, Bennington: Cogito Incognito, Sprinker: Textual Politics, D’Amico: Text and Context: Derrida and Foucault on Descartes, Flaherty: (Con)textual Context: Derrida and Foucault on Madness and the Cartesian Subject, Wordsworth: Derrida and Foucault: Writing the History of Historicity, Boyne: Foucault and Derrida, Holst-Knudsen: Cogito et Histoire de la folie, Melehy: Das kartesische Netz, Bertram: Geschichte (um)schreiben, Campillo: Foucault and Derrida, Bunz: Wann findet das Ereignis statt?, Žižek: Cogito, Madness and Religion.

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1.

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TEXTUALITÄT DER PHILOSOPHIE

Vor dem Hintergrund der von Hans-Georg Gadamer diagnostizierten Sprachvergessenheit und der von Jacques Derrida aufgezeigten Schriftfeindlichkeit der abendländischen Philosophie8 vertritt Samuel IJsseling in seinem programmatischen Text „Philosophie und Textualität. Über eine rhetorische Lektüre philosophischer Texte“ die These, dass die Philosophie gegenüber ihrer eigenen textuellen Verfasstheit blind bleibe. Die unbestreitbare Tatsache, so IJsseling, „daß die Philosophie primär und prinzipiell in oder aus Texten besteht, [wird] gewöhnlich entweder als eine nichtssagende Trivialität angesehen oder stößt auf heftigen und symptomatischen Widerstand“.9 Die Textualität der Philosophie ist dabei nicht etwas, das der Philosophie zufällig zukäme oder ihr äußerlich wäre; vielmehr „gehört das Text-sein der Philosophie zu ihrem Wesen“.10 In einer zugleich textuellen und rhetorischen Wende des linguistic turn fordert IJsseling, dass die Philosophie, wenn sie „ihre eigenen Möglichkeitsbedingungen“ reflektieren will, sich radikal „über die Seinsweise von Texten“ verständigen muss.11 Diese spezifische Seins- und Gegebenheitsweise von Texten manifestiert sich nach IJsseling auf unterschiedlichen Ebenen und in verschiedenen Hinsichten. Texte sind uns zunächst gegeben. Sie gehören „als solche zu der uns gegebenen Wirklichkeit“, „wir verhalten uns in einer bestimmten Weise zu ihnen“ und gehen mit ihnen um. Zugleich tun Texte auch etwas mit uns: „Sie haben eine eigene Wirksamkeit oder Operativität. Texte bringen etwas zustande.“12 Darüber hinaus ist ein Text niemals einfach das Produkt eines Autorsubjekts. Ebenso wie die Autor*in auf das zurückgreifen muss, was ihr an sprachlichen Elementen, Begriffen und Strukturen notwendig vorausgeht, gehören umgekehrt die Autor*in und der von ihr artikulierte Gedanke zu dem, „was durch einen Text zustande gebracht wird“.13 Texte sind zudem Teil eines größeren Textgewebes und folglich intertextuell: „Kein einziger Text steht je gänzlich für sich allein, sondern ist immer aufgenommen in eine Verweisungsganzheit oder einen Bedeutungszusammenhang, dem ein Text seine Bedeutung entlehnt.“14 Das wird auch daran deutlich, dass Texte zitiert, kommentiert und interpretiert werden können.

8

Vgl. Gadamer: Wahrheit und Methode, und Derrida: Grammatologie.

9

IJsseling: Philosophie und Textualität, S. 60.

10 Ebd., S. 59. 11 Ebd., S. 60. 12 Ebd., S. 61f. 13 Ebd., S. 63. 14 Ebd., S. 64.

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Folglich gibt es „keinen Nullpunkt im Schreiben, und jedes Schreiben wiederholt notwendigerweise Texte oder Textfragmente, die in der einen oder anderen Weise absorbiert und transformiert werden“,15 was zugleich heißt, dass ein Text niemals nur „einen einzigen Vater oder einen einzigen Ursprung“ hat.16 Desgleichen sind Texte konstitutiv offen, insofern sich kein Kontext angeben lässt, der einen Text vollständig und abschließend bestimmen würde. Und schließlich sind Texte Teil diskursiver Komplexe von Wissen und Macht. Sie lassen sich mit Foucault gesprochen nicht trennen von den Prozessen und Mechanismen der Verbreitung, der Verknappung, der Kontrolle und der Zensur sowie von den Verfahren der Werkbildung, der Kanonisierung und der Institutionalisierung von Disziplinen: „Man darf all diese materiellen Tätigkeiten nicht gering achten. Sie bilden die materielle Basis der Philosophie – ohne dies alles wäre sie nicht, was sie ist, denn sie ist niemals eine rein innerliche Angelegenheit, sondern stets auch ein Werk.“17 Mit der Bestimmung der unterschiedlichen Aspekte der Seins- und Gegebenheitsweise von Texten ist jedoch noch nicht gesagt, was es heißt, einen Text zu lesen bzw. was „genau im Akt des Lesen geschieht“.18 In der Folge unterscheidet IJsseling drei Arten des Lesens: eine philosophische Lektüre, eine hermeneutische Lektüre und eine rhetorische Lektüre. Die philosophische Lektüre ist die in der Philosophie verbreitetste Art des Lesens. Sie konzentriert sich auf den propositionalen Wahrheitsgehalt und die argumentative Schlüssigkeit von Texten und bewertet Texte im Hinblick auf die in ihnen erhobenen Wahrheits- und Geltungsansprüche. Das hat zur Folge, dass der Text auf ein bloßes Ausdrucksmittel reduziert wird. Der Text wird nicht als Text betrachtet, sondern man „richtet sich unmittelbar auf den Sachverhalt oder den Gedanken, den er ausdrückt“.19 Zugleich erfordert eine solche Lektüre einen eindeutigen Wahrheitsbegriff. Damit ignoriert sie sowohl, dass die Wahr-FalschUnterscheidung nur ein Kriterium unter anderen ist, um sprachliche Ausdrucksformen zu beurteilen, wie bereits John L. Austin im Rahmen seiner Sprechakttheorie deutlich gemacht hat,20 als auch, dass unterschiedliche Textsorten unterschiedliche Wahrheitsbegriffe implizieren können.

15 Ebd., S. 64. 16 Ebd., S. 65. 17 Ebd., S. 67. Vgl. Foucault: Die Ordnung des Diskurses. 18 IJsseling: Philosophie und Textualität, S. 68. 19 Ebd., S. 69. 20 Vgl. Austin: Zur Theorie der Sprechakte.

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Die hermeneutische Lektüre fragt, sehr vereinfacht gesagt, nach der intendierten Bedeutung eines Textes und versucht, einen eigentlichen oder verborgenen Sinn ‚hinter‘ dem Text zu entziffern. Damit geht sie zwar über eine rein propositionale Lektüre hinaus, insofern sie Texte nicht auf ihren Wahrheitsgehalt reduziert, aber auch hier „bleibt der Text als Text gewöhnlich außer acht“: Man geht zwar vom Text aus und liest ihn gründlich und sorgfältig, doch man gibt dies sofort wieder auf, um hinter oder unter dem Text nach der eigentlichen Bedeutung oder Botschaft zu suchen, die als eine Art Hinterwelt in der einen oder anderen Weise unabhängig vom Text bestehen soll.21

Allein in der rhetorischen Lektüre wird nach IJsseling „anders als bei verschiedenen anderen Lektüreformen der Text als Text ernstgenommen“.22 Die rhetorische Lektüre konzentriert sich nicht nur auf die rhetorisch-argumentative Struktur des Textes, seine logische und grammatische Syntax; sie berücksichtigt zudem die Gesamtheit der inter- und intra-textuellen Bezüge des Textes einschließlich der Machtstrukturen und -positionen, in die der Text eingeschrieben ist und die durch ihn eröffnet werden. Rhetorische Lektüren interessieren sich folglich nicht allein für die Gültigkeit argumentativer Strukturen, sondern, wie IJsseling formuliert, für „ihr wirkliches Funktionieren“. Das heißt, sie fragen danach, „was ein Text tatsächlich bewerkstelligt und welche Bedingungen sowohl seitens des Textes als auch seitens des Lesers erfüllt sein müssen und welche Regeln einzuhalten sind, damit diese Wirksamkeit wirklich zustande kommen kann“.23 Damit einher geht die Zurückweisung einer neutralen Subjektposition für die Leser*innen. Texte definieren und bestimmen Subjektpositionen, die von den Leser*innen eingenommen werden müssen, wenn der Text seine ‚Wahrheit‘ offenbaren und seine Wirkung entfalten soll. In letzter Konsequenz bedeutet dies nach IJsseling, dass bei der rhetorischen Lektüre „von der Frage der Wahrheit abgesehen wird“, womit sie „auf den unwiderruflichen Widerstand der Philosophen“ stößt,24 die ja der Rhetorik gerade vorwerfen, dass für sie nicht Wahrheit, sondern allein Wirkung zählt.

21 IJsseling: Philosophie und Textualität, S. 70. 22 Ebd., S. 58. 23 Ebd., S. 73f. 24 Ebd., S. 75.

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2.

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DOPPELTE LEKTÜRE ALS BEWEIS UND ÜBUNG

Während IJsselings Dreiteilung eher holzschnittartig ausfällt (insbesondere seine Darstellung der hermeneutischen Lektüre wird der Hermeneutik kaum gerecht25) und er eine genauere Ausarbeitung einer rhetorischen Lektüre weitgehend schuldig bleibt, liefert Foucault in seinem Text „Mein Körper, dies Papier, dies Feuer“ nicht nur einen paradigmatischen Fall für eine solche Lektüre, sondern geht zugleich in wesentlichen Punkten über IJsseling hinaus. In diesem Text, der als Entgegnung auf Derridas Kritik an Foucaults Wahnsinn und Gesellschaft verfasst ist, entwickelt Foucault im Zuge einer differenzierten Lektüre von Descartesʼ Meditationen das Modell einer „doppelten Lektüre“, das weitreichende Implikationen für das Verhältnis von Philosophie, Rhetorik und Argumentation hat.26 Der Streit zwischen Foucault und Derrida entzündet sich an der auf den ersten Blick marginalen Frage, welche Rolle dem Traum und dem Wahnsinn im methodischen Zweifel jeweils zukommt. Es zeigt sich jedoch schnell, dass diese Frage alles andere als nebensächlich ist. Was auf dem Spiel steht, ist vielmehr der Wahnsinn als Bedingung der (Un)Möglichkeit des Philosophierens und damit die Frage, was es ‚eigentlich‘ heißt zu lesen und zu argumentieren. In seinem ersten großen Werk Wahnsinn und Gesellschaft geht Foucault von der These aus, dass das klassische Zeitalter auf einer fundamentalen Aus- und Einschließung basiert: der Ausschließung des Wahnsinns und der Internierung der Wahnsinnigen. Ziel seines Unternehmens ist es daher, so Foucault in dem später gestrichenen Vorwort von 1961, „in der Geschichte jenen Punkt Null der Geschichte des Wahnsinns wiederzufinden […], an dem der Wahnsinn noch undifferenzierte Erfahrung, noch nicht durch eine Trennung gespaltene Erfahrung ist“.27 Foucault will jene historische Zäsur markieren, ab der Wahnsinn und

25 Vgl. Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 387ff. 26 Eine Vorversion von „Mein Körper, dies Papier, dies Feuer“ erschien unter dem Titel „Erwiderung auf Derrida“ in der japanischen Zeitschrift Paidea. Wenn man diese Vorversion mitzählt, umfasst die Foucault-Derrida-Debatte, von der man wohl sagen muss, dass sie niemals wirklich stattgefunden hat, insgesamt fünf Texte: Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft (1961), Derrida: Cogito und die Geschichte des Wahnsinns (1963), Foucault: Erwiderung auf Derrida (1972), Foucault: Mein Körper, dies Papier, dies Feuer (1972), Derrida: Gerecht sein gegenüber Freud (1992). 27 Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, S. 7. Das kurze Vorwort zu Wahnsinn und Gesellschaft ist eine der wenigen Stelle in dem mehrere Hundert Seiten umfassenden Werk, an der Foucault die theoretischen und methodologischen Schwierigkeiten, eine Geschichte des Wahnsinns zu schreiben, thematisiert.

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Vernunft keine „gemeinsame Sprache“28 mehr haben, ab der die Trennung von Wahnsinn und Vernunft endgültig vollzogen ist. Dabei ist sich Foucault der methodischen Schwierigkeit eines solchen Unternehmens durchaus bewusst. Er spricht sogar von einer „im doppelten Sinne unmöglichen Aufgabe“; denn jede „Wahrnehmung, die diese Worte im ungebändigten Zustand zu erfassen sucht, gehört notwendig zu einer Welt, die sie bereits in den Griff genommen hat“.29 Foucault sieht den einzigen Ausweg darin, in dem von ihm gesichteten historischen Material die „Worte und Texte für sich sprechen zu lassen“, um ein Sprechen „von unterhalb der Sprache“ hörbar zu machen, das „nicht dazu geschaffen war[], zu einer Rede zu werden“.30 Die Geschichte des Wahnsinns schreiben wird also heißen: eine Strukturuntersuchung der historischen Gesamtheit – Vorstellungen, Institutionen, juristische und polizeiliche Maßnahmen, wissenschaftliche Begriffe – zu leisten, die einen Wahnsinn gefangenhält, dessen ungebändigter Zustand in sich selbst nie wiederhergestellt werden kann. Da uns jene unzugängliche, ursprüngliche Reinheit fehlt, muß die Strukturuntersuchung zu jener Entscheidung zurückgreifen, die Vernunft und Wahnsinn gleichzeitig trennt und verbindet.31

Diese Entscheidung oder dieses Ereignis, diesen „eigenartigen Gewaltakt“, mit dem „das Zeitalter der Klassik den Wahnsinn […] zum Schweigen“ bringt,32 lokalisiert Foucault exemplarisch im Ausschluss des Wahnsinns als einer möglichen Etappe des methodischen Zweifels in den kartesischen Meditationen. In einer knappen, nur drei Seiten umfassenden Analyse der ersten Meditation, die Foucault dem zweiten Kapitel von Wahnsinn und Gesellschaft als Auftakt voranstellt, vertritt Foucault die These, dass es in „der Ökonomie des Zweifels […] ein fundamentales Ungleichgewicht [gibt] zwischen einerseits dem Wahnsinn und andererseits dem Traum und dem Irrtum“.33 Während der Traum dem zweifelnden Subjekt erlaubt, in seinem Zweifel fortzufahren, ist der Wahnsinn weder Werkzeug noch Etappe des Zweifels; vielmehr wird die Möglichkeit des Wahnsinns vom zweifelnden Subjekt radikal ausgeschlossen und verworfen. Der

28 Ebd., S. 8. 29 Ebd., S. 13. 30 Ebd., S. 15. 31 Ebd., S. 13. 32 Ebd., S. 69. 33 Ebd.

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Wahnsinn, so Foucault, ist „gerade die Bedingung der Unmöglichkeit des Denkens“. Man kann nicht, „sogar durch das Denken, annehmen, daß man irre ist“.34 In dem am 4. März 1963 am Collège philosophique gehaltenen Vortrag „Cogito und die Geschichte des Wahnsinns“, bei dem – auf persönliche Einladung von Derrida – auch Foucault anwesend war,35 unterzieht Derrida Foucaults Projekt einer ebenso harschen wie fundamentalen Kritik. Dabei widmet sich Derrida ausschließlich dem kurzen, nur wenige Seiten umfassenden Vorwort sowie Foucaults Descartes-Interpretation, von der Derrida behauptet, dass sich „der Sinn des ganzen Unternehmens Foucaults“ in dieser konzentriere.36 Derridas Kritik kulminiert in dem Vorwurf, dass Foucault selbst gerade jene „kartesische Geste [des Aus- und des Einschlusses] für das 20. Jahrhundert“ wiederhole, die er bei Descartes am Werk sieht. Zum einen verabsäume es Foucault, auf die historischen Bedingungen der Möglichkeit seines eigenen Sprechens zu reflektieren und die „bestimmte[n] philosophische[n] und methodologische[n] Voraussetzungen jener Geschichte des Wahnsinns zu hinterfragen“.37 So ist es nach Derrida kein Zufall, „wenn ein solches Vorhaben [wie das Foucaults] heute hat gebildet werden können“.38 Vielmehr muss man davon ausgehen, „daß eine bestimmte Befreiung des Wahnsinns [bereits] begonnen hat, […] daß der Begriff des Wahnsinns als Unvernunft, wenn er jemals eine Einheit gehabt hat, sich disloziert hat“.39 Zum anderen bekräftige Foucaults Versuch, „die Geschichte der Entscheidung, der Trennung, des Unterschieds [zu] schreiben“, letztlich nur „die Metaphysik in ihrem fundamentalen Tun“, indem er „der Teilung als Ereignis

34 Ebd., S. 69. Die deutsche Übers. ist hier fehlerhaft; es fehlt ein „nicht“. 35 Vgl. Defert et al.: Zeittafel, S. 34f. 36 Derrida: Cogito und die Geschichte des Wahnsinns, S. 54. Zugleich inszeniert sich Derrida – mit Verweis auf das ehemalige Lehrer-Schüler-Verhältnis zwischen Foucault und ihm – als das zum Schweigen verurteilte infans, „das per definitionem (wie sein Name bereits sagt) nicht sprechen kann und vor allem nicht antworten darf“ (ebd., S. 53). 37 Ebd., S. 56. Bunz weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Foucault „die Historizität seiner eigenen Methode“ verdecke (Bunz: Wann findet das Ereignis statt?, S. 10). 38 Derrida: Cogito und die Geschichte des Wahnsinns, S. 63, meine Herv. Ein ähnliches Argument führt Žižek in seinem Schlagabtausch mit Laclau und Butler gegen Laclaus Hegemonietheorie und Butlers Theorie parodistischer Subversionen ins Feld (vgl. Žižek: Klassenkampf oder Postmodernismus?, S. 138). 39 Derrida: Cogito und die Geschichte des Wahnsinns, S. 63f., Übers. mod.

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oder als Struktur“ die „Einheit einer ursprünglichen Präsenz“ gegenüberstellt,40 in der Wahnsinn und Vernunft noch nicht getrennt sind und noch über eine gemeinsame Sprache verfügen.41 Dagegen weist Derrida die Vorstellung einer solchen Trennung oder eines solchen Ereignisses zurück. Weder schließt Descartes den Wahnsinn dezidiert aus noch exemplifizieren die Meditationen eine „determinierte historische Struktur“; vielmehr muss jeder philosophische Diskurs, „wenn er einen erkennbaren Sinn haben soll“, der Möglichkeit des Wahnsinns entgehen.42 Dazu „muß jeder Philosoph und jedes sprechende Subjekt (und der Philosoph ist lediglich das sprechende Subjekt par excellence) den Wahnsinn innerhalb des Denkens evozieren“, und er kann dies nur „in der Dimension der Möglichkeit und in der Sprache der Fiktion oder in der Fiktion der Sprache tun. Dadurch sichert er sich in seiner Sprache gegen den tatsächlichen Wahnsinn ab […], um weiterhin sprechen und leben zu können.“43 Von einem prinzipiellen Ausschluss des Wahnsinns bei Descartes im Sinne einer Denkunmöglichkeit kann daher nach Derrida nicht die Rede sein. Erst mehr als neun Jahre später, im Jahr 1972, reagiert Foucault mit dem Text „Mein Körper, dies Papier, dies Feuer“, der als Appendix zur zweiten französischen Auflage von Wahnsinn und Gesellschaft44 erscheint, auf Derridas Einwände.45 Dabei ist auffällig, dass das Problem der Historizität, das im Zentrum von Derridas Kritik stand, von Foucault gänzlich ausgeblendet wird.46

40 Ebd., S. 67. 41 Darüber hinaus scheint Foucault, den Wahnsinn zu hypostasieren, wenn er vorgibt, vom „Wahnsinn selbst“ zu sprechen (ebd., S. 71). 42 Ebd., S. 86. 43 Ebd., S. 88. 44 Die zweite französische Auflage trägt nur noch den Untertitel Histoire de la folie à lʼâge classique. Der Haupttitel Folie et déraison sowie das Vorwort der ersten Ausgabe, auf das sich Derrida bezieht, werden von Foucault gestrichen. 45 Über den genauen ‚Ursprung‘ des Streits und den Grund für Foucaults langes Schweigen gibt es naturgemäß unterschiedliche Auffassungen. Bunz weist darauf hin, dass es noch 1966 ein Treffen zwischen Foucault und Derrida gegeben habe (vgl. Defert et al.: Zeittafel, S. 41). Derrida lokalisiert den Bruch durchaus ‚selbstgerecht‘ erst in der Veröffentlichung von „Mein Körper, dies Papier, dies Feuer“ (vgl. Derrida: Gerecht sein gegenüber Freud, S. 59f.). 46 In der Tat wird das Wort „Geschichte“ in Foucaults Entgegnung auf Derrida keine einziges Mal genannt. Foucault lässt, wie es Rüdiger Campe in seinem Nachwort zur ersten deutschen Übersetzung formuliert, „in seiner Antwort die Historie implodieren.

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Stattdessen konzentriert sich Foucault ausschließlich auf jene drei Seiten von „Cogito und die Geschichte des Wahnsinns“, auf denen Derrida Foucaults Descartes-Interpretation resümiert, und bedient sich damit derselben rhetorischen Geste, mit der Derrida zuvor behauptet hatte, dass sich Foucaults gesamtes Unternehmen in Wahnsinn und Gesellschaft auf seine Descartes-Lektüre reduzieren lasse. Tatsächlich ist „Mein Körper, dies Papier, dies Feuer“ ein eher untypischer Foucault-Text. Während Foucault in seinen publizierten Arbeiten (wenn man von seinen am Collège de France gehaltenen Vorlesungen absieht) dazu tendiert, historische Metaerzählungen zu entwickeln, liefert er in „Mein Körper, dies Papier, dies Feuer“ geradezu das Paradebeispiel eines close reading, einer textnahen Lektüre weniger, als zentral erachteter Passagen.47 Dabei versucht Foucault akribisch aufzuzeigen, was es heißt, einen Text genau zu lesen – und zwar sowohl als Text als auch als diskursive Praxis. Ziel von Foucaults Lektüre ist es, wenn man so will, Derrida mit seinen eigenen ‚dekonstruktiven‘ Waffen zu schlagen. Selbst die Art und Weise, in der Foucault Derridas Text zitiert, scheint jene Zitationsstrategien zu antizipieren, derer sich Derrida fünf Jahre später in seinem Schlagabtausch mit John Searle bedient.48 Für diese gleichsam mimetische Aneignung der Dekonstruktion durch Foucault spricht auch seine Vorgehensweise: Einerseits problematisiert er einen auf den ersten Blick nebensächlichen Aspekt in Descartes’ Meditationen, nämlich Wahnsinn und Traum als zwei Beispiele auf dem Weg zum hyperbolischen Zweifel. Anderseits versucht er zu zeigen, dass sich gerade in dem Marginalen das zentrale Moment des Textes verbirgt, das als konstitutives Außen sowohl für das Denken Descartes’ als auch für die abendländische Philosophie kennzeichnend ist:

‚Mein Körper, dies Papier, dies Feuer‘ ‚spricht das Wort Geschichte nicht einmal aus und [geht] damit an Derridas methodischer Kritik wie vorbei“ (Campe: Nachbemerkung des Übersetzers, S. 43.1). Dazu passt auch, dass Foucault in der zweiten Auflage von Wahnsinn und Gesellschaft das Vorwort, auf das sich Derrida wesentlich bezog, streicht und damit auch noch die wenigen Passagen, in denen er die theoretischmethodologischen Schwierigkeiten einer „Geschichte des Wahnsinns“ thematisiert. 47 Es handelt sich um die Absätze 3-6 der ersten Meditation sowie um die Seiten 81-83 aus Derridas „Cogito und die Geschichte des Wahnsinns“. 48 Vgl. Derrida: Limited Inc. Gleich zu Beginn von „Mein Körper, dies Papier, dies Feuer“ zitiert Foucault in voller Länge die drei Seiten, auf denen Derrida sein Descartes-Lektüre zusammenfasst. Auszüge aus dieser Passage werden dann wiederum jedem neuen Abschnitt vorangestellt.

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Was in dieser Debatte auf dem Spiel steht, ist deutlich gesagt: vermag etwas dem philosophischen Diskurs vorauszugehen oder ihm äußerlich zu bleiben? Kann er seine Bedingungen in einer Ausschließung oder Weigerung, im Umgehen eines Risikos, ja – warum nicht? – einer Angst haben? Ein Verdacht, den Derrida leidenschaftlich zurückweist.49

Anders gesagt: Es geht um den Wahnsinn als Grenze und als Bedingung der Möglichkeit oder Unmöglichkeit sinnvollen Sprechens. In den Fokus rückt damit die Basis des philosophischen Argumentierens als das Geben und Nehmen von Gründen zwischen rationalen, zurechnungsfähigen und rechtlich legitimierten Subjekten. Während Derrida der Auffassung ist, dass „jedes sprechende Subjekt […] den Wahnsinn innerhalb des Denkens evozieren [muß] […], um weiterhin sprechen und leben zu können“,50 geht Foucault davon aus, dass der Wahnsinn bereits als bloße Denkmöglichkeit aus der ersten Meditation ausgeschlossen wird. Dagegen macht Derrida geltend, dass die Annahme, wahnsinnig zu sein, „kein gutes, kein enthüllendes Beispiel“ sei, „kein gutes Instrument des Zweifels“, und zwar aus mindestens zwei Gründen: Einerseits greift das Beispiel zu kurz; es ist – argumentationslogisch betrachtet – nicht schlüssig, denn „[e]s deckt nicht die Gesamtheit des Feldes der Sinneswahrnehmung ab“.51 Wahnsinnig ist man immer nur in bestimmter Hinsicht, niemals vollständig und umfassend (denn auch der Wahnsinnige hat seine ‚lichten Momente‘). Andererseits ist das Beispiel weder überzeugend noch relevant, d.h., es ist rhetorisch-kommunikativ betrachtet unwirksam: „Es ist ein in der pädagogischen Ordnung wirkungsloses und unglückliches Beispiel, denn es stößt auf den Widerstand des Nicht-

49 Foucault: Mein Körper, dies Papier, dies Feuer, S. 31.3. Damit wendet Foucault den zuvor von Derrida gegen ihn erhobenen Vorwurf, er wiederhole die kartesische Geste des Ausschlusses und führe die Metaphysik der Präsenz fort, nun gegen diesen selbst. Dies hat die absurde Konsequenz, dass „[b]eide Philosophen, die sich selbst stolz abseits der konventionellen Philosophie verorten, […] den jeweils anderen angriffslustig nicht am subversiven Rand, sondern als treuen Fortsetzer der eingespielten Tradition [sehen]“ (Bunz: Wann findet das Ereignis statt?, S. 10). Lässt man die gegenseitigen Vorwürfe beiseite, dann erweist sich die Debatte zwischen Derrida und Foucault jedoch als produktiver, als sie auf den ersten Blick erscheint – und das, obwohl oder gerade weil Foucault die methodische Kritik Derridas weitgehend ignoriert. Man könnte vielleicht sogar so weit gehen zu behaupten, dass erst die Ausblendung der methodologischen Problematik es Foucault erlaubt, die Frage der Historizität über den Umweg der doppelten Lektüre in den Blick zu bekommen. 50 Derrida: Cogito und die Geschichte des Wahnsinns, S. 88. 51 Ebd., S. 82.

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Philosophen, dem die Kühnheit fehlt, dem Philosophen zu folgen, als dieser zugibt, er könne wohl wahnsinnig sein, während er spricht.“52 Kurz gesagt, der Wahnsinn ist ein bloßes Beispiel (und zudem kein gutes und überzeugendes) und keinesfalls Thema der Meditationen: Es geht nach Derrida in Descartes’ Text überhaupt nicht um den Wahnsinn, „und wäre es, um ihn auszuschließen“;53 vielmehr erweist sich der Traum schlicht als das allgemeinere und überzeugendere Beispiel. Damit lässt sich die Auseinandersetzung zwischen Derrida und Foucault um die richtige Descartes-Interpretation aus argumentationstheoretischer Perspektive auf mindestens drei Ebenen lesen: 1. als argumentationslogische Diskussion über den Status und Wert des Wahnsinns als Beispiel in Descartesʼ Zweifelargument, 2. als meta-argumentative Diskussion über den logischen, epistemologischen und pragmatischen Wert von Beispielen in philosophischen Argumentationen,54 sowie 3. als meta-philosophische Argumentation über den Ausschluss des Wahnsinns als konstitutives Moment für die abendländische Philosophie. Anders gesagt: Während Derrida argumentiert, dass der Wahnsinn lediglich zugunsten des Traums vernachlässigt wird, hält Foucault daran fest, dass das Beispiel des Wahnsinns überhaupt nur genannt wird, um den Wahnsinn auszuschließen: Der Wahnsinn „tritt gerade nicht in der Funktion eines Zweifelarguments auf, wie sie ihm die Tradition des Skeptizismus zugedacht hatte“.55

52 Ebd., S. 83. 53 Ebd. 54 Mit ins Spiel kommt hier die Frage der Beispielhaftigkeit oder Exemplarität, d.h. die Frage, ob ein Beispiel tatsächlich einfach nur als ein Beispiel fungiert oder ob es für das konstitutiv ist, was es lediglich zu illustrieren scheint (vgl. ebd., S. 70). 55 Foucault: Mein Körper, dies Papier, dies Feuer, S. 31.1. Damit lässt das Beispiel des Wahnsinns mindestens drei Analysen zu: 1. Der Wahnsinn wird zugunsten eines besseren Beispiels vernachlässigt, nämlich zugunsten des Traums. – Dies ist anscheinend die Position Derridas. 2. Der Wahnsinn wird vorläufig ausgeschlossen, um ihn dann in einer allgemeineren und tieferen Erfahrung wieder aufzunehmen. – Diese Variante erinnert an die Auseinandersetzung zwischen Derrida und Searle über die Frage, ob es sich bei Austins Ausschluss der unernsten oder parasitären performativen Äußerungen aus seiner Sprechakttheorie um eine rein heuristische, vorläufige Entscheidung handelt, die in einer allgemeineren Theorie wieder aufgenommen wird (Searle), oder um einen Ausschluss, der für die Theorie selbst konstitutiv ist (Derrida) (vgl. Derrida: Limited Inc.). 3. Der Wahnsinn wird vollständig ausgeschlossen: Er wird überhaupt nur genannt, um ihn auszuschließen. – Dies ist Foucaults Position.

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In der Tat scheinen für die Bevorzugung des Traums gegenüber dem Wahnsinn gleich zwei Vorzüge zu sprechen: 1. Der Traum erlaubt einen allgemeineren, grundsätzlicheren Zweifel als der Wahnsinn. Dieser „Vorzug liegt auf der Ebene von Logik und Beweis: Alles, was der Wahnsinn [...] zum Gegenstand meines Zweifels machen könnte, das stellt mir auch der Traum als ungewiß dar.“56 2. Der Traum tritt im Unterschied zum Wahnsinn häufiger und gewohnheitsmäßig auf. Dies ist nach Foucault „ein praktischer Vorzug – wenn es nicht mehr darum geht, etwas zu beweisen, sondern eine Übung zu machen, eine Erinnerung, einen Gedanken, einen Zustand in der Bewegung der Meditation selbst herbeizurufen.“57 Damit verfügt der Traum, wie es scheint, über einen doppelten Vorteil: Einerseits vermag er als ein allgemeines Beispiel in der Beweisführung zu fungieren; andererseits erweist er sich als zugänglich, wenn es darum geht, eine Übung (exercice) oder Probe (épreuve) zu machen: „Das Ungereimte des Traums gibt ihm seine Eignung als Beispiel im Beweis: daß er häufig ist, gewährleistet seine Zugänglichkeit in der Übung.“58 Als eine solche prinzipiell immer „mögliche, unmittelbar zugängliche Erfahrung“ ereignet sich die Erfahrung des Traums, so Foucault, „wirklich und aktual [actuellement] in der Meditation“,59 „wobei das Subjekt die[] Unterscheidung [zwischen Wachen und Träumen] nicht nur konstatiert, sondern in der Bewegung der Meditation selbst vollzieht“.60 Anders gesagt: Die Entscheidung, die Probe des Traums zu machen, „hat nicht nur zur Folge, daß Schlafen und Wachen Thema der Reflexion werden“; vielmehr lässt sie „im Subjekt der Meditation Wirkung zeitigen“.61 Der entscheidende Unterschied zum Wahnsinn ist, dass der Traum das meditierende Subjekt als rational denkendes und rechtlich zurechnungsfähiges Wesen nicht disqualifiziert: „[S]ogar in ein fiktiv träumendes Subjekt verwandelt, kann das meditierende Subjekt seinen Weg des Zweifels unangefochten fortsetzen“.62 Dagegen macht die Hypothese des Wahnsinns jede weitere Durchführung des methodischen Zweifels unmöglich. Wie das infans, auf das sich Derrida bezieht, verfügt der Wahnsinnige nicht über seine vollen Rechte, „wenn es darum geht, zu sprechen, zu versprechen, Verbindlichkeiten einzugehen, zu

56 Foucault: Mein Körper, dies Papier, dies Feuer, S. 32.1. 57 Ebd., S. 32.2. 58 Ebd. 59 Ebd., S. 33.2. 60 Ebd., S. 32.3, meine Herv. 61 Ebd., S. 33.1. 62 Ebd., S. 33.2.

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unterzeichnen, den Vollzug einer Handlung einzuleiten usw.“63 Dabei ist entscheidend, dass der Wahnsinn nicht als ein Thema, nicht als ein Gegenstand des Nachdenkens und der Erkenntnis ausgeschlossen wird: Vielmehr wird er vom zweifelnden Subjekt selbst verworfen: „[D]as Subjekt, das zweifelt, schließt den Wahnsinn aus, um den Rechtstitel eines zweifelnden Subjekts zu wahren.“64 Kurz, zwischen der Hypothese des Wahnsinns und der des Traums besteht ein grundlegender Unterschied, eine unüberwindbare Kluft. Um seine These zu untermauern, unterzieht Foucault die erste Meditation einer akribischen Lektüre und entwickelt ein „System von Differenzen“, das alle Textebenen umfasst – Differenzen, die laut Foucault von Derrida übersehen oder vernachlässigt werden. Dabei handelt es sich 1. um (semantische) Differenzen im einfachen Wortlaut bzw. auf der Ebene des Vokabulars,65 2. um thematische Differenzen auf der Ebene der (metaphorischen) Bilder,66 3. um textuelle Differenzen „in der Anordnung und Gegenüberstellung der Absätze“,67 sowie 4. um diskursive Differenzen auf der Ebene der Ereignisse. Diese Ereignisse umfassen die Handlungen, die das meditierende Subjekt vollzieht, ebenso wie die Wirkungen, die im Subjekt hervorgebracht werden, sowie die rechtlichen und moralischen Qualifizierungen, die das meditierende Subjekt erfährt. [D]iese letzte Menge von Unterschieden regiert alle andern. Sie bezieht sich weniger auf die Anordnung der Signifikanten im Text, als auf die Reihe der Ereignisse (der Handlungen [actes], Wirkungen, Qualifizierungen), die die diskursive Praktik der Meditation mit

63 Ebd., S. 35.1. Mit Verweis auf die ursprüngliche lateinische Fassung der Meditationen unterstreicht Foucault, dass „[i]nsanus […] ein charakterisierender Terminus [ist]; amens und demens sind qualifizierende [disqualifiants] Termini. Beim ersten geht es um Zeichen [signes]; bei den beiden andern um Verfügungsgewalt [capacité].“ (ebd., S. 35.1, frz. 253f.) 64 Ebd., S. 35.3. 65 Im Fall des Wahnsinns verwendet Descartes das Vokabular des Vergleichs; im Fall des Traums das Vokabular des Gedächtnisses (ebd., S. 33.3). 66 „Der Wahnsinn ist das völlig Andere, er verändert die Gestalt und den Ort“, z.B. sich für einen König halten, einen Kopf aus Glas haben usw.; dagegen ist der Traum „an die wirkliche Wahrnehmung angeknüpft“, z.B. am Feuer sitzen, mit der Hand das Papier berühren usw. (ebd., S. 33.3). 67 Für den Traum ergibt die Probe der meditativen Übung, dass das Unterscheidungsmerkmal (Klarheit und Deutlichkeit) sowohl zum Traum als auch zum Wachen gehört. Dagegen wird der Unterschied beim Wahnsinn keiner Probe unterzogen: „er wird einfach festgestellt“ (ebd., S. 34.1).

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sich bringt. Es geht um die Veränderungen, die das Subjekt durch die Übung des Diskurses selbst erfährt. Und wenn ein so bemerkenswert ausdauernder Leser wie Derrida so viele Differenzen auf der Ebene der Wörter, der Themen oder des Textes verfehlt hat, dann liegt das meinem Eindruck nach wohl daran, daß er die Unterschiede verkannte, die ihr Prinzip bilden, nämlich die ‚diskursiven Differenzen‘.68

Foucaults Kritik an Derrida gipfelt schließlich in dem Vorwurf, dieser betreibe eine „‚Textualisierung‘ diskursiver Praktiken“ bzw. eine „Reduktion diskursiver Praktiken auf Text-Spuren“.69 In der Folge versucht Foucault, Derrida nicht nur als einen schlechten und ungenauen Leser zu entlarven; er sieht in ihm darüber hinaus den herausragenden Vertreter eines Systems, das darauf abzielt, die Materialität und Ereignishaftigkeit diskursiver Praktiken zu eliminieren, sowie den Repräsentanten einer Pädagogik, die den Schüler lehrt: „[E]s gibt nichts außerhalb des Textes“.70 Daraus darf allerdings nicht geschlossen werden, dass Foucault den Begriff des Textes selbst verwerfen würde. Im Gegenteil, einen Text – wie die Meditationen – als Text zu lesen, bedeutet vielmehr, diesen rigoros auf allen seinen Ebenen zu analysieren, wobei eine solche Analyse nicht zuletzt den diskursiven Differenzen Rechnung tragen muss, die die anderen Differenzen organisieren und die den Text als Reihe von diskursiven Praktiken und Ereignissen lesbar machen, die das Subjekt modifizieren.71 Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer „doppelten Lektüre“ der Meditationen als Beweis und Übung: Als Beweis sind die Meditationen „eine Menge von Aussagen, die ein System bilden und die jeder Leser, wenn er ihre

68 Ebd., S. 36.2. 69 Ebd., S. 41.1. 70 Ebd. Vgl. Derrida: Grammatologie, S. 274. In seiner Auseinandersetzung mit Searle, die gewisse Parallelen zu der Debatte mit Foucault aufweist, unterstreicht Derrida, dass die Formulierung „es gibt kein außerhalb des Textes“ nichts anderes heißt als: „Es gibt kein außerhalb des Kontextes [il nʼy a pas de hors context]“ (Derrida: Limited Inc., S. 211): „Ich wollte daran erinnern, daß der von mir vorgeschlagene Begriff des Textes weder auf die Graphie, noch auf das Buch, noch auf den Diskurs und noch weniger auf den semantischen, repräsentativen, symbolischen, ideellen oder ideologischen Bereich beschränkt ist. Was ich ‚Text‘ nenne, beinhaltet alle sogenannten ‚realen‘, ‚ökonomischen‘, ‚historischen‘, gesellschaftlich-institutionellen Strukturen, kurz alle möglichen Referenten.“ (ebd., S. 228) 71 Den Ereignischarakter der Rede bei Foucault unterstreicht auch Waldenfels: Wahrsprechen und Antworten, 64. Vgl. Foucault: Gespräch mit Ducio Trombadori, S. 95: „Etwas sagen ist ein Ereignis.“

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Wahrheit erfahren will, durchlaufen muß“; als Übung bilden die Meditationen „eine Menge von Modifikationen, […] die jeder Leser praktisch vollziehen muß, von denen jeder Leser sich betreffen lassen muß, wenn er seinerseits Subjekt der Äußerung sein und damit die Wahrheit in seinem eigenen Namen sagen können will“.72 Kurz gesagt: Der Beweis ist erforderlich, um die Wahrheit zu erfahren; die Übung, um die Wahrheit im eigenen Namen sagen zu können. Damit ändert sich grundlegend das Verhältnis des Subjekts zu der von ihm geäußerten Wahrheit. Versteht man die Meditationen als eine reine Beweisführung, so setzt man ein Subjekt voraus, das von der logischen Beweisführung selbst nicht berührt und betroffen wird: „[E]s bleibt im Verhältnis zur logischen Ordnung beständig, unveränderlich und gleichsam neutralisiert.“73 Versteht man die Meditationen dagegen als eine praktische Übung, Selbsttechnik und Selbstprüfung, so impliziert dies „ein Subjekt, das sich aufgrund von Wirkungen diskursiver Ereignisse bewegt und verändert“.74 Darauf verweist nach Foucault bereits der Titel „Meditationen“: Was unterstellt, dass das sprechende Subjekt sich unaufhörlich verschiebt, verwandelt, seine Überzeugungen wechselt, in seinen Gewissheiten vorankommt, Risiken auf sich nimmt und Versuche unternimmt. Im Unterschied zum deduktiven Diskurs, bei dem das sprechende Subjekt fest und unverändert bleibt, setzt der Text einer Meditation ein bewegliches und sich selbst den Hypothesen, die es im Visier hat, aussetzendes Subjekt voraus.75

In diesem Sinne ist Descartes’ Folgerung, „dass es kein sicheres Anzeichen gibt, wodurch man das Wachsein vom Schlaf eindeutig unterscheiden könnte“, laut

72 Foucault: Mein Körper, dies Papier, dies Feuer, S. 36.3. In den 1980er Jahren – im Zuge seiner Untersuchung der antiken Selbstpraktiken – spricht Foucault auch von „‚praktische[n]‘ Texte[n], die selbst Objekt von ‚Praktik‘ sind, sofern sie geschrieben wurden, um gelesen, gelernt, durchdacht, verwendet, erprobt zu werden, und sofern sie letzten Endes das Rüstzeug des täglichen Verhaltens bilden sollten. Diese Texte waren als Operatoren gedacht, die es den Individuen erlauben sollten, […] sich selber als ethisches Subjekt zu gestalten“ (Foucault: Sexualität und Wahrheit II, S. 20f.; vgl. auch Balke: Selbstsorge/Selbsttechnologie, S. 289). Auch Descartesʼ Meditationen lassen sich nach Foucault noch in diesem Sinne lesen: „nicht als Spiel des Subjekt mit seinem Denken, sondern als Spiel des Denkens am Subjekt“ (Foucault: Hermeneutik des Subjekts, S. 436f.). 73 Foucault: Mein Körper, dies Papier, dies Feuer, S. 36.2. 74 Ebd., S. 36.3. 75 Foucault: Erwiderung auf Derrida, S. 353.

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Foucault „nicht nur eine logische Folgerung, sie schreibt sich wirklich und zwar an genau dieser Stelle der Meditation ein; sie hat ihre unmittelbare Wirkung auf das Subjekt selbst, das gerade dabei ist zu meditieren“.76 Entscheidend ist, dass sich die beiden Diskursarten Beweis und Übung keineswegs ausschließen; vielmehr überkreuzen sie sich in „einer Art von ‚Chiasmus‘“, ohne jeweils zur Deckung zu kommen, sodass beispielsweise die Übung, die das Subjekt verändert, „die Abfolge der Sätze regelt oder die Anschlußstellen zwischen verschiedenen Beweisgruppen beherrscht“.77

3.

HISTORIZITÄT UND RHETORIZITÄT DER PHILOSOPHIE

Mit der Betonung der Überlappung von Demonstration und Übung, der „Überkreuzung von beweisendem und asketischem Gewebe“78 geht Foucaults doppelte Lektüre entscheidend über IJsselings rhetorische Lektüre hinaus. Denn weder suspendiert die doppelte Lektüre den philosophischen Wahrheitsanspruch noch postuliert sie einen einfachen Vorrang von Praxis und Übung gegenüber Argumentation und Beweis. Darüber hinaus hat eine solche Lektüre nicht nur Konsequenzen für Descartes’ Meditationen, sondern letztlich für jeden (philosophischen) Text – einschließlich Foucaults eigenen. Vier Aspekte sind hier besonders erwähnenswert: Texte besitzen, erstens, nicht nur eine spezifische Operativität und Wirksamkeit, sie implizieren immer auch ein lesendes und schreibendes Subjekt, dem sie bestimmte Subjektpositionen zuweisen oder verweigern. Damit geht, zweitens, die Problematisierung des Subjekts als einer autonomen, mit sich selbst identischen Instanz einher, die durch den Prozess des Schreibens und des Lesens selbst nicht betroffen wird. Stattdessen haben wir es mit einem Subjekt zu tun, das durch die diskursiven Praktiken, die es vollzieht, sowohl konstituiert

76 Ebd., S. 356. 77 Foucault: Mein Körper, dies Papier, dies Feuer, S. 37.1. Auch Butler spricht in ihrer Lektüre von Descartesʼ Meditationen von einer chiastischen Verschränkung, allerdings nicht von Übung und Beweis, sondern von Körper und Sprache (vgl. Butler: How Can I Deny). 78 Foucault: Mein Körper, dies Papier, dies Feuer, S. 37.1. Foucault versteht Askese (griech. askein: „üben“) „nicht im Sinne einer Moral des Verzichts“, sondern im allgemeinen Sinne „einer Einwirkung des Subjekts auf sich selbst, durch die man versucht, sich selbst zu transformieren und zu einer bestimmten Seinsweise Zugang zu gewinnen“ (Foucault: Die Ethik und die Sorge um sich als Praxis der Freiheit, S. 876).

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und transformiert als auch als rechtliches, politisches und moralisches Subjekt qualifiziert wird. Das gilt aber, drittens, nicht nur für Descartes’ Meditationen, sondern letztlich für jeden (philosophischen) Text – von Nietzsches Also sprach Zarathustra über Wittgensteins Tractatus bis hin zu mathematischen Beweisen. Man denke hier nur daran, welch jahrelanger Übung und Praxis es bedarf, um einen mathematischen Beweis nachvollziehen zu können. Der Beweis als klassisches Paradigma zur Produktion von Wissen und Wahrheit muss entsprechend durch das Paradigma der Übung erweitert und korrigiert werden. Das hat, viertens, zur Folge, dass eine strikte Trennung zwischen einem rein demonstrativen, beweisführenden Diskurs einerseits und einem asketischen, übenden Diskurs andererseits nicht länger möglich ist, auch wenn es immer wieder „Augenblicke reiner Ableitungen“79 zu geben scheint; vielmehr sind in jedem Text immer sowohl demonstrative als auch asketische Momente relevant, wenngleich in unterschiedlicher Gewichtung. Diese Überlegungen gelten a fortiori auch für Foucaults „Mein Körper, dies Papier, dies Feuer“. Der Text ist ein demonstrativer Diskurs, insofern Foucault argumentative Fehler und Inkohärenzen in Derridas Descartes-Lektüre nachzuweisen versucht; er ist ein asketischer Diskurs, insofern sich das Subjekt in ein komplexes Gewebe von Texten unterschiedlicher Autoren (Descartes, Foucault, Derrida) sowie in eine Kette von Ereignissen (Handlungen, Wirkungen, Qualifizierungen) eingebunden findet, die es vollziehen und von denen es sich betreffen lassen muss, wenn es die Wahrheit in seinem eigenen Namen sagen können will. In den Fokus rückt damit zugleich die Temporalität, die durch den Text eröffnet wird. Denn während das Subjekt, das den Beweis durchläuft, scheinbar mit sich selbst identisch bleibt, impliziert die Übung eine spezifische Temporalität, insofern sie das Subjekt verändert und transformiert. Damit kommt auf der (praktischen) Ebene der Übung die Frage der Historizität wieder mit ins Spiel, die in Foucaults „Mein Körper, dies Papier, dies Feuer“ – auf der (theoretischmethodologischen) Ebene des Beweises auf den ersten Blick ausgeklammert blieb. In der Tat nimmt Foucault den Übungscharakter auch für seine eigene Arbeits- und Schreibweise in Anspruch. So bezeichnet Foucault zwölf Jahre später – in seiner Einleitung zum zweiten Band der Geschichte der Sexualität Der Gebrauch der Lüste,erschienen 1984, nur wenige Wochen vor seinem Tod – seine früheren Untersuchungen explizit als das Protokoll einer Übung, die langwierig und tastend war und die oft von neuem anfangen und sich berichtigen muss. Es war eine philosophische Übung: es ging darum zu wissen,

79 Ebd., S. 37.1.

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in welchem Maße die Arbeit, seine eigene Geschichte zu denken, das Denken von dem lösen kann, was es im Stillen denkt, und inwieweit sie es ihm ermöglichen kann, anders zu denken.80

Damit liefert Foucault zugleich eine implizite Antwort auf die von ihm selbst in Wahnsinn und Gesellschaft aufgeworfene und von Derrida radikalisierte methodologische Frage, in welcher Sprache und aus welcher Perspektive eine Geschichte des Wahnsinns schreiben ließe, die nicht die Sprache der Psychiatrie wäre, d.h. „ein Monolog der Vernunft über den Wahnsinn“, sondern „die Archäologie dieses Schweigens“81. Es zeigt sich nun, dass sich diese Frage nicht in einem rein demonstrativen Diskurs beantworten lässt, sondern vielmehr die philosophische Übung eines Subjekts erfordert, das seine eigene Geschichte und Gegenwart zu denken vermag. Dies wird besonders deutlich in Foucaults späteren Analysen zu Kants Beantwortung der Frage „Was ist Aufklärung?“. Wenn Kant im Jahre 1784 die Frage aufwirft „Was ist Aufklärung?“, dann meint er damit, so Foucault: „Was geschieht da gegenwärtig? Was geschieht mit uns? Was ist das für eine Welt und eine Zeit, in der wir leben?“82 Damit markiert Kant zugleich eine entscheidende Differenz gegenüber Descartes. Während die kartesische Frage „Wer bin ich? Wer bin ich als dieses einzigartige, aber universelle und nichtgeschichtliche Subjekt?“ ein Ich impliziert, das „jedermann [ist], ganz gleich wo und wann er lebt“, fragt Kant: „Wer sind wir in diesem ganz bestimmten geschichtlichen Augenblick?“ und verweist damit auf „uns und unsere aktuelle Situation“.83 Damit ist nicht gesagt, dass die Frage nach der Gegenwart bei Descartes keine Rolle spielen würde – tatsächlich sieht Foucault in den Meditationen ein ganzes „Aktual(itäts)system [système dʼactualité]“84 am Werk –, aber erst „in Kants Text [erscheint] die Frage nach der Gegenwart als philosophischem Ereignis […], dem der Philosoph, der darüber spricht, zugehört“85. Wenn Foucault daher im Anschluss an Kant die Frage aufwirft: „Was geschieht heute? Was geschieht jetzt? Was ist dieses ‚Jetzt‘, in dem wir uns befinden und das der Ort, der Punkt ist, von dem aus ich schreibe?“,86 so nimmt er damit gleichsam Derridas „Frage

80 Foucault: Sexualität und Wahrheit II, S. 16; meine Herv. 81 Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, S. 8. 82 Foucault: Subjekt und Macht, S. 280. 83 Ebd. 84 Foucault: Mein Körper, dies Papier, dies Feuer, S. 37.3. 85 Foucault: Die Regierung des Selbst, S. 28. 86 Ebd., S. 27.

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des Heute“ vorweg, von der dieser in seiner posthumen Erwiderung auf Foucault sagt, dass sie ihm „heute wie gestern, ich meine im März 1963, […] wichtig ist“87. Eine doppelte Lektüre durchzuführen bedeutet folglich immer auch die Frage nach dem Heute, nach der Gegenwart und ihrer Aktualität zu stellen. Dazu ist es unumgänglich, neben den semantischen, thematischen und strukturellen Differenzen, „die wesentliche diskursive Bestimmung“ des Textes, das „zweifache Gewebe aus Übung und Beweis“, zu analysieren.88 Eine solche Lektüre trifft nicht nur auf den „Widerstand des Nicht-Philosophen“89, sondern auch auf den „Widerstand der Philosophen“90, die gegenüber der Textualität, Historizität und Rhetorizität der Philosophie blind bleiben. In einer Art Antizipation von Ijsselings These, dass das „Philosophieren […] der anhaltende Versuch [ist], der Rhetorik zu entkommen, ohne […] je darin völlig siegreich sein zu können“91, plädiert Foucault nur ein Jahr nach der Veröffentlichung von „Mein Körper, dies Papier, dies Feuer“ für eine Rhetorisierung der Philosophie: Es geht darum, die Rhetorik, den Redner, den Redestreit wieder in das Feld der Analyse einzubringen; nicht um die rhetorischen Verfahren systematisch zu analysieren, wie es die Linguisten tun, sondern um den Diskurs und selbst den um Wahrheit geführten Diskurs als Ensemble rhetorischer Verfahren zu untersuchen, bei denen es darum geht, zu gewinnen, Ereignisse, Entscheidungen, Kämpfe, Siege zu produzieren. Es geht also darum die Philosophie zu ‚rhetorisieren‘.92

Eine solche Rhetorisierung der Philosophie, die Foucault hier überraschenderweise einfordert,93 versteht das Philosophieren nicht nur als eine Serie von Akten,

87 Derrida: Gerecht sein gegenüber Freud, S. 63. 88 Foucault: Mein Körper, dies Papier, dies Feuer, S. 39.2. 89 Derrida: Cogito und die Geschichte des Wahnsinns, S. 83. 90 IJsseling: Philosophie und Textualität, S. 76. 91 Ebd., S. 76. Zu dem ambivalenten Verhältnis von Rhetorik und Philosophie vgl. Posselt/Hetzel: Rhetorisches Philosophieren. 92 Foucault: Die Wahrheit und die juristischen Formen, S. 138. Diese Bemerkung findet sich in der Diskussion, die im Anschluss an Foucaults Vortrag stattgefunden hat. 93 In der Tat ist Foucaults Verhältnis zur Rhetorik eher gespalten. So definiert er in der Archäologie des Wissens den Diskurs als eine nicht-rhetorische Einheit (vgl. Foucault: Die Archäologie des Wissens, S. 170; Reisigl: Diskursanalyse in der Politikwissenschaft, S. 90f.), und noch in seinen späten Vorlesungen am Collège de France bestimmt er die parrhesia als die nicht-rhetorische Sprechweise par excellence.

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Entscheidungen und Ereignissen, sondern unterstreicht auch die spezifische Medialität und Materialität der Meditationen als einer paradigmatischen Schreibund Leseszene. Tatsächlich ist das Papier, wie Rüdiger Campe hervorhebt, „der einzige Posten aus der Anfangsliste, der nicht ausdrücklich einer Version des Zweifels anheimfällt, sondern stillschweigend verschwindet“.94 So wie die Möglichkeit des Wahnsinns ausgeschlossen werden muss, damit das Individuum seinen Status als ein rationales Subjekt nicht verliert und seinen Zweifel fortsetzen kann, ist es umgekehrt nicht möglich, die materialen und medialen Bedingungen anzuzweifeln, die dafür notwendig sind, dass die Meditationen als Schreib- und Leseszene vollzogen werden können. Kurz, „während alle anderen Akte und Aktualitäten kontinuierlich und ruhig durch die Traum-, Fiktions- und Gedankenproben hindurch reduziert werden können“, gefährdet der Zweifel an der Aktualität der Schreib-/Leseszene den Fortgang der Meditation ebenso wie die Annahme des Wahnsinns.95 Was darüber hinaus als ein Gegenstand des Zweifels nicht genannt wird (weder von Descartes noch von Foucault oder Derrida), nicht einmal um ihn auszuschließen, ist die sinnvermittelnde, kommunikative Funktion der Sprache. Denn während ich an allem zweifeln kann und mir sogar einen „bösen Geist“ vorstellen kann, der bewirkt, dass „Himmel, Luft, Erde, Farben, Gestalten, Töne und alle Außendinge […] nichts als das täuschende Spiel von Träumen [seien]“,96 so kann ich doch vernünftigerweise nicht daran zweifeln, dass „Himmel“, „Luft“ oder „böser Geist“ intelligible Ausdrücke sind, die eine kommunizierbare Bedeutung haben. Folglich ist der methodische Zweifel für seine erfolgreiche Durchführung ebenso notwendig auf die Unbezweifelbarkeit der sinnvermittelnden Funktion der Sprache angewiesen wie auf die mediale Vermittlung durch Rede und Schrift. Eine reine, unmittelbare und unvermittelte Introspektion und Selbstprüfung ist damit ebenso unmöglich wie eine Loslösung des methodischen Zweifels von seiner jeweiligen Situierung und sprachlichen Artikulation. Dies zeigt sich nicht zuletzt in Descartes’ eigener Beweisführung. Wenn Descartes schließlich zu der Feststellung gelangt, „daß dieser Satz: ‚Ich bin, ich existiere‘, sooft ich ihn ausspreche oder in Gedanken fasse, notwendig wahr ist“,97 formuliert er damit nicht die Wahrheit oder Eigenschaft eines Satzes, sondern die einer Äußerung in einer konkreten Situation. Denn „notwendig wahr“ ist der Satz ja keineswegs unabhängig von seiner konkreten Artikulation, sondern nur insofern „ich

94 Campe: Nachbemerkung des Übersetzers, S. 44. 95 Ebd. 96 Descartes: Meditationen, I.12. 97 Ebd., II.3.

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ihn ausspreche oder in Gedanken fasse“ und ihm damit eine materiale und mediale Gestalt verleihe. Hier zeigt sich erneut die diskursive Bestimmung des Textes als „zweifache[s] Gewebe aus Übung und Beweis“.98 Denn als praktische Übung, Selbsttechnik und Selbstprüfung eines Ich, das sich fragt, ob es möglich ist zu bezweifeln, „daß ich jetzt hier bin, daß ich, mit meinem Winterrock angetan, am Kamin sitze, daß ich dieses Papier mit den Händen betaste und ähnliches; vollends daß diese Hände selbst, daß überhaupt mein ganzer Körper da ist“,99 erfordert der methodische Zweifel die Singularität eines leiblichen Selbst, das diese Prüfung aktuell vollzieht.100 Als demonstrativer Diskurs und allgemeine Beweisführung, die von jedem beliebigen Ich jederzeit und überall vollzogen werden kann, muss der methodische Zweifel unabhängig von seinem jeweiligen Kontext sein. In anderen Worten: Als universale Beweisführung muss der methodische Zweifel wiederholbar und nachprüfbar sein, d.h., er muss sich, wie sich im Anschluss an Derridas Konzeption der Iterabilität formulieren ließe, von seinem jeweiligen Kontext ablösen lassen und als ein iterierbares Muster identifizierbar sein.101 Als Übung und asketischer Diskurs konstituiert der methodische Zweifel dagegen eine Serie singulärer Ereignisse, die von einem leiblichen Selbst in Form einer Selbstprüfung vollzogen werden müssen. Diese Struktur gilt aber nun nicht nur für die Meditationen, sondern für jeden (philosophischen) Text. Denn ebenso wie die Struktur der Iterabilität „nicht nur für alle Ordnungen von ‚Zeichen‘ […] und für alle Sprache […], sondern sogar über die semio-linguistische Kommunikation hinaus, für das ganze Feld dessen, was die Philosophie Erfahrung […] nennen würde“, Gültigkeit hat,102 so ist auch die doppelte Lektüre als singuläre Übung und allgemeiner Beweis nicht nur für die Meditationen konstitutiv, sondern für das ganze Feld dessen, was die Philosophie Text nennen würde. In den Blick kommt damit ein erweiterter Textbegriff, der – neben der diskursiven Bestimmung des Textes als Übung und Beweis – nicht nur alle „‚realen, ‚ökonomischen‘, ‚historischen‘, gesellschaftlich-institutionellen Strukturen“103 umfasst, sondern auch ein lesendes und schreibendes Subjekt, das durch diese Strukturen und Praktiken betroffen und verändert wird.

98

Foucault: Mein Körper, dies Papier, dies Feuer, S. 39.2.

99

Descartes: Meditationen, I.4.

100 Vgl. Butler: How Can I Deny, S. 22. 101 Vgl. Derrida: Limited Inc., S. 40. 102 Vgl. ebd., S. 26f. 103 Ebd., S. 228.

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WAHRSPRECHEN UND WAHRHÖREN

Im Zentrum der bisherigen Überlegungen stand die Frage nach der Medialität und der Textualität der Philosophie sowie nach den Konsequenzen, die sich daraus für das traditionelle Selbstverständnis der Philosophie als einer ausgezeichneten Form des Wahrsprechens und des Argumentierens ergeben. Die Relektüre von Foucaults „Mein Körper, dies Papier, dies Feuer“ hatte dabei nicht zum Ziel, die Debatte zwischen Foucault und Derrida wiederaufzunehmen; vielmehr ging es darum, unter Rekurs auf Foucaults doppelte Lektüre, das Philosophieren als eine diskursive Praxis lesbar zu machen, die aus der Aktualität der Gegenwart ihre Geschichtlichkeit mitbedenkt. In den Fokus rückt damit das Philosophieren selbst als eine diskursive und argumentative Praxis, die nicht zu trennen ist von der Frage, wer als rationales und verantwortliches Subjekt legitimiert ist und welche Normen der Rationalität Anspruch auf Gültigkeit haben. Dahinter steht die These, dass jede Argumentation immer auch eine Argumentation über die Frage ist, was es heißt zu argumentieren. Deutlich wird dies immer dann, wenn im Verlauf einer Diskussion dem Gegner vorgeworfen wird, dass er oder sie nicht argumentiere oder dass das, was als Argument angeführt werde, gar kein Argument sei. Berühmt ist in diesem Zusammenhang Jürgen Habermas’ Behauptung, dass Derrida „nicht zu den argumentationsfreudigen Philosophen gehört“, begleitet von dem Vorwurf, dass Derrida den „Vorrang der Logik vor der Rhetorik auf den Kopf […] stell[t]“ – ein Vorwurf, den Derrida entschieden zurückweist.104 Foucaults doppelte Lektüre, die er in seiner Auseinandersetzung mit Descartes und Derrida entwickelt, entgeht von vornherein einem solchen Vorwurf, insofern sie der Textualität, Historizität und Rhetorizität der Philosophie konsequent Rechnung trägt, ohne die Philosophie auf den Text, die Geschichte oder die Rhetorik zu reduzieren. Eine solche doppelte Lektüre sieht nicht von der Frage nach der Wahrheit ab, sondern führt zu einem gleichsam radikalisierten, nicht-reduktionistischen Wahrheitsbegriff, der gerade aus dem doppelten Gewebe von Beweis und Übung seine Stringenz und Geltung gewinnt. So wie Austin zufolge jede Äußerung immer sowohl Wahrheits- als auch Handlungsaspekte umfasst, die sich weder voneinander trennen noch aufeinander reduzieren lassen,

104 Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 221 u. 228. Vgl. Derrida: Limited Inc., S. 257: „Das ist falsch. Ich sage bewußt falsch, im Gegensatz zu wahr, und ich wette mit Habermas, daß er das Vorhandensein dieses mir unterstellten ‚Vorrangs der Rhetorik‘ in meinen Schriften mit den drei daran anschließenden Sätzen, die er danach kritisieren will, nicht beweisen kann (S. 224ff.).“

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so beinhaltet jeder Text immer sowohl demonstrative als auch asketische Elemente, die das lesende und schreibende Subjekt konstituieren und modifizieren. Damit eröffnet die doppelte Lektüre zugleich eine spezifische Temporalität, die es dem philosophierenden Subjekt erlaubt, seine eigene Geschichte und Gewordenheit zu denken. Für die Philosophie heißt dies, dass sie sich sowohl von der Vorstellung eines neutralen, quasi-göttlichen Subjekts verabschieden muss, das von allen Macht- und Autoritätseffekten frei ist, als auch von der Vorstellung einer idealen Wahrheit, die von den textuellen und diskursiven Praktiken, durch die sie artikuliert wird, nicht berührt wird. In den Blick kommt so ein Wahrheitsbegriff, der sich weder auf einen propositionalen Wahrheitsgehalt noch auf ein subjektives Wahrsprechen reduzieren lässt. Letzteres scheint Foucault in seinen späteren Analysen zum griechischen Begriff der parrhesia nahezulegen, wenn er die parrhesia als eine Form der Rede bestimmt, durch die sich das Individuum, indem es sich mutig an die von ihm gesagte Wahrheit bindet, als wahrsprechendes Subjekt konstituiert.105 Das hat Foucault unter anderem den Vorwurf eingebracht, er würde ein Sprechen privilegieren, „das sich einseitig auf die Kraft der Rede stützt“,106 während er die Dimension des Antwortens vernachlässigt. Dagegen plädiert Bernhard Waldenfels für ein Wahrsprechen, „das von vornherein als antwortendes Sprechen auftritt und aus einem Wahrhören erwächst“.107 Vor diesem Hintergrund lässt sich Foucaults doppelte Lektüre als aufschlussreiche Antwort avant la lettre auf entsprechende Einwände lesen. Denn während die parrhesia – zumindest auf den ersten Blick – die Sprecher*innen-Perspektive in den Vordergrund zu stellen scheint,108 verweist die doppelte Lektüre auf ein Wahrsprechen, das immer schon ein Wahrhören und ein Wahrlesen ist, insofern jeder Text nach Foucault sowohl „eine Menge von Aussagen“ ist, „die jeder Leser, wenn er ihre Wahrheit erfahren will, durchlaufen muß“, als auch „eine Menge von Modifikationen, […] die jeder Leser praktisch vollziehen muß, […] wenn er […] die Wahrheit in seinem eigenen Namen sagen können will“.109 Für eine Philosophie, die weder gegenüber ihrer eigenen Textualität, Historizität und

105 Vgl. hierzu die in den 1980er Jahren am Collège de France gehaltenen Vorlesungen. Foucault: Die Regierung des Selbst, und Foucault: Der Mut zur Wahrheit. 106 Waldenfels: Wahrsprechen und Antworten, S. 64. 107 Ebd., S. 64. Vgl. Seitz: Truth beyond Consensus. 108 Zu einer alteritätstheoretischen Lesart von Foucaults parrhesia vgl. Posselt: Wahrsprechen, Wortergreifung und ‚Collateral Murder‘, und Posselt/Seitz: Sprachen des Widerstands. 109 Foucault: Mein Körper, dies Papier, dies Feuer, S. 36.3.

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Rhetorizität blind ist noch taub ist gegenüber den unterschiedlichen Weisen des Wahrsprechens, ergibt sich somit eine doppelte Aufgabe: Einerseits muss sie das Philosophieren als eine argumentative Praxis begreifen, die sowohl demonstrative als auch asketische Elemente umfasst und die mit spezifischen Subjektivierungseffekten einhergeht. Andererseits gilt es einen differenzierten, nicht-reduktionistischen Begriff der Wahrheit zu entwickeln, der seine argumentative Stärke und Stringenz gerade aus der chiastischen Verschränkung von Übung und Beweis, von Wahrsprechen und Wahrhören gewinnt. Eine solche Philosophie wäre keine Pädagogik, die uns lehrt, wie wir ‚eigentlich‘ zu lesen und zu schreiben hätten, sondern vielmehr „die kritische Arbeit des Denkens an sich selber“, die Anstrengung, „zu wissen, wie und wie weit es möglich wäre, anders zu denken“, „statt zu rechtfertigen, was man schon weiß“.110 Als eine solche kritische Arbeit ist das Philosophieren nie nur eine Arbeit an sich selbst, sondern eine suchende und tastende Arbeit mit anderen, die notwendig über Texte und Reden vermittelt ist.111

LITERATUR Austin, John L.: Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words). Deutsche Bearbeitung von Eike von Savigny, Stuttgart 21979. Balke, Friedrich: Selbstsorge/Selbsttechnologie, in: C. Kammler (Hg.), FoucaultHandbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart u.a. 2008, S. 286-291. Bartels, Jeroen: Subjekt, in: H. J. Sandkühler (Hg.), Enzyklopädie Philosophie, Hamburg 1999, Bd. 2, S. 1548-1554. Bennington, Geoffrey: Cogito Incognito: Foucault’s „My Body, This Paper, This Fire“, in: Oxford Literary Review 4 (1979), S. 5-8. Bertram, Georg W.: Geschichte (um)schreiben. Prolegomenon zu einem Dialog zwischen einer Theorie der Diskurse (Foucault) und Dekonstruktion (Derrida), in: T. Bedorf et al. (Hg.), Undarstellbares im Dialog: Facetten einer deutschfranzösischen Auseinandersetzung, Amsterdam/Atlanta 1997, S. 73-88. Boyne, Roy: Foucault and Derrida: The Other Side of Reason, London 1990. Bunz, Mercedes: Wann findet das Ereignis statt? Geschichte und der Streit zwischen Michel Foucault und Jacques Derrida, 2005, http://www.mercedesbunz.de/wp-content/uploads/2006/06/bunz_ereignis.pdf [9.05.2008].

110 Foucault: Sexualität und Wahrheit II, S. 15f. 111 Der Artikel wurde unterstützt durch den Austrian Science Fund (FWF): P 26579G22 Language and Violence. Er basiert auf Überlegungen, die erstmals auf Englisch erschienen sind. Vgl. Posselt: Rhetorizing Philosophy.

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Synonymien: Heidegger und George Zoltán Kulcsár-Szabó

Die Umgebung des Essays Der Weg zur Sprache, in dem die späte Sprachphilosophie Heideggers vielleicht am konzentrierteten dargestellt wird, besteht – davon zeugt der 1959 publizierte Band Unterwegs zur Sprache – vorwiegend aus Interpretationen zur deutschen Lyrik des 20. Jahrhunderts, wobei die Freiburger Vorträge über Stefan Georges Gedicht Das Wort im Mittelpunkt stehen. Diese Vortragsreihe ist nicht das erste Mal, dass Heidegger sich an Georges Gedicht von 1919 versucht, das sich hier, ebenso wie 20 Jahre früher im Seminar über Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache von 19391, deshalb als ausgezeichneter Anlass erweist, über die Möglichkeiten des Zugangs zum „Wesen“ der Sprache nachzusinnen, weil in ihm der ereignishafte-wandelnde Charakter der dichterischen Erfahrung der Sprache zum Vorschein kommt. Heidegger spannt bekanntlich in erster Linie den in der letzten Strophe des Gedichts geäußerten „Verzicht“ (bei George natürlich kleingeschrieben „verzicht“) und freilich seine aus diesem Verzicht abgeleiteten Folgerungen „auf die Folter seiner Selbstinquisition“2: seine „untrügliche Lesekunst“3 stellt bald die Doppeldeutigkeit dieses „Verzichtes“ fest, nämlich dass er nicht ausschließlich als indirekte oder zitierte Rede zu verstehen ist, sondern auch eine verordnend-performative Funktion trägt.4 „So lernt ich traurig den verzicht: / Kein ding sei wo das wort gebricht.“ – darin ließe sich also die Erfahrung des Dichters mit oder von der Sprache zusammenfassen, und es ist diese Erfahrung, der die Erfahrung wdes Denkens nachzugehen oder „nachzudenken“ hat.

1

Heidegger: Vom Wesen der Sprache, S. 71-72. Vgl. v. Herrmann: Die zarte, aber helle Differenz, S. 5.

2

Gadamer: Martin Heidegger 75 Jahre, S. 193.

3

Kittler: Aufschreibesysteme, S. 322.

4

Vgl. Heidegger: Das Wesen der Sprache, S. 168.

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Heideggers Deutung dreht mehrere Kreise, bis sie das Eigentliche dieses Verzichtes restlos durchleuchten kann: Zunächst macht sie auf die im Schlussvers implizierte Voraussetzung aufmerksam, dass „[d]as Sein von jeglichem, was ist, […] im Wort [wohnt]“, denn es kann erst hieraus folgen, dass es nichts geben kann (oder: darf), wo das Wort fehlt; in einem nächsten Schritt wird dann die eigentliche Modalität dieses Verzichtes geklärt (es geht hier, trotz des Attributs, nicht ausschließlich um einen Verlust, da der Verzicht zur wesenhaften Erfahrung des Wortes führt); schließlich folgt die Feststellung, dass in Wahrheit das Wort selber das Verhältnis sein muss, in dem ein Ding sein kann, d.h. das Verhältnis zwischen dem Seiendem und dem Wort, das sich in der abendländischen Tradition im Wort „Logos“ ansagt.5 Heidegger kehrt jedoch auch nach diesen Folgerungen noch mehrmals zu der Deutung des Verzichtes in der letzten Strophe (oder sogar zu seiner Umschreibung, vgl. z.B.: „Wir schreiben den letzten Vers wieder […] um“6) zurück: das Kleinod, für das Georges Dichter – im Gegensatz zu einem früher, in Das Jahr der Seele angeführten Seher, der „für die dinge eigne namen“ erfand (Des sehers wort ist wenigen gemeinsam) – trotz den vorangehenden, ähnlichen, aber erfolgreichen Expeditionen kein entsprechendes Wort finden kann, ist vielleicht nichts anderes, als das oben zusammengefasste Wesen des Wortes; der Verzicht muss also sozusagen notwendigerweise auf „das Wort für das Wort“ bezogen sein, und zwar deshalb, weil das Wort – und übrigens ebenso wenig das „ist“ – kein Ding sein kann. Die Kopula wird hier durch die Formel „es gibt“ ersetzt, und zwar so, dass an die Stelle von „es“ das Wort selber als das gebende Wort tritt, das Wort, das an sich kein Seiendes ist, sondern das Sein gibt.7 Gerade als solches verweigert es sich, was aber nicht bedeutet, dass das Wort des Wortes, der Schatz der Schätze, „in das nichtsnutzige Nichts“ zerfällt, sondern eher, dass es sich in das Erstaunende zurückzieht, das die Erfahrung des Dichters „mit der Sprache“ ausmacht. Das Endergebnis ist also der Rück- oder Entzug oder die Selbstverweigerung, sogar – zum Schluss des letzten Vortrags – das „Zerbrechen“8 des Wortes. Dies bleibt aber trotzdem eine Wesenserfahrung, da Heidegger in der Serie seiner wiederholten Zurückwendungen zum Schlussvers immer näher an das Wesen der Sprache heranzukommen meint; dieses Wesen ist – im Sinne der ebenfalls öfters wiederholten

5

Vgl. der Reihe nach: ebd., S. 166, 169, 170, 184-185.

6

Ebd., S. 191.

7

Ebd., bes. S. 192-194.

8

Ebd., S. 216.

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und auch hier in ihrer geradezu zerstörerischen grammatischen Polyfunktionalität entfalteten9 chiastischen Formel – eben die Sprache des Wesens. Die in eine Art Geheiß gewendete Erkenntnis stellt – und darin liegt die eigentlich entscheidende Unterscheidung Heideggers – die Selbstverweigerung oder den Entzug des Wesens der Sprache als eine Erfahrung des Dichters dar, die zwar „ins Dunkle“ geht, aber trotzdem eine echte Erfahrung bleibt in dem Sinne, dass sie die alltägliche Erfahrung mit der Sprache revidiert, die hier mit einem bloßen oder herkömmlichen Sprachversagen, mit dem „platten Unvermögen des Sagens“ gleichgesetzt wird.10 Es könnte gesagt werden, dass – mit Ausblick auf das andere Hauptthema der Vorträge, auf das Verhältnis von „Dichten“ und „Denken“, das von Heidegger als eine Art Nachbarschaft begriffen wird – gerade die ins Dunkle laufende Spracherfahrung des Dichters den Weg der denkerischen Erfahrung mit der Sprache notwendig macht. Die auffällig häufigen Konnotationen von Bewegung oder Weg in den Formulierungen Heideggers sind wohl ebenso wenig von Ungefähr wie die Betonung der Negativität der Erfahrung. Wie in den Kommentaren zu Hegels Erfahrungsbegriff deutlich wird, gehört Beweglichkeit für Heidegger zu den Wesensmerkmalen von Erfahrung: Erfahrung ist immer eine Art Wendung oder Umkehrung, die u.a. daraus folgt, dass der in der Erfahrung entstehende Gegenstand zugleich die Vernichtung eines vorangegangenen sein muss (Erfahrung ist, wie Heideggers hermeneutischer Schüler formuliert, „zunächst immer Erfahrung der Nichtigkeit“), mehr noch, „die Erfahrung geht, in dem sie vor-sich-geht“.11 Eben diese Mobilität, die ja auch durch die Etymologie des Wortes „Erfahrung“ eindeutig aktiviert wird, steht in den Interpretationen zu George im Vordergrund, und dieser Bedeutungszusammenhang spielt auch im behandelten Gedicht eine gewisse Rolle. Heidegger teilt – entlang der typographisch durch die Dreipunkte an den Strophenenden angedeuteten Gliederung12 – Georges Gedicht so auf (andere Möglichkeiten liegen kaum auf der Hand), dass er die ersten drei Strophen („Wunder von ferne oder traum / Bracht ich an meines landes saum / Und harrte bis die graue norn / Den namen fand in ihrem born – / Drauf konnt ichs greifen dicht und stark / Nun blüht und glänzt es durch die mark …“) als die später als nichtig bloßgestellte

9

S. ebd., S. 200-201. Heidegger schickt freilich voraus, dass solche grammatischen Analysen „im Gesichtskreis des […] logischen und metaphysischen Vorstellens“ bleiben müssen.

10 Ebd., S. 184 bzw. 194. 11 Vgl. hierzu Heidegger: Hegels Begriff der Erfahrung, bes. S. 182-187 (das Zitat s.: S. 191) bzw. Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 360. 12 Vgl. Heidegger: Das Wesen der Sprache, S. 170.

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Spracherfahrung des Dichters den nächsten drei Strophen gegenüberstellt („Einst langt ich an nach guter fahrt / mit einem kleinod reich und zart / Sie suchte lang und gab mir kund: / ‚So schläft hier nichts auf tiefem grund‘ / Worauf es meiner hand entrann / und nie mein land den schatz gewann …“), die gleichsam von dem diesmal missglückten Versuch berichten, die frühere Erfahrung zu wiederholen, wobei gerade diese Wendung dann zum Verzicht des Dichters in der oben zitierten 7. Strophe führt. Der Dichter stellt seine unterschiedlichen Erfahrungen mit dem Wort also in beiden Fällen als Fahrten dar (zur „Erfahrung“ führt die „Fahrt“), und dieses Muster scheint sich auch in Heideggers Gedankengang abzubilden,13 nicht einfach darin, dass er die Annäherung an das Wesen der Sprache als den (dichterischen bzw. denkerischen) Weg (oder die Fahrt) der Erfahrung beschreibt, sondern auch darin, dass dieser Weg oder diese Fahrt äußerst wendungsreich ist, da die Erfahrung immer schon vorangegangene Erfahrungen annulliert (oder, was dasselbe aussagt: immer schon die Erfahrung der Nichtigkeit früherer Erfahrungen ist). Die Erfahrung mit der Sprache tritt zunächst als die Alternative zur wissenschaftlichen Erkenntnis, zu einer „Metalinguistik“ auf, die die Sprache zu ihrem Gegenstand macht14 und die ihre Grenzen darin erblicken muss, dass das Verhältnis des sich der Sprache bedienenden oder in der Sprache aufhaltenden Menschen zur Sprache selbst „unbestimmt, dunkel, beinahe sprachlos“ ist.15 In der Erfahrung kommt nicht die Metasprache, sondern die Sprache selbst zur Sprache16, die Erfahrung der Sprache als Sprache jedoch findet unter Alltagsbedingungen laut Heidegger zumeist in der Wortlosigkeit, im Steckenbleiben, im Nichtfinden des passenden Wortes statt: Wo das Gemeinte ungesagt bleibt, meldet sich das Wesen der Sprache bloß in einer fernen Berührung oder als ein flüchtiges Streifen an („Wir lassen das, was wir meinen, im Ungesprochenen und machen dabei, ohne es recht zu bedenken, Augenblicke durch, in denen uns die Sprache selber mit ihrem Wesen fernher und flüchtig gestreift hat.“) – als eine

13 S. dazu die kürzere, auf einem in Wien gehaltenen Vortrag basierende Fassung von Heideggers Deutung: Heidegger: Das Wort, S. 224. 14 S. dazu auch Gadamer (Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 361) an der bereits zitierten Stelle: „Erfahrung selber kann nie Wissenschaft sein. Sie steht in einem unaufhebbaren Gegensatz zum Wissen und zu derjenigen Belehrung, die aus theoretischem oder technischem Allgemeinwissen fließt.“ 15 Heidegger: Das Wesen der Sprache, S. 160. 16 Ebd., S. 161. Die „Formel“ eines Weges zur Sprache kann daher, wie bekannt, nicht anders lauten als „die Sprache als die Sprache zur Sprache bringen“ (Heidegger: Der Weg zur Sprache, S. 261).

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Art Flügelschlag, ein Windhauch oder ein Gespenst. Es ist diese flüchtige Berührung, die in der dichterischen (und denkerischen) Erfahrung der Sprache sozusagen vertieft wird: Diese Wendung besteht offensichtlich darin, dass hier die Erfahrung selbst zum Wort, zur Sprache kommt; George zumindest war imstande, über diese Erfahrung in einem Gedicht zu berichten. Der Verzicht, den der Lyriker – in einem äußerst wortwörtlichen Sinne – lernen musste, ist genau diese Erfahrung bzw. die Folge davon, dass er mit der Sprache eine Erfahrung gemacht hat, eine Erfahrung, die – wie erwähnt – darin besteht, dass bei einer seiner Fahrten seine Erfahrung, dass die Norne die aus der Ferne mitgebrachten Schätze gewöhnlich mit Namen versieht, auf einmal ungültig wird. Die Erfahrung ist ein Weg, fasst Heidegger mit dem grammatischen Paradigma von „gelangen“, „erlangen“ und „belangen“ spielend zusammen, ein Weg, der den Erfahrenden bzw. „uns“ zu dem führt, das „uns trifft und beansprucht, insofern es uns zu sich verwandelt“.17 An diesem Punkt scheint die Erfahrung des Denkers die des Dichters abzulösen, weil letzterer, da sie ins Dunkle führt, nicht mehr zu folgen ist. Heidegger macht jedoch deutlich, dass das Verhältnis der beiden Erfahrungen (zweier ausgezeichneter Weisen der Erfahrung des Seins als Sprache bzw. des „Sagens“ selbst18) kein Aufeinanderfolgen, sondern vielmehr eine Nachbarschaft ist. An dieser Stelle soll zunächst aber auf eine andere Art von Nachbarschaft hingewiesen werden, deren Problematik hier kaum ausreichend verfolgt werden kann, die aber möglicherweise an eine der verwirrendsten und herausforderndsten Unterscheidungen heideggerschen Philosophierens rührt. Es geht dabei in erster Linie darum, dass Heidegger auf seiner Suche nach dem Weg der (denkerischen) Erfahrung mit der Sprache die Operation des Fragens als solche für ungeeignet erklärt, was, auf den ersten Blick zumindest, gewissermaßen überraschend (wenn auch eigentlich gar nicht inkonsequent) erscheint von einem Denker, der sein frühes Hauptwerk mit einer gründlichen Analyse der „formalen Struktur“ der Seinsfrage begonnen hat. Andererseits scheint genau das nicht gänzlich beruhigende Ergebnis dieser Analyse (mit seinem widersprüchlichen grammatischen Paradigma von „Gefragtem“, „Erfragtem“ und „Befragtem“) sich in der Georgelektüre widerzuspiegeln, und zwar an der Stelle, an der die Kombination eines „Anfragens“ und eines „Nachfragens“ (bei) der Sprache sozusagen für sekundär oder abgeleitet erklärt wird im Vergleich zu

17 „Mit etwas eine Erfahrung machen, heißt, dass jenes, wohin wir unterwegs gelangen, um es zu erlangen, uns selber belangt, uns trifft und beansprucht, insofern es uns zu sich verwandelt“ (Heidegger: Das Wesen der Sprache, S. 177). Eine ausführlichere Deutung von „belangen“ erfolgt zum Anfang des dritten Vortrags, s. S. 197. 18 Vgl. ebd., S. 186.

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einem jedem Fragen strukturell vorausgehenden Angesprochensein durch die und Zugesprochensein der Sprache, im Vergleich also zu dieser eigentlichen Gabe der Sprache (die Sprache als Gabe ihrer selbst), die Heidegger als den Zuspruch der Sprache zusammenfasst.19 Paraphrase: Das Nachfragen der Sprache im Anfragen bei der Sprache, aus der oder inmitten deren der Fragende jedoch von vornherein spricht und damit auch fragt, setzt eine vorausgehende, ansprechende Zusage des Be- und Gefragten (wiederum: der Sprache) voraus. Dies erklärt die schwerwiegende Aussage, „dass das Fragen nicht die eigentliche Gebärde des Denkens ist“. Diese Gebärde erblickt Heidegger in einem allem Fragen vorausgehenden Hören auf die „Zusage“ des Befragten, womit er zugleich seine einige Jahre früher ausgeführten Überlegungen zum Fragen als „Frömmigkeit des Denkens“20 weiterentwickelt und revidiert. Diese Entthronung des Fragens wird in den Vorträgen zu George, in denen Heidegger sich mit vielleicht ungewohnter Akribie mit nicht nur grammatischen, sondern typographischen Konstellationen beschäftigt, eigentlich sogar inszeniert, indem er zum Schluss des ersten Vortrags zunächst ein Fragezeichen hinter die Titelformel setzt, um es dann aber gleich zum Auftakt des zweiten Vortrags wieder zu streichen.21 Die Erfahrung des Denkens vollzieht sich also in der Gebärde des „Hörens der Zusage“, die aber im Hinblick auf das „Wesen“ der Sprache mit einer weiteren Schwierigkeit konfrontiert, die auch in der chiastischen Formel der Deutung von Heideggers Titel mitgeteilt ist: nämlich damit, dass Sprache hier das eigene Wesen zuzusagen hat, während sie jedoch ihrem Wesen nach in der Form dieser Selbstzusage „west“ („Die Sprache west als dieser Zuspruch.“22). Allein schon deshalb ist keine meta- oder überhaupt sprachliche Selbstreflexivität möglich. Dieses formale Paradoxon wird gerade durch das Denken von Erfahrung als Weg oder Bewegung entkräftet: Sie weist hier eine bei Heidegger nicht unbekannte, so z.B. im ganzen Hölderlinbuch überall präsente (pseudo)zirkuläre Figur auf, die den Weg des Denkers (oder der Erfahrung) als eine Rückkehr dorthin darstellt, wo dieser sich immer schon aufhielt. Wo Heidegger z.B. darüber spricht, dass das zuhörende Denken des dichterischen Verzichtes schon von vornherein in der „Nachbarschaft“ von Dichten und Denken erfolgt, fügt er

19 Vgl. ebd., S. 175-176. 20 Heidegger: Die Frage nach der Technik, S. 38-40. Zum Sprechen, das „nicht zugleich, sondern zuvor ein Hören ist“, s. ferner Heidegger: Der Weg zur Sprache, S. 254. 21 Vgl. Heidegger: Das Wesen der Sprache, S. 176 bzw. 180. 22 Ebd.

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hinzu, dass dieser Aufenthalt noch nicht gleich Erfahrung ist, weil – darin bestünde die Wendung – er erst dann in einem wesentlichen Sinne zu einer Erfahrung werden kann, wenn der Denker bereits unterwegs zu ihm ist (also unterwegs dorthin, wo er sich immer schon aufhält), d.h.: wenn er die Nachbarschaft tatsächlich als Nachbarschaft erfährt. „Wir müssen erst da-hin zurückkehren, wo wir uns eigentlich schon aufhalten.“23 Entfernt man sich ein wenig von dem konkreten Zusammenhang, könnte die Spracherfahrung, vielleicht etwas abstrakter, als ein Weg des Denkens aufgefasst werden, das, nachdem es jede Erfahrung vernichtet hat, die die Sprache nicht als Sprache erfahren (oder hier: zur Sprache kommen) lässt (sondern etwa als einen gespensterhaften Flügelschlag, wie im Falle des Steckenbleibens der Rede), nachdem es also den ganzen Weg gegangen ist, nun als die eigentliche Erfahrung der Sprache dorthin (in die Sprache) zurückkehrt, wo es sich eigentlich immer schon aufhielt. Diese Erfahrung ist freilich eine verändernde, da sie ja „uns zu sich verwandelt“, viel wichtiger erscheint aber, dass sie – um Heideggers regionaler und/oder landwirtschaftlicher Metaphorik zu folgen – die Gegend, die Landschaft oder die Nachbarschaft eröffnet, in die ihr kreisrunder Weg führt: diese „Gegend“, wo der Weg der denkerischen und/oder dichterischen Erfahrung der Sprache hinführt, ist zugleich diejenige Gegend, wo diese Erfahrung allein möglich ist, und Heidegger beruhigt seine Leser mehrmals, dass es gerade deshalb keine Gegend ist, wohin man zunächst sozusagen von Außen her hingelangen muss. An einer Stelle spricht er in einem ähnlichen Zusammenhang sogar vom „Element“ der Sprache oder – genauer – des „Sagens“,24 in den meisten Fällen geht es aber um eine Gegend, zu der und zugleich durch die der Weg der Erfahrung führt. Wieso sind aber zwei verschiedene, obgleich benachbarte Erfahrungen nötig? Eine vorläufige Antwort könnte lauten: weil es, um die Gegend zu erfassen, in welcher die Erfahrung der Dichtung oder des Denkens sich aufhält, eine Art Besiedlung oder – mit einem noch weniger treffenden Wort – Aufteilung dieser Gegend braucht. Die Gegend (die ja in bestimmten Kontexten als ein Synonym für Nachbarschaft fungiert) lässt sich erst als solche begreifen (als Umkreis, Umgebung oder Nähe von etwas), wenn sie irgendeine Verbindung zwischen denjenigen herstellt, die sie als ihre Nachbarschaft oder Umgebung erfahren, wie auch Nachbarschaft erst als die Nachbarschaft von (mindestens) zwei Verschiedenen (verschiedenen Nachbarn) entsteht. Heidegger geht es freilich vor allem darum, das Wesen der Nachbarschaft als „Beziehung“ zu denken, wo statt von

23 Ebd., S. 190. Vgl. ferner S. 199 bzw. 208. Für eine ähnliche Beschreibung des Wegs zur Sprache s. z.B. Heidegger: Der Weg zur Sprache, S. 241-242. 24 Vgl. Heidegger: Das Wesen der Sprache, S. 189.

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den einzelnen Nachbarn von der Nachbarschaft selber, d.h. von der Beziehung ausgegangen werden muss.25 Im Mittelpunkt stehen also weniger die Nachbarn als vielmehr die Nachbarschaft als solche. Was bedeutet das in Bezug auf das Verhältnis von „Dichten“ und „Denken“? Bereits im ersten Vortrag wird klargestellt, dass diese beiden Weisen der Spracherfahrung sich nicht in der Form einer Relation zueinander verhalten, in der die eine etwa als Unterbau oder Begründung für die andere dienen würde: Die Erfahrung des Denkens lässt sich vielmehr auf die des Dichters ein, überlässt sich ihr, und zwar eben aufgrund ihrer ursprünglichen Nachbarschaft (damit verschwindet die Differenz zwischen den beiden nicht, sie wird aber von Heidegger scharf von solchen – wie üblich, der Logik der modernen Wissenschaftlichkeit zugeschriebenen – Differenzierungen abgegrenzt, die das Denken als die ratio von Erkenntnis oder, wie Heidegger in den George-Vorträgen immer wieder betont, als eine Art Berechnung betrachten und die Dichtung so in die Sphäre der bloßen Einbildungskraft verweisen: „Das Denken ist kein Mittel für das Erkennen“).26 Die Form der Nachbarschaft erinnert stark an das zirkuläre Muster, das sich in der Bestimmung von Erfahrung abgezeichnet hat: Es ist nicht so, erklärt Heidegger, dass zwei selbstständige Entitäten sich gegenseitig in ihre Nachbarschaft ziehen (oder durch eine Art Einzug zu Nachbarn werden), denn sie gehören schon von vornherein zusammen, noch bevor sie in die als „Gegen-einander-über“ (also als eine zweifache Konfrontation: „gegeneinander“ und „gegenüber“) beschriebene Nachbarschaft gelangen.27 Wie sich vorhin herausgestellt hat, ist die Grundform oder die grundsätzliche Gebärde des Denkens das Hören, das Sich-Einlassen auf die „Zusage“ oder den „Zuspruch“ der Sprache; die dichterische Erfahrung dagegen besteht darin, was Georges Gedicht Verzicht nennt. Sobald das Denken diesen Verzicht bedenkt, wird „das Dichterische in das Nachbarliche eines Denkens herüber gerufen“. Keine der beiden Erfahrungen bringt jedoch „die Sprache in ihrem Wesen zur Sprache“.28 Von der Nachbarschaft oder der Beziehung her betrachtet, ist die

25 „Wir sind nicht, und wenn, dann nur selten und dabei kaum, in der Lage, eine Beziehung, die zwischen zwei Wesen waltet, rein aus ihr selbst her zu erfahren. Wir stellen uns die Beziehung sogleich von dem aus vor, was jeweils in der Beziehung steht. Wir sind wenig darüber verständigt, wie, wodurch und woher sich die Beziehung ergibt und wie sie als diese Beziehung ist.“ (ebd., S. 188). 26 Ebd., S. 166, 173. Vgl. dazu Herrmann: Die zarte, aber helle Differenz, S. 190-200. 27 „[D]enn beide gehören schon zusammen, ehe sie sich aufmachen könnten, in das Gegen-einander-über zu gelangen.“ (Heidegger: Das Wesen der Sprache, S. 189). 28 Ebd., S. 185.

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Erfahrung des Denkens eine Art – auch hier läuft man Gefahr, einer Paraphrasenmanier anheim zu fallen – nachträgliches (genauer: begleitendes, sich einlassendes, sozusagen nach-denkendes) Bedenken von Georges dichterischer Erfahrung (Heideggers Vorträge verwenden in diesem Kontext die Ausdrücke „nachdenken“ und „bedenken“ am häufigsten), gerade deshalb ist sie gezwungen, dem Lyriker in das Dunkle der Erfahrung zu folgen oder sogar seinen Weg zu imitieren: dieses Nach-Denken der dichterischen Erfahrung mündet in einem Versagen (oder eher: in einem Verzicht), das an das Fiasko des Dichters erinnert, dem es nicht gelingt, den Schatz der Sprache zu bewahren.29 Das ist jedoch auch in diesem Fall kein bloßer Verlust: Die Erfahrung, die den Weg des Dichters verfolgt oder nach-denkt, macht gleichsam genau die Wendungen durch, die den Dichter dennoch in die Nähe der (allerdings: verzichtenden) Erfahrung vom Wesen der Sprache geführt haben. Obwohl die Produkte der beiden Erfahrungen nicht ganz identisch sind – der Dichter erfährt das Wort als etwas Erstaunendes, der Denker die Beziehung von „ist“ und Wort (wie erwähnt, ist das Wort jedoch genau diese Beziehung) als etwas Denkwürdiges30 –, scheinen im Gange der Interpretation Heideggers Bemühungen, die beiden auseinander zu halten, immer wieder etwas Gezwungenes an sich zu haben. Er häuft (in dieser Unterscheidung eigentlich auch) sehr oft Synonyme aufeinander, d.h. Ausdrücke, die auch in sprachlicher Hinsicht – in Nachbarschaft stehen. Als er sich, zum Schluss des zweiten Vortrags31, die Aufgabe stellt, das Verhältnis der beiden benachbarten Erfahrungen in irgendeiner Weise zu festigen, besteht er weiterhin auf der Annahme einer „zarten, aber hellen Differenz“ zwischen ihnen und bedient sich letztendlich des geometrischen Vergleichs mit den sich (erst) im Unendlichen schneidenden Parallelen. Dies wiederum so, dass die engste Nähe (der Schneidepunkt der Linien) dabei nicht als das Ergebnis einer beidseitigen Annäherung begriffen werden soll („Dort schneiden sie sich in einem Schnitt, den sie nicht selber machen“), da Heidegger den Schnitt selbst im – u.a. aus Der Unsprung des Kunstwerkes bekannten – Paradigma von „Riss“, „Aufriss“ usw. verortet.32 Es ist vielmehr dieser Riss oder Schnitt, der die Nachbarschaft von Dichten und Denken sozusagen selber – und zwar auf eine mehrdeutige Weise – aufreißt:

29 „Wir meinen, beim ersten Hinhören den Dichter zu verstehen; aber kaum haben wir den Vers nachdenkend gleichsam angerührt, sinkt, was er sagt, ins Dunkel.“ (Ebd., S. 192.) 30 Ebd., S. 193. 31 Ebd., S. 196. 32 Zum „Aufriss“ als „Einheit“ und „Zeichnung“ des „Sprachwesens“ s. Heidegger: Der Weg zur Sprache, S. 251-253.

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Heidegger stellt das in den Vorträgen – hier, wie in diesem Text in den meisten Fällen, etymologisch korrekt33 – mit dem eigenartigen Entstehen von „Nähe“ (später dann sogar von einem „Nahnis“34) in Zusammenhang („Dichten und Denken [ziehen] zueinander in die Nähe […], die damit selber entsteht“), die dabei nicht ausschließlich passiv auftritt, da sie zugleich scheinbar Agentin eines Geschehens ist (eigentlich eines „Ereignisses“, da diese Nähe bereits als ein Ereignis zu denken ist: „die Nähe, die nähert, ist selbst das Ereignis“). Hier (vor allem also im dritten Vortrag) eröffnet sich sozusagen der Weg zur Sprache und zeichnet sich derjenige sprachtheoretische Grundsatz ab, der ein Jahr später dann in Der Weg zur Sprache umfassend dargestellt werden sollte. Die Zusammenhänge dieser Sprachtheorie lassen sich in diesem Rahmen kaum rekonstruieren, es kann höchstens um die möglicherweise zur unvermeidlichen Abstraktion zwingende Hervorhebung einiger Punkte gehen, auf die die hier verfolgte Fragestellung nicht verzichten kann. 1. Die „Nähe“, über die Heidegger herausstellt, dass sie „selbst das Ereignis“ ist, und die sowohl das Denken als auch das Dichten in „das Eigene ihres Wesens“ führt, vollzieht dies in Gestalt einer Instanz, die „Sage“ genannt wird und die – laut seiner etymologischen Herkunft (sagan) – zugleich die Bedeutungen von (Sich-)Zeigen und ErscheinenLassen umfassen soll.35 Es ist die „Sage“, wo die Sprache ihr bis zu diesem Punkt ständig entzogenes Wesen endlich zusagt. Hierin stünde mithin die gesuchte Erfahrung, die sowohl den Dichter als auch den Denker ins Dunkle geführt hat. 2. Die Überlegungen zum Wesen von Sprache bzw. Nähe scheinen darauf hinzudeuten, dass die „Wesen“ von „Nähe“, „Sage“ und Sprache in Wahrheit ein und dasselbe sind, auch wenn das Begreifen solcher Nähe ein

33 Nachbar ist derjenige, der in der Nähe baut bzw. wohnt: Die Etymologie von „bauen“ umfasst, wie Heidegger an anderer Stelle erwähnt, beide Bedeutungen (und darüber hinaus auch die des Seins in erster oder zweiter Person: „bin“, „bist“). Zur Etymologie s. Grimm/Grimm: Deutsches Wörterbuch 13, Sp. 22-23; Kluge: Etymologisches Wörterbuch, S. 496. 34 Die Wortbildung „Nahnis“ benennt eine Bewegung, die in die Nähe bringt (und die in Wahrheit eine „Be-wëgung“ ist – darauf wird zurückgekommen): Heidegger: Das Wesen der Sprache, S. 211. 35 Heidegger: Das Wesen der Sprache, S. 200. Eigentlich bildet sich hier förmlich ein ganzes Wortnetzwerk heraus von „Verzicht“ über „zeihen“, „zeichnen“, „zeigen“ bis „sagen“ und sogar „Logos“, das Heidegger als ein System sich kreuzender lexikalischer und etymologischer Äquivalenzen aufzeigt, vgl. dazu Grotz: Vom Umgang mit Tautologien, S. 139-143). Die Rolle des Begriffs vom Ereignis in diesem Zusammenhang wird detaillierter dargestellt in Heidegger: Der Weg zur Sprache, S. 259-261.

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Verstehen von Raum und Zeit erfordert, das diese – im Gegensatz zu den modernen Wissenschaften – nicht als Parameter, Nähe also keinesfalls als korrelativ zu Ferne („Meinen wir Nähe, meldet sich Ferne“36) oder als deren noch messbaren Minimalwert betrachtet. Im Ereignis der Nähe bringt die „Sage“ gleichsam die „Weltgegenden“ zusammen, in dieser Versammlung ergibt sich bzw. wird das „ist“ gegeben.37 3. Damit tritt ein weiterer Aspekt des Weges der Erfahrung ans Licht. Die Figuration des zu sich zurückkehrenden Weges wird durch die der „Be-wëgung“ ersetzt, die Heidegger mit Hinweis auf einen veralteten schwäbisch-alemannischen Wortgebrauch (in Wahrheit vielleicht durch eine diesmal eher homonyme statt synonyme Wortbildung, die sich auch hier der verdrängten Vieldeutigkeit der Grammatik bedient38) statt „Bewegung“ im wortwörtlichen Sinne als eine Art Wegbereitung oder Wegeröffnung erklärt, in der Wege gebahnt, geschnitten oder Gegenden (oder eben Nachbarschaften) mit Wegen versehen werden.39 Nähe als Nachbarschaft wird genau von dieser „Bewëgung“ hergestellt bzw. sie ist (oder west) – hier als „Nahnis“ – als diese Bewëgung. Andererseits ist für Heidegger auch die Sprache als „Sage“ „Be-wëgung“, indem sie – „das Verhältnis aller Verhältnisse“ – die in der Nähe entstehenden Nachbarschaften nicht nur an sich hält, sondern sie versammelt.40 4. Die Schlussfolgerung der Vorträge ist – mit Blick auf die vorangehenden Punkte durchaus konsequent – eine „Definition“ des Wesens der Sprache: „Wir nennen das lautlos rufende Versammeln, als welches die Sage das Welt-verhältnis bewëgt, das Geläut der Stille. Es ist: die Sprache des Wesens.“41 Wichtig ist – (auch) mit Blick auf das, was folgt –, dass Heidegger hier das Verb „läuten“ verwendet, d.h. den Klang (und zugleich also Widerklang) von Glocken mitmeint: In seinem Wiener Vortrag beschreibt er Georges Verzicht z.B. als „die Wandlung des Sagens in den fast verborgen rauschenden liedhaften Widerklang einer unsäglichen Sage“42. Diese Wortwahl könnte den Leser – fälschlicherweise –

36 Heidegger: Das Wesen der Sprache, S. 209. 37 Vgl. ebd., S. 208, ferner S. 215. 38 Was eigentlich ja durchaus konsequent ist von einem Denker, der in der Grammatik bekanntlich – wie hier auch (vgl. Anm. 9) – eine der Gründe dafür entdeckt, dass das Denken in der Metaphysik eingesperrt bleiben muss. S. dazu Grotz: Vom Umgang mit Tautologien, S. 92-93. 39 Heidegger: Das Wesen der Sprache, S. 198. 40 Zur verhältnishaften Natur der Sprache bei Heidegger s. Biemel: Dichtung und Sprache bei Heidegger, S. 404-405. 41 Heidegger: Das Wesen der Sprache, S. 215. 42 Heidegger: Das Wort, S. 231.

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dazu bewegen (allerdings ohne dabei etwas zu be-wëgen), hier bloß einen gewöhnlichen Fall des Hervordrängens von rustikal-idyllischen Vorstellungen in Heideggers Sprache zu registrieren. In Wahrheit wird hier eine bestimmte Funktion des Glockenläutens betont (auch wenn diese weitere mögliche Konnotationen nicht ganz neutralisiert, worauf noch zurückzukommen ist), und zwar dass es als eine Art Rufen, z.B. ein versammelndes (Zusammen-)Rufen dienen kann: Heideggers Erörterung zufolge ist dieses Geläut der Stille nämlich „das lautlos rufende Versammeln“, das in erster Linie als das Zusammenrufen von Nachbarschaften oder von Weltgegenden zu verstehen ist.43 Dass die Sprache des Wesens lautlos sein muss, erscheint äußerst konsequent, da sie sich jenseits der raumzeitlichen Koordinaten „ergeben“ muss, was ferner auch den letzten Deutungsvorschlag zu Georges Verzicht („kein ding sei wo das wort gebricht“) erhellen kann, wo Heidegger sich an einer Umschrift versucht, die wieder auf einer Synonymie gründet, die von einem grammatischen Paradigma angeboten wird: „Ein ‚ist‘ ergibt sich, wo das Wort zerbricht.“44 Wie übrigens bereits am Anlaufpunkt von Heideggers Lektüre festgestellt wurde („Wo etwas gebricht, ist ein Bruch, ein Abbruch eingetreten.“45), ist das Fehlen des Wortes im Wesentlichen dasselbe wie sein Bruch oder sein Zerbrechen. Diese Erfahrung wird zum Schluss der Interpretation eigentlich um das Moment bereichert, dass in diesem Bruch oder in diesem Fehlen ein Rückzug des Wortes in das lautlose „Wesen“ der Sprache erkennbar wird, was allerdings weiterhin nicht mehr besagt, als dass die wesenhafte Erfahrung mit der Sprache, sei sie dichterischer oder denkerischer Natur, nicht oder – besser gesagt – bloß in diesem Rückzug zur Sprache oder zum Wort kommt. Im Rückblick auf die Schwierigkeiten, die beim Versuch aufgetreten sind, eine klare Trennungslinie zwischen Dichten und Denken, Fragen und Erfahrung und weiteren ähnlichen Nachbarpaaren zu ziehen, genauer gesagt auf die Frage, weshalb diese zarten, aber klaren Differenzen bzw. Unterscheidungen notwendig sind, sollen hier zwei Bemerkungen zu Heideggers grandioser Vision vom Rückzug des wesenhaften Wortes angefügt werden. Zunächst: So sehr sich Heidegger von den alltäglichen oder wissenschaftlichen Begriffen von Nähe oder Sprache abgrenzt, kann er,

43 Zum Begriff s. auch Herrmann: Die zarte, aber helle Differenz, S. 284-286. Vgl. ferner Heideggers Formulierung im Herder-Seminar: „stimmende ‚Stimme‘ der stillenden Stille“ (Heidegger: Vom Wesen der Sprache, S. 72). Zur „lautlosen Stimme“ der Sage s. Heidegger: Der Weg zur Sprache, S. 255. 44 Heidegger: Das Wesen der Sprache, S. 216. 45 Ebd., S. 163. Zur Deutung des Zerbrechens s. Herrmann: Die zarte, aber helle Differenz, S. 288-290.

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indem er die Nähe als Ereignis begreifen will, das in der Sprache als „Sage“ und als „Be-wëgung“ stattfinden soll, in Wahrheit kaum vollständig auf eine Aufteilung oder Gliederung der Gegend solcher Nähe verzichten: Wird nämlich die Erfahrung der Nähe von Dichten und Denken, die auf beiden Seiten zugleich die Erfahrung des eigensten Wesens ist, auf das Ereignis zurückgeführt, liegt also das wesenhafte Eigene der beiden Erfahrungen genau in der Erkenntnis ihrer Nachbarschaft, so muss es doch mindestens eine innere Differenz innerhalb ihrer Wesensidentitäten weiterhin angenommen werden.46 Wäre dem nicht so, könnte das Wort des Wesens der Sprache ohne weiteres ausgesprochen werden (oder sich aussprechen), was aber eine Art von Selbstreflexivität voraussetzen würde (innerhalb der Sprache als „Zusage“ könnte die „Zusage“ als Wesen der Sprache eingegrenzt werden, zum Wort kommen oder – noch schlimmer – zum Gegenstand gemacht werden), die bei Heidegger kaum vorstellbar ist. Dort, wo das Denken oder der Dichter hinlangen kann, kann es schwerlich eine völlig ungegliederte Nähe geben. Andererseits fällt auf, dass Heidegger – und dies entgeht auch der Aufmerksamkeit von Jacques Derrida selbstverständlich nicht47 – das Ereignis immer wieder als eine äußerst materielle Gliederung oder Aufteilung darstellt, deren Spur (als „Riss“, „Schnitt“ oder „Zeichnung“) sich zwar vielleicht zurück- oder entziehen (wie die Parallelen von Dichten und Denken, deren Nähe einerseits von ihrem Schnittpunkt hergestellt wird, die sich andererseits erst im Unendlichen schneiden) oder eben Nähe produzieren mag (wie die Furchen oder Inskriptionen, die die Gegend der Nähe be-wëgen), in diesem Rückzug jedoch geographische oder begriffliche Nachbarpaare hinterlässt. Indem es sich zurückzieht (oder zerbricht), verursacht das Wort der „Sage“ Aufteilungen oder zumindest innere Unterscheidungen, zarte, aber helle Differenzen (in denen oder in die es zerbricht), dieser Rückzug ist vielleicht ja sozusagen gar nichts anderes als gerade dieses differenzierende Zerbrechen. Heideggers letzte Umschrift von Georges Verzicht impliziert (zumindest formal) zudem, dass dieses Zerbrechen oder diese Multiplikation von Differenzen mit dem „ist“, mit der „Gabe“ oder dem Sichergeben von Sein identisch ist. In diesem, an eine Art Emanation erinnernden Muster könnte freilich kaum das Wesen dessen erschlossen werden, wovon Heidegger spricht, zumal er zum Schluss des letzten Vortrags klarstellt, dass das lautlose „Wesen“ der Sprache gerade in der „Versammlung“ der verschiedenen Gegenden und Nachbarschaften besteht. Es könnte also vielmehr darum gehen, dass das, was vom „ist“ – diesem „winzigen Wort“48 – be-

46 Vgl. dazu ebd., S. 190. 47 Vgl. Derrida: Der Entzug der Metapher, S. 225-229. 48 Heidegger: Das Wesen der Sprache, S. 215.

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nannt wird, eben erst in diesem Rück- oder Entzug gegeben und also von allem, was in der Tat ausgesagt wird, notwendigerweise verdeckt ist.49 Die letzte Fassung der „denkerischen Erfahrung“ des George lesenden Heideggers kann nun also nur bedeuten, dass die wesenhafte Erfahrung des Sich-Gebens vom Sein das Zerbrechen des Wortes in der Stille erfordert. Deshalb ist der Verzicht des Dichters auf das Wort kein bloßer Verlust. Wie ist aber diese Stille zu verstehen, deren Läuten die Stimmen oder das Tönen der Welt (oder eben des Dichters) zerbricht? Für die Präzisierung der Fragestellung ist es nicht ganz überflüssig, auf Georges dichterische Spracherfahrung zurückzukommen, und – was, obwohl diese Verallgemeinerung etwas ungerecht klingt, in den Kommentaren zu Heideggers Gedichtinterpretationen oft fehlt – ein wenig näher an das Gedicht selbst heranzugehen. Heidegger konzentriert sich nämlich, trotz all seiner Beobachtungen bezüglich der Struktur des Gedichtes und des Weges der dichterischen Erfahrung, im Großen und Ganzen auf den Schlussvers, in dem der Verzicht geäußert wird, oder höchstens auf die letzte Strophe. Dies darf aber nicht wirklich überraschen, da – wie in der einige Jahre zuvor entstandenen und ebenso der „Zwiesprache“ von Dichten und Denken gewidmeten Studie zu Trakl ausgeführt wird – die primäre Aufgabe der Erörterung laut Heidegger darin besteht, den „Ort“ („ursprünglich“ also die Spitze des Speeres, in der alles zusammenläuft) zu identifizieren (dieser „Ort“ ist ein eigentlich ungeschriebenes Gedicht, in Wahrheit ein „Gedicht“ im Sinne des Kondensierten), der das ganze Gedicht oder gar die ganze Dichtung Trakls zum Sprechen bringt.50 In Bezug auf die folgenden Überlegungen soll gleich vorausgeschickt werden, dass sie Heideggers Lektüre im Prinzip weder widersprechen noch sie widerlegen können, was sie vielleicht aber doch nicht völlig überflüssig macht. Zunächst soll jedoch die Frage gestellt und kurz untersucht werden, ob und inwiefern Georges dichterische Erfahrung der denkerischen Erfahrung Heideggers mit Dichtung im Allgemeinen überhaupt entspricht. Es könnte nämlich

49 Als frühere Variante dieses Schemas s. z.B. Heidegger: Hölderlin, S. 37. („Das Wort als Wort bietet daher nie unmittelbar die Gewähr dafür, ob es ein wesentliches Wort oder ein Blendwerk ist. Im Gegenteil – ein wesentliches Wort nimmt sich in seiner Einfachheit oft aus wie ein Unwesentliches. Und was sich andererseits in seinem Aufputz den Anschein des Wesentlichen gibt, ist nur ein Her- und Nachgesagtes. So muss sich die Sprache ständig in einen von ihr selbst erzeugten Schein stellen und damit ihr Eigenstes, das echte Sagen, gefährden.“) 50 Vgl. Heidegger: Die Sprache im Gedicht. S. dazu auch Harries: Language and Silence, S. 160-161.

Synonymien: Heidegger und George

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darauf hingewiesen werden, dass sich Heidegger an anderer Stelle, wenn auch deutlich früher, vielleicht weniger skeptisch zeigt gegenüber derjenigen Fähigkeit von Dichtung, das Wesen der Sprache zu erfassen oder auszusprechen – im Gegensatz zu George, dessen Verzicht oder Schweigen dieses Wesen in seinem unaufhaltsamen Rück- oder Entzug verortet.51 Eine wirklich überzeugende Antwort auf diese Frage müsste den Umweg über eine gründliche vergleichende Untersuchung zwischen der hier behandelten George-Interpretation und den über zwanzig Jahre früher gehaltenen Vortrag über Hölderlin und das Wesen der Dichtung nehmen, also auf einen Text Heideggers näher eingehen, den er übrigens dem Entdecker und Herausgeber des Spätwerks von Hölderlin, Norbert von Hellingrath gewidmet hat, dessen Hölderlinbild ja im Kontext der Ästhetik Georges und des Georgekreises entwickelt wurde.52 Obwohl eine solche Untersuchung in diesem Rahmen kaum durchgeführt werden kann, scheint die berühmte Aussage des Hölderlinvortrags, dass „Hölderlin das Wesen der Dichtung [dichtet]“, deren Bedeutung von dem ihr vorausgehenden anderen Thesensatz erhellt ist, dem zufolge „das Wesen der Sprache aus dem Wesen der Dichtung verstanden werden“ muss, kaum eine wirklich überzeugende Parallele zu finden in den wiederholten Deutungsversuchen zum Verzicht von George.53 Hölderlin erscheint darüber hinaus auch in den George-Vorträgen (z.B. als missverstandener Gegenstand der Kritik eines Poeten der Gegenwart, nämlich Gottfried Benns), die berühmten Worte aus Brod und Wein („Nun, nun müssen dafür Worte, wie Blumen entstehen“) werden hier von Heidegger sogar als die Ankündigung der „Sage“, d.h. des „Wesens der Sprache“ herangezogen mit dem Hinweis, dass das richtige Verständnis dieser Ankündigung die – „erdhafte“ – Herkunft des Wortes aus „Läuten“ oder „Sage“ erhellen wird.54 Hölderlin scheint also der Erfahrung des Wesens der Sprache näher (gekommen) zu sein als George55, wobei jedoch kaum ausgeschlossen werden kann, dass die stärkere

51 Vgl. z.B. Bruns: Heidegger’s Estrangements, New Haven/London 1989, S. 39. 52 Zu Georges Verhältnis zu Hölderlin, das – mit Bezug auf die Wirkung der späten Hymnen Hölderlins auf George – an einer Stelle der Vorträge auch von Heidegger erwähnt wird (Heidegger: Das Wesen der Sprache, S. 182-183) s., in diesem Kontext kaum irrelevant, Gadamer: Hölderlin und George. 53 Vgl. Heidegger: Hölderlin und das Wesen der Dichtung, S. 47. bzw. 43. Vgl. aber auch Heideggers Bemerkung zum Schlussvers des Gedichts von George im Seminar von 1939: „Das Wort erst lässt Seiendes ein Seiendes sein (vgl. Hölderlin)“ (Heidegger: Vom Wesen der Sprache, S. 72). 54 Vgl. Heidegger: Das Wesen der Sprache, S. 206-209. 55 Vgl. Herrmann: Die zarte, aber helle Differenz, S. 303-305.

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Betonung des Entzugs dieses Wesens beim späteren Heidegger nun genau deshalb auf die Erfahrung eines modernen Dichters mit der Sprache angewiesen ist (in der Literatur taucht zumindest mehrmals die Annahme auf, die die Sprachauffassung des späten Heideggers mit der der modernen Lyrik in Zusammenhang bringt56). Andererseits ist Hölderlins schwerwiegende Präsenz nicht nur in Heideggers Georgelektüre, sondern auch hinter den für Heideggers Deutung entscheidenden Schlüsselstellen des Gedichtes von George kaum zu übersehen. Es trifft vielleicht bereits auf das vorhin zitierte Beispiel, also auf die Vorstellung des ähnlich wie Blumen oder Blüten entstehenden Wortes in Brod und Wein zu, dass sie vom Text von Das Wort in den Gesichtskreis von Heideggers Interpretation einbezogen wurde, wo das durch das entsprechende Wort gesicherte Sein der Schätze, die der Dichter von seinen früheren Streifzügen mitgebracht hat, durch dieselbe Vorstellung veranschaulicht wird („Nun blüht und glänzt es durch die mark…“). Wichtiger ist jedoch, dass in Georges vermutlich um 1914 geschriebener „Lobrede“ über Hölderlin, die Gadamer einen „Prosahymnus“ genannt hat,57 der große Vorläufer als ein Taucher erscheint, „der zur quelle der sprache hinabtauchte“ und „das lebengebende wort“ heraufgebracht hat: Auf diese Formulierung, in der vermutlich Hölderlins Andenken widerhallt („[…] Mancher / trägt Scheue, an die Quelle zu gehen“), dürfte in Das Wort durch die Figur der Norne angespielt werden, die den Born der Wörter (und damit eigentlich des Seins) bewacht und von der der heimkehrende Dichter die Namen für seine Schätze verlangt (vielleicht ist es nicht ganz irrelevant, dass sowohl die Rede als auch das Gedicht zuerst 1919, im XI/XII. und letzten Band der Blätter für die Kunst erschienen sind). In Georges Lobrede wird übrigens auch Hölderlins Wiederentdeckung in diesen Bildzusammenhang platziert (als ein sybillinisches Buch, in dem sich „eine unbekannte welt des geheimnisses und der verkündigung“ eröffnet), ein Ereignis, das George – wieder mit Schlüsselwörtern aus Das Wort – ein nunmehr „greifbares wunder“ nennt und das die bis dahin missverstandene Gestalt Hölderlins (der größtenteils als ein „zarter erträumer von vergangenheiten“ galt) nun zurechtgestellt haben soll. Der Rede hat George eine Montage aus verschiedenen Hymnen Hölderlins vorangestellt, die mit dem Schlussteil des unter dem Titel [An die Madonna] geführten Fragmentes endet,

56 Als ein Beispiel mit Bezug auf die Georgelektüre s. Rosenfeld: The Being of Language. 57 S. George: Hölderlin, S. 58-60. Vgl. ferner – allerdings mit falscher Datierung der Rede – Herrmann: Die zarte, aber helle Differenz, S. 97-100, bzw. Gadamer: Hölderlin und George, S. 231.

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wo wieder Ausdrücke und Vorstellungen zu finden sind (scheinendes „Wunder“, „ergriffene“ Gaben einer von höheren Machten unterstützten weiblichen Instanz), die auch in der Darstellung der dichterischen Erfahrungen in Das Wort eine wichtige Rolle spielen: „[…] Heilig sind sie, / Die Glänzenden, wenn aber alltäglich / Die Himmlischen und gemein / Das Wunder scheinen will, wenn nämlich / Wie Raub Titanenfürsten die Gaben / der Mutter greifen, hilft ein Höherer ihr.“ Der Weg des Dichters, der seine Schätze nach Hause bringt und die darauf folgende Namengebung („Wunder von ferne oder traum / Bracht ich an meines landes saum / Und harrte bis die graue norn / Den namen fand in ihrem born –“) könnten ferner auch mit einer diesbezüglich relevanten Passage des auch in Heideggers Hölderlinbuch behandelten Gedichtes Heimkunft in Verbindung gebracht werden („Freilich wohl! Das Geburtsland ist’s, der Boden der Heimat, / Was du suchest, es ist nahe, begegnet dir schon. / Und umsonst nicht steht, wie ein Sohn, am wellenumrauschten / Tor und siehet und sucht liebende Namen für dich, / Mit Gesang, ein wandernder Mann, glückseliges Lindau! / Eine der gastlichen Pforten des Landes ist dies, / Reizend hinauszugehn in die vielversprechende Ferne, / Dort, wo die Wunder sind […]“), zumal da an einer späteren Stelle des Hölderlingedichtes im Großen und Ganzen auch eine eigentümliche Präfiguration des Georgeschen Verzichtes zu finden ist („Schweigen müssen wir oft; es fehlen heilige Namen, / Herzen schlagen und doch bleibet die Rede zurück?“). Dieser Zusammenhang kann hier nicht weiter verfolgt werden, aufgrund des Bisherigen lässt sich jedoch vielleicht auch hier soviel feststellen, dass nicht a priori vorausgesetzt werden kann, dass die Erfahrung des Verzichtes bei George einfach als ein plattes Zurückschrecken vor einer Offenbarung des „Wesens der Sprache“ zu verstehen ist, die Heidegger bei dem „Dichter des Dichters“58 erfahren hatte. Die Beziehung zwischen dem Entzug und der dichterischen Gründung des „Wesens der Sprache“ ist vielleicht auch eine Synonymie und lässt sich ebenso wenig mit den Kategorien von Identität und Differenz beschreiben wie die Nachbarschaft von Dichten und Denken. Die Weise, nach der die dichterische Erfahrung der Sprache in Georges Gedicht zum Ausdruck kommt, bestimmt Heideggers denkerische Erfahrung jedenfalls nicht nur in Bezug auf den Gegenstand dieser Erfahrung, sie hinterlässt ihre Spuren auch in der Sprache der Vorträge. Wie vorhin deutlich wurde, ist die Erfahrung des Helden des Gedichtes nicht erst in Heideggers Paraphrase, sondern auch wortwörtlich ein Weg: Beide der ansonsten einander gegenübergestellten Erfahrungen, die zum Verzicht des Dichters führen, sind in gleicher Weise als seltsame Streifzüge dargestellt, in denen der Dichter die verschieden-

58 Heidegger: Hölderlin und das Wesen der Dichtung, S. 34.

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sten Gegenden bereist (und zugleich be-wëgt?) und mit Schätzen der Ferne nach Hause (in beiden Fällen: „mein land“) zurückkehrt. Diese geographische Figuration, eine Art „mapping“ also, scheint auch Heideggers denkerischen Weg vorgezeichnet zu haben, davon zeugt zumindest die regionale Metaphorik seiner Interpretation, die sich in den Vorstellungen von Gegend, Nachbarschaft, Wegen (und ferner von „anlangen“ und „Erfahrung“: „Einst langt ich an nach guter fahrt“) ausdrückt. Heidegger schreckt freilich auch vor den größten Anstrengungen nicht zurück, wenn es um die Modifizierung der auf der Hand liegenden Bedeutungen dieser Vorstellungen geht, auch wenn es dieselben Bedeutungen sind, auf die auch die Bildlichkeit von Georges Gedicht begründet ist. Georges dichterische Wege oder Fahrten setzen z.B. die Parameter von Nähe und Ferne durchaus voraus (sein Dichter bringt „wunder von ferne“ in sein Land mit), wie auch seine Vorstellung der Nachbarschaft in erster Linie von dem geographischen Muster der benachbarten Länder stammen dürfte, die durch Grenzgegenden wie „saum“ oder „mark“ getrennt sind. Diese sind allerdings – vor allem im Falle von „mark“ – derjenigen Inschrift- oder Einschnittartigkeit nicht mehr ganz fremd, auf die Heidegger mit Bezug auf den Ursprung der Parallelen von Denken und Dichten hingewiesen hat59, die Gabe der in dieser Grenzregion wohnhaften Norne, d.h. der Name scheint gerade dieses „Grenzland“ zu überstrahlen (eher: zum Strahlen kommen zu lassen) – „nun blüht und glänzt es durch die mark …“ –, was freilich zugleich bedeuten muss, dass diese Gabe den Zug, den Grenzzug allerdings, unsichtbar macht und dazu drängt – sich zurückzuziehen. Die Grenze, die – in Heidegger Paraphrase – zwischen dem „dichterischen Sagen“ und dem „geschickhaften Quell der Sprache“ verläuft, ist selber eine „geheimnisvolle Landschaft“, das (Be-)Reich des Wortes oder der Sprache. Jenseits dieses Bereichs sollte also das Jenseits oder das Andere der Sprache geahnt werden, das, was nicht Sprache ist oder sich der Sprache widersetzt, und was – nach dem zweiten, erfolgslosen Weg des Dichters – den Schatz oder das Kleinod (in Heideggers Deutung: das Wort für das Wesen der Sprache) verschlingen wird, nachdem diesem keine Einfuhrbewilligung beim Born der Wörter erteilt wird. Darauf bezieht sich hier der Verzicht, „kein ding sei wo das wort gebricht“. Das Gedicht tut allerdings nicht (oder nicht ganz), was es sagt. Das auffälligste Formprinzip des Textes ist nämlich nicht das des Mangels, sondern das von Fülle oder Überfluss. Von allem gibt es zwei (oder: mehr als eines). Dies lässt sich bereits an der schon erwähnten strukturellen Gliederung (die zwei unter-

59 Vgl. Heidegger: Das Wesen der Sprache, S. 171. S. dazu auch Derrida: Der Entzug der Metapher, S. 227.

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schiedlich ausgehende „Fahrten“ einander gegenüberstellt) erkennen, sowie an den zweizeiligen Strophen, den reinen Paarreimen, und ferner auch an gewissen syntaktischen Merkmalen, z.B. daran, dass George regelmäßig zwei identische Satzteile nebeneinander stellt (zwei Genitivattribute: „wunder von ferne oder traum“; zwei hinten angestellte Modalbestimmungen oder Attribute: „dicht und stark“, „reich und zart“; zwei Prädikate: „blüht und glänzt“). Einige dieser Beiordnungen produzieren eigentlich Synonymien oder zumindest eine gewisse Nähe zwischen den aktuellen Bedeutungen der beigeordneten Elemente, an entscheidenden Stellen geht es jedoch tatsächlich um Synonyme, und zwar um teils entfremdende oder etwas archaisierend wirkende Bedeutungsnachbarschaften, die sich keineswegs auf die Alltagssprache beschränken: Die Grenzen des Landes des Dichters werden zunächst „saum“, dann „mark“ genannt, die auf der letzten Reise gemachte Beute, die dann nicht aufbewahrt werden kann, heißt zunächst „kleinod“ (vor einigen Jahre „erreichte“ dieses Wort Platz 1 auf einer Liste der gefährdeten deutschen Wörter), später dann einfach „schatz“. Dem Gedicht fehlt es also durchaus nicht an Wörtern. Im Gegenteil: Es war gerade Heidegger, der gezeigt hat, dass es mit seinen Wörtern sogar zu handeln fähig ist. Wie überzeugend kann, in diesem Zusammenhang, der Verzicht zum Schluss des Gedichtes sein, wohin konnte der Schatz verschwinden, für den das Gedicht in den vorigen Strophen nicht nur ein, sondern zwei Wörter gefunden hat? Oder geht es vielmehr eben darum, dass die Nachbarschaft von zwei Wörtern, die also immer mehr als eines sind, gerade das Wort selbst verdeckt, dass also die Fülle solcher Nachbarschaften davon zeugt, dass das Wort (das Wort, das das Wesen der Sprache aussagt) in der oder in die Vielheit der Wörter zerbricht und verschwindet? „Lauter Wörter und kein einziges Wort“ – meint Heidegger, sich dem Ende des zweiten Vortrags nähernd, ziemlich lakonisch zum Wörterbuch als einem auf der Hand liegenden Mittel der Fassung von Sprache.60 Inwiefern ändert das etwas an der wesentlichen Erfahrung der zur Sprache kommenden (genauer: glockenartig läutenden) Stille, zu der Heidegger auf seinem zirkulären Denkweg gelangt ist? Geht es in der dichterischen Erfahrung des Georgeschen Verzichtes in Wirklichkeit etwa darum, dass diese Stille nicht einfach verdeckt wird, sondern dass sie zugleich das Stimmengewirr der Fülle von Wörtern unterbricht? Im Folgenden kann nichts mehr unternommen werden, als einige (vier) alternative Antwortmöglichkeiten auf diese Frage zu entwerfen und – auf negative Weise – zu untersuchen, welche Voraussetzungen dadurch in Heideggers Lektüre zum Vorschein kommen.

60 Heidegger: Das Wesen der Sprache, S. 192.

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Als erste bietet sich eine Lektüre an, in der das Fehlen des Wortes im Wesentlichen als Äquivalenzmangel begriffen wird. Produkte der dichterischen Einbildungskraft wie Wunder oder Traum und all die Schätze, die aus den Streifzügen stammen, die in diesen Reichen unternommen wurden, entsprechen keiner Ordnung der Wörter, davon könnte Georges Erfahrung zeugen oder, auf einer höheren Reflexionsebene von der Einsicht, dass diese Auffassung von dichterischer Imagination umgedacht werden muss: Das Sein der Dinge wird in der Poesie nicht von der Imagination, sondern von der Sprache getragen.61 Dies lässt sich, darauf hat Herrmann hingewiesen, auch mit Heideggers Überlegungen zur Beziehung (zur Nachbarschaft, zur zarten, aber hellen Differenz) zwischen Dichten und Denken, Vorstellung und Begriff in Zusammenhang stellen;62 aus der Sicht gängiger Medientheorien – wie z.B. in Friedrich Kittlers kurzem Kommentar zu Das Wort – werden dadurch hingegen vor allem die Möglichkeitsgrenzen der Übersetzung (oder Transposition) zwischen Medien, d.h. wird eine Art Medienkonkurrenz sichtbar: Was als Bild gespeichert werden kann (hier im Medium von Traum oder Phantasie) trifft nicht unbedingt auf Äquivalentes im Nornenborn (der Sprache).63 Die Stille (das Läuten oder – medientheoretisch formuliert – das Rauschen) des Wesenswortes ist der Bruch selbst, die zarte, aber helle Differenz. Diese oder eine ähnliche Lektüre würde selbstverständlich auf den ernsthaften Widerstand von Heideggers Sprache stoßen, eines jedoch könnte sie sichtbar machen. Das wesentliche Wort der Sprache kann sich nämlich vielleicht deshalb nicht aussagen, weil das, was dadurch zum Sein kommen könnte (und das ggf. nicht ausschließlich in der Sprache zugänglich wäre), diesen Bruch oder diese Differenz (z.B. die Unmöglichkeit der Übersetzung oder der Transposition) dem Wort einschreibt. Die zweite, zugleich die wahrscheinlichste und Georges Auffassung von Dichtung vielleicht am nächsten stehende Lektüre dürfte den Schlussvers des Gedichtes als die Erkenntnis deuten, dass es in der Dichtung ausschließlich auf den Ausdruck ankommt. Das würde einerseits implizieren, dass, was nicht zum Wort kommt oder keine poetische Form annimmt, gar nicht existiert, andererseits (was die Bedeutung oder die Rolle der Norne erhellen würde), dass der Dichter keine Macht über den Ausdruck hat, er gibt ja nicht, sondern verlangt bzw. wartet auf das entsprechende Wort, und zwar mit nie ermüdender Standhaftigkeit („Und harrte bis die graue norn“). Diese Deutung macht sich, auch in Kenntnis von Heideggers Interpretation, z.B. Gadamer zu eigen, der sich in fünf

61 Vgl. Herrmann: Die zarte, aber helle Differenz, S. 100-101. 62 Vgl. ebd., bes. S. 303-313. 63 Vgl. Kittler: Aufschreibesysteme, S. 322-323.

