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German Pages 120 Year 1975
Germanistische Arbeitshefte
14
Herausgegeben von Otmar Werner und Franz Hundsnurscher
Hans Ramge
Spracherwerb Grundzüge der Sprachentwicklung des Kindes
2., überarbeitete Auflage
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1975
ISBN 3-484-25016-x © Max. Niemeyer Verlag Tübingen 1975 Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Printed in Germany
INHALTSVERZEICHNIS
Abkürzungen und Synbole
VII
Vorwort
IX
Vorwort zur 2. Auflage
X
0
Einleitung O.l "Spracherwerb" 0.2 Ein Beispiel für das Sprechen eines 26 Monate alten Kindes . . 0.3 Einige Fragestellungen 0.4 Zum Interesse am "Spracherwerb"
1 1 2 4 6
1
Zum Verhältnis von Spracherwerb und dem Erwerb der Fähigkeit zu sprachlichem Handeln 1.1 Das Prinzip der 'symbolischen Rollenübernahme1 1.1.1 Wissen und die Einbeziehung der Perspektive des Anderen . . . 1.1.2 Kognitive und symbolische Rollenübernahme 1.1.3 Sprechhandlungskompetenz, Sprachkompetenz und Interaktion . . 1.2 Zum Erwerb von Aufforderungshandlungen 1.2.1 Aufforderungen als Handlungen 1.2.2 Zum Lernen von Aufforderungs-Regeln 1.2.3 Zum Erwerb der 'Bitte'-Handlung 1.2.4 Indirekte AuffOrderungshandlungen und sprachliche illokutive Indikatoren
21
Zum Verhältnis von Spracherwerb und Granmatiktheorie 2.1 Sprachkompetenz und Sprachperformanz 2.1.1 Der ideale Sprecher-Hörer 2.1.2 Performanz = Kompetenz + x? 2.2 Mentale Grammatik und linguistische Grammatik 2.2.1 Korrespondenz- und Korrelationshypothese 2.2.2 Sprachverwendungs-Grammatik und Spracherwerb 2.2.3 Mentale Grammatik und Wahrnehmungsstrategien 2.3 Die Bedeutung des Spracherwerbs für die Sprachtheorie der TG 2.3.1 Kreativität und Spracherwerbs-Modell . . . 2.3.2 Exkurs: Biologische Grundlagen der Sprache 2.3.3 Zur Kritik des LAD
24 24 24 26 26 26 30 32 34 34 35 36
2
3
Zun Erwerb und zur Entwicklung der Semantik 3.1 Zum Verhältnis von psychisch-kognitiver und sprachlicher Entwicklung 3.1.1 Die Entwicklung des Denkens nach J.Piaget 3.1.2 Die Funktion des "komplexen Denkens" für die Verwendung sprachlicher Zeichen 3.2 Konditionierung und semantische Merkmale 3.2.1 Der Konditionierungsvorgang nach Ch.Osgood 3.2.2 Konditionierungsumstände und Bedeutungskonzept 3.2.3 Semantische Merkmale
.
8 8 8 10 12 15 15 16 18
40 40 40 42 44 44 46 48
VI
4
5
3.3
Erwerb und Entwicklung semantischer Merkmale
49
3.3.1 3.3.2 3.3.3
Die Entstehung semantischer Merkmale aus dem Bedeutungskonzept . Bedeutungsumfang und Generalisierung Gegensätzliches Sprechen
49 51 53
3.3.4
Zum Erwerb der Modalverben
54
Zum Erwerb und zur Entwicklung der phonologischen und morphologischen Systeme 4.1 Die Entwicklung des Phonemsystems 4.1.1 Phoneme 4.1.2 Die erste Distinktion: Konsonant - Vokal 4.1.3 Die ersten phonemischen distinktiven Merkmale 4.1.4 Distinktive Merkmale als substantielles linguistisches Universale 4.2 Die Bildung von phonemischen Kombinationsregeln 4.2.1 Phonemfolgen 4.2.2 Die Entwicklung einer phonemischen Kombinationsregel 4.3 Regel- und Hypothesenbildung in der Morphologie
59 59 59 59 60 61 62 62 65 68
4.3.1
Das Plural-Morphem im Deutschen
68
4.3.2 4.3.3 4.3.4
Der Produktions-Test als Elizitationsmethode Das Verhältnis von korrekten und abweichenden Pluralformen. . . Zum weiteren Aufbau der Plural-Regeln
69 70 72
Zum Erwerb und zur Entwicklung der Syntax
75
5.1
Einwort-Äußerungen als Sätze
75
5. 2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4 5.2.5 5.3 5.3.1 5.3.2
Die Zweiwort-Sätze und ihre Beschreibung Der Erwerb von Zweiwort-Sätzen Die Beschreibung von Zweiwort-Sätzen in der P/O-Grammatik . . . Die Beschreibung von Zweiwort-Äußerungen in der TG Basisregeln und Erinnerungsspanne Satzerweiterung und Äußerungsfolgen Transformationen Der Erwerb der Umstellungs-Transformation in Fragesätzen . . . Nominalisierungs-Transformationen
77 77 78 81 83 89 91 91 93
5.4
Zur weiteren Differenzierung der syntaktischen Komponente . . .
95
5.4.1 5.4.2
Zur Entwicklung von Lokal-Präpositionalphrasen 95 Die Weiterentwicklung der syntaktischen Komponente, untersucht . mittels eines Verständnis-Tests 97 Der Erwerb von Sätzen mit unterordnender Konjunktion 98 Die Reproduktion von Satzgefügen in einem Imitations-Test . . . lOO Ergebnisse und Testgrenzen 103
5.4.3 5.4.4 5.4.5
Lösungshinweise zu den Übungen
105
Literaturhinweise
109
ABKÜRZUNGEN UND SYMBOLE
Neben den allgemein üblichen Abkürzungen werfen verwendet: ADJ ADV ADVB AUX DET KONJ M N NP
Adjektiv Adverb Adverb-Gruppe Auxiliar-Gruppe Artikel Konjunktion N einer NP modifizierendes Element ('modifier') Nomen Nominalphrase
A
Leer-Symbol (1dummy')
P PP PRÄP PRO S V VP W
Pivot (vgl.5.2.2) Präpositionalphrase Präposition Pronomen Satz Verb Verbalphrase Wort
Alternativen fakultative Größen
(?)
nach Kontext: (1) in Regeln: (a) Ersetzungspfeil (b) 'wird zu1 (2) bei Literaturhinweisen: Die vollständige Bibliographie befindet sich in den 'Literaturhinweisen' (S.109 f.) Transformationspfeil 'entstanden aus' 'wird zu'
( ) (
)
Merkmal (nach Kontext: semantisch, phonemisch, morphemisch)
[ ]
phonetische Transkription
/ /
phonemische Transkription Die Wiedergabe gesprochener Äußerungen wird durch Phonem-Striche gekennzeichnet, obwohl aus Gründen der Lesbarkeit und Verständlichkeit die Äußerung meist weitgehend orthographisch wiedergegeben wird.
: .
Längezeichen in den Beispielen: deutet die Länge der Pausen an weitere in den Beispielen (= B) verwendete Abkürzungen: (Zahl)M. P M V
Lebensmonat 'Peter' 'Mutter' 'Vater'
VORWORT
Das Heft "Spracherwerb. Grundzüge der Sprachentwicklung des Kindes" überschneidet sich theratisch teilweise mit zwai anderen, in der Reihe der "Genranistischen Arbeitshefte" geplanten Arbeiten über Psycholinguistik und Soziolinguistik. Ich habe mich deshalb im wesentlichen auf die Darstellung zu beschränken versucht, mithilfe welcher Grundlagen und Prozeduren das kleine Kind sein sprachliches Regelsystem aufbaut und entwickelt. Dabei schien es mir nicht sinnvoll, von einem einzigen (granmatik) theoretischen Ansatz oder Modell auszugehen; denn der derzeitige Stand der Spracherwerbsforschung spiegelt sehr stark die Diskussion um die verschiedenen GraitmatikModelle, besonders der Transformationsgrammatik. Daher beschäftigen sich viele neuere Arbeiten zum Spracherwerb entweder mit Grundsatz fragen oder mit der Analyse des Erwerbs einzelner sprachlicher Elemente. Da es sicher nicht der Sinn eines Arbeitshefts ist, die Forschung in extenso zu referieren, habe ich es vorgezogen, am Beispiel der Sprachentwicklung vornehmlich eines Kindes Methoden, Ansätze und einige Ergebnisse und Annahmen der Spracherwerbsforschung aufzuzeigen. Zahlreiche Beispiele sollen es darüber hinaus dan Benutzer ermöglichen, über den Rahmen des gerade Diskutierten hinaus eigene Überlegungen zu Spracherwerb und -entwicklung anzustellen. Das gilt auch für die Übungen, zu denen mögliche Lösungen im Anhang angegeben sind. Das Heft ist als Arbeitsgrundlage für fortgeschrittene Proseminare und Übungen gedacht. Es setzt einige linguistische Grundkenntnisse voraus, auch wenn Termini und Verfahren im Heft noch einmal knapp skizziert werden. Es erscheint mir für die Analyse des Spracherwerbsprozesses wichtig, Handlungsund Grarrmatiktheorie, die in diesem Heft noch relativ unverbunden nebeneinander stehen, zu verbinden. Einige Ansätze dazu hoffe ich in absehbarer Zeit in einer größeren Arbeit vorlegen zu können. Die Kapitel dieses Hefts wurden als Papers von Studenten eines Seminars und von den Mitgliedern einer Porschungsgruppe über "Kommunikatives Handeln und Verhalten" im Scmnersemester 1972 an der Universität Gießen diskutiert.
X Ihnen danke ich ebenso herzlich wie den Herren Herausgebern dieser Reihe für ihre Anregungen und Verbesserungsvorschläge.
Gießen, August 1972
Hans Range
VORWORT ZUR 2. AUFLAGE Da die 2. Auflage ziemlich kurzfristig notwendig geworden ist, konnte ich das Heft nicht so umfangreich neu bearbeiten, wie ich es gern getan hätte. Größere Veränderungen wurden nur an der Einleitung und am 1. und 2. Kapitel vorgenaimen; das 6. Kapitel wurde aufgelöst und zum Teil in anderen Abschnitten integriert. Abgesehen von einer Reihe von Umstellungen, habe ich mich bemüht, viele Formulierungen und Gesichtspunkte präziser und einfacher auszudrücken, auch auf die Verwendung vieler Fachausdrücke zu verzichten. Dem liegt die Erfahrung zugrunde, daß das Heft vielfach im Rahmen der Deutschlehrerausbi ldung in Übungen benutzt wird, in denen die fachwissenschaftlichlinguistischen Interessen im engeren Sinn zugunsten anderer zurücktreten. Ich bin froh darüber, daß das Heft nicht als 'Fach'-Buch aufgenaimen worden ist; denn es soll ja weder ein Forschungsbericht sein, noch eine systematische (Fall-)Studie zum Spracherwerb im Deutschen. Es soll vielmehr vor allem Deutschlehrerstudenten in allen Ausbildungsgängen einen ersten Einblick ermöglichen in die Mechanismen des Spracherwerbs, der Sprachentwicklung und den damit verbundenen theoretischen Problemen und Fragestellungen. Die 'Materialgrundlage' der Darstellung, also hauptsächlich die Äußerungen meiner beiden Kinder, waren für mich beim Schreiben der 1. Auflage lebendige Wirklichkeit: jetzt geht Peter selbst schon zur Schule und Themas ist längst im Kindergartenalter. Der Zeitpunkt ist abzusehen, wann sie mir vorwerfen, daß ich ihre kindlichen Äußerungen zu Lehr- und Lernzwecken mißbraucht habe. Saarbrücken, September 1975
H.R.
