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German Pages 306 Year 2015
Sprachgebrauch und Sprachbewusstsein
Sprachgebrauch und Sprachbewusstsein
Implikationen für die Sprachtheorie Herausgegeben von Regula Schmidlin, Heike Behrens und Hans Bickel
Veröffentlicht mit Unterstützung der Freiwilligen Akademischen Gesellschaft Basel, der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel sowie des Hochschulrats Freiburg/Fribourg.
ISBN 978-3-11-043794-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-042867-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-042874-2 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Heike Behrens (Basel) Sprachgebrauch und Sprachbewusstsein: Implikationen der empirischen Linguistik für die Sprachtheorie 1 Harald Burger (Zürich) Erwachendes Sprachbewusstsein – in der Erinnerung autobiographischer 17 Texte Rosmarie Zeller (Basel, Freiburg i. Ü.) Spiel mit Diskursen. Zu Christoph Geisers Umgang mit der Sprache Annely Rothkegel (Hildesheim, Saarbrücken) Zukunftsmodelle im phraseologischen Sprachgebrauch
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Natalia Filatkina (Trier) Implicit Understandings. Was uns historische Sprachlehrbücher über 71 Sprachbewusstsein und Sprachgebrauch verraten Heinrich Löffler (Basel, Romanshorn) Sprachbewusstsein und Sprachgebrauch im 18. Jahrhundert – am Beispiel von Johann Jakob Sprengs ‚Idioticon Rauracum‘ 103 Lorenz Hofer, Stefanie Meier (Basel) Mitwirkung der Sprachgemeinschaft im lexikographischen Prozess eines Dialektwörterbuchs 117 Helen Christen (Freiburg i.Ü.) „Die cheibe Zuger“ oder: Gibt es Zugerdeutsch?
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Tobias Roth (Basel) Kompositum oder Kollokation? Konkurrenz an der Syntax-Morphologie-Schnittstelle 155 Regula Schmidlin (Freiburg i. Ü.) Ansätze zur Grammatikalisierung durch Verstärkungswörter in jugendsprachlichen Sprechstilen 177
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Inhalt
Mirjam Weder (Basel) Fragen, zeigen, argumentieren? Metadiskursive Textroutinen zur Etablierung 199 von Forschungspraktiken in wissenschaftlichen Einleitungen Peter Ďurčo (Trnava) Gebrauch der Kollokationen und Probleme der zweisprachigen Kollokationslexikographie für Lerner 221 Csaba Földes (Erfurt) Literalität im Schnittfeld von zwei Sprachen und Kulturen: Beobachtungen 239 anhand der Phraseologie in der Sprache der Lokalpresse Georges Lüdi (Basel) Mehrfache Schriftlichkeit aus der Perspektive der neueren Mehrsprachigkeitsforschung 261 Rita Franceschini (Bozen) Sollen wir noch am Begriff Mehrsprachigkeit festhalten?
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Heike Behrens (Basel)
Sprachgebrauch und Sprachbewusstsein: Implikationen der empirischen Linguistik für die Sprachtheorie 1 Sprachgebrauch als Evidenz für Sprachbewusstsein? Die Erfassung und Analyse des Sprachgebrauchs ist durch die heute zur Verfügung stehenden Korpora und computerlinguistischen Verfahren zur linguistischen Selbstverständlichkeit geworden. Jedoch lassen sich nicht alle linguistisch und gesellschaftlich interessanten Phänomene direkt aus den Daten ableiten: Dies mag für Aspekte der Sprachstruktur, besonders dort, wo sie lexikalisch verankert ist, sehr gut funktionieren, nicht nur, um einen Zustand zu beschreiben, sondern auch, um Wandel und Erwerb zu dokumentieren oder ihre Mechanismen zu erklären. Diese Forschungsrichtung zielt primär auf die Ableitung und Identifikation von systematischen Erscheinungen und Prozessen in grossen Datenbanken. Jedoch bedarf es weiterer Schritte, um aus Gebrauchsdaten Aussagen über die Funktion von Sprache zu machen, insbesondere dort, wo die Sprecher die Wahl zwischen verschiedenen Optionen oder Varietäten haben, oder um zu analysieren, inwiefern der Sprachgebrauch gesellschaftliche Zustände widerspiegelt. Da jeder Sprachgebrauch letztlich auf den aktuellen Entscheidungen eines Individuums in einer bestimmten kommunikativen Situation beruht, ist weiter zu fragen, ob sich aus den Gebrauchsdaten so etwas wie das Sprachbewusstsein einer Person oder einer Gesellschaft ableiten lässt. Aus Sicht der Systemlinguistik mögen solche Fragen eher spekulativ erscheinen, jedoch gehen sie auf eine lange Forschungstradition zurück, da die Reflexion über den „Zustand“ einer Sprache immer eine Reflexion über einen bestimmten oder einen sich verändernden Sprachgebrauch ist. Dabei kommt es in jüngster Zeit zu einer Methodenkonvergenz eher kulturanalytischer Ansätze mit Methoden der Korpuslinguistik, die verschiedene Arten von Textquellen erschliesst, um den Sprachgebrauch, seine soziolinguistischen Parameter und seinen Wandel quantitativ zu erfassen (vgl. z. B. Bürki 2013) sowie die Konzeption der historisch-geschichteten Textkorpora des 20. Jahrhunderts zu den nationalen Standards in Deutschland (www.dwds.de) und der Schweiz (schweizer-textkorpus.ch). Manifest werden overte oder koverte Annahmen über den Sprachgebrauch und das Sprachbewusstsein zudem auch bei der Auswahl der Einheiten
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und Einträge von Wörterbüchern sowie deren Annotation (Scharloth 2005; siehe auch die Beiträge von Löffler, Roth und Meier & Hofer in diesem Band). Die Definition von Sprachbewusstsein ist doppelgesichtig: Einerseits beschreibt es quasi wertneutral das Wissen und die Reflexion über Sprache. Sprachbewusstsein führt also zu differenzierten Urteilen über Sprache und idealerweise auch zu einem differenzierten und angemessenen Sprachgebrauch. Oft wird Sprachbewusstsein vermengt mit der normativ ausgerichteten Sprachpflege oder Sprachkritik. So schreiben Eichinger, Eisenberg, Klein und Storrer (2013) in ihrem Vorwort zum Sammelband Reichtum und Armut der deutschen Sprache: Erster Bericht zur Lage der deutschen Sprache, der in gemeinsamer Herausgeberschaft der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung sowie der Union der deutschen Akademien der Wissenschaft veröffentlicht wurde: Das Thema „Reichtum und Armut der deutschen Sprache“ hingegen treibt eine sprachbewusste, meist sehr besorgte Öffentlichkeit zu immer erneuter Stellungnahme. Es ist geradezu erstaunlich, wie wenig die Gegenstände aus diesem Bereich in den vergangenen etwa 150 Jahren an Aktualität verloren haben. (Eichinger et al. 2013: 5)
Sprachreichtum und damit Sprachqualität wird oft mit grammatischer Komplexität und/oder gehobenem Wortschatz verglichen, und jede Abweichung davon entsprechend als ‚Verfall‘ interpretiert. Jedoch ist gerade dieser normative Blick auf Sprache einer, der ihre Vielfalt und Dynamik auf nur wenige, typischerweise in Standardgrammatiken und -wörterbüchern kodifizierte Phänomene reduziert, und andere nicht zur Kenntnis nimmt bzw. als Nicht-Standard klassifiziert. Die – empirische – Sprachwissenschaft verweigert sich seit jeher dieser Reduktion. Sie deswegen als deskriptiv, sich aus kritischen Debatten heraushaltend und ihre Verpflichtungen verletzend zu charakterisieren, ist dennoch verfehlt, geht es doch gerade darum, Reichtum und Veränderungspotenziale zu erkennen und auch zu erklären. Ziel dieses Bandes ist es also, Forschungsrichtungen einer empirischen, gebrauchsbasierten Linguistik aufzuzeigen, die Dynamik und Wandel, Unsicherheiten über Normen und kreative Regelverletzungen als Reichtum der Sprache und als Zeichen ihrer Kreativität sowohl in der sozialen Interaktion als auch in der kognitiven Repräsentation sieht. Somit bestehen auch Implikationen für die Sprachtheorie, die sich in ihren modernen, strukturorientierten Ausprägungen oft auf Aspekte der Syntax und hier insbesondere auf die Formulierung eines schlanken Regelapparats und/oder der Identifikation der Gesetzmässigkeiten konzentriert. In den letzten Jahrzehnten gibt es eine die Vielfalt sprachlicher Erscheinungen erfassende Gegenbewegung zu dieser Engführung, die unter dem Terminus gebrauchsbasierte Linguistik (usage-based linguistics, Langacker 1987;
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vgl. Bybee 2010 für einen Überblick) die konkrete Äusserung als usage-event ins Zentrum der Sprachwissenschaft stellt. Jede Aktualisierung sprachlichen Wissens in einem solchen Sprechakt ist in einen konkreten kommunikativen Kontext eingebettet, die über die Erzeugung von grammatisch korrekten Sätzen hinausgeht: Putting together novel expressions is something that speakers do, not grammars. It is a problem-solving activity that demands a constructive effort and occurs when linguistic convention is put to use in specific circumstances. (Langacker 1987: 65)
Die konkreten Äusserungen bilden zudem die Basis für die Abstraktion eines dynamisch gedachten sprachlichen Wissens, das zu jedem Zeitpunkt der Entwicklung aus der individuellen, akkumulierten Spracherfahrung besteht: In usage based models of language […] all things flow from the actual usage events in which people communicate linguistically with one another. The linguistic skills that a person possesses at any given moment in time – in the form of a ‚structured inventory of symbolic units‘ – result from her accumulated experience with language across the totality of usage events in her life. (Tomasello 2000: 61– 62)
Sprecher (oder Schreiber) schöpfen also in jeder Äusserung aus ihrem Wissen über die Sprache(n) in ihren mannigfaltigen Erscheinungsformen und Kontextbedingungen, und sie gestalten mit jeder Äusserung zugleich diese Sprache mit. Für die am Sprachbewusstsein orientierte Linguistik ergibt sich als Implikation die Methoden- und Datenvielfalt: Der oben zitierte Reichtum einer Sprache ergibt sich nicht nur aus den signifikanten Mustern statistik-basierter Korpusanalysen, sondern auch aus der detaillierten Beobachtung und Analyse einzelner Sprachzeugnisse. Obwohl Konventionalisierung und Frequenz wesentlich zu einem flüssigen oder gar hochgradig automatisierten Sprachgebrauch beitragen, beginnt Sprache jeweils dort, wo ein Sprachbenutzer Form und Funktion zu einem sprachlichen Symbol koppelt, es gibt kein Frequenzminimum für ‚Sprache‘ (vgl. Langacker 1987, Kap. 2.1). Dieser Sammelband beleuchtet folgerichtig das Verhältnis von Sprachgebrauch und Sprachbewusstsein aus unterschiedlichen empirischen und theoretischen Perspektiven. Im Fokus stehen qualitative korpuslinguistische Untersuchungen, die insbesondere sprachliche Phänomene jenseits der Norm (z. B. Schmidlin oder Weder) oder der lexikalischen Gebundenheit erfassen (vgl. Rothkegels Analyse des Ausdrucks von Zukunftskonzepten). Dieser Band vergegenwärtigt also einen weiten Sprachbegriff. Die gebrauchsbasierte Linguistik orientiert sich zwar an genuinen Sprachdaten, analysiert diese jedoch primär vor dem Hintergrund eines Sprachsystems: Jedoch hat ein Sprecher für jedes usage-
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event in der Regel Zugriff auf mehrere Repertoires – seien es unterschiedliche Register, Dialekte oder Sprachen, inklusive der Möglichkeit, spontan zwischen diesen Repertoires zu wechseln. Genau hier ist nicht nur die Sprachbeherrschung entscheidend, sondern das Sprachbewusstsein, das die Wahl der Option bestimmt, das aber auch reflektiert, ob diese Wahl angemessen ist. Solche Abweichungen von einem Standard werden oft als Normabweichungen klassifiziert, nicht als kreative Kompetenz, und führen so zu der Gefahr, dass Sprecher an ihrem Sprachgebrauch zweifeln. Der Entlastungsfunktion von Normen steht also die Verunsicherungsgefahr gegenüber: Die Hilflosigkeit, mit solchen Konzepten umzugehen, zeigt sich vielerorts – in sprachpflegerischen Klagen über den Zerfall der Sprache, um Sanktionen im Sprachunterricht, in dem ein in der Regel eindimensionaler, an der Schriftlichkeit orientierter Sprachbegriff herrscht, und letztlich im Bewusstsein der Sprachbenutzer, gerade wenn sie sich selbst als an solchen Normen gescheitert oder scheiternd ansehen. (Häcki Buhofer 2014)
Dies impliziert auch, dass das Konzept der Sprachkompetenz revidiert werden muss. Mehrsprachigkeit im weitesten Sinne heisst nicht, dass Sprecher verschiedene, modular gedachte ‚Systeme‘ (seien es Sprachen oder Varietäten) zu einem unterschiedlichen Grad beherrschen und in der Verarbeitung getrennte Systeme interagieren, sondern dass das Gehirn ein genuin mehrsprachiges ist, das mehrsprachige Äusserungen im Sinne einer emergenten Grammatik erzeugt (vgl. die Beiträge von Filatkina, Lüdi und Franceschini).
2 Lenkung des Sprachbewusstseins durch den Sprachgebrauch Das Sprachbewusstsein wird durch den Sprachgebrauch gesteuert, sowohl in der Ontogenese als auch im Erwachsenenalter, sei es aktiv im eigenen kreativen Schöpfungsakt, oder passiv durch die Beeinflussung durch gesellschaftliche Diskurse, die bestimmte Zustände als gegeben oder notwendig bzw. problematisch darstellen. Harald Burger und Natalia Filatkina stellen Sprachbiographien vor, die das Erwachen und die Verfeinerung des Sprachbewusstseins in der persönlichen Entwicklung zum Thema haben. Rosmarie Zeller und Annely Rothkegel hingegen zeigen auf, wie Bewusstseinsinhalte durch kreative Sprachkombinatorik geschaffen werden. Der Beitrag von Harald Burger betrachtet den Spracherwerb und insbesondere das erwachende Sprachbewusstsein aus der retrospektiven Sicht der Erwachsenenliteratur. So wie Piaget versuchte, mit Hilfe von halbstrukturierten Interviews
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die Entwicklung der Begriffsbildung nachzuvollziehen, geben literarische Selbstreflexionen Aufschluss darüber, wie Kinder versuchen, die Bedeutung von abstrakten Konzepten wie Gott und Ewigkeit aus konkreten Gebrauchsbeispielen zu inferieren. Die Autorin Hilde Ziegler etwa lernt den Begriff Evakuation, als sie sich nach den Wirren des Suchens nach Schutz und des sich Verlierens der Familie wieder an die Mutter schmiegen kann. Während man in der heutigen Spracherwerbsforschung davon ausgeht, dass die Bezugspersonen in sehr hilfreicher Weise auf den Spracherwerb einwirken und sich auf den Sprachstand des Kindes einstellen, gilt bezogen auf abstrakte und z. B. gesellschaftlich oder sexuell belastete Wörter genau das Gegenteil: Wenn das Kind um Erklärung fragt, wird ihm beschieden, es sei zu klein, um es zu verstehen. Ebenso werden Fremdsprachen eingesetzt, um den Kindern etwas zu verheimlichen. Harald Burger schildert anhand vieler literarischer Quellen, welchen Reiz solche Erklärungsverweigerungen ausüben, welche Phantasien sie in Gang setzen, und welche Anstrengungen Kinder unternehmen, um diesen „verbotenen Begriffen“, die doch der Schlüssel zur geheimen Welt der Erwachsenen sind, quasi volksetymologisch auf die Spur zu kommen, und wie sie sich über das Lernen mehrerer Sprachen Zugang zu verschiedenen Welten und Diskursen verschaffen. Jenseits des Anekdotischen – der Kindermund, der unvermutete Bedeutungsbeziehungen offenlegt – zeigen die literarischen Quellen jedoch vor allem den situativen Ursprung und die situative Gebundenheit aller nicht konkreten Ausdrücke auf – seien es Abstrakta, relationale Begriffe wie Possessivpronomen oder nicht-kompositionelle Phraseologismen. Dass Realität durch den Sprachgebrauch konstituiert werden kann, zeigt auch Rosmarie Zeller am Beispiel des Schriftstellers Christoph Geiser: Er verzichtet darauf, in seinen literarischen Werken eine fiktionale Welt zu errichten, sondern verknüpft über den sprachlichen Ausdruck Diskurse und eigentlich getrennte Welten miteinander. Geiser „macht dem Leser bewusst, dass es keine ‚unschuldige‘ Sprache gibt, dass jedes Wort, jeder Ausdruck die Geschichte seines früheren Ausdrucks mitbringt“ (Zeller, in diesem Band). Geisers Sprachgebrauch löst sich von der referentiellen, denotativen Funktion der Sprache. Ihr Sinn erschliesst sich nicht ohne Interpretation vor dem Hintergrund kulturellen, gesellschaftlichen und sprachlichen Wissens. Mit diesem Wissen werden jedoch eine Vielzahl von Anspielungen und Deutungsmöglichkeiten evoziert, indem sprachliche Formen im Text verfremdet und uneigentlich verwendet werden. So lösen einfache Nebeneinanderstellungen von Wortmaterial in ihrer konzentriertesten Form eine semantische Vielschichtigkeit aus. In seinem Roman Wenn der Mann im Mond erwacht (Geiser 2008) besucht der Schweizer Protagonist einen Berliner Waschsalon der zwanziger Jahre. Durch tautologische Zusammenstellungen wie Kollektiv der Eidgenossen werden die unterschiedlichen politischen Systeme in Verbindung
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gebracht, durch Reihung von Hausgenossen und Eidgenossen die Suche nach Gemeinsamkeiten ausgelöst. Annely Rothkegel analysiert die Genese sprachlicher Einheiten von der konzeptuellen Ebene her. So wie in den Beiträgen von Roth und Schmidlin die Formseite der sprachlichen Emergenz gezeigt wird (vgl. S. 7), kann sich auch die Semantik sprachlicher Einheiten wandeln. Das Konzept der Zukunft, wie es im Projekt „Expedition Zukunft“ der Max-Planck-Gesellschaft zum Wissenschaftsjahr 2009 gezeigt wurde (de.expedition-zukunft.org) lässt sich sowohl aus der Perspektive der technischen Entwicklung als auch aus der Perspektive des Nachhaltigkeitsdiskurses fassen. Die sich aus diesen unterschiedlichen Perspektiven ergebenden Bewertungen sind quantitativ und qualitativ nicht homolog. Im Technikdiskurs ist der Fortschritt zentral, metaphorisch werden z. B. durch technische „Assistenten“ physische oder kognitive Defizite ausgeglichen. Im Nachhaltigkeitsdiskurs ist die Perspektive der Balance insofern zentral, als künftige Entwicklungen das System nicht aus dem Gleichgewicht bringen sollen. Die Versprachlichung der Projektion des Zukünftigen lässt also Rückschlüsse auf mentale Modelle zu, die ihrerseits Weltsichten repräsentieren (Burger 1998). Ausgedrückt werden diese Projektionen einerseits durch Bedeutungserweiterungen, vor allem aber durch Kombinatorik zu (metaphorischen) Kollokationen und Phraseologismen wie in grüner Energie, die neben der Sachbezeichnung für neue technische Entwicklungen gesellschaftsspezifische positive oder negative Wertungen enkodieren und Gruppenzugehörigkeiten signalisieren. Natalia Filatkina nimmt die von Häcki Buhofer (2002) formulierte Frage nach dem Zusammenhang von Sprachbewusstsein und Sprachgebrauch auf, indem sie die Methoden der modernen, auf die Gegenwartsprache gerichteten Attitüdenforschung (Schmidlin 2011; Cuonz 2014) auf historische Sprachzeugnisse anwendet. Sie analysiert dabei die Rolle des Fremdsprachenunterrichts, der für Kaufleute seit dem Mittelalter zum Standard der Ausbildung gehörte, insbesondere die Ausbildung im Russischen für norddeutsche Kaufmannssöhne im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert. Unter Boris Gudunow intensivierten sich die Handelsbeziehungen, wobei in Russland der Handel traditionell auf Russisch und nicht auf Latein abgewickelt wurde. Kaufleute mussten sich also – wollten sie nicht auf Dolmetscher angewiesen sein – des Russischen in Wort und Schrift bemächtigen, und schickten zu diesem Zweck die jugendlichen Söhne nach Russland. Dokumentiert sind diese Sprachbeziehungen in einigen Selbstzeugnissen der Betroffenen sowie in Sprachlehrbüchern aus der Zeit. Filatkina argumentiert, dass diese Quellen überregional standardisierte Muster des humanistischen lexikographischen und sprachdidaktischen Diskurses repräsentieren, so dass sich aus diesen Dialogen kollektive und exemplarische Modelle für bestimmte Sprechhandlungen, z. B. Verkaufsgespräche, ableiten lassen. Bei diesen
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Quellen handelt es sich nicht um einen primär präskriptiven und normativen Zugang zur Sprache, sondern sowohl in den Selbstzeugnissen als auch in den Lehrwerken um gesprochene Sprache in alltäglichen Kommunikationssituationen, die über die sprachlichen Formen hinaus implizit pragmatisches und kulturelles Wissen vermitteln und so zu dem „bewussten“ und sensiblen Sprachgebrauch der Kaufleute beitragen, der für erfolgreiche Handelsabschlüssen nötig ist.
3 Die Konstitution von Sprache in der Lexikographie und Wahrnehmungsdialektologie Während es aus Sicht der Sprachkontakts- und Mehrsprachigkeitsforschung problematisch ist, von einer strikten Trennung sprachlicher Systeme auszugehen (siehe unten, Kap. 4), ist Sprache dennoch ein wesentliches Element der eigenen Identität, mit dem sich Sprecher von anderen Gruppen absetzen. Die Bestimmung der Kriterien, nach denen Elemente Eingang in ein standardsprachliches oder regionales Wörterbuch finden, ist seit jeher eine der wesentlichen Fragestellungen der Lexikographie. Heinrich Löffler nähert sich diesem Thema aus der idiosynkratischen Sicht eines der ersten Wörterbuchschreibers, während Stefanie Meier und Lorenz Hofer eine moderne Variante des crowdsourcing durch Online-Befragung in der entsprechenden Sprachgemeinschaft vorstellen. Heinrich Löffler verortet den Beginn der Reflexionen zu Sprachbewusstsein und Sprachgebrauch in die frühe Neuzeit und Reformation, als man sich um die Emanzipation der Volkssprachen bemühte, aufbauend auf der Etablierung von Handelssprachen seit dem frühen Mittelalter (vgl. auch Filatkina in diesem Band). Diese Bewegung fand ihren Höhepunkt in den Sprachgesellschaften des 17. bis 19. Jahrhunderts. Der Basler Johann Jakob Spreng (1699 – 1768) gehörte in diesen Kreis. Er hat, neben einem 20-bändigen, auf intensiven Quellenstudien beruhenden und bislang unveröffentlichten deutschen Wörterbuch, mit seinem zwischen 1740 und 1768 entstandenen Idioticon Rauracum (Löffler 2014) die Tradition der Regionalwörterbücher mitgegründet. Wie bei den Grosswörterbüchern zeigt sich auch hier die bewusstseinsbildende Kraft der Einzelautoren: Spreng entschied sich für einen Zugang, der die typischen Besonderheiten des Baseldeutschen hervorhob, aber auch seine keltischen Wurzeln betonte. So spiegelt dieses Wörterbuch einerseits die Lebenswirklichkeit der Sprachbenutzer zu der Zeit, wie sie Spreng wahrgenommen hat, und positioniert zugleich das Baseldeutsche in der Landschaft der Hoch- und Bildungssprachen.
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Derartig idiosynkratische introspektive Zugänge zur Lexikographie, verbunden mit zeittypischen pädagogisch-politischen Motiven, entsprechen nicht mehr dem heutigen methodischen Standard.Wörterbücher werden ‚objektiviert‘, indem sie z. B. durch (institutionell legitimierte) Autorengruppen herausgegeben werden und in der Regel eine korpuslinguistische Basis haben, die den tatsächlichen Sprachgebrauch als ‚Sprachwirklichkeit‘ widerspiegeln und subjektiven Entscheidungen vorbeugen soll (Klosa 2007; Klein 2004). Für Dialektwörterbücher ergibt sich jedoch das Problem, dass es kaum Korpora einerseits jenseits der Mundartliteratur gibt, und es andererseits eine hohe Erwartungshaltung der Rezipienten gibt, dass diese Wörterbücher das repräsentieren sollen, was sie selbst als typisch und kennzeichnend bzw. als Teil der lokalen Tradition auffassen. Stefanie Meier und Lorenz Hofer charakterisieren das in diesem Spannungsfeld zur Verfügung stehende lexikographische Methodenrepertoire, dem das Neue Baseldeutsch Wörterbuch (Gasser, Häcki Buhofer & Hofer 2010) die Online-Befragung hinzufügt. Die Teilnahme von fast 4000 Personen zeigt das grosse Interesse der Bevölkerung an der Mundart als Teil der persönlichen und regionalen Identität. Die Probanden beurteilten die Wörter nicht nur danach, ob sie ihnen bekannt und/oder Teil ihres eigenen Wortschatzes waren, sondern sie lieferten auch Beispielsätze dafür, wie sie dieses Wort verwenden würden, was es bedeutet und welche ähnlichen Wörter es gibt. Die Online-Befragung erlaubte es, sowohl Bedeutungsvarianten als auch nicht mehr gebräuchliche, aber von den Sprachbenutzern als zum Dialekt gehörende Wörter zu identifizieren. Auch die Wahrnehmungsdialektologie beschäftigt sich mit den durch die Sprachbenutzer empfundenen Grenzen und Einheiten. Helen Christen diskutiert in ihrem Beitrag ein sprecherbasiertes Modell der Dialektologie. Traditionellerweise werden Dialekte auf Basis von Isoglossenbündeln eingeteilt, die auf konkreten sprachlichen Merkmalen beruhen, etwa dem Vollzug oder Nicht-Vollzug bestimmter Lautverschiebungen, oder lexikalischer bzw. morphosyntaktischer Merkmale. Diese werden oft mit siedlungsgeschichtlichen Befunden in Übereinstimmung gebracht. Jedoch definieren Sprecher Dialekte eher auf Basis ihres Zugehörigkeitsgefühls, etwa ‚Kantonsdialekte‘, die es auf Basis traditioneller dialektologischer Merkmale eigentlich nicht gibt. Das Zugerdeutsch etwa bezeichnet die Sprechweise im Kanton Zug, ist jedoch eher das Resultat einer ‚Innenausrichtung‘ als eine objektivierbare sprachliche Grösse, denn die entsprechenden Isoglossen verlaufen nicht isomorph. Mit Hilfe moderner dialektometrischer Methoden lassen sich die Beziehungen zu den Nachbardialekten genauer fassen: Auf der Basis von 216 Merkmalen gibt es in der Tat weder ein eindeutiges Zentrum des Dialekts noch eindeutige Kennzeichen, sondern Merkmalsbündel. Dennoch zeigen sich die stärksten Unterschiede an den Grenzen zu den anderen grossen Dialektzentren Zürich und Luzern, während die Unter-
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schiede zum südlich gelegenen Kanton Schwyz weniger stark ausgeprägt sind.Wie verhalten sich diese Befunde nun wahrnehmungsdialektologisch? Sprecherurteile bestätigen, dass der Kanton Zug einen Mischdialekt habe, die Abgrenzung von Zürich und Luzern aber schwierig sei. So ergibt sich die Abgrenzung dieses Dialekts gerade aus seiner Zwischenstellung. Die Haltung der Sprecher zu ihrem Dialekt ist ambivalent: Einerseits wird anerkannt, dass es kein ‚richtiger‘ Dialekt sei, andererseits wird beklagt, dass das Zugerdeutsche im Zuge steigender Mobilität an Präsenz verliere. Diese Ambivalenz lässt sich auflösen, wenn man davon ausgeht, dass einige Sprecher aus der Nahperspektive eine sehr genaue Wahrnehmung von subtilen Dialektmerkmalen und -grenzen auch innerhalb eines Dialektgebiets haben.
4 Die Emergenz sprachlicher Einheiten im Sprachgebrauch Wenn der Sprachgebrauch eine hohe Sensibilisierung in der Sprachwahrnehmung bewirkt, ist es nur folgerichtig, dass die Kontexte des Sprachwandels am Sprachgebrauch ablesbar sind. Tobias Roth untersucht, unter welchen Bedingungen Sprecher zwischen Konstruktionen wählen, während Regula Schmidlin und Mirjam Weder die Emergenz von Strukturen aus bestehenden oder sich entwickelnden neuen sprachlichen Mustern belegen. Peter Ďurčo macht sich die quantitativen und qualitativen Methoden der Korpuslinguistik zunutze, um möglichst ‚musterhafte‘ Materialien für Zweitsprachlerner zu entwickeln. Ein zentrales Thema dieses Bandes ist, dass Sprecher Optionen im Sprachgebrauch haben. Tobias Roth wendet korpuslinguistische Methoden an, um zu analysieren, unter welchen Bedingungen Sprecher Komposita (Grüntee) oder Kollokationen (grüner Tee) verwenden. Erfasst werden sowohl Frequenzmasse, Assoziationsmasse als auch funktionale Analogien (mit Hilfe der latent semantic analysis, LSA). Die Entscheidungen scheinen weniger durch allgemeine Faktoren der Sprachökonomie wie Kürze oder Frequenz bedingt zu sein, als vielmehr durch den syntaktischen Kontext, in dem beispielsweise gerade in längeren und komplexeren Texten eine Tendenz zur Verdichtung durch Komposita festzustellen ist. Regula Schmidlin beschäftigt sich mit durch Jugendsprache ausgelöstem Sprachwandel. Sie verwendet einen dynamischen Sprachbegriff, der sich Haspelmaths These anschliesst, dass Grammatik das „Nebenprodukt des Sprechens in sozialer Interaktion“ sei (Haspelmath 2002: 10) und Jugendliche diejenigen seien, die durch kreativen Gebrauch sprachlicher Mittel zugleich auffallen und sich von der Norm abgrenzen wollen. Seit Androutsopoulos (1998) wendet sich das
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Interesse verstärkt dem Einfluss der Jugendsprache auf die Grammatik zu, der sich vor allem in Phänomenen der gesprochenen Sprache manifestiert, die von Standardgrammatiken nicht erfasst werden. Theoretisch lehnt sich diese Forschung an die Grammatikalisierungsforschung an. Schmidlin zeigt anhand der NexI-Konstruktion (voll + NP wie in voll die Überraschung) an, wie diese der Intensivierung dienende Konstruktion sich in Analogie zu verschiedenen anderen Intensivierungs-Konstruktionen entwickelt hat und eine Lücke im System füllt, die ihrerseits wieder Raum öffnet für Analogiebildungen (mega NP). NexI steht dabei für nominalphrasen-externe Intensivierer, die anderen syntaktischen Bedingungen folgen als die etablierten Adverbien wie sehr oder viel. Schmidlin belegt, wie die NexI-Konstruktion von Jugendlichen grammatikalisiert wurde und eine Lücke im Steigerungsparadigma des Deutschen füllt. Das Sprachbewusstsein in Form des Bemerkens einer fehlenden Ausdrucksmöglichkeit treibt also auch hier den innovativen Sprachgebrauch an und damit die Verfestigung der neuen Struktur im Sprachsystem durch Grammatikalisierungsprozesse. Mirjam Weder befasst sich mit Normierungsprozessen auf der Textebene. Am Beispiel fachwissenschaftlicher Texte aus mehreren Disziplinen in den Geisteswissenschaften, in denen es wegen der vielfältigen Genres und Forschungstraditionen keine normative Struktur von Artikeln wie z. B. in den Natur- und empirischen Sozialwissenschaften gibt, untersucht sie den Textteil ‚Einleitung‘ in Hinblick auf seine konzeptuelle Struktur, die sogenannten moves, und deren Verbalisierung durch bestimmte Phrasen und Textroutinen. Motiviert ist ihre Fragestellung durch die praktische Erfahrung, dass Studierende dieser Disziplinen in Ermangelung normativer Texttraditionen oft grosse Schwierigkeiten haben, ihre wissenschaftlichen Arbeiten zu strukturieren. Es zeigt sich, dass die Disziplinen unterschiedlich stark durch Textmuster geprägt sind, dass jedoch einige pragmatische Funktionen wie Hypothesen oder Fragestellungen formulieren kaum verbalisiert werden. D.h., dass viele der untersuchten wissenschaftlichen Texte nur bedingt geeignet sind, durch ihre strukturelle und lexikalisierte Musterhaftigkeit metadiskursives Wissen bei den Studierenden hervorzurufen, wie es bei Artikeln, die ihre Arbeitsschritte offenlegen, der Fall ist. Die soeben diskutierten emergenten Strukturen müssen in der Lexikographie und Grammatikschreibung adäquat erfasst werden, beziehen sich jedoch auf ein einzelnes Sprachsystem (auch wenn dies durch Sprachkontakt beeinflusst werden kann).Während sich hier je Kriterien finden lassen, die zur Bestimmung relevanter Einheiten führen, wird dieses Problem komplex, wenn es darum geht, Phänomene zu erfassen, die Systemgrenzen überschreiten. Im Falle von Lehrwerken und Lernerwörterbüchern kann eine empirisch abgesicherte, frequenzbasierte Auswertung des zielsprachlichen Standards helfen, um Lehrmaterial zu entwickeln, wie Peter Ďurčo vorschlägt. Er schliesst an die Methode Roths (Roth 2014) an,
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indem er sie für mehrsprachige Kollokationenwörterbücher funktional machen will. Traditionelle Wörterbücher enthalten kaum Kollokationen, obwohl gerade sie durch ihre Unvorhersagbarkeit massive Lernprobleme im Fremdsprachenerwerb verursachen, und ein unidiomatischer, oft durch die Erstsprache beeinflusster Gebrauch von Kollokationen selbst bei sehr weit fortgeschrittenen Lernern zu beobachten ist. Empirisch fundierte mehrsprachige Wörterbücher sollen also die für Lerner wichtigsten und häufigsten Kollokationen erfassen und die Benutzer für strukturelle und semantische Besonderheiten sensibilisieren.
5 Die Auflösung von Systemgrenzen in der Mehrsprachigkeit Einem anderen Aspekt der Emergenz von Struktur widmen sich Csaba Földes, Georges Lüdi und Rita Franceschini: In mehrsprachigen Kontexten kommt es zu gemischtsprachlichen Strukturen, die durchaus intentional sind, um – wie bei Dialekten – identitätsmarkierend zu wirken, und/oder aus den reichen geteilten sprachlichen Ressourcen zu schöpfen. Csaba Földes untersucht kontaktsprachliche Phänomene in der Lokalpresse ungarndeutscher Gebiete, in denen neben Ungarisch und Hochdeutsch ungarndeutsche Ortsmundarten gesprochen werden. In der Lokalpresse lassen sich Inferenzen auf allen sprachlichen Ebenen beobachten, insgesamt ergibt sich der Eindruck einer vergleichsweise geringeren Verwendung von Phraseologismen sowie ein stärker an der Mündlichkeit orientierter Sprachstil als in den ungarischen oder deutschen nationalsprachlichen Presseerzeugnissen, die in diesem Gebiet ebenfalls gelesen werden. Besonders aufschlussreich sind ‚Kontaktphraseologismen‘ und kreative Metaphern, in denen transkulturelle Konzeptualisierungen nachweisbar sind, etwa eine Pleite erleiden analog zum Ungarischen ‚ein Versagen erleiden‘. Für Földes sind solche Schwankungen und Eklektizismen im Sprachgebrauch Ungarndeutscher kein Beleg für sprachliche Defizite in der Standardsprache, sondern ein „sprachlicher Mikrokosmos“, der quasi als „dritter Raum“ die strukturellen, konzeptuellen und kulturellen Transfer- und Kontaktmöglichkeiten in dieser mehrsprachigen Sprachgemeinschaft beinhaltet. Wie Földes wendet Georges Lüdi sich gegen ein Konzept von Mehrsprachigkeit, das den perfekten bilingualen Sprecher zur Norm erhebt. Die Konzentration auf solche Ausnahmeerscheinungen verstellt den Blick auf die wahre Bedeutung von Mehrsprachigkeit, weil sich hier die Idee eines am normativen Ideal orientierten präskriptiven und elitären Sprachgebrauchs manifestiert, der die weniger perfekte Sprachbeherrschung als defizitär gelten lässt. Mit Cook (1991, 1992)
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wendet er sich gegen die Idee einer additiven Mehrsprachigkeit, in der neue Sprachen zu der perfekt beherrschten Erstsprache hinzukommen, hin zu einem Konzept der Multikompetenz, das Mehrsprachige als in mehreren Sprachen Begabte sieht, ohne dass eine der Sprachen notwendigerweise perfekt beherrscht wird oder Perfektion das Ziel ist. In dieser Konzeption entsteht das – mehrsprachige – Sprachsystem aus den Sprachhandlungen der Benutzer: von langue zu languaging (Thorne & Lantolf 1987). Im Zuge dieses Richtungswandels zu dynamischen, emergenten und interaktionsbasierten Auffassungen von Sprache entwickelten sich Theorien, die syntaktische Strukturen als veränderliches Sediment von sprachlichen Interaktionen sehen (etwa das Konzept der Emergent Grammar, Hopper 1987) und die multimodale Signale als Teil des Sprachsystems auffassen (z. B. Mondada 2001). Diese Konzepte erlauben es, auch mehrsprachige Syntaxen zu erfassen, code-switching also nicht als ‚Produktionsmissgeschick‘ oder Abweichung vom monolingualen Standard zu sehen, sondern als intentionale Sprachproduktion, weil Sprecher zwischen einsprachigem oder mehrsprachigem Modus wählen können. Die Akzeptanz einer solchen Konzeption von emergenter mehrsprachiger Grammatik hat vielfältige Implikationen für unser Konzept von sprachlichen Normen und den Schulunterricht als Vermittler und Sanktionierer einer solchen Normativität. Auch Rita Franceschini nimmt Vivian Cooks Überlegungen zur Multikompentenz (Cook 1991, 1992) als Ausgangspunkt für ihre Überlegungen über eine adäquate Theorie der Sprache und ihrer mentalen Repräsentation. Am Beispiel von Sprachbiographien und neurolinguistischen Versuchen zeigt sie, dass eine system- und normorientierte Sicht auf Sprache bei Mehrsprachigen zu kurz greift. Zum einen werden hier oft inzidentelle Sprachkenntnisse übersehen, weil die Sprachkompetenzen meist in der Muttersprache bzw. in Schul- oder Landessprachen gemessen werden. Die meisten Menschen verfügen aber über weit mehr Sprachkenntnisse, die sie variabel und kompetent im Sinne einer kommunikativen Funktionalität einsetzen. Neben den ‚Brocken‘ der Sprache eines Urlaubslandes lassen sich hier auch mehr oder weniger rudimentäre Kenntnisse von Sprachen von Freunden oder Bekannten denken, sowie insbesondere auch die diversen Lekte der eigenen Sprache. In Sprachbiographien von ladinischsprachigen Kindern in Südtirol zeigte sich, dass diese Sprachkenntnisse und die damit verbundenen Situationen oft als subjektiv wichtiger empfunden werden als die im Schulunterricht vermittelten Sprachen. Die grosse subjektive Bedeutung dieses unfokussierten, quasi nebenbei verlaufenden Spracherwerbs ist der Relevanz der sozialen Funktion von Sprache geschuldet (vgl. Franceschini 1999, 2012). Das inzidentelle Lernen findet in für Sprecher wichtigen und erinnerungswürdigen Situationen statt. Solch implizites Lernen führt somit auch zu kognitiven Effekten. Rita Franceschini diskutiert neurolinguistische Experimente, die zeigen, dass
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overte und koverte mehrsprachige Probanden in einer stillen Erzählaufgabe (silent free naration task; vgl. Kim, Relkin, Lee & Hirsch 1997) gleich gut abschnitten, unabhängig davon, ob die zweite oder dritte Sprache aktiv verwendet wurde oder nur eine oft gehörte Umgebungssprache war.
6 Implikationen für die Sprachtheorie Insgesamt zeigt dieser Band, dass eine dynamische Konzeption von Sprache, die den kulturellen Kontexten des Sprachgebrauchs und den individuellen Quellen des Sprachbewusstseins Rechnung trägt, Beziehungen zwischen verschiedenen Wissenschaftstraditionen und Forschungsfragen herstellen kann: Die von Rosmarie Zeller beschriebenen Mechanismen zur Herstellung fiktiver Welten in der Literatur finden sich ebenso in den von Annely Rothkegel analysierten Zukunftsdiskursen der Technik, in denen durch kreative Wortkombinatorik positiv oder negativ konnotierte neue Welten projiziert werden. Das Problem der Abgrenzung sprachlicher Systeme zeigt sich nicht nur in der individuellen Sprachwahl, der Schaffung von Zugehörigkeiten und Identitäten durch das Lernen verschiedener Varietäten, wie sie in der Dialektologie (Christen), der Sprachkontaktforschung (Földes), aber auch in der ontogenetischen Perspektive des Spracherwerbs und der Sprachbiographie (Burger, Filatkina, Lüdi, Franceschini) thematisiert wurden, sondern auch in den methodischen Überlegungen, die der Kodifizierung solcher Zustände in Wörterbüchern zugrunde liegen (Löffler, Meier und Hofer). Ebenso wurde aufgezeigt, dass der Systemcharakter der Sprache eher als musterhaft denn als kategorisch definiert zu sehen ist: Tobias Roth, Regula Schmidlin und Mirjam Weder charakterisieren Phänomene auf Wort-, Satz- und Textebene jenseits etablierter Kategorien und Normen, die jedoch im Zuge ihrer wachsenden Frequenz und/oder Akzeptanz Muster für analoge Bildungen schaffen und Spielraum für alternative Konstruktionen bieten. Ob das Konzept abgrenzbarer Sprachsysteme linguistisch, sozial und kognitiv überhaupt haltbar ist, stellen die Beiträge zur Mehrsprachigkeit (Ďurčo, Földes, Lüdi, Franceschini) in Frage, indem sie Phänomene diskutieren, die mit diesem Konzept nur unzureichend erfasst werden können. Eine Sprachtheorie, die den Reichtum der Sprache und der Sprecher abbildet, sollte nicht nur auf die Analyse und Bestimmung des System fokussiert sein, sondern die Analogien zwischen den diese Phänomene hervorbringenden kulturellen, sozialen und kognitiven Prozessen aufzeigen. Ein solcher prozessorientierter Blick kann Gemeinsamkeiten, wenn nicht gar Regelhaftigkeiten zwischen unterschiedlichen Phänomen- und Forschungsbereichen in der Linguistik aufzeigen (Behrens & Pfänder 2014; Beckner et al. 2009).
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Danksagung Für die Konzeption und Umsetzung dieses Sammelbandes danken wir vielen: Die Philosophisch-Historische Fakultät der Universität Basel und der Hochschulrat der Universität Freiburg haben uns mit Beiträgen an den Druckkostenzuschuss unterstützt. Lorenz Hofer hat bei der Planung und Konzeption dieses Sammelbandes mitgewirkt und entscheidende Impulse geliefert. Daniel Gietz vom de Gruyter Verlag hat die Entstehung dieses Bandes konstruktiv begleitet. Nadine Mathys (Universität Freiburg) hat alle Beiträge redigiert; Steffen Siebenhüner, Julia Voegelin und Catherine Diederich (Universität Basel) sowie Alexandra Schiesser (Universität Freiburg) haben zur Endredaktion beigetragen. Wir widmen diesen Band unserer Kollegin Annelies Häcki Buhofer, die uns durch ihre wissenschaftliche Neugier und den Mut, neue Pfade zu gehen und unkonventionell zu denken, eine Quelle der Inspiration ist.
Literatur Androutsopoulos, Jannis K. (1998): Deutsche Jugendsprache. Untersuchungen zu ihren Strukturen und Funktionen. Frankfurt am Main: Peter Lang. Behrens, Heike & Stefan Pfänder (2013): Die Entstehung von Sprache. In Peter Auer (Hrsg.), Sprachwissenschaft: Grammatik - Interaktion – Kognition. Stuttgart, Weimar: Metzler, 319–346. Beckner, Clay, Richard Blythe, Joan Bybee, Morten H. Christiansen, William Croft, Nick C. Ellis, John Holland, Jinyun Ke, Diane Larsen-Freeman & Tom Schoenemann (2009): Language is a complex adaptive system: Position paper. Language Learning 59(Supplement 1), 1–27. Bybee, Joan L. (2010): Language, Usage and Cognition. Cambridge: Cambridge University Press. Bürki, Andreas (2013): Formulaic Language and its Cultural Context: A Diachonic Perspective. Dissertation, Universität Basel. Cook, Vivian J. (1991): The poverty-of-the-stimulus argument and multicompetence. Second Language Research, 7, 103–117. Cook, Vivian J. (1992): Evidence for multicompetence. Language Learning 42, 557–591. Cuonz, Christina (2014): Sprachliche Werturteile von Laien. Eine sozio-kognitive Analyse. Tübingen: Francke. Gasser, Markus, Annelies Häcki Buhofer & Lorenz Hofer (2010): Neues Baseldeutsch Wörterbuch. Basel: Christoph Merian. Eichinger, Ludwig M., Peter Eisenberg, Wolfgang Klein & Angelika Storrer (2013): Vorwort – Die deutsche Sprache ist, wie sie ist. In: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung & Union der deutschen Akademien der Wissenschaften (Hrsg.): Reichtum und Armut der deutschen Sprache. Berlin: de Gruyter, 5–13.
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Geiser, Christoph (2008): Wenn der Mann im Mond erwacht. Ein Regelverstoss. Zürich: Amman. Franceschini, Rita (1999): Italiano di contatto. Parlanti occasionali e riattivazioni di conoscenze non focalizzate. Habilitationsschrift, Universität Basel. Franceschini, Rita (2012): Unfokussierter Spracherwerb in Kontaktsituationen. Sprachexposition als Teil des Sprachwandels. Sociolinguistica 26, 41–57. Häcki Buhofer, Annelies (2014): ‚Unachtsam‘ und ‚rigoros unsicher‘ – zwei Facetten der Wertung beim Spracherwerb in der diglossischen Norm. Plenarvortrag auf dem Symposion Deutschdidaktik. FHNW Basel, 7.9.2014. Häcki Buhofer, Annelies (2002): Steuert Sprachbewusstheit den eigenen Sprachgebrauch? Überlegungen zum Zusammenhang an Beispielen aus der deutschen Schweiz. Der Deutschunterricht 3, 18–30. Haspelmath, Martin (2002): Grammatikalisierung: Von der Performanz zur Kompetenz ohne angeborene Grammatik. In: Sibylle Krämer & Ekkehard König (Hrsg.): Gibt es eine Sprache hinter dem Sprechen? Frankfurt am Main: Suhrkamp, 262–286. Hopper, Paul (1987): Emergent grammar. Berkeley Linguistic Society 13, 139–157. Kim, Karl H. S., Norman R. Relkin, Kyoung-Min Lee & Joy Hirsch (1997): Distinct cortical areas associated with native and second languages. Nature 388, 171–174. Klein, Wolfgang (2004): Vom Wörterbuch zum Digitalen Lexikalischen System. Zeitschrift fü r Literaturwissenschaft und Linguistik 136, 10-55. Klosa, Anette (2007): Korpusgestützte Lexikographie: besser, schneller, umfangreicher? In: Kallmeyer, Werner & Gisela Zifonun (Hrsg.): Sprachkorpora - Datenmengen und Erkenntnisfortschritt. Berlin, New York: de Gruyter, 105-122. Langacker, Ronald W. (1987): Foundations of Cognitive Grammar. Vol. 1: Theoretical Prerequisites. Stanford: Stanford University Press. Löffler, Heinrich (Hrsg.) (2014): Idioticon Rauracum. Johann Jakob Spreng. Baseldeutsches Wörterbuch. Basel: Schwabe. Mondada, Lorenza (2001): Pour une linguistique interactionnelle. Marges Linguistiques 1, 142– 162. Scharloth, Joachim (2005): Sprachnormen und Mentalitäten: Sprachbewusstseinsgeschichte in Deutschland im Zeitraum von 1766 bis 1785. Tübingen: Niemeyer. Schmidlin, Regula (2011): Die Vielfalt des Deutschen: Standard und Variation. Gebrauch, Einschätzung und Kodifizierung einer plurizentrischen Sprache. Berlin, New York: de Gruyter. Roth, Tobias (2014): Wortverbindungen und Verbindungen von Wörtern. Tübingen: Francke. Thorne, Steven L. & James P. Lantolf (2007): A linguistics of communicative activity. In: Sinfree Makoni & Alastair Pennycook (Hrsg.): Disinventing and Reconstituting Languages. Clevedon: Multilingual Matters, 170–195. Tomasello, Michael (2000): First steps toward a usage-based theory of language acquisition. Cognitive Linguistics 11, 61–82.
Harald Burger (Zürich)
Erwachendes Sprachbewusstsein – in der Erinnerung autobiographischer Texte 1 Spracherwerb und Sprachbewusstsein im Kontext von Autobiographie Von einem Text, der den Erwerb des Sprachbewusstseins behandelt, erwartet man empirische Beobachtungen und objektive oder zumindest objektivierbare Daten. Nachdem ich mich oft mit dem Spracherwerb, lange Zeit zusammen mit Annelies Buhofer (z. B. Burger & Häcki Buhofer 1998), auf empirische Art und Weise befasst habe, sei mir nun einmal gestattet, das Thema von einer ganz anderen Seite anzugehen, nur in einem sehr eingeschränkten Sinne empirisch und schon gar nicht mit objektiven oder überprüfbaren Daten. Seit langem schon habe ich es bei meinen Lektüren autobiographischer Texte von Schriftstellern¹ höchst aufschlussreich gefunden, auf welche Weise, in welchem Maße und unter welchem Aspekt sich die Autoren an ihren eigenen Spracherwerb erinnern (können und wollen). Dabei ergibt sich die intrikate Frage, ob das, was die Autoren schreiben, ein Zeugnis ihres jetzigen (zum Zeitpunkt des Schreibens aktuellen) oder tatsächlich ihres damaligen Sprachbewusstseins ist. Soviel kann man, ohne unvorsichtig zu werden, sicher sagen: Damals ist ihnen ein Aspekt ihrer Sprache oder der Sprache der anderen aufgefallen und dieses Auffällige ist in der Erinnerung wach geblieben oder doch durch das autobiographische Schreiben (wieder) aktualisiert worden. Die Frage kompliziert sich noch durch das bekannte Phänomen, dass die Umwelt bestimmte Auffälligkeiten der Sprache des Kindes wahrnimmt, diese an den heranwachsenden Autor weitergibt und dieser sie dann so „verinnerlicht“, dass er sie für eigene Erfahrung hält.² Hier geraten wir in die äußerst komplexe literaturwissenschaftliche Diskussion über den Status autobiographischer Erinnerung.Was Autobiographen selbst über das Problem denken, dafür sei stellvertretend eine Reflexion des Schweizer Autors Urs Widmer zitiert, der seine Autobiographien von Politikern, Sportlern und sonstigen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens berücksichtige ich hier nicht. Zweifellos gäbe es auch hier Texte, die in Bezug auf den Spracherwerb aufschlussreich sein können, beispielsweise die Autobiographie von Hanna Schygulla in Bezug auf die Zweisprachigkeit Deutsch/Polnisch in Schlesien, heute Polen. „An vieles, führt Maurois [1930] aus, können wir uns nicht erinnern; die Erinnerungen an unsere Kindheit sind vielfach die Erinnerungen unserer Eltern und Großeltern – wir glauben uns an das zu erinnern, was sie uns erzählt haben.“ (Wagner-Egelhaaf 2005: 44)
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„Reise an den Rand des Universums“ (2013) mit dem paradox klingenden Satz einleitet: Kein Schriftsteller der bei Trost ist, schreibt eine Autobiographie. Denn eine Autobiographie ist das letzte Buch. Hinter der Autobiographie ist nichts. Alles Material verbraucht. (Widmer 2013: 7)
Das wäre natürlich nur zutreffend, wenn ein Schriftsteller lediglich über seine Erinnerungen verfügen würde, um ein Buch zu schreiben. „Du bist nicht tot […], aber du hast alle Geschichten erzählt.“ (Widmer 2013: 7) (Oder ist das gänzlich Erfundene immer auch eine Art Erinnerung?) Dann kommt im Text aber eine Art Salto mortale, der die Pointe des ersten Satzes außer Kraft setzt: Außer: Du machst […] aus deiner Not eine Tugend. Tust das Unabänderliche mit Lust und erfindest das Leben mit genau dem, was du erinnerst. Mit den Tatsachen. Mit dem, was du redlich und aufrichtig dafür zu halten gewillt bist. Denn früher einmal dachte ich, dass die Phantasie nichts anderes als ein besonders gutes Gedächtnis sei. Heute glaube ich eher, dass jedes Erinnern, auch das genaueste, ein Erfinden ist. Das Tatsächliche erinnern: Auch daraus kann nur ein Roman werden. Vermutlich aber gehorche ich nur einem banalen Gesetz der Menschen: Erst träumen wir von der Zukunft, dann leben wir sie, und am Ende, wenn diese gelebte Zukunft vergangen ist, erzählen wir sie uns noch einmal. (Widmer 2013: 7)
Erinnern, Gedächtnis, Erfinden, das Tatsächliche …, das sind die Stichworte, die für jede Autobiographie und jede Theorie der Autobiographie im Zentrum stehen. Widmer hat auch keine Bedenken, sich der Erzählungen anderer zu bedienen, um an die Anfänge seines Spracherwerbs zurück zu gelangen³. „Vom Hörensagen“ weiß er, wie seine früheste Sprechphase vor sich gegangen ist: Hier und da fuhr ein Auto unter meinem Fenster vorbei, wendete am Straßenende (unser Haus stand auch für Erwachsene am Ende der bewohnten Welt) und kam zurück. Meine Mutter und ich winkten. Autos waren damals so selten wie Maulesel heute. Mein erstes Wort – erneutes Hörensagen [vorher war von seinen ersten Monaten die Rede] – war Auto („Auti“). –
Andere Autoren weigern sich, hinter die authentischen eigenen Erinnerungen zurück zu gehen, am extremsten vielleicht Jean-Jacques Rousseau in seinen „Bekenntnissen“ („Confessions“ 1781): „Ich empfand, ehe ich dachte: das ist das gemeinsame Schicksal der ganzen Menschheit, ich erfuhr es jedoch tiefer als irgend jemand anders. Was ich bis zu meinem fünften oder sechsten Jahre trieb, ist mir nicht bewußt. Auch wie ich lesen lernte, weiß ich nicht, ich erinnere mich nur der ersten Dinge, die ich las, und ihrer Wirkung auf mich: und von dieser Zeit an datiert ohne Unterbrechung mein Selbstbewußtsein.“ (Rousseau 1985: 40). Offenbar beginnt Sprachbewusstsein für ihn erst mit der ersten Lektüre, und die Lektüre ist unlösbar mit dem Selbstbewusstsein verknüpft.
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Meistens aber Raben, Hasen, Schwalben, Katzen, die ich, wenn sie sich bewegten, auch Auto nannte. (Widmer 2013: 21)
Was bei Widmer noch sehr einfach daherkommt, mit geradezu schulbuchmäßigem, wissenschaftlich angetöntem Vokabular, wird von anderen Autoren (z. B. Nathalie Sarraute in ihrem Buch „Kindheit“ 2000 [1983]) komplexer angegangen. Diese literaturwissenschaftliche Problematik kann nicht das Thema unseres eher linguistisch orientierten Aufsatzes sein. Was das Sprachbewusstsein als theoretisches Feld der (Psycho‐)Linguistik betrifft, so machen sich hier verschiedene Termini und Konzepte Konkurrenz: Sprachbewusstsein, Sprachbewusstheit, Language Awareness ⁴ und vermutlich noch einige andere⁵. Diese voneinander abzugrenzen, ist nicht das Ziel unserer Überlegungen. Darum sprechen wir im Folgenden undifferenziert von „Sprachbewusstsein“. Eine wichtige Rolle spielt die Theorie des Sprachbewusstseins für die Problembereiche Schriftspracherwerb⁶, Zweitspracherwerb⁷, auch für verzögerte oder gestörte Sprachentwicklung⁸. In engem Zusammenhang mit Sprachbewusstsein steht der Erwerb metalinguistischer Fähigkeiten⁹. Die meisten Spracherwerbsforscher sind aber der Auffassung, dass zwischen Sprachbewusstsein und metalinguistischen Fähigkeiten keine klare Interdependenz besteht. Sprachbewusstsein und metalinguistische Fähigkeiten werden vor allem aktuell für Phasen des Spracherwerbs, die erst etwa ab dem sechsten Lebensjahr anzusetzen sind¹⁰, und sie beinhalten die Fähigkeit zur Reflexion und Analyse sprachlichen Wissens.Wir greifen – auf Grund des vorgefundenen Materials in den Autobiographien – auch auf frühere Phasen zurück, auf „Vorstufen“ des „eigentlichen“ Sprachbewusstseins¹¹.