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verschiedenen Aufsätzen mit George beschäftigt hat: Der Dichter „weiß – und dieses Wissen verleiht dem Lehrer Stefan George [dessen Lehre eigentlich darin besteht, dass er traurig den Verzicht lernt – ZKSz] seine letzte Glaubwürdigkeit –, dass nur das ins Wort Gebannte, nur das Gesehene und für alle Sichtbare, wirklich da ist und daß bloßes Gemeintes nicht gilt.“64 Die Gabe des Seins ist auch in dieser Lektüre eine sprachliche Gabe und also eine Zusage, über die der Seiende (der Sprechende) keine Macht hat, trotz der Tatsache, dass er mitten in dieser Gabe oder Zusage existiert. Wie bereits festgestellt werden konnte, ist die wesentliche Form der Erfahrung des Sprechers mit der Sprache bzw. seiner Beziehung zur Sprache für Heidegger mehr das Hören einer Zusage, als das erst aus diesem ableitbare Fragen. Es gibt zwei Stellen im Gedicht, wo die sprachliche Beziehung des Sprechers zur Norne, die die Gaben oder eben den Entzug der Sprache verkörpert, thematisiert wird (in der dritten Strophe wird nur gewartet). In der fünften Strophe muss der Sprecher sich die in Anführungszeichen gesetzte „Kundgabe“ der Norne anhören („Sie suchte lang und gab mir kund: / ‚So schläft hier nichts auf tiefem grund‘“), die jedoch vermutlich auf eine Hinwendung zu dieser oder auf eine zumindest implizierte Anrede folgt, die notwendigerweise die Züge des Fragens tragen muss, in der letzten Strophe hingegen gibt es tatsächlich keine Fragen mehr: Hier wendet sich ein Zitat in indirekter Form (das Fehlen der Anführungszeichen ist dabei durchaus konsequent) ins Performative (bleibt damit aber, wie jede performative Äußerung, unvermeidlich etwas Zitiertes). Der Verzicht (bzw. seine Aussage oder – im performativen Sinne – Verordnung) also, könnte man folgern, gehört selbst in den Kreis der Gaben, in dieser Lektüre würde also das sich entziehende (und gerade als Gabe existierende) Wort des Wesens auf eine gewisse Weise eigentlich doch zum Wort kommen, das heißt: es würde hier keinen wirklichen Unterschied geben zwischen der Aussage und dem Rückzug des Wesens von Sprache. Die dritte Möglichkeit folgt, obwohl sie in der diesbezüglichen Literatur nirgends erwogen wird, äußerst selbstverständlich aus den Eigentümlichkeiten der bildlichen und sprachlichen Ebenen des Gedichtes. Von einem, der das Suchen und/oder Finden des Wortes, erstens, in einer eindeutig als geographisch zu verstehenden Umgebung darstellt und mit zweifacher Betonung als eine über Grenzen, ja sogar Landesgrenzen quer führende Heimreise erzählt, und dabei, zweitens, ununterbrochen mit Synonymen experimentiert, unter denen auch archaische, entfremdende, fast unbekannte Ausdrücke zu finden sind, könnte mit

64 Gadamer: Der Dichter Stefan George, S. 228. Vgl. ferner Gadamer: Hölderlin und George, S. 243-244. Zu Heideggers Deutung des „Lernens“ vom Verzicht s. Heidegger: Das Wesen der Sprache, S. 169.

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einer gewissen Wahrscheinlichkeit behauptet werden, dass es ihm – um Übersetzung geht. Hier also wieder ein, wenn auch ein anderes, System der Äquivalenzen: Der gesuchte Schatz könnte hier das treffende Wort oder mehr noch: die Äquivalenz als solche bedeuten, es ist der Rückzug dieser Äquivalenz, mit dem der Dichter schließlich unvermeidlich konfrontiert wird. Dass der Synonymie in der sprachlichen Selbstdarstellung des Gedichtes eine zentrale Rolle zukommt, erscheint aus dieser Sicht gleich zweifach konsequent: Synonymie setzt eine Art partielle Identität (Identität und eine zarte, aber helle Differenz zugleich) voraus, andererseits könnte mit einigem Recht behauptet werden, dass sie sich in erster Linie in der Erfahrung der Übersetzung kundgibt – so z.B. in der verzweiflungsvollen und wesenhaften Unmöglichkeit, Heideggers Worte durch ein einziges Wort in einer Paraphrase oder in einer anderen Sprache wiederzugeben. Es ist im gewissen Sinne sogar gerade das Übersetzen, das Verhältnis zwischen verschiedenen Sprachen, in dem Synonymie in Erscheinung treten kann, der wahre Ort der Synonymie: Die semantische Nachbarschaft von zwei Wörtern wird ja z.B. öfters darin am eindringlichsten erhellt, dass sich beide als mehr oder weniger gleichwertige Übersetzungen für einen Ausdruck einer anderen Sprache anbieten. In den Vorträgen zu Georges Gedicht kommt Heidegger selten, aber an wichtigen Stellen auf die Frage der Übersetzung zu sprechen. In Bezug auf die Bedeutung von „Logos“ weist er gerade auf die Synonymie von Sein und Sagen hin („Dieses Wort spricht in einem zumal als Name für das Sein und für das Sagen“),65 später dann, wo es um die richtige Deutung von „Weg“ geht, behauptet er, dass „im dichtenden Denken des Laotse“ das Wort Dao (Tao) „eigentlich“ Weg bedeute.66 „Eigentlich“ steht hier tatsächlich in Anführungszeichen, da Heidegger u.a. gerade in den Georgevorträgen unter Beweis stellt, dass er nicht wirklich an die linguistische Annahme einer „eigentlichen Bedeutung“ glaubt, beispielsweise an der viel zitierten Stelle, wo er mit Bezug auf Hölderlins Metapher der blühenden Worte die Aussage macht, dass hier nur die Metaphysik von Metaphern sprechen würde.67 Die Übersetzung von Dao als „Weg“, so Heidegger, wurde immer wieder für ungeeignet befunden, so dass es erst durch eine Mehrzahl von Wörtern treffend wiedergegeben werden konnte (Vernunft, Geist, Raison, Sinn, Logos), was hier in Bezug auf zwei Zusammenhänge interessant sein kann. Erstens erscheint hier Logos, ein Wort also, das Heidegger durch die Annahme der Synonymie von zwei weiteren Wörtern

65 Ebd., S. 185. 66 Ebd., S. 198. 67 Ebd., S. 207. Für eine auch in diesem Zusammenhang relevante Interpretation des Hölderlinschen Vergleichs s. de Man: Intentional Structure, S. 1-7.

Synonymien: Heidegger und George

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erörtert hat, selber als ein Glied in einer Reihe von Synonymen (kann also nicht mehr als die Äquivalenz als solche funktionieren, es kann nicht mehr ein einziges Wort sein), andererseits vereint Heidegger dennoch diese Bedeutungen (zur Erinnerung: „Geläut der Stille“ wurde u.a. als versammelndes Rufen erörtert), indem er feststellt, dass der Dao (und der ganze Kreis der Wörter, die seine Bedeutung entfalten) einfach „der alles be-wëgende Weg“ sein könnte. Hier könnte auf eine viel zitierte Stelle von Der Ursprung des Kunstwerkes hingewiesen werden, wo Heidegger „die Bodenlosigkeit des abendländischen Denkens“ auf die lateinische Übernahme der griechischen Wörter zurückführt und dies damit erklärt, dass „das römische Denken […] die griechischen Wörter“ (im Plural) zwar übernimmt, aber „ohne die entsprechende gleichursprüngliche Erfahrung dessen, was sie sagen, ohne das griechische Wort“ (hier also im Singular).68 Das Wort ist, im Singular, die Einheit von Erfahrung, Bedeutung und Sprache, und als solche vielleicht schlechthin unübersetzbar, im Plural sind Wörter bloße Äquivalenzen. Es ist daher kaum von ungefähr, dass Heidegger in einer Vorlesung von 1942/1943 Übersetzung als einen Vorgang innerhalb der eigenen Sprache situiert, dessen wesentlichen Sinn er darin erblickt, dass die Übersetzung die (Mutter-)Sprache zu diesem „Wort“ im Singular hinführt.69 In seiner Erklärung zum Begriff Dao kann er freilich, in dieser Hinsicht äußerst konsequent, einerseits nicht auf die Verdopplung der Wörter (diesmal auf die homonyme Multiplizierung von „Weg“), d.h. auf eine zarte, aber helle innere Differenz verzichten, kann aber andererseits schließlich die Einheit von Weg und Dao erst dadurch behaupten, dass er das Wort (hier: den Namen) – als „das Geheimnis aller Geheimnisse des denkenden Sagens“ – zu dem diesem eigenen „Unausgesprochenen“ zurückführt. Die Lektüre, die vom Begriff der Übersetzung ausgeht, dürfte darauf hinweisen, dass die Stille des Unausgesprochenen im Wort in Wahrheit die Stille des Bruchs oder des Rauschens zwischen Sprache und Sprache sein könnte, eine Stille, von der nicht ohne weiteres angenommen werden kann, dass es Wege gibt, die von hier aus, von den Wörtern also, zu dem Wort selbst führen. Diese Stille ist vielleicht einfach die Stille (des Entzugs) der eigentlichen Bedeutung.

68 Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 8. Zu diesem Zusammenhang von Heideggers Übersetzungsbegriff s. Gondek: Logos und Übersetzung, S. 269-270, bzw. Grotz: Vom Umgang mit Tautologien, S. 123-153. 69 Heidegger: Parmenides, S. 17-18. „Zum Wesen der Sprache scheint es für ihn nicht zu gehören, dass Sprache – die Sprachen – immer im Plural vorkommt.“ (Gondek: Logos und Übersetzung, S. 275-276)

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Die vierte Lektüre, die leider unausweichlich ins Vulgäre führen muss, greift gerade eine bisher unerwähnt gebliebene Eigentümlichkeit der dichterischen Erfahrung der Übersetzung auf. Sie könnte davon ausgehen, dass das, was Heidegger zu Beginn seiner Vorträge, wo es um die erste, auf der Hand liegende, noch keineswegs wesenhafte Erfahrung von Sprache ging, als eine gespensterhafte, ferne, flüchtige Berührung mit dem Wesen der Sprache dargestellt hat, d.h. der Fall, in dem der Sprecher das treffende Wort einfach nicht findet, nicht nur auf die Erfahrung einer allgemeinen Fremdheit der Sprache, sondern auf eminente Weise auch auf die schlichte Erfahrung fremder Sprachen hinweist. Diese Erfahrung interessiert hier nun aber weniger im Bezug auf die Übersetzung, sonder eher in dem von Heidegger unmittelbar gemeinten Zusammenhang, besonders mit Blick auf den Schlussvers von Georges Gedicht: „kein ding sei wo das wort gebricht“. Wo das Sprechen stecken bleibt oder aussetzt, wo das treffende Wort fehlt, dort kommen bekanntlich oft reflexartig Ausdrücke zu Hilfe, deren Bedeutung meistens unterdefiniert bleibt und die diesen Mangel häufig durch eine deiktische Funktion kompensieren, z.B. in der Form des platten Hinweises auf ein Ding. Ein „Ding“ (und/oder seine Weiterbildungen, wie etwa „Dingsda“, ein Ausdruck, der bereits in Grimms Deutschem Wörterbuch vorkommt70 und der es viel später bis zum Titel einer Fernsehsendung gebracht hat, wo es um das Erraten von Begriffen aufgrund diverser Umschreibungen ging) taucht genau in dem Moment auf, wo es an Wörtern eigentlich fehlt. Ein ding sei wo das wort gebricht. Oder, um Heideggers denkerische Erfahrung umzuschreiben: Ein ‚ding‘ ergibt sich (gerade dort), wo das Wort zerbricht. Es ist zwar so, dass das Wort – daran erinnert Heidegger – kein Ding ist (anderenfalls könnte es ja kaum oder bloß in einem sehr prosaischen Sinne fehlen), „Ding“ kann hingegen ohne weiteres als Wort auftreten, auch wenn es damit hin und wieder an die Grenzen der Frage rührt, inwiefern oder wie weit ein Wort eigentlich ein Wort sein kann. Was könnte das bedeuten? In erster Linie, dass das fehlende, sich verweigernde Wort sich nicht nur in die Stille des Wesens der Sprache zurückziehen kann, sondern auch in den Bereich einer Artikulation, in der die Grenzen („säume“ und „marken“) von Sprache, die Ränder der Signifikation zum Vorschein kommen. Näher betrachtet geht es hier vielleicht um eine Unentscheidbarkeit, darum, dass nicht entschieden werden kann, ob, sollte die Norne das treffende Wort zurückhalten, die Erfahrung des Verzichtes wirklich in der Stille der Gabe des Seins oder – ganz im Gegenteil – vielleicht doch genau in der in jedem möglichen Sinne pluralischen Unzulänglichkeit oder im ständigen (Ent-)Gleiten der Sprache bestehen wird, anders

70 Grimm/Grimm: Deutsches Wörterbuch 2, Sp. 1117.

Synonymien: Heidegger und George

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formuliert: ob die Sprache beim Rückzug des fehlenden Wortes in ihr seingebendes Wesen nicht im Rauschen der „Wörter“ (nicht etwa „Worte“) stecken bleibt oder sogar (wie Heidegger formuliert) zerbricht. Ist es möglich, zwischen Entzug und Zerbrechen des Wortes, zwischen „gebricht“ und „zerbricht“, zwischen der oberflächlichen oder flüchtigen und der denkerischen oder dichterischen Erfahrung des Wortes, d.h.: zwischen dem versammelnden Rufen und dem hohlen Dingdong der Glocke zu unterscheiden, die laut Heidegger Stille und Wesen der Sprache läuten soll? Es ist zweifellos unwahrscheinlich, dass diese Fragen Heideggers denkerische Erfahrung dekonstruiert haben, und das umso weniger, als ein möglicher Schlüssel zu ihrer genaueren Artikulierung gerade bei Heidegger (u.a. im Begriff der „zarten, aber hellen Differenz“) aufgefunden wurde. Sie bezeugen aber immerhin die Notwendigkeit einiger weiterer – eigentlicher oder uneigentlicher – Schritte (zurück?) auf dem Weg des Denkens.71

LITERATUR Biemel, Walter: Dichtung und Sprache bei Heidegger, in: Man and World 4 (1969), S. 487-514. Bruns, Gerald L.: Heidegger’s Estrangements, New Haven/London 1989. de Man, Paul: Intentional Structure of the Romantic Image, in: ders., The Rhetoric of Romanticism, New York 1984, S. 1-18. Derrida, Jacques: Der Entzug der Metapher, in: A. Haverkamp (Hg.), Die paradoxe Metapher, Frankfurt a.M. 1998, S. 197-234. Gadamer, Hans-Georg: Der Dichter Stefan George, in: ders., Ästhetik und Poetik II (= Gesammelte Werke [GW] 9), Tübingen 1993, S. 211-228. — Hölderlin und George, in: ders., Ästhetik und Poetik II (= GW 9), Tübingen 1993, S. 229-244. — Martin Heidegger 75 Jahre, in: ders., GW 3, Tübingen 1987, S. 186-196. — Wahrheit und Methode (= GW 1), Tübingen 61990. George, Stefan: Hölderlin, in: ders., Tage und Taten (Sämtliche Werke 17), Stuttgart 1998, S. 58-60. Gondek, Hans-Dieter: Logos und Übersetzung, in: A. Hirsch (Hg.), Übersetzung und Dekonstruktion, Frankfurt a.M. 1997, S. 263-348. Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch 13, Leipzig 1889. Grotz, Stephan: Vom Umgang mit Tautologien, Hamburg 2000.

71 Vgl. den Schluss Heideggers: „Dieses Zerbrechen des Wortes ist der eigentliche Schritt zurück auf dem Weg des Denkens.“ (Heidegger: Das Wesen der Sprache, S. 216)

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Harries, Karsten: Language and Silence, in: W.V. Spanos (Hg.), Martin Heidegger and the Question of Literature, Bloomington 1979, S. 55-171. Heidegger, Martin: Das Wesen der Sprache, in: ders., Unterwegs zur Sprache, S. 147-204. — Das Wort, in: ders., Unterwegs zur Sprache, S. 205-226. — Der Ursprung des Kunstwerkes, in: ders., Holzwege (= GA 5), S. 1-74. — Die Frage nach der Technik, in: ders., Vorträge und Aufsätze, Stuttgart 1954, S. 5-40. — Die Sprache im Gedicht, in: ders., Unterwegs zur Sprache, S. 31-78. — Hegels Begriff der Erfahrung, in: ders., Holzwege (= GA 5), S. 105-192. — Hölderlin und das Wesen der Dichtung, in: ders., Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung (= GA 4), Frankfurt a.M. 1981, S. 33-48. — Parmenides (= GA 54), Frankfurt 1982. — Unterwegs zur Sprache, Stuttgart 1959. — Vom Wesen der Sprache. Die Metaphysik der Sprache und die Wesung des Wortes zu Herders Abhandlung „Über den Ursprung der Sprache“ (= GA 85), Frankfurt a.M. 1999. Herrmann, Friedrich-Wilhelm von: Die zarte, aber helle Differenz, Frankfurt 1999. Kittler, Friedrich A.: Aufschreibesysteme 1800·1900, München 42003. Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin/ New York 221989. Rosenfeld, Alvin H.: „The Being of Language and the Language of Being“, in: Martin Heidegger and the Question of Literature, Bloomington 1979, S. 195214.

II. Schriftlichkeit, Iterabilität und Energeia des Sprechens

Aussprachen und Sprechweisen Die Medialität des artikulatorischen Akzents Natalie Binczek

GRAMMATOLOGIE DES SPRECHENS Lassen sich jenseits des „bestimmten Typus strukturell und axiologisch bestimmter Verhältnisse zwischen gesprochenem Wort und Schrift“1 Konturen einer ‚Grammatologie des Sprechens‘ skizzieren? Impliziert wäre damit eine Auffassung, mit welcher das Sprechen nicht als die metaphysische Rückseite der Schrift konzipiert, sondern in den Horizont einer medienwissenschaftlichen Perspektive gerückt werden könnte. Im ersten Kapitel der Grammatologie bereits nimmt Derrida die Beantwortung vorweg, wenn er auf die Bedeutung der damals aktuellen „Informationspraktiken“ sowie der akustischen Aufzeichnungs- und Reproduktionstechnologien verweist: [D]ie Entwicklung der Informationspraktiken [vergrößert] auch die Möglichkeit dessen, was man ‚message‘ nennt, so daß diese nicht mehr die ‚geschriebene‘ Übersetzung einer Sprache darstellt, die Übertragung eines Signifikates, das als Gesprochenes vollständig erhalten bleiben könnte.2

Während Derrida an dieser Stelle auf die veränderten ‚Informationspraktiken‘ im allgemeinen Bezug nimmt, weil sie das Schema der Bedeutungsübertragung transformieren, indem sie sie von der Verankerung im Signifikat des gesprochenen Wortes lösen –, während er hier also die Funktion der Medientechnologie darin begründet sieht, dass sie das Konzept einer über Signifikate verbürgten

1

Derrida: Grammatologie, S. 49.

2

Ebd., S. 23.

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Informationsverarbeitung aufhebt, fährt er im nächsten Satz mit dem Verweis auf ein spezifisches akustisches Aufzeichnungsmedium fort: Hinzu kommt die Ausweitung der Phonographie und all jener Mittel, mit deren Hilfe die gesprochene Sprache konserviert und außerhalb der Präsenz des sprechenden Subjekts verfügbar gemacht werden kann.3

Zwar arbeitet die Grammatologie unter dem Begriff des ‚Phonozentrismus‘ eine spezifische Ideologie im Verständnis der Stimme und der Mündlichkeit in unterschiedlichen textuellen Konstellationen auf. Sie tut dies jedoch als Reaktion, wie von der zitierten Textstelle nahegelegt, auf die veränderten „Informationspraktiken“ und Medientechnologien. Eben weil die Auffassung, die Stimme sei die metaphysisch verwurzelte Rückseite der Schrift, durch neue bzw. neuere „Informationspraktiken“ und Medientechnologien widerlegt worden ist, kann sie nur noch als ein historisch gewordenes, wenngleich extrem wirkmächtiges Konzept beschrieben werden. In Bezug auf die Phonographie betont Derrida dabei, sie diene als Medium der Konservierung und Verfügbarmachung der Stimme unabhängig vom „sprechenden Subjekt“. Die phonographisch aufgezeichnete und reproduzierte Stimme ist somit selbst grammatologisch bestimmt, was die Bezeichnung Phonographie noch unterstreicht. Sie kann nicht als Ausdruck eines sprechenden Subjekts aufgefasst werden, sondern stellt nur noch eine mediale ‚Spur‘ dar,4 die im Modus des Hörbaren generiert worden ist. Deutlich wird hieran, dass sich das grammatologische Programm nicht ausschließlich auf visuelle Formationen der Schrift – auch jenseits des Buchs5 – bezieht, obgleich diese sowohl in Derridas

3 4

Ebd. Georg W. Bertram hält in dieser Hinsicht fest: Derrida „beansprucht ja, die Bedeutung von Zeichen und Begriffen in ihren Differenzen zu beschreiben. Dieser Anspruch betrifft den Gegensatz von Schrift und gesprochenem Wort. Auch dieser Gegensatz wirft die Frage auf, inwiefern er im Bedeutungsgeschehen fundiert ist. Er wird gleichermaßen durch die Trias von différance, Spur und Wiederholung expliziert. Derrida bringt – sei es im Begriff der Schrift oder in anderen Begriffen – keine Prinzipien zur Geltung, die über diese Trias hinausgingen.“ (Bertram: Hermeneutik und Dekonstruktion, S. 114f.)

5

Michael Wetzel hat das grammatologische Programm, wonach das Buchmedium zugunsten einer medial und topologisch anders gefassten Schrift überwunden werden müsse, exemplarisch entfaltet: Wetzel: Die Enden des Buches.

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eigenen Konkretisationen6 als auch in der weiterführenden Forschung vorherrschen.7 Der grammatologische Schriftbegriff geht zwar grundsätzlich jeder konkret-materialen Vorstellung voraus, er ist jedoch nicht nur auf das graphischvisuelle Zeichensystems anwendbar, sondern auch als ein Medium definiert, dem das Sprechen und die Äußerungen der Stimme eigen sind. Festzuhalten gilt es daher, dass der grammatologische Schriftbegriff sich gegenüber der Unterscheidung von Stimme und Schrift im Sinne spezifischer Medientechniken letztlich indifferent verhält, weshalb es die mündliche Rede dem Paradigma der Medialität nicht grundsätzlich entzieht.8 Zugleich muss auch hervorgehoben werden, dass es ein Verstehen unter Umgehung der jeweiligen Materialität des Zeichens, seiner mündlichen oder schriftlichen Bestimmung, nicht geben kann.9 Fast zwanzig Jahre nach der Veröffentlichung der Grammatologie beginnt Kittler seine Beschreibung des Grammophons mit einem in Klammern10 eingerückten Bezug auf Derrida. Dabei knüpft er an das Rousseau-Kapitel an, um die Mediengeschichte akustischer Aufzeichnungstechnologien im Kontrast zu der dort rekonstruierten ‚Verinnerlichung des Lautes‘ und ‚Selbst-Präsenz der Stimme‘ in Stellung zu bringen. Denn während es (mit Derrida) den sogenannten Menschen und sein Bewußtsein ausmacht, sich sprechen zu hören […], trennen Medien solche Rückkopplungsschleifen auf. […] Der Phonograph hört eben nicht wie die Ohren, die darauf dressiert sind, aus Geräuschen immer gleich Stimmen, Wörter, Töne herauszufiltern; er verzeichnet akustische Ereignisse als solche. Damit wird Artikuliertheit zur zweitrangigen Ausnahme in einem Rauschspektrum.11

Kittler übersetzt Derrida in den Kontext einer medientechnischen Argumentation, wobei ihn der als ‚Rückkopplungsschleife‘ bezeichnete Mechanismus

6 7

Siehe dazu z.B. Derrida: Die Postkarte; ders.: Glas. Totenglocke. Siehe dazu exemplarisch Krämer: Punkt, Strich, Fläche, wo Derrida immer wieder als theoretischer Ausgangspunkt des Projekts der Schriftbildlichkeit angeführt wird. Zum aktuellen Ansatz einer engen Kopplung der Grammatologie mit Visualität der bildgebenden Verfahren siehe Weigel: Grammatologie der Bilder.

8

In den Forschungen zu Stimme lässt sich indes eine Überbetonung der Körperlichkeit, die ihrerseits essentialistisch auftritt, beobachten. Siehe dazu exemplarisch Kolesch: Wer sehen will.

9

Siehe dazu Bertram: Die Sprache und das Ganze, S. 70f.

10 Zur Bedeutung von Klammern als Rahmenmarkierung siehe Wirth: (In Klammern). 11 Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, S. 39f.

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interessiert, dessen Leistung er in der Herstellung des Bewusstseins verortet. Die ‚Verinnerlichung des Lautes‘ und die ‚Selbst-Präsenz der Stimme‘ gehen mithin auf ein medientechnisch bestimmbares Verfahren, das der „Rückkopplungsschleife“, zurück, wohingegen die Medientechnik des Grammophons sie unterbricht und so den artikulierten Sinn in Rauschen übergehen lässt. Dabei wird der durch die Rückkopplungsschleife hervorgebrachte Medieneffekt der Amedialität in Grammophon Film Typewriter dem ‚Rauschen‘ der Audiotechnik gegenübergestellt. Der von Kittler im obigen Zitat ins Spiel gebrachte, im Rousseau-Kapitel entfaltete Begriff der „Artikuliertheit“ ist zugleich zentral wie voraussetzungsvoll.12 In Konkurrenz zum „Rauschspektrum“ des Grammophons, in dem sinnkonstituierende und sinnfreie Geräusche ein ununterscheidbares Kontinuum erzeugen,13 verweist die Artikulation auf denjenigen Aspekt des Sprechens, der, indem er über lautliche Differenzen prozessiert, Bedeutung erzeugt. Artikulation ist somit das Medium, in dem sich mündliche Sprache als ein nach spezifischen Regeln gegliedertes phonetisches System organisiert und von anderen Geräuschen der Stimme abhebt. Indes deuten das Grammophon wie der Phonograph gerade an dem Punkt, an dem sie Sprache als ‚zweitrangige Ausnahme‘ im medientechnischen Rauschspektrum zum Verschwinden bringen, auf ihre Artikulationsstruktur hin. Im unmittelbaren textuellen Umfeld der ‚Verinnerlichung des Lautes‘ und der ‚Selbst-Präsenz der Stimme‘ entfaltet Derrida mittels einer mikrologischen Analyse der Sprachursprungsschrift Rousseaus Theorie der Artikulation. Diese ist in einen das Supplement, die Schrift und den Akzent, aber auch die Geste und das Bild verbindenden Zusammenhang eingebettet, der die Unterscheidung zwischen mündlicher Rede und Schrift in mehrfacher Hinsicht durchkreuzt und unterläuft. Und in der Tat, je artikulierter eine Sprache ist, je mehr sich die Artikulation in ihr ausbreitet, an Strenge und Nachdruck gewinnt, desto eher überläßt sie sich der Schrift, desto eher verlangt sie nach ihr. Das ist die zentrale These des Essai.14

12 Siehe dazu grundsätzlich Markus Wilczek: Das Artikulierte und das Inartikulierte, S. 199ff. 13 „Exakter könnte Medientechnik gar nicht vorgehen. Mit dem Phonographen verfügt die Wissenschaft erstmals über einen Apparat, der Geräusche ohne Ansehung sogenannter Bedeutungen speichern kann.“ (Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, S. 133) 14 Derrida: Grammatologie, S. 388.

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Die Artikulation bezeichnet somit den Zustand der mündlichen Rede, in welchem diese gleichsam grammatologisch wird, da sie wie Schrift funktioniert, ja „nach ihr verlangt“, wie es in dem Zitat heißt. Das bedeutet aber auch umgekehrt, dass die Artikulation die gesprochene Sprache überhaupt erst schriftfähig macht. Dabei verweist die obige Formulierung auf unterschiedliche Grade der Artikulation: „je artikulierter eine Sprache ist,“ desto höher sei der Grad der Schriftähnlichkeit bzw. -gebundenheit, womit nicht nur die „zentrale These des Essai“ genannt, sondern auch ein jenseits der eindeutig festlegbaren Abgrenzung zwischen Artikuliertheit und Inartikuliertheit bestehender, ein gleitender Bereich angedeutet wäre.15 In diesem wird die Frage danach, welche Laute als Artikulation gelten und daher kommunikativ bedeutsam sind, offengehalten. Die Grenze zwischen dem, was Artikulation ist, und dem, was nicht dazu gehört, markiert eine bewegliche, eine graduelle Zone. Die Artikulation meint nach dieser Auffassung eine spezifische Funktionsstruktur, für welche die mediale Form der sprachlichen Mitteilung, ob hörbar oder visuell, von nur nachrangiger Bedeutung ist. Entscheidend ist vielmehr, dass sowohl das schriftliche Zeichen als auch der mündliche Ausdruck medial gedacht werden müssen. Auch mündliche Rede ist Schrift, sofern sie als Artikulation beschreibbar ist. Wovon also muss sie unterschieden werden? – In Rousseaus Sprachursprungsschrift wird die Frage mit dem Verweis auf einen Sprachzustand beantwortet, in welchem der „vokalische Akzent“ vorherrscht. Dieser geht der Artikulation sprachhistorisch voraus bzw. wird von ihr überwunden, denn: „die Geschichte tilgt, oder besser: unterdrückt den vokalischen Akzent, schält die Artikulation heraus und erweitert die Macht der Schrift.“16 Mit dem ‚vokalischen Akzent‘, dessen unwiederbringlicher Verlust in den Bemühungen, ihn mittels diakritischer oder anderer graphischer Akzente in der Schrift zu restituieren,17 umso deutlicher zutage tritt, wird eine Grenze gezogen.

15 Wilczek weist darauf hin, dass darin Derridas Kritik am strukturalistischen Konzept der Artikulation bestehe, dass diese von dem Inartikulierten abgrenzte: Wilczek: Das Artikulierte und das Inartikulierte, S. 201. Mit Bezug auf die Bedeutung des Gestischen wird das Konzept der Artikulation aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet in: Niklas/Roussel: Formen der Artikulation. 16 Derrida: Grammatologie, S. 388. 17 „Der Verlust des Akzents findet in der Artikulation ein schlechtes Supplement: sie ist ‚laut‘, ‚hart‘ und ‚lärmend‘, sie singt nicht. Und wenn die Schrift versucht, den Akzent durch Akzente zu ersetzen, so ist dies doch nur Schminke, die den Leichnam des Akzents übertüncht. Die Schrift – hier die Schreibung des Akzents – verbirgt nicht nur

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Diese trennt den, letztlich amedial gedachten, mehr noch: amedial postulierten Sprachzustand von einem, der als Artikulation und damit durch Schriftnähe, also grammatologisch definiert ist. Nicht Rauschen und Artikuliertheit bilden hier eine Differenz, sondern der „vokale Akzent“ – als Inbegriff eines zu unterstellenden Signifikats – und die Artikulation, mit welcher die Medienseite der Sprache bezeichnet wird. Zwar ist dieser Medienbezug nicht apparativ bestimmt, dennoch führt der Weg von hier aus zurück zum ersten Kapitel der Grammatologie, wo – ich wiederhole – „die Ausweitung der Phonographie und all jener Mittel, mit deren Hilfe die gesprochene Sprache konserviert und außerhalb der Präsenz des sprechenden Subjekts verfügbar gemacht werden kann“,18 einen Ausgangspunkt bildet. Die Artikulation verweist, insofern auch sie in Abgrenzung zum ‚vokalen Akzent‘ Distanz zum sprechenden Subjekt schafft, auf eine „Grammatologie des Sprechens“. Sie kann entweder durch Rückkopplungsschleifen geschlossen oder aber, wie von den phonographischen Medientechniken, als Differenz im Rauschen offengehalten werden.

SCHIBBOLETH/SIBBOLETH 1986 – im Erscheinungsjahr von Kittlers Grammophon Film Typewriter – entwickelt Derrida den im Konzept der Artikulation verdichteten Problemzusammenhang in seiner Schrift „Schibboleth. Für Paul Celan“ weiter. Den textuellen Referenzpunkt bildet hier die biblische Erzählung aus dem „Buch der Richter“, die er dazu nutzt, um die Ausdifferenzierung einer Sprache über den artikulatorischen Akzent zu entfalten. Stand der „vokalische Akzent“ in Rousseaus Theorie am uneinholbaren Ursprung einer (mediale) Differenzen streuenden und Distanzen schaffenden Sprachentwicklung, die mit der Artikulation begann, so zeigt die Unterscheidung von ‚Schibboleth‘ und ‚Sibboleth‘ exemplarisch auf, welchen komplexen Zusammenhang die Artikulation beschreibt; dass nämlich die jeweils spezifische Aussprache einen Eigenwert, einen gleichsam medialen Eigenwert aufweist, dessen Bedeutung extrem weitreichende Folgen haben kann. Vnd die Gileaditer namen ein die furt des Jordans fur Ephraim. Wenn nu sprachen die flüchtigen Ephraim / Las mich hin übergehen / So sprachen die Menner von Gilead zu jm

die Sprache hinter ihrer künstlichen Wiedergabe, sondern sie maskiert den bereits zerlegten Körper.“ (Ebd., S. 389) 18 Ebd., S. 23.

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/Bistu ein Ephraiter? Wenn er denn antwortet / Nein / So hiessen sie jn sprechen / Schiboleth / So sprach er / Siboleth / vnd kunds nicht recht reden / So griffen sie jn vnd schlugen jn an der furt des Jordans / Das zu der zeit von Ephraim fielen zwey vnd vierzig tausent.19

Die biblische Erzählung bindet das Sprechen in einen engen Konnex zum Körper der Sprechenden, aber auch zu einem Territorium, auf dem eine spezifische Sprechweise Geltung hat bzw. diese eben verliert. Denn auf dem zuvor den Ephraimitern zugehörigen Gebiet – „an der furt des Jordan“ – hat eine Artikulationsnorm vorgeherrscht, welche durch die Besetzung der Gileaditer entwertet worden ist. Infolge dieses Machtwechsels wird eine korrekte von einer nicht korrekten Aussprache unterschieden, mehr noch: Es wird überhaupt erst eine Unterscheidung der Aussprache eingeführt, die zwei verschiedene Sprechweisen, zwei verschiedene artikulatorische Akzente hervorbringt und so die Bildung dieses Losungswortes ermöglicht.20 Die ephraimitische, den Anfangslaut als ‚s‘ aussprechende Artikulationsform markiert in diesem Kontext nicht nur die Abweichung von einer seitens der Besatzer normierten Lautung, sondern erzeugt zugleich auch eine Deterritorialisierung, indem hier ein bestimmtes Wort auf einem bestimmten Territorium gewissermaßen zum Fremdwort wird. An den von den Gileaditern bewachten Jordan-Furten wandelt sich das zuvor dort heimisch gewesene ‚Sibboleth‘ zu einem Fremdwort. Deutlich wird daran, wie innerhalb eines Sprachsystems auf der Ebene der Aussprache bzw. des artikulatorischen Akzents Grenzen gezogen werden können, die die Wirkung von Sprachgrenzen entfalten.21

19 Buch der Richter 12,5-6. 20 „Dem Schibboleth als einem Instrument zur Entscheidung über Inklusion und Exklusion wohnt eine Doppeldeutigkeit inne. Denn wenn man davon ausgeht, dass es als Losungswort funktioniert, wenn man also die Korrektheit der Aussprache des Wortes auf den Menschen zurückrechnet, über dessen kulturelle Identität man zu entscheiden hat, dann muss man ausschließen, dass die korrekte Aussprache für Außenstehende erlernbar ist. Im Einzelnen als Träger einer Gruppenidentität, die sich qua Schibboleth definiert, muss dann etwas aufgehoben sein, das zwar nicht nur seiner irreduziblen Individualität eignet, aber auch nicht vermittels generalisierter Unterscheidungen, vermittels distinkter bzw. digitaler Zeichen erfasst werden kann“ (Dembeck: Schibboleth/Sibboleth, S. 53). 21 Erst im Zuge der Herausbildung der Linguistik im ausgehenden 19. Jahrhundert wird die sprachkonstitutive Bedeutung des Akzents grundgelegt und einer systematischen Betrachtung unterzogen. Saussure unterscheidet in diesem Sinn die Funktion des

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Der Ausdruck ‚Schibboleth‘ verweist auf die Artikulationsform als bedeutungstragende und distinguierende Einheit der sprachlichen Performanz, die sich im Unterschied zum Dialekt und damit einem ganzen System von lexikalischen, syntaktischen und phonetischen Elementen nur auf den Gesichtspunkt der Lautung bezieht. Diese aber kann sprachkonstitutiv sein. Kein bloßes Supplement, im Sinne einer entbehrlichen Hinzufügung, eines Ornaments und einer Stilistik, sondern ein Supplement im starken Sinne, also als das, was sich nicht von Sprache abziehen lässt, weil es ihr wesentlich eignet.22 Am artikulatorischen Akzent, an einer bestimmten phonetischen, idiomatischen Umsetzung des Wortes ‚Schibboleth‘, lassen sich Unterscheidungen ablesen, die von enormer Tragweite sind. Mit der efraimitischen Aussprache des Wortes ‚Schibboleth‘ wird keine Sprechstörung, wie sie das Stottern23 oder das Lispeln etwa repräsentieren, bezeichnet. Es handelt sich nicht um eine individuelle Beeinträchtigung des Sprechflusses, sondern um eine Distinktion, welche auf die Sprechweise eines ganzen Stammes, Volkes bzw. einer Ethnie verweist, insofern exakt diese Sprechweise ihre soziale Einheit stiftet. Keine Störung,24 sondern eine kulturelle Eigenart. Sie erzeugt Bedeutung, weil und indem sie die Ephraimiter, die ihrerseits, so Derrida, „sich dem diakritischen Unterschied Schi und Si gegenüber indifferent verhielten“,25 zu identifizieren erlaubt. Die Bibelgeschichte erzählt von einer Sprach- bzw. Sprechauffassung, die dem rhetorischen Verständnis des Sprechens im Sinne einer Technik, wie sie die pronuntiatio darstellt, entgegengesetzt ist. Sie erzählt von der Inkorporation des Sprechens, über die die Sprecher nicht verfügen und über das sie keine Macht haben, weil sie ihnen vorausging. Die Art und Weise, wie die Ephraimiter das ‚Schibboleth‘ aussprachen, wird nicht als eine rhetorisch bestimmte Technik

Akzents als sprachbildend – im Sinne seiner ‚grammatischen‘ Bedeutung – von einer Funktion, die nicht unmittelbar das Sprachverstehen betrifft, sondern lediglich eine dialektale Herkunft des Sprechers andeutet, hierbei spricht er vom ‚natürlichen Akzent‘. Siehe dazu: Jäger/Buss/Ghiotti: „Notes sur l’accentuation lituanienne“. 22 Dembeck schlägt zur Beschreibung dieser komplexen Beziehungen die Unterscheidung von Figur und Ornament vor: Dembeck: Schibboleth/Sibboleth, S. 51ff. 23 Vgl. dazu Schneider: Den Tod buchstabieren; Röggla: Stolpern und Stottern. 24 Dagegen schreibt Michel Serres den artikulatorischen bzw. „regionale[n] Akzent[]“ – den er sogar in einem Zug mit dem "Stottern und Stammeln“ nennt – dem Rauschen zu, womit er als eine Störung bestimmt, zugleich jedoch auch als „wesentliches Moment der Kommunikation“ (Serres: Hermes I, S. 49) bestimmt wird. 25 Derrida: Schibboleth, S. 51.

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reflektiert, sondern als Bestandteil ihrer kulturellen Physiognomie bestimmt. Sie können sich ihrer nicht bedienen, sondern sind ihr gewissermaßen ausgeliefert. Die Konsequenzen der an der phonetischen Differenz zwischen sch/s entschiedenen Identifikation bekommen sie daher, so Derrida, „im Körper und am eigenen Leib zu spüren.“26 Indem ihnen nämlich der Zugang zu ihrem eigenen Territorium versperrt wird, sind sie Flüchtlinge geworden, die schließlich, über das Sprechmerkmal identifiziert, als Feinde erschlagen werden. Damit zeichnet Derrida nach, wie die artikulatorisch und kulturell erzeugte Distinktion sich dem Körper nach der Logik des Supplements einschreibt. Die Distinktion ist kulturellen Ursprungs, erscheint aber naturalisiert. Wenn Derrida davon spricht, es sei die spezifische Disposition des „Stimmapparates“,27 die es den Ephraimitern unmöglich macht, das „sch“ auszusprechen, dann wird deutlich, dass es ihm nicht um so etwas die ‚Mundart‘ oder die ‚Muttersprache‘28 geht, sondern um ein Sprechen, das an eine Apparatur, an den Stimmapparat gebunden ist und daher medial gedacht werden muss. Die rhetorische Technik der pronunciatio impliziert Verfügbarkeit, Einsatz, Instrumentalität. Der entscheidende Effekt der supplementär gedachten Medialität besteht hingegen darin, den Stimmapparat mit der Suggestion der Natur zu überschreiben und als Inkorporation vorzuführen.

MUTTERSPRACHE/KUNSTSPRACHE Die ‚Muttersprache‘ bilde, so David Martyn, „eine Norm, die der Muttersprachler nicht nur anzuwenden befugt ist, sondern quasi qua Geburt – genauer, qua sprachlicher Sozialisation im Kindesalter – verkörpert.“29 Eine qua Geburt bedingte und ermöglichte sprachliche Sozialisation, die die Voraussetzung für eine nicht nur grammatische und lexikalische Sprachbeherrschung schafft, sondern sich insbesondere auch in der Fähigkeit niederschlägt, ‚akzentfrei‘ zu sprechen. ‚Akzentfreies‘ Sprechen bedeutet zunächst einmal, dass sich keine phonetisch fremd- und anderssprachige Markierung in die Aussprache mischt. Die höchste Stufe der Sprachbeherrschung liegt allerdings erst dann vor, wenn überhaupt keine als regional und das heißt als provinziell wahrnehmbare Färbung, nicht

26 Ebd., S. 127. 27 Ebd. 28 Martyn: Es gab keine Mehrsprachigkeit. 29 Ebd., S. 41.

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einmal mehr die muttersprachlich inkorporierte, vernehmbar ist. Hochlautung30 ist dabei das Ergebnis einer Normativität, die einen Akzent gleichsam unhörbar macht und somit das Sprechen in Bezug auf die Artikulation neutralisiert. Diese Stufe der Sprachbeherrschung lässt sich allerdings dem Register der Technik zuschreiben, gilt sie doch als eine der zentralen „Regeln für Schauspieler“. Wenn mitten in einer tragischen Rede sich ein Provinzialismus eindrängt, so wird die schönste Dichtung verunstaltet und das Gehör des Zuschauers beleidigt. Daher ist das Erste und Notwendigste für den sich bildenden Schauspieler, daß er sich von allen Fehlern des Dialekts befreie und eine vollständige reine Aussprache zu erlangen suche. Kein Provinzialismus taugt auf die Bühne! Dort herrsche nur die reine deutsche Mundart, wie sie durch Geschmack, Kunst und Wissenschaft ausgebildet und verfeinert worden.31

Die Forderung nach einer ‚vollständigen reinen Aussprache‘ impliziert die Möglichkeit, dass sie erlernt werden kann. Zumal die Ausbildung zum Schauspieler32 zwingt dazu – es sei sogar „das Erste und Notwendigste“ dieser Ausbildung –, das Sprechen von dialektalen sowie den Akzent betreffenden ‚Provinzialismen‘ zu reinigen. Im 19. Jahrhundert wird Theodor Siebs schließlich aus den Theatersprachen eine korrekte, als Hochlautung apostrophierte deutsche Aussprache abstrahieren und allgemein, d.h. auch als Sprechweise außerhalb des Theaters verordnen. Die als Hochlautung etablierte Aussprache ist eine Kunstsprache.33 Akzentfreies Sprechen verweist stets auch auf die Unterscheidung Zentrum/ Provinz. Sprechweisen indizieren die Zugehörigkeit zum Zentrum oder zur Provinz. Provinziell ist dabei, was einen Akzent aufweist, wohingegen im Zentrum akzentfrei gesprochen wird. Goethe spezifiziert seine Überlegungen, indem er auf das dem ‚Schibboleth‘ vergleichbare Problem hinweist, wonach „man sich bei dem Buchstaben b in acht nehmen (muß), welcher sehr leicht mit w verwechselt wird, wodurch der ganze Sinn der Rede verdorben und unverständlich

30 Siehe dazu Winkler: Zur Frage der deutschen Hochlautung. 31 Goethe: Regeln für Schauspieler, §1, S. 860f. 32 Weithase: Zur Geschichte, S. 357ff. 33 „Die durch Siebs einbestellte Kommission einigte sich somit auf Ausspracheregeln, die zwar, in Teilen, der Theaterpraxis abgelauscht waren. Um die wissenschaftliche Aneignung künstlerischen Sprech- und Hör-Wissens ging es aber nur bedingt. In der Theorie machte man aus den gesammelten Höreindrücken etwas Neues, eine Kunstsprache.“ (Tkaczyk: Hochsprache im Ohr, S. 137)

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gemacht werden kann. Zum Beispiel: Leben um Leben, nicht Lewen um Lewen“.34 Ähnlich der den Ephraimitern attestierten Lautindifferenz zwischen ‚s‘ und ‚sch‘ wird im Kontext der deutschen Sprache die zwischen ‚b‘ und ‚w‘ markiert. Sie ‚verderbe den Sinn der Rede‘, womit nicht nur eine folgenreiche Fehlleistung, sondern zugleich auch die Notwendigkeit einer der grammatisch-orthografischen Regulierung des Deutschen35 analogen Regulierung auf der Ebene der Phonetik angesprochen ist. So lässt sich dieses von Goethe an Schauspieler adressierte Regelwerk als Ausdruck einer allgemeinen Kultivierung und Normierung des Sprechens im ausgehenden 18. Jahrhundert lesen, die deutliche Hinweise auf Standards korrekter Artikulation auch außerhalb des Theaters liefert.36 Entscheidend ist indes, dass eine solche Elaboration der Aussprache keineswegs in Opposition zum Konzept der ‚Muttersprache‘ gedacht wird, sondern sie vielmehr voraussetzt und gewissermaßen auch vollendet. Zedlers Universal-Lexicon definiert „Mutter=Sprache“ als eine Grundvoraussetzung des Sprechens überhaupt: „Alle Sprachen sind Mutter=Sprachen, aber in Ansehung einer Person ist auch nur eine Sprache dessen Mutter=Sprache. Nemlich diejenige Sprache, die an dem Ort geredet wird, wo einer geb. und erzogen worden, heisst dessen Mutter=Sprache.“37 ‚Muttersprache‘ bildet demnach nicht nur ein konstitutives Merkmal des Sprechens, sie liegt sogar dem Verständnis der Sprache überhaupt zugrunde. Eine Sprache, die sich nicht als ‚Muttersprache‘ und mithin nach dementsprechenden Kriterien beschreiben lässt, wäre demzufolge keine. Als Muttersprache aber bildet sie eine ebenso territorial wie biologisch grundierte Kategorie, insofern sie nämlich nur dort gelernt und gesprochen werden kann, wo man – wie es dort heißt – „geboren und erzogen wird“.38 Ferner basiert das Konzept auf der Vorstellung der Einsprachigkeit.39

34 Goethe, Regeln für Schauspieler, § 8, S. 862. 35 Siehe zur Geschichte der deutschen Orthografie u.a. Scheuringer: Geschichte der deutschen Rechtschreibung. 36 Weithase: Zur Geschichte, S. 280. 37 Zedler: Grosses Vollständiges Universal-Lexicon, Bd. 22, Sp. 1656. 38 Die Mutter gilt dabei auch als Sprachvermittlerin und maßgebliches Medium der Alphabetisierung: Siehe dazu Kittler: Aufschreibesysteme, S. 37ff. 39 Muttersprache wird als Einsprachigkeit gedacht. David Martyn hält fest, „dass die neue Einsprachigkeit des Menschen sich sehr gut mit einer bestimmten Art der Mehrsprachigkeit verbinden lässt. Mehrsprachigkeit und Muttersprache vertragen sich nicht nur, die beiden Begriffe setzen einander vielmehr gegenseitig voraus: Es gilt

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Demzufolge kann ein Mensch nur eine Sprache auf muttersprachlichem Niveau erlernen. Bilingualität im Sinne eines gleichwertigen Nebeneinanders unterschiedlicher Sprachen ist in diesem Konzept nicht verankerbar, weil es Sprache an eine sprachlich-homogene kulturelle Umgebung bindet. Insofern es die deutsche Sprache zum einen von andren Nationalsprachen unterscheidet, zum zweiten auch von ihnen unabhängig macht, wird deutlich, in welchem Maße das Konzept der Einsprachigkeit im 18. Jahrhundert auch politisch motiviert ist. Alle weiteren Sprachen haben nunmehr den Stellenwert von Fremd- oder Zweitsprachen, sind Ergebnisse eines technisch gedachten Lernprozesses und, einem Schibboleth vergleichbar, von einem primären, qua Geburt und mütterliche Sozialisation erworbenen Sprachvermögen unterschieden. Im zwei Jahre später erschienenen 29. Band des Universal-Lexicons findet sich folgender Eintrag unter dem Lemma „Pronunciatio“: „[I]n der Sprach= Kunde ein deutlich und vernehmliches Aussprechen der Worte und Buchstaben. Dieses ist das vornehmste und schwerste bey Erlernung der Sprachen, und nicht wohl möglich recht zu lernen, als in dem Lande, wo die Sprache geredet wird.“40 Bedeutsam ist an dieser Definition, dass auch sie den Aspekt des Territoriums als Voraussetzung der richtigen Sprechweise hervorhebt. Der Erwerb der korrekten Aussprache wird hier jedoch nicht an die für die ‚Muttersprache‘ konstitutiven Bedingungen der ‚Geburt und Sozialisation‘ gebunden. Im Begriff der ‚Pronunciation‘ scheint vielmehr die Möglichkeit gegeben, sie auch dort als Zweitund Drittsprache auf muttersprachlichem Niveau erlernen zu können, wo sie muttersprachlich verortet ist. Wenn allerdings die korrekte Aussprache auf die Attribute ‚deutlich‘ und ‚vernehmlich‘ begrenzt wird, sind mit ihnen kaum jene Spezifika der Artikulation erfasst, welche eine muttersprachlich richtige von einer nicht-muttersprachlichen zu unterscheiden erlauben. Die Distinktion ‚Schibboleth‘ versus ‚Sibboleth‘, die auf verschiedene, qua Geburt und Sozialisation bedingte Ausspracheformen zurückgeht, vermag sie nicht abzubilden. Derjenigen zwischen deutlich/undeutlich entspricht sie jedenfalls nicht. Wenn Zedler allerdings konzediert, das „Aussprechen der Worte und Buchstaben“ sei das „schwerste bey Erlernung der Sprachen“ – es ist dieser Einschätzung zufolge schwieriger als die Kompetenzen im Feld der Grammatik oder Lexik –, dann verweist seine Graduierung auf das Problembewusstsein, dass sich in einer Fremdsprache etwas, das eigentlich nur muttersprachlich

gerade jetzt, ‚fremde‘ Sprachen zu lernen. Das Kompositum ‚Fremdsprache‘ kommt bezeichnenderweise erst im 19. Jahrhundert auf und gewinnt dann rasant an Bedeutung“ (Martyn: „Es gab keine Mehrsprachigkeit“, S. 44). 40 Zedler: Grosses Vollständiges Universal-Lexicon, Bd. 29, Sp. 839.

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inkorporiert werden kann, allenfalls mühsam erlernen lässt. Der Artikel stellt somit die Konfrontation zwischen dem Sprechvermögen als etwas, über das man nicht verfügen kann, mit dem Sprechen als einer Technik, die sich durch Übung bearbeiten und perfektionieren lässt, aus. Bis in das späte 19. Jahrhundert hinein kann kein systematisches Bewusstsein für die linguistische Spezifik des Akzents rekonstruiert werden. Die Aussprache wird weitegehend in den Kategorien der antiken pronunciatio gedacht, das heißt vielfach über Merkmale der Deutlichkeit oder Lautstärke etc. beschrieben. In Johann Christoph Adelungs Grammatisch-kritischem Wörterbuch der hochdeutschen Mundart findet sich zwar das Lemma „Aussprache“, jedoch wird diese sehr allgemein als die „Stimme und der Ton eines Sprechenden, und deren Art und Weise“41 definiert. Vor allem die stilistische Dimension wird dabei zunächst hervorgehoben, bevor der Artikel auch die sprachkonstitutive Bedeutung der Aussprache streift, wenn er eine korrekte von einer falschen unterscheidet: „Besonders das Aussprechen der Buchstaben, Sylben und Wörter. Eine falsche Aussprache, ein Fehler in der Aussprache, oder wider die Aussprache.“42 Ausgegangen wird von Standards der Artikulation, die selbst nicht im Einzelnen genannt sind, jedoch unterstellen, dass bestimmte Formen des Aussprechens eine Abweichung bilden, die das Verständnis einer Mitteilung beeinträchtigen können. Auf dialektale Unterschiede verweist hingegen die Bezeichnung „Mundart“, die Adelung als „die besondere Art zu reden, wodurch sich die Einwohner einer Gegend von den Einwohnern anderer Gegenden unterscheiden“,43 fasst und damit sprachterritorial festlegt. Erst in Joachim Heinrich Campes Wörterbuch der deutschen Sprache wird unter „Mundart“ die jeweilige, dialektal bestimmte Sprechweise mit der jeweils regionalen Aussprache verknüpft. Demnach realisiere sich die Mundart „nicht allein durch verschiedene Aussprache, sondern auch durch Abweichungen in der Bildung, Bedeutung und im Gebrauch der Wörter“.44 Diese Formulierung verweist auf zwei Sprachebenen: auf die Differenz zwischen dialektaler Aussprache und der grammatischen sowie lexikalischen Beschaffenheit eines Dialektes. Auf der Grundlage dieser Unterscheidung erst können hybride Sprechweisen beobachtet werden, die beispielsweise eine grammatisch korrekte Sprachverwendung mit einem regionalen Akzent verbinden.

41 Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch, Bd. 1, Sp. 653. 42 Ebd. 43 Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch, Bd. 3, Sp. 311. 44 Campe: Wörterbuch, S. 363.

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Mag er hörbar oder unhörbar sein, stets grundiert und ermöglicht er das Sprechen, ist dieses doch ohne eine bestimmte Akzentuierung nicht realisierbar, ja nicht einmal denkbar. Die Hochlautung aber meint jenen Akzent, der unhörbar geworden ist und von welchem aus alle anderen Artikulationsformen als bloße Abweichungen, als Störungen der Norm erscheinen. Eine Struktur, in welcher die heterogene Vielfalt unterschiedlicher Dialekte und Akzente auf die Opposition von Zentrum und Peripherie bzw. Provinz, von Hochsprache und Dialekt verdichtet wird. Von hier aus bliebe schließlich zu fragen, ob sich „‚hoch‘ und ‚nieder‘“ nicht auch anders beschreiben ließe, nicht als „zwei Sprachen [...], sondern zwei Gebrauchsweisen oder Funktionen der Sprache“,45 wie Gilles Deleuze und Félix Guattari festhalten. Damit aber wäre auf einen dynamischen Prozess innerhalb der Hierarchie und die „kontinuierliche Variation“46 verwiesen, die dafür sorgt, dass ‚minoritäre‘ bzw. provinzielle Sprachen und ihre jeweiligen Artikulationsformen „nicht nur einfach Unter-Sprachen, Idiolekte oder Dialekte [sind], sondern Potentiale, die die Hochsprache mit all ihren Dimensionen und Elementen zu einem Minoritär-Werden bringen.“47

LITERATUR Adelung, Johann Christoph: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, Leipzig 1793-1801. Bertram, Georg W.: Die Sprache und das Ganze. Entwurf einer antireduktionistischen Sprachphilosophie, Weilerswist 2006. — Hermeneutik und Dekonstruktion, München 2002. Campe, Joachim Heinrich: Wörterbuch der deutschen Sprache, Braunschweig 1809. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin 1992. Dembeck, Till: Schibboleth/Sibboleth: Phonographie und kulturelle Kommunikation um 1900, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 36 (2006), Hf. 42, S. 43-68. Derrida, Jacques: Die Postkarte. Von Sokrates bis Freud und jenseits, 1. Lieferung, Berlin 1982.

45 Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 145. 46 Ebd., S. 148. 47 Ebd.

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— Die Postkarte. Von Sokrates bis Freud und jenseits, 2. Lieferung, Berlin 1987. — Glas. Totenglocke, Paderborn 2006. — Grammatologie, Frankfurt a.M. 1983. — Schibboleth. Für Paul Celan (hg. P. Engelmann), Graz/Wien 1986. Goethe, Johann Wolfgang von: Regeln für Schauspieler, in: ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher, und Gespräche. Band 18: Ästhetische Schriften 1771-1805 (hg. F. Apel), Frankfurt a.M. 1998.

Jäger, Ludwig/Buss, Mareike/Ghiotti, Lorella: Notes sur l’accentuation lituanienne, in: S. Bouquet (Hg.): Cahier de l’Herne Ferdinand de Saussure, Paris 2003, S. 323-350. Kittler, Friedrich A.: Aufschreibesysteme 1800·1900, 3. vollst. überarb. Aufl., München 1995. — Grammophon, Film, Typewriter, Berlin 1986. Kolesch, Doris: „Wer sehen will, muß hören. Stimmlichkeit und Visualität in der Gegenwartskunst“, in: dies./S. Krämer (Hg.): Stimme. Annäherung an ein Phänomen, Frankfurt a.M. 2006, S. 40-65. Krämer, Sybille: Punkt, Strich, Fläche. Von der Schriftbildlichkeit zur Diagrammatik, in: dies./E. Cancik-Kirschbaum/R. Totzke (Hg.): Schriftbildlichkeit. Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen, Berlin 2012, S. 79-100. Martyn, David: Es gab keine Mehrsprachigkeit, bevor es nicht Einsprachigkeit gab. Ansätze zu einer Archäologie der Sprachigkeit (Herder, Luther, Tawada), in: T. Dembeck/G. Mein (Hg.): Philologie und Mehrsprachigkeit, Heidelberg 2014, S. 39-51. Niklas, Stefan/Roussel, Martin (Hg.): Formen der Artikulation. Philosophische Beiträge zu einem kulturwissenschaftlichen Grundbegriff, München 2013. Röggla, Kathrin: Stottern und Stolpern. Strategien einer literarischen Gesprächsführung. Essay, Frankfurt a.M. 2013. Scheuringer, Hermann: Geschichte der deutschen Rechtschreibung. Ein Überblick. Mit einer Einführung zur Neuregelung ab 1998, Wien 1996. Schneider, Manfred: Den Tod buchstabieren: Stottern – Zeitlupe – Schreiben, in: Akzente 33 (1986), S. 443-451. Serres, Michel: Hermes I. Kommunikation, Berlin 1991. Tkaczyk, Viktoria: Hochsprache im Ohr. Bühne – Grammophon – Rundfunk, in: Netzwerk „Hör-Wissen im Wandel“ (Hg.): Wissensgeschichte des Hörens in der Moderne, Berlin/Boston 2017, S. 123-152. Weigel, Sigrid: Grammatologie der Bilder, Berlin 2015. Weithase, Irmgard: Zur Geschichte der gesprochenen Sprache, Tübingen 1961.

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Wetzel, Michael: Die Enden des Buches oder die Wiederkehr der Schrift, Weinheim 1991. Wilczek, Markus: Das Artikulierte und das Inartikulierte. Eine Archäologie strukturalistischen Denkens, Berlin/Boston 2012. Winkler, Christian: Zur Frage der deutschen Hochlautung, in: H. Moser (Hg.), Satz und Wort im heutigen Deutsch, Düsseldorf 1967, S. 202-217. Wirth, Uwe: (In Klammern), in: H. Lutz/N. Plath/D. Schmidt (Hg.): Satzzeichen: Satzzeichen. Szenen der Schrift, Berlin 2017, S. 31-35. Zedler, Johann Heinrich: Grosses Vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Halle/Leipzig 1732-1754.

Resonanzen. Sprachverstehen – Medialität – Iterabilität Auf den Spuren der Sprachtheorie Wilhelm von Humboldts Csongor Lőrincz

Wie lassen sich die Komplexe der Medialität und des Sprachverstehens in Verbindung bringen, wie sind sie miteinander verknüpft oder bedingen einander sogar? Wie kann man die Sprache so als Medium auffassen, dass diese Annahme nicht der Praxis der Diskurse der technischen Medienauffassung folgt und so „ein rein äußerliches Medienverständnis das Geschehen der Vermittlung“ „entsemantisiert“?1 Auf welche Weise kann man sich demgegenüber der Artikulationsdynamik des Sprachverstehens sowie der nicht binären, nicht mit dem Code der Postalität, der „Übertragung“ isomorphen medialen Dimension der sprachlichen Verständigung nähern? Inwiefern ist das Verstehen selbst in der Sprache schon von Anfang an medial verfasst und kann auch nicht anders sein, ereignet sich also nicht nur – gleichsam die sprachliche Medialität grammatisierend – in einem „Medium“ oder „durch“ ein Medium bzw. eine mediale Instanz? Diesen Fragen soll hier anhand einiger Gedanken Wilhelm von Humboldts nachgegangen werden, des herausragenden Gelehrten der romantischen Epoche, der die gesamte moderne Sprachwissenschaft im Wesentlichen vorweggenommen hat.

1

Vgl. Metten: Kulturwissenschaftliche Linguistik, S. 49.

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VERSTEHEN, WIEDERHOLBARKEIT UND DAS SPRACHGANZE Wilhelm von Humboldt formulierte seine Auffassung vom Sprachganzen in seinem sprachtheoretischen Denken bekanntlich im Zeichen einer Art organischorganologischen Monismus. Der Gedanke des Sprachganzen bedeutet zugleich die Dimensionalität der Sprache, ihren weltkonstitutierenden Charakter und zugleich letzten Endes die Unaufdeckbarkeit und Unerforschbarkeit der Grundlagen, des Warum der Sprache. Zahlreiche Male betont Humboldt beide Aspekte und ihren tiefen Zusammenhang, nämlich dass sie sich auf mehreren Ebenen der Sprache manifestieren, von der Artikulation bis zur dialogischen Seinsweise der Sprache. So kommt es, dass die Ganzheit der Sprache, ihre holistische Seinsweise, schon im einmaligen oder einfachen Wort liegt oder genauer: anschlägt (in aller Mehrdeutigkeit des Verbs „anschlagen“). Dementsprechend lässt sich das Sprachganze niemals restlos objektivierend-morphologisch fassen bzw. beschreiben. Es stellt nämlich eine Art idiomatische Signatur dar, die Humboldt als „Weltansicht“ definiert hat. Die Auffassung von der organischen Ganzheit als charakteristischer Gedankenfigur des romantischen Zeitalters könnte nun je nach Geschmack gefeiert oder kritisch abgelehnt werden.2 Statt dessen ist das Ziel dieses Aufsatzes, Humboldt selbst genauer zu lesen und damit hoffentlich der Erfahrung nahezukommen, dass sich die komplexen Gedanken und Reflexionen über die Sprache, die Humboldt niedergeschrieben (genauer: diktiert)3 hat, nicht auf eine Grundthese vereinfachen lassen, die die Sprache etwa einfach auf etwas anderes, in diesem Fall auf den Geist, auf die Selbsttätigkeit des Geistes,

2

Für die erstgenannte Möglichkeit s. di Cesare: Einleitung, S. 79, die dem „Organismus“ den Vorrang vor den Ausdrücken „Gewebe“, „Bau“, „Netz“ gibt, weil er „besser geeignet erscheint, ihre dynamische Seite aufzuzeigen“. Es ist fraglich, ob man Humboldt mit solchen Gegenüberstellungen gerecht wird, denn er selbst sprach vom „feingewebte[n] Organismus“ bzw. zog die scheinbar gesondert stehenden Merkmale in einer Definitionsformulierung zusammen, was von der biologisch-organischen Bedeutung des Ausdrucks „Gewebe“ motiviert sein könnte. (Humboldt: Ueber das vergleichende Sprachstudium, S. 1).

3

Zu dieser sprachlichen Besonderheit von Humboldts sprachtheoretischem Hauptwerk s. Mueller-Vollmer: Wilhelm von Humboldts Sprachwissenschaft, S. 109. Zu Humboldts Stil und seinen sprachanthropologischen Implikationen vgl. ferner Coseriu: Geschichte der Sprachphilosophie, S. 370-371.

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zurückführt oder daraus resultieren lässt.4 Mag auch dieser axiomatische Grundsatz bei Humboldt präsent sein, so ist doch seine fallweise Interpretierbarkeit und sein semantisches Verhalten in verschiedenen Zusammenhängen nicht determinierbar oder abschließbar, oft nicht einmal auf Satzebene (Humboldts gewundener Diktatstil, der die beiordnend-vorläufige, rekursiv-autokorrektiverweiternde Syntax der gesprochenen Sprache als diskursiven, ja sogar experimentellen Effekt nutzt, gebiert oft aufregende Mehrdeutigkeiten und inszeniert seine Grundthese überhaupt als erlebte oder vorgelebte sprachliche Artikulation im Hinblick darauf, dass die Sprache niemals „etwas Fertiges ist“). Heidegger bemerkt dazu zugestehend und sogar anerkennend: Jeder Hörer der hier versuchten Vortragsreihe müßte die erstaunliche, schwer durchschaubare, in ihren Grundbegriffen dunkel schwankende und doch überall erregende Abhandlung Wilhelm v. Humboldts durchdacht und gegenwärtig haben. Dadurch wäre uns allen ein gemeinsamer Gesichtskreis für den Blick in die Sprache offengehalten.5

So wird sich herausstellen, dass dieses organische Ganze (als autokatalytische „Selbsttätigkeit“)6 nicht frei ist unter anderem von der Wiederholung bzw. von Prozessen und Effekten der Wiederholbarkeit, mehr noch, dass es geradezu auf die Iterabilität angelegt ist.7 Diese Iterabilität für ihren Teil erscheint nicht einfach als transzendentale Möglichkeitsbedingung, als formales Strukturmoment oder als Wiederholbarkeit des Zeichens im engeren Sinn, sondern sie durchdringt wie eine Art Ereignishaftigkeit alle Ebenen der Sprache und des

4

Damit könnten wir Humboldts Auffassung auf diejenige von Hegel antworten lassen, vgl. Kelemen: A nyelvfilozófia rövid története, S. 146.

5

Heidegger: Der Weg zur Sprache, S. 246.

6

Die Feststellung bezüglich des Charakters der Sprache als eines Ganzen erscheint schon bei Schelling, der Humboldt vorwegnimmt, wie János Kelemen in Erinnerung ruft: „In der inneren Konstruktion der Sprache selbst ist alles Einzelne bestimmt durch das Ganze; es ist nicht Eine Form oder einzelne Rede möglich, die nicht das Ganze fordert.“ Schelling: Die Philosophie der Kunst, S. 128. Siehe Kelemen: A nyelvfilozófia rövid története, S. 135, 147.

7

Der Nachweis dieser Seinsweise in Humboldts Sprachmodell kann Jürgen Trabants These („Präsenz und Tätigkeit sind eindeutig die Koordinaten des Humboldtschen Sprachdenkens.“ Trabant: Traditionen Humboldts, S. 202) etwas modifizieren und einen Zugang zu einem differenzierteren Verständnis von Humboldts Reflexion des sprachlichen Geschehens eröffnen.

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Sprachverstehens.8 Schon in seiner ersten programmatischen Abhandlung zur Sprachwissenschaft und -theorie formuliert Humboldt diesen Zug unmissverständlich: Es kann auch die Sprache nicht anders, als auf einmal entstehen, oder um es genauer auszudrücken, sie muß in jedem Augenblick ihres Daseins dasjenige besitzen, was sie zu einem Ganzen macht. Unmittelbarer Aushauch eines organischen Wesens in dessen sinnlicher und geistiger Geltung, theilt sie darin die Natur alles Organischen, daß Jedes in ihr nur durch das Andere, und Alles nur durch die eine, das Ganze durchdringende Kraft besteht. Ihr Wesen wiederholt sich auch immerfort, nur in engeren und weiteren Kreisen, in ihr selbst; schon in dem einfachen Satze liegt es, soweit es auf grammatischer Form beruht, in vollständiger Einheit, und da die Verknüpfung der einfachsten Begriffe das ganze Gewebe der Kategorien des Denkens anregt, da das Positive das Negative, der Theil das Ganze, die Einheit die Vielheit, die Wirkung die Ursach, die Wirklichkeit die Möglichkeit und Nothwendigkeit, das Bedingte das Unbedingte, eine Dimension des Raumes und der Zeit die andere, jeder Grad der Empfindung die ihn zunächst umgebenden fordert und herbeiführt, so ist, sobald der Ausdruck der einfachsten Ideenverknüpfung mit Klarheit und Bestimmtheit gelungen ist, auch der Wortfülle nach ein Ganzes der Sprache vorhanden. Jedes Ausgesprochene bildet das Unausgesprochene, oder bereitet es vor.9

Das Zitat legt nahe, dass sich die Sprache auf jeder Ebene iterativ und nicht nur rein organisch aufbaut bzw. zusammenwebt, dass die sie als Ganzes „durchdringende Kraft“ eine iterative Kraft ist, die Kraft der Iterabilität. Die Iterabilität ist hier also, wie bereits erwähnt, weder formales Kriterium noch transzendentale Möglichkeitsbedingung, sondern vielmehr eine Kraft, die Kraft der autokatalytischen Selbstorganisation der Sprache, bzw. sie hängt von dieser ab, gleichsam als Index dieser Kraft. Jede sprachliche Artikulation wie Benennung, Bezeichnung oder Ausdruck setzt virtuell das Sprachganze in Bewegung bzw. setzt dieses Ganze voraus, und zwar auch als iterative Dimension ebendieser Sprache. Das Sprachganze geht dem einzelnen Wort oder Satz voraus, es kommt ihnen zuvor, zugleich folgt es ihnen auch: Seine Temporalität ist in diesem Sinn als beispielsweise definierte temporäre Phase nicht determinierbar. Die Sprache

8

Bereits der Humboldt-Herausgeber und -Ausleger Steinthal hatte festgehalten: „Die Frage ist nun: wie muss die Individualität gedacht werden, ohne daß sie aus der Gesamtheit herausfalle? Nicht das Sprechen, das Verstehen ist das wirklich Rätselhafte.“ Steinthal: Vorwort, S. 14. Zu Humboldts Verstehensbegriff vgl. Borsche: Wilhelm von Humboldt, S. 158-160; Di Cesare: Einleitung, S. 99-101.

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Humboldt: Ueber das vergleichende Sprachstudium, S. 2-3. (Hervorh. Cs. L.)

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schwingt also mit oder resoniert gemeinsam im einzelnen Wort oder Satz bzw. in der einzelnen Benennung oder im Ausdruck als einem Akt des Verstehens.10 So wird weniger die syntaktische, beispielsweise prädikative Logik eines einzelnen Satzes maßgeblich als vielmehr seine nicht-kompositionale Gestenartigkeit, die eine Art Isomorphie mit dem musikalischen Verstehen bilden kann.11 Dieser Verstehensakt als Artikulation bedeutet nun aber selbst auch die Resonanz der Sprache (in beiden Bedeutungen des Besitzverhältnisses, als genitivus objectivus und subjectivus, die sich nicht voneinander trennen lassen). Dieser Zusammenhang bestimmt, genauer: stimmt den Verstehensakt als sprachlich-artikulativen Vollzug, Bedeutungsbildung und mediales Moment. Das Sprachganze und der hermeneutische Zirkel – und nicht ein punktueller oder isolierter Akt des Verstehens – kommen in einer einander bedingenden, tiefen Gegenseitigkeit, einer Wechselwirkung in Bewegung.12 Infolgedessen wird das Moment der Resonanz das dynamische Element, eine Art aktive, als Geschehen zu verstehende Atmosphäre, die die mediale Dimension der Sprache diesseits oder jenseits der semantischen Mitteilung bestimmt. Humboldt operiert an wichtigen Textstellen tatsächlich mit akustischen Metaphern im Sinn der Resonanz.13 In der bereits zitierten Abhandlung steht: So wie ein Wort ein Object zur Vorstellung bringt, schlägt es auch, obschon oft unmerklich, eine zugleich seiner Natur und der des Objects entsprechende Empfindung an, und die ununterbrochene Gedankenreihe im Menschen ist von einer eben so ununterbrochenen Empfindungsfolge begleitet, die allerdings durch die vorgestellten Objecte, allein zunächst und dem Grade, und der Farbe nach, durch die Natur der Wörter, und der Sprache bestimmt wird.14

10 Das lateinische „resonare“ bedeutet bekanntlich „wieder ertönen“ (re-sonare). 11 Vgl. hierzu Wittgensteins Bemerkung: „527. Das Verstehen eines Satzes der Sprache ist dem Verstehen eines Themas in der Musik viel verwandter, als man etwa glaubt. Ich meine es aber so: daß das Verstehen des sprachlichen Satzes näher, als man denkt, dem liegt, was man gewöhnlich Verstehen des musikalischen Themas nennt. Warum sollen sich Sprache und Tempo gerade in dieser Linie bewegen? Man möchte sagen: ‚Weil ich weiß, was das alles heißt.‘ Aber was heißt es? Ich wüßte es nicht zu sagen.“ Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 143. 12 Zu dieser Parallele s. Müller-Sievers: Epigenesis, S. 147. 13 Vgl. z.B. Trabant: Traditionen Humboldts, S. 203. Trabant verwendet den Begriff „Resonanz“ nicht. 14 Humboldt: Über das vergleichende Sprachstudium, S. 17 (Hervorh. Cs. L.) .

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Diese Resonanz äußert sich auch in der Iterabilität des Wortes, sie ist für dessen Dynamik verantwortlich, in dessen referenzieller, semiologischer und hermeneutischer Leistung als idiomatisch imprägniertes modales Moment der Sprache: Das Object, dessen Erscheinung im Gemüth immer ein durch die Sprache individualisirter, stets gleichmäßig wiederkehrender Eindruck begleitet, wird auch in sich auf eine dadurch modificirte Art vorgestellt. Im Einzelnen ist dieß wenig bemerkbar; aber die Macht der Wirkung im Ganzen liegt in der Gleichmäßigkeit und beständigen Wiederkehr des Eindrucks. Denn indem sich der Charakter der Sprache an jeden Ausdruck und jede Verbindung von Ausdrücken heftet, erhält die ganze Masse der Vorstellungen eine von ihm herrührende Farbe.15

In der akademischen Rede Ueber die Buchstabenschrift und ihren Zusammenhang mit dem Sprachbau wird die Figur der Resonanz in eine anthropologische Perspektive gestellt: „… da der Mensch nur durch Sprache Mensch, und die Sprache nur dadurch Sprache ist, daß sie den Anklang zu dem Gedanken allein in dem Wort sucht.“ Den Hintergrund dieser Einsicht bedeutete die Ununterscheidbarkeit von sprachlichem Ausdruck und Gedanken im Medium der Gestimmtheit: „Es kann aber auch gerade der in Töne gekleidete Gedanke die Hauptwirkung auf das Gemüth ausüben, gerade der Ton, zum Worte geformt, begeistern, und alsdann ist die Sprache die Hauptsache, und der Gedanke erscheint nur als hervorsprießend aus ihr, und untrennbar in sie verschlungen.“16 Infolgedessen ist diese Resonanz keine rein akustische Figur, auch keine räumlich-isotopische Stimmung, sie besitzt vielmehr eine dialogisch-hermeneutische bzw. performative Seinsweise, wie aus folgender Formulierung Humboldts erhellt: „… insofern überhaupt immer dürftig bleibende Worte dem Drange des Ausdrucks der innersten Gefühle zusagen“.17 Zum „Gefühl der zusammenfassenden Kraft des Verbums“, die „die Sprache vollständig durchdrungen“ habe, schreibt Humboldt: „Es hat sich in derselben nicht bloss einen entschiednen, sondern gerade den ihm allein zusagenden Ausdruck, einen rein symbolischen geschaffen, ein Beweis seiner Stärke und Lebendigkeit.“18 In der Resonanz wirkt also eine „Zusage“, ohne die jene möglicherweise nicht wahrnehmbar wäre,

15 Ebd., S. 17-18 (Hervorh. Cs. L.). 16 Humboldt: Ueber die Buchstabenschrift, S. 95. 17 Humboldt: Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, S. 558. (Diese umfangreiche Abhandlung ist die Einleitung zum sog. Kawi-Werk und zwischen 1830 und 1835 entstanden; Hervorh. Cs. L.) 18 Ebd., S. 616-617 (Hervorh. Cs. L.).

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mehr noch: Der angemessene Ausdruck wird von dieser Resonanz potentiell vom Hintergrund und der Dimension des Sprachganzen her gestimmt. Dies geschieht jedoch so, dass sie den derart entstehenden oder gefundenen Ausdruck nicht nur vermittelt, sondern gleichsam auch seinen performativen Nachdruck vollzieht (das Geschehen des Auffindens des passenden Wortes selbst ist dieses performative Versprechen). Das „Wort“ verspricht sich in gewissem Sinn dieser Resonanz, es entspricht ihr, und zugleich wird es von ihr „durchdrungen“ (oder „angeregt“, um einen Lieblingsausdruck Humboldts zu verwenden). Es wird zur (Re)Artikulation angeregt – und diese „Anregung“ ist der tiefere Sinn der Iterabilität bei Humboldt, einer offenen oder in die Offenheit führenden Wiederholbarkeit. Dieser (Auf)Ruf legt gleichsam den Zeitpunkt einer aus der Zukunft kommenden Resonanz fest bzw. die Wiederholbarkeit ereignet sich auch von der Zukunft her (sie wiederholt nicht einfach etwas Gegebenes bzw.: Sie bringt das scheinbar Gegebene in semantische Bewegung), deshalb ist auch die (Iterabilität der) Sprache nicht objektivierbar; ein Axiom, auf dem Humboldt hartnäckig besteht. All das bedeutet auch, dass die Resonanz ein Teil des Zeichens ist, beispielsweise synonymisch oder parasemisch, im Medium der Gestimmtheit: Das Wort hat geheimnissvolle, nicht immer klar zu machende, symbolische Anklänge an den Gegenstand, den es bezeichnet, die nicht immer an diesem selbst fühlbar werden, wohl aber an solchen andren Wörtern, deren Gegenstände die Anschauung und Phantasie ähnlich anregen, so wie im Deutschen Wolke, Welle, wehen. Wolle, weben, wickeln, wälzen, wollen u.a.m. in unverkennbarem Lautzusammenhange stehn.19

Das von der Resonanz durchdrungene sprachliche Zeichen kann sich im dynamischen System der geöffneten, vokalisierten virtuellen synonymen Beziehungen definieren, zugleich unterscheidet es sich auch von sich selbst, in der Funktion einer Art „différance“. Die Intensität des – z.B. in einer verbalen Synthese realisierten – Symbolcharakters des sprachlichen Zeichens kann durch das assoziative Muster und durch die dadurch hervorgerufene parasemische Artikulationsdifferenzialität verstärkt werden, ebenso wie umgekehrt auch die Assoziativität der vokalischen Ebene selbst symbolische Bedeutungen hervorbringen kann. Das eine Medium wird also mit dem anderen nicht von einer instrumentellen Über-

19 Humboldt: Ueber die Verschiedenheiten, S. 284. (Dieser Text ist eine frühere, selbstständige Version der Kawi-Einführung und zwischen 1827 und 1829 entstanden.)

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tragung in Kontakt gebracht, sie resonieren vielmehr ineinander.20 Damit wird jedes von ihnen zum Medium des anderen; nicht nur nach Art einer Vermittlung, sondern auch nach Art eines intensivierenden Vollzugsgeschehens: Dies bildet die zweifache (nicht dialektisierbare) Bewegung der Sprache als Medium ab. Das nicht-morphologische, nicht-kompositionale, nicht-mnemotechnische Bedingungssystem der Wiederholbarkeit des Wortes ist also eine Funktion der holistischen Seinsweise der Sprache, welche Funktion die Invokation des Sagens, seine An-Rufung stimmt. Diese Invokation ist der Tropus der „Anregung“ des Sprechers/der Sprecher im hier intersubjektiv-kommunikativen Sinn der Resonanz, im Geschehen des Miteinandersprechens, das keineswegs eine symbolischkognitive Identität in der Gegenseitigkeit der Sprachgebräuche, der Verständigung oder im Verstehen bedeutet. Humboldt schreibt über die redehermeneutische Bedingtheit des Wortes in der Sprache: Ihr Element, das Wort […] theilt nicht, wie eine Substanz, etwas schon Hervorgebrachtes mit, enthält auch nicht einen schon geschlossenen Begriff, sondern regt bloss an, diesen mit selbständiger Kraft, nur auf bestimmte Weise, zu bilden. Die Menschen verstehen einander nicht dadurch, dass sie sich Zeichen der Dinge wirklich hingeben, auch nicht dadurch, dass sie sich gegenseitig bestimmen, genau und vollständig denselben Begriff hervorzubringen, sondern dadurch, dass sie gegenseitig in einander dasselbe Glied der Kette ihrer sinnlichen Vorstellungen und inneren Begriffserzeugungen berühren, dieselbe Taste ihres geistigen Instruments anschlagen, worauf alsdann in jedem entsprechende, nicht aber dieselben Begriffe hervorspringen. Nur in diesen Schranken und mit diesen Divergenzen kommen sie auf dasselbe Wort zusammen.21

Das „Abspielen“ der Partitur der sprachlichen Virtualität setzt also unterschiedliche Realisierungen voraus, die niemals in eins fallen, niemals miteinander identisch sein können. Nur Resonanz kann sich zwischen ihnen ergeben, nicht Identität – aber so, dass sich das Verständlichmachen über die Resonanz zwischen den in derselben virtuellen Gestimmtheit gegebenen (nicht notwendiger-

20 Deshalb kann die Figuration der Übertragung als Postalitätsprinzip und Transfermodell die Medialität der Sprache nicht ausreichend beschreiben (anders Sybille Krämer, vgl. Krämer: Medium, Bote, Übertragung). Vgl. Metten: Kulturwissenschaftliche Linguistik. 21 Humboldt: Ueber die Verschiedenheit, S. 559. Vgl. di Cesare: Einleitung, S. 102-103, die Wittgenstein zitiert: „Das Aussprechen eines Wortes ist gleichsam ein Anschlagen einer Taste auf dem Vorstellungsklavier.“ Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 4.

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weise übereinstimmenden) Antworten realisieren kann (was Missverständnisse im Sinne von „Schranken“ und „Divergenzen“ keineswegs ausschließt). Diese divergente Resonanz steht nicht unbedingt in der Macht der Sprecher, sondern eher in derjenigen der Sprache – gerade als eines virtuellen Ganzen, als holistischer Einheit oder Dimension; es ist eine Funktion der Sprache als Resonanzgebers: Wird nun aber auf diese Weise das Glied der Kette, die Taste des Instrumentes berührt, so erzittert das Ganze; und was, als Begriff, aus der Seele hervorspringt, steht in Einklang mit allem, was das einzelne Glied bis auf die weiteste Entfernung umgiebt. Die von dem Worte in Verschiedenen geweckte Vorstellung trägt das Gepräge der Eigenthümlichkeit eines jeden, wird aber von allen mit demselben Laute bezeichnet.22

Zweierlei Kräfte sind also in der Sprache am Werk, und sie sind die beiden Seiten ein und derselben Autokatalyse: Die Bewegungen der Kräfte von Partition, Selbstteilung, und von Konvergenz, Vereinigung.23 Die Sprache intensiviert zugleich den Unterschied und die Differenziertheit des Verstehens, zwischen diesen beiden besteht also kein statischer Gegensatz: Es lässt sich auch nicht behaupten, daß die Sprache, als allgemeines Organ, diese Unterschiede mit einander ausgleicht. Sie baut wohl Brücken von einer Individualität zur andren und vermittelt das gegenseitige Verständniss; den Unterschied selbst aber vergrössert sie eher, da sie durch die Verdeutlichung und Verfeinerung der Begriffe klarer ins Bewusstseyn bringt, wie er seine Wurzeln in die ursprüngliche Geistesanlage schlägt. Die Möglichkeit, so verschiedenen Individualitäten zum Ausdruck zu dienen, scheint daher eher in ihr selbst vollkommene Charakterlosigkeit vorauszusetzen, die sie doch aber sich auf keine Weise zu Schulden kommen lässt. Sie umfasst in der That die beiden entgegengesetzten Eigenschaften, sich als Eine Sprache in derselben Nation in unendlich viele zu theilen, und, als diese vielen, gegen die Sprachen anderer Nationen mit bestimmtem Charakter als Eine zu vereinigen. Wie verschieden jeder dieselbe Muttersprache nimmt und

22 Humboldt: Ueber die Verschiedenheit, S. 560. 23 Der Gedanke von der gleichzeitigen Einheit und Verschiedenheit der Sprache(n) erscheint bereits in Schellings Philosophie der Kunst: „Die Sprache, absolut betrachtet oder an sich, ist nur Eine, wie die Vernunft nur Eine ist, aber aus dieser Einheit gehen ebenso, wie aus der absoluten Identität die verschiedenen Dinge, die verschiedenen Sprachen hervor, deren jede für sich ein Universum.“ Schelling: Nachlass 6, Teilband 1, S. 208. Zitiert bei Kelemen: A nyelvfilozófia rövid története, S. 135.

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gebraucht, findet man, wenn es nicht schon das gewöhnliche Leben deutlich zeigte, in der Vergleichung bedeutender Schriftsteller, deren jeder sich seine eigne Sprache bildet.24

Das heißt, in der Sprache sind zwei Tendenzen am Werk, die Teilung und die Vereinigung (Humboldt formuliert das in Form von Infinitiven), von denen jede für sich unendlich ist. Zugleich – dies zeigt ein mögliches Nietzscheanisches Weiterdenken von Humboldts Überlegungen – kann keine dieser Kräfte ohne die andere sein, ihr im Werden begriffenes differentielles Spiel gibt die „Kraft“ als solche aus, die hier eher eine Stärke bedeutet. Ihr differenzielles Verhältnis zueinander ist also nicht abschließbar, es kann an keinen Ruhepunkt kommen: Dies bedeutet die Unfertigkeit der Sprache (das heißt: Die Kraft der Sprache bedeutet zugleich ihre Nicht-Stabilisierbarkeit, ist also nicht Schwäche oder Mangel). Gerade der unfertige Charakter der Sprache konstituiert ja die Chance des Verstehens als artikulationsabhängiger Sinnbildung: „Sprache kann auch nicht, gleichsam wie etwas Körperliches, fertig erfasst werden; der Empfangende muß sie in die Form gießen, die er, für sie bereitet, hält, und das ist es, was man verstehen nennt.“25 Weiterführend könnte man annehmen, dass die sprachliche Natur des Verstehens ebenfalls die chiastische Bewegung dieser beiden Tendenzen manifestiert: Die Artikulation des Verstehens bedeutet, den treffenden Ausdruck zu entdecken (also ihn in eine vereinheitlichende Form bzw. Gestalt zu gießen), zugleich ist die Artikulation jedoch Differenzierung im Sinne der „Verdeutlichung und Verfeinerung der Begriffe“. Die differenziellen Kräfte oder Intensitätsstufen von Vereinigung und Teilung geschehen im Verstehen selbst (und manifestieren dessen Vollzug sprachlich und in der Sprache, nicht einfach durch sie), sie bieten einander gegenseitig ein Medium und laufen eigentlich ineinander ab: So wiederholen sie die zweifache Tendenz der Medialität der Sprache. Die Iterabilität wirkt also bei Humboldt vor dem Hintergrund der holistischen Gestimmtheit des Sprachganzen und der Unfertigkeit der Sprache zugleich, in der Dynamik der Sprache als energeia. Und so bedeutet sie zugleich auch die Medialisierung des Verstehensaktes – dieses Ursprungsszenario entspricht zwei weiteren synchronen Tendenzen der Sprache: ihrem gleichzeitigen Sein innerhalb und außerhalb (des Sprechers) sowie ihrer dialogischen Seinsweise. Diese grundlegende, an zahlreichen Textstellen artikulierte Gedankenfigur Humboldts soll hier anhand eines Zitates aus der Kawi-Einleitung kurz angeführt werden:

24 Humboldt: Ueber die Verschiedenheit, S. 558-559. 25 Humboldt: Ueber die Verschiedenheiten, S. 156.

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Die beiden hier angeregten, entgegengesetzten Ansichten, dass die Sprache der Seele fremd und ihr angehörend, von ihr unabhängig und abhängig ist, verbinden sich wirklich in ihr, und machen die Eigenthümlichkeit ihres Wesens aus. […] Die Sprache ist gerade insofern objectiv einwirkend und selbstständig, als sie subjectiv gewirkt und abhängig ist.26

Die mediale Dimension der im Verstehensereignis aktivierten Wiederholbarkeit verknüpft diese beiden Seiten, bzw. diese differenzieren sich aus demselben Ereignis heraus. Die Äußerlichkeit ist der Index der Iterabilität, diese kann man nur als Ereignis (als dessen Kraftstufe oder Stärke) erfassen, infolgedessen ist sie auch „innerhalb“ (aber nicht einfach als „Werk des Gedächtnisses“).27 Die Aussetzung der Unterscheidbarkeit von Innerem und Äußerem ist eine Hauptthese der Konzeption des iterativen Ereignisses, der ereignisartigen Wiederholbarkeit. In diesem Sinn definiert Humboldt das Wort sowohl als „Abbild“ als auch als „Zeichen“; diese Aspekte lassen sich nicht voneinander trennen.28 Die inklusiven („Abbild“) und die exklusiven („Zeichen“) Richtungen oder Seiten schlagen sich also im Wort selbst nieder, das die Kreuzung dieser beiden Aspekte manifestiert. Zugleich signalisiert Humboldt die intersubjektiv-dialogische

26 Humboldt: Ueber die Verschiedenheit, S. 438. Eine andere bekannte Ausführung zum selben Sachverhalt: „Die Thätigkeit der Sinne muss sich mit der inneren Handlung des Geistes synthetisch verbinden, und aus dieser Verbindung reißt sich die Vorstellung los, wird, der subjectiven Kraft gegenüber, zum Object, und kehrt, als solches aufs neue wahrgenommen, in jene zurück. Hierzu aber ist die Sprache unentbehrlich. Denn indem in ihr das geistige Streben sich Bahn durch die Lippen bricht, kehrt das Erzeugniss desselben zum eignen Ohre zurück. Die Vorstellung wird also in wirkliche Objectivität hinüberversetzt, ohne darum der Subjectivität entzogen zu werden.“ Humboldt: Ueber die Verschiedenheiten, S. 195. 27 „Man kann den Wortvorrat einer Sprache auf keine Weise als eine fertig daliegende Masse ansehen. […] Die unfehlbare Gegenwart des jedesmal notwendigen Wortes in dieser ist gewiss nicht bloß Werk des Gedächtnisses. Kein menschliches Gedächtnis reicht dazu hin, wenn nicht die Seele instinktartig zugleich den Schlüssel zur Bildung der Wörter selbst in sich trägt.“ Humboldt: Ueber die Verschiedenheit, S. 480. Dieser Gedanke ist von kardinaler Bedeutung und steht in tiefem Zusammenhang mit der zentralen These: „[die Sprache] selbst ist kein Werk (ergon), sondern Tätigkeit (energia)“. Ebd., S. 418. 28 „Denn da die Sprache zugleich Abbild und Zeichen [ist].“ Humboldt: Über das vergleichende Sprachstudium, S. 256. Vgl. Di Cesare: Einleitung, S. 46-51. Vgl. ferner Frey: Übersetzung und Sprachtheorie, S. 37-63.

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Dimension des Verstehensaktes als seine virtuelle Wiederholung (sozusagen als Wiederholung einer Vergangenheit, die niemals gegenwärtig war), so wird wieder klar, dass Verstehen und Sprechen nicht getrennt werden können: „Man versteht das gehörte Wort nur, weil man es selbst hätte sagen können.“29 Dies ist sozusagen eine dialogische Iteration: „[D]er Mensch versteht sich selbst nur, indem er die Verstehbarkeit seiner Worte an Andren versuchend geprüft hat. Denn die Objectivität wird gesteigert, wenn das selbstgebildete Wort aus fremdem Munde wiedertönt.“30 Dieses Wiedertönen als generatives Prinzip stammt zugleich aus dem Sagen des Anderen und der Wiederholung der eigenen Worte durch dieses Sagen (wo der andere der Zeuge oder die Quelle des eigenen Redens sein kann).31 Dies kann eine Nachträglichkeit ergeben: Erst durch das Sagen des Anderen kann sich das sprechende Subjekt an die für die eigenen gehaltenen Worte (als eine Vergangenheit, die nicht als Gegenwart existiert hat) „erinnern“, es hat sie bis dahin nicht unbedingt als solche in Evidenz gehalten,32 also wird im Eigenen immer auch das Andere – „auf einen Schlag“ – spürbar, also fällt die Unverfügbarkeit des „eigenen“ Wortes mit der Unbeherrschbarkeit der vom Anderen (gleich ob Zeugen oder inspirativen Aktanten) erklingenden Sprache zusammen. Dieser zwiefache Aspekt des Wortes, der aus der „Hinüberversetzung“33 ins Äußere und der Rückkehr des „Erzeugnisses desselben“ zum „eignen Ohre“ stammt, zeigt, dass das sprechende Subjekt bei Humboldt nicht einfach sich selbst hört, also nicht Sklave der Selbstaffektion ist. Und zwar deshalb nicht, weil das „zum eigenen Ohre“ zurückkehrende „Erzeugniss“ virtuelle Spuren der Wiederholung durch andere – oder durch sich selbst als anderen – an sich trägt (wie unten an den Beispielen des „längst Gehörten“ sowie der „Masse aus einzeln Unbemerkbarem“ zu sehen sein wird).34 Denn – so die vielfach zitierte These Humboldts – die besagte „Objectivität ist erst vollendet, wenn

29 Humboldt: Ueber die Verschiedenheiten, S. 217. 30 Humboldt: Ueber die Verschiedenheit, S. 429. 31 Vgl. Halász: Differenzen des Sprachdenkens, S. 175-176. 32 Im Sinne von Bachtin: „Die Suche nach dem eigenen Wort ist gerade nicht auf die eigenen Worte gerichtet, sondern auf die, die mehr sind, als ich es bin; man versucht, sich von den eigenen Worten zu befreien, mit deren Hilfe man nichts Wesentliches sagen kann.“ Bachtin: Beszédelméleti jegyzetek, S. 539. 33 Zu dieser „Hinüberversetzung“ vgl. Jäger: Über die Individualität von Rede und Verstehen. 34 Hier wird nämlich nicht nur das „längst Gehörte“ wiederholt, sondern auch das Verstehen des „damals halb […] Verstandene[n]“ – man könnte es auch das „andere“ nennen, es wird also anders verstanden.

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der Vorstellende den Gedanken wirklich außer sich erblickt, was nur in einem andren, gleich ihm vorstellenden und denkenden Wesen möglich ist.“35 Im „Erzeugniss“ selbst lässt sich die Differenz also nicht auflösen (vor allem nicht in dialektischem Sinn), d.h. was einmal „hinausgesetzt“ wurde, kehrt niemals restlos identisch zurück.

DIE BIOPOETIK DER „ANREGUNG“ BEI HUMBOLDT Die Iterabilität des Wortes als Bedingung und zugleich Effekt des sprachlichen Verstehensereignisses wird in der Kawi-Einleitung so dargestellt: … Verstehen und Sprechen sind nur verschiedene Wirkungen der nämlichen Sprachkraft. Die gemeinsame Rede ist nie mit dem Übergeben eines Stoffes vergleichbar. In dem Verstehenden, wie im Sprechenden, muss derselbe aus der eigenen, inneren Kraft entwickelt werden; und was der erstere empfängt, ist nur die harmonisch stimmende Anregung. Es ist daher dem Menschen auch schon natürlich, das eben Verstandene gleich wieder auszusprechen.36

Die „Anregung“ ist in gewissem Sinn die Vorform der Resonanz, Resonanz vor der Resonanz, auf die das Verstehen als/und Sprechen seinerseits antwortet oder resoniert.37 Dieser virtuelle dynamische Affekt ist so wichtig für die Motivation der Rede, weil in seinem Hintergrund der folgende, nicht dialektische Zusammenhang steht: Die Sinnbildung durch das Verstehen kann sich nur in der Gestimmtheit durch das Wort ereignen, dieses Wort jedoch wird vom Verstehen (auf)gestimmt, zum sagenden Wort gemacht. Die Wiederholbarkeit („das eben Verstandene gleich wieder auszusprechen“) ist ihrerseits sowohl der Grund als auch die Emergenz dieses Resonanzgeschehens. „Gleich wieder auszusprechen“

35 Das Zitat weiter: „Zwischen Denkkraft und Denkkraft aber ist die einzige Vermittlerin die Sprache, und so entsteht auch hier ihre Nothwendigkeit zur Vollendung des Gedanken.“ Humboldt: Ueber die Verschiedenheiten, S. 201. 36 Humboldt: Ueber die Verschiedenheit, S. 430. Etwa Karl Löwith hat auf die Bedeutung der „Anregung“ bei Humboldt hingewiesen, vgl. Löwith: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 118. 37 Eine besondere Betrachtung wäre Heideggers Begriff „das Regende“ in seinem Aufsatz Der Weg zur Sprache wert, der bekanntlich von Humboldt ausgeht. Hier lautet ein „Thesensatz“: „Das Regende im Zeigen der Sage ist das Eignen.“ (Heidegger: Unterwegs zur Sprache, S. 258)

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als „natürlicher“ Effekt – Benjamin wird in ähnlichem Kontext später den Ausdruck „unmittelbar“ verwenden38 – manifestiert die phänomenale Ebene dieses Geschehens. Die „Anregung“ ist ein zentraler Begriff der Humboldtschen Sprachtheorie, er bezieht sich auf die sprachliche Kraft, bedeutet deren Ansporn oder Belebung, Stimulation. In sprachanthropologischem Sinn geht dieser Begriff im Wesentlichen auf die Grundannahme zurück, dass die Sprache „das bildende Organ des Gedankens“ sei.39 Das heißt, in der Sprache zeigen sich zwei Seiten: ein natürlichorganischer, sozusagen biologischer Aspekt (die Sprache als eine Art körperliches oder Sinnesorgan), und die kognitive, mit Humboldts Wort „intellektuelle“ Seite. Diese beiden Züge gemeinsam werden von dem Ausdruck „intellektuelle[r] [Instinkt] der Vernunft“ betont, der die Sprache interpretiert (analog zum „Naturinstinkt“ der Tiere).40 Nun zeigt sich dieser Instinkt grundlegend als Instinkt der Virtualität und trägt eine Art „als ob“-Modus an sich: Man kann die Sprache mit einem ungeheuren Gewebe vergleichen, in dem jeder Theil mit dem andren und alle mit dem Ganzen in mehr oder weniger deutlich erkennbarem Zusammenhange stehen. Der Mensch berührt im Sprechen, von welchen Beziehungen man ausgehen mag, immer nur einen abgesonderten Theil dieses Gewebes, thut dies aber instinctmäßig immer dergestalt, als wären ihm zugleich alle, mit welchen jeder einzelne nothwendig in Übereinstimmung stehen muß, im gleichen Augenblick gegenwärtig.41

38 Vgl. Benjamin: Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen. 39 Humboldt: Ueber die Verschiedenheit, S. 426. 40 Humboldt: Ueber das vergleichende Sprachstudium, S. 11. Diese Analogie sollte man nicht überreferentialisieren. Erhellend kann hier Stenzels Beispiel über die kommunikative Reichweite der menschlichen Sprache im Zusammenhang mit den akustischen Äußerungen sein: „Aber wer mit einem anderen zusammen ist und von ihm gefragt wird: worüber seufzest du?, der ist bereits in einer Verständigungssituation, in der der Seufzer zu ‚sprechen‘ beginnt und die Kundgabe bereits eröffnet. Die Beziehung auf Verständigung ist so groß, daß wir kaum von einem Tiere sagen würden, es seufze.“ Stenzel: Philosophie der Sprache, S. 28. 41 Humboldt: Ueber die Verschiedenheit, S. 446. Humboldt stellt diese Instinktartigkeit gerade dem Gedanken der Sprache als Konvention, als Nomenklatur, gegenüber und merkt an, dass „… das Wort Absicht, von Sprachen gebraucht, mit Vorsicht verstanden werden muss. Insofern man sich darunter gleichsam Verabredung, oder auch nur vom Willen ausgehendes Streben nach einem deutlich vorgestellten Ziele denkt, ist, woran man nicht zu oft erinnern kann, Absicht den Sprachen fremd. Sie äußert sich immer nur in einem ursprünglich instinctartigen Gefühl.“ Ebd. 510. Hegel schrieb der

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Man sieht, dass es sich hier nicht um einen rein natürlich-biologischen Instinkt vor der Sprache handelt, sondern um einen sprachlichen Instinkt oder den Instinkt der Sprache, zumindest aber um einen durch die Sprache herausgebildeten Instinkt, um eine Art Sprachgefühl. Der Instinkt, genauer: die Anregung des Sprechers und der Sprache lassen sich nicht voneinander trennen, und so terminiert die Virtualität des Sprachganzen einen anthropologischen Index: die Dimension der Instinkthaftigkeit. Dies hat subjekttheoretische Implikationen: Der Sprecher erfährt gleichsam seinen eigenen Instinkt in sich selbst und zugleich als eine äußerliche, in der Äußerlichkeit wirkende, weil das Sprachganze evozierende Instanz oder mediale Dimension. Die „Anregung“ richtet sich auf diesen Instinkt, ihn spornt sie im Prozess des Verstehens oder als Verstehen an. Um auf das obige Zitat zurückzukommen, das jetzt vielleicht grundlegender verständlich ist: „Es ist daher dem Menschen auch schon natürlich, das eben Verstandene gleich wieder auszusprechen.“ Dieses Verhältnis besitzt keinen rein kognitiven Charakter, sondern hängt mit der Anregung und der Stimulation des Instinktes zusammen. Zugleich lässt es sich nicht von der Wiederholbarkeit trennen („gleich wieder auszusprechen“). Dieses Wiederaussprechen ist kein Transparentmachen, sondern wird eher von einer Art Geheimnis hervorgerufen, deshalb wiederholt es – dieses „Geheimnis“ besteht darin, „wie eigentlich der Gedanke sich mit dem Worte verbindet“, was Humboldt als etwas „Unerforschliches“ bezeichnet, dem wir auch mit der Zergliederung der Begriffe und der Zerlegung der Wörter nicht näherkommen.42 Dieses Verhältnis kann deshalb ein „Geheimnis“ sein, weil es sich hier nicht um ein völlig bewusst-reflexives Geschehen handelt, sondern um ein Moment des sprachlichen Instinkts. Und eine weitere Ebene: Wenn bei der Berührung der einzelnen sprachlichen Teile für den Sprecher instinktiv schon das Sprachganze (als „ungeheures Gewebe“) präsent ist, dann ist die Iterabilität immer schon die Wiederholbarkeit der ganzen Sprache, nicht diejenige einzelner Wörter und noch weniger die von Zeichen.43 Dies ist nur in nicht-bewusstem Sinn denkbar und

Sprache bekanntlich einen „logischen Instinkt“ zu, vgl. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (§ 459), S. 370. Vgl. dazu Gadamer: Die Idee der Hegelschen Dialektik, S. 80-82. 42 Humboldt: Ueber die Verschiedenheit, S. 560-561. 43 Vgl. damit Humboldts prinzipielle Feststellung, die bis zu Heidegger ausstrahlte: „Man kann sich unmöglich die Entstehung der Sprache als von der Bezeichnung der Gegenstände durch Wörter beginnend und von da zur Zusammenfügung übergehend denken. In der Wirklichkeit wird die Rede nicht aus ihr vorangegangenen Wörtern zusammengesetzt, sondern die Wörter gehen umgekehrt aus dem Ganzen der Rede

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wirkt also nur auf präreflexiv-instinktiver Ebene, daher kann es nicht eine Leistung der bewussten Erinnerung als einer Art kognitiver Fähigkeit sein, wie Humboldts andere kardinal bedeutende These besagt: „Die unfehlbare Gegenwart des jedesmal nothwendigen Wortes in dieser ist gewiss nicht bloss Werk des Gedächtnisses. Kein menschliches Gedächtniss reichte dazu hin, wenn nicht die Seele instinctartig zugleich den Schlüssel zur Bildung der Wörter selbst in sich trüge.“44 An einer Stelle in der Kawi-Einführung gibt Humboldt eine kleine Phänomenologie des „Gehörten“, die diese Zusammenhänge teilweise weiter verdeutlichen kann. Hier geht es um den Stellenwert des „Gehörten“ im „Sprechenlernen der Kinder“ als „Wachsen des Sprachvermögens“ (was hier hermeneutisch betrachtet wohl in strukturalem und nicht nur in genetischem Sinn zu verstehen ist): Das Gehörte thut mehr, als bloss sich mitzutheilen, es schickt die Seele an, auch das noch nicht Gehörte leichter zu verstehen, macht längst Gehörtes, aber damals halb oder gar nicht Verstandenes, indem die Gleichartigkeit mit dem eben Vernommenen der seitdem schärfer gewordenen Kraft plötzlich einleuchtet, klar, und schärft den Drang und das Vermögen, aus dem Gehörten immer mehr und schneller in das Verständniss hinüberzuziehen, immer weniger davon als blossen Klang vorüberrauschen zu lassen.45

hervor.“ Humboldt: Ueber die Verschiedenheit, S. 448. In seinem Kapitel über die Sprache und die Rede in Sein und Zeit schreibt Heidegger im Zusammenhang mit dem hermeneutischen Holismus der Sprache: „Die befindliche Verständlichkeit des In-derWelt-seins spricht sich als Rede aus. Das Bedeutungsganze der Verständlichkeit kommt zu Wort. Den Bedeutungen wachsen Worte zu. Nicht aber werden Wörterdinge mit Bedeutungen versehen.“ Heidegger: Sein und Zeit, S. 161. 44 Humboldt: Ueber die Verschiedenheit, S. 480. Es ist eine Binsenweisheit, dass wir eine fremde Sprache dann richtig können, wenn wir in ihr denken, wenn wir aus ihr sprechen. Selbst der im Horizont der Figur einer Vorrätigkeit der Sprache denkende Sprachforscher formuliert teilweise treffend: „If we are frustrated when we cannot remember a word, it is only because we so much more often remember them so easily.“ (Burling: Words came first, S. 412.) Von Humboldt her gesehen ist freilich fraglich, ob vor allem im zweiten Fall der Ausdruck „erinnern“ (und „can“) als treffend zu bezeichnen ist und man nicht seinen willkürlichen Charakter anmerken sollte. – Vgl. hierzu noch Wittgensteins Bemerkung zum Satz „Ich erinnere mich nicht mehr an meine Worte, aber ich erinnere mich genau an meine Absicht: ich wollte ihn mit meinen Worten beruhigen.“ (Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 163) 45 Vgl. Humboldt: Ueber die Verschiedenheiten, S. 221. (Hervorh. Cs.L.)

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Das „Gehörte“ erweist sich hier in dessen Verstehen als echtes Resonanzgeschehen, in dem das „noch nicht Gehörte“, das „längst Gehörte, aber damals halb oder gar nicht Verstandene“ und das „Vernommene“ (also im Verstehen Befindliche) zusammenspielen. Diese „Gleichartigkeit“ selbst ist hier – als aus der virtuellen Wiederholung stammendes Wiedererklingen – ein aktives dynamisches Element, es bezeichnet nicht einfach ein ikonisches oder kognitives Muster, denn es fällt ja gerade der „schärfer gewordenen Kraft“, also einer Art Intensität als Medium auf (!) bzw. erscheint als echtes Ereignis (das „plötzlich einleuchtet“, als eine Art dialektisches Bild?).46 Das Gehörte zeitigt in seinem Verstehen also eine doppelte mediale Virtualität, die selbst aktiver Natur ist. Denn das Nicht-Gesagte schwingt ebenso wie das „längst Gehörte“ in diesem Verstehensakt des Gehörten oder mit ihm zusammen, wo das Gehörte gleichsam in ihrer Kreuzung – sozusagen in einem antizipierten (das „noch nicht Gehörte“) déjà-vu („längst Gehörtes, aber damals halb oder gar nicht Verstandenes“) im Sinne eines unentscheidbar gleichzeitig aus der Vergangenheit und aus der Zukunft kommenden Echos – als einer medialen Mitte steht (oder eher: schwingt). Diese Mitte ergibt sich (mit Benjamin gesprochen) in der Seinsweise einer Art evidenzartiger Unmittelbarkeit, zugleich ist sie jedoch als solche unaussprechbar. So ist diese Kreuzung nichts anderes als das Gegenwärtige des sprachlichen Verstehensereignisses im Modus des Plötzlichen. Das Plötzliche wiederum zeigt die Intensität einer Kraft, also nicht einfach ein Ergebnis einer Kraft, sondern die Stärke einer Kraft, nicht nur den Akt der Resonanz, sondern die Resonanz selbst, das, was resoniert, bzw. das, was resonieren lässt, aber nicht

46 Von hier führt der Weg wieder zu Benjamin, zu seinem kurzen Essay „Über das mimetische Vermögen“ und die „Lehre vom Ähnlichen“, die ausdrücklich sprachtheoretischen Charakter haben. Hier ist das „Ähnliche“ nicht nur nicht im Voraus gegeben, es ist auch nicht Ergebnis einer – prädikativen – Übertragung (auch deshalb „unsinnlich“), sondern es wird von „Prozessen“ „geschaffen“, und so entsteht eine „unsinnliche Ähnlichkeit“, genauer gesagt sie „blitzt auf“ oder verweist sich selbst auf die Lesbarkeit. Der mimetisch, nicht unbedingt bewusst wahrgenommene Zug der Sprache manifestiert sich so: „Ihre Wahrnehmung ist in jedem Fall an ein Aufblitzen gebunden. […] Sie bietet sich dem Auge ebenso flüchtig, vorübergehend wie eine Gestirnkonstellation. Die Wahrnehmung von Ähnlichkeiten also scheint an ein Zeitmoment gebunden.“ Diese Ähnlichkeit bringt das „Dritte“, die astronomische „Konjunktion“ zustande. Zugleich schafft die nicht-sinnliche Ähnlichkeit ein Gedächtnis, dessen „Kanon“ die Sprache ist – die Sprache ist „Medium“, ist „die höchste Stufe des mimetischen Verhaltens und das vollkommenste Archiv der unsinnlichen Ähnlichkeit“ (Benjamin: Lehre vom Ähnlichen; Über das mimetische Vermögen, S. 206, 213).

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sein Subjekt, sondern das Geschehen, das die Resonanz zur Resonanz werden lässt („schärfer gewordene Kraft“, „schärft den Drang“).47 Nur so kann es sich im selben Zug auch dem Gedächtnis einschreiben, besser: wieder einschreiben. Die Affizierung durch das Verstehensereignis, seine mediale Intensität, aktiviert die materiale Dimension der Wiederholbarkeit, denn der Resonanz als Stärke ist eine differentielle Seinsweise zu eigen, die der „Kraft“ vorausgeht.48 Was auch bedeutet, das diese Stärke nicht die „Fähigkeit“ des Sprechers ist, sondern die Kraft der Sprache, die Stärke des Geschehens der sprachlichen Artikulation, die freilich im Reden, im individuellen sprachlichen Verstehen, von diesem untrennbar vonstatten geht. – Auf theoretischer Ebene fasst die Einleitung zum KawiWerk all dies im Zusammenhang mit der „Synthesis“ zusammen, die grundsätzlich die Artikulation in der „Zusammenfügung“ von „innerer Gedankenform“ und „Lauten“ bedeutet. Diese Zusammenfügung bringt „aus den beiden zu verbindenden Elementen ein drittes hervor“, und die „Stärke“ dieser Synthese „ist, was zählt“.49 Diese Synthese ist für Humboldt „nur durch einen wahrhaft schöpferischen Act des Geistes möglich“, einen Akt, dessen Natur er wenig später spezifiziert: Da die Synthesis […] keine Beschaffenheit, nicht einmal eigentlich eine Handlung, sondern ein wirkliches, immer augenblicklich vorübergehendes Handeln selbst ist,50 so kann es für sie kein besonderes Zeichen an den Worten geben und das Bemühen, ein solches Zeichen zu finden, würde schon an sich den Mangel der wahren Stärke des Actes durch die Verkennung seiner Natur beurkunden. Die wirkliche Gegenwart der Synthesis

47 Diese Betonung der sprachlichen Intensität ist bei Humboldt auch im historischen Kontext von kardinaler Bedeutung. Hegel, der andere wichtige Sprachdenker der Epoche, hatte ja bei der Erörterung der spekulativen These nur von „Schwere“, nicht aber von „Kraft“ oder „Stärke“ gesprochen: „Vom Subjekte anfangend, als ob dieses zum Grunde liegen bliebe, findet es, indem das Prädikat vielmehr die Substanz ist, das Subjekt zum Prädikat übergegangen und hiermit aufgehoben; und indem so das, was Prädikat zu sein scheint, zur ganzen und selbständigen Masse geworden, kann das Denken nicht frei herumirren, sondern ist durch diese Schwere aufgehalten.“ Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 58. Zu Hegel in diesem Kontext vgl. Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 470-472. 48 Vgl. Derrida: Limited Inc, S. 230. 49 Humboldt: Ueber die Verschiedenheit, S. 606. 50 In dieser Überlegung klingt Humboldts berühmte Sprachdefinition wider: „Die Sprache, in ihrem wirklichen Wesen aufgefasst, ist etwas beständig und in jedem Augenblick Vorübergehendes.“ Ebd., S. 418.

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muss gleichsam immateriell sich in der Sprache offenbaren, man muss inne werden, dass sie, gleich einem Blitze, dieselbe durchleuchtet und die zu verbindenden Stoffe, wie eine Gluth aus unbekannten Regionen, in einander verschmolzen hat.51

Die Stärke der Sprache als Synthesis lässt sich nicht semiotisch oder morphologisch erforschen,52 diese Synthese kann man auch nicht einfach als Akt fassen (sie ist also weder für die referenzielle noch für die performative Autorität gegeben), denn sie durchdringt die Sprache eher auf immaterielle Weise und konditioniert die unplanbare, ereignishafte Seinsweise des sprachlichen Verstehens („innewerden“ bedeutet immer Unwillkürliches, den unumkehrbaren, beziehungsweise nicht vollständig reflexiven Charakter des inneren Erkennens als Geschehen, der nicht zulässt, dass der Erkennende von seinem Denken getrennt wird – im Sinne des „Werdens“, das übrigens in der „Gegenwart“ widerklingt, wenn auch auf eine möglicherweise selbst Humboldt nicht bewusste Weise). Die hermeneutische Leistung des „Gehörten“ im Sinne einer (De)Subjektivierung des sprachlichen Subjektes berührt Humboldt in dem Zusammenhang, wo er von der „vaterländischen Sprache“ spricht und fragt: Träte nicht die Sprache durch ihren Ursprung aus der Tiefe des menschlichen Wesens auch mit der physischen Abstammung in wahre und eigentliche Verbindung, warum würde sonst für den Gebildeten und Ungebildeten die vaterländische eine so viel grössere Stärke und Innigkeit besitzen, als eine fremde, dass sie das Ohr, nach langer Entbehrung, mit einer Art plötzlichen Zaubers begrüsst und in der Ferne Sehnsucht erweckt?

51 Interessanterweise macht Benjamin den übergangshaften, augenblicksartigen, flüchtigen Charakter des mimetischen Effekts ebenfalls mit der Metapher von Feuer und Blitz spürbar: „Alles Mimetische der Sprache kann vielmehr, der Flamme ähnlich, nur an einer Art von Träger in Erscheinung treten. Dieser Träger ist das Semiotische. So ist der Sinnzusammenhang der Wörter oder Sätze der Träger, an dem erst, blitzartig, die Ähnlichkeit in Erscheinung tritt.“ Benjamin: Über das mimetische Vermögen, S. 213. Die Blitzmetapher ist ein beliebter Tropus Humboldts in seinen Gedanken über die Sprache, vgl. z.B. Humboldt: Ueber die Verschiedenheit, S. 426. 52 Ähnlich Benjamins Insistieren auf dem „nicht-sinnlichen“ Zug oder der Seinsweise der „Ähnlichkeit“.

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Humboldt fährt fort: Es beruht dies sichtbar nicht auf dem Geistigen in derselben, dem ausgedrückten Gedanken oder Gefühle, sondern gerade auf dem Unerklärlichsten und Individuellsten, auf ihrem Laute; es ist uns, als wenn wir mit dem heimischen einen Theil unseres Selbst vernähmen.53

Hier geht es also um das Eigene, das als unerwartete Evidenzerfahrung eintritt, als solches jedoch nicht hörbar ist („wie das noch nicht Gehörte“), sondern nur in der Resonanz oder als diese Resonanz, in einem „als ob“ gegeben ist (der Konjunktiv in Humboldts Formulierung signalisiert das dezent). Das bedeutet auch, dass wir es hier nicht mit einer phonozentrischen Selbstaffektion zu tun haben. Das Eigene existiert nur in dieser oder als diese Resonanz als „plötzliche[r] Zauber[…]“, und gerade diese seine Unverfügbarkeit bezeugt das nackte Leben als sprachliches (als nicht-objektivierbares oder verallgemeinerbares) Leben. Dieser Gedanke Humboldts war durch folgende Fragestellung angeregt worden: „Träte nicht die Sprache durch ihren Ursprung aus der Tiefe des menschlichen Wesens auch mit der physischen Abstammung in wahre und eigentliche Verbindung, warum würde sonst für den Gebildeten und Ungebildeten die vaterländische eine so viel grössere Stärke und Innigkeit besitzen, als eine fremde […]“54 Der Akt des Wieder-Aussprechens ist also abhängig vom „Instinct“, der für Humboldts Sprachauffassung von zentraler Bedeutung ist und über den Humboldt auf theoretischer Ebene schreibt: „Nicht, was in einer Sprache ausgedrückt zu werden vermag, sondern das, wozu sie aus eigner, innerer Kraft anfeuert und begeistert, entscheidet über ihre Vorzüge oder Mängel.“55 Das heißt, die Sprache hat biopoetische oder biopoietische Bedeutung, Rolle, Wirkung: Sie stimuliert den sprachlichen Instinkt des Sprechers im Vollzug des Verstehens als eine Art Lebendigkeit. Zudem nicht einmal so sehr ihn selbst als physiologisch-korporal Existierenden, sondern die Sprache selbst im Sprechenden, durch ihn selbst.56 Von hier wird auch die besondere Bedeutung der Individualität in Humboldts Sprachtheorie verständlich, die sich in seiner These „erst im Individuum erhält die Sprache ihre letzte Bestimmtheit“ äußert.57 Das Wieder-Aussprechen als Effekt der Anregung kann sich zugleich auch im „Gefallen am Sprechen“ äußern

53 Humboldt: Ueber die Verschiedenheit, S. 433 (Hervorh. Cs.L.). 54 Ebd. 55 Humboldt: Ueber das Entstehen der grammatischen Formen, S. 34. 56 Humboldt: Ueber die Verschiedenheiten, S. 217. 57 Humboldt: Ueber die Verschiedenheit, S. 439.

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bzw. umgekehrt, dieses Gefallen oder diese Lust kann das Wieder-Aussprechen induzieren, wo das Gefallen zugleich intellektuellen und sinnlichen Charakter hat: „Das Gefallen am Sprechen ist Gefallen an Rede, und mithin auf Gedanken bezogen.“58 Die Lust am Sprechen ist im Lichte des obigen nicht einfach irgendein Gefallen an der ästhetisierenden Oberfläche, nicht das selbstaffektive Hören der Stimme als solcher im sich selbst hörenden Sprechen, sondern das Hören oder die Wahrnehmung der Modulation der Stimme (Rhythmus, Tonus, Lautstärke, Stimmfärbung, Tempo)59 und darüber hinaus das virtuelle Zusammenklingen des Sprachganzen im einzelnen Sprechen. Mit anderen Worten, der Auslöser dieser Lust ist eine Art Resonanz, die den Sprechenden in seinem eigenen sprachlichen Sein anspricht, sogar seine z.B. kognitive Lebendigkeit (vgl. „Gedanken“) steigert und deren Intensität stimuliert. So zeigt die Resonanz als somatisch-biopoetische Resonanz die Dimension der Gestimmtheit auf. Dies ist der Punkt, an dem sich Humboldt den Gedanken der tief wechselseitigsynchronen Ursprungsstruktur von Musikalität und Sprachlichkeit, der bei Rousseau auftauchte, gründlich aneignet, ihn sogar vertieft.60 Alle Bemerkungen

58 Humboldt: Ueber die Verschiedenheiten, S. 197. 59 Holistische Charakteristika einer im weiteren Sinn verstandenen Vokalität also, die sich Nietzsches Ansicht nach der Fixierbarkeit in der Skripturalität entziehen: „Das Verständlichste an der Sprache ist nicht das Wort selber, sondern Ton, Stärke, Modulation, Tempo, mit denen eine Reihe von Worten gesprochen werden – kurz die Musik hinter den Worten, die Leidenschaft hinter dieser Musik, die Person hinter dieser Leidenschaft: alles das also, was nicht geschrieben werden kann.“ (Nietzsche: Nachlaß Sommer-Herbst 1882, S. 89) 60 Rousseau leitete die Entstehung der Sprache bekanntlich aus den Leidenschaften und nicht aus den Bedürfnissen ab (Rousseau: Essay über den Ursprung der Sprachen, S. 138-140). Dies ist die markante grundlegende Voraussetzung, die Humboldt selbst uneingeschränkt teilt; auf die oben zitierten Sätze folgt die charakteristische Feststellung: „Die Sprache ist, auch in ihren Anfängen, durchaus menschlich, und dehnt sich absichtslos auf alle Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmung und inneren Bearbeitung aus. Auch die Sprachen der sogenannten Wilden, und gerade sie, zeigen eine überall über das Bedürfniss überschiessende Fülle und Mannigfaltigkeit von Ausdrücken. Die Worte entquillen freiwillig, ohne Noth und Absicht, der Brust, und es giebt wohl in keiner Einöde eine wandernde Familie, die nicht schon ihre Lieder besässe, denn der Mensch, als Thiergattung, ist wesentlich ein singendes Geschöpf, nur Ideen mit den Tönen verbindend.“ (Humboldt: Über die Verschiedenheiten, S. 197; Hervorh. Cs.L.). Zur Verbindung von Musikalität und Sprachlichkeit in evolu-

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Humboldts über den immateriellen Charakter der Artikulation, der sich nicht in besonderen Zeichen oder morphologischen Aspekten manifestiert (von denen einige oben behandelt wurden), sind vor diesem Hintergrund zu verstehen. Sprachanthropologie und literarische Anthropologie entspringen also bei Humboldt demselben Stamm (interessant, dass er dazu nicht beispielsweise den Begriff der Fiktion oder des Imaginären braucht, wie „literarische Anthropologien“ neueren Ursprungs). Von hier gesehen kann eine mögliche Definition der Literatur riskiert werden: Die Literatur wäre die Sprache, die von der Resonanz des Sprachganzen (als Potentialität, als „rohem“ Zustand der Sprache),61 von deren Intensitätsgrad her zur höchsten, genauer: zur komplexesten Stimulation fähig ist. Die Sprache wäre dergestalt das biopoetische Erklingenlassen der Partitur der Sprache, ein artikulativ-autopräsentatives Medium oder Performativum der Resonanz der Sprache, der Sprache als Resonanz, als Medium der Gestimmtheit und darin einer Art „Rauschens“ des sprachlichen Instinktes. Bevor wir jedoch damit ohne Weiteres die These von Eugenio Coseriu, einem der herausragenden Humboldtianer des 20. Jahrhunderts, über die Dichtung als Äußerer der Funktionsvollkommenheit der Sprache unterschreiben,62 vielleicht mit Gadamer die Literatur als Realisierung des Zusammenspiels von Bedeutung und Klang feiern,63 lohnt es, die Seinsweise der sprachlichen Resonanz genauer in Augenschein zu nehmen, gerade im Zusammenhang mit Humboldt. In dessen Ausführungen nämlich tauchen regelmäßig Begriffe und Gedanken auf, die die Grenzen der Sagbarkeit bis hin zur Versprachlichung berühren oder auf sie anspielen. Die Unhintergehbarkeit der Verbindung von Wort und Gedanken wird als unbesiegbares, zumindest jedoch als undefinierbares „Ge-

tionärer Sicht siehe Mithen: The Singing Neanderthals. Kürzer ders.: Musicality and Language, S. 296-298. 61 Ossip Mandelstam interpretierte die Dichtung als Inszenierung des rohen (also nicht in ästhetisch-sublimativem Sinn abstrakten, aus dem sprachlichen Medium die reine Form extrahierenden, aus dem Rauschen eine Nachricht selegierenden) Zustandes der Sprache: „Entgegen allem eingebürgerten Denken ist die poetische Sprache unendlich roher, unendlich unbehauener als die sogenannte ‚Umgangssprache‘“. Entsprechend übersteige auch die „Formgebung“ von Dantes Hauptwerk „unsere Begriffe von Schreibkunst und Komposition. Viel richtiger wäre es, als sein Leitprinzip den Instinkt anzusehen.“ Mandelstam: Gespräch über Dante, S. 177, 130. 62 Coseriu: Thesen zum Thema „Sprache und Dichtung“. Diese Thesen gehen von der Kritik an Roman Jakobsons Begriff der „poetischen Funktion“ aus. Für ihre weitere Ausarbeitung s. Coseriu: Textlinguistik, S. 79-84, 146-149. 63 Gadamer: Text und Interpretation, S. 365.

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heimnis“ angesehen, der Instinkt ist per definitionem ein phänomenal unzugänglicher Impuls und allenfalls in seinen Wirkungen erfahrbar, und überhaupt: Gegenüber dem Instinkt erweisen sich die Worte als „immer dürftig“. Der sprachliche Instinkt selbst exponiert die Grenze zwischen der Sprache und der Dimension jenseits ihrer, seine Frequenz oszilliert gleichsam zwischen diesen beiden Bereichen, an der Grenze selbst, sofern die Anregung der sprachlichen Kraft nicht unbedingt bzw. nur willkürlich mit der sprachlichen Formulierung abschließbar ist, unter Aussetzung des Verstehensprozesses.64 Das Medium des Instinkts als Resonanz innerhalb der Sprache – zwischen einzelnen sprachlichen Momenten und dem Sprachganzen – lässt also diese Resonanz zu einem virtuellen Zusammenklang der Sprache und des Bereichs jenseits der Sprache, zum Echo, werden. Damit kann sich auch die Wiederholbarkeit als Effekt dieses Echos erweisen. Zusammenfassend kann man sagen, dass eine solche Unhintergehbarkeit der Vorgängigkeitsstruktur des „Geheimnisses“ und des sprachlichen Instinkts auf nichts anderes zurückverweist als auf die Nichtfeststellbarkeit, die Nichtmitteilbarkeit, die Nichtvermittelbarkeit des medialen Zusammenhangs selbst: auf die Ungreifbarkeit, die Nichtdefinierbarkeit dessen, was die Resonanz auslöst, insofern dieser als das (vermittelnde wie vermittelte) Mediale selbst nicht keine bloße Differenz bildet oder bedeutet. All dies bringt natürlich Differenzen, Brüche, Nicht-Identitäten mit sich (oben wurde schon auf die inhärente Differenz der Seinsweise des zwischen Drinnen und Draußen, zwischen dem Ich und dem Anderen zirkulierenden Wortes eingegangen, darauf, dass diese Zirkulation niemals einen geschlossenen, ausgleichenden Stromkreis bedeutet). Humboldt lässt nämlich die Frage nach der Definierbarkeit des Ereignisses der „Anregung“ nach dem performativen Wert und nach seinem Gelingen offen: die „Anregung“ kann auch traumatisch sein, sie kann die Erfahrung der Qual des fehlenden Wortes, des Fiaskos der Benennbarkeit und Verständlichkeit verstärken, sie kann sogar den verletzenden, auf die Verletztheit verweisenden Charakter des Wortes in den Vordergrund bringen (im Sinne von Attila József: „Brocken geronnenes Blut / fällt Wort und Wort / rot vor dich hin.“65). Die oben angeführte These von Humboldts Sprachauffassung, „erst im Individuum erhält die Sprache ihre letzte Bestimmtheit“, zeigt genau in diese Richtung:

64 In Nietzsches Sinn: „Wofür wir Worte haben, darüber sind wir auch schon hinaus.“ Nietzsche: Götzen-Dämmerung, S. 128. 65 Attila József: Óda [Ode; deutsch von Franz Fühmann, in: Hermlin/Tálasi: Ungarische Dichtung, S. 250]; „Mint alvadt vérdarabok, / úgy hullnak eléd / ezek a szavak.“

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Keiner denkt bei dem Wort gerade das, was der andre, und die noch so kleine Verschiedenheit zittert, wenn man die Sprache mit dem beweglichsten aller Elemente vergleichen will, wie ein Kreis im Wasser durch die ganze Sprache fort. Bei jedem Denken und Empfinden kehrt, vermöge der Einerleiheit der Individualitaet, dieselbe Verschiedenheit zurück, und bildet eine Masse aus einzeln Unbemerkbarem. Alles Verstehen ist daher immer zugleich ein Nicht-Verstehen […] alle Uebereinstimmung in Gedanken und Gefühlen zugleich ein Auseinandergehen.66

Die Verschiedenheit zittert also weiter, was – bei Humboldt sogar vorrangig – akustisch zu fassen ist und den Effekt der nicht-identischen Resonanz inszeniert. Zugleich wird es in eine visuelle Metapher übersetzt (hier reflektiert Humboldt wie so oft den nicht-selbstverständlichen Charakter des Vergleichs in metasprachlichem Sinn: „wenn man … vergleichen will“),67 also auch seine Äußerlichkeit, seine Spurenhaftigkeit wird zugespitzt (das „Weiterzittern“ erst schreibt diese Spur sozusagen ein). Dieses Zittern ist also ein Weiterbeben, ein übersetzerisches Geschehen zwischen Stimme und Bild, ein medialer Resonanzraum oder -prozess. Die Verschiedenheit als Differenz weist hier in sich oder für sich auf das Geräusch der Verständigung, was jedoch keine reine „Störung“ ist, sondern eher zur Chance des Andersseins, der Nichtprogrammierbarkeit, der Produktivität und der Erneuerbarkeit des Verstehens werden kann. Die Differenz verbirgt sich also im Verstehen selbst und nicht einfach zwischen Verstehendem und Verstandenem (dasselbe lässt sich a fortiori von der Übersetzung sagen, deren bio-poetische Konzeption auf der Grundlage des bisher Behandelten ebenfalls vorstellbar wird: Die Übersetzung ist das Medium der Umsetzung der aus der Quellsprache kommenden erspürten Anregung in der Zielsprache – und nicht das von Bedeutungsübertragungen). Eine Trennlinie oder eine Unterscheidung zwischen Resonanz und Rauschen einzuführen, wäre ein problematisches Unterfangen. Damit geht es um nichts anderes als um das Nicht-Verstehen im

66 Hier habe ich das Zitat aus Ueber die Verschiedenheit mit der analogen Textstelle aus Ueber die Verschiedenheiten verschränkt, die mehr Sätze und Satzteile als die Einführung zu Kawi-Werk enthält. Humboldt: Ueber die Verschiedenheiten, S. 228. Vgl. Humboldt: Ueber die Verschiedenheit, S. 439. (Vgl. damit Borsche: Wilhelm von Humboldt, S. 168-170; Di Cesare: Einleitung, S. 101-104.) 67 Diese metaphorischen Beschreibungen machen im Ganzen ihre Übersetzbarkeit in die Sprache der medialen und materialen Zusammenhänge möglich, der Versuch dazu wird in dieser Arbeit unternommen. (Zur visuellen Metaphorik bei Humboldt siehe die Bemerkungen von Trabant: Traditionen Humboldts, S. 203.)