O
EINLEITUNG
0.1
"Spracherwerb"
Unter "Spracherwerb" versteht man ganz allgemein den Vorgang, wie Menschen Sprachein) zu verstehen und zu sprechen lernen; seien es Fremdsprachen, Fachsprachen, Gruppensprachen oder künstliche Sprachen. Der Spracherwerb des Kindes, von dem in diesem Arbeitsheft die Rede ist, bezeichnet das Erlernen einer ersten Sprache ('first language acquisitum'). Der Spracherwerb des Kindes stellt insofern einen Sonderfall dar, als er aufs engste mit der Entwicklung vcm hilflos schreienden Neugeborenen zum handlungsfähigen Mitglied einer Gesellschaft verknüpft ist. Dabei ist zunächst bemerkenswert, mit welcher Geschwindigkeit Kinder sprechen lernen: Im fünften oder sechsten Lebensjahr verfügen sie gewöhnlich über die meisten sprachlich-graitmatischen Regeln, um sich mit Anderen erfolgreich verständigen zu können. Gewiß ist damit der Vorgang des Spracherwerbs noch nicht abgeschlossen: namentlich in den Bereichen der Wortbedeutungen und der Sprachverwendung lernt das Kind im Schulalter noch viel dazu. Grundsätzlich ist der Vorgang der Sprachentwicklung nie vollständig abgeschlossen: Auch der Erwachsene lernt zumindest gelegentlich neue Wörter dazu, verändert seinen Sprachgebrauch im einen oder anderen Punkt. Insofern ist die Begrenzung von 'Spracherwerb' auf die ersten fünf, sechs Lebensjahre des Kindes etwas willkürlich. Sie ist aber nicht nur dadurch gerechtfertigt, daß die Geschwindigkeit des Spracherwerbs danach erheblich nachläßt, sondern vor allem dadurch, daß die Sprachentwicklung in den ersten Lebensjahren sich bei allen Kindern, die unter 'normalen' Verständigvingsbedingungen aufwachsen, in allen bekannten menschlichen Sprachgnppen in sehr ähnlicher Weise vollzieht. Sie ist in ihren Grundzügen also weder abhängig von der Struktur der sozialen Umgebung des Kindes noch von der Struktur der jeweiligen Muttersprache. Diese Formulierung muß allerdings sofort dahingehend eingeschränkt werden, daß Spracherwerb und Sprachentwicklung des Kindes natürlich nicht unabhängig von diesen Strukturen sind. Gemeint ist nur, daß die Prinzipien, mittels derer sich die Kinder 'Sprache' aneignen, ziemlich konstant sind.
2
Diese Tatsache scheint die Annahme zu bestätigen, daß die Fähigkeit, eine Sprache zu erwerben, zu den angeborenen Anlagen des Menschen gehört. In der Tat verfügt von allen Lebewesen anscheinend nur der Mensch über die Fähigkeit, eine hochkcnplexe Symbolstruktur, wie sie die Sprache darstellt, zu lernen. Ließe sich die Hypothese von der angeborenen Sprachlernfähigkeit des Menschen (vgl. Kap. 2) beweisen, so hätten wir einen schlüssigen Erklärungsgrund für die relativ hohe Geschwindigkeit des kindlichen Spracherwerbs, deren übereinzelsprachliche Gleichartigkeit und die biologische Einzigartigkeit. Nach dem gegenwärtigen Forschungsstand muß die Annahme aber weiter als Hypothese betrachtet werden. Diese und andere theoretische Annahmen werden in den folgenden Kapiteln näher dargestellt. Eine Erscheinung wie Spracherwerb und Sprachentwicklung muß zunächst zureichend beschrieben sein, ehe sie erklärt werden kann. Scweit es sich um sprachlich-grairmatische Erscheinungen im engeren Sinne handelt, hängt der Grad der Beschreibungsangemessenheit wiederum von einer gewählten Theorie ab, hier einer Granmatiktheorie. Auch dazu werden in den folgenden Kapiteln einige Ansätze dargestellt. Welche Bedeutung Sprach- und Grammatiktheorien für die Beschreibung und Erklärung des kindlichen Spracherwerbs zukcmnt, stellt sich aber erst dann heraus, wenn man sich über mögliche Untersuchungsansätze und erkenntnisleitende Interessen im klaren ist. Dieser Gesichtspunkt soll deshalb einleitend zunächst etwas genauer untersucht werden. 0.2
Ein Beispiel für das Sprechen eines 26 Monate alten Kindes
Ausgangspunkt sei ein Handlungszusanmenhang, in dem ein etwas über zwei Jahre altes Kind spricht und handelt. Wie hier führe ich auch im folgenden hauptsächlich Beispiele von Äußerungen meiner beiden Kinder ein, vor allem von Peter (geb. 24.5.69), für die Anfänge des Spracherwerbs aber auch von seinem Bruder Themas (geb. 23.4.71). (B 1)
(Peter (im 26.Monat) ist mit seiner Mutter (=M) im Bad. Während sie ihn anzieht, hört er von der Straße her ein Autogeräusch:) n brumbrum . n brumbrum . n brumbrum is das! 5 M: Willst du gucken? gugn? M: Horch! harch (Peter verläßt das Bad und geht mit seinem Vater (=V), der auf 10 einem Schreibblock alle Äußerungen festhält, die Hausaußentreppe hinunter. Im Nachbargarten pflückt Herr Semler (=S) einen Nelkenstrauß .) V: Was macht der Herr Semler? n brumbrum is das .. hazi pflücken . Weba hazi . die frau Weba 15 S: Riech mal!
3 (Peter geht an den Zaun, riecht; Herr S. gibt Peter eine Nelke) danke . noch hazi! . noch . noch! S: Bring das der Mutti, Peter 1 (Er pflückt noch mehr Nelken und gibt sie Peter) 20 ... V: Wie sagst du? ui . ui, die großen blumen . die blumen . ah, viele blumen . die mami . (Peter läuft mit den Blumen ins Bad, wo M gerade seinen Bruder Thomas (3.Monat) badet. Er zeigt M die Nelken:) 25 ei, mami , viele a Heba bringt! M: Ach, sind die schön! (längere Pause, Peter beobachtet den Badevorgang:) große wanne . Peterwanne . große wan M: Ja, darin wird jetzt der Thomas gewaschen! 30 gewaschen (Peter bringt M ein Stück Seife an) M: Danke für die Seife die seife (kleinere Pause; Peter geht mit den Nelken in den Flur und zer35 streut sie dort auf dem Boden. In leicht klagendem Tonfall:) gugma, die blümchen runterschmeiß! (Er beginnt die Blätter abzurupfen; V verweist es ihm wortlos, indem er ihn am Arm faßt.) abmachen! 40 (kleine Pause, Peter besinnt sich:) Weber bringen . Weba bringt noch! (Peter läuft wieder hinaus an den Gartenzaun, zu Herrn S.:) noch! . noch hazi! . Weba!! (energisch) S: Ich höre! 45 mami papi mami papi mapi . Semla . blümchen Semler, papi . noch blümchen . haziblümchen! (Herr S. versteht offensichtlich nicht; V erklärt Herrn S., daß Peter noch Nelken möchte; mittlerweile beginnt Peter, die Haustreppe hochzukrabbeln:) 50 an . an .. noch eine greppe, eine treppe . noch hazi, Weba! . herr Semla! . noch hazi! . ja, wol . ja, ja, jawol, ja wol, jawol . noch hazi, Weba! . große blume . Peter blumen . noch blumen . blume gibt .. (Auf der Treppe liegt ein Stein.) großer stein . Weba . frau Weba! 55 (V deutet auf das Nachbarhaus.) V: Wer wohnt hier? Weba! V: Nein! Weba . nein 60 (Peter ist oben, geht in den Flur und sieht M.) die mami, ninimapi ... (längere Pause) Gesamtdauer der Szene: ca. 10 Minuten Übung (1) (1) Lesen Sie bitte die Szene noch einmal genau und versuchen Sie, sich die Situation so konkret wie möglich vorzustellen! (2) Was fällt Ihnen an Einzelheiten und zum gesamten Sprachverhalten des Kindes auf? Versuchen Sie, einzelne Äußerungen unter dem Gesichtspunkt der Aussageintention ("Aus welchem Grund und mit welcher Absicht sagt Peter etwas?") zu verstehen!