Für den auch außerhalb des angelsächsischen Sprachbereichs weit verbreiteten Terminus Language Awareness wurde im Deutschen der Terminus Sprachbewusstheit vorgeschlagen, doch konnte sich eine Vereinheitlichung der Terminologie bis heute nicht durchsetzen, vgl. Fehling 2005: 46. Für einen Überblick siehe Suter Tufekovic (2008: 217– 236). Dazu schon Andresen (1985). Vgl. Kutsch (1988), Fehling (2005). Vgl. Wehr (2001). Vgl. Gombert (1990); Brédart & Rondal (1997). Vgl. Andresen (2005). Gombert (1990: 22) schlägt, in Anlehnung an Culioli (1968), vor, die „eigentlichen“ metalinguistischen Aktivitäten („métalinguistique au sens strict“) von den „epilinguistischen“ zu trennen, also den Vorstufen als „activités métalinguistiques inconscientes“.
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2 Das frühe Lexikon – Konkreta und Abstrakta Widmer, der seinen frühen Wortschatzerwerb nur in der Spiegelung durch die Umwelt erinnert (s. o.), hat schon früh ein Bewusstsein – das kann ihm nicht (nur) die Umwelt vermittelt haben – für den defizienten Status seines Lexikons. Er ist sich bewusst, dass zwischen seiner Erfahrung mit den Dingen und der sprachlichen Erfassung eine Kluft besteht. „Wie viele Dinge gab es in dieser Welt, deren Namen ich noch nicht kannte! Ist es nicht ein Wunder, wie locker ich inzwischen ‚Fensterfront‘, ‚Schrank‘ und ‚Welt‘ sage und noch viel mehr – alle Wörter dieses Buchs –, als sei das selbstverständlich?“ (Widmer 2013: 22) Wenn es sich hier so liest, als wäre das Benennen der Dinge eine Art von Etikettieren, so schildert Gottfried Keller in „Der grüne Heinrich“ (2006 [1889])¹² einfühlsam und genau, wie der Knabe die Interdependenz von Welt-Erfahrung und Sprach-Erfahrung erlebt. Er liebt es, aus dem Fenster zu sehen und zu erkunden, was hinter den Dächern sich befindet. Da aber war für einmal meine Welt zu Ende; denn den duftigen Kranz von Schneegebirgen, welcher hinter den letzten Dachfirsten halb sichtbar ist, hielt ich, da ich ihn nicht mit der festen Erde verbunden sah, lange Zeit für eins mit den Wolken. […] für jetzt aber konnte mir die Mutter lange sagen, das seien große Berge ¹³ […], ich vermochte sie darum nicht besser von den Wolken zu unterscheiden, deren Ziehen und Wechseln mich am Abend fast ausschließlich beschäftigte, deren Name aber ebenso ein leerer Schall für mich war, wie das Wort Berg. (Keller 2006: 32– 33)
Er hält die Schneekuppen „für etwas Lebendiges,Wunderbares und Mächtiges,wie die Wolken“ und pflegt „auch andere Dinge mit dem Namen Wolke oder Berg zu belegen, wenn sie mir Achtung und Neugierde einflößten.“ (Keller 2006: 33) Die „erste weibliche Gestalt, welche mir wohlgefiel“, nennt er „die weiße Wolke“. Ein „langes hohes Kirchendach“ nennt er „den Berg“ (Keller 2006: 33). Die Mutter lehrt ihn beten, wenn in der Dämmerung das Glöckchen eines Türmchens läutet, auf dessen Spitze sich ein „glänzender goldener Hahn drehte.“ Die Mutter spricht von „Gott“ und er fragt: „Was ist Gott? ist es ein Mann?“ und sie antwortet: „Nein, Gott ist ein Geist!“ Damit kann er auch nicht viel anfangen „und eines Abends fand ich „Der grüne Heinrich“ ist keine Autobiographie sensu strictu, sondern ein „autobiographischer Roman“ (vgl. Wagner-Egelhaaf 2005: 51), also ein stark fiktionaler Text mit autobiographischen Realitätsfragmenten. Er kann hier aber beigezogen werden, weil der fiktionale Aspekt in der zitierten Passage kaum im Vordergrund stehen dürfte. Ebenfalls zwischen den Gattungen Autobiographie und Roman/Erzählung stehen die im Folgenden zitierten Texte von Hilde Ziegler und Karl Philipp Moritz. Kursivierung in Zitaten hier und im Folgenden vom Verf.
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mich plötzlich des bestimmten Glaubens, daß dieser Hahn Gott sei“ (Keller 2006: 34). Die Verkettung von Abstraktem und Konkretem, von noch nicht zugänglichem Religiösen und sinnlich Erfahrbarem zeigt sich in der Verkettung von Gott – läutendem Glöckchen – Hahn auf dem Turm. Hilde Ziegler (1988), die ihre Erinnerungen an ihre Kindheit während des Zweiten Weltkriegs und aus den Jahren danach aufzeichnet, versucht vergeblich, sich „vorzustellen“, was Ewigkeit und ewig sein könnte – und die Ohnmacht gegenüber der Sprache macht ihr Angst: In Ewigkeit. Amen. In Ewigkeit. Ewigkeit. Ich will mir die Ewigkeit vorstellen und kann nicht. Ich bekomme Herzklopfen und springe aus dem Bett. Ich mache Licht. Ich habe Angst. Ewig. Ich glaube, das ist etwas ganz Furchtbares. (Ziegler 1988: 83)
Einen ähnlichen Vorgang beschreibt Karl Philipp Moritz (1994 [1785], eine der frühesten Autobiographien im deutschen Sprachraum) in Bezug auf Anton Reiser (der das autobiographische ‚Ich‘ vertritt). Dieser ist allerdings schon über den eigentlichen Spracherwerb hinaus und kann bereits lesen und schreiben. Anton Reisers „sehnlichster Wunsch“ ist „die nahe Beschauung des Zifferblatts und der Galerie am neustädtischen Turme in H[annover], und der Glocken, die daran hingen“ (Moritz 1994: 98). Diese Vorstellung, die zu einem „Spiel seiner Phantasie“ (Moritz 1994: 98) wird, verknüpft sich mit einer abstrakten Formulierung, die er in der Predigt des Pfarrers hört, und die sich durch die Verknüpfung mit Anschauung füllt: Sooft nun der Pastor P[aulmann] von den Höhen der Vernunft sprach, so dachte Anton mit Entzücken an die Höhen seines geliebten Turms, an die Glocke darin und an das Zifferblatt, – und dann auch an das hohe Chor, worauf die Orgel in der B[rüdern]kirche stand – dann erwachte auf einmal alle seine Sehnsucht wieder und der Ausdruck: die Höhen der Vernunft, preßte ihm Tränen der Wehmut aus den Augen. (Moritz 1994: 99)
Im Übrigen versteht er den eigentlichen „abhandelnde(n) Teil“ der Predigten noch nicht. Im harmlosesten Fall ist abstraktes Vokabular für das Kind ein Grund, sich über die Sprache zu wundern und sie – in diesem Fall mit den Kategorien eines Erwachsenen formuliert – einem bestimmten Register zuzuordnen (Wörter mit den Suffixen heit, keit, ung als Merkmale des Registers „Büchersprache“): Karl Philipp Moritz schildert, wie der Vater dem jungen Sohn (Anton Reiser) aus literarischen und historischen Texten vorliest: Er redte daher auch eine Art von Büchersprache, und Anton erinnert sich noch sehr genau, wie er im siebten oder achten Jahre oft sehr aufmerksam zuhörte, wann sein Vater sprach,
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und sich wunderte, daß er von allen den Wörtern, die sich auf heit, und keit, und ung endigten, keine Silbe verstand, da er doch sonst, was gesprochen wurde, verstehen konnte. (Moritz 1994: 32)
Für Hilde Ziegler spielt der Zweite Weltkrieg eine zentrale lebensgeschichtliche Rolle, und damit ein ganzes Arsenal von (zunächst) unverstandenem Kriegsvokabular. Das fängt schon beim zentralen Wort Krieg an. Die Nachfrage bei ihrem älteren Bruder oder ihren Eltern hilft ihr meist auch nicht weiter: Ich frage meinen Bruder: weisch du, was Chrieg isch? Er sagt: das sinn über hunderttausig Kanone. Für dr Feind. Ich frage: was isch dr Feind? Er sagt: dr andr. (Ziegler 1988: 8)
Oft erschließt sich ein für sie neues und undurchsichtiges Wort situativ: Meine Mutter sagt: mir müen ab, mr wärde evakuiert. Ich weiss nicht, was evakuiert ist und gehe hinunter zu Nelly, um ihr zu sagen, dass wir evakuiert werden. (Ziegler 1988: 16)
Sie versteht das Wort nicht, gebraucht es aber trotzdem. Später ergibt sich situativ eine Annäherung an die Bedeutung des Wortes, wenn auch nur halb-verstanden: Wir stehen, zusammengedrängt mit vielen anderen Leuten, auf einem fahrenden Lastwagen. Es heisst, wir fahren jetzt in Sicherheit. [Eine Frau hält sie gegen ihren Willen fest, weil sie glaubt, jetzt kämen Tiefflieger.] Ich krieche zwischen den Leuten hindurch zu meiner Mutter. Ich glaube, jetzt bin ich evakuiert. (Ziegler 1988: 17)
Wenig produktiv ist das Verhalten von Erwachsenen, die die kindliche Frage von sich abschieben mit Argumenten der Art „Du bist noch zu jung, um das zu verstehen“: Tante Miggi schenkt mir ein Nähkästchen aus Holz. Auf der Innenseite des Deckels ist ein Spiegel angebracht. Ich schaue hinein. Tante Miggi sagt: aber nit, dass de eitel wirsch. Ich frage: was isch das, eitel? Sie sagt: das verstohsch du nonig. Bisch no z’chlei. (Ziegler 1988: 18)
Unverstandene Wörter können auch die Phantasie anregen und dadurch einen besonderen Reiz entwickeln. Walter Benjamin (Die Mummerehlen, 1972 [1938]: 260 – 261) reflektiert den (positiven) Sinn des Missverstehens am Beispiel einer Wortgruppe (die Muhme Rehlen) in einem Kindervers und einem unverstandenen Wort (Kupferstich) in einem Dialog, dem er zuhört: In einem alten Kinderverse kommt die Muhme Rehlen vor. Weil mir nun „Muhme“ nichts sagte, wurde dies Geschöpf für mich zu einem Geist: der Mummerehlen. Das Mißverstehen verstellte mir die Welt. Jedoch auf gute Art; es wies die Wege, die in ihr Inneres führten. Ein jeder Anstoß war ihm recht.
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So wollte der Zufall, daß in meinem Beisein einmal von Kupferstichen war gesprochen worden. Am Tag darauf steckte ich unterm Stuhl den Kopf hervor: das war ein „Kopf-verstich“. Wenn ich dabei mich und das Wort entstellte, tat ich nur,was ich tun mußte, um im Leben Fuß zu fassen. Beizeiten lernte ich es, in die Worte, die eigentlich Wolken waren, mich zu mummen. Die Gabe, Ähnlichkeiten zu erkennen, ist ja nichts als ein schwaches Überbleibsel des alten Zwangs, ähnlich zu werden und sich zu verhalten. Den aber übten Worte auf mich aus. Nicht solche, die mich Mustern der Gesittung, sondern Wohnungen, Möbeln, Kleidern ähnlich machten. (Benjamin 1972 [1938]: 260 – 261)
In beiden Fällen ist eine Art „volksetymologisches“ Verfahren am Werk. Eine logische Knacknuss ist für Kinder nicht nur in den frühen Jahren die Semantik relationaler Begriffe. Widmer schildert sehr vergnüglich die Verwirrung, die sich für das Kind ergeben kann durch die Mehrfachkategorisierung ein und derselben Person: Norina. Sie war die Frau Erwins und meine Tante, das ist gewiss, obwohl meine Mutter der Ansicht war, sie sei ihre Schwester. Ich fragte Norina: Tante, ganz klar. Ich mochte genauso wenig glauben, dass meine Großmutter […] die Mutter meines Vaters sein sollte. Entweder oder. Sie mussten sich entscheiden. Norina konnte ja nicht gut eine Schwester sein, wenn sie eine Tante war, und eine Großmutter war keine Mutter. Allein schon das Alter. Eine Mutter war jung, so wie meine, und nicht ein graues gebücktes Weiblein, das nach Mottenkugeln roch. (Widmer 2013: 32) […] weil mein Onkel Otto, den mein Vater liebte und von dem er behauptete, er sei sein Bruder, ein Pfarrer war. (Widmer 2013: 33)
Morphosyntaktische Phänomene sind bezeichnenderweise kaum je auffällig für das Kind, es sei denn eine morphosyntaktische Spezialität habe direkt semantische Auswirkungen, so z. B. der bestimmte Artikel in generalisierender Funktion: Sie sagen: in zwee, drei Daag isch dr Franzos do. Ich verstehe nicht, warum alle vor einem einzigen Mann solche Angst haben. (Ziegler 1988: 17)
Eine besondere Rolle spielen Namen für das kindliche Vokabular. Ihre identifizierende Funktion wird in der Regel nicht in Frage gestellt. Auffällig werden Namen dann, wenn sie über diese Funktion hinaus als Wörter mit lexikalischer Bedeutung verstanden werden können. Im folgenden Beispiel wundern sich die Kinder darüber, dass es Namen gibt wie Gutenmorgen, obwohl Namen doch nichts „bedeuten“ sollten. Dann steigern sie sich im Dialog zur Erfindung neuer Beispiele, bis hin zu Fäkalien-Erfindungen: Wir sitzen auf dem Mäuerchen. Uta, Albert, Günther und ich. Ich kenne eine Frau, die heisst Frau Gutenmorgen. Stimmt gar nit.
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Doch. Un ich chenn ein, dä heisst Herr Sauermilch. Dä chenn i au. Un z’Friedlinge wohnt eini, die heisst Heiland. Un ich chenn ein, dä heisst Seggel. Stimmt gar nit, das git’s nit. Doch. Un ich chenn ein, dä heisst Herr Furz. Un ich ein: Herr Fudi. Un Frau Schissi. Frau Fudischissi. Nei, Herr Furzspaghetti. Un Herr Miaufürzlestinkkanone. (Ziegler 1988: 21)
Karl Philipp Moritz ist weniger an der potentiellen Semantik, als an den psychischen Assoziationen interessiert, die Namen hervorrufen können: Überhaupt pflegte Anton in seiner Kindheit durch den Klang der eignen Namen von Personen oder Städten zu sonderbaren Bildern und Vorstellungen von den dadurch bezeichneten Gegenständen veranlaßt zu werden. Die Höhe oder Tiefe der Vokale in einem solchen Namen trug zur Bestimmung des Bildes das meiste bei. So klang der Name Hannover beständig prächtig in seinem Ohre, und ehe er es sahe, war es ihm ein Ort mit hohen Häusern und Türmen, und von einem hellen und lichten Ansehen. Braunschweig schien ihm länglicht von dunklerm Ansehen und größer zu sein, und Paris stellte er sich, nach eben einem solchen dunklen Gefühle bei dem Namen, vorzüglich voll heller weißlichter Häuser vor. (Moritz 1994: 56)
Moritz, der auch als einer der ersten Psychologen¹⁴ im deutschen Sprachraum gilt, gibt dann eine durchaus plausible Erklärung für diese psychischen Vorgänge: Es ist dieses auch sehr natürlich: denn von einem Dinge, wovon man nichts wie den Namen weiß, arbeitet die Seele, sich, auch vermittelst der entferntesten Ähnlichkeiten, ein Bild zu entwerfen, und in Ermangelung aller andern Vergleichungen, muß sie zu dem willkürlichen Namen des Dinges ihre Zuflucht nehmen, wo sie auf die hart oder weich, voll oder schwach, hoch oder tief, dunkel oder hell klingenden Töne merkt, und zwischen denselben und dem sichtbaren Gegenstande eine Art von Vergleichung anstellt, die manchmal zufälligerweise eintrifft. (Moritz 1994: 56)
Er gründete 1783 das „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde“, eine der ersten psychologischen Zeitschriften.
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3 Dialekt und Standard Eine potentielle Quelle von Missverständnissen ist das Zusammentreffen von Dialekt und Standard. Hilde Ziegler spricht vorschulisch ihren heimatlichen alemannischen Dialekt, aber sie kommt durch die Kriegsereignisse mit norddeutschen Sprechern und damit dem Hochdeutschen in Kontakt, auch durch ihren älteren Bruder, der in die Schule geht und sich mit Hochdeutsch „auskennt“: Mein Bruder fragt mich: was heisst König uff hochdütsch? Ich frage: wieso? Er sagt: das heisst Könich. Ich sage: nei, König. Er sagt: frog doch d’Frau Gönner [die Lehrerin]. (Ziegler 1988: 25)
Ein Test am „lebenden Objekt“ geht allerdings schief: Ich frage meine Mutter: was heisst Nikolaus in der Mehrzahl? Nikolause oder Nikoläuse? Sie weiss es auch nicht genau und sagt, ich solle ins Café Weiss gehen, dort sprächen sie hochdeutsch. Ich deute auf die Schokoladennikoläuse und sage: zwei. Frau Weiss sagt: zwei Weihnachtsmänner. Eine Mark. (Ziegler 1988: 27)
Hochdeutsch sprechender Besuch kann ebenfalls Missverständnisse erzeugen: Wir haben Besuch aus Berlin und müssen hochdeutsch sprechen. Herr Duntz spricht sehr schnell, und nicht immer verstehe ich alles. Muesch halt d’Ohre spitze, sagt meine Mutter. Gerade als ich zur hinteren Tür hinaus will, kommt Herr Duntz zur hinteren Tür herein. Er fragt: wo willste denn hin, du kleene Maus? Er nennt mich immer kleene Maus und meinen Bruder Pfeifenkopp. Ich sage: in Schopf, Holz holen. Wat? In Schopf, Holz holen. Wo willste Holz holen? Im Schopf. Herr Duntz legt seine dicke Hand auf meinen Kopf und fängt an, in meinen Haaren herumzuwühlen. Ick seh keen Holz, sagt er. (Ziegler 1988: 61)
Es entspinnt sich ein lustiger Dialog der Missverständnisse. Schließlich schreit sie, „so laut ich kann: der Schopf ist neben dem Hühnerhof und im Schopf ist das Holz und die Trotte und der Abort“ (Ziegler 1988: 62). Endlich versteht Herr Duntz, dass sie mit Schopf das bezeichnet, was er Schuppen nennt („ach so, Schuppen meenste“). Und daraus entsteht wieder ein Missverständnis, diesmal auf Seiten des kleinen Mädchens: „Jetzt weiss ich, warum er mir in den Haaren herumgewühlt hat. Aber ich habe keine Schuppen auf dem Kopf.“ (Ziegler 1988: 62)
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4 Kollokationen – Idiome – Doppeldeutigkeiten Nicht nur einzelne Wörter erregen die Aufmerksamkeit des Kindes, sondern auch Mehrwortverbindungen. Die einfachste und am meisten belegte Art von Problemen, die Phraseme für Kinder bieten können¹⁵, ist die potentielle zweifache Lesart vieler Kollokationen und Idiome. Das Kind wundert sich über den Ausdruck, der im wörtlichen Sinn in der gegebenen Situation keinen Sinn macht. Ein prototypisches Beispiel erinnert Hilde Ziegler (aus der Zeit, als sie bereits ins Gymnasium geht): Die Pause ist vorüber. Er wird gleich kommen, Herr von Bock. Ich stehe noch am Fenster, als er eintritt. Und schon ruft er: setz dich auf deine vier Buchstaben. Ich setze mich, um sofort wieder aufzuspringen mit den andern, denn das ist ja Vorschrift zur Begrüssung. Hinsetzen also, aufstehen, hinsetzen. Und ich denke: was machen die in dieser Schule mit den Buchstaben? Sie rechnen mit ihnen, und jetzt verlangt der noch, ich solle mich darauf setzen. Obwohl man doch viel schönere Sachen machen könnte mit den Buchstaben. (Ziegler 1988: 77)
Das Idiom sich auf seine vier Buchstaben setzen bedeutet ‚sich hinsetzen‘ (Duden 11: „ugs. scherzh. Die vier Buchstaben stehen hier scherzhaft verhüllend für das Wort Popo“). Besonders die Kollokationen und Idiome, die sich im Kriegsvokabular herausgebildet haben, sind für die junge Hilde Anlass für Missverständnisse: Jetz liege sie vor Stalingrad, das chamme sich nit vorstelle, das Eländ, sagt Frau Glück. Ich verstehe nicht, was die Leute vom Krieg erzählen. Ein grosses Elend sei er. Und doch liegen und stehen immer alle herum. Das ist doch kein Elend. (Ziegler 1988: 15)
Soldaten „liegen vor…“ versteht das Kind wörtlich und missversteht damit die gesamte Situation. Wir sind in Marzell bei Elsi in der Stube. Elsi sitzt auf dem Sofa, Lisbeth und Paula am Tisch, meine Mutter steht am Fenster. Alle weinen. Worum hüle sie, frage ich meinen Bruder. Er flüstert: dr Fritzi isch gfalle. Und ich denke: wenn ich falle, sagen sie, ich solle aufstehen, und wenn der Fritzi fällt, weinen sie. (Ziegler 1988: 17)
Phraseme bieten allerdings kein grundsätzliches Verstehens- und Lernproblem im Spracherwerb. Vgl. dazu Burger (2009).
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Jmd. ist gefallen ist eine phraseologische Formulierung, die vor allem im Perfekt gebraucht wird (*jmd. fällt wäre eben eher wörtlich verstehbar, wie es die junge Hilde Ziegler tut). Am Ende des Kindergottesdienstes betet der Pfarrer für die Brüder, die im Feld stehen. Ich sehe vor mir ein Roggen- oder Weizenfeld und denke: warum stehen die Brüder im Feld? Warum gehen sie nicht weiter? (Ziegler 1988: 15)
Im Feld stehen ist ein Phrasem, dessen beide Komponenten literal verstanden und damit missverstanden werden können, wie es Hilde Ziegler tut. Nicht immer bleibt es beim bloßen Missverstehen, sondern das Kind versucht, der zunächst wörtlich verstandenen Formulierung einen Sinn abzugewinnen, so an der folgenden Stelle aus dem „Anton Reiser“: Seine Mutter hatte einen sonderbaren Ausdruck, daß einem, der vor einem Gespenste fliehen will, die Fersen lang werden; dies fühlte er im eigentlichen Verstande, sooft er im Dunkel etwas Gespensterähnliches zu sehen glaubte. Auch pflegte sie von einem Sterbenden zu sagen, daß ihm der Tod schon auf der Zunge sitze; dies nahm Anton ebenfalls im eigentlichen Verstande, und als der Mann seiner Base starb, stand er neben dem Bette, und sahe ihm sehr scharf in den Mund, um den Tod auf der Zunge desselben, etwa, wie eine kleine schwarze Gestalt, zu entdecken. (Moritz 1994: 36)
Der junge Anton Reiser versteht bzw. „fühlt“ die Idiome „im eigentlichen Verstande“, ihre wörtliche Vorstellbarkeit also macht ihn betroffen und erschreckt ihn. Zugleich aber versteht er auch, dass es um jemanden geht, der stirbt, und er sucht nach einem Zusammenhang zwischen der wörtlichen und der phraseologischen Ebene („sahe ihm sehr scharf in den Mund […]“). Mit einer körperlichen Erfahrung verbunden ist die Erinnerung an die wörtliche Realisierung des Idioms in einem Fall wie dem folgenden: Wenn sich mein Vater über mich ärgert, nimmt er sein rechtes Ohrläppchen in die Hand, zieht es nach vorn und sagt: das schrib i mr hinter d’Ohre. Merk dr das. (Ziegler 1988:47)
Der Vater liefert mit dem Ausspruch zugleich eine Art Motivierung, indem er die somatische Komponente Ohr gestisch umsetzt (allerdings nicht das schreiben). Ein Phrasem kann auch deswegen für das Kind auffällig sein, weil es zum ersten oder auch wiederholten Mal an eine spezifische, einprägsame Situation gebunden ist. Der Erwachsene behält es in Erinnerung als eine Art Zitat aus einer Ursprungssituation. (Beispiele dazu in Burger 2010: 125 – 126; vgl. auch Burger 2012.) Typischerweise erinnert man sich an ein Phrasem, das eine Person in einer immer wiederkehrenden Situation jeweils sagte, und viele Wendungen entstehen
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in Familien oder Kleingruppen, sind dort für eine gewisse Zeit gebräuchlich und geraten dann wieder in Vergessenheit. Als Erwachsener erinnert man sich an solche Phraseme, wenn sie für den Zusammenhalt einer Gruppe, besonders einer Familie, eine wichtige Rolle spielen. Sie sind dann Teil eines kommunikativen Gedächtnisses, das die Jüngeren mit dem Sprachgebrauch der Älteren verbindet (vgl. Burger 2014). Zahlreiche Belege dafür findet man bei Natalia Ginzburg („Mein Familien-Lexikon“, 1965), z. B.: Doch ein Wort genügt zwischen uns [Geschwistern]. Ein Wort oder ein Satz genügt: einer jener Sätze, die uns, als wir Kinder waren, unendliche Male wiederholt wurden. Es genügt, uns zu sagen: Wir sind nicht nach Bergamo gekommen, um einen Ausflug zu machen ¹⁶ […] um mit einem Schlag unsere alten Beziehungen, unsere Kindheit und unsere Jugend wiederzufinden, die untrennbar mit diesen Sätzen, mit diesen Worten verbunden sind. […] Diese Sätze sind die Grundlage unserer familiären Einheit […] (Ginzburg 1965: 29)
Das Zitat zeigt auch eine wichtige Funktion solcher Formen des Gedächtnisses: die Bildung von Solidarität z. B. innerhalb der Familie durch ein „Familiengedächtnis“. Ohne die zugehörige Geschichte, die ebenfalls Teil des kommunikativen Gedächtnisses ist, wären manche Ausdrücke gar nicht verständlich bzw. sie sind für denjenigen, der nicht an der gemeinsamen Erinnerung teilhat, nicht oder nicht ohne weiteres verständlich: [Ein Freund der Familie, der aus Deutschland stammte,] hatte, als er nach dem Krieg nach Freiburg zurückkam, ausgerufen: Ich erkenne mein Deutschland nicht mehr! Dieser Satz war in unserem Hause berühmt geblieben, und meine Mutter deklamierte ihn immer, wenn es ihr passierte, daß sie etwas oder jemanden nicht wiedererkannte. (Ginzburg 1965: 85) So sah meine Mutter Mailand nach vielen Jahren zum erstenmal wieder … Sie fand die Stadt verändert und häßlich. Sie sagte: Ich erkenne mein Deutschland nicht mehr! (Ginzburg 1965: 88)
Natalie Sarraute schildert mit besonderer Eindringlichkeit die Situationen und Personen, die mit einem bestimmten Satz oder bestimmten typischen Formulierungen verbunden sind: Mit fünf oder sechs Jahren, wie sie schreibt, hatte sie eine junge deutsche Kinderfrau, die die Aufgabe hatte, sich um sie zu kümmern und ihr Deutsch beizubringen (vgl. Sarraute 2000: 12– 13). Natalie ergreift plötzlich die Handarbeitsschere der Frau und droht, auf die Rückenlehne eines Sofas einzustechen. (vgl. Sarraute 2000: 13) Dann die junge Frau (auf Deutsch): „Non siamo venuti a Bergamo per fare campagna“, Lessico famigliare, (1963: 22), war ursprünglich der Ausspruch eines berühmten Dirigenten, der sich auf einer Tournee in Bergamo befand und seine nicht sehr motivierten Sänger ermahnte, dass sie eigentlich da seien, um „Carmen“ zu proben.
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„Nein, das tust du nicht“ … da sind sie wieder, diese Worte, sie sind wieder lebendig geworden, sie sind genauso rege wie in jenem Moment vor so langer Zeit, als sie in mich eindrangen; sie drücken, sie lasten mit ihrer ganzen Macht, mit ihrem enormen Gewicht auf mir … und unter ihrem Druck löst sich in mir etwas ebenso Starkes, erhebt sich in mir etwas noch Stärkeres und steigt empor … die Worte, die aus meinem Munde kommen, tragen es fort und treiben es dort hinein … „Doch, ich werde es tun.“
Dann sagt das Kind auf deutsch: „Ich werde es zerreißen“. Natalie Sarraute in ihrem Dialog mit sich selber: „Auf deutsch … Wie hattest du es so gut lernen können?“ „Ja, ich frage mich selbst … Aber diese Wörter habe ich seitdem nie mehr ausgesprochen … ‚Ich werde es zerreißen.‘ … das Wort ‚zerreißen‘ ertönt wie ein wildes Zischen, im nächsten Moment wird etwas passieren … ich werde etwas zerreißen, verheeren, zerstören … es wird ein Anschlag sein … ein Attentat … ein Verbrechen.“ (Sarraute 2000: 14) Der Bruder Kolja, den sie überaus gern hat, hat ein Arsenal fester Formulierungen. Wenn er bei einer Diskussion mit Mama deutlich machen wollte, daß er anderer Meinung war, sagte er stets in freundlich-ungeduldigem Ton die gleichen Worte: „Ach, laß das doch bitte‘“ … oder: „Es ist keineswegs so, das kann man nicht vergleichen“ … ohne je wahre Unzufriedenheit, ohne die Spur einer Aggression erkennen zu lassen. (Sarraute 2000: 86)
Ein besonderer Moment ist ihr fest in Erinnerung geblieben. Mama und Kolja taten so, als kämpften sie miteinander, sie amüsierten sich, und ich wollte mich daran beteiligen, ich habe für Mama Partei ergriffen, ich habe meine Arme um sie gelegt, so als wollte ich sie verteidigen, und sie hat mich sanft zurückgewiesen … „Laß doch … Frau und Mann sind das gleiche Gespann.“ Und ich habe mich zurückgezogen.
Dass dieser Moment für sie von besonderer Eindrücklichkeit war, „das beweist schon die Tatsache, daß dieses Sprichwort für immer in meinem Gedächtnis geblieben ist, dieses ein einziges Mal gehörte kleine Sprichwort …“ (Sarraute 2000: 87)
5 Mehrsprachigkeit Zwei- oder gar mehrsprachig aufwachsende Kinder entwickeln – darüber ist man sich in der Forschung einig – früher ein Bewusstsein für Sprache und Sprachen als monolinguale Kinder. Elias Canetti („Die gerettete Zunge“, 1977) macht dieses erwachende Bewusstsein zu einem der Hauptthemen der Autobiographie seiner frühen Jahre. Er verbringt seine Kindheit in Bulgarien in vielsprachiger Umge-
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bung: Sieben oder acht verschiedene Sprachen „wurden allein in unserer Stadt gesprochen, etwas davon verstand jeder, nur die kleinen Mädchen, die von den Dörfern kamen, konnten Bulgarisch allein und galten deshalb als dumm.“ (Canetti 1977: 38) Seine Eltern sind Spaniolen, Juden spanischer Abstammung, die eine Art altertümliches Spanisch bewahrt haben, versetzt mit türkischen Elementen. (Canetti 1977: 11) Eine der Sprachen, mit denen er konfrontiert wird, hat schon in der Kindheit eine besondere Stellung: das Deutsche. „Meine Eltern untereinander sprachen deutsch, wovon ich nichts verstehen durfte. Zu uns Kindern und zu allen Verwandten und Freunden sprachen sie spanisch.“ (Canetti 1977: 17) Deutsch benutzten die Eltern als eine Art Geheimsprache, durch die sie sich gegen die Umgebung, auch innerhalb der Familie, abgrenzen konnten. Wenn der Vater vom Geschäft nach Hause kam, sprach er gleich mit der Mutter. Sie liebten sich sehr in dieser Zeit und hatten eine eigene Sprache unter sich, die ich nicht verstand, sie sprachen deutsch, die Sprache ihrer glücklichen Schulzeit in Wien. Am liebsten sprachen sie vom Burgtheater, da hatten sie, noch bevor sie sich kannten, dieselben Stücke und dieselben Schauspieler gesehen und kamen mit ihren Erinnerungen darüber nie zu Ende. Später erfuhr ich, daß sie sich unter solchen Gesprächen ineinander verliebt hatten […]. (Canetti 1977: 33)
Die Eltern seiner Eltern – und überhaupt die ältere Generation der Familie – sind gegen die Heirat, aber es gelingt dem jungen Paar, sich durchzusetzen. Ich hatte also guten Grund, mich ausgeschlossen zu fühlen, wenn die Eltern mit ihren Gesprächen anfingen. Sie wurden überaus lebhaft und lustig dabei, und ich verband diese Verwandlung, die ich wohl bemerkte, mit dem Klang der deutschen Sprache. (Canetti 1977:14)
Er bettelt darum, dass man ihm diese Sprache, „ihre geheime Sprache“ (Canetti 1977: 35) beibringt, aber die Eltern weigern sich. Das einzige Wort, das sie preisgeben, ist „Wien“. Wenn ich lange vergeblich gebettelt hatte, lief ich zornig davon […] und sagte mir die Sätze, die ich von ihnen gehört hatte, her, im genauen Tonfall, wie Zauberformeln, ich übte sie oft für mich, und sobald ich allein war, ließ ich alle Sätze oder auch einzelne Wörter, die ich eingelernt hatte, hintereinander los, so rasch, daß mich sicher niemand verstanden hätte. (Canetti 1977: 34)
Er findet heraus, dass der Vater einen anderen Namen für die Mutter verwendet, wenn sie Deutsch sprechen, statt Mathilde nennt er sie Mädi. Dann treibt er sein Spiel mit diesem Namen, indem er sich versteckt und im Tonfall des Vaters nach Mädi ruft; seine Mutter ist dann ganz verwirrt, weil sie niemand sieht, der gerufen hat und ihren Kosenamen kennt. (Canetti 1977: 34– 35)
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Mit acht Jahren soll er nach Wien in die Schule kommen (nachdem er vorher in England gewohnt und Englisch gelernt hat). Dann ist es endlich so weit, dass er die lange verheimlichte Sprache wirklich kennenlernt. Die Mutter bringt ihm auf geradezu brutale Art Deutsch bei, mit Hilfe eines Englisch-Deutsch-Lehrbuchs. Sie liest ihm einen deutschen Satz vor, ohne ihn zu übersetzen, lässt ihn wiederholen, so lange, bis die Aussprache stimmt, und erst dann gibt sie ihm die englische Übersetzung. Wenn es nicht klappt, schimpft sie und nennt ihn einen „Idioten“ (Canetti 1977: 86 – 87) So zwang sie mich in kürzester Zeit zu einer Leistung, die über die Kräfte jedes Kindes ging, und daß es ihr gelang, hat die tiefere Natur meines Deutsch bestimmt, es war eine spät und unter wahrhaftigen Schmerzen eingepflanzte Muttersprache. Bei diesen Schmerzen war es nicht geblieben, gleich darauf erfolgte eine Periode des Glücks, und es hat mich unlösbar an diese Sprache gebunden. Es muß auch den Hang zum Schreiben früh in mir genährt haben […]. (Canetti 1977: 90)
Besonders interessant, weil vermutlich einzigartig, ist die Abfolge der Sprachen in seinem Jahre dauernden Mehrspracherwerb. Nach und nach überlagert das Deutsche alle vorher gehörten Sprachen, mit merkwürdigen Konsequenzen, deren Gründe er selbst – auch als Erwachsener – nicht recht versteht. Das „Merkwürdigste, was ich aus meiner Jugend zu berichten habe“, ist die „geheimnisvolle Übertragung“ der Sprache der Märchen: Er hat sie auf bulgarisch gehört. „Sie sind mir in allen Einzelheiten gegenwärtig, aber nicht in der Sprache, in der ich sie gehört habe. Ich habe sie auf bulgarisch gehört, aber ich kenne sie auf deutsch.“ (Canetti 1977: 17) „Alle Ereignisse jener ersten Jahre spielten sich auf spanisch oder bulgarisch ab. Sie haben sich mir später zum größten Teil ins Deutsche übersetzt.“ (Canetti 1977: 17) An spanisch-Gesprochenes erinnert er sich nur bei besonders dramatischen Ereignissen. „Alles übrige, also das meiste, und ganz besonders alles Bulgarische, wie die Märchen, trage ich deutsch im Kopf.“ (Canetti 1977: 17) Wie und wann das vor sich ging, daran kann er sich nicht erinnern. Er hat bei der Niederschrift auf deutsch nicht das Gefühl, etwas zu verändern oder zu entstellen. „Es ist nicht wie die literarische Übersetzung eines Buches von einer Sprache in die andere, es ist eine Übersetzung, die sich von selbst im Unbewußten vollzogen hat.“ (Canetti 1977: 18) Während man bei Canetti von Mehrsprachigkeit reden kann (mit unterschiedlichen Gewichtungen der verschiedenen Sprachen), geht es bei Sarraute primär um Zweisprachigkeit. Nach ihren ersten zwei Jahren in Russland trennen sich die Eltern, und sie zieht mit ihrer Mutter nach Paris, wo sie mit ihr und ihrem Stiefvater mehrere Jahre lebt. 1906 ziehen sie wieder nach Russland, nach St. Petersburg. Ab 1909 lebt sie in Paris, zunächst bei ihrem leiblichen Vater. Später studiert sie in England und Deutschland. Ihre „Muttersprachen“ sind also Rus-
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sisch und Französisch. Hinzu kommen Englisch und Deutsch als Zweitsprachen. Ihre Sprach-Erinnerungen betreffen aber nur die muttersprachlich gelernten Sprachen. Sie spricht besser Französisch als ihr Vater, obwohl auch er sich das Französische gut angeeignet hat. Der Vater „spricht oft französisch mit mir … ich finde, daß er sehr gut französisch spricht, da sind nur seine ‚r’s‘, die er rollt, ich will es ihm richtig beibringen“ (Sarraute 2000: 53). Er übertreibt dann das Rollen und will ihr das russische r beibringen, das sie offenbar nicht perfekt artikuliert, und so ergibt sich ein lustiges Spiel zwischen Vater und Tochter. In einer anderen Szene schildert sie, wie sie sich mit dem Jonglieren mit den zwei Sprachen während einer langen Zugreise die Zeit vertreibt: […] ich vertreibe mir die Zeit damit, daß ich zu den Stößen der Räder stets die gleichen beiden Wörter ausspreche … die wahrscheinlich durch die sonnigen Ebenen angeregt wurden, die ich durch das Fenster sah … das französische Wort soleil und das gleiche russische Wort solntze. (Sarraute 2000: 125)
6 Lesen Lernen Für Literaten spielt im Spracherwerb der Erwerb der Kulturtechniken Lesen und Schreiben erwartungsgemäß eine wichtige Rolle. Dabei ist vom Lesen-Lernen weit öfter die Rede als vom Schreiben-Lernen. Ich gehe hier nur noch auf die ersten Erfahrungen mit Buchstaben und Schrift ein. Kellers Grüner Heinrich kennt offenbar die Buchstaben schon, als er mit sechs Jahren in die Schule kommt und nun „offiziell“ lesen lernt. Er tut das auf seine eigene Art, indem er den Buchstaben mit einem Wort, über das er sich wundert und das er nicht versteht, in Verbindung bringt. Der Oberschulmeister fordert die Kinder auf, die großen Buchstaben, die auf einer Tafel stehen, zu benennen. „Ich hatte schon seit geraumer Zeit einmal das Wort Pumpernickel gehört, und es gefiel mir ungemein, nur wußte ich durchaus keine leibliche Form dafür zu finden […].“ Dann soll er das große P benennen, „welches mir in seinem ganzen Wesen äußerst wunderlich und humoristisch vorkam, und es ward in meiner Seele klar und ich sprach mit Entschiedenheit: Dieses ist der Pumpernickel!“ Der Lehrer hält ihn für einen Schlingel und schüttelt ihn an den Haaren, „daß mir Hören und Sehen verging.“ Da er aber nicht weint, schüttelt ihn der Schulmeister nochmal und er ruft „flehentlich in meiner Angst: Sondern erlöse uns von dem Bösen! und hatte dabei Gott vor Augen, von dem man mir so oft gesagt hatte, daß er dem Bedrängten ein hilfreicher Vater sei.“ (Keller 2006: 35 – 36) Das war dem Lehrer zu viel und er bestellt die Mutter zu sich, um sich über das Betragen des Sohnes zu beklagen.
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Canetti schildert, wie er seinen Vater beim Lesen beobachtet und wie er dem Wesen des Lesens, das ihn fasziniert, auf die Spur zu kommen versucht. Der Vater liest täglich die „Neue Freie Presse“, „es war ein großer Augenblick, wenn er sie langsam auseinanderfaltete“ (Canetti 1977: 37). Er ist dann für niemanden zu sprechen. Der Junge versucht herauszufinden, was es ist, das den Vater an der Zeitung fesselt. Zuerst denkt er, es sei der Geruch.Wenn niemand ihn sieht, klettert er auf den Stuhl und riecht „begierig an der Zeitung. Aber dann beobachtete ich, wie er den Kopf am Blatt entlang bewegte und tat es ihm nach, hinter seinem Rücken.“ (Canetti 1977: 38) Der Vater bemerkt das zufällig und erklärt ihm dann, „daß es auf die Buchstaben ankomme, viele kleine Buchstaben, auf die er mit dem Finger klopfte. Bald würde ich sie selber lernen, sagte er, und weckte in mir eine unstillbare Sehnsucht nach Buchstaben“ (Canetti 1977: 38). Rousseau, der (s. o. Anm. 3) sparsam mit seinen Informationen über seine Kindheit ist, beschreibt auch nicht den Vorgang des Lesenlernens, nur dessen Resultat. Denn kaum hat er lesen gelernt, verschlingt er zusammen mit seinem Vater (die Mutter ist bei seiner Geburt gestorben) unzählige Romane, Abend für Abend. In kurzer Zeit erlangte ich durch diese gefährliche Methode nicht nur eine äußerste Leichtigkeit im Lesen und Erfassen, sondern ein für mein Alter einziges Verständnis alles dessen, was Leidenschaft heißt. Ich hatte noch keine blasse Vorstellung von den Dingen selber, als alle Gefühle mir schon bekannt waren. Ich hatte nichts geistig begriffen und doch alles schon empfunden. Die wirren Erregungen […] gaben mir wunderliche und phantastische Vorstellungen vom Leben, von denen mich weder Erfahrung noch Nachdenken jemals recht haben heilen können. (Rousseau 1985: 41)
In seiner unnachahmlichen Mischung von Ironie und Selbstironie schildert JeanPaul Sartre (in „Die Wörter“ 1982 [1964]) seine frühe Begegnung mit Literatur. „Ich habe mein Leben begonnen, wie ich es zweifellos beenden werde: inmitten von Büchern.“ (Sartre 1982: 24) Bücher gab es in großer Zahl in den Bücherregalen und auf dem Tisch seines Großvaters, Bücher gab es aber auch im Zimmer seiner Großmutter. Jedoch sehr unterschiedliche Bücher in den beiden Fällen. Großvaters Bibliothek enthält die Klassiker und zeitgenössischen Autoren, Großmutter leiht sich jede Woche Bücher in einer Leihbücherei aus, und in ihrem Zimmer sind sie „gebettet“. Der Großvater findet diese minderwertig und verachtet sie, die Großmutter jedoch genießt die Lesestunden: „Sie machte ihnen sorgfältig einen Schutzumschlag, suchte sich dann eines von ihnen aus, nahm in ihrem Ohrensessel nahe am Fenster Platz, setzte die Brille auf, seufzte müde und beglückt […] ich erfüllte mich mit einem sakralen Schweigen.“ (Sartre 1982: 25) Die Bücher des Großvaters erlebt er anders: „Ich konnte noch nicht lesen, aber ich verehrte sie bereits, diese aufgerichteten Steine.“ (Sartre 1982: 24) Er fühlt, dass der Wohlstand
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der Familie von ihnen abhing. Die Bibliothek ist für ihn ein kleines „Heiligtum“, mit „sehr alten Monumenten, die zugesehen hatten, wie ich geboren wurde, die mich sterben sehen würden und deren Permanenz mir eine Zukunft garantierte, die so ruhig sein würde wie die Vergangenheit“ (Sartre 1982: 25). Er berührt sie heimlich, weiß aber nicht recht, „was ich mit ihnen anfangen sollte“. Jeden Tag erlebt er dieselben Zeremonien, „deren Sinn mir nicht aufging“: wie der Großvater geschickt und entschlossen ein Buch aus dem Regal nimmt, es aufmacht, es „auf der richtigen Seite“ öffnet. Manchmal beobachtet er, wie die „Büchsen“ sich aufspalten wie Austern, „und ich entdeckte die Nacktheit ihrer Eingeweide: verschimmelte Blätter, leicht aufgetrieben, bedeckt mit schwarzen Äderchen, die Tinte tranken und wie Pilze rochen“ (Sartre 1982: 25). „Ich konnte noch nicht lesen, aber ich war so sehr Snob, dass ich verlangte, meine Bücher zu erhalten.“ (Sartre 1982: 27) Der Großvater verschafft ihm zwei Bücher, Erzählungen nach Volksmotiven, dem Kindergeschmack angepasst […] Ich wollte unverzüglich mit den Einweihungszeremonien beginnen. Ich nahm die beiden kleinen Bände, roch daran, betastete sie, öffnete sie nachlässig ‚auf der richtigen Seite‘ [wie es der Großvater tut] und ließ sie krachen. Vergebens: ich hatte nicht das Gefühl, sie zu besitzen. Ich versuchte, ohne mehr Erfolg, sie wie Puppen zu behandeln, zu wiegen, zu küssen, zu schlagen. (Sartre 1982: 27)
Die Mutter, die die Verzweiflung des Knaben bemerkt, fragt ihn, ob sie ihm etwas vorlesen solle, z. B. die „Feen“. „Ich fragte ungläubig: ‚Die Feen, ist das da drin?‘“ (Sartre 1982: 27) Die nächste Stufe der Aneignung besteht darin, dass er so tut, wie wenn er lesen würde. Ich packte mir ein Buch mit dem Titel ‚Drangsale eines Chinesen in China‘ und zog damit in einen Abstellraum; dort hockte ich mich auf ein Eisenbett und tat so, als läse ich: mit den Augen folgte ich den schwarzen Linien, ohne auch nur eine einzige zu überschlagen, und erzählte mir dazu laut eine Geschichte, wobei ich mich bemühte, jede Silbe auszusprechen. Man ertappte mich – oder ich ließ mich ertappen –, es machte großes Aufsehen, man beschloß, nun sei es an der Zeit, mir das Alphabet beizubringen. (Sartre 1982: 29)
In kürzester Zeit eignet er sich die Schrift an und stürzt sich wie besessen auf die Bücher. „Ich hatte meine Religion gefunden; nichts erschien mir wichtiger als ein Buch; die Bibliothek sah ich als Tempel.“ (Sartre 1982: 35) „Ich stürzte mich in unglaubliche Abenteuer: ich mußte auf Stühle klettern, auf Tische und riskierte dabei, Lawinen auszulösen, die mich begraben hätten.“ (Sartre 1982: 29) Er rast Hals über Kopf durch die ganze Literaturgeschichte hindurch. Das meiste versteht er natürlich nicht oder nur teilweise. Es gibt haufenweise Wörter wie Idiosynkrasie, Apokope, Chiasma, die sich ihm nicht erschließen, „hundert andere undurchdringliche und abweisende Kaffern traten aus so einer Seite hervor […]“ (Sartre
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1982: 30). Auch was er nicht versteht, liest er immer wieder, z. B. die Madame Bovary. […] schließlich kannte ich ganze Abschnitte auswendig, ohne daß mir das Verhalten des armen Witwers dadurch klarer geworden wäre: er fand Briefe, war das ein Grund, sich nicht mehr zu rasieren? Er blickte düster auf Rodolphe, als hätte er was gegen ihn – aber was eigentlich? […] Dann starb Charles Bovary: an Kummer? an einer Krankheit? (Sartre 1982: 33)
In Gegenwart von Erwachsenen bietet er eine Show: „Hinter mir öffnete sich die Tür, man wollte sehen, ‚was ich trieb‘.“ (Sartre 1982: 41) Er versorgt das leichtere Buch, in dem er gerade liest, rasch wieder im Regal, stellt sich „sofort auf die Zehenspitzen, um mit ausgestreckten Armen den gewichtigen Corneille herunterzuholen; man bemaß meine Leidenschaft nach der Anstrengung, hinter mir hörte ich eine begeisterte Stimme flüstern: ‚Aber er liebt Corneille wirklich!‘ Ich liebte ihn nicht. […]“ (Sartre 1982: 42). Die Faszination der Buchstaben, der Schrift und des Lesens ist auch für Walter Benjamin („Berliner Kindheit um Neunzehnhundert“ 1972 [1938]) eine prägende Erinnerung. Bei ihm aber ist es nicht die häusliche bibliophile Umgebung, die ihm die Schrift nahebringt, sondern ein in der damaligen Zeit (und noch lange darüber hinaus, in abgewandelter Form noch bis heute) gängiges pädagogisches Instrument des Lesen-Lernens, der „Lesekasten“: Nie wieder können wir Vergessenes ganz zurückgewinnen. […] Vielleicht ist, was Vergessenes so beschwert und trächtig macht, nichts anderes als die Spur verschollener Gewohnheiten, in die wir uns nicht mehr finden könnten. Vielleicht ist seine Mischung mit den Stäubchen unserer zerfallenen Gehäuse das Geheimnis, aus dem es überdauert. Wie dem auch sei – für jeden gibt es Dinge, die dauerhaftere Gewohnheiten in ihm entfalteten als alle anderen. An ihnen formten sich die Fähigkeiten, die für sein Dasein mitbestimmend wurden. Und weil das, was mein eigenes angeht, Lesen und Schreiben waren, weckt von allem, was mir in früheren Jahren unterkam, nichts größere Sehnsucht als der Lesekasten. Er enthielt auf kleinen Täfelchen die Lettern, einzeln, in deutscher Schrift, in der sie jünger und auch mädchenhafter schienen als im Druck. Sie betteten sich schlank aufs schräge Lager, jede einzelne vollendet und in ihrer Reihenfolge gebunden durch die Regel ihres Ordens, das Wort, dem sie als Schwestern angehörten. Ich bewunderte, wie soviel Anspruchslosigkeit vereint mit soviel Herrlichkeit bestehen könne. Es war ein Gnadenstand. Und meine Rechte, die sich gehorsam um ihn mühte, fand ihn nicht. Sie mußte draußen wie der Pförtner sitzen, der die Erwählten durchzulassen hat. So war ihr Umgang mit den Lettern voll Entsagung. (Der Lesekasten, Benjamin 1972 [1938]: 267)
Für ihn liegt „die ganze Kindheit in dem Griff […], mit dem die Hand die Lettern in die Leiste schob, in der sie sich zu Wörtern reihen sollten. Die Hand kann diesen Griff noch träumen, aber nie mehr erwachen, um ihn wirklich zu vollziehen. So
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kann ich davon träumen, wie ich einmal das Gehen lernte. Doch das hilft mir nichts. Nun kann ich gehen; gehen lernen nicht mehr“ (Benjamin 1972 [1938]: 267).
7 Fazit Zusammenfassend lassen sich aus der Sichtung autobiographischer Schriften folgende Einsichten gewinnen: –
Die empirische Spracherwerbsforschung betrachtet den Erwerb „von außen“, während die Autobiographen ihren eigenen Spracherwerb „von innen“ erinnernd anschauen. Dieser auf den ersten Blick klare Gegensatz relativiert sich einerseits dann, wenn sich die autobiographische Erinnerung aus den Erzählungen anderer speist. Oft dürfte dann das von außen Gehörte sich in eine (Pseudo‐)Innenschau verwandeln. Andererseits gibt es in der empirischen Spracherwerbsforschung eine Art Zwischensituation zwischen Innen- und Außenschau, nämlich dann, wenn in empirischen Versuchen Antworten auf gezielte Fragen (z. B. zu Einstellungen) elizitiert werden. Dann formuliert das Kind Antworten auf Fragen, die es sich selbst gar nicht gestellt hätte.
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Es ist sehr unterschiedlich und gänzlich individuell, wie weit zurück die Erinnerungen der Autobiographen reichen. Manche haben gar keine Erinnerung an die ersten Jahre des Spracherwerbs – vor dem Erwerb der Kulturtechniken Lesen und Schreiben –, oder sie halten die Erinnerungen nicht für erzählenswert. Nur wenigen Autoren gelingt es, glaubhaft bis zu ihrer frühesten Spracherwerbszeit zurückzugehen. Kaum aber lässt sich der Verdacht ausschließen, dass sie es „vom Hörensagen“ tun.
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Es sind vor allem die folgenden Bereiche, die der Erinnerung zugänglich sind: –
Unverstandenes und Missverstandenes. Das Unverstandene wird entweder gar nicht oder nur partiell durch die Umwelt aufgeklärt oder es erschließt sich sogar erst dem erinnernden Erwachsenen. Das Unverstandene ist insofern ein Stimulus für Sprachbewusstsein, als das Unverständnis als solches explizierbar ist, auch wenn es nicht aufgelöst wird.
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Sprachliche Formeln und Formulierungen, die als typisch für die Familie oder die nächste Umgebung erinnert werden. Sie werden zu einem Bestandteil des „kommunikativen Gedächtnisses“ der direkt Beteiligten.
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Der Beginn des Umgangs mit Schrift, zunächst (und nur davon war oben die Rede) mit dem Erwerb des Lesens und der ersten Lektüre. Hier zeigt sich, welch große Rolle die soziale Umgebung spielt, der Stellenwert des Buches und des Lesens in der Familie.
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Zwei- und Mehrsprachigkeit wird vor allem als Ressource erlebt. Es zeigt sich dem Kind schon früh, dass die betreffenden Sprachen unterschiedliche Funktionen im sozialen Gefüge des Alltags haben oder dass sie Wegmarken für lebensgeschichtliche Veränderungen sein können.
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Rosmarie Zeller (Basel, Freiburg i. Ü.)
Spiel mit Diskursen. Zu Christoph Geisers Umgang mit der Sprache 1 Literarizität und Poetizität
Als Literaturwissenschaftlerin kann einem begegnen, dass man von einem literarischen Text fasziniert ist, dass man in ihn hineingezogen wird, dass man seine Dichte spürt, dass man aber grosse Schwierigkeiten hat, zu beschreiben, woran das liegt. Solche Texte schreibt unter anderem Christoph Geiser. Es sind Texte, die einem auf den Inhalt ausgerichteten Lesen grosse Widerstände entgegensetzen, weil sie keine Geschichte im üblichen Sinn erzählen, sondern Sprachmaterial ausbreiten, Diskurse evozieren und destruieren und mit der Sprache spielen und doch nicht nur Sprachspielerei sind. Im Folgenden soll versucht werden, Geisers Umgang mit der Sprache als Variante von Sprachgebrauch an ausgewählten Beispielen zu beschreiben. Seit die Russischen Formalisten sich in den Zehnerjahren des 20. Jahrhunderts die Frage nach der Machart von Texten zu stellen begannen,¹ hat ein wechselvolles und spannungsvolles Verhältnis von Literaturwissenschaft und Linguistik begonnen, das sich in Westeuropa erst in den Siebzigerjahren in der Rezeption der Russischen Formalisten und der Prager Strukturalisten niederschlug, welche u. a. auch zur Begründung der Zeitschrift Literaturwissenschaft und Linguistik führte (vgl. Ihwe 1971; Ihwe 1972). Ging es der Sprachwissenschaft darum, zu zeigen, wie man auch literarische Texte mit linguistischen Methoden analysieren kann, etwa Dialoge in Romanen und Dramen mit Methoden der Gesprächsanalyse, so geht es aus literaturwissenschaftlicher Sicht eher darum, die spezifische Verwendung der Sprache in literarischen Texten zu beschreiben. R. Jakobson gehörte zu den ersten, die aus linguistischer Perspektive über die Literarizität und Poetizität von Texten nachdachten. Ausgehend von der Annahme, dass der höchste Grad an Literarizität bzw. Poetizität in der Lyrik und nicht in erzählenden Texten erreicht werde, untersuchte Roman Jakobson wie nach ihm auch Jean Cohen vor allem Lyrik. In seinem Kommunikationsmodell sah Jakobson in der Reflexion auf den Code, in der Abschwächung der denotativen Bedeutung zugunsten der konnotativen ein entscheidendes Merkmal von Poetizität.
Siehe etwa den Titel des Aufsatzes von Eichenbaum (1969): „Wie Gogols Mantel gemacht ist“.