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Herzen des Verstehens, das zugleich nicht nur ein Strukturmoment der Negativität, des hegelschen „Andersseins“ ist, das das Verstehen überwinden müsste.68 Dieses Nicht-Verstehen wird von der „Allgemeinheit des Begriffs und der Empfindung“ überdeckt, durch sie ist der Unterschied, das unbehebbare Moment des Nicht-Verstehens „nicht sichtbar“: Das erwähnte „Auseinandergehen“ ist nur da nicht sichtbar, wo es sich unter der Allgemeinheit des Begriffs und der Empfindung verbirgt; wo aber die erhöhete Kraft die Allgemeinheit durchbricht, und auch für das Bewusstseyn schärfer individualisirt, da tritt es deutlich ans Licht. So wird niemand abläugnen, dass jeder bedeutende Schriftsteller seine eigene Sprache besitzt.

Außerdem ist selbst die „Masse aus einzeln Unbemerkbarem“ von der diskursiven Allgemeinheit oder Konventionalität (z.B. einer Art Öffentlichkeit oder „öffentlicher Meinung“) her nicht wahrnehmbar, und die Emergenz der „erhöhete[n sprachliche] Kraft“ ist es, die diese Allgemeinheit „durchbricht“ bzw. – könnte man hinzufügen – die Verschiedenheit erfahrbar macht, nämlich, dass in jedem Verstehen bereits das Nicht-Verstehen am Werk ist. Diese „Masse“ oder dieser Rest (Spur) kann sich gleichsam auch als Struktur der Unmöglichkeit äußern, als Unmöglichkeit des Verstehens, des Erscheinens und der Performanz. Das ist hier kein rein negatives Moment, sondern es gewinnt – wenn man davon ausgeht, dass die „Masse aus einzeln Unbemerkbarem“ als Latenz, Rauschen oder Unausgesprochenes gerade die „muster“-artige Gegenwart des Sprachganzen schon als den Diskurs des anderen verkörpert oder intensiviert (als Anderssein in der eigenen Stimme oder Rede herumgeistert) – als Spurenartigkeit gleichsam historische Tiefe und kann darauf hinweisen, dass die „Allgemeinheit des Begriffs und der Empfindung“ die Wirkung der virtuellen Gegenwart des Sprachganzen immer schon in gewisser Weise reduzieren, neutralisieren kann. Formallogisch betrachtet ergibt sich die Formel, dass der durch die gesteigerte sprachliche Kraft verursachte Bruch in gewissem Sinne bloß einen früheren Bruch wiederholt, die „Verschiedenheit“, das „Auseinandergehen“ des „NichtVerstehens“ (auch die Synonymie dieser „noch so kleine[n]“ Verschiedenheit und der „Masse aus einzeln Unbemerkbarem“ bestätigt das). So jedoch, dass er zulässt, dass inzwischen die von der Verschiedenheit generierte sprachliche „Masse“ als Rest (gar eine Art Materialität?, z.B. in einer Art Übersetzung?) zurückkehrt bzw. sich diese „Masse“ – Humboldts Syntax folgend – in der

68 „Der Geist wird aber Gegenstand, denn er ist diese Bewegung, sich ein anderes, d.h. Gegenstand seines Selbst zu werden, und dieses Anderssein aufzuheben.“ Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 38.

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Rückkehr ergibt. In dieser Wiederholung kommt also die Erinnerung an jene ursprüngliche Trennung ins Spiel, aber auf „gesteigerte“ Weise! Das heißt, in Division oder Multiplikation der Gegenwärtigkeit des Sprachganzen markiert sie das Verstehen wieder mit dem Bruch des Nicht-Verstehens, zugleich stellt sie es in eine Herausforderung des Individuellen (das bedeutet die Steigerung): in das Drängen oder Rufen durch die Rede des anderen als in die Heimsuchung durch das Sprachganze, durch den sprachlichen Instinkt. Von hier gesehen ist es vielleicht kein Zufall, dass es, wenn die – in diesem Fall unbemerkbare, „noch so kleine“ – Verschiedenheit in der Sprache weitere Kreise zieht, an die Metapher der internen, als sprachliche Autokatalyse, als Prinzip der Selbsterschaffung wiederholenden Bewegung erinnert, von der am Anfang dieser Arbeit die Rede war, wo es nämlich von der Sprache hieß: „Ihr Wesen wiederholt sich auch immerfort, nur in engeren und weiteren Kreisen“. Das Missverstehen kann so in strukturellem Sinn ebenso das Sprachganze ins Spiel bringen, es kann ebenso die Bewegung der sprachlichen Kraft nachformen, sich mindestens ebenso in die Struktur des Zeichens einschreiben wie das angenommene Verstehen, sofern es die auch hierin wirkende Differenz verstärkt, selbst bis zu den äußersten Grenzen der Kommunikation oder der Verständigung.69 Wie es in der Sprache kein vollständiges, restloses Verstehen gibt, so existiert auch kein absolutes NichtVerstehen, wenn und insofern sprachliche Mitteilung (Hören oder Sprechen, Schreiben) geschieht. – All das lässt sich vor folgendem Hintergrund und zugleich in folgender Konsequenz, in der Dimension der Humboldtschen Gedankenfigur, der ursprungslosen Zirkularität denken: Das interne Wiederholen ist die Kraft der Sprache selbst, und diese Wiederholung wirkt als eine Resonanz, die einen nicht-semantisierbaren Überschuss/Mehrwert erzeugt und in das Spiel der Wiederholung, der Wiederkehr einbezogen werden kann. An dieser Stelle lohnt es, Lacan zu zitieren: „[W]as bei der Information als Redundanz auftritt, ist genau das, was beim Sprechen als Resonanz dient. Die Funktion der Sprache besteht ja hier nicht darin zu informieren, sondern zu evozieren.“70

69 Dieser Zusammenhang ließe sich wohl mit der Bewegung der Zeichenfunktion in Zusammenhang bringen, die Derrida „Unmotiviert-Werden des Symbols“ genannt hat (wo z.B. der Interpretant selbst auch zum Symbol wird), was das Moment der „Spur“ bedeutet, die „indefinit ihr eigenes Unmotiviert-Werden“ ist. Folgende Definition lässt stark auf Humboldt assoziieren: „Die Unmotiviertheit der Spur muß von nun an als eine Tätigkeit und nicht als ein Zustand begriffen werden, als eine aktive Bewegung, als eine Ent-Motivierung und nicht als eine gegebene Struktur.“ Derrida: Grammatologie, S. 83, 88. 70 Lacan: Funktion und Feld, S. 143.

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Wie Humboldt betont hat, kehrt die Verschiedenheit selbst zurück, sozusagen gesteigert, intensiviert, zur Herausforderung des Verstehens/der Verständigung gewandelt, womit sie eine Art Latenz in der Sprache bildet („Masse aus einzeln Unbemerkbarem“), mithin sogleich die reine Differenz zwischen zwei oder mehr Sprechern. So kann folgende mögliche Erklärung skizziert werden: Es ist eine unausgesprochene Dimension ihrer „Masse“, die in der Wiederholung gleichsam wiederkehrt, gar gesteigert – in dem Fall, wenn „die erhöhete Kraft die Allgemeinheit durchbricht“ (hier wird man bei allem „Idealismus“ auf die durchaus kritische Volte dieses Sprachdenkens aufmerksam). Das kann einzig jene Kraft sein, die von der „Anregung“, der Stimulation, erreicht wurde, eine Kraft, die gleichsam vom Anderen ihr Wort zurückbekommen hat und so angeregt wurde, die Allgemeinheit zu durchbrechen, indem sie die Bewegung der sprachlichen Singularisierung initiierte. Diese Latenz oder dieser Rest – die Rede des Anderen – scheint das Sprachganze nicht nur als Horizont, sondern auch als Spur in Bewegung zu bringen. So ereignet sich die Resonanz zwischen der sprachlichen Singularisierung und der Latenz des Unausgesprochenen, sie offenbart, dass diese beiden aufeinander angewiesen sind, ohne dabei die Grenzen zwischen der Sprache und ihrem Draußen auszulöschen. Vielmehr wird diese Verschiedenheit in die Sprache selbst zurückgeführt: Die Auflösung der sprachlichen Allgemeinheit kann gerade die Chance für das komplexere Wirken, die Manifestation des sprachlichen Instinkts sein, in dem Sinn, dass dieser Bruch nicht einfach im Zeichen des Pathos einer Art Negativismus von etwas entfernt, sondern dass er auf den sprachlichen Instinkt als vorgängiges Verstehen zurückwirft. Dieses vorgängige Verstehen jedoch ist von virtuellen Spuren und Echos durchzogen, deren mediale Insistenz sich gerade infolge des genannten Bruchs intensivieren kann. Aus all dem folgt, dass die sprachliche Resonanz als Trope des Sprachganzen als Ganzen nicht die abstrakte Totalität oder gar Abgeschlossenheit der Sprache fixiert, sondern vielmehr zwischen dem Ausgesprochenen und dem Unausgesprochenen resoniert (in der Formulierung von Ueber das vergleichende Sprachstudium: „Jedes Ausgesprochene bildet das Unausgesprochene, oder bereitet es vor.“), diese Grenze als Oszillation, diese Differenz selbst als Medium herstellt oder aktiviert. Das heißt, das Unausgesprochene ist nicht einfach Enthaltenes oder Substanz, es ist vielmehr selbst auch Medium, die Insistenz oder der Ruf vergessener oder potentieller Bedeutungen. Auch hier lässt sich die chiastische Struktur der Medialität der Sprache beobachten. – Derselbe Zusammenhang zeigt sich implizit in der Fortsetzung der zitierten Passage: Hier wird das Verhältnis zwischen Sprache und Individuum bzw. ihre gegenseitige Macht übereinander behandelt. Die Modifizierung der Sprache in jedem Individuum zeigt die Gewalt des Menschen gegenüber der Sprache, während

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Humboldt früher die Macht der Sprache über den Menschen skizziert hatte, die er hier als „physiologisches Wirken“ bezeichnet, während er die Macht des Menschen über die Sprache als „rein dynamisches [Wirken]“ interpretiert oder anders: „in dem auf ihn ausgeübten Einfluss liegt die Gesetzmässigkeit der Sprache, in der aus ihm kommenden Rückwirkung das Princip ihrer Freiheit.“ Das heißt, die Freiheit gehört der Sprache und nicht einfach dem Individuum, sie kann sich nur in der Rückwirkung des letzteren als einer Art Responsivität (in der Antwort auf die „Anregung“, selbst wenn diese zum Unausgesprochenen gehört oder unausgesprochen ist) manifestieren als gleichzeitiges „physiologisches“ und „dynamisches“ Einwirken. Mehr noch, die Rückwirkung aus dem Menschen ist abhängig oder eine Funktion dieser „physiologischen Wirkung“, zugleich erweist sich, dass die Rückwirkung keine reflexive Struktur hat, sondern Index einer Art dynamischen Erbes oder Erbens ist (strukturphänomenologisch ähnlich wie die „Gegenwart des jedesmal notwendigen Wortes“, die ausdrücklich „nicht bloss Werk des Gedächtnisses“ ist), der gerade deshalb eine Vergangenheit wiederholt, die niemals gegenwärtig war: Denn es kann im Menschen etwas aufsteigen, dessen Grund kein Verstand in den vorhergehenden Zuständen aufzufinden vermag, und man würde die Natur der Sprache verkennen, und gerade die geschichtliche Wahrheit ihrer Entstehung und Umänderung verletzen, wenn man die Möglichkeit solcher unerklärbaren Erscheinungen von ihr ausschliessen wollte.

Die Rückwirkung des Menschen auf die Sprache ist also abhängig von der Gabe derselben Sprache.71 Die Selbsterschaffung der Sprache beleuchtet auch ihre Medialität oder ihr Medialitätsprinzip, wie sich an mehreren Passagen bei Humboldt zeigen lässt. An einer solchen Stelle im Unterkapitel „Genaue Darlegung des Sprachverfahrens“ ist explizit von der durch „die Natur der Sprache“ definierbaren „Mitte“ die Rede. Die mediale Dimension, die sich aus dieser dynamischen Kreuzung

71 Damit kann man sagen, dass Schleiermachers Diktum – „Alles Vorauszusetzende in der Hermeneutik ist nur Sprache“ (Schleiermacher: Hermeneutik, S. 38) – keine Einschränkung oder Reduktion bedeutet, sondern ganz im Gegenteil, eine nicht zu überbietende Vorbedingung oder ein Versprechen, eine Antizipation. Für die Sprache würde die Vorannahme jegliches anderen (z.B. Geist, Bedeutung, Kognition, Fiktion, Imaginäres usw.) gleichsam hinter der Sprache eine Verarmung der sprachlichen Relation bedeuten.

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ergibt, steht im Folgenden im Licht des Verhältnisses zwischen der endlichen Menge von sprachlichen Erscheinungen und der Unendlichkeit des Sagbaren: [S]ie [die Sprache] muss daher von endlichen Mitteln einen unendlichen Gebrauch machen, und vermag dies durch die Identität der Gedanken- und Spracheerzeugenden Kraft. Es liegt hierin aber auch nothwendig, dass sie nach zwei Seiten hin ihre Wirkung zugleich ausübt, indem diese zunächst aus sich heraus auf das Gesprochene geht, dann aber auch zurück auf die sie erzeugenden Kräfte. Beide Wirkungen modificieren sich in jeder einzelnen Sprache durch die in ihr beobachtete Methode …72

Die sagende Disposition der Sprache hat ihren Ursprung in ihrer artikulativen Logik, d.h. in ihrer Zwischenstellung zwischen Gedanke und Laut, was die Sprache in der chiastischen Dynamik von vorher und nachher, Vorausgehen und Folgen situiert, zwischen den Kräften, die das Ausgesprochene und die Sprache bewegen. Man kann sagen, diese werden gegenseitig zu ihrem Medium, und das Geschehen dieses Spiegelns im anderen ist selbst das ereignishafte Wirken der Sprache als Medium.73 Es kann außerdem dazu kommen (obwohl die diesbezügliche Affinität von Humboldts Denken über die Sprache gesondert untersucht werden müsste), dass gerade in der Iterabilität des Wortes auch dessen Verselbständigung gegeben ist, sowohl für das intersubjektiv-äußere als auch für das innere Verstehen, sofern die mit Humboldt gesprochen so entstehende „Objectivität“ in der jeweiligen Wiederholung des Wortes (im Verstehensakt bzw. danach, wie Humboldt betont, als es um die Wichtigkeit dieser Iteration geht) zu einer automatischen, mechanischen Wiederholung werden kann und dies gerade das Vergessen, die Auslöschung seiner Bedeutung, a fortiori die Unterbrechung der Gegenseitigkeit, der Zirkularität von Rede und Verstehen hervorrufen kann. Also kann gerade die Iterabilität zur Schranke, zum Hindernis für das Verstehen und für die Verständigung werden, vor allem als Mortifikation der „Anregung“. Auf diese Weise fixiert, kann der inskriptionale Charakter des Wortes das Wirken des Potentials der Gestimmtheit aussetzen, kann es sozusagen verstummen lassen (McLuhans medientechnologische Archäologie über den neuzeitlichen, vom Buchdruck hervorgebrachten „typographischen Menschen“ schrieb das Attribut „Resonanz“ bekanntlich den „magischen“ Kulturpraktiken der Mündlichkeit zu, als Gegenbegriff zur „visuellen Linie“, die von der Schrift und der Kopierbarkeit präferiert

72 Humboldt: Ueber die Verschiedenheit, S. 477. 73 Vgl. die Ausführungen zur spekulativen Struktur der Sprache bei Gadamer (Wahrheit und Methode, S. 469-475).

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wird.)74 Andererseits kann gerade dieses Vergessen die Insistenz des divergierenden Rauschens (vgl. die „Masse aus einzeln Unbemerkbarem“), der kontingenten Bedeutungseffekte und unerwarteten Resonanzmomente der Sprache voranbringen, indem auch das so bedeutungslos gewordene Wort kein reines „Geräusch“ ist, sondern gerade durch die Unbeherrschbarkeit seines nicht antizipierbaren Bedeutungsrauschens, seiner materialen Latenz, so beunruhigend wird. So wird z.B. das Element der von typographischen Codes und Konventionen determinierten perzeptiven Voraussetzung des Papiers unterbrochen, das es zuließe, dass dieses als Strukturmoment „der kontinuierlichen und irreversiblen Zeit einer Linie, einer vokalen und monorhythmischen Linie“ gebeugt wird.75 Nach Derridas Beobachtungen ist das Papier derart niemals nur der oberflächliche Träger der Inskription, denn um welches Schriftsystem es sich auch immer handeln mag –, hallt das Papier wider. Unter dem Schein einer Oberfläche hält es ein Volumen, Falten, ein Labyrinth in Reserve [tient en réserve, ein häufig gebrauchter Ausdruck Derridas], dessen Wände bisweilen die Echos der Stimme oder des Gesangs zurückschicken, die es seinerseits trägt, denn das Papier besitzt auch die Tragweite (portée), die Reichweiten eines Sprachrohrs.76

Diese Vervielfachung der Oberfläche wirkt im Medium der Resonanz und entfaltet hier ihre (im)materiellen Effekte.

HANS LIPPS ÜBER DAS WORT ALS ECHO DER SPRACHE Das sprachliche Vernehmen wurde aufgrund von Humboldts Ausführungen als eine Wiederholungsfigur verstanden, die auf der diesseitigen, inneren (nicht einfach auf der „äußeren“, kommunikativ-adressierenden, gestischen etc.), mentalen Seite des Sprachlichen, also im Verstehen als einem potentiellen leiblichen Sprechen oder Sagen selbst, genauer: im Sagender-Werden des Wortes (nicht in einer formalen oder unverbindlichen Wiederholung desselben), stattfindet und dessen sowohl sprachphänomenologischen wie dialogischen Modus die Reso-

74 McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis. Vgl. noch ders.: Understanding Media, S. 83. 75 Vgl. Derrida: Das Papier oder ich, wissen Sie …, S. 226. 76 Ebd, S. 225.

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nanz darstellt.77 Die enge Verknüpfung von Bewusstsein (Denken) und Sprache (Sagen) im Akt des Verstehens als einer wiederholten Resonanz, in der als mediales Ereignis aufgefassten Iterabilität als Gestimmtheit der Wiederholung, lässt sich mit Hilfe von Hans Lipps (1889-1941), einem modernen Sprachtheoretiker, noch weiter konkretisieren. Lipps, der im Krieg gefallen ist, gewann gerade von Humboldt und Heidegger wichtige Anregungen für seine sprachphilosophischen und sprachanalytischen Untersuchungen (seine diesbezüglichen Arbeiten lassen sich als Weiterführung des Kapitels über Sprache und Rede aus Sein und Zeit auffassen, er schrieb im Wesentlichen das teilweise fehlende sprachtheoretische Pendant zu Heideggers frühem Hauptwerk).78 Bei Lipps ist in mehr-

77 Christians Grünys Aufsatz thematisiert nur diesen äußeren, „zwischenleiblichen“ Aspekt der „Resonanz“ als „Sprachverstehen“, obwohl im selben Band Ludwig Jäger es klarmacht: „Es wäre freilich ein Trugschluss, zu glauben, die Leiblichkeit der Sprache sei allein ein Moment ihrer performativen Prozessierung. Tatsächlich ist Sprache ‚bereits‘ in ihrer mentalen Existenz ein leibvermitteltes Phänomen.“ (S. Grüny: Artikulation und Resonanz, S. 79-91, und Jäger: Die Leiblichkeit der Sprache, S. 59.) Es ist natürlich äußerst schwierig, sich zu diesem Komplex mit der problematischen Annahme Bergsons zu nähern: „Zwei Menschen unterhalten sich in einer unbekannten Sprache; ich höre zu. Heißt das, dass ich sie höre? Dieselben Schwingungen, die ihre Ohren treffen, kommen auch zu mir. Ich apperzipiere aber nur ein verworrenes Geräusch, wo ein Laut dem anderen ähnelt. Ich unterscheide nichts und könnte nichts wiederholen.“ (Bergson: Materie und Gedächtnis, S. 101, zitiert von Grüny als Auftakt seines Aufsatzes, s. Grüny: Artikulation und Resonanz, S. 79.) Zwar kommt Grüny gegen Ende seines Aufsatzes, zu bescheiden („nebenbei bemerkt“) auf „ein[en] kleine[n] Einwand“ gegen dieses Axiom von Bergson: „Auch derjenige, der nichts versteht, hört doch keinen diffusen Lautstrom, sondern gestisch artikulierte Bewegung, auch wenn er sie für ihn diffus und im Einzelnen nicht nachvollziehbar bleibt.“ (Ebd., S. 89) Man hätte nur Martin Heidegger aufzuschlagen brauchen, denn im Paragraphen über Da-sein und Rede. Die Sprache von Sein und Zeit stehen die grundsätzlichen Sätze: „Auch im ausdrücklichen Hören der Rede des Anderen verstehen wir zunächst das Gesagte, genauer, wir sind im Vorhinein schon mit dem Anderen bei dem Seienden, worüber die Rede ist. Nicht dagegen hören wir zunächst das Ausgesprochene der Verlautbarung. Sogar dort, wo das Sprechen undeutlich oder gar die Sprache fremd ist, hören wir zunächst unverständliche Worte und nicht eine Mannigfaltigkeit von Tondaten.“ Heidegger: Sein und Zeit, S. 164. 78 S. Gadamers Hinweis auf Lipps in seinem Hauptwerk über den Mitte-Status und die spekulative Struktur der Sprache; Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 462-463. Außerdem ders.: Hans Lipps.

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fachem Sinn von der Sprache als „Mitte“ die Rede,79 an einer Stelle beschreibt er beispielsweise den in der „als ob“-Struktur (einem Wiederholungseffekt im Sinne eines „déjà-vu“ ohne Ursprung) wurzelnden Prozess der sprachlichen Artikulation als Evokation: Ein Wort wie ‚glatt‘‚tönt als ob mans fühlte‘. Damit sollte bei Herder keine äußerliche und gleichsam schiefe Ähnlichkeit getroffen sein. ‚Als ob‘ heißt hier auch nicht, es solle gleichnishaft etwas angespielt werden, d.i. als sollte im Bewußtsein des Ungemäßen eines solchen Versuchs in einen anderen Wirklichkeitsbereich übersetzt werden. Es bezieht sich vielmehr auf die Ausdruckskraft des Wortes. Die Frage ist, ob diese in ihm nur umschrieben oder ob sie nicht gerade in dem ‚als ob‘ getroffen worden ist.80

Hier geht es also nicht um einen mehrstufigen kognitiven Prozess im Sinne der Erinnerung, die eine Ähnlichkeit gleichsam von außen konstatiert: Daß ein Eindruck an einen anderen erinnert, heißt etwas anderes als: es gedächtnismäßig im Finger zu haben, wie z.B. Kreide sich anfühlt. Daß etwas so auf mich wirkt bzw. „ist“ wie …, bedeutet keine identifizierende Rekognition. Erinnerung ist keine praktische Fähigkeit. Eine „Ähnlichkeit“ liegt hier darin, wie beim einen das andere einem einfällt. Nur in diesem Erinnertwerden an … verdeutlicht sich aber der Eindruck.81

79 Lipps’ Sprachtheorie ist eine Theorie der „Mitte“, also der Medialität. Ganz allgemein hält er fest: „Die ‚Unbestimmtheit‘ der Wortbedeutung bedeutet keine Ungenauigkeit; das Ungründige von Existenz kommt darin zum Vorschein. Wenn das Verständnis der Rede des anderen am Wort hängenbleibt, so gilt gerade dies als Entstellung des Wortes. Jedes Wort wird aus einer Mitte heraus gesprochen. Aus dem Verfehlen dieser Mitte entsteht das Mißverständnis bzw. das umwegige Verstehen des offenbar abseits Gesprochenen.“ (Lipps: Die Verbindlichkeit der Sprache, S. 111) Das Moment der sprachlichen Mitte konkretisiert Lipps unter anderem an der hermeneutischen Seinsweise von Sprichwörtern: „Ihr Sinn entdeckt sich erst in der Erfüllung. Diese zeigt erst die Bedeutungsschwere der Worte, die ihr Dunkel vorerst nur zu künden schien. Sprüche verlangen ausgelegt zu werden. Im Spruch wird eine Mitte umrissen, die selbst ungesagt bleibt. Es gilt, sie zu finden, d.i. tathaft zu erschließen, was im Wort nur eben bezielt werden konnte.“ Und: die „verkürzte Bildlichkeit“ der Sprichwörter, „ihre umrißhafte Verrätselung, die die Mitte ungesagt sein läßt, erinnert an den Aberglauben.“ (Lipps: Untersuchungen, S. 135, 140) 80 Lipps: Die Verbindlichkeit der Sprache, S. 118-120. 81 Derselbe Zusammenhang in Wittgensteins Formulierung im Gegensatz zum Wahrheitsbegriff nach dem Prinzip der Adäquatheit: „604. Von den Vorgängen, die man

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Lipps führt dies in Bezug auf die verstehende Artikulation auch auf der Rezipientenseite aus: Die Artikulation „erfährt aber allererst im Wort eine Festlegung“, was bedeutet, dass sie nicht nur aus irgendeinem Gedächtnisspeicher stammt, dass ihre Invokationskraft darüber hinaus auch nicht einfach phänomenal hörbar ist, sondern vielmehr das Verstehen und damit den Verstehenden stimmt. Sofern nämlich gerade der Eindruck „wie mit dem Laut abgesiegelt und in Besitz genommen“ ist (Nietzsche). Das Wort „tönt“, als ob man es fühlte. Nämlich sofern es als Wort vernommen ist. Und das heißt: daß das Wort hier nicht einfach „gehört“ wird – wie etwa die materielle Struktur der Dinge hörbar sich künden mag. Im Unterschied zu dem flüchtigen Hören dessen, was das Ohr einem zuträgt, bedeutet das Vernehmen ein Aufnehmen, nämlich ein in einem selbst Wiederklingenlassen, so daß man seinerseits darauf zuund zurückkommen kann. Man vernimmt das Wort „in der Absicht von dessen Bedeutsamkeit“, d.i. als etwas, was zu mir gesprochen ist. Darin, daß ich das Wort in seiner lauthaften Artikulation vernehme, ist auch schon jede Möglichkeit einer Wirkung auf mich im Sinne eines Eindrucks abgewiesen. Als Ausdruck „ist“ hier das Wort das Ausgedrückte, das darin wie ins Freie gehoben, nämlich berufend gefaßt worden ist. Das Verbindliche des Wortes erweist sich darin, daß in dem Wort das Gefaßte irgendwie liegt.

‚Wiedererkennen‘ nennt, haben wir leicht ein falsches Bild; als bestünde das Wiedererkennen immer darin, daß wir zwei Eindrücke miteinander vergleichen. Es ist, als trüge ich ein Bild eines Gegenstandes bei mir und agnoszierte danach einen Gegenstand als den, welchen das Bild darstellt. Unser Gedächtnis scheint uns so einen Vergleich zu vermitteln, indem es uns ein Bild des früher Gesehenen aufbewahrt, oder uns erlaubt (wie durch ein Rohr) in die Vergangenheit zu blicken. 605. Und es ist ja nicht so sehr, als vergliche ich den Gegenstand mit einem neben ihm stehenden Bild, sondern als deckte er sich mit dem Bild. Ich sehe also nur Eins und nicht Zwei.“ (Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 157) Vgl. dazu Benjamins Anmerkungen über die von der „nicht-sinnlichen Ähnlichkeit“ hervorgebrachte Erinnerung, über das „Archiv“, das die Sprache selbst ist. – Jeder war sicherlich schon einmal damit konfrontiert, dass eine Zahlenkombination (z.B. ein Türcode) einem nicht selbst einfällt, sondern nur die Finger die richtigen Zahlen in der korrekten Reihenfolge fanden, dass sich also die Finger an den Code erinnerten. Auf den ersten Blick entspricht das der „unfehlbare[n] Gegenwart des jedesmal nothwendigen Wortes“, dem nämlich, dass dieses nicht aus der Erinnerung und nicht reflexiv, sondern vielmehr auf sinnlich-physiologische Weise ins Reden gelangt. Dennoch zeigt sich ein wichtiger Unterschied: Das „Finden“ des Wortes ist kein reines Erinnern an einen materialen Sachverhalt, sondern eine (semantisch-konzeptionelle) Entdeckung gerade über die „Ausdruckskraft“ des Wortes.

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Der Effekt der Iterabilität als Verstehensereignis äußert sich immer am Anderen oder an einem selbst als anderem, dies war für Humboldt ein Ausgangspunkt von kardinaler Bedeutung: „[D]er Mensch versteht sich selbst nur, indem er die Verstehbarkeit seiner Worte an Andren versuchend geprüft hat. Denn die Objectivität wird gesteigert, wenn das selbstgebildete Wort aus fremdem Munde wiedertönt.“82 Wesentlich ist jedoch, dass die Wiederholung nicht nur auf phänomenale oder materielle Weise, in der Wiederholung des Gehörten, geschieht (das Andere ist niemals reiner Ton wie ein Geräusch), sondern nach Lipps’ Zeugnis im sprachlichen Bewusstsein selbst, im Suchen und Finden (oder auch im Nichtfinden, vgl. „jemandem liegt etwas auf der Zunge“, auch dies bedeutet schon Verstehen, wenn auch kein explizites),83 im Hören und Verstehen der Worte. So ist das „Finden“ des Wortes das Moment der Gestimmtheit durch die Sprache, was nicht so sehr vom Blick der intentional-teleologischen Suche abhängt, sondern nachträglichen Charakters ist, denn es rührt aus einer Art eigentümlicher Spannung, der Spannung der Dynamik der Gestimmtheit, her. Nur so kann das Wort beispielsweise zu einer zwangsläufig wiederkehrenden, derweil vielleicht ihre Bedeutung verlierenden, sich selbst dem reflexiven Bewusstsein entziehenden, quasi-physiologischen Inskription werden. Das „Wiederklingenlassen“ macht deshalb alles Gehörte zu potentiellen Widerklängen bzw. nimmt es schon von Anfang an als solche wahr und nicht als materielle Gegebenheit, und zwar im Prozess der sprachlichen Wahrnehmung: Das Bewusstsein selbst ist diese sprachliche Echokammer, genauer gesagt ihr Sinnesorgan (mit Freud gesprochen). In diesem „Wiederklingenlassen“ eignet sich das hörende und verstehende Subjekt das Gehörte nicht einfach an, macht es nicht zu etwas Innerem oder interiorisiert es nicht. Natürlich ist die Wahrnehmung und Rezeption alles Gehörten im Tropus des Echos auch ein aktives Moment und kann gerade mit dessen Deformierung, Missverstehen, Verschleierung, Verfälschung einhergehen. Aber gerade das „Wiederklingenlassen“ selbst, die Unausweichlichkeit der Wiederholung, wird zum materialen Index (dieser ist verantwortlich für den quasi physiologisch-haptischen Effekt des Wortes, „als ob mans fühlte“) dafür, dass das Subjekt nicht nur das Gehörte, sondern auch seine

82 Humboldt: Ueber die Verschiedenheit, S. 429. Vgl. Lipps: „Man sucht nach dem Wort für etwas – nicht um dem anderen etwas eindeutig bezeichnen zu können, sondern um sich selbst etwas dadurch deutlich zu machen, daß man ihm im Wort Prägung, Schliff, Gesicht gibt […] Sich selbst sagt man etwas, sofern man sich selbst der andere sein kann.“ Lipps: Untersuchungen, S. 106, 117. 83 Zu dem Erlebnis, „etwas auf der Zunge liegen“ zu haben, vgl. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 219.

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eigene Stimme, sein eigenes sprachliches Verstehen nicht restlos zu etwas Innerem machen, beherrschen kann, dies geschieht gleichsam auch mit ihm. Mit anderen Worten: Die Physiologisierung des Wortes und die Physiologisierung durch das Wort im Sinne der resonierenlassenden Gestimmtheit als wirkungsfühlender Dimension (nicht einfach als sinnlicher Innerlichkeit) geschieht gerade in diesem „Wiederklingenlassen“, durch dieses. Das somatische Moment des Wortes, sein auditiv-haptischer Wirkungseffekt, stammen gerade aus dieser Mittelstellung, die sich weder aus dem Äußerlichen noch aus dem Innerlichen eindeutig ableiten lässt, so wie auch das Moment des „(Wiederklingen)lassens“ weder aktiven noch passiven Charakter hat, sondern ein im Geschehen aktives, mitwirkendes Erleiden bedeutet (im Sinne des medialen Verbs).84 Für Humboldt und Lipps verbirgt sich darin die rätselhafte Nähe, als Mittelstellung, der Sprache: Die sprachliche Imprägniertheit von Wahrnehmung oder Perzeption und die sinnlich-physiologische Wirkungsdynamik der Sprache sind im Bewusstsein selbst, in mentalkognitivem Sinn am Werk, mehr noch, sie prozessieren es. Im Geschehen des sich derart artikulierenden „Wiederklingenlassens“ erweist sich also die Wiederholung als Bedingung jeglicher Erinnerung (letztere als nicht-bewusstes Moment), und nicht umgekehrt, das bedeutet die Wiederholung der gegenwärtigen Vergangenheit als unwillkürliche Erinnerung, als „déjàvu“. So wird die ursprünglich nicht reflexive oder memoria-abhängige Seinsweise der „Gegenwart des jedesmal nothwendigen Wortes“ beleuchtet. Im Hören als „in einem selbst Wiederklingenlassen“ zeigt das Verstehen selbst die Struktur der nicht-identischen Iterabilität, zugleich ist diese Wiederholung indexikalischer Art (vgl. „als ob mans fühlte“), sie führt keine identifizierbare Kopie eines referentiellen Originals an, sie stellt vielmehr eine Manifestation als performative Beglaubigung dar (vgl. ein von Humboldt gern verwendetes Wort: „gestempelt“). Das „in einem selbst Wiederklingenlassen“ versetzt also die Iterabilität in das Ereignis des Verstehens und der Artikulation selbst, singularisiert es zugleich bzw. kehrt es als individuelle Intensität hervor („als ob mans fühlte“). So gesehen ist die Resonanz der Chiasmus von Iterabilität und Singularität (Humboldt würde gegebenenfalls von „Synthesis“ sprechen).85

84 Bei Heidegger heißt es dann über diese Beziehung: „Auf welche Arten wir auch sonst noch hören, wo immer wir etwas hören, da ist das Hören das alles Vernehmen und Vorstellen schon einbehaltende Sichsagenlassen.“ Heidegger: Der Weg zur Sprache, S. 255. 85 Die Notwendigkeit, die (mechanische) Iterabilität und das (organische) Ereignis, die Wiederholbarkeit und die Singularität, zusammenzudenken, war Derridas Programm seit Limited Inc (vgl. ebd. 183-184), am tiefgreifendsten behandelt er dies in seinem

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Die so verstandene Resonanzfigur konstituiert die Iterabilität als mediales Ereignis im Sinn der Intransitivität der medialen Form oder des medialen Verbs.86 Das kann sie nur, wenn sie, mit Derrida gesprochen, „ebenso wie ‚mouvance‘ (Beweglichkeit) nicht die einfache Tatsache des Bewegens, des sich Bewegens oder des Bewegt-werdens bezeichnet. Die Resonanz (résonance) ist nicht mehr der Akt des Ertönens (résonner).“ Sondern, wie die Resonanz im Zeichen, so das Resonierenlassende in der Resonanz als Akt, man könnte sagen, als Index einer Art Werdens. So kommt es, dass, was sich durch „différance“ bezeichnen läßt, weder einfach aktiv noch passiv ist, sondern eher eine mediale Form ankündigt oder in Erinnerung ruft, eine Operation zum Ausdruck bringt, die keine Operation ist, die weder als Erleiden noch als Tätigkeit eines Subjektes, bezogen auf ein Objekt, weder von einem Handelnden noch von einem Leidenden aus, weder von diesen Termini ausgehend noch im Hinblick auf sie, sich denken lässt.87

Diese Resonanz geht der phonischen, akustischen Substanz voraus, aber auch der Akthaftigkeit, bzw. sie geht über diese hinaus (sie kann beispielsweise auch in einem Schweigen bestehen, deshalb muss jede ernstzunehmende Sprachtheorie das Schweigen – die Herausforderung des Schweigens – integrieren). Damit auch angenommen, dass, sofern die Resonanz in keinem Akt des Resonierens aufgeht, sie auch keinen phänomenalen Index hat. Die Resonanz des Zeichens, die sich in dieser Intransitivität ereignet und manifestiert – das Zeichen als Resonanz und die Resonanz als Zeichen –, wäre das eigentlich Mediale am sprachlichen Medium.

langen, der Literaturtheorie von Paul de Man gewidmeten Aufsatz Das Schreibmaschinenband. 86 Vgl. Benvenistes klassischen Aufsatz: „Im Aktiv bezeichnen die Verben einen Prozeß, der sich ausgehend vom Subjekt und außerhalb seiner vollzieht. Im Medium, der durch Opposition zu definierenden Diathese, zeigt das Verb einen Prozeß an, dessen Sitz das Subjekt ist; das Subjekt befindet sich innerhalb des Prozesses.“ Benveniste: Aktiv und Medium im Verb, S. 194. 87 Derrida: Die Différance, S. 37.

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STATT EINES FAZITS: ZUR BIOPOETIK DER LYRIK Die Iterabilität von Struktur und Ereignis des „in einem selbst Wiederklingenlassens“ kann sich wohl in der Literatur, näher betrachtet in der – wesentlich auf apostrophische Intonation angelegten – Lyrik, mit der komplexesten Intensität manifestieren oder zu einer sprachlichen Erfahrung (einer Erfahrung der Sprache) werden. In dem Sinn, dass das Wiederklingenlassen kein Konstatieren, keine kognitive Vergewisserung bedeutet, sondern eine Art Rückkehr zum rohen (nicht kulturell domestizierten und konventionalisierten) Zustand der Sprache im Sinne von Mandelstam, der weniger eine idealtypische Dimension bedeutet (im Gegenteil) als vielmehr die Interaktion sprachlicher Effekte mit dem sensomotorischen System, die sich in der Leseerfahrung der Dichtung in einer Art Rauschen oder Geräusch (weniger als Präsenzeffekte) zeigen. Die Diktathaftigkeit, das mnemotechnische Eingeschriebensein des Gedichts als grundlegende sprachlich-textuelle Seinsweise bedeuten zugleich nicht das Pfand für eine ästhetische Autonomie oder restlose Selbstreflexivität, sondern eine Inskriptionalität (gerade in dieses Wiedererklingen eingeschrieben), die die Determinierung entlang der kulturellen Konventionen des Bios durchstreicht und offenhält, die sogar die Unterscheidung zwischen dem nackten Leben und den kulturellen Lebensformen zum Medium erhebt. Wie kann man sich das sprachliche Leben als solches vorstellen, vor kulturellen Lebensformen, als das Medium eines Lebens, das sich nicht in den Gegensatz zwischen nacktem Leben und kultureller Formiertheit fassen lässt – das ist die Frage, die die Lyriker der Spätmoderne von Dezső Kosztolányi über Ossip Mandelstam und Paul Valéry88 bis zu Gottfried Benn beschäftigte. Dieses sprachliche Leben rührt gerade aus einer nicht objektivierbaren – mit Humboldts Formulierung „unerklärlichen“ – und unübersetzbaren, z.B. durch syntaktische

88 Valéry versucht, den Begriff des „Innenlebens“ (vie intérieure) mit somatischphysiologischer Bedeutung aufzuladen: Er vergleicht die nicht-referentielle, potentiell unendliche Seinsweise des Tanzes mit dem „Innenleben“, „wobei nunmehr diesem psychologischen Begriff eine neue, physiologisch geprägte Bedeutung beizumessen wäre?“ Dieses innere Leben als Zusammenspiel sinnlicher, mentaler und motorischer Momente lässt sich so definieren: „Ein Innenleben, das jedoch ganz aus Zeit- und Energieempfindungen besteht, die sich wechselseitig antworten und gleichsam einen Resonanzbereich [enceinte] bilden. Diese Resonanz überträgt sich [se communique] wie jede andere: Unser Vergnügen als Zuschauer besteht zum Teil darin, sich durch Rhythmen mitgerissen zu fühlen. Und in Gedanken [virtuellement] tanzen wir selbst mit!“ Valéry: La philosophie de la danse, S. 1399; deutsch: Valéry: Die Philosophie des Tanzes, S. 253.

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Codes nicht determinierbaren Resonanz her und bedeutet also gleichzeitig die Erfahrung der Evidenz und der Unmöglichkeit. Die Resonanz ereignet sich hier – hypothetisch gesprochen – in der Kreuzung immaterieller (und immer semantisch betonter) Gestimmtheit und materialen Rauschens, sie bedeutet die Medialität dieser Beziehung als beweglicher Differenz (wohl als besonderes Merkmal der sprachlichen Seinsweise des Dichterischen, zugleich z.B. nicht rein in Abhängigkeit von einem „inneren Ohr“). Näher betrachtet z.B. im Sinne der Unübersetzbarkeit, wie an einer Stelle in Gottfried Benns Vortrag Probleme der Lyrik zu lesen ist: Bilder, Statuen, Sonaten, Symphonien sind international – Gedichte nie. Man kann das Gedicht als das Unübersetzbare definieren. Das Bewußtsein wächst in die Worte hinein, das Bewußtsein transzendiert in die Worte. Vergessen – was heißen diese Buchstaben. Nichts, nicht zu verstehen. Aber mit ihnen ist das Bewußtsein in bestimmter Richtung verbunden, es schlägt in diesen Buchstaben an, und diese Buchstaben nebeneinander gesetzt schlagen akustisch und emotionell in unserem Bewußtsein an. Darum ist oublier nie Vergessen. Oder nevermore mit seinen zwei kurzen verschlossenen Anfangssilben und dann dem dunklen strömenden more, in dem für uns das Moor aufklingt und la Mort, ist nicht nimmermehr – nevermore ist schöner. Worte schlagen mehr an als die Nachricht und den Inhalt, sie sind einerseits Geist, aber haben andererseits das Wesenhafte und Zweideutige der Dinge der Natur.89

Hier gehen „die Worte“ dem Bewusstsein voraus, nicht umgekehrt, entsprechend ist das somatisierte Bewusstsein hier eher das Organ (oder Gespür) der sprach-

89 Benn: Probleme der Lyrik, S. 50. Es ist interessant, dass Benn für die Verbindung von Wörtern und Bewusstsein dieselbe organisch-natürliche oder biologische Metapher verwendet wie Heidegger für das Verhältnis von Bedeutungen und Wörtern (vgl. Fußnote 44): „wachsen zu“ und „wächst hinein“. Siehe noch eine Bemerkung von Dezső Kosztolányi, die sich hier teilweise anschließt: „Ein Wort drückt nie den gesamten Begriffsbereich aus, es signalisiert ihn nur. Jedes Wort ist wie eine Stimmgabel, sie schlägt einen Ton an, wir schwingen mit ihr, zugleich beginnen in uns auch die geheimen und unterbewussten Begleiterscheinungen zu vibrieren, die mit dem Begriff verbunden sind.“ (Kosztolányi: Természetjáró, S. 239) Im Zusammenhang damit steht der Charakter der sprachlichen Gestimmtheit der dichterischen Produktion, der die Reflexivität vorwegnimmt: „… wie viele Wörter verwirft der Dichter beim Schreiben unbewusst, wie viele Töne von den hundertdreißigtausend schlägt er nicht an, um auf der mächtigen Tastatur der Sprache nur den einen oder die beiden anzuschlagen, die er schon vorher hört.“ (Kosztolányi: Szép, S. 299; Hervorh. Cs.L.)

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lich (herauf)beschworenen – akustischen – Wahrnehmungen und Gefühle als Träger der Kognition. Mehr noch, das Bewusstsein ist nicht einfach gegeben, um dann mit den Worten bzw. mit den „Buchstaben“ in Kontakt zu treten: Das Bewusstsein „wächst“ beziehungsweise „transzendiert in die Worte“, das heißt, es existiert gleichsam in dieser sich als Wirkungswahrnehmung manifestierenden Bewegung oder kommt in ihr in Funktion, nicht unabhängig von ihr. Um Bewusstsein zu sein, musste das Bewusstsein immer schon über sich selbst hinausgehen, und das Medium dieser Bewegung ist die Sprache. Diese Bewegung als Transgression findet in zwei Richtungen statt: Das Bewusstsein „wächst“ einerseits in die Worte hinein, andererseits „transzendiert“ es in sie, also wird es sowohl in biologischer als auch in übersinnlicher Weise mit der Sprache verbunden, in die Worte einbezogen. Als wären die Worte immer schon Schauplätze der Übersetzung zwischen Biologisch-Natürlichem und Transzendentem (wo weder das Natürliche noch das Transzendente als Entität oder Kulisse, sondern ausschließlich in dieser Bewegung gegeben sind), nicht einfach Hervorrufer oder Hindernisse im Verkehr zwischen einzelnen konkreten Sprachen. Formelhaft gesprochen schafft diese Übersetzung die Worte als Träger der Kultur, sogar ihre Manifestierungsinstanzen, zusammen mit der Technik: „… beachten Sie, diese schwarze Letter ist bereits ein Kunstprodukt, wir sehen also in eine Zwischenschicht zwischen Natur und Geist, wir sehen etwas selber erst vom Geist Geprägtes, technisch Hingebotenes hier mit im Spiel.“90 Diese „Zwischenschicht“ ist die Grundlage oder der Träger der sprachspezifischen Kreuzung, des Chiasmus von immaterieller Gestimmtheit und materialem Rauschen, mindestens aber ihr Schauplatz, wovon oben die Rede war. Die Resonanz bedeutet hier das Resonieren zwischen Bewusstsein und Sprache, genauer: die erspürte gefühlsmäßige Resonanz des Bewusstseins in der Sprache, der Sprache im Bewusstsein, die also nicht auf kognitiv-begriffliche oder mentale Gegebenheiten verengt werden darf, sondern eine Gegenseitigkeit evoziert, die den Worten selbst auf nicht-referentielle Weise eigen ist: Zuerst erklingt das Bewusstsein „in gewisser Richtung“ in den „Lettern“, dann erklingen „die Lettern“ „in unserem Bewusstsein“ (interessant, dass Benns Text hier in den Plural wechselt). Zuerst hat sich also das Bewusstsein in die Worte, die Buchstaben ausgelagert, erklang in ihnen entlang einer gewissen Richtung, dann erklangen die Worte, die Buchstaben, im Bewusstsein: In dieser gleichzeitig nach außen und nach innen führenden (natürlich nicht zeitlichen) chiastischen Bewegung, in dieser kinetischen Dimension schreibt sich das Wort als eine Art sensomotorisches Engramm ein, geschieht das Ereignis der Stimmung/Gestimmt-

90 Ebd., S. 52.

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heit des Wortes, seine assoziative Atmosphäre, seine als Stimmungsqualität sich ereignende Dimension, in der es nicht von dem von ihm ausgelösten, in ihm resonierenden Affekt (z.B. als eine Art Unausgesprochenes) unterschieden werden kann. Es kann leicht sein, dass man dieses resonierende/resonieren lassende dynamische Impulssystem auch als radiophonischen Effekt verstehen kann (Benn war notorischer Radiohörer),91 als auditive Dimension, die die sensoriale Intensität des Klangkörpers der Wörter verstärkt und als Ausstrahlung deren Stimmungsqualität konfiguriert. Sehr wichtig ist zugleich, dass hier bereits mit provokativer Schärfe von „Buchstaben“ die Rede ist (wie bei Attila József: „Hart mit K-Buchstaben spricht“92) oder vom Wort als „schwarzen Lettern“, also als einer Art Inskription: von einer Oberfläche als materialisierter Metonymie, die zugleich nicht der Grund, der Träger oder die Übertragung irgendeiner dahinterliegenden semantischen Region ist, sondern gleichsam sich in sich selbst vervielfacht in das Resonanzgeschehen eintritt, darin z.B. in die Schriftlichkeit und Lesbarkeit des Klanges oder des Klingens, wobei sie die „kontinuierliche[…] und irreversible[…] Zeit einer Linie“ (Derrida) abbricht und multipliziert. Streng genommen ist es hier nicht das Wort, das spricht oder etwas verschweigt, sondern diese affektive oder empfindungsartige, materialisierte Gestimmtheit spricht und schweigt zugleich im Modus der Resonanz, sie ist – als die affektive Gestimmtheit des Wortes und die Gestimmtheit des Affekts durch das Wort – das eigentliche Agens, vorausgesetzt, dass dieser Begriff hier sinnvoll verwendbar ist. Diese atmosphärische Dimension des Wortes interpretiert Benn mit der haptischen Metapher der „Flimmerhaare“ als echte biodynamische Textur (die

91 Über den, der „dichtet“, schreibt Benn: „Also er sitzt zu Hause, er dreht das Radio an, er greift in die Nacht, eine Stimme ist im Raum, sie bebt, sie leuchtet und sie dunkelt, dann bricht sie ab, eine Bläue ist erloschen. Aber welche Versöhnung, welche augenblickliche Versöhnung, welche Traumumarmung von Lebendigem und Toten, von Erinnerungen und Nichterinnerbarem, es schlägt ihn völlig aus dem Rahmen, es kommt aus Reichen, denen gegenüber die Sterne und Sonnen Gehbehinderte wären, es kommt von so weit her, es ist: vollendet.“ (Benn: Soll die Dichtung das Leben bessern?, S. 599) Auch Döblin zeigte Interesse an der Gedankenfigur der Resonanz; in seinem Buch von 1933 bringt er unter anderem die Radiofrequenzen als Beispiel, s. Döblin: Unser Dasein, S. 170. 92 Attila József: „Költőnk és Kora“ (1937; „Unser Dichter und seine Zeit“), „K betűkkel szól keményen“.

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nicht von der Syntax gelenkt wird, sondern sich „der latenten Existenz des Wortes“ überlässt).93 Die Resonanz wirkt also in den nicht-semantischen Bereichen des Wortes, sie ist der aktive Überschuss, dem Lacan die Rolle der Evokation und McLuhan diejenige der Magie zuordnet. Benn untersucht die Kraft des Wortes, die diese unhintergehbar resonanzartige, nicht semantisch fundierte Atmosphäre oder Gestimmtheit entstehen lässt, zugleich nicht in sich selbst, sondern in der kontrastiven Perspektive des Bruches oder der Grenze, die von der Unübersetzbarkeit offenbart werden. Unübersetzbar ist nicht einfach das Wort (die „Bedeutung“, „Botschaft“ oder der „Inhalt“), sondern die nicht-phänomenale Resonanz. Dennoch ist die Erfahrung der Übersetzens (seiner Möglichkeit und Unmöglichkeit) unerlässlich, denn das Übersetzen (aber nicht der Akt des Übersetzens, sondern im Sinne einer Art „translance“) kann am ehesten jenen medialen Status ihr eigen nennen, in dem sich die Ereignisstruktur der „différance“ manifestiert: Weder die Grammatik des Handelns noch die des Erleidens kann dieses Entstehen in der Mitte zwischen zwei Sprachen und doch innerhalb einer Sprache beschreiben. Aus dem Ungarischen von Christina Kunze

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93 „Von solchen Flimmerhaaren bedeckt stelle man sich einen Menschen vor, nicht nur am Gehirn, sondern über den Organismus total. Ihre Funktion ist eine spezifische, ihre Reizbemerkung scharf isoliert; sie gilt dem Wort, ganz besonders dem Substantivum, weniger dem Adjektiv, kaum der verbalen Figur. Sie gilt der Chiffre, ihrem gedruckten Bild, der schwarzen Letter, ihr allein.“ Benn: Probleme der Lyrik, S. 55, 52.

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Sprachenergie/Medienenergie Susanne Strätling

I. Eine der engsten Verschwisterungen energetischen und sprachphilosophischen Denkens liegt im Terminus ‚Sprachenergie‘ vor. Er bringt die Vorstellung auf den Begriff, im Wort sei eine Wirkmächtigkeit angelegt, welche die diskursiven Grenzen propositionalen Sprechens überschreite. Zweifellos kennt die Linguistik auch andere Konzepte, die um das Wirkpotential der Sprache kreisen. Man denke etwa an Freges „behauptende Kraft“, mit der die „Anerkennung einer Wahrheit“1 ausgesprochen werden kann, oder an Austins „illocutionary force“, die eine beliebige Äußerung erst zum intentionalen oder auch „expliziten“ Sprechakt macht.2 Noch bevor aber die Sprechakttheorie es unternommen hat, jenseits bloß behauptender oder benennender Aussagen den Vollzug performativer Sprechhandlungen in der Rede dingfest zu machen, ist der deutlich ältere Begriff der Sprachenergie Reflex eines Nachdenkens über die Möglichkeiten, im Sprechen eine Kraft freizusetzen, die nicht primär aus den Bedingungen konventioneller Sprachformeln oder aus der Bedeutung von Sätzen abzuleiten ist. Vielmehr scheint diese Sprachenergie eng verwoben mit Fragen der Medialität der Sprache. Das Konzept der Sprachenergie zielt damit weniger auf eine Klärung der Interferenzen von ‚Sagen‘ vs. ‚Tun‘ im Sprechen, sondern fokussiert Probleme einer allgemeineren Theorie der Medien. Diese verschatteten medialen Implikationen der Sprachenergie sollen hier näher betrachtet werden. Dabei sind die folgenden Überlegungen von der Annahme geleitet, dass sprachenergetische

1

Frege: Logische Untersuchungen, S. 347.

2

Austin: How to Do Things with Words, S. 33, S. 73 und v.a. S. 99f.

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Impulse dort zum Tragen kommen, wo Sprache ihre Begrenzung auf Wortsprachlichkeit transgrediert und sich selbst als verbales Medium zur Disposition stellt. Beginnend mit der Antike bis ins 21. Jahrhundert hinein erweist sich die Debatte um das energetische Potential des gesprochenen Wortes als überaus mediensensibel. Dabei werden vor allem enge Bezüge zwischen Sprach- und Bildtheorie entwickelt. Energie figuriert in dieser Debatte häufig als diejenige Größe, die Sprache und Bild miteinander verbindet oder ineinander übergehen lässt. D.h. Sprache realisiert dort ihr energetisches Potenzial, wo sie Übergänge zwischen ‚Sagen‘ und ‚Zeigen‘ sondiert, so dass sprachenergetische und sprachbildliche Konzepte aufs Engste miteinander verschränkt sind. Nahezu ausgeschlossen aus dieser Mediendiskussion bleibt zunächst die Schrift. Erst um 1900 differenziert sich vermittelt über die enge Assoziation von Kurve und Kraft neben sprach- und bildenergetischen Modellen ansatzweise ein Konzept von Schriftenergie aus. Man könnte diese begriffsgeschichtlichen Asymmetrien der notorischen Schriftvergessenheit oder Schriftskepsis der Sprachphilosophie zurechnen, die in ihrer Fixierung auf das gesprochene Wort konsequenterweise auch nur eine Sprachenergie kennt, nicht aber eine ‚Schriftenergie‘. Das Fehlen eines schriftenergetischen Diskurses wäre mithin Teil der Buchstabenblindheit, die das Nachdenken über Sprache bis ins 20. Jahrhundert hinein prägt. Die diskursive Leerstelle ‚Schriftenergie‘ lässt sich damit aber nur teilweise wegerklären. Denn nicht zuletzt ist es die Medientheorie gewesen, die in den vergangenen Jahrzehnten intensiv daran mitgearbeitet hat, latente Graphozentrismen der Kulturgeschichte freizulegen. Was hier an Szenen, Stoffen, Instrumenten, Apparaturen, Gesten und Techniken des Schreibens geborgen wurde, trug nicht wenig zur Herausbildung einer neuen Disziplin der ‚Schriftwissenschaft‘ bei. Energie aber geriet in diesem Kontext vor allem als physikalische Größe in den Blick, als Motor eines umfassenden informationstechnologischen Wandels von Darstellungs-, Speicher- und Kommunikationstechniken. So zentral die Rolle ist, die der Energie innerhalb dieses medienevolutionären Szenarios zukommt, schien sie doch konzeptionell insofern vernachlässigbar, als Medien- und Kommunikationswissenschaften tendenziell an einer Geschichte vom Verschwinden der Energie schreiben. Vor allem in der digital fokussierten Medientheorie hat man sich darauf verständigt, den Energiebegriff als obsolet zu betrachten, da er vom Informationsbegriff abgelöst worden sei. Exemplarisch für diese Position steht Nobert Wieners tautologisches Postulat „information is information, not

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matter or energy“.3 Wieners Formulierung markiert als historische und systematische Zäsur die „Verschiebung vom Energie- zum Informationszeitalter“ („movement from energy to information regimes“).4 Mit diesem Paradigmenwandel wird Energie analytisch aus informationsübermittelnden Prozessen ausgekoppelt: „The source of energy is separate from the process of translation of information, or the applying of knowledge. This is obvious in the telegraph, where the energy and channel are quite independent of whether the written code is French or German.“5 Für die eingangs formulierte Frage, welche medialen Annahmen sprachenergetische Konzepte begleiten, ergeben sich aus dieser Ausgangssituation zwei Herausforderungen: Erstens betrifft das die Schwierigkeit, einen Begriff zu fassen, der sich dem medientheoretischen Zugriff gewissermaßen entzieht oder von ihm für obsolet erklärt wird. Von welcher Energie ist überhaupt die Rede, wenn wir von Sprachenergie sprechen? Verschiedene Faktoren haben hier eine erhebliche terminologische Unübersichtlichkeit geschaffen. Neben der dominanten Physikalisierung des Energiebegriffs seit Anfang des 19. Jahrhunderts steht eine ältere, bis in die Antike zurückreichende begriffsgeschichtliche Tradition in Rhetorik, Philosophie und Ästhetik, die es zu berücksichtigen gilt und die erst ansatzweise erforscht ist. Zu Recht nennt Jost den Begriff enérgeia ein asylum ignorantiae, über dessen Gehalt letztlich keine Verständigung und auch kein Wissen der Grundlagenforschung besteht.6 Überlagert, zum Teil auch verdeckt wird die antike Tradition durch eine ausufernde Adaptierung des Energiebegriffs für verschiedenste Wissensbereiche und Künste, die um 1900 im Gefolge des energetischen Monismus populär wird und in der Proklamation eines universell gültigen „energetischen Imperativ“ (Ostwald) gipfelt. Die hier einsetzende Hochkonjunktur von Energielehren hat zu einer extrem offenen und variablen Verwendungsweise des Begriffs führt. Zusätzlich angereichert wird seine semantische Polyvalenz durch oft teilsynonym verwendete Begriffe wie Kraft, Intensität, Trieb, Impuls o.a. Diese Bedeutungsvielfalt legt die Vermutung nahe, dass wir es im Falle der ‚Energie‘ weniger mit einem Begriff als vielmehr mit einer Metapher zu tun haben. Diese grundlegende Metaphorizität der Energie ist, wie im Folgen-

3

Wiener: Cybernetics or Control and Communication in the Animal and the Machine, S. 132.

4

Clarke: From Thermodynamics to Virtuality, S. 17.

5

McLuhan: Understanding Media, S. 386.

6

Jost: Die Auffassung der Sprache als Energeia, S. 3.

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den zu zeigen sein wird, zentral für das Verständnis der Konzepte von Sprachenergie. Die zweite Schwierigkeit betrifft den Zusammenhang von Sprache, Energie und Medialität bzw. die Rolle von Energiekonzepten für die Vorstellung von Sprachmedialität. Betrachtet man die Debatten um eine energetische Dimension der Sprache, so zeigt sich unmittelbar, dass sie zugleich auch eine Debatte um Medialität, um den medialen Status der Sprache und ihr Verhältnis zu anderen Medien führen. Diese Debatte kreist, wie eingangs beobachtet, an ihren antiken Wurzeln und bis in die Aufklärung hinein um das Verhältnis von Wort und Bild und damit um den Nexus zwischen Energie und Evidenz. In der Moderne aber verlagert sie sich zusehends auf eine Auseinandersetzung um Wort und Schrift und damit auf die Beziehung von Kurve und Kraft. Was in dieser Verschiebung konstant bleibt, ist ein Aspekt: Entwürfe von Sprache als Energie stehen auffällig oft im Kontext eines Formenwandels der Aufzeichnungs-, Darstellungs- und Wirkungskapazitäten des Wortes, der auch als medialer Wandel begriffen wird. D.h. die energetische Qualität der Sprache wird nicht zuletzt als mediale Überschreitung des Wortes gedacht. Drei argumentative Schritte sollen die genannten Schwierigkeiten beleuchten helfen. Ein erster führt zurück an die begriffsgeschichtlichen Ursprünge der Energie. Hier ist eine Verschränkung von kinetischer, ontologischer und semantischer Verwendung des Energiebegriffs angelegt, die es erlaubt, sowohl seine formale Bestimmungsoffenheit wie auch seine Medialisierungsvarianten besser zu verstehen. Der zweite Schritt wendet sich nach einem Blick auf Herders energetische Revision des Lessingschen Laokoon mit Wilhelm von Humboldt der sprachphilosophisch vielleicht folgenreichsten Formulierung eines sprachenergetischen Konzepts zu, um dann in einem letzten Schritt mit Pavel Florenskij eine moderne medientechnische Versuchsanordnung zur physikalischen Bestimmung von Sprachenergie zu betrachten.7

II. Wurzelnd in der antiken Lehre von Bewegung, Veränderung und Formwerdung wird Energie bereits im Moment ihrer begrifflichen Grundlegung durch Aristoteles in drei verschiedene Richtungen entwickelt: als physikalischer, als metaphy-

7

Die im Weiteren entwickelten Überlegungen zur aristotelischen Begrifflichkeit der enérgeia und zu Florenskijs Humboldt-Rezeption folgen partiell Vf.: Energie – ein Begriff der Poetik?

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sischer und als rhetorischer Begriff. Innerhalb der Physik steht Energie für die Fähigkeit eines Systems zur Bewegung. Kinesis ist dabei verstanden als das „endliche Zur-Wirklichkeit-Kommen des der Möglichkeit nach Seienden“.8 Die hier angelegte Bedeutungsdimension von Bewegung im Sinne eines Verwirklichungsvorgangs arbeitet Aristoteles im Rahmen der Akt-Potenz-Lehre seiner Metaphysik weiter aus. Hier vertritt enérgeia die Fähigkeit zur Aktualisierung einer facultas. Anders als ihr Komplementärbegriff dynamis, welcher ein im Latenzzustand befindliches Vermögen meint, steht enérgeia für den Vollzug und die Übertragung des Möglichen ins Seiende ein. Mit dem Begriff der Energie ist ein Phänomenbereich anvisiert, der sich von der Unentschiedenheit und Bestimmungslosigkeit des Sein-Könnens oder auch Nichtsein-Könnens der dynamis klar absetzt. Unmissverständlich ist im aristotelischen Konzept der energetische Seinsbezug als Wirklichkeitsbezug benannt. In ihm wird die Schwelle vom konjunktivischen „Vielleicht“ zum indikativischen oder gar imperativischen „Ist“ überschritten. Bezogen auf die Künste bedeutet das: Während dynamis für das bloße Kunstvermögen steht, ist die im energetischen Akt verwirklichte Potenz geformte Materie, sie ist ins Werk gesetztes Vermögen, eidetisch aktualisierte Latenz.9 Zugleich aber bleibt enérgeia auch abgegrenzt von ergon, in dem Energie endgültig zum Werk geronnen und abgeschlossen ist. Während dynamis damit den Zustand des Noch-Nicht bedeutet und ergon den entelechischen Vollendungspunkt markiert, charakterisiert enérgeia ein unabschließbares Werden. Sie steht zwischen dynamis und ergon als treibende Kraft der immer neuen Realisierung. Im Aktcharakter der Energie liegt mit dieser Akzentuierung einer Tätigkeit und eines Erzeugens der Versuch vor, Seiendes, Werdendes und Denkbares eng zusammenzuführen. Ästhetisch evident wird das Verhältnis der enérgeia zur dynamis in einigen Beispielen aus dem 9. Buch der Metaphysik: Wie sich nämlich das Bauende verhält zum Baukünstler, so verhält sich auch das Wachende zum Schlafenden, das Sehende zu dem, was die Augen verschließt, aber doch den Gesichtssinn hat, das aus dem Stoff Ausgegliederte zum Stoff, das Bearbeitete zum Unbearbeiteten.10

8

Aristoteles, Physik, Buch III, 201a.

9

Vgl. hierzu Fröhlings: Die Begriffe Dynamis und ‚Energie‘ bei Aristoteles und die modernen physikalischen Begriffe der Kraft und Energie. Zu den Differenzen zwischen kinesis und enérgeia als Begriffen der Veränderung und Verwirklichung in der Metaphysik vgl. Liske: Kinesis und Energeia bei Aristoteles.

10 Aristoteles, Metaphysik, Buch IX, Kap. 6, 1048b.

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So fällt der Baukünstler ins Register der dynamis, das Bauen hingegen in dasjenige der enérgeia, da ersterer für das Vermögen zu bauen steht, das zweite Glied hingegen für die wirkliche Tätigkeit. Enérgeia kommt der Baukunst wie auch den anderen Künsten gleichwohl insoweit zu, als sie ihre Kunstfertigkeit „nur durch vorausgehende wirkliche Tätigkeit besitzen“.11 Liegt somit in der Kunst selbst die bloße Möglichkeit, so ist das entstandene Kunstwerk ihre InsWerk-Setzung und damit enérgeia. Während dynamis stets im Modus des „NochNicht-Seins“ gedacht werden muss, markiert enérgeia die Aktualisierung und damit die An-Wesenheit des eidos, das „Daß-Sein und So-Sein“.12 Enérgeia erweist sich dabei als trinitarischer Begriff, der Wirksamkeit, Verwirklichung und Wirklichkeit umschließt.13 Diese Trias übernimmt Aristoteles auch in seine rhetorische Energiekonzeption. Er greift hier den Energiebegriff im Rahmen der Metaphernlehre auf, um die Anschaulichkeitseffekte figurativer Rede zu erfassen. Energie steht nun ein für einen Darstellungsmodus des Wortes als Trope. Sie kennzeichnet eine Form von Sprachbildlichkeit, die auf imaginärer Aktualisierung eines Bewegungsbildes aufbaut. Entfaltet wird das im Kontext der enárgeia, einer konzeptionellen Schwesterfigur der enérgeia: „Ich verstehe aber“, so heißt es im III. Buch der Rhetorik, „unter Vor-Augen-Führen das, was etwas in einer Aktivität Befindliches bezeichnet hosa energounta semainei“14 oder „das, was Wirksamkeit zu Ausdruck bringt“. Ricœur hat diese Textstelle als größtes Änigma der gesamten aristotelischen Rhetorik bezeichnet.15 Soviel erschließt sich jedoch: Energie ist rhetorisch gefasst vor allem ein Mittel zur Erzeugung von Evidenz, sie ist ein Verfahren zur figurativen Übersetzung von Worten in Bilder. Aristoteles führt das an zwei Metapherntypen vor, einem statischen und einem dynamischen, von denen nur letzterer über Wirksamkeit (enérgeia) verfügt: Sagt man z.B.: ein rechtschaffener Mann sei ein Würfel (= Ausdruck der geometrischen Vollkommenheit), so ist das eine Metapher. Beides bezeichnet nämlich etwas Vollkommenes, aber nicht die Wirksamkeit/Aktualität enérgeia. Anders dagegen der Ausspruch: ‚dessen Manneskraft in ihrer Blüte steht‘, er drückt Wirksamkeit/Aktivität enérgeia aus, ebenso ‚du, wie ein losgelassenes Tier‘, und ‚wie da also die Griechen auf ihren Füßen

11 Aristoteles: Metaphysik, Buch IX, Kap. 5, 1047b. 12 Stallmach: Dynamis und Energeia, S. 158. 13 Zur Trinität des enérgeia-Begriffs vgl. ebf. Stallmach: Dynamis und Energeia. 14 Aristoteles: Rhetorik, III, 11, 1411b. 15 Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 54. Vgl. zu dieser Stelle der Rhetorik auch Ricœur, S. 43f.

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dahinschossen; ‚wie sie dahinschossen‘ ist eine Aktivität enérgeia und eine Metapher. Ferner wie es Homer oft macht, Unbeseeltes durch die Metapher zu Beseeltem zu machen …. Er dichtet alles als in Bewegung und lebendig-seiend; In-Wirksamkeit-begriffen-sein enérgeia aber ist Bewegung.16

Die enérgeia der enárgeia liegt vor allem in vier Aspekten begründet: 1. die Dinge werden in Tätigkeit, in Dynamik oder triebhafter Kraft gezeigt, denn „InWirksamkeit-begriffen-sein ist Bewegung“17; 2. sie sind belebt, denn „die Dinge erscheinen in Wirksamkeit begriffen, weil sie beseelt sind“18; 3. sie werden als gegenwärtige vorgestellt, denn „man muss die Dinge eher als aktuell Geschehendes, denn als Künftiges sehen“19; und 4. sie erscheinen unmittelbar präsent, denn indem die Metapher etwas vor Augen führt, bewirkt sie, „daß es uns nahe erscheint“.20 Diese vier Kategorien – Dynamik, Vitalität, Aktualität und Präsenz – führen in der rhetorischen Tradition dazu, das griechische enérgeia mit actus, actualitas, motus und animus, bisweilen aber auch mit evidentia, perspicuitas und illustris explanatio zu übersetzen.21 Enérgeia ist mithin das, was der Darstellung durch vitale Dynamik und Beseeltheit, Bewegung und Anschaulichkeit verleiht. Enérgeia hat ihren Ort in der Rhetorik des movere, wo sie unsere Affekte so erregt, dass uns etwas unmittelbar in actu lebendig vor Augen steht.22 Und es sind diese Effekt der Figuration bzw. der Transfiguration, welche in sich eine

16 Aristoteles: Rhetorik, III, 11, 1411b-1412b. 17 Ebd., 1412. 18 Ebd. 19 Ebd., 1410b. 20 Ebd., 1386a. In Bezug auf den actus der Rede empfiehlt Aristoteles, durch die „Kunst der Darstellung den Eindruck zu verstärken“. 21 Vgl. zur Übersetzungsgeschichte Plett: Rhetorik der Affekte, 186ff. 22 Vgl. auch Richard Moran: „Energeia is thus not only the side of what is depicted, but what it depicts is specifically figured as a living thing demanding some set of responses from the audience, some mental activity of its own. The specifically imagistic quality of live metaphor only is so because of the responsive activity of the mind.“ Moran: Seeing and Believing, sowie Newman: Aristotle’s Notion of „BringingBefore-the-Eyes“; dagegen Gyburg Radke, die im energetischen Metapherntypus bei Aristoteles keine Annäherung des Wortes an das Bild vermutet, sondern eher eine Auseinandersetzung mit dem logos, d.h. eine erkenntnistheoretische Funktion der energetischen Metapher. Vgl. Radke: Über eine vergessene Form der Anschauung in der griechischen Dichtung.

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Reflexion auf die Medialität der Sprache tragen. Die enérgeia einer aktiven Metapher ist zugleich das energetische Potential einer Rede, die Bewegungsbild zu werden vermag. Damit führt enérgeia als Schlüsselkategorie einer Theorie der Metapher und der Medialität von Sprache den physikalischen und metaphysischen Energiebegriff in zweifacher Weise weiter. Zum einen im Hinblick auf eine uneigentliche Zeichenbewegung, zum anderen im Hinblick auf eine transgressive Medienbewegung. Indem aber die Rhetorik den Energiebegriff auf figurative und mediale Verschiebungen hin öffnet, legt sie im Denken der Energie einen metaphorischen und mediologischen Impuls frei, der fortan weiterwirkt. Hypothetisch ließe sich formulieren: Mit der rhetorischen Energie als Redetechnik der Evidenz setzt eine Konzeptualisierung von Sprachenergie ein, die uns nicht nur mit vielfältigen Verwendungen der Energie als Metapher konfrontiert, sondern mit Energie als Begriff des Metaphorischen und Transmedialen selbst. Durch die Peripetien des Energiebegriffs hindurch bleibt dieser Gedanke relevant, wird jedoch auf sehr unterschiedliche Art und Weise wirksam. Vor allem die teilsynonyme Verwendung von Energie und Evidenz hat in der Begriffsgeschichte zu zahlreichen Verwicklungen geführt. Plett lokalisiert hier vier Konfliktpunkte heraus, die Semantik, Stilhöhe, Geltungsbereich sowie die Verwechslung von energetischer Kinesis und energetischer Mimesis betreffen, und resümiert: Der kritische Philologe mag mit diesem terminologischen Wirrwarr unzufrieden sein, der Poetologe ist es nicht, spiegelt doch diese Ausdrucksfülle die große Breite der Realisationsmöglichkeiten von rhetorischer Energie: Klarheit, Anschaulichkeit, Handlung, Kraft, Bewegung, Deixis, Expressivität, Konkretheit, Exhibition, verlebendigende Metaphorik.23

Was Plett „terminologisches Wirrwarr“ nennt, hat sich nicht nur für die Poetik als fruchtbar erwiesen. Es hat auch mediale und epistemische Anschließbarkeiten geschaffen. Denn die von Plett genannten Qualitäten – Anschaulichkeit, Deixis, Exhibition – machen die konzeptionelle Verschmelzung von enérgeia und enárgeia überaus attraktiv v.a. für die moderne Bildtheorie. Am explizitesten zeigt sich die rhetorische Referenz in neueren Bildakttheorien, welche ihre Thesen zur bewegenden Kraft ikonischer Darstellung aus der Rhetorik enargetischer Energetik entwickeln. So leitet etwa Bredekamp das Modell einer

23 Vgl. zum Zusammenfall von enérgeia und enárgeia in der rhetorischen und poetischen Theorie Plett: Rhetorik der Affekte, S. 188, Müller: Evidentia und Medialität, S. 62f. Knapp dazu auch Anderson: Go Figure, S. 7ff.

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bildimmanenten Kraft der imago agentis aus einer Adaption der rhetorischen enárgeia in der Malerei ab. Bredekamp vermutet, dass „die rhetorische Kraft, die sich an den lebendig wirkenden Sprachbildern entzündet“, eine „aus sich selbst erwachsende Affinität zum materiell engagierenden Bild“ besitzt. Und das bezieht sich nicht nur auf ‚lebendige Bilder‘, wie wundertätige Ikonen, sondern auf ein jedes Bildwerk, das dem Betrachter als ein Gegenüber begegnet, welches „auf kaum kontrollierbare Weise von der Möglichkeits- in die Aktionsform umzuspringen“ vermag.24 Spuren einer energetischen Bild-Rhetorik finden sich aber auch in der klassischen Moderne. Exemplarisch dafür steht Kandinskys Behandlung der Linie als bildkompositorisches Element, dessen kinetische „Spannung“ das „Statische“ des Punktes in das „Dynamische“ einer bildnerischen Kraftkurve hineinführt25, oder auch Warburgs Metapher des Bildes als „Energiekonserve“, in der „energetische Engramme“ oder „Dynamogramme“ bewahrt seien. In der Einleitung zum Mnemosyne-Atlas weist Warburg, dem es mit der dynamischen Pathosformel v.a. um eine Ausdrucksbewegung „kinetisch erschütterten Menschentums“ zu tun ist, auf einen sprachtheoretischen Impuls seiner Bild-Engrammatik hin: Er wolle im Bereich der bildenden Kunst etwas zeigen, was der Junggrammatiker Hermann Osthoff für die indogermanischen Sprachen nachgewiesen habe, dass nämlich „bei Adjektiven und Verben ein Wortstammwechsel eintreten kann, ohne dass die Vorstellung der energetischen Identität“ darunter leide.26

III. Mit diesen metaphorischen und medialen Transfers der Energie vom Wort ins Bild wird aber auch eine Art energetischer Paragone angetrieben, der den transgressiven Überschreitungen ein Bewusstsein medialer Inkompatibilität und Inkongruenz entgegensetzt. Energetisierung heißt dann nicht mehr Medienwechsel, sondern Medienspezifik. Am prägnantesten zeigt sich der Kampf um einen Energieprimat einzelner Medien vielleicht im Laokoonstreit. Als kritische

24 Bredekamp: Theorie des Bildakts, S. 22f. 25 Kandinsky ersetzt den Begriff der Bewegung durch den der Spannung. Kandinsky: Punkt und Linie zur Fläche, S. 57ff. 26 Warburg: Der Bilderatlas Mnemosyne, S. 3-6. Auch in: Warburg: Werke in einem Band, S. 629-639, hier S. 631 und S. 633. Bei Osthoff selbst ist nicht von „energetischer Identität“, sondern von „echt-Stofflichen Gruppen“ die Rede. Vgl. Osthoff, Vom Suppletivwesen der indogermanischen Sprachen, S. 5ff.

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Reaktion auf Lessings Differenzierung zwischen Zeit- und Raumkünsten legt Herder im Ersten Kritischen Wäldchen (1769) eine wirkungsästhetische Systematik der Künste unter energetischen Gesichtspunkten vor, mit der er sich explizit auf Aristoteles bezieht: Nur da die Malerei ein Werk hervorbringt, das während der Arbeit noch Nichts, nach der Vollendung Alles ist, und zwar in dem Ganzen des Anblicks Alles: so ist die Poesie Energisch, das ist, während ihrer Arbeit muß die Seele schon alles empfinden; nicht wenn die Energie geendigt ist, erst zu empfinden anfangen, und erst durch Rekapitulation der Successionen empfinden wollen. … Der Mittelpunkt des Leßingschen Werkes, in welchen alle Stralen fallen, ist also schon von Aristoteles angegeben. Wenn die Wirkung einer Kunst Energie ist: so kann die Vollkommenheit solcher Kunst nur während der Dauer wahrgenommen werden; ist sie ein Werk: so ist die Vollkommenheit nicht während der Energie, sondern erst nachher, sichtbar.27

Herder stellt mithin nicht die Raum-Zeit-Systematik Lessings in Frage, vielmehr will er dessen Rasterung sukzessiver Sprach- vs. simultaner Bild-Formen energetisch ausbuchstabieren. Den Impuls für seine Kunst- und Medienenergetik erhält Herder aber seinerseits nicht unmittelbar von Aristoteles, sondern vermittelt über James Harris’ Three treatises: the first concerning art; the second concerning music, painting, and poetry; the third concerning happiness (1744), die gut 20 Jahre vor Lessings Laokoon (1766) erscheinen. Harris nimmt hier eine „deutliche Eintheilung zwischen Künsten, die ein Werk liefern, und Künsten, die durch Energie wirken“ (Herder, ebd.), vor: … call every production, the parts of which exist successively, and whose nature hath its being or essence in transition, call it, what it really is, a motion or an energy: thus a tune and a dance are energies; thus riding and sailing are energies; and so is elocution, and so is life itself. On the contrary, call every production, whose parts exist all at once, and whose nature depends not on a transition for its essence, call it a work, or thing done, not an energy or operation. Thus a house is a work, a statue is a work, and so is a ship, and so a picture. – I seem, I said, to comprehend you. If, then, there be no productions, said he, but must be of parts, either co-existent or successive; and the one of these be, as you perceive, a work, and the other be an energy; it will follow, there will be no production, but will be either a work or an energy.28

27 Herder: Kritische Wälder, S. 157f. 28 Harris: Three treatises, S. 32f.

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Werkkünste, „works“, sind also solche, die simultan gegeben sind, in sich statisch und – so übersetzt Herder - „deren Wirkung coexsistirende Theile hat, wie eine Bildsäule, ein Gemälde“, Energiekünste oder einfach: „energy“ sind solche, die sich durch Bewegung auszeichnen, die prozessual sind und „successive wirken, wie z.B. Tanz, Musik“ und in erster Linie: Sprache.29 Mit der ästhetischen und poetischen Debatte der Aufklärung verschiebt sich das Koordinatensystem der Sprachenergie: Herder macht mit Harris weniger eine Unterscheidung zwischen dynamis und enérgeia geltend, sondern folgt vielmehr einer Leitdifferenz von ergon und enérgeia, um allen Zeitkünsten eine energetische Qualität zuzusprechen, welche die Lessingschen Raumkünste allenfalls indirekt bzw. verkapselt im abgeschlossenen Werkcharakter noch besitzen. Mit der Reorientierung des Energiediskurses von der Relation Akt-Potenz zum Verhältnis Akt-Artefakt bestimmen sich damit zugleich die (trans)medialen Qualitäten neu. Für Herder ist Energie nicht mehr dasjenige, was ein Überspringen des Sagens ins Zeigen leistet. Sie markiert keine mediale Transition mehr, sondern eine Mediengrenze, an der Energie zum Differenzkriterium von Sprache und Bild wird.

IV. Die Dyade ergon-enérgeia bleibt für den kunst- und medienenergetischen Diskurs zentral. Sie fungiert jedoch nicht nur als Kategorie, mit der bestimmten Medien, wie der Sprache, Energieprivilegien verliehen, und anderen, wie Bildern, Energiedefizite attestiert werden. Über die Differenz ergon vs. enérgeia werden nicht nur verbale und ikonische Formate auseinanderdividiert. Sie treibt auch einen Riss in die Sprache selbst hinein, indem sie das Verhältnis von Sprache und Sprechen wie auch von Sprache und Schrift bestimmt. Zentraler Referenzpunkt für diese Spaltung ist die humboldtianische Sprachphilosophie. Dabei hatte Humboldts energetisches Interesse zunächst mehr der Kunstkomparatistik als der vergleichenden Sprachwissenschaft gegolten. Auch er gehört zu denjenigen, die mit Harris entlang der Achse ergon-enérgeia eine neue Zeichenordnung zwischen Temporalität und Spatialität begründen. In einem frühen wirkungsästhetischen Traktat „Über den Begriff der Kunst“ (1785) systematisiert Humboldt in größter Formulierungsnähe zur Treatise on art:

29 Herder: Kritische Wälder, S. 157f.

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Jedes endliche Ding existirt entweder im Raum, oder in der Zeit, oder in beiden zugleich. Daher wirkt auch die Kunst entweder a. im Raum. Die Theile dessen, was sie hervorbringt, bestehen neben einander; und alsdann heisst die Wirkung ein Werk. Oder b. in der Zeit. Die Theile dessen was sie hervorbringt, folgen auf einander.
Oder endlich c. im Raum, und in der Zeit zugleich. Einige Theile von dem, was sie hervorbringt, bestehen neben einander; andere folgen auf einander. In diesem, und im vorigen Fall heisst die Wirkung eine Energie; so wie man die Kunst selbst im ersteren Fall eine bildende, in den beiden lezteren eine energische nennt.
 Die Wirkung der Kunst ist folglich entweder ein Werk, oder eine Energie.30

Operiert der Energiebegriff hier noch im Sinne der vorangehend skizzierten Logik des Laokoon-Paradigmas, in dem sichtbare und hörbare Künste ihre Funktionsmechanismen als Nebeneinander oder Nacheinander von Zeichen definieren, so verschiebt Humboldt die Argumentation innerhalb seiner Sprachphilosophie hin zu einer qualitativen Verschiedenheit von literalen und oralen Medien. Kategorisch bleibt in Humboldts Einleitung zum Kawi-Werk „Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues“ (1836) die Energie der gesprochenen Sprache vorbehalten. Humboldts Bemerkungen zur Natur der Sprache haben den enérgeia-Begriff linguistisch und sprachphilosophisch nobilitiert, ihn zugleich aber auch schriftphilosophisch diskreditiert. Sprache, so heißt es bei Humboldt, muss nicht wie ein „todtes Erzeugtes“, sondern wie eine „Erzeugung“ angesehen werden, sie ist „etwas beständig und in jedem Augenblicke Vorübergehendes. Selbst ihre Erhaltung durch die Schrift ist immer nur eine unvollständige, mumienartige Aufbewahrung, die es doch erst wieder bedarf, daß man dabei den lebendigen Vortrag zu versinnlichen sucht.“ In größtmöglicher Distanz zur Schrift darf Sprache nicht wie ein starres grammatisches Inventar von Wörtern und Regeln, sondern wie ein bewegliches, nur im konkreten Redeakt greifbares System verstanden werden.31 Statt um die Sprache geht es also um Sprechen, statt um ein „durch die Wissenschaft gebildetes Abstractum“, bestehend aus Grammatik und Lexikon, „zerschlagen in Wörter und Regeln“, geht es um einen je individuellen, variablen Vollzug, um Rede „in dem Acte ihres wirklichen Hervorbringens“. Semiotisch

30 Humboldt: Über den Begriff der Kunst, S. 359. 31 Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, § 8. Vgl. zum Energiebegriff der Sprachphilosophie Humboldts auch Jost, Die Auffassung der Sprache als Energeia.

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zugespitzt ließe sich sagen: statt um langue geht es um parole. Pragmatisch könnte man formulieren: Sprache ist immer Sprechakt. Oder aristotelisch gewendet: Die akzidentielle enérgeia des Sprechens besitzt Priorität vor dem ergon der Sprache: „Sprache erhält erst im Akt der Rede Dasein.“32 Innerhalb dessen, was Sybille Krämer das „Zwei-Welten-Modell der Sprachlichkeit“33 genannt hat, d.h. im Rahmen der konzeptionellen Unterscheidung zwischen Sprache als substantieller Struktur einerseits, und Sprache als akzidentieller Aktualisierung dieser Struktur andererseits, vertritt Humboldt die Position eines Sprechphilosophen. Zitierbar und wirkungsmächtig geworden ist diese Position mit Humboldts Formel: „Sie selbst [d.h. die Sprache] ist kein Werk (Ergon), sondern eine Thätigkeit (Energeia).“34 Diese Formel hat sich – obwohl oder vielleicht gerade auch weil sie ein hapax legomenon ist – schnell zu einem der, wie Heidegger meint, „oft angeführten, aber selten bedachten“35 linguistischen Lehrsätze entwickelt. Sie scheint exemplarisch für Humboldts dynamische Sprachauffassung zu stehen, vertritt jedoch alles andere als eine systematisch-universalistische Lehrsatzlinguistik. Vielmehr stellt sie einen Versuch dar, die unbegriffliche Gestaltungskraft der Sprache zu fokussieren und ihre Fähigkeit zur Umbildung, ihre partikulare Flexibilität und im Fluss befindliche Transformativität methodisch zu privilegieren. Darin liegt auch eine spezifische Unbestimmtheit und Unbegrifflichkeit der enérgeia, auf die Cassierer in seiner Humboldt-Lektüre abzielt.36 Humboldt nimmt enérgeia gerade für diejenige Auffassung der Sprache in Anspruch, in der das aus dem Zusammenhang gelöste Wort nicht „einen schon geschlossenen Begriff“ enthält, sondern anregt, „diesen mit selbständiger Kraft, nur auf bestimmte Weise, zu bilden“, trägt doch jedes Wort den „lebendigen Keim nie endender Bestimmbarkeit in sich“.37 In dieser semantischen Unbestimmtheit der enérgeia liegt ihre Fokussierung des Werdens vor dem Gewordenen. Genau diese dynamische Qualität aber setzt Humboldt in der Schrift außer Kraft. In der Schrift„mumie“ erstarrt die flüchtig-vitale enérgeia der Sprache oder mehr noch: des Sprechens zum regelgeleiteten ergon einer mechanischen

32 Di Cesare: Einleitung, S. 93. 33 Krämer: Über den Zusammenhang zwischen Medien, Sprache und Kulturtechniken, S. 33. 34 Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, § 8. 35 Heidegger: Der Weg zur Sprache, S. 246. Zur Rezeptionsgeschichte aus Perspektive der diachronen Sprachwandelforschung auch Martinet: Sprache – ergon oder energeia. 36 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Teil I: Die Sprache, S. 105. 37 Humboldt, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, § 20 und 9.

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Zeichenoperation. Schrift vertritt und radikalisiert in dieser Perspektive jene Aspekte der Sprache, die für Starrheit, Statik, Unveränderlichkeit, Abgeschlossenheit stehen. Gerade ihre Aufzeichnungs-Funktionen der Überdauerung, Speicherung und Bewahrung bleiben dem energetischen Sprachdenken fremd: Kein philologisches Wissen lässt sich aus der schriftlichen Überlieferung einer Sprache deduzieren. Ganz in der Tradition einer antiken Schriftschelte stehend, die Sterben und Schreiben, Tod und Buchstabe assoziiert, bleibt so jeder Graphismus dem Wort im aktualen Gebrauch und damit der Energie äußerlich.

V. Beharrlich hat die Humboldt-Rezeption diese Assoziationen weitergetragen, so dass der Humboldtsche ‚Energiesatz‘ der Sprache eng mit einem Schriftverdikt verknüpft bleibt. Nicht zuletzt ist diese Energieschwäche der Schrift an das eingangs erwähnte „phonographische Dogma“38 gekettet, unter dessen Herrschaft jede Schrift auf ihre Dienstleisterrolle als Klangkonservator beschränkt bleibt. Solange graphische Notation sich darin erschöpfen soll, supplementäre Aufzeichnung des gesprochenen Wortes zu sein, kann sie nicht anders gedacht werden denn als leere Spur der erfüllten Rede. Um 1900 kommt es jedoch disziplinübergreifend immer stärker zu Zusammenführungen von Graphismus und Energetismus, die ein physikalisches Verständnis von Energie und Kraft zur Theoretisierung vor allem psychophysischer, aber auch anderer Phänomene einsetzen. Vorbereitet durch die telegraphische Verkoppelung elektrischer Signale mit Aufzeichnungsmodellen ist der in Leitungen übertragene und in Notation übersetzbare Impuls konzeptionelles Muster, nach dem ganz unterschiedliche Formen von Schriftenergie freigesetzt werden.39 Richard Semon etwa deutet die „energetische Einwirkung“ von Reizen auf den Organismus als „engraphische Wirkung“ einer Erregung. Er spricht von „mnemischen Engrammen“, um die Spuren dieser Erregungszustände lesbar zu machen, und prägt damit einen Begriff, den, wie oben erwähnt, Warburg für die genetische Formengrammatik seines Mnemosyne-Projekt adaptieren wird.40

38 Krämer: ‚Schriftbildlichkeit‘. 39 Vgl. dazu ausführlich Asendorf: Ströme und Strahlen. 40 Semon: Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens, S. 13 und S. 20ff. Zu Warburgs Semon-Rezeption vgl. Rieger: Richard Semon und/ oder Aby Warburg: Mneme und/oder Mnemosyne.

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Die (en)grammatologische Rekonstruktion der Energie eröffnet damit eine neue Ansicht sowohl auf Bildformen wie auch auf die visuelle Gestalt des Schriftzugs und die dynamische Geste des Schreibens. Es entwickelt sich gewissermaßen ein Bewusstsein von der enérgeia der écriture. So wird die Schrift aus graphologischer Perspektive energetisch deutbar wie auch zum Gegenstand einer ästhetischen Theorie des Lineismus. Man denke etwa an Klages’ Studien zum Verhältnis von Handschrift und Charakter (1917), in denen es heißt: Damit ein Winkel entstehe, muss die Bewegung der Federspitze bis zum Nullpunkt der Geschwindigkeit verlangsamt werden, um dann sofort in die neue Richtung hinüberzubiegen. Die dazu von Punkt zu Punkt erforderliche Bremsung setzt im Schrifturheber eine ständige Spannungsbereitschaft voraus, und so ist denn die positive Bedeutung des Winkels: Widerstandskraft.41

Diese energetischen Spannungszustände des Schreibens spiegeln sich auch in vitalistisch inspirierten Entwürfen von Kraftlinien, wie sie am emphatischsten wohl von Henry van de Velde formuliert werden: So erkennen wir in der ersten Linie ausschließlich Äußerungen von Lebenskraft und Erregung, kindlicher Freude, rückhaltloser Lust. Sie zeugen von latenten Kräften, die in uns sind, durch plötzliches Verlangen gereizt und entfesselt, von Kräften, die ungeduldig sind, sich in Taten umzusetzen. Psychische Kräfte leiteten die mit primitiven Werkzeugen Knochen oder Stein – bewaffnete Hand, ebenso wie natürliche Kräfte die Spitze des Grashalmes zur Erde biegen, wo sie kleine Kreise in den Sand malt. … Die Kraft ist das Geheimnis des Ursprung aller Kreaturen und aller Schöpfungen. Aber nur wenige Schöpfungen stehen in so direktem, nahem Zusammenhang mit ihrem Schöpfer wie die Linie. Die Linie ist eine Kraft, die ihre Natur nicht verleugnen, ihrem Schicksal nicht entgehen wird.42

Alle Linien, seien sie gezeichnet, geschrieben, gemalt, verfügen damit in ihrer Evolution über einen „Doppelcharakter“, den Sabine Mainberger genauer bestimmt hat: „Sie sind expressiv und formgebend“.43 Schließlich wandelt sich aber auch im Verlauf der Mediengeschichte das Konzept der Phonographie so gravierend, dass innerhalb des sprachenergetischen Dispositivs mit Aufzeichnungstechniken experimentiert wird, die aus

41 Klages: Handschrift und Charakter, S. 115. 42 Van de Velde: Die Linie, S. 181. 43 Mainberger: Experiment Linie, S. 130.

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phonographischen Modellen heraus die Möglichkeit energetischer Schriften diskutieren. Beobachten lässt sich das an Pavel Florenskij, der zu den aufmerksamsten Lesern Humboldts zählt. In seinen zahlreichen sprachphilosophischen Traktaten kommt Florenskij immer wieder auf die humboldtsche ‚Energieformel‘ zurück, am ausführlichsten im Aufsatz „Antinomien der Sprache“ (Antinomii jazyka, 1922). Hier hält er seine Leseeindrücke aus der Abhandlung „Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues“ so minutiös fest, dass der Text über weite Strecken als ein Exzerpt Humboldts gelten kann. Gravitationszentrum von Florenskijs Humboldt-Lektüre ist eine in der ergon-enérgeia-Dyade angelegte, unauflösliche dialektische Grundspannung, die alle Modi des Sprechens durchzieht, seien sie wissenschaftlich, philosophisch oder künstlerisch: die „Doppelnatur“ von Dinglichkeit (veščnost’) und Tätigkeit (dejatel’nost’), von objektiviertem Werk und vitalem Werden. Wo diese Doppelnatur dissoziiert und einer der Pole für absolut erklärt wird, verliert Sprache sich entweder – energetisch radikalisiert – ins Unartikulierte, in „Geräusche, in Klopfen, Pfeifen, Getöse und Geheul“, oder verödet – dinghaft gebunden – zur steril durchrationalisierten Konvention.44 Fluchtpunkt von Florenskijs sprachphilosophischen Reflexionen bleibt dabei die Bestimmung der energetischen Qualität der Sprache. Worte sind für Florenskij – ähnlich wie Bilder für Warburg – energetische Sinnspeicher. „Zwischen den Schichten des Semems“, so heißt es bei Florenskij, „lagern unerschöpfliche Energievorräte, Energieströme aus Millionen von Mündern sind hier zusammengeflossen“.45 Das Faszinosum der Sprachenergie liegt für Florenskij nicht zuletzt darin, dass sich hier seine physikalischen Spekulationen mit seinen linguistischen Interessen und seinen theologischen Überzeugungen verbinden. Im Essay über „Die Magizität des Wortes“ (Magičnost’ slova, ca. 1920) tritt diese Kreuzung besonders prägnant hervor. Darin beobachtet Florenskij zunächst eine physikalische Vermischung von Energieformen im Wort: So ist also das Wort von der physikalischen Seite her ein individuell von der übrigen Natur abgesonderter Lautprozess von sehr feiner Gewebestruktur, einer Luftgewebestruktur [atmosphärische Gewebestruktur], die man prinzipiell mit dem Auge sehen kann, so wie wir auch Schallwellen sehen […], es ist eine in sich geschlossene kleine Welt von eigenständiger Organisation. Diese Verflechtung von Lautenergien bleibt sich natürlich

44 So formuliert Florenskij in seinem Essay über Begriffssprache „Termin“. 45 Florenskij: Magičnost’ slova, S. 246. („В прослойках семемы слова хранятся неисчерпаемые залежи энергий, отлагавшихся тут веками и истекавших из миллионов уст.“)

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nicht einfach gleich, sondern in ihr gehen mit Notwendigkeit die verschiedenartigsten Prozesse vor sich: elektrische, magnetische, chemische und thermische Prozesse und verschiedene molekulare und ultramolekulare Veränderungen. Таким образом, со стороны физической, слово есть индивидуально отчлененный от прочей природы звуковой процесс, имеющий тончайшую гистологическую, воздушно-гистологическую структуру, которую, говоря принципиально, можно видеть и глазом, подобно тому, как видим мы глазом звуковые волны […], – словом, самозамкнутый мирок своеобразной организации. И это сплетение звуковых энергий, конечно, не остается только таковым, но по необходимости развивает в себе процессы самые разнообразные: электрические, магнитные, тепловые, химические и различные молекулярные и ультра-молекулярные изменения.46

Das Wort, das hier in seiner physikalischen Struktur bereits als hybride Gestalt akustischer Sichtbarkeit, als Lautbild, erscheint, ist dabei vorerst noch als geschlossene thermodynamische Monade variabler, ineinander transformierbarer Energieformen vorgestellt. Diese verschiedenen systeminternen Energien besitzen in sich aber eine Gerichtetheit nach außen, sie verfügen über eine zentrifugale Gespanntheit oder Wirkkraft, die Florenskij mit Ostwald Formenergie nennt: Warum sollte man den Gedanken verwerfen, daß Energie, die Laut-Energie des Wortes, in Richtung auf eine bestimmte Wirkung hin gelenkt werden kann und diese hervorruft, ungeachtet ihrer quantitativen Geringfügigkeit, wobei man hier hinzufügen muss, dass der Begriff der Bedeutsamkeit oder Geringfügigkeit relativ ist. Indessen ist das Wort lautlich gesehen durchaus nicht schlechthin ein Laut, durchaus nicht irgendeine lautliche Energie, im Gegenteil, es ist ein außerordentlich ausgeprägter Laut, die lautliche Energie ist auf feinste Weise organisiert, sie besitzt eine bestimmte, hochdifferenzierte Struktur und verfügt, mit Ostwalds Formenergie zu sprechen, so gesehen über eine hohe Intensität. Почему же отвергать мысль, что энергия, звуковая энергия слова, может быть направленной именно в сторону определенного действия, и произведет его, несмотря на свою количественную ничтожность, хотя должно добавить и то, что самое понятие о значительности или ничтожности – условно. Между тем, с звуковой стороны, слово вовсе не есть звук вообще, вовсе не какая-то звуковая энергия, а напротив, есть звук чрезвычайно выработанный, звуковая энергия, весьма тонко организованная, имеющая определенное и высоко дифференцированное строение и, следова-

46 Florenski: Die Magie des Wortes, S. 219f. Russ.: Florenskij: Magičnost slova, S. 238.

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тельно, если вместе с Оствальдом говорить об „энергии формы“, то обладающая, в этом смысле, большой интенсивностью.

In diesem Passus kündigen sich die Kernprobleme eines Sprachbegriffs zwischen Energetisierung und Medialisierung an. Mit dem argumentativen Übergang von der Energieform zur Formenergie und damit vom energetischen Zustand zur energetischen Wandlungsfähigkeit verbindet sich im nächsten Schritt eine Reflexion auf die medialen Energien des Wortes bzw. auf die Transformation physikalischer in mediale Energien. Nun geht es um die Möglichkeit, die Schallwellen des Lautbildes in eine Phonographie des Erzählens umzuwandeln. Wie schreiben sich die energetischen Verhältnisse in Aussage- und Aufzeichnungssysteme ein? Diesen Aspekt erläutert Florenskij anhand einer Versuchsanordnung, in der ein Tisch, ein Hut und ein Phonograph figurieren. Andererseits stellt das Wort als Signal physikalisch gesehen eine minimale Energie dar, eine Laut-Energie von äußerst geringer Wirksamkeit, in diesem Falle von so geringer, daß man mit ihr als Kraft in der äußeren Welt offenbar nicht zu rechnen braucht. Wir sind so großzügig, hier von uns aus eine genaue Berechnung des Minimalwerts dieser Energie anzugeben: Ein Gewicht von 50 Gramm, senkrecht aus einem Meter Höhe herabfallend, entwickelt eine Energie, die ausreicht, mit normaler Stimme zehntausend Jahre ohne Unterbrechung einen Laut hervorzubringen; mit anderen Worten, wenn ein ganz gewöhnlicher Hut vom Stuhl auf den Fußboden fällt, so könnte man ihn, wenn man die Fallenergie nutzte und sie mit Hilfe eines Gerätes von der Art eines Phonographen umwandelte, zehntausend Jahre ohne Pause von dem genannten Ereignis erzählen lassen. А с другой стороны, как сигнал, слово есть некоторая минимальная энергия физического порядка, – звуковая энергия, и вообще-то наименее действенная, в данном же случае – настолько малая, что с нею, как с силою во внешнем мире, по-видимому, не стоит и считаться. Чтобы быть великодушными, подскажем еще от себя и более точный расчет ничтожности этой энергии: тяжесть в 50 гр., опускаясь на 1 метр по вертикали, развивает энергию, достаточную для произведения звука обычным голосом в течение десяти тысяч лет без перерыва; иначе сказать, если бы обыкновенная шляпа упала со стола на пол, то, использовав энергию падения и преобразовывая ее при помощи какого-либо прибора вроде фонографа, можно было бы заставить его повествовать об означенном событии десять тысяч лет без умолку.47

47 Florenskij: Magičnost’ slova, S. 238.

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Unverkennbar steht Florenskijs Energiemodell in einem spezifischen wissensund mediengeschichtlichen Kontext. Zu diesem gehört auch das phonographische Dispositiv, welches die philologische Beschäftigung mit dem Wort um 1900 maßgeblich geprägt hat. Im Zusammenhang dieses Zitats ist dabei vor allem an Sievers’ Klangstudien zum Resonanzkörper der Literatur, die jeden Text als Schallwelle erfassbar gemacht haben, zu denken. Gegenstand von Florenskijs Gedankenexperiment ist aber weder eine Schallanalyse von Dichtung, wie sie zeitgleich die Ohrenphilologie betreibt, noch ein rein physikalisches Problem der Aufzeichnung von Schallwellen, wie es Boltzmanns Hutparabel über die Wirkung transversaler und longitudinaler Schwingungswellen zugrunde liegt.48 Die Aufschreibung von Sprache, vorgestellt als Aufzeichnung von Schall, versichert sich hier nicht nur der komplexen Akustik ihres Gegenstandes, sie fordert zur Reflexion auf die Logik der Schrift auf. Der nahezu bis in die Unendlichkeit von seinem Sturz erzählende Hut ist Ausgangspunkt einer Spekulation darüber, wie sich zwischen physikalische Energie der Gravitation und poetische Energie des Erzählens ein phonographisches Dispositiv medientechnischer Aufzeichnung von Lauten schiebt, das die Konzeption von Sprachenergie grundlegend verändert. Florenskij geht dabei in zwei Übersetzungsschritten vor: Der erste betrifft die Übersetzung von kinetischer Energie in akustische Energie, der zweite die Übersetzung phonetischer in graphische Energie. Dabei stehen zwei Medien zur Verfügung. Im ersten Bild ist dies die „normale“ menschliche Stimme. Die zweite Szene setzt an deren Stelle einen Phonographen, sie integriert also eine Apparatur, die maßgeblich das sogenannte Aufschreibesystem um 1900 prägt. Mit der phonographischen Kopplung literaler und akustischer Aufzeichnungstechnologien ändert sich sowohl der Begriff von Sprache wie auch der Begriff von Sprachenergie und den Möglichkeiten ihrer Medialisierung. Der Phonograph steht für ein Konzept von Sprache nicht als logos, sondern, wie es bei Florenskij heißt, als „Signal“. Er vertritt ein Modell der Sprache, das sich seines Gegenstandes nur noch versichern (und d.h. graphisch fixieren) kann, indem es ihn in Wellen, Frequenzen, Schwingungen und akustische Impulse auflöst. Damit transformiert sich Sprachenergie zur Lautenergie, sie ist reiner Resonanzeffekt, seriell reproduzierbar. Auch die Rolle der Graphie verändert sich mit dieser Bewegung: Von der mumifizierten Effigie des abgetöteten, verstummten Wortes wird sie zum Medium der technischen Transskription nicht von Sprache, sondern

48 Boltzmann: Röntgens neue Strahlen, S. 189.

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von Stimme, Klang und Ton. Statt alphabetisch Laute „in Phonem-Äquivalenzen zu übersetzen“49, fixiert sie analphabetisch Artikulationsgeräusche. Am Gedankenexperiment Florenskijs lässt sich damit eine entscheidende Umstrukturierung in der Geschichte sprachenergetischer Modelle beobachten. In einer kleinen Szene, welche die absurden Fallgeschichten des Obėriu vorwegnimmt, stellt Florenskij uns vor, wie sich um die Wende zum 20. Jahrhundert die Begriffe von Sprache und Energie wandeln. Wenn bei Aristoteles Sprachenergie für die medientransgressive Evidenzkraft der Rede einstand und wenn Herder und Humboldt Sprachenergie mit dem prozessualen Primat des Wortes vor Bild und Schrift assoziierten, dann scheint dieser Begriff bei Florenskij an seine Grenzen zu stoßen. Als Lautenergie vertritt er weder rhetorische Wortgewalt noch vitale Sprachdynamik. Vielmehr realisiert er sich als sprachlicher Leerlauf unendlicher Gravitationserzählungen einer Sprechmaschine.

VI. Vor dem Hintergrund dieser ersten Spurensuche lassen sich einige Grundzüge der sprachenergetischen Mediendebatte festhalten. In diachroner Perspektive verweist der Begriff Sprachenergie auf höchst divergente Wortformen. Sie reichen von einer rhetorischen Theorie der dynamischen Metapher über eine ästhetische Theorie prozessualer Zeitkünste und eine linguistische Theorie der Sprache als Sprechen bis hin zu einer physikalischen Auflösung der Sprache in akustische Resonanzphänomene. Stets eingelagert in diese unterschiedlichen sprachenergetischen Konzepte ist eine Position zur Medialität der Sprache, die sich als Bewegung des Wortes hin zum Bild oder aber als deren Abgrenzung voneinander, als schriftskeptische Priorisierung der Sprechstimme vor der stummen Graphie oder als phonographisch transskribierte Signalfolge artikuliert. Durch die verschiedenen medienhistorischen Dispositive, die in diesen Settings an den Transformationen der Sprache mitarbeiten, zieht sich als ein roter Faden die Suche nach einer Qualität von Sprache, die dem systematischen Zugriff Widerstände entgegensetzt. Innerhalb des sprachphilosophischen Diskurses kommt der Energiebegriff – oder besser gesagt: die Energiemetapher – dort zum Einsatz, wo Sprache ins Unbestimmte und Unbegriffliche übertragener Rede hineintreibt, wo sie ihre medial gesetzten Grenzen zu erweitern versucht, wo sie sich dem starren Lexikon der Semantik und Grammatik entzieht, wo sie von einem statischen Medium der Darstellung zu einem flüchtigen Medium der

49 Dazu ausführlich Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, S. 293ff.

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Performanz werden will und schließlich: wo sie die ihr eigene Zeitlichkeit bis in die Unendlichkeit sinnentleerten Erzählens überdehnt. Sprachenergie ist damit Öffnung des Sprechens in eine Sphäre der Transition von Medien und Semantiken.

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III. Dialektik und Dialogik der Medialität

Das Medium ist das Wort Überlegungen zu Hegels „Herr und Knecht“ im Zeitalter der Digitalisierung Gernot Kamecke

Auf etwa einem Sechstel der Wegstrecke der Phänomenologie des Geistes betritt das berühmte Begriffspaar „Herrschaft und Knechtschaft“ – als allegorisches Bild für die „Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewusstseins“1 – die Szene der hegelschen Dialektik. Hegels Gleichnis von der unausweichlichen Verstrickung und gegenseitigen Abhängigkeit zwischen dem Bewusstsein des Eigenen und der Anerkennung des Fremden ist das Urbild aller modernen Formen der politischen Emanzipation und des reflexiven Aufbrechens begrifflicher Hierarchien. Das Bewusstsein, seit Kant das Telos der kontinuierlich zu sich selbst kommenden Wahrheit des reflexiven philosophischen Geistes, ist laut Hegel nur dann „für sich seiendes Bewusstsein“, wenn es „durch ein anderes Bewusstsein mit sich vermittelt ist“ (PhG, 150, Herv. i. Text). Herr und Knecht fungieren hier, zum Zweck der Probe der dialektischen Methode, als Beispiel für eine extreme Form von Andersheit. Der Herr stellt den Inbegriff und das Ideal eines selbstbewussten, sich durch die Vermittlung über den Anderen reflexiv aufhebenden Bewusstseins dar. Der Knecht hingegen repräsentiert das absolut Andere des Herren, da er sich als rein für sich seiendes (nicht selbstbewusstes) Bewusstsein nur auf die Dinge selbst bezieht. Das Sein ist der „Gegenstand der Begierde“ für den Herrn, aber eine „Kette“ für den Knecht, „von der er im Kampfe nicht abstrahieren konnte und darum sich als unselbständig, seine Selbständigkeit in der Dingheit zu haben erwies“ (PhG, 151). Für Hegel liegt die Pointe des Bilds von Herr und Knecht darin begründet, dass das dialektische Prinzip der Interrelation und gegenseitigen Abhängigkeit

1

Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 145 (im Folgenden PhG).

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auch dann fortbesteht, wenn dieser Relation eine größtmögliche Hierarchie zugrunde liegt. Obgleich der Knecht den Status eines „Dings“ innehat und somit „nichts“ ist, bleibt der Herr in der Bewegung der Bewusstwerdung seiner selbst, die erst durch ein anderes Bewusstsein mit sich vermittelt wird, auf den Knecht angewiesen. Ohne den Knecht ist der Herr kein Herr. Der Herr bezieht sich „mittelbar durch den Knecht auf das Ding“ (ebd., Herv. i.T.) Und dadurch, dass der Herr „den Knecht zwischen es und sich eingeschoben“ hat, schließt er sich „mit der Unselbständigkeit des Dinges zusammen und genießt es rein“. Die Seite der Selbständigkeit des Dings hingegen überlässt er dem Knecht, „der es bearbeitet“ (ebd.). In der eigentümlichen Konstellation, die das dialektische Bild von „Herrschaft und Knechtschaft“ erzeugt, ‚besitzt‘ der Knecht also das trügerische Privileg, aufgrund seiner doppelten Seinsweise als Ding und dingliches Bewusstsein „für den Herrn zu sein“ und somit zu seiner eigenen Beherrschung beizutragen. Knechtschaft ist laut Hegel eine Bedingung der Möglichkeit von Herrschaft. Zugleich ist der Knecht aber ohne den Herrn auch kein Knecht, was – sofern dieser nicht nur arbeitet (und sich durch Arbeit ‚entfremdet‘), sondern auch ein lebendiger Mensch ist –, zum Bewusstsein seiner knechtischen Seinsweise als Ding führen kann. Die verklausulierte Formulierung dieser berühmten Passage hat zu den unterschiedlichsten Interpretationen geführt. Für Nietzsche ist die Phänomenologie eine entscheidende Etappe auf dem historischen Weg der „Umkehrung aller Werte“ und einer Ablösung der starken „Herrenmoral“ durch die schwache „Sklavenmoral“,2 wodurch das alte Herrenbewusstsein zu neuen Höhenflügen in die mythischen Gefilde des „Übermenschen“ ansetzt. Bei Nietzsche wird Hegel zum Verkünder der Verschwörung von „Priestern und Pöbel“ gegen den Adel, welcher das Bewusstsein für die Sklaverei und deren Überwindung selbst mit auslöste, als er den Sklaven als einen Gegner anerkannte. Für die Linkshegelianer hingegen, insbesondere Marx und die Marxisten – Georg Lukács, Herbert Marcuse, Alexandre Kojève – besteht in der Bewusstseinshierarchie zwischen einer auf die Dinglichkeit reduzierten und einer die Dinglichkeit ausbeutenden Seinsweise der Grund für einen notwendigen – zugleich dem Telos von Hegels Weltgeist entsprechenden – Prozess einer „Überwindung der Verhältnisse“ und einer Befreiung der Erniedrigten aus der Knechtschaft.3 Ob der Jenaer Philosoph

2

„Der Sklavenaufstand in der Moral beginnt damit, dass das Ressentiment selbst schöpferisch wird und Werthe gebiert“. Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, S. 271 (Herv. i.T.).

3

„Selbst in dem Zustand der Gesellschaft, welcher dem Arbeiter am günstigsten ist, ist die notwendige Folge für den Arbeiter Überarbeitung und früher Tod, Herabsinken

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im Jahr 1807 mit seinem „Knechte“ tatsächlich an die noch immer real existierenden Sklaven dachte, die von Afrika nach Amerika transportiert worden waren und sich 1804 mit dem Sieg der Haitianischen Revolution – über deren Verlauf Hegel durch die Berichte in der Zeitschrift Minerva gut informiert war – ihren Eintrag in die Universalgeschichte als Ausgangspunkt der bis weit in das 20. Jahrhundert andauernden antikolonialistischen Befreiungskriege erkämpften, ist ein Geheimnis, das der spätere Berliner Professor für Philosophie mit ins Dorotheenstädtische Grab genommen hat.4 Ungeachtet der historischen Aussichten für die Befreiung der Menschen aus ihrer (selbstverschuldeten) Unmündigkeit, steht das Gleichnis von Herr und Knecht für den Gründungsmoment der Verknüpfung zwischen dem menschlichen Bewusstsein und den Angelegenheiten der Natur, der Gesellschaft sowie der Geschichte. Die moderne Dialektik, die an der Schwelle zur Vereinnahmung (und Aufhebung) der größtmöglichen Differenz zwischen der Dinglichkeit und dem Selbstverständnis des Menschen ansetzt, markiert die systematische Schnittstelle, an der historisches Werden und subjektives Bewusstsein als Austauschpunkt von begrifflicher Theorie und historischer Praxis im Konzept der Philosophie zusammenkommen. Die Vermittlung (PhG, 82) ist der Inbegriff und das Telos der dialektischen Bewegung eines Auf-sich-selbst-Beziehens, das über sich selbst hinaus und unter Einbezug des Anderen zu sich kommt. Es hat sich nicht nur für die Philosophie, sondern auch für die Entwicklung der Geistes- und Kulturwissenschaften des 20. Jahrhunderts als grundlegend erwiesen, dass diese Bewegung der dialektischen Vermittlung an und für sich – noch bevor die Sprache als Instrument, Gegenstand oder Konzept zur Ausdifferenzierung der kommunikativen Übertragung ansetzen kann – in Form einer grundlegenden „Mediologie“ aufgefasst wird. So nennt Hegel in der Phänomenologie des Geistes den Anfangs- und den Endpunkt der dialektischen Bewusstseinsbewegung von Herr und Knecht ein „allgemeines gemeinschaftliches Medium“ (PhG, 98, Herv. i.T.):

zur Maschine, Knecht des Kapitals, das sich ihm gefährlich gegenüber aufhäuft, neue Konkurrenz, Hungertod oder Bettelei.“ Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte, S. 474. 4

Susan Buck-Morss ist jedenfalls dezidiert dieser Ansicht: „Im Zuge der vielleicht politischsten Stellungnahme seiner Karriere machte er [Hegel] die sensationellen Ereignisse in Haiti zum Dreh- und Angelpunkt seiner Argumentation in der Phänomenologie des Geistes. Der reale und erfolgreiche Aufstand der Sklaven in der Karibik gegen ihre Herren war der Augenblick, in dem die dialektische Logik der Anerkennung als Thema der Weltgeschichte sichtbar wurde, als Moment in der Geschichte der universellen Verwirklichung der Freiheit“. uck-Morss: Hegel und Haiti, S. 89.

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Die einfache sich selbst gleiche Allgemeinheit selbst aber ist wieder von diesen ihren Bestimmtheiten unterschieden und frei; sie ist das reine Sichaufsichbeziehen oder das Medium, worin diese Bestimmtheiten alle sind (PhG, 94, Herv. i.T.).

Die Auseinandersetzungen um die Definition des Medienbegriffs, die in der heutigen, seit etwa 1990 „Mediologie“5 genannten Medientheorie der Kulturwissenschaften ausgefochten werden, gewinnen in dem Maße an systematischer Plausibilität, wie sie ihrem hegelschen Urbild verschrieben bleiben. Dies ist die These, die ich im Folgenden erörtern möchte. Es gibt einen hegelianischen Ursprung der Mediologie, der auch für jene poststrukturalistischen Programme der „Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften“6 gilt, in denen die Dialektik selbst eine für ein technisches Medienapriori notwendige Ausnahme bildet. Ein „Medium“, so fasst es Marshall McLuhan in der reduziertesten Fassung der – trotz aller Kritik am mediologischen Gründer-Opus des kanadischen Literaturwissenschaftlers – kulturwissenschaftlich akzeptierten Medienbegriffsdefinitionen, ist „jede Ausweitung unserer eigenen Person“,7 d.h. jedes Objekt oder Instrument, mit dem der Mensch die Grenzen seines Körpers und seiner Sinne überschreitet. Gemäß dieser Medienkonzeption, deren gemeinsamer – anthropologische, kulturhistorische oder semiotische Differenzen vereinigender – Ansatzpunkt auf einer Neuorientierung der klassischen Erkenntnistheorie beruht, lässt sich ein Medium also als eine technische „Extension“ des menschlichen Subjekts über sich selbst hinaus begreifen, wobei sodann die Materialität bzw. die formale Verfasstheit der Medien als „technologische Infrastruktur von Kommunikation“8 in Frage steht. Diesseits der epistemologischen Binnendifferenzierungen lässt sich die Hauptthese der modernen Medientheorie so zusammenfassen, „dass alles, was wir wahrnehmen, wissen, erkennen, denken usw., also jeder Kontakt des Menschen zur Welt, nur in und vermittelst ‚Medien‘ möglich ist“.9 Das Medium ist insofern ‚die Botschaft‘ – des Denkens, des Bewusstseins oder der Wahrheit –, als dessen formale Bedingungen zugleich auch die Inhalte qualifizieren, die durch ein Medium transportiert werden. Auf diese Grundannahme können sich auch die älteren Geistes- und Kulturwissenschaften, die dem technischen Apriori der Medienphilosophie nicht folgen möchten, dann einlassen, wenn Klarheit darüber

5

Debray: Manifestes médiologiques; Hartmann: Mediologie.

6

Kittler: Austreibung des Geistes.

7

McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 21.

8

Holzer: Vom globalen Dorf, S. 315.

9

Kim: Kant und die moderne Medientheorie, S. 26.

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besteht, wie der Begriff des Mediums auf einer konzeptuellen Ebene zu verstehen ist. So ist es zum Beispiel in der Soziologie möglich geworden, unter dem Begriff des Mediums eine soziale Systematik von „koordinierter Selektivität“ und damit die Möglichkeitsbedingung von Kommunikation überhaupt zu fassen: „Diejenigen evolutionären Errungenschaften, die an jenen Bruchstellen der Kommunikation ansetzen und funktionsgenau dazu dienen, Unwahrscheinliches in Wahrscheinliches zu transformieren, wollen wir Medien nennen“.10 Und in der Philosophie ist es möglich geworden, den „alten Streit“11 mit der Dichtkunst um den Vorrang der Bedeutung oder des Klangs der Worte zumindest hypothetisch dadurch zu schlichten, dass die Möglichkeit für die Differenz zwischen einer Sache und ihrer sprachlichen Repräsentation in einer allgemeinen – den Geist und die Natur gleichermaßen affizierenden bzw. zur Partizipation anhaltenden – Medialität der sprachlichen Kommunikation verankert wird: „Medien sind Unterschiede, die einen Unterschied machen“.12 Die systematische Eindeutigkeit einer grundlegenden Vermittlung von Geist und Natur im Begriff des technischen Mediums ist jedoch – allen Kantwiderlegungen zum Trotz – nur im Bereich einer Erkenntnistheorie wirklich belegbar. Auch die These, dass ‚jeder Kontakt des Menschen zur Welt nur in und vermittelst Medien möglich ist‘, benötigt zu ihrer Plausibilisierung – gerade unter dem Vorzeichen eines medientechnischen Apriori – den Nachweis darüber, wie eine dialektische Bedingung für soziale Kommunikation auf einer vorsprachlichen Ebene überhaupt denkbar ist. Hier kann Hegel als entscheidender Vermittler dienen. Historisch betrachtet formiert sich in seiner Epoche, welche zugleich die Blütezeit der deutschen Romantik ist, das „Archi-Medium Sprache“13 als diskursives Gründungsereignis der modernen Mediologie. Das transzendentale Potential des auf die Extension des Planeten Erde projizierten „allumfassenden Bewusstseins“ eines elektrifizierten „Zentralnervensystems“14, dessen Telos als weltumspannendes Netz der „exkarnierte Hegel“15 Friedrich Kittler mit McLuhan teilt, erweist sich in seiner systematischen Verankerung erst

10 Luhmann: Soziale Systeme, S. 220. „Medien […] bilden den Konstitutionszusammenhang von Kultur, Gesellschaft und/oder Geschichte.“ Krämer: Medien, Boten, Spuren, S. 66. 11 Platon: Politeia 607b. 12 Seel: Bestimmen und bestimmen lassen, S. 356. 13 Jäger: Sprache als Medium, S. 22. 14 McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 164. 15 Winthrop-Young: Friedrich Kittler zur Einführung, S. 147.

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durch den Rückgriff auf die in der Phänomenologie des Geistes geschilderte Urszene der Dialektik. Kommen wir also, um nach der Sprache und dem historischen Schicksal eines „totalen Medienverbunds auf Digitalbasis“16 zu fragen, auf die Bedeutungsentwicklung von Hegels Medienbegriff zu Beginn des Gleichnisses von Herr und Knecht zurück. Der konzeptuelle Ort des Hegelschen Gleichnisses ist die Grundlegung der systematischen Funktion des Philosophierens selbst, die in dem berühmten, heute im Zentrum jedes Kanons moderner Philosophie anzutreffenden „Vorwort“ zur Phänomenologie des Geistes als Bedingung für das menschliche, insbesondere wissenschaftliche Denken dargelegt wird. In der besonderen Praxis der Transformation von Gedanken durch Sprache, welche von Platon bis Kant „Philosophie“ genannt wird, gilt somit eine „natürliche“, d.h. diskursiv nicht hinterfragbare „Vorstellung“ und Voraussetzung von Erkenntnis überhaupt: Es ist eine natürliche Vorstellung, dass, ehe in der Philosophie an die Sache selbst, nämlich an das wirkliche Erkennen dessen, was in Wahrheit ist, gegangen wird, es notwendig sei, vorher über das Erkennen sich zu verständigen, das als das Werkzeug, wodurch man des Absoluten sich bemächtige, oder als das Mittel, durch welches hindurch man es erblicke, betrachtet wird (PhG, 68).

Die Setzung der Philosophie als privilegierte, potentiell wissenschaftliche Form der Einsicht in die Erkenntnisweisen selbst erfolgt an dieser Stelle in einer Weise, die an die kartesische Grundsituation des denkenden Subjekts – cogito ergo sum – anknüpft. Hegel konzipiert den Einsatz der Philosophie als absoluten Beginn des Denkens, wie Descartes, in Form einer zunächst binären Relation zwischen einem Subjekt – als Selbstbewusstsein oder transzendentales Ich – und der Welt mit all ihren natürlichen und geistigen, auf das Telos eines möglichen Weltgeistes gerichteten Phänomenen. Diese Relation kommt allein kraft jenes „Erkennens“ zustande, dessen Mechanismen oder methodische Vorgehensweise die Philosophie untersucht. Während die Verhältnisse von res cogitans und res extensa bei Descartes zur Ausbildung des positivistischen Rationalismus geführt haben, dessen absolut souveränes Subjekt zum Credo der analytischen Philosophie geworden ist, beruht die Neuerung Hegels auf der die dialektische Bewegung erst vollendenden Einsicht, dass das methodische „Erkennen“, sobald es als „Mittel“ oder „Werkzeug“ gefasst wird, auf die Inhalte und Gegenstände der Erkenntnisvorgänge zurückwirkt:

16 Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, S. 8.

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Denn ist das Erkennen das Werkzeug, sich des absoluten Wesens zu bemächtigen, so fällt sogleich auf, dass die Anwendung eines Werkzeugs auf eine Sache sie vielmehr nicht lässt, wie sie für sich ist, sondern eine Formierung und Veränderung mit ihr vornimmt (PhG, 68).

Für die deutschsprachige Kulturwissenschaft des 20. Jahrhunderts, insbesondere die Berliner Schule der Medienphilosophie, sollte es von Interesse sein, dass exakt an dieser Stelle der systematischen Fundierung der „Phänomenologie des Geistes“ auch das seither geheiligte Wort „Medium“ (PhG, 69, Hervorhebung im Text) geschrieben steht. Hegel führt diesen Begriff zunächst nur versuchsweise – „gewissermaßen“ – als Metapher für „das Andere“ der instrumentellen Erkenntnis ein, d.h. eines möglichst neutralen, „passiven“ und durch die Sache selbst geleiteten Erkennens. Im Verlauf der Untersuchung, die ein solches Erkennen als ein phänomenologisch aufzuhebendes Ideal konzipiert, entwickelt Hegel den Begriff jedoch in immer spezifischeren Differenzierungen als dialektischen Grundbestandteil einer Differenz zwischen „Werkzeug und Medium“, welche die möglichen Modi der Erkenntnisweisen eines Subjekts auf dem Weg zur Wahrheit beschreibt. So setzt „die Besorgnis, in Irrtum zu geraten […] Vorstellungen von dem Erkennen als einem Werkzeuge und Medium, auch einen Unterschied unserer selbst von diesem Erkennen voraus; vorzüglich aber dies, dass das Absolute auf einer Seite stehe, und das Erkennen auf der andern“ (PhG, 69f., Herv. i.T.). Hier lässt sich die erkenntnistheoretische Geburtsstunde des modernen Medienbegriffs festmachen. Es entsteht ein „gemeinschaftliches Medium“ (PhG, 98), das sich in Hegels Systematik insofern als ein fundamentaler Begriff für die Erkenntnis des Wahren fassen lässt, als es – zwischen der Welt und einem transzendentalen Subjekt dialektisch verankert – jegliche Vorprägung des Erkenntnisobjekts durch die Erkenntnis vermeidet. Für die „Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins“ (PhG, 80) entspricht das Verhältnis zwischen dem Subjekt und den Phänomenen – im Sinne einer entstehenden Bewegung der Erkenntnis – dann der Wahrheit, wenn es sich im Medium der Angelegenheit selbst vollzieht, d.h. im reflexiven Bewusstsein dessen, wie das „Wahrnehmen wesentlich beschaffen ist, nämlich […] in seinem Auffassen zugleich aus dem Wahren heraus in sich reflektiert zu sein“ (PhG, 98, Herv. i.T.) Aus der Metapher für das bloße Andere der eindimensionalen (kartesischen) Erkenntnisbewegung vom Subjekt hin zu den Phänomenen wird der Begriff des Mediums in der Phänomenologie des Geistes zur theoretischen Bedingung der Möglichkeit von wahrer Erkenntnis. Der Begriff fungiert als Gegenpol für die verfremdende Veränderung des Erkenntnisgegenstands durch das erkennende Suchen eines Subjekts. Er wird dort angesiedelt, wo sich für die Gewissheit

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eines Erkenntnisprozesses eine Differenz zwischen der Wahrheit und dem Bewusstsein auftut. Denn „in den bisherigen Weisen der Gewissheit ist dem Bewusstsein das Wahre etwas anderes als es selbst“ (PhG, 137). Allerdings ist „Gewissheit, welche ihrer Wahrheit gleich ist“ (ebd.) nur dann möglich, wenn die Äquivalenz zwischen einem Begriff und einem Gegenstand ‚an sich‘ dem Ich unverfälscht zu Bewusstsein kommt. Da unverfälschtes Bewusstsein einer Sache aber nur als Ideal denkbar bzw. annäherungsweise möglich ist, wird ein von der Sache selbst herkommender Gegenpart zur instrumentellen Kenntnisnahme benötigt, welchen Hegel am Begriff des „allgemeinen Mediums“ festmacht. Das Gleichnis von Herrschaft und Knechtschaft setzt also eine absolute Grundform von Medialität ins Werk, die als erste Relation zwischen Subjektivität und phänomenaler Weltlichkeit angesiedelt ist und so als begrifflicher Ausgangspunkt der modernen Medienphilosophie dienen kann. Herr und Knecht sind die zwei Seiten der Medaille des „Selbstbewusstseins für ein Selbstbewusstsein“ (PhG, 144) – also eines Bewusstseins, das die Verfälschung des Gegenstands durch die Betrachtung insofern einholen kann, als es sich selbst als Betrachtendes betrachtet –, welches nur dadurch „an und für sich [ist], dass es für ein Anderes an und für sich ist“ (PhG, 145, Herv. i.T.). Die klassische, erkenntniskritische Interpretation der medialen Vermittlung als dialektischer Extension eines bewussten und sich selbst erkennenden Subjekts führt über die Phänomenologie in den Existentialismus des 20. Jahrhunderts (zu Husserl, Heidegger, Jaspers und Sartre). Diese Interpretation beginnt mit dem – durch einen Weltgeist beseelten oder auch verlassenen – Subjekt und schaltet alle Begriffe und Formen der dialektischen Vermittlung als von dem (denkenden, erkennenden) Subjekt ausgehende und zum ihm zurückführende konzeptuelle Erweiterungen nach, um eine ontologische Fundamentalsituation als größtmöglichen Allgemeinplatz – nämlich das Leben der Menschen auf der Erde – gemäß einem im Krieg zwischen Herr und Knecht angemessen abgebildeten Grundkonflikt der Interaktion zwischen Subjekten zu begreifen. Die für die „phänomenologische Ontologie“17 verwendbare dialektische Negativität dieses subjektiven Werdens und Sich-Entäußerns als Grundform des Denkens, des Erkennens und der Sprache lässt sich in etwa wie folgt zusammenfassen: Das Für-sich-Sein negiert die Anderen; aber für sich zu sein, heißt, für andere zu sein. Der Mensch muss sein Leben riskieren, um das Bewusstsein des Anderen zu erzwingen […] Die Wahrheit des Menschen schwindet mit dem Verschwinden seiner tierischen Existenz,

17 Sartre: Das Sein und das Nichts.

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aber nur durch das Negieren dieser Existenz ist er ein Mensch […] Das Ganze, der Mensch in der Welt, der Geist, ist das Nichts, das sich im Sein negiert.18

Der entscheidende Grund dafür, dass Hegels Phänomenologie des Geistes als Begriffsbegründer für die Medienwissenschaften bislang kaum wahrgenommen wurde, liegt in der Verknüpfung der Kategorien ‚Erkenntnis‘ und ‚Bewusstsein‘, die als Grundbegriffe der Erkenntnistheorie und der Phänomenologie zugeordnet werden, welche dem materialistischen Denken der technischen Medienphilosophie entgegenstehen. Ist aber die konzeptuelle Differenz, die sich aus dem Vergleich der Definitionen zwischen dem allgemeinen ‚Medium‘ als „reflexivem Bewusstsein“ (Hegel) und als „Extension der menschlichen Sinne“ (McLuhan) ergibt, mehr als ein diskursives Konstrukt zur Selbstvergewisserung von geistesund kulturwissenschaftlichen Disziplinen? Lässt sich das hegelsche ‚SelbstBewusstsein‘ – in der Dialektik eines Zu-sich-selbst-Kommens als Entäußerung des Subjekts – nicht als eine absolut erste „Ausweitung unserer eigenen Person“19 auffassen? Die These der materialistischen Medienwissenschaften beruht im Kern auf der Annahme einer technischen Verselbständigung der medialen Extensionen, die auf das Subjekt nur noch als eine mögliche und nicht mehr notwendige Adressierung innerhalb von operativen Schriften, Maschinen und automatisierten Systemen zurückgreifen: „Das physische Substrat des Geistes ist in den Eigenstrukturen von Medien wie Schrift, Buchdruck und Computer verortet, in welchen geistige Gehalte nicht nur symbolisch dargestellt, sondern auch erzeugt werden.“20 Radikaler formuliert: „Es gibt weltweit nur TechnoWissenschaften, Medienweltgeschichten inklusive, und sonst nichts“.21 Das technische Apriori des Medienmaterialismus, das den auf den Menschen zentrierten Disziplinen der Anthropologie, der (Kognitions-)Psychologie und der Soziologie eine Fundamentalkritik entgegenstellt, ist mit Blick auf Hegel also hinsichtlich der Möglichkeit einer technischen Entfaltung des „Sich“ in der dialektischen Bewegung des „Für-sich-sein“ zu problematisieren. Hegel selbst

18 „L’Être-pour-Soi nie les Autres; mais être pour Soi c’est être pour les Autres. L’homme doit risquer sa vie pour forcer la conscience de l’autre […] la Wahrheit de l’homme disparaît avec la disparition de son existence animale; mais ce n’est qu’en niant cette existence qu’il est humain […] La totalité [est le] néant néantissant dans l’être, l’Homme dans le monde, l’Esprit“. Kojève: Introduction, S. 62ff., Herv. i.T. (meine Übersetzung). 19 McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 21. 20 Krämer: Geist ohne Bewusstsein?, S. 88-89. 21 Kittler: Martin Heidegger, S. 377

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schreibt in einer „Mediasphäre“22, die dem „Aufschreibesystem 1800“23 entspricht. Insofern bleibt das Bewusstsein, das durch seine dialektische Entäußerung am Weltgeist (mehr oder weniger) partizipiert, immer nach dem Modell eines Menschen gezeichnet, dessen In-der-Welt-sein durch ein Erkennen motiviert ist, das auf souveränen, potentiell selbstbewussten Prozessen des subjektiven Denkens und Empfindens beruht. Zugleich ist Hegel aber auch in einer Epoche zu verorten, in der mit dem „großen Thema ‚Sprache‘“ durch eine zeitgleich von Johann Gottfried Herder, August Wilhelm Schlegel und Wilhelm von Humboldt ausformulierte Theorie „so etwas wie eine erste Medientheorie entstand“,24 die im 20. Jahrhundert zuerst zu einem linguistic turn und sodann zu einem medial turn der Geistes- und Kulturwissenschaften führte.25 Die materialistische Medientheorie behauptet nun, dass unter den Bedingungen der elektronischen und digitalen Medien ein neues Zeitalter angebrochen sei, in dem sich die mediale Extension derart über das Bewusstsein und die Selbstreflexion menschlicher Subjekte hinaus verselbständigt habe, dass von den technischen Operationen der Medien gar nicht mehr auf ein (immanentes oder transzendentales) Subjekt zurück geschlossen werden müsse. Die zunehmende Erweiterung des planetaren ‚Nervensystems‘ – von der Elektrizität über die Elektronik und die Turing-Maschine hin zu den globalen Computer-Netzwerken – habe die lange Geschichte technischer „Überbietungen“ in einer Epoche kulminieren lassen, in der digitale Operationen „ihre Macht ins Unerhörte potenziert haben“,26 da sie auf autonome Weise Ereignisse, Differenzen und dialektische Bewegungen ‚anschreiben‘ können, ohne überhaupt ein Subjekt, geschweige einen Menschen in Relation zu setzen. In der heutigen ‚Mediasphäre‘ sei unter den Bedingungen des ‚Aufschreibesystems 2000‘ jener „totale Medienverbund auf Digitalbasis“ entstanden, welcher, so die gleichsam apokalyptische Warnung des vehementesten Vertreters der technischen Mediologie, „den Begriff Medium selber kassieren [wird]“.27 An dieser Stelle der Gegenüberstellung zwischen dem (vorsprachlichen) „reflexiven Bewusstsein“ Hegels und dem (nachsprachlichen) „totalen Medienverbund auf Digitalbasis“ Kittlers stoßen wir auf den größtmöglichen Gegensatz eines Medienbegriffs, den es – im Rückgriff auf die (sprachliche) Figur der Dia-

22 Debray: Manifestes médiologiques, S. 40. 23 Kittler: Aufschreibesysteme. 24 Kim: Kant und die moderne Medientheorie, S. 32. 25 Vgl. Münker: After the Medial Turn. 26 Kittler: Buchstaben – Zahlen – Codes, S. 47-48. 27 Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, S. 8.