4 0.3
Einige Fragestellungen
Bei der Beschäftigung mit der Übungsaufgabe wird Ihnen aufgefallen sein, daß Ihre Beobachtungen mindestens zwei verschiedenen Kategorien zuzuordnen sind: einerseits weicht Peter in vielen sprachlichen Einzelheiten vom Standard der Erwachsenensprache ab, und zwar scwohl im phonologischen wie im morphologischen, syntaktischen und semantischen Bereich; andererseits weisen seine Handlungsformen, wie er mit Anderen kcmnuniziert, auch eine Reihe von Besonderheiten im Vergleich zum kcmnunikativen Handeln von Erwachsenen auf. Versuchen wir, aus diesen Beobachtungen einige vorläufige Fragestellungen zu entwickeln, indem wir von der Äußerungsfolge 41-46 ausgehen. Mit den beiden Äußerungen /Weber bringen . Weba bringt noch?/ will Peter offensichtlich ausdrücken, daß er erwartet, daß ihm der Nachbar /Wéber/ noch weitere Nelken schenkt. Wenn dieses Verständnis der Äußerungen richtig ist - und die nachfolgenden Handlungen Peters bestätigen es -, dann verwendet Peter /bringen/ in der standardsprachlichen Bedeutung 'geben'. Wie ist das zu erklären, zumal Peter kurz darauf das Zeichen /gibt/ selbst spontan benutzt (52)? Zwei Beschreibungsansätze bieten sich an: Einmal zeigt der Vergleich zweier standardsprachlicher Sätze wie Ich gebe dir den Brief Ich bringe dir den Brief
daß sich 'geben' und 'bringen' in der Semantik ziemlich ähnlich sind: beiden ist gemeinsam, daß sie die Tätigkeit bezeichnen, mit der ein Objekt von einem derzeit Besitzenden auf einen ßnpfänger verlagert wird. Bei 'bringen' könnt das Merkmal hinzu, daß sich der eine auf den Bnpfärtger zubewegt. Obwohl die Äußerung Peters für Erwachsene also irgendwie befratidlich ist, läßt sich sprachwissenschaftlich zeigen, daß nur ein geringer Unterschied in der Semantik der beiden Verben auch in der Standardsprache vorliegt. Von dieser Beschreibung her ergibt sich das Problem, ob Peter das 'bringen' und 'geben' differenzierende semantische Merkmal noch nicht erworben hat (daß beide Verben für ihn also bedeutungsgleich sind), oder ob er auch die beiden Tätigkeiten wahrnehmungsmäßig-geistig noch nicht auseinanderhält. Selbst die scheinbar einfache Bezeichnung mit einem Eigennamen (/Weber/ statt /Semler/; /Weber/ ist der Name eines anderen Nachbarn) und die Verwendung von /herr/ und /frau/ bereiten einem Kind dieses Alters noch Schwierigkeiten, ofcwohl es mit Sicherheit wahrnehmungsmäßig zwischen den beiden Personen und auch zwischen Männern und Frauen unterscheidet. Kann man den Prozeß des Erwerbs und der Entwicklung von Bedeutungen als einen Prozeß des Erwerbs semantischer Merkmale zureichend beschreiben? (vgl. Kap. 3) Der andere Beschreibungsansatz geht vom Interaktionsverlauf als ganzem aus. Da zeigt sich nun, daß Peter kurz zuvor /bringen/ ganz 'richtig' benutzt (25),
5 sieht man von der grairrratisch abweichenden Form des Partizips Perfekt ab (dazu vgl. Kap. 4.3). Die Blumen der Mutter zu 'bringen', war er aber gerade davor vom Nachbarn aufgefordert worden (18). D.h. die an die Mutter gerichtete Äußerung (25) kann als die selbständige Wiederaufnahme der Erwachsenenäußerung begriffen werden. Die Äußerung der Freude, mit der die Mutter in 26 reagiert, kann von Peter nun auch mit auf seine sprachliche Äußerung bezogen worden sein, so daß er nun geneigt ist, nicht nur das die Mutter erfreuende Ereignis zu wiederholen, sondern auch das gleiche Wort 'bringen' dabei zu verwenden. Von diesem Beschreibungsansatz her ergibt sich das Problem, inwieweit 'Bedeutungen' in konkreten Verwendungszusantnenhängen gelernt werden, welcher Einfluß der alltäglichen Interaktion zwischen Eltern und Kind der Sprachentwicklung zukamt (vgl. Kap. 1). Neben der standardsprachlich abweichenden Verwendung der beiden Zeichen 'Weber' und 'bringen' ist an den Äußerungen in 41 noch auffällig, daß sie nur aus zwei, bzw. drei Wörtern bestehen. Dies gilt für fast alle Äußerungen Peters in dieser Szene, scheint also für seine syntaktischen Möglichkeiten charakteristisch zu sein. Daraus ergibt sich einmal die Frage, nach welchen Prinzipien Kinder das syntaktische Regelsystem ihrer Sprache erwerben, zum andern, ob und inwieweit es dem Kind trotz seiner eingeschränkten Syntax gelingt, seine Redeabsichten sprachlich zu verwirklichen. Die Betrachtung verschiedener Äußerungsfolgen (z.B. 14, 45f., 51f.) zeigt, daß das Kind mehrere syntaktische Beziehungen, die bei Erwachsenen in einem Satz verbunden sind, auf mehrere aufeinanderfolgende Äußerungen verteilt. In 14 nennt Peter z.B. zuerst die Beziehung ObjektTätigkeit (/hazi pflücken/), dann die Beziehung Handeinder-Objekt (/Weba hazi/), abschließend wird der Handelnde genauer benannt (/die frau Weba/). Damit hat er seine Redeabsicht offenbar hinreichend ausgedrückt (vgl. Kap. 5). Die Fähigkeit, seine Redeabsicht möglichst klar und eindeutig formulieren zu können, ist sicher eine wesentliche Voraussetzung, um erfolgreich kcmnunizieren zu können. Darüberhinaus bedarf es zu gelingender Interaktion noch weiterer Fähigkeiten und Erfahrungen, wie etwa die Äußerungsfolge 43 zeigt: Zunächst verdeutlicht Peter seine Absichten, aber das nützt ihm nichts, weil der Nachbar nicht darauf achtet. Als Peter das merkt, ruft er ihn erst einmal energisch bei Namen /Weba! 1/. Das aber setzt das Wissen und die Erfahrung voraus, daß man nur dann kcrtmunizieren kann, wenn der gewünschte Interaktionsteilnehmer zuhört und daß man diese Einstellung u.a. durch Anreden herstellen kann. Damit hat Peter zwar im Augenblick Erfolg, aber dennoch fühlt er anscheinend, daß die Verständigung zwischen ihm und dem Nachbarn nicht so recht funktioniert. Er schaltet deshalb den (anwesenden) Vater gewissermaßen als Vermittlungsinstanz
6
dazwischen. Das wiederum setzt die Erfahrung und das Wissen voraus, daß man sich mit den Eltern besser und einfacher verständigen kann als mit Frariden. Die wechselnde Anrede /mami papi/ mit der abschließenden Mischform /mapi/ signalisiert diesen Umschaltprozeß: Das Kind braucht Zeit, um seine Redestrategie von der direkten Aufforderung an den Nachbarn zur Darstellung der gewünschten Handlung zu wechseln. Als Fragestellung folgt daraus, welche Qualifikationen und welche kcmmunikativen Erfahrungen das Kind erwerben muß, um erfolgreich sich mit Anderen verständigen zu können, kurz: wie es die Mechanismen erwirbt, die alltägliche Interaktion steuern. 0.4
Zum Interesse am 1 Spracherwerb1
In 0.3 wurden versuchsweise Aussagen gemacht, die sich (a) auf geistige Fähigkeiten des Kindes, (b) auf seine Fähigkeit, mit Anderen sozial zu handeln, und (c) auf seine sprachlich-grartiTiatischen Fähigkeiten bezogen. Es ist wohl deutlich geworden, daß sich in konkreter Interaktion die genannten Bereiche in einer unlöslichen Einheit verbinden. Eine Theorie des Spracherwerbs, wie inner man sie auch begründen mag, muß von dieser Verflochtenheit ausgehen. Insoweit ist eine Spracherwerbstheorie inmer Teil einer (allgemeinen) Sozialisationstheorie. In dem Maße, in dem sich die Sprachwissenschaft als Gesellschaftswissenschaft versteht, ist sie auf die Frage verwiesen, welche Funktion Sprache und Sprechen für das Individuum und für die Gesellschaft hat. Dazu gehört wesentlich auch der Aspekt des Spracherwerbs und der Sprachentwicklung. Das sprachwissenschaftliche Interesse wäre aber fehlgeleitet, wollte es sich allein auf die Untersuchung von Sprachverwendungsweisen beschränken. Es sind verschiedene Dinge, ob man die Kegeln untersucht, die sprachliches Handeln steuern, oder die Regeln, aufgrund derer sprachliche Äußerungen überhaupt erst erzeugt werden können. Wohl aber zeigen gerade Spracherwerb und Sprachentwicklung die wechselseitige Bedingtheit dieser Regelsysteme. Denn hier kann systematisch beobachtet werden, wie 'Sprache' als Mittel der Interaktion und als sprachlich-granmatisches Regelsystem funktioniert, wenn sie fortschreitend sich abbauenden Einschränkungen (geistige Fähigkeiten, Gedächtnis, Bewußtsein, allgemeine Handlungsfähigkeit) unterliegt. In den folgenden Kapiteln werden die wichtigsten Grundzüge der kindlichen Sprachentwicklung und damit verbundene theoretische Probleme dargestellt. Beschreibungsverfahren und theoretische Erklärungsversuche werden durchweg exemplarisch an Beispielen aus einem sprachlichen Bereich vorgeführt. Dies schließt ein, daß in der Spracherwerbsforschung diese Beschreibungen und Erklärungen auch für andere Bereiche versucht werden.
7
Im 1. Kapitel werden einige Prinzipien aufgezeigt, die das Kind zu sprachlichem Handeln befähigen; im 2. Kapitel geht es um das Verhältnis von Spracherwerb und grairmatischer Theorie, namentlich der Sprachtheorie der TG. In den folgenden drei Kapiteln werden die Beziehungen des Spracherwerbs zur Entwicklung kognitiver Fähigkeiten und von Wahrnehrrtungs- und Erzeugungsmechanismen für die einzelnen grairma tischen Ebenen beschrieben. Dabei wird im 3. Kapitel stärker auf die Beziehungen zwischen Denken und Sprechen und die damit verbundenen Differenzierungsprozesse eingegangen. Im 4. Kapitel wird das Prinzip der Generalisierung anhand von Kegel- und Hypothesenbildung untersucht. Im abschließenden 5. Kapitel steht der Gesichtspunkt im Vordergrund, wie die Prinzipien der Generalisierung und Differenzierung bei der Entwicklung des granttatischen Regelsystems zusammenwirken. Die beiden Hauptprobleme für eine Theorie des Spracherwerbs, nämlich (a) die Wechselbeziehungen zwischen sozial-interaktionaler, kognitiver und sprachlicher Entwicklung, und (b) das Verhältnis von 'Reifen' und 'Lernen' im Spracherwerbsprozeß, stehen im Hintergrund der Darstellung in allen Kapiteln.
1
ZUM VERHÄLTNIS VON SPRACHERWERB UND DEM ERWERB DER FÄHIGKEIT ZU SPRACHLICHEM HANDELN
1.1
Das Prinzip der 'symbolischen Rollenübernahme'
1.1.1 Wissen und die Einbeziehung der Perspektive des Anderen In einer Art Interview sollte der sechsjährige Mario dem Interviewer, einem ihm gut bekannten Studenten, erklären, wie Fußball gespielt wird: " (B 1) Mario
Interviewer
Wie geht denn Fußball? Hm . ganz einfach . nimmt mer son große ball . so . wie (?) n Fußball ham . un da ... ich hab ja auch Fußballschuh, die zieht mer an . un dann kamner gut Fußball spiele . dann sucht mer sich noch e paar Kinner . mein Vadder un ich hams ema gemacht . un rad ema, wer gewönne hat? Wer denn? Du? hm . Hat dein Vater gegen dich verlorn? Wie habter denn da des gespielt? ich hab so gemacht, gell . Wie denn: so? er so . obwohl er fester geschosse hat . un ich langsamer . un da hab ich ema da . da geschosse, stand er da, gell? . uff eimal . hadder gedacht, ich wollt noch da schieße, hatter sich da hingestellt . da isses genau durchs Tor .