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Doch wodurch manifestiert sich die Poetizität? – Dadurch, daß das Wort als Wort, und nicht als bloßer Repräsentant des benannten Objekts oder als Gefühlsausbruch empfunden wird. Dadurch, daß die Wörter und ihre Zusammensetzung, ihre Bedeutung, ihre äußere und innere Form nicht nur indifferenter Hinweis auf die Wirklichkeit sind, sondern eigenes Gewicht und selbständigen Wert erlangen. (Jakobson 1979: 79)
Ein weiteres Merkmal von Poetizität sah er in den für die Lyrik typischen Wiederholungsstrukturen, welche er als Projektion der paradigmatischen Achse auf die syntagmatische Achse beschrieb (Jakobson 1979: 83 – 121). Auch J. Cohen, der sich ausführlich mit dem Problem der Poetizität befasst hat, sieht in der Abschwächung der denotativen Funktion und in der Remotivierung der Sprache ein Merkmal moderner Poesie: „Décrocher le langage de sa fonction représentative et le remotiver, soit en supprimant le signifié (lettrisme) soit en le générant à partir du signifiant (paragrammatisme).“ (Cohen 1995: 203)² Auf der formalen Ebene beschreibt er die Poetizität als eine Verletzung von sprachlichen Regeln, als eine Abweichung vom normalen Sprachgebrauch, welche zum Ziel hat, eine erhöhte Intensität, einen „sens affectif“ zu erzeugen (Cohen 1995: 184 ff). In dieser Perspektive wird die poetische Sprache zum maximalen Gegensatz zur Alltagssprache. Die Literatur und überhaupt ästhetische Zeichensysteme interessieren auch Semiotiker wie Juri Michailowitsch Lotman und Umberto Eco, weil sie sehr komplex sind und nicht einfach in andere Zeichensysteme übersetzt werden können (vgl. Lotman 1973; 99 ff.; Eco 1987b: 397 ff.). Diese Ansätze und Überlegungen bilden den Hintergrund der nachfolgenden Analyse im Bewusstsein, dass beim gegenwärtigen Stand der Diskussion, die, trotz den Experimenten der Autoren, seit Ende der Achtzigerjahre kaum mehr weiter geführt wurde,³ ein phänomenologisches Vorgehen das einzig mögliche ist, wie Jean Cohen schreibt: „la poétique ne peut attendre que la linguistique soit achevée et elle a parfaitement le droit de se fier aux intuitions de l‘analyste.“ (Cohen 1995: 28)
Dieses Buch stellt eine Fortsetzung seiner Untersuchung Structure du langage poétique (1966) dar, welches viele Auflagen erlebte, aber bezeichnenderweise nie auf Deutsch übersetzt wurde. Bezeichnenderweise kommen die neusten Bestandsaufnahmen über das Verhältnis von Literaturwissenschaft und Linguistik nicht zu grundlegend anderen Ansichten als die Theoretiker der Sechzigerjahre, im Gegenteil sie berufen sich immer wieder auf Roman Jakobson (vgl. Haß & König 2003; Linke & Nielaba 2013).
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2 Sprache und referentielle Realität 2.1 Über Wasser. Passagen Christoph Geiser hat mit seinen ersten, Kindheit und Jugend gewidmeten Romanen Grünsee und Brachland in der Tradition des bürgerlich-realistischen Romans zu schreiben begonnen. Auch sein Roman Wüstenfahrt ist noch relativ traditionell erzählt, in ihm thematisiert er aber zum ersten Mal seine Homosexualität. In diesen Jahren wurde AIDS ein Thema und damit wurde die Sexualität und insbesondere die Homosexualität, welche eben erst den Bereich gesellschaftlicher Tabus hinter sich gelassen hatte, mit der Konnotation „gefährlich“ gekoppelt. Sexualität verlagerte sich daher zunehmend für den Autor in die Imagination und damit in die Literatur. Im Gegensatz zu anderen Autoren, welche etwa wie Claude Alain Sulzer in seinem Roman Ein perfekter Kellner, um nur ein Beispiel zu nennen, bisexuelle Liebesgeschichten durch homosexuelle ersetzen, geht es Geiser nicht mehr darum, einfach Geschichten zu erzählen, sondern darum, eine Sprache der Begierde, der Lust oder wie er einmal sagt, eine erotisierte Sprache zu finden. Legt er in seinem Caravaggio-Roman Das geheime Fieber, in dem er Caravaggios Bilder mit einem erotisierten Blick beschreibt und lebendig werden lässt, als Gerüst noch die Biographie des Malers zugrunde, so gibt es in den späteren Werken Die Baumeister (1998) und Wenn der Mann im Mond erwacht (2008) keinen solchen roten Faden mehr; diese Werke werden durch Motivwiederholungen und ‐abwandlungen zusammengehalten und nicht durch die Kohärenz einer raum-zeitlich organisierten, fiktionalen Welt. Die Sprache wird aufgebrochen, bemüht sich oft nicht mehr um Grammatikalität, wie man sie in Romantexten auch heute noch erwartet: es gibt unvollständige, abgebrochene Sätze, Ausrufe, Leseranreden, kurz die Sprache wird mündlicher, er stottert sogar. Über Wasser (Geiser 2003) macht insofern eine Ausnahme, indem es auf die Realität eines Amerikaaufenthaltes und eines Aufenthaltes in Dresden Bezug nimmt. Dieser Realitätsbezug demonstriert auf der andern Seite die Spannung zwischen sprachlicher Ausdrucksweise und referentieller Realität besonders deutlich. Es geht auch in diesem Werk letztlich nicht, wie zu zeigen sein wird, um die Information über eine außerliterarische Wirklichkeit, sondern um die Frage, was es zur Realität zu sagen gibt und wie man es sagen kann. Der Roman wird trotz allen Experimenten im 20. Jahrhundert bis heute als eine Gattung gesehen, deren Aufgabe es ist, eine fiktive Realität darzustellen und die daher in ihren sprachlichen Verfahren nicht so radikal sein kann wie die Poesie (vgl. Cohen 1995: 199 ff). Diese Forderung nach einem Minimum an Referentialität wird von Geiser bewusst nicht eingelöst, wie der Untertitel Ein
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Regelverstoss des Romans Wenn der Mann im Mond erwacht deutlich macht; die Reflexion über den Code überwiegt, wie zu zeigen sein wird. Beginnen wir mit einem Beispiel aus dem am wenigsten befremdlichen Text, mit Über Wasser. Passagen. Der erste Abschnitt beschreibt die Ankunft mit dem Schiff, einem Frachtschiff, in New York und beginnt gleich mit einem Zitat: „Nein – ich erblickte die Statue der Freiheitsgöttin nicht wie in einem plötzlich stärker gewordenen Sonnenlicht, um ihre Gestalt wehten nicht die freien Lüfte […] nichts ragte empor und schon gar nicht wie neuerdings.“ (Geiser 2003: 9)⁴ Mit dem „Nein“ wird bereits eine Art Gesprächssituation gesetzt, offenbar muss sich das Ich des Autors, das im folgenden einfach der Autor genannt werden soll,⁵ gegen eine Beschreibung, nämlich diejenige Kafkas am Anfang seines Amerika-Romans Der Verschollene absetzen, als würde man von ihm erwarten, die Ankunft Karl Rossmanns in Amerika nachzuvollziehen. Die von Karl Rossmann als Freiheitsgöttin wahrgenommene Freiheitsstatue sieht der Autor als „verwahrloste Person in einem schäbigen Mantel“, damit ist auch der Ton gesetzt, Amerika ist nicht mehr das Land der Freiheit, der Verheißung, die Bezeichnung „Gottes eigenes Land“ wird nur noch ironisch verwendet. Obwohl die Einwanderungskontrolle „schier reibungslos“ verläuft, braucht der Autor zu deren Beschreibung nicht weniger als knapp zehn Seiten, weil es zwei Probleme gibt, die zu lösen sind. Das eine besteht darin, nichts einzuführen, was den Verdacht der Behörde erwecken könnte und das andere zu erklären, was mit „writership“ in seinem Pass gemeint ist. Um das erste Problem zu lösen, hat der Autor das Schmerzmittel Ponstan, das ihm seine Zahnärztin im weißen Säckchen mitgegeben hat, vorsorglich in der letzten Nacht den Haifischen zum Fraß vorgeworfen, wobei er „bei diesem mutmaßlich ungesetzlichen Akt von Gewässerverschmutzung“ bemerkt, dass auch jemand anderes etwas in die „alles schluckende, verzeihende, allem Menschlichen gegenüber, der Natur gemäß vollkommen gleichgültige, gnädige ozeanische Finsternis“ entsorgt (ÜW 20). Ginge es allein um die Information, dass er sein Medikament ins Meer geworfen hat, um nicht dem Verdacht ausgesetzt zu sein, mit Drogen erwischt zu werden und dabei einen zweiten dabei ertappte, wie er wahrscheinlich illegale Drogen ins Meer wirft, müsste man nicht eine so umfangreiche Umschreibung des Ozeans geben und auch nicht von Gewässerverschmutzung sprechen, die ja sowieso vernachlässigbar ist. Das heisst, wir haben es hier mit einem Informationsüberschuss zu tun: Es geht nicht nur um die Beschreibung einer relativ harmlosen Geiser (2003) wird im Folgenden zitiert als ÜW und Seitenzahl im Text. Der Autor im Text ist eine Rolle, die nicht mit dem Autor des Textes gleichgesetzt werden soll, ich habe dafür den von der französischen Romantheorie vorgeschlagenen Begriff „scripteur“ übernommen (vgl. Zeller 1992: 34).
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Handlung, sondern es geht darum, dem Leser⁶ bewusst zu machen, dass man sich in Amerika potentiell immer in einer ungesetzlichen Situation befindet, während der Ozean an den moralischen Gesetzen nicht teilhat. An Land hat man hingegen keine Verzeihung und Gnade zu erwarten, denn in diesem von der Hysterie pietistischen Ursprungs geprägten Land (ÜW 20), so wird im Folgenden klar, kann das Gesetz eigentlich nur von den Auserwählten erfüllt werden (ÜW 21), die andern müssen versuchen, es mit Geschicklichkeit zu umgehen (ÜW 22). Durch die Wortwahl in der Beschreibung der Entsorgung legaler und illegaler Drogen wird eine ganze Serie von Konnotationen erzeugt, die auf die Moral Amerikas, seine Gesetze und ihre Handhabung anspielen, welche das Cliché von Amerika als dem Land der Freiheit gar nicht erst aufkommen lassen und damit motivieren, warum die Freiheitsstatue nicht in einem hellen Licht erscheinen kann. Der Text spricht das alles nicht explizit aus, sondern arbeitet mit Konnotationen, um die Zusammenhänge herzustellen, was wiederum eine intensive Mitarbeit des Lesers verlangt. Das zweite Problem, nämlich die Antwort auf die Frage „What are you writing, Sir?“ wird auf über fünf Seiten abgehandelt, bis dem Autor endlich das Zauberwort „Fiktion“ einfällt. Mit seiner spontanen Antwort, er schreibe „literature“, stösst er auf Unverständnis. Die Komplikation dient dazu, Sprachmaterial zum Thema Wahrheit und Dichtung auszubreiten. Es beginnt damit, dass dem Autor klar ist, dass man die Wahrheit sagen muss: „Und: the truth muß es sein, und kein anderes Ding, nothing but the truth!, sonst begeht man fraud und wird deportiert wie ‘n Truthahn zur Schlachtung.“ (ÜW 22) An dieser Stelle versteht der Leser wahrscheinlich nicht,warum plötzlich ein Truthahn als Vergleich herhalten muss, auch wenn er eine Art amerikanischer Nationalspeise hergibt. Wir haben es hier im Sinne von Cohen mit einer Remotivation zu tun, denn im Truthahn steckt das Wort „truth“, wie dem Leser klar wird, wenn er zwei Seiten später den „Truth-Hennen“ (ÜW 24) begegnet, wobei der besondere Witz darin besteht, dass im deutschen Wort Truthahn ein englisches versteckt ist, wodurch die in der Alltagssprache fixe Beziehung zwischen signifiant und signifié aufgebrochen wird. In Geisers Sprache verstecken sich immer wieder Wörter in andern Wörtern, was durch Bindestriche und Wortspiele angedeutet wird. Der Ausdruck „deportiert“ ist in diesem Kontext natürlich unangemessen, weil „deportiert“ ein menschliches Objekt voraussetzt,
Ich brauche hier und im folgenden den Ausdruck „Leser“ im Sinne U. Ecos als Modell-Leser, als Konstrukt, welches aus dem Text rekonstruiert werden kann, also nicht im Sinne eines empirischen Lesers, auf den ich als Literaturwissenschaftlerin keinen Zugriff habe (Eco 1987a: 61 ff). Der Modell-Leser ist zu unterscheiden von dem in den Texten Geisers manchmal angesprochenen Leser bzw. der Leserin.
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dadurch wird die denotative Bedeutung abgeschwächt zugunsten der Konnotation von Staatsgewalt und Unrecht. Zurück zur unglücklichen Situation des Autors, der die richtige Antwort auf die Frage des Einwanderungsbeamten nicht findet, schuld daran ist unser aller lieber Waldimir Iljitsch [Lenin] mit seiner Forderung nach Parteilichkeit der Literatur […] denken Sie nur an die Mühen, die es uns gekostet hat, den Bitterfelder Weg zu beschreiten, und es waren nur noch die Mühen der Ebenen – von Truth-Hennen gesäumt; von Truthähnen geradezu überbevölkert! (ÜW 24)
Der Bitterfelder Weg war ein Kulturprogramm der DDR, welches den Arbeitern den Zugang zur Kunst ermöglichen und die Laienkunst aufwerten sollte. Durch die Kombination mit „Mühen“, „beschreiten“ und „gesäumt“ bekommt der in „Bitterfelder Weg“ metaphorisch gebrauchte „Weg“ seine eigentliche Bedeutung zurück. Die leichte Abwandlung des Brecht-Zitats „vor uns liegen die Mühen der Ebenen“⁷, welches übrigens durch den Gebrauch des Plurals statt des üblichen Singulars „Mühe“ als poetisch markiert ist, gibt durch die Eliminierung der Zukunftsperspektive und die Hinzufügung des abwertenden „nur noch“ zu verstehen, dass das durch diese Mühen Hervorgebrachte uninteressant ist, lauter TruthHennen und Truthähne. Von der DDR geht’s über eine Ersetzung von Wörtern zum Nationalsozialismus: Ersetzen Sie,Werte! nur mal den gängigen Begriff Deutsche Literatur durch den, aus gewissen Gründen, nicht mehr so gängigen Begriff Deutsches Schrifttum … und schon wird Ihnen, werte Genossen!, ein schlichter Redakteur, unter der (Schreib‐)Hand quasi und unter gewissen Umständen womöglich zum Schriftleiter. Und schon sind Sie ein Truthuhn, und kein -Hahn kräht mehr nach Ihnen … (ÜW 24)
Zunächst bringt schon die Anrede „Werte“ eine bürokratische Note in den Text, in dem es um das Problem der Verdeutschung von Fremdwörtern zu gehen scheint, von „Literatur“ durch „Schrifttum“ und „Redakteur“ durch „Schriftleiter“. Zugleich wird durch den Ausdruck „ein schlichter Redakteur zum Schriftleiter“ die Konnotation Nationalsozialismus geweckt, wo der Schriftleiter eben nicht mehr ein schlichter Redakteur, sondern derjenige war, der für die Gleichschaltung der Presse verantwortlich war. Die Ansprache „werte Genossen“, welche aus dem Kommunismus stammt, verknüpft dieses Sprachspiel mit dem vorhergehenden, welches sich auf die gleichgeschaltete Literatur der DDR bezog. So wird im Ver-
„Die Mühen der Gebirge liegen hinter uns / Vor uns liegen die Mühen der Ebenen“ (Brecht 1993: 205).
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such, dem Beamten am Zoll zu erklären, um welche Art von writership es denn hier gehe, die problematische Stellung der Schriftsteller in Bezug auf die verschiedenen Ideologien des 20. Jahrhunderts evoziert, wobei sich der Autor, der sich früher sehr wohl als linken Schriftsteller verstand, zugleich von dieser Art Schriftstellerei, die vorgibt die Wahrheit zu kennen und zu schreiben, distanziert. Ein Truthuhn ist, was schon in der vorherigen Passage anklang, also ein Schreiber bzw. eine Schreiberin, der bzw. die die ideologisch korrekte Wahrheit schreibt. Die abgewandelte Redewendung „kein [Trut]-Hahn kräht nach Ihnen“ kann man so verstehen, dass das Truthuhn, weil es die Wahrheit schreibt, für die Kontrollbehörde uninteressant ist. In diesem Zusammenhang kann noch angemerkt werden, dass Geiser alle drei Formen für die Bezeichnung des Vogels braucht: Truthuhn, Truthahn und die weiblich markierte Form Truthenne. Die Erwähnung der Vögel mag der Grund für die nächste Frage sein, nämlich ob man Buffon, den Naturhistoriker, der u. a. eine Naturgeschichte der Vögel verfasst hat, aus der Literaturgeschichte ausschließen soll, weil er „die Wahrheit zu schreiben versucht! und nichts als die Wahrheit?“ Oder soll man umgekehrt „unser Aller wertesten Herrn Karl“ [Marx] „Professor Hegel“ und den „nicht gar so beliebten Herrn Fritz“ [Nietzsche] zur deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts zählen? Es werden keine Argumente dafür und dagegen angeführt, die Frage wird vielmehr auf eine andere Ebene verschoben, auf die des richtigen Formulars und des richtigen Visums: Welches Formular der Verwertungsgesellschaft Wort – um Himmels willen! – müßten die nun alle ausfüllen, zur Anmeldung ihrer Werke, zwecks Reprographie-Entschädigung? Das Formular für literarische Werke oder für wissenschaftliche Werke … oder ja, welches Visum, um Gottes willen für den Eintritt in Gottes eigenes Land, wollten die eintreten, bräuchten denn die? (ÜW 25)
Die ganze Passage hat einen mündlichen Ton, was sich an den Anreden, an den Ausrufen, den saloppen Benennungen der Philosophen des 19. Jahrhunderts und an den abgebrochenen Sätzen zeigt. Durch die Konfrontation mit der Formulierung „Gottes eigenes Land“ werden die in der Alltagssprache völlig automatisierten Ausrufe „um Himmels willen!“ „um Gottes willen“ aktualisiert, ja motiviert. Es geht in dieser Passage nicht darum, Position zu beziehen in der Frage, was ist Literatur und was ist Wahrheit, und gehören Texte, die sich bemühen die Wahrheit zu schreiben zur Literatur oder zur Wissenschaft? Die Passage wird nicht von einer argumentativen Struktur zusammengehalten, sondern von der Variation der verschiedenen Aspekte, die mit der Frage nach der Abgrenzung von Literatur zusammenhängen. Es geht darum, die vielfältige Problematik zu evozieren und zu hinterfragen. Bei der Verwertungsgesellschaft Wort kennt man den Unterschied offenbar genau, ebenso bei der Visaerteilung der USA, während Geiser durch die
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Zitate, die in einen unerwarteten Kontext gesetzt werden, durch die Übernahme von ideologisch aufgeladenen Wörtern wie „Schriftleiter“, durch die ironische und respektlose Benennung von Geistesgrössen des 19. Jahrhunderts ideologische Positionen auflöst, den Kanon und damit solche Einteilungen überhaupt in Frage stellt. Es scheint aus diesem „Unglück“ der fehlenden Bezeichnung seiner Tätigkeit für den Autor keinen Ausweg zu geben, schon stellt er sich die Deportation vor, die „Rückschaffung“, Wörter aus verschiedenen politischen Kontexten, die ebenfalls ideologisch aufgeladen sind, bis ihm einfällt, das einfachste sei, zu sagen „alles nicht wahr! ätsch bätsch! April, April! alles erfunden. Erlogen! Erstunken. Reine Fiktion. FICTION!“ (ÜW 27) „Fiction“ ist das gesuchte Zauberwort, welches den erwünschten „StempelDruck“ erzeugt. Fiktion ist aber auch das Zauberwort, welches dem Schriftsteller jene Freiheit gibt, nicht die Wahrheit schreiben zu müssen.
2.2 Die Baumeister. Eine Fiktion In den Baumeistern, deren Untertitel Eine Fiktion lautet, wird die Fiktion voll ausgelebt, in dem immer neue erotische Welten entworfen werden, die von der Hölle bis ins Paradies reichen. Es sei hier ein Beispiel analysiert, welches sexuelle Lust und Essen verbindet, indem die Eigenschaften begehrenswerter Männer in der Sprache der Weindegustation beschrieben werden: Seine Lippen sind … was sagten wir denn da? – wuchtig? fruchtig? blumig? oder … wulstig? … oder schon blutleer; schmal; herrisch. Seine Nase … würzig? nein … jugendlich? … frisch? kompakt … körperreich … wuchtig, passt immer … sehr lang … ein Versprechen? … oder schlicht gewöhnlich … fein! zierlich! … gut strukturiert … oder komplex … dicht gebaut … […] Seine Augen … brillantes Rubin?! bernsteinfarbig! rassige Frucht! […] Kirschaugen! … schwarzfruchtig … reifes Purpur …[…] Sein Haar! … bring mich nicht aus der Fassung! … jugendliches Violettrot … sehr dunkles, junges Purpur … dichtes Purpur … mit violetten Reflexen … voll, kräftig und dicht… offenes Bukett nach reinen Zitrusfrüchten, weißen Blüten, Gingster und Vanille …(Geiser 1998: 249)⁸
In Text werden die in Figurenbeschreibung traditionellen Elemente ausgewählt: Lippen, Nase, Augen, Haar. Für jeden Teil wird eine Auswahl gegeben, so dass der Kenner auswählen kann, wie man einen Wein nach der Geschmacksrichtung auswählt. Der Autor, der diese Auswahl wie überhaupt diese Welt des Paradieses – „Paradiso“ ist dieser Teil des Romans überschrieben – entwirft, weigert sich das zu Geiser (1998) wird im Folgenden zitiert als B.
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machen, was man erwartet, nämlich schöne bzw. begehrenswerte Gesichter oder Körper zu beschreiben, statt dessen greift er zur „blumigen Sprache der Oinologie“, wie er schreibt, weil sie „reizend“ ist (B 243), was in diesem Zusammenhang ebenfalls zweideutig ist, indem „reizend“ im banalen Sinn von ‚angenehm‘, ‚schön‘ verstanden werden kann, dann aber auch als reizauslösend, wie das Wort etwa in Reizwäsche gebraucht wird. Um die ästhetische Absicht der Passage zu verstehen, muss der Leser die Sprache der Weindegustation erkennen, denn sie stellt neben der Beschreibung der Bestandteile des Gesichts die Kohärenz in dem scheinbar inkohärenten, Wörter aneinander reihenden Abschnitt dar. Die ersten Ausdrücke „wuchtig, fruchtig, blumig“ dürften dies markieren. Die unpassenden Zuschreibungen „brillantes Rubin“ für die Augen oder „dichtes Purpur“ für das Haar, dürften wegen ihrer extremen Inkompatibilität weitere Signale sein.⁹ Andererseits gibt es auch Wörter, die in diesem Kontext zweideutig sind wie „blutleer“ kann man das nur von den Lippen sagen oder sagt man das auch vom Wein? Die Bemerkung „wuchtig passt immer“ ist ein Hinweis auf den Code, denn „wuchtig“ wurde schon für die Lippen verwendet und wird in diesem Fall auf die Nase angewendet, weil es immer passt. Wir haben es hier mit einer Art doppelter Metaphorik zu tun. Die Sprache der Önologie ist abgesehen von wenigen Farbbezeichnungen eine sehr metaphorische Sprache, – wer weiss schon wie Holz („kaum wahrnehmbare Holznote“) oder Ginster schmeckt – mit der Geschmackseindrücke beschrieben werden. Diese metaphorische Sprache wird nun auf Bestandteile des menschlichen Körpers übertragen, wobei zu bedenken ist, dass man im Zusammenhang mit dem Wein auch von Körper spricht. Übertragen auf den menschlichen Körper erhalten die Wörter teilweise ihre ursprüngliche Bedeutung zurück, zum Beispiel wenn von den Lippen und der Nase gesagt wird, sie seien „wuchtig“, oder wenn vom Haar gesagt wird „voll, kräftig und dicht“, wenn hingegen den Augen „reifes Purpur“ zugeschrieben wird, wird durch die extreme Inkompatibilität darauf aufmerksam, dass es hier nicht nur um die Beschreibung des „reizenden“ oder begehrenswerten männlichen Körpers geht, sondern auch um die Entlarvung eines Diskurses, der oft nicht nachzuvollziehende Metaphern, die letztlich referentiell leer sind, benützt. Es geht nicht um die verschieden gestalteten und verschieden attraktiven Körper, sondern darum, was man darüber sagen kann, wie man darüber reden kann.
Mit Inkompatibilität übersetze ich, was Jean Cohen „impertinence“ nennt, weil Impertinenz im Deutschen falsche Assoziationen weckt. Er meint damit, dass ein Prädikat nicht „pertinent“ sei, indem es zum Beispiel einem toten Gegenstand das Merkmal „lebendig“ zuschreibt.
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Und wenn der Abschnitt mit „Brauchst du Entscheidungs-Grundlagen? Briefing? Consulting? (Erste) Hilfe?!“ schließt, so kann man auch dies wieder doppeldeutig sehen. Auf der referentiellen Ebene der fiktionalen Realität als Hilfe zur Auswahl eines idealen Mannes, auf der sprachlichen Ebene als Hilfe zum Verstehen des Textes. Zugleich wird die Sprache des Managements zitiert, welche durch das aus einem andern Kontext stammende „(Erste) Hilfe“ konterkariert wird.
2.3 Wenn der Mann im Mond erwacht. Ein Regelverstoss Als letztes Beispiel diene ein Abschnitt aus dem Roman Wenn der Mann im Mond erwacht, eine Episode, in der der Erzähler seine Wäsche in einem Waschsalon in Berlin waschen muss. Das Ich, das Schriftsteller ist und das sich vorgenommen hat, wem gegenüber auch immer, vielleicht der Gesellschaft gegenüber, seine Schriftstellerexistenz zu rechtfertigen, eine Absicht, der schon in Über Wasser ein Kapitel gewidmet ist, ist zu Beginn des Romans mit seiner Wäsche beschäftigt, ungefähr in der Mitte des Buchs beschreibt der Autor seinen Besuch im Waschsalon „Sauber & Schnell“ in Berlin. Es hat sich eben in einem Berliner Museum das Kultbuch der Siebziger- und frühen Achtzigerjahre, Die Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss, gekauft, das er bei seinem Erscheinen nicht gelesen hat und das es nun in der Gegenwart während des Wäschewaschens lesen will. Bevor es aber zur Lektüre geht, wird dem immer wieder angesprochenen Leser bzw. der Leserin erklärt, wie es überhaupt dazu kommt, dass er, der Schriftsteller aus gutbürgerlichem Haus, im Besitz von Familiensilber und eines Porträts eines Urahns in seiner Wohnung in Bern, überhaupt dazu kommt, sich in einen öffentlichen Waschsalon zu begeben. Waschsalon! – statt Sexshop oder Museum – : weil nämlich, müssen Sie wissen, die jedem eidgenössischen Mehrfamilienhaus der Natur gemäß unverzichtbare, zur kollektiven Benützung durch das Kollektiv der Eidgenossen im Haus in der Waschküche bereitgestellte Waschmaschine samt Tumbler & Münzautomat, den mit Zwanzigrappenstücken zu bestücken das Kollektiv der Hausgenossen sich der Natur gemäß genötigt sieht, um die WaschSchleuder- & Trocknungsvorgänge einzuleiten und notabene, heißt: vergiß es ja nicht!, in Gang zu halten, dem Berliner Wohnblock oder wie dat hier heißt,Vorkriegsmodell im Prinzip, also verschont geblieben, […] der Natur gemäß fehlt. Was fehlt uns hier eigentlich? Die Waschmaschine! Die Waschmaschine fehlt ja! So bleibt nur der öffentlich Waschsalon. Öffentlich schmutzige Wäsche waschen! (Geiser 2008: 118)¹⁰
Geiser (2008) wird im Folgenden zitiert als MM.
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Die Beschreibung fällt durch ihre Umständlichkeit, eine gewisse bürokratische Sprache mit vielen Infinitivsätzen und den Gebrauch von in diesem thematischen Zusammenhang ungewöhnlichen Ausdrücken wie „unverzichtbar“, „bestücken“ statt des üblichen „Münzen einwerfen“, „sich genötigt sehen“, „den Waschvorgang einleiten“, genauer noch, es ist ja nicht nur von dem Waschvorgang, sondern im Plural und zudem detailliert von den „Wasch- Schleuder & Trocknungsvorgängen“ die Rede, wobei das als & geschriebene ‚und‘ ein weiterer Hinweis auf bürokratischen Sprachgebrauch ist. Die Alternative ist zunächst nicht wie zu erwarten Waschsalon vs. eigene Waschmaschine bzw. Waschmaschine im Haus, sondern Waschsalon vs. Sexshop oder Museum. Waschsalon, Sexshop und Museum werden durch diese Zusammenstellung auf eine Ebene gestellt, indem sie als Alternativen präsentiert werden, obwohl sie in ganz verschiedene Lebenszusammenhänge gehören, der Waschsalon ist mit Haushalten konnotiert, die andern beiden Einrichtungen mit Freizeit und Kultur. Das Ich findet es eine „soziale Deklassierung“ in den Waschsalon gehen zu müssen, jedoch offenbar nicht, in den Sexshop zu gehen. Im Folgenden scheint es um die Beschreibung unterschiedlicher Bräuche in der Schweiz und in Deutschland in Bezug auf die Waschmaschine zu gehen. Auffällig ist dabei, dass erstens nicht von „schweizerischen Mehrfamilienhäusern“ bzw. „Mehrfamilienhäuser in der Schweiz“ die Rede ist, sondern von „eidgenössischen“, obwohl dieses Adjektiv, das nur in offiziellen Zusammenhängen Verwendung findet und etwas leicht Pathetisches hat, in diesem Kontext nicht verwendet werden kann, ebenso wenig wie das „Kollektiv der Eidgenossen“, das es so gar nicht gibt, denn „Eidgenossen“ bezeichnet ja bereits ein Kollektiv. Noch bevor der Autor die Ästhetik des Widerstands zu lesen begonnen hat, dringt die Sprache des Kommunismus in seine Sprache ein, und er verwendet nicht weniger als dreimal hintereinander das Wort „Kollektiv“. Aber nicht genug damit, im „Kollektiv der Hausgenossen“ scheint das Wort „Genosse“ auf, das uns nun seinerseits darauf aufmerksam macht, dass dieses Wort auch in „Eidgenosse“ enthalten ist, wodurch ein unerwarteter, jedenfalls verfremdender Effekt entsteht. „Vorkriegsmodell“ ist eine Bezeichnung, die für die Waschmaschine oder sonst ein technisches Gerät, aber nicht für einen Wohnblock üblich ist. Der unpassende Ausdruck, der noch durch das „verschont geblieben“ [d. h. bei der Bombardierung Berlins, RZ] verstärkt wird, gibt uns eine Information, die wir eigentlich nicht brauchen: es geht ja, wie das Ich, das sich schließlich nach seiner ausschweifenden Beschreibung selbst in Erinnerung rufen muss, worum es eigentlich geht, um die fehlende Waschmaschine, und ob die nun in einem vor oder nach dem Krieg gebauten Wohnblock fehlt, ist gleichgültig, es kommt ja nur darauf an, dass sie im Wohnblock des Autors fehlt. Die überflüssige Information macht uns darauf aufmerksam, dass es im vorliegenden Text unter anderem auch
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um die Ästhetik des Widerstands geht, deren Hauptfigur ein Arbeiter zur Zeit des Faschismus ist, also eines Arbeiters, der aus derselben Zeit stammt wie der Wohnblock. Es geht um eine Auseinandersetzung mit der linken, kommunistischen Ideologie, die mit Ästhetik die Welt verbessern will und hier destruiert wird, indem sie zum Diskurs, ja zu Sprachfetzen verkommt. So ist später vom „Kollektiv“ der Waschenden die Rede bzw. vom „kollektiven Waschen schmutziger Wäsche“ (MM 119). Übrigens wird bei dieser Gelegenheit auch noch das Paradigma „Mehrfamilienhaus“ dekliniert: „Mehrfamilienhaus“, „Wohnblock“, „Mietshaus“, „Mietskaserne“, wobei durch die Nebeneinanderstellung die semantische Werte der einzelnen Ausdrücke deutlicher werden. Die Redewendung „öffentlich schmutzige Wäsche waschen“ wird hier wörtlich genommen. Das Ich muss wegen des Fehlens der Waschmaschine notwendig öffentlich schmutzige Wäsche waschen, dagegen verspürt es allerdings, obwohl längst ein „abfälliger Bürger“ Widerstand, den es sich erklären muss: „Und nun dieser Widerstand urplötzlich; als wär’s vor dem letzten Schritt; wenn’s an die Wäsche geht; ans Eingemachte quasi.“ (MM 119) Nochmals wird eine Redewendung wörtlich genommen, doch die sexuelle Konnotation von „an die Wäsche gehen“ wird ebenfalls aktualisiert, indem das Ich fragt: „Und wir wollten’s nicht vielmehr, daß es uns an die Wäsche geht!“ (MM 119) Die Sprache kippt ständig vom eigentlichen Thema des Wäschewaschens in sexuelle Konnotationen und in die Ideologie des Sozialismus bzw. Kommunismus, wodurch jede Ideologie unterlaufen wird. Der Autor erweist sich denn auch im Waschsalon als Außenseiter,während die andern mit „Heftli & Zeitungen, Krimis & andren anglosäxischen Bestsellern“ beschäftigt sind, liest er ein Buch und repräsentiert so als Bürger in selbstironischer Weise als einziger Brechts „Lesenden Arbeiter“ (Brecht 1988: 29). Er wird durch die Lektüre ins Erhabene und Sublime erhoben, in dessen Sprache er ja eben das Fehlen der Waschmaschine beschrieben hat. Vom Erhabenen und Sublimen kommt aber unser Autor als „abfälliger Bürger“ eigentlich her, vom Museum, denn dort hat er das Buch gekauft. Er macht sich klar, dass er seine Position neu bestimmen muss. „Im Umgang mit der schmutzigen Wäsche der Geschichte – unsrer eignen womöglich! – und da wär‘ nichts mit sauber & schnell?“ (MM 120) Der Name des Waschsalons wird nun als Attribut genommen, nur das &-Zeichen weist noch darauf hin, woher der Ausdruck kommt. Die Lektüre von Weiss‘ Roman im öffentlichen Waschsalon bewirkt eine Reflexion über seine Position als Autor und die Frage, ob der Waschsalon nicht ein konspirativer Ort sein könnte, ein konspirativer Ort allerdings, wie sich im Folgenden herausstellt, nicht für politische Konspiration sondern für sexuelle Begegnungen. Der Genosse ist nicht mehr der politische Genosse, sondern der derselben sexuellen Ausrichtung.
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Das Faust-Zitat: „Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.“ (Goethe: Faust I, Vers 940) wird abgewandelt in „Hier bist du Waschweib, hier darfst du’s sein.“ (MM 119) Die Parodie auf das Goethe-Zitat lässt den Leser fragen, inwiefern es denn erstrebenswert ist, Waschweib zu sein, wo der Ausdruck ohnehin abwertend eine niedrige soziale Tätigkeit bezeichnet und sich der Autor doch gerade beschwerte, öffentlich seine Wäsche waschen zu müssen. Eine metaphorische Bedeutung von Waschweib ist die Schwatzhaftigkeit, die auch den Autor kennzeichnet, der unablässig redet. Schon ganz zu Beginn heißt es: „der Lust zu reden um der Lust willen: denn warum sonst was … reden? Erzählen? Berichten? Beichten? Gestehen? Ja,was denn … rechtfertigen womöglich! …“ (MM 10) Das sind zugleich alles Sprachhandlungen, die er für sich ablehnt, ihm bleibt nur das Reden als lustvolle Tätigkeit. Dies wird später nochmals aufgenommen, als der Autor sich selbst charakterisiert als: „ein Parleur im Grund, ein Schwätzer“ (MM 127). Eine weitere übertragene Bedeutung von Waschweib besteht darin, dass er, wie oben angedeutet, seine eigene Geschichte wäscht. Ein auffälliges Merkmal von „Waschweib“ ist ferner, dass der Ausdruck das weibliche Geschlecht verliert, so wie der Autor ein Waschweib ist, gibt es in diesem Salon generell „Waschweiber jedweden Geschlechts“ (MM 119, 125) und wenn man meinen sollte, es seien dies Männer und Frauen, so wird man einige Seiten später eines besseren belehrt, indem ein Transvestit im Waschsalon eingeführt wird. Dieser, ein Mann mit einem Dutt, wird als „Widerstand gegen die Sexual-Ästhetik“ (MM 128) wahrgenommen. Die Ästhetik des Widerstands wird in den Widerstand gegen die gängige Ästhetik verwandelt und damit natürlich destruiert. Mit einem „Lastwagen von Mann“ betritt eine weitere Figur den Schauplatz des Waschsalons, eine welche am Widerstand, an welchem auch immer, nicht teilhat. Für diesen Mann ist der Waschsalon „die Autobahn durch den Gotthard; ein Vierzigtönner; und der muß einfach durch – beladen, entladen und: durch! -, durch egal welches Loch. Sauber & schnell.“ (MM 129). Er nimmt keine Rücksicht, er gehört zu keinem Kollektiv. Dem Leser wird an dieser Stelle bewusst gemacht, dass der Text, der eben nicht einfach durchgeht auf der Autobahn, eben gerade der Widerstand ist, den der Autor erzeugen will, die „Ästhetik des Widerstands“ gegen die politischen Verhältnisse eines Peter Weiss ist vorbei, es geht um den Widerstand gegen eine allzu gängige Ästhetik, gegen das „sauber & schnell“, um den ästhetischen Widerstand gegen die schnelle Lektüre. Um darauf aufmerksam zu machen, dass es nicht um das Entwerfen von fiktionalen Welten geht und schon gar nicht um das Abbilden von Welt, wie man es dem Roman auch im 20. Jahrhundert noch gerne unterstellt, sondern um das Reden über die Welt, verwendet Geiser eine ganze Reihe von Verfahren, die die Forschung, die sich um die Poetizität der Texte gekümmert hat, als typisch für die poetische Sprache nicht aber für den konventionell erzählten Roman anführt:
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semantische Inkompatibilität wie im Fall der männlichen Waschweiber, die Zerstückelung von Wörtern in Bestandteile, so wenn er sich als Augenwinkelmann (MM 33) bezeichnet, um an späterer Stelle das Wort in seine Bestandteile „AugenWinkel-Männer“ zu zerlegen und dem Leser zu bedeuten, dass sich in dem Ausdruck einer der berühmtesten Homosexuellen der Kulturgeschichte, Johann Joachim Winkelmann, verbirgt. Dieses Material kann dann seinerseits weiter verwendet werden „es ausm Winkel zu erahnen, […] und auf den ersten (Augen‐) Blick zumindest zu erahnen“, es „am Mundwinkel“ zu erahnen (MM 38) heißt es weiter, wobei das Wort „Winkel“ durch den Kontext mit sexueller Bedeutung aufgeladen wird und an das Abzeichen „Rosa Winkel“, das in den Konzentrationslagern als Kennzeichnung homosexueller Häftlinge benutzt wurde, erinnert. Er verändert die Orthographie, in dem er z. B. „Phall“ statt „Fall“ oder gelehrt „Oinologie“ statt „Önologie“ schreibt. Er verwendet Zeichen und Abkürzungen, die in literarischen Texten nicht üblich sind wie das alte &-Zeichen, er benützt bei Aufzählungen den Abkürzungsstrich: „die Wasch-Schleuder- & Trocknungsvorgänge“ (M 118), er verwendet „etc.“ und unvollständige Sätze: er spricht vom Sommer der Ereignislosigkeit, „von dem Bericht zu geben etc., zu unserer Rechtfertigung etece, als weiteres Strukturelement etezeh,“ ein weißer Mercedes begleiten wird (MM 51). Er braucht den Schrägstrich „und / oder“: „dieser blitzartigen ersten Intuition und / oder Blendung“ (MM 51). Berliner Umgangssprache, schweizerische Dialektausdrücke finden sich neben hochpoetischen Ausdrücken von Hölderlin oder Kleist. Geiser verstößt gegen grammatikalische und semantische Regeln. Die für die Alltagssprache notwendige fixe Beziehung zwischen signifiant und signifié wird aufgelöst, indem z. B. Wörter metaphorisch verwendet werden und andererseits Metaphern, die in den Sprachgebrauch übergegangen sind, remotiviert werden, indem ihnen ihre ursprüngliche Bedeutung zurückgegeben wird. So wird die Spezialterminologie zur Beschreibung des Weins in der Anwendung auf Körperteile wieder wörtlich genommen.
3 Fazit Um den Titel des Bandes aufzunehmen, könnte man etwas überspitzt formulieren, dass Geiser durch den besonderen Gebrauch der Sprache das Bewusstsein für das, was die Sprache über die denotative Bedeutung hinaus auch noch sagt, welche ideologischen Inhalte sie mittransportiert, ständig wachhält. Bei ihm erlangen die Wörter, wie es Roman Jakobson beschrieben hat, einen eigenen Wert, indem er darauf verzichtet, eine fiktionale Welt zu konstruieren. Weil er darauf verzichtet, muss er reden, den Sprachgebrauch der Zeit, die Diskurse aufnehmend und zugleich destruierend. Durch die hier beschriebenen Mittel, die von der unge-
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wöhnlichen graphischen Form über die Zerlegung des signifiant bis hin zur Arbeit am signifié gehen, rückt er die einzelnen Wörter, Wendungen und den Sprachgebrauch in den verschiedenen Diskursen, die unsere plurale Gesellschaft kennzeichnen, in den Vordergrund und macht dadurch dem Leser bewusst, dass es keine „unschuldige“ Sprache gibt, dass jedes Wort, jeder Ausdruck die Geschichte seines früheren Gebrauchs mitbringt. An die Stelle der entlarvten Diskurse darf kein neuer Diskurs treten, sondern muss die Offenheit der Bedeutungen treten, welche, und das wäre gewissermaßen die Funktion der Literatur im Gegensatz zum alltagsprachlichen Sprachgebrauch, eben nur durch spezifisch literarische Methoden erreicht werden kann.
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Annely Rothkegel (Hildesheim, Saarbrücken)
Zukunftsmodelle im phraseologischen Sprachgebrauch 1 Fragestellung Die möglichen Bezugnahmen von Sprache auf eine wie auch immer verstandene Realität bestimmen die Angebote des Sprachgebrauchs in einer Gemeinschaft bzw. Gesellschaft, so auch den Gebrauch phraseologischer Sprache. Diese gilt als ein eigenes semiotisches System, so Häcki Buhofer (2001: 6), das auf lexikalischer Ebene mit vorgeprägten Wortkombinationen durch Fixiertheit charakterisiert ist, auf semantischer Ebene aber eine besondere Offenheit für vielfältige Anpassungen an verschiedene Kontexte aufweist. Diese Anpassungsfähigkeit bezieht sich einerseits auf die Möglichkeiten zur Konzeptualisierung, andererseits auf die der sprachlichen Bewertung. In diesem Beitrag kommen beide Aspekte, miteinander verbunden, im Hinblick auf ihr Vorkommen in Zukunftsdiskursen in den Blick. Thematischer Bezugspunkt ist eine antizipierte Zukunft, die sich mit positiver oder negativer Konnotation auf erwünschte oder unerwünschte, globale oder lokale Lebenswirklichkeiten bezieht. Entsprechende Konzeptualisierungen findet man in Diskursen, in denen das Neue und noch Unbekannte (absehbare Entwicklungen, Trends, Umbrüche, Visionen, Utopien) im Vordergrund steht, wobei die Situationseinschätzungen fast zwangsläufig bewertend eingeordnet sind: es läuft gut (alles wird gut) oder es läuft schlecht (es läuft aus dem Ruder). Es wird zu zeigen sein, ob und wie sich phraseologische Systeme, die relativ ‚alt‘ sind, in die Darstellung des Neuen und Unbekannten einpassen. Das Thema Zukunft ist von zentraler Bedeutung in Domänen wie Wissenschaft und Technik, die auf die Produktion von Neuem ausgerichtet sind. Dies betrifft gleichermaßen Produkte (Innovationen) wie Konzepte (Nachhaltigkeit und nachhaltige Entwicklung) und deren Bezug aufeinander. Insofern als Neues erst durch Kommunikation publik gemacht werden muss, bevor es zur Wirkung kommen kann, bilden die entsprechenden Themen einen wichtigen Gegenstand für die öffentliche Vermittlung, die ihnen erst gesellschaftliche Relevanz verleiht. Insofern bieten sich Texte (Diskurse) für die sprachliche Analyse an, die einen wissensvermittelnden und öffentlichen Charakter haben. Wir beziehen uns auf einzelne Darstellungen zu den Wissenschaftsjahren, die von den Ministerien oder Forschungseinrichtungen in Print- und Internetmedien veröffentlicht werden sowie auf ausgewählte weitere Zeitungsbeispiele (s. Quellen).
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Die Funktion der Wissensvermittlung in den ausgewählten Texten begünstigt einen Sprachgebrauch, der einerseits Interesse am Gegenstand wecken, möglichst verständlich und leicht lesbar sein soll. Diesen Anforderungen kommt ein Phrasemgebrauch entgegen, der einerseits die Möglichkeit zur Auffälligkeit durch ungewöhnliche bzw. provozierende Analogien (Gott ist ein Computer (Rohwetter 2013: 23), Mord an Mutter Erde (vgl. Grober 2010)), andererseits aber auch zur Nivellierung des Bedeutungsspektrums durch fast bedeutungsleere stereotype Kollokationen (rasante Entwicklung) bietet (zu Analogien/Metaphern: Drewer 2007; Hofstadter & Sander 2014; Rothkegel 1998, 2012, 2014; Schröder 2012; Stocker 1999; zu bedeutungsnivellierendem Sprachgebrauch im interdisziplinären Diskurs: Petzold 2010; Weber 2010). Dazu kommt ein Sprachgebrauch, der neben Fach- und Alltagssprache einen hohen Anteil an nicht-fachlichem Wortschatz im Sinne von Meyer (1994) enthält (neue Anwendungen ermöglichen, neue Impulse verleihen). In diesem Beitrag stehen entsprechend die semantisch relativ einfachen Kollokationen und die semantisch komplexen Analogiebildungen im Vordergrund. Im nächsten Abschnitt diskutieren wir die semantischen Grundlagen des Begriffsfeldes ZUKUNFT, die im dritten Abschnitt auf vier Zukunftsmodelle in den Diskursen zu Technik und Nachhaltigkeit angewendet werden. Der vierte Abschnitt fasst die Ergebnisse zusammen und ordnet sie in eine allgemeine Betrachtung zum Verhältnis von ‚elastischer‘ phraseologischer Sprache und Realität ein.
2 Zur semantischen Basis des Begriffsfelds ZUKUNFT Das Begriffsfeld ZUKUNFT (mit Ausdrücken wie Zukunft, Zukunftsangst, Zukunftsaussichten, Zukunftsfähigkeit, Zukunftsorientierung, Zukunftsperspektive, Zukunftsvision) erhält derzeit in öffentlichen Diskursen eine überaus starke Aufmerksamkeit. Dazu kommt, dass der Ausdruck Zukunft als eine Medienmode äußerst beliebt ist und entsprechend in der Werbung mit seiner positiven Konnotation genutzt wird (i. S. von ‚alles was mit Zukunftsorientierung zu tun hat, ist per se attraktiv und gut’). Dies mag u. a. mit den gängigen öffentlichen Diskursen zusammenhängen, so mit Bezug zu Themenfeldern wie z. B. ‚Nachhaltigkeit‘ (im Sinne der Forderung von ‚Zukunftsfähigkeit anstelle von bestehender Zukunftsignoranz‘) oder ‚technische Innovationen‘ (i. S. von ‚was technisch neu ist, ist per se besser als das alte‘). Aber auch in verschiedenen wissenschaftlichen Diszipli-
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nen gewinnt das Thema an Attraktivität (vgl. u. a. die ‚Verzukünftigung der Gegenwart‘ als philosophische Fragestellung (Gransche & Hommrich 2014: 201)). Kommen wir zurück auf die Feststellung, dass „Zukunft“ als solche nicht in der gewohnten ‚Realität’ stattfindet, sondern in diversen Zukunftsvorstellungen, die Gegenstand der Kommunikation sind. Der Historiker Lucian Hölscher, der die „vergangenen Zukunftsentwürfe“ ebenfalls als Gegenstand historischer Forschung betrachtet, weist auf die enge Verbindung solcher Vorstellungen mit den sprachlichen Voraussetzungen hin (Hölscher 2011: 401): „Zukunftsvorstellungen sind luftige Gebilde, entstanden aus den Sorgen und Wünschen der Menschen, ihren vergangenen und gegenwärtigen Erfahrungen und den Berechnungen für die kommende Zeit, die sie daraus ableiten.“ Und weiter (Hölscher 2011: 402): „Zukunftsvorstellungen hängen an sprachlichen Voraussetzungen, die sie überhaupt erst zu generieren erlauben.“ So erscheinen Ausdrücke im Deutschen wie Zukunft oder zukünftig „erst im Laufe einer Übergangsperiode […], die sich vom 14. bis zum 18. Jahrhundert erstreckte“ (Hölscher 2011: 403). Eng damit verbunden ist die Vorstellung von ‚Zeit’, wobei sich die Kodierung von Raumbegriffen mit zeitlicher Bedeutung erst Mitte des 18. Jahrhunderts in den europäischen Wissenschaften und Künsten durchsetzte. Im Hinblick auf die Zukunft spielt die unbekannte Zeit eine zentrale Rolle (ins Blaue reden, Stunde X). Das Verständnis von Zeit im Sinne eines Weltverständnisses (‚Weltbildes‘) begründet zwei Sichten auf die Zukunft, die bis in die Gegenwart wirken: (1) Zukunft wird von ihrem Ende her gesehen, d. h. ‚zukünftige Dinge‘ sind eigentlich schon vorhanden, aber dem Blick noch entzogen (in den Sternen geschrieben stehen). Die Dinge entwickeln sich darauf zu und kommen dem (passiven) Betrachter entgegen (das Schicksal nimmt seinen Lauf; das Schicksal schlägt zu). Im Sinne organischer Metaphern spricht man von Wachsen/Wachstum, auch Entwicklung, Entfaltung. (2) Zukunft entsteht von der Vergangenheit bzw. Gegenwart aus, d. h. der Betrachter geht (aktiv) auf sie zu. Dieses Denken entspricht einem eher wissenschaftlich geprägten Weltverständnis, in dem sich der Mensch in der Rolle als Akteur bewegt. Zum prototypischen Sprachgebrauch gehören Ausdrücke wie Fortschritt, fortschreiten, voranbringen. Zukunftsgerichtete Aktionen sind solche des Planens, zu den zugeordneten kommunikativen Handlungen gehören die Direktiva (Aufforderungen: der andere soll etwas tun, z. B. für Zukunft sorgen) und Kommissiva (Selbstverpflichtungen/Versprechen: man selbst wird etwas tun, z. B. in der Werbung Produkte werden etwas für die Zukunft tun). Hölscher geht im Weiteren der Frage nach, durch welche Verfahren Zukunftsvorstellungen entstehen, die sich nicht beliebiger Fantasie verdanken (Hirnge-
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spinste, Illusionen), sondern als „wirkliche Antizipationen“ eine gewisse Geltung beanspruchen können und unterscheidet vier prognostische Techniken (Hölscher 2011: 404): – Tendenz-Prognose (aus der Vergangenheit hochgerechnet) – Analogie-Prognose (strukturell gleiche Umstände) – dialektische Prognose (Umschlag eines Zustands in sein Gegenteil) – Gesetzes-Prognose (abgleitet aus Naturgesetzen) Mit der Unterscheidung dieser Prognosetechniken liegt ein Instrument vor, den Sprachgebrauch zum Thema Zukunft auf differenzierte Weise zu analysieren. Im Fokus steht dabei der Bezug zwischen ‚Realitätsmodus‘ der thematisierten Gegenstände und Sprache als Darstellungsmittel für die Thematisierung. Vom Realitätsmodus ausgehend [„Zukunftsvorstellungen sind ebenso politische und soziale wie kulturelle, ja selbst ökonomische Gebilde“ (Hölscher 2011: 404)], weist der Historiker wiederum auf die sprachlichen Voraussetzungen hin: […] offenbaren die semantischen Strukturen allerdings weit mehr als die bloße Zukunftsgerichtetheit einer Vorstellung. Sie verweisen auf den diskursiven Zusammenhang, in dem solche Vorstellungen entstehen, auf ihre Generierung aus vergangenen und gegenwärtigen Erfahrungen oder aus mythologischen und religiösen Erwartungen. (Hölscher 2011: 403)
Im folgenden Abschnitt werfen wir den Blick auf den Sprachgebrauch in verschiedenen Kontexten, in dem sich typische Sichtweisen phraseologisch manifestieren.
3 Zukunftsmodelle in der Kommunikation 3.1 Modelle als Weltsichten Die Abhängigkeit des Sprachgebrauchs vom Kontext, in dem er stattfindet, zeigt sich auf zwei Ebenen. Zum einen geht es um die semantische Basis im Sinne des jeweilig anzuwendenden Modells, das den Bedeutungshorizont des Geäußerten erfasst und gleichzeitig abgrenzt. Zum anderen sind es die Ausdrucksformen für die sprachliche Realisierung, die erst die Kommunikation ermöglicht. Dieses Zusammenspiel wird im Folgenden in der Relation von Zukunftsmodellen und entsprechend als Stereotype verfügbaren Ausdrucksweisen betrachtet. Bei den Modellen (vgl. „kognitive Modelle“ bei Burger 1998: 84) kommen nun die oben skizzierten, standardisierten Erfahrungen und Erwartungen zum Tragen, die ähnlich wie mentale Wissens-Schemata (u. a. Schnotz 1994), in Form von
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Konfigurationen aus allgemeinen Kategorien und ihren jeweils zugeordneten Spezifikationen konkret vorstellbar und repräsentierbar erscheinen (auch Dobrovol’skij 2003). Gegenüber neutralen Wissens-Schemata sind Modelle im Weiteren in der Weise charakterisiert, dass sie für den typischen Gebrauch in Kommunikationsgemeinschaften stehen und damit für ein gruppenspezifisches Weltverständnis mit den jeweiligen Werten und Normen. In diesem Sinne sind sie gleichzeitig mit Handlungsorientierungen verbunden. Diese in der Sprache vorgeprägten Möglichkeiten sind gut geeignet für die Verbalisierung von abstrakten Konzepten (z. B. ZEIT, GESUNDHEIT, NACHHALTIGKEIT), die als Modelle auf unterschiedliche Weisen und in Abhängigkeit des kommunikativen Kontextes zu interpretieren sind. In der Phraseologieforschung, insbesondere in onomasiologisch orientierten Zugängen, bilden solche begrifflichen Ordnungen geeignete Bezugspunkte für die Ein- und Zuordnung des phraseologischen Wortschatzes in Lexika (Hessky & Ettinger 1997; Piirainen 2000; Szczęk 2010) oder für die semantisch-konzeptuelle Analyse einzelner Domänen (Gréciano 2007 (Medizin); Kleinberger Günther 2003 (Wirtschaft)) oder von einzelnen Schlüsselbegriffen (Drillon 1997 (ERFOLG); Sandig 2001 (PERSPEKTIVE); Rothkegel 1999 (WETTBEWERB), 2014 (GESUNDHEIT, RISIKO)). Ein Modell, in dem Zukunft als Verlängerung von Bekanntem aus der Vergangenheit oder Gegenwart verstanden wird, bietet andere Bewertungen und Handlungsoptionen als ein Modell, das Zukunft als programmatischen Entwurf modelliert. Werden Dinge und Ereignisse aus Vergangenheit bzw. Gegenwart positiv bewertet, wird die Fortsetzung ebenfalls positiv eingeschätzt (Tendenz-Prognose, z. B. WEITER-SO-Modelle). Im umgekehrten Fall, also wenn Vergangenheit bzw. Gegenwart eine negative Bewertung erfahren, erscheint ein ‚Wandel‘ als geboten (dialektische Prognose, z. B. „Zukunftsfähigkeit als Fähigkeit zum Wandel“ im Nachhaltigkeitsdiskurs). Insofern als Zukunft allein in der Kommunikation, d. h. in ausgedrückten Zukunftsvorstellungen spezifiziert ist, erscheinen hier die jeweils relevanten Zukunftsmodelle einer Epoche sowie der fokussierten Sachbereiche. Im Folgenden untersuchen wir vier Zukunftsmodelle im Schnittfeld von Nachhaltigkeit und Technik (technische Innovationen). Das Verbindende besteht in den zugrundeliegenden Vorstellungen hinsichtlich des Beziehungsgefüges Mensch-NaturTechnik. Seit Menschengedenken greift der Mensch in die Natur ein, unterstützt durch Technik, die er in einer fortlaufenden Entwicklung verändert und mit der entsprechenden Nutzung sowohl die Natur wie sich selbst verändert. Die damit einhergehenden Zukunftsvorstellungen werden gespeist durch Hoffnungen auf eine stete Verbesserung des Lebens sowie durch Befürchtungen hinsichtlich möglicher Gefährdungen. Damit sind die betreffenden Modelle in implizite oder explizite Bewertungen eingebunden, was sich ebenfalls im Sprachgebrauch
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spiegelt. Die in diesem Beitrag differenzierten Modelle lassen sich im Weiteren durch entweder quantitativ oder qualitativ bestimmte Zuordnungen unterscheiden. In diesem Sinne sind Zukunftsmodelle mit den Prinzipien ENTWICKLUNG (Technikdiskurs) und BALANCE (Nachhaltigkeitsdiskurs) durch Bewertungen auf quantitativer Grundlage (zu-viel: weniger / zu-wenig: mehr) bestimmt, während Modelle im Sinne von REVOLUTION (Technikdiskurs) und TRANSFORMATION (Nachhaltigkeitsdiskurs) qualitativ spezifiziert sind (neues Denken).