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lektik selbst – einzuholen gilt. Von Nutzen für den Versuch der dialektischen Rückbindung ist die einer gewissen Ironie nicht entbehrende Tatsache, dass die beiden Kontrahenten Hegel und Kittler, die den Anfangs- und Endpunkt der Auseinandersetzung zwischen einer transzendentalen (subjektiven) und einer technisch-autonomen (objektiven) Mediologie repräsentieren, im Hinblick auf das Telos der Aufhebung konzeptueller Praxis durchaus ähnlich sind. Was für den einen das Ende der Geschichte am Ende der dialektischen Bewusstseinsbewegung ist, ist für den anderen die Endlosschleife einer automatisierten und vollständig verschalteten Hardware-Kommunikation. Das philosophische Problem, das sich daraus ergibt, besteht in der Teleologie einer derart aufgespannten Medienabfolge: Wenn Medien heute „immer auch Flugapparate ins Jenseits“28 sind, so stellt sich die Frage, inwieweit die Mediologie unter den Bedingungen der digitalen Revolution im gleichen Zuge in der Lage ist – wie das allgemeine Medium des hegelschen Selbstbewusstseins als „Reflexion aus dem Sein der sinnlichen und wahrgenommenen Welt“ –, eine „Rückkehr aus dem Anderssein“ (PhG, 138, Herv. i.T.) vorzunehmen. Die Beantwortung dieser Frage ist zugleich die zentrale Herausforderung an die Medienphilosophie, deren primäre Aufgabe darin besteht, einen ebenso spezifischen wie differenzierbaren Begriff des Mediums herzustellen, welcher zumindest annähernd der epistemologischen Anforderung des hegelianischen Ursprungs entspricht, nämlich „in seinem Auffassen zugleich aus dem Wahren heraus in sich reflektiert zu sein“ (PhG, 98). Die Bestimmung der Gegenstände und Sachverhalte, die unter dem inflationären Begriff des Mediums ‚vermittelt‘ werden sollen, gestaltet sich heute schwieriger denn je: Was ist nicht alles schon ‚Medium‘ genannt worden: „ein Stuhl, ein Rad, ein Spiegel (McLuhan), eine Schulklasse, ein Fußball, ein Wartezimmer (Flusser), das Wahlsystem, der Generalstreik, die Straße (Baudrillard), ein Pferd, ein Dromedar, ein Elefant (Virillo), Grammophon, Film, Tpyewriter (Kittler), Geld, Macht und Einfluss (Parsons), Kunst, Glaube und Liebe (Luhmann).29

Das Problem der scheinbar unendlichen Ausweitung der Auffassungen und Vorstellungen, die unter dem Medienbegriff irgendeine Form der ‚Vermittlung‘ irdischer Wahrnehmung und Kommunikation erfassen – sei es zum Beispiel in Form

28 Klaus Theweleit, zit. in: Ebd., S. 24. 29 Roesler: Medienphilosophie und Zeichentheorie, S. 34. „Der medientheoretische Epochensatz ‚the medium is the message‘ gilt auch auf der Ebene von kleinen Scheinen und Münzen.“ Hörisch: Wieviel fasst ein Speicher?, S. 238.

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eines „historischen Apriori der Organisation von Sinneswahrnehmung“30 – beruht darauf, dass man aus den Augen verliert, aus welchem Grund man überhaupt von einem Medium oder der Medialität eines Sachverhalts spricht. Gerade die Berliner Schule lässt sich von einer – Hegel zumindest rhetorisch einholenden – Hyperbolik nicht freisprechen. Medien verzweigen sich hier zuweilen zu einer Art hypertrophen poetischen Allegorie, deren Elemente zu komplexen symbolischen Mengen zusammengesetzt werden können, um Vollständigkeit für generelle Zusammenhänge zu suggerieren, wie etwa in der Bestimmung der europäischen Kolonialgeschichte als einem Zusammenspiel der ‚Medien‘ Feuerwaffen, Druckerpresse, Alkohol und Linearperspektive.31 Was gewinnt man jedoch für die Bestimmung eines sozial und kommunikativ hochkomplexen Phänomens wie einer Stadt, wenn man sagt: „Die Stadt ist ein Medium“?32 Wird durch die Metapher etwas genuin anderes geschaffen, als dass der „Mythos“ einer Metropole – so der Titel des Bandes, in dem die gleichnamige Untersuchung erschienen ist – aus einer bestimmten Perspektive und mit einem bestimmten Erkenntnisinteresse noch einmal erzählt wird?33 Eine analytische Abkühlung des in der jüngeren Medienwissenschaft etwas heiß gelaufenen Mediums der Sprache „selber“ (inkl. ihrer poetologischen Extensionen) ist der Medienphilosophie geboten, die sich als manifeste Reaktion auf das – im Gegensatz zum Begriff des Mediums – historisch unstrittige Ereignis des medial turn der Geistes- und Kulturwissenschaften aus der klassischen Philosophie herausgebildet hat. Der heuristische Beitrag der Medienphilosophie zur Lösung des Problems von der Verhältnismäßigkeit zwischen dem Gegenstand, dem Begriff und der Teleologie von Medien beruht zugleich auf dem definitorischen Akt einer Selbstkonstitution, die sie sich im disziplinären Umfeld

30 Bolz: Theorie der neuen Medien, S. 112, zit. in: Vogel: Medien als Voraussetzung, S. 110. Vogel antwortet darauf pointiert, dass gemäß einer solchen ‚Definition‘ selbst „Sonnenbrillen“ Medien genannt werden müssten, „weil sie doch andere sinnliche Perspektiven eröffnen“ (ebd.). 31 „Das europäische Mittelalter […] hat die dreifaltige Einheit von Buchstaben, Ziffern und Noten in die Luft gejagt und damit jenen Raum eröffnet, der mit Feuerwaffen und Druckerpressen, Alkohol und Linearperspektive die Erde zur kolonialen, also auch postkolonialen Fastkugel machte.“ Kittler: Buchstaben – Zahlen – Codes, S. 44. Zur stilistischen Charakteristik des „Kittlerdeutsch“ als „akademischen Idiolekts“ s. Winthrop-Young: Friedrich Kittler, S. 62-72. 32 Kittler: Die Stadt ist ein Medium. 33 Diese Frage stellt sich ebenso für Kittlers systemtheoretischen Gewährsmann Luhmann: Das Medium der Kunst.

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der etablierten Geistes- und Erkenntnisphilosophien erstreiten muss, sofern sie „mehr sein [soll] als Physik, Nachrichtentechnik oder Mediengeschichte“.34 Aus der medienphilosophischen Perspektive wird vor allem deutlich, dass ‚Medien‘ – in Abhängigkeit davon, was genau man darunter versteht – nicht erst seit der „digitalen Revolution“ der Turing-Maschine (1936), sondern immer schon, „von Platon bis Hegel“ Gegenstand eines philosophischen Nachdenkens waren: Nach dem medial turn aber gilt, dass jedes philosophische Unternehmen die Einsicht in die Mediendependenz von Bedeutung selbstkritisch zu reflektieren hat. […] Zu philosophischen Problemen werden Medien genau dann, wenn ihre Verbreitung und Verwendung unser Selbst- und Weltverhältnis insofern verändert, als sie auf signifikante Weise die für dieses Verhältnis selbst und zu der uns umgebenden Welt grundlegenden Ideen und Begriffe tangiert.35

Das Verhältnis von Idee und Begriff unserer mediatisierten Welt erweist sich als die philosophische Kernfrage der medialen Epistemologie: Inwieweit sind wir von den Medien „abhängig“ – für unser Denken, unser Empfinden, und unser Inder-Welt-Sein im historischen Kontext des „Übergangs von einer Industrie- in eine Informationsgesellschaft“36? Inwieweit können wir Medien überhaupt als solche unbefangen betrachten? Hier zeigt sich die Notwendigkeit, auf die Herausforderung Hegels zu antworten und darzulegen, inwieweit der Begriff des ‚Mediums‘ auch das μέσον bzw. das „Vermittelnde“ sein kann zwischen einer sich ins Endlose verzweigende Bedeutungslosigkeit der menschlichen Dinge und der historischen Tatsache, dass die Mediatisierung unserer Lebenswelt und unseres Denkens aus Ereignissen einer Entwicklung technischer Medien resultiert, die Epoche gemacht haben. Die Medienphilosophie liefert drei Hinweise zur Ordnung des mediologischen Diskurses. Der erste Hinweis bezieht sich auf die mögliche Reduktion der proliferierenden Bedeutungen des Medienbegriffs durch die Klassifizierung technischer Abhängigkeiten zwischen den einzelnen Medien. Hier lässt sich der diskursbegründende – und auch von den Materialisten nicht als ‚anthropomorph‘ zurückzuweisende – Gedanke von Marshall McLuhan fruchtbar machen, dass „der ‚Inhalt‘ jedes Mediums immer ein anderes Medium ist“.37 Auf diese Weise lassen sich die offenkundig kurzgreifenden ‚Medien‘ – wie Sonnenbrillen,

34 Roesler: Medienphilosophie und Zeichentheorie, S. 48. 35 Münker: After the Medial Turn, S. 17, S. 19, Herv. i.T. 36 Ebd., S. 17. 37 McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 22.

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Stereo-Sound, Flugzeuge oder ähnliches – als Elemente bzw. phänomenologische ‚Punkte‘ anderer Medien fassen, welche erst in größeren Funktionszusammenhängen zu problematisieren sind. Durch die Arbeit logischer Verknüpfung der vielen nur punktuell signifikanten Einzelelemente zu funktionalen Mengen wird es möglich – in der sprachlichen Entfaltung eines spezifischen Konzepts medientheoretischen Denkens –, allein solche Medien als mediologisch relevant zurückzubehalten, die in der Geschichte der Menschheit ereignishaft sind – bzw. phänomenologisch sich als Ereignisse von besonderer Tragweite oder transzendentaler „Intensität“38 erweisen. Hierzu zählen zuvorderst die medialen Revolutionen der Menschheitsgeschichte: die Erfindung der Schrift (Babylon, Ägypten, Griechenland, China), die Erfindung der Algebra und der analytischen Geometrie (arabisches Mittelalter und europäische Neuzeit) sowie die globale Computerisierung des 20. und 21. Jahrhunderts. Der zweite Hinweis der Medienphilosophie bezieht sich auf die Frage nach der Relevanz dieser technischen Ereignisse für die Geschichte der Menschheit. Hierdurch wird an ein ebenso verborgenes wie unvermeidliches Desiderat erinnert, das sich an alle Medien- und Kulturwissenschaften richtet, nämlich eine Darlegung der Bedeutung und der Funktion jenes altehrwürdigen Begriffs der „Technik“ – τέχνη –, der in Kittlers Medientheorie als eine begrifflich an Martin Heidegger angelehnte und (mindestens) seit den alten Griechen wirkende Urkraft des „Entbergens einer Wahrheit“39 aufgefasst wird. Während für Heidegger das technische „Ge-stell“ im Zeitalter der „Atomtechnik“ jedoch ohne den Menschen keine besondere „Herausforderung“40 mehr darstellt, ist für Kittler durch die technische Reduktion einer elektrischen Verschaltung von „computable numbers“ (per boolescher Algebra) eine solch weitreichende und unumgängliche Revolution zum Tragen gekommen, dass in deren Folge „die Hochtechnologie von heute eine lange Geschichte zugleich vollendet und beendet [hat]“.41 Nach

38 Das „Transzendental einer Welt“ lässt sich als Funktion über den „Intensitätsgrad“ jener „Differenzen oder Identitäten“ beschreiben, die „in dieser Welt zum Erscheinen kommen“. Badiou: Logiken der Welten, S. 254. 39 Heidegger: Die Frage nach der Technik, S. 16. 40 „Das Wesen der modernen Technik verbirgt sich auf lange Zeit auch dort noch, wo bereits Kraftmaschinen erfunden, die Elektrotechnik auf die Bahn und die Atomtechnik in Gang gesetzt sind […] So ist denn die moderne Technik als das bestellende Entbergen kein bloß menschliches Tun. Darum müssen wir auch jenes Herausfordern, das den Menschen stellt, das Wirkliche als Bestand zu bestellen, so nehmen, wie es sich zeigt.“ Heidegger: Die Frage nach der Technik, S. 20, S. 23, passim. 41 Kittler: Buchstaben – Zahlen – Codes, S. 48.

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der Verlagerung des Lesens „von Menschen auf Maschinen“ – in der auch die Leerstellen „auf das physikalisch reine Korrelat von Null reduziert“42 werden –, verwandeln sich ‚Ereignisse‘ in informationstheoretisch quantifizierbare Zeichenvorkommnisse. In einer solchen Welt gibt es überhaupt nichts Ereignishaftes mehr als die „Größe“ von „Information“, die „es erlaubt, einen Zusammenhang herzustellen, zwischen der Menge zu transportierender Signale und der Übertragungskapazität von Informationskanälen“.43 Ein stringent zu Ende gedachter Medienmaterialismus lässt die Teleologie des Kriegs, in der sich sogar die Ereignisse der Kunst als mediale Abfallprodukte militärischer Inventionen zu verstehen geben – vgl. die Erfindung von Rockmusik als „Missbrauch von Heeresgerät“44 –, im Bild einer Universalmaschine aufgehen, die ein sie selbst erzeugendes Programm mit der „Kommandozeile “45 in eine transfinite Endlosschleife extendiert. Aus der philosophischen Perspektive wird deutlich, dass die technizistische Reduktion der Medien auf das bloße Prinzip von „Speicherung, Übertragung und Verarbeitung von Information“46 nicht nur begrifflich, sondern vor allem ontologisch beschränkt ist. Das technische Apriori des Medienmaterialismus ist mit dem fundamentalen Problem konfrontiert, den Begriff des Mediums medial zu implementieren. Wenn man das historische Ereignis der Turing-Maschine und ihrer Folgen als absolut verselbständigte, automatisierte Verarbeitung „operativer Schriften“ und somit – gleichsam chiliastisch – als eine Aufhebung der Differenz von Mensch und Natur begreift, wird jede soziale oder kulturelle Bedeutung von Kommunikation obsolet. Kommunikation betrifft dann nur noch „die Natur als den Hauptspeicher des Energiebestandes“.47 Das Sein der Technik entspricht einer Logik der Natur, aus der das Ereignis der Menschen immer schon herausbricht. Maschinelle Gedächtnisse sind ohne die Rückkoppelung in den funktionalen Zusammenhang kulturhistorischer Gedächtnisleistung tote Gedächt-

42 Ebd., S. 47. „Computertechnik […] beruht auf einer systematischen Zweideutigkeit, die jede Null und jede Eins zugleich als Binärzahl im Sinn von Leibnitz und als Wahrheitswert im Sinn von George Boole führt“ (ebd., S. 48). 43 Koch/Krämer: Einleitung, S. 11. 44 Kittler: Rock Musik. 45 Kittler: Buchstaben – Zahlen – Codes, S. 48. 46 „Speicherung, Übertragung und Verarbeitung von Information – nichts anderes ist die elementare Definition von Medien überhaupt“. Kittler: Die Stadt ist ein Medium, S. 235. 47 Heidegger: Die Frage nach der Technik, S. 22.

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nisse.48 Sie vollenden das Muster von ‚erkalteten‘ Gesellschaften, die danach streben, „auf quasi automatische Weise die Auswirkungen zum Verschwinden zu bringen, die die geschichtlichen Faktoren auf ihr Gleichgewicht und ihre Kontinuität haben können“.49 Es kann allerdings nicht der Sinn des menschlichen Denkens sein, selbst im Bereich einer medientechnologischen Phänomenologie, sich im reinen Nichts einer physikalischen Materialität aufzuheben. Der historische Endpunkt einer solchen medientechnischen Entwicklung wäre eine vorhistorische Natürlichkeit. Um diesen Kurzschluss zu vermeiden, erweist es sich als sinnvoll, auch einen anderen – Hegels ‚Anthropologie‘ des Geistes in der Tat nicht aufhebenden – Grundgedanken des Diskursbegründers McLuhan zu bewahren, nämlich denjenigen, Medien im Fundament, gerade aufgrund ihrer primordial technischen Verfasstheit, als eine Extension der menschlichen Sinne zu begreifen. In ihrer langen Geschichte der Komplexitätssteigerung von Inhaltsbezügen – vom radikalen und einzig inhaltslosen ‚Medium Licht‘50 zu den Netzwerken des globalen ‚Zentralnervensystems‘ – tun ‚Maschinen‘ letztlich nichts anderes, als die Grundwahrnehmungen der alten anthropomorphen Sinnesorgane optisch, akustisch und möglichst auch haptisch zu externalisieren. So bleibt der Mensch immer noch das Modell, wenn nicht der reinen, so doch der „empirischen Apperzeption“51 von maschinell erzeugter (digitaler) Differenz im Medium der automatischen Kommunikation. Das Verhältnis zwischen dem Begriff des ‚Mediums‘ und dem historischen Sachverhalt eines diskursiven, die Geistes- und Kulturwissenschaften tangierenden medial turn können, wie letztlich auch die Frage nach dem Wesen der Technik, also nur dann für die reflektierende Analyse sinnvoll sein – bzw. „evolutionären Errungenschaften“ entsprechen, „die an den Bruchstellen der Kommunikation ansetzen“52 –, wenn die mediale Kommunikation ein reflexives (analytisches) Sprechen über Medien erlaubt. Um den

48 „Lediglich zur Perfektionierung oder Ökonomisierung kognitiver Leistungen werden Medien konstruiert und genutzt, und zwar wiederum nach Maßgabe der zu perfektionierenden oder ökonomisierenden Prozesse“. Schönpflug: Eigenes und fremdes Gedächtnis, S. 182. 49 Lévi-Strauss: Das wilde Denken, S. 270. Vgl. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 68-70. 50 „Die Botschaft des elektrischen Lichts ist die vollkommene Veränderung. Es ist reine Information ohne jeden Inhalt“. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 90. 51 Kant: Kritik der reinen Vernunft, S. 136. Zur „multisensorischen Sinnlichkeit der neuen Medienkultur“ s. Hartmann: Mediologie, S. 65. 52 Luhmann: Soziale Systeme, S. 220.

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‚Inhalt‘ und den eigentlichen Gegenstand jedes philosophischen – bzw. wissenschaftlichen oder auch literarischen – Denkens, nämlich die historisch verbürgte Existenz der Menschen auf dem Planeten Erde nicht aus dem Blick zu verlieren, ist es unumgänglich, an den Stellen, da eine technische Definition als autokonstitutiver Mechanismus ins Leere seiner unendlichen Verschaltung läuft, die „Schnittstelle“ mit dem Menschen als Subjekt, Körper und Geist fruchtbar zu machen.53 In diesem Zusammenhang kommt schließlich der dritte und vielleicht wichtigste Hinweis der Medienphilosophie zum Tragen. Er bezieht sich auf die Frage der Sprache – die laut Hegel dem „Dasein des Geistes“ (PhG, 478) entspricht – als dem eigentlich entscheidenden Argument des medienphilosophischen Denkens. Gemäß der ersten der „Sieben Thesen zur Medienphilosophie“ sind heute „sowohl die Tätigkeit des Philosophierens (als sprachlich vollzogene) als auch ihr Gegenstand (als sprachlich artikulierter) […] grundsätzlich nur als medial realisiert zu denken“. Zugleich gilt aber gerade aus diesem Grund, dass wir, wenn wir zur Tätigkeit der Reflexion begrifflicher Probleme ansetzen, „erst zu philosophieren [beginnen], wenn in der Praxis des Mediengebrauchs die Bedeutung bestimmter Begriffe nicht länger selbstverständlich erscheint“.54 Im Gegensatz zur Komplexitätsreduktion der mathematischen Zeichen in operativen Schriften, beginnt die Bedeutung des reflexiven Denkens erst an den Stellen, wo die Automatismen natürlicher Zusammenhänge ins Stocken geraten. Die mediale Kommunikation als Praxis eines analytischen Sprechens über Medien, die uns in den Diskurs der hegelschen Dialektik führt, beruht auf der Extension der ereignishaften Momente von Idee und Reflexion im niemals binären oder bloß bijektiven Wechselverhältnis der Dinge und der Worte. Aus der medienhistorischen Perspektive lässt sich dieser Sachverhalt im Übrigen durch die in der jüngeren (von André Leroi-Gourhan ausgehenden)

53 „Auch das Bewusstsein ist eine Ausweitung des Menschen“. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 126. Aus einer literaturphilosophischen Sicht besteht der Anknüpfungspunkt zu McLuhan vor allem darin, dass er die klassischen Tätigkeiten des Menschen in der technischen Welt nicht aus den Augen verliert. So bleibt auch eine genuine Funktion der Kunst in den Zeiten der Technik bestehen. Vor der digitalen Revolution konnten die Künstler „das Verhältnis der Sinne zueinander berichtigen, noch ehe ein neuer Anschlag der Technik bewusste Vorgänge betäubt“. Nach derselben enthält die Kunst „genaue Information darüber, wie man seine Psyche umgestalten soll, um den Schlag von unseren erweiterten Fähigkeiten abfangen zu können“ (ebd., S. 109-110). 54 Münker: After the Medial Turn, S. 16.

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Anthropologie gewonnene Erkenntnis erhärten, dass schon die Sprache als solche – und nicht erst die Schrift – als vollständige, alle Sinne einschließende (und nicht bloß auf die visuellen Zeichen reduzierte) „audio-visuelle“ Praxis das „eigentliche Master-Medium der Medien“ ist: Seit die Reflexion des Master-Mediums Computer den Horizont seiner artifiziellen Vorläufer-Medien aufhellte, […] verfestigte sich als kulturhistorisches Wahrnehmungsklischee die Vorstellung, der Raum des Medialen werde erst mit der Erfindung der Schrift betreten. […] Auch in rezenten medialen Kulturen grundiert das anthropologische, im Genom des Homo sapiens sapiens verankerte, nonliterale Medium Sprache alle anderen in der Kulturgeschichte evolvierten Medien.55

Die Sprache selbst, das anthropologisch fundamentale „audio-visuelle Dispositiv des Medialen“56 – oder auch das „grundlegende Kommunikationsmedium“57 überhaupt –, ist die eigentliche ‚Schnittstelle‘ zwischen der Natur, bzw. der Materialität und der Form von Phänomenen der ‚Physik‘ und der ‚Technik‘, und dem Menschen, bzw. den subjektivierbaren, also memorierbaren und reproduzierbaren Apperzeptionen der menschlichen Sinne und deren frei gestaltbaren Ideen. Mit der Sprache formieren sich diesseits der modernen Technik, deren „eigentliche Leistung“ vielleicht ausschließlich in der „Entfremdung des Menschen gegenüber seinem eigenen Wesen“58 besteht, alle grundlegenden Kulturleistungen: die Mythen, die Religionen, die Künste und letztlich die Wissenschaften der Natur und des Menschen. Die Schrift liefert uns a posteriori nur die Kunde davon oder instituiert sich in Form einer spezifischen „Differenz“59 zu ihrem Master-Medium. Aus dem medienphilosophischen Hinweis vom medial turn der Wissenschaften spricht somit die ursprüngliche Weisheit aller Philosophie, die Platons Defi-

55 Jäger: Sprache als Medium, S. 19, S. 22. Zur kognitionsanthropologischen Onto- und Phylogenese der Sprache vgl. das Unterkapitel „Präliterale Sprache als Medium von Kognition und Bewusstsein“ (ebd., S. 25-32). 56 Ebd., S. 32. 57 Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 205. 58 Cassirer: Form und Technik, S. 68, Herv. i.T. 59 Vgl. Derrida: Die Schrift und die Differenz. Eine vermittelnde Position nimmt hier die Sprachphilosophie ein: „Zwar bleibt die Sprache immer das ‚ältere‘ Medium, aber sie wird von dem jüngeren [der Schrift] mehr und mehr durchformt“. Stetter: Schrift und Sprache, S. 9.

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nition des Denkens als einem „inneren Gespräch der Seele mit sich selbst“60 mit Ludwig Wittgensteins Definition der Sprache als einem „Vehikel des Denkens“61 verknüpft. Wenn allerdings die Sprache „das bildende Organ des Gedankens“ ist, wie Hegel um 1800 mit Wilhelm von Humboldt sagt, dann gilt zwingend, dass „der höchste Akt der Vernunft“ ein kreativer Akt ist: „Der Philosoph muss ebenso viel ästhetische Kraft besitzen, als der Dichter“.62 Diese Ansicht teilte aber ebenfalls schon McLuhan, der hier – diskursiv und epistemologisch – als ‚Vermittler‘ zwischen Hegel und der Moderne fungieren kann: „Als Ausweitung oder ‚Äußerung‘ (Nach-außen-Bringen) aller unserer Sinne auf einmal wurde die Sprache immer als die ausdrucksreichste Kunstform des Menschen betrachtet“.63 Die Allegorie von Herr und Knecht ist selbst ein absolut poetischer Akt. Die radikale Imagination eines reflexiven Bewusstseins als „für sich seiendes Bewusstsein“, das „durch ein anderes Bewusstsein mit sich vermittelt ist“ (PhG, 150), zwingt dem Fundamentalbegriff des „allgemeinen Mediums“, der in deutscher Sprache in diesem Text überhaupt zum ersten Mal auftaucht, die Bürde auf, mit dem Einsatz der Sprache – als Medium des po(i)etischen Ausdrucks von Ideen – die jeder Dialektik zugrundeliegende Aporie einer operationalisierbaren Differenzierung des Selbst aufzuspannen. Laut Hegel kann das „Unbedingt-Allgemeine“, welches das „Wesen der Natur“ ist, in der Sprache für ein Subjekt nur dann die „Gestalt des Inhalts“ annehmen, wenn dafür ein „allgemeines Medium vieler bestehender Materien“ als ein Ganzes denkbar ist, nämlich als ein die Dialektik konzeptuell ermöglichender Bezugszusammenhang zwischen menschlichem Bewusstsein, Natur, Technik und Geschichte: Weil aber dies Unbedingt-Allgemeine [für sich zu sein und zu Anderem sich zu verhalten] Gegenstand für das Bewusstsein ist, so tritt an ihm der Unterschied der Form und des Inhalts hervor, und in der Gestalt des Inhalts haben die Momente das Aussehen, in welchem sie sich zuerst darboten, einerseits allgemeines Medium vieler bestehender Materien und andererseits in sich reflektiertes Eins, worin ihre Selbständigkeit vertilgt ist, zu sein (PhG, 109).

Diese bei Hegel verklausuliert ausgesprochene und praktizierte Ineinssetzung von ‚Sprache‘ und ‚allgemeinem Medium‘ als Gegenstand und Telos der philo-

60 Platon: Sophistes 263e. 61 „Die Sprache selbst ist das Vehikel des Denkens“. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 384. Vgl. Kamecke: Spiele mit den Worten. 62 Hegel: Das älteste Systemprogramm, S. 235. Vgl. Kittler: Philosophien der Literatur, S. 163-181. 63 McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 126.

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sophischen Begriffe ist von Kittler als „Ästhetik“ kritisiert worden. Für den Messias der Materialisten stellt die „Sprachbasis“ der hegelschen Philosophie „nicht nur sicher, dass die von der ‚Phänomenologie‘ beschriebenen Gestalten des Geistes […] ein angemessenes Medium haben, sondern dass sich auch das Verhältnis zwischen sämtlichen Geistesgestalten einerseits und ihrem Interpreten Hegel andererseits als Drama sprachlich artikuliert“.64 Die ‚Gretchenfrage‘ der Mediologie – um das geflügelte Wort, das Goethe ein Jahr nach der Phänomenologie des Geistes im ersten Faust (1808) geprägt hat, auf unseren Gegenstand zurückzuführen – besteht jedoch weniger in der Form als im Inhalt jener medialen Bewegung der Sprache und des Weltbezugs (als Selbstbewusstsein oder transzendental externalisiertes ‚Sich‘), mit denen das menschliche Denken der technischen Revolution und dem historischen Ereignis der Verselbständigung und Automatisierung von sinnlicher Wahrnehmung begegnen wird. Hier ist die (metonymische) Reduktion der Phänomenologie des Geistes auf die mediale Verfasstheit eines „versteckten Zettelkastens“65 schlicht kontraintuitiv. Hegels Medienbegriff avant la lettre zeigt, dass das erkenntnistheoretische Problem der Mediologie in ihrem (menschliches) Bewusstsein und Selbstreflexion ermöglichenden Master-Medium aller Medien begründet liegt, nämlich der als Dasein des Geistes „unmittelbar vorhandenen“ (PhG, 478) Sprache selbst. Hegels dialektisches Denken gibt der Mediologie auf, die Befreiung des modernen Knechts aus den Fesseln der technischen Automatisierung im Medium eines allgemeinen Begriffs von der fundamentalen Beziehung zwischen der natürlichen Welt und dem ‚Anderen‘ ihrer Reflexion zu implementieren, d.h. in einer Sprache, die zukünftigen Lesern die Möglichkeit von wahren Ereignissen – im Bereich der Politik, der Wissenschaft, der Kunst und der Liebe66 – zumindest anheimstellt. In „historische Welt“ wandelt sich die Natur schließlich nur durch den „Kampf“, das heißt durch „Aneignung der Negation, die sich in der Arbeit verwirklicht“.67 Die Arbeit der Mediologie ist jedoch keine Ästhetik, sondern die Kunst der Sprache, das erste Wort der Differenz, die es zu bewahren gilt, zwischen dem Herrn und der Maschine.

64 Kittler: Philosophien der Literatur, S. 168. „Durch die Einbeziehung der Sprache […] ist philosophische Dichterinterpretation keine bloß regionale Anwendung einer Ontologie mehr, Ontologie und Interpretation werden vielmehr eins“ (ebd., S. 183-184). 65 Kittler: Memories are made of you, S. 197. 66 Vgl. Badiou: Das Sein und das Ereignis, S. 542. 67 „Quand la Nature se transforme en Welt (monde historique)? Quand il y a Lutte, c’està-dire risque voulu de mort, apparition de la Négativité, qui se réalise en tant que Travail.“ Kojève: Introduction, S. 66, Herv. i. T.

Das Medium ist das Wort

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Das Medium ist das Wort

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Außerhalb des inneren Wortes Die Erfindung der Sprache diesseits und jenseits des Menschen bei Herder Hajnalka Halász

Das Konzept des „inneren Wortes“, dessen Tradition Gadamer im dritten Teil von Wahrheit und Methode aufgreift, ist wohl eine der überzeugendsten Antworten auf die Herausforderung, vor die das philosophische Denken von der Erfahrung der – dichterischen, literarischen oder im strengen Sinne schriftlichen – Sprache gestellt wird. Auf der Suche nach den Möglichkeiten, die dabei erfahrene eigenartige Untrennbarkeit von Sinn und Laut auf entsprechend authentische Weise zur Sprache zu bringen, kehrt Gadamer zum Anfang des Sprachdenkens, zu dessen erstem und einflussreichstem Dokument, zu Platons Kratylos, zurück, aber nicht affirmativ, sondern vielmehr mit kritischer Absicht. Denn obwohl Platon bezüglich der Frage nach dem Verhältnis zwischen Wort und Sache sowohl die konventionalistische Theorie als auch die Idee der natürlichen Übereinstimmung widerlegt (die Frage nach der Richtigkeit oder eben Falschheit des Wortes verfehlt seine sachliche Wahrheit), „weicht Plato“ – so Gadamer – „vor dem wirklichen Verhältnis von Wort und Sache“ „offenkundig zurück“1 und klammert das Problem der Sprache aus, insofern er das Erkennen der Ideen dem stummen Selbstdialog der Seele, d.h. dem dialektischen Denken, das auch ohne Worte auskommt, überlässt. Somit ist die Sprache für ihn zwar ein dialektisches, aber kein immanentes, sondern ein äußerlich-kontingentes Moment des Denkens. Diese Trennung der Sprache vom Denken setzt implizit, wie dies in der Wirkungsgeschichte des platonschen Sprachdenkens mit der Zeit immer offensichtlicher wird, eine repräsentationsgebundene und zeichenhafte Auffassung der Sprache voraus bzw. führt zu deren Annahme. „Das Wort nennt aber“ –

1

Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 411.

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schreibt Gadamer – „auf eine viel innigere oder geistigere Weise die Sache, als daß Ähnlichkeitsabstand, ein Mehr oder Minder des richtigen Abbildens, hier statthätte.“ [Hervorhebung – H.H.]2 Da das Verhältnis von Wort und Sache nicht sinnlich-äußerlicher, sondern geistiger und deshalb inniger Natur ist, hat laut Gadamer die Frage, ob Worte Sachen entsprechen, streng genommen keinen Sinn.3 Denn es ist gerade der Sinn der Rede, der sich im weder falschen noch richtigen, sondern – zwischen diesen beiden vermittelnden – „wahren“ Verhältnis erschließt: „Die ‚Wahrheit‘ des Wortes liegt freilich nicht in seiner Richtigkeit, seiner richtigen Anmessung an die Sache. Sie liegt vielmehr in seiner vollendeten Geistigkeit, d.h. dem Offenliegen des Wortsinnes im Laut.“4 Wegen des Ausschlusses der Sprache aus dem dialogischen Erkenntnisvorgang erkennt also Gadamer im Kratylos den Anfang eines Sprachdenkens, das durch seine Reduktion auf bloße Zeichen im sprachlichen „Ideal der Aufklärung des achtzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts“5 bzw. in der Idee eines dem Denken unterworfenen und diesem dienenden (in der Sprache des 20. Jahrhunderts: technischen) Symbolsystem zu seiner vollen Entfaltung kommt. Deshalb versuchen die einzelnen Kapitel von Wahrheit und Methode, eine Art von Gegentradition aufzuspüren und diese wieder zur Sprache bzw. zur Geltung zu bringen. Eine der wichtigsten Gegenstimmen, die der Vergegenständlichung des Sprachvorgangs von vornherein widersteht, entdeckt Gadamer im Konzept des inneren Wortes. Zur Erklärung der nicht-sinnlichen, auf konventionellem Weg nicht-beurteilbaren, trotzdem gleichsam zwingenden „Wahrheit“ und der „absoluten Perfektion“6 des Wortes wendet sich Gadamer an die christliche Idee der Inkarnation, die „die geheimnisvolle Einheit von Vater und Sohn“7 durch das Verhältnis des Gedankens zum inneren/äußeren Wort zu demonstrieren versuchte. Demnach erfolgt die Bildung des inneren Wortes in zwei parallelen, wechselseitigen und voneinander untrennbaren Prozessen. Während sich das Wort erst im Denken des Gedankens entfaltet und dadurch gleichsam zustande kommt, ist das Wort in Wahrheit nichts anderes als „der Vollzug der Erkenntnis selbst“.8 Da

2 3

Ebd., S. 414. Ebenfalls ist es „sinnlos, von der Wahrheit des Wortes zu sprechen, wo es doch ganz in dem aufgeht, was die Rede meint. Es wäre kein Wort mehr, wenn es falsch sein könnte.“ Gadamer: Von der Wahrheit des Wortes, S. 37.

4

Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 415.

5

Ebd., S. 418.

6

Ebd., S. 415.

7

Ebd., S. 424.

8

Ebd., S. 428.

Außerhalb des inneren Wortes | 211

das an sich endliche, „unvollkommene“ Denken sich selbst nie gegenwärtig ist, bedarf es einer Vermittlung zu sich selbst, d.h. einer „inneren Selbstaussprache“,9 in der es für sich selbst erscheint. „In diesem Sinne ist alles Denken ein Sichsagen.“10 Das Wort ist keine nachträgliche Abbildung des Denkens. Denn den Gedanken gibt es nur im Wort, während das Wort vom Denken gegeben wird: Auch in diesem Sinne kann man „in Verbindung mit dem inneren Wort, im Modus eines zweifachen Genitivs, von Gabe sprechen“.11 Den spekulativen und nicht-reflexiven Charakter des (sich) bildenden Wortes veranschaulicht Gadamer bekanntlich durch Thomas von Aquins Spiegelvergleich. Das Wort wie das Spiegelbild „hat kein Sein für sich, es ist wie eine ‚Erscheinung‘, die nicht es selbst ist und die doch den Anblick selbst spiegelbildlich erscheinen läßt.“12 Zur Erläuterung dieser unfassbaren Seinsweise des Wortes ruft Gadamer die Gedanken von W. von Humboldt, dem „Schöpfer der modernen Sprachphilosophie“,13 zur Hilfe und denkt in den folgenden Kapiteln die Definition der Sprache als Weltansicht im Blick auf die hermeneutische Erfahrung der Tradition weiter. Während sich das innere Wort im Kontext der sprachphilosophischen Tradition durch seinen nicht-sinnlichen und nicht-greifbaren Charakter auszeichnet, treten bei der Behandlung der Probleme des eminenten oder literarischen Textes seine performativen Züge in den Vordergrund. Durch die ursprüngliche Wiedervereinigung von Wort und Sinn „im inneren Ohr“14 des Lesers, die sich ebenso als eine Art innere Selbstaussprache vollzieht, wird das Wort selbst zum stiftenden Ursprung einer inneren Rede, die „eine normative Funktion [ausübt]“ und „weder auf eine ursprüngliche Rede noch auf die Intention des Redenden zurückweist, sondern […] in ihm selbst entspringt“.15 Die gleichsam ursprüngliche, an sich jedoch keineswegs selbstverständliche Verbindung von Sprache und Gehör im inneren Wort als der idealen Sphäre des Verstehens ist bei Gadamer nicht anthropologisch, sondern vielmehr durch einen Traditionszusammenhang motiviert. Den Ursprung dieser Verbindung könnte man unter anderem beim wichtigsten Vorbild seines Sprachdenkens, in den – mit Wahrheit und Methode ungefähr zur gleichen Zeit entstandenen – sprachphilosophischen Schriften des späten Heideggers entdecken, in denen dem Hören eine

9

Ebd., S. 426.

10 Ebd. 11 Lőrincz: Das „innere Wort“, S. 70. 12 Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 470. 13 Ebd., S. 443. 14 Gadamer: Text und Interpretation, S. 352. 15 Ebd., S. 352.

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genauso zentrale Rolle zukommt.16 Auch bei Heidegger ist die Definition des Hörens als „Aufriß“ bzw. „Sprechen“ der Sprache17 nicht im anthropologischen Sinne zu verstehen. Diese Schlüsselbegriffe der beiden Sprachtheorien versuchen nämlich gerade die Oppositionen von Mensch und Sprache sowie Natürlichem und Konventionellem, Sinnlichem und Geistigem, Organischem und Technischem zu unterwandern. Wie Derrida gezeigt hat, ist der Begriff des Hörens bei Heidegger mit dem Problem der Schrift latent verbunden; die Ursprünglichkeit des Verhältnisses zwischen Sprache und Denken kann von der ursprungslosen bzw. den Ursprung teilenden Schrift sowie vom Gehör des Anderen her in Frage gestellt werden;18 und dies lässt sich auch in Gadamers Konzept des inneren Wortes zeigen.19 Sucht man über die sprachtheoretische Bedingung dieser Verbindung hinaus nach ihrem geschichtlichen Ursprung, stößt man auf einen latenten, eher durch mündliche Überlieferung als markierte Zitate wirkenden Ursprung20 der herme-

16 Zum Begriff des Hörens bei Heidegger siehe: Espinet: Phänomenologie der Hörens. 17 Heidegger: Der Weg zur Sprache. 18 Derrida: Heideggers Ohr. 19 Siehe dazu: Kulcsár-Szabó: Az „eminens szöveg“ fogalma Gadamernél. 20 Die „anonyme“ Überlieferung von Herders Gedanken ist ein eigenartiges Merkmal und – seit Anfang der achtziger Jahre – auch die Triebfeder dieser Rezeptionsgeschichte. Dies wird in der Fachliteratur oft durch das unüberschaubar und unsystematisch wirkende Oeuvre Herders erklärt: Vgl. Heise: Johann Gottfried Herder zur Einführung, S. 7; Taylor: Zur philosophischen Bedeutung Johann Gottfried Herders; Simon: Das Gedächtnis der Interpretation, S. XV-XVI. Zur Rezeption Herders in der Hermeneutik siehe: Cercel: Herder und die Geschichte der Hermeneutik. Von Herders Wirkung auf die Sprachphilosophie Heideggers zeugen – über die offensichtliche Verwandtschaft mit dem „mehrschichtigen“ Sprachbegriff von Der Weg zur Sprache hinaus – die posthum veröffentlichten Notizen eines Seminars über die Abhandlung von 1939 (Heidegger: Vom Wesen der Sprache). In diesem Fall kann man aber nicht die Tatsache außer Acht lassen, dass es sich hierbei um Seminarnotizen und nicht eine vom Autor autorisierte Lektüre handelt. Dies kann einerseits auf die Problematik der schriftlichen Überlieferung zwischen der „Wahrheit“ des Wortes und der konventionellen Autorität aufmerksam machen, andererseits die – vermutlich produktiveren und bedeutsameren – Parallelen zwischen der Abhandlung und Heideggers späten Schriften in den Vordergrund stellen, deren Analyse wiederum eine genaue Lektüre der Abhandlung erfordern würde. Über das Verhältnis der Sprachauffassungen von Herder und Heidegger liegen bisher keine textnahe Lektüren vor. Eine Ausnahme bildet der Beitrag von Julia Jones, der – allerdings ohne auf die

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neutischen Sprachtheorien: auf Herder und seine Abhandlung über den Ursprung der Sprache von 1772. Diese beschreibt nämlich die (nicht im genealogischen Sinne historische) Entstehung der Sprache als eine Art von schaffender Übersetzung, und zwar durch das menschliche Gehör, das die Sprache der Natur in den „Kreis“ des Menschen oder die „Sphäre“ des inneren Wortes überführt. Die teilweise Herleitung der Sprache aus der „Sprache“ der Natur bzw. den tierischen Lautäußerungen hängt natürlich mit dem unmittelbaren geschichtlichen Kontext der Abhandlung zusammen: das heißt mit der Frage nach dem Unterschied zwischen Tier und Mensch, Natur und Kultur bzw. Naturhaftem und Konventionellem. Durch die Klärung des Verhältnisses von Natur- und Menschensprache stellt Herder jedoch gerade diese kartesischen Oppositionen in Frage. Dieses ursprünglich menschliche Verhältnis entfaltet sich innerhalb einer zirkelhaften Struktur, und zwar durch die Interpretation des empirischen Unterschieds von Tier und Mensch: „[D]a die Menschen für uns die einzigen Sprachgeschöpfe sind, die wir kennen, und sich eben durch Sprache von allen Tieren unterscheiden, wo finge der Weg der Untersuchung sichrer an als bei Erfahrungen über den Unterschied der Tiere und Menschen?“21 Was also in der Abhandlung zur Sprache gebracht, ausgedrückt oder übersetzt werden soll, ist nichts anderes als die Erfahrung oder besser: die gleichsam sprachlich-dichterische Erfindung22 der Grenze, die den Menschen vom Tier trennt. Die menschliche Sprache entsteht durch das (Wieder-)Erkennen der eigenen Grenzen, des Merkmals, d.h. der Sprache des Menschen. Wie ich im Folgenden am Beispiel der Abhandlung zeigen möchte, markiert die Differenz zwischen den Begriffen von Tier und Mensch nicht nur den inneren Ursprung, sondern auch die äußeren Grenzen einer Sphäre (des inneren Wortes, des Hörens und der Sprache), in der sich die hermeneutischen Sprachtheorien entfalten. Die vorliegende Lektüre versucht zuerst, die argumentativen Schritte der Abhandlung in groben Umrissen zu rekapitulieren, um im Anschluss von den inneren Ambivalenzen der tierischen, natürlichen bzw. dichterischen Sprache her die bei Gadamer in den Hintergrund geratenen Grenzen des inneren

(nicht nur philologischen) Probleme hinzuweisen – von den Seminarnotizen auf Heideggers „durchweg unzutreffende Herder-Kritik“ schließt bzw. „methodische“ Ähnlichkeiten in Hinsicht auf die Phänomenologie des Wortes zwischen den beiden Autoren feststellt. Jonas: Zur Phänomenologie und Ontologie des Wortes, S. 162. 21 Herder: Über den Ursprung der Sprache, S. 105. 22 „Was ist Sprache? Diese Besonnenheit ist ihm charakteristisch eigen und seiner Gattung wesentlich, so auch Sprache und eigne Erfindung der Sprache. Erfindung der Sprache ist ihm also so natürlich, als er ein Mensch ist!“ Ebd., S. 115.

214 | Hajnalka Halász

Wortes aufzuzeigen. Durch die ambivalenten Figuren der Tiere (des Wolfes und des Lammes) werden nicht nur die Kategorien des Naturhaften bzw. des Lebendigen und des Konventionellen in Hinsicht auf die Sprachlichkeit der Erfahrung in ein anderes Licht gestellt bzw. revidiert, sondern wird sich auch Herders Schrift als ein historisches Dokument für die stillschweigende Verbindung von Wahrheit und Moral erweisen, die sich aus dem Konzept des inneren Wortes als eine unbemerkbare und zugleich unvermeidliche Konsequenz ergibt.

I.

DIE SPRACHE DER TIERISCHEN UND DER MENSCHLICHEN NATUR IN DER ABHANDLUNG ÜBER DEN URSPRUNG DER SPRACHE

1.

Ton und Gefühl

Herder beginnt seine Beweisführung mit der teilweisen Identifizierung von Tier und Mensch bzw. tierischer und menschlicher Sprache: „Schon als Tier hat der Mensch Sprache.“23 Diese tierische – im eigentlichen Sinne noch keine – „Sprache“ beruht auf einem „Naturgesetz“: der mechanischen Reaktion oder Affektivität des Körpers als „einer empfindsamen Maschine“,24 welches Gesetz Tier und Mensch gleichsam widersprüchlich, da ohne gemeinsames Merkmal miteinander gleichsetzt: Lasset sie uns jetzt im ganzen als ein helles Naturgesetz annehmen: Hier ist ein empfindsames Wesen, das keine seiner lebhaften Empfindungen in sich einschließen kann, das im ersten überraschenden Augenblick, selbst ohne Willkür und Absicht, jede in Laut äußern muß.25

Obwohl diese Sprache, die die Gefühle und Empfindungen unmittelbar und unabsichtlich zeigt bzw. „klingt“ und „einer gleichfühlenden Echo [ruft], selbst wenn keine da ist, selbst wenn sie nicht hoffet und wartet, daß ihr eine antworte“,26 eine einseitige, nicht-kommunikative Äußerung ist, ist diese Richtung laut dem Gesetz der Natur umkehrbar, wodurch nicht nur Empfindungen Töne, sondern auch Töne Empfindungen hervorrufen können: „Da unsre Töne der

23 Ebd., S. 91. 24 Ebd., S. 101. 25 Ebd., S. 92. 26 Ebd.

Außerhalb des inneren Wortes | 215

Natur zum Ausdrucke der Leidenschaft bestimmt sind, so ist’s natürlich, daß sie auch die Elemente aller Rührung werden!“27 2.

Die Sphäre der Sinne

Nach der Charakterisierung ihrer gemeinsamen Sprache kommt Herder zur Analyse der Sinne und versucht die wesentliche Verschiedenheit des Menschen von der „Sphäre der Tiere“28 her aufzuzeigen. Nun ist es aber nicht die Verbindung von Ton und Gefühl, sondern das Verhältnis der Sinne und der von ihnen erschaffenen Welt, das die Grundlage des Vergleichs ist, der diesmal also nicht zur Gemeinsamkeit, sondern einem grundlegenden Unterschied zwischen Tier und Mensch führt. Zwischen den Sinnen und dem „Kreis“29 der Tiere sieht Herder ein umgekehrtes Verhältnis: Je einseitiger und schärfer die Sinne einer Tierart sind, desto intensiver zeigen sich ihre „Kunsttriebe“30 und „Instinkte“31 bzw. desto enger ist die „Größe und Mannigfaltigkeit ihres Würkungskreises“:32 „Die Spinne webet mit der Kunst der Minerva, aber alle ihre Kunst ist auch in diesen engen Spinnraum verwebet, das ist ihre Welt. Wie wundersam ist das Insekt und wie enge der Kreis seiner Würkung!“33 Wie das Zitat zeigt, schreibt Herder den Sinnen auch bei den Tieren keine passiv-rezeptive, sondern vielmehr eine aktiv-schaffende, weltbildende Rolle zu: Sie vermitteln keine von ihnen unabhängige Außenwelt, sondern schaffen „Kunstwerke.“34 Der Kreis dieser einseitigen und gleichsam blind schaffenden Tätigkeit definiert die – für die Tiere jedoch nicht erfahrbare – Grenzen ihrer Welt.

3.

Die menschliche Sprache

Die Differenzierung der Sinne hat zwar auch beim Menschen ihre Abstumpfung und dafür die Erweiterung der Sphäre zur Folge, jedoch richtet sich ihre schaf-

27 Ebd., S. 99. 28 Ebd., S. 105. 29 Ebd. 30 Ebd., S. 106. 31 „Und wenn endlich Sinne und Vorstellungen auf einen Punkt gerichtet sind, was kann anders als Instinkt daraus werden?“ Ebd. 32 Ebd. 33 Ebd. 34 Ebd., S. 105.

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fende Arbeit nicht nach außen (durch die Produktion von Lauten oder instinkthaften „Kunstwerken“), sondern nach innen bzw. auf sich selbst, welche Innensphäre erst durch diese Umkehrung entsteht und sich bewusst wird: Da er auf keinen Punkt blind fällt und blind liegen bleibt, so wird er freistehend, kann sich eine Sphäre der Bespiegelung suchen, kann sich in sich bespiegeln. Nicht mehr eine unfehlbare Maschine in den Händen der Natur, wird er sich selbst Zweck und Ziel der Bearbeitung.35

Diese „ganze Haushaltung seiner Natur“36 ist es, was Herder „Verstand, Vernunft, Besinnung“37 bzw. „Reflexion“38 nennt. Das Denken als ein Dialog der Seele mit sich selbst39 charakterisiert also das innere Verhältnis des Denkens mit dem Gehörsinn. Deshalb ist der Ursprung der menschlichen Sprache bei Herder nicht die Fähigkeit der (äußeren, tierischen) Lautbildung, sondern die Wortbildung als eine gemeinsame Arbeit von Sprache und Denken bzw. Sinnen und Vernunft. Das innere Wort der Seele nennt Herder ein Merkmal, das durch die Reflexion aus dem „Ozean von Empfindungen“40 herausdifferenziert und somit als eine erkennbare Eigenschaft wiederholbar wird. Dieser Vorgang, den Herder durch die Parabel vom Menschen veranschaulicht, der das Lamm an seinem Blöken wiedererkennt, ist wohl eine der bekanntesten, jedoch rätselhaftesten Textstellen der Abhandlung. Im bisherigen Zusammenhang ist zunächst nur ein Aspekt hervorzuheben: und zwar die Verbindung des inneren Wortes mit dem tierischen Laut. Diese Verbindung weist nämlich schon auf den ersten Blick über den soeben beschriebenen inneren, reflexiven Ursprung des Wortes hinaus, indem hier das Wort nicht durch das Wechselverhältnis mit dem Denken, sondern durch das Hervorspringen und die Wiederholung eines Lautes entsteht: Lasset jenes Lamm, als Bild sein Auge vorbeigehn, […] es steht da, ganz wie es sich seinen Sinnen äußert: weiß, sanft, wollicht. Seine besonnen sich übende Seele sucht ein Merkmal – das Schaf blöket, sie hat Merkmal gefunden. Der innere Sinn würket. Dies Blöken, das

35 Ebd., S. 110. 36 Ebd., S. 112. 37 Ebd., S. 110. 38 Ebd., S. 115. 39 „Ich kann nicht den ersten menschlichen Gedanken denken, nicht das erste besonnene Urteil reihen, ohne daß ich in meiner Seele dialogiere oder zu dialogieren strebe“. Ebd., S. 126. 40 Ebd., S. 115.

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ihr am stärksten Eindruck macht, das sich von allen andern Eigenschaften des Beschauens und Betastens losriß, hervorsprang, am tiefsten eindrang, bleibt ihr. Das Schaf kommt wieder: weiß, sanft, wollicht; sie sieht, tastet, besinnet sich, sucht Merkmal – es blökt, und nun erkennet sie’s wieder! „Ha! du bist das Blökende!“ fühlt sie innerlich, sie hat es menschlich erkannt, da sie’s deutlich, das ist mit einem Merkmal, erkennet und nennet. […] Deutlich unmittelbar, ohne Merkmal? so kann kein sinnliches Geschöpf außer sich empfinden, da es immer andre Gefühle unterdrükken, gleichsam vernichten und immer den Unterschied von zween durch ein drittes erkennen muß. Mit einem Merkmal also? und was war das anders als ein innerliches Merkwort? Der Schall des Blökens, von einer menschlichen Seele als Kennzeichen des Schafs wahrgenommen, ward kraft dieser Bestimmung Name des Schafs, und wenn ihn nie seine Zunge zu stammeln versucht hätte.41

Demnach ist das innere Wort rezeptiv und produktiv zugleich, ein gehörtes und zugleich gesagtes Wort. Durch diese Untrennbarkeit bzw. Doppelheit wird nicht nur verhindert, dass das Wort als solches Gegenstand der Beobachtung wird, sondern wird ihm auch ein Widerstand verliehen, durch den der Mensch „sich in sich bespiegeln“42 kann. Die performative Leistung des Gehörs besteht also darin, dass es den tierischen, hier aber nicht mehr äußeren, sondern inneren Laut als Merkmal verinnerlicht und erkennt bzw. wiederholt und benennt und somit in ein Wort übersetzt. Diese neu entdeckte Disposition des Menschen stellt in den folgenden Kapiteln auch die tierische Sprache der Empfindungen in eine neue, zweifache Perspektive: Während die zitierte Textstelle die Möglichkeit der Entstehung der menschlichen Sprache als ein dialogisches Verhältnis von Merkmal und Wort, Erkennen und Benennen, d.h. Denken und Sprache darstellt, setzt die Frage nach dem Ursprung der ersten, tatsächlichen Merkmale die Idee einer darüber hinauszeigenden Sprache voraus: So wie aber aus den bloßen Tönen der Empfindung nie menschliche Sprache entstehen konnte, die dieser Gesang doch war, so fehlt noch etwas, ihn hervorzubringen, und das war eben die Namennennung eines jeden Geschöpfs nach seiner Sprache […], Ausdruck der Sprache aller Geschöpfe innerhalb der natürlichen Tonleiter der menschlichen Stimme!43

41 Ebd., S. 116. 42 Ebd., S. 110. 43 Ebd., S. 134.

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4.

Die Sprache der (menschlichen) Natur

Ähnlich dem hörend-sagenden, rezeptiv-produktiven, intransparent-transparenten und spiegelhaften Charakter des inneren Wortes wird von Herder auch die Sprache der Natur widersprüchlich beschrieben. Aber während im inneren Wort die „Haushaltung“ von Sprache/Gehörsinn und Denken/Gedanken durch ein „Merkmal“, d.h. die Möglichkeit der Unterscheidung bzw. des Erkennens eines Unterschiedes geregelt wird („den Unterschied von zween durch ein drittes“ – ein Merkmal – „erkennen“), ist das Gehör, das von der Sprache der Natur angesprochen und gelehrt wird bzw. das diese Sprache schaffend-künstlerisch übersetzt, gerade durch das Fehlen eines Merkmals und die Unfähigkeit, Ähnlichkeit und Verschiedenheit zu erkennen, bestimmt. Die schaffende und dem inneren Wort vorausgehende Leistung dieses Hörens wird von Herder in den letzten beiden Kapiteln des ersten Teils seiner Abhandlung durch zwei als „dichterisch“ bezeichnete und letztendlich miteinander verwechselbare Vorgänge beschrieben. Denn die Personifizierung der Töne der Natur und der tönende Ausdruck der Empfindungen beruhen gleicherweise auf einer chiastischen Struktur: der Verinnerlichung und der gleichzeitigen Projektion, der vertauschend-verkennenden Wiederholung, d.h. der Kontamination der beiden Definitionen der tierischen Sprache.44 Die ersten Merkmale sind nach Herder teilweise durch die Personifi-

44 Ulrich Gaier interpretiert Herders Abhandlung in seiner Monographie, die inzwischen zu einem Grundwerk der Herder-Fachliteratur geworden ist, als die Manifestation eines mnemotechnischen Gesetzes bzw. die „Anwendung der Schöpfungshieroglyphe“ (Gaier: Herders Sprachphilosophie und Erkenntniskritik, S. 86), deren Konzept Herder in Älteste Urkunde des Menschengeschlechts entwickelt. Entsprechend diesem Muster, das zwei dialektische und eine synthetische Position umfasst, unterscheidet Gaier in der Abhandlung sieben Sprachursprünge bzw. Begriffe der Sprache. Herders Ziel bestehe demnach darin, die verschiedenen sprachtheoretischen Traditionen, auf die er in seiner Schrift Bezug nimmt, in dieser Figur zusammenzufassen bzw. miteinander zu versöhnen. Die Gegensätze der Natursprache (zwischen der Sprache der Empfindungen und dem alle Lebewesen umfassenden Naturband) werden durch die Totalität des „Lebensgeistes“ oder „Othem Gottes“ überbrückt (ebd., S. 91-94), die Spannung von Laut und Wort in der menschlichen Sprache wird durch die Disposition des menschlichen Geistes aufgelöst (ebd., S. 127-132). Die weiteren Widersprüche des Textes, die wohl alle seiner geduldigen Leser vor eine echte Herausforderung stellen, lassen sich laut Gaier ebenso durch diese Figur erklären. Dieses Erklärmuster steht mit dem Herder-Bild der Fachliteratur durchaus im Einklang, nach dem sein Verdienst vor allem darin bestehe, eine Synthese zwischen sich gegenseitig ausschlie-

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zierung der Töne der Natur entstanden: „Indem die ganze Natur tönt, so ist einem sinnlichen Menschen nichts natürlicher, als das sie lebt, sie spricht, sie handelt.“45 Die Idee des „Menschen“, der „aus Tönen lebender Natur“ „sich selbst Sprache [erfand]“,46 entspricht jedoch nur zum Teil der ursprünglichen herderschen Definition des Menschlichen. Denn die Verbindung des Tones mit einem Gefühl, d.h. einer Intention,47 muss noch vor dem Erkennen des Unterschiedes der beiden, durch eine blinde, unreflektierte und einseitige Laut- bzw. Gefühl-Äußerung erfolgen. Diese Stufe der (dichterischen, aber noch nicht im eigentlichen Sinne menschlichen) Schöpfung der Sprache ist in gewissem Sinne nichts anderes als eine Art Selbstdialog der Seele, der jedoch auf einer falschen Identifizierung beruht. Dadurch kommt diese schaffende Arbeit mit der Sprache jener Tiere in eine metonymische Berührung, die durch ihre eigenen Sinne und „Kunsttriebe“48 sich selbst nach außen projizieren und sich ununterscheidbar in ihr eigenes „Kunstwerk“ verwickeln. Das spiegelverkehrte Pendant dieses Vorgangs: der tönende Ausdruck der Empfindungen entwickelt sich ebenso nach metonymischen Mustern. Gegen die

ßenden Traditionen zu schaffen. Die Lektüre von Ralf Simon, die die Abhandlung im Blick auf ihre „implizite Hermeneutik“ rekonstruiert (Simon: Das Gedächtnis der Interpretation, S. 158), folgt ebenfalls dialektischen Mustern. Herders Interpretationstheorie wird nach Simon durch zwei Grundpositionen geprägt, die in den strukturell aufeinanderfolgenden Sprachursprüngen sich selbst aufhebend wiederholt werden: Das Zusammenspiel von Einfühlung und Polemik, antimonadischer Sprache der Mündlichkeit und monadischer Sprache der Schriftlichkeit treibt die Dialektik der Erzählung voran. Somit werden die verschiednen Ursprungstheorien als Aspekte der Sprache und des Verstehens „in eine Sprachtheorie integriert, die in dialektischen Aufhebungs- und Überbietungsschritten die Hermeneutiken der Monadizität und der Antimonadizität ineinander vermittelt.“ Ebd., S. 188. Es bleibt jedoch fraglich, inwiefern man zum Erschließen der sprachtheoretischen Voraussetzungen der Abhandlung über den Text selbst hinaus ein (dialektisches und dem Text äußerliches) Erklärungsprinzip braucht bzw. ob diese Figuren nicht gerade die Widersprüche neutralisieren, die sie erklären sollten und somit die Triebfeder der Erzählung verdecken. 45 Herder: Über den Ursprung der Sprache, S. 130. 46 Ebd., S. 128. 47 „Indem der Mensch alles auf sich bezog, indem alles mit ihm zu sprechen schien und würklich für oder gegen ihn handelte, indem er also mit oder dagegen teilnahm, liebte oder haßte und sich alles menschlich vorstellte – alle diese Spuren der Menschlichkeit druckten sich auch in die ersten Namen.“ Ebd., S. 130. 48 Ebd., S. 105.

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Hypothese einer aus den Tönen der Natur erfundenen Sprache ließe sich zwar einwenden, dass „nicht alle Gegenstände tönen“.49 Aber die Empfindungen entspringen nach Herder nicht der Wahrnehmung einer objektiven Welt, sondern den Zusammenhängen bzw. Berührungen der menschlichen Sinne: Wie hängt Gesicht und Gehör, Farbe und Wort, Duft und Ton zusammen? Nicht unter sich in den Gegenständen. Aber was sind denn diese Eigenschaften in den Gegenständen? Sie sind bloß sinnliche Empfindungen in uns – und als solche, fließen sie nicht alle in eins?50

Nach Herders synästhetischer Erkenntnistheorie lassen sich alle Eindrücke wegen der benachbarten Lage der menschlichen Sinne auf die Berührung von diesen untereinander und ein dadurch ausgelöstes Gefühl zurückführen: „Allen Sinnen liegt Gefühl zum Grunde, und dies gibt den verschiedenartigen Sensationen schon ein so inniges, starkes, unaussprechliches Band, daß aus dieser Verbindung die sonderbarsten Erscheinungen entstehen.“51 Deshalb kann es sein, dass die in der dunklen Gegend der Sinne herumtastende Seele während der Wortbildung gleichsam danebengreift: „Die Seele, die im Gedränge solcher zusammenströmenden Empfindungen und in der Bedürfnis war, ein Wort zu schaffen, griff und bekam vielleicht das Wort eines nachbarlichen Sinnes, dessen Gefühl mit diesem zusammenfloß“.52 Die assoziative bzw. zufällige Verbindung von Ton und Gefühl basiert auch in diesem Fall auf einem Chiasmus von unmittelbar aneinander angrenzenden, ununterscheidbaren Gebieten, einerseits zwischen Sinn und Gefühl („denn was sind ursprünglich alle Sinne anders als Gefühl?“53), andererseits zwischen den einzelnen Sinnen: Allein auf der einen Seite [des Gehörs – H.H.] liegt das Gefühl nebenan, auf der andern ist das Gesicht der nachbarliche Sinn, die Empfindungen vereinigen sich und kommen also alle der Gegend nahe, wo Merkmale zu Schällen werden. So wird, was man sieht, so wird, was man fühlt, auch tönbar.54

Jeder benachbarte Sinn entspricht einer Grenze bzw. deren Berührung oder Gefühl, das ohne ein vermittelnd-unterscheidendes Merkmal nicht in der Lage

49 Ebd., S. 135. 50 Ebd., S. 136. 51 Ebd. 52 Ebd., S. 138. 53 Ebd., S. 138. 54 Ebd., S. 140.

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ist, zwischen sich selbst und seinem Nachbarn bzw. Wirkung und Ursache zu unterscheiden. Diese „dichterisch-natürliche“ Sprache der (menschlichen) Natur ist in diesem Sinne nicht mehr tierisches, aber noch kein menschliches Werk.

II.

DER WOLF UND DAS LAMM

Auch die Dichtung wird von Herder – im Gegensatz zu den normativen Poetiken der Aufklärung und entsprechend den romantischen Kunsttheorien – als eine ursprüngliche Sprache (und zugleich als eine „Philosophie über die Naturgesetze“ [!]55) beschrieben, die durch die Seele, oder genauer: die „poetische“ Tätigkeit des „inneren Sinnes“ entsteht.56 Die Ursprünglichkeit der Dichtung ist wiederum im doppelten Sinne zu verstehen: Einerseits entspringt jede Sprache der Sprache der Dichtung, die somit die erste Sprache bzw. die Muttersprache der Menschheit ist. Andererseits können Sprachen jederzeit wieder zur Dichtung werden, da sich die Dichtung durch ihre Nähe zum Ursprung (zu den menschlichen Sinnen) auszeichnet. Obwohl die genealogische Entwicklung bzw. Bildung der ursprünglich-sinnlichen Sprache zu einer abstrakten Begriffssprache ein immer wieder zurückkehrendes Erklärungsprinzip der herderschen Sprachphilosophie ist, wird es durch das radikale Neuverständnis des Ursprungsbegriffs (das gleichsam mit seinem Ursprung bricht) zugleich in Frage gestellt und als eine narrativ-genealogische Ausweitung der gleichzeitigen und jederzeit anwesenden Aspekte der Sprache enthüllt. Denn „Ursprung“ heißt im vorliegenden Zusammenhang eine Art von Nähe, aber nicht zu einem zeitlich vorausliegenden Anfang, sondern – und genau darin besteht die „Originalität“ der herderschen Ursprungsgeschichte – eine Nähe zu den menschlichen Sinnen, dem (Gehör-) Sinn der Sprache bzw. einer sinnlichen Sprache (etwa der Dichtung). Dadurch, dass Herder die Ökonomie der menschlichen Natur auf das Gesetz der Natur gründet (welches Gesetz im Text in der Regel in Anführungszeichnen, als die ursprüngliche Wiederholung einer ursprungslosen Stimme erscheint57), ersetzt er

55 Herder: Über Bild, Dichtung und Fabel, S. 645. 56 Ebd., S. 635. 57 Vgl. z.B. „Das war gleichsam der letzte mütterliche Druck der bildenden Hand der Natur, daß sie allen das Gesetz auf die Welt mitgab: ‚Empfinde nicht für dich allein, sondern dein Gefühl töne!‘ Und da dieser letzte schaffende Druck auf alle von einer Gattung einartig war, so wurde dies Gesetz Segen: ‚Deine Empfindung töne deinem Geschlecht einartig und werde also von allen wie von einem mitfühlend vernommen!‘“ Herder: Über den Ursprung der Sprache, S. 92.

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zugleich die Idee der auf Kontinuität und Ähnlichkeit beruhenden Verwandtschaft durch das (Sprach-)Gesetz einer der gemeinsamen Grundlagen entbehrenden Nachbarschaft. Vom dadurch erschließenden Sinn des Ursprungs her kann man die (strukturelle) Entstehung der Sprache im Merkmal, d.h. in einem verstehenden Nachsagen der dichterischen Sprache oder anders: in der Praxis der Auslegung der „Kunstwerke“ der menschlichen Natur, d.h. Kultur erkennen. Diese Erkenntnis kann unter anderem auf die poetische Natur der allegorischen Ursprungsgeschichte aufmerksam machen: Genauso wie die Stimme des Naturgesetzes hat auch das sprechende Symbol des Lammes, das die Sprache der Natur spricht, keinen Ursprung, oder besser: der Ursprung beides Sprechens liegt in nichts anderem als in der (überlieferten, nachgesagten) Sprache selbst. Auch wenn dieses sinnliche Symbol als Zeichen nicht fixierbar ist, ist seine Bedeutung (genauso wie in Herders Allegorie, die den biblischen Kontext explizit evoziert), ohne weiteres zu erkennen: Das Lamm als Symbol der Frömmigkeit lässt sich nicht oder nicht nur mit der Rede (denn genau sie wird, wie wir sehen werden, aufgeopfert), sondern vielmehr mit dem Hören, dem Hören bzw. Verstehen des Wortes durch die Gläubigen in Zusammenhang bringen.58 Deshalb ist es kein Zufall, dass Herder den „Würkungskreis“59 der menschlichen Seele als eine auf dem Gesetz der Natur beruhende Ökonomie bzw. im engsten Sinne des Wortes als eine – mit den menschlichen Fähigkeiten wirtschaftende – Haushaltung beschreibt, zu der unter anderem auch die mit der Natur des Menschen am engsten verwandten, sanften Haustiere gehören („Da ist z.B. das Schaf“60),61 im Gegensatz zu jenen Wildtieren, die außerhalb dieses Kreises

58 Diese Schlagwörter durchziehen bekanntlich auch das Sprachgefüge Heideggers: Das „Fragen“ als „die Frömmigkeit des Denkens“ (Heidegger: Die Frage nach der Technik, S. 40) und „das Ereignis“ als „das sanfteste aller Gesetze“ (Heidegger: Der Weg zur Sprache, S. 259) führen die Vorstellung über die Konventionalität der Sprache auch auf eine Art von Sprachgesetz bzw. ihren in sich liegenden Ursprung zurück. 59 Herder: Über den Ursprung der Sprache, S. 107. 60 Ebd., S. 127. 61 In seiner Habilitationsschrift liest Friedrich Kittler die Figur des Lammes als ein – aus dem Aufschreibesystem von 1800 vertriebenes – Symbol des Signifikats, d.h. der romantischen Idee der Mutter Natur (Kittler: Aufschreibesysteme, S. 51-54). An einer anderen Stelle interpretiert er die Rolle der Tiersprache in der Abhandlung ebenso als eine Auswirkung von kulturgeschichtlichen Instanzen (Kittler: Eine Kulturgeschichte, S. 44-62). Auch wenn die Sprache der Abhandlung oft den buchstäblichen Sinn der Wörter aktiviert (etwa in der Vorstellung der Ökonomie der Seele), lässt sie sich jedoch, wie die zwischen eigentlichem und nicht-eigentlichem Sinn schwankende

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stehen und denen man besser aus dem Weg gehen sollte.62 Somit führen die Spuren auf der Suche nach dem Ursprung der Sprache zu jenen Wildtieren, die im inneren Kreis der menschlichen Sprache, an dem sie nicht teilhaben, im strengen Sinne unnennbar bleiben sollten. Denn das dialogische Verhältnis des inneren Wortes wird in der Parabel über die Entstehung der Sprache nicht nur durch den Gegensatz von Tier und Mensch bzw. tierischem Instinkt und menschlicher Sprache, sondern auch die Gegenüberstellung der sanften Tieren mit den Wildtieren definiert:

Verwendung des Begriffs der Sprache gezeigt hat, nicht auf diese Ebene reduzieren. Man kann an mehreren Stellen des Textes beobachten, wie bei der Verwendung eines Wortes – ähnlich dem blinden „Herumtasten“ der Seele bei der Wortbildung – selbst Herder gleichsam „danebengreift“ und das jeweilige Wort mit einem benachbarten Synonym verwechselt: Somit hält Herder beispielsweise die Begriffe von „Empfindung“/„Gefühl“ bzw. „Tasten“ nicht konsequent auseinander. Unter anderem auch deswegen kann Kittlers Kommentar zur Verwechslung des vermutlich eigentlichen Signifikats (der Schäfin) mit dem Namen des Lammes als voreilig erscheinen (das weiße, sanfte und wollige – also mit weiblichen Eigenschaften versehene – Lamm in der allegorischen Geschichte, das als „Gegenstand“ des „Genusses“ „dem brünstigen Schafmanne“ [ebd., S. 116] entgegengestellt wird, impliziert nach Kittler eben kein Neutrum [das Lamm/Schaf, das Kind, das Merkmal], sondern eine weibliche Gestalt). Kittler interpretiert diese Verwechslung als ein Verkennen der Frau oder der Natur, die aus dem Ideal der homogenisierten Hochsprache systematisch ausgeschlossen wird. Ebd., S. 49-51. Dabei hat bereits der ungarische Literaturwissenschaftler Ernő Kulcsár Szabó darauf hingewiesen, dass jenes, was Kittler hier für Irrtum oder Ungenauigkeit hält, in Wahrheit nichts anderes ist als das Ereignis der Sprache selbst, ein mediales Ereignis, von dem hier auch Herder redet: „Herder verfehlt also den Akt der Benennung nicht, sondern gibt gerade dafür ein indirektes Beispiel, dass die Entstehung der Sprache kein Ereignis der Natur sein kann oder, anders ausgedrückt, die ‚Unvollkommenheit‘ oder ‚Ungenauigkeit‘ der Benennung ist der primäre Beweis dafür, dass der Ursprung der Sprache nur als kulturelles Geschehen vorgestellt werden kann.“ Kulcsár Szabó: Der erste Anfang als „Ereignis“, S. 47. 62 „[Der Mensch] hat nicht Stärke genug, um dem Löwen zu begegnen, er entweiche also ferne von ihm, kenne ihn von fern an seinem Schalle, und um ihm menschlich und mit Bedacht entweichen zu können, lerne ihn und hundert andre schädliche Tiere deutlich erkennen, mithin sie nennen.“ Herder: Über den Ursprung der Sprache, S. 166.

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Lasset jenes Lamm als Bild sein Auge vorbeigehn, ihm wie keinem andern Tiere. Nicht wie dem hungrigen, witternden Wolfe, nicht wie dem blutleckenden Löwen – die wittern und schmecken schon im Geiste, die Sinnlichkeit hat sie überwältigt, der Instinkt wirft sie darüber her. Nicht wie dem brünstigen Schafmanne, der es nur als den Gegenstand seines Genusses fühlt, den also wieder die Sinnlichkeit überwältigt und der Instinkt darüber herwirft; nicht wie jedem andern Tier, dem das Schaf gleichgültig ist, das es also klardunkel vorbeistreichen läßt, weil ihn sein Instinkt auf etwas anders wendet. – Nicht so dem Menschen! Sobald er in die Bedürfnis kommt, das Schaf kennenzulernen, so störet ihn kein Instinkt, so reißt ihn kein Sinn auf dasselbe zu nahe hin oder davon ab […].63

Das Verhältnis des Menschen zum Lamm ist im Gegensatz zu den Wildtieren nicht durch Instinkte bzw. einen unmittelbar-sinnlichen Kontakt, sondern durch die Wiederholung eines zwar sinnlichen, aber innerlichen Lautmerkmals geprägt. Somit zeigt sich das Lamm in einer doppelten Perspektive: einerseits von der eigentlichen Sprache, vom Sprachsinn des Menschen, andererseits von der uneigentlichen „Sprache“, den bloßen Sinnen der Tiere her. Als gemeinsamer Bezugspunkt von Mensch und Tier spielt es eine doppelte Rolle und steht an der Grenze dieser beiden Wirkungskreise: durch seine Sanftheit kann es nicht nur für den Begriff des Phänomens, das „Sich-an-ihm-selbst-zeigende“64 stehen, sondern auch das der unmittelbaren Gewalt der Instinkte ausgesetzte Opfer symbolisieren. Unter dem sprachlichen Gesichtspunkt des Menschen, außer dem es streng genommen keinen anderen Gesichtspunkt gibt, spricht das Lamm durch den „natürlichen Tonleiter der menschlichen Stimme“.65 Als durch das innere Wort benanntes und erkanntes Merkmal ist das Lamm ein konstitutives Moment im Dialog der menschlichen Seele mit sich selbst. Somit zeigt das Sinnbild des Lammes nicht nur den Unterschied von Tier und Mensch beispielhaft auf, sondern auch die menschliche Fähigkeit, die Wahrheit zu erkennen und zugleich zu benennen, d.h. zwischen einem gerechten (sprachlich-menschlichen) Urteil und einer unvernünftigen, gewaltigen, instinktgesteuerten Tat unterscheiden zu können. Diese Umstände können die – von ihrer Gattung bzw. Natur her ebenso ursprungslose – Fabel über den Wolf und das Lamm in Erinnerung rufen. Diese bekannte Fabel kann sogar als der „Ursprung“ der allegorischen Textstelle der Abhandlung gelesen werden. Davon zeugt nicht nur die Tatsache, dass Herder den Ursprung der Sprache an einer anderen Stelle in der gleichsam menschlich

63 Ebd., S. 116. 64 Heidegger: Sein und Zeit, S. 28. 65 Herder: Über den Ursprung der Sprache, S. 134.

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ausgelegten Sprache der Tiere, in der Gattung der Tierfabel erkennt,66 sondern auch seine Adaptionen der Fabel, die er – wie in der Vorrede zu seiner Fabelsammlung steht – in „sechsfüßigen Versen“67 verarbeitet bzw. in Form eines Gedichtes gleichsam weitererzählt hat.68

66 In seiner Schrift Von der Aesopischen Fabel stellt Herder die Benennung der von der menschlichen Seele geschöpften Metaphern (also den inneren Entstehungsprozess der Sprache) mit der aesopischen Fabel in Parallele, die aus der Sprache der Dichtung durch das Erkennen und die Formulierung einer Moral entsteht: „Wenn es der menschlichen Seele eine eigene, fortwährende Beschäftigung ist, sich Bilder zu schaffen, sie aus dem Chaos der Naturgestalten zu sondern, ihre Wirkungsart zu bemerken und solche mit einem Namen, den ihr der anschauende Sinn gab, zu bezeichnen: so konnte es unmöglich fehlen, daß nicht bald auch die äsopische Fabel entstehen mußte.“ Herder: Über Bild, Dichtung und Fabel, S. 648. Was nach Herder die Fabel vom Beispiel und der Parabel unterscheidet, ist nicht anderes als die Untrennbarkeit von „Dichtung und Wahrheit“, Sprache und Erkenntnis bzw. „die innere Notwendigkeit der Sache selbst“, die nicht bloß auf Wahrscheinlichkeit oder einem logischen Zwang, sondern auf wahrer Überzeugung bzw. der „innern Gewißheit“ beruht (ebd., S. 666). Die Sprache der Tiere in der Fabel ist mit der Sprache der Natur vergleichbar, „ihr Verhältnis gegen einander ist durch die Natur bestimmt“, ihre Handlungen zeugen vom ersten Naturgesetz: „[D]urch diese handelnde Naturwesen“ zeigt die Fabel „die moralischen Gesetze der Schöpfung selbst in ihrer innern Notwendigkeit“ (ebd.). Die Moral der Fabel sondert sich zuerst, genauso wie das erste Merkmal, in Form einer „Sylbe“ ab und wird durch deren Erkennen bzw. Benennen, d.h. durch das erkennend sagende Wort, in die Seele eingeprägt. Es ist wohl kein Zufall, dass Herder den Unterschied zwischen der logisch-konventionellen Parabel und der durch eine innere Überzeugungskraft wirkenden Fabel an einem Verhältnis von Mächtigeren und Schwächeren, d.h. zum Beispiel an der Geschichte von Wolf und Lamm veranschaulicht: „Daß z.B. der Mächtigere den Schwächern drücke und verzehre, ist eine traurige Bemerkung der Naturgeschichte; daß aber auch der Schwächere sich schützen könne gegen den Starken, daß Verstand, Fleiß, Klugheit und Tüchtigkeit oft mehr als blinde Macht gelte, […] welche schöne Dichtungen hierüber haben wir in der Fabel!“ Ebd., S. 667. 67 „Den Fabelinhalt, den Aesopus fand, / Hab’ ich sechsfüß’gen Versen eingeprägt. / Zwiefachen Zweckes, daß mein Buch ergötz’. / Und daß mit kluger Unterweisung es / Berathe. Wer nun etwa tadeln will, / Daß Bäume sprechen und nicht Thiere nur, / Der denk’, es sei der Fabeldichtung Scherz. // I. Wolf und Lamm // Zu einem Fluße kamen Wolf und Lamm, / Dürstend. Den Fluß hinaufwärts stand der Wolf, / Das Lamm weit abwärts. Und mit frechem Maul / Erhub der Mörder stracks Ursach zum Streit. / Was

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Der erste bekannte Aufzeichner dieser Fabel war der altgriechische Dichter Aisopos; Herders Vorbild ist jedoch die Variante von Phaedrus,69 die im 17. Jahrhundert La Fontaine wieder aufgreift. Wie bereits die von La Fontaine formulierte Moral der Geschichte zeigt („Das Recht des Stärkeren ist das beste immerdar“70), wurde sie in den aufklärerischen Sprachtheorien als ein Streit zwischen den Vernunftgründen bzw. der Sprache der Menschen und der tierischen Gewalt inszeniert. Der Ursprung der Figur des Wolfs verliert sich jedoch ähnlich im Dunkel der Sprache, wie die Stimme des Lammes, was unter anderem auf

trübst du, schrie er, da ich trinken will / Das Wasser mir? Wie kann ich, sprach mit Zittern / Das sanfte Schaf, wie kann ich es, o Wolf, / Da ja herab von dir der Strom mir kommt. / Zurückgetrieben von der Wahrheit Macht / Begann er wieder: vor sechs Wochen hast / Du schlecht von mir geredet; das weiß ich. / Ach, sprach das Lamm, vor jenen Monden lebt’/ Ich ja noch nicht. So that dein Vater es. / Und damit griff er und zerriß das Schaf, / Schuldlosen Todes. Diese Fabel gilt / Dem, der mit Ränken Unschuld unterdrückt.“ Herder: Sämtliche Werke 11, S. 169. 68 „Der Wolf (und grinzte voll Verdruß) / Sprach: ‚Lamm, was trübst Du mir den Fluß?‘ / ‚Ach, gnäd’ger Herr, es kommt ja mir / Das Wasser nur von Dir.‘ / ‚So hast Du mich vor Tag und Jahr / Grausam belogen.‘ ‚Nein, fürwahr, / Gestrenger Herr! denn damals war / Ich noch nicht auf der Welt.‘ / ‚So siehst Du doch das abgefretzte Feld; / Wer hat denn das als Du gethan?‘ / ‚Und bin ja ohne Zahn!‘ / ‚Rechthabe!‘ sprach der Wolf und traf / Mit Klauen auf das Schaf. / Der Wolf lief fort und lief / Und brach ins - - - iv / Und fand viel Unrecht sich gethan / Und wetzte seinen Zahn / Und fand sich - - / So lang’ gestohlen / Und fand, daß - - - armes Schaf / Ihm sein Fahrwasser trübt, / Und ward ins Schaf verliebt, / Und - gnäd’ge Straf’! - / Er fraß das Schaf.“ Herder: Sämtliche Werke 29, S. 407. 69 Die Fabel von Phaedrus in Übersetzung von Friedrich Fr. Rückert (1877) und Otto Schönberger (1975): Der Wolf und das Lamm // Zum selben Bache waren Wolf und Lamm gekommen, / Von Durst getrieben. Weiter oben stand der Wolf, / Das Lämmchen mehr nach unten. Lechzend nach der Beute, / Begann sogleich der freche Räuber einen Streit. / ‚Warum‘, so red’t er es an, ‚hast du das Wasser / Getrübet, das ich trinke?‘ Zitternd sprach das Wolltier: ‚Bitte um Vergebung, Wolf, wie wäre dieses möglich? / Von dir kommt ja der Strom zu meinem Trunk herunter.‘ Beschämet und erzürnt ob dieser Worte Wahrheit / Rief er: ‚Du schmähtest mich vor einem halben Jahre.‘ / Es sprach das Lamm: ‚Da war ich ja noch nicht geboren.‘ / ‚Beim Herkules!‘ fuhr jener auf, ‚So tat’s dein Vater‘ / – Ergreift das Lamm – zerreißt’s in ungerechtem Morde. // Geschrieben wurden diese Wort’ für jene Menschen, / Die wegen falscher Gründe gute Menschen plagen.“ Phaedrus: Fabelbuch, S. 1. 70 La Fontaine: Die Fabeln, S. 26.

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„die dornigen Probleme der Grenze“ von Nationalsprachen und -staaten hinweist.71 Herders Kritik richtet sich jedenfalls gegen die Interpretationen von Rousseau und Hobbes.72 Denn im zweiten Teil der Abhandlung, die die Umstände der Erfindung der Sprache am Beispiel von Sprach- bzw. Naturgesetzen in organisierten Gesellschaften, Familien und Nationen aufzeigt, taucht das Duell von Wolf und Lamm erneut auf, nur diesmal im Kontext der zeitgenössischen Gesellschaftstheorien. Herder beruft sich in Hinsicht auf die Frage nach der Verschiedenheit der Sprachen wieder auf ein – diesmal konkretes – Naturoder Sprachgesetz, eine „morgenländische Urkunde über die Trennung der Sprachen“,73 nämlich auf die Geschichte über den Turm von Babel, und somit überlässt er das letzte Wort auch in dieser Auseinandersetzung dem „Zeugnis“ eines „poetische[n] Fragment[s]“.74 Der Grund der Trennung der Sprachen sei demnach der gegenseitige Hass und Streit zwischen Familien und Nationen, deren Dynamik Herder wieder durch das Beispiel von Wolf und Lamm erklärt: Tun wir einen Blick in die lebendige, würksame Welt, so sind Triebfedern da, die die Verschiedenheit der Sprache unter den nahen Völkern sehr natürlich veranlassen müssen; nur man wolle den Menschen nach keinem Lieblingssystem umzwingen. Er ist kein Rousseauscher Waldmann: er hat Sprache; er ist kein Hobbesischer Wolf: er hat eine Familiensprache. Er ist aber auch in andern Verhältnissen kein unzeitiges Lamm: er kann sich also entgegengesetzte Natur, Gewohnheit und Sprache bilden. Kurz, der Grund von dieser Verschiedenheit so naher kleiner Völker in Sprache, Denk- und Lebensart ist – gegenseitiger Familien- und Nationalhaß.75

71 Wie Derrida in seinen Seminarnotizen, die auch diese Fabel einer genauen Analyse unterziehen, in Hinsicht auf den Unterschied von figurativen und realen Wölfen anmerkt, „[variieren] diese idiomatischen Ausdrücke und diese Figuren des Wolfs, diese Interpretationen, diese Fabeln oder diese Phantasmen von einem Ort und einem historischen Augenblick zum anderem; die Figuren des Wolfs stoßen also auf – und stellen uns vor – die dornigen Probleme der Grenze. Die realen Wölfe passieren, ohne um Erlaubnis zu fragen, nationale und institutionelle Grenzen, die von Menschen und ihren souveränen Nationalstaaten gesetzt wurden […]; die Figuren jedoch sind Bestandteil bestimmter Kulturen, Nationen, Sprachen, Mythen, Fabeln, Phantasmen, Geschichten.“ Derrida: Das Tier und der Souverän, S. 24-25. 72 Zu den Wölfen von Rousseau und Hobbes siehe: Ebd., S. 28-101. 73 Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 188. 74 Ebd., S. 189. 75 Ebd., S. 186.

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Die Natursprache des Lammes unterscheidet sich von der des Wolfs durch die Möglichkeit der verwandtschaftlichen Verständigung. Die Sprache des sanften Tiers ist allerdings nicht mit der des Menschen identisch, weil die Töne der Natur auf das innere Wort angewiesen sind. Der „bei einer kleinen Gelegenheit beleidigte Familiengeist“,76 dessen Hass alleine durch die unmittelbare Nachbarschaft, die zufällige Begegnung zweier Völker (oder eben zweier Tierarten: „Zu einem Fluße kamen Wolf und Lamm“) bzw. die Verletzung einer Grenze entfacht, lässt sich durch Herders Adaptionen mit dem ersten Naturgesetz, dem Gesetz der Verbindung zwischen Ton und Gefühl/Leidenschaft und somit auch dem Unterschied oder sogar Missverständnis zwischen fremden Sprachen, Völkern und Kulturkreisen in Zusammenhang bringen. In seinem Gedicht stellt Herder in der Figur des Wolfs wortwörtlich die Schärfe der „Sinne“, die sinnliche Verkörperung der Instinkte, d.h. die Zähne und die Klauen heraus, und in der Inszenierung der Geschichte spielen die – sich oben als tierisch erwiesenen – Aspekte der blinden Spiegelhaftigkeit und der Wiederholbarkeit eine wichtige Rolle. Somit spricht der Wolf nicht nur eine andere, fremde Sprache, sondern eine Sprache der Instinkte bzw. des Hasses ohne Vernunft. Es ist sogar in jeder Adaption der Geschichte zu beobachten, dass das Missverständnis jeweils durch eine falsche Identifizierung bzw. Vertauschung (eine tierische Wahrnehmung der Welt) verursacht wird. Denn gerade der Wolf ist derjenige, der im Vorfeld, noch bevor er dem Anderen die Schuld gibt bzw. spricht, das sogenannte Verbrechen begeht: der das Lamm anlügt und verleumdet, das Wasser trübt (er steht oben und das Lamm unten), der die Weide abfressen kann, da er gegenüber dem zahnlosen Lamm Zähne zum Fressen hat, er ist auch der „Rechthaber“, der seine eigene „Wahrheit“ dogmatisch verteidigt. Das heißt, er kann zwischen oben und unten, sich selbst und dem anderen, Wirkung und Ursache nicht unterscheiden. Durch seine sich selbst spiegelnde Wahrnehmung, ohne vermittelnde Sprache, ohne Merkmal, verwechselt sich der Wolf mit dem anderen, verkennt das Lamm und somit auch sich selbst. Der zweite Teil des Gedichtes, der sich vom Dialog der Figuren sowohl durch seine Vergangenheitsform als auch seine narrative Modalität unterscheidet, lässt sich schon allein wegen seiner Fragmentarität schwieriger interpretieren. Es überrascht jedoch nicht, dass das Gedicht nicht mit der Formulierung der Moral, der (im gewissen Sinne widernatürlicher) Trennung oder eben Verbindung vom sinnlichen Zeichen und allegorisch-konventioneller Bedeutung schließt. Stattdessen scheint, dass der Wolf durch die wiederholte (?) und nachträgliche (?) Begegnung mit seiner Geschichte erneut seine Wahrheit bestätigt sieht, was wohl dadurch zu erklären ist, dass Tiere kein (aus

76 Ebd., S. 189.

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miteinander zusammenhängenden Merkmalen bestehenden) Gedächtnis haben77 (laut einer Textvariante stand in der zweiten Zeile des zweiten Teils das Wort „Archiv“,78 vielleicht im Sinne des Ursprungs und des Sammelorts79 der Merkmale?). Der Schluss des Gedichtes, der den Wolf durch eine Allusion auf Platons Phaidros mit dem selbstsüchtigen, hungrigen und von seinen Instinkten verblendeten Verliebten identifiziert,80 kann auch an die mythologische Geschichte von Narkissos erinnern, der sich in sein eigenes Spiegelbild verliebt. Dies kann zumindest für die unvernünftige Argumentation des Wolfs eine mögliche Erklärung liefern, der sich – im Wasserspiegel des Bachs – verkennt und in den Werken seiner eigenen Sinne gefangen bleibt. Durch die (metaphorische oder metonymische?) Verbindungen der zitierten Texte zeichnet sich unter anderem das Urteil ab, das in diesem Streit im Gegensatz zu den Tieren der Mensch, d.h. der Leser vollziehen bzw. sprechen soll. Durch das Erkennen der unvernünftigen und ungerechten Argumentation des Wolfs traf der Leser von vornherein die Unterscheidung zwischen den beiden Positionen: genau darin liegt die zweifache, das Erkennen und das Sagen zur gleichen Zeit vollziehende Leistung des inneren Wortes. Während das Wildtier, das in seine spiegelhafte Sphäre eingeschlossen ist, sein Gegenüber nicht zu Wort kommen lässt, soll der Zeuge und Richter der Szene, nämlich der Mensch, durch das Zur-Sprache-Bringen des Naturgesetzes bzw. den Ausdruck der Töne der Natur das gekippte Gleichgewicht zwischen den Empfindungen (den blinden Leidenschaften) und den Tönen wiederherstellen. Die falsche und ungerechte

77 „Tiere verbinden ihre Gedanken dunkel oder klar, aber nicht deutlich. […] so ist’s nur sinnliches Gedächtnis, und keines hat die Erinnerung je durch eine Handlung bewiesen, daß es für sein ganzes Geschlecht seinen Zustand verbessert und Erfahrungen generalisiert hätte“. Ebd., S. 162. 78 Herder: Werke in fünf Bänden 1, S. 13. 79 Herder beschreibt den Prozess der menschlichen Entwicklung als eine ununterbrochene Arbeit der Sammlung von Merkmalen: „Der Kunstgriff ist seiner Seele wesentlich, nichts für diesen Augenblick zu lernen, sondern alles entweder an das zu reihen, was sie schon wußte, oder für das, was sie künftig daran zu knüpfen gedenkt. Sie berechnet also ihren Vorrat, den sie gesammlet oder noch zu sammlen gedenkt, und so wird sie eine Kraft, unverrückt zu sammlen.“ Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 164. 80 „Diese Dinge also, mein Junge, gilt es zu bedenken, und man muß wissen, daß die Freundschaft eines Verliebten mit Wohlwollen nichts zu tun hat; sondern wie eine Speise, um sich zu sättigen, ‚wie Wölfe lieben das Lamm, so lieben Verliebte den Knaben‘.“ Platon: Phaidros, S. 25.

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Anklage, die in Wahrheit den Wolf betreffen sollte, verwandelt sich durch den Sprach- und Wahrheitssinn des Menschen in die Sprache der Natur, die dann im inneren Wort als die Formulierung der Moral der Geschichte zum Ausdruck kommt. Auch wenn am Ende scheinbar die sinnlose und unmenschliche Gewalt die Oberhand gewinnt (und dies steht immer noch im Einklang mit Herders Poetik), spricht das eigentliche Urteil durch das Erkennen des Rechtes bzw. Merkmals des Opfers der Mensch aus. Dadurch wird aber nicht nur die Figur des Lammes, sondern auch die des Wolfs, wenn auch unbemerkt, still und leise, jenseits der sichtbaren oder hörbaren menschlichen Sprache, in eine doppelte Perspektive gestellt. Die Wildtiere bezeichnen einerseits, von einem sprachvergessenen Standpunkt aus, die realen Tiere, andererseits sind sie innerhalb der Sphäre der menschlichen Sprache ambivalente Figuren des „Denkens“ vor und nach der Sprache: Die Handlung des Wolfs symbolisiert im Gegensatz zur (auch als Tier menschlichen) Sprache des Lammes die unbewusste Gewalt vor der Sprache und dem Denken, während sie im Gegensatz zum Menschen für jene rein vernünftige Denkweise steht, die die Sprachlichkeit der Welterfahrung unreflektiert lässt bzw. Sprache und Vernunft voneinander abstrakt trennt. Der Wolf vertritt in diesem Zusammenhang die Rhetorik bzw. Strategie der von Herder kritisierten konventionalistischen und schließlich widersprüchlichen Sprach- und Gesellschaftstheorien, die, wie Herder am Anfang seiner Abhandlung zeigt, ebenso falsche Unterscheidungen und Vertauschungen vollziehen. Diese Doppelheit des nicht-erkennbaren und unnennbaren Außerhalb der Sprache kann auch die Grenzen des Wahrheitswertes des inneren Wortes sichtbar machen. Denn es ist nicht entscheidbar, aber im Streit dennoch entscheidend, • ob erstens das „Werk“ oder die Handlung des Wolfs auf ein Verkennen bzw.

Vergessen von Unterschieden oder eine Unfähigkeit des Erkennens von diesen zurückzuführen ist (während man im ersten Fall die Möglichkeit des Erkennens von vornherein voraussetzt und Tiere mit menschlichen Eigenschaften ausstattet, schließt man es im zweiten Fall aus); • ob zweitens die Gewalttat durch böse Absicht („Rechthaberei“), die Worte des Anderen zu verdrehen, motiviert wird (dies ist die Möglichkeit, die der Moral von La Fontaine am nächsten steht und die die Trennung der Fähigkeiten von Verstand und Sprache impliziert), oder ob die Tat nichts anderes als eine unwillkürliche und unkontrollierbare und deshalb nicht zu verurteilende bzw. nicht beurteilbare Manifestation von tierischen Instinkten ist.

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Durch die Tatsache, dass jeder dieser hypothetischen Fälle anders beurteilt werden sollte, wird die Moral oder die Wahrheit der Geschichte – wenn auch nicht relativiert, aber – vervielfacht oder mehrfach geteilt. Diese Brüche, die innerhalb der Sphäre der Epistemologie und der Moral durch die Differenz oder vielmehr die anscheinend jeweils unvermeidbare Kontamination von Tier und Mensch hervorgerufen werden, sind durch den Sprachund Wahrheitssinn des inneren Wortes weder erkennbar noch nennbar. Denn sie entstanden (oder wurden poetisch erfunden) gerade durch die gleichzeitige Vereinigung und Ausschließung bzw. sprachinterne Wiederholung des Diesseits (des unzugänglichen Bewusstseins/Unbewusstseins) und des Jenseits (der widersprüchlichen Logik der Sprachvergessenheit) des Sprachdenkens. Dies gilt auch für das Konzept des inneren Wortes bei Gadamer: Die Wahrheit des Wortes geht einerseits über die Frage nach der Richtigkeit bzw. Falschheit des Verhältnisses zwischen Wort und Sache hinaus, andererseits schließt sie durch die Annahme des unmittelbaren, ungeteilten und wahren sich-Zeigens des Sachverhalts im Wort die Möglichkeit einer tierischen, d.h. nicht-moralischen, jenseits oder diesseits des Menschlichen liegenden Vermittlung von Sprache und Denken aus. Unter diesem Gesichtspunkt ließe sich Nietzsches Schrift Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne (1873) als ein gleichsam metaphorisches Verwirren der in der Abhandlung „erfundenen“ Zusammenhänge interpretieren,81 insofern sie die Aufmerksamkeit gerade auf die Grenzen bzw. das Außerhalb der Sprache richtet, die das „Wahrheitsbewusstsein“ des inneren Wortes vergisst oder ausschließt. Die Fragen des Zusammenhangs zwischen den beiden Philosophien bzw. den einschlägigen Textstellen würden den Rahmen des vorliegenden Beitrags sprengen (zu den möglichen Analogien könnte man unter anderem wieder Herders Schrift Über Bild, Dichtung und Fabel zitieren, die den Ursprung der Dichtung als eine „Prägekunst“ der als „rohe[s] Gold“ weitergegebenen Sage beschreibt82), es kann dennoch in Hinsicht auf den Zusammenhang der

81 Auf den Zusammenhang der Sprachtheorien von Herder und Nietzsche wurde bereits in der Fachliteratur hingewiesen: vgl.: Borsche: Bildworte, S. 63; Simon: Sprachphilosophie, S. 160; Zum systematischen Vergleich der Werke der beiden Autoren siehe: Bertino: „Vernatürlichung“. 82 Nietzsches Wahrheitsdefinition und die Münzen, die ihr Bild verloren haben, ließen sich mit der folgenden Stelle in Parallele stellen: „Es verstehet sich von selbst, daß solange diese Dichtung bei einer Nation blos Sage war, sie Theils ein ungeprägtes Gold blieb, Theils gar bald sehr verfälscht werden mußte. Verfälscht mußte sie werden, weil beinah jeder Sagende dazuthat oder abnahm, auch ohne daß ers wußte und wollte. Einige klare, kühne, lebhafte Geister hatten erfunden und erzählten vor;

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Tier-Mensch-Unterscheidung mit der Definition der Sprache lehrreich sein, hier kurz auf einige Stellen dieses mit der Abhandlung verwandten (oder benachbarten?) Textes zu verweisen. Nachdem Nietzsche die „metaphorische“ (oder vielmehr metonymische, da durch ein „vollständiges Ueberspringen der Sphäre“ erfolgende83) Entstehung der Worte beschreibt, auf die die Bildung der Begriffe durch eine gleichsam gewaltsam metaphorische (durch ein „Gleichsetzen des Nicht-Gleichen“ wiederholbar gemachte84) Abstraktion folgt, definiert er den

schwächere Köpfe begriffen halb oder gar nicht; sie erzählten indeß weiter. So wurden endlich Sagen ohne Sinn, Bilder ohne Verstand und Deutung. Mit den Geschlechtern kamen historische Umstände in die Erzählung und mußten hineinkommen, eben weil es Familiensage, Tradition der Kindheit war. Keine Mythologie der Welt hat sich also rein erhalten können, oder sie wäre keine Mythologie gewesen. Phantasieen über die Natur und Begegnisse des Geschlechts, der Nation, des Lebens webten sich zusammen; und so wenig jene eine reine Physik waren, so wenig waren diese eine reine Geschichte. In keiner von beiden aber wollte der menschliche Geist geflissentlich weder dichten noch lügen; er schauete an, und bemerkte, er druckte sich, so gut er konnte, in einer mit dem Gegenstande nicht zusammenhangenden, unvollkommenen, symbolischen Sprache aus und was noch mißlicher ist, er erzählte. Von Kind zu Kind ging die Sage fort und alle Dichtungen derselben wuchsen wie der gewälzte Schneeball in Gutem und Bösem. So schritt die Sage als eine Tochter des Gedächtnisses weiter, bis sie Kunst ward und diese Kunst hieß Dichtkunst. Das rohe Gold ward gepräget und die Sage selbst wars, die diese Prägekunst aufbrachte.“ Herder, Über Bild, Dichtung und Fabel, S. 636. Zur Interpretation Nietzsches Münzen-Metapher siehe: Kulcsár-Szabó: A nyelv(észet)i gazdaságtan bírálatához. Kulcsár-Szabó analysiert die eigenartige Doppelseitigkeit der Münzenmetapher und die konventionellen und moralischen Bedingungen der Analogie zwischen Geld und Sprache (unter anderem bei Nietzsche). Er zeigt, inwiefern Geld und Sprache jeweils auf den Kredit eines konventionellen und moralischen (von jenseits und diesseits der Sprache kommenden) Versprechens angewiesen sind. 83 „Das ‚Ding an sich‘ (das würde eben die reine folgenlose Wahrheit sein) ist auch dem Sprachbildner ganz unfasslich und ganz und gar nicht erstrebenswerth. Er bezeichnet nur die Relationen der Dinge zu den Menschen und nimmt zu deren Ausdrucke die kühnsten Metaphern zu Hülfe. Ein Nervenreiz zuerst übertragen in ein Bild! erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einem Laut! Zweite Metapher. Und jedesmal vollständiges Ueberspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue.“ Nietzsche: Ueber Wahrheit und Lüge, S. 879. 84 „Denken wir besonders noch an die Bildung der Begriffe: jedes Wort wird sofort dadurch Begriff, dass es eben nicht für das einmalige ganz und gar individualisierte

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Unterschied von Tier und Mensch folgendermaßen: „Alles, was den Menschen gegen das Thier abhebt, hängt von dieser Fähigkeit ab, die anschaulichen Metaphern zu einem Schema zu verflüchtigen, also ein Bild in einen Begriff aufzulösen“.85 Diese Formulierung zeigt nicht nur die Analogie zwischen den beiden Wortbildungsprozessen (der Abstraktion der sinnlichen Metaphern einerseits und der Übersetzung der Töne in innere Worte andererseits), sondern verschiebt auch die Grenzen der herderschen Unterscheidungen, insofern sie die oben gezeigte doppelte Bruchlinie zwischen Tier und Mensch in die ambivalente Figur der „klugen Thiere“,86 d.h. in den Menschen selbst, versetzt. Denn auf dem Weg von der Schöpfung der ersten „kühnsten“87 Metaphern bis zur Bildung der Begriffe wiederholt der Mensch, ohne dass es ihm bewusst wäre, ohne dass er sich daran erinnern oder anders handeln könnte, das Werk oder die Sprache seiner eigenen Natur: Man darf hier den Menschen wohl bewundern als ein gewaltiges Baugenie, dem auf beweglichen Fundamenten und gleichsam auf fliessendem Wasser das Aufthürmen eines unendlich komplicirten Begriffsdomes gelingt; freilich, um auf solchen Fundamenten Halt zu finden, muß es ein Bau, wie aus Spinnefäden sein, so zart, um von der Welle mit fortgetragen, so fest, um nicht von jedem Winde auseinander geblasen zu werden. Als Baugenie erhebt sich solcher Maassen der Mensch weit über die Biene: diese baut aus Wachs, das sie aus der Natur zusammenholt, er aus dem weit zarteren Stoffe der Begriffe, die er erst aus sich fabriciren muss.88

Am Ende seiner Parabel stellt Nietzsche der Wissenschaft, die am Bau der Begriffe mit dem Fleiß der Biene arbeitet und dabei in ihrer Sphäre gefangen bleibt sowie dem klugen Tier, das sich im Spiegel seines selbsterhaltenden und verstellenden Intellekts als Mensch (v)erkennt, den Künstler und den „Trieb zur Metapherbildung“,89 oder wenn man mit Herder formuliert: die ihre „wunderba-

Urerlebniss, dem es sein Entstehen verdankt, etwa als Erinnerung diesen soll, sondern zugleich für zahllose, mehr oder weniger ähnliche, d.h. streng genommen niemals gleiche, also auf lauter ungleiche Fälle passen muss. Jeder Begriff entsteht durch ein Gleichsetzen des Nicht-Gleichen.“ Ebd., S. 879-880. 85 Ebd., S. 881. 86 Ebd., S. 875. 87 Ebd., S. 879. 88 Ebd., S. 882. 89 „Jener Trieb zur Metapherbildung, jener Fundamentaltrieb des Menschen, den man keinen Augenblick wegrechnen kann, weil man damit den Menschen selbst wegrech-

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ren“ Werke durch „Kunsttriebe“90 schaffenden Tiere gegenüber. Durch diese Austauschbarkeit bzw. Analogie zwischen Tier und Mensch wird der Mensch, wie Derrida in seinen Notizen schreibt, zu einem „Bindestrich“91 zwischen dem Tier, das außerhalb, und dem Souverän, der jenseits des Gesetzes steht. Somit zieht sich die Moral der herderschen Geschichte am Ende des zirkelhaften Weges wieder in den unnennbaren und unfassbaren Ursprung des Tierischen und Göttlichen zurück.

LITERATUR Bertino, Andrea Christian: „Vernatürlichung“. Ursprünge von Friedrich Nietzsches Entidealisierung des Menschen, seiner Sprache und seiner Geschichte bei Johann Gottfried Herder, Berlin 2011. Borsche, Tilman: Bildworte. Vom Ursprung unserer Begriffe, in: U. Gaier/ R. Simon (Hg.), Zwischen Bild und Begriff. Kant und Herder zum Schema, München 2010, S. 55-70. Cercel, Gabriel: Herder und die Geschichte der Hermeneutik, in: Greif/Heinz/ Clairmont, Herder Handbuch, S. 738-748. Derrida, Jacques: Das Tier und der Souverän I. Seminar 2001-2002 (übers. von M. Sedlaczek), Wien 2015. — Heideggers Ohr. Philopolemologie. Geschlecht IV, in: ders., Politik der Freundschaft (übers. von St. Lorenzer), Frankfurt a.M. 2000, S. 411-492. Espinet, David: Phänomenologie der Hörens, Tübingen 2009. Gadamer, Hans-Georg: Text und Interpretation, in: ders., Hermeneutik II. Wahrheit und Methode (= GW 2), Tübingen 1993, S. 330-360. — Von der Wahrheit des Wortes, in: ders., Ästhetik und Poetik (= GW 8), Tübingen 1993, S. 37-57. — Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1990. Gaier, Ulrich: Herders Sprachphilosophie und Erkenntniskritik, Stuttgart 1988.

nen würde, ist dadurch, dass aus seinen verflüchtigten Erzeugnissen, den Begriffen, eine reguläre und starre neue Welt als eine Zwingburg für ihn gebaut wird, in Wahrheit nicht bezwungen und kaum gebändigt. Er sucht sich ein neues Bereich seines Wirkens und ein anderes Flussbette und findet es im Mythus und überhaupt in der Kunst.“ Ebd., S. 887. 90 Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 106. 91 Derrida: Das Tier und der Souverän, S. 35.

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Greif, Stefan/Heinz, Marion/Clairmont, Heinrich (Hg.): Herder Handbuch, München 2016. Heidegger, Martin: Der Weg zur Sprache, in: ders., Unterwegs zur Sprache, Tübingen 1959, S. 239-268. — Die Frage nach der Technik, in: ders., Vorträge und Aufsätze, Stuttgart 1954, S. 9-40. — Sein und Zeit, Tübingen 2006. — Vom Wesen der Sprache. Die Metaphysik der Sprache und die Wesung des Wortes zu Herders Abhandlung „Über den Ursprung der Sprache“ (= GA 85), Frankfurt a.M. 1999. Heise, Jens: Johann Gottfried Herder zur Einführung, Hamburg 1998. Herder, Johann Gottfried: Sämtliche Werke, Bd. 29, Berlin 1889. — Sämtliche Werke: Zur schönen Literatur und Kunst, Bd. 11, Tübingen 1809. — Über Bild, Dichtung und Fabel, in: ders., Werke in zehn Bänden, Bd. 4, Frankfurt a.M. 1994, S. 631-677. — Über den Ursprung der Sprache, in: ders., Werke in fünf Bänden, Bd. 2, Berlin/Weimar 1978, S. 89-200. — Werke in fünf Bänden, Bd. 1, Berlin/Weimar 1978. Jonas, Julia: Zur Phänomenologie und Ontologie des Wortes. Martin Heideggers Herder-Exegese: Ein produktives Missverständnis, in: T. Borsche (Hg.), Herder im Spiegel der Zeiten. Verwerfungen der Rezeptionsgeschichte und Chancen einer Relektüre, München 2006, S. 142-162. Kittler, Friedrich: Aufschreibesysteme 1800·1900, München 2003. — Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft, München 2000. Kulcsár Szabó, Ernő: Der erste Anfang als „Ereignis“. Entstehung der Kultur zwischen Sprachgeschehen und kulturellem Materialismus, in: Cs. Lőrincz (Hg.), Ereignis Literatur. Institutionelle Dispositive der Performativität von Texten, Berlin 2011, S. 33-55. Kulcsár-Szabó, Zoltán: A nyelv(észet)i gazdaságtan bírálatához [Zur Kritik der sprach(wissenschaft)lichen Ökonomie], in: ders., Tetten érhetetlen szavak. Nyelv és történelem Paul de Mannál [Worte ohne Tatort. Sprache und Geschichte bei Paul de Man], Budapest 2007, S. 41-73. — Az „eminens szöveg“ fogalma Gadamernél [Der Begriff des „eminenten Textes“ bei Gadamer], in: ders., Hermeneutikai szakadékok [Abgründe der Hermeneutik], Debrecen 2005, S. 149-174. La Fontaine, Jean: Die Fabeln (übers. von Johanna Wege), Stuttgart 2002. Lőrincz, Csongor: Das „innere Wort“ zwischen Gabe und Zeugnis. Auf den Spuren der Gadamer’schen Sprachtheorie, in: ders., Zeugnisgaben der Lite-

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ratur. Zeugenschaft und Fiktion als sprachliche Ereignisse, Bielefeld 2016, S. 61-89. Nietzsche, Friedrich, Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 1, München 1988, S. 873-890. Phaedrus, Fabelbuch (übers. von F. Rückert/O. Schönberger), Stuttgart 2012. Platon: Phaidros (übers. von E. Heitsch), Göttingen 1997. Simon, Ralf: Das Gedächtnis der Interpretation. Gedächtnistheorie als Fundament für Hermeneutik, Ästhetik und Interpretation bei Johann Gottfried Herder, Hamburg 1998. — Sprachphilosophie. Abhandlung über den Ursprung der Sprache, in: Greif/ Heinz/Clairmont, Herder Handbuch, S. 143-160. Taylor, Charles: Zur philosophischen Bedeutung Johann Gottfried Herders, in: Greif/ Heinz/Clairmont, Herder Handbuch, S. 13-22.

Materialismus der Form zwischen Kleist und Hölderlin Gerald Wildgruber Verwegener! möchtest von Angesicht zu Angesicht Die Seele sehen Du gehest in Flammen unter. Hölderlin, Gestalt und Geist

Vorliegende Untersuchung hat den Zweck, aus Zeugnissen zweier Dichter etwas wie eine Phänomenologie der Sprachmedialität aus Autorperspektive zu rekonstruieren: Wie wird der mediale Charakter der Sprache produktionsseitig erfahren und gehandhabt, – d.h. für den Machenden, der der Dichter seinem Namen nach in ausgezeichnetem Sinne ist? Demnach wird das Resultat nicht so sehr den Charakter der Antwort auf eine Wesensfrage haben – Ist die Sprache ein Medium oder nicht? –, sondern diese Frage ist mehr nach ihren operativen Implikationen zu untersuchen: Wie wird Sprache gewürdigt und gehandhabt hinsichtlich dessen, womit man in ihrer Verwendung immer rechnen muss, nämlich ein zwischen zwei Sprechende tretendes Drittes und Distanzschaffendes zu sein. Der Schwerpunkt liegt auf Kleist; die kurze kontrastive Betrachtung zu Hölderlin am Schluß ist dennoch geeignet, die Einsätze einer bestimmten Kleistschen Theorie der Form schärfer hervortreten zu lassen. Der im Titel genannte Materialismus ist dabei so zu verstehen, dass materielle Aspekte der Sprache, ihre sinnabgewandten Seiten, d.h. die der Idealität des Sinns sich entgegenzusetzen im Stande sind und über die nicht in Begriffen des Inhalts Rechenschaft gegeben werden kann, als Hilfe und Beistand für den (dichterisch) tätigen Menschen erfahren werden.

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1.

KLEIST: BRIEF EINES DICHTERS AN EINEN ANDEREN (1811)

Kleists Text, Kontexte. – Der Text von Kleist, um den es geht, ist der Brief eines Dichters an einen anderen aus dem Jahr 1811,1 – erschienen in der von Kleist selbst herausgegebenen Tageszeitung „Berliner Abendblatt“, und zwar im 4. Abendblatt vom 5. Januar 1811, mit Kleists Korrektur „Sinnentstellende Druckfehler“ im 7. Abendblatt vom 9. Januar 1811.2 Der Text entwickelt im Wesentlichen eine bestimmte Auffassung dessen, was Form in der Sprache sein soll. An Kleists Text sollte man meiner Ansicht nach nicht mit der Absicht herantreten, die innertextuellen Instanzen, zwischen denen sich sein Argument entwickelt, sofort lebensweltlich identifizieren zu wollen. Eine solche für die Deutung des Textes möglicherweise relevante Realie sei aber dennoch genannt. Der Text ist geschrieben im Jahr von Kleists Selbstmord; in diesem Licht kann man in der Tat vielleicht auch seine polemische Energie sehen: als das literarische Testament, um mit der Literatur ein für allemal abzuschließen. Die Energie des Textes wäre dann der Rimbauds vergleichbar, der, kaum älter als 20, alle Literatur aufgab und schließlich Waffen- und Kaffeehändler in Jemen, Äthiopien und Somalia wurde oder auch der Strindbergs des autobiographischen Berichts Inferno, der auf die Pariser Krise von 1894-1896 zurückgeht. Es ist die zeitlose Option der Dichtung, von Platon über Rousseau, hin bis zum Expressionismus des 20. Jahrhunderts,3 Literatur und Kunst im Namen ihrer irreduzibel histrionischen Seite, ihres Unernsts und ihrer Resultatlosigkeit zu verwerfen. Der nähere Kontext sind aber auch um 1800 Form-Diskussionen im Anschluss an Klopstock und an die immense Übersetzungstätigkeit aus den alten Sprachen, die am Punkt der Möglichkeit und Notwendigkeit einer Transponierbarkeit der antiken Rhythmik die Frage der Bedeutung der Formen grundsätzlich diskutieren.4 Beispielhaft – auch im Sinne der Demonstration, wie weit man am Leitfaden der Orientierung nicht am Inhalt, sondern an der Form gehen kann –

1

Kleist: Brief eines Dichters.

2

Vgl. die von Georg Minde-Pouet 1925 bei Klinkhardt & Biermann in Leipzig veranstaltete Faksimiliausgabe, die Sembdner erneut 1965 bei Cotta in Stuttgart mit neuem Nachwort und Quellenregister drucken ließ.

3

Vgl. etwa die berühmten Texte Ernst Stadlers Der Spruch und Form ist Wollust von 1914.

4

Vgl. die sehr instruktiven Ausführungen in Steig: Heinrich von Kleist’s Berliner Kämpfe, v.a. S. 553-557.

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sind etwa Vossens Übersetzung der Oden des Horaz und die Wilhelm von Humboldts des Aischyleischen Agamemnon. Sprachmedialität und dichterische Form. – Kleists Text spricht nicht einfach mit der Stimme eines Autors, sondern zwei Dichter sind in den Hervorgang des Arguments verwickelt. Der vorliegende Text ist wesentlich Antwort. Die RedeSituation, die entworfen wird, ist die schriftliche Reaktion auf ein zurückliegendes Gespräch der zwei Dichter – im Folgenden einfach benannt als „Dichter 1“ und „Dichter 2“ – über das Werk eines der beiden. Dichter1 traf Dichter2 an, der die Gedichte von Dichter1 las, und der erste teilt dem zweiten später, allerdings auf dem Schriftwege, seine Gedanken über ihr zurückliegendes Gespräch mit: Diese Gedanken machen den Brief aus. Es gibt also in der Binnenfiktion des Textes ein zwischen den Medien des Sprechens und des Schreibens geteiltes Gespräch: Dichter 2 an Dichter 1 mündlich; Dichter 1 an Dichter 2 schriftlich. Es lösen einander ab: Lesen -> Sprechen -> Schreiben. Zur gegenstrebigen Struktur des Textes gehört, dass sich der Formfürsprecher, als der sich Dichter 2 erweisen wird, in mündlicher Rede, der Formkritiker Dichter 1 sich aber vermittelter, nämlich mittels Schrift äußert und so die Medialität der Sprache durch Schaffung zeitlicher und räumlicher Distanz und personaler Nichtanwesenheit akzentuiert. Dichter 1 gibt ein Referat des zurückliegenden Gesprächs. In diesem Gespräch lobte Dichter 2 die Gedichte von Dichter 1, würdigte ihr Geprägtsein durch eine Schule; und vor allem: Gegenstand des Lobes sind nun ausschließlich Dimensionen der Form der Gedichte: Metrum, Rhythmus, Wohlklang, Sprache überhaupt. Diese Rückschau von Dichter 1 bildet die Grundlage seiner brieflichen Kritik an den künstlerischen Maßstäben von Dichter 2, und dieser Kritik ist der gesamte Text gewidmet. Wovon ist an Sprachkunstwerken die Rede, wenn das Augenmerk sich auf die im Gespräch der beiden Dichter behandelten Momente von Metrum, Rhythmus, Wohlklang und dann Sprache überhaupt richtet? Diese sind nichts anderes als die drei Medien dichterischer Darstellung, wie sie am Anfang des Nachdenkens über Dichtung und Kunst in der Poetik des Aristoteles formuliert wurden. „Medium“ verwende ich vorderhand also ganz elementar im Sinne des Anfangs der Poetik:5 Aristoteles spricht dort, mit einem indirekteren, präpositionalen Ausdruck, von den ἐν οἷς, also den „in-welchen“, den „Worin“ der Darstellung

5

Vgl. für Text, Übersetzung und Deutung des Anfangs der Poetik die Studie Primavesi: Aristoteles Poetik 1.

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bzw. Nachahmung: Er nennt für den Fall des Sprachkunstwerks nun eben diese drei: ῥυθμός, λόγος, ἁρμονία. Diese drei Begriffe – die man in erster Näherung mit „Rhythmus, Sprache und Tonart/Melodie“ identifizieren kann – will ich als diejenige Schnittstelle von Sprach- und Medienbegriffen in den Mittelpunkt stellen, an der sich die Frage der Sprachmedialität diskutieren lässt. Sprachmedialität wird also im Folgenden diskutiert am Phänomenbereich dessen, was traditionellerweise als dichterische Form in Betracht kommt. Das führt unweigerlich auf eine dichterische Reflexion des Verhältnisses von Form und Inhalt: wie – von der Warte des poetischen Machens – dieser Unterschied erfahren und gestaltet wird. In Aristoteles’ Theorie der Kunst ist das Moment der Katharsis bedeutsam: Die Teilnehmer an den tragischen Darstellungen erfahren eine Reinigung, nämlich von potentiell destruktiven Leidenschaften, deren Hervorrufung und Ausscheidung die Mechanik der Tragödie ausmachen. Auch in Kleists Brief geht es um eine grundlegende Katharsis, deren primäres Ziel aber der Dichter selbst und nicht die Aufnehmenden sind. Es geht um eine Katharsis der Form, – und zwar so, dass das im Tun des Dichters Auszutreibende eben die Form selbst ist. Sie – und mit ihr, modern gesprochen: Sprachmedialität – ist die eigentliche Krankheit, die eine Reinigung erfordert. Der Text ist so Kritik an der Unangemessenheit des rein formalen Standpunkts, des Formalismus in der Literatur. Obwohl das kathartische Gespräch zwischen zwei Dichtern stattfindet, ist ihrem Zweck nach die Austreibung der Form aus den Produkten des Geistes, die das Programm von Dichter 1 bestimmt, letzten Endes auf den Moment der Rezeption hin kalkuliert und betrifft das, was im Akt des Lesens sichtbar werden und erscheinen soll: die Form muss sich selbst in ihrer Bedeutung zurücknehmen. Gute Form ist die Form, die man nicht bemerkt. Das Kriterium der Form liegt also zuletzt im Betrachter: Mit Rücksicht auf den Aufnehmenden und die Eindrücke in ihm entscheidet sich die Qualität des Werks. – Wir erhalten auf dieser Grundlage das:

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Ideal unmittelbarer, weil formloser Kommunikation. – Wenn ich beim Dichten in meinen Busen fassen, meinen Gedanken ergreifen, und mit Händen, ohne weitere Zutat, in den deinigen legen könnte: so wäre, die Wahrheit zu gestehn, die ganze innere Forderung meiner Seele erfüllt. Und auch dir, Freund, dünkt mich, bliebe nichts zu wünschen übrig: dem Durstigen kommt es, als solchem, auf die Schale nicht an, sondern auf die Früchte, die man ihm darin bringt.6

Dichter 1 holt sein Herz, „ohne weitere Zutat“, die etwa durch die Externalisierung anfallen mag, aus seiner Brust und legt es in die Brust von Dichter 2: Es ist die unmittelbare Verpflanzung des Zentrums und Garanten allen Sinns von einem Menschen zum andern. Das Dichten adressiert eine Situation des Bedürfnisses oder der Not. Durch Kleists Vergleich mit dem Durstigen wird das als ihr Ort ausgewiesen. Im Dichten sind so das Innere, der Gedanke, und dessen Mitteilung an eine andere, vom Dichter verschiedene Person, wie die auf einer Schale gereichten Früchte, das Wesentliche. Eine solche direkte, lautlose Weise der Mitteilung des Innern wäre das Ideal des Sagens, aber auch des Vernehmens. Dieses Ideal, wie sich später zeigen wird, hat keinesfalls nur den Charakter privater, idyllischer Kommunikation. Vielmehr kann man darin gerade auch den Einsatz einer genuin politischen Dichtung sehen, die an effektiven, störungsfreien Kommunikationen interessiert ist. Kleist als Autor des Katechismus der Deutschen, zum Gebrauch für Kinder und Alte von 1809 ist nicht fern. Dennoch: diese schweigsame, lautlose Verpflanzung des Herzens muss eine unerreichbare Utopie der Dichtung bleiben; sie muss vielmehr im Gegenteil mit den Realien der Sprache und ihrer Medialität rechnen. Realien der Mitteilung im menschlichen Verkehr. – Nur weil der Gedanke, um zu erscheinen, wie jene flüchtigen, undarstellbaren, chemischen Stoffe, mit etwas Gröberem, Körperlichen, verbunden sein muß: nur darum bediene ich mich, wenn ich mich dir mitteilen will, und nur darum bedarfst du, um mich zu verstehen, der Rede. Sprache, Rhythmus, Wohlklang usw., und so reizend diese Dinge auch, insofern sie den Geist einhüllen, sein mögen, so sind sie doch an und für sich, aus diesem höheren Gesichtspunkt betrachtet, nichts, als ein wahrer, obschon natürlicher und

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Kleist: Brief eines Dichtes, S. 347.

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notwendiger Übelstand; und die Kunst kann, in bezug auf sie, auf nichts gehen, als sie möglichst verschwinden zu machen.7

Kleist gibt nun in nuce erstens eine Theorie des sprachlichen Ausdrucks, deren entscheidende Gefahr – dasjenige, woran die Darstellung immer scheitern kann – die Materialität der Sprache ist und, zweitens, eine Theorie der künstlerischen Darstellung auf der Grundlage dieser Materialität. Unausgesprochene Voraussetzung dieser ganzen Überlegungen bleibt die Annahme, dass Sprache im Allgemeinen und das Sprachkunstwerk im Besonderen der Mitteilung von Gedanken an andere dienen, also sozial begründet sind: Mittels Dichtung sprächen Menschen miteinander und tauschten ihre Gedanken aus. Die inhärente Problematik dann aber jeden sprachlichen Ausdrucks wird durch einen merkwürdigen Vergleich mit chemischen Prozessen erläutert: Der sprachliche Ausdruck hat eine kritische, aber notwendige Synthesis zur Voraussetzung, in der nämlich das flüchtige Element des Gedankens sich mit etwas ihm Fremdem verbinden muss, eben um erscheinen zu können. Kleist verwendet also „Darstellung“ fast wie im heutigen Sinne, wenn man von der Darstellung, also Herstellung unter Laborbedingungen, einer chemischen Verbindung spricht. Das Erscheinen, also die Externalisierung des internen Sprach-Denk-Prozesses, bleibt eine Forderung, weil Dichtung als Kommunikation aufgefasst wird. Auch für das Erscheinenlassen des Gedankens als des vorausgesetzten Wesenskerns des Dichtens ist nun eine solche Synthesis notwendig; menschliche Rede braucht diese Paarung mit „etwas Gröberem“ und diese Trägersubstanz, an der Gedanke und Geist erst in Erscheinung treten können, diese unglückliche Materialität ist nach Kleist die Rede, also Sprache in Aktion. Und in der Tat, später, und wie in Erinnerung an diese dichterische Bestimmung, wird in diesem Sinne einer immer wieder notwendigen Synthesis eine berühmte wissenschaftliche Definition der Sprache überhaupt gegeben: nämlich in der Akademieschrift von 1832, die Alexander von Humboldt aus dem Nachlass seines verstorbenen Bruders Wilhelm im Jahre 1836 ediert: Die Sprache in ihrem wirklichen Wesen aufgefaßt, ist etwas beständig und in jedem Augenblicke Vorübergehendes. Selbst ihre Erhaltung durch die Schrift ist immer nur eine unvollständige, mumienartige Aufbewahrung, die es doch erst wieder bedarf, daß man dabei den lebendigen Vortrag zu versinnlichen sucht. Sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Tätigkeit (Energeia). Ihre wahre Definition kann daher nur eine genetische

7

Ebd., S. 348.