Um die 'Aufgabe' zu lösen, muß Mario über eine ganze Reihe von Fähigkeiten und Kenntnissen verfügen. Einige der wichtigsten davon sind offenbar: (1) Er muß erkennen, daß er sich in einer bestimmten Sprechsituation befindet; daß der Interviewer auf seine Frage eine Antwort erwartet und daß er (Mario) Hinderungsgründe angeben müßte, wenn er die Antwort verweigern wollte. Mario stellt deshalb erst einmal ein Einverständnis mit dem Interviewer her, indan er ihm bedeutet, daß er zu antworten bereit ist (/hm . ganz einfach ./). (2) Er muß bei einer so umfangreichen Antwort wie der hier erwarteten eine Strategie entwickeln, wie er den katplexen Zusanmenhang darstellen will. Bei der gestellten Aufgabe kann er entweder versuchen, das (abstrakte) Regelsystem des Fußballspiels darzustellen, oder er beschreibt, wie er selbst Fußball zu spielen pflegt. In einem ersten Ansatz versucht Mario, die Fußballregeln in der Art einer Gebrauchsanweisung zu formulieren (/nimmt mer son große ball/). Doch scheitert er damit sehr schnell und wechselt zur zweiten Strategie über: Jetzt wird * Das Interview stammt ebenso wie die Test-Sätze S. lOO aus Protokollen eines Vorklassenversuchs, den eine studentische Projektgruppe unter Leitung von R.Rigol 1970/71 durchführte.
9
von subjektiven Erfahrungsbereich her beschrieben, und das führt bald zur Schilderung eines individuell-einmaligen Erlebnisses (/mein vadder und ich .../). Indem er ein einmaliges Ereignis schildert, sieht er sich der Notwendigkeit enthoben, die allgemeinen Regeln des Fußballspiels in seiner Darstellung zu berücksichtigen. (3) Diese Regeln muß das Kind kennen, wenn es 'Fußball' als organisiertes Spiel spiegeln will. Sie müssen zu seinen Wissensbeständen gehören, und er muß in der Lage sein, sie beim konkreten Spiel anzuwenden und zu berücksichtigen. Wenn nur zwei spielen - wie hier Mario und sein Vater -, muß als Regel auf jeden Fall gelten, daß der gewonnen hat, der die meisten Tore geschossen hat. Zur erfolgreichen Anwendung gehört das Wissen, daß man entsprechend ein gegnerisches Tor verhindern muß und daß der Gegner das gleiche versucht. Der Spieler muß also die mutmaßlichen Absichten und Strategien des Gegners zu durchkreuzen versuchen, indem er sich versuchsweise in die Rolle des Anderen versetzt und die Situation aus dessen Perspektive einschätzt. Dieses Wissen klingt bei Mario an, wenn er sagt: /uff eimal . hadder gedacht, ich wollt noch da schieße, — / . (4) Über Fußballspiele verständigt man sich gewöhnlich in der stillschweigenden Annahme, daß alle Beteiligten die Regeln des Spiels kennen. In dieser Interaktionssituation wird genau diese Unterstellung aufgehoben; Mario muß in seiner Darstellung also berücksichtigen, was der Hörer 'wissen' kann und was nicht. (Genaugenommen müßte er auch berücksichtigen, daß der Interviewer so tut, als wüßte er die Spielregeln nicht.) Das setzt die Befähigung voraus, sich in die Rolle des Anderen zu versetzen und die Darstellung so zu gestalten, daß dessen Perspektive (nämlich das Nichtwissen) berücksichtigt wird. In diesem Punkt zeigt sich, daß Mario zwar den Interviewer einbeziehen will (/un rad ema, wer gewönne hat?/, /gell?/), daß er aber durch die Verwendung deiktischer Ausdrücke (/da/, /so/) das Ereignis so darstellt, daß der Hörer die vergangene Situation nicht eindeutig rekonstruieren kann. Dabei nützt auch eine Nachfrage des Interviewers (/wie denn: so?/) nichts. (5) Schließlich muß das Kind in der Lage sein, seine Redeabsicht mittels solcher sprachlicher Zeichen und Verbindungsregeln zu verwirklichen, daß der Hörer sie 'verstehen' kann. Die sprachlichen Zeichen und Regeln müssen deshalb annähernd so verwendet werden, wie sie auch der Hörer verwendet, bzw. verwenden würde. In Marios Äußerung /obwohl er fester geschosse hat . un ich langsamer/ wird /langsamer/ offensichtlich als Gegensatzbegriff zu /fester/ und damit von der gewöhnlichen Verwendung abweichend benutzt. Das Gelingen, bzw. Mißlingen von sprachlichen Äußerungen hängt also im wesentlichen davon ab, inwieweit das Kind gelernt hat, die Bedingungen der Inter-
10 aktionssituation zu berücksichtigen, insbesondere das mit dem Interaktionspartner gemeinsam geteilte Wissen und dessen Perspektive. Übung (2) Untersuchen Sie entsprechend den eben skizzierten Gesichtspunkten (1) bis (5) die folgende Darstellung des sechsjährigen Peter! Peter Interviewer (= V) kannst-du mir ma erklären: wie geht-n fußball? hm ... überlegen . wie fußbälle gemächt werdn? ne ' wie fußball gespielt wird! da spieln zwei mannschaftn gegn zwei tore . eine gegen das tor von der andern . zum beispiel eine weiße gegn eine schwarze . die weißn müssn in das tor von den schwarzn treffn, die schwarzn müssn in das tor von den weißn treffn. . so is das! .. un dann? un dann müssn die fußballer so schießn! . manchmal schießt er den ball in die luft, un dann fliegt der ball ins tor! .. mehr weiß ich nicht davon! .. mehr is ja nicht dabei! .. un was soll ich dir noch erklären? un wer hat dann gewonnen? wer die meistn tore hat! . dauert vielleicht drei oder zwei stundn! . drei oder zwei stundn . immer nur schießn! .. so was will ich net werdn! . darum wollt ich das nicht werdn!
1.1.2 Kognitive und symbolische Rollenübernahme Es ist klar» daß die im letzten Abschnitt angedeuteten Fähigkeiten und Kenntnisse von Kind in einem langwierigen Lernprozeß erworben werden müssen. Anfangs stellen Urwelt und Selbst für das Kind eine ungeschiedene Einheit dar. Das 'Ich' des Kindes entwickelt sich allmählich unter Beteiligving von Reifungsprozessen verschiedener Art durch Erfahrung: durch Handeln und Interaktion mit Anderen. Gewiß sieht das Kind dann zunächst alles aus seiner eigenen Perspektive: es denkt und handelt 'egozentrisch' (vgl. 3.1). Soziales Lernen bestände dann darin, daß dem Kind die Normen und Konventionen seiner Gesellschaft vermittelt werden, so daß es seinen Egozentrismus allmählich abbaut ('dezentriert' im Sinne J.Piagets). Demgegenüber geht die Theorie des symbolischen Interaktionismus G.H.Meads davon aus, daß das Wesen des Sozialisationsprozesses darin besteht, Einstellung und Perspektiven der Anderen symbolisch übernehmen zu lernen. Indem das Kind Handlungen und Äußerungen Anderer imitiert, indem es im Spiel die Pollen von Mitgliedern seiner sozialen Ungebung übernimmt (z.B. Mutter, Vater, Kaufmann, Arzt usw.), übernimmt es auch deren Einstellungen, deren Perspektiven. Durch Verallgemeinerung dieser Erfahrungen baut es in sich einen 'generalisierten Anderen' ('generalized other') auf, so daß sein Handeln nun die Perspektive der Urwelt, der Anderen einbezieht.
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Die Entwicklung der Spielfähigkeit spiegelt nach G.H.Mead diesen Prozeß. Das zwei-, dreijährige Kind spielt zwar Rollenspiele in allen möglichen Variationen, es kann aber nicht erfolgreich an organisierten Spielen teilnehmen. Beim Naahlauf-Spiel z.B. begreift es nicht, wann es weglaufen und wann es selbst fangen maß. Erst wenn es wesentliche Elemente des 'generalisierten Änderen' verinnerlicht hat, kann es Pollen z.B. in Ballspielen übernehmen, weil es nun auch die Rollen der anderen Beteiligten zu berücksichtigen vermag. Das Problem ist, wie die Funktion der sich entwickelnden Fähigkeit zur symbolischen Rollenübernahme auf den Spracherwerb des Kindes einzusehätzen ist. Dabei scheint es sinnvoll, zwischen 'kognitiver' und 'symbolischer' Rollenübernahme zu unterscheiden. Gemeint ist damit folgendes: Wenn ein dreijähriges Kind, das z.B. in seinem Zinmer spielt, der in der Rüche arbeitenden Mutter zuruft: Gib mir mal das da!
zeigt es damit, daß es die Perspektive der Mutter nicht berücksichtigt hat, denn die kann in der Küche ja nicht sehen, was das Kind will. Ebenso wie dieser häufig vorkcnmende Fall spricht es für die mangelhaft entwickelte Fähigkeit zur Rollenübernahme, wenn Kinder in einem Bilderbuch etwas gezeigt bekennen wollen, das Buch aber so halten, daß nur sie, nicht aber der Interaktionspartner das Bild sehen kann. In diesen Fällen bedarf es eines (bewußten?) geistigen Aktes, um sich in die Perspektive des anderen zu versetzen (kognitive Rollenübemahme). Dazu sind Kinder erst ab etwa dan 4. Lebensjahr ansatzweise fähig. Demgegenüber bestünde das Hauptmerkmal der 'symbolischen Rollenüberhahme' darin, daß das Kind durch die Übernahme und Reproduktion von Handlungen Anderer, etwa von sprachlichen und nichtsprachlichen Gesten, symbolisch die Rolle des Anderen überninmt, d.h. durch Zeichen vermittelt (semiotisch). Die Handlungsweisen des Kindes entsprechen dann denen des Anderen und sind deshalb für diesen verstehbar. Durch diesen wechselseitigen Verstehensprozeß wird die intersubjektive Gültigkeit von (sprachlichen) "Regeln" imfner wieder neu hergestellt. Sprachliche Regeln setzen insofern inmer die Existenz eines Anderen voraus. Durch das Prinzip der symbolischen Rollenübernahme erwirbt das Kind also von Anfang an die Fähigkeit, nach 'Regeln' zu handeln, und das heißt nach dieser Definition: sozial zu handeln. Der Regel-Begriff bezieht sich hier auf die Gesamtheit der kindlichen Handlungsweisen; beim Sprechen also nicht nur etwa auf die granmatischen Regeln, sondern auch auf die Verwendungsregeln, die Regeln, die das Handeln steuern und damit erst zu 'sprachlichem Handeln' itachen.
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Daß das Kind diese Fegein erwirbt, bedeutet natürlich noch lange nicht, daß sie ihm in irgendeiner Weise 'bewußt' seien oder auch nur bewußt gemacht werden könnten. Man sagt deshalb besser, daß das Kind handelt, als ob es Regeln folgen würde. Aufgabe der wissenschaftlichen Untersuchung ist es dann, Modelle zu entwickeln, die diese 'Als-ob' -Regeln als Regelsystem abbilden und rekonstruieren.