3.2 Zukunftsmodelle ENTWICKLUNG und BALANCE Die Bewertung von Gegenwart bzw. Vergangenheit prägt die Art des Zukunftsmodells. Ist das Vorhandene „gut“ und hat sich das Bisherige „bewährt“, dann kann es eigentlich so weitergehen. Dies ist eine Betrachtungsweise, die in hohem Maße die Einschätzung technischer Innovationen bestimmt (Schlosser 1999). Treten dagegen die negativen Folgen der damit verbundenen und in Ausmaß und Tempo zunehmenden Eingriffe in die Natur in den Fokus, bildet sich eine negative Bewertung des Bisherigen, die die Forderungen nach einer Umkehr begünstigt. Letzteres entspricht seit dem „Bericht des Club of Rome“ (Meadows 1972), wo der Ausdruck sustainable (‚nachhaltig‘) zum ersten Mal in seiner modernen erweiterten Bedeutung auftaucht, der Tendenz der sich später daraus entwickelnden Nachhaltigkeitsdebatte, die bis heute anhält (vgl. Grober 2010: 220). Zu beobachten sind einerseits heftige Kontroversen (z. B. im Bereich Biotechnologie, vgl. Weitze & Pühler 2012) wie auch Annäherungen, sprachlich markiert mit Etiketten wie Eco-Design, Blue Production, Green Economy, die vorwiegend in der Werbung vorkommen und eine Art Ökologisierung der Technik signalisieren sollen. Betrachten wir zunächst den Technikdiskurs im Sinne einer positiven (und verschiedentlich sogar euphorischen) Bewertung sowohl hinsichtlich des Bisherigen als auch des Zukünftigen. ENTWICKLUNG als Oberbegriff lässt sich in zwei Deutungsweisen lesen. Einerseits geht es um eine als fast zwangsläufig verstandene Kontinuität im Sinne einer (quasi natürlichen) Entfaltung mit weiteren Anschlussmöglichkeiten, wobei die Prinzipien der steten Verbesserung der Lebenssituationen bestätigt werden (Prinzip WEITER-SO) und wo die Voraussagen nach dem Prinzip Tendenzprognose funktionieren (Hölscher 2011: 404). Dabei steht die Betonung der Beschleunigung im Vordergrund (rasante Entwicklung). Andererseits geht es um Fortschritt, wobei die Vorstellung einer aktiven (Er‐) Schaffung von Neuem vorherrscht. Neben den bekannten Prinzipien kommen auch bisher unbekannte Prinzipien zum Tragen (rapider Umbruch) wie auch veränderte soziale Maßstäbe der Partizipation (Mitmachlabor).
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Das Projekt „Expedition Zukunft“ des Wissenschaftsjahrs 2009, ausgerichtet von der Max-Planck-Gesellschaft, steht prototypisch für diese Tendenz. Neben dem für einige Monate durch Deutschland fahrenden Zug („Science Express“) gibt es einen Katalog sowie eine Internetdokumentation (vgl. Max-Plank-Gesellschaft 2009, www.expedition-zukunft.org), die in diesem Beitrag für die Textanalysen zugrundegelegt worden sind (die bei den Beispielen angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf den Katalog). Der Sprachgebrauch lässt mehrere Tendenzen erkennen. Eine Tendenz zielt auf das stetige MEHR (Wachstum), z. B. (Expedition Zukunft, 109):Vielfalt erhöhen, Effizienz erhöhen, Vernetzung verstärken, Globalisierung verstärken, immer größere Datensätze analysieren, Kreativität entfalten; (7: Forschung und Wissenschaft verstärken, zusätzliche Impulse verleihen, Motor für Wachstum sein). In einer anderen Tendenz geht es um den expliziten Bezug auf die Zukunft (7: gute Zukunft sichern, 109: Internet der Zukunft) sowie auf die Neuheit (109: neue Anwendungen ermöglichen, neues Wissen produzieren) oder die Veränderung (7: Chancen eröffnen, zum Durchbruch verhelfen, 45: Weichen stellen). Anders als der eher neutrale Sprachgebrauch des Managements, der unabhängig von der Domäne oder einer Disziplin verwendet wird und der sich üblicherweise in den nicht-fachlichen Kollokationen manifestiert, zeigt sich in den Analogiebildungen (metaphorischer Sprachgebrauch) die eigentliche Situationseinschätzung hinsichtlich der technischen Innovationen. Stand bislang die Verbesserung des (defizitären) Menschen an, indem die Maschine die Schwächen ausgleicht, wird das technische Gerät, hier das Internet, zum Mitmenschen (Expedition Zukunft, 109): Antwort-Maschine, persönlicher Assistent, Berater, Wegund Lebensbegleiter, als verlängertes Gedächtnis bzw. als globales Gehirn setzt es die Reihe der Gedächtnismodelle fort (vgl. Draaisma 1999; hier werden u. a. aufgeführt: Wachstafel, Camera Obscura, Computer, die als Metaphern des technischen Bildspendebereichs für das menschliche Gedächtnis stehen). Das Ende der Distanz (durch unbegrenzte Vernetzung) lässt uns zu Zeugen einer Explosion der menschlichen Kreativität werden. Dem Modell des MEHR (Wachstum) steht das Zukunftsmodell BALANCE im Sinne von Ausgleich und Sicherheit gegenüber. Diese Vorstellung, die einen großen Anteil des Nachhaltigkeitsdiskurses prägt und sich teilweise auch im Technikdiskurs ausgebreitet hat, zielt auf einen Ausgleich zwischen dem ‚Zu-Viel’ hinsichtlich der Eingriffe in die Natur (z. B. Verbrauch von Ressourcen, Verschmutzung von Boden, Wasser, Licht, Übermaß an Müll) und einem ‚Zu-Wenig’ an Natur (z. B. Verlust von Artenvielfalt). Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Begriff der Nachhaltigkeit nicht unproblematisch ist. Er sei vielversprechend, schillernd bis bedeutungsleer, so beschreibt ihn Grober (2010) in der „Kulturgeschichte eines Begriffs“, wie der Untertitel zu „Die Entdeckung der Nachhaltigkeit“
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lautet. In der historischen Sicht auf den Begriff wird die Dynamik der kontinuierlichen Bedeutungsdehnung sichtbar, doch bleibt die Zukunftsorientierung das zentrale Merkmal (fit für die Zukunft machen). Dabei wird einer negativ bewerteten Gegenwart (bzw. Vergangenheit) ein erhoffter Umschlag ins Gegenteil für die Zukunft gegenüber gestellt. Nach Hölscher (2011: 404) entspricht dies dem Prognosetyp ‚dialektischer Umschlag‘. Das Prinzip WEITER-SO, was im Entwicklungsmodell des Technikdiskurses die Basis darstellt, wird abgelehnt, stattdessen geht es um Umsteuern, business as usual als Marktstrategie führe in die Sackgasse (Göpel 2011: 35). In den Anfangszeiten der Debatte ging es drastisch zu. Die Rede ist von drohender Apokalypse, aber auch später spricht man noch von den zu erwartenden Katastrophen – beides durch Grober (2010) nachgezeichnet. Kontrollverlust, auch auf die Gegenwart bezogen, wird angezeigt durch Ausrücke wie aus den Fugen geraten (Erde), in Brand geraten (Welt) oder aus dem Ruder laufen (z. B. Energiewende). In dieser Sicht spricht man z. B. von einer Rohstoff-Blase, wo sich etwas zusammenbraut und die mit einem lauten Knall platzen könnte (Rohrbeck 2014: 28). Das Bild vom stummen Frühling, was als Buchtitel (Carson 1962, Meeresbiologin) für Aufmerksamkeit sorgte, war eine Reaktion auf die ungehemmte chemische Schädlingsbekämpfung in den fünfziger Jahren. Die Erde als lebensspendender und gleichzeitig gefährdeter Lebensraum wird in Analogie zum Menschen gesetzt (Metapher: Erde = MENSCH), der bereits tiefe Narben im Antlitz der Landschaft (Grober 2010: 57) aufweist. Kohleminen gleichen entsprechend eher Mondlandschaften als bewohnbaren Räumen, die eigentlich der Mutter Erde gehören (und nicht den Konzernen). Und schließlich ist von Mord an Mutter Erde (Grober 2010: 56) die Rede und dass das Weltall möglicherweise den Wärmetod erleiden wird. Dem „Zu-Viel“ begegnet man mit Gegenmaßnahmen des Verringerns: Flächenverbrauch minimieren, Ernährungskrise eindämmen, Wasserverbrauch senken, virtuelles Wasser/Wasserfußabdruck messen/berechnen, Grenzwerte einhalten, insgesamt: den Kollaps vermeiden. Neben solchen allgemeinen Maßnahmen, die sich im fachlichen bzw. nicht-fachlichen Sprachgebrauch manifestieren, werden Analogiebildungen (wiederum mit Bezug auf die Menschen-Metapher) auffällig, wenn es um konkrete Aufgaben geht wie die Stromfresser ersetzen und generell die Klimakiller identifizieren. Einem Krieg gegen das Molekül CO2 wird dagegen nur eine eingeschränkte Wirkung zugesprochen. Als großräumiger Eingriff in die Stoffkreisläufe des Planeten gilt ebenfalls das Geo-Engineering als hoch problematisch. Typisch ist ein Sprachgebrauch, der Verhältnismäßigkeit und Suffizienz thematisiert (u. a. Linz 2012). Auf das „Zu-Wenig“ sei zu reagieren durch Maßnahmen des Schutzes, der Bewahrung, der Verstärkung und Rettung des blauen Planeten (Wissenschaftsjahr 2012: ‚Zukunftsprojekt Erde‘): Klimaschutzmaßnahmen entwickeln, Prognosefä-
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higkeit entwickeln, Warnsysteme für den Katastrophenschutz aufbauen, urban farming, dynamische Lichtszenarien bereitstellen (gegen: Verlust der Nacht), wissenschaftliche Daten zusammenführen. Grober (2010: 45): bewahrende Nutzung (conservation of nature), sich in der Welt einrichten (statt: die Welt einrichten) und vor allem die Grenzen des Wachstums beachten, denn eine andere Welt ist möglich.
3.3 Zukunftsmodelle TRANSFORMATION und REVOLUTION Der quantitativ bestimmten Erneuerung steht ein qualitativ verstandener Wandel gegenüber. Im Nachhaltigkeitsdiskurs geht es um die interdisziplinäre Integration der ökologischen, ökonomischen und sozialen Dimensionen, die in einer übergeordneten Sicht einer neuen Nachhaltigkeitskultur zu erfassen ist (u. a. Parodi, Banse & Schaffer 2010). Diese Gesamtsicht bezieht sich ebenfalls auf eine erweiterte Realität, in der das Netz des Lebens als Zusammenhang alles Lebendigen in gegenseitiger Wechselwirkung thematisiert wird. Gefragt ist ein neues Denken, das den steten Wandel einbezieht und die Geschehnisse auf der Erde im Sinne einer dynamischen Transformation zu verstehen versucht. Auch im Technikdiskurs spielt ein neues Denken die zentrale Rolle. Der allgegenwärtigen Verbundenheit des Lebens entspricht hier die unbegrenzte Vernetzung von Daten, erzeugt durch die unablässige Vermessung des Lebens, die schließlich die Technik zum Schöpfer synthetischen Lebens macht. Ihre Rolle im Hinblick auf die Verbesserung der Natur (einschließlich des Menschen) verändert sich hin zu einer Rolle, in der sie selbst als Natur agiert. Dies gilt als etwas völlig Neues, nie Dagewesenes, und als Bruch mit den bisherigen Prinzipien, häufig benannt mit dem Ausdruck Revolution. Betrachten wir den Sprachgebrauch im Einzelnen. Das Nachhaltigkeitsmodell der TRANSFORMATION im Sinne einer aktiven Zukunftsgestaltung zielt auf die Vision einer Neugestaltung der Lebensverhältnisse auf der Erde, das auf der Verbundenheit der Lebewesen und dem Wechselspiel allen Geschehens gründet. Hier greifen semantische Konstruktionen mit Analogien wie Netz des Lebens, aber auch Rückgriffe auf Ideen aus früheren Epochen wie solche des guten Lebens oder eines erfüllten Lebens (vgl. Grober 2010: 48). Wesentlich ist die Idee der Transformation im Sinne von Übergängen (Grober 2010: 281), wobei Ausdrücke wie elastisch, offen, dynamisieren oder ein Spielfeld haben die geltenden Prinzipien kennzeichnen. Das Wissenschaftsjahr 2012 hatte das Motto ‚Nachhaltigkeit‘, u. a. mit dem Ziel, einerseits die Forschung anzuregen, andererseits ein Verständnis in der Öffentlichkeit zu fördern (Wissenschaftsjahr 2012: ‚Zukunftsprojekt Erde‘). In diesem Sinne sind die bisher getrennt betrachteten Dimensionen (sozial, ökologisch, ökonomisch) in Einklang zu bringen. Die
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Vision von der ZukunftsWerkStadt bezieht sich auf die Möglichkeit CO2-neutraler Städte (Wissenschaftsjahr 2015: ‚Zukunftsstadt‘). Das technisch orientierte Zukunftsmodell REVOLUTION setzt auf einen Bruch im Denken (grundlegend neue Erkenntnisse), was sich insbesondere in den Analogiebildungen zeigt. Die Zukunftsexpedition (s. Abschnitt 3.2) liefert auch hierzu anschauliche Beispiele. Auffällig sind zwei Metaphernfelder. Das eine spielt mit der Maschinenmetapher einmal in der Weise, dass Maschinen und Lebewesen gleichgesetzt werden. Einmal geht es darum, dass Maschinen quasi lebendig werden (Expedition Zukunft, 69: Maschinen des Lebens, Leben einhauchen (Robotern)), ein andermal dass Lebendiges zur Maschine wird (Zellen werden zu Fabriken). Eine andere bemerkenswerte Analogie bezieht sich auf den Vergleich von Leben und Sprache als Spendebereich (Expedition Zukunft, 69): Syntax und Semantik des Lebens entschlüsseln (die Sprache der Gene), wobei die Formulierung auf die Entschlüsselung des Genmaterials anspielt, bei der die DNS-Sequenzen verschiedentlich auch metaphorisch mit Ketten von Buchstaben verglichen werden (kleinste Bausteine unserer Welt entschlüsseln). Ausdrücke wie Revolution oder das radikal Neue hinsichtlich der Möglichkeiten, neue Lebensformen zu schaffen (Genome-Engineering, Mensch-MaschineKombinationswesen) werden auch in öffentlichen Diskursen (Bahnsen & Sentner 2014: 39) verwendet. Das Internet der Dinge (Industrie 4.0) (Randow 2014: 9)) agiert bereits autonom. Es sind antizipierte Zäsuren, häufig aber auch Visionen, mit denen sich Wünsche oder Ängste verbinden. Außerdem erscheint es als wichtiges Ziel, sich einen führenden Platz in einer globalen Wissensgemeinschaft zu sichern (Max-Planck-Gesellschaft 2009: 45). Die Extension des menschlichen Lebens bezieht sich aber nicht nur auf den Kleinstbereich, sondern erfasst ebenfalls das Große, so wenn wir im Weltraum nach unseren Wurzeln suchen (Expedition Zukunft, 59). In dieser veränderten Welt bewegt sich der Mensch gleichermaßen im Kleinen wie im Großen quasi wie in seinem Zuhause, d. h. die wegen des Missverhältnisses der Dimensionen zunächst als misslungen zu betrachtende Metaphernanwendung verweist in dieser Lesart auf eine gewisse Normalität. In diesem Sinne scheinen sich die scharfen Trennungen der Sphären von Natur, Kultur und Technik zu verwischen, wenn Biologisch-Lebendiges und Technisch-Geschaffenes miteinander verknüpft sind. In Anlehnung an den Nobelpreisträger Paul Crutzen sprechen die Kulturforscher Christian Schwägerl und Reinhold Leinfelder vom „Anthropozän“ als einer (seit der Industrialisierung um 1800) vom Menschen geprägten Erdepoche (Schwägerl & Leinfelder 2014: 234), in der es neben einer Geosphäre und einer Biosphäre eine Noosphäre gibt, die durch Kommunikation und Wissen geprägt ist.
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Der Anthropozängedanke hat also das Potenzial, den Dualismus (gute) Natur versus (böser) Mensch […] zu überwinden und stattdessen eine Natur-Kultur-Technik-Gesellschaft als interagierendes, wenn auch hoch komplexes Gesamtsystem mit neuen funktionellen und ontologischen Ensembles zu begreifen, […], als ein grünes Sicherheitssystem der menschlichen Zivilisation, […], wo Orang-Utans und Tiger den Status von Haustieren haben und Maschinen Bewohner der Erde sind, die sich in deren Stoffwechsel einfügen müssen. (Schwäger & Leinfelder 2014: 234; [meine Hervorhebungen, A. R.])
Möglicherweise führt die neue, „andere“ Kombinatorik in dieser Zukunftswelt aus Schutz der Natur einerseits und Akzeptanz technischer Innovationen andererseits auch auf der sprachlichen Ebene zu neuen Wortkombinationen (grünes Sicherheitssystem, als Haustiere leben (Wildnis), sich in den Stoffwechsel einfügen (Maschinen), die sich mit diesen Welten verbreiten und ohne sie wieder verschwinden.
4 Zusammenfassung: Bedeutungselastizität und standardisierte Kombinatorik – ein Erfolgsrezept des phraseologischen Sprachgebrauchs Die Zukunft ist wie die bruchlose Fortsetzung der Gegenwart. Sie wird immer neu gemacht, freilich mit den geistigen Ressourcen der Vergangenheit. […] Das Neue kann nur im Schoß des Alten entstehen. Was jedoch immer wieder erstaunt: In jeder Renaissance, in jeder Epoche des Aufbruchs, erscheinen in verwandelter Gestalt die Bilder, die Grundideen und das Vokabular der Nachhaltigkeit.“ (Grober 2010: 42)
In dieser von Ulrich Grober formulierten Perspektive auf die Zukunft wird mit dem Prinzip der Fortsetzung das Gemeinsame aller Zukunftsmodelle ausgedrückt. Eine Differenzierung lässt sich dennoch bewerkstelligen, und zwar im Hinblick auf die Art der Fortsetzung in Bezug auf das Bisherige und in Verbindung mit den damit verbundenen Bewertungen. Der Blick auf den phraseologisch geprägten Sprachgebrauch gestattet signifikante Unterscheidungen, die den oben skizzierten Zukunftsmodellen zugeordnet werden können. Sprachgebrauch wurde dabei gesehen in Relation zu den Koordinaten Sachbereich und Bewertungsbasis (quantitativ und qualitativ), die Art der Fortsetzung wurde in Bezug gesetzt zu den Prognosetypen im Sinne von Hölscher (2011: 404). Im Folgenden werden abschließend zwei Charakteristiken des Phrasemgebrauchs im Hinblick auf ihre modellidentifizierende Funktion diskutiert: die Bedeutungselastizität im Bereich der Analogiebildungen und die Gruppenspezifik des Sprachgebrauchs durch
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standardisierte Kombinatorik. Dabei beziehen wir uns auf die oben erwähnten Beispiele. Was den beiden qualitativ geprägten Zukunftsmodellen TRANSFORMATION (Nachhaltigkeitsdiskurs) und REVOLUTION (Technikdiskurs) trotz entgegengesetzter Zielrichtung gemeinsam ist, ist die Tatsache, dass sie auf Ideale struktureller Art zielen, ausgedrückt im Bild des Netzes (Netz des Lebens, Netz Natur, globale Vernetzung durch Digitalisierung). Die Bildlichkeit im Sinne einer Konkretisierung abstrakter Konzepte (Burger 1998: 72) erscheint als eine bereits abgeleitete Form, insofern sie aus einer Darstellungskonvention im Bereich grafischer Visualisierungsmethoden stammt. Dieser Ebene gehören ebenfalls Analogien sprachlicher Strukturen in Bezug auf die Beschreibung gentechnischer Verfahren an (Syntax und Semantik des Lebens entschlüsseln). Das hier angesprochene Bildschema (Pérennec 2001: 16) charakterisiert eine als positiv bewertete strukturelle Veränderung der Lebensverhältnisse, ohne dass konkrete Vorstellungen oder Szenarien in den Blick kommen. Dem entsprechen Formulierungen wie anders leben, anders wirtschaften (www.zukunftsprojekt-erde.de) oder grundlegend neu denken (www.expedition-zukunft.org). Zukunft erscheint hier als grundsätzlich offen, aber doch in einen (zu gestaltenden) strukturellen Rahmen eingebunden, der eher durch Prinzipien als durch Szenarien sprachlich festgelegt ist. Anders verhält es sich bei der sprachlichen Realisierung der quantitativ bestimmten Zukunftsmodelle ENTWICKLUNG und BALANCE. Hier treffen positive und negative Bewertungen aufeinander, die sich einer bildlichen Sprache bedienen. Die aus dem Bereich der Natur stammende Analogie des Wachstums wird beiden Sphären, also Technik- und Nachhaltigkeitsdiskurs, in positiver Bewertung zugeordnet, auch wenn die Konkretisierung selbst, vermittelt durch die Bildlichkeit des Ausdrucks, eher als gegenläufig einzustufen ist. Dies ist ein gutes Beispiel für die Eigenschaft von Diskursmetaphern, deren Bedeutung sich im Kontext des jeweiligen Diskurses erschließt (Małgorzewicz 2012: 148 – 156). Diese Anpassungsfähigkeit oder wie Häcki Buhofer (2001: 6) formuliert, die „vielfältigen Interaktionsmöglichkeiten mit dem Kontext“ erscheinen verstärkt bei Analogiebildungen, die phraseologisch ausgedrückt sind. Diese Verstärkung elastischer Bedeutungsausdehnung zeigt sich auch hinsichtlich der mitgelieferten Bewertung, was insbesondere bei Symbolverwendungen zum Tragen kommt (vgl. Mutter Erde oder der Rückgriff auf Farbsymbolik in Green Economy, Blue Production; zur Symbolik: Dobrovol’skij & Piirainen 1996; Mansilla 2003). Hinsichtlich der Rezeption gibt es allerdings gewissen Kommunikationsrisiken. Häcki Buhofer (2001: 13) verweist auf mögliche Probleme hinsichtlich des Verstehens bzw. der Verständigung in der Kommunikation, insofern als „das Verstehen auf ein Wieder-
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erkennen reduziert ist“ und komplexe Verstehensprozesse nicht angeregt werden, wenn die Bedeutungen nicht dem jeweiligen Kontext zugeordnet werden. Zukunftsdarstellungen, in denen sich negative Bewertungen spiegeln, zielen vor allem auf die Bildhaftigkeit der Ausdrücke, d. h. auf die visuelle Vorstellbarkeit (Häcki Buhofer 1989; Burger 1998). Diese ist zwangsläufig an konkrete Ereignisse oder Szenarien gebunden, was wiederum eine emotive Reaktion begünstigt (vgl. Bildwert im Sinne von Burger 1998: 74). Geeignet sind vor allem sich zum Schlechten entwickelnde Situationen (aus den Fugen geraten, in Brand geraten) oder Katstrophenszenarien (den Wärmetod erleiden), die sich auf einen zukünftigen Weltzustand beziehen. Aus dem Sprachgebrauch erschließen sich nicht nur Bezüge auf ausgewählte Sichtweisen zur Realität, Sprachgebrauch fungiert ebenfalls als Indikator. Häcki Buhofer (2001: 12) formuliert wie folgt: „Die Wahl der sprachlichen Mittel ist nicht so sehr bestimmt durch individuelle Intentionen, sondern umgekehrt, sie sagt etwas über die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe aus.“ Eine solche Art von Zugehörigkeit zeigt sich bereits im Gebrauch von Modellen in der Kommunikation und der sie reflektierenden Mittel ihrer sprachlichen Realisierung. Die mehr oder weniger fixierte lexikalische Kombinatorik des phraseologischen Sprachgebrauchs, die die Beschleunigung von Sprachproduktion und -rezeption begünstigt, schlägt sich wiederum in der steten Wiederholung des Gebrauchs nieder. Als Folge davon lassen sich neben den auffälligen metaphorischen Gebrauchsweisen spezifische Inventare von Kollokationen, also von semantisch kompositionellen Kombinationen, als Phänomene des Gebrauchs erkennen. Sie kennzeichnen den sprachlichen Zugriff auf eine „Standardwelt“ (Adamzik 2004: 64), die nach vorgegebenen Wissensmustern und ihren sprachlichen Schemata funktioniert. Im Hinblick auf die Beschreibung von Zukunftsvorstellungen findet hier, zum Teil als Planungsstrategien, zum Teil als Maßnahmen der Ausführung, die Konstruktion von einzelnen Szenarien oder Aufgaben statt (z. B. immer mehr Daten erfassen, immer größere Datensätze analysieren). Dies verläuft unspektakulär auf einer meist nicht-fachlichen Sprachebene, die unabhängig von einzelnen Domänen fachübergreifend allgemein das Management kennzeichnet. Die sprachliche Darstellung von Zukunft auf der Basis von Zukunftsmodellen bietet einen guten Einstieg für die Betrachtung der Semantik von Mehrwortlexemen, die die Verschiedenheit möglicher Weltsichten auf die Realität mit deren diskursiver Entfaltung verbindet. Gültige Aussagen über eine systematische Verankerung solcher Verbindungen in öffentlichen fachbezogenen Gegenwartsdiskursen setzen weitere empirische Untersuchungen voraus. Annelies Häcki Buhofer kommt das Verdienst zu, bereits zu Beginn der Etablierung phraseologischer
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Forschung die empirische Richtung hinsichtlich des phraseologischen Sprachgebrauchs vorangetrieben zu haben (vgl. Häcki Buhofer 1994, 1999).
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Natalia Filatkina (Trier)
Implicit Understandings. Was uns historische Sprachlehrbücher über Sprachbewusstsein und Sprachgebrauch verraten Am besten erklärt Sprachbewusstsein möglicherweise Sprachlernen und Sprachwahl. Das Sprachbewusstsein ebenso wie Einstellungen sind Daten, die parallel zum Sprachgebrauch und im Vergleich zum Sprachgebrauch dargestellt werden sollen und zusammen mit diesem die Sprachkompetenz ausmachen. (Häcki Buhofer 2003a: 215) Das wirklich Gegebene ist nur die Überlieferung. (Paul 1891: 160) Die Quellen geben uns vor, was wir erforschen können. (Schlieben-Lange 1983: 38)
Sprachbewusstsein und Sprachgebrauch gehören zu den linguistischen Begriffen, die intuitiv verständlich zu sein scheinen, sich aber einer präzisen Definition entziehen. Unter Sprachbewusstsein – oder anders Sprachbewusstheit, Sprachwissen, Einstellungen, Attitüden, Stereotypen, Identität, Ortsloyalität – wird im weiten Sinn das „Wissen über die Sprache oder Meinungen zu Aspekten der Sprache wie der Aussprache, dem Wortschatz oder der Qualität einer Sprache ganz allgemein“ (Häcki Buhofer 2002: 18 – 19; vgl. ähnlich auch Häcki Buhofer: 1989: 161; 2003a: 211) verstanden. Greifbar wird dieses Wissen zumeist durch metakommunikative Äußerungen der Sprecherinnen und Sprecher. Sprachbewusstsein ist somit Bestandteil der „subjektiven Sprachdaten“; dessen Untersuchung kann einen Beitrag zur Individuallinguistik und Sprachbiographieforschung leisten, wie sie auch Häcki Buhofer (2003b: 1– 17) konzeptionell fordert. Hingegen ist Sprachgebrauch ein Beispiel für objektive Sprachdaten, das sich auf die soziale Verwendungsweise sprachlicher Mittel in Situationskontexten bezieht (vgl. die Definition in Glück 2000: 9018). Ob es zwischen Sprachgebrauch und Sprachbewusstsein einen Zusammenhang gibt, ist eine in Bezug auf die Gegenwart oft gestellte Frage, so auch in Häcki Buhofer 1989; 2002; 2003a. Dass beide unabdingbare Teile der Sprachkompetenz sind, macht das erste als Einleitung zum vorliegenden Beitrag angeführte Zitat deutlich. Besonders wichtig für die folgenden Ausführungen ist die dort postulierte Erkenntnis, dass Sprachbewusstsein vor allem Sprachlernen und Sprachwahl erklärt. Dass die Wechselwirkung allerdings keine Faustregel sein muss und nie eine Gleichsetzung be-
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deutet, legt Häcki Buhofer (2002: 24– 29) für die Diglossie-Situation in der Schweiz programmatisch dar. Dort zeigt sie auch die Bandbreite der Sprachbewusstseinsformen auf. Der vorliegende Beitrag nimmt diese Ansätze zum Ausgangspunkt und ergänzt sie um eine andere – historische – Dimension. Die Herausforderung ist dabei methodischer Art und ergibt sich aus der Natur der Quellen: Während es für die Gegenwart mittlerweile eine ganze Reihe von gut ausgearbeiteten Methoden für die Erhebung sprachlicher Attitüden gibt (Schmidlin 2011; Schmidt & Herrgen 2011; Hofer 1997), entfällt sie komplett für die Sprachgeschichte, die im Sinne des zweiten einleitend angeführten Zitats von Hermann Paul an schriftlich überlieferte Texte gebunden ist. Rückschlüsse über das historische Bewusstsein sind möglich, insbesondere wenn die Quellen explizite metasprachliche Äußerungen enthalten, aber stets vor der Hintergrundfolie des schriftlich Überlieferten zu bewerten. Die Quellen, um die es im Folgenden geht, sind zweisprachig angelegt und sollten norddeutsche Kaufleute beim Erwerb des Russischen als Fremdsprache während ihrer geschäftlichen Aufenthalte in den russischen Städten Pskov/Pleskau und Nowgorod unterstützen. Metasprachliche Äußerungen überliefern die Quellen nur bedingt; der Beitrag versucht deshalb die Formen des Sprachbewusstseins vor allem anhand des dort präsentierten Sprachgebrauchs zu untersuchen.¹ Ob das eine in Bezug auf die Quellen berechtigte Fragestellung ist, wird sich im Folgenden zeigen. Darauf spielt das dritte einleitende Zitat von Brigitte Schlieben-Lange an.
1 Russisch – niederdeutsche Sprachlehrbücher als Quellen Ausgehend vom tiefgreifenden Charakter der kaufmännischen Veränderungen in Europa des 13. Jahrhunderts bezeichnet der Cambridger Historiker Peter Spufford (2002) diese mit dem Begriff Handelsrevolution, in Anlehnung an die spätere industrielle Revolution der Fertigungsmethoden im 18. und 19. Jahrhundert. Die Handelsrevolution bedeutete u. a. die Ablösung des bis dahin existierenden Wanderhandels, der selten großräumig war und sich über Jahrmärkte und später Messen organisierte (Glück 2002: 84), durch den von seinem Kontor aus wirkenden
Die Forschung zu historischen Formen des Sprachbewusstseins anhand der metasprachlichen Äußerungen ist für das Deutsche (wie auch für andere Sprachen) kaum überblickbar. Ich verweise stellvertretend nur auf vier Titel: Straßner (1995) für die ersten Vorläufer im frühen Mittelalter; Gardt (1994) für die Barock- und Aufklärungszeit; Linke (1996) und Linke (2008) für das 19. Jahrhundert.
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Kaufmann, der über seine Niederlassungen mit europäischen Ländern wie Italien, die Niederlande, England, Frankreich und Russland sowie weit über den europäischen Raum hinaus Handel trieb. Ausgehend vom 12. Jahrhundert etablierten sich Kolonien von Handelsvertretern aus diesen Ländern in den Ländern, mit denen sie Handel trieben und umgekehrt. Einer der wesentlichen Züge der Handelsrevolution war die Entstehung der weltlichen Bildung der Kaufleute in der jeweiligen Landessprache, aber auch in den fremden Sprachen der als Handelspartner fungierenden Länder (Häberlein & Kuhn 2010). Zwischen dem 15. und dem frühen 17. Jahrhundert avanciert der Fremdsprachenerwerb zu einem festen Bestandteil einer zum damaligen Zeitpunkt bereits weitgehend standardisierten und professionalisierten Ausbildung der deutschen Kaufmannssöhne. Laut Glück, Häberlein & Schröder (2013: 91) begann „die Sprachausbildung meist zwischen dem 14. und dem 16. Lebensjahr, fand in den Haushalten von native speakers statt und schritt vom mündlichen zum schriftlichen Sprachgebrauch fort.“ Kaufmannslehrlinge und Handelsdiener waren seit dem späten Mittelalter die größte Personengruppe, die Fremdsprachenkenntnisse für die Berufsausbildung brauchte. Russland (genauer die Stadtrepubliken Groß-Nowgorod und Pskov) und Deutschland (genauer die norddeutschen Fürstentümer) sind über die Hanse in diese historischen gesamteuropäischen Entwicklungen involviert. Nach dem Ende der hanseatischen Blütezeit und der Einverleibung Nowgorods in das Moskauer Großfürstentum (Moskovien) im Jahr 1478 belebt der russische Zar Boris Godunov 1599 die Handelsbeziehungen mit dem norddeutschen Raum über die Städte Pskov und Nowgorod erneut. 1603 wird die Niederlassung der norddeutschen Kaufleute in Pskov wiedereröffnet, sie bekommen die alten Privilegien. Die Quellen, von denen weiter unten die Rede sein wird, stammen aus dieser Zeit. In den russischen Fürstentümern trafen die norddeutschen Kaufleute sowohl zu Hansezeiten als auch später nicht nur auf ein anderes Rechtssystem, eine andere Religion, andere Handelsusancen und andere Sitten und Gebräuche, sondern auch und vor allem auf eine Sprachsituation, die von der in den anderen Ländern, zu denen geschäftliche Kontakte bestanden, stark abwich. Als Sprache des Rechts und des offiziellen Verkehrs fungierte in Russland von Anfang an nicht das Latein, sondern die Volkssprache, das Russische. Das Erlernen des Lateins wurde hier vom wichtigsten Bildungsträger – der orthodoxen Kirche – nicht gefördert und auch nicht gefordert. Obwohl Latein im diplomatischen Bereich als Verständigungsmittel diente, kam es im Handel als lingua franca nicht in Frage. Die Benutzung verschiedener Schriftsysteme vergrößerte die Distanz. Ein norddeutscher Kaufmann hatte zwei Möglichkeiten, dieser völlig anderen Sprachsituation Herr zu werden. Eine Möglichkeit war, sich am Zielort eines deutschen Dolmetschers (nd. tolk) zu versichern, der Russisch konnte. Über solche
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Dolmetscher verfügte die Hanse bereits im 12. Jahrhundert. Ab dem Jahr 1436 sind auch die ersten einheimischen (russischsprachigen) Dolmetscher bezeugt (Squires 2009: 49). Zu solchen deutschen tolks gehörte Heinrich Newenburgk – der Autor des 1629 verfassten „Elemantarbuchs“. Er nahm an der ersten Gesandtschaftsreise des Fürsten Holstein-Gottorp nach Moskau über Nowgorod als Sekretär teil und trug sich am 31. Juli als Oberdolmetscher in das Stammbuch in Nowgorod ein (Günther 1999: 7– 8). Die zweite Möglichkeit der Überwindung der sprachlichen Hürden in Russland bestand darin, selbst die Fremdsprache – in unserem Fall das Russische – zu lernen. Zu diesem Zweck entsandte die Hanse junge Kaufmannsgehilfen nach Nowgorod und Pskov und maß der Sprachausbildung eine Schlüsselstellung bei. Diese war für die Hanse in ihrer Blütezeit, aber auch zu der Zeit meiner Quellen, handelspolitisch motiviert: Um die niederländische, skandinavische, englische und süddeutsche Konkurrenz im Russlandhandel abzuwehren, monopolisierte die Hanse die Sprachausbildung, denn „the ability to name, describe, and portray are in some ways an appropriation that constitutes an essential step toward control and explotation“ (Schwartz 1994: 7; auch Bruchhäuser 2005; Glück 2002: 280 – 281). Gernentz (1981: 69) erklärt mit Hilfe dieses Konkurrenzgedanken die Tatsache, dass uns aus der Blütezeit des norddeutsch-russischen Hansehandels keine schriftlichen Zeugnisse für Sprachausbildung vorliegen. Sollte es sie überhaupt in schriftlicher Form gegeben haben, durften sie geheim und nicht verbreitet gewesen sein und sind deshalb nicht erhalten geblieben, denn „[…] ein Monopol über die Dolmetscherausbildung [kam] praktisch einem Monopol über den Handel gleich […]“ (Ureland 1987: XXIII). Tönnies Fenne², der vermutlich 19- bis 20-jährige Sohn eines Lübecker Kaufmanns, der im Jahr 1607 als Kaufmannsgehilfe an den Lübecker Hof nach Pskov kommt, geht diesen Weg. Als sprakelerer „Sprachschüler“ lernt er ungesteuert das Russische in seinem kaufmännischen Alltag und vollendet (wohl selbständig) sukzessive ein Buch, das am Ende 556 Seiten umfasst und somit die umfangreichste Quelle in der Gruppe der bisher bekannten niederdeutsch-russischen Sprachlehrbücher ist. Die Sprachlehrbücher von Heinrich Newenburgk (HN³) und Tönnies Fenne (TF⁴) sind nicht die einzigen historischen Zeugnisse der norddeutsch-russischen
Für die andere Lesart des Namens (Tönnies Fonne) vgl. Jeannin (1973) und zuletzt Hendriks (2014: 27– 29). Da die paläographischen Befunde weder bei der einen Lesart noch bei der anderen eindeutig sind, tendiere ich zu der sich in der linguistischen Literatur verfestigten Variante Tönnies Fenne. In diesem Text Kürzel für: Das russisch-deutsche Sprachlehrbuch von Heinrich Newenburgk, Halle, Archiv der Franckeschen Stiftungen: AFSt/H Q 87. Edition und Faksimile. In: Erika Günther
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Begegnungen im Bereich des Handels. Nach dem heutigen Kenntnisstand sind insgesamt fünf Sprachlehrbücher mit Russisch als einer der Sprachen aus der Zeitspanne 16.–17. Jahrhundert erhalten geblieben.⁵ Allen Quellen ist gemeinsam, dass sie für den privaten Gebrauch und nicht für den institutionalisierten Schulunterricht gedacht waren, nur in Handschriften überliefert sind und nie gedruckt wurden. Sie orientieren sich an den praktischen Bedürfnissen eines deutschen Kaufmanns bei Handels- und Verwaltungsgeschäften, der Russisch lernen will. Die Auswahl des Russischen als Ausgangssprache in allen Quellen mit Ausnahme des Sprachlehrbuchs von Heinrich Newenburgk lässt vermuten, dass sie auch von Russen zum Deutschlernen gebraucht werden konnten, allerdings liegen für diese Vermutung zurzeit keine Nachweise vor. Das Sprachbewusstsein und den Sprachgebrauch anhand solcher Quellen zu untersuchen, bedeutet zunächst wie bei vielen anderen historischen Quellen die Klärung der Frage, um wessen Sprachbewusstsein und Sprachgebrauch es sich dabei handelt. Denn auch wenn die Verfasser sich selbst in ihren Werken nennen (dies ist bei TF und HN der Fall), ist es noch keine Garantie dafür, dass sie diese tatsächlich eigenständig erstellen. Den Gepflogenheiten des norddeutsch-russischen Handels zufolge haben die Verfasser sowohl die russischen als auch die deutschen Teile aus anderen Vorlagen übernommen. Für die russischen Teile hat zuletzt Hendriks (2014: 53 – 72) systematisch eine große Ähnlichkeit mit dem älteren Sprachlehrbuch von Thomas Schroue nachgewiesen, die allerdings nicht eine automatische Übernahme der Vorlage bedeutet, sondern einen wohl bedachten, kreativen und innovativen Umgang mit dieser. Die große Sorgfalt in der Anlage des Buchs und sein systematischer Charakter stehen im Widerspruch zur historischen Person Tönnies Fenne (Jeannin 1973), was Hendricks (2014) sogar zur Annahme führt, dass Fenne nicht der Verfasser des Buchs ist, sondern lediglich sein Auftraggeber; das Buch stamme aus den Federn eines unbekannten professionellen Schreibers, der des Russischen mächtig war. Auch wenn die Argumente
(1999): Das deutsch-russische Sprachbuch des Heinrich Newenburgk von 1629. Einführung, sprachliche Analysen, Text, Faksimile. Frankfurt am Main: Peter Lang. In diesem Text Kürzel für: Das niederdeutsch-russische Sprachlehrbuch von Tönnies Fenne, Königliche Bibliothek Kopenhagen, Thott 1104/4 chart.saec. Edition und Faksimile. In: L. L. Hammerich & R. Jakobson (1961 ff.): Tönnies Fenne’s Low German Manual of Spoken Russian, Pskov 1607. Copenhagen: Royal Danish Academy of Sciences and Letters. Vgl. die vollständige Auflistung mit Angaben zu Faksimile und Aufbewahrungsort in Filatkina (2013a).Vgl. ferner andere Zählungen in Günther (1999: 11– 13) und Koch (2002: 32). Günther zählt zu dieser Gruppe vier andere Quellen hinzu, die aber nicht im Zusammenhang mit Fernhandel stehen, nicht von Kaufleuten bzw. Handelsbeamten verfasst wurden und in denen das Russische nicht dem Deutschen, sondern dem Lateinischen gegenübersteht (z. B. Grammatica Russica von Heinrich Ludolf). Koch hingegen erwähnt das Sprachlehrbuch von Heinrich Newenburgk nicht.
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sowohl für Fennes Autorschaft als auch gegen diese an sich schlüssig sind, reichen sie für eine gesicherte Schlussfolgerung nicht aus und lassen die Frage offen. An mehreren Stellen finden sich Vermerke, die mit gebotener Vorsichtigkeit als Stellen interpretiert werden können, ab denen Fenne bzw. ein anderer Verfasser auch selbst russisch schreibt, so auf Bl. 188 „Hÿr wÿll ich mÿtt der hulpe gotts | Anfangen tho schriuen de rusche spake“ und auf Bl. 273 „Im Namen der hilligen Drefoldicheitt. | wÿll ich hir anfangen tho schriuen wo de | dutschen behouen mÿtt den rußen tho | koepslagen […].“ ⁶ Das Niedergeschriebene übersetzen die Verfasser in ihre Muttersprache, so z. B. Fenne in die niederdeutsche Schriftsprache Lübeckscher Prägung, die stellenweise auch stark vom Hochdeutschen beeinflusst ist. Auch hier benutzen sie Vorlagen, über die ebenfalls keine Informationen vorliegen. Das Abschreiben ist in den Teilen des Sprachlehrbuchs von Fenne besonders gut greifbar, die komplett auf Hochdeutsch sind; diese übernimmt er bzw. ein anderer Verfasser mit hoher Wahrscheinlichkeit aus anderen Vorlagen, ohne in das Hochdeutsche einzugreifen, z. B. religiöse Texte, Briefmuster und Formulare für den amtlichen Schriftverkehr sowie eine Sentenzensammlung am Anfang des Buches. Etwas anders gestalten sich die Verhältnisse in Newenburgks „Elementarbuch“. Der Nowgoroder Oberdolmetscher stellt etwas später als Fenne im Jahr 1629 sein Manuskript fertig, schreibt Hochdeutsch, das aber „nur recht unvollkommen aus dem Niederdeutschen übersetzt wurde“ (Gernentz 1981: 76). Hier liegt uns eher ein vom Niederdeutschen beeinflusstes Hochdeutsch vor. Die Benutzung der Vorlagen erklärt zahlreiche Parallelen im thematischen Aufbau sowie ähnliche sprachliche Formulierungen und deutet darauf hin, dass im norddeutschen Raum eine entwickelte Tradition für die Textgattung Sprachlehrbuch genauso wie ein ausgeprägtes Bewusstsein dafür existiert haben müssen, die sich nicht nur aus den praktischen Bedürfnissen des kaufmännischen Alltags, sondern auch aus der humanistischen Lexikographie und didaktischen Werken speisten (vgl. auch Gernentz 1988: 26). Ich wage die Vermutung, dass sich dieses Metawissen nicht nur auf den norddeutschen Raum beschränkte. Ein oberflächlicher Vergleich meiner Quellen mit ähnlichen Texten aus dem süddeutschnorditalienischen Handelsraum des 15. Jahrhunderts (vor allem Augsburg, Nürnberg und Venedig; vgl. Pausch 1972; Glück 2002: 418 – 427; Glück & Morcinek
Vgl. dazu eine andere Interpretation in Brigzna (1988: 87): Der Eintrag zeugt nicht davon, dass Fenne den folgenden Teil selbst schreibt, sondern davon, dass diesem Teil eine andere Vorlage zugrunde liegt. Auch diese Annahme lässt sich im Moment nicht überprüfen. Auffällig ist allerdings, dass der Vermerk in TF 188 eine vergleichbare Entsprechung in einem Sprachlehrbuch aus dem Jahr 1546 hat, das bis jetzt Thomas Schroue zugeschrieben wurde (Hammerich/Jakobson 1961, I: 20).
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2006; Häberlein & Kuhn 2010; McLelland 2004) weist viele Gemeinsamkeiten im Aufbau, bei der Auswahl der Themen und im Dialogverlauf auf.⁷ Es kann sich also nicht um die Untersuchung eines individuellen Sprachbewusstseins handeln, sondern nur um die Untersuchung eines kollektiven Metawissens, das allerdings durch seine Verbreitung in mehreren, auch unabhängig voneinander zusammengestellten historischen Quellen an Objektivität und Bedeutung gewinnt. Glück & Morcinek (2006: 2) stellen fest, dass z. B. die norditalienische Sprachbuchtradition des 15. Jahrhunderts keinen direkten Einfluss auf die entsprechenden mitteleuropäischen (deutsch-tschechischen, -polnischen, -ungarischen, -slowenischen) Quellen aus dem 16. Jahrhundert ausübte: „Die Gemeinsamkeiten, die Anklänge konzeptioneller Verwandtschaft erklären sich aus den sachlichen Notwendigkeiten des Sprachunterrichts für reisende Kaufleute.“ Der Kompilations-, Übersetzungs- und Interpretationsweg, auf dem die russisch-niederdeutschen Sprachlehrbücher entstehen sowie das ihnen offenbar zugrunde liegende Sprachbewusstsein harren noch einer eingehenden Untersuchung, die nun als Teil eines Projekts an der Universität Trier mit Hilfe der Methoden der Digital Humanities (semantische Analyse, Netzwerkanalyse) und der Visualisierungstechniken in Angriff genommen wird (vgl. für das frühneuzeitliche Englisch Culpeper & Kytö 2010). Ich werde mich im Weiteren auf drei Sprachlehrbücher beziehen: auf das Buch von Tönnies Fenne (TF), das Sprachlehrbuch Heinrich Newenburgks (HN) und das anonyme „Rusch Boeck“ (RB⁸). Über den Entstehungsort und Verfasser des dritten Werks ist nichts bekannt, außer dass es aus den Federn eines Deutschen stammt, der sich wohl im (Nord‐)Westen Russlands aufhielt und über ausgesprochen gute Kenntnisse des Russischen verfügte. Die paläographischen Befunde und die Qualität des Papiers der Originalhandschrift deuten darauf hin, dass das Sprachlehrbuch im 16. Jahrhundert, möglicherweise vor 1568, angefertigt wurde (Fałowski 1994: 10). Da Fennes Sprachlehrbuch das umfangreichste Werk ist, steht es im Zentrum meiner Ausführungen; zwei andere Quellen bilden an relevanten Stellen die Vergleichsgrundlage.
Ein wesentlicher Unterschied besteht allerdings darin, dass z. B. das Sprachlehrbuch von Georg von Nürnberg nicht von einem Kaufmann verfasst (Georg war ein professioneller Lehrer) und als Handreichung für die Benutzung im schulischen Unterricht durch Sprachlehrer konzipiert wurde. Kopien des Sprachlehrbuchs sind in mehreren Handschriften und Drucken überliefert. In diesem Text Kürzel für: „Ein Rusch Boeck Bin Ick Genanth“. Ein anonymes russisch-deutsches Sprachlehrbuch aus dem 16. Jahrhundert, Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Ms. Slav. quart. 14, z. Zt. Jaggiellonische Bibliothek Krakau. Edition und Faksimile. In: Adam Fałowski (1994) (Hrsg.): „Ein Rusch Boeck…“. Ein Russisch-Deutsches anonymes Wörter- und Gesprächsbuch aus dem XVI. Jahrhundert. Köln u. a.: Böhlau.
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2 Metasprachliche Äußerungen und das Sprachbewusstsein Trotz ihres Namens – Sprachlehrbuch – sind die zweisprachigen Quellen aus dem russisch-deutschen Handel nicht als klassische Sprachratgeber zu verstehen. Sie enthalten keine expliziten metasprachlichen Kommentierungen über das Russische oder Niederdeutsche. Äußerungen, die diesen aber nah kommen, erklären das Ziel des Spracherwerbs und folglich des Verfassens der Bücher. An insgesamt fünf Stellen (13; 22; 188; 197 und 273⁹) äußert sich Tönnies Fenne bzw. ein anderer Schreiber zu seiner Motivation und steht prototypisch auch für andere Verfasser der zweisprachigen Sprachlehrbücher. Beispiel (1) enthält den niederdeutschen Teil des Eintrags auf Bl. 188, der als Übersetzung dem entsprechenden russischen Eintrag in lateinischer Schrift vorangeht. Der niederdeutschen Übersetzung folgt der gleiche Text in kyrillischer Schrift. (1) Hÿr wÿll Ich mÿtt der Hulpe Gotts | Anfangen tho schriuen de Rusche Sprake alse | de dutʒschen mÿt den Rußen behouen Rusch tho | spreken van den Hußlichen vnd daglichen | doende,vnd van allerleÿ werke tho sprekende. | Gott geue mÿ mÿtt gesundtheÿtt In Rußlant | tho Reÿsen vnd de Rusche sprake vnd tungen | tho Lerende vnd tho vahtende vnd mitt ge|sundtheÿtt wedder In dutʒlandt tho Reÿsen. | wen Idt godt dem Hern Beleuett. (TF 188)
Er will die fremde Sprache und die Gebräuche lernen, um sich mit Russen in ihrem Land über alltägliche Dinge zu unterhalten, sie verstehen und die russische Sprache mit Liebe verwenden zu können (Bl. 22: „de Rusche sprake mitt leue tho | gebrukenn“). Die Beteuerung, dies willentlich und gewissenhaft zu tun, ist ebenfalls mehrfach belegt. Die Orientierung am alltäglichen Leben und die konzeptionell mündliche Ausrichtung des Materials sind dabei nicht einfach nur eine programmatische Bekennung des Verfassers. Wie in Abschnitt 3 noch zu zeigen sein wird, orientiert er sich genauso wie die Verfasser anderer Sprachlehrbücher in der Tat über weite Strecken in seinem Buch am gesprochenen Sprachgebrauch. Somit setzen die kaufmännischen Sprachlehrbücher eine Tradition fort, die für das Deutsche im Kontext der Reisen bereits im frühen Mittelalter mit den so genannten „Pariser (Altdeutschen) Gesprächen“ (Haubrichs 1990)
Ich halte mich bei allen folgenden Beispielen aus TF an die Orthographie und Seitenangaben des Faksimiles in Hammerich & Jakobson (1961, I). HN zitiere ich nach dem Original der Handschrift, RB nach der Edition Fałowski (1994). Bei der Angabe TF (188, 18) bezieht sich die erste Zahl auf das entsprechende Blatt, die zweite Zahl nach dem Komma ist eine Zeilenangabe. Aus Gründen der Verständlichkeit verzichte ich bei längeren Zitaten auf die russischen Einträge.
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beginnt, im hohen und späten Mittelalter mit Ausnahmen der literarischen/fiktionalen Gespräche (überlieferungsgeschichtlich?) ausklingt und in der Frühen Neuzeit in allen Bereichen der Didaxe, Erbauung, Wissensvermittlung und des vernakularen Spracherwerbs aufblüht. Seitens der Slawistik wurde früh erkannt, dass die kaufmännischen Sprachlehrbücher zwar naturgemäß nicht das gesprochene Russisch per se repräsentieren, aber unentbehrliche Einblicke in die historische Mündlichkeit gewähren.¹⁰ Die Quellen sind aber für die Germanistik genauso von Bedeutung und haben bis jetzt im Unterschied zu den ähnlichen süddeutsch-italienischen Sprachdenkmälern¹¹ kaum Beachtung gefunden. Vor allem ist den Verfassern der Erwerb des Russischen für Handelszwecke wichtig: nur wer die Sprache beherrscht, kann nicht betrogen werden (TF 13 und 273). Das anonyme „Rusch Boeck“ überliefert auf fol. 68a eine kurze Gesprächssequenz, in dem der deutsche Kaufmann sich weigert, mit dem russischen Geschäftspartner Handel zu treiben, weil er kein Russisch kann und deshalb zunächst nach einem sprachkundigen Vermittler suchen will. Hilfe verspricht man sich von Gott; ihn bietet man auch um Gnade, dieses schwere Unterfangen im guten Gesundheitszustand abschließen zu dürfen. Die Hinwendung zu Gott ist an diesen Stellen in allen Quellen zu finden und gehört als formelhafte Wendung zu dieser Kommunikationssituation (vgl. auch RB 9). Davon, dass der Lernprozess Schwierigkeiten bereitete, zeugt der folgende Eintrag bei Fenne: Ahne Gotts gnade kan nemandtt de Rusche | sprake lehren (TF 198, 3 – 4). Hochgeschätzt (und wohl auch gut bezahlt) war die Hilfe der Sprachmeister. Beispiel (2) enthält eine kurze Gesprächssequenz zwischen dem Kaufmannsgesellen und solch einem Sprachlehrer und könnte die bisherige Annahme der Forschung widerlegen, dass Fenne das Russische ungesteuert gelernt hat. Dafür müssen allerdings die Beweise vorliegen, dass Fenne bzw. ein anderer Verfasser dieses Gespräch tatsächlich selbst schreibt und nicht aus einer anderen Quelle übernimmt. (2) Ich bidde dÿ leue vader Lehre mÿ vp iuwe Sprake Recht sprekken, vnd vnderrichte mÿ bidde Ich, de Ruschen worde Recht tho vorstahn, vnd watt dÿ van mÿ tho kumptt datt will Ich dÿ geuen vnd Betahlen. Ich wÿll dÿ gerne vnderwÿsen vndtt Recht beduden alsz Mÿnem Eÿgenen Sohne, vnd Nim du idt
Alekseev (1974); Gernentz (1981; 1988); Günther (1965; 1999); Hammerich/Jakobson (1970, II); Zaliznjak (1998). Ihre Erforschung hat seitens der Germanistik bereits früh begonnen, vgl. stellvertretend Pausch (1972). Hammerich/Jakobson haben auf den Nutzen von Fennes Sprachlehrbuchs für die Germanistik bereits (1961, I: 27) hingewiesen.