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sein. Sie ist nämlich die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den articulirten Laut zum Ausdruck des Gedanken fähig zu machen. Unmittelbar und streng genommen, ist dies die Definition des jedesmaligen Sprechens; aber im wahren und wesentlichen Sinne kann man auch nur gleichsam die Totalität dieses Sprechens als Sprache ansehen.8

In Humboldts Theorie der Sprache wird ihr gegenständlich vorliegender Charakter ganz zurückgenommen zugunsten ihrer rein prozessualen Auffassung: Sie ist wirklich nur im Akt des Sprechens und vergeht mit diesem. Die in diesen vorübergehenden Akten vollbrachte Arbeit ist nun aber eben jene unablässige Herstellung solcher Synthesen zwischen zwei heterogenen, geschiedenen Reichen: der Materialität des Sprachlauts oder eines anderen Zeichenträgers, eines sinnlich wahrnehmbaren Dings, und den rein intelligiblen Bedeutungsgehalten, – die Arbeit also, „den articulirten Laut zum Ausdruck des Gedankens fähig zu machen“.9 In Kleists Mikrotheorie der Sprache aber scheint die Seite der Leistung und Ermöglichung, die in dieser Synthesis vollbracht wird, zurückzutreten gegen die Beeinträchtigung, die sie bedeutet. Das Grobe, Körperliche der Verlautbarung, das im Prozess der Äußerung notwendig eintritt, ist eben eine solche Zutat, die die Mitteilung potentiell stört. Kunst auf der Grundlage prekärer Kommunikation. – Dasjenige nun an der Materialität der Sprache, das den Geist, wie sich Kleist ausdrückt, „einhüllt“, wird dann exemplarisch benannt: nicht mehr nur der „articulirte Laut“, wie in Humboldts genetischer Definition der Sprache, sondern: Rhythmus und Wohlklang. Die hier in Betracht kommende störende Materialität der Sprache sind Weisen dichterischer Formgebung. Im Element der Dichtung und vom Standpunkt der Produktion ist es also die Form selbst, die diesen Charakter der

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Humboldt: Kawi-Sprache, S. LVII.

9

Die bedeutendste Wiederaufnahme des Gedanken dann, nochmal knapp 100 Jahre später, in Cassirers Definition der Sprache als symbolischer Form, vgl.: „Unter einer ‚symbolischen Form‘ soll jede Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeordnet wird. In diesem Sinne tritt uns die mythischreligiöse Welt und die Kunst als je eine besondere symbolische Form entgegen. Denn in ihnen allen prägt sich das Grundphänomen aus, daß unser Bewußtsein sich nicht damit begnügt, den Eindruck des Äußeren zu empfangen, sondern daß es jeden Eindruck mit einer freien Tätigkeit des Ausdrucks verknüpft und durchdringt.“ Cassirer: Der Begriff der symbolischen Form, S. 15.

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Materialität annimmt. Das ist entscheidend: Die Form ist nicht, wie in der philosophischen Tradition, die in dieser Hinsicht wiederum mit Aristoteles einsetzt, dem Reich der Materie entgegengesetzt, sondern Form ist vielmehr gerade das, als welches Materialität begegnet, sie vertritt im Element der Sprache und der Dichtung das „Gröbere, Körperliche“, das die Mitteilung zu hemmen oder zu stören imstande ist. Auch im schwerelosen Element der Sprache kann sich das Denken an einer Art von Materialität stoßen (oder eben: halten), die, wie im Bereich des Körperlichen, Widerstand entgegensetzt; als eine solche andere Materialität fungiert eben die eigentümliche, sichselbstzeigende Konkretion der sprachlichen Figur. Kleist als Dichter, der das Werk der Sprache zum Beruf hat, setzt sich selbst in den Gegensatz zu den überlieferten Mitteln seines Tuns, wovon der von ihm primär herausgestellte Rhythmus sicherlich das älteste solcher Formelemente dichterischer Rede ist. Im Kontext der frühgriechischen Formbegriffe ist Rhythmus in der Tat zugleich der am frühesten bezeugte und der systematisch wichtigste. Dichtung muß nach Aussage von Dichter 1 diesen äußerlichen Träger des Gedankens und die dichterisch im Laufe der Zeit akkumulierten, ererbten Verfahren der geregelten Handhabung dieses Trägers soweit als möglich reduzieren und ausschalten. Dieses Ziel wäre die unerreichbare Transzendenz der Dichtung.10 Die benannten Materialitäten der Sprache müssen alle möglichst auf ihr je Anderes, das die Humanität des Sinns ist, verschoben werden. Wir erhalten dann eine Reihe von Funktions- oder Dienstleistungsbeziehungen, die von der Form jeweils den Brückenschlag in einen ganz anderen Bereich fordern. Das Mechanische, Technische, das Abgesonderte der Sprache11 muss also in den

10 Vgl. die ganz gegensätzliche Bewertung des Ideals solcher Mitteilung in lautloser Unmittelbarkeit – zur Gänze realisiert jedoch nicht im Erzählen, sondern im Bezahlen – bei Mallarmé: Crise de Vers, S. 212: „Un désir indéniable à mon temps est de séparer comme en vue d’attributions différentes le double état de la parole, brut ou immédiat ici, là essentiel. – Narrer, enseigner, même décrire, cela va et encore qu’à chacun suffirait peut-être pour échanger la pensée humaine, de prendre ou de mettre dans la main d’autrui en silence une pièce de monnaie, l’emploi élémentaire du discours dessert l’universel reportage dont, la littérature exceptée, participe tout entre les genres d’écrits contemporains.“ 11 Erinnert sei wiederum an Wilhelm von Humboldts klare, seiner Zeit weit voraus eilende Bestimmung des griechischen Rhythmus als „eine Welt für sich, auch abgesondert vom Gedanken“ in der Einleitung zum Agamemnon, Leipzig 1816, S. XXIIf.: „Der Rhythmus, wie er in den griechischen Dichtern, und vorzüglich in den dramatischen, denen keine Versart fremd bleibt, waltet, ist gewissermaßen eine Welt für

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Dienst des wiedererkennbar Menschlichen treten: der Ausdruck soll der Klarheit dienen, der Versbau eine Bedeutung annehmen und schließlich der Klang Anmut und Leben ausdrücken.12 Wenn die Materialität der Sprache als formale, sinnabgewandte Seite nicht in Erscheinung treten darf, sondern allein der zur sicheren Mitteilung unter Menschen bestimmte Gedanke, dann stellt sich dem Tun der Kunst jetzt also jederzeit eine zweifache Aufgabe, nämlich innerhalb einer Polarität von Enthüllen und Verbergen: Enthüllen des Geistes und Verbergen der Sprach-Form. Dies führt zum Kern des Arguments hinsichtlich Form und Inhalt. – Denn das ist die Eigenschaft aller echten Form, daß der Geist augenblicklich und unmittelbar daraus hervortritt, während die mangelhafte ihn, wie ein schlechter Spiegel, gebunden hält, und uns an nichts erinnert, als an sich selbst.

Formprozesse werden bezeichnet durch den Gegensatz von Binden und Lösen, d.h. die materiell-körperlichen Seiten der Sprache als das, mittels dessen sie sich formalisieren kann, können binden oder sie können lösen. Gegenstand des Bindens und Lösens ist der Geist. Die echte Form löst den Geist, er wird frei und tritt auf; die schlechte Form bindet den Geist, er wird unfrei und unkenntlich. Das Lösen des Geistes durch die Form resultiert als seine unmittelbare und augenblickliche Gegenwart: Er erscheint; die echte Form beschwört gleichsam den lebendigen Geist. Form hat hier also die Aufgabe, sich selbst im Prozess der Dichtung zum Verschwinden zu bringen. Die Form dient dem geistigen Inhalt der Dichtungen. Die einzig verbleibende Spur der Form sind demnach Ereignis und Kommen des Inhalts, nur an ihm und seiner Gegenwart kann auf die einmal ersonnene Form zurückgeschlossen werden. Form ist demnach wie Wegräumung und Bresche. Sie hat den Charakter und die Funktion der Durchsicht auf den Grund: Die Wirksamkeit der Formen wäre gleichsam ein mundus patet der

sich, auch abgesondert vom Gedanken, und von der von Melodie begleiteten Musik. Er stellt das dunkle Wogen der Empfindung und des Gemüthes dar, ehe es sich in Worte ergießt, oder wenn ihr Schall vor ihm verklungen ist […] Die Griechen sind das einzige Volk, von dem wir Kunde haben, dem ein solcher Rhythmus eigen war, und dies ist meines Erachtens, das, was sie am meisten charakterisirt und bezeichnet.“ 12 Kleist: Brief eines Dichters, S. 348.

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Geister,13 sie bewerkstelligen das Offene als eine vom Dichter eröffnete Bresche für die Einwirkung des Geistes auf den Menschen. Welche Auffassung der Sprache steht hier zur Disposition? In etwas technischeren Termen kann man sagen: zum Problem wird in dieser Reflexion die Konzeption von Sprache als apophantischem logos, als welchen wiederum Aristoteles im Kern die Sprache fasst. Im Gegensatz zum nur semantischen – wenn einer sagt: „Mensch“ oder „weiß“, ohne weitere Verbindung – zeichnet den apophantischen Logos – λόγος ἀποφαντικός, ἀπόφανσις – dies aus: Er muss durch die in ihm angelegte Verbindung zweier Begriffe grundsätzlich wahr oder falsch sein können;14 es ist die elementare Form der aussagenden, propositionellen Rede, und Sprache als solche ist der ausschließliche Gegenstand der Aristotelischen Logik und Wissenschaftstheorie. Was bedeutet nun aber apophantisch in diesem Begriff von Sprache? Die zentrale Leistung des apophantischen Logos nennt Aristoteles (17a16) ein δηλοῦν: „sichtbar machen, manifestieren, zeigen“, eine Leistung, die auch im Wort der apophansis selbst liegt. Die gebräuchlichen Übersetzungen des zugrundeliegenden Verbs ἀποφαίνεσθαι als „aussagen, eine Aussage machen“ verdecken, wie hier Sprache gedacht wird. Sie lassen nämlich den stark visuellen Kern, der hier am Grunde der Sprache liegt, unkenntlich werden. ἀποφαίνεσθαι heißt: „ans Licht bringen, sichtbar machen, sehen lassen, zeigen“. Der Sinn der Sprache ist ein Erscheinenlassen, eine Sichtbarmachung und Evidenzbildung. Wird dieses Vermögen aber problematisch, dann geht es um die Frage nach der dichterischen Form als Beförderung oder vielmehr Hemmung solchen Erscheinenlassens, um sie als Mittel der Transparenz oder der Opazität. An Formen dichterischer Sprachverwendung muss so gefragt werden, ob ihre Mittel der apophantischen Kraft des sprachlichen Ausdrucks auch entgegenstehen können, so dass gerade das Technische, Mechanische der Sprache nicht wie selbstverständlich gedacht auf Vergegenwärtigung, sondern ebenso, und mehr noch, auf Verhüllung abzielt. In diesem Sinne stehen die Namen „Kleist“ und „Hölderlin“ für einen Gegensatz hinsichtlich des Ziels solcher dichterischen Formgebung: Ob dichterische Formen, die Mittel der dichterischen Darstellung reines Erscheinenlassens des Sinns zum Zweck haben oder solche Form sich dem, wovon in ihr die Rede ist, als Form entgegengesetzt. Eine alternative Weise, diese Frage zu formulieren, wäre: Ist die Form dienende Wegbahnung des Inhalts, eine Art

13 Vgl. Humm: Le mundus et le Comitium. 14 Aristoteles, Hermeneutik oder vom sprachlichen Ausdruck, S. 100-103 (= de.int. 16b17a).

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Hebammenkunst des Inhalts, der dann eben als die Gedanken oder der Geist eines Werks angesprochen würde? In dieser Frage erläutert nun ein weiterer Vergleich, den Kleist dann anführt, das vorschwebende Ideal der Darstellung: Dies ist das sehr zweideutige Bild des Spiegels. Im Element des Spiegels kann die Sache – obwohl irreal und nur Schein und nur Bild – in der Tat, wie Kleist sagt, „augenblicklich und unmittelbar“ hervortreten. Zweideutig wird dieses Bild durch seinen Platonischen Unterton nach dem Zehnten Buch der Politeia. Das Spiegel-Bild soll die Nichtigkeit der mimetischen Tätigkeit von Dichtern unmittelbar augenfällig werden lassen. Der Mimet kann alles ohne Einschränkung machen, aber nur so, wie einer, der einen großen Spiegel (κάτοπτρον) mit sich herumtragend durch die Landschaft spaziert. Was er dabei aber erzeugt, sind immer nur φαινόμενα, nicht aber ὄντα τῆι ἀληθείαι, die Seienden Dinge in ihrer Wahrheit, erzeugend.15 Sonne und Himmel gleicherweise ohne jede Anstrengung und ohne Wissen abbildend, ist der Mimet Vorsteher dessen, was sich erst im dritten Abstand vom Wesen ἀπὸ τῆς φύσεως16 befindet; der eigentlichen Sache fremd und dennoch die höchsten Wirklichkeiten auf den beschränkten, endlichen Rahmen seiner rein technischen Vorrichtung bringend. In Kleist erscheint der durch die schlechte Form gebundene Geist nicht oder: eben wie in einem alten Spiegel, also gehemmt und unvollkommen. Im Element eines blinden Spiegels – die wenigsten hatten in Kleists Zeit venezianische – sehen wir die Sache nur undeutlich, dafür aber immer auch und unhintergehbar das Element der Darstellung selbst, eben den blinden, fleckigen Spiegel, dessen aufgedampftes Silber angelaufen und schwarz geworden ist, der sich störend vor den Geist schiebt und als lästiges Medium seinen Inhalten anhaftet. „[…] und uns an nichts erinnert, als an sich selbst“: Der blinde Spiegel blockiert die Transzendenz der Erinnerung. Form und Medialität behindern den Aufstieg in den Geist und seine Gedanken und Ideen.17 Vom Reich solcher Ideen zwingt die Form augenfällig ins Diesseits zurück, – oder, um mit Hamlet zu sprechen: A mote it is to trouble the mind’s eye.18 Die Form ist ein Staubkorn oder Splitter im Auge des Geistes. Sein Schauen der reinen Inhalte wird beständig und vexierend zu einer Art Ablenkung. Diese auf das Hier und Jetzt ablenkende Kraft der

15 Platon: Πολιτεία. Der Staat, S. 796 (= 596d-e). 16 Ebd., S. 800 (= 597e). 17 Für die Triftigkeit der Referenz auf die Platonische Idee spricht vielleicht Kleists Kennzeichnung der gelungenen Darstellung als die Erinnerung des Lesers auslösend, also im Sinne einer Anamnesis. 18 Shakespeare: Hamlet, 1,1,112.

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sprachlichen Formbildung ist eigentlich der latente Materialismus der Form, der den Problemhintergrund von Kleists Text ausmacht. Die Theorie der Form, wie sie der Brief eines Dichters an einen andern formuliert, ließe sich zusammenfassen in die Formel: Die Form ist Ausdruck des Geistes. Das Entscheidende in dieser Auffassung ist, dass über die Form selbst wiederum in Begriffen des Sinns Rechenschaft abgelegt werden können soll: Die Form soll eine Deutung erfahren und verstanden werden können. Gute Form ist solche Form, an der man versteht, wie sie den Sinn befördert. Die Form ist hier dann eine Erscheinungsweise der umfassenderen Wirklichkeit des Sinns. Dass die Form eine abgetrennte Wirklichkeit bildet (vgl. oben Humboldt zum griechischer Versrhythmus), deren Macht und Wirksamkeit gerade darauf beruht, dem Sinn unebenbürtig und nicht auf ihn rückführbar zu sein – diese Auffassung der Form, wonach die Form sozusagen „sinnlos“ sein muss, was nicht heißt, dass ihr Fehlen keinen Unterschied machte, diese Vorstellung ist hier ganz fremd. Sie gilt als mangelhafte Auffassung, und solche schmerzlich empfundene Unterbrechung des Sinns führt gewöhnlicherweise die Rede von bloß prosodischer Technik herauf. Das Entscheidende an der Form könnte aber gerade diese Erfahrung des Mangels sein, nämlich nicht unmittelbar sinnvoll erklärt werden zu können. Die Beförderung des Inhalts durch die Form wäre dann allenfalls so zu verstehen, dass die Form durch ihren konstitutiven Mangel den Sinn möglicherweise heraufrufe wie ein metrisches Schema passende Wörter ruft. Überlieferte dichtersprachliche Formen gäben dann nicht Anlass zur Bewegung des Verstehens, sondern sollten vielleicht mehr in Betracht kommen wie z.B. die Keplerschen Gesetze des Planetensystems, die exakt angebbar sind und empirischer Beobachtung entsprechen, jedoch keine Sinndeutung zulassen, die im Übrigen hier auch von niemandem gefordert wird. Die im Text von Kleist konstatierte Ablenkung vom Inhalt bedeutet also: Die Resumption, das sukzessive Auflesen des Sinns im Lesen wird regelmäßig durch eine sekundäre, sinnlose Materialität, die ins Auge und ins Ohr fallende Form, unterbrochen. Diese Unterbrechung oder Ablenkung, beispielsweise durch rhythmische Gestaltung, führt nicht auf einen anderen Inhalt, sondern vielmehr auf das Andere des Inhalts, das, worüber nicht in Begriffen des Inhalts Rechenschaft abgelegt werden kann. Wie die Flecken auf dem Spiegel erzeugen sie einen Effekt betonter Gegenwart, eines reinen Hier und Jetzt der Lektüre, das aber leer bleibt und nicht weiter bedeutet. Seine reine Gegenwart hemmt die Erinnerung an den Sinn, der dagegen immer Übersteigen und Fortgang aus dem Hier und jetzt der Lektüre ist und eine andere Zeitlichkeit, das Wiederholen von Zurückliegendem, involviert.

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Solche seitens des Briefs konstatierte Störung gibt später Anlass zu umwertender, positivierender literaturtheoretischer Begriffsbildung. Dies geschieht mit Blick auf Hölderlin bei Dilthey im Begriff des Verweilens am Wort19 und vor allem aber in Hellingraths Wiederaufnahme der antiken Vorstellung der ἁρμονία αὐστηρά, also der harten Fügung.20 Dass das Medium der Darstellung, anstelle referentiell zu funktionieren, unter Suspension der Ordnung des Sinns, sich selbst dem Betrachter zurückspielt, ergibt schließlich ganz allgemein die Definition der poetischen Funktion durch Roman Jakobson. Ähnlichkeitsbeziehungen werden, von der paradigmatischen Achse der Selektion, für die sie konstitutiv sind, auf die syntagmatische Achse der Kombination projiziert, der sie fremd sind und wodurch sie also merkwürdig werden.21 Pathologie der Form I: Usurpation durch Form und Medium. – Kleist gibt, gegen Ende des Briefs in Umrissen eine Pathologie der Form. Zunächst stellt sich dies dar als Sorge über die Form als Verfehlung der Autorintention. Wenn du mir daher, in dem Moment der ersten Empfängnis, die Form meiner kleinen, anspruchlosen Dichterwerke lobst: so erweckst du in mir, auf natürlichem Wege, die Besorgnis, daß darin ganz falsche rhythmische und prosodische Reize enthalten sind, und daß dein Gemüt, durch den Wortklang oder den Versbau, ganz und gar von dem, worauf es mir eigentlich ankam, abgezogen worden ist.22

19 Cf. Dilthey: Erlebnis, S. 382: „Wenn wir in der Regel beim Lesen forteilend das einzelne Wort nur als Zeichen für die Bedeutung im Zusammenhang des ganzen Wortgefüges nutzen, so läßt uns hier die Sparsamkeit des Ausdrucks bei den Worten verweilen“. 20 Vgl. Hellingrath, der – mit einem Mallarméschen Ausdruck! – diese „isolirung des wortes“ so beschreibt: „der glatten fügung kam alles darauf an zu vermeiden dass das Wort selbst dem hörer sich aufdränge. der sollte gar nicht bis zum worte gelangen/ nur damit verbundene associationen erfassen die als factoren das eigentlich wesentliche bildhafte oder gefühlartige ergeben. daher mußte das wort möglichst bescheiden zurücktreten/ mit möglichst geringer Spannung dem Zusammenhang sich einordnen. harte fügung dagegen tut alles das wort selbst zu betonen und dem hörer einzuprägen/ es möglichst der gefühls- und bildhaften associationen entkleidend auf die es dort gerade ankam.“ Hellingrath: Pindarübertragungen, S. 4f. 21 Jakobson: Linguistics and Poetics, S. 27. An Jakobsons Bestimmung der poetischen Funktion der Sprache wird Dichtung als Mitteilung fragwürdig. 22 Kleist: Brief eines Dichters, S. 348.

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Der unmittelbare Anlass zu dieser Sorge ist, dass der andere Dichter an den Erzeugnissen des ersten sofort auf die Form – als das eigentlich Bemerkenswerte – geht. Die Form interveniert auf unbeabsichtigte Weise in, wie Kleist sich ausdrückt, „dem Moment der ersten Empfängnis“, sie ist Drittes in einem Verkehr, der nur zwei umfassen sollte. Die Empfängnis nimmt den vorher imaginierten stummen, lautlosen Verkehr der beiden Dichter auf, ihr Einverständnis, das idealerweise „ohne weitere Zutat“ durch Verpflanzung des Herzens, als Garant des inneren Sinnes, von einer Brust in die andere funktionieren würde. Die Wirklichkeit der Form macht aber, dass dieser Empfängnis eine „Zutat“ nun durchaus anhaftet, es ist eine formal befleckte Empfängnis. Im Begriffen gerade der dichterischen Form wird hier also die bedeutsame Anschauung der usurpierenden Kraft eines Mediums bedacht. Die Usurpation der Form durchkreuzt die Intention des Autors: Von dem, worauf es dem Dichter „eigentlich ankam“, wird die Aufmerksamkeit des Lesers abgelenkt auf materiellere, die leere Gegenwart des Hier und Jetzt des Lesens betonende Seiten der Sprache, die eben die dichterische Formgebung ausmachen, nämlich Rhythmus und Prosodie. Weil diese potentiell gegen die Autorintention arbeiten können, werden sie als falsch bezeichnet. Sie durchkreuzen das Geschehen der Wahrheit des Sagens, auf die hin diese gegen eine distanzierte connoisseurKultur sich richtende Theorie der Literatur angelegt ist. Zeitgleich zu Kleists Brief wird diese Sorge der möglichen Gegenläufigkeit von Form und Inhalt von wissenschaftlich-philologischer Seite, nämlich in einer Schrift von Friedrich August Wolf von 1811, ganz unumwunden als Tatsache ausgesprochen: Beinahe läßt sich hoffen, daß einmal jemand, auf dem bequemsten Wege Neues zu erfinden, die Sache gerade umkehre, und die Alten über ihre prosodische Materialität vor ein strenges Gericht ziehe. In der That ist nicht zu leugnen, sehr viel Materielles und Mechanisches liegt in ihrer gepriesenen Sylbenmessung, sey sie immerhin musikalischer, als die unsrige, und diese, welche geistiger ist, mehr rhetorisch. Sogar nicht bloß maßen sie ihre Buchstaben, sie wogen sie ordentlich; so daß ein einziges Gebeinchen eines, nicht gar schweren Buchstabens hinzugefügt, das Gewicht mit überwiegender Zulage beschwerte; da bei uns oft eine der unbedeutendsten Sylben als Kürze vorübergleitet, wenn auch drei bis vier Consonanten sich anhäufen, wie eben in dem Wort Unbedeutendsten.23

23 Steig (cf. oben) weist auf diese bedeutende Schrift von Friedrich August Wolf hin: Über ein Wort Friedrich’s II. von deutscher Verskunst; für die Stelle in Wolf cf. S. 20. – Steig scheint mir dennoch die paradoxe Nähe gerade von Kleist und Wolf

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Im Sinne der Relativierung der Vorbildfunktion der Alten Sprachen und ihrer Dichtung für das Deutsche wird hier gerade die rigidere Bestimmtheit ihrer Metrik und der damit verbundenen Regeln als ihre Schwäche vorgestellt. Diese Schwäche ist die von etwas Materiellem und seiner rein mechanischen Bearbeitung. Beides, die Materialität des Gegenstandes und das Mechanische seiner Prozessierung – Zählen, Wiegen und Messen von Silben nach ihren Längen und Kürzen im objektiv bestimmten System der alten Sprachen –, zeichnet sich – für den aufnehmenden Philologen – aus durch seinen Gegensatz zum Geistigen in der Kunst. Das Geistige in der Kunst ist der zur Mitteilung unter Menschen geeignete Sinn; die prosodische Ordnung ist nach Wolf davon abgesondert und folgt ihm nicht. Wolf illustriert den Abstand der formalen Gegebenheiten und Regeln der griechisch-lateinischen Prosodie durch die Tatsache, dass Silben – unabhängig von ihrer Bedeutung – positione lang sein,24 prosodisches Gewicht annehmen und also markiert sein können, ein rein formaler Effekt an Konsonantengruppen, der in die Sprache vor aller menschlichen Sinngebung codiert ist und dieser (zumindest aus moderner Sicht) zuwiderlaufen kann. Natürlicher, geistiger und mehr am Sinn orientiert dagegen das Deutsche: Trotz der nachfolgenden Konsonantenhäufung bleibt die vorletzte Silbe in „Unbedeutendsten“ kurz, wie es der Sinn verlangt. Sinn und Form sind solidarisch. Kleist formuliert die grundlegende Tatsache, dass der dichterischen Formgebung, und zwar gerade in ihren traditionellsten und am weitesten (in den kultisch-religiösen Bereich) zurückreichenden Verfahren – dies sind die prosodisch-metrische Klassifikation des Sprachmaterials und ihre rhythmisch geregelte Anordnung, – dass also diesen traditionellen dichtersprachlichen Verfahren allerdings die Kraft innewohnt, den Hervorgang oder bereits die Gegenwart von Sinn und Wahrheit nicht zu bahnen, sondern vielmehr zu hemmen bzw. zu unterbinden, und Sprache also ganz anders als zum Zwecke des Erscheinenlassens und der Mitteilung von Gedanken im Verkehr unter Menschen zu verwenden. Es gibt eine potentielle Autonomie der Form, die im Schreiben nicht gänzlich kontrolliert werden kann. In neuerer Theoriebildung, aber auch schon bei Autoren wie Friedrich von Hardenberg, wird diese Dazwischenkunft, die Kleists Blick auf die Form konstatiert, einfach mit der Sprache überhaupt in

hinsichtlich dieser prosodischen Materialität – und zwar gerade der als Vorbild immer herangezogenen griechischen dichterischen Formen – zu verkennen; seine Kritik des Mechanischen in der prosodischen Maschine der alten Sprachen entspricht indirekt Kleists Auffassung von Literatur als ungestörtem Verkehr von Geistern. 24 Vgl. dazu etwa Maas: Griechische Metrik, S. 27.

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ihrer Eigenschaft als irreduzibler Medialität identifiziert. Im Falle des Sprachkunstwerks ist es die Verwendung von Formen, die drohen, dem Dichter den propositionellen Gehalt seines Textes entgleiten zu lassen: Form wird so in ausgezeichnetem Sinne dasjenige an der Sprache, was als Überindividuelles, Unpersönliches (auch Geschichtliches) in die Absicht des sprechenden Menschen als Einzelnem interveniert und ihn auf ein Anderes hin öffnet, das nicht er ist und das nicht das vertraute Gegenüber eines menschlichen Antlitzes ist. In diese Richtung, aber das Pathologische noch stärker hervorhebend, gehen Kleists Kennzeichnungen der Form, die sie als eine Verirrung und ihr Festhalten als Versuchung begreifen. Es ist nämlich in der Art eines „Reizes“, dass das Falsche die Aufmerksamkeit abzieht. Dichter 1 wirft Dichter 2, dem Formalisierer, vor, dass seine irregeleitete Empfänglichkeit geradewegs Anzeiger einer Krankheit ist: Aber diese Unempfindlichkeit gegen das Wesen und den Kern der Poesie, bei der, bis zur Krankheit, ausgebildeten Reizbarkeit für das Zufällige und die Form, klebt deinem Gemüt überhaupt, meine ich, von der Schule an, aus welcher du stammst;25

Die Schule der formalen Observanz lehrt, wie es in dem Brief heißt, „eine bis zur Krankheit ausgebildete Reizbarkeit“. In einer konterintuitiven Wendung, die aber die Energie und den Willen zur Umwertung in Kleists Text deutlich bezeugt, wird dann die Form schließlich als das Zufällige bestimmt: sie ist nicht das Werk und die Arbeit des Dichters, sondern ein Akzidentelles, das sich parasitär einstellt und am besten unkenntlich bleiben sollte. Insofern (dichter-)sprachliche Formen und Formeln als bloß Überliefertes, aus historischer Tiefe auf die jeweilige Gegenwart treffen – und in den Schranken dieser Gegenwart durch den Sinn nicht einholbar sind –, können sie dann allerdings als rein akzidentiell und letzten Endes unverbindlich erscheinen. Pathologie der Form II: Immunisierung durch die Form. – Die weitreichendste Charakteristik aber der Form, die Kleist gibt, betrifft ihr Vermögen der Immunisierung: Form verleiht eben jene „Unempfindlichkeit gegen das Wesen“. Geist wird von Kleist aufgefasst als eine anstiftende Kraft oder eine Entzündung des inneren Menschen, die bereit macht, – nach dem Modell eines Duells – die Auseinandersetzung mit Gleichen zu suchen, die sich durch den Gebrauch der Sprache in der Dichtung mitteilen wollen. Durch übermäßige Gegenwart aber von Formen im Verkehr verfängt diese Herausforderung nicht. Die konstatierte

25 Kleist: Brief eines Dichters, S. 348.

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Ablenkung hat hier die wenig ehrenvolle Form des Ausweichens, gleichsam eines kampflosen Parierens. Form erlaubt dem Treffen des Geistes auf geregelte Weise auszuweichen, sie macht, so der Tenor der Stelle, dass das Duell des Geistes auf rein prozedurale Weise durch Sich-Formalisieren einer der Parteien aufgeschoben ist. Denn warum solltest du sonst dem Geist, den ich in die Schranken zu rufen bemüht war, nicht Rede stehen, und grade wie im Gespräch, ohne auf das Kleid meines Gedankens zu achten, ihm selbst, mit deinem Geiste, entgegentreten?26

Kleist, der Soldat, sieht seine Aufgabe als Dichter darin, den Geist als Instrument der Auseinandersetzung zu beschwören und, wie es heißt, „in die Schranken zu rufen“. Auf diese Vergegenwärtigung und ihr Gelingen kommt es an. Dieses Rufen, und nicht formale Aufrüstung und prozedurale Phantasie des Ausweichens, ist die Aufgabe der Dichtung. Auf dem durch sie ausgerufenen Feld kann der Leser dem Geist in seiner Blöße, unbekleidet begegnen. Zwei Geister und ihre Gedanken sollen in ihrer Blöße aufeinander treffen können. Die Mühe des Dichters, den Geist zu vergegenwärtigen, läuft durch die Form Gefahr, ins Leere zu laufen. Nach der militärischen Logik der Stelle ist die Form eine Art der Feigheit. Das dichterisch vermittelte Treffen, in dem einer, der Leser, aufgerufen ist, in den Schranken des Werkes dem Geist „Rede zu stehen und entgegenzutreten“, bleibt aus. Die Form sabotiert diese offene Auseinandersetzung. In diesem Sinne ist die Form die Rüstung oder der Panzer, der gegen das Element des Geistes unempfindlich macht, das zu seiner Verwirklichung die Blöße der Gegner zur Voraussetzung hat. Pathologie der Form III: Institutionelle Befestigung des Formprimats. – Der Rest des Briefs gilt der Sorge des Dichters, dass eine ganze Schule auf die falsche Auffassung der potentiellen Autonomie der Form gegründet ist. Es geht also um die schulmäßige Organisation des formalen Ausweichens. Die verkehrte Richtung dieser Schule besteht darin, dass das Vermögen der Form, den Hervorgang des Geistes zu hemmen, gesucht und kultiviert wird. Was Kleist bisher als Gefahr des Geistes, die ihm von der Sprache und ihren Formen her droht, im Allgemeinen, man könnte auch sagen: natürlicherweise, φύσει, beschrieben hat, wird nun dargestellt als der Grundzug einer wirklichen Schule der Dichtung, die sich in diesem, seiner Auffassung nach, aberranten Vermögen der Form wiedererkennt. Dichter 1 klagt Dichter 2 an: Weil Dichter 2 durch diese

26 Ebd.

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Schule gegangen ist, hat er sich empfänglich gemacht für die falsche Auffassung dichterischer Rede, für die Verkehrung des wahren Lesens im Sinne des Duells unter Gleichen. Die Identifikation dieser Schule, und ob es überhaupt angemessen ist, eine solche in der Zeitgenossenschaft Kleists finden zu wollen, ist durchaus eine offene Frage. Meist wird die (zur Abfassung des Briefs an die 15 Jahre schon bestehende) Romantische Schule als der eigentliche Adressat des Textes gesehen, von der sich dann, mittels dieses Briefes, die empirische Person des Dichters Kleist distanzieren möchte, – und in der Tat: Die sprachtheoretischen Reflexionen vor allem der Frühromantik, Friedrich Schlegel und Novalis, würden das nahelegen. Dennoch scheint mir mindestens ebenso wahrscheinlich im Brief eines Dichters an einen anderen vielmehr ein Selbstgespräch des Dichters Kleist vorzuliegen, worin der spirituelle Künstler und Kenner mit dem weltlichen Täter im Streit liegt. Die Sicht auf die angeklagte Schule bleibt zwiespältig: Sie sei „geistreicher […] als irgend eine, die je unter uns auftrat“, aber ihre, wie es weiter heißt: paradoxe, mutwillige Lehrart hat es dennoch zu verantworten, dass eben erkrankte Formalisierer wie Dichter 2 aus ihr hervorgehen. „Gegen die Absicht dieser Schule selbst“ sagt der Text:27 Dies spricht einmal mehr die Gefahr aus, die von der Freigabe der Form ausgehen kann. Sie verändert die Absicht der Schule, in der sie gehegt wurde, die eigentlich geistreich war und dennoch in der Art eines ansteckenden Erregers nun de facto zur Propagation des Verkehrten beiträgt. Pathologie der Form IV: Die Apolitie der Form. – Am Schluss stehen experimentelle Kennzeichnungen der Form aus gemeinsamer Lektüreerfahrung von Dichter 1 und Dichter 2. Die Welt der Formen ist eine auf sich genommene Blindheit: Dichter 1 bemerkt an der Art des Lesens von Dichter 2, „daß dein Auge […] den Wald vor seinen Bäumen nicht sieht“.28 Dies ist nun eine merkwürdige Idee: Sie besagt, dass es im Element der Form möglich ist, eine bestimmte Synthesis-Leistung nicht zu vollziehen. Die Situation der Immanenz, als die man im Wald zu stehen bezeichnen kann, wird durch sie aufrechterhalten. Der Übergang zum erlösenden Allgemeinenbegriff ist blockiert: Es gibt nur Bäume, nicht aber den Sinn-Effekt „Wald“. Dies nimmt also das oben zum Materialismus der Form Gesagte auf (Zurückbiegen des Denkens ins Hier und Jetzt). So entsteht eine paradoxe, inverse Abstraktionsleistung durch dichterische Formen: ihre Art der Abstraktion erlaubt, vom Gesamt-Sinn einer Lage zugunsten des Einzelnen darin absehen zu können. Das, wovon abzusehen im Element

27 Beide Stellen ebd. 28 Ebd.

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der Form gelernt wird, ist nicht das Einzelne, sondern das Allgemeine – wobei der Übergang ins Allgemeine offenbar gewohnt ist und leichter und natürlicher vor sich geht, aber eben blockiert wird. Die durch dichterische Formen geleistete Abstraktion macht unempfindlich gegen den Anspruch des Allgemeinen, sie stellt das mühselige Verweilen am Einzelnen auf Dauer. Im Brief eines Dichters an einen anderen steht, wie überhaupt in dieser Zeit, die Figur Shakespeares exemplarisch für einen hohen lebensweltlichen Anspruch des Werks. Ihn gemeinsam lesend, öffnet Dichter 2 dennoch sein Herz und Gefühl nur dem Beiläufigen und Akzidentellen der Form darin. Die Nichtigkeit der Formalen Schule macht, dass den immensen, wie es heißt: „erhabenen, weltbürgerlichen“ Interessen, die diese Dichtung aufbewahrt, regelmäßig, und d.h. zugunsten und mit Hilfe der Form, ausgewichen werden kann. Zum dritten Mal ist also von der Absicht die Rede, der am Leitfaden der Aufmerksamkeit auf Formen nicht entsprochen wird. Die Formale Schule hat sich für den Anspruch der Dichtung, der, wie der Text sagt, „in deinem Herzen anklingen sollte“,29 unempfindlich gemacht. Diese Immunisierung und Kultur des gelehrten Ausweichens ist für D1 die eigentliche Schuld der Form. So wird das Gewicht historischer realer Erfahrung exemplarisch gemacht an der entscheidenden Schlacht des Hundertjährigen Krieges zwischen Engländern und Franzosen bei Azincourt. Das Lesen Shakespeares kommt direkt als geistige Schau der Geschichte in Betracht. Ihre Betrachtung aber wird neutralisiert durch den Wechsel der Einstellung auf die Ebene der Sprache, mittels derer diese Schau wegen der Vergangenheit ihres Gegenstandes notgedrungen zu erfolgen hat. Dichter 2 weicht der angebotenen Vergegenwärtigung der historischen Erfahrung aus, indem er sich, wie der Text sagt, mit „Wortspielen“, „Jamben, Reimen, Assonanzen und dergleichen“ aufhält, „für welche dein Ohr stets, als gäbe es gar keine andere, gespitzt ist“.30 Ebenso wie sie blind macht, macht die Form taub: Das – nachrichtentechnisch gesprochen – Rauschen der Formen macht die eigentlichen gedanklichen Einsätze des Denkens und Dichtens unkenntlich. Daraus lässt sich die letzte der Kennzeichnungen der Form rekonstruieren: Die Form zerstört den Wortsinn der Dichtungen. Sie stellt dem einfachen Wortsinn des Gesagten, wie zur Parodie, eine antagonistische Begleitung an die Seite, die jenen zuletzt übertönt. Dichter1 legt nahe, dass, im Shakespeare lesend, der Charakter überhaupt von Dichtung und Literatur durchaus transzendiert und hin auf die Sachen selbst durchstoßen werden sollte und das, wovon die Rede ist,

29 Beide Stellen ebd., S. 349. 30 Ebd.

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seinem vollen Gewicht nach auf sich zu nehmen und wörtlich zu nehmen ist. Dem, in letzter Instanz, durchaus terroristischen Anspruch unmittelbarer Vergegenwärtigung, voller Transparenz und des Wörtlichnehmens von schriftlich einst Niedergelegtem steht die Form in ihrer unhintergehbaren Mittelbarkeit als unerwünschte Mäßigung und ausweichende Relativierung entgegen.

2.

HÖLDERLIN: EINGANG DER ANMERKUNGEN ZUM OEDIPUS (1804)

Sieben Jahre vor Abfassung des Brief eines Dichters an einen anderen veröffentlicht der Dichter Friedrich Hölderlin bei Wilmans in Frankfurt unter dem Titel Die Trauerspiele des Sophokles zwei Bände Übersetzungen von Stücken des Sophokles, Oedipus der Tyrann und Antigonae, die beide mit erläuternden Anmerkungen versehen werden. Die Anmerkungen zum Oedipus setzen mit diesen thetisch vorgetragenen Bestimmungen zur sprachgebundenen Kunst der Dichter ein: Es wird gut seyn, um den Dichtern, auch bei uns, eine bürgerliche Existenz zu sichern, wenn man die Poësie, auch bei uns, den Unterschied der Zeiten und Verfassungen abgerechnet, zur μηχανη der Alten erhebt. Auch anderen Kunstwerken fehlt, mit den griechischen verglichen, die Zuverlässigkeit; wenigstens sind sie bis izt mehr nach Eindrüken beurtheilt worden, die sie machen, als nach ihrem gesezlichen Kalkul und sonstiger Verfahrungsart, wodurch das Schöne hervorgebracht wird. Der modernen Poësie fehlt es aber besonders an der Schule und am Handwerksmäßigen, daß nemlich ihre Verfahrungsart berechnet und gelehrt, und wenn sie gelernt ist, in der Ausübung immer zuverlässig wiederholt werden kann. Man hat, unter Menschen, bei jedem Dinge, vor allem darauf zu sehen, daß es Etwas ist, d.h. daß es in dem Mittel (moyen) seiner Erscheinung erkennbar ist, daß die Art, wie es bedingt ist, bestimmt und gelehret werden kann. Deswegen und aus höheren Gründen bedarf die Poësie besonders sicherer und karakteristischer Prinzipien und Schranken. Dahin gehört einmal eben jener gesezliche Kalkul.31

Die Anmerkungen haben ein Werk der griechischen Literatur zum Gegenstand und sind in ihren technischen Teilen tiefgehende Analysen der Sophokleischen Kunst und auch der griechischen Dichtung im Allgemeinen, die in Literatur und Philosophie der Goethe-Zeit nicht ihresgleichen haben. Trotz ihres griechischen Themas fungieren sie eingangs dennoch als Bezugsrahmen und Maß für eine Be-

31 Hölderlin: Anmerkungen zum Oedipus, S. 99.

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trachtung und Bewertung auch der zeitgenössischen Literatur, an die Forderungen gestellt werden, die eben aus der Betrachtung der alten Kunst gewonnen sind. Mit Kleist, der seine Theorie der transparenten Form als Streit zweier Dichter entwickelt, teilen die Anmerkungen den fachmännischen Gesichtspunkt des Dichters als desjenigen, der selbst mit der Verfertigung von Poesie befasst ist. Dies meint bei Hölderlin zunächst in sehr konkretem Sinne die materielle Sicherung der Existenz als Künstler: Die zu entwickelnden Bestimmungen der Literatur haben ihren Grund in der Forderung, dass auch Dichtern in Zukunft ein bürgerliches Leben eingeräumt wird; in welchem Sinne Dichtungstheorie und Existenzsicherung zusammenhängen können, bleibt im Text unausgeführt. Diese prägnante Orientierung der Poetologie am Bedürfnis der Dichter wird dann aber verschoben und theoretischer entfaltet: Was ein Werk sei, bestimme sich ausschließlich mit Blick auf seine innere Faktur und nicht nach „Eindrüken […] die sie machen“.32 Die Kritik an einer Ästhetik der Rezeption, die hier im Begriff der „Eindrüke[n]“ formuliert ist, kann in erkenntnistheoretischer Hinsicht gesehen werden vor dem Hintergrund der transzendental-philosophischen Wende im Denken der Zeit, in künstlerischer Hinsicht etwa vor dem der einsetzenden romantischen Bewegung in Deutschland, wie sie etwa durch Herders Schriften zum Ossian befördert wurde.33 Nicht an solchen „Eindrüken“ aber, sondern an dem, was Hölderlin seine „Zuverlässigkeit“ nennt, sei ein Kunstwerk zu bemessen. Zuverlässigkeit ist eine pragmatisch-operative Begriffsbildung; zuverlässig ist, worauf man sich in Handlungszusammenhängen verlassen kann, sie stellt das Werk in den Kontext eines „um-zu“, mittels dieses soll etwas gewährleistet werden. Die innere Verfasstheit aber, die Voraussetzung für diese Verlässlichkeit des Kunstwerks wäre, nennt Hölderlin mit einem griechischen Wort, dessen Tragweite für das Spätwerk vor allem durch seine Vorkommen im Text Pindars erhellt wird, die μηχανη der Alten. Es käme also darauf an, auch die moderne Literatur wieder auf die Höhe dieser μηχανη der Alten zu bringen. Die μηχανη ist

32 Vgl. den Eingangssatz in Walter Benjamins – eben an Hölderlins Sophokles-Übersetzungen geschulter – Studie zur Aufgabe des Übersetzers, die vielleicht in unmittelbarem Bezug zum Anfang der Anmerkungen verfasst ist: „Nirgends erweist sich einem Kunstwerk oder einer Kunstform gegenüber die Rücksicht auf den Aufnehmenden für deren Erkenntnis fruchtbar. […] So setzt auch die Kunst selbst dessen leibliches und geistiges Wesen voraus – seine Aufmerksamkeit aber in keinem ihrer Werke. Denn kein Gedicht gilt dem Leser, kein Bild dem Beschauer, keine Symphonie der Hörerschaft.“ Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers, S. 7. 33 Vgl. beispielsweise in Johann Gottfried Herder, Homer und Ossian, S. 95; dazu Wildgruber: L’Ossian de Herder.

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der Inbegriff der dichterischen Formgebung in Hölderlins reifer Poetik. Die Ermittlung seiner Bedeutung würde eine Betrachtung des gesamten Werks ab etwa 1800 involvieren: Elegien, Oden-Überarbeitungen, Hymnik, Übersetzung und Kommentierung griechischer Werke (Sophokles und Pindar). Für die begrenztere Absicht der vorliegenden Studie mögen zum Zweck der schärferen Konturierung der Kleistschen Theorie der Form als Transparenz nur einige Punkte andeutungsweise hervorgehoben sein.34 Hölderlins Rede von der μηχανη betont auf prägnante Weise das Äußerliche der Kunst, ihr Pathos ist eines der Äußerlichkeit. Die Theorie der Form, die darin angelegt ist, steht zunächst nicht im Zusammenhang der Mitteilung eines Innen im Kontext des geselligen Verkehrs unter Menschen. Überhaupt geht es nicht primär um eine Art von Einwirkung auf einen Andern – das wären eben die „Eindrüke“, die nach Hölderlin das falsche Maß der Zeit abgeben. Der Grundzug in Hölderlins Text ist gerade die Lösung der Dichtung aus dem Bereich der Innerlichkeit oder Subjektivität. Was an der Kunst zunächst in Betracht kommt, gehört überhaupt nicht der Sphäre des Geistes an. Das Geistige in der Kunst, als Grund zugleich ihrer Erhebung über andere menschliche hervorbringende Tätigkeiten, kann traditionellerweise nach zwei Arten gedacht werden. Die künstlerische Schöpfung kann als begeistert gedacht werden, das heißt, ihre Bedeutung und Wahrheit rührt aus ihrer Anleitung durch etwas her, was den Menschen wesentlich übersteigt und sich durch ihn als sein Medium mitteilt. „Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus …“ ist der begründende, unvordenkliche Ausdruck dieser enthusiastischen Konzeption der Dichtung. Die andere, wesentlich Hölderlin zeitgenössische Weise, die Dignität des dichterischen Ausdrucks zu behaupten, ist ihre Konzeption als originelle Schöpfung aus der Tiefe einer Subjektivität, deren naturähnliche Eigengesetzlichkeit sich im Werk Bahn bricht. Sie rückt zudem die Kunst in den Phänomenbereich des Selbstbewusstseins, wofür paradigmatisch etwa Edward Youngs Conjectures on Original Composition von 1759 stehen. Die konziseste Darstellung dieses Denkens wird einige Zeit später in der deutschen Philosophie, namentlich durch Kant, in dessen systematischer Zusammenfassung der Genie-Lehre gegeben. „Schöne Kunst ist die Kunst des Genies.“35 Die Genialität wird zur maßgeblichen Bestimmung der Kunst. Die für den Zeitkontext der Anmerkungen dann weiter entscheidende Bestimmung der Schönen Künste ist ihr Bezug zu dem, was Natur heißt. „Natur“ selbst fungiert in der genialen künstlerischen Schöp-

34 Eine ausführliche Darstellung des Verf. zur μηχανη der Alten befindet sich in Vorbereitung. 35 Vgl. Kant: Kritik der Urteilskraft, § 46, S. 405.

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fung als Quelle der Regeln. Die Regeln der Kunst können demnach nicht der Willkür des Künstlers selbst entstammen. Ihre Regelhaftigkeit muss gerade derart sein, dass sie den Anschein von Natur, und zwar von Natur als Freiheit vom Zwang willkürlicher Regeln erzeugt. Die „Schulform“, wie Kant sagt, darf in ihnen nirgends durchscheinen, was den Eindruck der „Peinlichkeit“ ergäbe.36 Dem Auge des Betrachters soll die Kunst den Anschein der Ungebundenheit gewähren. Diese grundsätzliche Gegenstellung zu Schule und Lernen ist auch in der Bestimmung des Angeborenseins ausgesprochen. Genie ist mehr etwas wie ein verhängtes Schicksal, das nicht gelernt werden können darf. Im Genie ist das Verhältnis von Natur und Kunst so beschaffen, dass die – auch weiterhin mit Kunst verbundene – Regelhaftigkeit dennoch mit der Natur solidarisch in dem Sinne ist, dass jene dieser durch Schichten von Fremdem (z.B. von Zivilisation) hindurch in die Erscheinung hilft. In den Regeln der Kunst gibt sich die Natur selbst – und zwar im Element des sterblichen Menschen als Künstler – die authentischen Gesetze ihrer Darstellung. D.h. die Regeln der Darstellung der Sache, wenn diese nach dem überlieferten Begriff von Kunst „Natur“ ist (Kunst als imitatio naturae), sind dieser selbst entnommen und dürfen ihr nicht von Außen im Sinne einer Methode, einer mechanischen, willkürlichen Regel appliziert werden. Regeln des genialen Schaffens sind Regeln der Natur selbst, und aus diesem Grunde bezieht Kunst ihre Berechtigung. Nicht mehr die Muse, sondern die Natur wird zur Führerin der Kunst und des Künstlers. Das Interesse der Kunst ist hierin also insgesamt ein bewahrendes, nämlich Natur zu enthüllen und ungetrübt zur Erscheinung zu bringen. Gemessen an solchen Auffassungen, die den Zeitkontext der Anmerkungen prägen, scheinen Hölderlins Eingangsbemerkungen in zweierlei Hinsicht ein Rückschritt. Zunächst ignorieren sie die typische Elevation der zeitgenössischen philosophischen Theorien zur Kunst und sind – unbekümmert um das Wesen des Schönen – zunächst mehr befasst mit den Bedingungen seiner regelgeleiteten Hervorbringung; und zweitens: Regel ist dann, wie in den überkommenen vorkritischen Theorien, verstanden als durchaus äußerlich zu applizierender, gerade nicht aus der Sache selbst geschöpfte Leitfaden der Darstellung. Regel gehört darin wesentlich also der Seite der Darstellung und nicht der des Gegenstandes an, Regeln sind der Natur unverwandt, d.h. sie sind künstlich. Die notwendige Geschiedenheit von Form und Inhalt kann man vor dem Hintergrund der genannten Zuverlässigkeit des Werks, also seines Mittel-Charakters sehen. Im Begriff der μηχανη werden die formalen Dimensionen des Dichtens hervorgehoben. Soll diesen eine Art der Zuverlässigkeit zukommen,

36 Ebd.

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dann ist das, woran sie sich zu bewähren haben, schlichtweg die Seite des Sinns (Hölderlin setzt Kalkul und Innhalt entgegen). Der Inhalt des Werks bedarf also einer starken formalen Einhegung, so dass hier Wahrheit und Gegenwart stark existentiell erfahren werden. Formen würden dann sicherstellen, daß es ein Anderes zu solcher Wahrheit und Gegenwart gibt; etwas, das nicht mit dem umgreifenden und durchdringenden Sinn identisch und auf ihn zurückführbar ist. Daran ist die Form in Hölderlin ein Anhaltspunkt der Endlichkeit. Weil dichterische Form die Aufgabe hat, Sinn (als Wahrheit und Gegenwart) zu konfrontieren, darf – in prägnantem Gegensatz zur Theorie der Form im Brief eines Dichters an einen anderen – über die Form gerade nicht in Begriffen des Sinns Rechenschaft abgelegt werden können. Beide müssen unebenbürtig bleiben und die eine nicht das Werden des andern sein. Dieser künstliche Charakter der formalen Mittel der Dichtung wird durch Hölderlins Kennzeichnung der μηχανη unterstrichen. Wie bereits bemerkt: Dichterische Form wird durch ein Wort bezeichnet, dessen griechische Herkunft seine Bedeutung für die Kunst nicht unmittelbar klar macht, dessen moderne Konnotationen aber – im Begriff des Mechanischen – umso deutlicher an die unterste, weil geist-, herz- und seelenfernste Stufe im Phänomenbereich der Künste appellieren. Dazu gehört insbesondere auch die für Hölderlins Zeitgenossen nur als Provokation zu verstehende Rede eben von Berechenbarkeit, Schule und vom Handwerksmäßigen, das die der Zeit vertraut gewordene Singularität der künstlerischen Schöpfung in die Perspektive mechanischer Wiederholbarkeit rückt. Die Zuverlässigkeit des Werks ist nicht die Sicherstellung ungetrübter Kommunikation von einem Menschen zum andern, sondern die Optimierung der Regeln der Dichtung im Sinne ihrer blinden Ausführbarkeit als quasi-bewusstloser Verfahren durch den Dichter. Um mittels ihrer im entscheidenden Augenblick, in Situationen der Prüfung selbst und nicht erst philosophisch, in nachträglich gelöster Betrachtung bestehen zu können,37 um also in

37 Es ist eine explizite Übung Hölderlins gewesen, die durch einen Brief vom Januar 1799 bezeugt ist, in solchen Augenblicken und gegen eine als destruktiv erfahrene Rezeptivität Formen des Bestehen-Könnens und der Befestigung auszubilden: „Ich verspreche Ihnen und mir, mich immer zu üben, daß ich das, was ich bei ruhigem Sinne so leicht reimen kann, auch beim ersten Eindruke so aufnehmen lerne.“, vgl. Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, S. 734. Was es zu lernen gilt, ist also die Gleichzeitigkeit des „Reimens“, paradigmatischer Ausdruck anscheinend von Tun und Denken überhaupt, im Moment der Erfahrung, des Eintretens des Ereignisses selbst, dessen Milieu der Faszination durchbrochen sein will. Die Vermögen des Dich-

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solchen Augenblicken zuverlässig zur Hand zu sein und wiederholt werden zu können, muss aber so wenig wie möglich an ein individuelles Wissen und an private, inspirierte Einsicht appelliert werden dürfen. Das Kantisch-Kleistsche Ideal des Zurücktretens der Form im Ereignis des Inhalts wird durch die im Namen der μηχανη entwickelte Lehre der Form insofern umgewendet, als die von Hölderlin genannten Termini – Form ist Kalkul, Gesetz, Berechnung, Schule, Handwerk, Verfahren, Exekution, Wiederholung – durchwegs sehr starke Formbegriffe bezeichnen, deren Charakter der Befestigung38 gerade nicht im Ereignis des intendierten Sinns und des beschworenen Geistes untergehen soll. Für die Beständigkeit und Eigenständigkeit der Formen als deren wesentlicher Qualität in Hölderlins Konzeption spricht schließlich ein nicht zu unterschätzender Punkt in ihrer Präsentation: viele dieser Begriffe appellieren mehr oder weniger direkt an den Bereich des Mathematisch-Logischen, und das heißt, sie beziehen ihren Sinn gerade aus der in diesen Disziplinen wie sonst in keiner anderen und seit je her eingeübten Kraft, von jedem besonderen Inhalt absehen zu können. Ihre Aufgabe ist der Kantisch-Kleistschen der unmittelbaren Vergegenwärtigung des Sinns diametral entgegengesetzt. Form als μηχανη ist ein Inbegriff von Formen, die Form als Form behaupten. Hölderlin widmet dieser Kraft der Form, sich vom lebendigen Inhalt abwenden zu können, eigene Überlegungen.39 In diesem Sinne kann die Form auch nicht als ein notwendiges Übel aufgefasst werden, das in seiner Tragweite zu reduzieren wäre, sondern: Was die moderne Literatur gerade im Vergleich zur griechischen unterscheidet, ist ihr Mangel an Form. Dass dies ein Mangel ist, begründet Hölderlin damit, dass – gerade unter Menschen – die Medialität der Form ein notwendiges Erfordernis darstellt. Der Kenntnis der Medialität der Form als ein lehr- und lernbares Wissen dient die Erhebung der Kunst zur μηχανη.

3.

KLEIST VS. HÖLDERLIN UND BEIDE GEGEN IHRE ZEIT

Die Überlegungen von Kleist und Hölderlin stellen zwei einander entgegengesetzte Extrempositionen hinsichtlich der Auffassung formaler Mittel der Dich-

ters sollen in solchen Momenten unmittelbar zur Verfügung stehen und nicht erst in nachträglicher Betrachtung. 38 Vgl. die bekannte Formulierung aus dem Homburger Folioheft, „bevestigter Gesang“, 307/75 (= S. 101). 39 Hölderlin: Anmerkungen zum Oedipus, S. 100.

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tung dar, und beide stehen wiederum selbst in schroffem Gegensatz zu ihrer Zeit. Die skizzierten poetologischen Reflexionen finden statt im Rahmen der KlassikRomantik in Deutschland, aber durch die beiden Dichter, die gerade die auffälligsten Nichtzugehörigen dieser literarischen Strömung sind, die sie beide, wenn auch auf sehr verschiedene Weise, hinter sich lassen. Beide geben eine in vielen Punkten übereinstimmende Beschreibung der Sprache, aber die Bewertung dieser Charakteristika der Sprache ist ganz entgegengesetzt. – Kleist: Leiden an der – natürlichen – Medialität der Sprache als irreduziblem Dazwischen, das die ideale Kommunikation stört; Kleists Text formuliert die Form als abstoßenden Ausdruck des Histrionischen der literarischen Tätigkeit, das ein für allemal zu überwinden sei. – Hölderlin: Suche, Ausbildung und Befestigung gerade dieser – künstlichen – Medialität als Weise der Distanzierung und Trennung der Darstellung von ihrem Gegenstand, dessen ungeteilte, direkte Gegenwart destruktiv wäre. Die mondäne Dichtung Kleists braucht einen Idealismus der Form, die geistliche Dichtung Hölderlins dagegen eine Materialismus der Form.

LITERATUR Aristoteles, Hermeneutik oder vom sprachlichen Ausdruck (De interpretatione), in: Hans Günter Zekl (Hg.), Aristoteles. Organon, Darmstadt 1998, Bd. 2, S. 95-151. Benjamin, Walter: Die Aufgabe des Übersetzers, in: Charles Baudelaire, Ausgewählte Gedichte, Frankfurt a.M. 1979, S. 7-25. Cassirer, Ernst: Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, in: F. Saxl (Hg.), Vorträge der Bibliothek Warburg, 19211922, Leipzig/Berlin 1923, S. 11-39; nachgedruckt in: E. Cassirer: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Oxford 1956, S. 169-200. Dilthey, Wilhelm: Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing, Goethe, Novalis, Hölderlin, Leipzig 1906. Hellingrath, Norbert von: Pindarübertragungen von Hölderlin. Prolegomena zu einer Erstausgabe, Jena 1911. Herder, Johann Gottfried: Homer und Ossian, in: Die Horen (1795), Zehntes Stück, S. 86-107. Hölderlin, Friedrich: Anmerkungen zum Oedipus, in: Die Trauerspiele des Sophokles. Übersetzt von F. Hölderlin, Frankfurt a.M. 1804, Bd. 1, S. 99-108. — Homburger Folioheft, (hg. D. E. Sattler/E. E. George), Frankfurt a.M. 1986 (= Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe, Supplement III).

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— Sämtliche Werke und Briefe (hg. M. Knaupp), Darmstadt 1998 (Münchner Ausgabe). Humboldt, Wilhelm von: Aeschylos Agamemnon, metrisch übersetzt, Leipzig 1816. — Über die Kawi-Sprache auf der Insel Java, nebst einer Einleitung über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwickelung des Menschengeschlechts, in: Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Aus dem Jahre 1832, Zweiter Theil (1836), Erster Band, S. VII-CCCCXXX und S. 1-312. Humm, Michel: Le mundus et le Comitium : représentations symboliques de l’espace de la cité , Histoire urbaine, Bd. 10, Nr. 2 (2004), S. 43-61. Jakobson, Roman: Linguistics and Poetics, in: S. Rudy (Hg.), Roman Jakobson. Selected Writings III. Poetry of Grammar and Grammar of Poetry, Den Haag/Paris/New York 1981, S. 18-51. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, in: ders., Werke in zehn Bänden (hg. W. Weischedel), Darmstadt 1981, Bd. 8, S. 233-620. Kleist, Heinrich von: Brief eines Dichters an einen anderen, in: ders., Sämtliche Werke und Briefe (hg. H. Sembdner), München 1987, Bd. 2, S. 347-349. Maas, Paul: Griechische Metrik, in: A. Gercke/E. Norden (Hg.), Einleitung in die Altertumswissenschaften, I. Band, 7. Heft, Leipzig 1923, S. 1-33. Mallarmé, Stéphane: Crise de Vers, in: ders., Œuvres complètes (hg. B. Marchal), Paris 2003, Bd. 2, S. 204-213. Platon: Πολιτεία. Der Staat, in: ders., Werke in acht Bänden, griechisch und deutsch (hg. G. Eigler), Darmstadt 1990, Bd. 4, S. 1-875. Primavesi, Oliver: Aristoteles Poetik 1: die Poetizität philosophischer Texte und die Unterscheidung zwischen Metrum und Rhythmus, in: M. Erler/J. E. Heßler (Hg.), Argument und literarische Form in antiker Philosophie. Akten des 3. Kongresses der Gesellschaft für antike Philosophie (= Beiträge zur Altertumskunde Band 320), Berlin/Boston 2013, S. 239-281. Shakespeare, William: Hamlet (hg. H. M. Klein), Stuttgart 1984. Steig, Reinhold: Heinrich von Kleist’s Berliner Kämpfe, Berlin/Stuttgart 1901. Wildgruber, Gerald: L’Ossian de Herder, ou le frisson premier d’une poétique de l’abstraction, in: S. Lemeux-Fraitot/J.-N. Bret (Hg.), La légende d’Ossian et l’art préromantique en Europe, Montargis 2017. Wolf, Friedrich August: Über ein Wort Friedrich’s II. von deutscher Verskunst. Eine Vorlesung, Berlin 1811.

IV. Ethisch-politische Konsequenzen

Platon und die Politik des Rhythmus Attila Simon

Im vorliegenden Beitrag versuche ich skizzenhaft die Rolle zu klären, die nach Platon der Rhythmus als eine wesentliche Komponente des Chortanzes (choreia) in der Erziehung der Polisbürger erfüllt, d.h. in der Herausbildung und Erhaltung ihrer moralischen Grundwerte und ihrer sich auf diesen Werten gründenden politischen Identität.* Den folgenden Überlegungen über die politische Bedeutung des Rhythmus werden die Erörterungen im zweiten Buch der Gesetze zugrundegelegt, aber auch die diesbezüglichen Analysen des Timaios sowie andere Textstellen der Gesetze werden in die Untersuchung einbezogen, um die kosmologischen und physiologischen Zusammenhänge, die die politische Funktion des Chortanzes begründen, aufzuzeigen.

I. Als Einführung stelle ich kurz den Rahmen dar, in dem Platons Behauptungen im zweiten Buch der Gesetze bezüglich des Rhythmus des Chortanzes verortet werden können. „Der Chortanz als Ganzes machte doch in unsern Augen die ganze Erziehung aus“ ‒ sagt der Athener (672e5).1 Ein Mensch ist ohne Erziehung (apaideutos), wenn er im Chorreigen ungeübt ist, dagegen ist der gut Erzogene im Chorreigen geübt (654a-b). Worin besteht das politische Ziel dieser Erziehung, die durch das Medium des Chortanzes vermittelt wird? ∗

Die Arbeit an diesem Beitrag wurde vom Nationalen Büro für Forschung und Innovation (Ungarn) (NKFIH 120375) und von der Stiftung ‚Aktion‘ Österreich-Ungarn finanziell gefördert.

1

Ich zitiere die Übersetzung von Klaus Schöpsdau (Schöpsdau: Nomoi I-III und Nomoi IV-VII).

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Das Ziel der Erziehung ist nach den Gesetzen, die Einheit der Ansichten der Bürger und somit die Identität der ganzen Polis zu sichern (664a).2 Dass sich die Chortänze für diese Aufgabe eignen, ist nicht Platons Innovation. Denn wie bei Platon hatte das von Tanz begleitete Chorlied in der griechischen Kultur der archaischen und klassischen Zeit eine unentbehrliche gedächtnis- und identitätspolitische Rolle.3 John Herington hob in seinem grundlegenden Buch Poetry into Drama bezüglich der ganzen frühen griechischen Dichtung und deren Vortragsformen die kulturschaffende Rolle hervor, für deren Bezeichnung er den Begriff song culture einführte. Die durch den Begriff „Liedkultur“ bezeichnete Erscheinung repräsentiert performative Praktiken einer Gesellschaft, deren prime medium for the expression and communication of its most important feelings and ideas was song. […] Poetry, recited or sung, was for the early Greeks the prime medium for the dissemination of political, moral, and social ideas ‒ history, philosophy, science (as those subjects were then understood), and indeed of what Socrates was later to call „human wisdom“.4

Im Allgemeinen eignet sich der Chortanz für die Erfüllung dieser Aufgabe, weil er als eine Kommunikationssituation identifiziert werden kann, „welche sich in körperlicher Kopräsenz der Kommunikationspartner“ vollzieht,5 „die unmittel-

2 3

Prauscello: Performing Citizenship, S. 105, 107. Ebd., S. 139. „From very early on, the chorus in Greek culture symbolises social solidarity, group unity, and, later, civic cohesion“ (Kowalzig: Broken Rhythms, S. 173). Auch die Theorie der gesellschaftlich-moralischen Wirkung der Musik und also des Rhythmus erschien sogar schon im 5. Jhd. beim Musiktheoretiker Damon oder gar Aristophanes (Barker: Greek Musical Writings I, S. 169; Kowalzig: Broken Rhythms, S. 185, mit 208, Anm. 43). Was den näheren historischen Hintergrund der platonischen Theorie angeht, sieht Kowalzig die Konzeption des Chortanzes in den Gesetzen als „a response to a perceived erosion of the boundaries of the polis and the civic community, and the underlying moral fundamentals“ (ebd., S. 178).

4 5

Herington: Poetry into Drama, S. 3. Gumbrecht: Rhythmus und Sinn, S. 714 (Hervorhebung im Original). Vgl. Gumbrecht: Production of Presence, S. 96-118. Für die Griechen ist Kurkes Ansicht nach, „[c]horeia […] a machine for the production of pure presence, which, through mimesis links together and merges the gods, the dancers, and the human spectators“, und bei dieser Produktion der Präsenz spielt erōs eine entscheidende Rolle (Kurke: Imagining Chorality, S. 147).

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bar in die Handlung einbezogen sind.“6 Die Möglichkeit der politischen Instrumentalisierung der Effekte von körperlicher Präsenz liegt in der „‚Fühlbarkeit‘ der Performanz“, d.h. in der Tatsache, dass in der Performance die „vielfältige[n] Reize und Wahrnehmungen bei der Vermittlung einer Botschaft“ zur Geltung kommen.7 Bei diesem Prozess spielt die sogenannte „kinästhetische Empathie“ eine grundlegende Rolle, d.h. „the process whereby a spectator identifies somatically and kinesthetically with the motion performed by a dancer.“8 Zumthor hebt mehrmals die bestimmende Rolle der direkten Wahrnehmung in der komplexen Wirkung der Performance als „Werk“ („Text, Klänge, Rhythmen, optische Elemente“) hervor: Dem Text entnimmt die Stimme in der Performanz das Werk. Zu diesem Zweck setzt die Performanz funktional alle Elemente ein, die den Werkcharakter tragen und verstärken können, die geeignet sind, Autorität, Geschehen und Überzeugungskraft des Werkes zur Geltung zu bringen.9

Bei Platon ist die Choreia auch darum ein besonders geeignetes Medium für die politische Erziehung, weil sich die Performance der Chortänze hier, in der fiktiven Welt der Gesetze, als Selbstpräsentation und zugleich als ein Teil des Schaffens der neuen, erst zu stiftenden moralischen und politischen Gemeinschaft verwirklicht.10 An dieser Vereinigung der ganzen Polis nimmt der Chortanz teil. Im Chortanz „bezaubert“ sich, wie Peponi formuliert,11 die singende Polis durch die Lösung der Grenzen zwischen den Vortragenden und dem Publikum selbst, und zwar – so korrigiert Prauscello die These von Peponi an einem wichtigen

6

Zumthor: Körper und Performanz, S. 703f.

7

Ebd., S. 704.

8

Olsen: Kinesthetic Choreia, S. 154; Jackson: Greater Than Logos?, S. 156-158. Die kinästhetische Empathie kann in Bezug auf die Zuschauer sowohl die lustvolle Wahrnehmung des Chortanzes als vermutlich auch dessen Begleitung mit unbewussten rhythmischen Bewegungen wie Trommeln mit den Fingern, rhythmische Bewegung des Kopfes oder der Körperteile usw. bedeuten. Auch hier, bei dem Prozess der somatisch-kinästhetischen Identifikation, ist die Rolle von erōs entscheidend: „dance is the Paradebeispiel (as it were) of this powerful work of erotic suturing of one dancer to another, of dancers to audience, and of all to their proper civic formation and habituation“ (Kurke: Imagining Chorality, S. 152).

9

Zumthor: Körper und Performanz, S. 705.

10 Prauscello: Performing Citizenship, S. 118f. 11 Peponi: Choral Anti-Aesthetics, S. 222, 232.

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Punkt – nicht nur auf eine „selbstreflexive“ Weise, sondern weil in der Praxis der Choreia von Magnesia die Vortragenden und die Zuhörer „both speakers and addressees“ sind, und „it is because of this identity between performer and audience that their songs are able to reach the entire city.“12 Mit Platons Worten: „Daß ein jeder, Erwachsener und Kind, Freier und Sklave,13 Mann und Weib, ja die ganze Stadt der ganzen Stadt ohne Unterlaß (ὅλῃ τῇ πόλει ὅλην τὴν πόλιν αὐτὴν αὑτῇ) das, was wir durchgegangen sind, als einen Zaubergesang vorsingen muß (ἐπᾴδουσαν)“ (665c2-5). Die vollendete Einheit der neuen Gemeinschaft in Magnesia soll sich auch auf die Sinnesorgane ausdehnen, damit diese gewissermaßen „gemeinsam“ werden (κοινὰ ἁμῇ γέ πῃ γεγονέναι), also damit unsere Augen, Ohren und Hände sozusagen gemeinsam sehen, hören und handeln können, und dasselbe bezieht sich auf die grundlegenden Affekte von Lust und Schmerz (739c5-d3). Die Leistung der choreia bei der Ausbildung dieser Einheit kann vornehmlich als das Ergebnis der Zusammenwirkung der textuellen und soziokorporellen Formen begriffen werden, letztere verstanden als einen multisensorischen Komplex aller „nichttextuellen Bestandteile, die mit der Körperlichkeit der Teilnehmer und ihrer gesellschaftlichen Existenz als Mitglieder einer Gruppe und als Individuen in einer Gruppe zusammenhängen.“14 In dieser Leistung spielt der verkörperte Rhythmus der Choreia eine entscheidende Rolle. Diese Rolle kann als die koordinierende Funktion des Rhythmus beschrieben werden: „der simultane Gebrauch rhythmischer Sprache erleichtert die Koordinierung der Körperbewegungen von verschiedenen Individuen, läßt sie ‒ metaphorisch gesprochen ‒ zu einem ‚Kollektivsubjekt‘ werden.“15 In Kurkes prägnanter Formulierung über die platonische Theorie der

12 Prauscello: Performing Citizenship, S. 107f., (ähnlich S. 132; S. 165: „to watch the dance and song is a way to participate in it“), mit der überzeugenden Kritik an Peponis Meinung (ebd., S. 108, Anm. 11); ähnlich Olsen: Kinesthetic Choreia, S. 158, 166, und Jackson: Greater Than Logos?, S. 156f., Anm. 23; für Peponi nimmt Kurke Stellung ohne neue Argumente (Imagining Chorality, S. 153, 159). 13 Die Einbeziehung von Fremden und Sklaven in den Vortrag des Chortanzes wäre eine Erneuerung gewesen. (Schöpsdau: Nomoi I-III, S. 310) „The transgression of gender, age, and class boundaries (man and boy, slave and free, man and woman) seems to be essential for the Athenian’s vision of choreia“ (Peponi: Choral Anti-Aesthetics, S. 222), und weist darauf hin, wie ernst und konzeptionell Platon die gemeinschaftsbildende Rolle des Chortanzes erdachte. 14 Zumthor: Körper und Performanz, S. 707. 15 Gumbrecht: Rhythmus und Sinn, S. 717.

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Choreia: „This is the remarkable work of choreia ‒ the perfect coordination or orchestration of movement and song, so that many voices sing as one voice and many bodies move as a single organism. […] it forms ‚perfect citizens‘, for they all work in unison, in harmony with each other.“16 Durch den Chortanz werden die Vortragenden und das Publikum „‚zu einem Subjekt‘“, dessen Identität sich auf die Identität der kinästhetischen Empfindung von Tänzern und Zuschauern gründet.17 Die Götter, die den Menschen das Gefühl für Harmonie und Rhythmus gegeben haben, reihen die Bürger „in Gesängen und Tänzen“ aneinander (συνείροντας) (654a4). Zusammenfassend lässt sich über die Beziehung von der sinnlich-körperlichen Kopräsenz der Teilnehmer und der politischen Funktion der choreia die Formulierung aus Barbara Kowalzigs Aufsatz zitieren: [T]he dancing rhythm creates bodily affinity between citizens and lies at the juncture of individual and collective self; […] rhythm underlies […] the ‚bodily social‘, a physical property of community while it dances, a transcendent force realised in the convergence of individuals’ rhythmic impulse in the chorus. […] the physical properties of the individual body merge with those of collective rhythmicity; in a somewhat materialist turn, this collective rhythmicity becomes the nexus where ‚nature‘ and ‚culture‘ meet in society.18

16 Kurke: Imagining Chorality, S. 132 (zu 653c7-654a7). 17 Gumbrecht: Rhythmus und Sinn, S. 721f. Hier konstituiert sich die Bewegungsform auf der Seite des Vortragenden „aus der kinästhetischen Empfindung der eigenen Sprechorgane, der eigenen Gehörorgane, des eigenen Körpers“, auf der Seite des „Rezipienten“ (der allerdings dem Vortrag aktiv folgt, ihn sozusagen „nachvollzieht“) „aus der kinästhetischen Empfindung der eigenen Gehörorgane, des eigenen Körpers“ (ebd., S. 721). 18 Kowalzig: Broken Rhythms, S. 172f. Demgemäß kann die Choreia bei Platon als eine Form der Herrschaft verstanden werden, und sie hat selbstverständlich eine charakteristische machtpolitische Funktion: „[T]he recognition of rhythmicity as something social entails that trying to regulate rhythm is attempting a form of control over the individual, and being in command of the rhythms of social life is a form of power“; „Keeping a check on rhythm is pivotal to preventing social change. What the Laws are trying to regulate socially is the fundamental irregularity of individual, human rhythmos“ (ebd., S. 180; 187). Natürlich birgt diese Herrschaft über das Unbeherrschbare („Platos Laws may have attempted to control the uncontrollable“ [ebd., S. 203]) ihre eigenen Gefahren, denn sie setzt für die erzieherisch-politische Instrumentalisierung Mittel ein, die sich verselbstständigen können: „Controlling choreia means mastering the passage of social time, while altering the dancing pace inevitably loosens the grip

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Die politische Einheit der Gemeinschaft soll auf der moralischen Einheit derselben beruhen. Diese These, die bei den größten politischen Denkern der Antike, von Platon über Aristoteles bis Cicero, zur Geltung gebracht wird, wird im zweiten Buch der Gesetze in Bezug auf die Einheit von Lustvollem, Gerechtem, Gutem und Schönem entfaltet.19 Diese Einheit können die Bürger in der aretē, in „der ganzen Tugend“, erreichen, die durch die Erziehung entsteht (653b6). Die „Übereinstimmung“ in den Verhältnissen der Bürger, die sich durch den Chortanz verwirklicht, ist als Gefühl der Zusammengehörigkeit ein Ergebnis ‒ eine Art Widerhall ‒ der „Übereinstimmung (συμφωνία)“, die im günstigen Fall in der moralischen Psychologie des Individuums erscheint.20 Diese durch die Gestaltung der Seele zu erschaffende Symphonie bedeutet eine Übereinstimmung zwischen den prärationalen (aber nicht notwendig irrationalen) Affekten und dem Denken. Ihr Zustandekommen kann im Fall der Kinder, die noch keinen logos, d.h. keine Fähigkeit zum richtigen Werturteil, haben,21 „durch die entsprechenden Gewöhnungen“ gefördert werden (653b1-6),22 im Fall der Erwachsenen hat es eine korrektive, auf den rechten Weg zurückführende Wirkung (653d).23 Die Affekte, die in Übereinstimmung mit dem später auszuformenden logos stehen sollen, sind „Lust und Liebe, Schmerz und Haß“ (653b2-3). Diese sollen auf die rechte Weise in die Seelen der Kinder eingepflanzt werden, „solange diese noch nicht zu einem vernünftigen Urteil fähig sind“.24 Im Zentrum der

and can thus provoke social change ‒ as if the wild element in rhythm were set free“ (ebd., S. 193). 19 663a9-b1: ἡδύ τε καὶ δίκαιον καὶ ἀγαθόν τε καὶ καλὸν; vgl. 662d1, 663a1-7, 667c5-7. 20 Die συμφωνία im wörtlichen Sinne weist auch auf die Verbindung vom Gesang in der Choreia und den Affekten hin, vgl. Staat 401b-d, und Kurke: Imagining Chorality, S. 139: „What the Athenian describes is the pathe ,sounding in harmony with‘ reason like a perfectly coordinated chorus singing in unison.“ Über die Moralpsychologie der ersten zwei Bücher der Gesetze, im Kontext des ganzen Spätwerks Platons, siehe Frede: Puppets on strings und Kamtekar: Psychology and the inculcation of virtue. 21 Sauvé Meyer: Plato: Laws 1 and 2, S. 209. 22 Vgl. Staat 400c-402a, 590e-591a, und Aristoteles: Nikomachische Ethik 1104b11-13 (mit Hinweis auf Platon); Politik 1340a14ff. Siehe noch dazu Frede: Puppets on strings, S. 121. 23 Pangle: The Laws of Plato, S. 405f; Prauscello: Performing Citizenship, S. 129, 137f; Sauvé Meyer: Plato: Laws 1 and 2, S. 213. 24 Zur Bedeutung der Affekte bei der Erziehung durch Chortänze siehe am neuesten Jackson: Greater Than Logos?, obwohl ich mit ihrer Behauptung über die ausschließliche Rolle der Affekte in der pädagogischen Funktion der choreia nicht einverstanden

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richtigen Behandlung der Affekte und überhaupt der Hervorrufung der angemessenen affektiven Antworten steht die Lust (hēdonē, chairein, chara),25 gleichzeitig ist aber diese Lust nicht der einzige und nicht einmal der wichtigste Zweck des Singens und Tanzens in der Choreia, denn die Lust ist kognitiven (667d668b) und (in Zusammenhang mit diesen) moralischen (669c, 670d-e) Zwecken untergeordnet.26 Die Lust ist nur ein Medium oder ein Vehikel für jene sich immer erneuernde überzeugende Kraft,27 die sich eben dem lustvollen und damit Sehnsucht erregenden Charakter des Chortanzes verdankt und die Aneignung der richtigen Werte und des richtigen Verhaltens ermöglicht, indem der Mensch notwendigerweise „jeweils dem ähnlich wird, worüber er sich freut“ (656b4-5: ὁμοιοῦσθαι δήπου ἀνάγκη τὸν χαίροντα ὁποτέροις ἂν χαίρῃ).28 In dieser Hinsicht hat die Tatsache eine große Bedeutung, dass die Teilnehmer des Chortanzes ihre Vorstellung vor einem Publikum geben, dessen Teil sie auch selber sind und das durch den Chorus selbst repräsentiert wird: „[T]he performers are citizens who perform in propria persona“, und auf diese Weise können sie die moralisch destruktiven Folgen der dramatischen Mimesis vermeiden, die Platon im dritten Buch des Staates ausführt.29 Die Lust vermittelt aber auch zwischen dem Moralischen und dem Ästhetischen. Da Chortänze nachahmende Darstellungen von Charakteren sind und mit allen möglichen Handlungen und Situationen und Gesinnungen zu tun haben und da diese von den Tänzern jeweils mimisch dargestellt werden, so müssen notwendig diejenigen, deren Charakter das durch Worte oder durch Gesang oder sonstwie im Tanz Dargestellte, sei es aufgrund ihres Naturells oder aufgrund von Gewöhnung oder von beidem, entspricht, sich auch daran freuen (χαίρειν), es loben und als schön (καλὰ) bezeichnen. (655d5-655e2)

Hier ermöglicht die Mehrdeutigkeit des kalon ‒ es kann sich nämlich sowohl auf moralische als auch auf ästhetische Werte beziehen ‒, dass sich das Moralische

bin (vgl. ebd., S. 153), siehe dazu meine Erörterungen im II. Teil über die leitende oder zumindest gleichrangige Rolle des logos, des semantischen (d.h. kognitiven und moralischen) Elements in der Choreia. 25 Neben den theoretischen Erörterungen siehe dazu auch das pseudoetymologische Spiel mit den Wörtern choros und chara (Freude): 654a4-5. 26 Frede: Puppets on strings, S. 124-125. 27 Prauscello: Performing Citizenship, S. 132. 28 Vgl. Staat 395d1-3, und Hatzistavrou: „Correctness“, 362-366. 29 Prauscello: Performing Citizenship, S. 127f, 157f; vgl. Staat 395c-d.

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unmittelbar mit dem Ästhetischen verbindet. Darum ist es beispielweise möglich, dass man die Bewegung oder die Melodie (σχῆμα ἢ μέλος) eines Tapferen schön (καλά) findet, die eines Feigen aber häßlich (αἰσχρά; 655a9‒b2, vgl. 802c‒e; das aischron als „häßlich“ und „schändlich“ hat dieselbe mehrdeutige Bedeutungsstruktur wie sein positives Pendant). Das, was Lust hervorruft, muss sowohl in moralischem als auch in ästhetischem Sinne „schön“ (kalon) sein (655e3-5, 815d-816a).30 In diesem Fall ist aber entscheidend, dass die moralische Qualität der wahrgenommenen Dinge schon in der Sinneswahrnehmung (aisthēsis) selbst erscheinen soll, und zwar richtig, d.h. „der Wahrheit gemäß“. Man soll das wahrhaft (d.h. im moralischen Sinne) Schöne für (im ästhetischen Sinne) schön halten und ebenso das wahrhaft Hässliche für hässlich (654c).31 Die Kunst der choreia als moralisches Erziehungsmittel bedeutet also gleichzeitig die Regulierung der Wahrnehmung. Die moralische Wirkung gründet sich auf diese sinnlich-ästhetische Wirkung, daher ist das primäre Ziel der choreia die Regulierung der Wahrnehmung, ja die Einpflanzung einer neuen „Grammatik der Wahrnehmung“ in die Seele der Bürger, also die Ausformung der richtigen Wahrnehmung.32 Mit den Worten von Lucia Prauscello: „More than anything else, the Magnesian education in choreia is an education of perceptions.“33 In diesem Rahmen erfüllt also die choreia in Magnesia ihre soziokulturelle und politische Rolle, d.h.: „a full integration of individual and collective as a basis for stability in the city-state“.34 Vor diesem Hintergrund untersuche ich im Folgenden einige Themen, die in der bisherigen Forschung weniger beachtet wurden. Erstens nehme ich die zentrale Rolle des Rhythmus in Augenschein, die dieser als vermittelnder Bestandteil zwischen den anderen Komponenten des Chortanzes sowie bei der Ausarbeitung einer anthropologischen Differenz spielt, die auf den Sinn für Rhythmus aufgebaut ist (II). Zweitens untersuche ich, aufgrund des Timaios, skizzenhaft einige wichtige Komponenten des Hintergrundes der Theorie des Rhythmus im zweiten Buch der Gesetze. Es handelt sich hier um die Zusammenhänge einerseits kosmologischer, andererseits psychologischer, physiologischer und anthropologischer Kontexte von Harmonie und Rhythmus (III). Dann interpretiere ich eine Stelle aus dem siebten Buch der Gesetze, wo Platon am Beispiel der

30 Sauvé Meyer: Plato: Laws 1 and 2, S. 233. 31 Schöpsdau: Nomoi I-III, S. 270-272. 32 Prauscello: Performing Citizenship, S. 116-118. 33 Ebd., S. 151. Vgl. 661b-c, 670b und Timaios 64aff. über die Zusammenhänge von Wahrnehmung, Lust und Schmerz. 34 Kowalzig: Broken Rhythms, S. 172.

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Kleinkinder über die auf die Seele ausgeübte günstige Wirkung der rhythmischen körperlichen Bewegungen sowie der Melodie und des Rhythmus der Musik Thesen formuliert, die teilweise auf die Chortänze bezogen werden und auf diese Weise als somatotheoretischer Hintergrund zur Theorie der politischen Wirkung des Rhythmus bewertet werden können (IV). Zum Schluss fasse ich die Ergebnisse zusammen (V).

II. Wenn der skizzierte Zusammenhang von Politik, Moral, Affektivität und Wahrnehmung auf die Achse der sinnlichen Effekte des Chortanzes projiziert wird, dann erweisen sich Harmonie und Rhythmus als die wichtigsten körperlichsensorischen Komponenten der choreia. Die harmonia kommt im zweiten Buch der Gesetze meist im ganz allgemeinen Sinne als Verbindung oder Zusammenstellung von musikalischen Tönen vor (z.B. 665a).35 Es gibt aber Stellen, wo sie im Sinne von „Tonart“ auftaucht (669e3, 670b2, 670d4, e6).36 Betrachten wir den Rhythmus näher. Der rhythmos bezieht sich im zweiten Buch der Gesetze meistens auf die geregelten Bewegungen der Tänzer (653e‒ 654a, 665a, 669c, 670d, 673d), allerdings nicht ausschließlich, weil er sich ausdrücklich auch auf die Rhythmisiertheit der Stimme, d.h. des Singens beziehen kann (672e5-6). Die Bewegungen und Melodien, deren Rhythmisiertheit und harmonische oder disharmonische Beschaffenheit manifestieren die moralische Qualität der Charaktere als ästhetische (sinnliche) Erfahrung (655a-b, 656c, 815e7-816a3).37 Der Dichter muss im Chorreigen, der „insgesamt aus Tanz und Gesang“ besteht,38 „mittels schöner und lobenswerter Worte“ die Vortragenden und die Zuschauer zur Tugend wenden, dadurch, dass „in den Rhythmen die Körperhaltungen und in den Harmonien die Melodie von besonnenen und tapferen und in jeder Hinsicht guten Männern darzustellen und damit richtig zu dichten“ ist (660a4-8). Die formalen oder aus anderem Aspekt bloß sinnlichen Konstituenten, welche doch die moralischen Merkmale manifestieren, erhalten

35 Über diesen „älteren“ Begriff von harmonia siehe Schöpsdau: Nomoi I-III, S. 263. 36 Über diese Bedeutung von harmonia, charakteristisch im Staat, siehe Barker: Greek Musical Writings I, S. 163-168. 37 Vgl. Staat 398c-402a für die Fähigkeit des Rhythmus und der Harmonie (etwa im Sinne von „Tonart“), Charaktere darstellen zu können, mit Hinweis auf Damons Theorie. 38 654b3-4; ähnlich 655a4-6, über die mousikē; 664e6-665a3.

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hier ihre moralische Bedeutung, indem die rhythmische Organisiertheit der Bewegungen (ἔν τε ῥυθμοῖς σχήματα) und die in verschiedenen Tonarten erscheinenden Melodien (ἐν ἁρμονίαισιν μέλη) sich mit den Komponenten verbinden, die einen semantischen und zugleich ästhetischen und moralischen Wert vermitteln (ἐν τοῖς καλοῖς ῥήμασι καὶ ἐπαινετοῖς). Hier kann man nur vermuten, dass es die Worte sind, die in diesem Zusammenspiel die leitende Rolle übernehmen, indem sie als sinnvermittelnde Einheiten den sonst unorientierten und unverständlichen Komponenten übergeordnet sind.39 Die sinnvermittelnde Rolle der Worte ist aber keineswegs die einzige, weil die Erwähnung der „Schönheit“ von Worten nicht ihre rationale Überzeugungskraft, sondern ihre moralische Angemessenheit und ihre sinnliche Wirkung heraushebt.40 Anderswo erscheint aber die leitende Rolle des logos eindeutig. Dementsprechend sollen die Dichter die Harmonien und Rhythmen der Formulierung der wichtigsten moralischen Werte zupassen (τούτοις ἑπομένους ῥυθμούς τε καὶ ἁρμονίας), um auf diese Weise die Jugend zu erziehen (παιδεύειν οὕτω τοὺς νέους ἡμῶν) (661c5-7). Wenn die Dichter Melodie und Rhythmus ohne Worte (μέλος δ’ αὖ καὶ ῥυθμὸν ἄνευ ῥημάτων) verknüpfen, indem sie bloße Kitharaund Aulosmusik zur Begleitung der Tanzbewegungen41 verwenden, ist „natürlich nur sehr schwer zu erkennen […], was Rhythmus und Harmonie, die ohne Worte (ἄνευ λόγου) vorgetragen werden, besagen wollen (γιγνώσκειν ὅτι τε βούλεται), und mit welcher der Nachahmungen, die der Rede wert sind, man sie vergleichen könnte“ (669e1-4).42 In diesem Zusammenwirken der verschiedenen Komponenten der platonischen choreia spielen also der logos und die rhēmata die Hauptrolle, und zwar durch ihren semantischen Inhalt, der die kognitive und moralische Richtigkeit der Darstellung repräsentiert.43 In diesem Komplex sind die Melodie, der Rhythmus und die Harmonie als die akustischen Komponenten des Singens und der instrumentellen Musik zweitrangig, wie auch die Tanzbewegungen als optische und zugleich auf das Rhythmusgefühl wirkende kinästhetische Elemente domestiziert und der Repräsentation unterworfen zu werden scheinen.

39 Schöpsdau: Nomoi I-III, S. 291. 40 Sauvé Meyer: Plato: Laws 1 and 2, S. 250. 41 So richtig England: The Laws of Plato, I, S. 327; nach Schöpsdau: Nomoi I-III, 331f. und Sauvé Meyer: Plato: Laws 1 and 2, S. 316, würde es sich hier um reine Instrumentalmusik (ohne Tanz) handeln. 42 Vgl. Staat 397b-e, 398d, 399e-400a. 43 Vgl. Staat 400c-e; die Parallelität der diesbezüglichen Konzeptionen des Staates und der Gesetze betont Büttner: Die Literaturtheorie bei Platon, S. 235, vgl. 155-157.

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Die Zurückdrängung der sinnlichen Konstituenten oder mindestens deren geringere Bedeutung im Verhältnis zu den verständlichen oder hermeneutischen Elementen44 bedeutet aber keinesfalls, dass diese Konstituenten ihre Wichtigkeit ganz verlieren. Gerade durch die oben dargestellte Verknüpfung von Sinnlichkeit und Moral gewinnen sie an Bedeutung. Diese entwickelt sich in einem komplexen ästhetischen Wirkungszusammenhang. In dieser Konfiguration konstituieren der Text, die gesungene und auf einem Instrument gespielte (und notwendigerweise rhythmisierte) Melodie sowie der Rhythmus des an ihnen orientierten Tanzes ein harmonisches Ganzes, ein wirkliches Gesamtkunstwerk, das aus voneinander untrennbaren Komponenten besteht, „die zusammenstimmen müssen. Er [der richtig ausgeführte Chorreigen] ist die komplizierteste und zugleich schönste mögliche Art der musischen Abbildung.“45 Wie genau verhalten sich diese Bestandteile zueinander? Dies erscheint am klarsten, wo der Athener die strukturellen Komponenten des Chortanzes (672e673a) und weiter unten dessen vermutlich biologisch-anthropologischen Ursprung (673d) darstellt. Fangen wir mit dem ersten an. „Der Chortanz als Ganzes machte doch in unsern Augen die ganze Erziehung aus; davon wiederum besteht ein Teil in Rhythmen und Harmonien, nämlich der, der mit Stimme zu tun hat (τὸ μὲν ῥυθμοί τε καὶ ἁρμονίαι, τὸ κατὰ τὴν φωνήν)“ (672e5-6). Da erscheint der Rhythmus (zusammen mit der Harmonie) als ein Bestandteil des gesungenen Textes. Der andere aber, der mit der Bewegung des Körpers zu tun hat (Τὸ δέ γε κατὰ τὴν τοῦ σώματος κίνησιν), hatte zwar den Rhythmus mit der Bewegung der Stimme gemein (ῥυθμὸν μὲν κοινὸν τῇ τῆς φωνῆς εἶχε κινήσει), die Körperhaltung [und die Tanzbewegung46] aber als besondere Eigentümlichkeit (σχῆμα δὲ ἴδιον). Dort ist die Melodie die Bewegung der Stimme (ἐκεῖ δὲ μέλος ἡ τῆς φωνῆς κίνησις) (672e8-673a1).

44 Gumbrecht: Production of Presence. 45 Büttner: Die Literaturtheorie bei Platon, S. 245. Siehe dazu z.B. Gesetze 669b-671a, 802b-e, 812b-c; vgl. Protagoras 326b. Zu dieser perfekten Integration von allen Komponenten des Chortanzes, an den Beispielen aus der früheren griechischen Literatur, siehe Kurke: Imagining Chorality, S. 146-160. Ferner, ex negativo, wird bei Platon die Spannung zwischen den semantischen und nicht-semantischen Komponenten negativ beurteilt (669c-670a, 670b, 670d-671a, 673d). Diese Spannung halten aber Gumbrecht (Rhythmus und Sinn, S. 715, 727f.) und Zumthor (Körper und Performanz, S. 709) aus der Sicht der „Materialitäten der Kommunikation“ für wichtig. 46 Für meine Ergänzung zu Schöpsdaus Übersetzung von σχῆμα siehe England: The Laws of Plato, I, S. 338: „gesture and posture“; Barker: Greek Musical Writings I,

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Die andere Konstituente des Chortanzes steht also in Beziehung zur Bewegung des Körpers. Diese Bewegung hat ein selbstständiges, nur für sie selbst charakteristisches Element, nämlich die Tanzbewegung, ebenso wie im Singen die Melodie als eine selbstständige Komponente erscheint. Zugleich ist das gemeinsame, vermittelnde Element zwischen körperlicher Bewegung und der Bewegung der Stimme der Rhythmus, der also den zentralen Ort im Chortanz als Ganzem einnimmt. Der Rhythmus ist die Komponente, die diese Konstituenten als ein gemeinsamer Bestandteil des Textes, des Gesanges, der Musik und des Tanzes miteinander verbindet und als eine Art Medium zwischen ihnen fungiert. Der Rhythmus fügt die Elemente der choreia als multisensorischer oder multimedialer Performance zusammen und ordnet sie, er rhythmisiert sie sozusagen zu einem einheitlichen Produkt, einem Gesamtkunstwerk. Platon braucht die rhythmischen Elemente der Sprache nicht getrennt zu behandeln, denn diese Komponenten manifestieren sich erst als Teile eines größeren Ganzen, indem der sprachliche Rhythmus, die Prosodie, von dem Rhythmus der Musik (der melodischen Komponente der Musik) und des Tanzes untrennbar ist. Dieser multisensorische rhythmische Prozess wird von den Vortragenden und Zuschauern des Chortanzes sowohl auf der perzeptiven Ebene der Lautrezeption (von beiden Seiten), als auch auf der kinästhetischen Ebene (als Lautproduktion von der Seite der Vortragenden und als Rhythmusgefühl von beiden Seiten) erlebt.47 Was die nicht-semantische vermittelnde Rolle des Rhythmus angeht, zeigen sich die früher definitiv hierarchisch erscheinenden Elemente in diesem Zusammenhang eher als gleichrangig und als solche, welche einander gegenseitig bestimmen. Die choreia gilt als fehlerfrei, wenn die rhythmische Übereinstimmung der Bestandteile vollkommen ist. In diesem Zusammenhang soll darauf hingewiesen werden, dass die zentrale Rolle des Rhythmus darin begründet liegt, dass Platon hier den Vollzug oder den Prozess des Tanzes und der Stimme und des musikalischen Tons als Bewegung, kinēsis, auffasst. Im Falle der Stimme bezieht sich das nicht nur auf das Hören als die Erfahrung der Stimme (die als melodische Stimme, wie gesehen, immer eine rhythmische Bewegung ist), sondern auch auf die Stimmbildung selbst, die

S. 142: „position of the body in the dance“, aber auch „dance-figure“; Sauvé Meyer: Plato: Laws 1 and 2, S. 333: „gesture“; Kowalzig: Broken Rhythms, S. 208f., Anm. 46: „the word regularly used to describe rhythmically determined moments in the dance is schema, describing a well-ordered pattern of bodily postures and transitions between them (cf. Aristox. Rhythm. 2.4-5; Aristid. Quint. 3.24-7)“. 47 Gumbrecht: Rhythmus und Sinn, S. 721; Olsen: „Kinesthetic Choreia“, S. 171, über die synästhetische Qualität der choreia.

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von den rhythmischen Bewegungen der Sprechorgane: der Zunge und des Kiefers, der Stimmbänder, des Kehlkopfes und der Lungen, der Ein- und Ausatmung bestimmt ist.48 Dieser Bewegungscharakter, d.h. die Temporalität, das Strömen, die Dynamik, das Tempo der Stimme, des musikalischen Tons und der Tanzbewegungen wird zur Möglichkeitsbedingung der Rhythmisierbarkeit, und der Rhythmus lässt sich als geregelte und regulierende Verbindung von diesen schon in sich selbst geregelten klanglichen und körperlichen Bewegungen begreifen.49 Sowohl im Hinblick auf die Vortagenden des Chortanzes (potenziell alle Bewohner der polis) als auch (zwar in geringerem Maße, aber durch Sehen und Hören und die Kinästhesie auch im Hinblick auf) die Zuschauer der aktuellen Tanzperformance bekommt in Platons Theorie die sinnliche (ästhetische) Teilhabe eine Rolle, die den Vortrag des Chortanzes in den sinnlichen Wirkungen, in den somatischen Impulsen der nicht-semantischen Materialität begründet. Nichts anderes als die Verschmelzung von Sinn (logos) und Sinneswahrnehmung (aisthēsis) manifestiert sich in der platonischen Theorie von choreia mit normativen Akzenten. Die andere Passage, die den Ursprung des Chortanzes erörtert, lautet wie folgt: Der Ursprung auch dieses Spiels liegt wiederum darin, daß jedes Lebewesen von Natur gewohnt ist zu springen (τὸ κατὰ φύσιν πηδᾶν εἰθίσθαι πᾶν ζῷον); der Mensch aber, der, wie gesagt, das Gefühl für den Rhythmus empfangen hat (αἴσθησιν λαβὸν τοῦ ῥυθμοῦ), zeugte und gebar den Tanz (ἐγέννησέν τε ὄρχησιν καὶ ἔτεκεν), und da das Lied zum Rhythmus anregte und ihn weckte (τοῦ δὲ μέλους ὑπομιμνῄσκοντος καὶ ἐγείροντος τὸν ῥυθμόν), erzeugten sie beide miteinander vereint den Chortanz und sein heiteres Spiel (κοινωθέντ’ ἀλλήλοις χορείαν καὶ παιδιὰν ἐτεκέτην) (673c9-d5).

Diese Erörterung stellt die Frage nach dem Ursprung der choreia in den Rahmen einer („evolutionistischen“) biologischen Anthropologie. Durch den Hinweis auf das Springen (die ungeregelte Bewegung, vgl. 653e-654a) als ein gemeinsames, natürliches (κατὰ φύσιν) Element im Verhalten von Menschen und Tieren als Lebewesen wird an dieser Stelle das somatisch-physiologisch-biologische Mo-

48 Havelock: Preface to Plato, S. 148. Zur Funktion des Rhythmus in der poetischen Performance siehe ebd., S. 147-149; das ganze Kapitel über die „Psychology of Poetic Performance“ kann als eine frühe und grundlegende, obwohl heutzutage sehr rar erwähnte Erörterung der poetischen Performance (auch des Chortanzes: ebd., S. 150f.) aus material-medialem Aspekt bewertet werden. 49 Schöpsdau: Nomoi I-III, S. 344.

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ment betont,50 obwohl das Biologische nur die eine Konstituente des „bodily social“ ist, indem das „Körperlich-Soziale“ transzendiert im Rhythmus „the personal but also the biological: rhythm brings together nature and culture, the physical and the culturally acquired“.51 Dieses biologische Moment wird auch durch die Metaphern von Zeugung und Gebären (ἐγέννησέν […] καὶ ἔτεκεν) hervorgehoben, welche Platon in ähnlichen Kontexten oft verwendet.52 Die hier entwickelte anthropologische Differenz kann im Sinne der zitierten Darstellung in der Rhythmisierung und ordnenden Regelung des Springens erfasst werden. (Die Kinder stehen in dieser Hinsicht auf einer Zwischenstufe zwischen den Tieren und den Erwachsenen: 664e, 672c.53) Die Entstehung des Tanzes, der Bewegungskomponente der choreia, kann auf das Gefühl für Rhythmus (αἴσθησιν λαβὸν τοῦ ῥυθμοῦ) zurückgeführt werden, das uns die Götter gegeben haben. Die Melodie (melos) kann sich mit dem Tanz verbinden, indem sie den Menschen an sein von vornherein empfangenes Gefühl für Rhythmus erinnert und damit zu dessen Verwendung anregt: Sie weckt den Rhythmus, der dem Menschen innewohnt (τοῦ δὲ μέλους ὑπομιμνῄσκοντος καὶ ἐγείροντος τὸν ῥυθμόν). Diese Fähigkeit der Melodie verdankt sich aber nicht nur der rhythmischen Gliederung, die der Melodie selbst innewohnt (denn wenn die Melodie eine zeitliche Entwicklung der Töne ist, hat sie ja notwendigerweise auch Rhythmus), sondern auch der Tatsache, dass nach Platon die Verhältnisse der in der Melodie aneinander gereihten Töne selbst Bewegungsverhältnisse sind,54 sofern sie selbst als Rhythmen aufgefasst werden können. Wie es an der oben zitierten Stelle heißt: „die Melodie ist die Bewegung der Stimme“ (μέλος ἡ τῆς φωνῆς κίνησις: 673a1). Und schließlich: die untrennbare Zusammenfügung von Melodie und Tanz ‒ die im griechischen Text mit den Dualformen (κοινωθέντ’ […] ἐτεκέτην) auch grammatisch hervorgehoben wird ‒ bringt den Chortanz als einheitliches Ganzes hervor. Der Rhythmus ist also auch in diesem Verhältnis der verbindende oder vermittelnde Bestandteil, genauso wie er die semantischen und nichtsemantischen, verstandesmäßigen und sinnlichen Komponenten des Chortanzes zusammenknüpft. Das Einhergehen des sprachlichen Rhythmus und des Rhythmus des Singens, der Musik sowie des Tanzes verleiht dem sinnlichen und emotionellen Charakter der alogisch-sensuellen Komponenten Nachdruck, während die zen-

50 Dazu siehe auch Kowalzig: Broken Rhythms, S. 181. 51 Ebd., S. 193. 52 Vgl. Schöpsdau: Nomoi I-III, S. 514 zu 701a8. 53 Bobonich: Plato’s Utopia Recast, 364. 54 Vgl. Timaios 80a-b.

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trale Rolle des logos fortbesteht ‒ aber die des logos als einer verkörperten, versinnlichten Sprache. Diese materielle Rhythmus-Komposition sichert die Erfüllung der affektiven Funktion des Rhythmus. Diese Funktion kann beschrieben werden als eine spezifische Nähe/Koppelung zwischen der Konstituierung semantischer Formen und der kinästhetischen Empfindung von Bewegungsformen. Anders formuliert: „Affektivität“ wird definierbar als die Unfähigkeit/Unmöglichkeit, die Konstitution semantischer Formen vom Empfinden des eigenen Körpers abzusetzen.55

Diese Empfindung des eigenen Körpers bei diesem Prozess der Performance der choreia ist bei den Tänzern offenbar stärker, aber auch die Zuschauer haben an ihr teil. Da zeigt sich eine Verflechtung von Seele und Körper, von Verstandesmäßigem und Sinnlichem, Hermeneutischem und Nicht-Hermeneutischem, deren wichtigste Merkmale das Gleichgewicht, die Übereinstimmung sowie die Ordnung, das ordnungsmäßige Verhältnis sind. Bei Platon verbindet sich mit dem Rhythmus einerseits und vor allem die metaphysische und physische oder kosmologische Vorstellung der Ordnung (taxis) (653e3-5),56 andererseits die Vorstellung, dass das Gefühl (aisthēsis) für Rhythmus und Harmonie mit Lust einhergeht (654a2-3: τὴν ἔνρυθμόν τε καὶ ἐναρμόνιον αἴσθησιν μεθ’ ἡδονῆς). Wie aber aus Platons späterer Lusttheorie (Philebos, Timaios) bekannt ist, ist die Lust selbst durch die Untrennbarkeit von körperlichen und seelischen oder gar verstandesmäßigen Momenten der Wahrnehmung charakterisiert.57 Deshalb kann Platon, wie schon erwähnt, so selbstverständlich eine Beziehung zwischen Wahrnehmung und Gefühl schaffen, und eben diese Beziehung bildet den Grund für die moralische und zugleich politische Wirkung des Sinnlichen.58

55 Gumbrecht: Rhythmus und Sinn, S. 722. 56 Kowalzig: Broken Rhythms, S. 184. 57 Pelosi: Plato on Music, Soul and Body, S. 99. 58 Frede: Puppets on Strings, S. 110-111; Kamtekar: Psychology and the inculcation of virtue, S. 143-148;

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III. Die Grundlagen der wirkungstheoretischen Konzeption, die auf der Vorstellung von Ordnung und psychosomatischer Einheit beruht, werden im Timaios (42eff.) erarbeitet. Wie es an dieser Stelle im Timaios heißt, erschuf der Schöpfer des Weltalls, nachdem er die Götter zustande gebracht hatte, auch die menschliche Seele. Er beauftragte die von ihm erschaffenen Götter, den menschlichen Körper zu schaffen und die Seele mit dem Körper zu verbinden. Als die Götter „[…] die Umläufe der unsterblichen Seele“59 in den hin- und herfließenden Körper fesselten, kam als Ergebnis der äußeren Einwirkungen (pathēmata) ein Durcheinander ohne verständige Ordnung in den Bewegungen zustande (43a-c). Als Folge der physischen Wirkungen gerieten die äußeren Bewegungen durch den Körper in die Seele, und diese Einwirkungen, die die Seele überfallen, werden aisthēseis genannt (43c4-7). Diese Eindrücke können mit ihrer unwiderstehlichen Kraft den Kreisbewegungen der Seele die vorherrschende und leitende Rolle entreißen, und sie reißen die Bewegungen und „das ganze Gefäß“ der Seele mit sich fort. Durch diese Einwirkungen wird die im Körper gefesselte Seele anous, unvernünftig oder unverständig (44a4-b1). In diesem Zustand pendelt die Seele zwischen Unverstand und Verstand, Unordnung und Ordnung. Das effizienteste Gegenmittel gegen die chaotische, disharmonische Seelenbewegung ist das Sehen, das es dem Menschen ermöglicht, sich eine Vorstellung von der Zeit und der Zahl zu schaffen, indem er die Erscheinungen des Himmels beobachtet; dies wiederum ermöglicht aber die Untersuchung der Natur des Weltalls (47a-b). Man hat das Sehen als das wichtigste Mittel, um die quantifizierbare Geregeltheit, die Ordnung und Harmonie zu erkennen, die sich im Kosmos manifestieren. Nach diesem Erkennen kann der Mensch die verwirrte Ordnung in ihm dank der Zusammenarbeit von Wahrnehmung und Denken wieder mit der Ordnung des Kosmos in Übereinstimmung bringen. Das Sehen wurde uns von Gott gegeben damit wir die Umläufe der Vernunft am Himmel erblicken und sie für die Umschwünge unseres eigenen Denkens benutzen, welche jenen verwandt sind, als regellose den geregelten, damit wir, nachdem wir sie begriffen und zur naturgemäßen Richtigkeit unserer Berechnungen gelangten, in Nachahmung der durchaus von allem Abschweifen freien Bahnen des Gottes unsere eigenen, dem Abschweifen unterworfenen einrichten möchten (47b6-c4).

59 Ich zitiere den Timaios in Hieronymus Müllers Übersetzung.

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Nach all dem kann es nicht überraschen, dass in der seelischen Verinnerlichung der rhythmisierten und harmonisierten Verhältnisse von Ordnung, d.h. von quantifizierter und kalkulierbarer Geregeltheit, die von den Göttern gegebenen Töne und das Hören dieselbe Rolle wie das Sehen spielen.60 Auch die Rede (logos) hat diese Funktion, Ordnung in die Seele zu bringen, und ebenso ist uns die mousikē, wenn wir deren hörbaren Teil (sowohl die menschliche Stimme als auch die Töne der Musikinstrumente)61 nehmen, um der harmonia willen gegeben (ὅσον τ’ αὖ μουσικῆς φωνῇ χρήσιμον πρὸς ἀκοὴν ἕνεκα ἁρμονίας ἐστὶ δοθέν). Die Harmonie aber, welche den Umläufen unserer Seele verwandte Bewegungen besitzt, ist demjenigen, welcher sich mit Vernunft den Musen hingibt, nicht zu vernunftloser Lust ‒ worin jetzt ihr Nutzen zu liegen scheint ‒, sondern als Bundesgenosse gegen den in uns entstandenen ungeordneten Umlauf der Seele zum Zwecke seiner ordentlichen Einrichtung und Übereinstimmung mit sich selbst von den Musen gegeben (47d2-7).

Die Musik und das Singen, die instrumentell und vokal artikulierten musikalischen Töne (die zum hörbaren Teil der mousikē gehören), helfen die Kreisbewegungen der Seele den Kreisbewegungen des Kosmos anzupassen62 ‒ zumindest wenn die Töne richtig, also nicht für die bloße, unvernünftige Lust (οὐκ ἐφ’ ἡδονὴν ἄλογον) gebraucht werden. Eine detailiertere Beschreibung dieses richtigen Gebrauches von Tönen und Tonverbindungen findet man an einer anderen Stelle des Timaios (80a-b).63 Am Ende der diesbezüglichen Passage steht die folgende Formulierung: Dadurch gewähren sie (die Töne oder Tonverbindungen ‒ A. S.) den Unverständigen Sinnengenuß (ἡδονὴν), den Verständigen aber intellektuelles Vergnügen durch die Nachahmung der göttlichen Harmonie, die in sterblichen Bewegungen erfolgt (εὐφροσύνην … διὰ τὴν τῆς θείας ἁρμονίας μίμησιν ἐν θνηταῖς γενομένην φοραῖς παρέσχον).

60 Für eine feine und detaillierte Darstellung dessen siehe vor allem Pelosi: Plato on Music, Soul and Body, Chapter 2; siehe noch Kurke: Imagining Chorality, S. 139146. 61 Barker: Timaeus on music and the liver, S. 86. 62 Pelosi: Plato on Music, Soul and Body, S. 74; Kurke: Imagining Chorality, S. 144. Siehe dazu auch die Ausführungen zu den Bewegungen der Himmelskörper im 10. Buch der Gesetze. 63 Zur Erörterung der komplizierten Passage siehe Cornford: Plato’s Cosmology, S. 320326.

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Den allgemeinen Grund für diese Differenz gibt Péter Lautner wie folgt an: [H]armony causes joy in the wise and pleasure in the fool. […] The result depends on the general psychic condition of the perceiving subject. If one’s soul is governed by reason, the effect is joy. If, however, the soul is rouled by appetites, the effect is pleasure.64

Archer-Hind sieht den direkten Grund für diese Differenz gerade in der Erkenntnis der Identität der harmonischen Verhältnisse im Kosmos und in der Seele: „The ἔμφρονες enjoy music because they recognize that it is based on the same harmonic ratios as are found in the soul: in plainer language, because it expresses to the ear truths of the unseen world.“65 Die harmonia ‒ als Fuge, Übereinstimmung, Zusammenordnen und -passen im allgemeinen Sinne einerseits und als das Zusammenpassen der Töne, der „Tonart“ oder der ganzen Musik andererseits ‒ motiviert durch ihre doppelte Bedeutung im Griechischen auch sprachlich diese begriffliche Beziehung. Am Ende der oben zitierten Passage zur Harmonie (47d2-7) misst Platon auch dem rhythmos dieselbe Funktion bei: „Auch der Rhythmus wurde, da sich unser innerer Zustand zur Maßlosigkeit und bei den meisten zur Anmutlosigkeit entwickelte (διὰ τὴν ἄμετρον ἐν ἡμῖν καὶ χαρίτων ἐπιδεᾶ γιγνομένην ἐν τοῖς πλείστοις ἕξιν), als Helfer zum gleichen Zweck von eben denselben gewährt“ (47d7-e2). Der „Zustand“ oder die „Haltung“, die Beschaffenheit oder das Verhalten (hexis) der meisten Menschen ist im seelischen sowohl als körperlichen Sinne ohne Maß (ἄμετρον) ‒ so wie „maßlos“ und auch „unmeßbar“, d.h. sich keinem quantifizierten Kanon oder keiner Norm fügend ‒, und daneben mangelt es ihnen an charis, Anmut ‒ eine der wichtigsten Qualitäten der choreia im griechischen Denken.66 Ebenso wie die harmonia führt die göttliche Gabe des rhythmos (ἐπὶ ταὐτὰ ὑπὸ τῶν αὐτῶν [sc. ὑπὸ Μουσῶν] ἐδόθη) als Helfer, Alliierter oder Schützer (ἐπίκουρος) die Menschen εἰς κατακόσμησιν καὶ συμφωνίαν, zur originellen kosmos-artigen Geordnetheit und Übereinstimmung (47d5f).67 Zu dieser soll der Rhythmus mit seiner eigentümlichen Meßbarkeit,68

64 Lautner: The Timaeus on Sounds and Hearing, S. 248. 65 Archer-Hind: The Timaeus of Plato, S. 301; Pelosi: Plato on Music, Soul and Body, S. 101. 66 Kurke: Imagining Chorality, S. 144 und 166, Anm. 41. 67 Bobonich: Plato’s Utopia Recast, 208, 359-360; Pelosi: Platon on Music, Soul and Body, S. 74. 68 Vgl. z.B. Philebos 17c-e; Kowalzig: Broken Rhythms, S. 191. Zum mittelalterlichen Nachleben dieser Auffassung siehe Zumthor: Körper und Performanz, S. 710.

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die mit der quantifizierten Temporalität zusammenhängt, und seiner sensorischphysiologischen Wirkung beitragen, d.h. mit der artikulierten Wiederholung, die sich in den rhythmisierten Tonreihen der Rede und des Singens und vor allem in den rhythmisierten Bewegungen des Tanzes manifestiert.69 Die quantifizierte Ordnung und die körperlich-sinnlichen Wirkungen können in der Seele das Chaos der ungeordneten Bewegungen ausgleichen, das heißt eigentlich: diese Bewegungen in ihr rhythmisieren. Eine Stelle im siebten Buch der Gesetze erörtert ausführlicher, wie sich die Physik (Physiologie) und Psychologie dieser Wirkung interpretieren lassen (790cff.). Bevor ich aber im folgenden Teil diese Stelle interpretiere, scheint es zweckmäßig zu sein, kurz auf die Frage einzugehen, worauf die seelische Wirkung des Rhythmus, mindestens des sich an das Hören knüpfenden (aber nicht durch das Hören vermittelten oder empfundenen) Rhythmus bei Platon basiert. Dass der Rhythmus und die Harmonie als Konstituenten der mousikē tief in die Seele hineinwirken,70 ist bei der Beschreibung des Hörens im Timaios zu lesen (67b-c). Nach dieser Analyse ist der Ton ein Stoß (πληγή), den die Luft durch die Ohren dem Gehirn und dem Blut gibt, und ist auf diese (leider nicht genauer bestimmte) Weise vermittelt zur Seele.71 Das Hören selbst ist die andere, zweite Bewegung, die dieser Stoß bewirkt und die „am Kopf beginnt und in der Gegend der Leber aufhört“ (67b2-5). Die Leber bildet aber, wie ein wenig später erörtert wird, den Wohnsitz für jenen Teil der Seele, der der Vernunft am fernsten liegt, keinen Anteil an den Gedanken hat und von Begierden und Trugbildern und bloßen Erscheinungen geleitet ist ‒ d.h. für den begehrenden Teil (epithymētikon) (70d-71d). Demnach üben die Qualitäten des Tons als bloße akustische Erscheinung (Lautstärke, Tempo, Tonhöhe, Akzent sowie seine Rhythmisiertheit oder Unrhythmisiertheit) auch auf den niedrigeren, alogischen Teil der Seele

69 Pelosi: Platon on Music, Soul and Body, S. 76, 73, Anm. 7 und 80f., Anm. 16. In heutigen anthropologischen Theorien des Rhythmus wird diese „numerische“ Konzeption oft kritisiert. Siehe z.B. You: Defining Rhythm, S. 363: „The essence of rhythm is not merely the perceived order (or pattern) of repetition (recurrence) of something; it is the demand, preparation and anticipation for something to come. […] Rhythmicity is a temporal relation between ‚tensions‘ (rather than the measurement of divisions of time unit)“. 70 „Die Wirkung der Stimme nun bis in die Seele hinein (Τὰ μὲν τοίνυν τῆς φωνῆς μέχρι τῆς ψυχῆς), welche dieselbe zur Tugend bildet, haben wir, ich weiß nicht mit welchem Recht, musische Kunst genannt“ (Gesetze 673a3-5), vgl. Staat 401d. 71 Ich folge hier Lautners Rekonstruktion (The Timaeus on Sounds and Hearing, S. 235f.).

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eine Wirkung aus (vgl. 80b6).72 Auch diese arationale Wirkung spielt eine Rolle in der Wahrnehmung der akustischen Effekte des Chortanzes.

IV. An der diesbezüglichen Stelle des siebten Buches der Gesetze beruht also die Erörterung der psychischen Wirkung des Rhythmus auf dieser physiologischen Auffassung. Die persuasive Wirkung des Chortanzes steht an dieser Stelle in Analogie mit zwei (oder drei) Seelenzuständen: mit denen der Kleinkinder und der Personen in bacchischer Raserei (und/oder der Betrunkenen). Die gemeinsame Charakteristik dieser verschiedenen Zustände ist die leichte Gestaltbarkeit der Seele und die stärkere Rezeptivität für die Affekte.73 In diesem Kontext taucht am deutlichsten „the interconnection of the visceral and social rhythm“ auf, also die Grundlage der (auch von Durkheim beobachteten) Beziehung zwischen somatischen Impulsen und sozio-politischer Bedeutung des Rhythmus.74 Wie sieht diese (neuro-)physiologische Erörterung der Wirkung des Rhythmus aus? An der fraglichen Stelle wird ein Prinzip der körperlich-seelischen Erziehung der Kleinkinder in der Weise formuliert, dass eine „Betreuung und Bewegung (κίνησιν) des Leibes und der Seele der ganz kleinen Kinder, die möglichst die ganze Nacht und den ganzen Tag hindurch erfolgt“, allen zuträglich ist, „und ebenso ein Zustand, wenn dies möglich wäre, als befänden sie sich fortwährend

72 Pelosi: Plato on Music, Soul and Body, S. 163. Obwohl Pelosi hier eine Erörterung der „übersetzenden“ Funktion der Leber „between the rational soul and the appetitive soul“ vorschlägt, wird aus Platons Text überhaupt nicht klar, wie die oben genannte Wirkung genau zustande kommt und worin sie eigentlich besteht, auf welche Weise die rationale und die arationale Seele beim Hören verbunden sind. Siehe zum Problem Lautner: The Timaeus on Sounds and Hearing, vor allem S. 247-250. 73 Siehe dazu Jackson: Greater Than Logos?, S. 153-155. Für uns ist die Ähnlichkeit dieser Zustände wichtiger als ihre Differenzen, aber siehe auch zu letzteren Jackson (ebd., S. 155, mit meiner Hervorhebung): „What is specific to choral performance (as opposed to being in one of those similarly emotional states of childhood or frenzy) is that the inherently mimetic nature of choreia allows the participant to take in and be shaped by what is being sung and danced, at the direction of, ultimately, the lawgivers of the second-best city.“ Vgl. You: Defining Rhythm, S. 368, über die Beziehung zwischen der normativen (kollektiven) Regulierung des Rhythmus und der durch diese Rhythmisierung ermöglichten Neigung zu „elation, passion, ecstasy, or transport“. 74 You: Defining Rhythm, S. 372.

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auf einem Schiff (οἰκεῖν … οἷον ἀεὶ πλέοντας)“ (790c5-9). Und dem rhythmischen, schaukelnden Bewegen der Kinder soll sich manchmal auch Singen anschließen: Wenn die Mütter nämlich Kinder, die nur schwer Schlaf finden, einschläfern wollen, so verabreichen sie ihnen nicht Ruhe, sondern im Gegenteil Bewegung (προσφέρουσιν … κίνησιν), indem sie sie unablässig auf den Armen wiegen (σείουσαι75), und nicht Schweigen, sondern eine Art Melodie (προσφέρουσιν … μελῳδίαν), und bezaubern die Kinder förmlich wie mit Flötenklängen (καταυλοῦσι), indem sie also, wie dies auch bei der Heilung der besinnungslosen Raserei geschieht, diese in Bewegung bestehende Verbindung von Tanz und Musik anwenden (ἡ τῶν ἐκφρόνων βακχειῶν ἴασις,76 ταύτῃ τῇ τῆς κινήσεως ἅμα χορείᾳ καὶ μούσῃ χρώμεναι) (790d5-e4, die Übersetzung wurde leicht modifiziert).

Die verzaubernd-beruhigende Wirkung des Schaukelns und des Schlaflieds, d.h. der Bewegung und der Musik lässt sich mit der seelenformenden Kraft der Chortänze und der heilenden Wirkung der Musik vergleichen. Ein wichtiger Unterschied zu dem im zweiten Buch beschriebenen Chortanz besteht jedoch darin, dass in diesem Fall ‒ spricht doch Platon in diesem Kontext (788dff.) ausdrücklich von Neugeborenen und Säuglingen ‒, die Worte des gesungenen Lieds keine Rolle spielen, sondern ausschließlich die physiologische Wirkung der auditiven Qualitäten des bloßen Klanges des mütterlichen Gesangs.77 (Neben der Erwähnung der bacchischen Raserei am Ende der Passage kann Platon diese Wirkung auch deswegen mit der Wirkung eines aulos, d.h. eines Blasinstruments, vergleichen, bei dessen Gebrauch man nicht [irgendeinen Text] singen kann.) Der andere beschriebene Effekt, der der rhythmischen Bewegung, kann aber auch aus der Wirkung des Chortanzes nicht eliminiert werden, denn das zweite Buch der Gesetze hebt, wie im II. Teil gezeigt, eben die Bedeutung dieser Elemente hervor, indem es den Chortanz einerseits im Hinblick auf die Bewegung und

75 Das Wort bedeutet auch „schaukeln“, „schütteln“, sogar „beben“, „erschüttern“. 76 Statt ἰάσεις, nach F. H. Dale. 77 Prauscello: Performing Citizenship, S. 143 (Anm. 115). Vgl. die früher erwähnte Stelle aus dem Timaios (67b) über die Physiologie des Tons (und des Hörens) und die sich auf diese Physiologie gründende Möglichkeit der psychologischen Wirkung sowie Theophrast (frg. 91 Wimmer) über die Beobachtung, dass unter allen Sinnen das Gehör die stärkste Wirkung auf die Affekte hat (παθητικωτάτην); siehe noch zur Erscheinung Kittler: Lullaby of Birdland, S. 49 (über die physiologische Wirkung von der Stimme der Mutter), S. 56 (über das Schlaflied).

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insbesondere die Freude und Lust darstellt (z.B. 653d-654a), die von den sinnlichen Komponenten aufgeweckt sind, andererseits aber den Rhythmen und Tonarten explizit eine moralische pädagogische Wirkung beimisst (661c). Eben diese körperlich-sinnlichen Effekte können die Seele der Kinder „bezaubern“ (659e, 664b), die noch keinen ganz entwickelten logos haben, und eben in diesen Wirkungen verkörpert und vermittelt sich die magische Zauberkraft der Choreia (im zweiten Buch „Zaubergesang“, „einen Zaubergesang singen“: epōdē, epadein, im achten Buch [840c2] „bezaubern“: kēlein), die, wie später deutlich wird, nicht nur die Seele der Kinder, sondern auch die der Erwachsenen, sogar die Seele der „ganzen polis“ bezaubern kann (665c, 666c).78 Neben der indirekten Heraufbeschwörung der irrationalen Kräfte der Magie verweist das Ende der Passage expliziterweise auf den Gott Dionysus und die heilende Wirkung des bacchischen rasenden Tanzes (τῶν ἐκφρόνων βακχειῶν).79 In diesem Zusammenhang betont Platon bei der Behandlung der choreia ‒ in völliger Übereinstimmung mit der griechischen religiösen Tradition ‒ ausdrücklich die nicht schädliche, sondern eben heilende Wirkung der bacchischen Raserei (auch seine Bemerkungen über den Wein als Dionysus’ Gabe können hier herangezogen werden: 666b-c, 671b-c). Ferner bezieht er den orgiastischen Tanz selbst auf das Gefühl für Harmonie und Rhythmus zurück und erblickt in ihnen den ehrwürdigen Anfang der musischen Künste (672b-d).80 Die günstige Wirkung der rhythmischen körperlichen Bewegungen sowie der Melodie und des Rhythmus der Musik auf die Seele kann also auch durch diese Analogie auf die Chortänze bezogen werden.81

78 Havelock: Preface to Plato, S. 160. Diese Vorstellung von „magischer“ Wirkung des Gesanges, im Vokabular des Zaubergesangs, der Zauberei, des Bezauberns und der Beschwörung (epōdē, kēlēthmos, kēlein, goētheia, thelgein) war schon seit Homer (Ritoók: The Views, S. 336f.) durch Gorgias bis Platon an präsent im griechischen Denken, um von der Poesie selbst nicht zu reden. 79 Oder, wie Schöpsdau: Nomoi IV-VII, S. 512, denkt, auf „jede Form von Ekstase“. 80 „Dionysus, the most rhythmically gifted god of all Greek gods, may be the primordial Hellenic shaman of trance, transport, or ecstasy“ (You: Defining Rhythm, S. 367). Zum Problem der Raserei und der therapeutischen Wirkung der Musik und des orgiastischen Tanzes der Bacchantinnen und der Korybanten siehe noch Ion 534a, 536c; vgl. Dodds: The Greeks and the Irrational, S 77-79, 98 (Anm. 102); SourvinouInwood: Hylas, the Nymphs, Dionysos and Others, S. 237f; Murray: Plato on Poetry, S. 115, 125; Schöpsdau: Nomoi IV-VII, S. 510f. 81 Vgl. Theaitetos 153b-c, Timaios 88d-89a und 89e-90d über die günstige Wirkung der Bewegung (in Timaios 89a7-8 wird das Geschaukel auf einem Schiff oder Wagen erwähnt), und dazu Schöpsdau: Nomoi IV-VII, S. 507f.

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In der Fortsetzung der soeben zitierten Passage zügelt das Einschläfern ‒ das sich durch Töne des Singens und den Rhythmus des Bewegens vollzieht ‒ letztendlich eben die innere, verwirrte Bewegung der Seele mithilfe der ihr von außen mitgeteilten geordneten Bewegungen: Eine Art von Angst sind doch wohl diese beiden Zustände [d.h. die Schlaflosigkeit der Kinder und die bacchische Raserei ‒ A. S.], und Ängste rühren von einer schlechten Seelenverfassung her. Wendet man nun bei solchen Zuständen (πάθεσι) von außen eine Erschütterung (σεισμόν) an, so überwältigt die von außen herangebrachte Bewegung die innere Bewegung der Furcht und der Raserei (ἡ τῶν ἔξωθεν κρατεῖ κίνησις προσφερομένη τὴν ἐντὸς φοβερὰν οὖσαν καὶ μανικὴν κίνησιν), und wenn sie nach dieser Überwältigung in der Seele Stille und Ruhe von dem jeweils auftretenden heftigen Herzklopfen einkehren läßt, bringt sie etwas sehr Erwünschtes hervor: die einen läßt sie Schlaf finden, bei den andern bewirkt sie nach ihrem Aufwachen durch Tanz und Flötenspiel mit Hilfe der Götter, denen sie jeweils unter günstigen Vorzeichen opfern, daß sie statt ihrer Wahnsinnszustände wieder eine vernünftige Haltung annehmen (790e8-791b1).

Die von der Furcht ausgelöste seelische Bewegung oder überhaupt die rasenden chaotischen Bewegungen der Affekte beruhigen sich dank der harmonischrhythmischen Bewegung. So kann eine bloß physisch-sinnliche Wirkung die Beruhigung des brandenden Meeres der Seele bewirken.82 Dieses Beben oder diese Erschütterung (σεισμός) lässt sich aber nicht nur als physische Folge der Berührung von Körpern auffassen, sondern auch, zumindest im Falle der Rasenden, als Ergebnis einer bloß akustischen Komponente, nämlich des Tons (im Sinne des vorigen Zitats der klanglichen Stimme der Mutter, hier aber des Tons des Aulos). Die Windstille (γαλήνη) der Seele projiziert das Bild der Beruhigung der Wallung des brandenden Meeres (diese Wallung als „Wellenbewegung“ ist selbst eine rhythmische Bewegung) auf die metaphorische Fläche „der Seele als Meer“.83 Auf dieser „Fläche“ der Seele erscheint aber das Endergebnis nicht als Stillstand der physischen Bewegung, sondern als Beruhigung der brandenden Affekte. Die beiden unterschiedlichen Bewegungen, d.h. auf der einen Seite die innere, unruhige, manische Bewegung der Affekte der Seele und auf der anderen Seite die Bewegung, die durch eine äußere Kraft (auf die im Timaios beschrie-

82 Prauscello: Performing Citizenship, S. 144f.; zu den psychologischen Bedingungen einer solchen Wirkung siehe Kamtekar: Psychology and the inculcation of virtue, S. 140f.; zum konkreten (aber aus Mangel an Textevidenzen nur mutmaßlichen) Ablauf derselben: S. 145. 83 Für eine ähnliche Anwendung des Bildes siehe noch Phaidon 84a7, Timaios 44b3.