1.1.3 Sprechhandlungskctnpetenz, Sprachkcmpetenz und Interaktion Das Kind erwirbt also von Anfang ein die Fähigkeit, sprachlich zu handeln; d.h. es erwirbt eine 1 Sprechhandlungskcmpetenz1, mithilfe derer es sich mit Anderen verständigt, mit ihnen sozial handelt, ün darin erfolgreich zu sein, muß es Basisqualifikationen erwerben, die die Regelhaftigkeit des Verständigungsprozesses herstellen und gewährleisten. Fünf Fähigkeiten scheinen als Teilkcmpetenzen an der sich entwickelnden Sprechhandlungskcnpetenz beteiligt zu sein: (1) die Fähigkeit zum Imitieren In folgendem Beispiel M pfui, da hat mich was gestochen! gedochen! ja, ne olle fliege! olle fliege!
P
imitiert Peter (26. M.) jeweils einen Teil der mütterlichen Äußerung. Sein leicht schmerzverzogenes Gesicht verrät, daß er nicht einfach die Worte der Mutter nachspricht, sondern daß die sprachliche Imitation hier seinen Nachvollzug der Unlustgefühle der Mutter aufgrund seiner eigenen (Schmerz-) Erfahrungen widerspiegelt. Mit der imitierenden Verwendimg der sprachlichen Zeichen versetzt er sich symbolisch in die Rolle der Mutter. Die Ausbildung der Fähigkeit zum Imitieren gehört demnach zur Entwicklung der Sprechhandlungskcrnpetenz, weil sie zur Übernahme von Einstellungen befähigt. (2) die Fähigkeit zum Strukturieren Damit ist allgemein die Fähigkeit gemeint, Wahrgenatmenes aufgrund der Wahrnehmungsmechanismen und vorangegangener Erfahrungen intern so zu organisieren, daß es mit den zur Verfügung stehenden sprachlichen Mitteln ausgedrückt werden kann. In einem Monolog versucht Peter (38. M.) ein Bild zu beschreiben, auf dem eine Tierfigur 'Kritzi' sich Hemd und Hose vertauscht angezogen hat: kritzi, un hat seine hosn viele . kritzi hat sich die falsch angezogn. kon doch! . die hose auf sein köpf . kritzi hat sein boler (= 'Pullover') angezogn . sein hemd . kritzikratzi . (...)
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Man sieht, daß Peter trotz mehrerer 'Anläufe' in dem Bemühen scheitert, den wahrgenommenen Sachverhalt auch sprachlich zu formulieren (vgl. 2.5) Die Fähigkeit zum Strukturieren von Zusamtenhängen, von Wahrgenommenem ist aber Voraussetzung, wenn das Kind sich intersubjektiv gelingend verständigen will. (3) die Fähigkeit zum Trainieren Zu diesem Zweck muß das Kind sich auch bemühen, seine sprachlich-graitmatischen Formen und Pegeln den konventionell-intersubjektiv geltenden anzupassen. Das auch in Übung 15 zitierte Beispiel ham räders! . ham räders! . ham auch was ' die flugzeuge! . ham räder! . ham rade! . ham räde! . ham keine räder! . der fluchzeuch nich!
des 31 Monate alten Peter spiegelt den Prozeß, sich durch Übung die 'richtige' Form anzueignen, indem er - unbeeinflußt von kcrnmunikativen Zwängen - eine Selbstlernaktivität entfaltet. (4) die Fähigkeit zum Explizieren Es ist sicher kein Zufall, daß die in (2) und (3) genannten Beispiele in Situationen aufgenommen wurden, in denen Peter allein war, sich sein Sprechen also nur an sich selbst richtete ('autistisches Sprechen'); Strukturieren und Trainieren sind Fähigkeiten, die für erfolgreiches partnerbezogenes Sprechen Voraussetzungsbedingungen sind. Beim partnerbezogenen Sprechen kcnrnen aber besondere Fähigkeiten hinzu, damit die Interaktion gelingt, insbesondere die Einbeziehung der Perspektive und der Erwartungen des Interaktionspartners. Betrachten wir unter diesem Gesichtspunkt die folgenden Äußerungen, in denen Peter (38. M.) zunächst autistisch, dann partnerbezogen über den gleichen Gegenstand spricht. Es ist wieder ein Bild, auf dam die Katze 'Kritzikratzi' in einen topfartigen, ausgefahrenen Rettungskorb eines Feuerwehrautos sitzt und von dort aus mit einem Pinsel und verschiedenen Farbtöpfen malt: p v (...) . nasnkritzikratzi ... (Lautspiele) ... (Sprechgesang:) die is hochgefahrn! . mit eim topf sitze, (unverständlich) . die pinse . die pins . polipoläpp . (Wiederholungen und weitere Lautspiele) (V kommt ins Zimmer) (normale Sprechlage:) papi, kommst wieder? . die katze is da hochgefahrn! wo is die hochgefahrn? da! . da sitz-se auf-n topf! . un da hat-se fa:be! . rote fa:be! wo hat die rote färbe? da drin! . in diesn großn großn gelbn topf! . in den gelbn! zeigma! da! . hier!, da sitzt-se drin! achja!, richtich, in dem rotn topf! un da nimmt-se n pinsl rein, un dann pinselt-se. (...)
Übung (3) Vergleichen Sie die sich inhaltlich entsprechenden Äußerungen bei autistischem und bei partnerbezogenem Sprechen genau! Welche Unterschiede stellen Sie fest? Auf welchen Ebenen liegen sie?
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Die Erfahrung, dem Anderen Redeabsicht und -inhalt nachvollziehbar machen zu müssen, zwingt das Kind zu explizitem Sprechen, während es bei autistischem Sprechen zwanglos seinen Assoziationen nachgehen kann. Hierin liegt wohl die Ursache für viele Äußerungsfolgen, die wesentlich zur Erweiterung der syntaktischen Kartponente beitragen (vgl. Kap. 5.) (5) die Fähigkeit zum Agieren Die in (1) bis (4) genannten Fähigkeiten sind Voraussetzungen dafür, daß das Kind in Sprechsituationen handeln kann. Darüberhinaus muß es aber auch über spezifische Qualifikationen verfügen, die sein sprachliches Handeln als Handeln steuern: Es muß um die Verbindlichkeiten wissen, die mit dem Vollzug einer sprachlichen Handlung verbunden sind; es muß die Fähigkeit erwerben, das Wechselspiel von wechselseitigen Verbindlichkeiten und Erwartungen der Interaktionsteilnehmer zu berücksichtigen. Am Beispiel des Erwerbs und der Entwicklung von Aufforderungshandlungen wird dieser Aspekt in 1.2 genauer dargestellt. Aus dan Gesagten ergibt sich, daß die 'Sprachkcrrpetenz' im linguistischen Sinne, d.h. die Fähigkeit zur Generierung von Sätzen, als Teilkcnponente einer umfassenderen 'Sprechhandlungskcrrpetenz1 aufzufassen ist. Die sich entwickelnde Sprachkaipetenz fördert und bedingt teilweise die sich entwickelnde Sprechhandlungskcnpetenz, wird vor allem aber durch diese bedingt: Sprechen vollzieht sich immer in konkreten Interaktionssituationen, das Kind lernt seine Muttersprache, irxiem und weil es handeln lernt. Die Bedingungen der sozialen Situation gehen damit notwendig in die Entwicklung der Sprechhandlungskatpetenz ein, vermittelt durch Lehr- und Lernstrategien. Dabei scheint abschließend die Feststellung wichtig, daß die Fähigkeit zu sprachlichem Handeln und zu sprachlichem Ausdruck gerade am Anfang der Entwicklung des Kindes in ziemlich fest strukturierten 1 Interaktionszusammenhängen' vermittelt wird, d.h. in Mustern der Interaktion zwischen Eltern und Kind, die stereotyp alltäglich viele Male wiederkehren (vgl. 1.2) . Auch wenn das Kind etwas älter ist, 'lernt' es hauptsächlich in solchen Interaktionszusammenhängen, die dann auf eingespielten Erwartungen und Verbindlichkeiten der Interaktionsteilnehmer beruhen, z.B. der Erwartung des Kindes, daß ihm die Eltern beim Lösen eines Problems helfen können. Wie diese Mechanismen funktionieren, sei abschliessend an einem Dialog zwischen Peter (38. M.) und seinem Vater gezeigt: P v (P auf der Fensterbank, blickt in den Vorgarten, sieht dann auf der Fensterbank die Schleifspur einer Schnecke:) gu, wer hat-n das . das pipi hingemacht? . pipi? das is von-ner Schnecke, die spur, die schleifspur! schleifspur (imitierend) die laufspur spur? (fragend - imitierend) da is ne Schnecke gekrochn!
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p
v
wie? . wie? na, das weißt du doch, wie die sehneckn kriechn! ne Schnecke is da gekrokst! gekrokst! (lacht) . gekröchn!, gekrabbelt! is-se-gekrabbelt-und-da-war-se-kaputt? nein war-se noch heil? wenn der Thomas krabbelt, dann is-er ja auch nicht kaputt . wenn dü krabbelst! un-da krabbelt die Schnecke nicht? . das war tot? nn (verneinend) was wächst-n da?, papi? (...)
Übung (4) Versuchen Sie, den Anteil der Faktoren (1) bis (4) für die Lösung der beiden kognitiven Probleme zu bestimmen: (a)wie das wahrgenommene Objekt, die Schnekkenspur, zustande gekommen ist, und (b) was mit der Schnecke geschehen ist. Versuchen Sie, Gelingen, bzw. Mißlingen der Interaktion zu beschreiben, wenn Sie unterstellen, daß der Vater die Intention des Kindes zwar für (a), nicht aber für (b) 'verstanden' hat.
1.2
Zum Erwerb von Aufforderungshandlungen
1.2.1 Aufforderungen als Handlungen Damit eine ganz alltägliche Aufforderung wie z.B. Gib mir mal bitte das Salz! gelingt, müssen eine ganze Reihe von Voraussetzungen erfüllt sein: Der Hörer muß die Äußerung nicht nur akustisch verstehen, er muß auch wissen, was damit gemeint ist, wenn der Sprecher von 'geben' und 'Salz' spricht. Er muß ferner wissen, daß die Äußerung als der Ausdruck eines Wunsches, einer Bitte gemeint ist. Der Sprecher strebt mit seiner Äußerung eine zukünftige Handlung des Hörers an, von der er annimnt, daß der Hörer sie durchführen kann, daß er sie aber nicht aus eigenem Antrieb vornehmen wird. Wenn der Hörer die Aufforderung akzeptiert und die Handlung durchführt, ist die Aufforderung als sprachliche Handlung gelungen. 'Aufforderungen' funktionieren also aufgrund von sozialen Regeln, auf der Grundlage der ganeinsamen Erfahrung von Sprechern und Hörern, daß diese oder jene sprachliche Handlung als Aufforderung, als Frage, als Feststellung, als Danksagung, als Versprechen usw. 'gilt', d.h. intersubjektiv von den Beteiligten in der Interaktionssituation rekonstruiert wird (oder jedenfalls werden kann). Die Analyse dieser sozialen Regeln, die für den Vollzug einzelner sprachlicher Handlungen konstitutiv sind, kann z.B. mit den Mitteln der 'Sprechakttheorie' vorgenommen werden, wie sie etwa von J.Searle (dt. 1971) vertreten wird.