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och tho sinne vnd vorgitt idtt nicht wat Ich dÿ seggenn wÿll. (TF 197, 5 – 9; 13 – 16)
Außerdem soll man sich fern von Landsleuten mit der gleichen Muttersprache halten (TF 13), um Russisch am schnellsten zu lernen. Allerdings spricht nichts gegen die Beibehaltung der deutschen Lebensweise (TF 14). Metasprachliche Äußerungen gehen in den Quellen oft von der Sprache auf das Land bzw. seine Bewohner über, die fremd erscheinen und zunächst Vorsicht und Misstrauen hervorrufen. Das Ende des 16. – Anfang des 17. Jahrhunderts werden in der russischen Geschichte als smuta oder smutnoe vremja ‚die wirre, verworrene Zeit‛ bezeichnet. Bojarenaufstände gegen die Politik Boris Godunovs, drei Hungersnöte, die Intervention von Schweden und Polen, zwei falsche Dimitris als Thronprätendenten sind nur einige Ereignisse, die die Jahrhundertwende prägen. Sowohl Nowgorod als auch Pskov – die Orte, in denen die Sprachlehrbücher geschrieben wurden – sind unmittelbar von diesen Ereignissen betroffen. Allerdings sucht man darin im Gegensatz zu den aus dieser Zeit ebenfalls überlieferten Reiseberichten der Ausländer oder von den Ausländern verfassten Chroniken der russischen Städte vergeblich nach Reflexionen über die zeitgenössische politische und soziale Situation. Zu erwarten wären sie hier aber schon, zumal die Vermittlung des kulturellen Wissens über das Land der Zielsprache und der Zeitgeschichte seit langem eines der Ziele der älteren Fremdsprachenlehrwerke war (Glück, Häberlein & Schröder 2013: 286). Entweder schreiben die Verfasser im Sinne des zeitresistenten Slogans „Business as usual“ für den eigenen Gebrauch, ohne auf die geschichtlichen Umbrüche Rücksicht zu nehmen, oder sie schreiben aus Vorlagen ab, die diese Ereignisse nicht berücksichtigen, weil sie u. U. nicht aus Pskov oder Nowgorod stammen. Die Quellen sind zwar unabhängig voneinander entstanden, weisen aber gerade in tradierten Stereotypen viele Gemeinsamkeiten auf. So ähneln sich die gereimten Vorreden bei Fenne und im anonymen „Rusch Boeck“ in der Übermittlung der stereotypen Einstellungen zur Esskultur.¹² Alleine schon aufgrund ihres gereimten Charakters stellen sie die Autorschaft von Fenne und Newenburgk in Frage, hier handelt es sich wahrscheinlich um die Übernahme
Bei Heinrich Newenburgk fehlt die Vorrede; der Text enthält gar keine expliziten metasprachlichen Äußerungen. Hingegen ist die Vorrede im „Rusch Boeck“ besonders ausführlich und verzeichnet auch allgemeine Ratschläge zum Verhalten in Russland.Vgl. auch andere Stereotypen: Rossüsche landt Ist nycht Ryck van Goldt vnd sylber sunder | mit Volck (RB 36, 16 – 17 und 43a, 15), wohl die Übersetzung des russischen Sprichworts Naša zemlja bogata ljudmi da ne zolotom.
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aus einer (gemeinsamen?) Vorlage.¹³ Tabelle (1) führt vergleichend die entsprechenden Stellen aus beiden Quellen an: TF 14
RB Titelblatt – a
Wiltu In Rußlandtt de Sprake Lehren, So laht dÿ van den Rußen nicht vorföhren Holdtt dÿ na der dutschen wise, Vndt Esche waken frische Spise, Vndt laht dÿ Richten An alß werestu Ein Eddellmahn. Heffstu nicht in dem wahte, So Sprick frier tho Mahte. Mach Idt dÿ mit gude Nicht gelingen So laht de wahte auer de dehle Springen. wittbrodt hordt dÿ tho ehtenn wultu anders de wahrheidt wehten Se geuen dÿ sunst woll kaff vnd dreck. Ock hebben se woll vorgalsterdt speck. Full flesch daruen se woll vor Einem bringen. Datt dunckedt Ehnen nicht wesen geringe. […] Botter laht dÿ Bereiden Na der dutschen wise, der vorgidt och nicht In der spise. Se geuen di suß de dar is gesmoltenn Nimb du Leuer de dar Is gesolten Laht dÿ güdtt beer bruwen. So werdt Idt dÿ hernahmahls nicht geruwenn.
He holde sück na der düdeschen wise vnd sprecken watt he hebben wüll/ So holden sie sine Spüse woll bi pryse/ Heffstu nicht Ihn den Vatte/ So sprück tho Rechter matte Vnd sehe sie sur Ahn/ So halten sie die vor Einen strengen man Denn sie doch woll vatte ramen/ Deß sück dat heillose Volck nicht grodt schemen Mach Idt di nicht mith gude gelingen/ So lathe Ene fri de fatte na den Koppen sprüngen/ Here thue Broder fücke Idt schal di wol gelücken/ Wultu Ihn Rußlandt de schpracke leren/ so lathe die vor den hungerigen Russen nicht vorferen/ Lath die gudt ber bruwen so werth Edt di nicht ruwen/ Lath die Eine tunne don na der düdeschen mate/ Dat die mach filichte kamen tho rechter mate Aber bate/ With brot herth di tho etten/ Wultu Anderst die warhei | weten Se geuen die sus wol kaff edder dreck/ Ock hebben sie wol vorgarsteltt speck/ Botter lath di bereden na der düdeschen wüse Vnd der vorgidt ock nicht Ihn d[er] spise/
Die Stellen müssen als Zeugnisse davon verstanden werden, dass ein fernes Land zunächst befremdlich wirkt und Distanzierung auslöst. Sie sind aber auch Zeug-
Glück, Häberlein & Schröder (2013: 84) bemerken zwar, dass sich einzelne sprachkundige Kaufleute als Übersetzer literarischer und theologischer Werke betätigten. Wenn überhaupt, dann wäre es auch für Heinrich Newenburgk anzunehmen. Allerdings kann es nicht für Fenne gelten, dessen Sprachlehrbuch aber früher als das von Newenburgk entstanden ist und bereits eine gereimte Vorrede enthält. Aus diesem Grund nehme ich bei diesem Teil der Bücher eher eine Übernahme an.
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nisse vom ausgeprägten Bewusstsein über die Unterschiede und von reichen Erfahrungen, die auf Annäherung oder implizites Verständnis gerichtet sind. Sie vermitteln das Wissen über das angemessene Verhalten, das trotz aller länder- und kulturspezifischen Besonderheiten für einen Kaufmann beim Handel und im alltäglichen Leben im fremden Ausland zielführend und gewinnbringend sein soll.
3 Sprachgebrauch als Indiz für Sprachbewusstsein 3.1 Wortschatzteil Die umfangreichsten Teile aller drei Sprachlehrbücher sind dem Wortschatz gewidmet. Sie enthalten ein nach Sachgebieten geordnetes Vokabular oder Wörterbuch, das aus einzelnen Wörtern, formelhaften Wendungen (zumeist Routineformeln) und konzeptionell mündlichen Sätzen besteht. Die Sprachlehrbücher enthalten den allgemeinen Wortschatz aus den Bereichen „Familie“, „Jahreszeiten“, „Essen und Trinken“, „Haus und Hausteile“, „Tierwelt“ oder auch „Gott und religiöse Feierlichkeiten“. Das sind die Themen, die offensichtlich zum kollektiven Metawissen über die Textsorte Sprachlehrbuch gehörten und sich wie ein roter Faden durch alle niederdeutsch-russischen Quellen ziehen; sie werden dort allerdings in unterschiedlicher Ausführlichkeit behandelt¹⁴ und sind nicht auf diese Quellen beschränkt.¹⁵ Die Voranstellung der Zielsprache und die Unterordnung der Muttersprache, die Themenauswahl und die Gliederung des Wortschatzes sind Beweise dafür, dass sich dieses Metawissen teilweise aus der humanistischen Lexikographie und den früheren (bereits aus der Antike überlieferten) Vokalbellisten und Wörterbüchern speist, die ebenfalls mehrsprachig (Latein und diverse Volkssprachen) angelegt und entweder für Lateinunterricht konzipiert wurden oder aber einen gelehrten enzyklopädischen Anspruch erhoben. Einige thematischen Bereiche haben einen universalen Charakter (vgl. „Van den veer elementenn“ TF 31, „Van tüden des Jars vnnd dagen werme Auch/ tunden“ RB 11) und
Am ausführlichsten ist hier nach wie vor Fenne, das Vokabular findet sich bei ihm auf den Seiten 31 bis 130 des Sprachlehrbuchs. Das anonyme „Rusch Boeck“ enthält hingegen sehr detaillierte Abschnitte „Van Edelen Kreüteren“ (RB 47a) und „Van Seüden Gezeüg“ (RB 48a), die bei Fenne in dieser Form nicht verzeichnet sind. Vgl. ähnlich das süddeutsch-italienische Sprachlehrbuch Georgs von Nürnberg (Pausch 1972; Glück 2002: 418 – 427; Glück & Morcinek 2006; McLelland 2004).
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stehen ohne den unmittelbaren Bezug zu Russland, so etwa Tiernamen lutoi sver – louwe, slon – eleffandtt, verblud – kameell, oblesiana – ape (TF 73 – 74). Durch die Anknüpfung an die Traditionen der humanistischen Lexikographie lässt sich in meinen Augen auch das Vorhandensein der Teile erklären, die aus Sentenzen und Sprichwörtern bestehen. Bei Heinrich Newenburgk, Tönnies Fenne und im anonymen „Rusch Boeck“ sind sie durch das ganze Vokabular gestreut; bei Fenne auch separat mit der Überschrift poslovozy „Sprichwörter“ als eine Sammlung moralvermittelnder Sentenzen auf Hochdeutsch am Anfang des Buchs (4, 7 und 8) und auf Russisch mit Übersetzung ins Mittelniederdeutsche am Ende (469 – 482) aufgeführt. Fenne bzw. ein anderer Schreiber begründet ihre Auflistung durch die Häufigkeit im Russischen (TF 469, 1). Ich werte dies als ein Indiz für einen ganz anderen Stellenwert von Sprichwörtern im Sprachgebrauch des 16. Jahrhunderts, der auch dem Verfasser des Sprachlehrbuchs bewusst gewesen sein muss.¹⁶ In der Gewichtung der einzelnen Teile, der allgemeinen verstärkten Orientierung an der Praxis der Alltagskommunikation und den verwandten Sprachen (eben nicht Latein) unterscheiden sich die kaufmännischen Lehrbücher von ihren humanistischen Vorläufern aber erheblich. Denn im Gegensatz zur humanistischen Lexikographie verfolgten die Sprachlehrbücher nicht das Ziel, den gesamten Wortschatz erschöpfend zu beschreiben, sondern den Nutzer an die Themen der alltäglichen Kommunikationssituationen eines Kaufmanns heranzuführen. Die Sprachlehrbücher enthalten deshalb zahlreiche Gruß- und Geschäftsbrieffloskeln, Bezeichnungen für Berufe und russische religiöse und weltliche Obrigkeit, Metalle, Pelz- und Salzarten, Kräuter, Stoffe und Farben, russische Währung, Schiffstypen, einzelne Wörter aus dem Bereich der Gerichtund Rechtsangelegenheiten, Zahlen oder Personen- und Ländernamen. Ausgehend von ihrer täglichen Kommunikationspraxis zeigen sich die Verfasser der Sprachlehrbücher als gute Didaktiker mit einem differenzierten Sprachgefühl. Als sie nach Russland kommen, können sie kein einziges Wort Russisch. Und trotzdem führt z. B. der Verfasser von TF (128) alle Farbbezeichnungen im Instrumental an, einer Konstruktion, in der der Kasus synthetisch am Adjektiv markiert wird, die im Russischen geläufig ist und ins Deutsche nur mit Hilfe einer Präpositionalphrase umschrieben werden kann (x[eine Ware] von der[Farbbezeichnung] Farbe), so aber nicht usuell ist. Die Verfasser begehen ferner nicht den Fehler, der selbst die moderne Fremdsprachendidaktik jahrzehntelang geprägt hat, das Erlernen von Kollokationen und anderen Phraseologismen als Zu diesem Stellenwert insgesamt vgl. Mieder (2007). Zur herausragenden Rolle der formelhaften Wendungen im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Unterricht vgl. Filatkina, Gottwald & Hanauska (2009) und Filatkina (2009; 2013b). Zu Sprichwörtern in diesen Quellen vgl. Filatkina (2013a; im Druck).
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Bestandteil des Sprachunterrichts erst ab der Oberstufe für möglich zu halten. Formelhafte Wendungen müssen sie für wichtig für die adäquate Kommunikation gesehen haben, denn sie schreiben sie auf bzw. übernehmen sie aus ihren Vorlagen als unabdingbaren und geläufigen Teil des Wortschatzes. Einzellexeme bieten die Verfasser oft wenn nicht mit den dazu gehörenden Kollokationen, dann in ihren typischen syntagmatischen Umgebungen an, vgl. die Beispiele (3a) und (3b): (a) sapad solntze saleslo lunno na dwory swetlo na dwory switaJetli widischi RannuJu swesdu (b) sonsa ffʒoschlo solnsa Iasno solnsa poshlo fftutzu solnsa poshlo sales
Nüder gang die sonne ist vntergaen lüchte vp dem hoff Eft daget siestu den morgen sterne. (RB ) de sunne is vpgegahn de sunne schinedtt de sunne is achter de swerke de sune is tho gade gegahn. (TF )¹⁷
Die Vokabellisten transportieren sprachliche Netzwerke und sind ergiebige Quellen für die Untersuchung der deutsch-russischen Entlehnungen. So enthält das anonyme „Rusch Boeck“ den Eintrag Chlebnik. Aber peckar. becker (22a), in dem das heute nicht mehr geläufige russische Lexem хлебник der aktuell immer noch gebräuchlichen Entlehnung aus dem Deutschen пекарь – Bäcker gleichgestellt wird. Für das Deutsche denke man an das Lexem Zobel aus dem russischen соболь (Kluge 2002). Nur an wenigen Stellen ist die Übersetzung der russischen Einträge nicht vorhanden, so im „Rusch Boeck“ bei Pferdefarben (33a), der Auflistung von Obst- und Beerenarten (38), Edelgesteinen (39a) und Seidenarten (48a), oder stark vom Deutschen beeinflusst, wie bei der Erklärung der zweistelligen Zahlen, die sowohl in Fennes Buch (TF 545 – 554) als auch im „Rusch Boeck“ (37– 37a) mit der für das Deutsche typischen Angabe der Einerstelle, im Russischen allerdings mit der Zehnerstelle beginnen, vgl.: 26 Schest da dwatzet ‚sechs und zwanzig‘ (RB 37); tzetyre da devenosto 94 ‚vier und neunzig‛ (TF 551).¹⁸
Vgl. die überwiegend syntagmatisch angelegte Darstellung des Wortschatzes bei den Beschreibungen von Pferden und ihren Handlungen (77– 78) sowie von Pelzarten in Fennes Sprachlehrbuch. Hammerich/Jakobson (1970, II) weisen im Vorwort zur Edition von Fennes Buchs sowie im Text der Ausgabe konsequent auch auf Fehler und Missverständnisse hin. Vgl. auch systematisch Hendriks (2014).
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Sonst überraschen die Übersetzungen durch ihre Korrektheit, insbesondere wenn man die Tatsache berücksichtigt, dass der Spracherwerb für die Verfasser dieser Quellen ein „learning by doing“-Prozess und nicht die einzige Beschäftigung während des Aufenthalts in Russland war. Dass der zwischensprachliche Transfer dennoch nicht immer (einfach) funktionierte, zeigen die Stellen, an denen die Verfasser versuchen typisch russische Realienwörter in ihre Muttersprache zu übertragen. Das Bewusstsein für die Spezifik solcher Lexeme ist implizit vorhanden, allerdings nicht deutlich zur Sprache gebracht. Manchmal sehen die Verfasser bei ihrer Übersetzung von der sonst für den Vokabelteil üblichen Notation der Äquivalente ab und paraphrasieren die russischen Einträge, indem sie diese an die vertrauten Realien der deutschen Sprache anzulehnen versuchen. Tabelle 2 fasst einige solche implicit understanding-Stellen exemplarisch zusammen: Beleg
Belegstelle
Kreschenie – hüllige drey Konünge Car – Eine Gerünger Khaiser sermaga – van schlechten tüch Rock Sermjega – Rock van Wattmen saraffan senskoi. – Ein wüwer Rock Kromysl – Ein Krumb bog[en] da man die Amern darup dregt quaß. – Dünne bier Quas – ruschwÿnn Isba – Darnytz Isʒba – dorntʒe by der erde Pirogÿ – Eÿerbrodtt Pirogi – posteÿden Sorotʒka – Rusch Hembtt | mit siden stickett Kafftan – Vnderrock Kafftan – lüff peltz Perina – Rusch Bedde Laptÿ – Bastenschoe Kallita – Tasche Kalita – Ein taschcke Trinosʒok – dutsch Pott Gorsok – Rusch Pott Guslei – Harpe
RB a RB a RB TF RB RB RB TF RB TF TF TF TF TF RB TF TF TF RB TF TF TF
Die Orientierung am Sprachgebrauch und die im Gegensatz zu humanistischen didaktischen Sprachlehrwerken geringen stilistischen und rhetorischen Ansprüche manifestieren sich in einem weiteren Abschnitt des Vokabularteils. Die Sprichwörtersammlung wird im Buch von Tönnies Fenne (469 – 482) durch
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„schalkhafftige Sprichworter“ (485 – 494) ergänzt. Gemeint sind hier vor allem obszöne Reimpaare, Routineformeln und Schimpfwörter. Ihr Vorkommen mag überraschen, allerdings sind sie ein wesentlicher Bestandteil all unserer Quellen und der vergleichbaren Sprachlehrbücher aus dem süddeutsch-italienischen Handel (McLelland 2004). Sie finden Eingang bereits in die ältesten überlieferten Sprachlehrbücher, etwa in die „Pariser Gespräche“; die ‚Tradition‘ erlischt auch in den zwei- bzw. mehrsprachigen Gesprächsbüchern und Grammatiken des 17. und 18. Jahrhunderts nicht. Glück, Häberlein & Schröder (2013: 280 – 281) lesen diese Teile der barocken Sprachlehrwerke in Anlehnung an Dinges (1989; 1993) und Schreiner & Schwerhoff (1995) vor dem Hintergrund des hohen Stellenwerts, den die persönliche Ehre in der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft hatte und die es im Fall von verbalen Injurien auch in einer fremden Sprache zu verteidigen galt. Auch wenn der Kult der Ehre, wie z. B. auch Frömmigkeit, für den kaufmännischen Alltag auch gegolten haben möge, koexistiert er hier doch mit der Direktheit des Umgangs, die gerade im Bereich der Beschimpfungen (übrigens auch unter Adligen und Frauen, vgl. Schubert 2012: 177– 185) für einen großen Variantenreichtum sorgt. Bereits für das Mittelalter belegen historische Dokumente wie Stadtratsprotokolle und die Ordnungen der Hanse im Nowgoroder Petershof, dass Beschimpfungen, insbesondere Berufsschelte aus Konkurrenzneid, als Gewalt verstanden wurden, für die es hohe Geldbußen gab. Bedrohlich wirkten nicht unbedingt die individuellen Konsequenzen dieser Gewalt, sondern ihre kollektiven Auswirkungen (etwa auf den Frieden in einer Stadt, Nachbarschaft, Gemeinde usw.). Der Schreiber von Fennes Buch nimmt darauf keine Rücksicht und begründet die Aufnahme der Beschimpfungen in sein Sprachlehrbuch lediglich durch ihre Geläufigkeit im Russischen: „Volgen Etʒliche schalkhafftigen | Sprichworter de de Rusʒenn | Ihn Ehrer sprake Bruken“ (485 oben).
3.2 Grammatikteil Im Vergleich zur Lexik wird der expliziten Vermittlung der Grammatik etwas weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Im anonymen „Rusch Boeck“ nimmt dieser Teil genau eine Seite ein (40) und beschränkt sich auf die Personal- und Fragepronomina, die stellenweise in Präpositionalphrasen integriert sind; bei Heinrich Newenburgk fehlt der Teil komplett. Eine Ausnahme stellt das Buch von Fenne dar: Obwohl auch hier die grammatischen Ausführungen nicht vollständig sind (Bll. 131– 184), sind die äußerst systematische Gliederung und das Bemühen des Verfassers, ganze Flexionsparadigmen zu erstellen, die syntaktischen Strukturen des gesprochenen Russisch abzubilden und die lateinischen grammatischen Kategorien auf das Russische zu übertragen, beeindruckend, insbesondere mit
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Blick auf die Tatsache, dass er dies im Jahr 1607 fast 100 Jahre vor dem Erscheinen der ersten Grammatiken des Russischen und auf Russisch ganz eigenständig tut. Dass es ihm nicht immer leicht fällt, veranschaulichen z. B. der Abschnitt zu Familiennamen, die im Russischen nach allen Kasus und Numerus verändert werden können, oder die Versuche, die Infinitivformen von Verben abzuleiten, bei denen Fenne nur flektierte Formen im Ohr hatte und die im Russischen unterschiedlich auslauten können (Bll. 161– 184). Auch für den Verfasser des Buchs von Fenne sind (Personal‐)Pronomina und Konstruktionen Präposition + Pronomen wichtig für den korrekten Sprachgebrauch, ihnen widmet er mehrere Seiten (Bll. 149 – 157). Aus dem nominalen Bereich wählt er die Pluralbildung bei Adjektiven und Substantiven (Bll. 131– 132), die Komparativbildung der Adjektive (Bll. 133 – 138). Adverbien (Bll. 139 – 142) stehen oft in einer Reihe mit Partizipien II und finiten Verbformen (3. P. Sg. Ind. Präs.), die im Russischen – vom Deutschen her betrachtet – als Bestandteile einer Prädikatsgruppe erscheinen mögen (vgl. pospeet – idt werdt ferdich, 140, 16). Der Bezug zur Mündlichkeit ist in Abschnitten zu Partikeln (Bll. 158 – 159) deutlich spürbar. Vollständig sind die verbalen Flexionsparadigmen (Bll. 145 – 148), die mit Blick auf den „Sitz im Leben“ der kaufmännischen Sprachlehrbücher auch die Imperativformen einschließen. Die Korrektheit des sprachlichen Ausdrucks tritt im Allgemeinen etwas hinter die Fähigkeit zurück, sich in einer fremden Sprache überhaupt irgendwie verständigen und sie verstehen zu können. Das ist ein kommunikativer Ansatz, der modern anmutet und der dem antiken und frühmittelalterlichen Lateinunterricht mit Grammatik als Basiskompetenz völlig fremd war. Und trotzdem lassen die niederdeutsch-russischen Sprachlehrbücher vermuten, dass sie auch die Tradition der lateinisch-volkssprachigen Grammatiken berücksichtigen. So sind die frühsten Grammatiken des Deutschen vor allem durch prosaische Übersetzungswerke in humanistischer Tradition mit beigefügten Interpunktionslehren zum leichteren Lesen des Textes, durch Kanzlei- und Formularbücher mit orthographischen Teilen, Werke für den Schreib- und Leseunterricht mit entsprechenden grammatisch-orthographischen Abschnitten, Wörterbücher und Poetiklehren mit angeführter Grammatik vertreten (Moulin-Fankhänel 1999). Sie enthielten unterschiedlich ausführliche Beschreibungen des Alphabets mit Hinweisen zur richtigen Aussprache beim lauten Vorlesen. Die Leselehren endeten oft mit einer Sammlung von Texten (meistens religiösen Charakters, etwa Predigten), mit Hilfe derer das Lesen geübt werden sollte. Solche Ausführungen zu PhonemGraphem-Korrespondenzen enthalten auch meine Quellen. Tönnies Fenne bzw. der Schreiber seines Buchs ist in seinen Beschreibungen der Aussprache und der russischen Graphien wiederum am ausführlichsten, obwohl sie auch bei ihm nur eine Seite einnehmen (23) und eine Art „Gebrauchseinleitung“ für den Leser seines Buches darstellen. Zur Übung fügt er auf den Bll. 507– 510 sämtliche Gebete
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und auf Bl. 24 das Vaterunser¹⁹ hinzu, die komplett auf Russisch bzw. Kirchenslawisch verfasst sind und lediglich mit deutschen Überschriften versehen sind. Wenn man diesen Teil des Sprachlehrbuchs im Kontext der humanistischen Grammatikographie betrachtet, wird sein Nutzen für einen deutschen Kaufmannsgesellen im orthodoxen Russland verständlich.²⁰ Nach wie vor ungeklärt muss aber die Frage bleiben, wie Fenne die Gebete auf Polnisch (Bll. 527– 531) in Pskov nutzen konnte, wie sie in sein Buch gelangen und wozu er (bzw. jemand anderer) sie teilweise ins Deutsche übersetzt. Auch dieser Abschnitt ist als Zeuge für die in der Geschichte verloren gegangenen komplexen Kompilationen auf dem Entstehungsweg des Buches zu interpretieren. Das Entstehen der ältesten Grammatiken der Vernakularsprachen erklärt sich ferner aus dem praktischen Bestreben, den Schreibern in städtischen und fürstlichen Kanzleien ein Werkzeug in die Hand zu geben, mit dem sie lernen können, Deutsch richtig zu schreiben. Anknüpfend an die antiken Traditionen verstehen z. B. die so genannten Formular- und Kanzleibücher die Grammatik vor allem als die Kunst des korrekten Schreibens. Zur Vermittlung dieser Kunst enthalten sie mehr oder weniger vollständige Briefmuster bzw. formelhafte Wendungen, die für den Gebrauch in der Geschäfts- und Privatkorrespondenz gedacht und an sozial unterschiedliche Empfängergruppen adressiert sind. Auch darauf nimmt Fennes Buch Bezug: Es enthält auf den Bll. 264– 269 das Kapitel „Von titulenn“ und russisch-hochdeutsche sowie auf den Bll. 531– 538 polnisch-hochdeutsche vorgefertigte Briefmuster mit der Überschrift „ein forme zuschreiben.“ Insbesondere die Einträge auf den Bll. 265 – 269 stellen musterhafte Ausschnitte aus den Briefen norddeutscher Kaufleute an die russische (Stadt)obrigkeit dar und erinnern an die Zeit der Wiederbelebung der Handelsbeziehung zwischen den beiden Ländern im Jahr 1599. Dabei werden formelhafte Wendungen wie das Kreuz küssen (TF 267, 3) verwendet, die noch zur Blütezeit der Hanse eine Entlehnung aus dem Russischen in die niederdeutsche Urkundensprache war, außerhalb des russisch-hansischen Handelskontextes nicht vorkam und in diplomatischen und Handelsverträgen als eine oft verbreitete ritualisierte Eidesleistung fungierte. Laut Squires (2009: 99) gehörte die Formel zu einem festen Bestandteil des niederdeutschen Schriftenverkehrs mit Nowgorod und zeugte davon, dass sich die hansischen Kaufleute „in ihren persönlichen geschäftlichen Sachen […] an die rechtlichen Sitten ihrer russischen Handelspartner gewöhnten“ und „den religiösen und kulturellen Unterschied in den Hintergrund zu schieben lernten, weil sie die hohe rechtliche Im anonymen „Rusch Boeck“ vgl. fol. 5a. Die russische Paraphrasierung des Buchs Genesis, Kapitel 3 „Der Fall des Menschen“ auf Bll. 497– 502 hat m. E. die gleiche Funktion. Sie ist allerdings transliteriert und mit deutschen Übersetzungen versehen.
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Bedeutung der einheimischen Rituale wahrnehmen konnten“ (Squires 2009: 88). Die Stelle bei Fenne belegt entweder die Verwendung der Formel außerhalb Nowgorods oder liefert einen zusätzlichen Beweis für die Benutzung der älteren Vorlagen, die auch in Nowgorod hätten entstehen können. Dieser Teil des Sprachlehrbuchs unterscheidet sich übrigens auch paläographisch vom Rest, stammt von einer anderen Hand und ist auf Hochdeutsch verfasst. Markant ist der Gebrauch der Wendung im anonymen „Rusch Boeck“ (90a, 6 – 7): Sie verlässt hier den offiziellen schriftsprachlichen Vertrags- und Urkundenkontext und bekräftigt die Beschuldigung im Diebstahl: Du heffst myne war gestolen Ick will darup krütz küssen.
Abbildung 1: Namen und Varianten der einzelnen Buchstaben im Sprachlehrbuch von Heinrich Newenburgk (HN, fol. 17v–18r)
Die Sprachlehrbücher gehen aber weiter und vernetzen die lateinische grammatikographische Tradition mit der Tradition der russischen Schreib- und Leselehren, der so genannten bukvari oder azbuki. Diese Tradition geht auf das Ende des 16. Jahrhunderts zurück und zeichnet sich u. a. durch detaillierte Beschreibungen aller graphischen – oder genauer kalligraphischen – Varianten jedes einzelnen Buchstaben aus. Vergleichbare Werke für das Deutsche kennen diese Ausführlichkeit m. W. nicht in diesem Maße. Der norddeutsche Oberdolmetscher Heinrich
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Newenburgk hält das für wichtig und eignet sich die Tradition der russischen bukvari an: In seinem vorwiegend für den mündlichen Gebrauch konzipierten Sprachlehrbuch stellt er jeden Buchstaben einzeln vor, indem er seinen Namen an den Rand notiert und die Varianten sorgfältig mitverzeichnet, vgl. Abb. 1.²¹ Die Wortschatz- und Grammatikteile bereiten den nächsten Teil des Sprachlehrbuchs – den Dialogteil – vor, indem sie viel Material enthalten, das sich dort wiederfindet. Der Dialogteil kann seinerseits auch der impliziten Vermittlung der Lexik und Grammatik gedient haben.
3.3 Dialogteil Die Traditionen der humanistischen Lexikographie und Didaktik finden auch im Dialogteil ihren Ausdruck. Neben dem Vokabular sind fiktive Musterdialoge²² und modellhafte Gesprächssequenzen einer der umfangreichsten Abschnitte in allen Quellen (TF 189 – 464; RB 7– 8a, 20 – 21a, 27– 27a, 33, 42a–45a, 54– 94a; HN 9r– 12v). Fiktiv heißt in diesem Zusammenhang, dass die Gespräche keine Protokolle der in dieser Form tatsächlich stattgefundenen Dialoge sind, sondern mit dem Ziel des Erwerbs der russischen Sprache für die Sprachlehrbücher von ihren Verfassern erfunden wurden.²³ Spätestens seit Sokrates und Platon in der griechischen Tradition und Donatusʼ Ars minor in der römischen Antike finden Dialoge festen Eingang in Lehrwerke zum Spracherwerb, zunächst zum Erwerb des Lateinischen, danach auch der Vernakularsprachen. Sie entwickeln eine typologische Vielfalt, die sich im Verlauf der Geschichte auf Mikro-, Meso- und Makroebene stets verändert (Kilian 2002: 97; Kilian 2005: 59 – 135). Die Vermittlung des Sprachgebrauchs in Frage-Antwort-Form ist untrennbar von der Vermittlung der Moral und Gottes Lehre, des enzyklopädischen Wissens und kann auch als mnemotechnisches Hilfsmittel zum Auswendiglernen der fremdsprachigen Strukturen fungieren. Die Memorisierung ist aber bei Weitem nicht die Eigenschaft, die den Einsatz der Gespräche im Sprachunterricht bzw. in Sprachlehrbüchern erklärt. Gleich mehrere Autoren äußern sich metasprachlich dazu und versprechen sich davon eine Erleichterung des Sprachlernprozesses für Schüler und/oder Adressaten ihrer
Ähnlich auch TF 557– 566. Terminologie nach Kilian (2002: 97) und Kilian (2005: 45 – 46). Kinzel & Mildorf (2012: 14) sprechen in Bezug auf literarische Werke über „imaginary dialoques that are not necessarily dialogues in their own right and ‚do something else‘“. Für Culpeper & Kytö (2010: 19) sind historische Dialoge unterschiedlicher Gattungen „spoken interaction as writing“.
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Werke; ab dem 17. Jahrhundert wird der Topos der Erleichterung auch in die Titel aufgenommen.²⁴ Zahlreiche Parallelen sowohl innerhalb der niederdeutsch-russischen Sprachlehrbücher als auch zu den ähnlichen Quellen aus dem italienisch-süddeutschen Handel (Pausch 1972; Glück 2002: 418 – 427; Glück & Morcinek 2006; McLelland 2004: 212 – 220) lassen feststellen, dass die Verfasser eben auf die erwähnten Traditionen zurückgreifen, über ein ausgeprägtes Bewusstsein für didaktische Gespräche verfügen und diese nicht ganz frei erfinden. Für die historische Dialogforschung werfen die Gespräche zu Recht methodische Fragen nach ihrer Authentizität und ihrem Stellenwert für die Erforschung der mündlichen Traditionen des Formulierens auf,²⁵ die auch für die hier untersuchten Quellen zwar von Bedeutung sind, aber nicht ausführlich diskutiert werden können.Wenn die Annäherung an natürliche Vorstellungen von einer angemessenen Kommunikation nicht das Ziel der fiktiven Gespräche wäre, müsste ihre Verbreitung im Sprachunterricht grundsätzlich hinterfragt werden. Zusammen mit Kilian (2002: 108) gehe ich davon aus, dass die Gespräche natürlich nur einen mittelbaren Zugang zur historischen Mündlichkeit gewähren, in ihren Basisregeln aber „historisch wie kulturell besonders geprägte Normen des Gesprächs befolgen“ und deshalb schon „etwas über ihre natürlichen Verwandten verraten […].“²⁶ Mit Blick auf die Fragestellung des Beitrags konzentriere ich mich auf die Analyse des typischen Gesprächsverlaufs; die Tatsache, dass die deutschen Teile Übersetzungen aus dem Russischen sind, ist mir auch bewusst.²⁷ Wo die Dialoge anfangen und wo sie enden, ist nicht immer eindeutig feststellbar, da die Autoren von jeglicher Gliederung absehen, die Gespräche unvollendet abbrechen und/oder sie einige Seiten später wieder aufnehmen können. Dies beweist die Tatsache, dass die Quellen nie für den institutionalisierten Sprachunterricht gedacht waren und eher einen persönlichen Spracherwerbsprozess vor Augen führen. Die Gesprächsteile sind auch nicht konsequent als wirklich längere zusammenhängende Dialoge zu verstehen, sondern als kürzere Frage-Antwort-Sequenzen mit nur einem Sprecherwechsel, die genauso wie der Ich verweise exemplarisch auf eine kleine Auswahl: die deutsch-italienische Grammatik Matthiasʼ von Erberg (1703), die deutsche Grammatik für Engländer von Benedictus Beiler (1735), die deutschen Grammatiken für Franzosen von Pierre des Champs (1690) oder Matthias Kramer (1696). Die Reihe ließe sich durch zahlreiche andere Werke fortsetzen. Vgl. ganz unterschiedliche Positionen in Bax 1983; Enninger 1990; Kilian 2005: 23 – 31; Rehbock 2001. Vgl. ähnlich am englischen Material und im Paradigma des sprachlichen Nähe-und-DistanzModells Jucker (2000: 24) und Culpeper & Kytö (2010: 14– 18). Aus den Gründen der Verständlichkeit verzichte ich allerdings auch in diesem Teil auf die Angabe der russischen Einträge.
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Vokabularteil eine Hilfe im alltäglichen Leben und/oder beim Abwickeln von Handelsgeschäften leisten sollen. Stellenweise sind es auch gar keine Gespräche, sondern Auflistungen von Routineformeln zu diversen Kommunikationssituationen, z. B. zu Begrüßung und Abschied (TF 189 – 190) oder zu verschiedenen Verkaufsetappen (RB 63a). Die Einträge können auch nach dem zugrunde liegenden syntaktischen Muster gruppiert sein und bieten unterschiedliche Möglichkeit der lexikalischen Füllung an, vgl. Beispiel (4).²⁸ Davon, dass sie nicht ausschließlich an der Produktion orientiert sind, sondern auch die Rezeption/das Verständnis fördern sollen, zeugt Dialog (5), der die Ankunftssituation eines deutschen Kaufmannsgesellen und seine Unterhaltung mit dem russischen Gastwirt oder einem russischen Kaufmann imitiert. Der Russe begrüßt als erster und redet den deutschen Kaufmann(sgesellen) mit mein lieber Deutscher an. Neben dem Personalpronomen Du ist die Anredeform mein lieber/mein lieber Freund in niederdeutsch-russischen Quellen ebenfalls belegt, obwohl nicht in der gleichen Frequenz. Dass diese Anrede nicht auf die Kaufmannsgespräche restringiert war, zeigt Kilian (2002: 361– 362) für katechetische und sokratische Lehrgespräche im schulischen Kontext. Die russische Begrüßungsformel bit‘ chelom ‚mit dem Kopf schlagen‛ (aruss. бити челомъ), die gleichzeitig ein stark semiotisiertes Ritual der Respektbekundung darstellte, gibt Fenne bzw. ein der Schreiber seines Buchs mit den für das Mittelniederdeutsche typischen und auch im Sprachlehrbuch mehrfach belegten Wendungen geluche tho „Glück/Wohlwollen Du/Dir!“ und viele guts sagen von […] wieder, ohne auf die kulturspezifischen Besonderheiten einzugehen. Auch wenn die Gegenüberstellung nicht kommentiert ist, ist sie sinngemäß korrekt und zeugt folglich davon, dass Fenne/der Verfasser über den russischen Brauch informiert war.²⁹ (4) Dÿn laken Iß vorlegen, Du heffst Idt nicht | bÿ tÿden vorkofft. Dÿne laken sindt vorlegen. Dÿne laken sindt voroldedt, vnd Nicht | schon wan faruen. Dÿn laken Iß voroldedt vnd nicht schon. Mÿn laken Iß dichte. Mÿne laken sindt dichte. Din laken Iß vorfaruedt. Dÿne laken sin vorfaruedt. Dÿn laken Iß sunder Egge. (TF 453)
Oft wird zu solchen Gruppierungen an den Stellen gegriffen, die einen Kaufmannsgesellen für die Befehlserteilung an den Diener, einen Gehilfen bzw. Handelsvermittler wappnen sollen (vgl. exemplarisch TF 194). Vgl. ausführlich zu dieser Formel und dem dahinter stehenden Ritual Filatkina (2013a).
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(5) A: Geluche ʒu mein Lieber Teutscher wo hefft sich Gott diner Erbarmedtt vp dem wege, oderr Reÿse, Ich soll dÿr viele guts sagen von Hansen. B: So hen Gott hefft sich miner erbarmedtt Ich sÿ gesundtt tho dÿ gereÿsedtt. (TF 191, 6 – 8; 10 – 11)
An den meisten Dialogen sind zwei Personen beteiligt: Verkäufer vs. Käufer, Kaufmann vs. Diener, Kaufmann vs. Gastwirt; in seltenen Fällen stellen sie einen Austausch zwischen drei bzw. vier Personen (z. B. zwei Kaufleute und ein Vermittler, der Russisch kann; zwei Kaufleute und ein rechtskundiger Vermittler) dar. Welche Themen werden für wichtig gehalten und deshalb für die Aufnahme in ein Sprachlehrbuch ausgewählt? Mehrere längere und kürzere Sequenzen widmen sich der Bekanntmachung und Begrüßung (TF 274– 277; RB 59 – 61a; HN 9r–9v); dem Verhandeln über den (zu hohen) Preis (TF 279,19 – 283, fortgesetzt in 288,16 – 290,11), der Kaufform (Einzel-, Großhandel) und der Form der Bezahlung (gegen Ware, gegen Geld, auf Kredit), der Qualität der Ware (TF 291– 292) bzw. der Kommunikation beim Essen oder der Einladung dazu (TF 194– 196, 1– 5). Die Einladung zum gemeinsamen Essen scheint ein wichtiges und stark formalisiertes Ritual gewesen zu sein, mit dem jedes Geschäft anfing, während dessen die Ware beschaut und bewertet wurde, bei dem erste Verhandlungen anfingen und die Basis für eine längerfristige Zusammenarbeit gelegt wurde. Wie auch schon der Wortschatzteil sind die Gespräche natürlich vor allem auf die praktischen Bedürfnisse abgestimmt, aber sie weisen auch einen lehrhaften Charakter auf. Am deutlichsten kommt er durch die Verwendung der Sprichwörter zum Ausdruck, die eine Gesprächssequenz abschließen können, so z. B. im RB 46a: Sütte slimme Aber kru[m]me Vnd richte recht […] Ick sie dyn richter nicht gott sey dyn Richter […] Rüchte Einen Anderen nichts so werdestu selbest nicht gerichtet. Auch diese Themenauswahl und die Verwendung der lehrreichen Sprichwörter weisen Parallelen mit ähnlichen Quellen aus dem süddeutsch-italienischen Handel auf (McLelland 2004) und können als Indizien für ein vorhandenes Metawissen über die Textsorte Sprachlehrbuch interpretiert werden. In allen untersuchten Quellen finden sich nur selten Gespräche, die den Kaufmann auf ein Gespräch über ein erfolgreiches Geschäft vorbereiten sollen. Die meisten Sequenzen würde man heute als Streitgespräche bezeichnen, die für Konfliktsituationen rüsten: verspätete Warenlieferung oder ausstehende Bezahlung (TF 291– 292); Verkauf der Ware an eine dritte Person trotz der am Tag davor getroffenen Vereinbarungen (TF 284); Betrug (schmutzige Ware, die als eine saubere vorgetäuscht wird (TF 291– 292); Ware, die zu lange nicht verkauft werden konnte und deshalb nicht mehr frisch ist (TF 453); Verbreitung von Gerüchten mit dem Ziel, die Ware des Konkurrenten schlecht zu reden (TF 332); Drohungen,
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Beschimpfungen, Zeugenaufruf (TF 288,16 – 290,15) und schließlich Sorgen um den Warenverlust wegen der schlechten Wetterbedingungen während der Lieferung (TF 369; RB 94,11– 12), des Betrugs oder der Konkurrenz (TF 248). Selten finden sich Gesprächssequenzen zur Danksagung oder für den vertraulichen Austausch über die Gemütslage (vgl. RB 94,1– 5 zu Heimweh). Den prototypischen Verlauf eines Begrüßungsgesprächs zwischen einem deutschen und einem russischen Kaufmann veranschaulicht exemplarisch Beispiel (6). Ich zitiere nach TF 274– 276, ein ähnliches Gespräch findet sich auch im anonymen „Rusch Boeck“ (59,13 – 61a).
() A: Geluche tho frundtt, wo Hefft Idt dÿ vp | der Reÿse gegahen, wo hefft sich Gott | dÿner Erbarmedtt. B: All woll, Gott Hefft gesundttheÿtt | vorlendtt datt Houedtt Is gesundtt. A: wor bistu her gekamen, B: Ich sÿ van Nougarden gekomen. A: Iß Idt Lange dattu van Nougarden Reÿsedest. B: Nicht Lange Ergistern. A: watt brÿngestu vor Nÿe Tÿdunge B: Ich Hebbe alle gude Tÿdinge Gott hefft Idt | Mÿtt vns all still vnd gudtt vorlehendtt. A: Heffstu keÿne Ander Tÿdunge Heÿnlich | oder Apenbahr. B: wahrlich Ich Hebbe sunderliches Keÿne | Tÿdinge. A: worumb Bistu hirgekamen, B: Mÿtt wahre Bÿn Ich Hÿrgekamen, A: Bistu mÿtt wahre Hÿrgekamen, | waterleÿ wahr Heffstu Hÿr gebrachtt. B: Ich hebbe vthermahten gude wahr Thokope | vnd se Is noch nicht gekamen, se Is noch vp dem wege Ich hape Morgen oder auermorgen | werdtt de wahre hir sÿn. A: Wen dÿne wahre gekomen Is so kum In | Mÿne Herberge vnd segge Idt mÿ an, Ich wÿll alß Redlich Ist mÿtt dÿ kopslagen. B: wen mÿ Godtt eÿnen mahn Touogede, de dar | Redlichen koepslagen wolde mÿtt deme wolde ich gerne koepslagen, Mÿne wahr Is gekamen wÿltu nu mÿtt | mÿ gahen vnd de wahre besehen vp din Behag. A: Ich gahe mÿtt dÿ vnd wÿll dÿne wahre besehen. | wultu mÿtt mÿ koepslagen, wadtt dÿ ander lude geuen wÿllen datt wÿll Ich | dÿ och tho danche geuen. (TF – )
Das Gespräch besteht aus relativ kurzen Frage-Antwort-Sequenzen, die das regelmäßige turn taking zwischen den beiden Kaufleuten repräsentieren. Es beginnt mit der oben bereits erwähnten Begrüßung seitens des Kaufmanns A, der Frage nach dem reibungslosen Verlauf der Reise und der Hinwendung zu Gott. Die Fragen nach der Herkunft und dem Ziel der Reise lassen sich bereits in den ältesten Quellen für historische Gespräche belegen (vgl. etwa die „Pariser Gespräche“). Ebenfalls zum festen Bestandteil der Gesprächseröffnung scheint die Frage nach den öffentlichen und geheim gehaltenen Neuigkeiten zu gehören (Zeilen 7 und 9).
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In Zeile 11 ist ein Übergang zum eigentlichen Thema zu beobachten. Den nächsten Gesprächsschritt (Zeile 14) nutzt der Kaufmann B, um seine Ware als übermäßig gut zu loben und gleichzeitig darauf hinzuweisen, dass sie noch nicht da ist, allerdings in Kürze eintrifft. Gesprächspartner A bekundet sein Interesse (Zeile 16), lädt ihn gleich in seine „Herberge“ ein und beteuert, dass er einen fairen Handel treiben will. Darauf geht B mit Freude und Dankbarkeit ein und spricht seinen Willen zum fairen Handel ebenfalls aus (Zeilen 18 – 19). Der Redebeitrag in Zeile 20 suggeriert den Abbruch des Gesprächs und seine Wiederaufnahme nach einiger Zeit, nachdem Kaufmann B seine Ware erhalten hat. Kaufmann A ist bereit, sich die neue Ware anzuschauen und versucht gleich, den Handelspartner für sich zu „monopolisieren“. Die Wendung in Zeile 22 hat einen formelhaften Charakter, zieht sich mehrmals durch alle Quellen und zeugt von großer Konkurrenz, zu deren Abwehr den Kaufleuten auch sprachliche Mittel zur Verfügung standen. Das Gespräch hat keinen Abschluss; auf dem nächsten Blatt werden im Manuskript lose Sätze bzw. alternative Ausdrucksmöglichkeiten angeführt, die nach Auffassung des Verfassers zu dieser Kommunikationssituation gehören. Obwohl die Form des Gesprächs an sich wie oben bereits erwähnt ihre Vorläufer im klassischen antiken und humanistischen Sprachunterricht hat, wird sie in kaufmännischen Sprachlehrbüchern vor allem für die Vermittlung des Prozesses der Kommunikation und nicht so sehr für das Erlernen des Produkts – der Sprache und vor allem ihrer Grammatik – eingesetzt. Die Balance zwischen dem Bewusstsein für humanistische Traditionen und den Erfordernissen des praktischen Alltags, zwischen der Schriftlichkeit und Mündlichkeit illustriert auch die Mikroebene der Dialoge. Im Gegensatz zu einem authentischen (auch historischen) Gespräch sind sowohl die Fragen als auch die Antworten in ihrer Syntax durchaus vollständig und somit richtig vom Standpunkt der rhetorischen und sich in dieser Zeit zögerlich etablierenden schriftsprachlichen Normen (vgl. insbesondere Zeile 4). Die Forderung nach syntaktisch vollständigen Antworten gehörte laut Kilian (2002: 445) noch im 17. und 18. Jahrhundert zum festen Bestandteil der didaktischen Anleitungen. Die Ausnahmen dazu finden sich aber ebenfalls: Die Antwort in Zeile 6 stellt eine Ellipse dar, die eher für ein authentisches mündliches Gespräch typisch ist. Ob es sich bei Heÿnlich oder Apenbahr (9) und vp din Behag (20) um Rechtsherausstellungen oder nur partiell ausgebildete Klammerkonstruktionen handelt, ist schwer zu entscheiden, da unsere Quellen aus der Zeit stammen, in der sich die Klammerkonstruktion im Deutschen (und so auch im Mittelniederdeutschen) erst verfestigt.³⁰ Dass es unter Einfluss der Mündlichkeit erfolgt,wurde in der Forschung aber mehrmals hervorgehoben. Die Parenthese alß
Vgl. ähnlich den Redebeitrag des Kaufmanns A in Beispiel (5).
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redlich ist (17) durchbricht ebenfalls die Klammerkonstruktion und verstärkt die Aussage; sie ist zwar kein ausschließlich sprechsprachliches Phänomen, aber dort eher erwartbar. Der konjunktionslose Objektsatz (15) beweist womöglich auch, dass Fenne wie auch die Verfasser anderer ähnlicher Quellen bei der Übersetzung aus dem Russischen eher nicht die schriftsprachlichen zeitgenössischen Regelmäßigkeiten vor Augen hatten, sondern die Angemessenheit des Ausdrucks für eine mündlich abgehaltene Kommunikationssituation. Ähnlich interpretiere ich den Abbruch des Satzgefüges in den Zeilen 18 und 19: mÿtt deme wolde ich gerne koepslagen liest sich eher als ein neuer Aussagesatz mit dem typisch mündlichen Gebrauch des Demonstrativpronomens deme als ein Hauptsatz in Fortsetzung des Konditionalnebensatzes Wen mÿ Godtt eÿnen mahn Touogede. Eine ähnliche Erscheinung liegt in den Zeilen 21– 22 vor: Der Konditionalnebensatz wultu mÿtt mÿ koepslagen wird im schriftsprachlichen und systemlinguistischen Sinn nicht ausgeführt; daran wird ein Relativsatz mit dem Adverb was als eröffnende Klammer angeschlossen. Da die Dialoge mündlich konzipiert sind, liegt es ferner nahe, die Zusammenschreibungen des Personalpronomens du und der vorangestellten flektierten Verben mit Klitisierungen der gesprochenen Sprache in Verbindung zu bringen. Den graphischen Sequenzen wultu, bistu, brÿngestu, heffstu usw. entsprechen Intonationseinheiten bzw. sind sie als deren Reflexe aufzufassen. Sie können sowohl bei Fenne als auch im „Rusch Boeck“ ausnahmslos in allen Teilen der Sprachlehrbücher beobachtet werden; die Klitisierungen sind allerdings auf das Personalpronomen der 2. P. Sg. beschränkt. Diese Beispiele zeugen in meinen Augen davon, dass die in Sprachlehrbüchern angeführten Gesprächssequenzen, Routineformeln oder auch syntaktische Muster nicht im Sinne der humanistischen didaktischen Quellen als mnemotechnische Hilfsmittel zum Auswendiglernen der idealisierten Sprachstrukturen benutzt wurden, sondern die Nutzer im aktiven und für die Mündlichkeit angemessenen Sprachgebrauch (in der Produktion wie Rezeption) orientierten. Keine einzige Quelle überliefert Spuren der Korrektur bei solchen Einträgen, obwohl sie an anderen Stellen vorhanden sind. Die Verortung der Quellen an der Schnittstelle zweier Traditionsstränge kann auch im lexikalischen Bereich des Dialogteils beobachtet werden.Weder bei Fenne noch im anonymen „Rusch Boeck“ oder bei Heinrich Newenburgk enthalten die Dialoge die so genannten Gliederungspartikeln, deren Funktion vor allem in der Strukturierung eines Gesprächs besteht. Abtönungspartikeln, emotive bzw. intensivierende Partikeln sind aber vorhanden, vgl. in (6) Zeile 2 all woll und Zeile 10 wahrlich. Routineformeln aus dem Bereich der Wahrheitsbeteuerung sind ein Typ der formelhaften Wendungen, die seit der antiken Rhetorik über die mittelalterliche Literatur hin zur Frühen Neuzeit einen erheblichen pragmatischen Wandel durchgemacht haben (Hanauska 2014). Die niederdeutsch-russischen Sprach-
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lehrbücher zeigen, dass sie auch im kaufmännischen Alltag eine wichtige Rolle gespielt haben müssen.
4 Fazit Auch wenn die interlinguale Verständigung in niederdeutsch-russischen Sprachlehrbüchern oft nur eine implizite ist, ist das Bewusstsein für Besonderheiten und Unterschiede stets vorhanden. Davon, dass frühneuzeitliche Kaufleute durchaus Vorstellungen von Formen des Fremdsprachenkönnens hatten, zeugen die metasprachlichen Äußerungen und der Sprachgebrauch in den Quellen. Naturgemäß kann anhand dieser historischen Quellen nur von einem kollektiven Sprachbewusstsein und einem kollektiven Sprachgebrauch die Rede sein. Die Einblicke in den Kompilierungsweg der Quellen, das Balancieren zwischen den humanistischen lexikographischen und sprachdidaktischen Werken einerseits und den Erfordernissen des kaufmännischen Alltags andererseits sowie zwischen zwei Sprachen und Kulturen sind die besten Beweise dafür. Allerdings waren die Quellen für den privaten Gebrauch und nie für einen institutionalisierten Sprachunterricht konzipiert; sie sind deshalb auch Zeugnisse der „als sinnvoll erlebten Einbettung“ (Häcki Buhofer, Schneider & Beckert 2007: 68) von persönlich für angemessen gehaltenen Aspekten in die eigenen Sprachlehrwerke. Sie sind ferner auch Zeugnisse der Abkehr vom grammatikbasierten Lateinunterricht hin zum an der gesprochenen Sprache orientierten Erwerb der Vernakularsprachen, vom Produkt zum Prozess, vom Sprachsystem zum Sprachgebrauch. Die pragmatische Komplexität der zwischensprachlichen Kommunikation zu meistern, ist eine Aufgabe, deren Lösung in den Quellen nicht immer gelingt. Aber die Verfasser stellen sich dieser Aufgabe, obwohl sie für einen Kaufmann(sgesellen) im völlig fremden Ausland nicht die erstrangige und nicht die einzige ist; sie haben ein entwickeltes Bewusstsein und ein implizites Sprachwissen dafür. Es geht ihnen darum zu lernen, sich in einer Fremdsprache – dem Russischen – angemessen auszudrücken, sprachliche und allgemeine Normen und Konventionen der Interaktion kennen zu lernen, die im sprachlichen Ausland für die jeweilige Kommunikationssituation gelten. Die Vermittlung dieser Kompetenz und die theoretische und methodische Reflexion darüber bleiben aktuelle Aufgaben auch für die moderne kontrastive und interkulturelle Pragmatik, wie sie auch Annelies Häcki Buhofer wegweisend vertritt. Die Verfasser der niederdeutsch-russischen Sprachlehrbücher müssen sie bereits in der Frühen Neuzeit praktisch gelebt haben.
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Sprachbewusstsein und Sprachgebrauch im 18. Jahrhundert – am Beispiel von Johann Jakob Sprengs ‚Idioticon Rauracum‘ 1 Die Anfänge der Sprachwissenschaft Der Beginn der Sprachwissenschaft im heutigen Verständnis von Wissenschaft wird für die deutsche Sprache gemeinhin an den Anfang des 19. Jahrhunderts gelegt, als die Indogermanistik mit ihrer sprachvergleichenden Methode die Verwandtschaft der indogermanischen (heute sagt man indo-europäischen) Sprachen entdeckte. Noch wissenschaftlicher im heutigen Sinne wurde die Sprachwissenschaft als „Deutsche Philologie“ mit der These der „Junggrammatiker“ von der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Es war die Reaktion auf eine gewisse Beliebigkeit der vorausgehenden Forschung und als Anpassung an die schon länger etablierte Naturwissenschaft, welche als Physik oder Biologie die Systematik der Naturgesetze erforschte und die rationale Erklärung und Vorhersagbarkeit aller Naturphänomene daraus ableitete.¹ Setzt man jedoch für die Wissenschaftlichkeit der Sprachforschung nicht die aus der Naturwissenschaft abgeleitete ausnahmslose Gesetzmässigkeit und das von jedermann überprüfbare Experiment als Kriterium, sondern die Rationalität der Methode,verbunden mit einer intensiven Wahrnehmung der Phänomene, man könnte auch sagen: Sprachbewusstsein und Sprachgebrauch, so liegen die Anfänge weiter zurück. Man könnte sie, was die deutsche Sprache betrifft, in die Entstehungszeit der neuhochdeutschen Schriftsprache verlegen, in die Zeit, als in fast allen europäischen Ländern, so auch in den deutschsprachigen², die Volkssprachen sich gegenüber dem Latein als äquivalente Schriftsprachen zu emanzipieren begannen (vgl. Gardt 1999: 45 – 71). Die Entwicklung dazu hatte schon im 13. Jahrhundert begonnen, als im Norden Europas die Sprache der Hanse auf der Basis des Niederdeutschen sich als Geschäfts- und Handelssprache etablierte und Hermann Pauls Grundriß der germanischen Philologie, Straßburg 1889 – 1893, reflektiert mit zahlreichen Beiträgen der damaligen Forschungsgrössen Geschichte und Stand der sprachwissenschaftlichen Forschung zum Ende des 19. Jhs. Deutschland als Staat gibt es ja erst seit 1871. Der Name „Deutschland“ lautete im Übrigen im Mittelhochdeutschen tiutsch lant. Das ist gemäss Grammatik ein endungsloser Plural Neutrum, heisst also: „deutsche Länder“, nicht „Land der Deutschen“, wie man gelegentlich lesen kann (wikipedia.org/wiki/Etymologische_Liste_der_Ländernamen).