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bene Weise) in die Seele kommt (ἡ τῶν ἔξωθεν κρατεῖ κίνησις) ‒ nämlich die bewegende Wirkung der körperlichen Impulse und der Klangeffekte (welche nach dem Timaios ebenso physische Anstöße sind) ‒, löschen einander gleichsam aus. Genauer gesagt erwirbt die letztere, von außen kommende Bewegung dabei die Herrschaft (κρατήσασα) über die inneren, ungeordneten Bewegungen, und zwar, wie England annimmt, durch ihre größere Stärke, durch die sie die Aufmerksamkeit oder das Bewusstsein von der Furcht auf sich selbst lenkt.84 Die Erwähnung des unangenehmen starken Herzklopfens am Ende der Passage lenkt die Aufmerksamkeit stark auf den psychosomatischen Charakter der Erörterung der analysierten Erscheinung, der ohnehin im ganzen Absatz auffällt. Es lässt sich sogar erwähnen, dass das Herzklopfen oder der Puls selber „elementare“, biologische Rhythmus-Erscheinungen sind.85 An diesem Punkt können Eric Havelocks Behauptungen über die hypnotischen (d.h. „einschläfernden“) körperlichen Wirkungen von rhythmischer Rede, Singen, Musik und Tanz in der rhapsodischen und in der Tanzperformance in Erinnerung gerufen werden.86 Die „hypnotische“ Trance kann durch die rhythmische Musik und die rhythmischen Tanzbewegungen ausgelöst werden, und dieser Seelenzustand könnte das Einmeißeln der Werte und Verhaltensweisen erleichtern, die für das Zusammenleben in der Polis unentbehrlich sind. Ferner könnte darin eine anthropophysiologische Deutung der rhythmischen Bestimmung und Wirkung von Dichtung begründet werden (im Sinne der Entfaltungen bereits des jungen Nietzsche).87

84 England: The Laws of Plato, II, S. 241. 85 Zu den biologischen Erscheinungen der „rudimentary rhythms“ (wie z.B. dem Herzklopfen) siehe You: Defining Rhythm, S. 375f., Anm 6. 86 Havelock: Preface to Plato, 152 (über die Lösung der seelischen Spannung in der hypnotischen Wirkung). 87 Nietzsche, noch als Philologe, widmete mehrere Aufsätze der griechischen Rhythmik, und in seinen Vorlesungen über die Geschichte der griechischen Literatur im Studienjahr 1875/76 hielt er den Rhythmus, die affektive und effektive Rhythmisiertheit der Rede für eine der wichtigsten Anregungen für Entstehung der Literatur. Siehe Nietzsche: „Geschichte der griechischen Literatur (Dritter Theil)“, S. 139-145.

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V. Die platonische Darstellung der politischen Erziehung durch Chortanz lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die Vergegenwärtigung, Einprägung und Aneignung der moralischen Werte und der richtigen Verhaltensweisen werden auch von den sinnlichen Wirkungen der Musik und der Tanzbewegung gefördert, die sich an die sprachlichen Komponenten anschließen. Der Prozess läßt sich eigentlich als Fungieren eines komplexen Systems von körperlichem Einmeißeln interpretieren, mit Eric Havelock: von „psychosomatischen Mechanismen“.88 Das gilt einerseits für die Teilnehmer des Chortanzes (potenziell die ganze Polis), andererseits für die Zuschauer, die den aktuellen Chortanz in ihrer körperlichen Kopräsenz sinnlich erfahren und mithilfe der bewegenden Kraft der Sinnesorgane in der „kinästhetischen Empathie“ intensiv miterleben. Die Verflechtung von Natürlichem und Kulturellem, Körperlichem und Geistigem, Sinnlichem und Verstandesmäßigem integriert die Individuen in eine Gemeinschaft, indem sie den Teilnehmern die gemeinsame Wahrnehmung des Zusammenlebens ermöglicht. Der „Körper des Chors“ als kollektiver Körper materialisiert den Rhythmus des gemeinschaftlichen Lebens und verleiht diesem zugleich Sinn: Er verkörpert nämlich die moralischen und politischen Gründe der sozialen Zusammengehörigkeit und der Solidarität.89 Die rhythmische gemeinsame Bewegung der Körper in der choreia, oder wie Paul Zumthor formulierte: die „soziokorporelle Form“ der choreia fördert und bewahrt die gemeinsame Bewegung und dadurch die Einheit der ganzen Gemeinschaft, und zwar tut sie dies auch in ihrer Wirkung, die weit über den aktuellen Vollzug der Chortänze hinausgeht.90 Diese zentrale Rolle kann der Rhythmus durch seine vermittelnde Funktion erfüllen: Er ist die Komponente, die als ein gemeinsamer Bestandteil des Textes, des Gesanges, der Musik und des Tanzes diese Konstituenten miteinander verbindet und als eine Art Medium zwischen ihnen fungiert. In dieser Konfiguration konstituieren der Text, die gesungene und auf einem Instrument gespielte (und notwendigerweise rhythmisierte) Melodie sowie der Rhythmus des an ihnen orientierten Tanzes ein harmonisches Ganzes, ein Gesamtkunstwerk, das aus voneinander untrennbaren Komponenten besteht. Im Kontext der von Platon ausgearbeiteten anthropologischen Differenz, die im Rhythmus-Gefühl besteht,

88 Havelock: Preface, S. 156. 89 Kowalzig: Broken Rhythms, S. 180f. Zur potentiellen Aktualisierung der platonischen musiko-politischen Theorie für die heutige Politik s. Agamben: Was ist Philosophie, S. 161-176. 90 Prauscello: Performing Citizenship, S. 147-149.

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kann auch die Entstehung des Tanzes, der Bewegungskomponente der choreia, auf dieses Gefühl für Rhythmus zurückgeführt werden. Wie gesehen, bildet den Hintergrund für die Analysen des Chortanzes im zweiten Buch der Gesetze teilweise eine kosmologische (Timaios) und eine physiologisch-psychologische Erörterung (siebtes Buch der Gesetze) des Rhythmus. Anhand des Timaios konnte gezeigt werden, dass die Harmonie der Musik und des Singens und die instrumentell und vokal artikulierten musikalischen Töne die Kreisbewegungen der Seele den Kreisbewegungen des Kosmos anzupassen helfen. Ebenso wie die harmonia verhilft die göttliche Gabe des rhythmos den Menschen zur kosmos-artigen Geordnetheit und Übereinstimmung, ebenso wie auch das arationale Moment des Hörens eine Rolle in der Wahrnehmung der akustischen Effekte des Chortanzes spielen kann. Die im VII. Buch der Gesetze am Beispiel der Kleinkinder ausgeführten Analysen der auf die Seele ausgeübten günstigen Wirkung der rhythmischen körperlichen Bewegungen sowie der Melodie und des Rhythmus der Musik können teilweise auf die Chortänze bezogen werden. Hier erhält die rhythmopolitische Theorie der Choreia ihre stärkeren psychosomatischen Akzente. Die „hypnotische“ Trance kann durch die rhythmische Musik und die rhythmischen Tanzbewegungen ausgelöst werden, und dieser Seelenzustand ‒ der zwar nicht bewusstlos, aber durch die leichte Gestaltbarkeit der Seele charakterisierbar ist ‒ erleichtert das Einmeißeln ‒ durch den Körper in die Seele ‒ der Werte und Verhaltensweisen, die für das Zusammenleben in der Polis unentbehrlich sind.

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Austin und der Hippolytos Zoltán Kulcsár-Szabó

FIKTIVE INNERE AKTE Als, an einem frühen Punkt seiner berühmten Vorlesungen – d.h. noch bevor er mit der systematischen Darstellung des eigentlichen Begriffs der „Sprechakte“ anfangen würde – John L. Austin sich auf die Suche nach den treffenden Termini begab, die seine Unterscheidung zwischen „performativen“ und „konstativen“ Sprachhandlungen fassen könnten (die Unterscheidung selbst ließ sich bekanntlich nicht lange halten), fand er sich immer wieder im Begriffskreis der Schauspielerei, des Sich-Verstellens, der theatralischen Vorführung verirrt. Nicht nur während der Taufe der performativen („performative“ bzw. des früher erwogenen „performatory“) Äußerungen (d.h. einer Operation, die selbst performativ zu nennen wäre) bedient er sich dieses semantischen Bereichs, in dem – im Gegensatz zu dem aus der Sprache des Rechts übernommenen, schließlich aber verworfenen Attribut „operative“1 – der Bedeutungskreis von Ausführen, Vollziehen, Ausüben u.ä. sozusagen notwendigerweise mit dem von Auf- und Vorführen, Vorspielen, Rollenspiel kontaminiert ist. Bereits der erste Schritt der Abgrenzung von Konstativen eröffnet die Regionen des Theatralischen, denn Austin beschreibt hier den Gegenstand seiner Ausführung als Kostümierte, „masqueraders“ (31/4) mit der Begründung, dass diese sich – wenn nicht gleich

1

„One technical term that comes nearest to what we need is perhaps ‚operative‘, as it is used strictly by lawyers in referring to that part, i. e. those clauses, of an instrument which serves to effect the transaction (conveyance or what not) which is its main object, whereas the rest of the document merely ‚recites‘ the circumstances in which the transaction is to be effected.“ (Austin: Zur Theorie der Sprechakte, S. 198; How to Do Things with Words, S. 7. Weitere Hinweise auf die – nicht ganz vollständige – deutsche Übersetzung und ggf. auf Austins Originaltext s. ferner im Text.)

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notwendig, aber durchaus oft – für Konstative, d.h. für Beschreibungen von Sachverhalten ausgeben. Im Laufe seiner Begriffserklärung macht Austin deutlich, dass das Wort „to perform“ für ihn in erster Linie als das zum Substantiv „action“ passende Verb in Frage kommt (29-30/62), wodurch wieder einmal ein sprachliches Paradigma eröffnet wird, das auf ein Verb („to act“) zurückgeht, in dem die Semantik von Handeln (im eigentlichen, sogar im rechtlich definierten Sinne genommen) auf die der im theatralischen Sinne verstandenen Vorführung prallt.3 Austins Wortwahl legt bekanntlich sogar dort einen gewissen Nachdruck auf diese Zweideutigkeit, wo er die Rolle derjenigen Bedingungsrahmen oder Konventionen zu klären versucht, die über die Gültigkeit, das Gelingen bzw. überhaupt das Stattfinden eines Performativs entscheiden – und die in der rechtlichen Parallele der „operativen“ Vertragsfaktoren eigentlich mit den Punkten in Zusammenhang gebracht werden sollten, die die nicht-operativen „Umstände“ des Handelsablaufs aufzählen (und zugleich auch: vorführen, nachsprechen, wiederholen, rezitieren!). Immer wieder geht es um konventionale, rituelle oder zeremonielle Akte, die nicht unbedingt sprachlicher Natur sein müssen (z.B. 39, 42, 46)4: sogar ein wichtiges Merkmal der „expliziten“ performativen Äußerungen, deren Problematik in der Argumentation von Zur Theorie der Sprechakte ziemlich zentral erscheint, wird von Austin mit dem Hinweis darauf beschrieben, dass diese als dramatische Instruktionen oder Regieanweisungen verwendet werden können (97). Es kann folglich, trotz aller Verwirrung, wenig überraschen, dass Austin an der vielleicht am häufigsten zitierten Stelle seiner Harvarder Vorlesungen, wo er auf die „unernsten“, parasitär ausgenutzten Verwendungen der „normalen“ Sprache als eine ganz besondere Weise der unernsten (hollow) bzw. nichtigen (void) performativen Äußerungen zu sprechen kommt, die hier im Zuge einer eigentlich performativen Geste (genauer gesagt – da performative Verben nicht in der Verlaufsform stehen können – eher in der Beschreibung einer solchen Geste) aus dem Kreis der Untersuchung ausgeschlossen werden („All das schließen wir aus unserer Betrachtung aus“; „all this we are excluding from consideration“ – 43-44/22), dass Austin also an dieser Stelle – neben Gedichttexten bzw. „soliloquy“, also Monologen, die ohne Hörerschaft, d.h. vermutlich mit Verzicht auf öffentliche Umstände, geäußert werden („wenn jemand sie zu sich selbst sagt“) – auf das Beispiel der Theatervorstellung verweist. Die Ausgrenzung des

2

Kommunikation selbst ist auch nichts anderes, als „an act which we all constantly perform“ (Austin: Other Minds [1946], S. 115).

3

Für eine ähnliche Beobachtung s. Johnson: Poetry and Performative Language, S. 65.

4

S. bereits Austin: Other Minds, S. 69.

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in diesem Sinne unernsten und/oder fiktionalen Sprachgebrauchs (vgl. ferner 3132, 121, 138), d.h. der Auszehrung, etiolation der Sprache aus dem Bereich der Performativa,5 verschaffte – das lag vor allem an Jacques Derridas Vortrag über Austin im Jahr 1971 und den hitzigen Debatten6, die er ausgelöst hat – wenig übertrieben formuliert, einer ganzen Unterdisziplin der Literaturtheorie oder der Philosophie Arbeit, die im Laufe der Zeit zahlreiche Entschuldigungen für Austin aufkommen ließ, u.a. mildernde Umstände, die es ermöglicht haben, die Endgültigkeit der erwähnten Ausgrenzung zu bezweifeln. Den vielleicht interessantesten Zusammenhang in dieser Hinsicht liefert Austins Argument gegen sogenannte „märchenhafte innere Akte“, „fictitious inward acts“ (31-33/9-11), das er gleich in der ersten Vorlesung von Zur Theorie der Sprechakte, d.h. unmittelbar nach der ersten Abgrenzung der Performativa ausführt, und zwar am Beispiel eines aus der Sicht der Sprechakttheorie in der Tat äußerst „ehrfurchtgebietenden“ Performativs, nämlich des Versprechens. Auch wenn es an diesem Punkt verfrüht wäre, es als Ur- oder Hauptperformativ zu bezeichnen, scheint das Versprechen in der Tat das Schlüsselelement der ganzen Konzeption zu sein, da (u.a.) die oder zumindest eine Grundformel für den Ausschluss unernsten Sprachgebrauchs eben im Versprechen aufzufinden ist: ‚Ich verspreche, dass ich ernsthaft reden werde‘ – diese Äußerung könnte Austins Imperativ entsprechen (alleine schon das, d.h. die Bedingung eines Entsprechens, dürfte allerdings Zweifel wecken in Bezug auf die Annahme, das Performativ des Versprechens wäre das erste, das in der Tat allen anderen vorausgeht), wonach man „das doch wohl ‚ernsthaft‘ sagen [muss] und auch so, dass es ‚ernst‘ genommen wird“. Es fällt bereits an diesen Punkt nicht schwer einzusehen, dass das Versprechen freilich auf weitere Manöver angewiesen ist, denen es überdies nicht an gewissen performativen Zügen mangelt. Um „ernst genommen“ zu werden, würde es kaum reichen, wenn eine Äußerung bloß ein Versprechen gäbe. Diese Sprachhandlung impliziert einen weiteren Sprechakt, der in Austins Terminologie eher perlokutionär genannt (und dessen Gelingen deshalb konventionell nicht determiniert) werden könnte (135-138), nämlich den des Überzeugens, ferner ein gewisses Appellieren an die Hörerschaft: einerseits an das Erkennen, Anerkennen und Bestätigen einer Mitteilungsintention, näher betrachtet aber auch an eine

5

Dazu sei allerdings angemerkt, dass in bestimmten Zusammenhängen Fiktion und performative Äußerungen sich auf der gleichen Seite anreihen: beide sind „masqueraders“, denen es gemeinsam ist, keine Behauptungen (statements) zu sein, s. z.B. Austin: Truth, S. 131.

6

Vgl. Derrida: Limited Inc.

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Intentionszuschreibung (oder sogar an die Identifikation einer Absicht).7 Damit wäre erklärt, einerseits, weshalb Austin das Vor-sich-hin-Stammeln aus dem Kreis des Performativen ausschließen kann (wobei das, genau aus demselben Grund, zugleich die Frage aufwirft, ob es – aus sprechakttheoretischer Sicht – überhaupt möglich ist, einsam zu sprechen, ob überhaupt jemand alleine auf der Bühne der Sprache auftreten kann – mehr darüber später), andererseits die Tatsache gewissermaßen gerechtfertigt, dass in der zitierten Vorschrift die Wörter „ernst“ und „ernsthaft“ in Anführungszeichen gesetzt sind.8 Geht es darum, dass Austin, der durch seinen Titel, mit ziemlicher Ironie, die ganze Vorlesungsreihe in die Gattung von Bedienungsanleitungen, einer Art DIY verweist (noch prägnanter in dieser Hinsicht klingt die Überschrift eines wenig früher gehaltenen Vortrags: How to Talk – some simple ways), selbst an der imperativen Macht der expliziten Performativa zweifelt, oder schlicht darum, dass – darauf wies Derridas erwähnter Vortrag als erster hin9 – in Wahrheit jede performative Instruktion der Sprache als Zitat enden wird, indem sich diese nach irgendwelchen – rituellen, zeremoniellen – Konventionen richten muss? Oder ist es vielleicht einfach so, dass Austin selbst das Ganze nicht ernst meint (bzw. dass es in vielen Fällen unentschieden bleibt, ob er tatsächlich ernst spricht oder nicht10)? Wie dem auch sei, Austin demonstriert seinen morbiden – oder, je nach Perspektive, seine vielerwähnte eigentümliche „Oxbridge Ironie“ spiegelnden – Humor11 oft durch Beispiele (einige davon dürften zeitweise an Monty Python erinnern), die die zügellose, ab und zu kaum erträgliche gute Laune des Theoretikers der Sprechakte (und der „Alltagssprache“) bezeugen – auch wenn es weiterhin unbegründet wäre, daraus zu folgern, dass die Beschäftigung mit Sprechakten notwendigerweise ein leichtes Vergnügen bedeute. Austin spannt u.a. einer „gebrechlichen Verwandten“ einen Bindfaden über den Gehweg (hier geht es wahrscheinlich um eine Allusion auf eine Schlüsselszene von Agatha Christies Kriminalroman Dumb Witness), tritt auf Babys, stößt einen Weggefährten von einem Felsen herunter, zersägt eine Jungfrau in zwei Teile, überfährt

7

Vgl. dazu Strawson: Intention und Konvention, S. 76.

8

S. dazu ferner Ricks: Austin’s Swink, S. 298-299.

9

Derrida: Signatur Ereignis Kontext, S. 38-39.

10 Felman: The Scandal of the Speaking Body, S. 95-96. 11 S. dazu ferner Krämer: Sprache, Sprechakt, Kommunikation, S. 146-147. J. Hillis Miller hat sich, obwohl die Endbilanz vielleicht auf ungerechte Weise streng ausfällt, nicht ganz ohne Grund zu einigen der politischen Voraussetzungen hinter Austins Gewitzel ziemlich kritisch geäußert, vgl. Miller: Speech Acts in Literature, S. 41-50. Vgl. ferner Loxley: Performativity, S. 4.

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einen Kinderwagen, wirft zerbrochene Flaschen auf den Gehsteig, ertränkt Katzen in Butter, erschießt einen fälschlicherweise als seinen eigenen identifizierten Esel, weil er ihn nicht mehr lieb hat, beißt Gästen bei einem feierlichen Anlass ins Bein, um eine Hyäne nachzuahmen – um nur einige von zahllosen ähnlichen Beispielen vorzuführen. An der zitierten Stelle von Zur Theorie der Sprechakte geht es jedoch nicht ganz oder nicht nur um diese Art Unernst. Austin versucht hier einen zentralen Zusammenhang zu klären, indem er einen Widerspruch aufzuheben meint, der einen Eckstein der ganzen Konzeption untergraben könnte. Sollte sich nämlich das moralische oder referentielle Urteil über das – „ernsthafte“ oder „unernste“ – Äußern von Wörtern wirklich auf das äußere Zeichen und/oder die Beschreibung eines „inneres geistigen Aktes“ bzw. auf die (referentielle) Wahrheit oder Falschheit dieses beziehen, fiele dieses Urteil dem „descriptive fallacy“ zum Opfer, einem Irrtum, den der Philosoph immer wieder missbilligt hat. Die erste und grundlegende Abgrenzung der Performativa geht nämlich gerade davon aus, dass diese nicht als „Aussagen“ aufgefasst werden können, die sich der Unterscheidung wahr/falsch unterwerfen lassen. Und obwohl Austin seine Ausgangshypothese an einem späteren Punkt seiner Vorlesungen bekanntlich zurückziehen musste, hat er damit am wenigsten die „deskriptiven“ Aussagen wieder in Geltung gebracht, da die grundsätzliche Modifikation der Theorie genau aus derjenigen Erkenntnis folgt, dass eine Aussage zu machen ebenfalls ein performativer Akt ist. Über die „Ernsthaftigkeit“ von Sprechakten kann also nicht – wenn man es überlegt, ist es eigentlich per definitionem unmöglich – in dem Sinne gesprochen werden, dass diese sich als die Bedingung oder etwa das Zeichen, eine Art Anzeichen oder Beweis des Entsprechens zwischen irgendeiner inneren Tätigkeit und einem (notwendigerweise?) „äußerlichen“ Akt ausmachen ließe. Das Urteilen über die Ernsthaftigkeit einer performativen Äußerung kann nämlich nicht auf das Urteilen über die Sachlage und über die Beschaffenheit einer Intention verzichten (ohne dieses könnte es sich statt um eine Aktion auch um ein bloß zufälliges Ereignis handeln – sogar auch um ein Sprachereignis, sollte es so etwas, auf diese Frage soll noch zurückgekommen werden, überhaupt geben –, auf das Austins Gültigkeitskriterien kaum angewendet werden können), solche Urteile können jedoch statt des Ausspähens irgendwelcher subjektiver Intentionen nur von der Kenntnis und Verwendung der Handlungskonventionen orientiert werden. Einfacher formuliert: Intention wird von den konventionellen Regeln der Zeremonie, innere Akte werden von der Idee der zeremoniellen Ausführung ersetzt12 – in diesem Sinne wird bei Austin das Prinzip „Ein Mann, ein Wort“, my word is my bond geltend gemacht.

12 Vgl. dazu Culler: On Deconstruction, S. 111.

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Für institutionell ausgerichtete Weiterentwickler der Sprechakttheorie, oder zumindest der Austinschen Intention, wie allem voran John Searle, der sich in der Debatte mit Derrida ziemlich ungeschickt positioniert hat, wäre das Problem oder mindestens ein zentraler Aspekt des Problems damit gleich geklärt, da die Aufgabe des Aufspürens von Intentionen nun von einem grammatikalisierten (re-grammatikalisierten13) unpersönlichen System von Konventionen übernommen werden könnte. So gesehen könnte, unter gültigen Vollzugsbedingungen, ein unaufrichtiger Sprechakt (ginge es um Versprechen, Absichtserklärungen oder etwa um Bedauern bzw. Sich-Entschuldigungen) nicht von aufrichtigen unterschieden werden.14 Austin selbst war das Problem damit noch bei weitem nicht los, was sich sozusagen symptomatisch daran zeigt, dass er unfähig war, in diesem Zusammenhang moralische Bezüge hinter sich zu lassen. Dies würde auch mit Bezug auf die ganze Konzeption zutreffen. Es gibt – vielleicht nicht vollständig begründete – Interpretationen, die glauben, bereits an diesem Punkt komme Austins Zweifel gegenüber den eigenen Voraussetzungen zum Vorschein (nämlich die Zweifel daran, dass der angemessene konventionelle Kontext für die Ernsthaftigkeit einer Äußerung haften könnte)15, aber wiederum auch solche, die einfach darauf hinweisen, dass Austin hier seinen eigentlichen philosophischen Gegenpart, nämlich die aus dieser Sicht sich als etwas scheinheilig erweisenden Attitüden eines Denkens ins Visier nimmt, das die „Tiefe“ zu erforschen meint oder sich nach „Tiefe“ sehnt.16 Mit dem Ausschalten der „märchenhaften inneren Akte“ (Austin bedient sich auch hier des Verbs „to exclude“) wird der (wahre oder falsche) referentielle Status der Äußerungen keinen oder nur wenigen Grund bieten können, Handlungen moralisch zu bewerten. Zwar anerkennt Austin schließlich, dass es – im Gegensatz zu falschen Wetten oder falschen Taufen (189) – nicht unmöglich ist, „von einem falschen Versprechen“ zu reden (was überhaupt gesagt werden kann, liegt dabei an der „Alltagssprache“, an grammatischen und anderen Konventionen), aber nur insofern, als es möglich ist, falsche (Schach-)Züge (false move), d.h. regel- und damit konventionswidrige Operationen auszuführen. Wenig später erklärt er, in einem sehr wichtigen Argument, dass nichtgelungene oder ungültige (und in dem obigen, reduzierten Sinne „falsche“) Operationen dieser Art keineswegs bedeuten, dass keine Aktion stattgefunden hätte oder dass nichts geschehen

13 Die Kategorie von Geoffrey Leech wird zitiert von Krämer: Sprache, Sprechakt, Kommunikation, S. 61. 14 S. dazu, u.a., Searle: Eine Taxonomie illokutionärer Akte, S. 21. 15 S. de Vries: Must We (NOT) Mean What We Say?, S. 97-98. 16 Vgl. z.B. Cavell: Counter-Philosophy, S. 87-88.

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wäre, und noch weniger, dass nichts geschehen wäre, was Folgen nach sich ziehen würde: ein unehrliches Eheversprechen wie auch Bigamie können sehr wohl über praktische Konsequenzen verfügen. Nichtig und unwirksam (being void or without effect) bedeuten natürlich „nicht, dass man gar nichts getan hat – im Gegenteil, sogar eine ganze Menge (lots of things will have been done!): höchst interessanter Weise haben wir ein Vergehen der Bigamie begangen. Aber wir haben eben nicht die beabsichtigte Handlung zustande gebracht“ (38-29/17; Herv. i. O.).17 Dennoch bzw. gerade deshalb kann die moralische Beurteilung eher vom Erkennen des Verstoßes gegen Ausführungskonventionen ausgehen (Austins Kategoriensystem solcher Verstöße reicht von Nichtigkeit produzierenden „Versagern“ [misfires] – Fehlberufungen oder Fehlausführungen – bis zu – „unersten“ [hollow], da etwa „unehrlichen“ – „Missbräuchen“), als von der Nachprüfung von (wahren oder falschen) Entsprechungen zwischen inneren Akten und tatsächlichen Äußerungen. Mehr noch, Austin bringt genau die letztere Relation, um genau zu sein, die Bedingung der Unterscheidbarkeit zwischen inneren und äußeren Akten, mit demjenigen, geläufigen Muster sich gegen sich selbst wendender Moralität in Zusammenhang, in dem „ein Übermaß an Tiefe oder sagen wir besser Erhabenheit, der Unmoral den Weg ebnet.“ (hier wird statt „seriousness“ interessanterweise „solemnity“ verwendet, also ein Wort mit zeremoniellen Bezügen). „Ein fester Vertreter der Moral“, der – im Gegensatz zu „einer Generation von oberflächlichen Denkern“ – bestreitet, dass Versprechen nichts anderes ist, als das Aussprechen einiger entsprechender Wörter, wird immer derjenige sein, der – während er „die unsichtbaren Tiefen des ethischen Raumes überblickt“ – Ausreden finden können wird, die die boshaften Sprechakte des Bigamisten oder des Wettbetrügers entschuldigen. Solche Ausreden basieren auf dem Glauben an die Existenz von „märchenhaften inneren Akten“, was selber eine performativ gefärbte Voraussetzung ist, die sich insofern referentiell kaum widerlegen lässt. Eine ebenfalls schwer zu entscheidende, obwohl überhaupt nicht nebensächliche Frage könnte darauf zielen, was genau die „Fiktionalität“ solcher Akte für Austin bedeutet, der auch an ästhetische Probleme in pragmatischen Rahmen heranging. Die nächstliegende Antwort könnte davon ausgehen, dass es Austin hier um nichts weiteres geht, als daran zu erinnern, dass solche inneren Akte für

17 Vgl. dazu Gasché: „Setzung“ and „Übersetzung“, S. 13-15. Es lohnt sich, dazu einen Essay Derridas zu lesen, der sich größtenteils mit Paul de Man bzw. mit den Begriffen des Meineides und des falschen Zeugnisses, ferner allgemein mit der Problematik von Performativität beschäftigt, wobei auch Bigamie eine gewisse Rolle spielt: Derrida: „Le Parjure,“ Perhaps.

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ihn nicht existieren, sondern bloß erfunden oder – wie Nietzsche in einem gar nicht so fernen Zusammenhang formuliert hat18 – den wirklichen (Sprach-)Handlungen hinzugedichtet werden. Solche Fiktionen könnten jedoch ferner auch als Folge einer falschen oder unbegründeten Verwechslung aufgefasst werden, durch die verbalisierte und in diesem Sinne „veräußerlichte“ Intentionen in die innerlicheren Regionen des Herzens, des Bewusstseins oder des Geistes verwiesen werden. Da allerdings die vollständige Verbalisierung bzw. der Ausdruck, die Bezeugung oder Explikation von Intention wohl auch in Fällen auf ihre (von Austin durch zahlreiche Beispiele illustrierten) Grenzen stoßen müssen, wo sie eher als eine aktualisierende Heraufbeschwörung (bei Austin: invocation) eines Regelsystems denn als eine Art Geständnis zu betrachten ist, könnte die Fiktionalität sogar auf diesen Mangel oder Umstand bezogen verstanden werden, d.h. darauf, dass solche inneren Akte nie vollständig zustande kommen oder ausgeführt werden. Innere Akte könnten sich darüber hinaus auch etwa im Sinne des (Sich-) Verstellens als fiktiv erweisen, da ihre Existenz nur durch eine Art imitativer oder diskursiver Bezeugung bestätigt werden kann, die aber notwendigerweise zugleich als äußerlicher Akt stattzufinden hat – dieser Zusammenhang wird übrigens in einem der spannendsten Aufsätze Austins, einer dem Phänomen des Vortäuschens gewidmeten Untersuchung, behandelt, auf die später noch zurückgekommen wird. Wie später ebenfalls zu erwähnen sein wird, könnten einige Schriften Austins sogar dafür Argumente liefern, dass die inneren Akte, um die es hier geht, in Wahrheit deshalb als fiktiv betrachtet werden müssen, weil sie im Gegensatz zu den äußeren Akten, die über ihre Existenz berichten, in Wahrheit keine Akte sind. Auch wenn eine solche Unterscheidung aus der Sicht kurrenter Lehren der Theatralität und Performativität verdächtig vorkommen müsste, könnte im Prinzip dennoch darauf hingewiesen werden, dass im Gegensatz zu den Sprech- und anderen Akten, die sie bezeugen, „innere“ Gefühle, Absichten oder Beweggründe nicht unbedingt als Akte zu denken sind. Austins auffallendster Hinweis – in dem sich wieder einmal die Anwesenheit einer Theatralität anmeldet, die die ganze Konzeption sozusagen gespensterhaft durchzieht19 – eröffnet allerdings auch den Begriffskreis einer im eminent schauspielerischen Sinne verstandenen Fiktionalität für die Deutung des Attributs, und zwar in mindestens zweierlei Hinsicht. Die Aussage, die vom Titelhelden von Euripides’ Tragödie Hippolytos zitiert wird und die interessanterweise selten die Aufmerksamkeit der Austin interpretierenden Theoretiker geweckt hat, ist nämlich nicht bloß ein dramatisches, d.h. zumindest in diesem Sinne einem fiktiona-

18 Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, S. 279. 19 Campe: Making It Explicit, S. 22.

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len Text entnommenes Zitat, sondern es verfügt – wie es bei Austins literarischen Zitaten dieses Typs öfters vorkommt – über eine Art metafiktiven oder metatheatralischen Bezug, da der Satz gerade den Mittelpunkt einer Szene bildet, in der der Held in gewissem Sinne sein eigenes Vortäuschungsmanöver, die Trennung zwischen Innen (Intention) und Außen (Äußerung) bezeugt: „Ihn schwur die Zunge, und mein Herz weiß nichts davon!“ (612, „ἡ γλῶσσ’ ὀμώμοχ’, ἡ δὲ φρὴν ἀνώμοτος“; Übersetzung von Johann Albert Hartung; in Austins redseliger „Übersetzung“ lautet der Satz: „My tongue swore to, but my heart [or mind or other backstage artiste] did not“). Ferner könnte schwerlich davon abgesehen werden – obwohl es in der Tat kaum zu klären ist, ob Austin darauf zielt und wenn ja, in welchem Sinne genau20 –, dass dieses Zitat, sollte es wirklich erklingen (und für Austin muss, wie Derrida richtig bemerkt hat, jeder Sprechakt hörbar sein), aus einem Schauspielermund ertönen muss auf irgendeiner („inneren“ oder „äußeren“?) Bühne, es geht hier also eben um den Fall, den Austin an der oben zitierten, berühmten Stelle als Beispiel für parasitäre Sprechakte anführt. Zwar beinhaltet die Aussage ein explizites – auf den Akt des Schwurs bezogenes – Performativ (worüber sie aber eigentlich eher bloß – in der Vergangenheitsform, genauer gesagt in Präsens Perfekt – berichtet oder – dies auch nurmehr auf implizite Weise – Zeugnis ablegt, statt ihn in der Tat auszuführen), das aus dem Rahmen der dramatischen Fiktion im Prinzip herausgehoben werden könnte mit Hinweis auf Austins früher zitierte Behauptung, dass explizite Performativa sich auch als dramatische Instruktionen auffassen lassen – die Quelle solcher imaginären Instruktion oder Selbstinstruktion (etwa ‚er legt einen Schwur ab‘, oder genauer: ‚er berichtet davon oder bezeugt, dass er einen Schwur abgelegt hat‘) ist hier aber die Fiktion, Hippolytos oder der ihn darstellende Schauspieler. Es ist nicht ohne jede Bedeutung, dass der Schwur selbst in der Tragödie von Euripides nicht ausgeführt wird, der Leser oder Zuschauer erfährt davon nur aus einem Dialog zwischen dem Titelhelden und Phaidras Amme. Das hält Austin keineswegs davon ab, die Aussage von Hippolytos durch einen massiven und leicht durchschaubaren Eingriff als eine Art metatheatralische Allegorie zu deuten, indem er die Gegenüberstellung von Sprache und Herz bzw. hier eher Verstand (φρήν – das, wie die verschiedenen Übersetzungsversuche dieses semantisch nicht ganz unkomplizierten und insofern einigermaßen auffallend wirkenden Wortes bezeugen können, sowohl als Herz, wie auch als Seele, Verstand oder Geist widergegeben werden könnte, ursprünglich allerdings – was durchaus die Aufmerksamkeit des ständig gut gelaunten Verfassers ge-

20 Vgl. Cavell: Counter-Philosophy, S. 90.

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weckt haben könnte – Zwerchfell bedeutete: Auf jeden Fall geht es also um eine innere, geschlossene oder verschließende, zurückhaltende Autorität21) mit der zwischen der Bühne und dem Backstage-Bereich hinter der Bühne in Verbindung stellt: „d.h.: ‚Meine Zunge hat geschworen, mein Herz (oder Geist oder sonst ein Künstler hinter den Kulissen [other backstage artiste]) aber nicht‘“. Äußerst seltsam dabei ist, dass Austins kaum jeder Ironie entbehrende Wortwahl („backstage artiste“) davon zeugt, dass er Theatralität und Zeremonialität (die, in einer gemütlich-witzigen, ein wenig vielleicht redseligen Fußnote auf die ganze Maschinerie der theatralischen Institution bezogen werden: von dem Beleuchter über den Souffleur bis zu allen „offstage performers“!) gerade hinter statt auf der Bühne erblickt und lokalisiert. Die Maschinerie, die für die Herstellung der theatralischen Illusion haftet, d.h., wenn es so formuliert werden kann, der eigentliche Bereich der expliziten „Instruktionen“, scheint ebenso wenig von der Einsickerung der Theatralität und Fiktionalität verschont zu bleiben, die sie selber erzeugt.22 Und genau hierin eröffnet sich das Spielfeld, ja: die Bühne von φρήν, von den märchenhaften, inneren Akten. Im Vergleich dazu kann auf der Spielhälfte des Wortes (der ständig schwörenden Sprache), die in der Allegorie von Austin der tatsächlichen Bühne entspräche, kaum gelogen werden, da dies erst deshalb ermöglicht wird oder deshalb die entsprechenden Zweifel aufkommen lässt, weil die im Kreuzfeuer von Austins Skeptizismus stehenden Moralisten sie dazu zwingen, wahre oder falsche Zeugnisse über die andere, weitaus theatralischere Spielhälfte abzulegen, über die sie eigentlich keine Macht haben kann. Der Verstand (das Herz, die Seele) kann, im strengen Sinne des Wortes, kaum unter Eid stehen, er ist ἀνώμοτος, was, genauer gesehen, durchaus konsequent ist, da diese sprachliche Aktion nur auf der anderen Hälfte, auf der tatsächlichen Bühne ausgeführt werden kann. Das Herz kann nicht schwören, nur die Sprache. Gerade damit wird einerseits die Möglichkeit der naiven und in gewissem Sinne sich selbst widersprechenden Unterscheidung zwischen Männern der Taten (oder Gedanken) und Männern der Worte eröffnet (darauf kommt Austin deutlich später zurück: „Zum Beispiel können wir den Mann, der Worte macht, dem

21 S. Frisk: Griechisches Etymologisches Wörterbuch, S. 1041; Chantraine: Dictionnaire, S. 1227-1228. 22 Es sei hierzu angemerkt, dass Searle in seinem Aufsatz, in dem er sozusagen die Lösung für den problematischen Status der Fiktionalität in der Austinschen Theorie zu finden meint, die Geltung der Theatralität im Falle der Quelle der dramatischen Intentionen, d.h. im Falle des Autors mit dem Argument aufhebt, dass seine Tätigkeit statt der Teilnahme im Rollenspiel oder im Vortäuschen darin bestehe, die Anweisung abzufassen, die das ganze Schauspielen ermöglicht: Searle: Der logische Status, S. 91.

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Mann der Taten gegenüberstellen, können sagen, dass er nichts getan, sondern nur geredet habe; und dann können wir jemanden, der etwas nur denkt, mit einem vergleichen, der es wirklich sagt [laut ausspricht]: hier bedeutet Sprechen Handeln.“ – 110), andererseits auch angedeutet, dass ein in diesem Sinne nicht theatralischer, da ausschließlich mit sich selbst identischer Schwur (der Schwur der Sprache) jedoch kaum jeden imperativen Zug verliert23, da in ihm, wenn auch weiter nichts, so doch eine Verbundenheit festgesetzt wird, der der Verstand und/oder das Herz bloß durch „märchenhafte“ Akte gerecht werden kann. Austin formuliert gleich nach dem Zitat aus Hippolytos mit Bezug auf den Sprechakt des Versprechens (auch hier ohne auf die Konnotationen des Vortäuschens oder des Rollenspielens zu verzichten), dieses mache „meine geistige Übernahme einer geistigen Fessel aktenkundig (Puts on record my spiritual assumption of a spiritual shackle!“ – herv. ZKSz). Was Austin verwirft oder in den Kreis der Sorgen von Moralisten verweist, ist freilich nicht die Möglichkeit der Spaltung zwischen „Innen“ (fiktivem Akt oder Absicht) und „Außen“ als solche: er bezweifelt einzig, dass das „Äußere“, d.h. die eigentliche Äußerung, in jedem Fall als ein konstativer Bericht über irgendein „inneres“ Ereignis aufgefasst werden könnte oder sollte.24 Nichtsdestoweniger spendet er immer wieder (nicht unbedingt oder vielleicht auch nicht in erster Linie sprachlichen) Handlungssituationen große Aufmerksamkeit, die das Versprechen tragen, dass in ihnen jede solche Spaltung aufgehoben oder außer Geltung gesetzt wird. Fällen also, in denen es unmöglich oder zumindest schwer denkbar ist, wie es möglich wäre, etwas Anderes zu sagen (oder zu tun), als das, was dabei gemeint wird. Solche Einschränkungen werden einerseits von der Sprache selbst bzw. von den logischen, semantischen und grammatischen Regelmäßigkeiten (eigentlich also: von Imperativen) der Sprache vorgeschrieben, wie es z.B. berühmte philosophische Beispielsätze wie – um Austins bekanntes Beispiel zu zitieren – „Die Katze ist auf der Matte, aber ich glaube es nicht“ oder im kantischen Sinne analytische Urteile wie z.B. „jeder Junggeselle ist unverheiratet“ bezeugen können. Der erste Satz kann nicht bzw. erst durch die Verletzung der Implikationsstruktur der Aussagen ausgesprochen werden (71, 191) – was hier jedoch nur im Falle der expliziten Verwendung zutrifft, da die bloße Aussage „Die Katze ist auf der Matte“ an sich offenbar auch dann gemacht werden kann, wenn der Sprecher nicht an den Sachverhalt glaubt, den er referiert. Der zweite Satz25 ist aus semantischen Gründen a priori (und auf tautologische

23 S. dazu Loxley: Performativity, S. 38. 24 Ebd., S. 11. 25 Vgl. ebd., S. 28-29.

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Weise) wahr (oder eher konsequent: er folgt aus einer Konvention bzw. bezeugt die konsequente Struktur einer Konvention), und es wäre ziemlich umständlich, ihn so zu verwenden, dass derjenige, der ihn ausspricht, nicht an ihn glaubt oder (obwohl es aus empirischer Sicht sicherlich – institutionell gesehen notwendigerweise ungültige – Ausnahmen geben kann) anders denkt – dazu müsste er nämlich auf das Vertrauen in der Sprache verzichten, die er spricht bzw. deren Regeln folgend er die Aussage macht. An einem der alltäglichsten aller Sprachakte, dem Sich-Entschuldigen oder Um-Verzeihung-Bitten lässt sich der Zusammenhang des Problems testen, der sich in der Frage anmeldet, ob – bei gegebenen konventionellen Gültigkeitskriterien – die Macht des Sprechaktes überhaupt gebrochen werden kann, wenn sie so verstanden wird, dass – wie Searle denkt – dieser sich auch dann vollzieht, wenn der Sprecher ihn eigentlich anders meint. Da eine Vielzahl alltäglicher Erfahrungen davon zeugen dürfte, dass die Formel „Entschuldigung!“ auch zum Ausdruck von Absichten verwendet werden kann, die mit dem illukutionären Wert der Phrase überhaupt nicht übereinstimmen, kann es kaum überraschen, dass Austin Unredlichkeit als eine Unterkategorie der Unglücksfälle (infelicities), nämlich als einen Verstoß gegen Gültigkeitskriterien beschreibt, also dass unehrliche Sprechakte – durch die freilich „eine ganze Menge“ getan wird – für ihn keine Sprechakte sind. Komplizierter liegt natürlich der Fall von nicht- oder nur zum Teil sprachlichen Aktionen, in denen die Möglichkeit des Explizit-Machens (und dadurch der expliziten – und freilich ein weiteres Beglaubigungsdefizit produzierenden – Selbst-Markierung) nur begrenzt besteht. Der Essay über die Modalitäten des Sich-Verstellens behandelt im Wesentlichen einen bestimmten Aspekt dieser Problematik, wobei Austin versucht, durch unzählige – größtenteils auf grammatisch-semantischen Überlegungen basierenden – Unterscheidungen zu begrifflich präzisen Abgrenzungen zu gelangen (die in Searles berühmtem und von Derrida zu Recht kritisiertem Beispiel der Imitation von Nixon26 ziemlich vereinfacht, vielleicht zum Teil sogar missverstanden wurden). Die außerordentlich feine Systematik dieser Abgrenzungen bedarf hier keiner Rekapitulation, es lohnt sich jedoch, die Untersuchung des ersten, von Errol Bradford übernommenen Beispiels am Anfang des Essays27 hervorzuheben, da dieses unmittelbar mit der Problematik des Hippolytos-Zitates verbunden werden kann. Der Unterschied zwischen (echter) Wut und vorgetäuschter Wut zeige sich, wie Bradford andeutet, auf den ersten Blick an den Folgen, d.h. in der von Austin perlokutionär genannten Dimension: von einem, der gereizt auf einem Teppich herumtram-

26 Searle: Der logische Status, S. 87; Derrida: Limited Inc. a b c …, S. 163-164. 27 Vgl. Austin: Pretending, S. 253-258.

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pelt, kann durchaus behauptet werden, dass er seine Wut eventuell nur vortäuscht, wer aber im Gegenteil dem Teppich zudem auch Schaden zufügt (etwa in den Teppich beißt), ist tatsächlich wütend – sogar, wie hinzugefügt werden könnte, unabhängig davon, was er in Wahrheit empfindet. Aus dieser Unterscheidung, erinnert Austin, stellt sich aber einzig die Antwort auf die Frage nicht heraus, was es eigentlich bedeutet, wütend zu sein, außerdem könnte jemand durchaus wütend sein ohne sich dabei gewaltsam aufzuführen, ja er könnte seine Umgebung von seiner Wut auch auf andere Weise überzeugen, als diese vorzutäuschen und/oder darzustellen (etwa – warum nicht? – ruhiger Stimme darüber berichten). Es wäre also im Endeffekt schwierig, darauf zu schließen, dass eine vorgetäuschte oder wirkliche Handlung notwendigerweise irgendein „inneres“ Gefühl, eine Intention oder einen Gemütszustand repräsentieren muss, und ebenso darauf, dass – was auch immer in dieser Hinsicht Theorien der performativen Theatralität vertreten – letztere nur durch vorgetäuschte oder wirkliche Handlungen produziert werden können. Ohne Zweifel könnte hierbei freilich, u.a. Judith Butler folgend, darauf hingewiesen werden, dass es die performativen Praktiken, d.h. wiederholbare, zitierbare (und nachahmbare oder vortäuschbare) Handlungen sind, die denjenigen Akteur erzeugen, der sich durch diese ausdrückt oder diese scheinbar ausführt, es sollte jedenfalls nicht verkannt bleiben, dass die Heterogenität von Intentionen auch im Vortäuschen (das von Austin sorgfältig von den Aktionen des Schauspielens oder des bloßen Imitierens abgegrenzt wird28) präsent sein kann. Etwas vorzutäuschen oder zu zitieren kann völlig unterschiedliche Intentionen, manchmal sogar diametral entgegengesetzte Handlungen implizieren. Austin (dem, was nicht unwichtig ist, es in erster Linie um die Frage geht, was eine Handlung überhaupt ist bzw. was eine Handlung eigentlich bedeutet) versäumt es selbstverständlich nicht, auf Fälle von Vortäuschen zu blicken29, die, sozusagen auf negative Weise, dazu beizutragen scheinen, die Bedingungen für die Übereinkunft zwischen Absicht und ausgeführter Handlung zu erhellen. Unter bestimmten Umständen wäre es in der Tat wenig sinnvoll, darüber zu sprechen, dass jemand, der auf einem Stuhl sitzt, bloß so tut, als säße er auf dem Stuhl, oder darüber, dass jemand absichtlich auf dem Stuhl sitzt – es könnte jedoch Fälle geben (vom Tisch kann – so Austins Beispiel – nicht gesehen werden, dass es in Wahrheit gar keinen Stuhl gibt; er bleibt absichtlich sitzen, um etwa eine Höflichkeitsgeste zu verweigern; er sitzt absichtlich auf einem Stuhl, der ihm nicht angeboten wurde usw.), in denen die Spaltung zwischen ausge-

28 Ebd., S. 266-267. 29 Ebd., S. 258-259.

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führter Aktion und Intention (z. B: der Intention des Vortäuschens – oder der vorgetäuschten Intention) sehr wohl signifikant ist. Ebenso: Im Rahmen eines regelrecht geführten Golfspiels ist es schwerlich vorstellbar, was es an der Tatsache und dem Ergebnis eines geglückten Schlages ändern würde, wenn ein Spieler im Nachhinein gesteht, in Wahrheit habe er nur so getan, als ob er das Ball ins Loch versenken würde – um eine andere Absicht zu verschleiern. Aber sogar in solchen Beispielen wird nicht jeder Verdacht ausgeräumt. Um ein für kontinentale Philosophen vielleicht leichter nachvollziehbares Beispiel zu nehmen, könnte etwa die Frage gestellt werden, welche Folgen es für ein Fußballspiel haben kann, wenn ein Spieler zugibt, dass er in Wahrheit nur scheinbar ein Tor (oder Eigentor) geschossen hat, eigentlich ging es ihm darum, das Torschießen darzustellen oder vorzuführen, oder um etwas ganz Anderes. Unter regelkonformen Bedingungen wird das Tor zählen, was bedeutet es jedoch in Bezug auf den Status einer erfolgreichen Aktion, wenn sich herausstellt, dass es sich etwa um ein abgekartetes Spiel handelt? Ferner könnte auch auf die Fouls hingewiesen werden, die einige Spieler mit der Absicht begehen, schnell die ihnen drohende Sperre bei einem nächsten, unbedeutenden Spiel abzusitzen: Die absichtliche Rohheit geht hier nicht auf die Intention zurück, einen (zumindest einen aktuellen) Gegenspieler zu stoppen. Austin würde hier freilich wahrscheinlich das Konventionssystem der verschiedenen Formen von Verantwortlichkeitsklärung konsultieren30, es ist aber offensichtlich, dass diese in bestimmten Fällen weiterhin darauf angewiesen bleiben, Urteile über Selbstzeugnisse fällen zu müssen, die u.a. die Form des Schwurs annehmen (‚ich schwöre, dass ich einfach auf dem Stuhl gesessen habe‘; ‚ich schwöre, dass ich nicht gewusst habe, dass ich mich nicht setzen darf‘; ‚ich schwöre, ich habe das Eigentor zufällig geschossen‘ usw.). Wie Austin selbst an einer Stelle feststellt31, sind solche Bedrängnisse (die einerseits aus der Ungewissheit in Bezug auf die Intentionen folgen, andererseits aus der Unmöglichkeit, auf die Intentionsfrage vollständig zu verzichten) einfach damit zu erklären, dass der Mensch spricht, dass der Mensch ein sprachliches Wesen ist. D.h. damit, dass er über seine „inneren“, fiktiven (?) Akte notwendigerweise durch die Sprache berichten muss bzw. – eine andere Wortfolge wäre vielleicht genauer – dass er durch die Sprache notwendigerweise über „innere“, fiktive (?) Akte berichten muss. Wesen, die über keine Sprache verfügen, produzieren zwar auch Zeichen, die missdeutet werden können, machen aber keine irreführenden Aussagen, z.B. sie lügen nicht.

30 S. dazu den geistreichen Aufsatz über die verschiedenen Modalitäten der Absichtlichkeit: Austin: Three Ways of Spilling Ink. 31 Austin: Other Minds, S. 112-113.

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Dies könnte dann bedeuten, dass es die Sprache nicht gibt, damit sie ein zuverlässiges Medium für die Mitteilung „innerer“ Ereignisse sicherstellt (das tut sie nicht, sie tut nicht das), sondern dass letztere (und das ganze System referentieller und ethischer Defizite, die sich um sie entfalten) existieren – weil es Sprache gibt. Und genau deshalb muss es von Zeit zu Zeit zu Schwurakten kommen. Was eigentlich ist ein Schwur? Was macht ein Schwur? Es ist leicht einzusehen, dass er sich nicht unbedingt auf innere Akte bezieht, ebenso wie, dass – dies wird aus dem Fall von Hippolytos ersichtlich – er selbst auch kein solcher sein kann, selbst wenn ein Schwur wegen der Zerbrechlichkeit letzterer notwendig erscheinen kann. Vor allem bestimmt ein Schwur die Beziehung des Sprechers, des Schwörenden zu vergangenen oder gegenwärtigen (gerade durch den Schwur erfolgenden) Ereignissen oder Sachverhalten. Er trägt notwendigerweise eine selbstreferentielle Färbung, indem durch ihn der Zusammenhang zwischen dem Sprecher und der von ihm ausgeführten Äußerung stabilisiert wird, und obwohl ein Schwur bekanntlich auch über referentielle Aspekte verfügt (vor einem Gericht etwa haftet ein Eid für die Wahrhaftigkeit des Berichtens über ein vergangenes Geschehen), scheint die Herstellung des Bandes zwischen Sprecher und Äußerung auch in dieser Hinsicht Vorrang zu haben: Der Schwur eines Zeugen dient vielleicht in erster Linie dazu, die eigene Glaubwürdigkeit zu unterstützen, und erst dadurch die Stichhaltigkeit dessen, was er bezeugt. Das performative Kolorit seiner Leistung ist facettenreich (ein Schwur kann ebenso versprechen – ‚ich schwöre, ich werde das niemandem sagen‘ –, wie auch drohen: ‚ich schwöre, wenn du noch einmal x, werde ich y‘), diese Performativität liegt in erster Linie (oder eher: scheinbar) jedoch nicht darin, dass durch den Schwur etwas zustande käme oder produziert würde, sondern vielmehr darin, dass er den Sprecher (und seine Handlungen) zu Verantwortung zwingt für die eigenen Worte, ihn an die eigenen Worte kettet. Es bedarf kaum besonderer Erklärung, dass es hier um etwas geht, zu dem die Sprache nicht selbstverständlich fähig ist: In der Form des Schwurs korrigiert die Sprache sich selbst. Der Schwur versucht den einzigen (fiktiven) Augenblick zu fassen, in dem der Sprecher identisch wird mit dem eigenen Sprechen, gegenwärtig in den eigenen Worten, ein Moment, wo Sprache (der sprechende Körper) und Verstand (Herz usw.) sich gegenseitig berühren. Die praktisch gesehene Schwäche oder Labilität des Schwurs rührt offensichtlich daher, dass er selbst – wie wiederum aus dem Geständnis von Hippolytos hervorgeht – über keine Dauer verfügt, er kann nicht ausgehalten werden – wobei er gerade das, eine Art zeitliche Beständigkeit herzustellen hat (da jemand, der ihn sozusagen ernst meint, sich dazu verpflichtet, den Schwur – das Wort! – zu ‚halten‘). Wird er einmal geäußert, kann auf ihn

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lediglich verwiesen werden, in solchen Verweisen können jedoch – wie im Satz des Hippolytos – Wort und Verstand, Wort und Herz nicht mehr füreinander haften: Im Rückblick erscheint es vielleicht sogar als notwendig, dass einzig die Sprache geschworen, der Schwur nur als Schwur der Sprache bzw. der Zunge Spuren hinterlassen hat. Dass das berühmte (und ziemlich radikale) Verbot der Evangelien nicht bloß – im Rückbezug auf die Vorlagen der Mosaischen Gesetze (vor allem 3. Mose 19,12; vgl. aber ferner 2. Mose 20,7; 4. Mose 30,1-17) – vom Meineid, sondern allgemein vom Schwören abrät (das von der Rede von „Ja, ja; nein, nein“ überboten wird), könnte aus dieser Sicht sogar sprachtheoretische Überlegungen widerspiegeln: Ihr habt weiter gehört, dass zu den Alten gesagt ist: „Du sollst keinen falschen Eid schwören und sollst dem Herrn deine Eide halten.“ Ich aber sage euch, dass ihr überhaupt nicht schwören sollt, weder bei dem Himmel, denn er ist Gottes Thron; noch bei der Erde, denn sie ist der Schemel seiner Füße; noch bei Jerusalem, denn sie ist die Stadt des großen Königs. Auch sollst du nicht bei deinem Haupt schwören; denn du vermagst nicht ein einziges Haar weiß oder schwarz zu machen (hier geht es freilich nicht um die gleiche Art einer inneren Schaltzentrale wie im Falle von φρήν: Die Rede ist von κεφαλή, d.h. vom Kopf im physischen, körperlichen Sinne, also – wie im nächsten Vers nachdrücklich hervorgehoben wird – von der Darbietung des eigenen Lebens, über das man in Wahrheit keine Macht hat, als Garantie des Schwurs – ZKSz). Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Bösen.32

Jesu Lehre stellt hier vielleicht weniger die referentielle und moralische Forderung nach eindeutiger oder glaubhafter Rede dar, sondern erinnert den Menschen an die performative Natur der Sprache und weist ihn darauf hin, dass er nicht schwören soll, ja nicht (oder höchstens auf ungültige Weise) schwören kann bei einer Instanz (bei Himmel und Erde, beim eigenen Leben), über die er keine Macht hat.33 Er kann sie bejahen oder verneinen. Dennoch muss man von Zeit zu Zeit schwören und kann nicht völlig auf Schwüre verzichten, und es sind gerade diese in nicht geringem Maße responsiven Jas und Neins, die die einzig relevanten Bezüge des Schwuraktes erschließen. Giorgio Agamben, der in einem der Bände seiner Homo sacer-Serie eine packende Analyse der „Archäologie“ des Schwurs liefert, geht von dem Moment aus, dass im griechischen Quellgebiet der Begriffsgeschichte (bei Lykurg und

32 Mt 5,33-37; Übers. nach der Lutherbibel 2017. 33 Gott kann hingegen dem Abraham gerade deshalb bei Gott, d.h. bei sich selbst schwören, „da er bei keinem Größeren schwören konnte“ (Hebr 6,13).

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Hierokles) der Eid, „Horkos“ ein Performativ ist, das, statt etwas zu erzeugen, dazu dient, etwas, was ein Anderer oder andere hervorgebracht haben (z.B. einen mündlichen Vertrag oder ein Versprechen), aufrechtzuerhalten oder ein- bzw. zusammenzuhalten, und wundert sich kaum unverständlicherweise, wie eine Sprechhandlung, die (im Vergleich zum Strafbarmachen von Lügen) völlig ungeeignet ist, die ihr zugewiesene Funktion zu erfüllen, eine solch spektakuläre kulturgeschichtliche Karriere machen konnte.34 Zwei wichtige Thesen seines Antwortversuchs scheinen aus Sicht der hier verfolgten Problematik von besonderer Bedeutung zu sein. Einerseits zeugt der Eid für Agamben von einer „ursprünglichen Erfahrung“ von Sprache, wo assertive und verbindliche Eidschwüre noch nicht voneinander getrennt waren und deren späten Spuren sich genau in der technisierten Möglichkeit anzeigen, dass die performative Sprachverwendung sich, eben z.B. in Austins Manier, institutionalisieren lässt. Für diese offensichtlich fragile (und fiktive?) Erfahrung wird Wahrheit statt der Möglichkeit der denotativen Übereinstimmung von Wörtern und Dingen von der Macht der Sprache definiert, die darin liegt, dass Sprechen irgendwie doch fähig sein kann, das, was gesagt wird, zu realisieren, ihm zum Sein zu verhelfen. Diese Leistung ist die Leistung einer Sprache, die sich statt als Zeichen als Eigenname aufführt, da sie die Existenz von Dingen oder Sachverhalten nicht bezeichnet, sondern durchs Schwören bezeugt (dies würde die enge Affinität der Schwüre zu Eigennamen bestätigen: In der Regel wird im Namen von etwas oder von jemandem geschworen).35 Selbstverständlich ist solche Erfahrung von Sprache nur in der Rede vorzustellen, und – darin bestünde Agambens zweite wichtige These – genau deshalb kann die Eigenart der menschlichen Sprache, die sie vor allen weiteren Kommunikationsformen auszeichnet, nämlich dass der Mensch nur dadurch, nur um den Preis zur Sprache kommen kann, dass er in der Rede zugleich zu einem Ich zu werden hat, mit dieser Erfahrung in Zusammenhang gebracht werden. Man hat Ich zu sagen, sich als Ich (in) der Sprache auszuliefern, man muss – da es anders nicht geht – unausweichlich als Ich schwören oder eben einen Meineid leisten.36 Diese „ursprüngliche“ Erfahrung, die sich im Bedrängnis des Schwuraktes und des Schwurzwanges sozusagen auf negative Weise, durch ihr Fehlen anmeldet, bestimmt den ethischen Charakter der Beziehung des Menschen zu seiner Sprache – zumindest den eines Menschen, der nicht mehr an die vollständige Übereinstimmung zwischen Name und Genanntem glaubt und der also sich eben

34 Vgl. Agamben: Das Sakrament der Sprache, S. 9-14. 35 Vgl. bes. ebd., S. 68-72. 36 Ebd., S. 89-90.

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deshalb immer und erneut vergebens, zumindest potenziell vergebens Schwüre bedient (ichlose Diskurse schwören weniger). Es ist kaum von Ungefähr, dass eines der Lieblingsthemen in den Debatten um die Theorien der Sprechakte gerade Fälle liefern, in denen die erste Person Singular unmarkiert bleibt, und ferner die Frage, welche Wirkung das Fehlen dieser grammatischen Markierung auf den Status des Sprechaktes ausübt: Auch Austin beschäftigt sich damit an mehreren Stellen seiner Vorlesungen. An einer Stelle geschieht das gerade in unmittelbarer Nähe zu den von Derrida berühmt gemachten37 Ausführungen über die performative Funktion der Unterschrift (79-82), wo Austin darüber spricht, dass eine performative Äußerung auf eine Form gebracht werden können muss, „in der sie ein Verb in der ersten Person Singular Indikativ Präsens Aktiv enthält“38 (durch diesen Test erweist sich die schlichte Aufschrift „Stier“ als gültiger Sprechakt, der auf das gefährliche Tier aufmerksam macht). An anderer Stelle, z.B. während der Unterscheidung zwischen phonetischen, phatischen und rhetischen Akten, spielt statt der grammatischen Funktion, d.h. statt des Pronomens die menschliche Natur des sprechenden „Ichs“ die entscheidende Rolle: Ein Affe würde vergebens den gleichen phonetischen Akt ausführen, den ein Mensch bevor ihm geäußert hat, dieser Akt könnte dennoch nicht phatisch genannt werden (113). Auch um einen Schwur ablegen zu können, muss der Sprecher ein (menschliches) Ich sein, mehr noch, es ist vielleicht geradezu der Schwur, der einen Menschen zum Menschen macht, zusammen mit all den, wie es scheint, unvermeidbaren moralischen Komplikationen (Intentionalität, undurchsichtigen inneren Akten und ähnlichem).

HIPPOLYTOS Vielleicht konnte Austin also in der oben bereits zitierten Aussage deshalb an seinem von Euripides stammenden Beispielsatz (auf „befriedigende“ Weise) beobachten, wie „ein Übermaß an Tiefe oder sagen wir besser Erhabenheit (nämlich im Schwurakt), der Unmoral den Weg ebnet“. Das Schwören selbst, d.h. im obigen Sinne die Ichbezogenheit des Sich-Einlassens auf die Sprache verantwortet die Möglichkeit der Immoralität. Währenddessen erwähnt Austin

37 Derrida: Signatur Ereignis Kontext, S. 40-41. 38 Was, zieht man die Theatralität der Konventionen, die die Sprechakte umgeben und bestimmen, in Betracht, freilich notwendigerweise die Fiktionalisierung der ersten Person impliziert, s. dazu Johnson: Poetry and Performative Language, S. 58-60.

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(der sich vielleicht falsch erinnert oder den Kontext einfach ignoriert39) in keiner Weise den kaum völlig nebensächlichen Umstand, dass nämlich in Euripides’ Stück Hippolytos seinen Schwur letztendlich nicht brechen wird! Er trinkt sozusagen Wasser und predigt dabei Wein. Zwar lässt die antike Rezeptionsgeschichte des Satzes, d.h. die Tatsache, dass er es binnen relativ kurzer Zeit – wie es die ihn in äußerst unterschiedlichen Zusammenhängen rezyklierenden diversen Zitate bestätigen – zum geflügelten Wort geschafft hatte, darauf folgern, dass zu Euripides’ Zeit, wo formale (explizite) Schwüre, zumindest im Regelfall, als gänzlich verbindlich für den Schwörenden betrachtet wurden40, allein schon die Annahme einen gewissen Anstoß erregen konnte, dass Hippolytos seinen Eid vielleicht nicht bricht, aber die Option des Eidbruchs doch wahrnimmt oder erwägt. Wie ein Hinweis von Aristoteles’ Rhetorik nahelegt (1416a28-3541), dürfte sich Euripides wahrscheinlich sogar in einem Rechtsstreit gegen die Klage der Gottlosigkeit gewehrt haben müssen wegen des zum Eidbruch „ermutigenden“ Satzes von Hippolytos. In Platons Dialog Theaitetos (der aus Sicht der hier verfolgten Problematik übrigens vor allem deshalb mehr Aufmerksamkeit verdienen würde, weil er durch die Unterscheidung zwischen „richtiger Vorstellung“ und „Erkenntnis“ eigentlich die philosophische Problematik des Zeugnisses aufgerissen hat – 201a-b42) weist Sokrates, nachdem er einen jungen Gesprächspartner anlässlich einer theoretischen Frage in den Selbstwiderspruch getrieben hat und unmittelbar bevor er sich auf die Praxis der Sophisten beziehen wird, sozusagen als auf eine Möglichkeit, diesen Widerspruch aufzulösen, d.h. als auf einen möglichen Ausweg auf Hippolytos’ Satz hin, der hier nicht genau zitiert, sondern – auf äußerst bedeutende Weise – paraphrasiert wird: „es wird uns die Zunge freilich unwiderlegt sein, die Seele aber nicht unwiderlegt.“ (154d-e43). Im Gegensatz zu den vorhin erwähnten Zitaten stellt Aristophanes den Satz von Hippolytos in gleich zwei seiner Komödien in Zusammenhänge, in denen damit auch der sprachliche Kontext des Schwörens reflektiert wird. Sowohl in Die Thesmophoriazusen (vgl. Thesmophoriazousai 272-276; Übersetzung von Johann Gustav Droysen), wie auch in Die Frösche (Batrachoi; Übersetzung von

39 Vgl. dazu Cavell: Counter-Philosophy, S. 104-105; ders.: Foreword to The Scandal of the Speaking Body, S. xv; Sommerstein/Torrance: Oaths and Swearings, S. 246. 40 Ebd., S. 281. Die Glaube an die verbindende Macht und die diesbezügliche Leistung von Schwüren scheint während des 4. Jahrhunderts v. Chr. nachgelassen zu haben, s. ebd., S. 381-393. 41 Aristoteles: Rhetorik, S. 190. 42 Platon: Theaitetos, S. 337. 43 Ebd., S. 193.

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Ludwig Seeger) wird der auf der Bühne auftretende Euripides mit der Aussage konfrontiert, die in dieser (zumindest) angedeutete Möglichkeit des Eidbruchs fällt damit sozusagen auf den Dichter zurück. Besonders interessant erscheint der Kontext von Die Frösche, da Dionysos seine Absicht hier zunächst u.a. mit dem Hinweis auf den berühmten Satz („mich entzückt’s“) seine Absicht begründet, den Euripides aus Hades’ Unterwelt zurückzubringen (98-102), um dann schließlich, im Rahmen eines vielschichtigen (z.B. durch Verstellungsmanöver und Rollentausch signalisierten) metatheatralen Kontexts, der sogar extreme Praktiken der Erkundung oder der Abpressung von Aufrichtigkeit, wie z.B. Tortur mit einbezieht (642-671), mit der Wiederholung seines berüchtigten Satzes dem blamierten Dramatiker zu erklären, weshalb er sich doch für Aischylos entscheiden wird. Euripides’ zweifelhafte oder zumindest gelassene Attitüde gegenüber Schwurakten wird im Text hier auf vielsagende Weise dadurch hervorgehoben, dass nach dem eigentümlichen Dichterwettkampf mit Aischylos der Autor des Hippolytos Dionysos vorsichtig daran erinnert (von der Illokution her betrachtet könnte man meinen, dass er ihn sozusagen gleichzeitig warnt und bedroht – womit er also zugleich verrät, dass er weder an den Urteilsbringer noch an sich selbst – an die eigenen poetisch-rhetorischen Fähigkeiten – ganz zu glauben scheint), dass dieser seine ursprüngliche Absicht durch einen Schwur bei den Göttern besiegelt habe („Der Götter denk’, bei denen du geschworen / Mich heimzuführen, wähle deinen Freund!“ – 1469-1470) – wobei Dionysos der erwähnten Absichtserklärung nirgendwo im Stück einen solchen Schwur beigefügt hat. Dionysos vergilt in Wahrheit genau dieses Manöver (und legt damit Euripides’ Attitüde sozusagen zweifach bloß) an der Stelle, wo er Hippolytos’ Satz – genauer betrachtet nur dessen erste Hälfte – auch zu einem zweiten Male, nun aber wortwörtlich zitiert, um seine Entscheidung für Aischylos zu kommentieren: „‚Die Zunge schwur’s‘ – ich wähle Aischylos!“ („Ἡ γλῶττ’ ὀμώμοκ’, Αἰσχύλον δ’ αἱρήσομαι.“ – 1471). Bei Euripides schwört Hippolytos seinen Eid der Amme, und zwar – wie im gleich darauf zitierten Dialog deutlich wird – in einem zweifach bestimmten, paradoxen Zusammenhang, in dem 1. diese ihn wiederholt (zuerst: 603-604) dazu überreden will, nicht darüber zu sprechen, worüber (nämlich über Phaidras Liebessehnsucht, die zunächst durch Einsatz von Zaubermittel kuriert werden sollte) sie ihn – trotz Phaidras Verbot (520) – aufgeklärt hat, wobei 2. sie an ein gesprochenes Wort appelliert, das in (und auf) der Szene zwar nicht fällt, das

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aber durch die Mahnung der Amme bezeugt wird44: an das gesprochene Wort, das sich (nicht zum letzten Mal im Stück) dem eigenen Gegenteil, nämlich dem Schweigen verpflichtet: Amme: Mein Wort, o Sohn, will nicht der Welt verraten sein. ὁ μῦθος, ὦ παῖ, κοινὸς οὐδαμῶς ὅδε. Hippolytos: Das Schöne wird noch schöner, wenn’s die Welt erfährt. τά τοι κάλ’ ἐν πολλοῖσι κάλλιον λέγειν. Am: Mach deinen Eidschwur nicht zuschanden, liebes Kind! ὦ τέκνον, ὅρκους μηδαμῶς ἀτιμάσηις. Hipp: Ihn schwur die Zunge, und mein Herz weiß nichts davon! ἡ γλῶσσ’ ὀμώμοχ’, ἡ δὲ φρὴν ἀνώμοτος. (609-612)

Wichtig ist dabei, dass sich währenddessen auch Phaidra auf der Bühne befindet, und die Frage, ob sie diese Worte – die also den Eidbruch überlegen oder zumindest nicht ausschließen – hört oder nicht, ein umstrittenes Problem der Interpretationsgeschichte des Dramas darstellt, und dass es ferner ebenso wenig Übereinkunft darüber gibt, ob wenigstens der Chor als wirklicher Zeuge des Dialogs anwesend ist, und wenn ja, ob Hippolytos seine Gegenwart ignorieren kann.45 Jedenfalls ist es kaum eindeutig, ob Phaidras Verdacht, dass nämlich ihr Stiefsohn sie verraten, sie vor Theseus bloßstellen (und damit eigentlich die tragische Handlungsreihe in die Wege leiten) könnte, unmittelbar auf Hippolytos’ Aussage basiert oder vielmehr aus dem Verhalten der Amme folgt, die Phaidra in einer späteren Szene, wo sie von der Preisgabe ihres Geheimnisses erfährt, eigentlich im Endeffekt für Hippolytos’ potentiellen Eidbruch verantwortlich macht und auf die dadurch sozusagen die Schuld übertragen wird („Denn der in seiner Leidenschaft, gereizten Muts, / Wird dein Vergehn dem Vater kundtun wider mich“, „οὗτος γὰρ ὀργῆι συντεθηγμένος φρένας / ἐρεῖ καθ’ ἡμῶν πατρὶ σὰς ἁμαρτίας“ – 689-690; Herv. ZKSz). Hippolytos trägt seine lange Klagerede gegen Frauen so vor, dass er eine Zeitlang niemanden direkt adressiert und auch Phaidra, die sich im Prinzip noch auf der Bühne befindet, nicht zu beachten scheint.46 An demjenigen Punkt der Rede dann, wo er sich unmittelbar an die Amme wendet (und

44 Und dessen performative Funktion im narrativen (und dramatischen) Rahmen notwendigerweise instabil wird, vgl. dazu – anhand eines Beispiels bei Kleist – Lőrincz: Im Netz der Schwüre, S. 246. 45 Vgl. Barrett: Commentary, S. 274. 46 S. dazu ebd., S. 275-276.

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einen – zwar von Phaidra wahrscheinlich unbemerkten und durch eine implizite Drohung freilich zum Teil gleich zurückgezogenen – Hinweis auf seinen Schwur macht, der ihn hier doch zu binden scheint – 653-66347), behandelt er in Wahrheit – auch wenn die maßgebende Fachliteratur diese Folgerung kaum unterstützen würde – eher die Amme statt Phaidra als Schuldige (deshalb dürfte das Urteil, er habe „seine Wörter an die falsche Stelle adressiert“48, erst vom Handlungsausgang her gesehen, also nur rückblickend zutreffen). Wie aus der vorangegangenen Szene hervorgeht, wird die in Theseus’ Palast geführte Besprechung zwischen der Amme und Hippolytos von Phaidra und dem Chor überhört. Phaidra glaubt, Hippolytos sprechen zu hören (582), während der Chor sich außerstande findet, eine eindeutige Verbindung zwischen Sprecher und Gesagtem zu identifizieren, und sich auf Phaidras Vermittlung verlässt: Chor: Geschrei hör ich wohl, doch klar kann ich nicht Verstehn, welcher Laut Zu dir durch die Pforten dringt, welches Wort? ἰὰν μὲν κλύω, σαφὲς δ’ οὐκ ἔχω· γεγώνει δ’ οπαι διὰ πύλας ἔμολεν ἔμολέ σοι βοά. Phaidra: Nun denn, er schilt sie deutlich freche Kupplerin, Verführerin des Eheweibes ihres Herrn! καὶ μὴν σαφῶς γε τὴν κακῶν προμνήστριαν, τὴν δεσπότου προδοῦσαν ἐξαυδᾶι λέχος. (585-590)

47 „Und wiß es: meine Frömmigkeit bloß rettet dich! / Denn wenn der Eidschwur nicht so ahnungslos mich fing, / Mich hielte nichts, dies meinem Vater kundzutun. / Nun bleib ich fern vom Hause, bis Theseus zurück- / Kehrt von der Reise, und stilleschweigen soll mein Mund. / Doch mit des Vaters Schritten komm ich heim, zu sehn, / Wie du und deine Herrin ihn anblicken könnt. / Und deine Frechheit merk ich mir: ich hab's erprobt!“ („εὖ δ' ἴσθι, τοὐμόν σ' εὐσεβὲς σώιζει, γύναι· / εἰ μὴ γὰρ ὅρκοις θεῶν ἄφαρκτος ἡιρέθην, / οὐκ ἄν ποτ' ἔσχον μὴ οὐ τάδ' ἐξειπεῖν πατρί. / νῦν δ' ἐκ δόμων μέν, ἔστ' ἂν ἐκδημῆι χθονὸς / Θησεύς, ἄπειμι, σῖγα δ' ἕξομεν στόμα· / θεάσομαι δὲ σὺν πατρὸς μολὼν ποδὶ / πῶς νιν προσόψηι, καὶ σὺ καὶ δέσποινα σή. / [τῆς σῆς δὲ τόλμης εἴσομαι γεγευμένος.]“) 48 Karsai: „…szűz az, aki senkinek se kell“, S. 120.

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Wie dem auch sei, Hippolytos’ Diskurs rührt nur indirekt an den der Phaidra. Im Gegensatz zu der Racineschen Variante und auch zur ersten, verlorenen Fassung von Euripides, deren Aufführung laut der gängigen Annahme deshalb ein Flop wurde, weil das damalige Publikum sich über die direkte Liebeserklärung der Königin an den Stiefsohn empörte, erfährt Hippolytos von der Liebe Phaidras nicht unmittelbar von ihr, sondern durch die Vermittlung der Amme. Sein Schwur bezieht sich nicht auf ein Geständnis, sondern auf ein Geheimnis, das ihm eine Zeugin anvertraut hat, die kaum verlässlich genannt werden kann, da sie – auch wenn ihr nicht unbedingt böse Absichten unterstellt werden müssen – selbst ein Geheimnis verrät: „Freunde verrieten dich!“ („πρόδοτος ἐκ φίλων“ – 595), wie der Chor Phaidra aufklärt. Es könnten weitere Argumente dafür vorgebracht werden, dass die Umstände, unter denen Hippolytos seinen Eid schwört, nicht unbedingt die von Austin beschriebenen Kriterien eines geglückten Sprechaktes erfüllen, auch die ausdrückliche performative Ungültigkeit des Schwurs kann nicht gänzlich ausgeschlossen werden. Es geht um einen nicht öffentlichen Schwur (weder das Publikum noch der Chor wohnen dem Ereignis bei), ferner könnte Hippolytos’ Gegenüberstellung des Verhaltens der Sprache und des Verstandes (des Herzens) auch etwa die Folgerung vorbereiten, dass er in Wahrheit einen unbedachten, fast sogar einen zufälligen Sprechakt ausgeführt hat, oder ihm vielleicht eine Art Lapsus unterlaufen ist – was in diesem Sinne übrigens auch auf die Leugnung des Schwurs bezogen werden könnte (da er seinen Schwur später konsequent bis zum Schluss halten wird, wäre sogar der Verdacht nicht völlig unbegründet, dass hier ein augenblicklicher Wutausbruch oder etwas ähnliches zum Sprechakt geführt hat: eine unüberlegte, d.h. in gewissem Maße nicht-intentionale Handlung). Die Gültigkeit des Schwurs wird ferner auch dadurch geschwächt, dass die Amme in gewisser Hinsicht eine unbefugte Person ist, da sie – als im politischen Sinne nicht freier Mensch – aufgrund ihres gesellschaftlichen Status’ kein wirkliches Recht darauf hat, Schwüre abzulegen bzw. Schwüre von anderen zu verlangen: In Wahrheit würde ein Schwur, der unter inadäquaten Umständen und auf Aufforderung einer Sklavin entstanden war, den Hippolytos wenig binden.49 Dies bedeutet freilich nicht, dass ein Eidbruch, der unter ungültigen Umständen erwogen wird (und schließlich gar nicht erfolgt), zu keinen (tragischen) Konsequenzen führen müsste – er könnte, daran erinnert Austins bereits zitierte Warnung – „lots of things will have been done“ –, durchaus etliche Geschehen katalysieren. Diese Geschehnisse sind vor allem Geschehnisse von Schwüren, Zeugnissen, Misstrauen, Beglaubigungen und

49 Zu dieser Überlegung s. Sommerstein/Torrance: Oaths and Swearings, S. 247 bzw. 166, 192-193.

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Glaubwürdigkeitsentzügen, inneren (fiktiven) Akten und Versuchen, diese zu vermitteln. Klänge das nicht tautologisch (denn gibt es überhaupt Dramen, die sich nicht in Gestalt von performativer Operationen entfalten?), könnte hier die Folgerung gezogen werden, dass Hippolytos das Drama der Performativa ist, wo die tragische Handlung vor allem die Form des Konfliktes zwischen Sprachauffassungen bzw. zwischen den verschiedenen Vorstellungen annimmt, die die Personen über die Verbindung von Wörtern, Taten und Intentionen hegen. Diese Vorstellungen werden von in vieler Hinsicht verschiedenen Perspektiven bestimmt. Die Amme reagiert empfindlich auf einen allgemeinen Mangel von Schwüren, darauf nämlich, dass diese auf die unbestätigten Intentionen eines auf sich selbst angewiesenen und insofern notwendigerweise einsamen Ichs bezogen sind, anders formuliert darauf, dass der Schwörende in gewissem Sinne eben diese seine Einsamkeit oder Singularität im Schwur bekräftigt: Er schwört deshalb, weil – und er schwört eigentlich, dass – es niemanden gibt, der seine eigenen Intentionen nachweisen würde. Diese fehlende Position versucht die Amme zu erfüllen. Als Vertraute ist sie Zeugin von vielem, weiß mehr als alle anderen, ist sozusagen sogar besser informiert als der Chor und macht, vielleicht eben deshalb einerseits (wie alle anderen Personen des Stücks) einen scharfen Unterschied zwischen öffentlichen Äußerungen und Gedanken oder inneren Akten, ist andererseits aber von der schwer instrumentalisierbaren Macht der Worte überzeugt, die die Sprache zu einer zweischneidigen Waffe macht. Sie hat nicht nur guten Grund, Hippolytos zum Schweigen zu überreden, sondern rät bereits Phaidra vom Sprechen ab, d h., davon, ihre Gedanken zu äußern (213-214), auch wenn sie sich dabei weniger wegen der Enthüllung der Wahrheit, sondern wegen der Folgen sorgt. Später dann, als Phaidra sie wegen der missglückten Intervention zur Rechenschaft zieht, beurteilt sie (von moralischen Überlegungen wenig beeindruckt) ihre (Sprach-)Handlungen willig als überflüssig und wirkungslos, da diese, vor allem ihre ausgeklügelten Mechanismen (φρένας!), statt der Intention einzig nachträglich von den Folgen bestätigt werden könnten: „Wär mir’s geglückt, so hieß ich jetzt die kluge Frau! / Denn hat man Glück, so hat man allzeit auch Verstand.“ („εἰ δ’ εὖ γ’ ἔπραξα, κάρτ’ ἂν ἐν σοφοῖσιν ἦ· / πρὸς τὰς τύχας γὰρ τὰς φρένας κεκτήμεθα.“ – 700-701) Für Phaidra, für diejenige Person des Dramas also, über die behauptet werden kann, dass ihre Taten mit einer nur dem Schicksal des Hippolytos vergleichbaren Verhängnishaftigkeit von der Diskrepanz zwischen der Wahrheit und der äußerlichen Erscheinung von Wahrheit bestimmt werden50, ist Sprache

50 Avery: „My Tongue Swore“, S. 25.

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einerseits selbst die Quelle der Unreinheit. Zwar hält sie, als sie sich entschließt, der Amme den Gegenstand ihrer Liebessucht aufzudecken, ihrer befleckten Seele (φρὴν) das Weiß ihrer Hände entgegen (317), die diese bis zum Schluss des Geständnisses fest drückt – was Phaidra übrigens in scharfen Kontrast stellt zum jungfräulichen, der Artemis dienenden Hippolytos, den der – so scheint es ihm zumindest – leichter abwischbarer Schmutz der Wörter eher nur äußerlich, an den Ohren trifft (653-656)51 –, macht sie meistens die Sprache verantwortlich. Nach dem ersten, noch nicht umfassenden Geständnis weist sie auf die Worte als Verursacher ihrer Schmach hin: Nach dem Erklingen der Worte (des Bekenntnisses, durch das die verbotene Begierde veröffentlicht wird) gibt sich ihre Scham auf non- (oder para-) verbale Weise in ihrem Gesicht kund, in ihrer Flucht vor der Schmach der Worte bittet sie nämlich die Amme, ihren Kopf zu bedecken (243-247). Später erklärt sie an den Chor gewandt, dass aus ähnlichen Gründen (weil nämlich die Sprache den Gedanken enthüllt und zum Gegenstand von Spott macht) „auf die Zung […] kein Verlass“ sei („γλώσσηι γὰρ οὐδὲν πιστόν“ – 395), und wird dann tatsächlich mehrmals versuchen, die „schönen“, treffenden, schmeichelnden oder schmählichen Worte des Chors bzw. der Amme abzuwenden (487, 498, 503). Diese Gesten deuten darauf hin, dass Phaidra sich – im Gegensatz zu Hippolytos, der erst mit fataler Verspätung auf eine ähnliche Einsicht kommen wird – eher vorsichtig (oder misstrauisch) in Bezug auf die Frage zeigt, inwiefern bloße Sprechakte sich von den innerlichen Regionen des Herzens oder des Bewusstseins fernhalten lassen. Theseus erscheint erst verspätet am Ort der Geschehnisse, wird aber umso überstürzter handeln (was er, der Hippolytos’ Darstellung zunächst keinen Glauben schenkt, erst nach der göttlichen Aufklärung von Artemis einsehen muss, welche ihn z.T. jedoch auch entschuldigt52 – 1322-1326). Statt schwurbesiegelten Worten traut er einem Geständnis, das die Absenz der Bekennenden bzw. die Leiche der Frau beglaubigen (die beiden Instanzen sind freilich verbunden, und zwar dadurch, dass Theseus den Brief, genauer gesagt das Schreibtäfelchen, in

51 Zum Motiv der Reinheit s. ebd., S. 25-27; Segal: Shame and Purity in Euripides’ Hippolytus, S. 294; Karsai: „…szűz az, aki senkinek se kell“, S. 90, 118-120. Barrett weist darauf hin, dass, da zu damaliger Zeit die Vorstellung einer inneren Unreinheit, die also statt Taten aus Intentionen oder Gedanken folgt, noch nicht allgemein bekannt war, die Amme Phaidras Geständnis notwendigerweise missverstehen muss (Barrett: Commentary, S. 218). 52 Der göttliche (und zugleich rechtswirksame: vgl. ebd., S. 415) Freispruch, der hier in Aussicht gestellt ist, wird zum Schluss des Stücks vom Verletzten selbst, nämlich von Hippolytos, wiederholt und voll entfaltet (1449-1451).

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den Händen der toten Phaidra findet – 856).53 Der Brief bewegt ihn zunächst (noch ungelesen) zu einem irrelevanten Schwurakt (860-861), sein Inhalt (den Theseus vor seinem Sohn eine Weile verschweigt) legt ein (falsches) Zeugnis von der Schuld des Hippolytos ab, dessen Überzeugungskraft eigentlich von einem Schwur stammt. Davon nämlich, dass der Chor – ironischerweise gerade bei Artemis, der Patronin von Hippolytos, schwörend – Phaidra versichert, dass er über den eigentlichen Beweggrund ihres Freitodes schweigen wird (713-714), und diesen Schwur – zu dessen perlokutionären Folgen u.a. Theseus’ irreparabler Irrtum und Hippolytos’ Tod gehören – dann tatsächlich hält, und zwar, wieder ziemlich ironisch, durch den instrumentalen Beitrag einer Lüge, die dazu dient, die Unergründlichkeit von Phaidras Intention zu bestätigen: Theseus: Was sagst du? meine Gattin tot? Was stieß ihr zu? τί φήις; ὄλωλεν ἄλοχος; ἐκ τίνος τύχης; Chor: Sie knüpfte zum Erhängen selbst den Todesstrick. βρόχον κρεμαστὸν ἀγχόνης ἀνήψατο. The: Von Gram erstarrt? Sagt, welcher Unfall kränkte sie? λύπηι παχνωθεῖσ’ ἢ ἀπὸ συμφορᾶς τίνος; Chor: Soviel nur weiß ich: eben komm ich selbst hierher, Theseus, indem dein Missgeschick mir nahegeht. τοσοῦτον ἴσμεν· ἄρτι γὰρ κἀγὼ δόμους, Θησεῦ, πάρειμι σῶν κακῶν πενθήτρια. (801-805)

Es gibt freilich Spuren im Text, die darauf hindeuten, das Theseus gar nicht völlig von der Möglichkeit überzeugt ist, innere Absichten beurteilen zu können, vor allem eine hochinteressant formulierte Klage, wo der König davon spricht, dass die Enttäuschung (die Verwechslung von Freund und scheinbarem Freund) erst durch die Unterscheidung zweier Stimmen vermeidbar wäre, von denen die eine unter allen Umständen glaubwürdig bleibt bzw. die Wahrheit spricht, während die andere sich in dieser Hinsicht gleichgültig oder zufällig verhält: Sie ist zwar nicht notwendigerweise irreführend, aber auch nicht glaubwürdig in demjenigen rechtlich-moralischen Sinne, der für Theseus (den König!) die erste Stimme, die Stimme der dike gegenüber der zweiten, der der tyche („τὴν μὲν δικαίαν τὴν δ’ ὅπως ἐτύγχανεν“), auszeichnet. Anders formuliert: Theseus fordert neben derjenigen, über die jeder sowieso verfügt, eine andere, rechtmäßige und unter

53 S. dazu Karsai: „Ha már jogot tiporsz“, S. 190-191.

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allen Umständen wahre Stimme, die dann den Vorrang haben kann. Theseus sagt: Ach weh! Den Menschen tät ein sichres Zeichen not / Zur Freundesprüfung und zur Herzenskündigung, / Zu sehn, wer’s redlich meine, wer uns falsch gesinnt! / Zwiefache Stimme sollt aus jeder Brust hervor- / Gehn, eine redlich, eine der Art, wie sie’s meint. / So würde, die’s unredlich meint, erkannt an der, / Die’s redlich meinet, und man hinterging’ uns nicht! φεῦ, χρῆν βροτοῖσι τῶν φίλων τεκμήριον / σαφές τι κεῖσθαι καὶ διάγνωσιν φρενῶν, / ὅστις τ’ ἀληθής ἐστιν ὅς τε μὴ φίλος, / δισσάς τε φωνὰς πάντας ἀνθρώπους ἔχειν, / τὴν μὲν δικαίαν τὴν δ’ ὅπως ἐτύγχανεν, / ὡς ἡ φρονοῦσα τἄδικ’ ἐξηλέγχετο / πρὸς τῆς δικαίας, κοὐκ ἂν ἠπατώμεθα. (925-931)

Es ist offensichtlich, dass, würde Theseus (oder irgendjemand im Stück) über ein solch zuverlässiges Zeichen verfügen, die sichere Orientierung im Dickicht der verschiedenen Schwüre und Zeugnisse eine leichtere Aufgabe darstellte. Mit Hippolytos’ Unterscheidung zwischen äußeren und inneren Sprechakten umzugehen, wäre freilich auch in diesem Falle nicht ganz unkompliziert, da es immer noch schwierig bliebe, zu entscheiden, welche Stimme in seinem Fall die Wahrheit sagt. (Im Originaltext geht es Theseus nicht unmittelbar um die „Innerlichkeit“ der Worte, aber in gewisser Hinsicht dennoch, da die von den Stimmen ausgeführten Aktionen selbst intentionelle Erwägungen und Überlegungen vermitteln: φρονέω geht auf φρήν zurück!) Spricht diejenige Stimme, die die Stimme des Verstandes oder des Herzens ist, die Wahrheit, die von keinem Schwur gebunden ist, wie könnte sie einen Schwur dementieren, den sie dann doch halten wird. Ferner: Sollte der Schwur wahrhaftig (oder: die Wahrheit) gewesen sein, so hätte er auch auf die Aussage selbst angewendet werden müssen (d.h. auf das Zeugnis, das im Satz „Ihn schwur die Zunge, und mein Herz weiß nichts davon!“ impliziert ist), welche in diesem Falle gerade deshalb, weil sie als glaubwürdig zu betrachten ist, von der Ungültigkeit des Schwurs Rechenschaft ablegen würde! Zwar impliziert Hippolytos’ Aussage mehrere illokutionäre Ausrichtungen (sie schwört, legt ein Zeugnis ab, stellt eigentlich – aus Sicht von Phaidra und der Amme – auch eine Bedrohung dar), im performativen Sinne wendet sie sich letzten Endes gegen sich selbst. Einerseits genau deshalb, weil es freilich keine zwei Stimmen gibt, sondern nur eine, oder (präziser formuliert) die beiden sind zumindest nicht voneinander abzugrenzen, eben deshalb dürfte Hippolytos, als er auf die Klage seines Vaters erwidert, dass er dessen gesunden Menschenverstand in Frage stellt, vielleicht nicht bloß auf die ungerechte Beschuldigung oder Verleumdung, sondern auf die obsessive Fiktion der zwei

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Stimmen hinweisen. Theseus legt jedenfalls seine Zweifel schnell wieder beiseite und überzeugt sich davon, dass Hippolytos’ äußere Frömmigkeit (u.a. die Frömmigkeit seiner Worte, σεμνοῖς λόγοισιν! – 957) die Bosheit seiner Taten nicht verschleiern kann – nicht einmal in dem Fall, wenn letztere durch einen Schwur (961-961) dementiert wären (wie dies an diesem Punkt freilich bereits bekannt ist, Hippolytos schwört nur ungern, ja er schwört auch dort nicht unbedingt, wo er einen Schwur ablegt). In Phaidras Brief, der Hippolytos beschuldigt, ist es per definitionem unmöglich, zwei Stimmen (δισσάς τε φωνὰς) zu unterscheiden. Die tote Königin (die allerdings, das wird noch wichtig sein, in ihrer Leiche durchaus anwesend ist) legt trotzdem als „untrügliche“ Zeugin ihr Geständnis ab („τί ταῦτα σοῖς ἁμιλλῶμαι λόγοις / νεκροῦ παρόντος μάρτυρος σαφεστάτου;“ – 971-972). Die Schrift liefert den stärkeren Beweis, sie ist mächtiger noch, als Schwüre oder die Worte der Seher (1055-1057), was gewissermaßen gegen Theseus’ Hirngespenst bezüglich der Unterscheidung zwischen wahren und gleichgültigen oder zufälligen Stimmen zu sprechen scheint, wozu jedoch gleich angemerkt werden muss, dass Theseus, als er den Brief studiert, Phaidras Klagen aus erklingenden – schreienden, sogar singenden – Buchstaben herausliest (und zugleich: -hört?): Es schreit, es schreit der Brief Höllenpein! / Wohin flieh ich vor der Last / Des Leids? Ganz zugrund / Bin ich gerichtet! Welchen Wehschrei vernehm ich hier, / Jammer! in dieser Schrift! βοᾶι βοᾶι δέλτος ἄλαστα· πᾶι φύγω / βάρος κακῶν; ἀπὸ γὰρ ὀλόμενος οἴχομαι, / οἷον οἷον εἶδον γραφαῖς μέλος / φθεγγόμενον τλάμων. (877-880)

Diese Szene diente der Forschung übrigens als wichtiger Beweis für die Verbreitung der griechischen Praktiken stillen Lesens54, außerdem ist es, wie es scheint, Theseus’ Fähigkeit des stummen Lesens (und damit der Tatsache, dass er über den schreienden Inhalt des Briefes berichtet, statt ihn vorzulesen) zu verdanken, dass niemand außer ihm im Drama den Brief kennen wird. Obwohl – darauf hat Svenbro hingewiesen – die Szene nicht aller (Meta-)Theatralität entbehrt – die theatralisch singenden Buchstaben werden vom König zwar nicht dargestellt, aber er berichtet, zum Teil also auf analoge Weise, über sie so, dass er sich selbst (im lyrischen Metrum) singend-wehklagend aufführt –, muss man Theseus’ Darstellung gelten lassen, muss glauben, dass Phaidra in der Tat das geschrieben hat, was Theseus sagt. Phaidras Worte werden in Wahrheit jedoch nicht bloß vom Brief, sondern von der zweifachen Konstellation von Brief und Leiche

54 Vgl. Svenbro: Stilles Lesen, S. 67-71. Vgl. ferner Barrett: Commentary, S. 332.

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beglaubigt. Dass die Königin sich eigenhändig das Leben genommen hat, besiegelt für Theseus den Wahrheitsgehalt ihres Briefes, ihres Geständnisses, ihrer Klage, aber wieso eigentlich? Eine mögliche Antwort könnte daraus folgen, dass die Leiche unfähig ist zu lügen. Nicht nur oder vielleicht nicht einmal in erster Linie deshalb nicht, weil die tote Phaidra nicht über die Möglichkeit der Spaltung zwischen innerer Absicht und äußerer Erscheinung verfügen kann (den Brief schrieb sie ja noch lebend). Sondern deshalb, weil Töten und Sich-Töten (die Entscheidung zwischen den beiden, nämlich zwischen dem Tod Hippolytos’ und ihrem eigenem, zögert Phaidra kurze Zeit hinaus55) beide in gewissem Sinne aufrichtige Aktionen sind, verhängnisvoll, extrem und – davor will der Chor Phaidra in großer Eile hastig warnen („Was hast du vor? sprich, welches unheilbare Weh?“; „μέλλεις δὲ δὴ τί δρᾶν ἀνήκεστον κακόν;“ – 722) – endgültig zugleich. Da unwiderruflich und unbezweifelbar, ist diese Handlung – zumindest so gesehen – in der Tat identisch mit sich selbst. Mit Bezug auf Austins Studie, die versucht hat, die verschiedenen Formen und Modalitäten des Sich-Verstellens zu entwirren, könnte hier dafür argumentiert werden, dass es im Falle des Mordes vielleicht noch weniger Möglichkeiten gibt, sich auf Intentionen zu berufen, die verschleierten, simulierten oder anderen Überlegungen folgen, wie im Falle eines unter regelrechten Umständen ausgeführten Golfschlags. Wer sich selbst tötet, kann sich nicht nur deshalb nicht darauf berufen, dass er den Selbstmord eigentlich nur simuliert oder gemimt hat (oder aus einem anderen, bestimmten Grund verübt hat – Zuund Unfälle und ähnliches sollen hier offensichtlich nicht in Betracht gezogen werden), weil er dafür keine wirklichen Mittel mehr hat (vielleicht nur einen hinterlassenen Brief!), sondern auch deshalb nicht, weil die potentielle Mehrdeutigkeit der Intention nicht viel am wesentlichen Sachverhalt und an den Folgen ändern kann. Ein reguläres Tor kann bei einem abgekarteten Fußballspiel im Nachhinein für ungültig erklärt werden aufgrund der irreführenden oder regelwidrigen Intention; diese Art der Reversibilität trägt im Falle von Mord oder Selbstmord kaum einen richtigen Sinn. Nichtdestoweniger kann das Leben bekanntlich durchaus in einer Absicht geopfert werden (heldenhaft für das Vaterland, um ein anderes Leben zu retten usw.), die sich kaum auf die (Selbst-) Bestrafung des eigenen Lebens, auf die Rechtsprechung eines Täters über sich selbst oder auf die Selbstbefreiung von einer unerträglichen Situation reduzieren lässt. Die absichtliche Zerstörung des Lebens als Intention neigt zudem, ebenso wohlbekannt, dazu, sich in der Mannigfaltigkeit weiterer strafrechtlicher Kategorien aufzulösen von „Körperverletzung mit Todesfolge“ bis hin zu Mord „aus

55 Ebd., S. 296.

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niederen Beweggründen“, ferner könnte auch auf das Problem der vielumstrittenen Unterscheidung zwischen „Mord“ und „Totschlag“ hingewiesen werden – zahlreiche weitere Beispiele könnten hier noch angeführt werden. D.h.: das Schweben der Intention kann sogar im Falle des Selbstmordes nicht eingestellt oder eingefroren werden, auch hier haftet die Tat nicht an einer Intention, die von der Endgültigkeit ihres Stattfindens bestätigt würde – und es liegt gerade daran, nämlich an den posthumen Schwingungen der Intention an der auf der Bühne ausgelegten Leiche, dass die Handlung von Hippolytos zur eigentlichen Tragödie führen wird. Als sie sich zum letzten Male im Drama zum Wort meldet, stellt Phaidra nämlich dem Chor verschiedene Intentionen ihrer Tat (die eigene Ehrenrettung, das Entkommen vor der Schmach und – z.T.daraus folgend – das Leid, das Hippolytos zugefügt wird: 715-722; 728-731) zur Verfügung (und macht also diese Intentionen explizit). In implizierter Form ist sie jedoch vor allem (und zwar praktisch die ganze Handlung hindurch) ununterbrochen auf der Flucht vor dem Geständnis, deshalb bringt sie – mit mäßigem Erfolg – sowohl die Amme als auch – mit mehr Erfolg – den Chor zum Schwören, wie auch (im Gegensatz zur Variante von Racine) der Brief, den sie bereits tot Theseus überreicht, dazu zu dienen scheint, das eigentliche Geständnis zu ersetzen, zu verdecken oder abzuwehren. Hippolytos hält sich von solchen Mitteln fern. In Kenntnis seiner Einstellung gegenüber Schwüren ist es durchaus verständlich, dass es ihm schwerfällt, sich selbst zu verteidigen (990-991), und obwohl er nach einigem Zögern schließlich versucht, seinen Vater im Rahmen eines regelrechten Schwures von seiner Unschuld zu überzeugen (1025-1027), leitet er diesen Akt damit ein, dass er ein Zeugnis darüber ablegt (und auf implizite Weise schwört), dass er keine Zeugen hat. Das ist übrigens größtenteils die Leistung von Phaidras Selbstmord (die Amme, die mit dem Tod der Königin sinngemäß ihre Funktion, sogar ihre Identität verliert, ist zu diesem Zeitpunkt bereits abwesend, sie muss auch nicht unbedingt mit der Stimme gleichgesetzt werden, die hinter den Kulissen schreit, vgl. 77677856 – bei Racine ist es sie, die sich als Erste das Leben nimmt). Phaidra tötet mit sich selbst zugleich auch den Zeugen, den Hippolytos mit seiner Wahrheit konfrontieren könnte, wodurch sein Geständnis überzeugender würde: Noch eines bleibt zu sagen, bis ich fertig bin: / Wär mir zur Hand ein Zeuge meines Tuns und Seins, / Und stünde sie mir lebend gegenüber hier: / Die Untersuchung brächt ans Licht, wer schuldig sei.

56 Ebd., S. 312.

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ἓν οὐ λέλεκται τῶν ἐμῶν, τὰ δ’ ἄλλ’ ἔχεις· / εἰ μὲν γὰρ ἦν μοι μάρτυς οἷός εἰμ’ ἐγὼ / καὶ τῆσδ’ ὁρώσης φέγγος ἠγωνιζόμην, / ἔργοις ἂν εἶδες τοὺς κακοὺς διεξιών. (1021-1024)

Genauer betrachtet bleibt Phaidras Leiche der einzige, belastende und stumme Zeuge, der zu keiner Gegenüberstellung bereit ist. Hippolytos kann nur bezeugen, dass er keine Zeugen hat bzw. dass er sein einziger Zeuge ist, sein berüchtigter Satz zeugt darüber hinaus im Vorhinein davon, dass er die Möglichkeit des Selbstzeugnisses eher nur auf widersprüchliche Weise bezeugen könnte. Der Chor, ein universaler Zeuge, eine Art Schwurmaschine, eilt dieses Mal – nachdem er früher, mit dem zugunsten Phaidras abgelegten Schweigeschwur eher zur Erhebung der Klage beigetragen hatte – Hippolytos zur Hilfe und schenkt ihm mit Hinweis auf seinen Schwur Glauben (1036-1037), was aber Theseus nicht überzeugen wird. Theseus wird letzten Endes von Hippolytos selbst überzeugt, da er seinen Hinweis auf die fehlenden Zeugen (später wird dieser sogar versuchen, einen stummen Zeugen – nämlich das Palastgebäude, hinter dessen Wänden er zuvor gerade von Phaidra belauscht wurde – zur Sprache zu bringen: „Oh, dass du, Haus, ihr, Wände, Stimm und Sprache doch / Gewännet, mir zu zeugen, ob ich schuldig bin!“; „ὦ δώματ’, εἴθε φθέγμα γηρύσαισθέ μοι / καὶ μαρτυρήσαιτ’ εἰ κακὸς πέφυκ’ ἀνήρ.“ – 1074-1075) zunächst, wie hier durchaus auf der Hand liegt, höhnisch gegen ihn wenden und den Sohn zugleich daran erinnern kann, dass „die Tat dich schuldig zeigt auch ohne Wort“ („τὸ δ’ ἔργον οὐ λέγον σε μηνύει κακόν.“ – 1077) – und diese Tat kann nichts anderes sein, als Phaidras extreme und endgültige Aktion. Bei Racine übrigens – und das kann mit Blick auf die Kulturgeschichte des Schwörens ziemlich aufschlussreich sein – scheint Theseus die Schuldigkeit seines Sohnes bereits ausdrücklich daran erkannt zu haben, dass Hippolytos sich durch einen Schwur, laut Theseus durch Meineid, parjure, klarzustellen versucht („Toujours les scélérats ont recours au parjure“ – Racine: Phèdre, 1134.). Von hier aus gesehen liegt es auf der Hand, dass Hippolytos eine notwendigerweise zweideutige, zugleich beunruhigende und beruhigende Antwort auf die Frage gibt, wieso er den Schwur hält, den er vielleicht überhaupt nicht ernst gemeint hat. Nachdem ihm Theseus seinen Beweis, nämlich Phaidras Brief, zeigt, ihn aber diesen Brief nicht lesen lässt (gerade Theseus erklärt, Hippolytos’ Hinterlistigkeit, seine täuschende Frommheit sei daraus ersichtlich, dass er oft lese – 954), gibt er in gewisser Hinsicht auf, denn er erkennt, dass es im Großen und Ganzen nicht sinnvoll wäre, seinen Schwur, den ihm die Amme abverlangt hat, zu brechen: „O nein! ich überzeugte, den ich sollte, nicht / Und bräch umsonst nur meinen euch geschwornen Eid!“ („οὐ δῆτα· πάντως οὐ πίθοιμ’ ἂν οὕς με δεῖ,

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/ μάτην δ’ ἂν ὅρκους συγχέαιμ’ οὓς ὤμοσα.“ – 1062-1063)57. Die ethische Gleichgültigkeit der Folgen in Bezug auf Intentionen (es ist wichtig, hier anzumerken, dass ohne diese Gleichgültigkeit überhaupt keine Form ethischen Denkens begründbar wäre) enthüllt unter anderem die Tatsache, dass Hippolytos in Wahrheit gar nicht über die Möglichkeit der Entscheidung verfügt, auf die er in seinem früheren Sprechakt hingewiesen hat.58 In Wahrheit kann er nicht darüber entscheiden (weil darüber nicht seine Intention entscheiden wird59), ob sein Schwur ernst gemeint war oder nicht, da seine Worte keinen Glauben finden, unabhängig davon, ob er ihn gebrochen (also vorgetäuscht) oder gehalten (d.h. tatsächlich einen wahren Schwur abgelegt) hat. Das dürfte aus der Sicht Austins zugleich für Bestätigung und Zweifel sorgen. Einerseits könnte Hippolytos, der sich von den inneren Akten und den Folgen sozusagen unabhängig erklärt hatte, in der Tat das Prinzip „my word is my bond“ bestätigen, da er schließlich gezwungen wird, auf implizite Weise einzusehen, dass das gesprochene Wort doch mit der ausgeführten Handlung identisch wird (laut dem bekannten Beispiel von Austin heißt eine Handlung zu vollziehen, z.B. zu heiraten, wenn auch mit nicht geringen Einschränkungen, nichts anderes, als „ein paar Worte zu sagen“ – 30). Andererseits muss Hippolytos jedoch auch erkennen, dass dieses Prinzip – und dies dürfte besonders mit Blick auf die moralische Struktur, die prinzipielle Moralität der Struktur des Schwörens Bedenken wecken – keine Moral stiftet, u.a. deshalb nicht, weil es nicht unbedingt bestätigt werden kann: Auch Austin scheint hier und da einzuräumen, dass die regelrecht und im angemessenen Kontext ausgeführten Performativa nicht unbedingt für ihre Ernsthaftigkeit haften oder sich selbst behaupten können. Die Schwäche des sich verteidigenden Hippolytos könnte ferner auch davon zeugen, dass das Aussprechen eines Wortes – da hat Theseus Recht – nicht auf die gleiche Weise beurteilt (und etwa verziehen) werden kann wie eine Tat60, da es nicht in einer klaren oder öffentlich identifizierbaren Handlung aufgehen kann (wenn es denn eine solche gibt). Kein Wunder, dass sich Hippolytos (zum Teil mit Bezug auf auf eine göttliche, zudem sich fast als physisch erweisende Einwirkung: „Ihr Götter, warum öffn ich dann nicht meinen Mund“; „ὦ θεοί, τί δῆτα τοὐμὸν οὐ λύω στόμα“ – 1060) weigert, durch Weiterreden, durch erneutes Schwören und/ oder Brechen des vorigen Schwurs für Gerechtigkeit zu plädieren.

57 Vgl. dazu Karsai: „Ha már jogot tiporsz“, S. 205. 58 Campe: Making It Explicit, S. 22. 59 Cavell: Counter-Philosophy, S. 108. 60 Ebd., S. 104-105.

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An diesem Punkt scheint ein kurzer Exkurs empfehlenswert, der zu derjenigen, bisher unerwähnten Platon-Stelle führt, wo Hippolytos’ Satz mit der Unterscheidung zwischen sprachlichen und inneren Schwüre ebenfalls zitiert ist. Im Symposion zitiert Sokrates, wenn auch nicht vollständig, den Satz, als er mit seiner Rede über Eros beginnt und sozusagen die performativen Rahmen seiner Wortmeldung klärt: Um die Wahrheit sagen zu können, müsse er eine voreilig angenommene (performative und zugleich gattungsspezifische oder rhetorische) Konvention brechen, nämlich sein Versprechen, Eros zu loben („Ich aber kannte gar nicht diese Weise des Lobes, und ohne sie zu kennen versprach ich auch in der Reihe ihn zu loben. Die Zunge also hat versprochen, die Seele aber nicht [ἡ γλῶσσα οὖν ὑπέσχετο, ἡ δὲ φρὴν οὔ]. Es unterbleibe also!“ – 199a61). Zwei wichtige, im gesamten Dialog ständig präsente Momente verdienen dabei besondere Aufmerksamkeit: 1. Die wetteifernden Redner scheinen alle nur äußerst zögerlich das Wort ergreifen zu wollen oder sich zumindest dagegen zu wehren, das, was sie sagen, selbst als Sprecher zu autorisieren oder zu deuten. Sie verhalten sich vielmehr so, als wollten sie Zweifel daran wecken, ob sie überhaupt wissen oder verstehen, was sie vortragen. Sokrates legt die Lehre über die in Sachen von Eros sich erschließende Wahrheit bekanntlich Diotima in den Mund. Vor ihm beginnt Agathon mit der Vorbemerkung: „Ich also will zuerst sagen wie ich zu reden gedenke und dann reden“ (194e).62 Nach einer solchen Ouvertüre überrascht es wenig, dass er, als er mit der Rede fertig ist und sich den listigen Kreuzfragen Sokrates’ stellt, zugeben muss, dass „ich am Ende wohl nichts von dem verstehen [mag] o Sokrates, was ich damals sagte“ (daraufhin Sokrates: „Gar recht magst du daran wohl haben“! – 201b-c)63. Aristophanes kann wegen krampfhaften Schluckens zunächst gar nicht mit seiner Rede anfangen. 2. Dies alles kann u.a. damit zusammenhängen, dass über dem gesamten Dialog Weingeruch schwebt. Was in der verdrossenen und ziemlich niedergeschlagenen Atmosphäre eines ausgiebigen Katzenjammers seinen Lauf nimmt (die Anwesenden vereinbaren vorsichtig, dieses Mal „nur so zu trinken zum Vergnügen“ – 176e64), mündet nach den Reden in einer erneuten Sauferei – was freilich daran liegen kann, dass für die Überwachung sowohl der dramatischen Wettkämpfe (das Gastmahl bei dem Sieger Agathon findet nach einem solchen Ereignis statt), als auch der Trinkerei die gleiche Gottheit, nämlich Dionysos, Verantwortung trägt, dessen Hoheit sich hier auf diese Weise auch auf das

61 Platon: Symposion, S. 120-121. 62 Ebd., S. 111. 63 Ebd., S. 127. 64 Ebd., S. 67.

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Lobpreisen von Eros erstreckt. Nachdem Sokrates seine Rede beendet hat und der betrunkene Alkibiades hineingestürmt ist, fordert dieser gerade mit Hinweis auf seinen berauschten Zustand Glaubwürdigkeit für seine eigene, Lob und Liebeserklärung kombinierende Rede über Sokrates („das folgende aber würdet ihr wohl nicht von mir hören, wenn nicht zuerst nach dem Sprichwort der Wein mit oder ohne Kinder die Wahrheit redete“ – 217e). Er legt nur deshalb keinen Schwur (ὀμόσας) ab, als er seiner Hörerschaft die Wirkung von Sokrates’ Rede (215d-e) schildert, weil er befürchtet, man glaube, er sei „ganz und gar betrunken“!65 Kein Wunder, dass Alkibiades, nachdem er wegen der Eifersucht ausgelacht wird, die sich hinter seiner verwickelten Rede enttarnt bzw. weil er sehr wohl zu wissen scheint, was er damit erreichen möchte, dass er spricht (es ist Sokrates, der feststellt, dass er sich „doch nicht versteckt“ hat), geradezu mit dem Vorwurf konfrontiert wird, doch nüchtern zu sein („Nüchtern scheinst du mir noch ganz zu sein Alkibiades“ – 222c)66! Der Zusammenhang zwischen den beiden hier hervorgehobenen Motiven besteht offensichtlich darin, dass die Redner vom Symposion nicht wissen oder zumindest mit dem Verdacht konfrontieren oder konfrontiert werden, nicht genau wissen zu können, was sie eigentlich sagen, weil das, was sie beabsichtigen oder meinen zu sagen, kaum als eine beglaubigende Instanz hinter dem steht (stehen kann), was sie in Wahrheit vortragen. Wer schwört, d.h. die eigene Rede auf irgendeine – implizite oder explizite – Weise autorisiert (und diese Operation kann keiner Äußerung gänzlich fehlen), bezeugt oder beschwört eigentlich, dass er nicht weiß, was er tatsächlich sagt. Wer schwört, ist (wie) ein Betrunkener oder ein Opfer irgendeines anderen Hingenommenseins, z.B. der Liebe, und – dies geht aus der Rede von Pausanias hervor – den Liebenden wird (im Gegensatz zu denjenigen, die für Geld, Amt oder Macht Schwüre ablegen) der Schwurbruch von den Göttern gerade deshalb verziehen, „denn ein Liebesschwur, sagen sie, sei keiner“ („‚ὃ δὲ δεινότατον, ὥς γε λέγουσιν οἱ πολλοί, ὅτι καὶ ὀμνύντι μόνῳ συγγνώμη παρὰ θεῶν ἐκβάντι τῶν ὅρκων – ἀφροδίσιον γὰρ ὅρκον‘ οὔ φασιν εἶναι“ – 183b)67. Die Sprache spricht, der Verstand weiß nichts davon – diese Konstellation erschließt sich zwar in der Sprache von Betrunkenen, Liebenden, von nicht ganz überlegten Rednern wie Agathon oder von Simulanten oder Schauspielern wie Hippolytos in der prägnantesten Form (an einer diesbezüglichen, äußerst interessanten Stelle der Nikomachischen Ethik [1147a1824] stellt Aristoteles gerade zwischen Schauspieler und Betrunkenen eine Paral-

65 Ebd., S. 163. 66 Ebd., S. 179. 67 Ebd., S. 82-83.

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lele auf, um zu zeigen, dass etwas sagen zu können, nicht gleich heißen muss, dass der Sprecher auch weiß, was er sagt!68), scheint aber als eine nie ganz auszuschließende Möglichkeit gespenstisch alle Äußerungen heimzusuchen, die auf Schwüre angewiesen sind, um sich selbst glaubwürdig zu machen. Als, gegen Ende von Platons verrücktem Dialog, nachdem eine weitere, unlängst eingetroffene, berauschte Gesellschaft endgültig jede Ordnung aufgelöst hat und alle genötigt wurden, „gewaltig viel Wein zu trinken“, Sokrates (der einzige, der bekanntlich nie betrunken wird) die letzten, noch wachen Dramatiker mit seiner These traktiert, dass „der künstlerische Tragödiendichter auch der Komödiendichter“ sei (223c)69, zielt er womöglich u.a. gerade darauf ab, dass die im Austinschen Sinne genommene Ernsthaftigkeit der Äußerungen immer dem Misslingen ausgesetzt ist, das daraus folgt oder sich darin meldet, dass derjenige, der spricht, schließlich nie genau wissen wird, was er tut und was er sagt, indem er ernst meint, was er sagt. Da in der Tat nicht auszuschließen ist, dass Austin – auch wenn er (obwohl aufgrund der obigen Betrachtungen vielleicht wirklich nur scheinbar) Euripides im falschen Zusammenhang zitiert haben sollte – den angezeigten Kontext der antiken Rezeptionsgeschichte des Satzes von Hippolytos doch im Kopf gehabt hat, scheint Cavell nicht ganz Unrecht zu haben mit seiner Annahme70, dass nämlich Sokrates’ merkwürdiger Hinweis auf die Untrennbarkeit zwischen den Quellen von Ernst und Unernst, Tragik und Komik, auf die Kontamination von Ernsthaftigkeit mit dem Komischen eigentlich die Funktion eines eigentümlichen, verdeckten Selbstkommentars im latenten Hintergrund der Argumente des späten Kollegen aus Oxford erfüllt haben könnte. Zurück nun zum Hippolytos. Von hier aus erscheint der Unterschied zwischen den ständig handelnden, schwörenden oder anschuldigenden Menschen und den Göttern besonders auffällig. Die Götter sind unter performativem Aspekt sozusagen viel geschickter. Diese Geschicktheit wird eigentlich weniger an den Schwüren, sondern vielmehr am komplementären Sprechakt, nämlich an den Flüchen offensichtlich – die beiden, Schwüre und Flüche (mit besonderer Hinsicht auf die bedingte Selbstverdammung, die in Schwüren oft impliziert ist) stehen in der antiken Kommunikationspraxis (und auch im Stück des Euripides) in engem Zusammenhang.71 Die Götter schwören verständlicherweise nicht,

68 Aristoteles: Nikomachische Ethik, S. 157. S. dazu Simon: Affekt, Körper, Performanz, S. 267. 69 Platon: Symposion, S. 181-183. 70 Cavell: Counter-Philosophy, S. 124. 71 Sommerstein/Torrance: Oaths and Swearings, S. 6-19. Mit Bezug auf Hippolytos: Segal: Curse and Oath.

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können aber in Schwüren bekanntlich selten fehlen – in der antiken Praxis werden Schwüre eigentlich weniger mit Bezug auf sie und auch nicht bloß in ihrer durch den Schwur hervorgerufenen Gegenwart abgelegt, sie sind nicht einfach Zeugen, sondern vielmehr unmittelbare Gegenstände von Schwüren.72 In Hippolytos wird gleich zweimal in Gegenwart einer Artemisstatue geschworen73 und es ist die Göttin, die – als sie Theseus über die Wahrheit aufklärt – endlich imstande zu sein scheint, sozusagen die Kluft zwischen gesprochenen Worten und wirklichen Intentionen zu überbrücken.74 Es ist ebenfalls Artemis, die damit – wie bereits erwähnt75 – Theseus nicht bloß, ja nicht einmal in erster Linie – da dieser vor allem schuldig erklärt wird (1316, 1320, 1325) – entlastet, sondern dadurch, dass sie die Möglichkeit der Vergebung anzeigt, sozusagen den Platz der Vergebung in der komplizierten Vernetzung von Flüchen und Schwüren aufdeckt, die es Hippolytos ermöglicht, schließlich selbst den Vater zu entschuldigen, und zwar, indem er Artemis’ Geste einfach wiederholt oder zitiert. In sprechakttheoretische Terminologie übersetzt geht es hier eigentlich darum, dass einzig die Göttin über die Macht verfügt, diejenigen Konventionen oder Bedingungen zu erzeugen oder zu beglaubigen, die Hippolytos selbst kaum herstellen, aber durchaus zitieren und aktualisieren können wird. Die Quelle der Performativa, der performativen Kraft ist die Göttin – dies dürfte kaum überraschen. In einem gewissen (obwohl, wie gleich zu sehen wird, paradoxen) Sinne ist die einzige performative Operation, die Hippolytos tatsächlich erfolgreich durchführen wird, seine gleich zweimal vorgetragene (genauer gesagt: beim zweiten Mal im Bericht des Boten zitierte) Selbstverdammung (1025-1031, 1191-1193). Diese Sprechakte werden in bestimmten Aktionen der anderen beiden Hauptfiguren widergespiegelt. Phaidra stellt zum Anfang des Stücks ihren eigenen Tod (bzw. ihre Todessehnsucht) in Aussicht (was jedoch nicht durch Schwüre oder Flüche sanktioniert wird), Theseus im Gegenteil schickt – an ein Versprechen des in solchen Kontexten wiederholt als seinen Vater erwähnten76 Poseidons appellierend oder dieses sozusagen einlösend (887-890, 1167-1170, 1316-1318) – den eigenen Sohn mit der göttlichen Hilfe eines folgenreichen Fluches in den Tod. Die Selbstverdammung von Hippolytos kann aber auch trotz Poseidons erfolgreichen Eingriffs im performativen Sinne nicht als vollständig geglückt

72 Sommerstein/Torrance: Oaths and Swearings, S. 1-2. 73 Ebd., S. 134-135. 74 Avery: „My Tongue Swore“, S. 32. 75 S. Fußnote 52! 76 Vgl. dazu Barrett: Commentary, S. 334.

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bezeichnet werden: Wie aus der Einleitung der ersten Selbstverdammung eindeutig hervorgeht, versucht hier Hippolytos eigentlich einen Schwur abzulegen (und zwar gerade bei Zeus) und führt in Wahrheit eine bedingte Selbstverdammung auf, um diesen Schwur zu autorisieren. Sein Tod (die Erfüllung des Fluchs) würde den Schwur eigentlich dementieren, d.h. – um seine an die Amme gerichtete Aussage auf Hippolytos selbst zurückzuwenden – davon zeugen (und dieses Zeugnis wird erst von Artemis richtiggestellt), dass er, um sich zu retten, versucht hat, dem Vater die eigene Unschuld durch Meineid zu beweisen: Jetzt schwör ich’s beim Eidhorte Zeus, beim Erdengrund: / Ich habe deine Gattin niemals angerührt, / Mit keinem Wunsche, keiner Regung dran gedacht! / Ich will vernichtet, ausgetilgt, verschollen sein, / Und mein Gebein soll weder Meer noch Erdenreich / Im Tode je aufnehmen, wenn ich schuldig bin! νῦν δ’ ὅρκιόν σοι Ζῆνα καὶ πέδον χθονὸς / ὄμνυμι τῶν σῶν μήποθ’ ἅψασθαι γάμων / μηδ’ ἂν θελῆσαι μηδ’ ἂν ἔννοιαν λαβεῖν. / ἦ τἄρ’ ὀλοίμην ἀκλεὴς ἀνώνυμος / [ἄπολις ἄοικος, φυγὰς ἀλητεύων χθόνα,] / καὶ μήτε πόντος μήτε γῆ δέξαιτό μου / σάρκας θανόντος, εἰ κακὸς πέφυκ’ ἀνήρ.

Es könnte freilich die Frage gestellt werden, wieso die göttliche Rechtsprechung ausbleibt oder wenigstens erst mit fataler Verspätung erfolgt, weshalb also Artemis, die zudem über seine Unschuld Bescheid weiß, den Fall ihres bedingungslosen Anhängers nicht verhindert. An dieser Stelle kann auf die komplizierte Problematik der eigenartigen Rechtsprechungskonventionen der Götter Griechenlands selbstverständlich nicht näher eingegangen werden, wie ferner auch der Hinweis darauf keine in jeder Hinsicht überzeugende Erklärung liefern würde, dass in Wahrheit Hippolytos selbst kaum gänzlich als unschuldig betrachtet werden könnte (er verhält sich etwas phlegmatisch zum Schwören, von dem er später, auch wenn sich etwas weigernd, doch Gebrauch machen wird; er bedroht auf verdeckte Weise die Amme und durch diese vermittelt auch Phaidra, zumindest hält er sie beide in Ungewissheit; er missbraucht das ihm anvertraute Geheimnis, genauer gesagt stellt er diesen Missbrauch in Aussicht; er ignoriert vollständig oder, wenn es so formuliert werden kann, leugnet sogar die Gesetze oder die Bedeutung desjenigen Bereiches für die Menschen, über die eine andere Göttin, nämlich Aphrodite, regiert; seine Ausfälle gegen Frauen, die übrigens – im Übergang zu einer Art Fluch – im gewissen Sinne den Tod Phaidras vorwegnehmen [616-668]77, sind mehr als fragwürdig). Aus performativer Sicht

77 Vgl. bes.: „Fluch euch! Ja, unersättlich ist mein Weiberhaß / Allzeit, und sagt man immerhin, ich eifre stets! / Sie selbst ja handeln stets auch schlecht und hassenswert. /

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sagt die an Theseus gerichtete Erklärung von Artemis viel mehr aus, die sich auf eine „Sitte“, eigentlich ein Gesetz (νόμος), man könnte vielleicht sagen, auf einen Kontrakt, auf eine performative Konvention zwischen Göttern beruft, die es diesen untersagt, die Intentionen der jeweiligen anderen zu kreuzen: […] und der Götter Sitte will’s, / Daß keiner je dem andern Gott den Weg vertritt, / In seinen Wünschen ruhig ihn gewähren läßt. / Denn sei versichert: hielt’ mich nicht die Scheu vor Zeus, / Die Schande hätt ich nimmermehr begangen, preis / Den Mann zu geben, der mir auf der ganzen Welt / Der liebste war! […] […] θεοῖσι δ’ ὦδ’ ἔχει νόμος· / οὐδεὶς ἀπαντᾶν βούλεται προθυμίαι / τῆι τοῦ θέλοντος, ἀλλ’ ἀφιστάμεσθ’ ἀεί. / ἐπεί, σάφ’ ἴσθι, Ζῆνα μὴ φοβουμένη / οὐκ ἄν ποτ’ ἦλθον ἐς τόδ’ αἰσχύνης ἐγὼ / ὥστ’ ἄνδρα πάντων φίλτατον βροτῶν ἐμοὶ / θανεῖν ἐᾶσαι. (1328-1334)

Artemis darf sich also der Aktion von Poseidon bzw. Aphrodite nicht in den Weg stellen (sie spricht den Meeresgott, der seinen Schwur hält, damit zugleich von seiner Schuld frei: 1318-1320), d.h. das Gesetz brechen, das von Zeus repräsentiert wird, dessen Rolle hier freilich eher nur auf diese Repräsentation begrenzt ist bzw. auf die Funktion einer Behörde, die für die Erhaltung des Gesetzes zuständig ist. Dieses göttliche Abkommen wirft auf einen kardinalen Zusammenhang Licht. Es bezweifelt nicht, dass es einzig die göttlichen Performativa sind, die über absolute Kraft verfügen und unter jeder Bedingung (also unabhängig von Bedingungen) durchgeführt werden können, d.h. über diejenige Reinheit (purity) der performativen Akte verfügen, von denen auch Austin gegen Ende seiner Vorlesungen einsehen musste, dass sie sich gar nicht oder höchstens als ein „Grenzwert“ denken lässt oder erst als solcher in der Sprache der Menschen auftauchen kann (168/149).78 Diese göttlichen Superperformativa erscheinen andererseits, nicht im konturlosen Zustand irgendeiner Maßlosigkeit oder unbestimmten Unendlichkeit auf Euripides’ Bühne, in welchem sie immer den Verdacht auf sich ziehen müssten, dass es von ihnen in Wahrheit oder im Prinzip noch größere, noch extremere, noch kräftigere oder noch reinere geben könnte. Gerade dadurch, dass das von Artemis erwähnte Gesetz sie eigentlich aneinander misst und ihnen damit Form, konkrete Maßstäbe von Kraft verleiht, anders gesagt: Da-

Entweder also lehre man sie sittsam sein, / Wo nicht, so tret ich ihnen stets auch aufs Genick!“ („ὄλοισθε. μισῶν δ' οὔποτ' ἐμπλησθήσομαι / γυναῖκας, οὐδ’ εἴ φησί τίς μ’ ἀεὶ λέγειν· / ἀεὶ γὰρ οὖν πώς εἰσι κἀκεῖναι κακαί. / ἤ νύν τις αὐτὰς σωφρονεῖν διδαξάτω / ἢ κἄμ' ἐάτω ταῖσδ' ἐπεμβαίνειν ἀεί.“– 664-668). 78 Vgl. dazu Derrida: Signatur Ereignis Kontext, S. 39-40.

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durch, dass es die performativen Akte der Götter in dem bestimmten Sinne als gleich kräftig erscheinen lässt, dass sie die Operationen der anderen nicht verhindern oder, präziser formuliert (denn die Tatsache, dass Poseidon den versprochenen Fluch durchführt, vermag durchaus etwas anderes, nämlich die möglichen Gegenmaßnahmen der Artemis, zu verhindern), nicht außer Geltung setzen können, werden diese Superperformativa durch die Unmöglichkeit definiert, ihre Ausführung oder ihr Zustandekommen zum Unglücksfall (für ungültig oder für nichtig) zu erklären, da sie – in der Terminologie Austins – keine „Versager“ sein können. An diesem Punkt wäre es äußerst lockend, der ziemlich interessanten Frage nachzugehen, welche hier kaum näher zu behandelnden politischen („politisch-theologischen“?) Bezüge oder Folgen sich hinter dieser alternativen, dafür aber göttlichen Auffassung der Konventionalität von (Sprech-)Akten verbergen. Mit Blick auf die hier verfolgte Problematik würde diese Frage vor allem für die performativen Widersprüche einen Deutungshorizont bilden, die daraus entspringen, dass die menschliche Sprache allem Anschein nach Superperformativa ausgeliefert ist, über die sie selber nicht verfügt und die sie auch nicht auszuführen und in Wahrheit ebenso wenig zu zitieren, sondern allenfalls – und zwar in der Form von Schwüren, Flüchen, Versprechen und ähnlichem – zu simulieren vermag. Den göttlichen Sprechakten derart untergeordnet oder ausgeliefert, wird sie von den defensiv artikulierten Institutionen abhängig, aus denen Austin die Bedingungen für geglückte Sprechakte herleitet: von menschlichen Konventionen, die in keiner Hinsicht an das von Artemis beschriebene göttliche Gesetz erinnern.

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Politiken der Zitation Zur ethisch-politischen Dimension der Iterabilität Matthias Flatscher

IMMER WIEDER, IMMER WIEDER ÖSTERREICH … Die österreichische Politik unterhält seit geraumer Zeit ein besonderes, ja, beinahe inniges und zugleich problematisches Verhältnis zur Zitationalität. Einige Sätze haben längst – nicht unähnlich dem Ausspruch „Ich habe fertig!“ eines italienischen Fußballlehrers bei einem deutschen Großclub – Eingang in die Alltagssprache gefunden: Erinnert sei etwa an das bekannte Diktum von Kaiser Franz Josef „Es war sehr schön, es hat mich sehr gefreut!“ oder die kolportierte Aussage von Bundeskanzler Fred Sinowatz anlässlich seiner Regierungserklärung von 1983: „Es ist alles sehr kompliziert …“. Beide Referenzen dienen dazu, sich augenzwinkernd jedem weiteren Urteil zu enthalten und galant aus der Affäre zu ziehen, nicht ohne – zumindest einige – Lacher auf seiner Seite zu haben. Doch die Aussagen österreichischer Politiker sind nicht immer so unschuldig und nichtssagend, banal und ridikül. Ich beziehe mich dabei nicht auf Äußerungen von diversen Persönlichkeiten, die als geflügelte Worte in der Öffentlichkeit im Umlauf gehalten werden, sondern auf Zitationsstrategien vonseiten rechter Politiker mit explizitem und implizitem Rekurs auf den NS-Jargon. Zwei unterschiedliche Verwendungsweisen sollen exemplarisch verdeutlichen, in welcher Weise mit dem historischen Erbe umgegangen wird.1

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Dass hier lediglich zwei Beispiele angeführt werden, heißt nicht, dass es sich um Einzelfälle handelt; weitere rezente Belege dieser und anderer Art mit der nationalsozialistischen Vergangenheit umzugehen, sind in der vom Mauthausen-Komitee herausgegebenen Broschüre „Lauter Einzelfälle? Die FPÖ und der Rechtsextremis-

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Stefan Petzner, Jörg Haiders ehemaliger Wahlkampfleiter und Spin-Doctor, ließ 2006 Plakate in Kärnten mit folgender Aufschrift anbringen: „Wollen Sie eine endgültige Lösung der Ortstafelfrage?“. Der Konflikt um die Toponymik sollte definitiv zugunsten einer rein deutschen Namensgebung geklärt werden, um das Slowenische gänzlich zu eliminieren. Petzner, mit der offensichtlichen Anspielung auf Görings Ausspruch zur „Endlösung der Judenfrage“ konfrontiert, gab folgendes Statement zur Antwort: „Ich habe gewusst, dass dieser Vorwurf kommen kann, aber ich habe nicht beabsichtigt, dass bewusst oder unbewusst eine derartige Verbindung hergestellt wird.“2 Die Vorgangsweise ist paradox und perfid: Im offensichtlichen Wissen um die Nähe der eigenen Aussage zur Diktion der Nationalsozialisten wird jede implizite oder explizite Kontextualisierung zurückgewiesen. Des medialen Echos war sich die Haider-Partei dadurch offensichtlich ebenso sicher wie der juridischen Straffreiheit. Das Verfahren wegen Verstoßes gegen das Verbotsgesetz wurde vonseiten der Klagenfurter Staatsanwaltschaft rund ein Jahr später eingestellt.3 Das Kokettieren mit Nazi-Devotionalien kennt aber auch eine andere Form. Ernest Windholz, ehemaliger Landesobmann der FPÖ-Niederösterreich, gebrauchte – um langjährige Partei-Mitglieder auszuzeichnen – die Parole „Unsere Ehre heißt Treue“. Auf die minimal abgewandelte Verwendung des Wahlspruchs der SS angesprochen, verteidigte sich Windholz mit dem Hinweis auf sein Alter und einer vollkommen unbeabsichtigten Zitation des Mottos: „Ich bin 40 Jahre alt. Mir war der Spruch in diesem Zusammenhang unbekannt.“4 Der Rechtfertigungsversuch mag vielleicht die Naivität dieses Politikers unterstreichen und zugleich zeigen, wes Geistes Kind Windholz ist, vor allem lässt sich an der daran anschließenden Debatte aber ablesen, wie diese Anspielung zu legitimieren versucht wurde. Verwundert über die diversen Angriffe sprang der damals stellvertretende Landesobmann Ewald Stadler seinem Parteifreund zur Seite: Begriffe wie „Ehre“ oder „Treue“ seien doch – so Stadler – „Primärtugenden“ wie „Liebe“ oder „Anstand“ und er sehe nicht ein, warum man diese „wegschmeißen solle, weil sie in einer der verhängsnisvollsten Epochen der Geschichte diskreditiert worden sind“5. Auch Windholz hatte keinerlei juridische oder politische

mus“ gelistet. Seit der Regierungsbeteiligung der FPÖ sind vermehrt explizite Bezugnahmen auf das nationalsozialistische Gedankengut zu Tage getreten. 2

Der Standard (online): Haiders Wahlkampfleiter Petzner unter Beschuss.