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Dann geht es für unseren Zusammenhang hauptsächlich um die Bedingungen des illokutionären (oder: illokutiven) Akts, d.h. dem Teil der sprachlichen Handlung, die den Typ der Redeabsicht (Aufforderung, Frage usw.) angibt, mit der der Sprecher auf den Hörer einwirkt. Für die Analyse konkreter Interaktionssituationen sind weitere Aspekte zu berücksichtigen, z.B. in bezug auf Aufforderungshandlungen: Inwieweit ist der Sprecher berechtigt, Aufforderungen zu äußern? Inwieweit ist der Hörer verpflichtet, Aufforderungen Folge zu leisten? Unter welchen Bedingungen kann der Sprecher mit Fug und Recht erwarten, daß der Hörer die Aufforderung befolgt? Welche Erwartungen des Hörers über die Erwartungen des Sprechers muß der Sprecher in seiner Äußerung (oder auch in seinen nichtsprachlichen Handlungen) berücksichtigen? Welchen Verbindlichkeiten unterliegt er damit selbst? Es ist offensichtlich, daß diese Fragen nur unter Berücksichtigung der eingespielten oder herzustellenden sozialen Beziehung zwischen den Interaktionsteilnehmern und den spezifischen Bedingungen der Interaktionssituation zu beantworten sind. Mit dem inpliziten Wissen um diese Mechanismen gelingt (meistens) alltägliehe Kcrnnunikation. Einer Bitte kann man sich als Hörer in der Regel schwerer entziehen als einer forsch formulierten Aufforderung oder einem Befehl (es sei denn, der Sprecher habe Befehlsgewalt über den Hörer), weil man hier kaum die Art der Aufforderungshandlung ('Bitte') in Frage stellen kann wie in den anderen Fällen. So bestehen bei 'normaler' Interaktion viele feste Handlunganuster wie 'Auffordern - Aufforderung erfüllen', 'Frage - Antwort', 'Argumentieren - Gegenargumentieren/Akzeptieren' usw. und daneben Muster, die 'Störungen' dieser Handlungsabläufe zu beheben dienen (z.B. 'Frage - Rückfrage ...'). In den folgenden Abschnitten soll gezeigt werden, wie Kinder den Akt der 'Aufforderung' als soziale Handlung lernen (1.2.2), welchen Einfluß Interaktionsmaximen wie das 'Prinzip der Höflichkeit' haben (1.2.3) und wie dies durch die Differenzierung der zur Verfügung stehenden sprachlichen Möglichkeiten erreicht wird (1.2.4). 1.2.2 Zum Lernen von Aufforderungs-Regeln Längst ehe das Kind sprechen kann, hat es die wichtigsten Funktionen kemnunikativen Handelns erworben: die expressive, die direkt!ve und die referentielle. (1) Die expressive Funktion katmunikativen Handelns erfährt und erwirbt das Kind als erstes. Das Lächeln der Mutter erwidert der Säugling bereits nach wenigen Wochen, einen "Au"-Ruf der Mutter versteht das Kleinkind sehr bald; Schreien, Lachen, Weinen, Jubeln drücken unmittelbar die Stirtinung des Kleinkinds aus und gewinnen dadurch eine karmunikative Funktion.
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(2) Die direktive Funktion entwickelt sich daraus, daß schon das etwa einjährige Kind kleinen Aufforderungen in eindeutigen Situationen Folge leisten kann, z.B. "Kbnm zur Manii!", "Hol den Ball!". Im letzteren Beispiel ist die Aufforderung aber nur dann erfolgreich, wenn zwischen Kind und Ball kein anderer Gegenstand liegt, denn dann greift es nach diesem. (3) Das zeigt, daß die direktive Funktion in Aufforderungen für das kleine Kind mit dem Bezugscbjekt (dem Referenten) noch nicht fest verbunden ist. Die referentielle Funktion wird durch Gesten, hinweisende Ausdrücke (z.B. "da!") und Benennungen von Seiten der erwachsenen Interaktionspartner erworben. Als Beispiel diene die Situation, daß die Mutter mit ihrem einjährigen Kind am Tisch sitzt. Das Kind möchte den Salzstreuer haben. Seine erste Reaktion wird sein, mehrfach vergeblich danach zu greifen. Wenn ihm daraufhin die Mutter den Streuer gibt, hat, von Seiten des Kindes aus gesehen, keinerlei Kcrntunikation stattgefunden: Seine motorischen Greifbewegungen haben ihr Ziel erreicht. Kcmnunikatives Handeln setzt bei dem Kind erst dann ein, wenn es mit dem Arm auf den Streuer hindeutet und dabei vielleicht noch diffuse Laute von sich gibt und dabei die Mutter anschaut. Die Mutter versteht das als Aufforderung und handelt entsprechend. Die mehrfache Erfahrung, daß diese Strategie Erfolg hat, führt dazu, daß die Hinweisgeste für das Kind eine "Bedeutung" erhält; sie wird generalisiert und dient als Aufforderungsgeste. Der Einsatz eines sprachlichen Zeichens wie z.B. /hamham/ bewirkt zunächst nichts grundsätzlich Neues, weil es im Zusammenhang mit der hinweisenden (deiktischen) Geste erscheint. Im weiteren Verlauf der Entwicklung vermag aber das Zeichen die Gebärde zu ersetzen. Die sprachlichen Aufforderungen entstehen so aus unmittelbaren Handlungen. Man könnte diese Kcnrnunikationsform "deiktische Kcnrnunikation" nennen, weil die Aufforderung an den Partner durch deiktische Gebärden und deiktische Ausdrücke (z.B. /da/, /das/) vollzogen wird. Die Funktion der generalisierten Erfahrung macht folgendes Beispiel deutlich: (B 2) Thomas befriedigt mit 12 Monaten sein Begehren nach Spielzeug und Objekten durch direkte Aktion und - wenn das nicht möglich ist durch Schreien. Der Anblick von Essen und Getränken löst dagegen eine deiktische Bewegung und /harn/ aus. An Tassen mit heißem Kaffee, die zu berühren ihm streng verboten ist, versucht er regelmäßig durch direkte Aktion heranzukommen.
Aus Erfahrung hat Themas gelernt, daß er an Essen und Trinken nur über die Vermittlung der Eltern herankönnt. Von daher erklärt sich die (ziemlich) strenge Verteilung seiner Strategien. Es hat den Anschein, als lägen hier die Anfänge für den Erwerb von Pegeln, die kemnunikatives Handeln steuern.
18 1.2.3 Zum Erwerb der "Bitte"-Handlung So lernt das Kind nicht nur sehr rasch, daß es sich Begehren mithilfe sprachlicher und nichtsprachlicher Mittel erfüllen kann, indem es sich an einen Anderen wendet, sondern auch, daß es nur unter bestimnten Bedingungen damit erfolgreich ist. Dazu gehört auch bald die Erfahrung, daß es erfolgreicher ist, wenn es um etwas 'bittet', als wenn es energisch Anspruch darauf erhebt. Diese Einstellung hat einfache nichtsprachliche Vorformen wie 'bettelnder' Gesichtsausdruck, 'bittender' Tonfall. Daß das Kind um etwas 'bitten' lernt, gehört sicher einmal zun Erziehungsstil vieler Eltern und resultiert aus dem Abhängigkeitsverhältnis des Kindes. Es hat aber andererseits auch die Funktion, Kinder in die Mechanismen 'höflicher' Interaktion zwischen Interaktionspartnern einzuführen, ihnen soziale Regeln und Konventionen zu vermitteln. Abgesehen von Dressur-Strategien lernt das Kind Regeln 'höflicher' Interaktion auf zwei Wegen: (1) Im Rollenspiel werden Ereignisse aus der Erfahrungswelt des Kindes nachgespielt (Einkaufen, Besuch beim Arzt usw.); jeder Teilnehmer am Spiel kann jede Rolle spielen. Indem hier inner wieder das gleiche Ritual des Bittens und Dankens gespielt wird, geht es nicht nur in die Erfahrung des Kindes ein, sondern es lernt gleichzeitig den Wechselbezug von Verpflichtungen und Erwartungen. (2) Das Kind erwirbt die Regeln dadurch, daß es das alltägliche Vorbild der Eltern nachzuahmen versucht und daß die Eltern in (scheinbar) symmetrischen Regeln mit ihm interagieren, d.h. es als gleichberechtigten Partner behandeln. Sie sagen also "bitte", wenn sie das Kind um etwas bitten und wenn sie eine seiner Aufforderungen erfüllen, und "danke", wann das Kind ihre Bitte erfüllt hat. (B 3) Bei Peter hatte dieses elterliche Verhalten zur Folge, daß er mit etwa 18 Monaten begann, "danke" zu sagen, wenn er etwas haben wollte, und "bitte", wenn er etwas erhalten hatte. Wenn er jemandem etwas gab, sagte er ebenfalls "danke".
Die Ursache war einfach genug: Wenn ein Elternteil ihm auf seine Aufforderung hin etwas gab, sagte er zuerst "bitte!" (in seiner Rolle als Bitte-Erfüllender) und anschließend auffordernd "danke!" in dem Bestreben, daß Peter das letztere wiederholen möge. Das häufig gehörte "danke!" bei Erfüllung der Aufforderung war dann verbaler Reiz, um eine Bitte zu äußern. Entscheidend scheint, daß Peter nun sein individuelles Begehren (seine Aufforderung) in eine von sozialer Norm gesteuerte Form (Bitte) überführt. Das Ritual "Bitte - Erfüllung durch den Anderen - Dank" ist für ihn zwar noch weitgehend undifferenziert, hat aber bereits einen Anfang und ein Ende, die durch "danke" und "bitte" verbalisiert werden.
19 Es wurde gezeigt, wie sich aus den motorischen Greifbewegungen des Kleinkindes als Ausdruck des Begehrens über die deiktische Kcnrnunikation als Aufforderung das Ritual des Bittens aufbaut, das an gesellschaftlichen Konventionen orientiert ist. Für das Kind ist das ein Lernprozeß in doppelter Hinsicht: (1) Durch Interaktion, vor allem mit den Eltern, entwickelt das Kind die Fähigkeit, Verbindlichkeiten und Erwartungen zu berücksichtigen, die Hemdein ermöglichen. So wird eine Verständigungsebene hergestellt zwischen dem Kind und seiner sozialen Unweit, indem es die Regeln für dieses Handeln lernt. (2) Es lernt, wie direkte Aktionen durch sprachliche Kattnanikationsweisen ersetzt werden können und daß aufgrund der Interaktionsmuster manche Handlungen erst durch die Sprache konstituiert werden. Hierzu gehört auch die Einsicht, daß sprachliche und nichtsprachliche Kcmnunikationsstrategien zusammenwirken, um die gewünschte Verständigung herzustellen. Dieser Lernprozeß ist bestirnt durch die sozialen Normen seiner Umreit. Die kannunikativen Strategien, die das Kind durch den Einfluß seiner Umwelt erwirbt, wirken unmittelbar auf sein Sprechen und damit mittelbar auf seine Sprache und seine Sprachentwicklung ein. Der illokutive Akt der Bitte stellt ebenso wie der des Befehls eine Unterform des Aufforderungs-Aktes dar: (B 4) Ich fordere dich auf, mir das Salz zu geben. Ich bitte dich, Ich befehle dir,
mir das Salz zu geben. mir das Salz zu geben.