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in allen grösseren Hafen- und Handelsstädten rund um Nord- und Ostsee bis ins 17. Jahrhundert in Gebrauch war. Im Süden hatten die Habsburger darauf gedrungen, dass Deutsch, hier auf der Basis des Oberdeutschen, neben dem Latein Urkunden- und Geschäftssprache wurde.³ So waren zahlreiche Stadtrechte nicht nur bei habsburgischen, sondern auch in osteuropäischen Neugründungen schon im 14. Jahrhundert auf Deutsch geschrieben. Diese Entwicklung hatte im Deutschen einen weiteren Höhepunkt zur Zeit der Reformation. Mit der Popularisierung der deutschsprachigen Bibeln (z. B. die Luther- und Zwingli-Bibeln) nahmen nicht nur die Bibelkenntnisse einen Aufschwung, sondern auch die Zahl der „deutschen Schulen“ und mit ihnen die allgemeine Lesefähigkeit. Im Gefolge der Konsolidierung der neuen Hochsprache wurden im 16. und 17. Jahrhundert deren Quellen und Wurzeln entdeckt, nämlich die Dialekte und Regionalsprachen und die historischen Formen und deren Anteil an der Konstituierung des neuen Standards. Dabei entbrannte ein Wettstreit unter den Regionalsprachen um den grösseren Anteil an den gemeinsamen Wurzeln. Diese Sprachentwicklung setzte sich fort und prägte im 17. Jahrhundert das Sprachbewusstsein breiter Kreise (vgl. Gardt 1999: 128 – 135; 203 – 212),⁴ insbesondere auch der zahlreichen deutschen Sprachgesellschaften, deren gemeinsames Bemühen sich auf die Richtigkeit und Poetizität der neuen Schriftsprache richtete.⁵ Die Mitglieder der Sprachgesellschaften entstammten in der Regel dem Bürgertum. Neben vermögenden Kaufleuten waren es Vertreter des gehobenen und des höheren Bildungswesen und der schönen Künste. Die Universitäten sträubten sich jedoch gegen die Einführung der Volkssprache als Wissenschaftssprache und bestanden noch bis ins 19. Jahrhundert auf ihrer Latinität.⁶ Mit der Aufklärung erfuhr die Sprachforschung im 18. Jahrhundert einen weiteren Höhepunkt. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Sprache war von jetzt an historisch-kritisch ausgerichtet. Historisch, weil schon seit der Scholastik jedes Problem oder jede Frage (Quaestio) mit Hilfe der Autoritäten aus der Vergangenheit (Aristoteles, Augustin u. a.) und mit den Verfahren der formalen Logik „kritisch“ zu einer Lösung geführt werden sollte. Neben die Zitate aus Werken der Vorgänger traten in der Sprachforschung jetzt zuneh-
Zur Sprache der Hanse: Besch & Wolf (2009: 113), zur Deutschfreundlichkeit der „Wiener Kanzlei“ bereits im 14. Jahrhundert: Schiewe (1996: 139 – 141), und die Rezension dazu: Löffler (1998). Vgl. auch die europäischen Zusammenhänge bei Schmitter (1996). Zu den Deutschen Sprachgesellschaften: Engels (1983), Gardt (1999: 103 – 118). Die Universität Basel weigerte sich noch 1747, auf den Wunsch des Basler Rats einzugehen und eine Vorlesung zur Schweizergeschichte auf Deutsch anzubieten. Die Universitas erfordere die Latinität, „damit die Studiosi aller Nationen profitieren können“. Sieben Jahre später wurde diese Aufgabe dennoch an den Professor Honorarius Joh. Jak. Spreng übertragen (Staehelin 1957: 224).
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mend auch historische Sprachformen als Belege für die Richtigkeit hinzu. Historisch-kritisch bedeutete im gebildeten Sprachgebrauch so viel wie logisch und vernünftig und auf (historischen) Belegen und Beweisen beruhend.
2 Historisch-kritische Sprachwissenschaft im 18. Jahrhundert Wie etabliert und wie erfolgreich die historisch-kritische Sprachwissenschaft im 18. Jahrhundert tatsächlich gewesen ist, zeigt das Bio-bibliographische Handbuch der Sprachwissenschaft des 18. Jahrhunderts, das in den 90-er Jahren des letzten Jahrhunderts entstanden ist. Die Biographien und Werkverzeichnisse nur der deutschen Sprachforscher füllen zum Erstaunen wohl selbst der Herausgeber acht grosse Bände (vgl. BBHS 1992– 2005). Das heutige Bildungswissen reduziert die Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts auf wenige Namen von Philosophen und Literaten der Aufklärung und Klassik.⁷ In ebenfalls verkürzter Wahrnehmung werden die Sprachforscher Johann Christoph Gottsched (1700 – 1766) für die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts und Johann Christoph Adelung (1732– 1806) für das ausgehende Jahrhundert als die prägenden Figuren wahrgenommen. Der Grund für die geringen Kenntnisse über die Sprachwissenschaft im 18. Jahrhundert könnte sein, dass es den Beruf des Sprachforschers damals noch gar nicht gab. Mit Sprache befassten sich Philosophen und Theologen, Juristen, Mediziner, Lehrer und Literaten gleichermassen.⁸ Dasselbe gilt auch für den damals noch weit verbreiteten Typus des Universalgelehrten, der alle Wissenschaften (selbstverständlich auch die von der Sprache) und viele Künste auf eine einzige Person vereinigen konnte. Als herausragende Vertreter dieser Mischung aus breitester Gelehrsamkeit, praktischem Beruf und eigener literarischer Aktivität wären hier Leibniz und Goethe zu nennen. Neben den genannten grossen Namen des 18. Jahrhunderts sind jedoch viele andere wohl zu Unrecht aus dem heutigen Allgemeinwissen verschwunden.
Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 – 1716), Christian Thomasius (1655 – 1728), Christian Wolf (1669 – 1754) und Imanuel Kant (1724– 1804), Friedrich Gottlieb Klopstock (1724– 1803), Gotthold Ephraim Lessing (1729 – 1781), Johann Wolfgang Goethe (1749 – 1832) und Friedrich Schiller (1759 – 1805). Dichten und Reimen gehörten zu den Fertigkeiten der gehobeneren Schul-Bildung. Vgl. die „vermischten Gedichte“ und andere freie „Texte der sonntäglichen Kirchenmusik“ des zwölfjährigen Knaben Goethe (Dichtung und Wahrheit 4. Buch, Hamburger Ausgabe Bd. 9, 142– 143).
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3 Johann Jakob Spreng (1699 – 1768), Polyhistor und Sprachgelehrter Einer dieser kaum dem Namen nach bekannten Sprachforscher war Johann Jakob Spreng. Nach einem Theologiestudium war er zunächst Hauslehrer in der Familie des württembergischen Gesandten in Wien. Nach der kirchlichen Approbation als Prediger und Pfarrer stand er im Dienst einer französischsprachigen Hugenottengemeinde in Württemberg, dann im Saarland, wo er sowohl auf Deutsch wie auch französisch zu predigen hatte. Nach dem Tod seiner ersten Frau, der Tochter des Gemeindeältesten einer französischen Pfarrgemeinde, heiratete er eine Baslerin und kehrte mit 40 Jahren nach Basel zurück. Dort anerbot er sich der Universität, gratis Vorlesungen in Poesie und Eloquenz zu geben und zwar nicht, wie es an der Universität bereits angeboten wurde, in Latein, sondern auf Deutsch. Er versah als Professor Honorarius dieses damals noch unbekannte Fach im Lehrauftrag. Später kam ein zweiter bezahlter Lehrauftrag hinzu, eine auf Wunsch des Basler Rates auf Deutsch gehaltene Vorlesung über Schweizergeschichte. Eine ordentliche Professur erhielt er erst wenige Jahre vor seinem Tod, als der gesetzliche Lehrstuhl für Griechisch frei wurde und ihm zufiel. Er vertrat also bis zu seinem Lebensende gleichzeitig die Fächer Deutsche Dichtung und Rhetorik, Schweizergeschichte und griechische Sprache und Literatur, Letzteres mit den Schwerpunkten Homer und Neues Testament. Noch hundert Jahre später hatte Friedrich Nietzsche als Philosoph diesen Griechisch-Lehrstuhl an der Universität inne und unterrichtete dieses Fach gleichzeitig am Gymnasium.⁹ Sieht man in der deutschen Poesie und Eloquenz eine Art Vorgängerfach für deutsche Literatur und Sprache, so kann man Spreng als ersten GermanistikProfessor an der Universität Basel bezeichnen. Sein Publikum waren die Studierenden der theologischen Fakultät als angehende Prediger und die Jus-Studenten als angehende Richter, Anwälte, Kanzlisten und Archivare. Spreng war schon früh Mitglied mehrerer Deutscher Sprachgesellschaften und gründete 1742 auch eine solche Deutsche Sprachgesellschaft in Basel, die aus ein paar wenigen Kollegen von der Universität und anderen Personen aus der Staatsverwaltung bestand und sich 25 Jahre lang regelmässig zu Vorträgen und Diskussionen trafen (Staehelin 1957: 225). Spreng tat sich neben dem Unterricht in Rhetorik und deutscher Poesie auch selbst als Dichter hervor. Er galt in Basel zu seiner Zeit als Stadt-Poet und blieb auch als solcher in Erinnerung. Dass seine lebenslange sprachforschende
Zur Geschichte der Universität und ihrer Lehrer: J. J. Spreng: Staehelin (1957: 576); Nietzsche: Bonjour (1960: 639 – 641).
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Tätigkeit nur wenigen Fachleuten bekannt war, lag daran, dass nichts oder kaum etwas zu Lebzeiten publiziert wurde. In seinem Nachlass, der in der Universitätsbibliothek lagert, befindet sich ein 20-bändiges Manuskript eines grossen Deutschen Wörterbuchs (Glossarium), das bis heute niemand zu drucken wagte. Neuere Stichproben haben ergeben, dass es, wäre es erschienen, dem nachmaligen grossen Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm Konkurrenz gemacht hätte (vgl. Günther 1989). Weniger umfangreich, aber nicht weniger bedeutend ist ein einbändiges handgeschriebenes Konvolut mit dem Titel „Idioticon Rauracum oder Baseldeutsches Wörterbuch“. Dieses Idioticon ist im Dezember 2014 in einer wissenschaftlichen Edition im Druck erschienen (Löffler 2014). Regionale Idiotica waren damals ziemlich neu. Während um die Richtigkeit der neuen Hochsprache gerungen wurde, entstanden Sammlungen von Regionalismen oder regionaler Idiotismen in der Absicht, im Wettstreit um die Norm den Anteil der jeweiligen Region in Grammatik und Lexik gebührend anzumelden.¹⁰ Nach Sprengs eigenem Bekunden war es nötig, sowohl den Gesamtwortschatz der deutschen Hochsprache als auch den Teilwortschatz einzelner Regionalsprachen exakt und nach dem Stand des damaligen Wissens aufzunehmen und zu dokumentieren. Zum Stand des Wissens gehörte die Vergleichung mit den lebenden Sprachen und der Beizug historischer Wort-Verwandten, soweit diese bekannt waren. Spreng konnte sich bei seiner Arbeit auf eine Reihe von vergleichenden Wörter- und Namenbücher beziehen und auch auf die damals in Druck erschienenen mittel- und althochdeutschen Textzeugnisse. Er konnte auch als studierter Theologe auf seine profunden Kenntnisse der Bibelsprachen Latein, Griechisch und Hebräisch zurückgreifen ebenso wie auf die modernen Sprachen Englisch und Französisch und auch skandinavische Sprachen.
4 Sprengs Idioticon Rauracum Das Idioticon Rauracum von J. J. Spreng ist ein solches regionales Wörterbuch. Es ist zwischen 1740 und 1768 entstanden, wurde aber nie gedruckt, obwohl es praktisch druckfertig war. Infolge des plötzlichen Todes des Autors im Jahre 1768 ist eine Schlussredaktion unterblieben, ebenso fehlen der angekündigte grammatische Anhang und ein Vorwort. Das Idioticon steht zusammen mit dem Idioticon Hamburgense von Michael Richey (1743) am Anfang einer bedeutenden Tradition von Regionalwörterbüchern (Haas 1994) und auch am Anfang einer
s. die Idiotismensammlungen bei Haas (1994); eine Übersicht auch bei Werlen (1996: 432– 436).
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Basler Tradition der Wörterbucharbeit, die erst vor kurzem mit dem Erscheinen des am Deutschen Seminar in Basel erarbeiteten Neuen Baseldeutschen Wörterbuchs (Gasser, Häcki Buhofer & Hofer 2010) einen letzten Höhepunkt erfahren hat. In Fortsetzung dieser lexikographischen Aktivitäten wurde vor kurzem ein altes Vorhaben wieder aufgegriffen, nämlich Sprengs Idioticon Rauracum endlich zum Druck zu bringen und mit einer ausführlichen Einleitung einer breiteren Leserschaft zugänglich zu machen (Löffler 2014). Das Wörterbuch ist narrativ angelegt, das heisst, die meisten Wortartikel sind in Sätzen ausformuliert: „… sagt man, heisst es in Basel, sagen die Bauern“ etc. Dem baseldeutschen Lemma folgt zunächst eine Auswahl hochdeutscher Entsprechungen, die als Synonymen-Angebot weit über einfache Bedeutungserklärungen hinausgehen. Man könnte das Idioticon als ein Synonymenwörterbuch für angehende oder praktizierende Basler Prediger und andere Redner bezeichnen. Das unterstreicht auch die ebenso lange Reihe lateinischer Wortentsprechungen, die vermutlich ebenfalls auf die Kanzelredner, aber auch auf Vertreter des geschriebenen Wortes (Kanzlisten) zielten. Bei vielen Wörtern sind Parallelen aus lebenden Sprachen aufgeführt und historische Vorstufen dazu, um die gemeinsamen Wurzeln aufzudecken. Viele Wörter erscheinen im Kontext eines Spruches oder einer Redewendung. Daneben gibt es manchmal längere Geschichten, die den Gebrauch eines Wortes oder Ausdruckes illustrieren sollen. Mit ihren Ausdrücken und Sprüchen wird somit ein Bild des Alltags der Basler und Baslerinnen gezeichnet, der Hausfrauen mit ihren Näharbeiten und den Koch- und Backrezepten, der Schüler mit ihren Schulbräuchen und Jargonismen, der Kanzlisten und ihren gestelzten Formulierungen, der Landschäftler Bauern und ihren „Landwörtern“ oder der Spitzbuben mit ihren vulgären Ausdrücken und Schimpfwörtern. Öfters werden auch „Pöbelwörter“ genannt, womit die etwas gröberen Ausdrücke der Alltagssprache gemeint sind. Darunter fallen Ausdrücke wie Grind für Kopf oder Hund für Magen, aber auch alle verkürzten Vornamen wie Pantli für Pantaleon oder Beni für Benedikt. Das Wörterbuch stellt den Volksmund dar in seiner Sicht auf die Dinge mit schlagfertigem Sprachwitz und einer Verschmitztheit bis hin zum Sarkasmus. Und mehr als einmal wird ein baseldeutsches Wort als würdig empfohlen, in das Lexikon des Hochdeutschen aufgenommen zu werden.¹¹
Manche davon haben es auch tatsächlich zumindest in die Schweizer Schriftsprache geschafft. Darauf hat schon Socin (1888: 5) hingewiesen. Er nennt als Beispiele u. a.: Fluh, äufnen, Aufenthalter, jeweilig, wurmstichig.
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5 Sprengs Empirie: Belesenheit und Spracherfahrung Spreng nennt für die zeitgenössischen und historischen Quervergleiche eine Reihe von Nachschlagewerken, die er benutzt hat, von denen einige heute noch in der Basler Universitätsbibliothek liegen. Da ein Vorwort fehlt, äussert sich Spreng nicht über die Herkunft seiner Beispiele aus dem Sprachgebrauch. Nur indirekt kann man auf seine Quellen schliessen. Es war, wie zu seiner Zeit und lange danach üblich, zunächst einmal seine eigene Sprachkompetenz, die Belesenheit in den einschlägigen Werken mehrerer Sprachen, dazu eine Sammlung von Belegen nach Lektüre und Gehör¹² – und wie er selbst im „Sintemal“ einmal schrieb, die lange Erfahrung (heute sagt man Empirie) im Umgang mit diesen Quellen, die ein solches Wörterbuch mit seinen Deutungen und Einordnungen zustande bringen (Spreng 1759: 8. Stück zum 19. Hornung). Da er mit dem Baseldeutschen auch seine eigene Sprache beschrieb, durfte er sich selbst als ersten und besten Gewährsmann betrachten, der die eigene Spracherfahrung zu Papier brachte in Form eines Wörterbuches. Als Mitglied mehrerer Sprachgesellschaften und als Gründer einer Deutschen Sprachgesellschaft in Basel kannte er die aktuelle Diskussion über die Sprachrichtigkeit des geschriebenen Deutschen und beteiligte sich auch ausgiebig daran. Spreng war also sein eigener Gewährsmann. Auch später noch waren viele grosse Wörterbücher das Werk einzelner Autoren mit ihren privaten Belegsammlungen von Exzerpten.¹³ Im Vergleich zu späteren Dialektwörterbüchern fällt auf, dass nicht auf Vollständigkeit des lokalen Sonderwortschatzes geachtet wurde, sondern auf das Besondere, das Altertümliche, das keltische Substrat – und das Eingebundensein der Wörter in Redensarten, das für die Sprachbenutzer Typische, den über Generationen hin gewachsenen und Lebenserfahrung reflektierenden Sprachgebrauch. So wird das Baseldeutsche in eine ehrenwerte Nachbarschaft sowohl zum Hochdeutschen als neuer Bildungssprache als auch zur lateinisch-akademischen Wissenschafts- und Umgangssprache gestellt.
Davon zeugen die zerschnittenen Papierstreifen, aus denen das gesamte Wörterbuch zusammengeklebt wurde und die Kisten voller Belegzettel mit Exzerpten, die das Material für das grosse Glossarium enthalten. So ist Noah Websters American Dictionary of the English Language (ADEL) von 1828 das Lebenswerk des Autors und bis heute als „Webster“ Inbegriff eines englischen Wörterbuchs, ähnlich wie das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm als „der Grimm“ anfänglich das persönliche Werk der beiden Autoren gewesen ist.
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6 Das heutige Interesse am Idioticon Dass das druckfertige Manuskript des Idioticon Rauracum 250 Jahre lang liegen blieb, mag daran gelegen haben, dass es in Konzeption und Anspruch eine gewöhnliche Leserschaft überforderte, bei den Fachleuten andererseits wegen der Germanen- und Keltentümelei auf Ablehnung stiess. Manche Deutungen und Herkunftserklärungen sind abenteuerlich und basieren auf blosser Assonanz („Übereinlautung“). Die Vielsprachigkeit und Belesenheit Sprengs und seine selbst bekundete langjährige Erfahrung im Worterklären liessen ihm dieses Handwerk aber als leicht und vernünftig erscheinen. Auch die heutige Benutzung des historischen Wörterbuchs ist anspruchsvoll, will man alle genannten Bezüge verstehen. Aber auch der Nichtfachmann kann heute ohne Kenntnis des Lateinischen und der historischen Wortverwandtschaften einfache Feststellungen treffen wie zum Beispiel, dass man damals schon so sprach wie heute bis hin zu einzelnen Redewendungen, dass das damalige Baseldeutsche aber auch viele Wörter und Ausdrücke hatte, die heute nicht mehr bekannt oder in Gebrauch sind, und umgekehrt heute gebräuchliche Wörter damals noch nicht üblich waren. Das wissenschaftliche Interesse an der Edition zielt auf das sprachgeschichtliche Dokument, das gleichzeitig auch die Forschungsgeschichte widerspiegelt. Das Idioticon ist ein Kind seiner Zeit: es reflektiert ein weit verbreitetes Sprachbewusstsein unter den gebildeten Kreisen. Sprachwissenschaft war noch kein offiziell anerkanntes akademisches Fach. Die „freien Künste“ mit Grammatik und Rhetorik waren Voraussetzungen für alle anderen akademischen Studien. So waren es Juristen, Mediziner und Theologen, die sich auch um die Sprache kümmerten. In den Sprachgesellschaften waren neben akademischen Mitgliedern und Fachvertretern auch gebildete Laien. Die Protagonisten nahmen für sich in Anspruch, neben dem kollektiven Sprachbewusstsein auch ein Übermass an Empirie, wörtlich „Erfahrung“, in Kenntnis und im Umgang mit vielen Sprachen zu besitzen.¹⁴ Das Idioticon Rauracum ist dafür ein einzigartiges Beispiel.
Dass die Sprachforschung im 18. Jh. schon sehr etabliert war, wenn auch nicht im heutigen Sinne eines institutionellen Faches, zeigt das achtbändige Bio-bibliographische Handbuch zur Sprachwissenschaft des 18. Jhs. s. BBHS (1992– 2005).
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7 Auswertungsmöglichkeiten Dank der digitalisierten Aufbereitung des historischen Dokuments eröffnen sich zahlreiche Möglichkeiten der Auswertung u. a. zu folgenden Themen:¹⁵ – Das Alter von heute noch gebräuchlichen baseldeutschen Wörtern und Ausdrücken: 37r: den Braten riechen, den Betrug merken; fraudem subodorari, ist eine Redensart, die man hier und anderswo gar lächerlich verstehet, als ob da von einem Kalbs- oder Wildbraten die Rede wäre, da man eigentlich sagen sollte: den Brad riechen; von dem Kelt. Brad, oder von dem Altholl. Prate, fraus, dolus, argutia. – 96r: Häfelischuel, Kinderschule. Holl. Kakschool. Häfelischuelbäsi, die eine Kinderschule hält. – 103v: hocken, sitzen. Unfall hocket uns vor der Tühr; impendet nobis malum. ob den Büchern hocken; incumbere libris. ob den Eÿern hocken, d. i. brüten, incumbere pullis. Do hock ich jetz; Da stecke ich jetzt im Sumpfe. Do hockt er, wie ein Pfund Schnitz, d. i. beschämt, scheu, tumm, darf kein Maul auftuhn. Dÿ Hosi wird dich hockä lo, unds Kindli in der Wagle sto. s. Hosi. – 93r: Grundeis: der Hintere geht ihm mit Grundeis, sagt man von Jemand, dem vor Angst und Schrecken bald Alles im Leibe verkaltet. – Andererseits sind viele Ausdrücke heute nicht mehr in Gebrauch: 57r: eintügnen, eintrocknen; siccescere situ & vetustate. ein alt ÿntügen Männlein. eingetügneter Saft. s. vertügnen, austügnen. – 105r: hoschen, anklopfen. Hoscheho ist das Rufen vor einer Tühre ohne Klopfer oder Schelle, damit Jemand vom Hause herbeÿkomme und Gehör gebe. Den Hoscheho fleissig vor der Tühre haben; d. i. von den Glaübigern streng gemahnt werden.¹⁶ – 162r: Sauscheibe, nennen grobe Leute den Gesindetisch, wo etwann auch die Kinder sitzen. – 171r: Schüchdenpflueg, {Unfreund,} Leutscheuer; misanthropus. Eigentlich ist es ein Pferd oder Rind, welches den Pflug oder das Joch scheuet, und mit seinesgleichen nicht stehen und gehen will. – Der Kampf der Regionen und die Auseinandersetzung mit den „Hochdeutschen“: 132r: Maul, welches beÿ den Hochdeutschen nur von unvernünftigen Tieren gesagt wird, heißt zu Basel der Mund eines jeden Menschen. – 138v: mustodt, wird von Menschen und Tieren gesagt, die schon nach der Faülung riechen. Ist sprachrichtiger, als das falsche hochdeutsche maustodt oder maüsetodt. – 12r:
Die Schriftvarianten (fett, kursiv etc.) und die Orthographie des Originals wurden hier wie in der Edition entsprechend dem Manuskript beibehalten. Vermutlich ist das Kleinbasler „Hösch“ davon noch übrig geblieben.
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an Einem seÿn, Einem anligen, zusprechen. Die Freunde sind schon lange an ihm, er solle ein Testament machen. (Diese Redensart könnten uns die Sachsen abnemen.) Eigenwillige deutsche grammatische Terminologie: Fügwort, Wirkwort, Minderwort, Verwunderungswörtchen, Zwischenwörtchen, gleichflüssiges (verbum analogum = regelmässiges) Zeitwort, ungleichflüssiges (verbum anomalum = unregelmässiges) Zeitwort, mitteldeutiges (instrumentales) Wort, Landwort, Kochwort und andere. Eigenwillige schriftdeutsche Wortentsprechungen, die man heute zum Teil nicht mehr kennt: 155r: Ratte; sorex, mus domesticus major. Ein Hochdeutscher sagt Ratze. Das Oberländische kömmt überein mit dem AS. Rät. Skand. oder Isländ. Ratta. Schwed. Rätta. – 156v Republik, res publica, ist beÿ uns ein noch ziemlich neues Bastartwort. – 135v: mörden, morden, umbringen. Ich glaube schier, es seÿ besser gesagt, als das Hochd. morden; denn man sagt ja Mörder, latro, und nicht Morder. – 105r: Hosenkocher, Kleiderkrämpler, Altreiß, Altbutzer; scrutarius,veteramentarius. 132r: Mauchli, Rüebenmauchli (in der Mehrzahl,) scheiben- oder klotzweise geschnidtene Rüben in einem Geköche. – 175r: Sooz, (der,) grober Rülpe, Flegel. – 132r: lämpelen, lummelicht herunterhangen. – 124r: Laüwe, (die, ) Laulichkeit; tepor. Wörter aus dem Schulalltag: 190v: ufgaksen, eine Rede, oder Anders dergleichen schülerisch aufsagen. s. gaksen. – 40v: um das Büchlein laufen, oder Wettlauf um Bücher, geschiht jährlich von einem Teile der Schüler unserer Stadt, welche an einem angenemen Tage von ihren Lehrmeistern singend und in schulgerechter Ordnung auf die Schützenmatten geführt werden, da sie unter andern Ergetzungen nach aufgesteckten Büchern um die Wette laufen. – 98v: hauen, heißt in der Schulsprache mit der Ruhte dermassen züchtigen, daß die rohte Brühe nachlauft. Ist wichtiger, als fausen, d. i. züchtigen, daß der Leib darvon zündroht wird. s. fitzen. Wörter aus Haushalt, Kochen und Backen: 94r: güldene Hauben, ein sehr niedliches Gebäcke von feinem Semmelmähl, gestossenen Mandeln, Zucker, Zimmet und Zitronaten, welches alles unter einander gewirket, in einer gewissen Form wie Hohlziegel gestaltet, und in Butter ausgebacken wird. – 102r: Hobelspäne, ein dünnes und niedliches Gebäcke von Eÿerweiß. Zucker und Mandeln, wie Hobelspäne gestaltet. – 37v: Brautmues oder geele Pappe, ein Breÿ von feinem Mähl und Milch, worunter, wenn er bald ausgekocht ist, Zucker und Safran gerühret wird. – 107r: Hurenschenkellein, ein Gebäcke in Gestalt kleiner Lackstängel, wozu der Teig
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von Semmelmähl, Eÿern, Butter und Zucker bereitet wird. Wer züchtig reden will, nennet sie Ehrenpreis. Fluchen und Schimpfen, Zoten und Sprüche, wobei die Jumpferen und liederlichen Mägdchen eine besondere Beachtung erfahren: 47v: Deukeler, (der,) ein verhudeltes Wort, welches in dem Verwundern und Fluchen des Pöbels [quer eingefügt]: {oder Henkers} den T.¹⁷ bedeuten soll. Von dem Altfr. deu, todt, und kelen, quälen. s. Deefang. – 71r: Fotzelbär, Zotenbär; villosus squalidusque ursus. It. auch ein Schimpfwort plumper und zerlumpter Weibsbilder. – 40r: Buebenrolli, (der,) eine leichtfertige Dirne, die allen Buben nachstreicht. s. Ramsel. – 158r: Ritzeli, ful Ritzeli, unehrbarer Übername eines argen Mägdchens, der doch beÿ gewissen Weibern ein Lob oder gar eine Schmeicheleÿ bedeuten soll. – 42v: Bummer, ein masthaftes grosses Weibsbild. – 43v: Butz, (der,) Schimpfname eines unansichtbaren Kindes. du bist noch ein Butz, du gehörst noch nicht zu ehrlichen Leuten. – 51r: Dudel, Dudle, ein Weibsbild, das so faul spricht, und so faul ein Geschäfte angreift, daß man vom Hören und Zusehen faul werden möchte. – 51v: Dunti, (der,) ein einfältiger, schläfriger Kerl. Sie het ä dunti zumene Ma. Sie hat einen Mann, den sie erst abrichten muss. – 78v: Gantelsi, (das,) ein tummer Schöps, der da stehet, wie ein Stücklein Hausrath, welches man verganten will. – 95r: Lustbueb, ist beÿ uns ein Titel, den man so leicht keinem gemeinen Bursche gibt. [kleine Schrift]: Besser ein Lüstling, Lustherrchen, muthwilliger Junge; Etourdi, Débouché. – 225r: Zobeli, ein Spottname unartiger Mägdchen. Gang nur du Zobeli; mä soll di klopfä. (Ist wider die Ehrbarkeit geredt.) Vulgäres oder Obszönes wird biblisch verkleidet oder metaphorisch angedeutet oder in lateinischer Sprache erläutert: 201v: user, aus ihr. Es luegt kei Susanne und kein Engel user. – 108r: Sie ist aus dem Janen; Sie taugt nicht mehr in Herbst: sagt man von einer Frauen, die sich in {der} Rahel Weise¹⁸ nicht mehr finden kan. – 228r: zwägnä Einen, streng zur Arbeit halten, nicht schohnen. Vsurpatur etiam sensu obscoeno de sexu femineo. Soll so viel heissen, als zuwegenemen. Witz und Sarkasmus: 192r: Übername, Spottname. In der Welt wird man schwärlich mehrere Spötter und Spötterinnen antreffen, als zu Basel, die in einem einzigen Übernamen die Gebrechen oder Laster einer Person mit der feinsten Bosheit auszudrücken und abzuschildern wissen. – 137r: das Münster abreiben, heißt
T. = Teufel. Anspielung des Bibelkundigen auf die erotische Attraktivität der Susanna im Bade (Daniel 13,164) und Rahels (Genesis 29.17 ff.).
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zu Basel, eine alte Jungfer seÿn, die am Ende des Jahrhunderts das zur Feÿerung des Jubelfestes könnte ausbutzen helfen. Bei den Hinweisen zum richtigen Kanzleigebrauch wird der Sprachmeister sichtbar: 104r: hohehrender Herr, ist lächerlich gesagt für hochgeehrter Herr: Denn der Hohehrende ist nicht der, welchen man anredt, sondern der Anredende. – 145v: nunzumalen, für nunmehr, dermals. Ist unerträglich. – 135r: mithin, für folglich; consequenter. It. für zuweilen; interdum. Ist ein verdorbenes Kanzel- und Juristenwort. – 130r: machen, wird hier öfters ohne Zusatz gebraucht, wodurch die Rede zweÿdeutig wird, und auf eine Unflätigkeit gedeutet werden kann.Wer die Ehrbarkeit liebet, wird sich darvor hüten. – 186r: tragendes Amt, ist tumm gesagt für ein Amt, das man trägt, vermöge meines tragenden Amtes, ist mehr nicht gesagt, als vermöge meines Amtes. s. aufhabende Pflicht. Die zahlreichen Redensarten sind eine Fundgrube für die historische Phraseologie-Forschung: 176v: spannen wie ein Häftleinmacher, ist eine sprichwörtliche Redensart von denen, die mit gehnender Sehnsucht nach etwas verlangen, und solches gleichsam in dem Geiste schon erschnappen. – 96r: Häfeli: um ein alt Häfeli ein neu Tüpfi kaufen, sagt man von jungen Wittwen alter und reicher Männer, aus deren Verlassenschaft sie die Mittel ziehen, die Nachfolger nach Wunsche zu erwählen. – 96v: Hälsing, Halsstrick, Strang.Wenn ihn der Hälsig nit reute, er hätte sich vor Geiz schon erhenkt. – 103v: do hockt er, wie ein Pfund Schnitz. Die lateinischen Ausdrücke und Wortentsprechungen sind Zeugen der akademischen Alltagssprache: 120r: Kuenz und Benz, Alle und Jede ohne Unterschied. Kunz oder Benz; Mir ist Alles gleich; Tros Rutulusve fuat, nullo discrimine habetur.¹⁹ s. Benz. – 189r: tschuderig, schauricht. tschuderig Wetter; humida, gelida s. horrida tempestas. – 194v: ummeheben, herhalten. Ich, ich mueß den Buckel umbehebä; In me haec cudetur faba. – 204v: verglumsen, verglimmen, nach langem Glimmen erleschen; languiter ardendo tandem extingui. Er ist verglumst wie ä Liechtli.
Man könnte anhand der im Idioticon genannten Personengruppen und ihrer Sprüche und Redensarten ein Bild der Gesellschaft Basels und der Landschaft zeichnen mit den kleinen Leuten, den Aussenseitern und Verachteten, den Mäg-
Tros = Troer/ Trojaner; Rutulus = Rutuler/ Ureinwohner von Latium: Ob Griechen oder Römer – sie werden nicht unterschieden.
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den und Knechten, über die Kinder und Schüler mit ihren Unarten, Spielen und Schul-Bräuchen, den Hausfrauen und Dienstboten bis zu den Lehrern, Predigern, hohen und höchsten Räten, Professoren und anderen Amtsträgern. Interessant ist zuletzt die Frage, für welche damaligen Benutzer das Wörterbuch geschrieben war. Für das 20-bändige, ebenfalls nicht publizierte, grosse Deutsche Wörterbuch (Glossarium) hat Spreng in der Subskriptionseinladung von 1759 sein anspruchsvolles Publikum so beschrieben: Mit einem Worte, man wird alles anwenden, daß das vorgeschlagene Werk nicht nur ein trockenes Wörterbuch abgebe, sondern mit annemlichen und merkwürdigen Anzügen durchaus versehen, und nicht nur den Sprachforschern, sondern überhaupt auch allerley Gelehrten, Standspersonen, Kanzleybeamten, und Liebhabern schöner Wissenschaften nützlich und gleichsam unentbärlich werde. Aus dieser Ursache wird man sich eine besondere Pflicht daraus machen, das Werk durchgehends so einzurichten, das es von allerley Glaubensgenossen in dem römischen Reiche ohne Anstand und mit Vergnügen gelesen werden könne. (Spreng 1759: Vorrede)
Vermutlich hätte Spreng diesen Satz auch im Vorwort zum Idioticon geschrieben, wenn er noch dazu gekommen wäre. Ohne Zweifel ist das Idioticon Rauracum, wie es jetzt gedruckt und als e-book vorliegt, ein aussergewöhnliches Dokument des Sprachbewusstseins und des Sprachgebrauchs im 18. Jahrhundert, gespiegelt in der schillernden Persönlichkeit ihres Autors, der Theologe war, Pfarrer und Prediger, Waisenhausvater, Professor für deutsche Rhetorik und Poesie und der griechischen Sprache und Literatur, Herausgeber einer neuen (eigenen) Psalmenübersetzung, Autor eines Kirchengesangbuches, Verfasser zahlreicher Gedichte und Festgesänge, Herausgeber und Verfasser einer Wochenschrift und einer Schweizergeschichte, Übersetzer von Lehr- und anderen Büchern aus dem Englischen und Französischen und ein Leben lang Bearbeiter eines bis heute unpublizierten 20-bändigen deutschen Wörterbuchs.
Literatur BBHS (1992 – 2005): Bio-bibliographisches Handbuch zur Sprachwissenschaft des 18. Jahrhunderts. Die Grammatiker, Lexikographen und Sprachtheoretiker des deutschsprachigen Raums mit Beschreibung ihrer Werke. Hrsg. von Herbert E. Brekle, Edeltraud Dobnig-Jülch, Hans Jürgen Höller & Helmut Weiß. 8 Bde. Tübingen. Besch, Werner & Norbert Richard Wolf (2009): Geschichte der deutschen Sprache: Längsschnitte – Zeitstufen – Linguistische Studien. Berlin: Schmidt. Bonjour, Edgar (1960): Die Universität Basel: Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Basel: Helbing & Lichtenhahn. Engels, Heinz (1983): Die Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts. (Beiträge zur deutschen Philologie 54). Giessen: Schmitz.
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Gardt, Andreas (1999): Geschichte der Sprachwissenschaft in Deutschland: Vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Berlin, New York: de Gruyter. Gasser, Markus, Annelies Häcki Buhofer & Lorenz Hofer (2010): Neues Baseldeutsch Wörterbuch. Basel: Christoph Merian. Günther, Stephan (1989): Bericht über die Untersuchung des „Allgemeinen Deutschen Glossarii“ von J. J. Spreng in der UB Basel vom 10.7.-12. 7. 1989. Masch.–Mskr. in der Handschriften-Abt. der UB Basel. Basel. Haas, Walter (Hrsg.) (1994): Provinzialwörter: Deutsche Idiotismensammlungen des 18. Jahrhunderts. Berlin: de Gruyter. Löffler, Heinrich (1998): Rezension zu Schiewe (1996). Zeitschrift für deutsche Philologie 117 (3), 463 – 468. Löffler, Heinrich (Hrsg.) (2014): Idioticon Rauracum. Johann Jakob Spreng. Baseldeutsches Wörterbuch. Basel: Schwabe. Paul, Hermann (1889 – 1893): Grundriß der germanischen Philologie. Straßburg: Trübner. Richey, Michael (1743): Idioticon Hamburgense sive glossarium vocum Saxonicarum quae populari nostra dialecto Hamburgi maxime frequentantur. Hamburg. Deutsch: Idioticon Hamburgense oder Wörter-Buch zur Erklärung der eigenen, in und um Hamburg gebräuchlichen, Nieder-Sächsischen Mundart. Hamburg (Ausgabe 1755 als Google online-Version). Schiewe, Jürgen (1996): Sprachenwechsel – Funktionswandel – Austausch der Denkstile: Die Universität Freiburg zwischen Latein und Deutsch. Tübingen: Niemeyer. Schmitter, Peter (Hrsg.) (1996): Geschichte der Sprachtheorie. Bd. 5: Sprachtheorien der Neuzeit II. Von der Grammaire Royal (1660) zur Konstitution moderner linguistischer Disziplinen. Tübingen: Narr. Socin, Adolf (1888): Johann Jakob Sprengs Idioticon Rauracum, Bd. 15 (Alemannia), 185 – 229. (Teildruck einer bearbeiteten Auswahl). Spreng, Johann Jakob (1759): Vorschlag und Probe eines allgemeinen deutschen Glossarii. Freyburg im Breisgau: Joh. Georg Felner. Spreng, Johann, Jakob (1759): Der Sintemal: Eine eidgenössische Wochenschrift auf das Jahr 1759. Basel: J. C. v. Mechel, Witt. Staehelin, Andreas (1957): Geschichte der Universität Basel 1632 – 1818. 2 Bde. Basel: Helbing & Lichtenhahn. Trunz, Erich (Hrsg.) (1998): Goethes Werke (1948 – 1960). Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. München: C. H. Beck. Werlen, Iwar (1996): Dialektologie und Sprachgeographie vom 13. bis 20. Jahrhundert. In: Peter Schmitter (Hrsg.) (1996): Geschichte der Sprachtheorie: Sprachtheorien der Neuzeit II. Von der Grammaire Royal (1660) zur Konstitution moderner linguistischer Disziplinen, Bd. 5. Tübingen: Narr, 427 – 458.
Lorenz Hofer, Stefanie Meier (Basel)
Mitwirkung der Sprachgemeinschaft im lexikographischen Prozess eines Dialektwörterbuchs 1 Ausgangslage Die Online-Umfrage wird in der empirischen Sozialforschung als neues, erfolgversprechendes Datenerhebungsverfahren erkannt. In der Dialektologie entspricht sie der Weiterführung der schriftlichen, nicht digitalen Erhebungsmethode mittels Fragebogen. In der Lexikografie kann das Potential der Online-Umfrage noch mehr ausgeschöpft werden: Sie bietet praktisch unerschöpfliche Möglichkeiten der Auswahl, Kombination, Gliederung und Randomisierung von FrageElementen. Manche insbesondere ressourcenbedingte Beschränkungen der hergebrachten Methode fallen weg. Im Folgenden soll die Online-Umfrage als Methode der Dialektlexikografie anhand des Projekts „Neues Baseldeutsch-Wörterbuch“ evaluiert werden. Dabei wird sowohl die Qualität der Methode im Allgemeinen als auch die Angemessenheit der Methode für das Forschungsziel beleuchtet. Die Neubearbeitung des Baseldeutsch-Wörterbuchs hatte zum Ziel, den aktuellen Sprachstand des Baseldeutschen zu beschreiben. Um diese Aktualität erfahren und abbilden zu können, wurde eine Methodenkombination gewählt, die über ein Korpus, aber besonders auch über eine Online-Umfrage die städtische Sprachgemeinschaft in den Entstehungsprozess miteinbezogen hat. Das Neue Baseldeutsch-Wörterbuch ist das Produkt eines wissenschaftlichen Forschungsprojekts an der Universität Basel unter Leitung von Annelies Häcki Buhofer, das im Auftrag von und durch die finanzielle Unterstützung der Christoph-Merian-Stiftung Basel durchgeführt wurde. Es ist eine Neuausgabe des Baseldeutsch-Wörterbuches von Rudolf Suter von 1984. Das Wörterbuch war ein Longseller mit mehreren Auflagen (1984, 1995, 2004). Der promovierte Germanist Suter (1920 – 2011) wollte sich altershalber nicht mehr selbst engagieren. Der Verlag wollte ein zeitgemässes neues Produkt, das unter Verwendung des alten erstellt werden konnte. Die Anfänge der Lexikographie des Baseldeutschen liegen im 18. Jh. Zwischen 1740 und 1768 entstand das Idioticon Rauracum von Johann Jakob Spreng (es wurde erst 2014 veröffentlicht,vgl. dazu den Beitrag von Heinrich Löffler in diesem Band) stark introspektiv. 1879 erschien Gustav Adolf Seilers Werk Die Basler
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Mundart: ein grammatisch-lexikalischer Beitrag zum schweizerdeutschen Idiotikon, zugleich ein Wörterbuch für Schule und Haus. 1984 schliesslich erscheint die erste Auflage des Baseldeutsch-Wörterbuchs von Rudolf Suter, das zum zeitgenössischen Standardwerk avancierte, 2001 im selben Verlag ergänzt um das Baselbieter Wörterbuch von Beatrice Bürkli Flaig und Hans Peter Muster.¹
2 Die Online-Umfrage als Methode der Dialektlexikographie Fragebogen und damit durchgeführte Umfragen gehören seit Georg Wenkers Fragebogen für den Deutschen Sprachatlas zu den Standardwerkzeugen der Dialektologie.² Sie wurden und werden vielenorts immer noch als ein probates Mittel angesehen, Sprachformen und Sprachwissen aus SprecherInnen einer Varietät in schriftlicher oder mündlicher Form zu elizitieren. Die dialektologische Methode des Elizitierens ist in jüngerer Zeit häufig kritisiert worden, weil sie einigen Ansprüchen an die Qualität wissenschaftlicher Ausgangsdaten nicht standhält. Es wurde gesagt, sie produziere vor allem Artefakte im Sinne der wissenschaftlichen Erwartungen an eine Varietät und bestätige nur, was man ohnehin schon zu wissen glaube (vgl. Löffler 2010). In gewisser Weise, so könnte man argumentieren, entspricht dies auch einer verbreiteten Erwartungshaltung gegenüber Dialekt-Wörterbüchern: Es wird von den Benutzenden erwartet, das bestimmte Wörter und Ausdrücke darin stehen, ungeachtet der Tatsache, ob sie wirklich im Sprachalltag gebraucht werden oder nicht. Es sollte zumindest möglich sein, dass man die Wörter oder Ausdrücke hätte kennen können, dass sie einem bekannt vorkommen, dass sie einen anheimeln, dass sie lokal (und keinesfalls global) sind. Dies steht dem Anspruch einer – wissenschaftlichen – Neubearbeitung eines Wörterbuchs unter anderem mit dem Ziel, Neuerungen zu beschreiben, entgegen. Das sind allerdings Probleme, mit denen man in den empirisch orientierten Kulturwissenschaften generell zu kämpfen hat. Jenseits dieser Kritik muss man jedoch festhalten, dass Umfragen und Befragungen wertvolle Werkzeuge sind, um sprachliche Elemente aufzuspüren, über deren Existenz man sonst möglicher-
Zu nennen ist hier zusätzlich das Wörterbuch von Ernst Meister (2009): Baaseldytsch-Deutsch, das umfangreiche Werk eines Laien, das jedoch manchen lexikographischen Grundansprüchen nicht zu genügen vermag. Wenkers Fragebogen-Aktion legte den Grundstein für den Deutschen Sprachatlas, in digitaler Form unter www.diwa.info/titel.aspx.
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weise nichts in Erfahrung bringen könnte. Sie sind durchaus im Sinne von Löfflers (1986) „Sprecherdialektologie“. Die damit in engem Zusammenhang stehende „Wahrnehmungsdialektologie“ (siehe dazu auch den Beitrag von Helen Christen in diesem Band) hat die wissenschaftliche Beschreibung von Dialekten und ihrem Wortschatz in den letzten zwei Jahrzehnten bereichert und das Verständnis dafür vertieft, wie Laien Sprache, Dialekte, Wörter sehen, beschreiben und zu verwenden glauben (siehe dazu Häcki Buhofer 1994). In den letzten Jahren haben viele Forschende Erfahrungen und Daten mit Online-Umfragen im Bereich der Dialekte und Umgangssprachen gesammelt. Sie haben auch in einigen Fällen die Resultate ihrer Arbeit nicht nur ausgewertet, sondern auch gleich einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht.Wir wollen hier nur die Arbeiten von Gregor Retti (1999) zum österreichischen Deutsch und diejenigen von Möller & Elspaß (2008) zur Alltagssprache im ganzen geschlossenen deutschen Sprachgebiet erwähnen.³ Insbesondere die datenbankgesteuerte Online-Umfrage bietet mindestens zwei praktische Vorteile gegenüber herkömmlichen Fragebogenaktionen. Erstens können leicht ganz unterschiedliche Sets von Fragen an die Befragten herangetragen werden. Im Falle des Baseldeutsch-Wörterbuches waren dies zufällig aus über 10 000 Datensätzen ausgewählte Sets von 20 – 40 Wörtern und Ausdrücken. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass eine grosse Zahl von Ausdrücken möglichst gleichmässig auf eine mutmasslich weniger grosse Zahl von Umfrage-Teilnehmenden verteilt werden muss. Dieses Ziel liesse sich mit einem statischen Fragebogen von zumutbarer Länge nicht erreichen. Zweitens konnte man mit einer Online-Umfrage mit wenig Aufwand eine grosse Zahl von Teilnehmenden aus verschiedenen Milieus gewinnen – wenn auch nicht aus allen. Allenfalls konnte man auch mit den Teilnehmenden über die Email-Adressen, die sie wahlweise hinterliessen, in Kontakt treten. Zweifellos ist die Kontrolle über möglicherweise relevante Eigenschaften der Teilnehmenden wie Alter, Gender, soziale Zugehörigkeit, formaler Bildungsstand oder die Einschätzung der eigenen Sprachvarietät geringer als bei einer Befragung mit direktem Kontakt. Andererseits scheint es plausibel anzunehmen, dass die freiwillige, anonyme und in den meisten Fällen wohl rein interessenbasierte Teilnahme an einer Sprach-Umfrage zu einer hohen Zuverlässigkeit führen dürfte. In der Dialektlexikografie ist die Online-Umfrage nicht fest etabliert. Traditionell stützen sich viele dialektologische Wörterbuchprojekte bei der Methodenwahl auf die Introspektion, resp. auf Wörtersammlungen, die durch die Au Inhaltlich anders gelagert, jedoch methodisch wegweisend ist das 2012 abgeschlossene Projekt Dialäkt Äpp https://itunes.apple.com/ch/app/dialakt-app/id606559705?mt=8 (aufgerufen am 15. 12. 2014): Mithilfe einer App für Smartphones werden von Dialekt-SprecherInnen gesteuert AudioDaten gesammelt und ausgewertete Daten auf den gleichen Geräten wieder dargestellt.
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toren und Autorinnen selbst und oft über Jahre hinweg erarbeitet wurden. Dies geschieht zum einen aus praktischen und finanziellen Gründen, oft aber auch, weil es sich um nicht-wissenschaftliche Projekte von dialektbegeisterten und -interessierten Laien handelt. Solche Wörterbücher und Wortsammlungen erfreuen sich in der Dialektlandschaft grosser Beliebtheit und es erscheinen regelmässig Veröffentlichungen (z. B. Bigler 2012, Brunner 2007, Eggenberger & Schäpper 2003, Husy 2009). Ein Methodenvergleich der jüngeren Dialektwörterbucharbeit zeigt jedoch, dass auch diejenigen Werke, die einem wissenschaftlichen Anspruch genügen möchten, die Expertise der Autorinnen und Autoren als zentrale Methode beanspruchen. Die Lexikographenkompetenz allein ist für einen Intersubjektivität anstrebenden wissenschaftlichen Standard jedoch ungenügend, denn durch allzu starke introspektive Ausrichtung wird der eigentliche Untersuchungsgegenstand – die Sprache in ihrem natürlichen Umfeld – verfehlt (Atkins & Rundell 2008: 45 – 47). Zuverlässigkeit und Gültigkeit von Einträgen in einem Wörterbuch erfordern verschiedene Arten von Belegen, gewonnen durch unterschiedliche Datenerhebungsverfahren. Das Korpus zählt hierbei zu der wichtigsten Datengrundlage eines Wörterbuchs. In der Dialektlexikographie gilt es jedoch zu beachten, dass die vorherrschende schriftliche dialektale Textsorte die Mundartliteratur ist, die sich jedoch ihrerseits vom alltäglichen Gebrauch der Sprache unterscheidet und als Textquelle nicht ausreicht (Löffler 2003: 43).⁴ Ein Korpus mit schriftlichen Texten als Datengrundlage in der Dialektwörterbucharbeit ist daher nicht ausreichend; eine Kombination mit einer Online-Umfrage kann sich hier empfehlen. Einige neuere Forschungsprojekte zeigen, dass von dieser neuen technischen Möglichkeit Gebrauch gemacht wird – teils mit grossem Erfolg wie beim Regionalwörterbuch des Rheinlands (Honnen 2012) und dem hier vorgestellten Neuen BaseldeutschWörterbuch (Gasser, Häcki Buhofer & Hofer 2010), teils mit wenig Zulauf wie beim Jaundeutschen Wörterbuch (Buchs 2014). Tabelle 1 zeigt die Methodenwahl verschiedener, neuerer Dialektwörterbuchprojekte mit besonderem Augenmerk auf die Befragung der Sprachgemeinschaft, sei es in der herkömmlichen Form des Einbezugs von Gewährspersonen oder mit Befragungen in einem grösseren Rahmen.
Die Korpuszusammenstellung für das Neue Baseldeutsch-Wörterbuch konnte aus eine ungewöhnlich reiche Datengrundlage schöpfen: Neben der Mundartliteratur, die neben Poesie auch Romane und Theaterstücke beinhaltet, gibt es sehr viele schriftliche Baseldeutschzeugnisse im Bereich der Fasnacht (Zeedel, Schnitzelbängg) und in Online-Fussballforen, in denen allerdings über weitaus mehr Lebensbereiche geschrieben wird als nur Fussball.
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Tabelle 1: Erhebungsmethoden verschiedener deutschsprachiger Dialektwörterbücher seit 2000; 1 Introspektion; 2 Wörterbücher & Belegsammlungen; 3 Zitate und Dialekttexte; 4 Korpus; 5 Sprachatlas; 6 Gewährspersonen; 7 Grössere Befragung Wörterbuch
Jahr
Methode
Bemerkungen
Jaundeutsches Wör- X X X terbuch
X X
Gewährspersonen (unterschiedliche Altersgruppen, lokal verwurzelt). Fragebogen und Gespräch für Aussprache in Interviews mit Mitgliedern der Sprachgemeinschaft. Passwortgeschützter Onlinezugang zum Fragebogen mit Aufruf teilzunehmen wenig und sporadisch genutzt. Neues Urner X X X X Gewährspersonen ( Pers bei . Aufl.), EinarMundart-Wörterbeitung von nachgereichten Einzelbelegen. buch Herausgabe einer gesonderten Publikation mit Bitte um Ergänzung und Mitarbeit war wenig erfolgreich. Regionalwörterbuch X X X X Lokal verankerte Gewährspersonen zwischen des Rheinlands und Jahren (keine Angaben zur Anzahl). Einträge des sehr erfolgreichen Online-Mitmachwörterbuchs (seit ). Neues Basel X X X X X X X Online-Umfrage mit über Teilnehmenden. deutschZeitungs- und Radioaufrufe waren sehr erfolgreich. Wörterbuch Valserdeutsch X X X X Keine genaueren Angaben zu Anzahl und Auswahlkriterien der Gewährspersonen (ausser dass sie aus verschiedenen Altersgruppen stammen). Zürichdeutsches X X X X Gewährspersonen (keine näheren Angaben zu Wörterbuch den Auswahlkriterien) und SachexpertInnen. Innerrhoder Dialekt X X Gewährspersonen (ältere Personen). Zeitungsaufruf zur Beteiligung und Einarbeitung von Rückmeldung bei der Überarbeitung zur . Auflage. Vorarlberger Mund- X X X X Umfangreicher Fragekatalog für Gewährsperartwörterbuch sonen (keine Angaben zu den Auswahlkriterien). Nidwaldner Mund- X X Aufruf an ausgewählte Personen mitzuarbeiten war art Wörterbuch wenig erfolgreich. Bestätigung der Wörtersammlung durch Personen – Aufnahme des Wortes nach drei Bestätigungen. Schaffhauser Wör- X X X Befragung von Personen (ältere, lokal verterbuch wurzelte Personen). Baselbieter Wörter- X X X buch Senslerdeutsches X X X X X Interviews mit Personen zu Lemmata. Pro Wörterbuch Ort zwei Personen (unter und über Jahre, lokal verwurzelt)
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Die Tabelle macht deutlich, dass die Kombination der Methoden sehr unterschiedlich ausfällt.Wie bereits erwähnt, wird in allen Projekten auf die Expertise der Autorinnen und Autoren zurückgegriffen. Häufig werden auch bestehende Wörterbücher und Wortsammlungen sowie Mundarttexte ausgewertet. Ein digitales Korpus – die wichtigste Datengrundlage in der heutigen Lexikografie – wird einzig für die Erstellung des Neuen Baseldeutsch-Wörterbuchs verwendet. Der Verzicht auf ein Korpus durch die anderen Projekte kann jedoch damit zusammenhängen, dass die schriftliche Datengrundlage in den jeweiligen Dialekten sehr spärlich ist (wie bspw. Buchs 2014 berichtet) und für die Zusammenstellung eines Korpus nicht reichen würde. Auf die Befragung der Sprachgemeinschaft verzichtet einzig das Baselbieter Wörterbuch (Muster & Bürkli Flaig 2001). Die Konsultation von Gewährspersonen wird ansonsten von allen Projekten wahrgenommen. Die Auswahlkriterien der Gewährspersonen sind betreffend Alter sehr unterschiedlich, allerdings haben die meisten Untersuchungen den Anspruch, lokal verankerte Personen zu befragen. Diese mittels Fragebogen oder Interviews erfolgte Befragung geschieht in einigen Projekten äusserst gewissenhaft, detailliert und umfangreich. Dies besonders auch in Fällen, wo auf eine Befragung einer grösseren Anzahl von Personen verzichtet wird (bspw. Buchs 2014, Schmutz & Haas 2000). Bei den grösseren Befragungen handelt es sich entweder um die Befragung von einer grossen Anzahl Gewährspersonen (130 Personen bei Niederberger 2007, 150 beim Verein zur Herausgabe des Schaffhauser Mundartwörterbuchs 2003 und 427 bei Allgäuer 2008) oder um eine Onlineumfrage mit grösserer Reichweite (890 namentlich genannte Personen bei Honnen 2012, ca. 4000 Personen bei Gasser, Häcki Buhofer & Hofer 2010). Die Teilnehmerzahl bei den Online-Umfragen im Vergleich zu den herkömmlichen Umfragen ist ausserordentlich hoch. Dass sich ein solcher Erfolg aber nicht bei jedem Dialektwörterbuchprojekt reproduzieren lässt, macht Buchs (2014) mit seinem Jaundeutschen Wörterbuch deutlich: Die Onlineumfrage stiess auf sehr spärlichen Rücklauf. Im Unterschied zu den anderen beiden Projekten war die Umfrage allerdings passwortgeschützt und dadurch schwerer zugänglich. Zudem umfasst die Gemeinde Jaun nur etwa 600 deutschsprachige Einwohner (zum Vergleich: Basel mit seinen umliegenden Schweizer Gemeinden dürfte etwa 200 000 Deutschsprachige Einwohner haben – über 300mal mehr).