3

Der Standard (online): Verfahren gegen Haider und Petzner eingestellt.

4

Der Spiegel (online): FPÖ-Mann zitierte SS-Parole.

5

Ebd.

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Konsequenzen zu befürchten,6 obwohl der SS-Wahlspruch unter das Verbotsgesetz fällt. Rechtskräftig verurteilt wurde Windholz erst Jahre später wegen Körperverletzung, die er einem FPÖ-Kritiker bei einer öffentlichen Kundgebung zugefügt hatte. Offensichtlich war dies dann Grund genug, um ihn 2014 mit dem „Großen Goldenen Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich“ auszustatten. Beide Varianten der Wiederaufrufung von NS-Diktionen finden sich immer wieder bei rechten Politikern in Österreich.7 Mittels Insinuationen werden Zitate im Umlauf gehalten, um entweder – wie im Fall Windholz – Parallelen als unbeabsichtigt und damit als vollkommen kontingent abzuwiegeln, oder – wie im Fall Petzner – jede direkte Verbindung zu bestreiten. In beiden Fällen wird unter Rückgriff auf das historische Erbe auf einer Neutralität der Sprache insistiert; in beiden Fällen wird der Sprechakt von der Kategorie einer bewussten Zitation entkoppelt, und in beiden Fällen entschlägt sich die Anspielung auf Nazi-Sager jeglicher Verantwortung bzw. juridischen Gerichtsbarkeit. Im Gegenteil, mit Hilfe bewährter Strategien wird die Täter-Opfer-Relation umgekehrt und auf eine freie Meinungsäußerung gepocht. Dass dabei stets ein Subtext im Umlauf gehalten wird, um die eigene Klientel bei der Stange zu halten, wird sich wohl kaum bestreiten lassen. Wichtig erscheint mir, dass in einer Analyse der politischen Rhetorik einerseits das Vorgehen analysiert und andererseits eine höhere Wachsamkeit gegenüber diesen Phänomenen in einer kritischen Öffentlichkeit geweckt wird. Auch wenn sich derartige Fälle zuweilen banal ausnehmen mögen und es nur allzu leicht sein mag, sich darüber zu belustigen, so rühren sie doch letztlich an einige fundamentale sprachphilosophische, ethische, politische und juridische Fragen: Was für eine Art von Behauptung stellen wir auf, wenn wir sagen, dass wir für unser Sprechen und Handeln verantwortlich sind oder dass wir für das einstehen müssen, was wir sagen und tun? Gehen wir dabei von einer einfachen

6

Wiener Zeitung (online): Aufregung um Windholz-„Sager“.

7

Erst kürzlich bezeichnete der FPÖ-Politiker Johannes Hübner den österreichischen Verfassungsschreiber Hans Kelsen als „Hans Kohn“. Die Verballhornung suggeriert nicht nur fälschlicherweise, dass Kelsen jüdischer Herkunft sei, sondern es wird ein Zitat des NS-Kronjuristen Carl Schmitt im Umlauf gehalten, der auf diese Weise seinen intellektuellen Kontrahenten zu diffamieren suchte (vgl. Stoppt die Rechten (online): Umvolkung und die Logenszene – Vortrag von Johannes Hübner bei der GfP). In einer umfangreichen Weise hat Ruth Wodak in ihrer Monographie Politik mit der Angst (2016) mittels anschaulicher Beispiele die diversen Strategien – die sich nicht nur auf Praktiken der Zitationalität beschränken – analysiert.

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Entsprechung zwischen Sprechen und Handeln aus und meinen wir, je schon zu wissen, worauf sich unsere Verantwortung genau bezieht sowie worauf sie sich gründet? Sind wir für unsere Äußerungen nur dann verantwortlich, wenn wir sie intentional tätigen und uns als Autoren der eigenen Rede verstehen? Gibt es eine strikte Grenze zwischen dem tatsächlichen Gebrauch (use) von Sprache und bloßer Erwähnung (mention) – oder aber sind uns unsere Intentionen und Absichten immer schon bis zu einem gewissen Grade entzogen? Ist unser Sprechen ein Beginnen oder ein Antworten? Und wenn es ein Antworten – ja vielleicht gar stets in einem gewissen Sinne ein Zitieren – sein sollte, was hätte dies für unser Verständnis von Verantwortung und juridischer Zuordenbarkeit zu bedeuten? Gibt es eine Verantwortung, die nicht an das Sprechen und Handeln als Ursprung, sondern vielmehr an das Sprechen und Handeln als Wiederholung geknüpft wäre? Eine solche Verantwortung bzw. ein solcher Einspruch gegen die Vorstellung, dass die Verantwortung genau auf das ursprüngliche und intentionale Moment unseres Sprechens und Handelns beschränkt ist, scheint unseren Intuitionen zutiefst zu widersprechen. Ich möchte nun im Folgenden erstens in Rückgriff auf Jacques Derridas Schriftbegriff aufzeigen, dass die Zitationalität keine Sonderform des Sprechens darstellt, sondern die Verwendung von sprachlichen Zeichen immer maßgeblich an Wiederholungspraktiken gebunden bleibt. Laut Derrida sind wir nie vor die Alternative gestellt, völlig authentisch oder absolut uneigentlich (im Sinne von bloß zitiert) zu sprechen; vielmehr ist uns eine Wahl dieser Art von vorherein entzogen. Diese Einsicht wird eine einfache Beantwortung der zuvor gestellten Fragen massiv erschweren. Zweitens werde ich mit Judith Butler der Überlegung nachgehen, welche Rückwirkungen diese Überlegungen auf das Selbstverständnis des Subjekts ausüben und welche Form von ethisch-politischen Implikationen die Unumgänglichkeit der Iterabilität mit sich führt. Dabei soll aufgewiesen werden, dass keine der beiden zuvor angeführten Strategien – absichtlich oder vermeintlich unabsichtlich auf Zitate zu rekurrieren und sich dadurch der Verantwortung entledigen zu wollen – greift. Im Gegenteil: Ich möchte in einem dritten Schritt darauf aufmerksam machen, dass das notwendige Wiedereinschreiben in Wiederholungspraktiken einen gesteigerten Begriff von Verantwortung für die Sprachverwendung mit sich zieht, der zur Beurteilung dieser Sprechakte herangezogen werden muss.

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DERRIDA UND DIE NOTWENDIGE ITERABILITÄT SPRACHLICHER ZEICHEN Überlegungen zur Iterabilität von sprachlichen Zeichen sind bei Derrida in einem breiteren Kontext rund um das abendländische Verständnis von Schrift eingebettet. Bekanntlich weisen die Ausführungen in Derridas Grammatologie bereits zu Beginn darauf hin, dass die philosophische Tradition der Schrift kaum eine eigene Dignität zusprechen konnte. Von Anfang der Philosophiegeschichte an wird sie mit einer tiefen Skepsis versehen, da die Schrift im Gegensatz zum Sprechen nicht den Anspruch auf Authentizität und Unmittelbarkeit erheben kann. Als locus classicus dieser Schriftkritik gilt Platons Dialog Phaidros, in dem Sokrates ausführt: Denn dieses Schlimme hat doch die Schrift, Phaidros, und ist darin ganz eigentlich der Malerei ähnlich; denn auch diese stellt ihre Ausgeburten hin als lebend, wenn man sie aber etwas fragt, so schweigen sie gar ehrwürdig still. Eben so auch die Schriften. Du könntest glauben sie sprächen als verständen sie etwas, fragst du sie aber lernbegierig über das Gesagte, so enthalten sie doch nur ein und dasselbe stets. Ist sie aber einmal geschrieben, so schweift auch überall jede Rede gleichermaßen unter denen umher, die sie verstehen, und unter denen, für die sie nicht gehört, und versteht nicht, zu wem sie reden soll, und zu wem nicht. Und wird sie beleidiget oder unverdienterweise beschimpft, so bedarf sie immer ihres Vaters Hülfe; denn selbst ist sie weder sich zu schützen noch zu helfen im Stande.8

Malerei und Schrift, so Platons Argument, täuschen dadurch, dass sie Inhalte lediglich vermeintlich lebendig greifbar machen: Denn ohne die Möglichkeit, bei Bedarf den Sinn im Wechselspiel von Frage und Antwort zu verdeutlichen, verhindern sie es in einer grundsätzlichen Weise, sich des Gesehenen oder Gelesenen nachhaltig zu versichern. Rückfragen gegenüber bleiben sie einfach stumm. Eine erste Konsequenz, die aus diesen Überlegungen folgt, besteht darin, die Sprache vom Vollzug des Sprechens her zu verstehen und eine Fixierung mittels Zeichen als problematisch darzustellen.9 Die schriftliche Fixierung ist zudem –

8

Platon: Phaidros, 275d.

9

Diesen platonischen Gestus wiederholt Heidegger im 20. Jahrhundert wieder mit der ihm eigenen Verve. Abermals wird die Schrift gegen das Sprechen ausgespielt, abermals werden die Register von Tod und Leben aufgerufen, um eine phonozentristische Position zu untermauern: „Ist ein Wörterbuch nicht gleich einem Gebeinhaus auf dem Friedhof, wo Knochen und Knochenreste längst verschiedener Menschen säuberlich

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horribile dictu – allen gleich zugänglich, sodass nicht mehr kontrolliert werden kann, wer sie zu Gesicht bekommt und sich der Inhalte zu bemächtigen versucht. Offensichtlich wird ausschließlich dem Gesprochenen zugestanden, nicht nur die Autor*innenintention angemessen zu vermitteln, sondern darüber hinaus auch die Adressat*innen bestimmen zu können, um auch auf der Seite der Empfänger*innen jedem (demokratischen) Missbrauch vorzubeugen. Die Schrift unterläuft ab ovo diese Reglementierungen. Dass trotz der Gefahr, den ursprünglichen Sinn nur ungenügend und unkontrollierbar wieder anzueignen, dennoch an der Schrift festgehalten wird, liegt wohl am pragmatischen Vorzug gegenüber dem Gesprochenen: Über die Anwesenheit der Autor*innen hinaus ist es kraft der Zeichen möglich, Botschaften über räumliche und zeitliche Distanzen hinweg zu vermitteln und aufzubewahren. Die Schrift fungiert dieser instrumentellen Lesart zufolge bloß als akzidentieller, äußerlicher oder mechanischer Zusatz, der zwar das Feld der Kommunikation erweitert, den eigentlichen Inhalten aber darüber hinaus nichts hinzuzufügen vermag. Derrida macht dieser Charakterisierung gegenüber jedoch geltend, dass die Schrift weit mehr als eine abkünftige Form eines funktionierenden Transportmittels darstellt, ja sogar subversiv den eigentlichen Bereich der gesprochenen Sprache in einer ungebührlichen Weise verändert: Mit einer Notwendigkeit, die kaum wahrzunehmen ist, scheint der Begriff der Schrift zusehends die Extension der Sprache zu überschreiten; er hört auf, eine besondere und abgeleitete, eine Hilfsform der Sprache im allgemeinen (ob als Kommunikation, Relation, Ausdruck, Bezeichnung oder Konstitution von Sinn oder Denken usw. verstanden), die Hülle, das inkonsistente Doppel eines höheren Signifikanten, den Signifikanten des Signifikanten zu bezeichnen. Es hat den Anschein, als ob die Schrift die Sprache begreifen würde (in allen Bedeutungen dieses Wortes).10

Schriftliche Zeichen sind in der Lage, den Umfang und die Möglichkeiten der mündlichen Kommunikation nicht nur quantitativ beträchtlich auszudehnen, sondern der Schrift – so die These Derridas – kommt eine Qualität zu, die ein fundamental anderes Licht auf die Sprache in toto wirft. Derrida unternimmt vor

aufgeschichtet sind, so daß gerade durch diese Schichtung die ganze Zerstörung offenbar wird? […] Die Sprache finden wir nicht im Wörterbuch, wenn auch der ganze Bestand dort verzeichnet ist. Sprache ist nur dort, wo sie gesprochen wird, wo sie geschieht, das ist unter Menschen.“ (Heidegger: Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache, S. 23f.) 10 Derrida: Grammatologie, S. 17.

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allem in seinem Beitrag Signatur Ereignis Kontext11 den Versuch, dieses Spezifikum der Schrift herauszuarbeiten: Er macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass die Abwesenheit, von der bei der Erörterung der Schrift meist beiläufig die Rede war, nicht in ihrer Eigenheit, sondern lediglich hinsichtlich der Wiederherstellung einer – jeweils momentan bloß aufgeschobenen – Anwesenheit bedacht wird. Diese Abwesenheit stellt in seinen Augen jedoch etwas anderes als eine bloße Privation der Präsenz, eines zur Zeit (noch) nicht Anwesenden dar. Denn das Zeichen ist gar nicht an die Gegenwart eines ursprünglichen Sinns gebunden. Vielmehr muss das Zeichen, um überhaupt als Zeichen fungieren zu können, lesbar bleiben – und zwar unabhängig von der ursprünglichen Ausgangs- oder vorgesehenen Zielinstanz. Erst prinzipielle Wiederlesbarkeit macht ein Zeichen zum Zeichen. Diese Einsicht erweist sich als entscheidend: Denn die notwendige Wiederlesbarkeit darf nicht als einfache Re-Aktualisierung einer vermeintlich originären Intention verstanden werden. Denn jeder Wiederaneignung ist eine Differenz eingeschrieben, sonst wäre es keine Wiederholung, sondern unterschiedslos dasselbe. Doch das Selbe kann sich nie – allein schon aufgrund des Fortlaufs der Zeit – abermals ereignen. Selbst wenn genau derselbe Inhalt wiederholt werden würde, wären doch die Situation, der Kontext, die Adressierung oder zumindest die Zeit nicht vollkommen identisch. Jede Iteration des Selben ist somit notwendigerweise als Wieder-Holung immer schon von alteritären Momenten durchzogen. In ihr vollzieht sich die Wiederkehr eines Ungleichen als ein Gleiches. Diese Einsicht in die unumgängliche Iterabilität aller Zeichen zieht weitreichende Konsequenzen nach sich. Derrida insistiert darauf, dass die Notwendigkeit der Wiederholbarkeit nicht nur der Schrift im engeren Sinne, sondern schlichtweg allen Zeichen zukommt. Er macht hierin deutlich, inwiefern jegliche Erfahrung „Schriftcharakter“ besitzt, da alles, was als etwas Bestimmtes vernehmbar ist, in Iterationszusammenhängen auf vermittelte Weise begegnet. Jedem „ersten“ Mal ist somit unwillkürlich ein „anderes“ Mal mitgegeben, insofern dieses „erste“ Mal nur im abermaligen Rekurs thematisch zugänglich werden kann. Diese Einsicht, gewonnen an der Iterabilität der Schrift, lässt sich laut Derrida daher „auf jede ‚Erfahrung‘ im allgemeinen ausdehnen, gesetzt, es gibt keine Erfahrung reiner Gegenwart, sondern nur Ketten differentieller Zeichen.“12

11 In detaillierter Weise zeichnet Gerald Posselt diesen Text von Derrida nach, der zudem als Auseinandersetzung mit der Sprechakttheorie im Besonderen und als Diskussion mit der analytischen Philosophie im Allgemeinen gelesen werden muss (vgl. Posselt/Flatscher: Sprachphilosophie, S. 213-238). 12 Derrida: Signatur Ereignis Kontext, S. 29.

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Die Annahme einer ungebrochenen Gegenwärtigkeit oder reinen Anwesenheit wird daher für alle Zeichensysteme – auch für die orale oder gestische Kommunikation – und sämtliche Erfahrungen zurückgewiesen. Es gibt, wenn diese Einsicht Derridas ernstgenommen wird, keine ungeteilte Unmittelbarkeit oder immediate Zugänglichkeit. Alles ist in dieser Weise Schrift, nichts befindet sich außerhalb (kon-)textueller Strukturen der Iterabilität. Anhand der Iterabilität des Zeichens wird zudem das tradierte Verständnis des Verhältnisses von Wiederholung und Identität einer tiefgehenden Revision unterzogen: Nicht wird eine vorgegebene Identität oder ein ursprünglicher Sinn in unterschiedlicher Weise repetiert, sondern aus der Iteration konstituiert sich gleichsam eine Selbigkeit, der aber zugleich nie erlaubt wird, eine feste und unabänderliche Identität zu erlangen. Die Identität des Zeichens wird in diesem Sinne durch die Iterabilität konstituiert – eine Konstitution freilich, die wiederum für weitere Bezugnahmen offen ist und somit keinen gesichert-unveränderlichen Bereich (einen festen Kern oder eine überzeitliche Essenz) für sich reklamieren kann. Somit erweist sich die Iterabilität nicht nur als Bedingung der Möglichkeit jeder Identität, sondern zugleich auch als Bedingung der Unmöglichkeit jeder (festen) Identität. Auf diese Ambiguität verweist Derrida in Limited Inc., wo er seine Grundeinsichten des zuvor angeführten Beitrags umfassend kommentiert und erläutert, mit Nachdruck: „Einmal mehr erlaubt die Iterabilität die Idealisierung, also eine gewisse wiederholbare, von der Vielfalt der faktischen Ereignisse unabhängige Identität, aber sie begrenzt die Idealisierung, die sie erlaubt, sie läßt sie nicht unversehrt.“13 Daran lässt sich das Sprengpotential ablesen, das Derrida in der Iterabilität erblickt: Jede Identität wird aufgrund ihrer uneingeschränkt offenen Lesbarkeit immer wieder (re-)konstituiert und (re-)signifiziert werden können, sodass sie in ihrem fragilen Status immer auch anders lesbar bleiben und nicht durch eine eingrenzbare Identität zur Ruhe kommen wird. Keine Intention und kein Kontext kann die Wiederlesbarkeit eines Zeichens vollends restringieren oder restlos überwachen: „Jedes Zeichen sprachlich oder nicht, gesprochen oder geschrieben (im geläufigen Sinn dieser Opposition), als kleine oder große Einheit, kann zitiert – in Anführungszeichen gesetzt – werden; von dort aus kann es mit jedem gegebenen Kontext brechen und auf absolut nicht sättigbare Weise unendlich viele neue Kontexte zeugen. Das heißt nicht, daß das Zeichen außerhalb eines Kontexts gilt, sondern ganz im Gegenteil, daß es nur Kontexte ohne absolutes Verankerungszentrum gibt.“14 Die Iterabilität des Zeichens trägt die subversive

13 Derrida: Limited Inc., S. 102. 14 Derrida: Signatur Ereignis Kontext, S. 32.

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Kraft in sich, Tendenzen der Totalisierung entgegenzuwirken und sich einer restlosen Vereinnahmung zu entziehen. Die Iterabilität erweist sich als unkontrollierbar und unabschließbar, insofern sie – affirmativ gewendet – stets neue Räume eröffnet, die jede*r durchschreiten, wenn auch nie definitiv umgrenzen oder besitzen kann. Solange das Zeichen als Zeichen lesbar bleibt, ist ihm – zitierbar und wiederverwendbar – das Moment der Alterität und Differenzialität mit auf den Weg gegeben. Da keine (Autor-)Intention die Wieder-Lesbarkeit der Zeichen restlos kontrollieren kann, wird einsichtig, inwiefern selbst die „eigenen“ Zeichen nie nur der Verfasserin oder dem vorgesehenen Empfänger allein gehören; stets können sie von bestimmten Adressat*innen, aber auch von anderen (anders) gelesen werden. Zeichen sind permanent in einer anonymen Dehiszenz unterwegs, die nie restlos von einer externen Instanz festzumachen sein wird. Stünden nicht selbst private Liebeserklärungen oder ausgeklügelte Geheimschriften immer auch in der strukturellen Möglichkeit, für andere lesbar zu sein, wäre es nicht möglich, ihnen überhaupt Zeichenhaftigkeit zuzubilligen. Jede semantische oder epistemologische Privatheit eines geregelten Codes wird daher von Derrida als unmöglich zurückgewiesen, denn stets schon sind Zeichenpraktiken in einer strukturell notwendigen Wiederholbarkeit mit allen anderen teilbar: Dies impliziert, daß es keinen Code gibt – Organon der Iterabilität –, der strukturell geheim wäre. Die Möglichkeit, die Zeichen zu wiederholen und damit zu identifizieren, ist in jedem Code impliziert, macht aus ihm ein kommunizierbares, übermittelbares, entzifferbares Raster, das für einen Dritten, also für jeden möglichen Benützer überhaupt, iterierbar ist.15

Hierin zeigt sich, dass Derridas Überlegungen zur notwendigen Iterabilität der Zeichen politische Implikationen in sich tragen und als dezidierte Antwort auf den zuvor ins Treffen geführten platonisch-aristokratischen Gestus gelesen werden können: Die stets mögliche (Mit-)Teilbarkeit der lesbaren Zeichen sorgt dafür, dass – strukturell gesehen – keine exklusiven Besitzansprüche vonseiten bestimmter Personen geltend gemacht werden können. Ihre Lesbarkeit kann nie nur von einer, zweien oder einer festgesetzten Anzahl reklamiert werden, stets kann jede Intimität von einem offenen Zugriff heimgesucht werden. Es ist daher nicht unwesentlich, dass Derrida rund zwanzig Jahre nach Signatur, Ereignis, Kontext in seinen Ausführungen zu einer Politik der Freundschaft auf seine Einsichten zur Iterabilität zurückkommt:

15 Ebd., S. 25.

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Auch ein einziger kann aber ein einziges Mal ein[e] einzige Markierung nur empfangen, wenn diese in wie immer geringem Maße iterierbar, also in ihrem Auftreten und jedenfalls in ihrem Ereignischarakter zuinnerst vielfältig und gespalten ist. Der Dritte ist da. Und der eine als jener ‚mehr als eine‘, jener ‚nicht mehr eine‘, jene ‚mehreren‘, die Berechenbarkeit zugleich zulassen und einschränken.16

Der Dritte – verstanden als der nicht abzählbar oder identifizierbar Andere – ist in seiner Unvorhersehbarkeit und Anonymität in der Iterabilität immer schon mit da. Durch die Wiederholbarkeit ist daher je schon eine Gemeinschaftlichkeit eröffnet, die keinen Ausschluss mehr duldet. Nachdem Zeichen eine unkontrollierbare Teilbarkeit innewohnt, wird es sich als unmöglich erweisen, sie ausschließlich und originär für sich beanspruchen zu wollen. Eine strikte und gesicherte Grenzziehung zwischen dem eigenen inneren Bezirk und dem fremden äußeren Bereich, zwischen einem eigentlichen und uneigentlichen Gebrauch von Sprache, wird sich dabei als unmöglich erweisen.17 In Rückgriff auf die zu Beginn angeführten Beispiele ist es wichtig zu sehen, dass die Zitationalität oder Zirkularität von Zeichen somit keine Sonderform oder eine abkünftige, kontingente Möglichkeit darstellt. Vielmehr fungiert die notwendige Wiederlesbarkeit als intrinsisches Moment der Sprache. Ein Zeichen ist nur dadurch ein Zeichen, dass es stets für eine Relektüre offen bleibt, d.h. immer wieder und anders zitiert werden kann. Die Zitathaftigkeit fungiert dieser Lektüre zufolge weder als Zufall noch als Anomalie in der Verwendung von Zeichen, sondern bildet gerade das, was das Zeichen – noch vor jeder Unterscheidung in normal oder anormal – als Zeichen konstituiert:

16 Derrida: Politik der Freundschaft, S. 290. 17 Derrida übernimmt grundlegende Einsichten aus der Sprechakttheorie von John L. Austin: Die Sprache dient nicht nur dazu, die Welt zu beschreiben, sondern mit Hilfe von sprachlichen Äußerungen werden Handlungen vollzogen. Dabei wird nach Austin die Kraft einer Äußerung nicht allein durch die Intention der Sprechenden bestimmt, sondern wesentlich durch die konventionellen Regeln der Äußerungssituation. So kann zum Beispiel eine Eheschließung nur dann Gültigkeit besitzen, wenn beide potentiellen Partner*innen noch unverheiratet sind und die sie Trauende die rechtlichen Voraussetzungen erfüllt etc. Wenn Austin jedoch all jene Äußerungen aus seiner Theorie ausschließt, in denen Sprache nicht ernsthaft gebraucht wird, etwa auf der Bühne oder im Spiel, dann greift er, so Derridas Kritik, indirekt wieder auf die Gedankenfigur zurück, dass die Bedeutung und die Kraft der Äußerung letztlich von der Intention der Sprechenden bestimmt wird. Vgl. hierzu Posselt/Flatscher: Sprachphilosophie, S. 155-176 und S. 215-238.

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[Sie] ist genau das (Normale/Anormale), ohne das ein Zeichen nicht einmal mehr auf sogenannt ‚normale‘ Weise funktionieren könnte. Was wäre ein Zeichen, das nicht zitiert werden könnte? Und dessen Ursprung nicht unterwegs verloren gehen könnte?18

Durch den Rückgriff auf Derrida sollte deutlich werden, dass die eingangs angeführten Strategien der Iteration nicht hinsichtlich einer Unterscheidung von authentischem Sprechen und uneigentlichem Zitieren beurteilt werden können. Die Zitationalität stellt keine Sonderform von Zeichenverwendungen dar, sondern bildet ihre genuine Erscheinungsweise. In Anlehnung an Schnitzler könnte man daher sagen: wir iterieren/zitieren immer, wer es weiß, ist klug. Dennoch entschlagen sich Zitate nicht einfach der Verantwortung. Die Frage, was hier Verantwortung heißt, wer sie in welcher Form zu übernehmen hat und wie verhetzende Rede dennoch normativ kritisierbar bleibt, soll nun mit Hilfe der Überlegungen von Judith Butler diskutiert werden.

RÜCKWIRKUNGEN DER ITERABILITÄT AUF DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES SUBJEKTS NACH BUTLER Die zuvor skizzierten Überlegungen implizieren nicht nur Konsequenzen für die Auffassung von Zeichen, sondern üben auch markante Rückwirkungen auf das Selbstverständnis des Subjekts aus: Keine Instanz ist in der Lage, die Wiederlesbarkeit zu kontrollieren; stets steht das Zeichen in der Möglichkeit, in einer erneuten Bezugnahme anders gelesen zu werden. Die Wiederholungsprozesse sind somit weder vonseiten einer bestimmten Autorin noch eines bestimmten Empfängers aus regulierbar oder absehbar. Jedes Zeichen wird sich immer wieder als anschlussfähig an weitere Akte der Lektüre erweisen, die immer auch von Anderen anders vollzogen werden können. Damit verschwindet die klassische Kategorie der Intention nicht völlig aus dem Bereich des Zeichengebens, aber niemand ist mehr in der Lage, die Szenerie souverän zu beherrschen: Da sich die Zeichen in ihrer Lesbarkeit nicht in der Präsenz ihrer Einschreibung erschöpfen, wohnt jedem Zeichen die Kraft inne, mit dem vermeintlichen Urheber, dem originär vorgesehenen Kontext oder der ausgewählten Empfängerin zu brechen. In diesem Zusammenhang zeigt sich, dass dem Menschen, der sich gemäß einer alten Definition als zoon logon echon19 und somit als Eigentümer der Sprache versteht, das vermeintlich Eigenste entgleitet. Denn nicht nur ist der

18 Derrida: Signatur Ereignis Kontext, S. 32. 19 Aristoteles: Politik, 1253a.

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Sprachgebrauch ab ovo gespalten und von Anfang an einer Ver-Anderung anheimgefallen, sondern darüber hinaus nimmt die Sprache nicht im und mit dem Subjekt ihren Anfang: Wiederholungspraktiken beginnen nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt, sondern sie werden fortgeführt. Jedes Zeichengeben stellt daher eine Wiederaufnahme vergangener Verfahren dar, sodass jeder Markierung unweigerlich Spuren vormaliger Verwendungsweisen eingeschrieben sind. Jeder Akt des Vollzugs trägt damit bereits die Akten des Archivs in sich, zitiert damit unweigerlich tradierte Formen des Gebrauchs und schreibt diese fort. Diesen Aspekt, dass das Subjekt nie mit und durch sich beginnt, sondern sich von Anfang an in Wiederholungszusammenhänge eingelassen findet, soll nun für eine Theorie des postsouveränen Subjekts fruchtbar gemacht werden. Butler hat in Rückgriff auf Derrida und Foucault auf den Zusammenhang einer vorursprünglichen Enteignung der Sprache mit den Mechanismen der Subjektbildung aufmerksam gemacht. Dabei ist sie in der Lage, das zuvor bei Derrida lediglich angedeutete Verhältnis von Verantwortung und Iterabilität20 mit der Frage von machtdiskursiven Überlegungen zu verbinden. Jedes Subjekt unterliegt – vor jeder expliziten Bezugnahme auf sich selbst oder die Welt – bereits den Bedingtheiten diskursiver Vorgaben. Die Konstitution des Subjekts erweist sich unweigerlich rückgebunden an die jeweilige gesellschaftliche Ordnung und abhängig von darin waltenden Reglementierungen. Die gesellschaftlichen Normen, die dem Subjekt Zwänge auferlegen, wirken jedoch nicht bloß repressiv, sondern sind immer auch produktiv wirksam, indem sie die Bildung des Subjekts allererst ermöglichen. Diese Raster restringieren und konstituieren das Subjekt damit gleichermaßen. Denn das Subjekt ist unweigerlich auf spezifische Normierungen angewiesen, um überhaupt sozial vernehmbar sein und (über-)leben zu können. Das jeweilige Subjekt befindet sich, um überhaupt ein Selbstverhältnis innerhalb einer Gesellschaft erlangen zu können, in einer irreduziblen Abhängigkeit. Interdependent bleibt es aber nicht nur gegenüber den Vorgaben der gesellschaftlichen Normierungen, sondern auch gegenüber der konkreten Anrede Anderer. Auch die Adressierung tritt dabei nicht in einem zweiten Schritt zu

20 Der Aufbau des Beitrags suggeriert, dass Derrida die ethisch-politische Dimension der Verantwortung zugunsten formaler Überlegungen hintangestellt habe; dass das keinesfalls so ist, habe ich an anderer Stelle nachgezeichnet (vgl. Flatscher, Was heißt Verantwortung?). Die Attraktivität Butlers, sie hier auch als zweite Bezugsautorin zu Rate zu ziehen, besteht vor allem darin, dass sie dekonstruktive Einsichten mit konkreten Situationen und Herausforderungen des politischen Alltags verknüpft. Umfassend wird in dem Sammelband Posselt/Schönwälder-Kuntze/Seitz: Judith Butlers Philosophie des Politischen diesem Verständnis nachgegangen.

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einem bereits vorliegenden Ego hinzu, sondern evoziert gerade im Antworten allererst dessen Genese. So schreibt Butler in Kritik der ethischen Gewalt: [W]enn ich also am Anfang nur in der Adressierung an dich bin, dann ist das ‚Ich‘, das ich bin, ohne dieses ‚Du‘ gar nichts, und es kann sich außerhalb des Bezuges zum Anderen, aus dem seine Fähigkeit zur Selbstbezüglichkeit überhaupt erst entsteht, nicht einmal ansatzweise auf sich selbst beziehen. Ich stecke fest, bin ausgeliefert in einer Weise, die sich nicht einmal durch den Begriff der Abhängigkeit beschreiben lässt.21

Mit diesem Hinweis auf das Ausgeliefertsein auf ein „Du“, dass das „Ich“ anspricht, wird deutlich, dass der Sprache eine inaugurative Dimension innewohnt: Ohne konkrete Anrede erlangt das Subjekt keinen Ort und Namen innerhalb der Gesellschaft und damit keine Fähigkeit, sich selbst als einen Teil dieser Gesellschaft zu verstehen, „Ich“ zu sagen und Handlungen als die je „seinen“ zu verstehen. Aufgrund dieser fundamentalen Dependenz von der Anrede Anderer wird für Butler auch einsichtig, warum uns Sprache so massiv verletzen kann: Wir sind durch und durch Wesen, die der Sprache bedürfen, um überhaupt zu sein.22 Sprache beschränkt sich nicht auf einen instrumentellen oder deskriptiven Charakter, sondern kann – wie gerade die verletzende Kraft der Sprache demonstriert – selbst Gewalt ausüben und verletzen.23 In dieser Exponiertheit zeigt sich nicht nur die prinzipielle Abhängigkeit des Subjekts von Anderen, sondern eine rückhaltlose Empfänglichkeit, die nach Butler die Singularität des Subjekts auszeichnet: Ich bin gleichsam dieses Ausgesetztsein, in dem meine Singularität liegt. Ich kann dieses Ausgesetztsein nicht willentlich ausschalten, denn es ist ein Zug meiner Körperlichkeit selbst, und in diesem Sinne ist es mein Leben, und doch nichts, was ich unter Kontrolle haben könnte.24

Diese Überlegung eines nicht reglementierbaren Ausgesetztseins als Grundbestimmung von Subjektivität impliziert ein spezifisches Verständnis von Körperlichkeit: Diese wird als Verwundbarkeit, die sich in dem unverfügbaren

21 Butler: Kritik der ethischen Gewalt, S. 112. 22 Vgl. Butler: Hass spricht, S. 9. 23 Dem Verhältnis von Gewalt und Sprache bei Butler ist Posselt nachgegangen. Vgl. Posselt, Sprachliche Gewalt und Verletzbarkeit. 24 Butler: Kritik der ethischen Gewalt, S. 47.

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Exponiertsein zeigt, gefasst. Es gibt damit keinen unversehrten Naturzustand des Leibes, der dieser Vulnerabilität vorausginge, sondern nur eine Körperlichkeit, die sich auf je singuläre Weise als und in der Verwundbarkeit bildet und in den konkreten Verletzungen manifestiert.25 Um dieses Angewiesensein auf den Appell des Anderen zu untermauern, geht Butler sogar so weit zu behaupten, „daß wir lieber erniedrigt als gar nicht angesprochen werden“26. Gerade dieser letzte Hinweis zeigt, wie nachhaltig wir auf den Anspruch des Anderen angewiesen sind und letztlich immer angerufen-antwortende Wesen bleiben. Sprache fungiert nicht bloß oder in erster Linie als Instrumentarium der Weltabbildung oder als Transportmittel für intelligible Inhalte, sondern formiert diskursiv die Existenzweisen von Subjektivität. Aufgrund ihrer subjektkonstitutiven Dimension muss Sprache auch in einer besonderen Weise kritisch bedacht werden: Je deutlicher man bemerkt, wie unvermeidlich unsere Abhängigkeit von den Formen der Anrede ist, um überhaupt eine Handlungsmacht auszuüben, um so dringlicher wird eine kritische Perspektive auf die Sprachformen, die die Regulierung und Konstitution des Subjekts bestimmen.27

Damit radikalisiert Butler die zuvor angeführte Bestimmung des Subjekts als zoon logon echon und verbindet sie mit kritischen Überlegungen hinsichtlich einer ethisch-politischen Dimension: Der Mensch ist nicht mehr das Wesen, das über die Sprache verfügt, sondern vielmehr das Wesen, das auf Sprache angewiesen ist. Doch obwohl jedes Subjekt zwangläufig an seine gesellschaftliche Verortung und an den Appell des Anderen rückgebunden bleibt, heißt das für Butler nicht, dass der Diskurs respektive die Adressierung das Subjekt restlos determinieren. Denn die gesellschaftlichen Vorgaben des Diskurses müssen vonseiten des Subjekts permanent wiederholt werden und auf Adressierungen wird es, nachdem es sich nicht nicht verhalten kann, gezwungen zu antworten. Das Subjekt bildet nach Butler die Inkorporierung gesellschaftlicher Bedingtheiten und fungiert als Produkt intersubjektiver Ansprechsituationen, indem es nichts anderes als den Ort dieser Wiederholungspraktiken und Respondenzformen darstellt.

25 Detailliertere Ausführungen zum Themenkomplex der Vulnerabilität in Butlers Œuvre finden sich bei Pistrol: Vulnerabilität. 26 Butler: Kritik der ethischen Gewalt, S. 50. 27 Ebd., S. 49.

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Diese Iteration stellt, wie bereits zuvor bei Derrida gezeigt wurde, nie nur eine mechanische Reduplikation dar, sondern impliziert im singulären Antworten stets auch Deviationen. Auch wenn das Subjekt nicht selbstschöpferisch und autonom agiert, zeigt sich seine Potentialität darin, wie es sich in Wiederholungspraktiken einschreibt und diese responsiv performiert. Damit erweist sich das Dass des Sicheinschreiben- und Antwortenmüssens als unumgänglich, nicht jedoch das spezifische Wie des Iterierens bzw. des Respondierens. In diesem Wie des jeweiligen Antwortens erblickt Butler den genuinen Ort des Handlungsvermögens (agency) des Subjekts und im Spielraum der Iterabilität und Responsivität seine spezifische Verantwortung. Prägnant bringt sie diese Einsicht bereits in Das Unbehagen der Geschlechter auf den Punkt: „Die Frage ist nicht: ob, sondern wie wiederholen […].“28Auf diesen Zusammenhang von Verantwortung und Wiederholung möchte ich nun im letzten Abschnitt zu sprechen kommen, auch um deutlich zu machen, dass es sich beim Konzept der Iterabilität nicht um ein bloß formales Moment handelt, das jeder normativen Grundlage entbehrt. Es ist nicht nur wichtig einzusehen, inwiefern wir immer und überall wiederholen, sondern dass das spezifische Wie der Iteration ein genuin ethischpolitisches Moment impliziert und kritisiert werden kann. Dem Wiederholen selbst ist somit eine normative Dimension von Verantwortung eingeschrieben.

VERANTWORTUNG UND WIEDERHOLUNG Verantwortung aus Wiederholungszusammenhängen zu verstehen, modifiziert diesen Begriff grundlegend: In einer klassischen Konzeption bildet ein autonomes, souveränes und transparentes Ego den Ausgangspunkt. Denn es könne nur dann sinnvoll von Verantwortung die Rede sein, wenn diese von einem Ich aus freien Stücken übernommen wird und es zugleich etwaige Folgen des wirkmächtigen eigenen Tuns abschätzen kann. Erst wenn diese Bedingungen erfüllt seien, können vergangene oder zukünftige Handlungen, aber auch Unterlassungen gegenüber einem Subjekt geltend gemacht werden. Die Rückbindung der Verantwortung an den Appell des Anderen und die Notwendigkeit, sich in Wiederholungspraktiken einzuschreiben, impliziert, dass das Subjekt nicht in der Lage ist, sich für diese oder jene Handlung autonom zu entscheiden, diese oder jene Verpflichtung bewusst zu übernehmen oder auch abzulehnen. Müsste dann nicht folgerichtig der Verantwortungsbegriff fallen gelassen werden?

28 Butler: Das Unbehangen der Geschlechter, S. 217.

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Butler beantwortet diese Frage mit einem klaren Nein. Im Gegenteil, sie zeigt auf, inwiefern herkömmliche Moralkonzeptionen (von Kant bis Habermas) dem Subjekt zu viel aufbürden: Indem diese stets von einer Selbsttransparenz und ungebrochenen Souveränität des Subjekts ausgehen, wird es gleichsam außerhalb sozialer und intersubjektiver Bedingtheiten konzipiert. Dem gegenüber betont Butler, dass erst ein Subjekt, das sich nicht vollends transparent ist, überhaupt erst ein ethisches Subjekt sein kann. Denn Fragen der Ethik lassen sich nur vonseiten eines zerbrechlichen und immer auch fehlbaren Subjekts stellen; hätten wir es mit einem souveränen Subjekt zu tun, das in Lage wäre, sein Handeln und Sprechen restlos zu kontrollieren, würde sich die Verantwortung auf einen kalkulierbaren Effekt reduzieren. Dann würde zugleich das Handeln und Sprechen nicht der Verantwortung des Subjekts obliegen, sondern es wäre bereits vorab – gleich einem Computerprogramm – entschieden, was in welcher Weise ausgeführt oder thematisiert wird. Die Verantwortung ist folglich nicht nur niemals auszuschlagen und nimmt das Subjekt gleichsam ungefragt in Anspruch, sondern man kann sich ihrer niemals entledigen, weil dem Appell weder restlos nachzukommen ist noch dieser jemals vollständig abgegolten werden kann; vielmehr wächst die Verantwortung in dem Maße, in dem sie übernommen wird. Dieses neue Verständnis weist jedoch nicht nur die Verfügungsgewalt über den jeweiligen Sprechakt in bestimmte Grenzen, sondern ihm wohnt ein hyperbolisches Moment inne: Jedes Antworten und Wiederholen trägt damit den Appell des Anderen und damit vielfältige Spuren einer uneinholbaren Vorvergangenheit in sich. Der Verantwortlichkeit besteht darin, wie auf diesen Anspruch geantwortet wird. Das Maßlose dieses Verantwortungsverständnisses artikuliert sich jedoch nicht nur darin, dem Appell nachkommen zu müssen, sondern sich dessen inne zu werden, dass die eigenen Wiederholungspraktiken als Referenz für weitere Iterationsformen dienen können. Verantwortlich bin ich damit nicht nur gegenüber einer nicht einholbaren Vergangenheit, sondern auch hinsichtlich einer unabsehbaren Zukunft, nämlich dahingehend, in welcher Weise sich mein Antworten als anschlussfähig an weitere Verwendungsweisen erweist, welche Richtung sie vorgeben und was sie ausschließen.29 So sehr das Subjekt auf Vorgaben gesellschaftlicher und intersubjektiver Art auch antworten muss, so sehr steht das Wie des Antwortens auch in der Handlungsmacht dieses Subjekts. Wir unterliegen daher nolens volens nicht nur einer Wiederholung der Verantwortung, sondern immer auch einer Verantwortung der Wiederholung.

29 Diese grundlegende normative Dimension der Iterabilität hat Bertram in Rückgriff auf Levinas herausgearbeitet (vgl. Bertram: Die Sprache und das Ganze, S. 145-170).

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Hieraus wird ersichtlich, dass die faulen Ausflüchte der österreichischen Rechten nicht gelten. Verantwortung ist nicht an die An- oder Abwesenheit der Sprecher*innenintention geknüpft. Die Gewalt verletzender Rede ist auch nicht einfachhin an die Machtposition der beiden Politiker gebunden, sondern an die Macht der Sprache, die sich in unserem Angewiesensein niederschlägt. Mittels Sprache können geschichtlich sedimentierte Diskriminierungen oder Traumata, Ausgrenzungen und Erniedrigungen wiederaufgerufen und im Umlauf gehalten werden. Die Vorgehensweise beider Politiker ist jedoch unterschiedlich und ich möchte diese Differenzen kurz zum Abschluss markieren: Windholz samt seiner Anverwandlung von SS-Parolen ist entgegenzuhalten, dass wir nicht ab und an zitieren, sondern uns immer schon in Iterationsprozessen bewegen. Das Erbe ist nicht zu relativieren oder abzustreifen; vielmehr geht es darum, dass wir uns dessen bewusst werden, dass wir immer in einer bestimmten Weise eine Übernahme, Auswahl und Weiterschreibung vornehmen und diese Selektion sowie Tradierung in den von uns vorgenommenen Wiederholungspraktiken zu verantworten haben. Was könnte das in diesem Fall heißen? In erster Linie wohl, dass es keine von allem historischen Ballast befreite Sprache gibt und damit auch keine völlig unschuldige Verwendungsweise. Der Rekurs auf vermeintlich allgemein akzeptierte „Primärtugenden“, die allen Iterationszusammenhängen enthoben sind und deren Reinheit der Geschichte zum Trotz unangetastet bleibt, ist nicht haltbar. Gerade der von Stadler unternommene Versuch, sich auf eine neutrale Sprache zu beziehen, muss als ein hochproblematischer Gestus entlarvt und als Strategie der Verharmlosung aufgedeckt werden. Bei Petzner sieht die Sache komplexer aus: Der nach eigenen Aussagen „gute“ Historiker bestreitet ja nicht die Unausweichlichkeit von Iterationsprozessen, sondern spielt bewusst mit der Notwendigkeit der Iterabilität. Seine paradoxe Rechtfertigung „Ich habe gewusst, dass dieser Vorwurf kommen kann, aber ich habe nicht beabsichtigt, dass bewusst oder unbewusst eine derartige Verbindung hergestellt wird.“30 überführt ihn zugleich. Ihm geht es darum, Nazi-Parolen lediglich in der Weise zu modifizieren, dass die verbalen Ausfälle keine juridischen Folgen nach sich ziehen, ihr Bezug aber vernehmbar bleibt. Hinter der widersprüchlichen Aussage steht somit das perfide Kalkül, strategisch NSParolen so zu modifizieren, dass ihre Herkunft wachgehalten und in einer infamen Weise fortgeschrieben wird. Welche ethischen, politischen und juridischen Konsequenzen beinhalten diese Überlegungen? Mit Butler kann argumentiert werden, dass wir die Frage

30 Der Standard (online): Haiders Wahlkampfleiter Petzner unter Beschuss.

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des Sprachgebrauchs nicht einfach den Gerichten überantworten sollen. Nicht sie haben allein und primär das Problem der Rezitation faschistischer Aussprüche zu lösen. Petzer, Windholz & Co. kann nicht allein mittels Verbotsgesetzen Einhalt geboten werden. Butler plädiert folgerichtig auch nicht dafür, eine juridisch angeordnete Reinigung der Sprache vorzunehmen: Daß die Sprache ein Trauma in sich trägt, ist kein Grund, ihren Gebrauch zu untersagen. Es gibt keine Möglichkeit, Sprache von ihren traumatischen Ausläufern zu reinigen, und keinen anderen Weg, das Trauma durchzuarbeiten, als die Anstrengung zu unternehmen, den Verlauf der Wiederholung zu steuern.31

Die Einsicht in die Iterabilität beinhaltet nicht nur die Möglichkeit, Traumata zu wiederholen und sie zu stabilisieren, sondern auch das Potential, den geschichtlich etablierten Gebrauch zu verschieben, indem Zitate wie (Eigen-)Namen gegen sich selbst gekehrt werden, die Spuren der Geschichte aufgespürt und ein unbedarfter Gebrauch konterkariert wird. So kann der Verlauf der Wiederholung gesteuert werden, indem das Wie der Iteration thematisiert und problematisiert wird. Das kann sich aber nur dann vollziehen, wenn wir uns der Macht von Sprache inne werden und einen sensiblen Umgang mit ihr pflegen. Nur so kann eine erhöhte Aufmerksamkeit auf Sprachverwendungen vonseiten einer kritischen Öffentlichkeit und umsichtigen Medien vollzogen werden.32

LITERATUR Aristoteles: Politik, in: ders., Philosophische Schriften. Bd. 4. Hamburg 1995. Bertram, Georg W.: Die Sprache und das Ganze, Weilerwist 2006. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991. — Gefährdetes Leben. Politische Essays. Frankfurt a.M. 2005. — Hass spricht. Zur Politik des Performativen. Frankfurt a.M. 2006. — Kritik der ethischen Gewalt. Frankfurt a.M. 2007. Der Standard (Redaktion): Haiders Wahlkampfleiter Petzner unter Beschuss, in: Der Standard, http://derstandard.at/2488067 vom 21. Juni 2006.

31 Butler: Hass spricht, S. 66. 32 Zum Verständnis einer kritischen Öffentlichkeit und einer medientheoretischen Reflexion vgl. Butler, Gefährdetes Leben, S. 154ff. und Fraser, Neue Überlegungen zur Öffentlichkeit.

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— Verfahren gegen Haider und Petzner eingestellt, in: Der Standard, http://derstandard.at/2823711 vom 2. Juli 2007. Derrida, Jacques: Grammatologie. Frankfurt a.M. 1974. — Limited Inc. Wien 2001. — Politik der Freundschaft. Frankfurt a.M. 2000. — Signatur Ereignis Kontext, in: ders., Limited Inc. Wien 2001, S. 15-45. Flatscher, Matthias: Was heißt Verantwortung? Zum alteritätsethischen Ansatz von Emmanuel Levinas und Jacques Derrida, in: Zeitschrift Für Praktische Philosophie 3 (2016), S. 125-164. Fraser, Nancy: Neue Überlegungen zur Öffentlichkeit. Ein Beitrag zur Kritik der real existierenden Demokratie, in: dies., Die halbierte Gerechtigkeit. Schlüsselbegriffe des postindustriellen Sozialstaats. Frankfurt a.M. 2001, S. 107150. Heidegger, Martin: Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache. Frankfurt a.M. 1998 (= GA 38). Mauthausen-Komitee: Lauter Einzelfälle? Die FPÖ und der Rechtsextremismus (2017) (http://www.mkoe.at/sites/default/files/files/aktuelles/MKOE-A5-Bro schuere-Die-FPOE-und-der-Rechtsextremismus.pdf). Pistrol, Florian: Vulnerabilität. Erläuterungen zu einem Schlüsselbegriff im Denken Judith Butlers, in: Zeitschrift für Praktische Philosophie 3/1 (2016), S. 233-272. Platon: Phaidros, in: ders., Werke. Band 5, Darmstadt 2005. Posselt, Gerald: Sprachliche Gewalt und Verletzbarkeit. Überlegungen zum aporetischen Verhältnis von Sprache und Gewalt, in: A. Schäfer/Ch. Thompson (Hg.), Gewalt, Paderborn 2011, S. 89-128. —/Flatscher, Matthias: Sprachphilosophie. Eine Einführung, Wien 2016. Posselt, Gerald/Schönwälder-Kuntze, Tatjana/Seitz, Sergej (Hg.): Judith Butlers Philosophie des Politischen. Kritische Lektüren, Bielefeld 2018. Spiegel (Redaktion): FPÖ-Mann zitierte SS-Parole, in: Der Spiegel http://www.spi egel.de/politik/ausland/oesterreich-fpoe-mann-zitierte-ss-parole-a-79451.html vom 05.06.2000. Stoppt die Rechten: Umvolkung und die Logenszene – Vortrag von Johannes Hübner bei der GfP (https://www.stopptdierechten.at/2017/07/19/umvolkung _logenszene_huebner/) Wiener Zeitung-Online (Redaktion): Aufregung um Windholz-„Sager“, in: Wiener Zeitung http://www.wienerzeitung.at/nachrichten/oesterreich/politik/ 350218_Aufregung-um-Windholz-Sager.html vom vom 06.06.2000. Wodak, Ruth: Politik mit der Angst: Zur Wirkung rechtspopulistischer Diskurse, Wien/Hamburg 2016.

V. Sprachmedialitäten zwischen sozialen und technischen Medien

„Warum gibt es überhaupt Medien, und nicht vielmehr nicht?“ Sprachtheorie nach fünfzig Jahren Ethnomethodologie und Konversationsanalyse Christian Meyer & Erhard Schüttpelz

I.

EINLEITUNG

„Warum gibt es überhaupt Medien, und nicht vielmehr nicht?“ Mit dieser Abwandlung der Leibniz’schen Frage nach den letzten Gründen des Seienden wollen wir im Folgenden die Frage nach den Existenzbedingungen der Medien stellen. Wir möchten zeigen, dass die Medialität der Sprache in ihrer sozialen Konstitution begründet ist, und dass die soziale Konstitution der Sprache eine Reihe von Verfahren beinhaltet, durch die Sprache als ihr eigenes Medium wirksam wird. Diese Medialität – oder, wenn man so will, „Eigenmedialität“ – der Sprache bleibt in allen weiteren menschlichen Medien vorausgesetzt, deren Operationen durch sprachliche Verständigung erlernt, kommentiert und verändert werden, und die ohne eine solche sprachliche Verständigung nicht bestehen könnten. Die Möglichkeit einer solchen Vermittlung zwischen Medientheorie, Sprachtheorie und Sozialtheorie verdanken wir einer langen Tradition theoretischer Formulierungen und ihrer Verbindung mit einer medienhistorischen Schwelle: dem Übergang von schriftlich zitierten Sprachbeispielen zur Analyse audiovisueller Aufzeichnungen. Erst durch die mit mehrfachen Medienwechseln verbundene Auswertung audiovisueller Aufzeichnungen gelang es insbesondere, die Temporalität und die kooperative Natur der Sprache genauer zu demonstrieren. Allerdings zeigt die Geschichte dieser Aufzeichnungen zugleich, dass es nur durch ein Wechselspiel zwischen theoretischen Fragestellungen und methodischen Auswertungen gelingen kann, mithilfe audiovisueller Aufzeichnungen

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aufschlussreiche theoretische Konsequenzen zu ziehen. Die Übung, die wir im folgenden unternehmen, ist immer noch ungewöhnlich, obwohl sie vor fünfzig Jahren begonnen hat und vor mehr als hundert Jahren hätte beginnen können. Die Fragestellung dieser Übung lautet schlicht: Welches theoretische Vokabular hält der Auswertung audiovisuell dokumentierter sprachlicher Interaktion stand? In unserer Darstellung beziehen wir uns auf ein methodisch erarbeitetes Korpus aus fünfzig Jahre ethnomethodologischer und konversationsanalytischer Forschungen; und wir versuchen in Übereinstimmung mit den theoretischen Ansätzen, die unsere Fragestellung teilen, die wichtigsten sprach- und medientheoretischen Erkenntnisse zusammenzufassen, die aus diesem Korpus erwachsen sind.

II.

KOOPERATION

Warum ist die Sprache zugleich ihr eigenes Medium? Der Grund dafür liegt, um eine zweite bekannte Formulierung abzuwandeln, in der Geburt der Sprache aus dem Geist der Kooperation. Die Selbstbezüglichkeit der Sprache ist kein Privileg bestimmter Sprachformen oder Sprachverfahren, und sie ist keineswegs auf eine poetische „Selbstausrichtung“ zu begrenzen, wie es im Zeitalter des Strukturalismus insbesondere durch Roman Jakobson postuliert wurde. Die kooperative Natur der Sprache bringt es mit sich, dass nicht nur ihre Praktiken, sondern auch die Vorgänge der Verständigung über die fortlaufenden Praktiken kooperativ erarbeitet werden. Auf diesem Wege wird Sprache zum Medium der Verständigung über sprachliche Vorgänge, und zwar, wie man sagen könnte, schon aus rein praktischen Gründen. Kooperation und Kooperativität sind die wesentlichen definitorischen Merkmale des Sozialen. Kooperation definieren wir als die „wechselseitige Verfertigung gemeinsamer Ziele, Mittel und Abläufe.“1 Diesem Kooperationsbegriff lässt sich ein Begriff der Interaktion an die Seite stellen, der diese als die „wechselseitige Verfertigung gemeinsamer Abläufe“ fasst, und ein Begriff von Praktiken, der diese als „wechselseitig verfertigte gemeinsame Abläufe“ begreift.2 Jede Terminologie bedeutet eine theoretische Vorentscheidung, die wir in unserem Fall keineswegs verschweigen wollen. Mit unseren Definitionen möchten wir drei Grundsätze verankern: Erstens bleibt die Wechselseitigkeit des Geschehens jeder Gemeinsamkeit vorgeordnet; d.h. alle Gemeinsamkeiten (gemeinsame Abläufe, Intentionen, Bedeutungen, Handlungen etc.) entstehen in dieser Welt durch wechselseitig

1

Schüttpelz/Meyer: Ein Glossar zur Praxistheorie, S. 158.

2

Ebd.

Warum gibt es überhaupt Medien? | 361

verfertigte Abläufe. Wenn solche Gemeinsamkeiten einem wechselseitigen Geschehen vorgeordnet werden können, dann nur, weil sie bereits durch die Wechselseitigkeit eines Geschehens entstanden sind (was umgekehrt nicht gilt). Zweitens ist diese Definition „skalenfrei“ gedacht, d.h. sie gilt in jeder Größenordnung vom körperlichen und zwischenleiblichen Geschehen bis zu beliebig großen sozialen oder soziotechnischen Einheiten. Die in diesen Definitionen angesprochene „Wechselseitigkeit“ lässt sich ganz konkret auf die temporalsequenzielle und -inkrementelle Taktung eines Tuns zwischen zwei oder mehreren Kooperationspartnern beziehen, wie sie uns im Alltag und in audiovisuellen Aufzeichnungen des Alltags begegnet; aber sie gilt keineswegs nur für Face-toface-Situationen. Drittens gilt die Definition für jede körperliche, sprachliche und mediale Interaktion sowie für jede Zergliederung eines Geschehens, also auch für jede sprachliche „Kompositionalität“. Egal wie man ein Geschehen zergliedert und welchen ihrer Bestandteile man „Ziele“, „Mittel“ oder „Abläufe“ nennen will, die Definition soll ihren Sinn behalten. Ein Beispiel kann unseren Begriff der Kooperation illustrieren, und zugleich die offenen Fragen der „Kompositionalität“ demonstrieren.3 Transkript 1: Freundinnen auf dem Campus

3

Ebd., S. 155-157.

362 | Christian Meyer /Erhard Schüttpelz

Warum gibt es überhaupt Medien? | 363

Zwei Freundinnen laufen über einen Campus, eine dritte kommt von rechts dazu und begrüßt sie. Die mittlere Frau sucht zuerst körperlichen Kontakt zur neu hinzugekommenen Freundin zur rechten, dann zu ihrer Freundin zur linken, mit der sie zuvor über den Campus gegangen war, bis sie sich schließlich bei der neuangekommenen Freundin unterhakt. Nach einigen Schritten zu dritt verabschiedet sich die linke Frau. Das neue Paar auf der rechten Seite bleibt übrig und läuft weiter. Als gemeinsame Abläufe sind zu beobachten: das soeben Beschriebene, das wir als Begrüßungen und Verabschiedungen „sehen“, also das kooperative Zustandekommen einer Interaktion.4 Die wechselseitig verfertigten gemeinsamen Abläufe lassen sich gut erkennen und im Nachhinein problemlos erzählen. Allerdings handelt es sich in diesem Fall um einen Film ohne Tonspur, daher bleiben nur die visuellen Abläufe und Indizien als Anhaltspunkte unseres Wissens und Unwissens – wie wir ein Geschehen aus der Ferne beobachten können, ohne zu hören, was gesprochen wird. Wir sehen das Zustandekommen von Mitteln und Zielen, von erzählbaren Handlungen und unterstellbaren Motiven, ohne dass wir im fortlaufenden Vollzug des Geschehens Mittel, Ziele und Abläufe auseinanderhalten könnten oder auch müssten. Das in wechselseitiger Verfertigung befindliche Geschehen (die Praxis) konstituiert sich fortlaufend durch die Feingliederung der wechselseitigen Improvisation. Es wird durch die retrospektive Erzählbarkeit nicht in dieser Feingliederung analysiert, sondern nur durch summarische Begriffe – durch ein „Motivvokabular“5 – erfasst: „sie haben sich getroffen, sie haben sich untergehakt, sie haben sich verabschiedet und getrennt“. Während das Merkmal der wechselseitigen Verfertigung in besonders evidentem Maße für sprachliche Interaktion gültig ist, hat das Beispiel oben gezeigt, dass bereits das körperliche Tun, das im Rahmen der Interaktion erfolgt, sich durch wechselseitige Verfertigung auszeichnet. Diesen Punkt möchten wir im Folgenden weiter vertiefen, indem wir die Medialität körperlicher Interaktion genauer betrachten.

III. ZWISCHENLEIBLICHKEIT Hierfür greifen wir auf den Begriff der „Zwischenleiblichkeit“ von Maurice Merleau-Ponty zurück, der die Verschränkung des kinästhetischen Wirkungs-

4

Approaches and Leave-Takings (Film).

5

Mills: Situated Actions and Vocabularies of Motive.

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raums zweier oder mehrerer Körper fasst. „Es ist mein Leib, der den Leib des Anderen wahrnimmt, und er findet in ihm so etwas wie eine wunderbare Fortsetzung seiner eigenen Intentionen, eine vertraute Weise des Umgangs mit der Welt.“6 Daraus entsteht ein „gemeinsames Tun (.), dessen Schöpfer keiner von uns beiden ist. Das ergibt ein Sein zu zweien, unsere Perspektiven gleiten ineinander über, wir koexistieren durch ein und dieselbe Welt hindurch.“7 Sobald wir mit anderen körperlich interagieren, sind wir auch Teil einer in Bezug auf das Ich und Du anonymen Existenz, in der unsere Kooperation in Hinsicht auf Ich-Du zunächst indifferent ist.8 Erst in der retrospektiv erfolgenden Reflexion können Momente der wechselseitigen Verfertigung möglicherweise den beteiligten Individuen zugeordnet werden. In der Zwischenleiblichkeit erfolgt eine Mitgegenwärtigung des leiblichen Anderen als ein Leib, der ist wie ich und den ich in dieser Form am eigenen Leib spüre. Indem ich erfahre, dass mein Leib ein „empfindendes Ding“ ist, dass er reizbar ist – er und nicht nur mein „Bewußtsein“ –, bin ich darauf vorbereitet zu verstehen, dass es andere Animalia und möglicherweise andere Menschen gibt. (...) Wenn mir das Dasein eines Anderen dadurch evident ist, dass ich ihm die Hand drücke, so deshalb, weil sie sich an die Stelle der linken Hand setzt, weil mein Leib sich dem des Anderen durch jene „Art der Reflexion“ einverleibt, deren Sitz er paradoxerweise ist. Meine beiden Hände sind „kompräsent“ oder „koexistent“, weil sie die Hände eines einzigen Leibes sind: Der Andere erscheint durch eine Ausdehnung dieser „Kompräsenz“, er und ich sind wie die Organe einer einzigen Zwischenleiblichkeit (intercorporéité).9

Mit Jaspers formuliert erweitert ego sein kinästhetisches Körperschema in dasjenige alters, während alter sein kinästhetisches Körperschema auf ego erweitert. In phänomenologischer Diktion von uns reformuliert, auch um die Vorordnung der Wechselseitigkeit vor den Gemeinsamkeiten zur Geltung zu bringen: „Das bewegungsempfindliche Wechsel-Wir konstituiert das empfindungsbewegliche Wir-Zusammen.“ Wenn wir die Abläufe der Zwischenleiblichkeit auf unsere obige Kooperationsdefinition beziehen, dann entstehen die Grundgrößen der gemeinsamen Abläufe, Mittel und Ziele insbesondere durch eine besondere Form der Wechselsei-

6

Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 405.

7

Ebd., S. 406.

8

Ebd., S. 405; Scheler: Wesen und Form der Sympathie, S. 284.

9

Merleau-Ponty: Der Philosoph und sein Schatten, S. 245-246.

Warum gibt es überhaupt Medien? | 365

tigkeit, nämlich durch die „Assistierbarkeit“ der wechselseitigen Hilfestellung. Der Raum dieser Assistierbarkeit erstreckt sich variabel in andere Körper hinein und aus den Bewegungen anderer Körper in den eigenen Körper zurück: durch Berührungen, durch abwechselnd ausgeübte physische Wirkungen und bereits durch die wechselseitigen Wirkungen der Aufmerksamkeitssteuerung. Unsere Annahme ist dabei mit Merleau-Ponty, dass auch individuelle „skills“ (Fertigkeiten) letztlich in diesem und für diesen Interaktions-Raum gewonnen werden und nicht etwa aus der Kinästhesie einzelner Körper. Die Lehr- und Lernbarkeit unserer technischen Fertigkeiten beruht auf einem immer möglichen „WechselWir“, das die Gemeinsamkeiten eines „Wir-Zusammen“ hervorbringt, in dessen Rahmen unsere individuellen „skills“ beurteilt werden, so virtuos oder nichtvirtuos sie sein mögen. „Es gibt keine Privattechnik“. Auch diese Form der Zwischenleiblichkeit soll durch ein Beispiel illustriert werden: Transkript 2: Gemeinsam Balancieren

Unser Beispiel ist das gemeinsame Balancieren in der Akrobatik. Hier handelt es sich um eine stabile Zwischenleiblichkeit, bei der sich beide Beteiligte durchgehend auf vor-personale Weise in ihren Ko-Leib hineinleben und eine gemeinsame Wir-Körperlichkeit erzeugen. Interessant ist hier, dass alter von ego komplett als ganzer Leib in dessen propriozeptische Wahrnehmung integriert wird. Die Wahrnehmung der Körperlage und -bewegung im Raum – darunter das Balanceschema, an dem sich die beiden zusammen und jeweils orientieren, – umfasst nicht mehr nur den eigenen Körper, sondern auch den Ko-Körper und damit das gesamte Wir. Beide Körper assistieren sich in der Balance-Findung durch wechselseitige Responsivität bei ständig aufrecht erhaltener Zwischenleiblichkeit. Unser obiger Satz hat vielleicht etwas mysteriös geklungen, aber hier sehen wir ihn „in Aktion“: „Das bewegungsempfindliche Wechsel-Wir konstituiert das empfindungsbewegliche Wir-Zusammen.“ Wir können diesen Satz in diesem Fall genauer ausbuchstabieren: Das wechselseitig sich ständig ausbalancierende Wir muss für die gemeinsamen und jeweiligen Bewegungen empfindlich bleiben und sie fortlaufend empfinden, um das ständig in Bewegung befindliche WirZusammen in seiner wechselseitig empfundenen Beweglichkeit zu steuern. Wechselseitige Hilfestellung, unwillkürliche Korrektur und gemeinsames Han-

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deln fallen zusammen. Zweifelsohne handelt es sich hier um eine virtuose körpertechnische Leistung. Aber die Grundvorgänge dieser virtuosen Leistung sind uns allen im Alltag vertraut, sobald wir körperlich miteinander handeln und interagieren. Ein weniger virtuoses Beispiel wären etwa alle Formen, mit denen wir einander assistieren, um über ein Hindernis zu steigen, von der sogenannten „Räuberleiter“ bis zum „unter die Arme greifen“ oder „auf der Schulter abstützen“. Das zwischenleibliche „Wir“ dieser Vorgänge ist kein prinzipiell anderes als das der beiden Akrobaten.

IV. TURN-TAKING UND REPAIR Wie oben dargestellt, geschieht die Strukturierung gemeinsamer Abläufe durch wechselseitige, temporal-sequenzielle und -inkrementelle Vorgänge, die im letzten Beispiel in einer nach außen nur minimal sichtbaren körperlichen KoResponsivität bestehen. Sehr viel offensichtlicher geschieht die wechselseitige Strukturierung durch abwechselnde „Züge“ – durch abwechselndes „An-derReihe-Sein“, auf Englisch „Turn-Taking“ genannt. Turn-Taking ist zugleich eine körperliche und eine sprachliche Praxis. Im Turn-Taking manifestiert sich die Vorordnung der sequenziellen, d.h. wechselseitigen inkrementellen Verfertigung vor den gemeinsamen Abläufen, aber in Form einer gemeinsamen und einer gemeinsam erwarteten Strukturierung, die projizierbar und antizipierbar ist.10 Analog gilt dies für die Abläufe der wechselseitigen „Korrektur“ sprachlicher Äußerungen, auf Englisch meist „Repair“ genannt. So wünschenswert es für unsere Theoriesprache bleibt, die deutschen Ausdrücke zu diskutieren und zu variieren, so sehr beziehen wir uns im Folgenden auf eine englischsprachige Forschungsliteratur und beugen uns daher dem direkten Zugriff auf das entsprechende Vokabular. Auch die sprachliche wechselseitige Korrigierbarkeit, sprich das „Repair“, unterliegt einer gemeinsam erwartbaren Strukturierung, insbesondere in der (anscheinend universalen) Präferenz für das „Selbst-Repair“ gegenüber dem „Fremd-Repair“.11 Allerdings verweist die Tatsache, dass Selbst-Repair und Fremd-Repair füreinander einstehen können, auf eine Vorordnung der wechselseitig „reparierbaren“ Sprache vor dem Selbst-Repair. Dies bestätigt auch auf der

10 Sacks/Schegloff/Jefferson: A Simplest Systematics for the Organization of TurnTaking for Conversation; Streeck: On Projection. 11 Schegloff/Jefferson/Sacks: The Preference for Self-Correction in the Organization of Repair in Conversation.

Warum gibt es überhaupt Medien? | 367

Ebene der Wechselseitigkeit Wittgensteins Auffassung, dass es keine „Privatsprache“ gebe. Im Folgenden soll die wechselseitige Strukturierung der Interaktion durch „Turn-Taking“ erst einmal – erneut – anhand einer nicht-sprachlichen Tätigkeit illustriert werden. Unser Beispiel ist das Zweihandsägen, das seit der Antike ein gerne verwendetes Exempel für das Phänomen der Wechselseitigkeit von Interaktion war, also für die Tradition theoretischer Formulierungen, die wir durch die Auswertung audiovisueller Aufzeichnungen überprüfen können. In der Antike beschreibt Hippokrates (460-370 v. Chr.), wie Zimmerleute Holz sägen: Der eine zieht, der andere stößt: beide bringen dieselbe Wirkung hervor. Während sie auf der einen Seite nach unten drücken, geht die Säge auf der andern Seite in die Höhe. Denn sie würde nicht gestatten, dem Tempo zuwider nach unten zu gehen, und wenn man Gewalt anwenden wollte, wird man die Sache ganz verfehlen.12

Hans-Georg Gadamer zitiert die obige Stelle aus Hippokrates’ Diätetik13 und verweist insbesondere auf die Verschmelzung der Bewegungen beider: Wie der eine zieht, so folgt der andere, und das vollendete Führen der Säge bildet einen Gestaltkreis (Weizsäcker), in dem sich die Bewegungen der beiden Sägenden zu einem einheitlichen rhythmischen Fluss der Bewegung verschmelzen. Da steht der bezeichnende Satz, der das Wunderbare solcher Erfahrung von Gleichgewicht andeutet: „Wenn sie aber Gewalt anwenden, dann werden sie es ganz verfehlen.“

Unter dem Einfluss Gadamers haben die Physiologen Paul Christian und Renate Haas das zweigriffige Sägen unter dem Obertitel „Wesen und Form der Bipersonalität“ erstmals experimentell untersucht.14 Sie kommen zu dem Ergebnis, dass beim gemeinsamen Vollzug des Sägens vier Aspekte eine Rolle spielen, durch die das „Wunderbare“ Gadamers in seinen technischen und personalen Bedingungen genauer reformuliert werden kann:15

12 Diels: Herakleitos aus Ephesos, S. 59. 13 Gadamer: Apologie der Heilkunst, S. 272, referenziert fälschlicherweise auf Gomperz: Die Apologie der Heilkunst; die Stelle findet sich jedoch in Diels: op cit.. 14 Christian/Haas: Wesen und Form der Bipersonalität. 15 Dornberg: Die zweigriffige Baumsäge, S. 240-241.

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1. ‚Gegenseitigkeit‘: Beide Partner überlassen ihr Tun dem anderen nicht allein zu dessen Aneignung, sondern handeln jeweils in der Voraussicht auf Gemeinsamkeit und Gegenseitigkeit. „Keiner entzieht sich der Rückbindung zum anderen, sondern ermöglicht diese Rückbindung seinerseits.“16 Das Verhalten der Sägenden war immer derart geformt, dass das Tun des einen Partners vom anderen Partner aufgenommen, erwidert und unterstützt werden kann. Dazu gehören auch Vorgriffe, Überschneidungen und Ergänzungen. 2. ‚Gegenseitiger Ausgleich – fehlende Autonomie‘: Die jeweiligen Beteiligten glichen Schwankungen der angewandten Arbeitskräfte im Sägevorgang gegenseitig aus, ohne dass die Beteiligten dies merkten bzw. merken mussten. Die Größe der Beteiligung schwankte objektiv erheblich, die Unterschiede wurden jedoch vom Gegenüber vollkommen ausgeglichen. Lediglich, wenn einer der Partner die Arbeit völlig oder fast völlig einstellte, war dieser gegenseitige Ausgleich nicht mehr möglich. 3. ‚Entstehung eines neuen Ganzen und Selbstverborgenheit der Partner voreinander‘: Im Vollzug der gemeinsamen Zusammenarbeit entstand ein neues Ganzes, der Eigenanteil der jeweiligen Partner verschwand gewissermaßen voreinander. „Keiner kann den Gegenspieler vom eigenen Selbst trennen, jeder ist ein Glied eines Arbeitsganzen, dessen Rolle er spielt. Objektiv führt zwar einer, aber er weiß und merkt es nicht; objektiv ist einer der Geführte, und auch dann hält er das gegnerische Tun unbewusst für eigenes Tun.“17 Gemeinsamkeit und Gegenseitigkeit seien „selbstverborgen“, d.h.: „Gerade dann, wenn beide Beteiligte sich auf dem Höhepunkt einer gekonnten Zusammenarbeit maximal selbständig erleben, zeigt die Analyse, dass beide objektiv in strenger Gegenseitigkeit der Abläufe verbunden sind.“18 4. ‚Verbundenheit von Freiheit und Determination von Anfang an‘: Die Partner realisieren ein Maximum an Freiheit gerade auf ihre Bezugnahme auf feste Determinanten: den anderen, den Prozess und das Ziel. Diese gegenseitige Abhängigkeit ermöglicht zugleich „gegenseitige Freiheit.“19

Für unsere Argumentation ist insbesondere der dritte Punkt der Selbstverborgenheit der Partner voreinander von Bedeutung: Im Prozess der wechselseitigen Verfertigung kann keiner den Kooperationspartner vom eigenen Selbst trennen, beide sind Glieder eines Arbeitsganzen. Auch Gemeinsamkeit und Gegenseitigkeit sind dabei (in diesem Sinne) selbstverborgen. Gerade wenn beide Beteiligte sich maximal selbständig erleben, sind sie tatsächlich durch die Wechselseitigkeit der Abläufe verbunden. Diese Einsicht hat – wie bereits das Eingangsbei-

16 Christian: Das Personenverständnis im modernen medizinischen Denken, S. 154. 17 Ebd, S. 155. 18 Ebd. 19 Ebd.

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spiel der Übergängigkeit von Zielen, Mitteln und Abläufen demonstrierte – Konsequenzen für das theoretische Vokabular. So sehr wir in theoretischer Hinsicht u.U. Gemeinsamkeit und Gegenseitigkeit, „individuelle Anteile“ und „gemeinsame Abläufe“, selbständiges Ich und wechselseitiges Wir auseinanderhalten wollen, so sehr haben wir es im Alltag bei gemeinsamen Tätigkeiten mit Abläufen zu tun, die unterhalb dieser Unterscheidungen wirksam werden oder diese Unterscheidungen unterlaufen. Es kann sogar sein, dass das „maximale selbständige Erleben“ einer individuellen Handlung vor allem dadurch erlernt wird, dass eine „strenge Gegenseitigkeit“ der Abläufe gewährleistet werden kann. Wenn diese gegenseitige Konstitution im Fall des Zweihandsägens gilt, deutet dieser Umstand möglicherweise auf einen systematischen Zusammenhang zwischen dem Erlernen individueller „Handlungen“ und der Strukturierung des „turn-taking“. Ist die Konstitution des Zweihandsägens eine Ausnahme oder die Regel? Schauen wir uns im Folgenden das Zweihandsägen anhand eines in einer Bilderfolge dargestellten empirischen Beispiels noch einmal genauer an.20 Transkript 3: Zweihandsägen

Die Ausführung der Arbeit beim Zweihandsägen erfolgt arbeitsteilig: In situiert ausgestaltetem Rhythmus wechseln Zug und Druck ab, so dass einmal Partner A dem Partner B die Sägestange mit seinem Zug gewissermaßen „aus der Hand nimmt“; das andere Mal zieht umgekehrt voreilend Partner B und A hilft durch Druck nach. Der Zug ist in der Regel kräftiger als der Druck und setzt zeitlich früher ein. Die Bewegung des einen verwirklicht sich in der Bewegung des anderen und umgekehrt. Die beiden Körper A und B stehen sich gegenüber. Der zu zersägende Ast, der auf einem Gestell liegt, bildet die relationale Mitte zwischen beiden Körpern. Beide Körper erweitern während des Tuns ihr Körperschema in die Säge, die das Medium der in der Wir-Beziehung erfolgenden wechselseitigen unmittelbaren Arbeit bildet, sowie beim jeweiligen Zug auch in den Arm ihres Gegenübers hinein. 20 Beispiel und Analyse stammen aus Meyer/Meier zu Verl/von Wedelstaedt: Zwischenleiblichkeit und Interkinästhetik, S. 321-323.

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Ego erweitert sein Körperschema auf alter, während alter das seine auf ego erweitert. Dies erfolgt jedoch in wechselnden Rollen: Beide sind abwechselnd Handlungssubjekt und aktives Objekt der Handlung, indem sie abwechselnd führen und gewissermaßen Besitz ergreifen von der Säge und dem diese greifenden Arm des anderen und dann wieder ihren eigenen Arm vom Partner führen lassen und dessen Bewegung dabei aktiv assistieren. Immer wieder auftretende Störungen und Blockiertheiten werden sofort in wechselseitiger Verfertigung und ko-responsiv behoben. „Wenn wir zu zweit einen Stamm zersägen z.B., kann es mir gleich sein, ‚was er sich dabei denkt‘, solange er eben nur im Rhythmus der Zusammenarbeit bleibt“21, aber wenn die eigenen Bewegungen dem Bewegungsrhythmus des anderen nicht sehr genau angepasst werden, dann bleibt die Säge stecken.22 Es gibt daher (mindestens) zwei verschiedene Erfahrungsmodi der eigenen Handlungsweise, die im körperlichen Turn-Taking entstehen: im Fall der NichtAnpassung der eigenen oder der fremden Bewegungen an den gemeinsamen Ablauf, und im Vollzug der übereinstimmenden Rhythmen. Der erste Modus ist negativ, aber nicht nur, denn bei Beendigung oder Unterbrechung des Sägens kann er (und muss er) durchaus von beiden oder von einem der Partner gewollt sein. Der zweite Modus entspricht der oben zitierten Feststellung: „Gerade dann, wenn beide Beteiligte sich auf dem Höhepunkt einer gekonnten Zusammenarbeit maximal selbständig erleben, zeigt die Analyse, dass beide objektiv in strenger Gegenseitigkeit der Abläufe verbunden sind.“23 Die Erfahrung des handelnden „Ich“ wird sich bei gemeinsamen körperlichen Abläufen zwischen diesen beiden Polen abspielen; dasselbe gilt für die entstehenden individuellen und gemeinsamen Handlungen. Anders gesagt: Was selbständige und gemeinsame Handlungen in wechselseitigen Abläufen zu selbständigen und gemeinsamen Handlungen macht, wird auf diese Weise lehr- und lernbar. Was Handlungen zu Handlungen macht, wird durch z.T. entgegengesetzte Modi des „turn-taking“ erlernt.

21 Schütz/Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, S. 105. 22 Luckmann: Theorie des sozialen Handelns, S. 133-134. 23 Christian: Das Personenverständnis im modernen medizinischen Denken, S. 155.

Warum gibt es überhaupt Medien? | 371

V.

REPAIR UND ASSISTIERBARKEIT

Die Möglichkeiten des „Turn-Taking“ und des „Repair“ bilden einen Ausschnitt innerhalb eines umfassenderen Bereichs der Kooperation: dem der wechselseitigen körperlichen und sprachlichen Hilfestellung, der „Assistierbarkeit“. Assistierbarkeit wird durch die Projizierbarkeit von Praktiken erleichtert, deren Sequenzialität vorausgewusst oder auch nur vorausgeahnt werden kann. Aber jede konkrete Hilfestellung bei der wechselseitigen Verfertigung gemeinsamer Ziele und Abläufe hat auch damit zu kämpfen, dass die Mittel der Interaktion zur Sicherstellung der Sequentialität erst noch Schritt für Schritt verfertigt werden müssen. Auch die routinierteste Umsetzung einer gemeinsamen Planung muss noch improvisiert werden, und bleibt, sobald sie ins Stocken gerät, auf nichtgeplante Hilfestellungen angewiesen. In besonders schweren Fällen können Grundprinzipien der Assistierbarkeit besonders deutlich oder forciert werden, etwa die Maxime, ohne die jede Arbeitsgruppe oder jede kollektive Aufgabenbewältigung zusammenbrechen würde: „jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“. Diese Maxime gilt insbesondere für die Hilfestellung selbst: wenn gemeinsame Aufgaben zu bewältigen sind, dann solle jeder im gemeinsamen Ablauf nach seinen Fähigkeiten helfen und jedem solle entsprechend seiner Hilfebedürftigkeit geholfen werden. Allerdings wird diese Maxime nicht als ‚Kategorischer Imperativ‘, sondern im Rahmen der jeweiligen praktischen Umstände (Zeitnot, Kenntnisstand, bisheriger Verlauf, räumliche Position) wirksam. Die Assistierbarkeit eines Geschehens adressiert vor allem die in der Nähe Befindlichen, die Teilnehmer am bisherigen Ablauf, diejenigen, die besser im Bilde oder gerade erreichbar sind, und nach ähnlichen praktischen Gründen. Die praktische Begrenzung der Assistierbarkeit führt dazu, dass sie sich zwar spezialisieren lässt, aber in der gemeinsamen Bewältigung eines Geschehens zugleich als die „bestverteilte Sache der Welt“ auftritt: es lässt sich nicht vorhersagen, von wem oder von wo die nächste Hilfestellung und Hilfebedürftigkeit ausgehen wird. Die Reparierbarkeit richtet sich stets auf die (inkrementelle) „Kompositionalität“ eines Geschehens. Nur das Reparierbare kann auch kompositional sein. Selbst in Situationen, in denen einer der Interaktionspartner aphasisch ist, kann diese Assistierbarkeit sicherstellen, dass er als kompetenter Gesprächspartner erfolgreich an Interaktionen teilnehmen kann. Charles Goodwin hat dies in zahlreichen Texten herausgearbeitet. Hier soll ein kleines Beispiel genügen.24 Chil, der aufgrund eines Schlaganfalls nur noch „Ja“, „Nein“ und „Di“ sagen kann,

24 Das Beispiel stammt aus Goodwin: Interactive Footing, S. 35-38.

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lenkt über seine Gesten Candy, die seinen Beiträgen ihre Stimme leiht. Auf ihre Äußerung, dass es bei Chil in diesem Jahr nicht viel geschneit habe (Z.1), im letzten Jahr jedoch schon (Z.10), korrigiert sie Chil durch ein „°yeah- No No. No:.“, das er mit einer Geste seiner linken Hand spezifiziert. In dieser Geste vollzieht er eine Schrittbewegung, indem er mit seiner Hand einen Halbkreis von einer Stelle zur anderen ausführt. Transkript 4: Die kooperative Verfertigung eines Redezugs

Trotz seines stark reduzierten Sprachvermögens ist Chil in der Lage, einen Redezug in der Konversation zu leisten, der sowohl komplex als auch präzise ist: Im Gegensatz zu dem, was Candy ursprünglich in Zeile 10 vorgeschlagen hat, war es nicht „letztes Jahr“, sondern „vorletztes Jahr“, als viel Schnee war. Chils Jas und Neins haben eine so starke indexikalische Komponente, dass sie es ihm erlauben, sie als Ressource für die detaillierte Strukturierung von Candys Äußerung zu verwenden und seine gestisch explizierten Korrekturen in diese zu integrieren. So ist in Z. 13 zu hören, wie er genau dem, was Chuck in Z. 12 gesagt hat, widerspricht und dem, was Candy in Z. 14 sagt, zustimmt. Sprachliche Interaktion erweist sich auf diese Weise als ein sich dynamisch entfaltender Prozess der wechselseitigen Verfertigung. Aus dieser Situation können Schlussfolgerungen in einer schwachen und einer starken Version gezogen werden. Die schwache Version besagt, dass natürlichsprachige „Grammatikalität“ und Kompositionalität an demonstrierbare Korrigierbarkeiten und „Repairs“ gebunden sind und ohne wechselseitige Korrigierbarkeit keine „Regeln“ existieren können. Die starke Version der Schlussfolgerung geht einen Schritt weiter und besagt, dass die natürlichsprachige „Grammatikalität“ nichts als eine (sprachlich thematisierbare) Manifestation der wechselseitigen Korrigierbarkeit sprachlicher Praktiken und der wechselseitigen Hilfestellung von Praktiken überhaupt

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sei. Nur was von fremder Seite und durch die Prozesse wechselseitiger Hilfestellungen zu korrigieren ist, kann als grammatische „Regel“ wirksam werden.

VI. SPRACHE UND INTERAKTION Das Beispiel der Konversation mit einem Aphasiker zeigt zugleich, dass sprachliche Interaktion, sprachlich gesteuerte Interaktion und sprachlich besprochene Interaktion nur nominell auseinanderzuhalten sind. Sprache und Interaktion sind nur nominell unterscheidbar. Die fortlaufende Interaktion ist der privilegierte Gegenstand einer sie besprechenden Unterhaltung; und diese Unterhaltung wird selbst zum Gegenstand einer sie besprechenden Interaktion. Jede sprachlich gestaltete oder auch nur mitgestaltete Interaktion entwickelt dementsprechend ein doppeltes „Gegenständlichwerden“, eine fortlaufende doppelte „Gegenständlichkeit“ der Sprache: Zum einen die Übergängigkeit zwischen Sprache und sprachbezogener Welt insbesondere durch Zeigegesten, durch Deixis, durch „environmentally coupled gestures.“25 Zum anderen durch die fortlaufende Rückbezüglichkeit und Reinterpretation der verhandelten sprachlichen Größen, d.h. die Übergängigkeit zwischen Sprache und Sprachbesprechung. Und diese doppelte „Gegenständlichkeit“ bewirkt zugleich, dass auch die materielle und sinnliche Interaktion mit der sprachbezogenen Welt und die Prozesse der Sprachbesprechung ständig ineinander übergehen, etwa durch die Veranschaulichungen eines demonstrierenden „So“ („genau so sah das aus“, „ungefähr so wie hier war die Farbe“, „das klang ungefähr so wie das hier“, „solche Dinge nennt man F, aber nur wenn G“, usw.). Die Interaktion mit Personen und Gegenständen und die Vorgänge der Sprachbesprechung gehen im Alltag auf unproblematische Weise in einander über, was nicht bedeutet, dass sie keine Herausforderung bedeuten, und vielleicht sogar alles enthalten, was das Leben und insbesondere das Lernen schwierig macht. Ein Beispiel für diese allgemeine, unproblematische Übergängigkeit zwischen Tun und Besprechen ist das folgende, das aus einer Cello-Unterrichtsstunde stammt.26 Die Schülerin lernt, Stakkato zu spielen, und sowohl Lehrer (T) als auch Schülerin (P) wechseln permanent zwischen Erklärung, Besprechen des Spiels, Zeigen des Spiels, Veranschaulichungen durch Gesten und spielender Kommentierung.

25 Goodwin: Environmentally coupled gestures. 26 Die Aufnahme stammt von Evert Bisschop Boele, dem wir herzlich danken, und wurde von uns analysiert.

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Transkript 5: Sprechen und Spielen im Cello-Unterricht 01

T

02 03

ok in the rococo you are (a’ kik a’ eh la’ e’ a’ a’ (singt))

P

m

((...)) 04

T

05

oh oh oh oh first what is the problem do you [know

what

06

P

07

T

[the the the

08

P

the the the sound of staccato

09

T

ok

10

P

which which is a bit too ((schnippt 2x mit dem Finger))=

11

T

=ok

the staccato

12

show me one staccato

13

play on d-string [a once

14

[♫♫♫♫ ♪♪ ♪♪ ♫♫♫

P

15

[ya?

16

T

[(sounds so?)

17

P

♫♫♫ ♫♫♫ ♫♫♫ so ♫♫♫ ♫♫♫ ♪♪ [♫♫♫ ♫♫♫ ♪♪ [♫♫♫ ♫♫♫ ♫♫♫ ♪♪

18

T

19 20 21

[ya

[it’s once is

how how do you do the staccato ha how can we do staccato P

don’t worry we can uhm ♫♫♫ ♫♫♫ ♫♫♫

22 23

T

ok

24

P

this with pressure or

25

T

eh m (.) so you can do staccato ♪ ♪ ♪ ♪ ♪ like that

26

P

like

27

T

no no no

28

ah [ok

29

P

30

T

and ♫♫♫ or do you know the the ♪♪ ♪♪ ♪♪ ♪♪ ♪♪ ♪♪ ♪♪ ♪♪ [♪♪

31 32

[he

[♪♪ ♪♪ ♪♪ ♪♪

P [♪♪ ♪♪

33 34

T

[es ♪♪ ♪♪ ♪ ♪ ♪ ♪ ♪ ♪ ♪ ♪♪ ♪♪ ♪♪ ♪ ♪ ♪ ♪ ♪ ♪ ♪

35

P

mm

36

[♪ ♪♪ ♪♪ ♪♪ ♪ ♪ ♪ ♪ ♪ ♪ ♪ ♪

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37

T

[it’s ee s if you want to have a very sharp ee i don i don’t leave it ♪♪ ♪♪ ♪ ♪ ♪ ♪ ♪ ♪ ♪ i don’t leave

38 39

because this is scratching sound

40

P

yea

41

T

to have this light easy staccato you have to think in the hand

42

just to do a [(

43

P

44

T

45

) to do that

[mm m it’s it’s like you hold your bow like that (.)

T

and you do ♪♪ ♪♪ ♪♪ ♪♪ ♪♪ ♪♪ ♪♪ ♪♪ ♪♪

48

P

♪♪-♪♪ ♪♪-♪♪ ♪♪-♪♪ ♪♪-♪♪ ♪♪-♪♪ ♪♪-♪♪ ♪♪-♪♪ [♪♪-♪♪

49

T

46 47

you do up down up down up down up down

[♪♪-♪♪ ♪♪-♪♪ ♪♪-♪♪ ♪♪-♪♪ ♪♪-♪♪ ♪♪-♪♪ ♪♪-♪♪ ♪♪-♪♪ ♪ ♪ ♪ ♪ ♪ ♪ ♪ ♪ no n- no [no pressure no pressure no pressure no pressure

50 51

P

52

T

53

P

54

T

55

P

[♪ ♪♪-♪♪ ♪♪-♪♪ ♪♪-♪♪ ♪♪-♪♪ ♪♪-♪♪ ♪♪-♪♪ ♪♪-♪♪ ♪♪-♪♪

.

like [you eh do some salt [♪♪ ♪ mm you [have salt and you put some salt in the in the soup [♪♪-♪♪ ♪♪-♪♪ ♪

((...)) 56

just do that ha

57 58

(.) T

59

so you have (.) salt in your hand you do that ha do do that do that na

60

P

mm

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Erklärung und Besprechung des Stakkato-Spielens, das Zeigen und Demonstrieren des Spiels, die Veranschaulichungen durch Gesten und ihre spielende Kommentierung gehen ineinander über. Aber auch das, was sprachlich über das Spielen gesagt werden kann, wird zum Gegenstand der Besprechung, und zum Gegenstand dessen, was durch das Spielen selbst demonstriert werden kann. Nur durch diesen ständigen Wechsel wird ein elementarer Lernprozess möglich, der in diesem Fall auf ein weiteres Hilfsmittel zurückgreift, man könnte sagen: auf eine „metaphorische“ Übertragung von einer bereits bekannten und ausgeübten Tätigkeit auf eine andere, bis dahin undurchschaubar und unpraktizierbar gebliebene. Der Lehrer veranschaulicht das richtige Stakkato durch den Vergleich mit der Gebärde, mit der man ein Essen „kräftig salzt“, und das heißt, ein in der Hand gehaltenes Salzfässchen kräftig und gezielt und rhythmisch schwingend ausleert. Erst die hiermit aufgerufene kontrollierte „Heftigkeit“ der Gebärde macht der Schülerin deutlich, welcher kinästhetische Vorgang gemeint sein könnte, und damit auch, wie der Klang zustande kommen kann, den sie bis dahin vergeblich aufzurufen sich bemühte. Die Metapher dieses „so“, die selbst mehrere inkrementelle „Sos“ zusammenbindet – „so wie beim Salzen“, „so wie von mir hier vorgemacht“, „so wie die Taktilität eines solchen Vorgangs, den Du schon kennst“ – bleibt eine Metapher, denn ein Cellobogen ist kein Salzfässchen, und das Cello kein zu salzendes Essen. Wie im Falle der Akrobaten haben wir es hier zwar mit einer virtuosen Geschicklichkeit zu tun, aber zugleich mit ganz alltäglichen Fähigkeiten, durch die sie lehrbar und lernbar werden. Unsere Auffassung der „doppelten Gegenständlichkeit“ und ihrer fortlaufenden Übergängigkeit zwischen Sprache, Gegenstand und Sprachbesprechung besagt nichts anderes, als dass wir im alltäglichen sprachlichen Umgang genauso handeln, nämlich „genau so“.

VII. SPRACHE ALS IHR EIGENES MEDIUM Jede Sprachbesprechung macht Sprache zu ihrem eigenen Gegenstand, und damit zu ihrem eigenen Medium. Die Verfahren einer solchen sprachlichen Gegenstandskonstitution sind das Zitieren und das Kommentieren, und ihnen entspricht die Strukturierung aller sprachlichen Äußerungen durch Zitierbarkeit und Kommentierbarkeit. Zitierbarkeit und Explizierbarkeit treten dabei nicht zur laufenden Äußerung hinzu, sondern sind Eigenschaften des laufenden Vollzugs selbst: In der Interaktion werden alle Äußerungen fortlaufend und wechselseitig zitierbar und explizierbar gemacht und gehalten.

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Der Locus Classicus zur Zitierbarkeit ist V.N. Volosinovs Formulierung: „Die ‚fremde Rede‘, das ist die Rede in der Rede, die Äußerung in der Äußerung, doch gleichzeitig ist es auch die Rede von der Rede, die Äußerung über die Äußerung.“27 Jede Äußerung muss damit rechnen, durch ihre Zitierbarkeit auch kommentierbar, Gegenstand eines möglichen Kommentars zu werden. Umgekehrt beruht das Kommentieren einer fremden oder eigenen Äußerung darauf, dass sie anderen als zitierfähige Sequenz zur Verfügung gestellt wird. Alle unsere Äußerungen werden fortlaufend daraufhin eingerichtet, von späteren Äußerungen und teilnehmenden, aber auch von außenstehenden Positionen aus kommentiert zu werden. Die von Volosinov gekennzeichnete Einheit der zitierenden ‚Rede in der Rede‘ und ihrer ‚Rede über die Rede‘ kennzeichnet die gesamte sprachliche Artikulationsarbeit. Die fortlaufende Vorbereitung der sprachlichen Kommentierbarkeit lässt sich mit Harold Garfinkel auch als „Accountability“ benennen. Sein Diktum gilt für Sprache und Interaktion gleichermaßen: „the activities whereby members produce and manage settings of organized everyday affairs are identical with members’ procedures for making those settings account-able.“28 Eine grobe Übersetzung wäre etwa die folgende: „Die Tätigkeiten, durch die Teilnehmer die szenischen Arrangements ihrer Alltagsbeschäftigungen hervorbringen und bewältigen, sind nichts anderes als die Verfahren, mit denen sie diese szenischen Arrangements darstellbar machen.“ Allerdings birgt das Wort der „accountability“ bei Garfinkel noch einige Facetten, die mit dem schlichten Wort der „Darstellbarkeit“ nur angedeutet werden können: die Tätigkeiten, mit denen wir unsere szenischen Arrangements („settings“) hervorbringen und zugleich darstellbar machen, lassen sie auch „berichtbar“ werden („account-able“), sie lassen sie „rechenschaftsfähig“ werden („accountable“), und sie machen sie und uns „zurechnungsfähig“ („accountable“). Worauf es uns an dieser Stelle ankommt, ist der Zusammenhang zwischen Kommentierbarkeit und Zitierbarkeit, Darstellbarkeit und Berichtbarkeit, der in sprachlichen Äußerungen vorliegt und sich in ständig vollzogener Vorbereitung befindet. Er betrifft nicht nur die Verbalsprache, sondern die gesamte sprachliche „Verhaltensweise“ (wie man in Ermangelung eines besseren Wortes sagen könnte) jeder Interaktion. Ein letztes Beispiel soll diese Verbindung zwischen Zitierbarkeit und Kommentierbarkeit (im Sinne Volosinovs) und Darstellbarkeit und Berichtbarkeit (im Sinne Garfinkels) illustrieren, und zwar aus dem Bereich von Aussagen bzw.

27 Volosinov: Marxismus und Sprachphilosophie, S. 178; unsere Hervorhebung. 28 Garfinkel: Studies in Ethnomethodology, S. 1.

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Zeugenaussagen in polizeilichen Befragungen.29 Es zeigt die Befragung von George Zimmerman, einem Nachbarschaftswächter, der kurz zuvor den minderjährigen Trayvon Martin bei einem Gerangel erschossen hat. Zimmerman schildert die Situation, bei der es zu dem tödlichen Schuss kam. Transkript 6: Reinszenierungen in einer Polizeibefragung 01

Zimmerman

°°h when i: (.) SHIFTed (1.0) my jacket came up and my shirt came up and exposed my firearm;

02

°h and that’s when (-) he said- he- (.) like set up and looked and said °h you gonna DIE tonight motherfucker,

03

and i felt him take one hand off my mouth and slide it down my CHEST,

04

°h (--) and i just (.) PINched his arm;

05

and i grab MY gun.

29 Das Beispiel stammt aus Meier zu Verl: (Re)Konstruktionen des Tathergangs, S. 304305.

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06

and i (--) AIMED at him; (.)

07

and fired one SHOT,

Zimmerman kommentiert seine eigene Schilderung durch ständige Reinszenierungen der Situation, wobei er sowohl seinen eigenen Körper bzw. dessen Aktivitäten reinszeniert als auch den Körper des Opfers und dessen Aktivitäten. Dabei verhandelt er permanent die Zitierbarkeit, Explizierbarkeit und Kommentierbarkeit der einzelnen Komponenten seiner Aussage. Durch die Demonstration dessen, „was geschehen ist“ oder „verantwortlich und rechenschaftsfähig geschehen sein konnte“, macht er nicht nur das eigene, sondern auch das frühere Geschehen kommentierbar, er macht aber auch seine eigenen Darbietungen zitierbar, und versucht zu beweisen, dass er sich auf „berichtbare“, „rechenschaftsfähige“ und „zurechnungsfähige“ Weise verhalten hat. Dieses Beispiel mag – wie auch einige der bisherigen Beispiele – als Virtuosenübung erscheinen. Auch in diesem Fall insistieren wir darauf, dass die Virtuosität der Darbietung nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass es sich ganz alltägliche Fähigkeiten und Leistungen handelt, die wir in dieser kondensierten Form wiedererkennen können. Zusammengefasst: Jede sprachliche und interaktionale „Verhaltensform“ kann durch ihre Demonstration – durch ein demonstratives „So“ – auch als ihr eigenes Medium dienen. Inwiefern gilt diese Eigenschaft auch für alle (anderen) Medien? Inwiefern sind alle Medien auch „ihr eigenes Medium“? Die Antwort lautet: dadurch, dass alle Medien an sprachliche Interaktion gebunden bleiben, werden sie auch „ihr eigenes Medium“. Dies kann jedoch auf unzählbar verschiedene Weisen gesche-

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hen, wie Garfinkel in einem weiteren Diktum ausgeführt hat, das bis jetzt leider nur ausschnittweise (als Zitat) vorliegt: The reflexivity of descriptions is a collecting gloss for the innumerable ways in which descriptions can be part of what they describe: the reflexivity of questions is a collecting gloss for the innumerable ways in which questions can be part of what they question. And so on for stories, quantities, lists, instructions, maps, photographs and the rest.30

Wenn man den letzten Satz durch den ersten Satz weiter ausbuchstabiert, heißt dies unter anderem: • „The reflexivity of stories consists in the ways in which stories can be part of

what they tell.“ • „The reflexivity of quantities consists in the ways in which quantities can be • • • •

part of what they quantify.“ „The reflexivity of lists consists in the ways in which lists can be part of what they list.“ „The reflexivity of instructions consists in (‚is a collecting gloss for‘) the ways in which instructions can be part of what they instruct.“ „The reflexivity of maps is in the ways in which maps can be part of what they map.“ „The reflexivity of photographs is in the ways in which photographs can be part of what they photograph.“

Unser Vorschlag zu einer Explikation dieser Sätze besteht darin, sie ganz konkret auf die Abläufe der aufgerufenen Praktiken zu beziehen, z.B. auf das Photographieren: „Die Reflexivität der Photographien besteht aus allen Arten und Weisen, in denen Photographien ein Teil dessen sein können, was sie photographieren.“ Diese „Arten und Weisen“ schließen alles ein, was beim Photographieren des Photographierten geschieht, z.B. in der Porträtphotographie: das szenische Arrangement, die Anlässe, die Präparation, das Posieren, das Vormachen des richtigen Posierens, das Stillhalten, das Platzanweisen, die Korrekturen, die Überprüfungen, das Fotoalbum und alle sie betreffenden Tätigkeiten. Die „Eigenmedialität“ der Photographie läge weiterhin durchaus, wie von der klassischen Medientheorie postuliert, in der Rückwirkung des Mediums auf seinen Gegenstand und in der Botschaft des Mediums selbst und nicht in den

30 Garfinkel zitiert in Czyzewski: Reflexivity of Actors versus Reflexivity of Accounts, S. 163.

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einzelnen Botschaften, aber sie läge auf vor allem in der „Darstellbarkeit“ des Photographierens, in „allen Arten und Weisen, in denen Photographien ein Teil dessen sein können, was sie photographieren“. Die sprachliche Kommentierbarkeit und demonstrierende Zitierbarkeit der Tätigkeiten bleiben im Zentrum dieser Reflexivität „des Mediums für sich selbst“.

VIII. FAZIT Nach dieser Darstellung und Diskussion mehrerer Aspekte der Medialität in sprachlicher Interaktion sind wir nun in der Lage, die Frage zu beantworten, warum es überhaupt Medien gibt und nicht vielmehr nicht. Die Antwort lautet, dass Sprache erstens durch ihre zwischenleibliche Konstitution die beteiligten Körper zu wechselseitigen Medien macht, zweitens durch ihre wechselseitige Assistierbarkeit jede Äußerung zu einem möglichen kooperativen Betätigungsfeld für andere und auf diese Weise Sprache zum Medium für alle praktischen Tätigkeiten macht, und drittens durch ihre doppelte Gegenständlichkeit die Sprache ihr eigenes Medium werden lässt, und mit dieser doppelten Gegenständlichkeit jedes weitere Medium ebenfalls. Die Einsicht in diese Konstitutionsbedingungen ist weiterhin ungeläufig, aber, wie wir zu zeigen versucht haben, durch fünfzig Jahre Ethnomethodologie und Konversationsanalyse erleichtert worden – wenn man bereit ist, Sequenzanalysen mit theoretischen Formulierungen zu konfrontieren. Weil Sprache nicht existieren kann, ohne sich zwischenleiblich zu konstituieren und ihr eigenes Medium zu werden, sind Medien.

LITERATUR Christian, Paul: Das Personenverständnis im modernen medizinischen Denken, Tübingen 1952. — /Renate Haas: Wesen und Formen der Bipersonalität. Grundlagen für eine medizinische Soziologie, Stuttgart 1949. Czyzewski, Marek: Reflexivity of Actors versus Reflexivity of Accounts, in: Theory, Culture & Society 11 (1994), S. 161-168. Diels, Hermann: Herakleitos aus Ephesos, Berlin 21909. Dornberg, Martin: Die zweigriffige Baumsäge. Überlegungen zu Zwischenleiblichkeit, Umweltbezogenheit und Überpersonalität, in: Th. Breyer (Hg.): Grenzen der Empathie. Philosophische, psychologische und anthropologische Perspektiven, München 2013, S. 239-259.

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Gadamer, Hans-Georg: Apologie der Heilkunst (1965), in: ders., Neuere Philosophie II. Probleme, Gestalten, Tübingen 1989, S. 267-275. Garfinkel, Harold: Studies in Ethnomethodology, Englewood Cliffs 1967. Gomperz, Theodor: Die Apologie der Heilkunst. Eine griechische Sophistenrede des fünften vorchristlichen Jahrhunderts. Sitzungsberichte der Kais. Akademie der Wissenschaften in Wien. Philosophisch-Historische Classe. Band CXX, Wien 1890. Goodwin, Charles. Interactive Footing, in: E. Holt/R. Clift (Hg.): Reporting Talk: Reported Speech in Interaction, Cambridge 2002, S. 16-46. — Environmentally coupled gestures, in: S. D. Duncan/J. Cassell/E. Levy (Hg.), Gesture and the Dynamic Dimension of Language: Essays in honor of David McNeill. Amsterdam 2007, S. 195-212. Luckmann, Thomas: Theorie des sozialen Handelns, Berlin 1992. Meier zu Verl, Christian: (Re)Konstruktionen des Tathergangs. Reenactments als epistemische Körperpraktiken der Strafverfolgung und -verhandlung, in: A. Dreschke et al. (Hg.), Reenactments. Medienpraktiken zwischen Wiederholung und kreativer Aneignung, Bielefeld 2016, S. 297-326. Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966. — Der Philosoph und sein Schatten, in: ders.: Zeichen, Hamburg 2007, S. 233264. Meyer, Christian/Meier zu Verl, Christian/von Wedelstaedt, Ulrich: Zwischenleiblichkeit und Interkinästhetik. Dimensionen körperlicher Kopräsenz in der situierten Interaktion, in: J. Raab/R. Keller (Hg.), Wissensforschung – Forschungswissen, Weinheim 2016, S. 317-331. Mills, C. Wright: Situated Actions and Vocabularies of Motive, in: American Sociological Review 5 (1940), S. 904-913. Sacks, Harvey/Schegloff, Emanuel A./Jefferson Gail: A Simplest Systematics for the Organization of Turn-Taking for Conversation, in: Language 50 (1974), S. 696-735. Schegloff, Emanuel A./Jefferson, Gail/Sacks, Harvey: The Preference for SelfCorrection in the Organization of Repair in Conversation, in: Language 53 (1977), S. 361-382. Scheler, Max: Wesen und Form der Sympathie, Bonn 1923. Schüttpelz, Erhard/Meyer, Christian: Ein Glossar zur Praxistheorie. „Siegener Version“ (Frühjahr 2017) In: Navigationen – Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaften 17 (2017), S. 155-163. Schütz, Alfred/ Luckmann, Thomas: Strukturen der Lebenswelt, Konstanz 2003.

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FILM Approaches and Leave-Takings (USA 1952, R: Weldon Kees/Jurgen Ruesch).

Statusmeldungen Stefanie Sargnagels Gegenwart sozialer Medien Rupert Gaderer

Lydia Haider, Maria Hofer und Stefanie Sargnagel reisten im Januar 2017 nach Marokko und verfassten während ihres Aufenthalts ein kurzes Reisetagebuch. In Drei Autorinnen in Marokko: „Jetzt haben wir ein Pferd und Haschisch“, veröffentlicht in der Tageszeitung Der Standard, erzählen die drei Schriftstellerinnen in kurzen Einträgen von Ereignissen während ihres Aufenthalts in der Hafenstadt Essaouira. Stefanie Sargnagel: Immer wieder mieten wir uns prollige Quads und zischen eingeraucht mit lauten Motorengeräuschen zu sechst über den idyllischen Strand. Das ist Freiheit. Das Bmukk [Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur] hat mir dafür einen Reisekostenzuschuss gewährt. (Für die Literatur.) Wenn das die FPÖ wüsste.1

Bereits in diesem kurzen Ausschnitt wird deutlich, dass der kollektiv verfasste Bericht eine ironisch gebrochene Dokumentation einer Reise darstellt und die Faktizität des tatsächlich Gesehenen und Erlebten kalkuliert unterläuft. Dies ist für die Gattung der Reiseliteratur nicht ungewöhnlich, da sich bereits um 1800 enzyklopädische und naturwissenschaftliche Reiseberichte als Genre automatisiert haben und die Rolle der Fiktionalisierung des Erlebten und bereisten Landes mehr und mehr in den Vordergrund tritt.2 Trotz der offensichtlich fiktiven Elemente der erzählten Reise wurden die drei Autorinnen vom österreichischen Boulevard vehement kritisiert und die Finanzierung ihrer Reise skandali-

1

Haider/Hofer/Sargnagel: Drei Autorinnen in Marokko, Album.

2

Aus der Vielzahl der Untersuchungen siehe Brenner: Der Reisebericht in der deutschen Literatur.

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siert. Der Vorwurf lautete, dass die Schriftstellerinnen das taten, wovon ihr literarischer Text handelt: Während der vom Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur unterstützten Reise hätten die „Literatur-Ausflüglerinnen“3 massiv Alkohol getrunken, Haschisch konsumiert, einen Muezzin geküsst und eine Babykatze getreten. Stefanie Sargnagel (eigentlich Stefanie Sprengnagel), zu diesem Zeitpunkt bereits durch die Veröffentlichungen ihrer Facebook-Einträge einem größeren Publikum bekannt, wurde aufgrund der Berichterstattung zur Zielscheibe vielfacher Anfeindungen in sozialen Medien. Die digitale Empörungswelle konnte deswegen ausbrechen und sich derart rasant verbreiten, weil der Bericht der Kronen Zeitung an mehrere tausend Nutzer gesendet wurde, die – aufgrund des soziotechnischen Gefüges von Twitter und Facebook – ihre Antworten mit ihren Followern teilten. Damit wurde eine Kettenreaktion von Botschaften ausgelöst: Die Kritik an der Autorin trat in unzähligen Posts und Tweets in der Form der Invektive auf, einer schriftlichen Äußerung von absichtlich beleidigendem Charakter, um das Gegenüber sprachlich zu verletzen. Eine Rhetorik der Psychopathologisierung und sexuellen Beleidigung wurde als Mechanismus einer Performanz der Hate Speech eingesetzt.4 Gegen die in manipulativer Absicht verbreitete Zeitungsmeldung wurde beim österreichischen Presserat Beschwerde eingelegt. Das Urteil lautete, dass der verantwortliche Journalist darauf hätte achten müssen, dass es sich beim „Reisetagebuch“ um einen „literarischen Text“ und nicht um einen „Tatsachenbericht“ handelt.5 Die Kronen Zeitung hatte mit ihrer Berichterstattung gegen den Ehrenkodex der Presse verstoßen – und ihr publizistisches Ziel, das absichtliche Herbeiführen eines Skandals, erreicht. Zunächst kann nach dieser kursorischen Rekonstruktion der Ereignisse festgehalten werden, dass ein literarischer Reisebericht in der Berichterstattung einer Zeitung und später mit der Distributionsleistung sozialer Medien zu einem skandalösen Fall gemacht wurde. Es handelt sich um die mediale Rahmung und Fassung eines Ereignisses und um die weitere Verbreitung von Informationen in unterschiedlichen Medienformaten. Ausgehend von dieser Beobachtung lassen sich drei Problemfelder ausmachen, die das Verhältnis zwischen Literatur und sozialen Medien betreffen: Erstens stellt sich die Frage, inwiefern Literatur als eine Emergenz sozialer Medien auftritt und selbst als ein Effekt der Funktionsweisen und Handlungsroutinen verstanden werden kann. Damit werden im

3

Siehe den Artikel Saufen und kiffen auf Kosten der Steuerzahler.

4

Zur Hate Speech siehe Butler: Haß spricht; Meibauer (Hg.): Hassrede/Hate Speech; Marx: Diskursphänomen Cybermobbing.

5

Erklärung des österreichischen Presserats.

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Folgenden die Agency ökonomisierter Schreibmöglichkeiten und die formalästhetischen Voraussetzungen der Kurzprosa bedeutsam. Darüber hinaus, und dies betrifft einen zweiten Aspekt, stellt sich die Frage nach kommunikationstheoretischen und mediengeschichtlichen Einschlüssen, die für die kurzen literarischen Einträge in sozialen Medien signifikant sind. Drittens rückt in einer medien- und literaturwissenschaftlichen Perspektive die Frage nach dem Verhältnis zwischen digitalen Empörungswellen und literarischer Kommunikation von den Rändern bisheriger Auseinandersetzungen ins Zentrum des Erkenntnisinteresses, wenn das Agonale der sozialen Medien beschrieben und die digitale Skandalisierung machttheoretisch entziffert wird. Der Spieleinsatz dieses Artikels besteht also darin, Literatur als eine Form zu beschreiben, die sich selbst als ein Ineinandergreifen von Sozialem und digitalen Technologien versteht.

1.

SCHREIBEN – SENDEN – PUBLIZIEREN

In den letzten Jahren ließ sich beobachten, dass soziale Medien seit den 1990er Jahren mehr und mehr in die Arbeitsroutinen und Lebensregime der Menschen vorgedrungen sind und seit den 2000er Jahren zweifelsfrei eine gesellschaftspolitische Relevanz gewonnen haben. Verschafft man sich einen Überblick über die bisherigen Arbeiten zur Kausalität zwischen sozialen Medien und literarischen Schreibweisen, so fällt auf, dass der Forschungsschwerpunkt auf narratologischen Problematiken lag. Dies hängt damit zusammen, dass das ‚Erzählen‘ als eine übergreifende Kompetenz in Genres und Formaten digitaler Medien verstanden wurde.6 Das dominante Medium dieser Untersuchungen war und ist immer noch der Blog mit seiner inhaltlichen Kürze und Aktualität, seinen intermedialen Vernetzungs- und Austauschmöglichkeiten sowie den technologischen Bedingungen seines Publizierens.7 Neben dem Blog wurde die sogenannte ‚Twitterature‘ zu einem Bestandteil des Creative Writing. Jedoch gibt es kaum Arbeiten, die sich mit dem Genre auseinandersetzen; und es gerät mehr und mehr in Vergessenheit.8 Die sozialen Medien Weblog und Twitter ermöglichen eine (teil-)öffentliche Publikation von Nachrichten, deren Inhalte zumeist Formen der (Selbst-)Narration und verlegerischen Öffentlichkeitsarbeit sind.9 Bei

6

Nünning/Rupp: The Internet’s New Storytellers, S. 3-50.

7

Dünne: Weblogs, S. 35-65 und Ernst: Weblogs, S. 281-302.

8

Siehe Kreuzmair: „The Dissociation Technique“; Porombka: Schreiben unter Strom und Drees/Meyer: Twitteratur.

9

Berressem: „Follow me on Twitter“, S. 191-204.

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der derzeitigen Forschung zum Verhältnis zwischen Literatur und sozialen Medien fällt auf, dass es kaum Untersuchungen über die sicherlich bekannteste und umstrittenste Plattform gibt, die sich mittlerweile zu einer Organisation entwickelt hat, die nicht lediglich Verbindungsarbeit zwischen Menschen leistet, sondern aufgrund der entworfenen Relationen data mining betreibt, um politische und ökonomische Ziele zu erreichen.10 Seit 2008 schreibt Sargnagel auf Facebook Einträge, wobei ausgewählte und modifizierte Posts in Buchform unter den Titeln Binge Living: Callcenter-Monologe (2013), In der Zukunft sind wir alle tot. Neue Callcenter-Monologe (2014), Fitness (2015) und Statusmeldungen (2017) publiziert wurden.11 Sicherlich hat der Erfolg dieser Literatur damit zu tun, dass sie das Leben einer vernetzten Individualität reflektiert und davon erzählt, welche Arten und Weisen der Vergesellschaftung aufgrund der digitalen Verbindungs- und Überwachungsmaschine Facebook bestehen. Die zumeist kurzen Einträge handeln von Alltagsbeobachtungen, sind gesellschaftskritisch, berichten über Erfahrungen in der Fremde, über die Aktionen der Burschenschaft Hysteria und kritisieren rechtskonservative Bewegungen in Österreich. Dieses Schreiben stellt die Autorin in Fitness in eine Tradition österreichischer Literatur und Kulturschaffender: Ihr „Wiener Stil“ oder „Fäkalrealismus“12 stehe in einer Wahlverwandtschaft zur Literatur Christine Nöstlingers, Elfriede Jelineks oder Thomas Bernhards. Zudem teile sie mit den Karikaturen von Christian Deix, den Dokumentarfilmarbeiten Elisabeth Spiras und Ulrich Seidls sowie den Performances des Wiener Aktionismus und der Künstlergruppe Gelitin (vormals: Gelatin) einen sozialkritischen Spürsinn und Ausformulierungen künstlerischer Konzepte. Der ‚Fäkalrealismus‘ mache sich zur Aufgabe, das Obszöne und das Abstoßende sozialkritisch zu entkontextualisieren und das Alltägliche ins Groteske zu verzerren. Die verdichtete Form Sargnagels trennt jedoch ein wesentlicher Punkt von den erwähnten Wahlverwandtschaften: Angesprochen ist damit eine literarische Kommunikation, die hauptsächlich in einem sozialen Medium geführt wird, das eine große und variable Reichweite hat, eine hohe Frequenzrate der Übertragung, einer Netzwerkstruktur folgt und (bis zu einem gewissen Ausmaß) die

10 Zu Facebook siehe Dijck: The Culture of Connectivity, S. 45-67; Leistert/Röhle: Generation Facebook und Caers/Feyter/Couck/Stough/Vigna/Du Cind: Facebook, S. 982-1002. 11 Bis 2011 veröffentliche Sargnagel kleinere Beiträge auf ihrem Blog https://nichtdie suppe.livejournal.com/ 12 Sargnagel: Fitness, S. 123.

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Handlungen und Relationen archiviert. Auf Sargnagels Facebook-Seite werden Botschaften erstellt, sie werden veröffentlicht, kommentiert, sie werden annotiert (etwa mittels Likes und Emojis), geteilt und an andere Personen weitergeleitet.13 Mit den Veröffentlichungen auf Facebook wird eine neue Beziehung zwischen Autorin und Publikum etabliert, eine Beziehung zwischen Bloggerin und Follower, zwischen Statusmeldungen und Kommentaren. Die kurzen Einträge handeln darüber, was es bedeutet, als Autorin in sozialen Medien präsent zu sein; was es bedeutet, als Autorin in sozialen Medien über gesellschaftskritische Themen zu schreiben; und was es bedeutet, in sozialen Medien als Autorin angefeindet zu werden. Dabei ist die Statusmeldung das mediale Format, das am engsten der Inszenierung von Aktualität und Kürze verbunden ist. Es ist jenes Format, in dem berichtet wird, und das Konventionen hinsichtlich der Kürze und der Botschaften unterliegt. Sie bietet die Möglichkeit, die Community – im Sinne einer nicht abgrenzbaren Gemeinschaft, die sich aufgrund von unterschiedlichen Übereinstimmungen in sozialen Netzwerken versammelt und Relationen bildet – auf dem Laufenden zu halten. Durch sie werden die Kontakte adressierbar – die Botschaften werden so im Newsfeed für die anderen lesbar. Statusmeldungen inszenieren eine Zeit des Aktuellen, sie müssen sich nicht auf einen Telegrammstil beschränken, sondern können subjektiv sein und einen Reportagestil annehmen – und sie sind nicht lediglich auf einen Text beschränkt, sondern transportieren ebenso Foto-, Video- und Audiodateien. Der medienphilologische Prozess des autofiktionalen Schreibens besteht darin, Texte und Bilder aus der Sphäre Facebooks in eine Buchform zu bringen, die kurzen Einträge von ihrem digitalen Entstehungsort zu lösen und zugleich ihre Wirkung auf der analogen Buchseite nicht zu verlieren. Am auffälligsten ist sicherlich, dass das analoge Medium Buch die digitalen Relationen kappt, dass also Likes, Shares, Comments etc. wegfallen und die Statusmeldungen das TextKorpus der Buchpublikation bilden. Es sind, wie es der Untertitel von Binge Living ausdrückt, analoge Monologe; und eben keine digitalen Dialoge. Das gilt auch für die Kommentare, die als eine organisierte und interaktive Form der Kommunikation für Sargnagels Schreiben auf Facebook relevant sind, aber in den Buchpublikationen ausgespart werden. Das Prinzip der gedruckten Statusmeldung besteht darin, nicht den eigenen Mangel an Vernetzung durch mediensimulierende Strategien der Buchseite zu kompensieren. Damit entsteht die Situation, dass das Buch mit dem Titel Statusmeldungen die Agency der Text-

13 Schmidt/Taddicken: Soziale Medien, S. 24-29.

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form Statusmeldung hervorhebt: jemanden zum Schreiben zu bringen, um eine Selbstauskunft zu erhalten. Das Schreibformat der Statusmeldung ist also dafür verantwortlich, dass intensiver kommuniziert und eine Schnelligkeit der Kommunikation suggeriert wird. Dies ergibt sich aus konkreten Designentscheidungen der Oberfläche sozialer Medien, die es erlauben, kurze Texte zu verfassen – und damit gleichzeitig Daten der Benutzerinnen und Benutzer zu sammeln. Es ist eine Schreibweise des Augenblicks, d.h. eine Schreibweise, die zumeist eine kurze Dauer oder einen Moment beschreibt und die damit rechnet, dass aufgrund der Übertragungswege die Botschaft bereits im nächsten Moment angekommen sein wird. Naturgemäß handelt es sich bei sozialen Medien – genauso wie bei der elektrischen Kommunikation, die neue Raum- und Zeitwahrnehmungen hervorrief – um eine mutmaßlich instantane Wirkung,14 bei der Schreiben, Lesen, Denken und Veröffentlichen (augenscheinlich) in eins fallen.15 Auch Sargnagels Buchtexte zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine inhaltliche Kürze besitzen und eine Aktualität sozialer Medien inszenieren, die längst in zeitliche Ferne gerückt ist. Es ist eine inszenierte Gegenwart, die ihre Bedeutsamkeit aus der mittelbaren Vergangenheit der digitalen Plattform zieht. Die Statusmeldungen und die Statusmeldung können vor diesem schreibtechnologischen Hintergrund in eine Literatur- und Mediengeschichte eingeordnet werden, ihren medial-historiografischen Horizont markieren das Billet, das Briefchen, das Blättchen und die SMS.16 Das instantane Schreiben ist bei Sargnagel an die Schreibtechnologie zurückgebunden. So heißt es in Binge Living, dass die Autorin der kurzen Einträge nicht mehr Einträge im Internet-Café schreibe, sondern zum portablen Medium Smartphone gewechselt habe: 16.6.2011 Fuck, ich habe ein Smartphone. Es ist einfach so passiert, ich bin in den Shop, um das Display von meinem Handy reparieren zu lassen. Der Typ hat mich nur ausgelacht und ehe ich mich versah, hatte ich ein Smartphone. Ich konnte mich nicht wehren, ich hab vor lauter Angst fast zu weinen begonnen. Ein Internetgefängnis!17

Und später wird in Fitness berichtet: „13.2.2014 Ich hab jetzt ein Smartphone. Es fühlt sich an, als würde ich ein überreiztes Vorderhirn in der Hosentasche

14 So die Annahme von McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 22, und ders./Fiore: The Medium is the Massage, S. 16 und S. 63. 15 Zielinski: [... nach den Medien], S. 184. 16 Oesterle: Schreibszenen des Billets, S. 115-135. 17 Sargnagel: Binge Living, S. 44.

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tragen.“18 Das Endgerät begünstigt durch sein kleines Format und seine Handlichkeit das Berichten über Reisen, politische Veranstaltungen oder Lesungen in der kurzen Form. Für Sargnagel trifft etwas zu, was bei älteren Ausbuchstabierungen von literarischen Kurzformen hervorgehoben wurde, nämlich dass formalästhetische Voraussetzungen die „poetische Auseinandersetzung mit paradoxen Modi beschleunigter Zeiterfahrung“19 ermöglichen. Zudem geht es hier um eine spezifische Schreib-Situation bzw. um Schreib-Szenen, die für Sargnagels Literatur wesentlich sind.20 Was mit der zitierten Aussage über ein portables Medium übertragen wird, ist weniger die Ironisierung der notorischen ProthetikTheorie, die seit Ernst Knapp und Sigmund Freud davon ausgeht, dass Medien die Verlängerung des Mängelwesens Mensch darstellen. Vielmehr rücken diese Einträge und Selbstbeschreibungen die praxeologische Frage des Schreibens mit portablen Medien ins Zentrum.21 Diese Perspektive erhält deswegen eine Brisanz für das Schreiben, weil das Erzählen an das Smartphone und damit an die Fiktion gekoppelt wird: „5.6.2014 Wenn der Akku von meinem Smartphone leer ist, verliert mein Leben diese fiktive Komponente.“22 Und später: „11.10.2014 Ohne Smartphone bin ich nur eine einsame, dicke Zeichenlehrerin namens Brunhilde, Spitzname Bruni.“23 Und nochmals später: „27.3.2015 Ich habe kein Smartphone mehr, gefangen in der realen Welt!“24 Eine unkomplizierte medienliteraturwissenschaftliche Untersuchung mag sich unter der Prämisse des Aufzeichnungssystems für die Darstellung von etwas in den sozialen Medien interessieren. Eine derartige Herangehensweise degradiert jedoch Medien zu bloßen Verfahren der Darstellung, Speicherung und Weiterverarbeitung von Informationen: Die Darstellung des Smartphones in den Einträgen von Stefanie Sargnagel, die Darstellung von Tinder in den Einträgen von Stefanie Sargnagel, die Darstellung des Callcenters in den Einträgen von

18 Sargnagel: Fitness, S. 9. 19 Öhlschläger: Augenblick und lange Dauer, S. 97. Siehe zu diesem Themenkomplex ebenso Autsch/Öhlschläger: Das Kleine denken, schreiben, zeigen, S. 9-20; Gamper/ Mayer: Erzählen, Wissen und kleine Formen, S. 7-22. 20 Zur „Schreibszene“ siehe Campe: Die Schreibszene, Schreiben, S. 760. Neben diesem grundlegenden Artikel siehe die weiterführenden Überlegungen zur „Schreib-Szene“ von Stingelin: Schreiben, S. 7-21. Zur mobilen Aufzeichnungsszene siehe Stingelin/ Thiele (Hg.): Portable Media. 21 Metz: Dilettantische Ökonomen, S. 124. 22 Sargnagel: Fitness, S. 58. 23 Ebd., S. 115. 24 Ebd., S. 223.

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Stefanie Sargnagel etc. Vielmehr muss man davon ausgehen, dass Schreibtechnologien wie die Statusmeldung eine epistemologische Auswirkung haben, da sie Benutzerinnen und Benutzer auffordern und anleiten, Botschaften zu kommunizieren und zirkulieren zu lassen. Nicht die Statusmeldung als kurze Form, sondern ein Wissen über die Kulturtechniken des Schreibens und Lesens aufgrund der schreib- und wahrnehmungstechnologischen Vorgaben rückt unter diesem medial-epistemologischen Blickpunkt ins Zentrum.

2.

VERMITTLUNGSARBEIT: CALLCENTER UND RUFNUMMERNAUSKUNFT

Eine ähnliche Funktion für die literarische Produktion hat neben dem SchreibDispositiv ein Rede-Dispositiv. Die Erzählinstanz einzelner Einträge ist Teil dieses Settings, das aus technisch-apparativen, personalen und normativen Elementen eine heterogene Anordnung schafft, um ein gewünschtes Sprechen und Hören zu erzeugen und sichtbar zu machen. „Steffi Fröhlich, was kann ich für Sie tun?“ – so meldet sich die Stimme in einer der ersten Callcenter- und Telefon-Szenen in Binge Living und wird in den folgenden Publikationen ein fixer Bestandteil der kurzen Einträge: „15.08.2011 ‚Rufnummernauskunft, Steffi Fröhlich, was kann ich für Sie tun?‘/ ‚Hallo ich brauche die Nummer von der Waschmaschine!!!‘“25 In diesen und anderen kurzen Dialogen wird über die alltägliche Arbeit des Verbindens und Auskunftgebens erzählt. Und es kann deswegen darüber erzählt werden, weil Störungen eingetreten sind und damit gerechnet wird, dass sie weiterhin eintreten werden. Stefanie Fröhlich wird mit Problemen konfrontiert, auf die es keine adäquaten Antworten oder aufklärende Mitteilungen gibt: 22.12.2012 „Rufnummernauskunft, Steffi Fröhlich, was kann ich für Sie tun?“/ „Mein Telefon hat zu wenig Googlenamen. Was mach ich jetzt?“/ „Wie bitte, das ergibt überhaupt keinen Sinn, was sie sagen!“/ „Google! Was mach ich?“26

Das Callcenter ist ein Ort der Dysfunktion. Es wird als ein Medienverbund der gescheiterten Kommunikation gedacht, als ein Ort, der es nicht ermöglicht, Informationen zu erfragen und Verbindungen herzustellen. Die Beziehung zwischen Stefanie Fröhlich und den Anrufern des Callcenters existiert, weil sie

25 Sargnagel: Binge Living, S. 50. 26 Ebd., S. 147.

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kontinuierlich misslingt. Sargnagel interessiert sich für die Kakophonie, d.h. für die inhärente Eigenschaft des Redens, das immer schon der Gefahr ausgesetzt ist, Störungen zu evozieren und Missverständnisse zu verursachen. Dabei wird gezeigt, wie verzweifelt die Beteiligten sich anstrengen, die Störungen aus den Dialogen zu verdrängen. Sie kommen aber immer wieder zurück an ihren Ausgangspunkt, das Unverständnis für denjenigen am jeweils anderem Ende der Telefonleitung. Die Frage, um welche Art von Störung es sich handelt, ist immer eine Frage danach, um welches System es sich handelt. Dies hat der Störungstheoretiker Paul Virilio luzid formuliert, wenn er davon spricht, dass jede Technik ein Akzidens produziert und provoziert.27 Der Fortschritt der Technik, etwa jener der Telefonie, produziert eine Störung, etwa jene der Anrufer. Die störenden Anrufer sind die Zukunftsform der Technologie, sie sind kein zufälliger Zwischenfall, sondern die ewige Gegenwart des Callcenters, weil sie selbst Teil des Systems sind und von ihm hervorgebracht werden. Solange Stefanie Fröhlich Anrufe annehmen wird, wird es in Sargnagels Texten Störungen geben. Nun sind die Anrufenden in den Telefon- und Callcenter-Szenen nicht die einzigen Störungen. Die Disziplin, die das richtige Beantworten der Anfragen am Telefon seit dem Ende des 19. Jahrhunderts lehrt, so konstruiert es Sargnagel, produziert in ihrem eigenen Dispositiv Stefanie Fröhlich als eine Gegenbewegung. Nach unzähligen sinnlosen Anrufen, Beleidigungen und Beschimpfungen gibt die Telefonistin Antworten, die aus der Ordnung des Diskurses ausbrechen: 28.6.2015 „Rufnummernauskunft, Stefanie Fröhlich, was kann ich für Sie tun?“ „Guten Tag, können Sie mir die Nummer von der Störung geben?“ „Welche Störung?“ „Mein Telefon geht nicht. Ich bräuchte die Störung in Ulrichsberg!“ „Welche Störung? Geht’s ums Festnetz oder haben Sie ein Handy?“ „Da war heute ein Blitz und ich bräuchte die Nummer!“ „Wollen Sie jetzt die Nummer vom Blitz oder die von der Störung?“ „Nein, die Störung, in Ulrichsberg.“ „Okay, also es gibt viele verschiedene Arten von Störungen. Es gibt Stromausfälle, Festnetzstörungen, Netzstörungen vom Mobilfunk, Persönlichkeitsstörungen. Welche brauchen Sie? Oder wollen Sie den Blitz.“ „Also das ist eine Frechheit!“ „Ich weiß halt nicht, was Sie meinen.“

27 Virilio: Der eigentliche Unfall.

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„Also, Sie haben ja eine Goschn! Natürlich will ich nicht die Nummer vom Gewitter! Waren Sie gestern trinken oder wie??“ (Ein bisschen vielleicht.)28

Stefanie Fröhlich unterwirft sich nicht ausnahmslos dem Rededispositiv des Callcenters, sondern richtet sich gegen das System, in dem sie eingesetzt wird. Die systemimmanente Figur, die ein Effekt der Verfahren und Medien der Rufnummernauskunft und Telefonvermittlung ist, wird von Sargnagel als Gegenspielerin der absurden Gespräche, der schlechten Arbeitsbedingungen und als Kritikerin von Geschlechterstereotypen aufgestellt. Neben diesem kommunikationstheoretischen lässt sich ein medienhistorisches Moment ausmachen, das auf die Geschichte von Sargnagels Gegenwart sozialer Medien aufmerksam macht. Das Telefonieren als Mediennutzung ist bekanntermaßen eine Entwicklung gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Dabei war die Vermittlung von Telefongesprächen wichtig, die vom sogenannten „Fräulein vom Amt“, dem „Telefonfräulein“ oder der „Telefonfee“ vor allem im Fernsprechverkehr manuell vorgenommen wurde. Die Vermittlungsarbeit war eine körperlich anstrengende und monotone Tätigkeit einer Person – mit Kopfhörer, Brustmikrofon und Stöpselpaaren wurde vor Abfrageklinken und Klappen hantiert, um Kommunikation zu ermöglichen. Zwar wurden zunächst Männer für die Dienste eingesetzt, jedoch begründeten die Telefongesellschaften den Einsatz von Frauen mit der ‚angenehmen Stimme‘ und dem Frequenzbereich der weiblichen Stimme; ausschlaggebend waren zudem die niedrigen Lohnkosten weiblicher Vermittlungskräfte und die geringen Chancen des beruflichen Aufstiegs.29 Seit den 1960er bzw. 1970er Jahren war das Telefon in Mitteleuropa als „Dienst-“ und noch nicht als „Privatapparat“ verbreitet und die manuelle Ortsvermittlung wurde durch die automatische Vermittlung mittels Wählens ersetzt.30 Die Rufnummernauskunft des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts stöpselt natürlich nicht mehr die Verbindungen manuell, sondern verbindet digital, recherchiert Telefonnummern am Computer und verbindet diejenigen, die mit anderen in Verbindung treten wollen. Was sie jedoch gemeinsam haben, sind die schlechten Arbeitsbedingungen, die geringe Bezahlung und die physische und psychische Belastung:

28 Sargnagel: Fitness, S. 282. 29 Campe: Pronto!, S. 74 und Nienhaus, Das ‚Fräulein vom Amt‘ im internationalen Vergleich, S. 45-49. 30 Wessel: Das Telefon – ein Stück Allgegenwart, S. 25.