Bei der Aufforderung als Befehl kcnnrt hinzu, daß der Sprecher gegenüber dem Hörer in einer überlegenen Position sein muß. Wenn sich jemand in einer überlegenen sozialen Position befindet und dennoch eine 'Bitte'-Handlung vollzieht, teilt er dem Anderen damit mit, daß er ihn - jedenfalls formal - als Gleichberechtigten betrachtet. Er gibt damit seiner Wertschätzung gegenüber dem Hörer sprachlich Ausdruck, weil er erwartet, daß der Hörer von ihm erwartet, höflich behandelt zu werden. Diese Regeln finden ihren deutlichsten (und konventionalisiertesten) sprachlichen Ausdruck in "bitte". Dessen Sonderstellung wird in Paraphrasen deutlich: (B 5)
(1) (2) (3) (4)
Gib mir mal bitte das Salz! Gib mir mal das Salz, bitte! Er sagte, daß ich ihm mal das Salz geben solle. ? Er sagte, daß ich ihm mal bitte das Salz geben solle.
20 "Bitte" ist also wesentlich mit dau unmittelbaren Vollzug der Handlung verbunden. Man kann wohl davon ausgehen, daß die allgemeinen Regeln für den Aufforderungs-Akt eher erworben werden, als die zusätzlichen Regeln für den Bitte-Akt. Diese werden gesondert erworben und ermöglichen nach ihrem Erwerb die endgültige Differenzierung zwischen "Bitten" und "Auffordern". Dabei kann nicht-verbales Verhalten eine Rolle spielen: (B 6)
Wenn die Eltern auf einen Aufforderungsakt (z.B. /gib mir mal n ball!/) nicht reagieren, wiederholt Peter mit 30 Monaten erst sein Begehren, schließt dann aber den Zusatz an: /heißt das bitte erst!/ ( < "Wie heißt das?"). Dabei verneigt er sich ein wenig und macht bei Aussprechen des betonten /bitte/ eine Art Kratzfuß.
Nachdem diese Gewohnheit etabliert war, verschwand die Vertauschung von "bitte" und "danke"
(vgl. S. 18) ziemlich rasch, anscheinend ursächlich bedingt durch
die Verbindung von Sprechakt und nichtsprachlichem Handeln. Aufforderungs-Akt und Bitte-Akt stehen sprachlich unverbunden nebeneinander. Noch im vierten Lebensjahr bereitet es Peter erhebliche Schwierigkeiten, die "Bitte"-Handlung sprachlich-konventionell zu formulieren. Charakteristisch sind Dialoge folgender Art: (B 7) P: /gib mir mal das salz!/ M: /wie heißt das?/ P: /bitte das sälz!/ M: /bitte!/ P: /danke!/ P: /ich krieg mal ein kekschen!/ M: /wie heißt das?/ P: /bitte kekschen kriegen!/ ... P:/kann ich mal den pudding haben?/ M:/wie heißt das?/
P:/bitte den pudding! bitte den pudding haben!/ An diesen Äußerungsfolgen ist vor allem bemerkenswert, daß die standardsprachlich korrekten morphologischen und syntaktischen Konstruktionen der ersten Äußerungen Peters auf den sprachlichen Ausdruck der Beziehung Objekt - Handlung (im Infinitiv) vereinfacht werden, offensichtlich bedingt durch die Hinzufügung des /bitte/. Der Vollzug einer standardsprachlich konventionellen Bitte-Handlung beschränkt bei Peter in diesem Alter also die syntaktischen Produktionanöglichkeiten (vgl. Kap. 5.). Übung (5) Untersuchen Sie folgende Szene auf ihre kommunikativen Elemente, indem Sie die Sprechakte und die interaktionalen Strategien analysieren. (Peter (29 Monate) sitzt mit den Eltern im Wohnzimmer, als ihm einfällt, daß im Schrank Bonbons sind:) ich krieg nochma gonggong, mami! M: (reagiert nicht) mami!
21 M: (reagiert nicht) ich krieg noch mehr gonggong! . mami! . ganz viele . ganz viele . ganz viele! M: (reagiert nicht) ganz viele gonggong, mamiI (heftig) M: (reagiert nicht) mami!!! (zornig) M: (verweisend) Péter! heißt das bitte! (Kratzfuß) M (steht auf, um Bonbons zu holen) ganz viele gonggong krieg ich . ganz viele gonggong krieg ich . ganz viele gonggong, ganze hand voll machen! (bittend) M: (am Schrank) Hol sie dir ab! (Peter nimmt sie entgegen) da! ! (kommt zu V) papi kriegt noch ein gonggong! . kriegst auch eins! (reicht V eins) danke ! V: Danke!
1.2.4 Indirekte Aufforderungshandlungen und sprachlich illokutive Indikatoren Aufforderungshandlungen werden in der Regel sprachlich mithilfe der syntaktischen Struktur des Aufforderungssatzes verwirklicht, wie in der ersten Äußerung in (B 7) . Aber erkennbar sind auch die jeweils ersten Äußerungen in den beiden anderen Beispielen von
(B 7) als Aufforderungshandlungen beabsichtigt und ver-
stehbar, obwohl sie in den syntaktischen Formen des Aussage- und Fragesatzes erscheinen. Man spricht in solchen Fällen von 'indirekten Sprechakten', weil die 'eigentliche' Intention sprachlich nur indirekt ausgedrückt wird. Im ersten Fall {/ich krieg mal ein keksohen!/) wird das Ergebnis der gewünschten Handlung schon als Feststellung vorweggenommen, setzt also den Vollzug einer Aufforderungshandlung als Glied des Handlungsablaufs voraus, damit aber auch das Einverständnis der Mutter mit dem Inhalt der Aufforderung. Das jedoch ist eine Unterstellung, die bei einem erwachsenen Sprecher als Verletzung seiner kcmnunikativen Verpflichtungen gewertet würde. Demgegenüber besteht die Indirektheit im Falle von /kann iah mal den pudding haben?/ darin, daß der Sprecher eine Frage stellt und damit den Hörer scheinbar nur zu einer Antwort auf die Frage auffordert. Er eröffnet dem Hörer dadurch scheinbar die Möglichkeit, einfach abzulehnen, ohne Gründe für seine Weigerung, die Aufforderung zu befolgen, angeben zu müssen. In Wirklichkeit ist allerdings die Frage als Aufforderungshandlung so stark konventionalisiert, daß sie von jedem karpetenten Mitglied der Gesellschaft eindeutig als Aufforderung verstanden wird, und das kann der Sprecher erwarten. Während Aufforderungshandlungen in der sprachlichen Form von Feststellungen sehr früh auftreten, weil eben der Kcnplex 'ein Begehren haben - auffordern Aufforderung erfüllen' für das Kind anfangs ziemlich undifferenziert sind, hat
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das Kind in den ersten 3, 4 Lebensjahren erhebliche Schwierigkeiten, indirekte Aufforderungen in Form von Feststellungen (z.B. Es zieht) oder von Fragen (z.B. Kannst du mal die Tür zumachen? ) zu verstehen. Bei Peter traten die ersten indirekten Aufforderungen in Frageform mit etwa drei Jahren auf, als zum einen sich die Fähigkeit, Fragen zu stellen, entwickelt hatte (vgl. 5.3.1), und zum andern die Verwendung von Modalverben (vgl. 2.3.4) häufig geworden war. Verständnis und Produktion indirekter Sprechakte erfordern eine Menge 'Ubersetzungsarbeit' und Erfahrung und stellen insofern eine kognitive Leistung für das Kind dar. Das Verständnis indirekter Sprechakte wird aber gewöhnlich dadurch erleichtert, daß die Eltern das 'Gemeinte' durch nicht- und/oder parasprachliche Mittel verdeutlichen: Willst du jetzt wohl endlich aufhören, die Tapete von der Wand zu reißen? wird auch ein kleines Kind nicht als Entscheidungsfrage verstehen! Zudem läßt sich zeigen, daß Eltern viel seltener indirekte Sprechakte verwenden, wenn sie mit Kindern reden als sonst, weil sie wissen, daß das Kind damit Verständnisschwierigkeiten hat. Während bei indirekten Sprechakten das Kind nur aus Erfahrung und aus den begleitenden nicht- und parasprachlichen Mitteln lernen kann, wie die sprachliche Handlung gemeint ist, geben ihm die sprachlichen 'illokutiven Indikatoren' eine direkte Anweisung, wie die Äußerung gemeint ist; z.B. wenn die Mutter sagt: (B 8)
/Setz dich
hinl/ mal bitte nur ruhig gefälligst
oder nachgestellte, elliptische Sätze: (B 9)
/Setz dich hin, Du setzt dich hin?
ja 1/ bitte sag ich weißt du is das klar?