3 Konzept des Neuen Baseldeutsch-Wörterbuchs Das Konzept sah einige wesentlichen Änderungen und Neuerungen gegenüber den verschiedenen Auflagen des bestehenden Wörterbuchs vor. Für die Neubearbeitung wurde eine völlig neue Materialgrundlage erstellt, bestehend aus einem umfangreichen Textkorpus mit baseldeutschen Texten – ein grosser Teil davon
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wurde vom Wörterbuchteam digitalisiert, manche Quellen lagen bereits digital vor. Auf historische Quellen wurde weitgehend verzichtet. Neu war die Durchführung einer Umfrage zwischen August 2007 und Frühling 2010 zur baseldeutschen Lexik mit einer im Projektverlauf stetig wachsenden Zahl von Teilnehmenden – am Schluss waren es rund 4000. Diese Umfrage wurde überwiegend online durchgeführt. Sie wurde vom Verlag beworben. Die regionale Presse und regionale Radio- und Fernsehstationen berichteten ausführlich darüber.⁵ Als Materialgrundlage hatte Suter in seinem Wörterbuch vor allem literarische Werke, viele davon aus dem 19. und frühen 20. Jh., verwendet, dazu eigene Aufzeichnungen und Sammlungen. Als lebenslanges Mitglied der Basler Sprachgemeinschaft hat er auch ausgiebig introspektiv operiert.⁶ Aufgenommen wurden von Suter Wörter, die sich semantisch oder lautlich von den entsprechenden standardsprachlichen Wörtern unterschieden (Suter 1995: 10). Bei nicht belegten Fällen, die nicht eindeutig zum Basler Wortschatz gehören,wurde immer nach der Konsultation des Korpus eine Überprüfung mittels Online-Umfrage durchgeführt, womit die Neubearbeitung des Baseldeutsch-Wörterbuches dem Anspruch der Methodenkombination folgt (Bergenholtz & Mugdan 1991: 1614). Im neuen Wörterbuch wurde ein Grundwortschatz von 4000 Wörtern ungeachtet ihrer Spezifität im Baseldeutschen aufgenommen, alle übrigen Wörter waren spezifisch. Die Artikel Suters verfügten in der Regel nicht über Beispiele. Wo Beispiele genannt wurden, waren es Kompetenzbelege. Die Beispielsätze im neuen Wörterbuch sollten wo immer möglich auf tatsächlich im Korpus vorgefundenen
Eine Pressemitteilung des Christoph-Merian-Verlags weckte ein reges Interesse von regionalen Printmedien und regionalen Radio- und Fernsehstationen. In mehreren Berichten wurde das Vorhaben, ein neues Baseldeutsch-Wörterbuch zu erstellen, geschildert und es wurde auf die Online-Umfrage hingewiesen. Berichte: Basler Zeitung 23. August 2007, 13; Radio DRS 1, Regionaljournal Basel-Baselland, 23. 8. 2007; 20minuten, 22. August 2007; Radio DRS 1, SWR, Radio France Bleu Elsass: Drei Länder – ein Thema: Drei Länder – eine Sprache / alemannische Dialekte am Oberrhein, 4. November 2007; Radio Basilisk, 9. Februar 2009; Basler Zeitung 10. Februar 2009, 11; Basellandschaftliche Zeitung 10. Februar 2009, 26; Baslerstab 23. Februar 2009, 5; bazonline.ch/basel/stadt/story/23388028 (abgerufen am 27. März 2011). In der Umfrage gaben 473 Personen an, durch FreundInnen oder Bekannte auf die Umfrage aufmerksam gemacht worden zu sein, 676 durch die Zeitung, 152 durch das Radio, 264 durch das universitäre Umfeld und 541 durch andere Hinweise. „Als baseldeutsche Quellen dienten mir die Wörtersammlungen […], sodann fast alle Werke der baseldeutschen Literatur des 19. und des 20. Jahrhunderts sowie die tagtäglich gehörte Umgangssprache auf der Strasse, am Arbeitsplatz, in der Familie, im Bekannten- und im Freundeskreis, nicht zuletzt aber auch die Produktionen der Fasnachtszettel- und Schnitzelbankpoeten.“ (Suter 1995: 7)
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Beispielen beruhen, Kompetenzbelege waren nur für Fälle ohne brauchbare Korpusbelege vorgesehen.
4 Die Online-Umfrage des Neuen Baseldeutsch-Wörterbuchs Die Umfrage für das Neue Baseldeutsch-Wörterbuch war ursprünglich als ein Werkzeug gedacht, mit dem SprecherInnen des Baseldeutschen die Gebräuchlichkeit von Wörtern und Mehrwortausdrücken (Kollokationen und Phraseologismen) einschätzen konnten. Ausserdem sollte getestet werden, welche Bedeutungen sich bei den Befragten aktualisieren lassen. Wir gingen davon aus, dass die Leute bereitwilliger teilnehmen würden, wenn sie nicht viel schreiben müssten, sondern Antworten per Mausklick auswählen könnten. Im Übrigen konnten die Befragten den Umfang der jeweiligen Umfrage grösser oder kleiner wählen. Es wurde auch darauf hingewiesen, wie viel Zeit die kurze oder lange Variante mutmasslich in Anspruch nehmen würde, damit niemand unrealistische Annahmen über die benötigte Zeit machte; zudem konnte die Umfrage an jeder beliebigen Stelle beendet werden, ohne dass die bis zu dieser Stelle notierten Antworten verloren gingen. Beim Hauptfragetyp zur Kenntnis und Gebräuchlichkeit eines Wortes (s. Abb. 1) sahen wir neben den Skalen für Kenntnis und Gebrauch jeweils ein Feld für Bemerkungen, eines für die Angabe von Synonymen und eines für die Angabe eines Beispielsatzes vor. Wir gingen davon aus, dass die meisten Teilnehmenden sich der Optionsfelder bedienen würden, aber nur wenige von ihnen sich die Mühe machen würden, schriftliche Bemerkungen zu den einzelnen erfragten Ausdrücken zu machen. Noch weniger erwarteten wir, dass die Teilnehmenden sich einen Beispielsatz für das zur Diskussion stehende sprachliche Element ausdenken und im Dialekt niederschreiben würden. Dennoch wollten wir die Gelegenheit dazu bieten. Die Formulierung eines Beispielsatzes sollte zudem helfen, vorgespieltes „falsches“ Wissen zu identifizieren, da ein Wort in dessen tatsächlichen Gebrauch eingebettet werden musste. Dies diente auch zur Ergänzung, da geschlossene Fragen eine Suggestivwirkung hervorrufen können (Atteslander 2008: 138). Eine mögliche Suggestivwirkung war bei der Baseldeutsch-Umfrage tatsächlich ein Problem, da viele Wörter sehr alt und fremd waren. Bei einer isolierten, kontextfreien Nennung eines Wortes schien uns die Wahrscheinlichkeit der Nennung von konservativen Formen grösser. Beim Synonym-Feld war die Erwartung, dass die Befragten vielleicht noch nicht lexikografisch erfasste Wörter oder Ausdrücke insbesondere auch aus andern Stilschichten nennen würden.
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Abbildung 1: Beispiel einer Frage aus der Umfrage zum Baseldeutschen (Wort Maisdììger, im Wörterbuch aufgenommen als ‚abwertend für Italiener, Italienerin‘, eigentlich ‚Person, die gerne viel Mais/Polenta isst‘)
Wir erwarteten aufgrund einer gewissen allgemeinen und z. T. medial erzeugten Neugier⁷ und einem allgemein verbreiteten Interesse am Dialekt und an damit zusammenhängenden Phänomenen Partizipation aus der Basler Sprachgemeinschaft. Sie sollte nach unserer Erwartung mindestens soweit gehen, dass jemand bereit war, ins Web zu gehen, einige Personalien anzugeben und bei mindestens 20 Fragen zu Sprachelementen mittels vierzig Mausklicks zu unserem Unternehmen, das Baseldeutsch-Wörterbuch neu zu bearbeiten, beizutragen. Es beteiligten sich rund 4000 Personen an der Online-Umfrage. Sie produzierten rund 70 000 Sets von einfachen Antworten (angeklickte Optionsfelder). Sie produzierten gleichzeitig jedoch auch 25 000 Beispielsätze zu den abgefragten sprachlichen Elementen. Das sind durchschnittlich sechseinhalb Beispielsätze pro Person. Dies übertraf alle Erwartungen.Wir hätten einen Zehntel davon schon als Erfolg verbucht. Dies widerspricht auch der Annahme, dass Online-Umfragen mit vor-
s. Fussnote 3.
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formulierten Antworten besonders deshalb erfolgreich beantwortet würden,weil die Tastatur nicht gebraucht werden muss (Manfreda & Vehovar 2008: 279). Die grosse Bereitschaft der Teilnehmenden, bei der Baseldeutsch-Online-Umfrage ganze Sätze zu schreiben, macht deutlich, dass für die Dialektologie noch viel Potential in dieser Methode steckt. Ebenso hat der starke Anstieg an Umfrageteilnahmen nach Radiound Zeitungsmitteilungen gezeigt, dass sich die Präsenz in den herkömmlichen Medien entgegen der Erwartungen (Manfreda & Vehovar 2008: 274) zumindest bei einem gesellschaftlich und lokal verankerten Thema wie dem Dialekt in Basel positiv auswirkt. Beispielsweise haben am 8. 2. 2009 fünf Personen teilgenommen. Nach einer Berichterstattung im Radio (58 Teilnahmen innerhalb einer Stunde) und in der Online-Ausgabe der Lokalzeitung stieg die Teilnehmendenzahl am 9. Februar 2009 auf 213 Personen an. Nach der Berichterstattung in den Printmedien am darauffolgenden Tag (10. Februar 2009) machten 260 Personen mit. Im Anschluss sank die Beteiligung jedoch wieder rasant (11. Februar 2009: 85 Personen, 12. Februar 2009: 39 Personen). Die Berichterstattung in unterschiedlichen Medien sprach zudem verschiedene Altersgruppen an. Da die Beteiligung aber bereits Tage nach dem Aufruf wieder zurückgeht, sollte während der laufenden Umfrage auf Medienpräsenz geachtet werden. Nicht alle dieser 25 000 Beispielsätze waren direkt für die lexikografische Arbeit verwertbar in dem Sinne, dass man sie in den Wörterbuchartikeln anführen konnte. Zudem musste für die brauchbaren Sätze die Orthografie normiert werden. Tabelle 2: Verteilung der Quellengattungen auf die im Neuen Baseldeutsch-Wörterbuch verwendeten Beispielsätze Quellenverteilung
Kennzeichen
Vorkommen
Anteil
Umfragen Theater, Hörspiel, Literatur Internet-Foren Kompetenz-Belege (durch die Autoren und Autorinnen) Fasnachtstexte (Bängg, Zeedel, Cliquenzeitungen etc.) Zeitungen Radio und TV Verschiedene (ohne Web) Web (verstreute) Songtexte
U T I K F Z R V W S
% % % % % % % % % %
Im Wörterbuch standen schliesslich in den 10 000 Artikeln 3700 Beispielsätze aus der Umfrage, das sind 35 %. Die meisten andern Beispielsätze stammen aus dem Korpus schriftlicher Quellen, das für das Neue Baseldeutsch-Wörterbuch zu-
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sammengestellt worden war (52 %), 13 % oder 1400 Sätze sind Kompetenzbelege durch die Autoren und Autorinnen.
5 Beispielsätze aus der Online-Umfrage Zur Veranschaulichung werden im Folgenden einige Beispiele von Beispielsätzen aus der Online-Umfrage und die dazugehörigen Wörterbuch-Artikel dargestellt. Beispiel Bappe Zum Wort Bappe ‚Vater, Papa’ wurden in der Online-Umfrage u. a. folgende Sätze formuliert (Originalorthografie): (1) Wenn kunnt hütte dr Bappe haim? (2) my Bappe isch leider scho gschtorbe (3) Mi Bappe isch Buechdrugger (4) Du sotsch dPolenta nid uf em Dällerrand umenander babbe (5) Bappe, wenn muessi deheim sy? Das Substantiv Bappe (m) bedeutet im Baseldeutschen ausser ‚Vater’ scherzhaft auch noch ‚Papst’ – diese Bedeutung wurde offenbar nicht aktualisiert. Ebenso wenig wie Bappe (f) ‚Brei’. In (4) wurde jedoch das Verb bappe ‚mit klebriger Masse arbeiten, kleben’ aufgerufen – ein „richtiges“ Beispiel am falschen Ort. Ausgewählt als Beispiel für den Wörterbuchartikel Bappe wurde, neben einem Beispiel aus einem Theaterstück (Ze), schliesslich der letzte Satz (5) (im Artikel mit (U) für Umfrage markiert): Bappe1 (m, -) Vater, Papa: Är ìsch wien e Bappe fǜr se gsìì (Ze); Bappe, wènn mues i dehäim sii? (U) – Kindersprache auch Bappa, Bappi Beispiel Phändänz Zum Wort Phändänz ‚Pendenz⁸, unerledigte Sache’ wurden u. a. folgende Sätze formuliert (Originalorthografie): (1) Mer hänn no die folgende Pendänze (mit e statt ä) (2) Liegen bei mir viele auf dem Schreibtisch (3) Jede Daag wartet im Büro e Pändänzebärg (4) ich muess Pändänze erledige
Pendenz ist ein Helvetismus (vgl. GWDS, VWB).
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(5) (6) (7) (8)
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Ich muess no e Pendänz abschaffe Ich ha’s grad no welle mache, es isch no e Pändänz vo mir. I sott no e paar Pendänze abbaue. Hyyte hani kei Zyt, ha soviel Pändänze z’erledige
Interessant daran ist, dass wir durch diese Beispielsätze auch etwas über Kollokationen und Komposita mit Phändanz erfahren: Phändänze haa, Phändänzebäärg, Phändänze erleedige, Phändänze abschaffe ‚abarbeiten‛, Phändänze abbaue. Für den Artikel wurde schliesslich Satz (8) in modifizierter Form gewählt: Phändänz (f, -e) Pendenz: Hǜtte han i käi Zit, ha Phändänze z erleedige (U) – auch Phèndänz Im Artikel ist dann auch eine der mehrfach vorkommenden Kollokationen – Phändänze erleedige – im Beispielsatz verarbeitet. Dieses Verfahren ermöglicht es bei Wörterbuchartikeln, die nicht explizit Kollokationen beschreiben, die aber typische Verwendungsweisen wiedergeben wollen, eine besonders häufige Wortverbindung im Beispielsatz zu zeigen. Beispiel hüppere Bei diesem Beispiel handelt es sich um eine Neubildung, die im Deutschen bisher nur schwach belegt ist. Sie lautet im Baseldeutschen hüppere und ist vermutlich abgeleitet von hyperventilieren / hüpperventiliere. Zum Wort hüppere wurden in der Umfrage u. a. folgende Sätze formuliert (Originalorthografie): (1) Y hanem d’Mainig gsait [d]o hett är aafo hyppere (2) was hypperisch umänand (3) sy het total ghypperet (4) Kumm reg die ab und hyppere nit jedesmool, wemme di kritisiert! Wie oft bei nicht-terminologischen Neologismen, so ist es auch hier sehr schwierig, eine genaue Bedeutung zu erschliessen, auch wenn in diesem Fall angenommen werden kann, dass sich die Bedeutung aus derjenigen von hyperventilieren herleitet. Bei Verben ist dies vielleicht noch ausgeprägter der Fall als bei Substantiven oder Adjektiven. Man kann die Bedeutung den Beispielen auch nicht wirklich entnehmen. Deutlich wird, dass das neue Lexem offenbar eine gewisse Produktivität hat: Was hüpperisch umenand?! (2) und dass damit eine räumliche
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Komponente verbunden sein kann. Welche Bedeutung schliesslich angesetzt worden ist, sieht man im Artikel: hüppere (ghüppered; von gr hypér) überreagieren, die Nerven verlieren: Règ dì ab ùnd hüppere nìt jeedesmòll, wèmme dì gritisiert! (U) Wiederum typisch ist, dass die angegebene Bedeutung bereits wieder durch Sprachteilnehmende, die sie lesen, korrigiert wird. Es heisst z. B., hüppere bedeute vornehmlich eine schwächere Art der nervlichen Erregung, die Nerven verlieren sei zu stark dafür, und überdies gäbe es auch das Wort aahüppere für ‚langsam aufgeregt werden’ etc. (mündliche Mitteilung). Beispiele dupfegliich / dupfgenau Nicht für alle in der Online-Umfrage erfragten Ausdrücke waren genügend Beispielsätze zu erhalten. Zwei davon sind dùpfefgliich und dupfgenau: dùpfegliich identisch, genau gleich: Si mȫchti dr dùpfegliich Schapoo, wien Ììr händ, Madam (Tj) dùpfgenau (Adv) ganz genau: Dùpfgenau esoo mäin is, aber dausigbròzäntig (If); *dùpfgenau gliich identisch, genau gleich: Si hèt dr dùpfgenau gliichi Kòmpi wien iich (K); dùpfegliich Hier mussten Beispielsätze aus andern Quellen beigebracht werden, einer aus einem Theaterstück (Tj), einer aus einem Internet-Forum (If) und ein Kompetenzbeleg einer Mitautorin (K). Implizit ist damit auch gesagt, dass Umfrage-Belege bevorzugt in die Artikel aufgenommen wurden. Die relativ geringe Vorkommenshäufigkeit reicht als Erklärung nicht aus, dass es keine Umfrage-Belege gibt, denn ein Wort wie hüppere ist auch nicht häufig, brachte aber etliche Beispielsätze. Vermutlich war es für die Umfrage-Teilnehmenden interessanter, einen Beleg für ein mutmasslich neues Wort zu schreiben.
6 Schluss Eine uneingeschränkte, selbst-selektierende Online-Umfrage – wie diejenige zum Baseldeutschen – kann keinen Anspruch auf Repräsentativität einer Grundge-
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samtheit stellen. Als Methode in der Dialektlexikographie bietet sie jedoch die Vorzüge eines relativ geringen finanziellen Aufwands und einer sehr schnellen umfangreichen Datengewinnung. Da ein Wörterbuch zudem nicht nur einen Durchschnittswortschatz abbildet, sondern die Dokumentation des gesamten Wortschatzes anstrebt, müssen nicht alle Fragen statistisch ausgewertet werden. Die Online-Umfrage, die für die Neubearbeitung des Baseldeutsch-Wörterbuches durchgeführt wurde, stiess bei den angesprochenen Basler DialektsprecherInnen auf grosses Interesse. Rund 4000 Personen beteiligten sich an der Umfrage und lieferten neben anderen Informationen rund 25 000 Beispielsätze zu baseldeutschen Ausdrücken. 3700 davon wurden – orthografisch normiert und oft gekürzt – direkt in die rund 10 000 Wörterbuchartikel aufgenommen. Methodologisch scheinen drei Punkte bemerkenswert: – Das Format „Online-Umfrage zu Dialektwörtern“ scheint für viele Sprecher und Sprecherinnen der entsprechenden Sprachgemeinschaft so attraktiv, dass sie bereit sind, Mühe und Zeit zu investieren, ohne dass ein persönlicher Kontakt gegeben ist. Dabei ist es sicher auch der Medienarbeit zuzuschreiben, dass überhaupt eine grosse Anzahl von Menschen von der Existenz der Umfrage erfahren hat. – Durch eine intelligente Gestaltung der Umfrage – vor allem durch ihre Variabilität – lässt sie sich auch für das schwierige Unterfangen nutzbar machen, möglichst viele unterschiedliche Sprachelemente (Tausende) abzufragen. – Viele wertvolle Daten (wertvoll nicht primär im wissenschaftlichen Sinne, sondern im Sinne der direkten Verwertbarkeit im Wörterbuch) wurden in einem Bereich der Umfrage produziert, wo es die Forschenden gar nicht erwartet hatten (Beispielsätze). Ob sich ein ähnliches Resultat in ähnlichen Situationen wieder ergäbe, bleibt offen, und man kann daraus vielleicht nur schliessen, dass man technisch und intellektuell bei jeder Umfrage genügend Raum für nicht standardisierte Daten einplanen sollte. Damit wurden die ursprünglichen Erwartungen bezüglich Partizipation übertroffen. Die enge Verbindung von Umfrage, Beispielsätzen und Wörterbuch war zwar von Anfang an gewollt, aber man hatte nicht damit gerechnet, dass durch die Umfrage derart viel verwendbares Material generiert werden konnte. Dass es so ist, ist aus der Sicht der Dialektologie und Lexikografie sehr erfreulich. Es sagt darüber hinaus auch etwas aus über den kulturellen, ideellen und materiellen Wert des Dialekts aus – in diesem Falle in der deutschsprachigen Schweiz im Allgemeinen und in Basel im Speziellen, wo aus vielen, hier nicht weiter zu erläuternden Gründen ein besonderes Interesse an Dialektfragen blüht.
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Helen Christen (Freiburg i.Ü.)
„Die cheibe Zuger“ oder: Gibt es Zugerdeutsch? „Die cheibe Zuger“ (,die verflixten Zuger‘) – so äussert ein (sehr sprachaffiner) Proband in einer dialektologischen Befragung seinen Unmut darüber, dass er sich nicht imstande sieht, den Dialekt von Zugern als solchen erkennen und von anderen Dialekten unterscheiden zu können. Er ist mit dieser Einschätzung nicht alleine, sondern im Umgang mit arealer (schweizerdeutscher) Variation scheinen sich viele Laien – wohl in Abhängigkeit von Lebenserfahrung und Sprachaffinität – einig zu sein, dass gewisse dialektale Ausprägungen nicht leicht, andere dagegen problemlos zu lokalisieren sind. Kann man aus solchen Voten schliessen, dass es in der Deutschschweiz zwar den Automatismus gibt, einem Kantonsterritorium einen Dialekt gleichen Namens zuzuordnen, dass diesem Dialekt aber nicht in jedem Falle eine psychologisch reale Kategorie entsprechen muss? Ist „Zugerdeutsch“ also nichts weiter als ein Automatismus, dem im Alltag mitunter der Status eines „logischen“ Sachverhalts zukommt, wie es der nachfolgende Beleg aus der alemannischen Wikipedia wissen will? (1) „Dass im Kanton Zug e Dialäkt gsproche wird wo logischerwys Zugerdütsch gheisse wird cha mer sich au so denke.“ (http://als.wikipedia.org/wiki/Benutzer_Diskussion:ANii)
Die hier angesprochene Alltagslogik impliziert keinerlei Aussagen über die qualitative Beschaffenheit des angesprochenen „Zugerdütsch“, das im Fokus der nachfolgenden Ausführungen stehen soll. Zuerst wird die Einteilung resp. Gruppierung von Dialekten angesprochen, wie sie in der Dialektologie vorgenommen wird, sodann zusammengetragen, wie die im politischen Territorium des Kantons Zug¹ mit seinen knapp 120’000 Einwohnern auf der bescheidenen Fläche von rund 240 km2 vorkommende areale Sprachvariation aus dialektologischer Perspektive beschrieben und interpretiert wird. Die Dialektologie greift dafür in der Regel auf empirische Daten zurück, die via Enquêten erhoben werden. Da diese aus sprachzentrierten, für Forschungszwecke arrangierten Interviews stammen, stehen sie eher für die Sprachkompetenz der Befragten als für deren Objektsprache. Anschliessend werden Beispiele für die laienlinguistischen Vorstellungen über das Territorium des Kantons Zug präsentiert, wofür die Methoden der Wahrnehmungsdialektologie oder Laienlinguistik zum Zuge kommen, die mit ihrer Fo-
Vgl. http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de
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kussierung auf „conscious reactions to and comments on language“ (Niedzielski & Preston 1999: xi) das eigentliche (hier: sprachraumbezogene) Sprachbewusstsein untersuchen. Die Kompetenzorientierung dialektologischer Daten – es wird danach gefragt, wie man etwas sagen würde, wenn man es denn sagen würde – legt es jedoch nahe, deren Unterschied zu den wahrnehmungsdialektologischen Daten nicht als dichotomisch, sondern als bloss graduell anzusetzen, insofern bei ersteren wie letzteren das Sprachbewusstsein in geringerem oder stärkerem Ausmass eine Rolle spielt. Die Gegenüberstellung von dialektologischen und wahrnehmungsdialektologischen Zugängen verfolgt das Ziel, das sowohl wissenschaftlich als auch alltagsweltlich gängige Kantonsmundarten-Konzept zu erhellen und abschliessend zu erwägen, worauf dessen Erfolgsgeschichte beruhen könnte.
1 Wissenschaftliche Einteilungen von (Deutschschweizer) Dialekten In seinem Handbuchartikel zur Einteilung der deutschen Dialekte geht Peter Wiesinger (1983: 807) vom Sachverhalt eines sprachlichen Kontinuums im Raum aus, bei dem „die Veränderungen von einem Ort zum nächsten nur gering [sind], doch werden mit zunehmender Entfernung von einem bestimmten Ortspunkt die Unterschiede deutlicher.“ Mit dieser Modellierung des Sprachraums wird die relative dialektale Eigenständigkeit und Homogenität von Ortsmundarten postuliert, die sich, wenn auch geringfügig, voneinander unterscheiden. Trotzdem besteht aber sowohl seitens der Sprachangehörigen auf Grund sprachkommunikativer Erfahrungen als auch seitens der Sprachwissenschaft seit jeher das Bedürfnis, über die örtlichen und kleinräumigen Unterschiede hinweg die Dialekte auf Grund gewisser charakteristischer Eigenschaften zu großräumigen und übergreifenden Einheiten zusammenzufassen, um dann von bestimmten Landschaftsdialekten sprechen bzw. einen nicht näher bekannten Gesprächspartner nach gewissen auffälligen Sprecheigentümlichkeiten auf Grund eigener Erfahrungen einer bestimmten Dialektlandschaft zuweisen zu können. (Wiesinger 1983: 807)
Welches die „charakteristischen Eigenschaften“ sind, die dialektale Einheiten begründen, wird freilich je nach wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse unterschiedlich beantwortet. So unabdingbar die theoretische Rechtfertigung dabei für ein bestimmtes Auswahlverfahren konstitutiver Merkmale für „übergreifende Einheiten“ ist, so bleibt dieses in jedem Falle reduktionistisch, da die komplexe, durch Variation geprägte sprachliche Wirklichkeit notwendigerweise geglättet werden muss. Bei den dialektologischen Grenzziehungen zwischen Dialektge-
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bieten, als Isoglossen auf Sprachkarten visualisiert, können dabei einzelne Merkmale oder einzelne Systembereiche eine tragende, qualitativ begründete Rolle spielen (wie z. B. die Einteilung des deutschen Sprachraumes nach dem Entfaltungsgrad der Zweiten Lautverschiebung) oder aber man sucht – quantitativ – nach Isoglossenbündeln, also nach einer Menge zusammenfallender Grenzlinien, denen sprachraumstrukturierende Kraft zugeschrieben wird. Die wissenschaftlichen Einteilungen des Sprachraums der deutschsprachigen Schweiz sind geprägt vom historischen Interesse der traditionellen Dialektologie und meist zugleich damit befasst, dialektale mit extralinguistischen siedlungsund territorialpolitischen Befunden in einen erklärenden Zusammenhang zu bringen. So wird die wissenschaftlich etablierte Einteilung der Deutschschweiz in Nieder-, Hoch- und Höchstalemannisch in ihrer dialektalen Staffelung, die an ausgewählten sprachlichen Reliktformen festgemacht wird, mit den zeitlichen Siedlungsschüben der Alemannen in Verbindung gebracht. Bezüglich der West/ Ost-Unterschiede, die sich bei einer stattlichen Zahl von Merkmalen zeigen, prognostizierte Hotzenköcherle (1961: 217), „das Kartengesamt des SDS werde dereinst das Gegenteil belegen“ zur früheren Sichtweise von Bachmann, wonach die Bedeutung der West/Ost-Unterschiede geringer als die Nord/Süd-Unterschiede seien (vgl. zur dialektometrischen Bestätigung des West/Ost-Vorranges Abb. 3). Eine extralinguistische Erklärung für die „Dichte und Tiefe der sprachlichen Gegensätze“ findet Hotzenköcherle (1961: 219) hier in der „absolut durchsichtige [n] Territorialgeschichte von 1415 bis 1797“, er ist aber zurückhaltend, noch früher datierte volkskundliche Grenzen als massgeblich für die Sprachraumstrukturierung zu veranschlagen. Die seit der letzten Jahrhundertmitte zunehmend aus der linguistischen Mode geratene sprachgeographische Frage nach den Verteilungen sprachlicher Grössen im Raum und ihrer (extralinguistischen) Erklärungen wird nach über einem halben Jahrhundert neu lanciert, dies nicht zuletzt dank aktueller dialektometrischer und geostatistischer Methoden (vgl. Glaser 2013).
2 Der Kanton Zug: dialektologisch Was die traditionelle dialektale Raumgliederung betrifft, so formieren die entsprechenden Isoglossen vier Quadranten (Haas 2000: 67), und das Territorium des Kantons Zug liegt just im Schwingungsbereich dieser Isoglossen, so dass die einzelnen Gemeinden je nach Lage einerseits zum Hoch- oder Höchstalemannischen, andererseits zum westlichen oder östlichen Dialektgebiet gehören. Haas (2000: 73) illustriert diesen Sachverhalt verschiedener Einordnungen anhand der Entsprechungen von mhd. î in Hiatusstellung (im Lexem „schneien“) und von
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mhd. â (im Lexem „Strasse“) „Die Stadt erkennt man an der seltenen Kombination òò und schnyye: Es schnyyt uf d Stròòss; in Cham schnèits uf d Stròòss; in Ägeri schnyyts of d Straass und in Baar schnèits uf d Straass“. Diese wissenschaftliche Dialektgliederung des Deutschschweizer Territoriums im Allgemeinen und des Zuger Territoriums im Besonderen steht gewissermassen quer zu Dialekteinteilungen nach Kantonen, die nicht nur im Alltag, sondern auch in der Wissenschaft benutzt werden.² Von der impliziten Erwartung der Existenz von Kantonsmundarten, die einher geht mit der Vorstellung einer (relativen) Einheitlichkeit, zeugen die von Sprachwissenschaftlern – nach Kantonen – verfassten „Grammatiken und Wörterbücher des Schweizerdeutschen“. Sowohl im „Zuger Mundartbuch“ (Bossard 1962) aus dieser Reihe als auch in Dalcher (1951) und Buhofer & Dalcher (1981) wird allerdings betont, dass dem Territorium des Kantons Zug ein einheitlicher Dialekt abgehe, eine Aussage, die nur dann nicht redundant ist, wenn sie entsprechenden Erwartungen zuwider läuft. So bilanziert Peter Dalcher im Zuger Neujahrsblatt 1951 aufgrund einer Befragung jeweils einer Gewährsperson aus jeder Zuger Gemeinde: „Eines steht allerdings eindeutig fest: Der Kanton Zug bildet keine einheitliche Sprachlandschaft“ (Dalcher 1951: 34). Annelies Buhofer und Peter Dalcher formulieren in einem populären Sachbuch zum Kanton Zug, dreissig Jahre später und mittlerweile über die Daten des SDS verfügend, wiederum: „Der Dialekt in unserem Kanton ist nicht einheitlich“ (Buhofer & Dalcher 1983: 183). Sie räumen ein, dass in den sieben Zuger Beispieltexten, die in der Publikation metonymisch für den Dialekt in Ägeri, Baar, Zug und Risch stehen, die „Endung der Mehrzahlformen des Verbs“ […] meistens –id“ (Buhofer & Dalcher 1981: 183) laute, um dann mit Beispielen für die Reflexe von mhd. â, dem Primärumlaut vor Nasal, den Partikeln „nicht“ und „ehemals“ die Uneinheitlichkeit der Dialekte zu illustrieren. Die Orientierung an einem Kantonsdialekt ist nun keineswegs als Entgegenkommen der Autoren an das Publikum populärwissenschaftlicher Sachliteratur abzutun. Selbst Rudolf Hotzenköcherle distanziert sich nicht etwa von Kantonsdialekten, sondern er übernimmt sie mindestens teilweise, um die sprachgeographischen Sachverhalte, die der Sprachatlas der deutschen Schweiz (SDS) erbracht hat, für einzelne Kantone in einer Zusammenschau zu bilanzieren. Politischen Territorien, wie dies die Kantone sind, gesteht er das Potential zu, auf sprachliche Vereinheitlichung hinzuwirken, formuliert er doch in Bezug auf den Kanton Zug: „Die geschichtlichen Verhältnisse lassen an sich zunächst eher eine
Als Beispiel diene eine Untersuchung von Zvi Penner (1991), die – im generativen Paradigma angesiedelt – selbstverständlich von einem „Bernese Swiss German“ ausgeht.
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einheitliche Sprachlandschaft erwarten“ (Hotzenköcherle 1984: 291), wobei sich die geschichtlichen Verhältnisse in seiner Darstellung wie folgt ausnehmen: Das Gebiet des heutigen Kanton Zug bildet früh eine Mark-Einheit, eine einzige grosse Allmendgemeinde, die ihren inneren Zusammenhang auch unter der sukzessiven Herrschaft der Grafen von Lenzburg und von Kyburg, ab 1273 der Grafen Habsburg nicht verliert.
Dass diese „einzige grosse Allmendgemeinde“ nicht in einem relativ einheitlichen Dialekt ihrer Zugehörigen resultiert, scheint Hotzenköcherles Erwartungen nicht zu erfüllen. Die dialektale Faktenlage, die sich auf dem Territorium des Kantons Zug zeigt, nämlich ein „völliges Durcheinander“ (Hotzenköcherle 1984: 286), ein „für den kleinen Raum unverhältnismäßig große[s] Formenangebot“ (Hotzenköcherle 1984: 286) sowie der Befund, dass sich „im Wirrwarr der durcheinander laufenden, immer wieder andere Gruppierungen nahe legenden Linien doch gewisse Konstanten“ (Hotzenköcherle 1984: 288) zeigen, stellt für Hotzenköcherle keineswegs ein Hindernis dar, weiterhin an der Sprachrelevanz des politischen Territoriums „Kanton“ festzuhalten. Wenn er konstatiert, dass „der Kanton Zug als eines der gegenüber dem Nord(Ost)schweizerdeutschen besonders nachgiebigen Einbruchsgebiete“ (Hotzenköcherle 1984: 286 – 287) sei, oder dass die „Wiederkehr bestimmter Schwerpunktgruppierungen, die ihrerseits weniger aus dem Gegensatz kantonsinterner ‚Kernlandschaften‘ als aus der verschiedenen Außenorientierung resultieren“ (Hotzenköcherle 1984: 288), dann wird eine Modellierung manifest, wonach Kantone auch aus wissenschaftlicher Sicht a priori gegebene Grössen mit kommunikativer Relevanz und damit sprachraumbildend sind. So macht der Terminus „Außenorientierung“ ausschliesslich dann einen Sinn, wenn es ein „Innen“ gibt, „Kanton“ eine also im Alltag tatsächlich (sprach)handlungsrelevanter Orientierungsgrösse ist. Das „große Formenangebot“, das sich in diesem kleinen Raum manifestiert, ist nur dann erstaunlich, wenn Einheitlichkeit als erwartbarer ‚Normalfall‘ vorausgesetzt wird, wenn man – um ein aktuelles Konzept von Schmidt & Herrgen aufzugreifen – auf dieser Kantonsebene den Wirkmechanismus einer Mesosynchronisierung vermutet, bei der es sich um „gleichgerichtete Synchronisierungsakte“ handelt, „die Individuen in Situationen personellen Kontaktes vornehmen und die zu einer Ausbildung von gemeinsamem situationsspezifischem sprachlichen Wissen führt“ (Schmidt & Herrgen 2011: 31). Das „große Formenangebot“, das Hotzenköcherle anspricht, scheint im Zusammenhang mit dem Kanton Zug gegen diesen Wirkmechanismus und gegen eine anhand von Dialektmerkmalen qualitativ begründete Kategorie Zugerdeutsch zu sprechen.
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3 Der Kanton Zug: dialektometrisch Mit quantitativen dialektometrischen Methoden kann man auf der Grundlage grosser Datenmengen eine Antwort auf die Frage finden, ob das Areal des Kantons Zug sich von anderen Kantonsarealen in Bezug auf die dialektale Raumstruktur unterscheidet, dies unter Berücksichtigung jeweils gleich gewichteter Einzelvarianten, die keinerlei Ansprüchen etwa an charakteristische Besonderheit oder historische Relevanz genügen müssen. Nachfolgend werden Isoglossen-, Ähnlichkeits-, Cluster- und Mittelwert-Parameterkarten in Betracht gezogen, die von Yves Scherrer und Hans Goebl auf der Basis der SDS-Daten erstellt und unter http://latlntic.unige.ch/~scherrey/dmviewer/index.de.html seit geraumer Zeit zugänglich sind (zur Dialektometrisierung vgl. Goebl, Scherrer & Smečka 2013). Mit den Isoglossen-Karten können die arealen Verbreitungen von 65 lautlichen, 115 morphosyntaktischen sowie 36 lexikalischen dialektalen Variablen (nach linguistischen Systemebenen getrennt oder insgesamt) berücksichtigt werden. Das Programm erstellt Wabenkarten mit Polygonen, die sich aus den 564 Ortspunkten des SDS ergeben, wobei die Dicke und Einfärbung einer Polygonseite ein – in Intervalle aufgeteiltes – Quantitätsmass für die Zahl der Isoglossen zwischen zwei Bezugsorten visualisiert.³ Was das Areal des politischen Kantons Zug betrifft, so fallen die stärksten Isoglossenbündel (hier errechnet aus dem Gesamt von 216 Merkmalen⁴) auf die östliche Kantonsgrenze zu Zürich,⁵ schwächere auf die nördliche Grenze zu Zürich. Aber nicht die gesamte Kantonsgrenze erweist sich als gleichermassen relevant: Auf der südlichen Kantonsgrenze zu Schwyz sind nur schwache Isoglossenbündel auszumachen. Das Kantonsinnere wird – wie dies in der ganzen Deutschschweiz der Fall ist – von einigen schwachen Isoglossenbündeln durchzogen; allerdings grenzt ein Isoglossenbündel des drittstärksten Intervalls (bei insgesamt 12 Intervallen) die Stadt Zug vom südlichen Walchwil und vom östlichen Menzingen, ein Isoglos-
Das Spektrum der unterschiedlichen Anzahl von Isoglossen, die zwei Orte trennen, kann mit Hilfe des Programms in zwei bis zwölf Intervalle aufgeteilt werden und dient der deutlicheren Visualisierung der Differenzen. Die Berechnung von Isoglossenkarten auf der Basis von Daten, die nach den Systemebenen getrennt sind, ergeben ein jeweils sehr ähnliches Bild. Die stärksten Bündelungen von Isoglossen verlaufen auch in der übrigen Deutschschweiz häufig auf Kantonsgrenzen (anders z. B. die Befunde für das St. Galler Oberland).
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Abbildung 1: Isoglossenkarte (Quelle: http://latlntic.unige.ch/~scherrey/dmviewer/isogloss.de.html)
senbündel des viertstärksten Intervalls die Stadt Zug von Oberägeri ab.⁶ Das kleine Areal, das den Kanton Zug ausmacht, wird also nicht bloss von einem Set an sprachhistorisch und damit qualitativ wichtigen Nord/Süd-Isoglossen durchzogen, sondern die kantonsinternen Nord/Süd- und West/Ost-Unterschiede bestätigen sich auch in quantitativer Hinsicht. Aufschlussreich sind nun auch die sog. Ähnlichkeitskarten, bei denen errechnet wird, wie ähnlich das Variantenaggregat eines ausgewählten Referenzpunktes aus dem SDS-Ortsnetz zu jenem der übrigen 563 Ortspunkte ist, errechnet auf der Basis von 216 erhobenen sprachlichen Variablen (oder wahlweise bezogen auf die Variablen der verschiedenen linguistischen Beschreibungsebenen) pro Ortspunkt. Das Kontinuums-Modell, mit dem Wiesinger (vgl. Kap. 1) die sprachgeographische Sachlage fasst, würde erwarten lassen, dass sich die Verteilung ähnlicher Dialekte als regelmässige, konzentrische Kreise um die einzelnen Bezugsorte legt, was sich nun aber keineswegs bestätigt. Für die Zuger SDS-Orte Zug, Risch, Hünenberg, Steinhausen, Baar, Menzingen, Oberägeri und Walchwil zeigen sich – teilt man die graduelle Ähnlichkeit in 6 Intervalle auf – zwar immer die höchsten Ähnlichkeitsmasse in unmittelbarer (auch Kantonsgrenzen übergrei-
Isoglossen dieser Stärke grenzen etwa innerhalb des Kantons Luzern das Entlebuch vom übrigen Kantonsteil ab, innerhalb des Kantons Zürich sind solche Bündelungen in der Grenznähe zum Kanton Schaffhausen auszumachen.
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fender) geographischer Nachbarschaft. Jedoch kommt etwa Walchwil nicht ins Zentrum seines Ähnlichkeits-Areals zu liegen, weil sich die zu Walchwil ähnlichsten Dialektausprägungen in südöstlicher und damit ausserkantonaler, nicht jedoch in nördlicher, innerzugerischer Nachbarschaft befinden. Nur für die Stadt Zug und den Ort Menzingen gilt, dass unter die Orte mit höchstem Ähnlichkeitsgrad (bei 6 Intervallen) jeweils alle übrigen Zuger Gemeinden fallen:
Abbildung 2: Ähnlichkeitskarte (Quelle: http://latlntic.unige.ch/~scherrey/dmviewer/similarity.de.html)
Werden die anderen Zuger Orte als Referenzpunkte ausgewählt, so gehören jeweils nicht alle anderen Zuger Gemeinden zu den sprachlich ähnlichsten. Konsultiert man zu Vergleichszwecken die Ähnlichkeitskarten (bei der Aufteilung der Ähnlichkeitsgrade in 6 Intervalle) für den Hauptort Zug mit anderen Deutschschweizer Hauptorten resp. -städten, so zeigen sich doch insofern erhebliche Unterschiede, als die Areale der zu diesen Orten resp. Städten dialektal ähnlichsten Orte unterschiedlich gross sind. Bei Basel-Stadt als Referenzpunkt formieren die ähnlichsten Dialekte ein Klein-Areal in unmittelbarer Nachbarschaft, wobei hier geltend gemacht werden muss, dass die Daten der badischen und elsässischen Gebiete für einen Vergleich nicht vorliegen. Das Areal mit den ähnlichsten Dialekten greift zudem unterschiedlich weit über die Grenzen eines Kantons hinaus. So befindet sich der grösste Teil der zur Stadt Zug ähnlichsten Orte ausserhalb des Kantons Zug. Diese Orte beschreiben ein Areal, das auch Orte der Kantone Luzern, Aargau, Schwyz und Zürich einschliesst; bei Zürich als Referenzpunkt betreffen
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die ähnlichsten Orte fast das gesamte – und verhältnismässig grosse – Zürcher Kantonsareal mit nur leichten Auskragungen in den Kanton Aargau. Man darf also bilanzieren, dass die meisten Orte, an denen sehr ähnlich wie in der Stadt Zug gesprochen wird, ein Sprachareal ausbilden, welches das Territorium des Kantons Zug einschliesst, jedoch erheblich darüber hinausreicht.⁷ Die Berechnung von sog. Clustern erlaubt einen zusätzlichen Blick auf Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten von Merkmalsausprägungen. Nicht die Ähnlichkeiten zu einem Referenzpunkt werden vermessen, sondern die vorkommende Gesamtvariation wird dergestalt in Klassen strukturiert, dass „[d]ie mittels der Algorithmen WARD und Complete Linkage erzeugten Klassen […] alle über eine nach innen („intra-group“) und außen („inter-group“) über bestimmte mathematische Kriterien optimierte quantitative Variation [verfügen].“⁸ Werden also etwa zwei Cluster zur Berechnung vorgegeben, so werden die an 564 Ortspunkten vorkommenden Merkmalsausprägungen der dialektalen Variablen (wiederum kann hier auf der Basis von insgesamt 216 Variablen oder getrennt nach Systemebenen gerechnet werden) so miteinander abgeglichen, dass genau zwei aggregierte Klassen mit grösstmöglicher clusterinterner Einheitlichkeit und grösstmöglicher clusterexterner Verschiedenheit entstehen. Hier bestätigt sich Hotzenköcherles Prophetie (vgl. Kap. 1) insofern, als sich tatsächlich eine vorrangige West/Ost-Gliederung des Territoriums zeigt.⁹ Nimmt man das Zuger Areal in den Blick, so gerät dieses bei der Bildung von fünf und mehr Clustern in zwei verschiedene Bündelungen: die südlichen (Oberägeri, Walchwil) und die nördlichen Teile (Risch, Steinhausen, Baar, Zug, Menzingen) des Kantons werden in zwei unterschiedliche Cluster eingerechnet und bestätigen damit die qualitativen Nord/Süd-Gegensätze auch quantitativ.¹⁰
Vergleichbare Ähnlichkeitskarten zeigen sich für Frauenfeld und St. Gallen; die Räume mit den ähnlichsten Dialekten in Bezug auf Sarnen, Stans und Altdorf übergreifen ebenfalls die jeweiligen (Halb)Kantonsgrenzen, umfassen aber weniger Ortspunkte als das Areal mit der grössten dialektalen Ähnlichkeit zum Ort Zug. Vgl. http://latlntic.unige.ch/~scherrey/dmviewer/cluster.de.html. Auf dieser Seite finden sich kurze Beschreibungen der im Zitat erwähnten Rechenverfahren, die zur Berechnung von Clustern angewendet werden. Die Cluster umfassen in Abhängigkeit von den Merkmalen der verschiedenen Systemebenen nicht genau die gleichen Ortspunkte, d. h. die Grenzen zwischen dem West- und dem Ostcluster verlaufen unterschiedlich, jedoch weitgehend parallel. Bei den Clusterbildungen formieren sich – mit der Zunahme ihrer Zahl – nicht einfach die 21 deutschsprachigen Kantone heraus. Berechnet man 20 Cluster, so zeigen sich gewisse Kantonsaffinitäten, als manchmal Kantonsgrenzen mit Clustergrenzen übereinstimmen. Als „Kantonscluster“ offenbaren sich das Oberwallis (bei der Bildung von 7 Clustern) und der Kanton Glarus
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Abbildung 3: Karte mit 2 Clustern (Quelle: http://latlntic.unige.ch/~scherrey/dmviewer/cluster.de.html)
Errechnet man die Cluster nur auf der Basis der lexikalischen oder der morphosyntaktischen Daten, zeigt sich diese Zuweisung zu zwei verschiedenen Bündeln gar schon bei der Berechnung von drei Clustern. Mit der Mittelwert-Parameterkarte schliesslich lässt sich darstellen, welche Ortsdialekte im Durchschnitt zu den meisten anderen Ortsdialekten ähnlich sind (sog. Zentralität). Hier zeigt sich, dass die Zuger Ortsdialekte mit Ausnahme von Walchwil zu den zentralsten Dialekten gehören und damit verhältnismässig viel Gemeinsames mit allen anderen Deutschschweizer Dialekten aufweisen. Die Darstellung der älteren Dialektologie, wonach sich im Kanton Zug keine dialektale „Einheitlichkeit“ zeige, findet Sukkurs durch verschiedene quantifizierende Verfahren, die jedem in Betracht gezogenen Merkmal das gleiche Gewicht geben: Die Isoglossenkarten zeigen relativ starke Isoglossenbündel, die durch das Kantonsareal verlaufen; die Ähnlichkeitskarten offenbaren, dass die zu einzelnen Zuger Ortspunkten ähnlichsten Dialekte meistens (auch) andere als Zuger Dialekte sind und dass die ähnlichsten Dialekte auf einem grossen ausserkantonalen Territorium lokalisiert sind; in den Clusterkarten, die ähnliche Dialekte bündeln, geraten die Dialekte des sehr kleinen Zuger Territoriums bereits bei wenigen Clustern in zwei
(bei der Bildung von 13 Clustern). Hier entspricht eines von 7 resp. eines von 13 Clustern genau den jeweiligen Ortspunkten eines Kantons.
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Abbildung 4: Karte mit 5 Clustern (Quelle: http://latlntic.unige.ch/~scherrey/dmviewer/cluster.de.html)
Abbildung 5: Mittelwert-Parameterkarte (Quelle: http://latlntic.unige.ch/~scherrey/dmviewer/parameter.de.html)
verschiedene Bündel. Auch die quantitativen Verfahren stellen damit einen Kantonsdialekt „Zugerdeutsch“ aufgrund der objektsprachlichen SDS-Daten eher in Frage.
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4 Der Kanton Zug: wahrnehmungsdialektologisch Nicht nur die wissenschaftliche Dialektologie setzt sich mit arealen Unterschieden auseinander, sondern es gibt auch ein sprachbezogenes Alltagswissen von Laien, für welche Dialekträume, Dialektgrenzen, Ähnlichkeiten, Verschiedenheiten, Typizitäten und Auffälligkeiten, aber auch Evaluationen sprachlicher Phänomene von (mutmasslich auch sprachproduktiver) Relevanz sind. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Alltagszugang zu Sprache hat sich mittlerweile als selbstständige Disziplin etabliert¹¹ und ein eigenes Instrumentarium zur Erhebung verschiedener Wahrnehmungsaspekte konzipiert. Wie Laien den deutschsprachigen Raum in Dialekträume einteilen, haben Arbeiten von Lameli (2009; 2012), Kehrein, Lameli & Purschke (2008) für den Grossraum gezeigt, Anders (2010) für den Raum Sachsen, Stoeckle (2012) für den Kleinraum im südwestdeutschen, Hofer (2004) im nordwestschweizerischen Dreiländereck. In diesen Studien erweisen sich politische Grenzen als mitunter relevant für die Alltagsvorstellungen von Sprachräumen. So ist denn auch „Zugerdeutsch“ als Laienkategorie, deren Benennung als Indiz für die alltagsweltliche Motivierung von Dialekteinteilungen resp. Dialektkategorien nach politischen Territorien gesehen werden kann, kein wirklich erstaunlicher Befund, gehören doch die Kantonsmundarten wohl zur landläufig am meisten verbreiteten Handhabung der dialektalen Variation in der Deutschschweiz (vgl. Christen 2010). Die Existenz einer dialektalen Alltagskategorie wie „Zugerdeutsch“ kann denn auch problemlos mit Belegen aus dem Internet bestätigt werden: (2) Versuche, die Ursachen des Zuger Identitätsproblems zu finden, gibt es viele. Man sucht bei der geographischen Lage und sogar in der Sprache nach Antworten. Für Heinz Tännler (SVP), Baudirektor des Kantons Zug, ist der „Zuger Mischdialekt, der sich aus verschiedenen Einflüssen speist, für das Selbstverständnis im Kanton typisch“. (http://www.zentralplus.ch/ de/news/gesellschaft/15544/Der-Kanton-Zug-muss-sich-neu-erfinden.htm) (3) Das Zugerdeutsch stehe für das Intermediäre und es sei in vieler Hinsicht eben diese Zwischenlage, die Zug prägt. Prisca Passigatti, Leiterin des Amts für Kultur beim Kanton, ist ähnlicher Ansicht. Sie sieht Zug in einem Spannungsfeld zwischen Stadt und Land, bescheiden und üppig, Berg und Tal, global und lokal. Gerade im Bereich der Kultur sei die Lage zwischen den zwei Städten Zürich und Luzern nicht einfach: „Man bemüht sich um Eigenständigkeit, kann diesen Anspruch aber nicht vollständig erfüllen.“ (http://www.zentralplus. ch/de/news/gesellschaft/15544/Der-Kanton-Zug-muss-sich-neu-erfinden.htm)
Vgl. zur perceptual dialectolgy die Arbeiten von Dennis R. Preston (zu einem Überblick vgl. Preston 2010), welche die Forschungen im deutschsprachigen Raum massgeblich angeregt und befördert haben; für den Stand der Forschung im deutschen Sprachraum vgl. Anders, Hundt & Lasch (2010); zur theoretischen Fundierung und empirischen Anwendung vgl. die Monographien von Anders (2010) und Purschke (2011) sowie Auer (2004).
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Die Belege (2) und (3) zeigen eine Alltagsmodellierung der dialektalen Kategorie Zugerdeutsch aus der Innensicht von zwei Einheimischen. Die Existenz eines Zugerdeutschen wird nicht in Frage gestellt, allerdings wird es aber entweder als Mischung aus anderen Dialekten konzeptioniert oder aber als dialektale Varietät, die den eher peripheren Status der Stadt Zug zwischen den Zentren Luzern und Zürich auf sprachlicher Ebene quasi ikonisch abbildet. Das Zugerdeutsche wird in beiden Charakterisierungen als ein Dialekt gefasst, der zwischen anderen Dialekten positioniert ist und sich nicht durch Besonderheiten auszeichnet, sondern dadurch, dass er Züge mehrerer Dialekte, die in den Alltags-Vorstellungen als nicht-gemischt und eigenständig(er) gelten, in sich vereinigt. Das Besondere dieses Dialekts besteht also aus dieser Alltagswarte darin, sich bei den eigenständigen Dialekten zu bedienen und daraus eine „intermediäre“ Kombination und damit einen unspezifischen Dialekt zu erzeugen. Dialekte können aus Laiensicht also unterschiedliche Qualitäten haben, sie können eigenständig oder gemischt sein. Die Aufteilung des Deutschschweizer Sprachraums entlang der politischen Kantone wird mit einem Modell, das die sprachräumlichen Sachverhalte eher in Zentren und Peripherien, in ungemischte und gemischte Dialektgebiete fasst, kombiniert. Daraus resultieren Kantonsdialekte mit unterschiedlichem alltagsweltlichem Status: solche, die ‚eigenständig‘ sind und solche, die dies nicht sind. Nachfolgend kann diese Innensicht, wie sie sich in den Belegen (2) und (3) manifestiert, ergänzt werden um einige Anhaltspunkte zur sprachraumbezogenen Aussensicht auf den Kanton Zug. Die laienlinguistischen Sichtweisen auf das Sprachareal des Kantons Zug stammen aus einem Pilotprojekt, das einer grösseren Untersuchung voranging, die sich vornehmlich mit dem (Sprach)Raum Unterwalden auseinandersetzt. Das Projekt¹² fragt einerseits danach, wie die Ob- und Nidwaldner/innen sowohl ihre unmittelbare lebensweltliche Nachbarschaft als auch die Deutschschweiz insgesamt sprachräumlich strukturieren und welche Attribute sie diesen Sprachräumen zuschreiben (sog. subjektive Daten). Andererseits wird – nach etwas mehr als fünfzig Jahren seit den Aufnahmen des Sprachatlas der deutschen Schweiz – der aktuelle Sprachstand ermittelt (sog. objektive Daten, sowohl in sprachkompetenzals auch sprachgebrauchsorientierter Ausprägung), dies um im Abgleich mit den älteren Daten Dialektbewahrung resp. Dialektwandel feststellen und unter Rückgriff auf die subjektiven Daten gegebenenfalls auch erklären zu können.
Das Projekt „Länderen: Die Urschweiz als Sprach(wissens)raum“ wird vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützt und hat eine Laufzeit von 2012 bis 2016, vgl. Details unter http://lettres. unifr.ch/de/sprachen-literaturen/germanistik/linguistik/laufende-forschungsprojekte.html.
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Subjektive und objektive Daten werden also – erstmals für ein grösseres Deutschschweizer Areal – direkt aufeinander bezogen. Sieben Ob- und Nidwaldner Probanden aus einer Pilotuntersuchung, die vor allem der Evaluation der Testinstrumente diente, haben (neben einer Reihe anderer Experimente) auf einer Karte, die die Deutschschweiz abbildet, jene Areale eingezeichnet (vgl. Abb. 1, 2), in denen man aus Sicht der Probanden – so die Testanweisung – „ähnlich“ spricht (zur Stimulusabhängigkeit des sog. Draw-a-Map-Task, bei dem Probanden auf – unterschiedlich informationsreiche – Karten Sprachräume einzuzeichnen haben, vgl. Kehrein, Lameli & Purschke 2010). Die so konstituierten Areale sind – wenn möglich – mit einer Kategorienbezeichnung benannt und mit sprachlichen sowie aussersprachlichen Attributen versehen worden.¹³
Abbildung 6: Grossraumkarte Proband 1
Wird auf einer Karte die ganze Deutschschweiz vorgegeben, dann zeigt sich bei allen Probanden der Pilotuntersuchung, dass diese nur sehr vereinzelt Kantons Die Pilotstudie wurde im Dezember 2012 und im Frühling 2013 durchgeführt und erbrachte u. a. eine Revision der Kartenvorlage, die in der Hauptuntersuchung ersetzt wurde durch eine Karte mit einem Netz von 50 gleichmässig verteilten Ortspunkten, deren Bündelungen zu Arealen statistisch ausgewertet werden können.