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[...] dann geh ich ins Callcenter und werde fünf Stunden lang ununterbrochen angerufen und meine Augen, meine Ohren und mein Gehirn fühlen sich an, als würden sie permanent mit Schmirgelpapier bearbeitet werden und ich werde immer erschöpfter und verkrümmter und die Klimaanlage saugt meine Seele ein [...]31

Stefanie Fröhlich arbeitet zwar in den neuen Räumen und Zeiten der ‚Fräulein vom Amt‘ – mit deren Verhaltensweisen hat sie jedoch wenig gemeinsam. Das Rede-Dispositiv gibt vor, was zu sagen ist, aber die Gegenwehr und Kritik an den Arbeitsbedingungen prägen die Dialoge und Reflexionen über diese Arbeit. Das Callcenter wird als Ort beschrieben, dem etwas Gefängnishaftes und Depressives eigen ist, wobei aus diesen Möglichkeiten wiederum humoristische Telefon-Szenen entstehen.32 Der Telefon- und Callcenter-Effekt besteht auch nach der Anfangszeit der Telefonie in der Literatur des späten 19. Jahrhunderts in seiner Mittlerstellung zwischen Mündlichem und Schriftlichem. Das Callcenter ist der Ort des Redens und Schreibens – natürlich ironisch gebrochen formuliert: „6.6.2014 Ich habe eine Writers Residency im Callcenter.“33

3.

SHITSTORM UND HATE SPEECH

„Noise“, so hat es der Medientheoretiker Michel Serres formuliert, bezeichnet das Zusammenspiel jener Störkennzeichen, die das Potenzial mit sich führen, die Kommunikation zu beeinträchtigen, zu blockieren und letztlich zu unterbrechen.34 Die sozialen Medien machen diesen Aspekt besonders deutlich, weil sie die Eigenschaft besitzen, das Soziale in seiner Ambivalenz auszustellen. Dies hängt damit zusammen, dass der Umkehrungspunkt der Vernetzungsmedien bewusst niederschwellig angelegt ist. Die Formen der Anerkennung kehren sich schneller in Formen der Erniedrigung um. Der Shitstorm erhält seine Aktivität aus der technologisch verschärften Zwiespältigkeit des Sozialen, da sich Konflikte aufgrund der medialen Infrastruktur des Kollektivs besonders leicht und intensiv entwickeln. Zudem lässt sich beobachten, dass bei sozialen Medien die Grenzen zwischen Banalität und Innovation, Privatheit und Öffentlichkeit, Vergänglich-

31 Sargnagel: Fitness, S. 58. 32 Metz: Dilettantische Ökonomen, S. 122. 33 Sargnagel: Fitness, S. 58. 34 Noise im Sinne des kommunikationstheoretischen Begriffs, der Streit, Lärm und Wahnsinn bezeichnet. Siehe Serres: Geschrey, S. 19-33, und ders.: Der platonische Dialog, S. 47-56.

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keit und Bestand oder Formulierung eines Themas und Themenlosigkeit verschwimmen.35 Was dabei entscheidend ist, ist nicht lediglich der Umstand, dass auch die digitale Kommunikation sich stets der Gefahr aussetzt, gestört zu werden. Entscheidend ist, dass Sargnagel das agonale Dispositiv dieser Kommunikation deutlich macht und ausbuchstabiert. Deswegen können literarische Aussagen medientheoretische Versatzstücke einschließen, da sie darauf hinweisen, dass derjenige, der die Informationskanäle besetzt hält, einen Spielanteil an der Macht erhält.36 Was in den kurzen Einträgen entziffert wird, sind jene Auseinandersetzungen um freie oder versperrte Zugänge zu Verteilern, Netzwerken und Medien, die für die Entwicklung von Ereignissen und von Machtverhältnissen relevant sind. Der Lärm zeigt an, wer Territorien markiert, wer am lautesten schreit, wer ausufernd Drohungen und Beleidigungen postet, um die anderen aus den Kommunikationskanälen zu verdrängen. Denjenigen, die anderer Meinung sind, wird in diesem Zeichenkampf ihre geringe Größe signalisiert;37 das zeigt die Rekonstruktion des zuvor erwähnten Shitstorms nach der Publikation des Reisetagebuchs der Autorinnen deutlich. Dies lässt sich dadurch erklären, dass das, was für den einen eine Störung darstellt, für den anderen eine Entstörung ist. Der andere soll verdrängt werden, um Botschaften kommunizieren zu können. Die Lärmenden sollen aus den Räumen der Kommunikation verbannt werden. Denn in sozialen Medien geht es darum, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, um seine Botschaften zu übermitteln und seine Kommunikationskanäle zu stabilisieren. Die Arbeit besteht hier darin, dass der Kampf gegen das Rauschen in den Kommunikationskanälen von beiden Seiten geführt wird, weil der eine den anderen als das eigentliche Übel beobachtet. Deswegen wird versucht, Stille zu schaffen: „5.7.2014 Ich bin so schlecht darin, cool und sophisticated auf beleidigende Kritiken zu reagieren. Ich muss immer gleich ‚halt die Goschn, du wertloser Vollidiot‘ schreiben.“38 Was hier vorgeführt wird, mag weniger die tatsächliche Missachtung und Beleidigung des Gegenübers sein. In der kleinen Form des Postings wird vielmehr darüber nachgedacht, wie das Medium die Handlungen und Äußerungen miterzeugt; und was es bedeutet, sich in sozialen Medien Kritik auszusetzen und dagegenzuhalten.

35 Zum Wechselspiel von „leaky“ und „creepy“ in sozialen Medien siehe Chun: Updating to Remain the Same, S. 103-127. 36 Serres: Atlas, S. 167. 37 Zu ‚weichen‘ und ‚harten‘ Zeichen als Medien der Aneignung siehe Serres: Das eigentliche Übel, S. 45-68, und ders.: Erfindet euch neu!, S. 30. 38 Sargnagel: Fitness, S. 77.

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Wer kritisiert, nimmt eine spezifische Haltung ein – des Sprechens, des Handelns oder des Begreifens: „24.9.2014 Immer wenn ich Hassnachrichten bekomme, schreibe ich Battlerap.“39 In diesem Kontext lautet ein weiterer Eintrag in Fitness: „1.6.2015 Wenn auf mich ein Shitstorm runterbrechen würde, könnte ich mit dem Rappen gar nicht mehr aufhören. Der erste Shitstorm wird der Start meiner Rapkarriere sein.“40 Die vielen Kommentare des Hasses besetzen den virtuellen Raum der Versammlung, sie eignen ihn sich an und sie verhindern, dass anderes gesehen und gehört wird. Dies betrifft vor allem die verletzende Sprache in sozialen Medien, wenn etwa die Aggressivität der „Hassposter“41 in Statusmeldungen hervorgehoben und gleichzeitig die Frage aufgeworfen wird, wer das Recht hat, die Menschen – in einem moralischen und nicht in einem juristischen Sinn – zu verurteilen. Zudem wird eine Selbstermächtigung beschrieben, die darauf abzielt, die Gewalt über seine Existenzweise in den Beleidigungswellen des Shitstorms – inner- und außerhalb sozialer Medien – zu erhalten und gehört zu werden: „22.10.2015 Ich bin mein eigener Shitstorm.“42 Oder die wiederholte Beteuerung: „11.3.2015 Ich liebe Shitstorms.“43 Diese Auseinandersetzungen, das zeigen die Ereignisse der anfangs erwähnten Berichterstattung über die Marokko-Reise, werden nicht alleine zwischen den Benutzerinnen und Benutzern von Facebook geführt. Die verletzlichste Stelle im Schreiben Sargnagels ist das Medium, über das Botschaften zirkuliert werden und das den digitalen Ausgangspunkt ihrer Buchpublikationen darstellt: Im Zuge der Berichterstattung der Kronen Zeitung und des Shitstorms gegen Sargnagel wurde im März 2017 ihre Facebook-Seite gesperrt, weil Meldungen eingingen, dass Sargnagel gegen die Benutzerregeln verstoßen und problematische Inhalte gepostet habe. Facebook betrachtete ihre Postings nicht lediglich als ein Medium der Datenauslese für Zwecke der Manipulation, sondern als eine Störung – als Noise, dessen Ausbreitung verhindert werden müsse. Wer auf Facebook schreibt, setzt das Geschriebene nicht lediglich der Sperrung, sondern auch dem Hass aus. Sargnagel reflektiert dies am Ende von Statusmeldungen. Was hier entwickelt wird, ist eine Gegenrede und Erwiderung auf jene Kommentare, die Teil eines Shitstorms waren und deren Ziel es war einzuschüchtern. Die Hasstiraden und Empörungswellen, die auf „Mutlosigkeit, Ehr-

39 Ebd., S. 109. 40 Ebd., S. 264. 41 Sargnagel: Statusmeldungen, S. 33. 42 Ebd., S. 72. 43 Sargnagel: Fitness, S. 214. Siehe auch dies.: Statusmeldungen, S. 53.

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losigkeit und Unterdrückung“44 basieren, werden als jene Elemente verstanden, die das eigene Reden und Schreiben gegen Nationalismen, gegen Fremdenfeindlichkeit und Misogynie weniger einschüchtern als befeuern. Es ist eine Sprache über den Shistorm, die nun selbst das Defäkieren und die Flatulenz in den Vordergrund rückt: „mit dem nächsten spontanen Verbalfurz [habe ich] eure gesamte hassgetriebene Demagogie ersetzt.“45 Sicherlich beziehen die Sprache des Shitstorms und das Sprechen über den Shitstorm ihre Provokation und Faszination aus der Geschichte des Tabubereichs der Exkremente und den Gefühlen der Scham, der Peinlichkeit und des Ekels. Die Scham- und Peinlichkeitsschwellen wurden in der Moderne erhöht, das hat Norbert Elias eindrücklich in seinen Überlegungen zum Prozess der Zivilisation gezeigt, und körperliche Bedürfnisse zunehmend tabuisiert, um sie hinter die Bühne des gesellschaftlichen Lebens zu verlagern.46 Sargnagel wiederum verfolgt einen gezielten Tabubruch, wenn sie das (körperliche) Ausscheiden und die (sozial) Ausgeschiedenen aufruft. Dies hängt mit dem zuvor erwähnten Konzept des „Fäkalrealismus“ zusammen, der auf der Tabuisierung der materiellen und sprachlichen Beschämung unter Rekurs auf körperliche Ausscheidungen basiert. Die Empfindung des Ekels, die beschrieben wird und erzeugt werden soll, betrifft dabei einerseits einen ethischmoralischen Bereich.47 Andererseits handelt es sich um den Bereich des politischen Empfindens und Schreibens, wenn über die von der Gesellschaft Ausgeschiedenen erzählt wird. Dabei ist für den Shitstorm gegen die Autorin maßgebend, dass zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten die Politik der Demütigung und die Macht der Beschämung an die Zeugenschaft Dritter und den machtvollen öffentlichen Blick gebunden waren: Wer bloßstellen will, braucht ein Publikum und muss Medien aktivieren – ob analoge oder digitale, ob Elemente des Prangers oder das Blatt Papier, ob Druckmaschine oder Smartphone. Es müssen technische Infrastrukturen geschaffen, Kulturtechniken eingesetzt und Medien eingebunden werden, damit sich Menschen an einem realen oder virtuellen Ort versammeln können und für die Kritik der Beschämung eine Öffentlichkeit

44 Ebd., S. 291. 45 Ebd., S. 291. 46 Elias: Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. 1, S. 174-194 und Bd. 2, S. 397-409; zur Beziehung zwischen Beschmutzung und Macht siehe auch Canetti: Masse und Macht, S. 247. 47 Zu den Bereichen des ethisch-moralischen und ästhetischen Empfindens siehe Menninghaus: Ekel, S. 39-75.

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gebildet wird. Die letzten Zeilen des Epilogs in Statusmeldungen richten sich gegen eine derartige Politik der Demütigung mittels sozialer Medien: Ihr seid nichts. Ich bin alles. Ich bin Gott. Ich bin Allah. Ich bin größer als Buddha. Ich bin Trump. Ich bin Kali, die Göttin der Zerstörung und der Erneuerung, und ich führe manische Heerscharen aus euren mit dem Sterben ringenden Fängen jubelnd ins goldene Matriarchat.48

*** Im März 2018 publiziert Der Standard ein Reisetagebuch mit dem Titel „Marokko-Reisetagebuch II: ‚Steffi hat Hassan geheiratet‘“. Die Schriftstellerinnen Lydia Haider, Maria Hofer und Stefanie Sargnagel reisten wieder nach Essaouira und verfassten einen weiteren Reisebericht. Nun jedoch mit einem „+++ Beipackzettel +++“, der den Text als „Satire!“ und „Kunst!“ ausweist. In den Einträgen der Autorinnen, der „Träne Leider“ und Maria Muhar wird über das Reisen, das Schreiben und Lesen, die Sprachbarrieren und die Erotik der Körper berichtet – und über das mediale Echo der letzten gemeinsamen Reise nach Marokko. Stefanie Sargnagel: [...] Seit einem Jahr habe ich den Wind Essaouiras im Ohr. Laut rauscht es jeden Tag. Ein enervierender Tinnitus, der mir durch einen Hörsturz nach dem letzten Marokkoaufenthalt geblieben ist. Die Krone und die FPÖ haben mich gemeinsam als Tierquälerin verhetzt. Nach wochenlangen Hassnachrichten, Anrufen und Medienansturm zwischen Buchdeadline und Theaterpremiere habe ich 40 % meines Hörvermögens verloren. Alles ist jetzt leiser.49

Betrifft dies die Vergangenheit der Gewalt der sprachlichen Empörung, so wird ebenso über das geschrieben, was gewesen sein wird: die Hasskommentare, die noch nicht angekommen sind. Der kritische Diskurs der Autorinnen über Hate Speech ist eine Reinszenierung der Performanz der Hate Speech. Die Einträge des Reisetagebuchs handeln davon, dass das beleidigende Sprechen der anderen zurückgesendet und es gegen die Sender gewendet wird. Die ursprüngliche Zielsetzung wird zum neuen Ziel, um eine Umkehrung der Effekte und Machtverhältnisse zu erreichen. Die Rück- und Umkehr der Drohungen sollen die Bedeutung des Shitstorms mit einer deutlichen Übersteigerung und den Mitteln der

48 Sargnagel: Statusmeldungen, S. 291. 49 Haider/Hofer/Sargnagel: Marokko-Reisetagebuch II.

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Satire ermöglichen. Dabei zielt das Sprechen darauf ab, eine Kette von Effekten auszulösen und sich direkt an die Lesenden des Reiseberichts – der auch im Online-Standard-Forum veröffentlicht wurde – zu richten: Maria Hofer: Wer sind eigentlich die Leute im Standard-Forum. [...] Sind es Leute, die wütend sind, weil sie kaum genug Geld zum Leben haben und deswegen ihren Frust irgendwo abladen müssen, wo sie kein Problem mit der Chefin bekommen? Erzählt mal was von euch!50

Die Sprache des Reisetagbuchs und das Distributionsmedium arrangieren das Spiel der Gegenadressierung und Revanche, indem Hate Speech wiederholt und mimetisch parasitär die Sprache des Shitstorms gegen die Sender der Beleidigungen gewendet wird. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass Hate Speech darauf angewiesen ist, wiederholt und stetig aktualisiert zu werden. Sie muss stets reanimiert und der Kontext von Verletzung und Hass muss wach gehalten werden – ansonsten würde sie ihre Macht verlieren.51 Gerade diese Operationen führen soziale Medien in einer idealen Art und Weise aus. Was im Zeitalter analoger Medien die Beschimpfung des Publikums auf der Bühne des Theaters war, ist nun die Hate Speech im digitalen Forum sozialer Medien.

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50 Ebd. 51 Butler: Haß spricht, S. 50-51.

Statusmeldungen | 401

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402 | Rupert Gaderer

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Why Did the Signifier Cross the Railroad? The Mediality of Language according to Jacques Lacan’s Psycho-Semiotics* Robert Smid

The letter in Jacques Lacan’s oeuvre always stood in the spotlight: from making its universal debut during his seminar on Edgar Allan Poe’s The Purloined Letter, up until those topological forms which Lacan was so keen on drawing on the blackboard in his later years, when he was yet hardly able to speak properly anymore.1 As Friedrich Kittler once remarked, it is no accident that the collection of Lacan’s writings was simply and elegantly entitled Écrits (as well as his interviews on TV and on the radio were circulated under such names as Télévision and Radiophonie, respectively).2 Likewise, it is not mere chance that Lacan turned to graphemes whenever he had to write about chance itself; the appendix to his Seminar on The Purloined Letter – in which he discussed the means of enacting the automatism inherent to the compulsion of repetition –, the combinatorics of his four discourses – with which he explained how “structures were marching in the streets” during the revolution of 1968 –, and his Lituraterre – an odd symptom of orientalism with just a pinch of rubbish theory, demonstrated by the Joycean substitution of letter for litter, through which the former ultimately becomes littoral in operation – are all symptoms of his obsession with what operative writing can accomplish for psychoanalysis.

*

This paper is part of the MTA-ELTE Association for General Studies of Literature Research Group’s project Culture-Producing Media, Practices and Techniques (TKI01241).

1

See Roudinesco: Jacques Lacan, pp. 399ff.

2

Kittler: Draculas Vermächtnis, p. 14.

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Lacan’s paper of 1957, The Instance of the Letter in the Unconscious – or Reason since Freud is no exception, although nowadays it has mainly been appropriated as a forerunner to Jacques Derrida’s Of Grammatology. Written exactly a decade before the father of deconstruction’s magnum opus, Lacan’s essay addressed roughly the same aporias of semiotics: namely, how the act of signification had somehow always been established outside the signifier-signified coupling; as well as tackled with the issue: on what levels the letter could operate complementarily to the signifier. I aim to resituate Lacan’s interpretation from a perspective that initially makes its media-theoretical agenda explicit, and thus puts several points in Lacan’s argument into a different light. This, of course, also yields to recontextualizing his conception of the signifier and the letter, and in this manner my paper ultimately distances Lacan from the position of the poster-boy for post-structuralism whose theorems have seemed to outlive their original purpose via being flexible enough for utilization in a wide variety of disciplines in the humanities: from film theory trough gender studies to philology. What my paper primarily focuses on, nevertheless, is how and why Lacan turned semiotics inside out, establishing psycho-semiology as an alternative to Ferdinand de Saussure’s own formulation – with clearly visible medial implementations. This also foreshadows something that has been convincingly argued for in Bernard Geoghegan’s dissertation,3 and also by Claus Pias in his contribution to one of the many volumes today which address the origins of presentday media theory:4 not only did post-structuralism trigger what everywhere in the world, except – of course – in Germany, is now called “German Media Theory,” but it already was a media theory in its own right. In the first part of my paper, I will trace those similarities and differences which Lacan proposed between Freudian and Saussurean semiotics, and give an overall insight into what can be labeled as Lacan’s own psycho-semiotics on such grounds. Secondly, I explain why it had mattered to Lacan to separate letter and signifier, and to give the latter’s respective place value in accordance with the former – unintentionally making the bed for Derrida, so that deconstruction could once again weave together writing and signification a decade later. Thirdly, I will argue that Lacan’s differentiation between letters and signifiers led to an accumulation around an inevitable “hole” in signifying acts, turning psychosemiotics into psychosis-semiotics, via which an incommensurability has come into play between structuralism’s canonical idea of signification and psychoanalysis’s own conception. Signification understood in the Lacanian way always

3

Geoghegan: The Cybernetic Apparatus, pp. 97ff.

4

Pias: Poststrukturalistische Medientheorien.

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concerns the technological conditions of the signifying act itself, hence it produces a chain of elements executable as an algorithm inside language (i.e., the Symbolic Order), yet if separated, the same elements (i.e., letters) act as nonverbal constituents of the hardware of semiotics, making up the non-signifying horizon of signification (the Real). By following the route laid out by Lacan’s programmatic writing, I will demonstrate that psycho-semiotics leaves more room for speculations about a psychoanalytic media theory in which symbols turn out to be operative in the sense of a runnable program: transgressing semiosis, and producing a paper machine in the Turingian sense. This is why, fourthly, I will conclude that the Imaginary register in Lacan’s oeuvre requires an urgent reinterpretation with respect to this process.

OF PSYCHO-SEMIOTICS Like many of his contemporaries’, Lacan’s theoretical life in the 1950’s was characterized by a mixture of structuralist thought and Freudian ideas. But his return to Sigmund Freud differed significantly from how Roman Jakobson, Claude Lévi-Strauss, or Jean Hyppolite utilized the totemic father’s toolbox in their works. Lacan, before everything else, urged an exquisite reevaluation of the oeuvre as early as 1953 (with his The Function and Field of Speech and Language in Psychoanalysis), and even more explicitly in 1955 (with his The Freudian Thing), preliminary to his The Instance of the Letter in the Unconscious, which was based on the initial supposition that both Freud and Saussure discovered the same dynamism of signification at more or less the same time.5 Lacan argued that the manifold links posed between dream-thoughts and dreamcontents by Freud could be equated with Saussure’s own between the signified and the signifier. Although, firstly, Lacan also noted that in contrast to Saussure’s conception, Freud had formulated this relationship without missing out on another factor, one which later made it to Kittler’s hall of fame for references: “letters […] do not occur in nature.”6 Such a statement is exactly what Lacan had needed for postulating a rift between two of his three key-registers, the Real and the Symbolic, and started to force the signifier – which up to Of Grammatology seemed to be inextricable from phonology – into a cooperation not with the signified, but

5

Lacan: The Instance of the Letter, p. 424.

6

Freud: The Interpretation of Dreams, p. 296.

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with the letter in order to create discrete series of differences.7 Signifiers accumulated into chains without any outside reference bear no resemblance to those signifieds that are associated with them: while the latter may have already occupied the position of the former,8 the origin of the signifier does not have a binary nature, whatsoever. The letter from the Real is, on the one hand, without an other, the same way that the Other (a modulator according to Lacan, in this case as an Imaginary algorithm for signification) has no other:9 it cannot be brought into a binary opposition since it is the letter itself that paves the way for such oppositions. On the other hand, Lacanian theory ought to constitute a relation between the letter and the signifier in a way that transcends the canonical presence-absence dichotomy of the Symbolic register. Because only then can it provide means of successfully reflecting on both sides of the Symbolic/Real rift. Secondly, similarly to Saussure, Freud nonetheless maintained that pictures seen in dreams had to be understood according to their place values in signification. Consequently, whenever the hieroglyphic dream-writing was translated back to dream-thought, this action produced the meaning of a dream for him.10 Furthermore, in The Interpretation of Dreams, the theorem that elements are exchangeable thanks to their linguistic value had already been exploited more than one time before Saussure eventually postulated it in linguistics.11 One of Freud’s preeminent examples was a dream of a mother whose daughter had attended a prestigious school in Vienna. Based on the proverb “time is money,” in her dream, the daughter would have liked to pay 3 florins and 65 kreuzers instead of just 21, which alluded to the request from the principal to stay at the school for another year, instead of the remaining three weeks until the holidays.12 Yet, for Freud, breaking up a year into 365 days – and likewise, three weeks into 21 days –, then exchanging the sum for currency were executable operations primarily not due to the dynamics of linguistic values – since numbers are traditionally regarded as elements external to language. Their signifying ground, the numeral, is yet an eminent factor of what the letter can construct in itself, without any fixed signifier-signified relation attached to it.13 And this asemantic

7

Bitsch: Diskrete Gespenster, p. 142.

8

Derrida: De la Grammatologie, p. 16.

9

Lacan: Le désir et son interpretation, Paris p. 308.

10 Freud: The Interpretation of Dreams, p. 296. 11 de Saussure: Course in General Linguistics, p. 115. 12 Freud, The Interpretation of Dreams, pp. 423f. 13 Taking the differentiation between number and numeral, and the conversion of the former into the latter as an eminent process of signification, Kittler declared that

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matter is just what Freud elevated when he described the basic mechanics of dream-construction through the logical techniques of comparison, contradiction, enumeration, etc., ultimately identifying each of these actions as inherent to the structures of the dream-content, instead of having them been mapped out in the dream-thought beforehand.14 Thirdly, Freud’s technique also suggests a certain ambiguity that significantly distinguishes it from Saussure’s idea of signification. His operations of unearthing morphemes from dream-images, and reordering them so as to produce different words had validated the very inverse of the relation later envisioned by Saussure between signifieds and signifiers. For the reason that via posing pictures as signifiers for word-parts, dream-contents could become signifieds instead of signifiers. This bijective connection constituted a field accordingly, in which – through dream-interpretation and its progression in the very opposite direction than that of the dream-work’s – signifiers are paired up with signifieds due to the insistence of the non-semantic letter as an anchoring point (point du capiton). It initially determines the roles of the sign-parts (as either signifiers or signifieds), and paired up with a signifier, the letter is capable of constituting an enigma or rebus.15 This also elucidates how signifiers assume their values in visá-vis relations, without having to refer to signifieds. The letter plays its part in opening the way to such a possibility, but as a repercussion of its work, it additionally exposes a gap between its own “pairless” existence (i.e., being without an other) and constitutive capability (i.e., making up a symbolic chain, including either solely signifiers, or signifiers and signifieds). Therefore, however paradoxical it may sound at first, the letter still takes the lion’s share in maintaining the signifying function of any signifier. But while it inevitably constitutes the Symbolic (Order) through participating in coding one-to-one relations, it is initially rendered in the dimension of the Real. This chasm of the Symbolic and the Real in signification – as Annette Bitsch has wittingly put it – is Freud’s operationalized message.16 Or in other words, Lacan’s psycho-semiotics in practice. Psycho-semiotics or psycho-semiology was a term coined in the Germanlanguage reception of Lacan by Michael Wetzel’s theoretically mildly amusing

numerals became the signified determined by reading and writing, while the number itself was regarded acoustic (as signifier) in this inverse construction by him. Kittler: Zahl und Ziffer, p. 195. 14 See Freud, The Interpretation of Dreams, pp. 328f. 15 Cf. Ibid., p. 296. 16 Bitsch: Diskrete Gespenster, pp. 142f.

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book in the 1980’s.17 Wetzel traced the metamorphosis of Freud’s “theory of signs” from the Project for a Scientific Psychology (the so-called Freudian Entwurf) to The Interpretation of Dreams, differentiating the two on the basis of how in the former semiotic processes can be reconstructed and by what means in the latter the psychic apparatus functioned alongside them. Wetzel’s concept underwent a complete makeover in Nina Ort’s dissertation that introduced it to the scene of German media (cultural) studies with a Luhmannian touch. Ort argued that Lacanian semiotics, after having been enhanced with a temporal dimension, came close to what Hegel called “schlechte Unendlichkeit,” which is basically an infinite loop between two extrema. Yet psychoanalysis did not overlook complementing infinity with the features of the Möbius-strip.18 Therefore, infinite regress happens on one plane and “between” one point: the possibility of iteration is still preserved in spite of the erasure (in signifier-signified relations) of the origin (i.e., the letter). Consequently, the game of fort and da (evoked in Beyond the Pleasure Principle) that Freud’s grandchild plays with a reel on a piece of string is interpreted by Ort as the production of signifiers via the interconnection of absence and presence, zero and one in such a way that a certain simultaneity between the mentioned two states are presupposed in the instant of the act of coding. In this fashion, psycho-semiotics avoids producing internal differentiations (e.g., medium and form) due to the special topological form (the Möbius-strip) utilized as a model for its semiosis.19 In other words, the infiniteness of iterativity is maintained, but the position of an arbitrary starting point, one which is also an endpoint, evidently, is in constant slide. The issue of how the difference – which is both preliminary and inherent to signification – gets postulated in Lacan’s system is always addressed with respect to an aspiration to establish spatial and temporal continuities,20 so to say. Yet, if Lacan found topological modelling (“topologerie,” as he liked to call it) as an exclusively adequate expression of such operations of psycho-semiotics in his later years, why did he begin his criticism of Saussure with discussing aphasia? Lacan seems to accept the vulgar-structuralist axiom of “langage” being composed of langue and parole, but alludes to aphasia one and the same time, which actually complicates drawing sharp distinctions between language and

17 See Wetzel: Psychosemiologie. 18 See Ort: Objektkonstitution, pp. 121f. 19 Ibid., pp. 204, 228. 20 Cf. Bitsch: “always crashing in the same car”, p. 330. The process of rehabilitating a supposed spatial continuity can be demonstrated by the mirror stage, while temporal continuity is resolved through the loss of a primordial object, for instance.

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speech. Lacan’s motives here definitely need some contextualizing. On the one hand, we can rightly suppose that Lacan chose to discuss aphasia at the beginning of his essay since this had been a subject on which the young Freud wrote an article to the Diagnostisches Lexikon für praktische Ärtze. This essay, published in 1893, was the first in the series in which Freud first used the term “thing” (as Objekt) – a concept that appeared in Lacan’s The Instance of Letter as chose for the first time, and then turned into objet ([petit] a) a few years later. In Freud’s text, aphasia was defined as a cluster of acquired disorders in either the production or reception of speech, which was nevertheless independent from defects in the physical apparatus responsible for speaking or hearing: a mute or a psychotic cannot be aphasiac.21 Happy with this definition, Freud continued his essay with investigating how writing and reading – as two activities usually learnt later than speech – could produce new optical engrams (i.e., memory traces) on motoric and perceptive levels which would be linked to the network of those engrams that had been acquired acoustically beforehand. When this connection was established, then a word began to possess a fourfold representation, made up from a sound-image, a kinetic image of the articulated word, as well as an optical and a kinetic one of the written word. Freud emphasized the importance of these aspects being connected to each other, and thus their mutual reconstructability from memory. This complex of word-representations (Wortvorstellungen) are related to an object-representation that had tactile, acoustic, and visual elements too. Their junction was not arbitrary, however; a word’s acoustic representation was linked to an object’s visual one. Although this constellation is way less sophisticated semiotically22 than even Saussure’s famous figure of the tree and its word-image,23 it still bears some importance to Lacan in introducing his idea of psycho-semiotics. One of Lacan’s most basic theorems includes the signifier representing the subject for another signifier. Signification in this manner realizes a chain of relations with signs referring to each other, yet the thing is not excluded from this relationship entirely. Following Freud, Lacan supposes that the thing (chose) is

21 Freud: Aphasie/Aphasia. 22 Freud later reformulated his idea of the thing and its representation as being linked to word-representations in his Entwurf, and also revised it one more time in Appendix C to his metapsychological writing The Unconscious. Here, I will omit explaining how Objektvorstellung (1891) would later be labeled Dingvorstellung (1895) by him only to give way to its final form as Sachvorstellung (1915), for the reason that it would only lead my main argument astray. 23 See Saussure: Course in General Linguistics, p. 67.

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not a referential entity external to signification;24 on the contrary, the thing seems to modulate this dynamism since its meaning-production in language becomes operational prior to words.25 So, when Lacan proposes that “it is the whole structure of language that psychoanalytic experience discovers in the unconscious,”26 it is not the same as declaring that there are solely linguistic elements in the unconscious. The lack of a bijective relation between language and the unconscious is crucial in this regard because it clearly proves that signification is not the personal business of signifying and signifiable factors. Moreover, the concept of the thing played a leading role in both Lacan’s return to the Freudian basis of psychoanalysis (he even reached out to an it-narrative in his Freudian Thing with a speaking writing desk, for instance), and his breaking away from Saussurean semiotics – a process which reached its peak in 1961 with the paper The Subversion of the Subject and the Dialectic of Desire in the Freudian Unconscious. All in all, Lacan could not have found a better stepping stone than the thing, for establishing his psycho-semiology as a reevaluation of Saussure’s own. On the other hand, aphasia comes into the picture for an undoubtedly rather less shady reason too. When Lacan states that “although the deficits of aphasia are caused by purely anatomical lesions in the cerebral systems that provide the mental center for these functions, they prove, on the whole, to be distributed between the two aspects of the signifying effect of what I am calling here ‘the letter’ in the creation of signification,”27 he alludes to Jakobson’s essay on the topic. In his works, aphasia assumed an intermediary role,28 one which Lacan is eager to associate with the letter. This association on Lacan’s part is not simply based on the fact that for Jakobson aphasia always occurred as a middle-ground between speech and language, covering the acts of both selection and combination. In Jakobson’s text, the ambiguity of aphasia stemmed from its being both a concrete psychosomatic dysfunctionality and a model for taking language apart,29 which is made good use of by Lacan when he states that even though it is initially both a physical (sensory and motoric) and psychical symptom,30 it can still assist in defining operations that are far-fetched from anatomic processes. The

24 Lacan: The Instance of the Letter in the Unconscious, p. 415. 25 Freud: Aphasie/Apahasia, n. p. 26 Lacan: The Instance of the Letter in the Unconscious, p. 413. 27 Ibid. [my italics – R. S.] 28 Jakobson: Two Aspects of Language, pp. 59f. 29 Aphasia’s modeling potential reaches its climax when Jakobson starts to associate it with the poetic figures of metaphor and metonymy. See Ibid., pp. 76-82. 30 Lacan: Les Psychoses, p. 254.

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reason why Lacan keeps beating around the bush at the beginning of his The Instance of the Letter, with referring to the structuralist linguist Jakobson to launch his attack on structuralist semiotics originating from Saussure, is to implicitly articulate the bold suggestion that there is a chiasmatic relation between the dynamisms of aphasia and the letter. They share an aspect by which they are both put to use in enlightening a certain phenomenon; aphasia is related to language the same way the letter is related to signification. In other words, the letter distinguishes itself from those psychical and physical processes that assist the articulation of language in the speaking subject,31 just like aphasia is distributed between but does not exclusively belong with either physical or mental aspects of speech. Likewise, just as aphasia can be utilized to model verbal actions, the letter is applied to cut signification into phases.

SAUSSURE’S ALGORITHM Revising his langue–parole opposition on this basis, Lacan defines the letter as a material support that is borrowed from language by speech, or, better to say, by “concrete discourse,” which, in spite of being “concrete,” is separated from somatic and physical processes32 – so, its materiality does not stem from articulation. This so-called concrete discourse belongs to the elements that modulate the yet-conscious dimension of speech, even though it occurs exactly when the letter leaves this area that it becomes a manifestation of symptoms (like Freud’s rebus); the “[h]ieroglyphics of hysteria,” the “blazons of phobia,” and the “[blueprints for the] labyrinths of Zwangsneurose.”33 Via leaving conscious concrete discourse (hence, via becoming unconscious), the letter starts to operate as a mediator between speech and all those symbolic interactions that are labeled language in psychoanalysis. While according to Lacan, the most characteristic feature of the signifier is that it exists in being articulated,34 and thus being of a primarily sonic nature, the letter, far from any acoustic properties, executes a signifying effect in which materiality simply constitutes one side of a binary difference – an evident allusion to Saussure’s idea that the signifier possesses materiality insofar as it is opposed to the signified.35 Consequently, the letter car-

31 Id., The Instance of the Letter in the Unconscious, p. 413. 32 Ibid. 33 Lacan: The Function and Field, p. 232. [translation modified – R. S.] 34 Lacan: The Instance of the Letter in the Unconscious, p. 418. 35 Cf. Saussure: Course in General Linguistics, p. 66.

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ries out a peculiar oscillation between speech and language, belonging to neither, while lending the signifier the ability to participate in signification. Lacan elaborates on this with telling a story a propos Saussure’s admittedly erroneous diagram of the word ‘tree’ and its acoustic image.36 Two children sit opposite each other in a train compartment. When the train stops at a junction, they see public restrooms across another rail line, hence the train is not directly next to the platform. At this moment the girl says that they are in hommes, and the boy states that they are in dames. The situation is as follows: while “hommes” and “dames” both refer to identical restroom doors, they would be antinomies in principle. This is quite similar to Frege’s aporia of the Abendstern=Morgenstern.37 But however identical the doors might be to which “hommes” and “dames” refer, because of the ontological basis of sexual difference, the words dames and hommes are always complemented by object relations too; a spatial divorcement comes into operation. The doors of the restrooms are situated opposite each other, just like the boy and the girl in Lacan’s example. Moreover, both characters suffer a (urinary) segregation from the door they point to, not simply because there is a rail line between them, but also because the children are forbidden to enter both of them: the girl cannot go to the boys’ toilet, and vice versa. Whereas one of Derrida’s main ideas is that the signified has always already occupied the position of the signifier, Lacan concentrates on the double movement within signification with this tale. Besides the signifier being articulated (e.g., when the boy says dames) on one end of the rail line, and the sliding of the signified (the door) under – or in this case, next to – the bar or slash (railroad, see figure 1), such a dynamism consists of the signifier entering the signified. According to Saussurean modelling, it would mean that the signifier gets recorded onto the small plaque on the door in the form of figures or writing, or both. This “entering” is, however, closer to the idea of the relationship between numbers and numerals, than that of Saussure’s semiotics: the numeral (as signified) becomes a matter of reading and writing, while the number (as signifier), when articulated, does not point to, but turns into a written numeral (see fn. 13), because there is no chance on Earth that it would conventionally refer to anything else after the shift from tangible Roman lines (i.e., numbers that can be counted by hand) to the purely symbolic notation of Arab numerals.38 That is why “hommes” and “dames,” exactly due to reasons outside signification –

36 See Lacan: The Instance of the Letter in the Unconscious, p. 416. 37 Cf. Ibid. 38 See Krämer/Bredekamp: Kultur – Technik – Kulturtechnik, p. 17. Prof. Ludwig Jäger also briefly touched upon the subject at the workshop.

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backed up by Lacan’s strange half-sentence, concerning a shortsighted man who examines the plaques and takes the wrong door in the end –39 cannot be signifiers, and thus would rather have to be (institutionalized) signifieds; just like numerals are. Because the connection between male and female figures on restroom doors, or between the words themselves is not modulated by the Symbolic (by a code), but by ontological and social constructions. It is a simple case of segregation: men go to hommes and women go to dames. In the binary logic of Saussurean semiotics “hommes” and “dames” are unquestionably signifieds: the articulated word occupies one end of the rail line, while image and/or text stay on the other end. Figure 1

For Lacan, however, the relation between man and woman is far from being established on issues of either sex or gender: “il n’y a pas de rapport sexuel”, as his famous phrase from seminar XX, Encore goes. One would be tempted to label the connection established between hommes and dames much less an antinomy but a synonymy then, as discussed in Jakobson’s paper on aphasia: words that belong to the same code, sharing similar semantics – differing in speech and writing, but pointing to the same referent.40 According to Lacan, neither are correct, however: the connection between “hommes” and “dames” is posed as a simple manifestation of basic binary coding with 0s and 1s. Woman and man do not differ to the slightest from day and night, or from states on and off; they are not empirically conceivable pieces of experience in the first place – e.g., night is not simply the appearance (or presence) of darkness, but also the absence of

39 Lacan: The Instance of the Letter in the Unconscious, p. 417. 40 Cf. Jakobson: Two Aspects of Language, p. 61.

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light.41 This ambiguity of presence and absence does not produce independent signifiers in Lacan’s view but substantiate the vis-á-vis relation of 0 and 142 – this is how fort and da become intertwined in psycho-semiotics. This “both and neither” structure is the letter, from which chains of codes stem, thereupon modulating each and every articulated signifier. Consequently, restroom doors can execute an act of signification due to juxtaposition: pointing out any signifier in the plaque is problematic since “hommes” and “dames” can either be postulated as synonymies – pointing to a duplex signified (“both”) – or they stand for opposing signifieds (“neither”) as antinomies, within the iteration of signifiers. So, where can signifiers be found in such a system? In the written yet inarticulated letter s at the end of both “hommes” and “dames.” To signify the signifier, this s has to cross the bar – be it railroads or Saussure’s slash –, and so can it, for the reason that it has something in common with the bar itself: turning to Lacan’s Encore once more, the bar is already superfluous because the s-s are already written, and they are not up for interpretation.43 They are what Saussure called “fictitious offspring[s] of writing.”44 Figure 2

Still, at the heart of the matter lies the line’s potential to build up different tubes, either straight like a railway tunnel or curvy like a toilet’s drainpipe (“coudes

41 Lacan: Les Psychoses, p. 169. In the essay under discussion, Lacan briefly brings up this issue, naming experience as an after-effect of a primordially established discourse, which might be an implicit reference to Lévi-Strauss’s work on kinship and gift-giving. See Lacan: The Instance of the Letter in the Unconscious, p. 414. 42 Bitsch: Zwischen Linguistik und Kybernetik, p. 278. 43 Lacan: Encore, p. 35. 44 Saussure: Course in General Linguistics, p. 31.

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aux canalisations”) – or the letter S itself, for that matter.45 This way, the letter can get to be equated either with the bar or with the entire S/s algorithm of Saussure that no longer represents but modulates signifying relations according to Lacan – I will refer to this as “psychoanalytic computation” from now on. In this formula, the signifier still preserves its respective materiality even if it is not opposed to a signified because the letter as an effect in signification – and from which the signifying algorithm (S/s) itself can be extracted – mediates between the signifier, its notation,46 and the non-semantic and non-semiotic aspects. In other words, the letter as the non-signifiable and non-signifying dimension of signification, which does not offer itself up to understanding, is first and foremost the bar turning into the letter S via blending it: “the point at which, in every use of language, writing (l’écrit) may be produced.”47 This is why it is significant that Lacan states: Saussure’s algorithm is neither a sign, nor built up from signifiers and signifieds, since it cannot be articulated unequivocally – is it S per s, S above s, signifier slash signified, etc.? That is exactly the multidimensionality which Saussure exiled from his semiotics – with the example of naval signs –, because it cannot be produced by a difference, yet, for Lacan, it simultaneously provides and modulates the structure of signification. The letter (S, / or S/s) requires a single signifier for such an action, just like day and night as a whole incorporates the interconnections of presence and absence, upon which the infinite iteration of 0s and 1s is based. This clearly indicates the disparate standpoints of Derrida and Lacan from where their respective criticism was articulated towards Saussure. Whereas Derrida focused on the issue of to what extent the relationship between signifiers and signifieds is unable to produce a difference that would act as a basis for all signifying acts – hence Derrida was interested in the eventuality of signification, or, better to say, in the act of unfolding for an event which constitutes a stage in the différance –,48 Lacan was more concerned with how the letter as an operator for binary coding produced an algorithm via cumulating the structure and the modulation of signification. I do not intend to revoke the criticism that has recently been directed towards Derrida’s original reappropriation of writing by Sybille Krämer, Werner Kogge and Brian Rotman,49 yet I would like to point out

45 Lacan: The Instance of the Letter in the Unconscious, p. 418. 46 Cf. Dotzler: Zeichen in Eigenregie, p. 309. 47 Lacan, Encore, p. 35. (translated by Bruce Fink) 48 Cf. Derrida: De la Grammatologie, p. 95. Also see Derrida: Différance, p. 8. 49 See Krämer: Operative Bildlichkeit, pp. 99f. Kogge: Erschriebene Denkräume, pp. 144-147. Rotman: Becoming Beside Ourselves, pp. 148, 168.

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a common argument they all seem to share. If Derrida had most certainly extended the concept of writing, he still overlooked doing the same for language – he never bothered to include programming languages or mathematics, so all those initially non-semantic practices in which a peculiar kind of semiosis can still be in operation. And if writing in his thought could only manifest as language, then this intramediality delimited any potential outside of it.50 Simply put, if Derrida famously argued that Lévi-Strauss’s illiterate label had been put on peoples who did not possess a certain type of writing,51 Lacan had showed avant la lettre that Derrida’s idea of writing was only valid for a certain type of language. Since the letter S can automatically become a signifier exactly because of the letter belonging to the non-signifying horizon of signification, algorithmic dynamism does not carry any signifying eventuality, similarly to the graphic connection between S and / (see figure 2). The Saussurean algorithm becomes operative when the S starts to leave the plane of the letter and fits into a binary opposition, a movement that concerns both Symbolic and Real structures; when hardware is modulated via coded logical operations52 – faster than human perception, that is, above the perceptive threshold of the shortsighted man who loiters around the restroom. This tension, however, is already included in the notation of the signifier (S), in a manner that there can be no opposition between letters. Take, for instance the letter H: it can either signify Hungary or Hydrogen, but only if it is opposed to B (Belgium) or S (Sulfur), yet B might as well be Boron and S can be Sweden as well. One thing nonetheless insists as a remainder in any case, and it is what Saussure called pure negativity. The handwritten letter t that almost turns into a slash even in his Course was supposed to be an eminent example for a transfer between two systems: when elements from the outer (writing) are transported to the inner system (language). It works the same way in intermedial transfer according to Saussure: if a particular language lacks a certain phoneme, then an existing one from another can be substituted for that in speech (e.g., the German ch for the French r). Saussure’s analogy with the letter t sheds light on this operation: one can write ts endlessly, no matter how distorted they may be, as long as they can be recognized.53 Lacan, in contrast, seems to prefer paying attention to the operator to considering the substitution of phonemes: for him, the importance of the / between the S and the s cannot be overstated. In my proposed

50 Krämer: Writing, Notational Iconicity, Calculus, p. 520. 51 Derrida, De la Grammatologie, pp. 175f. 52 Miyazaki: AlgoRHYTHMS Everywhere, pp. 135f. 53 Saussure: Course in General Linguistics, p. 119.

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example, the relation of H and B is modulated by the presence or absence of :, thus seeing either an abbreviation (e.g., Hofbräu) or number plates is dependent on that operator. Therefore, what is contained in the letter is not an act of signification but the possibility of graphic polyphony. It is, as Karlheinz Lüdeking has put it with his example “Bildlinie/Schriftlinie,” exactly the isolation of the letter that grants its multidimensionality: a slash can “mean” and, or, small l or capital I.54 The latter being the English equivalent of Ich, and as Lüdeking comments, this graphic ambiguity of the line clearly demonstrates both the insistence of the letter and the fragility of the subject55 with the vagueness of the capital I. The connection between the signifier’s graphic basis and its functioning in binary oppositions, however, is not a binary opposition since the letter has no other. Owing to this, the letter cannot become a signified either, and rather provides the structure of the signifier.56 It is true that Derrida also argues for situating the difference required in signification (as well as the opposition between words [e.g., singular and plural forms as in Saussure’s example of Nacht : Nächte])57 as a dynamism that stems from outside signification, but Lacan goes even further: according to him, the signifier has always already possessed materiality due to its notation, which never totally ceases – not even when a signifier is decoupled from a signified. This is why Derrida focused so intensely on Saussure’s first axiom of the unmotivated nature – or better to say, the becoming unmotivated – of the sign, while Lacan concentrated on the movement from the pairlessness of the letter to the binary opposition of the sign, without a total subtraction of the former from the latter. This movement is called articulation by Lacan: it is how the bar (barre) can become a tree (arbre) in Saussure’s diagram, thanks to the combinatorics inherent to the letter.58 At the same time, Lacan also draws our attention to the technical basis of signification: the mute s at the end of both hommes and dames is articulated whenever a singular-plural opposition takes place, but only after the letter already localizes the signifier in Garamond or Didot fonts.59 Opposing this, Saussure’s algorithm that likewise consists of the letter s, according to Lacan, is already articulated in writing since it is performative to signification, yet due to its equivocality discussed above, it cannot be considered a sign.

54 Lüdeking: Bildlinie/Schriftlinie, p. 14. 55 Ibid. 56 Lacan: The Instance of the Letter in the Unconscious, p. 418. 57 See Saussure: Course in General Linguistics, p. 121 58 Lacan: The Instance of the Letter in the Unconscious, p. 419. 59 Ibid., p. 418.

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Therefore, the letter provides the structure of the signifier according to Lacan’s paper, as well as paves the way for operations that do occur in language, in spite of them not being included in signification understood as an act which is based on binary differences and oppositions. In other words, despite signification being rooted in the binary, its material basis cannot be coded. And Lacan argues that language originates from this non-codable graphic source: the signifier simply distances itself from it(s notation) so as to start acting as an actual signifier that can construct chains. This movement is outside signification but grants the program of language60 – like Saussure’s algorithm. Tracing back signifiers to letters as interpretation in psycho-semiotics accordingly makes the structure of language linked to operations of ceaseless coding and deciphering, while it desemiotizes the algorithm itself. This transfer is beyond the frame of semiotics nonetheless, and yields to computation. Psychoanalytic computation with the elements of the Lacanian algebra produces algorithms that corrode the very semiosis which handles formalization as experience61 instead of a mathematical process.62 Because it is only mathematical formalization which can suggest a factor modulative enough to connote the dynamic interrelation between the Freudian fort and da in such a manner that it will never fall into a signifier-signified binarism.63 Therefore, in contrast to Saussure’s second axiom of the sign being linear,64 Lacan promotes the wave-like movement – which is the simultaneous progressing of the signifier and the signified in Saussure’s, and the means by which the latter leaves an imprint on the former as the act of signification (see figure 3)65 – as a necessary and not as a sufficient condition for constructing chains of

60 Lacan: Les Psychoses, p. 188. 61 Cf. Lacan: The Instance of the Letter, p. 415. 62 See Lacan: The Function and Field of Speech and Language, p. 237. 63 Linguistic formalization that dominated the propaedeutic of structuralism had already turned out be less and less capable to cope with the new extremities that analysis had to face as early as in the 1960’s. Lacan can be considered one of the whistleblowers for the inadequacy of linguistics (understood as general semiotics [Dosse: History of Structuralism, p. 129]) as a model for structural analysis, urging a development of a program for the humanities that would resituate the disciplines as “sciences de la subjectivité” via mathematical means (see See Lacan, The Function and Field of Speech and Language, p. 253.; Id., Le moi dans la theorie de Freud et dans la technique psychanalytique, p. 339.). 64 Saussure, Course in General Linguistics, p. 70. 65 Ibid., p. 112.

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signifiers. It also needs the plurality of diverging processes as originating from the letter, like nautical signs which in Saussure’s semiotic theory, as was mentioned earlier, do not count as actual signs because they cannot be unequivocally codified due to their multidimensionality.66 This multidimensionality, however, proves to be a key factor in how signification is produced in Lacan’s psychosemiotics; instead of promoting the one-dimensionality of the signifier as proposed by Saussure, he refers to the Geneva-based linguist’s volume on anagrams, edited by Jean Starobinski.67 There, polyphony was provided by how a word could reside in another in case of hypograms, or how the customary direction of reading from the left to the right was reversed by palindromes. This becomes a model for Lacan of how chains of signifiers can be linked together with the letter (viz. combinatorics inherent to the letter) as an intermediary, like one necklace to another.68 In his book on the voice, Mladen Dolar interprets this passage of Lacan as proof for his thesis that from a functional angle, there is no difference between the letter and the voice in Lacanian theory.69 Dolar states that even though the voice has no place in speech (and neither does the letter in language), it still assumes agency in articulation via maintaining an oscillation between the inside and the outside (Symbolic and Real). He describes two possible cases of how the voice/letter can partake in composing a necklace: either pearls (as signifiers) fully cover the voice/letter that stands for a string, which means that signifiers can be connected due to the voice/letter in the background, or the voice/letter is in itself the connection between signifiers (like, for instance, snaps between pearls).70 In other words, the letter is either the notation that produces the signifier (pure structure, like the l in Lüdeking’s example), or the slash between signifier and signified (pure difference, like the / in Lüdeking’s example), or in Saussure’s case, the colon between Nacht and Nächte that holds together the opposition.71 Apart from the fact that what Dolar states is undoubtedly true for the letter, he misses the context in which Lacan put this analogy forward in the first place.

66 Ibid., p. 70. 67 Lacan, The Instance of the Letter, p. 440 (fn. 12). 68 Ibid., p. 418. 69 Dolar: A Voice and Nothing More, p. 149. 70 Ibid., p. 23. 71 Saussure: Course in General Linguistics, p. 122.

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Figure 3

The necklace-analogy comes up in Lacan’s essay when he begins discussing Saussure’s diagram (see figure 3) in which the “indefinite plane of jumbled ideas (A)” wimples the “equally vague plane of sounds (B)”72 in the same manner as breeze generates waves. Following Saussure’s idea, speech and its reception would have to be one-dimensional, ending up in a linearly progressive and indivisible chain73 that excludes each and every means of return or anticipation. On the one hand, Lacan expresses that the signifier always anticipates another,74 thus, instead of two waves (like hot air and cold air)75 running parallel to one another (and at times, intermixing), Lacan sketches a linear chain of signifiers, and yet another which forms a parabola in reverse, consisting of signifieds. Figure 476

72 Ibid., p. 112. 73 See Lacan: Les Psychoses, p. 296. 74 Lacan: The Instance of the Letter, p. 419. 75 Ibid., p. 418. 76 Fink: Reading “The Instance of the Letter in the Unconscious,” p. 89.

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While this would more accurately model how meaning could be produced in signification on a Saussurean basis than Saussure’s own diagram, Lacan nonetheless rejects the application of this structure to his own idea for meaning-production. The following sentence, “Whence we can say that it is in the chain of the signifier that meaning insists, but that none of the chain's elements consists in the signification it can provide at that very moment,”77 is in fact a chiasmus to how signification is achieved with the letter’s assistance. To the meaning that insists in the chain of signifiers no element of the chain actually belongs – hence the importance of aphasia being the model for this logic. Signification and meaning have nothing to do with one another in Lacan’s view, yet the latter still insists in the former to a certain degree: insofar as the chain is constructed by signifiers that are based on the letter. And to get a better grip on this, Lacan introduces a vertical axis78 in addition to the horizontal one already present in Saussure’s, and enhances its purely scansioning role (check the dotted lines in figure 3), ultimately posing a score-like79 signification this way. Moreover, and on the other hand, Lacan does not stop here in turning Saussure’s concept inside out, or more accurately, from its head to its toe. Metonymically connecting waves and nautical signs, he transforms the vertical partitioning in Saussure’s diagram into a mirror-axis: waves (~) and lines (I) are both rotated by 90o, turning into S-s and bars, respectively.80 What Lacan calls “incessant sliding of the signified” under the bar81 is at the same incestuous because both elements of the sign are of the same origin, just like waves and lines are (or S and /). And this is what Lacan eventually calls the letter in signification. Therefore, apart from algorithms and graphic polyphony, the Imaginary of the letter also

77 Lacan, The Instance of the Letter, p. 419. 78 Ibid. 79 Strangely enough, this type of signification backs up the importance of the graphic horizon even more since the score is exactly the plane that dismisses any ideas of onedimensionality (Krämer: Punkt, Strich, Fläche, p. 86). The interaction of lines and notations attached to it enacts the inter-spatiality (Zwischenräumlichkeit) created by the inscription that divides the plane. Krämer’s theoretical father-figure in this question, Nelson Goodman formulated a bijective relation regarding the score: on the one hand, a category is defined by a score in each aspect, yet each element of a category defines the score, on the other (Goodman: Languages of Art, p. 178) – without belonging to it, we can add, if we want to close the analogical circuitry between the score and meaning’s connection to signification as based on the letter. 80 Lacan: The Instance of the Letter, p. 419. 81 Ibid.

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includes rotation. Language, according to Lacan’s view, comes forth from this self-scansion of graphemes which produces an assemblage: “letters make up assemblages; not simply designating them, they are assemblages, they are to be taken as functioning as assemblages themselves.”82 The result is an apparatus that depersonalizes speech and opens a way for leaving concrete discourse behind, whenever impersonally (mechanistically) modulated structures come to the surface. Let me return to Lüdeking’s example for a brief moment here, with introducing a twist to it: Blldllnle l Schrlftllnle. The line appears ten times: we can make out the i-s and l-s, but the meaning of the slash remains in the shadows – it could be either an or, or an and.83 It has no “other” with which it could be organized into an opposition, yet it can be iterated nine times. It is a character free from its chains (of signifiers), and thus can be repeated without meaning. This is when operative writing comes into the picture for Lacan, whereupon symbols in psychoanalysis are neither posed as abstract entities, nor as objects to assist identification any longer.84 Or they might just be the former, only to the extent as the Kittlerian example of √-1.85 This suggests that the Imaginary register has to play a crucial part in the relations of the Real (letter-notation) and the Symbolic (signifier-binarism) as far as the emergence of the scene of signification is concerned. It is not an image, but a calculus or algorithm that governs the transfer from the notation to the binary domain. Cynthia Chase’s frequently cited and enthusiastic essay – which pounced on the first chance in decades to rehabilitate the Imaginary at the end of the ‘80s, a register that had been given a bad name beside the more interesting Symbolic (back then exclusively identified with language) in the United States – nowadays would miss the point almost entirely if we are concerned with the productivity of the Imaginary.86 Because from a media-theoretical point of view, the Imaginary in Lacan’s psycho-semiotics no longer suggests how inscription prepares the conditions of phenomenalization for language,87 but rather demonstrates the opposite: how signs and codes can be cut off from their linguistic definitions and legitimize a subset of writing that has nothing to do with verbalization. The connection between numbers and numerals pop up here once again. The letter becomes equated with the imaginary number √-1 that seems impossible, but can

82 Lacan: Encore, p. 46 (translated by Bruce Fink). 83 Lüdeking: Bildlinie/Schriflinie, p. 15. 84 Lacan: Variations on the Standard Treatment, p. 290. 85 Kittler: Die Welt des Symbolischen, pp. 66f. 86 Chase: The Witty Butcher’s Wife, pp. 989f. 87 Ibid., p. 1005.

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be confirmed by mathematical proof; whose value is needless to calculate, yet still participates in operations. Just like meaning insists in oppositions for Saussure, the letter insists in codification for Lacan. It is an order that is not made, but executed:88 the letter partakes in operations but stays out of any oppositions. Saussurean semiotics, although provided the algorithm with S/s, is inadequate to enact this structure yielding to automatism, when it understands formalism as an instance of signifiable and, thus, perceptible experience (even in such figures of speech as waves being rippled by wind, or the “articulus”89 as an instant), instead of the action of switching reels on and off (like day and night, man and woman, etc.) which can be carried out due to iterativity (viz. the Freudian fort-da, yet the death drive is deprived of all energetic principles).90 Because unlike natural languages, “with algorithms, formalization comes first, the express aim being to divorce (formal) expression from (material) content completely.”91

PSYCHOSIS-SEMIOSIS So far I have showed why Saussurean semiotics turned out to be insufficient for Lacan to approach operative processes in language; Lacan built up his strategy firstly through associating the mechanisms of aphasia (discussed by Freud and Jakobson) with how the letter cuts signification into phases, and secondly, with modifying Saussure’s two maxima of the sign. I have argued that Lacan was interested in how the Real (the dimension that resists signification) got implemented into the Symbolic (coding) via the Imaginary, the latter which, I suggested, should be associated with the imaginary number instead of optical or imaginative factors. The letter’s nonsense materiality (stemming from the Real) triggers an algorithmic motion, which is based on the iterativity of the notation that is outside every opposition, but carries out the intermingling of 0s and 1s in a single signifier of vis-à-vis relations in the Symbolic, consequently opening the way for chains of signifiers. The letter in this iterative movement can bring forth an Imaginary formalization (producing S/s among others), that is non-codable, yet modulates every subsequent act of coding (signifier-signifier and signifiersignified connections): the letter (S) builds up the algorithm and returns in each and every act of signification – which is carried out via such an algorithm (like

88 Cf. Jakob Ulmann quoted in Ernst: Die Frage nach dem Zeitkritischen, p. 36. 89 Saussure: Course in General Linguistics, p. 113. 90 See Bitsch: “always crashing in the same car,” p. 111. 91 Goffey: Algorithm, p. 17.

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the s at the end of both hommes and dames) – as a non-signifiable component. Simply put, in psycho-semiotics, every act of signification starts from the Real, where the letter is a nonsense inscription, then an extrapolation takes place in the Imaginary (i.e., graphic polyphony), and ends up in the binary coding of the Symbolic. The algorithmic formalization of the Real with respect to signification is thus performative and not simply representative. The two registers of the Real and the Imaginary are, however, never eliminated completely from the Symbolic domain, and continue to operationalize their remnants there. This last piece is a crucial step in situating Lacanian psycho-semiotics as psychosis-semiotics because, despite popular belief, psychosis does not mainly manifest itself in hallucinations according to Lacan, but is triggered exactly by the lack of the Imaginary; the Symbolic is simply too close to the Real. Putting it differently, while everything seems to be included in the letter, the intermediary function of it is actually not executed. Resisting signification, instead of being represented by a signifier for another, the subject is faced with the senseless materiality of the letter, and thus encounters the very material basis of semiosis: like Thomas Pynchon’s Oedipa Maas in The Crying of Lot 49, whose investigating methods are realized via arriving from one random trace to another, yet these traces somehow turn into clues when, against all odds, she still reaches a climax. Or there is the abbreviation PC in Gravity’s Rainbow, which can either be deciphered as preconditioning or precognition for the very Slothrop who predicts the location of the next V2 missile strike. On Lacanian grounds, the unconscious must have taken action in both cases, which no matter how much is structured like a language, in its essence is not verbal, and has meaningless automatism in common with the letter. Like paranoid knowledge – as demonstrated by Oedipa and Slothrop – in Pynchon’s, psychosis is an eminent theme throughout Lacan’s oeuvre, and a predominant one especially in the 50’s. It actually brings us the closest to the act of signification in which signifiable (Symbolic) and non-signifiable (Real) factors are in constant interrelations in their purest form – without the intermediary Imaginary. This implosion of language between letter and signifier, in which the former serves as the notation of the latter, yields to the ceaseless folding of the Real into the Symbolic: cutting up a chain for the sake of binarism (and for sake of the endless iterativity of the act of coding as based on the endless iterativity of the inscription) – this operation in truth does away with binary oppositions. On an elementary level, the letter is a possible meeting point for code (Symbolic) and algorithm (Imaginary). When a program is executed with a manipulated chain, complemented with the impossibility that a code could ever assimilate its own governing algorithm, an empty space appears in the Symbolic due to the Real.

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This provides the source for the letter’s polyphony: a certain ambiguity that exists before articulation, thus pointing to the hardware of language. The logic of psychoanalytic computation falls in line with Turing’s own, accordingly: “If the whole memory were occupied by instructions, none of it being used for numbers or other data, and if each instruction were obeyed once only, but took the longest possible time, the machine could only remain working for sixteen seconds.”92 In psychosis, however, due to the immediate contact between the Symbolic and the Real, the code, on which an algorithm could be executed, is missing. Tracing back the process of signification to this state is nevertheless indispensable for Lacanian theory in order for it to reflect upon each stage: it is the only way to handle code (sign) and algorithm (signification) together since their common basis is most accessible in the state of psychosis. It also bears the consequence that psycho-semiotics begins to concentrate less on signs and more on the production of them, just like a psychotic pays more attention to the hands of an interpreter of sign-language.93 To achieve a better understanding of this, we can turn to another of Lacan’s letters. This time, however, it is not the well-known purloined one, but the letter circulating in France. Let’s suppose that I send a postcard from Paris to Le Mans with the message to forward it to Tours, then to Sens, then to Fontainebleau, and back to Paris. This sequence can be repeated ad infinitum, if and only if the message does not bite its own tail, so it has enough time to turn around (“revient sur lui-même”).94 For that, materiality and message, medium and algorithm, contrary to Derrida’s postcard from Socrates to Freud95 that contains the addressee and the message on the same side, have to become separated. The message must be ahead of the letter: in this fashion, when the latter is on its way from Paris to Le Mans, then the former already refers to the arc between Le Mans and Tours. Otherwise, a subversion was executed, which would ultimately yield to a breakdown: if the letter is between Paris and Le Mans, and the message performs the instruction of sending that from Paris to Le Mans, then the system starts to jam itself, suspending the circulation of data, triggering a tuché as a result; a superimposition of the Real on the Symbolic, kicking out the Imaginary, accordingly.96 That said, when the algorithm that controls the circulation between Paris

92 Turing: Lecture to the London Mathematical Society, p. 9. 93 Lacan: Les Psychoses, p. 145. 94 Lacan: Le moi dans la theorie de Freud, p. 111. 95 See Kittler: Signal-Rausch-Abstand, p. 163. 96 A telling literary analogy to this can be found in Umberto Eco’s Foucault’s Pendulum, when the global meet-off of the Templars falls through due to a calendar reform (the

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and Paris is suspended, it allows an immediate intermingling between the signifiable and the non-signifiable, sign and materiality: the performance of the channel enters the content of the message – without any modulation. Even though such circulation evidently needs a subject to the extent that someone has to forward it from one place to another, it still enacts the close circuit of machinic operations. As Kittler formulates it in a marginalia to the manuscript of his essay Farben und/oder Maschinen denken: “if a program finally runs, it has ‘literally’ drained the programmer.”97 It does not matter what the subject’s message concerns, the only imperative factor is how it can be transposed by the letter into code; psychoanalytic computation of language has thus become circuit-analysis as proposed with the overly referenced phrase that “the discourse of the other is the discourse of the circuit.”98 It is no longer the message of the subject that matters but the production of the message and the conditions of its circulation: psycho-semiotics turns to the non-codifiable factors that are established on the Real (and its Imaginary formalization). Channel and algorithm (the series of commands that maintains the circuit of the letter, in the Lacanian example) are subjected to a different set of rules than those elements which are produced by them. The Real via the Imaginary can algorithmically modulate the Symbolic, yet if the middle-man is missing, a new type of logic starts to take over the signifying scene. Therefore, Lacanian theory tries to access non-signifiable factors through the interactions of symbols, computing those building blocks of the Symbolic into each act of signification which are initially stemming from the Real; it is the instant when semiosis turns into psychosis. Daniel Paul Schreber – the subject of one of Freud’s most famous case studies, one which is based not on Schreber’s speech but his memoire – with receiving the messages of God, in fact acted as a telephone operator. It does not simply convey a state that evokes rudimentary call centers, where operators could not speak in their respective names and for themselves,99 because linking articulation in the third person with deixis to another, is simply a matter of discourse. When Lacan talks about the depersonalization of discourse (i.e., leaving concrete discourse), he imagines the process as a material event however. It owes more to impersonal structures being transcoded by the interaction of sym-

shift from the Julian system to the Gregorian one), about which the news did not reach every country in the world at the same time. 97 Kittler: Thinking Machines. 98 Kittler: Die Welt des Symbolischen, p. 79. 99 See Siegert: Switchboards and Sex, p. 85.

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bols,100 while this circuit does not materialize in verbal forms but in telephone lines, where the role of language gets neutralized as it takes after information more and more – substituting redundancy for repetition. This is why signification stemming from the letter and producing language always results in superfluous babbling over the phone, whereupon the circuit itself leans towards economical standards: to pass the greatest possible number of communications down one single wire. It does not call for either interpretation or understanding, but statistical ordering.101 According to Lacan then, contrary to any psychotic who claims to hear voices, it is thus not the babbling one is faced with in psychosis, but the material nonsense of the circuitry.102 No wonder that Lacan calls Schreber’s articulation a “raw source of a code,”103 which is addressed at a fundamental level with a primordial signifier that has been missing. This raw source of code opposes communication insofar as it emphasizes the non-codified factors of the Symbolic, a register which is produced by it in the end.104 Lacan also notes that since Schreber was not influenced by philosophy’s description of madness and its manifestations in human perception, reading his memoirs can indeed provide an insight into the psychotic structure,105 which is laid out as the switchboard for semiosis by him. And luckily, this is also the reason why it can pose a media-theoretical insight, too: while the voices Schreber hears teach him the code of a “fundamental language” (i.e., nerve-language),106 their message interlaps with the code, since the latter refers to the former.107 That is to say, when the message exclusively conveys the code by which it has been made possible, and if messages suspended in transit (“lettres en souffrance”) are referred to the very part of the code that manifests the faulty algorithm that is indispensable for circulation notwithstanding, then

100 Lacan: Les Psychoses, p. 305. 101 Cf. Lacan: The Function and Field of Speech and Language in Psychoanalysis, p. 247. 102 Much like Claus Pias formulated the indifference of what is said: “Draper tauschte unwahrscheinliche Menschenrede in (für Schaltzentralen) wahrscheinliche Signale, und dabei war es gleichgültig, ob diese Steuerungsinformation von einer Trompete, einem Tonband, einer Heimorgel oder einem geübten Gaumen herrührten.” Pias: Der Hacker. 103 Lacan: Les formations de l’inconscient, pp. 203f., also see p. 154. 104 Cf. Lacan: Le moi dans la theorie de Freud, p. 321. 105 Lacan: Les formations de l’inconscient, p. 204. 106 Ibid. 107 See Kittler: Discourse Networks 1800/1900, p. 287.

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madness hypostasizes.108 Yet, when the message refers to its coding so far as to establish a new code, it can also open a different signifying universe.109 Even though psychotics like Schreber possess the factor that constitutes codification, it is not by chance that Lacan associates the holes in Schreber’s commands as “another type of message” in itself, and presents it as primordially interrupted: “Il doit nommément ....”, “Maintenant je veux ...”, etc.110 It nevertheless happens without the Imaginary taking action, hence the non-signifiable halt does not receive a formalization (like √-1), and thus hallucination fully dismisses an imaginary principle – that is, of having an interface on which signifiers and signifieds correlate –, consequently presenting the letter in its ambiguity in speech and language. When Schreber as a coherer for God’s words is informed about a new world order by the voices,111 however much attention he may pay to the channel, he is still a victim of media technologies. Schreber carries out a “Korpsifizierung”112 whenever he codes external noise with that of his own body and produces media effects. To be capable of such an operation, the channel has already had to be constituted by Schreber beforehand, like an engineered telephone line: it is telling that the voices he hears never command him, which means that Schreber is in control of transmissions.113 This is more than a question of discourse. Because when Schreber – struggling with the delusion of becoming a woman – compares his own work to telephony,114 then he is transposed to the same state of medial schizophrenia that has overcome female telephone operators: transforming voice into signal, and forwarding it someone else.115 In Schreber’s case however, there exists a peculiar blindspot: he cannot recognize that he is not the one who receives the message, rather he is the medium itself. Schreber believes that no one can listen in to the conversation between the addresser and the addressee,116 and in some aspect he is right: as a mediator, he does not hear the ongoing conversation, only the noise that is produced via coding voices into letters that eventually make up his memoirs. Accordingly, Schreber’s medial transposition results in

108 Ibid. 109 Lacan: Les formations de l’inconscient, p. 204. 110 Ibid. 111 Schreber: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, p. 59. 112 See Bitsch: “always crashing in the same car,” p. 119. 113 Leudar/Thomas: Voices of Reason, p. 56. 114 Schreber: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, p. 277. 115 Cf. Siegert: Gehörgänge ins Jenseits, p. 68. 116 Schreber: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, p. 277.

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another; from the speaking subject’s other (as a conversation partner [alterego]) to the Other who governs the circulation of the message as an algorithm. This point is clearly indicated by the fact that the scribing agent of his memoirs remains ambiguous: his statements, relations, and environment are passively inscribed by creatures that are influenced by the rays of God.117 This brand new system of inscription (Aufschreibesystem) does not appear in active agency, but in passive articulation produced by media effects beyond language and semiotics. For example, when Schreber’s face miraculously turns red, he refuses to cool himself down with water, and expresses his wish about the disappearance of the heat instead.118 Furthermore, when he talks about the language of birds, or more accurately, about how birds articulate words to him, it becomes crucial that they cannot comprehend the meaning of those, yet the birds seem to be, according to Schreber, extraordinarily conscious about how his words sound: homonyms and cases of paronomasia and onomatopoeia affect birds to such a degree, says Schreber, that their mechanical chirring stops every time they hear morphemes that are similar to theirs in sound.119 If we now return to the curves of the letter S, Lacan’s coudes aux canalisations, the imaginary figure of the S as a toilet’s drainpipe120 can also get equated with its paronomastic “code for canalization;” the ambiguity for the psychotic is revealed in seeing the drainpipe and hearing the material capacity of the channel for transmission, whenever the Symbolic is mediated by the Real and not the other way round (i.e., via the Imaginary). The ambiguity, hence, does not solely reside in notation and signification, in the letter and the signifier, but poses itself as having already been burned into the hardware of semiosis, as made up by nonverbal factors, consequently cancelling out each and every integration of a circuit at the level of the Imaginary: operators are stuck and never come to be executed. This ambiguity of either seeing a drainpipe or a channel has to be postulated only after the decision has been made about whether the S is a letter or a signifier. And psychoanalysis draws back on this initial undecidability, which is at the same time inherent to the letter presymbolically, since, as Lacan puts it, in semiosis, the inscription has no other trait than being a chance for the existence of the signifier.121 When the letter enters the scene of signification only so far as to suspend the uncertainty in its graphic polyphony, however, it does not bring

117 Ibid., p. 123. 118 Ibid., p. 213. 119 Ibid., p. 192. 120 Lacan: The Instance of the Letter in the Unconscious, p. 418. 121 Lacan: L’idenfication, Paris [1961-2], p. 82.

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along this reduction as a loss. And a certain remnant of the Real and the Imaginary in the Symbolic does not provoke unmotivatedness either, but generates a random chance for the “return of the ox.”122 The iconic/Imaginary dimension of the letter here is postulated as a quotient (of probability). The letter as something figuratively workable, a token of graphic polyphony is far from being abstract, but functions as a tangible accumulator and equipment (bagage), providing the battery of signification:123 it triggers the processing and transposing of symbols, instead of the utilization of them for representation.124 Writing, both idiolectic and discrete, is thus preserved, along with its origin as an operational command scribed onto things:125 making up the material fundamentals of the channel for articulation, which itself resists any articulation. This is the only Lacanian axiom of the signifier; one which definitely justifies the psychotic state of psychosemiotics.

S IS FOR SNAKE(S) ON A TWO-DIMENSIONAL PLANE In psychosis, one is always confronted with the performance of the channel, and dives deep in the material basis of signification – as was discussed above. And that is why psycho-semiotics always already implements psychosis-semiosis for Lacan; it constantly comes down to the capacity of the medium, which is the potential of the letter for graphic polyphony in order to make signification occur, or in other words: each and every act of successful signification points to the hardware by which it is executed. The apparatus responsible for codification – whether it is the nerve-system of Schreber, which enables the inscription system to record, or the letter for Lacan that makes the signified cross the railroad of a bar to slide under the signifier – is consistently computed in the act of signification. Psychoanalytic computation hence is not established upon the principle of dividing language into smaller elements, then combining them to construct chains ad infinitum, but on the indivisibility and insistence of the letter. It is

122 Derrida himself said that such iconicity (i.e., seeing the reverse head of the ox in the letter A) does not belong with the movement of becoming unmotivated, but remains a question of reading. Derrida, De la Grammatologie, p. 409. I owe a thank you to Csongor Lőrincz for inquiring about this at the workshop. 123 Lacan: L’idenfication, p. 82. 124 Leroi-Gourhan: Gesture and Speech, p. 190. 125 Lacan’s examples mainly concern vessels and boxes that were used for storing goods in prehistoric “kitchens,” see Lacan: L’identification, p. 84.

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modulated by the algorithm of the Imaginary that has much more to do with the logic of the calculus than with language appropriated as a system.126 In signification, this is equated with the absence of the signifiable act, but also with the presence of the lack triggered by the Real in the Symbolic in psychosis. Consequently, Lacan’s psychosis-semiotic apparatus codes the processes of its own operations as a closed system with finite amount of symbols – just like Turing’s own.127 Lacan has discovered this potential already in Saussure’s algorithm that neither signifies, nor is built up from signs, but indeed controls the act of signification. This is why for Lacan, symbols do become no more than mere notations and as such, they function via being connected to other graphemes, while the letter – as a medium of symbols – begins to operate between the Imaginary (i.e. working with graphic entities, bending the straight line to make an S, rotating waves to S-s, etc.) and the Imaginary (i.e. the calculus, thus programmatic writing), enacting a constant tension: it simultaneously disguises its iconic origin and lets it come to the fore so as to take part in psychoanalytic computation. The Imaginary horizon of writing which was pitied by both Derrida and Kittler for being inadequate to operationalize the letter since it relies heavily on natural iconicity (i.e., motivatedness) seems to play a crucial role in Lacan’s theory of signification however. Because the Imaginary register, if it is understood as an imaginary calculus, does no longer maintain any contact with referentiality from which it could distance itself. All the more so, since Lacan defines the concept of the ideogram in Freud’s works as the non-signifiable factor that one cannot get rid of in writing, and has nothing to do with any natural analogy or indexicality.128 It is exactly the letter freed from the so-called phonographic doctrine – which is a liberation from necessarily maintaining any connection with verbality – that shows how much phonology is actually the epiphenomenon of graphism (with such operators as +, - or /).129 The Imaginary formalization of the Real results in an algorithmic modulation that neither fixes relations, nor visualizes them, but becomes performative with regard to signification. Just like the formalization of ordinal numbers has to come before that of cardinals since the former carries the means of seriality required in the latter,130 the Imaginary is already necessary for the extrapolation (i.e., graphic polyphony)

126 See Krämer: Writing, Notational Iconicity, Calculus, p. 526. Also see Gespräch mit Sybille Krämer, p. 238. 127 Turing: On Computable Numbers, p. 60. 128 Lacan: The Instance of the Letter, p. 424. 129 Cf. Krämer: Writing, Notational Iconicity, Calculus, p. 527. 130 Lacan: Le moi dans la theorie de Freud, p. 338.

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whose reduction is executed in the one-to-one coding of the Symbolic as based upon the vis-à-vis relation of 0s and 1s. That said, the Imaginary is only visual to the extent that it shows a syntax, the operativity of the structure of a signification process. Consequently, through the letter as the atomistic medium of language, and the algorithm that is produced by it, and to which it owes its dynamism one and the same time, brings about the introduction of the non-signifable’s processes into signification, henceforth the former starts to operate within the syntax of the latter; the Real (medium) becomes implemented in the Symbolic (message) with the Imaginary as an intermediary (algorithm). This way, it produces a machine capable of carrying out operations of which John von Neumann was only dreaming when he started building his MANIAC.131 He wanted an apparatus which could store both the information that determines a certain calculable problem and the data (signifier) generated while the problem is being solved with the help of those coded instructions (algorithm) that make this very machine operate;132 or, borrowing the taxonomy of Julian Bigelow, the Lacanian apparatus can compute sequence and structure together. Yet, this simultaneous computation does not mean that they can coincide or overlap: like letter and message in Lacan’s example of the letter circulating from Paris to Paris, or in Schreber’s case of a raw source of code, a clash would result in the breakdown of the circuit. The MANIAC would have functioned as digital psychosis just as much as psychosemiotics operates as a structural one. In conclusion, Lacan’s parabola concerning the restroom doors is very far from being just another funny anecdote in the oeuvre. Instead of sexual difference, it is the very bar materialized as another rail line between the train and the platform which separates the boy and the girl from the public toilets. It comes forth as the origin of symbolic relations exactly because it resists signification (like the Real’s letter). Therefore, the letter does not simply oscillate between speech and language anymore, but constructs a circulation between the Symbolic and the Real due to the Imaginary; instead of natural motivatedness, its iconicity induces polyphony in the letter, and then allows codification via reducing multidimensionality to 1:1 correspondences. In this manner, what seems to be a signifier through the train window, after crossing the road, starts to crawl up and down the corridor between train compartments, just like a snake, triggering dissent between the girl and the boy (just like that Biblical one) owing to its

131 Cf. Kittler: Die künstliche Intelligenz des Weltkriegs, p. 249. 132 Dyson: Turing’s Cathedral, p. 125.

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curves,133 whether they are in hommes or dames. The signifying algorithm (S/s) does not place dames and hommes as signifieds under the bar in the end, and in this fashion does not in fact double their objects, but actually displaces the subjects themselves; the boy and the girl pay attention to sexual relations (just like the short-sighted man) instead of the mute signifying difference between the singular and the plural executed graphically at the end of the articulated dames and hommes. The insistence of the letter is thus accumulated in the fact that the S on the plaque looks like a snake, but when it crosses the rail line and becomes articulated in turn, sounds like a snake too. Thanks to its tropological dimension, the onomatopoetic “incessant sliding of the signified under the signifier,” (“glissemant incessant du signifié sous le significant”) is nothing else than the simultaneity of the articulation of signification (S/s) and the act of signification itself (i.e., it is a figure of speech in itself).134 After all, it is not by chance that Kittler noted: Lacan was the first to realize that via controlling signifiers through algorithms, the disposition of the subject can be varied.135

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Textuality and Control The Vocabulary of Cybernetics in Wolfgang Iser’s Theories of Interpretation Gábor Tamás Molnár

What justifies the inclusion of a discussion of Wolfgang Iser’s theory of reading and interpretation in a volume entitled Sprachmedialität? Iser’s most influential writings, stemming from the 1970s and 1980s, are concerned with literary fiction and reader response. This area of study necessitates at least a cursory or tacit theorizing of literary language. Eliciting a fully developed theory of language, textuality or media from Iser’s work would be very difficult, but I will argue that his theoretical writing offers enough evidence to trace an insistent and continuously evolving thought process, one of the goals of which is to conceptualize language as a medium of communication. Seen from this perspective, his recurrent references to the technological aspects of communication and cybernetic theory, scattered throughout his apparently different works, allow the reader to perceive an evolution of Iser’s thinking. This evolution resulted in the consolidation of some themes that may have appeared of secondary importance in the heyday of the author’s influence but became cornerstones of his late theories, expounded in The Fictive and the Imaginary, The Range of Interpretation and his posthumously published volume, Emergenz. Given the sheer volume and complexity of Iser’s work, it is unfortunate that I can only discuss a limited number of passages and paraphrase a few arguments relevant to my topic. My aim is to demonstrate that his later theories, though less influential than The Implied Reader and The Act of Reading, take up some issues and themes that were underdeveloped in the earlier work, and as such can even be read as corrections of the previous theories. Seen in this way, the later work takes on a new significance, and even allows the critical reader to present the earlier, presumably better-known theory in a new light. I hope that my analysis

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will confirm Hans Ulrich Gumbrecht’s claim that Iser’s oeuvre can be read as a development of successive theories, each building on the conclusions of, and attempting to fill the gaps left by, the previous one. In this paper, however, I cannot focus on the historical repercussions of concept of emergence, rightly singled out by Gumbrecht as an indicator of the late Iser’s preoccupation with a theory of historicity, a necessary consequence of his previous discussions of literary anthropology.1 Instead, I will center my reading of Iser on his remarks concerning language, communication and media technology. Of special significance are (1) Iser’s changing positions on the particular character of literary communication vis-à-vis other media and other facets of culture, and (2) his gradually evolving understanding of the importance of interpretation, as regards the field of literary criticism in particular and the humanities in general. Reader-response theory, as Iser’s Wirkungsästhetik came to be known in the English-speaking world, has had long-lasting success in the field of literary pedagogy. The Act of Reading is a standard reference work even in books published after the author’s death.2 This continuing link between his theory and the problem of teaching is not by accident. Reader-response theory is often seen, especially in the Anglo-American sphere from which it also draws some of its main inspirations, as a helpful tool in the democratization of literary instruction. This theory liberates the reader from under the authority of the canon and the prescriptive models of interpretation prevalent in both historical scholarship and textual criticism. The shift from an authorial, historical-contextual or strictly textual strategy of interpretation to a new model that allows the reader to reflect on her own engagement with the text appeared to guarantee a more inclusive and democratic approach without rejecting the liberal humanist values associated with the study of literature.3 This reading of The Act of Reading is certainly not entirely wrong. Here, as in some of his other theoretical essays from this period, Iser starts out from a strong critique of what he perceives as “excavatory” modes of interpretation— the hermeneutic tendency to “seek for hidden meaning.”4 He identifies the classical norm of interpretation as a way of deciphering, which he then rejects because modern art has allegedly surpassed it. The meticulous reconstruction of a purported original meaning is not only impossible but also undesirable in literary criticism. In rejecting the excavatory hermeneutic strategy, Iser appears to con-

1

Gumbrecht: Zum Nachlass, S. 14-16.

2

See for example Vischer Bruns: Why Literature?, p. 32.

3

See Stanley Fish’s criticism, Why Noone Is Afraid of Wolfgang Iser.

4

Iser: The Act of Reading, p. 13.

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tribute to the liberalization of the field, rejecting ideas of a meaning embedded in the text and guaranteed by reference to textual or extratextual authority. Iser, however, deemphasizes the political import of his theory, and instead relies mainly on theories of perception and communication to highlight the impossibility of unearthing a pre-established meaning from literary texts. Speech act theory is of utmost importance for this project: in a fictional world created imaginatively in the act of reading, there cannot exist prior “felicity conditions” for speech-acts performed in the text.5 This absence underpins the indispensability of the reader’s mental activity in establishing the meaning of any given utterance. With regard to the theory of speech acts, Iser balks at identifying literary utterances as fully constative or fully performative because a literary text “neither describes not constitutes real objects.”6 The pragmatic framework necessitates a reference to the situational context of literary communication, but the conclusions are, also by necessity, negative: the signals of the text do not only refer to a referential world that is inaccessible to the senses, but they also rely on a pragmatic context that is not pre-given for the process of communication. Literary signals are therefore not designations of objects but “instructions for the productions of the signified.”7 As such, fictional utterances are instruments of control of the communicative process. What this means for literary communication is that the reception of literaryfictional texts cannot be understood in terms of deciphering a message. The receiver’s main job is not to “get the point” but to build the very context and establish the very channel of communication in which messages may be exchanged. The criticism of a traditional, historical hermeneutics, therefore, is tantamount to a rejection of a purely transmission-based model of communication. If the purpose of literary communication is not the transmission of identifiable units of meaning, then the task of criticism can no longer be identified as a form of deciphering or cryptography. Nevertheless, communication remains of central importance, but meaningfulness is displaced from the level of the text to the level of the reader’s interaction with the text. In an essay from roughly the same period, Iser even identifies communication as the current key term of literary theory, replacing and incorporating earlier terms such as structure and function.8

5

Ibid., pp. 54-61.

6

Iser: Indeterminacy and the Reader’s Response, p. 7.

7

Iser: The Act of Reading, p. 65.

8

Iser: Key Concepts. See the following passage for clarification: „The model of textreader interaction forms the basis of the communication concept. The reader ‘receives’ the text, and guided by its structural organization, he fulfills its functions by

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The criticism of the transmission-based model of communication may seem to strengthen the happy alliance between Iser’s reader-response theory and a pedagogically inclined liberal humanism. Unlike Shannon’s or Jakobson’s communication models, the reader-response model stresses the importance of interaction and the mutually dependent (dialogical) character of the poles of communication. It also appears less dependent on the potentially technology-driven mechanical features of communication (codes, coding, transmission, reception, decoding) than Shannon or Jakobson’s models. However, as some passages and, equally importantly, his own later refurbishing of his theories show, the relationship between an apparently humanist and a technologically informed communication model is anything but simple or unproblematic. In fact, the simple transmission-based model is replaced by something that can also be described in technological terms: literary communication is simulation. The reliance on speech act theory enables the issue of “simulated speech,” with the concomitant question of the authenticity and originality of literary utterances, to creep into the discussion. More importantly, however, the very reading experience is sometimes characterized as a “simulation”9 rather than an imitation (“portrayal”) of life. Literary fiction is “life-like” to the extent it allows the reader to experience the world created in the text,10 which also requires an ambiguous strategy from the text: it must constantly provoke the reader’s meaning production, and it must simultaneously frustrate the reader’s attempts to pin it down to a given meaning. As soon as a stable meaning is ascribed to the text, simulation gives way to transmission, and the lifelikeness of the literary work is lost. In Iser’s later work, a similar process is described in terms of translatability: when the conceptual discourse utilized in interpretation colonizes the “liminal space” between the discourse (register) and the object, “interpretation ceases,” which appears counterproductive to understanding.11 This latter is held true of

assembling its meaning. From a communications point of view, structures are in the nature of pointers or instructions, which arrange the way in which a text is transferred to the reader’s mind to form the intended pattern. In literary theory, therefore, the communication concept incorporates those of structure and function, and indeed cannot do without them if it is to describe the processes of transmission and reception.” Ibid, p. 229, emphases added. 9

Iser: The Implied Reader, p. 274; N. Katherine Hayles, My Mother Was a Computer, p. 6.

10 Ibid., pp. 288, 290. 11 Iser: The Range of Interpretation, p. 151.

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interpretation in general (of history, culture etc.), but the origin of this conception of interpretation is found in Iser’s ideas of the reading of literary fiction. Literary simulation achieves lifelikeness in a way that has technological implications as the concept of control is given a crucial role in the theory of the implied reader. The various textual strategies, blanks, potential roles assigned to the reader function as built-in mechanisms of control to allow for a feedback between the text and the reader’s activity. Built-in control is necessitated by an absence: the immediate feedback typical in face-to-face communication is not available, the text can only provide virtual suggestions and requests to safeguard its own readability.12 This is where Iser utilizes the concepts and premises of speech act theory, and claims that literary fictions are neither constative nor performative in the original sense of Austin’s distinction. A literary utterance does not make propositions about the factual world, nor does it create a new fact in the sense “I now pronounce you husband and wife” does—given the right felicity conditions. The theory highlights the intermediacy of literary fiction between the world of facts and the imagination of the reader. This intermediacy translates to a certain kind of virtuality: the literary work is nothing other than the virtual space between the concrete, material text and the mental constructs of the reader. As Iser, echoing Mukařovsky and others, famously stated: the literary work is not identical to either the text or to any concretization by any reader.13 Even though readers are not expected to decode a specific meaning in the text, there remains nonetheless a “virtually hermeneutic”14 dimension to literary communication, since simulation can only be successful if the reader can build in her mind a consistent virtual world based on the textual signals of the text. Meaning in literary fiction is closely associated with this virtual-imaginative dimension, to the extent that Iser attempts to close the gap between the cognitive and the perceptual level of reading. The most radical formulation is derived, perhaps a little too hastily, from Iser’s reading of Henry James’s “The Figure in the Carpet”: “Sinn hat Bildcharakter / Meaning is imagistic in character.”15 If, however, meaning is inseparable from sensory experience, what separates the literary experience from apparently less meaning-oriented activities such as watching sports or playing video-games? One possible answer lies in Iser’s hostility towards media adaptations—while a reader’s vision of a fictional world

12 Iser: The Act of Reading, p. 167ff. 13 Iser: The Implied Reader, pp. 274; 279. 14 Ibid., p. 285. 15 Iser: Der Akt des Lesens, p. 20; The Act of Reading, p. 8.

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is characterized as rich and private, the reduction of these virtual images to “mere physical perception” is labelled “impoverishment” (Verarmung). The English version of this passage is even more straightforward: “whatever [the reader] remembers of the world he had pictured is brutally cancelled out.”16 Competition between media is only possible if they serve similar functions, and the emphasis placed on the virtualized visual-sensory (rather than cognitive, semantic or textual) aspect of reading enables other media to usurp the position of literature. The reader’s imaginative participation in the virtual world of the literary work is described as a way of “simulating life,” the goal of which is “not to portray life but […] to allow the reader to share in it.”17 The literary experience is akin to experiencing a virtual reality, except the main purpose is not to stimulate the senses but to make visible the gaps in the reader’s own meaning-making process. Virtuality means a certain awareness of the absence of actual sensory perception: this negative awareness is an indispensable feature of the act of reading proper. Consistency-building is a necessary feature of the reading process, and yet it must be counterbalanced by an awareness that the text cannot be identified with any “virtual reality” created by any reader. This very disjunction allows for the text to become a work of art. As a result, interpretation takes place on at least two distinct levels, and textual strategies reflect this duality. Consistency-building creates the impression of a coherent fictional world, transforming textual signals into images. On the other hand, the complete immersion into a phenomenally realized fictional world (“virtual reality”) is not desirable since such a total illusion would obscure the connections between the text and the extratextual world, and negate the meaningfulness of the reading process. Iser, especially in his early phase, insists on this meaningfulness: in addition to asking what authorial “worldview’ each fiction embodies, he also inquires after the potential intellectual benefits of the reading process for the reader. This is where the consistently didactic component of the reader-response theory lies. Readers must reflect on the reading process, otherwise literary reading would be indistinguishable from mere entertainment. Iser emphasizes that “the expression ‘passive synthesis’ would be a contradiction in terms if it merely denoted processes of acceptance and composition that took place automati-

16 Iser: Der Lesevorgang, p. 263. Cf. The Implied Reader, p. 283. 17 “Indeterminacy,” p. 29. In the German version of the same text (Iser: Die Appellstruktur der Texte, p. 249), the reference to “simulation” is missing.

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cally below the threshold of consciousness.”18 The frequent blanks, interruptions, indeterminacies of literary texts serve to disable the unconscious automatisms of consistency-building, and make the reader aware of the conditioned nature of her own mechanism of meaning-production. Literary reading is characterized by a strong negative didacticism, as the very purpose of reading seems to be nothing other than to to “formulate our capacity of deciphering”, in a ceaseless dialectic of revealing over and over the conditionality of our various interpretive strategies.19 Iser repeatedly stresses that when we attempt to ascribe meaning to literature, the true split is not between subject and object, as the reader encounters her own subjectivity in the reading process.20 In the case of Tom Jones, for example, the object of interpretation is human nature itself as embodied by Tom. The novel presents human nature in the context of various, socially and historically conditioned models of interpretation, none of which is capable of grasping human nature as such. What remains to be understood is that human nature eludes definitive understanding and remains elusive even in the face of “interpretive furor”. While understanding remains an imperative (this in Iser is never in doubt), and interpretive models are therefore inevitable, the main point of reading is that there is always a necessary gap between the “object” and the “register” of interpretation (as he would call them in The Range of Interpretation). Since literary reading has a didactic purpose, control remains essential to ensure that readers do not relapse into idle habits. It is in this context that the first reference to cybernetics is encountered, via a citation from Lotman, who describes the literary text as a “sort of living organism, which is linked to the reader and also instructs him by means of a feedback system.” For Iser, the feedback system ensures that the reader is “bound to insert his own ideas into the process of communication,”21 and thereby forces the reader to participate in the communicative process. The cybernetic metaphor is double-edged in more than one way: while it openly references the organic quality of literary communication, it also suggests underlying mechanisms that obey rules outside both the author’s and the reader’s conscious control. Perhaps it is a symptom of this potential duplicity that, while the German version (Der Akt des Lesens) references the term Servomechanismus to describe the feedback process between text and reader, this reference and the footnote pointing to Norbert Wiener’s Cybernetics is conspicuously absent from the later English version. Whether the feed-

18 The Act of Reading, p. 150. 19 The Implied Reader, p. 294. 20 Ibid., p. 293, The Act of Reading, p. 155 21 Ibid., p. 67.

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back mechanism is purely mechanical or otherwise is a crucial question for the eventual integration of the descriptive model into a hermeneutic conception of literary reading. Even though the cybernetic process of reading is one of “dynamic self-correction,” it is still made clear that its purpose is not purely technical, nor can it be aimed at the correct understanding of the individual text—since it was established early on that such a notion of deciphering is unsatisfactory. Readers must be made to confront their own preconceptions and come to grips with the limitations of their understanding—indeterminacies in the text serve to reveal indeterminacies in prevailing systems of comprehending the world. A purely mechanical feedback process would undermine the possibility of such an integration of literary reading into humanistic understanding. If Iser was initially unaware of the difficulties of such an integration, his confrontations with the likes of Stanley Fish certainly brought such theoretical issues to the fore of his thinking. In their debate, Fish accused the German theorist of trying to occupy a non-existent middle ground in the conflict of interpretations by not taking a stand on whether interpretive models were entirely determinate or indeterminate, whether canonical works and their canonical readings were objectively superior to others or their position was simply guaranteed by institutional power.22 In his response, Iser attempted to refine Fish’s dichotomies by referencing a tripartite model23 based on a neo-Kantian conceptualization of understanding. As in reading, so in understanding the empirical world, the subject never merely encounters an object. The empirical world is a given but is inaccessible as such. Humans have biologically and culturally determined ways to gain access to the world (from our perceptive faculties to ideologies and scientific models), which are, however, incapable of explaining the world as a totality. As a result, there are inevitably indeterminate components eluding the grasp of interpretive models. In literary reading, the threefold model is applied as follows: the text is a given to the reader, its signals and structures serve as points of reference (Iser is not interested in philological problems such as textual variants). Schemata of reading are determined by our physiologies as well as our cultural conventions: rules of grammar, systems of writing, historically conditioned reading strategies are potential examples. No text, however, is entirely exhausted by any reading, and no fictional world is entirely exhausted by any text. Proper literature is defined by the indeterminacies resulting from such asymmetries. Iser’s early narrative recapitulation of English-speaking fiction from Bunyan to Beckett, in The

22 Fish: Why Noone Is Afraid of Wolfgang Iser. 23 See Iser: Talk Like Whales.

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Implied Reader, points to a conspicuous increase of blanks and indeterminacies in the modern period. Literary reading is more suitable than reading non-fiction to raise awareness of the indeterminate nature of interpretation. Interpreting literature may serve as fieldwork for understanding the world at large—not because literature provides specific knowledge of the world but because it makes us understand what happens to us in other interpretive situations, and reveals potential indeterminacies in worldviews, ideologies and other systems of making sense of the world. The insistence of this pedagogical value of literature safeguards the specificity of literature in the face of the media-cultural explosion starting in the late twentieth century. The Fictive and the Imaginary, published in the early 1990s, may be seen as an attempt to reformulate the triadic conception. This book proposes to replace the simple opposition of fiction and reality with the “triadic model of the real, the fictive and the imaginary.”24 These three terms replace and revise the givendeterminate-indeterminate triad, with the fictive playing the role of a mediator between the real (given but inaccessible) and the imaginary (free, indeterminate, shapeless in itself) to satisfy our “expectation of meaningfulness”. Fiction is presented as an inevitable component of human understanding, with legal principles and other human institutions identified as necessary fictions, determinate models for grasping an immensely complex reality. Literary fiction, however, is specified by its “self-disclosure,” highlighting the “as-if” of its own creations. “Self-disclosure of fictionality puts the world represented in brackets, thereby indicating a purpose that proves to be the observability of the world represented.”25 The insistence on this specificity may explain Iser’s long-standing refusal to extend the consequences of his theory beyond the realm of literature. As several critics have pointed out,26 many aspects of the theory elaborated in The Fictive and the Imaginary point toward a general theory of culture, but Iser restricts his observations to literary fiction. If the distinguishing feature of literary fictions is their self-disclosure that permits readers to observe the ‘as-if’ character of the world depicted, then the written “mono-medium” of literary fiction remains crucial. The distinction between linguistic sign and imaginary world is indispensable for the argument that worlds of fiction must never be confused with the actual or referential world while the imaginary must not be given free reign

24 Iser: The Fictive and the Imaginary, pp. 2-4. 25 Ibid., p. 16. 26 See Pfeiffer: The Protoliterary. See also Iser’s monographer: de Bruyne: Wolfgang Iser, pp. 201-203.

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either. If previously the distinction was drawn between literature and film, here it is repeated with regard to high-brow literature and popular fiction. Beckett’s writing proves to be superior to “fantasy literature” because the former “offers conscious access to the imaginary,” while at the same time also showing “the gap between consciousness and the imaginary.” This is possible only insofar as the imaginary is not reified by “being thematized according to what it is considered to be,” as happens in fantasy literature. Popular literature reveals the human need of “being something else within one’s consciousness without giving up what one thinks oneself to be,” and this revelation results from “giving articulation to the imaginary,” but it comes at the cost of its language “consuming itself.”27 Beckett’s prose, in contrast, foregrounds its own language to thematize not just the imaginary but the gap between the imaginary and consciousness. Only by revealing this gap, by refusing to reify the imaginary, can literary language seriously contribute to theoretical understanding. At the same time, however, the refusal to accommodate the needs of the imaginary to be reified also problematizes the concept of mimesis, the traditional tool of relating fictional worlds to the referential one. In Iser’s discussion of the imaginary, the cybernetic frame of reference recurs time and again. In describing the historically divergent conceptualizations of the imaginary, Iser points out the gradual growth of the concept’s cognitive and social importance, from Enlightenment faculty psychology through Coleridge’s theories to twentieth-century thinkers such as Sartre and Castoriadis. Curiously, Lacan only makes brief appearances, mainly in contradistinction to the authors discussed in more detail. Nonetheless, the operations related to the imaginary are frequently described in terms of feedback mechanisms, such as when Iser recaps Coleridge’s elevation of the imaginary to the status of an “actant.” These are Iser’s own words: “If the imagination enables the subject to grasp itself as the consciousness of an unconscious nature, this interrelationship reveals cybernetic features [German: so scheint dieser Prozess durch einen Servo-Mechanismus gesteuert zu sein], feeding back the subject’s other as part of the process of its self-grasping.”28 This observation may be read alongside the author’s earlier statements about the consciousness-enhancing nature of literary reading. The imagination allows the subject to encounter itself as part of something that is other than itself, and the feedback process contributes to the very formation of the subject. The cybernetic vocabulary, however, complicates the issue since it is the very nature of the human subject that is described in terms of

27 All quotes in this paragraph are from Iser: The Fictive and the Imaginary, pp. 245-46. 28 Ibid., p. 194. Cf. Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, p. 332.

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potentially mechanical or technical operations. One may anticipate that such a recasting of theoretical vocabulary has far-reaching consequences for the theory of reading and human understanding. With regard to Castoriadis’ radical imaginary, the image is said to allow the psyche to have itself and its own mysterious beginnings. This, however, requires a movement towards the outside world, which in turn gives rise to “a feedback loop, incessantly differentiating the image-producing capability by means of what is unattainable. Instead of remaining self-related, the counteraction prevalent in the image drives the psyche into drawing and lifting boundaries of itself.”29 The German version, while fairly complicated, is a bit more explicit in the reference to cybernetic theory: “Die Interferenz signalisiert den entzogenen Anfang wie dessen vorstellungsmäßige Besetzung gleichermaßen und koppelt das Unerreichbare als Differenzierung auf die Vorstellungstätigkeit der Psyche Zurück.”30 The verb in the last sentence is “zurückkoppeln”, and the feedback loop is created by the interference of the internal and the external, feeding the unattainable as differentiation back to the image-making ability of the psyche. The multiple reflexivity of the sentence indicates a level of complexity almost indescribable by ordinary language. The perceived rift between the language of theory and the complexity of what it sets out to describe makes the earlier conflict between hermeneutics and technical communication reappear near the conclusion of the work. In recapitulating Paul Ricoeur’s theory of threefold mimesis, Iser follows the interplay between what is thought of as the reference of the act of representation and its successive stages of figuration—prefiguration in the author’s mind, figuration in the text and transfiguration in the reader. Mimesis is charged with a twofold task: “it must extrapolate the reference from the figuration of the imitated action in order to make the figurations themselves tangible.”31 The distinction is perhaps not incidentally reminiscent of Paul de Man’s deliciously oversimplified distinction between hermeneutics and poetics—with hermeneutics aiming to reduce texts to meaning (the extrapolation of reference) and poetics attempting to identify the figures and poetic structures whereby meaning is conveyed. Paul de Man, in referencing the group Poetik und Hermeneutik, of which Iser was also a member, pointed out the mutual entanglement and the tensions between the two terms.32 In Iser’s quoted phrase, the purposive conjunction “in order to”

29 Iser: The Fictive and the Imaginary, p. 214. 30 Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, pp. 364-5. 31 Iser: The Fictive and the Imaginary, p. 290. 32 de Man: Reading and History, p. 56.

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suggests once again that deciphering the transmission is not the ultimate purpose of textual understanding: the higher-order goal is to make figuration itself tangible, and thereby reveal the gap between what is understood and what is represented. Not surprisingly, Iser’s next reference is to Adorno’s Aesthetic Theory and his concept of the “rift” between the work of art and its purported original in Nature. Before turning to Adorno, however, Iser closes his reading of Ricoeur with a critical remark on the succession between the three stages of mimesis. He admits that the theory of threefold mimesis “articulates the phases of a process but not the points of transition,” which have to remain empty because the whole process can only be conceived in terms of play, and the “shifts in these refashioned figurations […] are to be acted out by a to-and-fro movement in order to come to full fruition.” The two-and-fro movement is clearly demarcated from the circular motion of hermeneutics: Iser emphasizes that Ricoeur’s idea of mediation between the phases is an asylum ignorantiae of hermeneutics, and that the reference (meaning) is not to be thought of as something pregiven: “it can come about only cybernetically.” The status of this reference is different from the one in The Act of Reading in that the tension between the cybernetic notion of recursivity and hermeneutics is more pronounced. Other than this difference, the idea of a recursive process is still related to the performativity of literary language: “The reference arises from the feedforward of the status change of figurations, and these in turn are guided by the feedback of the developing reference. The performative interplay unfolds a graduated process that has to be finalized by the act of reading.”33 The distinction between the hermeneutic circle and cybernetic recursion forms the backbone of two chapters in The Range of Interpretation. As already discussed above, Iser’s early theory was developed from a critique of interpretation conceived of as transmission and deciphering. In this later book, however, the issue of interpretation comes to the fore while the special importance of literary reading is questioned. The later theory, it seems, attempts to salvage the concept of interpretation by detaching it from the “excavatory” tedencies identified with hermeneutics, and testing the range of interpretation in realms beyond that of literature or even “text-oriented”34 approaches. The hermeneutic circle is demonstrated to lose its value as the object to be interpreted is increasingly removed from immediate accessibility, and as entropy is to be brought under control. Theories that were previously applied to literary fiction as models are

33 Iser: The Fictive and the Imaginary, p. 290. 34 Iser: The Range of Interpretation, p. 86.

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now taken in their original context, and the move from text-oriented to cybernetically informed approaches suggests the decreased importance of literature. Nevertheless, some of the old issues regarding recursive models of reading are still identifiable. First, interpretation is identified with translatability, which evokes the problem of discursive meaning. The insistence on the distinction between the subject matter to be interpreted and the register to which it must be translated suggests that a transposition is necessary, and that what really requires understanding lies outside the realm of discursive language. Iser also maintains that translatability is both necessitated and enabled by a “liminal space” opened up by the differentiation of the subject matter and the register. Once this liminal space is “colonized by the concepts brought to bear,” further translatability is blocked, and thus, “interpretation ceases.”35 This suggests a notion of interpretation suspended between archeology and teleology: even though interpretation is always pragmatically oriented, it is not identical with its results, since the reopening of the liminal space is seen as “a chance to embrace more,” a chance missed if any fixed interpretation is imposed on the subject matter. In addition, interpretation is identified as a source of emergence, since its results are never identical with what is imaginable on either side of the subject matter/register divide. This idea will give rise, in Iser’s final theoretical phase, to an increased interest in the theory of emergence. If cybernetic models were previously invoked at crucial junctions but only sporadically, Iser’s later theories are certainly dominated by references to feedback loops and recursive patterns, even though they are no longer applied to literary communication exclusively. In The Range of Interpretation, the theory of autopoiesis, borrowed from the Santiago school of biology, offers a corrective to Wiener’s description of cybernetics, in that the concepts of linear input and output are replaced by “environmental perturbations” and “compensations.” The correction is necessitated by a move toward systems of increased complexity such as higher-order living organisms and human culture. The concept of noise is introduced to relate systems to each other: autopoiesis is described as “selforganization from noise” since noise (in the form of environmental perturbations) is indispensable for creating new patterns. Autopoietic systems need plasticity, which is guaranteed by feeding on noise and “interpreting” noise into emerging new patterns. Interpretation, therefore, is no longer identified by excavating fixed meaning but is related to emergence and learning—a process resembling Iser’s earlier description of literary reading as a simulation or perfor-

35 Ibid., p. 151.

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mance of life rather than a simple imitation of it. This turn necessitates at least two major theoretical moves to tie up the loose ends created by the shifting definition of prior conceptualizations. First, literature must find a new role in the cybernetically oriented understanding of culture, and second, the concept of mimesis must be rethought. In Iser’s late work, the concept that enables literature to still retain a place in the framework of a much broader theory of culture is noise. Iser repeatedly quotes William Paulson’s definition of literature as “the noise of culture.” This identification is closely connected to Iser’s communication model developed from speech act theory since literature is still understood as “language […] not used as an instrument of direct communication.” This detachment creates the need for interpretation but at the same time opens up a “liminal space” between noise and its translation into meaning. Literature thus becomes an epitome of “all systems as forms of self-organization through noise,”36 but it can only fulfill this function by remaining in a peripheral position, relating to mainstream culture in seemingly random ways. However, as Paulson and Iser both maintain, it is precisely this randomness that enables the cultural system to invigorate itself, and prevents it from getting so self-enclosed that its systemic features would be forgotten.37 Iser refers to contemporary culture as a “technocratically organized” one, in which criticism (that he calls “humanistic discourse”) must find new ways of illuminating the functions of literature for this cultural context. The main function of discourse is still not to provide specific interpretations but to highlight the ways in which emerging interpretations of literature can be linked with contemporary exigencies. Training the imagination, for example, is identified as one of the primary features of literary reading in an age of imaginative impairment. It is nonetheless admitted that experiences with contemporary technology also impact the understanding of literature: “it may well be that the virtual reality of available information has alerted us to what the competing virtual reality of literature is like and is able to perform”38. Since his own anthropological turn in the 1980s, Iser has repeatedly attempted to rewrite the theory of mimesis in a perfomative framework. These efforts culminate in the posthumously published paper “Mimesis → Emergenz,” where the defining conceptual opposition is between the object (Gegenstand) and the discourse (Diskurs) of representation. The vocabulary seems to make it clear that

36 Iser: Context-Sensitivity, p. 218. 37 This idea may be traced back to Iser’s argument with Niklas Luhmann, detailed in de Bruyne: Wolfgang Iser, p. 133. 38 Iser: Context-Sensitivity, p. 220.

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we are still dealing with literary (“discursive”) representation, but the subsequent explanations nevertheless go beyond the literary to the visual, perceptual or even the physical. This is perhaps because Iser summarizes, in a somewhat cryptic fashion, the history of Western theories of representation. After establishing that representation is not derivative of something pregiven but an independent, performed activity, Iser moves to delineate the three major concepts that he identifies with post-Aristotelian theories of representation: simulation, simulacra and phantasms, which represent a series of displacements in the poles of the original oppositon and a progressive detachment of the discourse from its object-reference. This leads to the reformulation of the theory of representation as emergence. There is no pre-established relationship between object and discourse, which seems to imply a Saussurian theory of language, with signifier and signified are related to each other arbitrarily. If this is the case, then the result of their interaction must be something unpredictable, something emergent that, as such, “withdraws itself from cognition”.39 Interpretation or “humanistic discourse” is tasked with identifying the ground of the representation: what remains impos-sible to ground, however, is the relationship between ground and result, and so interpretation must proceed through multiple recursive loops, thus contributing to emergence rather than explaining it away. In connecting interpretation to emergence, Iser’s theory comes full circle from its original formulation, the rejected notion of interpretation as deciphering. The later writings, while increasingly relying on concepts borrowed from science and technology, still reject any model of communication that treats language as a simple transmission of information. This rejection, however, also results in Iser’s relative lack of interest in the philology or material textuality of literature and the medium of writing. Perhaps the closest he comes to formulating a theory of writing is the posthumous article called “Null” where he discusses authorship as a “Nullstelle,” a non-textual place that nevertheless motivates the text and must be incorporated therein.40 The connection of writing and authorship to the history of zero also reopens the old issue of interpretation as deciphering. The denomination of authorship as the Ziffer of the text may, at first glance, grant credence to the understanding of interpretation as Dechiffrierung, since they both go back to the Arabic sefr (‫)ﺻ ﻔﺭ‬, or zero. While this move may legitimize a connection between decoding and humanistic understanding, Iser’s elaboration of the analogy goes into a different direction. Since this article forms a part of the proposed series on emergence, the idea of authorship as Nullstelle must also be explained

39 Iser: Mimesis → Emergenz, p. 165. 40 Iser: Null, pp. 117-118.

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in the terms of emergence: authorship stands outside of textuality, and, even though it preexist and conditions the text, the intentions associated with authorship cannot be represented textually. Nonetheless, Iser follows the various ways in which authorship is transformed in Western literature, from Montaigne’s doubling of the self through Defoe’s editorial fiction (Herausgeberfiktion), Thackeray’s image of the author as master of puppets, Kierkegaard and Nietzsche’s pseudonyms and masks to Beckett’s removal of conventional meaning from literary language. These devices are shown as ways to restrict fictional discourse in order to indicate ways in which the pure potentiality of authorial intention may be brought to bear on the text to allow meaning to emerge. With the concept of control reintroduced,41 literary texts now begin to resemble missiles that, once released, require built-in mechanism to find their moving and unpredictable target in the reader’s understanding. The emergent late theory of textuality retains, from Iser’s early theory, the notion of control as a necessary feature of communication, with a more open admission of the importance of mathematical and scientific analogies. Textuality, however, does not reign supreme in the texts on emergence, either. The concept of mimesis and its various manifestations as simulation, simulacra and phantasms, do not pertain to textuality but to perception and imagination. Representation gains its systemic character from visuality, “regardless of whether the image is represented or imagined (unabhängig davon, ob das Bild ein dargestelltes oder vorgestelltes ist).”42 However, the potential transformation of simulation into simulacra and phantasms already indicates that the pictorial representation of objects also threatens with violence against the object existing outside the picture (that is, there is no natural relationship between image and reference). Iser cites Heidegger’s critique of the term Weltbild, and admits that emergence itself can never have a pictorial character (so kann Emergenz niemals Bildcharakter haben).43 If it was once stated that meaning in literary representation is of an imagistic character, the shifting of focus on processes that make representation possible put that erstwhile identification in doubt. This also allows for a redefinition of the relationship between fiction and simulation that is perhaps more compatible with a media theoretical understanding of these terms than

41 “Da aber die Intention nur einen Richtungssinn verkörpert, bedarf dieser notwendiger Kontrollen, um das Beabsichtigte zu erreichen. Damit der Richtungssinn nicht leer bleibt, müssen restringierende Modi zu seiner Spezifizierung eingeführt werden …” Ibid., pp. 149-150. 42 Iser: Mimesis → Emergenz, p. 167. 43 Ibid., p. 168.

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Iser’s earlier, more influential theories. In his later phase, literary fiction is no longer seen as a privileged point of access to “life-like” experiences, even though it still retains a paradoxical status of epitomizing self-organization through noise, “the result of which is enhanced complexity and not chaos.”44

LITERATURE de Bruyne, Ben: Wolfgang Iser. A Companion, Berlin 2012. de Man, Paul: Reading and History, in: id.: The Resistance to Theory, Minneapolis/London 1986. Fish, Stanley: Why Noone Is Afraid of Wolfgang Iser, in: Diacritics 11 (1981), pp. 2-13. Gumbrecht, Hans Ulrich: Zum Nachlaß des Literaturtheoretikers Wolfgang Iser, in: W. Iser: Emergenz, S. 13-17. Hayles, N. Katherine: My Mother Was a Computer. Digital Subjects and Literary Texts. Chicago/London 2005. Iser, Wolfgang: Context-Sensitivity and its Feedback: The Two-Sidedness of Humanistic Discourse, in: id., Emergenz, p. 193-226. — Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt a.M. 1993. — Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, Munich 1978. — Der Lesevorgang, in: R. Warning (ed.), Rezeptionsästhetik, Munich 1979, pp. 253-276. — Die Appellstruktur der Texte: in: R. Warning (ed.), Rezeptionsästhetik, Munich 1979, pp. 228-252. — Emergenz. Nachgelassene und verstreut publizierte Essays (ed. A. Schmitz), Konstanz 2013. — Indeterminacy and the Reader’s Response in Prose Fiction, in: id., Prospecting. From Reader-Response to Literary Anthropology, Baltimore/London 1989, pp. 3-30. — Key Concepts in Current Literary Theory and the Imaginary (1978), in: id., Prospecting. From Reader-Response to Literary Anthropology, Baltimore/ London 1989, pp. 215-235. — Mimesis → Emergenz, in: id., Emergenz, p. 153-170. — Null, in: id., Emergenz, p. 119-151. — Talk Like Whales. A Reply to Stanley Fish, in: Diacritics 11 (1981), pp. 2-87.

44 Iser: Context-Sensitivity, p. 218.

456 | Gábor Tamás Molnár

— The Act of Reading. A Theory of Aesthetic Response, Baltimore/London 1980. — The Fictive and the Imaginary. Charting Literary Anthropology, Baltimore/ London 1993. — The Implied Reader, Baltimore/London 1974. — The Range of Interpretation, New York 2000. Pfeiffer, K. Ludwig: The Protoliterary. Steps towards and Anthropology of Culture, Stanford 2002. Vischer Bruns, Christina: Why Literature? The Value of Literary Reading and What It Means for Teaching, New York 2011.

Autorinnen und Autoren

Georg W. Bertram ist Professor für Philosophie (theoretische Philosophie mit Schwerpunkten in Ästhetik und Sprachphilosophie) an der Freien Universität Berlin. Wichtigste Publikationen: Hermeneutik und Dekonstruktion, München 2002; Sprachphilosophie zur Einführung, Hamburg 2011; Kunst als menschliche Praxis, Berlin 2014; Hegels „Phänomenologie des Geistes“. Ein systematischer Kommentar, Stuttgart 2017; Was ist der Mensch? Warum wir nach uns fragen, Stuttgart 2018. Natalie Binczek ist Professorin für Neugermanistik, insbes. Theorie und Geschichte literarischer Kommunikation und ihrer Medien an der Ruhr-Universität Bochum. Sie forscht u.a. zu Fragen der Medientheorie und -geschichte der Literatur und zu akustischen Formaten. Weitere Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich des Dokumentarischen sowie in der Wissensgeschichte der Wahrnehmung und ihrer Apparate. Publikationen u.a.: Handbuch Medien der Literatur, Berlin/Boston 2013 (Mithg.); Das Diktat. Phono-graphische Verfahren der Aufschreibung, Paderborn 2015 (Mithg.). Matthias Flatscher arbeitet als Universitätsassistent im Fachbereich Politische Theorie am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien. Seine Arbeitsgebiete bilden die Sprachphilosophie und die Politische Theorie mit einer Schwerpunktsetzung auf phänomenologische und poststrukturalistische Zugänge. Veröffentlichungen u.a.: Logos und Lethe. Zur phänomenologischen Sprachauffassung im Spätwerk von Martin Heidegger und Ludwig Wittgenstein, Freiburg/ München 2011. Einführung in die Sprachphilosophie (zus. mit G. Posselt), Wien 2018 [1. Auflage 2016].

458 | Sprachmedialität. Verflechtungen von Sprach- und Medienbegriffen

Rupert Gaderer, Akademischer Oberrat a.Z. am Germanistischen Institut der Ruhr-Universität Bochum. Forschungsschwerpunkte: Mediengeschichte, Kulturtechniken und Medienphilologie. Publikationen: Querulieren. Streit, Wahnsinn und Lärm 1700-2000 (Druck in Vorbereitung, 2019); Shitstorm. Das eigentliche Übel der vernetzten Gesellschaft, in: ZMK. Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung (2018); Medienphilologie. Konturen eines Paradigmas, Göttingen 2017 (Mithg.). Hajnalka Halász ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachgebiet „Ungarische Literatur und Kultur“ des Institutes für Slawistik und Hungarologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Sprachtheorien des 19. und 20. Jahrhunderts; Medialität der Sprache. Ihre Dissertation behandelte den Zusammenhang zwischen den verschiedenen Konzepten der Differenzialität und der Auffassung der Sprache: Differenzen des Sprachdenkens: Jakobson, Luhmann, Humboldt, Gadamer und Heidegger, Bielefeld 2017. Gernot Kamecke ist Heisenberg-Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft und lehrt Romanistische Literaturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin sowie als Gastprofessor an der Universidad Nacional de Colombia in Bogotá. Seine Arbeiten bewegen sich in den Grenzbereichen von Literatur, Literaturtheorie und Philosophie der Neuzeit und der Moderne. Zuletzt erschienene Bücher: Bedingungen und Unendlichkeit. Ein Gespräch mit Alain Badiou, Berlin 2015; Die Prosa der spanischen Aufklärung. Beiträge zur Philosophie der Literatur im 18. Jahrhundert, Frankfurt/Madrid 2015. Zoltán Kulcsár-Szabó ist Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und derzeitiger Leiter des Lehrstuhls für Vergleichende Literaturund Kulturwissenschaft der Eötvös-Loránd-Universität Budapest. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Theorie und Geschichte der modernen Lyrik sowie Literatur- und Kulturtheorie. Zuletzt veröffentlichte er Monographien über Gewaltdiskurse in Literatur und Theorie des 20. Jahrhunderts (A gondolkodás háborúi [Kriege des Denkens], 2014) bzw. über einige Aspekte des Denkens von Martin Heidegger (Szinonímiák [Synonymien], 2016). Zusammen mit Csongor Lőrincz war er Herausgeber des Sammelbandes Signaturen des Geschehens, Bielefeld 2014. Csongor Lőrincz ist Leiter des Fachgebiets „Ungarische Literatur und Kultur“ an der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: Theorie und Geschichte der Lyrik, Performativität der Sprache (z.B. Zeugenschaft), Ge-

Autorinnen und Autoren | 459

schichte der Geistes- und Kulturwissenschaften um 1900. Letzte Buchpublikationen: (Hg.) Wissen – Vermittlung – Moderne. Studien zu den ungarischen Geistes- und Kulturwissenschaften um 1900, Köln/Wien/Weimar 2016. Zeugnisgaben der Literatur. Zeugenschaft und Fiktion als sprachliche Ereignisse, Bielefeld 2016. Christian Meyer ist Professor für Allgemeine Soziologie und Kultursoziologie am Fachbereich Geschichte und Soziologie der Universität Konstanz. Er forscht zur Sozialtheorie, Kultursoziologie und -anthropologie sowie zur Interaktionssoziologie, insbesondere auch kulturvergleichend zu körper-, medien-, sprach-, kommunikations- und praxistheoretischen Fragestellungen. Neuere Publikationen: Culture, Practice, and the Body, Stuttgart 2018; Intercorporeality, Oxford/ New York 2017 (Hg.); Moving Bodies in Interaction – Interacting Bodies in Motion, Amsterdam 2017 (Hg.). Gábor Tamás Molnár lehrt Literaturtheorie und Literaturdidaktik am Institut für Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft der Eötvös-Loránd-Universität Budapest. Buchpublikationen: A figyelem művészete [Die Kunst der Aufmerksamkeit], 2015; A (tömeg)vonzás szabályai [Einfach unwiderstehlich: das Gesetz der Schwerkraft], 2012. Gerald Posselt ist Senior Lecturer am Institut für Philosophie der Universität Wien und Leiter des FWF-Forschungsprojekts P26579 Language and Violence. Forschungsschwerpunkte: Sprachphilosophie, Politische Philosophie, Sozialphilosophie, Rhetorik, Gendertheorie. Publikationen (Auswahl): Judith Butlers Philosophie des Politischen: Kritische Lektüren (Hg. mit S. Seitz und T. Schönwälder-Kuntze), Bielefeld 2018; Handbuch Rhetorik und Philosophie (Hg. mit A. Hetzel) Berlin 2017; Sprachphilosophie: Eine Einführung (mit M. Flatscher), Wien 2016, 2. Aufl. 2018; Gender und Dekonstruktion (mit A. Babka), Wien 2016; Katachrese. Rhetorik des Performativen, München 2005. Erhard Schüttpelz lehrt Medientheorie an der Universität Siegen. Seine Dissertation behandelte die Theorie der rhetorischen Figuren: Figuren der Rede, Berlin 1996. Seine Habilitationsschrift widmete sich der Literaturgeschichte der Moderne in ihrem Verhältnis zur Ethnologie: Die Moderne im Spiegel des Primitiven, München 2005. Eine Auswahl seiner Aufsätze wird dieses Jahr online gestellt: Vorarbeiten, Siegen 2019.

460 | Sprachmedialität. Verflechtungen von Sprach- und Medienbegriffen

Attila Simon lehrt antike Literatur und moderne Literaturtheorie am Institut für Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft der Eötvös-Loránd-Universität Budapest. Forschungsschwerpunkte: praktische Philosophie in der Antike, antike Rhetorik und Literaturtheorie, griechische Dramen, Geschichte der klassischen Philologie. Neueste Veröffentlichungen: Logos – in die Seele geschrieben. Zu Platons Schriftkritik im Phaidros. In: E. Rózsa/P. Cobben/ Ch. Jamme (Hg.): Geist Heute. Annäherungen an Traditionen der deutschen Philosophie. Paderborn 2018; Synesis As Ethical Discernement in Aristotle, in: Rhizomata (2017); Trauma und (A)Phonie. Die Philomela-Episode in Christoph Ransmayrs Roman Die letzte Welt, in: D. Lugarić/M. Car/G. T. Molnár (Hg.): Myth and Its Discontents. Memory and Trauma in Central and Eastern European literature, Wien 2017. Robert Smid lehrt am Institut für Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft der Eötvös-Loránd-Universität Budapest Medienkulturwissenschaft. Forschungsschwerpunkte: Ökokritik, Bioliteratur und Naturfiktion (die Figur „Organizität“), kartografische Kulturtechniken in Literatur, Medienphilosophie. Letzte Publikationen: Sigmund Freud és Jacques Lacan papírgépei: A pszichoanalízis inherens médiumarcheológiai diskurzusa [Die Papiermaschinen von Sigmund Freud und Jacques Lacan: Der inhärente medienarchäologische Diskurs der Psychoanalyse], Budapest 2019; Bodily Techniques of the Digital: Remarks on the Spoof of Immateriality and the Revolt of Somatic Gestures, in: Pragmatism Today (2018); The Arc of the Missile and the Arc of the Narrative: Cartographic Techniques in Literature, in: Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik (2018). Susanne Strätling ist Professorin für ostslavische Literaturen und Kulturen an der Universität Potsdam. Zuvor lehrte sie Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der LMU München. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Mediengeschichte der Literatur (insbes. Materialität der Schrift/des Schriftstücks; Textualität und Taktilität), der Rhetorik (insbes. Rhetorik der Sinne) sowie der Wissens- und Begriffsgeschichte (insbes. Begriffsgeschichte der enérgeia). Zu ihren Buchpublikationen gehören: Die Hand am Werk. Poetik der Poiesis in der russischen Avantgarde, 2017; Die Sichtbarkeit der Schrift, 2005; Poetics of the Tool (hg. gem. m. Jocelyn Holland), 2011. Gerald Wildgruber, Hochschulassistent am Fachbereich Literaturwissenschaft der Technischen Universität Berlin (Qualifikationsstelle zur Habilitation). Arbeitsschwerpunkte: Literatur und die Wissenschaften, Theoretische Texte von

Autorinnen und Autoren | 461

Lyrikern, Nachleben der Antike, vor allem hinsichtlich der Emergenz formaler Methoden in Dichtung und Wissenschaft (Mathematik, Logik); Begriff des Rhythmus; Konnex von Dichtung, Wissenschaft und Religion; Deutschland um 1800, Hölderlin und Hegel; Port Royal und Âge Classique in Frankreich; Diderot, Flaubert, Mallarmé und Valéry. – Neuere Veröffentlichungen: „gegen / Dem Lichte“ – Poesie und Parrhesie nach Rousseau und Hölderlin, in: S. Bunke/ K. Mihaylova (Hg.), Aufrichtigkeitseffekte. Signale, Figurationen und Medien im Zeitalter der Aufklärung, Freiburg 2016; Orphica. Sprache als Schrift und Metrum in Hölderlins Zeit der Geisteskrankheit, in: C. Lubkoll/C. Öhlschläger (Hg.), Schreibszenen. Kulturpraxis – Poetologie – Theatralität, Freiburg 2015; Architecture’s Cogito: Building at the edge of infinity, in: S. Devabhaktuni/P. Guaita/ C. Tapparelli (Hg.), Building Cultures Valparaiso: Pedagogy, practice and poetry at the Valparaiso School of Architecture and Design, London 2015; Zur Logik des Imaginären. Dämonie, Erinnerung und Wissenschaft, in: G. Wildgruber et. al (Hg.), Imagination. Suchen und Finden, München 2014.

Literaturwissenschaft Achim Geisenhanslüke

Wolfsmänner Zur Geschichte einer schwierigen Figur 2018, 120 S., kart., Klebebindung 16,99 € (DE), 978-3-8376-4271-1 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4271-5 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4271-1

Sascha Pöhlmann

Stadt und Straße Anfangsorte in der amerikanischen Literatur 2018, 266 S., kart., Klebebindung 29,99 € (DE), 978-3-8376-4402-9 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4402-3

Michael Basseler

An Organon of Life Knowledge Genres and Functions of the Short Story in North America February 2019, 276 p., pb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4642-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4642-3

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Literaturwissenschaft Rebecca Haar

Simulation und virtuelle Welten Theorie, Technik und mediale Darstellung von Virtualität in der Postmoderne Februar 2019, 388 S., kart., Klebebindung 44,99 € (DE), 978-3-8376-4555-2 E-Book: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4555-6

Laura Bieger

Belonging and Narrative A Theory of the American Novel 2018, 182 p., pb., ill. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4600-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4600-3

Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 9. Jahrgang, 2018, Heft 2: Interkulturelle Mediävistik Januar 2019, 240 S., kart., Klebebindung 12,80 € (DE), 978-3-8376-4458-6 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4458-0

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