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Abbildung 7: Grossraumkarte Proband 6
gebiete und Dialektraum gleichsetzen (z. B. Abb. 6: Areal 1 mit „Deutschfreiburg“, Areal 7 mit „Walliser“ bezeichnet). Häufiger werden Areale gezeichnet, die kleiner sind als ein Kanton (z. B. Abb. 7: Areal 2 mit „Berner Oberland“ bezeichnet) oder aber kantonsübergreifende Territorien (z. B. Abb. 6: Areal 7 mit „Ostschweiz“, Areal 5 mit „Baselbiet, Nordwestschweiz“ bezeichnet) als Areale mit „ähnlichem“ Dialekt ausformen. Betrachtet man den Kartenpunkt Zug und seine Einbindung in Dialektareale, so zeichnet kein(e) Befragte(r) ein Areal, das die politischen Grenzen des Kantons Zug in etwa nachzeichnen würde (was natürlich fehlenden geographischen Kenntnissen geschuldet sein könnte), noch gibt es Areale, die mit „Zug“ o. Ä. benannt werden, vgl. nachfolgende Tab. 1:
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Tabelle 1: Verortung des Kartenpunkts Zug in ein Dialektareal; den Dialektarealen zugeschriebene Attribute. Von Probanden gewählte Kategoriennamen für das Areal mit dem Ortspunkt Zug
Handgezeichnetes Sprachareal, das Kartenpunkt Zug enthält
Attribuierungen
Proband Innerschweiz, Zentralschweiz
ZG+ Schwyzer und Glarner haben LU UW UR GL Teil-SG viel „ä“, Luzerner sagen viel mit „o“, im Entlebuch sagen sie den „o“ nicht; „Gade“ im Entlebuch für ‚Elternschlafzimmer‘ (und nicht „Kammer“ wie Proband)
Proband Innerschweiz, Zentralschweiz
ZG+ Teil-BE LU UW SZ UR GL Teil-SG
Proband Zentralschweiz
ZG+ UW UR SZ
Schönster Dialekt
Proband Ausserschweiz / (Ausserschwyz?¹⁴)
ZG+ Ost-LU SZ GL
Diese Region hat gewisse Ähnlichkeiten, vielleicht könnte man Glarus abtrennen. Glarus: anderer Tonfall und gewisse Wörter, die sie anders sagen und anders betonen. Zug, Luzern und Schwyz sehr ähnlich
Proband So chli luzernern
ZG+ LU
Ein Dialekt, den ich schlecht einordnen kann; ich könnte nicht sagen, das ist ein Luzerner oder ein Zuger; „e Beere“ anstatt „e Biire“ (‚eine Birne‘) (im weiteren Gespräch zu Zug: Schweizer Durchschnittsdialekt. Überall gut verständlich)
„Ausserschwyz“ ist die gängige Bezeichnung für die am Zürich- und Obersee gelegenen Schwyzer Bezirke March und Höfe. Diese Bezeichnung ist nicht zu verwechseln mit „Üsserschwiz“, mit der im Wallis auf die ausserhalb des Kantons liegende restliche (Deutsch)Schweiz referiert wird.
„Die cheibe Zuger“ oder: Gibt es Zugerdeutsch?
Von Probanden gewählte Kategoriennamen für das Areal mit dem Ortspunkt Zug Proband Kein Dialekt
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Handgezeichnetes Sprachareal, das Kartenpunkt Zug enthält
Attribuierungen
ZG+ Teil-AG LU ZH
Immer, wenn jemand einen Dialekt ablegt, nicht mehr will, dass man den Dialekt erkennt, spricht er so etwas (=kein Dialekt); dann ist es nicht mehr „dui“ sondern „du“, nicht mehr „fiif“ sondern „füüf“ oder „föif“ Es ist natürlich schon ein Dialekt, aber ich verbinde ihn mit Anpassen.
Proband Schweizerdeutsch, das ein ZG+ Grossteil redet; AG LU Normalschweizerdeutsch
Ob jemand aus Aarau oder aus Olten kommt oder aus dem nördlichen Teil des Kantons Luzern oder aus Zug, kann ich nicht bestimmen, das ist sehr ähnlich. SMS-Sprache; Swatch-Jahresbericht¹⁵; Bahnhofbuffet Olten; wo alles drin ist und wo jeder etwas von seiner Sprache sieht; Schwierig, sprachlich zu charakterisieren: „da“ für „das“ (im weiteren Gespräch: Zug gehört zu einem allgemeinen, wenig differenzierten Schweizerdeutsch)
Bei der Kartierung des Zuger Dialektraums lassen sich – aus der Aussenperspektive von Ob- und Nidwaldnern – zwei unterschiedliche Zuweisungsmuster erkennen: Die Probanden 1, 2 und 3 schliessen Zug einem südlichen Areal an, das unter anderem die drei Urkantone enthält und mit „Innerschweiz“ oder „Zen-
Der Jahresbericht 2012 der Swatch Group ist erstmals auf Dialekt erschienen („eimaligi DialäktUsgaab“): „Dr Gschäftsbricht vo dr Swatch Group erschiint uf Französisch, Schwiizerdütsch und Änglisch“ (2013: 1), wobei kapitelweise unterschiedliche Dialekte zum Zuge kommen. Es gibt somit Kapitel, die z. B. als „Zugerdütsch“, „Seislertütsch, Fribourg“, „Oberwallisertitsch“, „Ostschwiizerdütsch/Oschtschwiizerdütsch“, „Thurgauerdütsch“, „Solothurndütsch“, „Baseldytsch“, „Aargauertütsch“ deklariert sind. Die konzeptionelle Schriftlichkeit und der stark an standardsprachlichen Vorgaben orientierte Modus hat das Missfallen von Dialektpflegern erregt, die an der ‚Echtheit‘ der geschriebenen Dialekte zweifeln (vgl. The Swatch Group AG 2013).
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tralschweiz“ bezeichnet wird. Das Dialektareal lässt zum Teil auf eine aussersprachliche Motiviertheit schliessen, begründet Proband 2 den Dialektraum doch mit der „Art der Leute“, ihrer „ähnlichen Lebensform“, so dass man sogar noch „die Appenzeller hinzu nehmen könnte“. Die Probanden 4, 5, 6, 7 sehen Zug innerhalb eines Dialektraums mit west/ östlicher und/oder nördlicher Ausbreitung. Ausser der Bezeichnung „Ausserschweiz“ entfallen die Kategoriennamen zugunsten sprachlicher Charakterisierungen: „so ein wenig luzernern“, „kein Dialekt“, „Schweizerdeutsch, das ein Grossteil spricht; Normalschweizerdeutsch“. Diese alltagsweltliche Aussensicht auf das Sprachareal stimmt mit den dialektometrischen Befunden zu den nördlichen Gemeinden des Kantons Zug in verblüffender Weise überein. Nicht nur die errechneten Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten von Ortspunkten, auch die erhebliche dialektale Zentralität, welche die Mittelwert-Parameter-Karte für die meisten Zuger Orte darstellt, findet ihre Entsprechung in den Urteilen der Probanden. Dass ein Dialekt, der sehr viel mit sehr vielen anderen Dialekten gemein hat, im Urteil von Proband 6 „kein Dialekt“ ist, ist höchst aufschlussreich für die Frage, wodurch sich im Alltagsverständnis ‚richtige‘ Dialekte auszeichnen (zu ‚neutralen‘ Dialekten vgl. Christen, Bucheli, Guntern & Schiesser i. Ersch.). Hier scheint ein quasi horizontales Frequenz-Kriterium eine herausragende Rolle zu spielen, nämlich möglichst wenig Gemeinsamkeiten mit allen anderen Deutschschweizer Dialekten aufzuweisen. Ob Dialekte, die aus Alltagssicht „keine Dialekte“ oder „Normalschweizerdeutsch“ sind, gleichzeitig eine geringere linguistische Distanz zur Standardsprache haben, also ein vertikales Kriterium hinzukommt, bleibt offen. Dass einige Laien Urteile fällen können, die mit den objektsprachlichen Gegebenheiten in Übereinstimmung zu bringen sind, ist nur vor dem Hintergrund der Alltagspräsenz des Dialekts erklärbar. Hat sich in Untersuchungen zu bundesdeutschen Verhältnissen gezeigt, dass dort vor allem von den Jungen (nur noch) regionalsprachliche, nicht aber dialektale Formen allenfalls über Repräsentanten in den Medien wahrgenommen werden und das Sprachraumwissen konstituieren (vgl. Kehrein, Lameli & Purschke 2010), so garantieren Mobilität und ebenso die Medien den Kontakt mit Dialekten, zu denen dann u.U. nicht nur erstaunliches Detailwissen vorhanden ist, sondern auch eine Einschätzung zu deren Durchschnittlichkeit im Sinne vieler oder weniger Gemeinsamkeiten mit anderen Dialekten des Schweizer Bezugsareals. Freilich kontrastieren nun mit den besprochenen Konzeptualisierungen des Zugerdeutschen als einem kaum verortbaren Durchschnittsdialekt die folgenden Einschätzungen:
„Die cheibe Zuger“ oder: Gibt es Zugerdeutsch?
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(4) Einige Gegenden haben eine hohe Expat-Dichte. Im Zuger Guthirt-Quartier sieht’s anders aus, nicht? Im Herti auch. Chamer Röhrliberg? Baarer Schutzengel? usw. Ausserdem wird man an der Kasse der Grossverteiler tatsächlich noch in Zugerdeutsch bedient, u. a. weil die Einwanderer gut integriert wurden. (http://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/Ein-Fu enfPunktePlan-zur-Rettung-der-Zuger-Identitaet/story/13246730?comments=1) (5) Jetzt möchte ich einfach nur noch weg von diesem Kanton, der vollgestopft ist mit Superreichen und ihren Offroadern und wo man praktisch kein Zugerdeutsch mehr hört. (http://www.stadtzug.ch/de/freepageforum1/gaestebuch)
Hier werden Urteile – wie bei (2) und (3) – aus der Perspektive von Zuger/innen gefällt, die ein „Zugerdeutsch“ geltend machen. Da in Beispiel (4) „Zugerdeutsch“ als Sprache der Einheimischen als gegensätzlich zu den anderssprachigen Expats herausgestellt wird, dürfte hier mit „Zugerdeutsch“ irgendein Schweizerdeutsch angesprochen sein resp. dieses metonymisch vertreten zu werden. In Beispiel (5) dagegen ist ein spezifisches „Zugerdeutsch“ angesprochen. Dies braucht nun keineswegs im Widerspruch zu den obigen Erwägungen zu stehen. Zentrale Dialekte zeichnen sich quantitativ durch die durchschnittliche interdialektale Übereinstimmung vieler Variablenwerte aus. In qualitativer Hinsicht – dies kann man aus dem Verlauf der Isoglossen lesen – beschreiben die einzelnen Variablenwerte in der Regel ein zwar grosses, aber je unterschiedliches Areal (vgl. Lameli 2013: 1– 10). Die Spezifik von Zuger Varietäten besteht aus der Schnittmenge dieser Areale, die aus der Kombination bestimmter Variantenausprägungen resultiert (vgl. Christen 1998: 116 – 123). Wie diese areal spezifische Kombination areal unspezifischer Varianten im Einzelnen beschaffen ist, verlangt nach einem Wissensbestand, wie er wohl nur bei Sprecher/innen des ‚gleichen‘ Dialekts vorhanden ist. Aus dieser Nah-Perspektive kann es „richtigen“ Zugerdialekt geben, was aber dessen gleichzeitiger Qualifizierung als „Mischdialekt“ (vgl. Beleg 2) – ebenfalls aus der Nahperspektive – nicht entgegenstehen muss.
5 Bilanz Fasst man „Zugerdeutsch“ mechanistisch als die Menge der auf dem Territorium des Kantons Zug als autochthon geltenden dialektalen Sprachformen auf, dann existiert „Zugerdeutsch“. „Zugerdeutsch“ existiert überdies im Sprachbewusstsein der Zuger/innen selbst, welche die eigene Varietät von (selbst nur leicht unterschiedlichen) anderen Varietäten ganz selbstverständlich unterscheiden können, was derartige Grössen wohl auch für generative Zugänge legitimiert. Will man „Zugerdeutsch“ jedoch dialektologisch via definierender resp. „charakteristischer Eigenschaften“ (Wiesinger 1983) oder dialektometrisch via
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Quantifizierungen von Unterschieden oder Ähnlichkeiten fassen, so drängt sich eine entsprechende Kategorie nicht auf. Auch alltagsweltlich wird aus der Aussenperspektive kein eigenständiges Dialektareal für ein „Zugerdeutsch“ postuliert, sondern das „Zugerdeutsche“ wird in andere Areale eingemeindet oder als intermediäre Grösse aufgefasst. Erübrigen sich damit Kantonsdialekte, wenn sich doch, wie für den Kanton Zug, objektive und subjektive dialektale Sachverhalte ergeben, die weder eine merkmalsbasierte wissenschaftliche noch eine eigenständige alltagsweltliche Kategorie erkennen lassen? Nicht zwingend, verfügt man doch durch die Etikettierung von dialektalen Sprachformen mit Kantonsbezeichnungen zumindest über eine praktikable erste Annäherung hinsichtlich ihrer rein arealen Verortung. Dass sich aber der eingangs angesprochene Automatismus ‚Kantonsterritorium = Kantonsdialekt‘ als Kategorisierung des Deutschschweizer Dialektraums überhaupt alltagsweltlich hat etablieren können, ist wohl dem Umstand zu verdanken, dass er in einigen Fällen erfolgreich ist, alltagsweltliche Verortungen dialektaler Äusserungen in Kantonsareale interindividuell also durchaus gelingen können. Dies setzt voraus, dass es „salient variables for placemaking“ (Auer 2013: 23) gibt, die aus der sozialen Praxis einer Verknüpfung von sprachlichen Variablen mit einer räumlichen Grösse erwachsen. Und offenbar verfügen diese Verknüpfungen von dialektalen Ausprägungen mit gewissen Kantonsarealen über eine derart ausgeprägte psychologische Realität, dass sie sich als natürliche Kategorien selbst im Sprachbewusstsein der Dialektologinnen und Dialektologen quer zu den merkmalsbasierten, wissenschaftlichen Kategorien mit ‚harten‘ Grenzen auch in der Dialektologie behaupten können. Man handelt sich mit den Kantonsdialekten alltagsweltliche, natürliche Kategorien mit graduellen Übergängen und damit ‚weiche‘ Grenzen ein: Nicht jeder Kantonsdialekt hat den gleichen Status, weder was seine Eigenständigkeit noch seine Homogenität betrifft. Dass bei derartigen Kategorisierungen ein unspezifischer oder schwer lokalisierbarer Dialekt wie jener der „cheibe Zuger“ vorkommen kann, ist erwartbar und kann der Erfolgsgeschichte der Kantonsdialekte keinen Abbruch tun.
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Tobias Roth (Basel)
Kompositum oder Kollokation? Konkurrenz an der Syntax-Morphologie-Schnittstelle 1 Einleitung Die Grenzbereiche zwischen Syntax und Morphologie haben in letzter Zeit vermehrt wissenschaftliche Aufmerksamkeit erhalten (vgl. z. B. Ackema & Neeleman 2010; Haspelmath 2011; Lieber & Štekauer 2009; Siddiqi 2014). Dazu gehören insbesondere Komposita, ihre allgemeine Definition und Abgrenzung, aber auch ihre unterschiedliche Verteilung in den Sprachen der Welt. Gerade das Deutsche als sehr kompositionsfreudige Sprache (vgl. z. B. Gaeta & Schlücker 2012) bietet hier vielfältige Ansatzpunkte für Untersuchungen. Die Frage, die in diesem Beitrag gestellt werden soll, ist diejenige nach dem direkten Konkurrenzverhältnis zwischen Komposita und Kollokationen im Deutschen: Wann wird die syntaktische, wann wird die morphologische Bildungsart gebraucht, wenn beide zur Verfügung stehen? Wann wird beispielsweise Grüntee, wann eher grüner Tee getrunken? Die hier präsentierte Untersuchung dieser Fragestellung stützt sich wesentlich auf Daten und Analysen aus Roth (2014), die wiederum im Rahmen des lexikografischen Projekts Feste Wortverbindungen des Deutschen – Kollokationenwörterbuch für den Alltag (kurz Kollokationenwörterbuch) erhoben bzw. vorgenommen wurden. Das Projekt lief von 2009 bis 2013 an der Universität Basel unter der Leitung von Annelies Häcki Buhofer. Das Wörterbuch wurde 2014 publiziert (http://kollokationenwoerterbuch.ch; vgl. auch Häcki Buhofer, Dräger, Meier & Roth 2014 sowie Häcki Buhofer 2010, 2011b und Roth 2013). Die eingangs formulierte Frage nach dem Konkurrenzverhältnis zwischen Komposita und Kollokationen wird empirisch mit korpuslinguistischen Methoden untersucht. Der Beitrag ist so aufgebaut, dass zuerst Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Komposita und Kollokationen, dann spezifischer die Überschneidungsbereiche und bisherigen Untersuchungen zur aktuellen Fragestellung angesprochen werden. Weiter werden notwendige Datengrundlagen und Methoden vorgestellt. Der Hauptteil schliesslich befasst sich mit der eigentlichen Analyse der Verteilung sich konkurrenzierender Komposita und Kollokationen.
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Tobias Roth
2 Gemeinsamkeiten und Unterschiede Ins Kollokationenwörterbuch wurden nebst eigentlichen Kollokationen auch Komposita aufgenommen, da es sich bei beiden um konventionalisierte Wortverbindungen handelt und gerade Deutsch-als-Fremdsprache-Lernende nicht von vornherein wissen können, ob eine gesuchte Wortverbindung als Kompositum oder als syntaktische Verbindung realisiert wird (vgl. dazu auch Roth 2014: 137– 142). Während diese Integration der Komposita in einem lernerorientierten Kollokationenwörterbuch unbestrittenermassen Lücken füllt, zeigt sich in der täglichen lexikografischen Arbeit auch, dass die beiden Bildungsarten nicht auf allen Ebenen problemlos miteinander vergleichbar sind. Gerade bei den hier im Fokus stehenden Konkurrenzbildungen mit gleichen Konstituenten, aber unterschiedlicher Bildungsart, ist im konkreten Fall oft schwer zu entscheiden, ob im Wörterbuch beide verzeichnet werden sollen oder ob eine als bevorzugt anzusehen ist. Die folgenden Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Komposita und Kollokationen mögen dies etwas illustrieren.
2.1 Kombinatorische Verbindungen Gemeinsam haben Komposita und Kollokationen, dass sie aus miteinander kombinierten Lexemen bestehen. Eine ganz ähnliche Abgrenzung nimmt Donalies (2004) mit ihrem Terminus der kombinatorischen Begriffsbildung vor. Bei ihr gehört dabei jedoch zusätzlich die explizite Substantivderivation mit hinein. Ausserdem bilden Kollokationen (weniger auch Komposita) je nach Definition nicht in jedem Fall Begriffe im Sinne von semantischen Einheiten. Kombinatorisch impliziert, dass die Gesamtbedeutung einer Wortverbindung transparent aus den Bedeutungen der Konstituenten erschliessbar sein sollte. Dies schliesst viele der stark lexikalisierten Komposita aus der Betrachtung aus, deren Gesamtbedeutung oft nur noch sehr wenig mit den Bedeutungen ihrer Teillexeme zu tun hat. Beispiele sind etwa Goldregen (die Pflanze) und Geldregen (grössere Geldzuwendung), die jeweils unterschiedliche übertragene Bedeutungen von Regen zeigen. Oft ist hier eine Abgrenzung zwischen transparent und nichttransparent nur schwer möglich.
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2.2 Konventionalisierung Betrachtet werden in dieser Untersuchung nur konventionalisierte Verbindungen. Bei Kollokationen ist dies ein integraler Bestandteil jeder Definition (vgl. z. B. Burger 2010; Firth 1957; Hausmann 1985; Steyer 2000), bei Komposita ist eine explizite zusätzliche Einschränkung notwendig, um Ad-hoc-Komposita auszuschliessen. Oft wird diese Konventionalisierung bei Komposita (und anderen Lexemen) als Lexikalisierung bezeichnet.¹ Bei syntaktischen Phrasen wird analog dazu oft auch der Begriff der Phraseologisierung verwendet. Konventionalisierungsgrade zwischen Komposita und Kollokationen zu vergleichen, gestaltet sich jedoch schwierig. Bei der Arbeit am Kollokationenwörterbuch hat sich rasch gezeigt, dass die bei Kollokationen vorgenommene Unterscheidung zwischen typisch (der eigentliche Kernbereich der Kollokationen) und gebräuchlich (Kollokationen im Randbereich zu freien Verbindungen, vgl. Häcki Buhofer 2011a; Roth 2014) bei Komposita nicht sinnvoll mit denselben Kriterien durchgeführt werden kann. Die Festigkeit der Form etwa ist bei Komposita so gut wie immer gegeben (mit Ausnahme einiger weniger möglicher Alternationen bei Fugenelementen), Kriterien zur formalen Festigkeit sind aber ein wichtiger Bestandteil bei Kollokationsdefinitionen. Allgemein ist schwer festzustellen, ob einer Kollokation derselbe Konventionalisierungsgrad zuzuschreiben wäre wie der Entsprechung als Kompositum.
2.3 Explizite und implizite Verbindung Ein wichtiges Merkmal der Komposita im Deutschen und in vielen anderen Sprachen ist, dass die Verbindung zwischen den Konstituenten nur implizit hergestellt wird. Die Teillexeme werden durch Aneinanderreihung – allenfalls unter Zuhilfenahme eines Fugenelementes – zu einer grösseren Einheit zusammengesetzt. Im Gegensatz zu Kollokationen, bei denen die syntaktischen Bezüge transparent sind, wird die Art der Verbindung bei Komposita nicht explizit angegeben. Eine Mausmatte z. B. könnte neben einer Matte für eine Computermaus auch eine Matte mit dem Bild einer Maus darauf sein; man könnte sich ohne Weiteres noch mehr mögliche Paraphrasen dafür ausdenken. Bei lexikalisierten Komposita ist aber natürlich die Gesamtbedeutung und damit die Art der Verbindung ebenfalls konventionalisiert. Ausserdem sind einige Verbindungstypen
Vor allem in Abgrenzung zur Lexikalisierung im Sinne des Gebrauchs eines Wortes mit neuer (oft übertragener) Bedeutung.
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häufiger als andere, sodass die Gesamtbedeutung eines unbekannten Kompositums sehr oft richtig erschlossen wird.
2.4 Benennungs- und Beschreibungsfunktion Während Komposita typischerweise eher Benennungsfunktion haben, nehmen Kollokationen als syntaktische Phrasen eher eine Beschreibungsfunktion wahr (vgl. Roth 2014: 47– 48; Böer, Kotowski & Härtl 2012; Bücking 2009; Eichinger 2000; Olsen 2000; Schlücker & Hüning 2009). Diese Aufteilung ist als Trend und keineswegs absolut zu sehen. Es gibt aber einige Beispiele von Paaren von Komposita und entsprechenden syntaktischen Phrasen mit gleichlautenden Konstituenten, wo das Kompositum benennt und die syntaktische Phrase beschreibt. Blattgrün bezeichnet den Stoff Chlorophyll,während das Grün des Blattes die grüne Farbe des Blattes beschreibt (vgl. Roth 2014: 47). Eine Grünanlage bezeichnet einen Park, während eine grüne Anlage daneben auch auf andere Weise ‚grüne‘ Anlagen bezeichnen kann, z. B. umweltfreundlich investiertes Geld. Zahlreich sind aber auch die Fälle, wo kein derartiger Unterschied gemacht werden kann. Der bereits genannte Grüntee oder grüne Tee gehört dazu, aber ebenfalls viele Substantiv-Substantiv-Verbindungen wie etwa Helikopterflug und Flug mit dem Helikopter, Konfliktrisiko und Risiko eines Konflikts oder Saharagebiete und Gebiete in der Sahara.
2.5 Wortartenverteilung Die allgemeine Verteilung über die Wortarten ist bei Komposita und Kollokationen sehr unterschiedlich. Komposita sind vorwiegend Substantive (rund 80 %, Zählung nach Types) und bestehen zu einem überwiegenden Teil (über 60 %) ausschliesslich aus Substantiven (vgl. Roth 2014: 35 – 37; Ortner & Ortner 1984; Ortner, Müller-Bollhagen, Ortner, Wellmann, Pümpel-Mader & Gärtner 1991; PümpelMader, Gassner-Koch, Wellmann & Ortner 1992). Kollokationen verteilen sich viel gleichmässiger über die Wortarten. Besonders prominent sind bei ihnen Verbindungen aus Substantiv und Verb sowie aus Substantiv und Adjektiv. Im Kollokationenwörterbuch machen die Substantiv-VerbKollokationen etwa einen Drittel aller Einträge aus, die Substantiv-Adjektiv-Kollokationen knapp 25 %.
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3 Überschneidungsbereich Der Überschneidungsbereich, also derjenige Bereich, wo Kollokationen und Komposita mit denselben Konstituenten und ähnlicher Bedeutung auftreten, ist also vornehmlich bei Substantiv-Verbindungen und dort vor allem bei SubstantivSubstantiv-Verbindungen zu erwarten, da dort die meisten Komposita zu finden sind. Ebenfalls einigermassen zahlreich sind andere Substantivkomposita, also solche, bei denen ein Verb oder Adjektiv zu einem Substantiv hinzutritt (vgl. Roth 2014: 37). Grundsätzlich besteht zu fast jedem Kompositum die Möglichkeit einer syntaktisch gebildeten Entsprechung aus denselben Konstituenten, also einer Art der Paraphrasierung, welche die syntaktischen Bezüge innerhalb eines Kompositums explizit macht. Je stärker die Gesamtbedeutung des Kompositums von der Bedeutung seiner Teile abweicht, desto komplexer wird die Paraphrase oder desto abweichender die Bedeutung der Paraphrase. Beispielsweise verlangen exozentrische Komposita wie Rotschwanz eine relativ komplexe Paraphrase wie Vogel mit rotem Schwanz. Ein Beispiel für eine stärker abweichende Bedeutung ist die Paraphrase Hof für die Bahn für Bahnhof, die mehr einen etymologischen Hinweis gibt, als dass sie wirkliche Paraphrase wäre. Doch auch wo die Gesamtbedeutung des Kompositums nicht unbedingt stark abweicht, können aufwendigere Paraphrasen notwendig sein, um die Verbindung zwischen den Konstituenten zu explizieren. So ist ein Milchmann wohl ein Mensch, der mit Milch zu tun hat, man würde aber eher nicht Mann mit Milch paraphrasieren, sondern z. B. mit Mann, der Milch verkauft/liefert. In denjenigen Fällen, in denen ein Kompositum nur einer sehr aufwendigen syntaktischen Konstruktion lexikalisch entspricht, ist nicht von einem Überschneidungsbereich bzw. von Konkurrenzbildungen auszugehen. Tabelle 1 (aus Roth 2014: 155 übernommen) zeigt Komposita nach Wortart ihrer Konstituenten (beschränkt auf Substantive, Verben, Adjektive) zusammen mit lexikalisch entsprechenden syntaktischen Konstruktionen, die als mögliche Konkurrenzbildungen auftreten könnten, da sie nicht zu komplex sind und in vielen Fällen eine ähnliche Bedeutung wie das Kompositum haben. Es sind dabei nur diejenigen Entsprechungen berücksichtigt, die mit vertretbarem Aufwand in den Korpora automatisch identifiziert werden können. Dies schliesst etwa den ganzen Bereich der Verbkomposita (mittlere Spalte in Tabelle 1) aus. Bei Verben ist im Deutschen viel weniger klar als bei Substantiven und Adjektiven, ob ein Kompositum vorliegt oder nicht. Dies zeigt sich nicht zuletzt an den orthografischen Normen, die bei der Getrennt- oder Zusammenschreibung von Verben einen relativ grossen Spielraum kennen.
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Vielversprechende Kandidaten für Konkurrenzbildungen sind SubstantivSubstantiv-Verbindungen, die syntaktisch als Substantive mit einer abhängigen Nominalphrase im Genitiv oder einer Präpositionalphrase gebildet werden (die Beispiele Hausdach vs. Dach des Hauses und Holzschuh vs. Schuh aus Holz in Tabelle 1); schliesslich auch Substantive mit attributivem Adjektiv (das Beispiel Grüntee vs. grüner Tee in Tabelle 1). Die weiteren Zuordnungsmöglichkeiten in Tabelle 1 nehmen vor allem zahlenmässig eine weniger prominente Stellung ein. Tabelle 1: Zuordnung syntaktischer Konstruktionen zu Komposita nach Wortart Wortart Kopf N
V
ADJ
[radfahren Rad fahren]
N
N + NP [Gen.] (Hausdach – Dach des Hauses) N + PP (Holzschuh – Schuh aus Holz) N → Adj + N (Sumpfwiese – sumpfige Wiese)
Adj + PP (kinderreich – reich an Kindern) Adj + PP [als/wie] (grasgrün – grün wie Gras)
V
N + PP [V → N] [gefriertrocknen Adj + PP[V → N] (Schwimmbahn – Bahn zum Schwimmen) kennenlernen] (fahrsicher – sicher im V[Partizip] + N Fahren) (Heilkraft – heilende Kraft)
Adj + N ADJ (Grüntee – grüner Tee)
[leertrinken leer trinken]
Adj Konj Adj (blauweiss – blau und weiss)
4 Bisherige Untersuchungen An bisherigen Untersuchungen zur Frage nach lexikalisch identischen Wortverbindungen mit Konkurrenz zwischen morphologischer und syntaktischer Bildungsweise für das Deutsche sind Barz (1996), Bücking (2009, 2010), Schlücker & Hüning (2009), Schlücker & Plag (2011), Gaeta & Zeldes (2012) und Böer, Kotowski & Härtl (2012) zu nennen (vgl. auch Roth 2014: 50 – 55). Barz (1996) geht vor allem auf generelle Verteilungsmuster ein (Wortarten, Benennungsfunktion, etc.). Nach ihr ist echte Konkurrenz (also gleiche Konstituenten und gleiche Bedeutung) wie bei Schwarzmarkt vs. schwarzer Markt der Ausnahmefall (vgl. Barz 1996: 131).
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Ebenfalls ein genereller semantischer Aspekt, nämlich der Charakter der Benennungsfunktion bei Komposita, ist eine der Hauptbeobachtungen bei Bücking (2009, 2010). Er führt dies u. a. am Beispiel der Kategorisierungsleistung von Farbadjektiven in Komposita vor – so ist roter Blautee problemlos möglich, während roter blauer Tee als widersprüchlich wahrgenommen wird (vgl. Bücking 2009: 185). Schlücker & Hüning (2009) untersuchen wie bereits Barz (1996) und Bücking (2009, 2010) Adjektiv-Substantiv-Verbindungen. Sie verwenden Textkorpora, indem sie in Korpusbelegen Austauschtests vornehmen, d. h. sie ersetzen ein Kompositum durch die entsprechende Verbindung aus Substantiv und attributivem Adjektiv (oder umgekehrt) und bewerten dann die semantischen Unterschiede (bzw. den Grad der Äquivalenz) der beiden Äusserungen. Sie sehen vier Hauptauslöser für die Verwendung von Komposita statt äquivalenten Phrasen, nämlich Benennung, Vereinfachung der syntaktischen Struktur, bessere Anpassung an den syntaktischen Kontext sowie die Möglichkeit, als Basis für weitere Wortbildung zu dienen (vgl. Schlücker & Hüning 2009: 222– 224). Ein spezifisches Resultat aus Schlücker & Hüning (2009) ist, dass Adjektive wie extrem, optimal und sozial viele Konkurrenzbildungen ohne semantische Unterschiede vorweisen, aber keine Komposita mit Konkreta bilden (vgl. Schlücker & Hüning 2009: 217– 219). Schlücker & Plag (2011) untersuchen experimentell, ob neue Adjektiv-Substantiv-Verbindungen eher als Komposita oder als syntaktische Phrasen gebildet werden. Sie finden dabei eigentliche Komposita- und Phrasen-Familien: Gewisse Bestimmungsglieder (hier immer Adjektive) treten bevorzugt in Komposita, andere bevorzugt in syntaktischen Phrasen auf. Entscheidend dabei ist die Typefrequenz der entsprechenden Konstituente in Wortverbindungen. Die Tokenfrequenz scheint keine grössere Rolle zu spielen. Gaeta & Zeldes (2012) gehen korpuslinguistisch vor. Ihr Interesse an Konkurrenzbildungen gründet aber mehr in einer möglichen semantischen Interpretation von Komposita durch das Auffinden von lexikalisch identischen syntaktischen Phrasen. Eigentliche Verteilungsanalysen nehmen sie keine vor. Böer, Kotowski & Härtl (2012) sehen sich wieder Adjektiv-Substantiv-Verbindungen an. In psycholinguistischen Experimenten untersuchen sie Memorisierbarkeit und Salienz von Komposita und syntaktischen Entsprechungen (beides Neubildungen). Die Resultate suggerieren Unterschiede in der Verarbeitung von Komposita und syntaktischen Phrasen – allerdings noch mit einigem Interpretationsspielraum.
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5 Daten und Methoden Die hier vorgenommene korpuslinguistische Untersuchung basiert ganz grundlegend auf den Daten, die für das Kollokationenwörterbuch (vgl. Häcki Buhofer et al. 2014) erhoben wurden. Dazu zählen insbesondere die verwendeten Textkorpora, Methoden der Kollokationsextraktion, der Assoziationsmassberechnung und der Kompositasegmentierung. Explizit für die Analyse der Konkurrenzbildungen wurden schliesslich Methoden der distributiven Semantik hinzugezogen.
5.1 Korpora Die für diesen Bereich schwerpunktmässig verwendeten Korpora sind solche, die im Volltext vorlagen (vgl. Roth 2014: 57– 62), da dies für umfangreichere Berechnungen eine notwendige Voraussetzung darstellt. Es sind dies: das Schweizer Textkorpus im Umfang von rund 20 Millionen Textwörtern (vgl. Bickel, Gasser, Häcki Buhofer, Hofer & Schön 2009), ein eigenes Web-Korpus mit regionaler Berücksichtigung der drei Länder mit der grössten Anzahl Deutschsprachiger (Deutschland, Österreich, Schweiz) im Umfang von etwa 650 Millionen Textwörtern (vgl. Roth 2012) sowie ein Usenet-Korpus aus dem Jahre 2004 mit rund 60 Millionen Textwörtern (vgl. Roth 2005). Diese drei Korpora unterscheiden sich nicht nur in der Grösse, sondern decken auch sonst unterschiedliche Bedürfnisse ab. Das Schweizer Textkorpus ist ein ausgewogen zusammengestelltes Korpus der deutschen Standardsprache der Schweiz im 20. Jahrhundert.² Das Web-Korpus ist das grösste verwendete Korpus und so gesehen am besten für Kollokationsanalysen geeignet. Es berücksichtigt, wie erwähnt, die regionalen Perspektiven von Deutschland, Österreich und der Schweiz, enthält allerdings nur digital im Internet verfügbare Texte. Ebenfalls aus digital entstandenen Texten besteht das Usenet-Korpus. Da seine Texte am stärksten als konzeptuell mündlich angesehen werden können, vermögen sie bis zu einem gewissen Grad das vorwiegend aufwandbedingte Fehlen mündlicher Texte in den Korpora auszugleichen.
Für Deutschland konnte für das Wörterbuch – allerdings nur für die Kollokationen, nicht für die Komposita – zusätzlich auf das DWDS (vgl. http://www.dwds.de) zurückgegriffen werden.
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5.2 Kollokationsextraktion: Kookkurrenz- und Assoziationsmassberechnug Für die Kollokationsextraktion wurden Kookkurrenzen gesammelt und dazu Assoziationsmasse berechnet (vgl. Roth 2014: 63 – 82). Für gewisse Typen von Kollokationen (z. B. Substantiv-Verb- und Adverb-Verb-Kollokationen) wurden Kookkurrenzen innerhalb eines Satzes im Abstand von fünf Wörtern berechnet. Diese Kookkurrenzen wurden vor der Weiterverwendung (aber nach der Assoziationsmassberechnung, s. unten) daraufhin überprüft, ob es sich um eine syntaktische Konstruktion oder ein bloss zufälliges Aufeinandertreffen handelt. Für andere Konstruktionstypen (etwa Substantive mit attributivem Adjektiv oder die meisten Substantiv-Substantiv- Kollokationen) unterliefen die Textkorpora zuerst ein Noun-Chunking (vgl. Abney 1996), aus dem direkt die entsprechenden syntaktischen Verbindungen abgeleitet werden konnten. Sowohl für die abstandsbasierten als auch die Nominalchunks entstammenden Kookkurrenzen wurden – wie dies standardmässig bei der automatischen Kollokationsextraktion getan wird – aus der Statistik abgeleitete Assoziationsmasse berechnet. Konkret wurden T-Score, Log-Likelihood, Mutual Information und LogDice ermittelt (vgl. z. B. Evert 2005).
5.3 Automatische Kompositasegmentierung Für die automatische Kompositasegmentierung gibt es verschiedene Ansätze, die schon erprobt wurden. Sie reichen von einfachen musterbasierten Wort-in-WortSuchen über statistische Ansätze hin zu kompletten Morphologiesystemen, die ihrerseits wieder stärker statistisch oder stärker regelbasiert sein können oder sich mehr oder weniger stark auf ein Lexikon stützen (vgl. auch Roth 2014: 82– 116). Beliebt sind wie vielerorts kombinierte Verfahren. So wurde auch für das Kollokationenwörterbuch und die vorliegende Untersuchung ein hybrides Verfahren eingesetzt. Das Segmentierungsverfahren besteht einerseits aus dem Morphologiesystem Morphisto (vgl. Zielinski & Simon 2008; Zielinski, Simon & Wittl 2009), das selber auf SMOR (vgl. Schmid, Fitschen & Heid 2004) aufbaut. Wörter, die von Morphisto nicht abgedeckt sind, durchlaufen eine einfache Konkatenationsanalyse, bei der versucht wird, das zu segmentierende Wort aus anderen Wörtern des Korpus zusammenzusetzen. Beide Komponenten nutzen darunterliegend die Stuttgart-Finite-State-Transducer-Tools (SFST) (vgl. Schmid 2006), sodass beide Komponenten gleich angesprochen werden können und kompatible Resultate liefern.
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Beide Komponenten neigen zu starker Übergenerierung, und beide Komponenten geben nicht an, welche Analyse die beste oder wahrscheinlichste ist. Aus diesem Grund wird ein Modul nachgeschaltet, das diese möglichen Analysen gewichtet und eine einzige Segmentierungsmöglichkeit als die wahrscheinlichste auswählt. Angelehnt an Koehn & Knight (2003) und Dyer (2009) wurde mit einem Maschinenlernverfahren ein Maximum-Entropie-Modell zur Disambiguierung erstellt, das mit verschiedenen automatisch erhebbaren Merkmalen arbeitet, die für Komposita und ihre Segmentierung relevant sein können (z. B. Korpusfrequenzen von Konstituenten, Konsonantenhäufungen, Anzahl Konstituenten, etc. – vgl. Roth 2014: 97– 110). Rund 5000 Wortformen und ihre möglichen Segmentierungen wurden manuell vorklassifiziert, um als Trainingsmenge für das Maximum-Entropie-Modell dienen zu können.
5.4 Distributionelle Semantik und Latent Semantic Analysis Bei den hier untersuchten Konkurrenzbildungen sollten möglichst nur Komposita und Kollokationen berücksichtigt werden, deren Konstituenten lexikalisch identisch sind und die darüberhinaus gleiche oder ähnliche Bedeutung haben. Der lexikalischen Entsprechung über die Konstituenten sind die vorhergehenden Abschnitte gewidmet. Semantik ist jedoch ungleich schwieriger automatisiert zu verarbeiten. Ein Ansatz dabei sind quantitative Verfahren der distributionellen Semantik (vgl. z. B. Turney & Pantel 2010 sowie Roth 2014: 161– 167). Hierbei versucht man, die Bedeutung eines Wortes oder eines Ausdrucks über eine Quantifizierung seiner textuellen Umgebung zu fassen. Die Bedeutung eines Ausdrucks wird über die Kontexte, in denen er vorkommt, beschrieben. Die Kontexte werden dabei als Vektorräume dargestellt, mit den Wörtern (Types) als Dimensionen und der jeweiligen Tokenzahl als Ausdehnung. Solche vektorraumbasierten Methoden wurden zuerst im Bereich Information Retrieval sowie bei Suchmaschinen und dergleichen verwendet. Die für die vorliegende Untersuchung verwendete Latent Semantic Analysis (LSA) (vgl. z. B. Turney & Pantel 2010) ist eine Methode, um die Anzahl der Dimensionen eines solchen Vektorraums zu verringern und damit die Komplexität des Modells zu reduzieren. Die konkreten Berechnungen dieser Vektoren, Modelle und Ähnlichkeiten wurden mithilfe des Softwarepakets Gensim (vgl. Řehůřek & Sojka 2010) durchgeführt. Klar ist, dass damit viele der subtileren Bedeutungsunterschiede nicht erfasst oder nicht eindeutig erfasst werden können. Ähnlicher oder unterschiedlicher Kontext kann gerade bei beschränkter Datenmenge sehr viele Gründe haben.
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Hohe LSA-Ähnlichkeitswerte bei gleichzeitiger lexikalischer Identität der Konstituenten sind jedoch ein starker Hinweis auf Bedeutungsähnlichkeit. Untersuchungen haben gezeigt, dass LSA bei Sprachtests, bei denen Synonyme ausgewählt werden mussten,³ mit menschlichen Probandinnen und Probanden mithalten konnte (vgl. Landauer & Dumais 1997; Rapp 2003).
6 Analyse Die Frage, die analysiert werden soll, ist diejenige, ob Faktoren und Umstände gefunden werden können, welche bei Konkurrenzbildungen die Verwendung des Kompositums bzw. der Kollokation begünstigen. Unter Konkurrenzbildungen werden Wortverbindungen verstanden, die einmal als Kompositum und einmal als syntaktische Phrase gebildet werden, lexikalisch aus denselben Konstituenten bestehen und synonym oder zumindest bedeutungsähnlich zueinander sind. Die bisherigen Ausführungen haben aufgezeigt, dass Konkurrenzbildungen zwischen Komposita und Kollokationen nicht so leicht systematisch und in grösserem Ausmass zu fassen sind. Weder kann auf einfache Weise eine Grenze zwischen Kollokationen und freien Wortverbindungen gezogen werden, noch sind lexikalisierte Komposita leicht als solche zu bestimmen. Das Auffinden von Entsprechungen mit lexikalisch identischen Konstituenten funktioniert relativ gut, doch die Feststellung von Synonymität oder Bedeutungsähnlichkeit bereitet wieder grössere Schwierigkeiten. Da schwierig einzuschätzen ist, inwiefern Assoziationsmasse bei Kollokationen und bei Komposita miteinander vergleichbar sind, wurden für die vorliegende Untersuchung alle Wortverbindungen mit einer Mindestzahl von drei Belegen je Bildungsart berücksichtigt – auf die Gefahr hin, dass damit auch einige Wortverbindungen dabei sind, die nicht wirklich als lexikalisierte Komposita oder als Kollokationen durchgehen. Als bedeutungsähnlich wurden schliesslich diejenigen Verbindungen gewählt, die einen LSA-Ähnlichkeitswert von über 0.4 aufweisen. Dies entspricht dem obersten Quartil aller berechneten LSA-Ähnlichkeitswerte (vgl. auch Roth 2014: 166 – 167). Die generellen Aussagen über die Verteilung von Komposita und Kollokationen (beteiligte Wortarten, Beschreibungs- vs. Benennungsfunktion etc.) können gut als Ausgangspunkt für eine genauere Untersuchung genommen werden.
Es handelte sich um einen Multiple-Choice-Test des Zertifikats Test of English as a Foreign Language (TOEFL).
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Ebenso geeignet dafür sind die von Schlücker & Hüning (2009) formulierten Faktoren für eine Bevorzugung eines Kompositums gegenüber einer äquivalenten syntaktischen Phrase (neben der bereits genannten Benennungsfunktion): – Vereinfachung der syntaktischen Struktur – Anpassung an den syntaktischen Kontext – Basis für weitere Wortbildung Im gleichen Atemzug als untersuchenswert zu nennen ist die Aussage aus Schlücker & Plag (2011), wonach bestimmte Wörter eigentliche Komposita- bzw. Phrasen-Familien bildeten. Zu generelleren Fragestellungen erweitern lassen sich aus obigen Punkten insbesondere die Vereinfachung und Anpassung an den Kontext. Da Komposita kompakter und kürzer sind als ihre syntaktisch gebildeten Äquivalente, stellt sich die Frage, ob und wie sprachliche Ökonomieaspekte hier eine Rolle spielen. Darüber hinaus ist der Kontext auch allgemeiner denn nur als syntaktischer Kontext ein vorstellbarer Einflussfaktor.
6.1 Einfluss allgemeiner Verteilungen Die Einflüsse der genannten allgemeinen Verteilungen auf das Kompositions- und Kollokationsverhalten müssen bei den nachfolgenden Analysen immer im Hinterkopf behalten werden. Sie sind teilweise sehr offensichtlich und gut nachvollziehbar, auch in den Korpora. Das Übergewicht der Komposition im nominalen Bereich etwa zeigt sich deutlich an Belegen und Zahlen. Beispielsweise sind im Schweizer Textkorpus bei Zählung nach Types fast 90 % aller Komposita Substantive, bei den Kompositakonstituenten machen die Substantive im selben Korpus fast 80 % aus (vgl. Roth 2014: 36). Schwierig in grösserem Rahmen korpuslinguistisch nachzuweisen ist die Verteilung von Beschreibungs- und Benennungsfunktion, da semantische Auswertungen dieser Art bisher nicht genügend zuverlässig automatisiert durchgeführt werden können.
6.2 Sprachliche Ökonomie Wendet man sich spezifischer den Konkurrenzbildungen zu, so ist einer der Hauptunterschiede, dass Komposita kürzer sind als ihre syntaktischen Entsprechungen. Letztere kennzeichnen im Gegenzug die Verbindung zwischen den Konstituenten explizit. Dies erinnert sehr an sprachökonomische Prinzipien, wie
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sie etwa in Sprachwandeltheorien prominent vertreten werden (vgl. z. B. Keller 1994). Die Wechselwirkungen sind aber insofern komplexer, als eine syntaktisch gebildete Wortverbindung zwar insgesamt länger ist als das entsprechende Kompositum, dafür aber kürzere Einheiten verwendet. Untersucht wurde, ob direkte Längeneffekte feststellbar sind. Bei der Anzahl Konstituenten werden kürzere Komposita, d. h. solche aus nur zwei Teillexemen, klar bevorzugt (vgl. z. B. Ortner et al. 1991 oder Roth 2014: 38). Auch bei einer Messung nach Silbenzahl haben Komposita des Deutschen selten mehr als acht Silben. Interessant wäre nun zu sehen, ob bei längeren Komposita vermehrt auf syntaktische Bildungen ausgewichen wird. Bei zweiwertigen⁴ Komposita und Konkurrenzverbindungen ist eine solche Tendenz in den untersuchten Korpora nicht festzustellen. Komposita ohne syntaktische Entsprechung zeigen eine sehr ähnliche Häufigkeitsverteilung nach Silbenzahl wie Komposita mit syntaktischer Entsprechung (Konkurrenzverbindungen). Die Komposita mit syntaktischer Entsprechung können weiter in Untergruppen nach Komposita-Anteil aufgeteilt werden: in solche mit Kollokationenüberhang (der Kollokationenanteil ist höher als der Komposita-Anteil), solche mit Kompositaüberhang (der Komposita-Anteil ist höher) und solche mit etwa ausgeglichenem Verhältnis. Doch auch hier zeigt sich nicht das Bild, dass die Verbindungen mit Kollokationenüberhang die längsten wären und diejenigen mit Kompositaüberhang die kürzesten. Vielmehr zeigen diese beiden Gruppen eine ganz leicht andere Verteilung bei den Silbenzahlen als die Konkurrenzbildungen mit ausgeglichenem Verhältnis. Ganz ähnlich wie letztere zeigen sich übrigens die Bildungen mit den grössten Bedeutungsähnlichkeitswerten⁵ (vgl. Roth 2014: 190). Signifikante und konsistente Unterschiede sind sowohl bei den Hauptgruppen (Komposita ohne vs. Komposita mit Entsprechung) als auch bei den Untergruppen der Komposita mit Entsprechung nicht nachweisbar. Die Verteilungen nach Silbenzahl deuten nicht darauf hin, dass die Verwendung von Konkurrenzbildungen (und ihre Verteilung) einem sprachlichen Ökonomiebedürfnis folgen würde.
Verbindungen aus genau zwei Konstituenten. LSA-Werte über 0.4, entspricht dem ersten Quartil.
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6.3 Kontext Schlücker & Hüning (2009) nennen einen kontextbedingten Faktor, der den Gebrauch von Komposita oder Kollokationen bei Konkurrenzbildungen steuert, nämlich recht allgemein die Anpassung an den syntaktischen Kontext. Andere Arten kontextueller Beeinflussung, nicht nur syntaktische, sind jedoch ebenso denkbar.
6.3.1 Syntaktischer Kontext Augenfällige Anpassungen an den syntaktischen Kontext, die durch die Wahl eines Kompositums anstelle einer Kollokation (oder umgekehrt) vorgenommen werden können, sind einerseits Wiederholungsvermeidungen (etwa zwei Genitivattribute gleich hintereinander – also z. B. eher Alterungsprozess des Materials als Prozess der Alterung des Materials) und andererseits der syntaktische Zugang zum Bestimmungsglied des Kompositums (soll z. B. bei einem Stellenabbau die Anzahl der abgebauten Stellen genannt werden, kann man dazu das Kompositum auflösen: Abbau von 500 Stellen). Die mutmassliche Wiederholungsvermeidung lässt sich in den Korpora besonders gut an Genitivattributen sowie an attributiven Adjektiven untersuchen. Eine Tendenz zur Wiederholungsvermeidung kann in diesen beiden Fällen tatsächlich nachgewiesen werden. Für den Fall der attributiven Adjektive wurden Konkurrenzbildungen mit vorangestelltem attributivem Adjektiv betrachtet. Dabei ist der Anteil der Komposita höher, wenn die Wortverbindung aus Adjektiv und Substantiv besteht, als wenn sie aus zwei Substantiven zusammengesetzt ist: Zwei Adjektive in Folge werden tendenziell gemieden (vgl. Roth 2014: 199 – 201). Ähnlich ist der Befund bei nachgestellten Genitivattributen. Substantiv-Substantiv-Verbindungen mit nachgestelltem Genitivattribut werden häufiger als Komposita realisiert als entsprechende Adjektiv-Substantiv-Verbindungen mit Genitivattribut. Damit kann das Aufeinandertreffen zweier Genitivattribute vermieden werden (vgl. Roth 2014: 202– 203). Diese Resultate stützen die von Schlücker & Hüning (2009) postulierte Anpassung an den syntaktischen Kontext mittels Verwendung von Kompositum oder syntaktischer Phrase auch aus korpuslinguistischer Sicht.
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6.3.2 Kontextuelle Längeneffekte Weitere Kontexteffekte beziehen sich auf die Länge von Wörtern und Sätzen. Komplexere Texte enthalten längere Sätze, und längere Sätze enthalten generell längere Wörter (vgl. Best 2002). Im vorliegenden Zusammenhang lässt sich daraus die Hypothese ableiten, dass bei Konkurrenzbildungen Komposita – da selber länger – in längeren Sätzen und zusammen mit längeren Wörtern vorkommen, als dies für ihre syntaktisch gebildeten Entsprechungen der Fall ist. Die betrachteten Korpora bestätigen diese Hypothese: Komposita kommen in längeren Sätzen und zusammen mit längeren Wörtern vor als die entsprechenden Kollokationen. Im untersuchten Web-Korpus (Roth 2012) liegt die mittlere Satzlänge (ohne Zielbegriff) für Sätze mit Komposita aus Konkurrenzbildungen bei 24.6 Wörtern, für Sätze mit entsprechenden Kollokationen bei 22.9 Wörtern (vgl. Roth 2014: 198 – 199). Zur Ermittlung der Wortlänge im Kontext wurden für jedes Vorkommen einer Konkurrenzbildung die Wörter im selben Satz nach Silben ausgezählt. Der gemittelte Median dieser Satzkontextwörter beträgt bei Sätzen mit Komposita 2.00 Silben, bei den Sätzen mit entsprechenden Kollokationen 1.93 Silben. Die Unterschiede der Längen im Kontext sind zwar nicht sehr gross, aber doch klar feststellbar (vgl. Roth 2014: 198 – 199).
6.3.3 Textkonsistenz Ebenfalls eine kontextuelle Grösse ist die Frage, ob in ein und demselben Text eine Konkurrenzbildung in nur einer Form oder in beiden Bildungsarten vorkommt. Es zeigt sich, dass das Bestreben, in einem Text nur eine Bildungsart zu verwenden, allgemein gross ist. Für das Web-Korpus aus Roth (2012) gilt, dass nur 4.4 % der Konkurrenzbildungen, die in Texten mehrfach vorkommen, auch nach Bildungsart wechselnd in einem Text verwendet werden (vgl. Roth 2014: 192– 195). Teils liegen Wechselverwendungen dann vor, wenn sich der Kontext für die eine oder andere Form entsprechend bietet (s. oben). Teils scheinen sie auch stilistisch begründet, und zwar in dem Sinne, dass eine Möglichkeit zur Variation genutzt wird, wenn ein Begriff sehr häufig in einem Text erscheint.
6.4 Komposita- und Phrasenfamillien Ein weniger allgemeiner und stärker lokaler Faktor, der bei Konkurrenzbildungen mit der einen oder anderen Bildungsart zusammenhängen kann, sind die ein-
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zelnen beteiligten Konstituenten. Bestimmte Wörter kommen besonders oft als Kopf bzw. Nicht-Kopf in Komposita bzw. Kollokationen vor. Bestimmte Wörter bilden demnach eigentliche Komposita- bzw. Phrasenfamilien. Dies hat auch einen Einfluss darauf, wie neue Kombinationen gebildet werden, ob als Kompositum oder nicht (vgl. Schlücker & Plag 2011). Schlücker & Plag (2011) gehen zumindest für Adjektiv-Substantiv-Verbindungen von solchen Komposita- bzw. Phrasenfamilien aus und haben experimentell festgestellt, dass besonders die Familiengrösse der attribuierenden Konstituente entscheidend für die tatsächlich gewählte Bildungsart ist. Die Familiengrösse des Kopfes ist nach Schlücker & Plag (2011) weitgehend vernachlässigbar. Es stellt sich die Frage, ob der Einfluss der Familiengrösse ähnlich ist, wenn nur Konkurrenzbildungen betrachtet werden, also nur diejenigen Kombinationen, bei denen beide Bildungsarten vorkommen. Zudem sind die Datengrundlagen des vorliegenden Beitrags keine Experimentaldaten, sondern Korpora, bzw. konkret vornehmlich das Web-Korpus aus Roth (2012).
Abbildung 1: Anteil Kollokationen bei Konkurrenzbildungen mit kollokativen oder nicht-kollokativen Konstituenten
Abbildung 1 zeigt den Zusammenhang zwischen kollokativen (links) bzw. nichtkollokativen Konstituenten (rechts) und dem Anteil Kollokationen in Konkurrenzbildungen. Als kollokativ wird ein Wort bezeichnet, wenn bei den Types der Konkurrenzbildungen, an denen es beteiligt ist, überdurchschnittlich oft Kollokationen gegenüber Komposita in der Mehrheit sind.⁶ Abbildung 1 links ist fol Gezählt wurden Wörter mit einer Mindestzahl von zehn Konkurrenzbildungen (Types). Als
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gendermassen zu lesen: Die Balken zeigen die Anzahl Konkurrenzbildungen (Types), bei denen mindestens eine Konstituente kollokativ ist, mit ihrem jeweiligen Anteil an Kollokationen. Beim Beispiel Demokratieabbau – Abbau von Demokratie ist die Kollokation (Abbau von Demokratie) mit einem Anteil von 22 % in der Minderheit (das Kompositum also verbreiteter). Konkurrenzbildungen mit Abbau als Kopf haben tendenziell ebenfalls einen kleineren Kollokationenanteil (im Durchschnitt 39 %). Konkurrenzbildungen mit Demokratie als Nicht-Kopf haben jedoch einen durchschnittlichen Kollokationenanteil von 62 %, weshalb für unser Beispiel in Abbildung 1 links der Balken zwischen 20 und 25 % um 1 erhöht wird. Die beiden senkrechten Linien im Diagramm geben zudem Median (gestrichelte Linie) und arithmetisches Mittel (gepunktete Linie) der Kollokationenanteile an. Das Diagramm rechts in Abbildung 1 bildet dementsprechend die Kollokationenanteile der Konkurrenzbildungen ohne kollokative Konstituenten ab. Die beiden Diagramme zeigen wie erwartet, dass die Kollokationenanteile der Konkurrenzbildungen mit kollokativen Konstituenten höher sind als jene mit nichtkollokativen Konstituenten. Die Korrelation zwischen Kollokationenanteil einer Konkurrenzbildung und dem maximalen durchschnittlichen Kollokationenanteil ihrer Konstituenten (bzw. der Konkurrenzbildungen, an denen die Konstituenten beteiligt sind) ist klar feststellbar, jedoch nicht sonderlich stark (Spearmans ρ = 0.42 bei p