Sie zeigen an, welcher Nachdruck hinter der Aufforderung steht, ob sie als Bitte, als Befehl, als Rat, als Drohung intendiert ist. Deshalb versucht das Kind frühzeitig, sie zu übernehmen und - wie die Intonation - seinen sprachlich-kcmmunikativen Strategien einzuordnen. Der erste illokutive Indikator, den Peter mit etwa zwei Jahren übernahm, war /mal/: /korrm mal!/, /kuak mal!/, /mal mal!/. Dadurch wird die Direktheit der Aufforderung im Irrperativ abgemildert. Der Partikel erschien und erscheint unendlich häufig in den Äußerungen Peters. Die Indikatoren sind meist mit entsprechenden nicht- und parasprachlichen Merkmalen der Äußerung verbunden. Das zeigt ein Vergleich zweier Äußerungen (Peter 30 M.):
23 (B 10) /setz dich ruhich Schaukelstuhl, papilein!/ 'Ich bitte dich herzlich, dich in den Schaukelstuhl zu setzen!1 /setz dich jetz in Schaukelstuhl, papi!/ 'Ich fordere dich dringend auf, dich unverzüglich in den Schaukelstuhl zu setzen!' Deshalb sind die illokutiven Indikatoren besonders geeignet, die illokutiven Akte, die in diesem Alter ja noch nicht explizit verbalisiert werden können ("Ich bitte dich, ...", "Ich befehle dir, ..." usw.) in ihrer kommunikativen Funktion zu erproben. Wie meist beim Erwerb neuer sprachlicher Elemente werden sie zeitweise produktiv: Sie werden sehr häufig und in allen möglichen Verbindungen ausprobiert. Durch die Korrektur der Unweit lernt das Kind dabei gleichzeitig, wie "man" etwas sagen kann und wie nicht. Auch explizite Formeln werden generalisiert und treten dann in standardsprachlich abweichenden Äußerungen auf: (B 11) (Niemand hindert Peter, in den Garten zu gehen:) /ich geh in den garten, is das klar?/ (Peter ißt ein Brot:) /ich hab hunger, hab ich gesagt!!/ /gehn wir in n wald . frag ich/ Das Kind lernt dadurch allmählich, illokutive Akte auch sprachlich explizit auszudrücken, wie das letzte Beispiel zeigt. Literatur a) allgemein zum Problemkreis
1
Sprachliches Handeln - kcmnunikative Kompetenz ' :
Funk-Kolleg 'Sprache', Bd. 2, Frankfurt 1973 (= Fischer TB 6112) Habermas,J. (1971): Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz; in: J.Habermas-N.Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt, 101-141 Hennig,J.-Huth,L. (1975): Kommunikation als Problem der Linguistik, Göttingen Hymes,D. (dt. 1973) : Die Ethnographie des Sprechens, in: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hrsg.): Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit, Bd. 2, Reinbek, 338-432 Goffman,E. (dt. 1971): Interaktionsrituale, Frankfurt Mead,G. (dt. 1973) : Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt Searle,J. (dt. 1971): Sprechakte, Frankfurt Wunderlich,D. (Hrsg.) (1972): Linguistische Pragmatik, Frankfurt b) zun Problemkreis 'Soziaiisation und sprachliches Handeln': Campbe11,R.-Wales,R. (dt. 1974): Die Erforschung des Spracherwerbs, in: W.Eichler-A.Hofer (Hrsg.), 416-436 Cicourel,A. (dt. 1975): Generative Semantik und die Struktur der sozialen Interaktion, in: R.Wiggershaus (Hrsg.): Sprachanalyse und Soziologie, Frankfurt, 212-250 Flavell,J. (dt. 1973): Rollenübernahme und Kommunikationsfertigkeiten bei Kindern, in: C.Graumann-H.Heckhausen (Hrsg.), 201-220 Habermas,J. (1975): Zur Entwicklung der Interaktionskompetenz, Frankfurt Hess,R.-Shipman,V. (dt. 1973): Frühkindliche Erfahrung und Soziaiisation, in: •+• C.Graumann-H.Heckhausen (Hrsg.), 287-307 Martens,K. (1974): Sprachliche Kommunikation in der Familie, Kronberg Mead,G. (dt. 1969): Die Genesis des sozialen Selbst und die soziale Kontrolle, in: G.Mead: Philosophie der Sozialität, Frankfurt, 69-101 Ramge,H. (1976): Spracherwerb und sprachliches Handeln. Studien zum Sprechen eines Kindes im 3. Lebensjahr, Düsseldorf (im Druck) Schnelle,H. (1971): Language communication with children - Toward a theory of language use, in: Y.Bar-Hillel (Hrsg.): Pragmatics of natural languages, Dordrecht, 173-193
2
ZUM VERHÄLTNIS VON SPRACHERWERB UND GRAMMATIKTHEORIE
2.1
Sprachkcrrpetenz und Sprachperformanz
2.1.1 Der ideale Sprecher-Hörer "Der Gegenstand einer linguistischen Theorie" - sagt N.Chomsky "ist in erster Linie ein idealer Sprecher-Hörer, der in einer völlig homogenen Sprachgemeinschaft lebt, seine Sprache ausgezeichnet kennt und bei der Anwendung seiner Sprachkenntnis in der aktuellen Rede von solchen grammatisch irrelevanten Bedingungen wie - begrenztes Gedächtnis - Zerstreutheit und Verwirrung - Verschiebung in der Aufmerksamkeit und im Interesse - Fehler (zufällige oder typische) nicht affiziert wird." N.Chomsky
(dt.1969): 13
Dessen Kenntnis seiner Sprache (seine Sprachkorrpetenz) wird von der Grairmatik als Regelsystem beschrieben, von den er bei der Produktion konkreter Äußerungen Gebrauch macht und das ihn befähigt, eine unendliche Menge von Sätzen zu erzeugen (generieren), zu verstehen und zu beurteilen. Diese scharfe Unterscheidung in Sprachkoirpetenz und Sprachperformanz hat zur Folge, daß z.B. ein Satz mit zehn Millionen Wörtern konstruiert werden könnte, der zwar "granmatisch" wäre und deshalb seiner Sprache angehörte, der in Wirklichkeit aber niemals vorkommt, und wenn, dann von niemandem verstanden werden könnte, weil das die Beschränkungen des Gedächtnisses verhinderten. Die Unterscheidung zwischen Kompetenz und Performanz entspricht weitgehend der Saussures zwischen "langue" und "parole". Sowohl die von diesem beeinflußte strukturale Sprachwissenschaft als auch die von Chomsky begründete generative Transformationsgrammatik (= TG) beziehen sich in ihrer Grartmatiktheorie ausschließlich auf die Sprachkcmpetenz des idealen Sprecher-Hörers, bzw. ein objektiv geltendes Sprachsystem, und betrachten die Sprachperformanz mehr oder weniger als Anhängsel, das die Grundlagen der Theorie nicht berührt. "Zwar ist unbestritten, daß der methodische Zugang zur Erforschung der Sprachkcmpetenz nur über die Beobachtung des tatsächlichen Sprachgebrauchs möglich ist. Dabei ergeben sich jedoch Schwierigkeiten.
25
Nehmen Sie beispielsweise an, daß in einer Sanmlung mit einer endlichen Menge von Äußerungen eines Sprechers - einem Korpus - u.a. die Äußerung vorkamt: (B 1) Wegen dem Regen sind wir zuhause geblieben.
Wenn Sie das grairmatische Regelsystem dieses Sprechers beschreiben wollen, nüßten Sie als Regel feststellen, daß er in Präpositionalphrasen mit der Präposition "wegen" den Dativ verwendet. Das ist eine Aussage über seine Sprachkompetenz, die aufgrund der Sprachperformanz gewonnen wurde. Möglicherweise hat dieser Sprecher sich aber nur "versprochen", d.h. "in der Regel" würde er die Genitiv-Rektion ("wegen des Regens") gebrauchen. Das ließe sich durch vergleichbare Konstruktionen im Korpus relativ leicht feststellen. Es könnte aber auch sein, daß der Sprecher zwar weiß, daß "wegen" mit dem Genitiv verbunden wird, daß er von diesem Wissen aus irgendwelchen Gründen keinen Gebrauch macht, z.B. weil die Dativ-Konstruktion "bequemer" ist oder weil er sich der üblichen Sprachform seiner sprachlichen Umgebung (einem Dialekt oder einem Soziolekt) anpassen mochte. Es besteht dann eine Diskrepanz zwischen den aufgrund der Konpetenz möglichen Urteil des Sprechers über die Grairmatikalität seiner Äußerung und der tatsächlichen Verwendung, die jedoch von der Performanz her nicht erfaßt werden kann. Beim idealen Sprecher-Hörer entfällt diese Diskrepanz per definitionem. Ihn für eine bestürmte Einzelsprache ('Sprachgemeinschaft') zu konstruieren, bedeutet aber, ständig Entscheidungen darüber zu treffen, was in der betreffenden Sprache 'richtig' und was 'falsch' ist. Am Beispiel des Gebrauchs von wegen Im heutigen Deutsch zeigt sich jedoch, daß viele Sprecher und Sprechergruppen die Dativ-Rektion für 'richtig' halten und die hochsprachlichnormativ allein zulässige Genitiv-Rektion als 'falsch' oder jedenfalls 'veraltet' oder 'überspitzt-vornehm' ablehnen. Im heutigen Deutsch sind wegen mit Dativ oder mit Genitiv sicherlich zwei 'geltende' Varianten. Welche Variante verwendet wird, hängt von Soziolekt und Dialekt der Sprecher ab. Aus der Tatsache, die viele an ihrem eigenen Sprachgebrauch beobachten können, daß der einzelne Sprecher in manchen Situationen die Dativ-Rektion verwendet (z.B. im privat-familiären Gespräch), in anderen 'offizielleren' Situationen die Genitiv-Rektion (z.B. im Seminar), läßt sich folgern, daß Sprecher auch eine Konpetenz für Sprechvarianten und ihre Verwendung haben. Während der kompetente Sprecher des Deutschen aber immerhin Urteile über die Grairmatikalität von Äußerungen abgeben kann und der Sprachwissenschaftler auch seine eigene (subjektive) Intuition heranziehen kann, ist er für die Beschreibung des Spracherwerbs beim kleinen Kind ausschließlich auf die Beobachtung von dessen aktuellem Sprachgebrauch angewiesen, denn das kleine Kind kann keine Grammatikalitätsurteile abgeben. Wenn er die Unterscheidung in (linguistische) Kaipetenz und Performanz (im Sinne der TG) akzeptiert, muß er deshalb versuchen,
26
aus der Beobachtung der Performanz vorsichtig Rückschlüsse auf den Stand und die Entwicklung der Kanpetenz zu ziehen. Die methodologischen Voraus Setzungen und Einschränkungen, unter denen der 'ideale Sprecher-Hörer' gewissermaßen 'funktioniert' , können ihm dann den Rahmen geben für mögliche Fragestellungen, Forschungsstrategien und Erklärungsversuche. 2.1.2 Performanz = Kompetenz + x? Das Chcmsky-Modell kann auf die Formel gebracht werden: Performanz = Kanpetenz + x, wobei x alle physischen, psychischen, sozialen und situativen Faktoren umfaßt, die die Realisierung eines Satzes beeinflussen (vgl. oben das Zitat von Chcmsky). Sollten diese Faktoren wirklich keinerlei Einfluß auf das Regelsystem und die Generierungsprozesse beim kompetenten Sprecher-Hörer haben? Zwei vorläufige Vermutungen legen nahe, daß die in der Formel vorgenormene Scheidung eine unzulässige Simplifizierung darstellt: (1) Wenn Chcmsky die Sprachkcmpetenz einem idealen Sprecher-Hörer zuordnet, schließt er damit ausdrücklich ein, daß es ihm "um die Aufdeckung einer mentalen Realität, die dem aktuellen Verhalten zugrunde liegt" geht (Chcmsky (dt. 1969): 14) . Die Frage ist nun, ob die linguistisch "richtige" Grairmatik mit der mentalen Realität übereinstinmt, kurz: ob linguistische und mentale Grammatik einander entsprechen (vgl. 2.2). (2) Die wichtigste Stütze für die Richtigkeit seiner Annahme sieht er in der Tatsache, daß das Kind in prinzipiell gleicher Weise die Sprache erwerbe, d.h. sein Regelsystem aufbaut, wie der Linguist seine Grairmatik konstruiert. Dabei ist nun die Frage, ob nicht beim Aufbau der Sprachkcnpetenz performatorische Faktoren wie Wahrnehmungsmechanismen und -Strategien mitwirken (vgl. 2.3). Berücksichtigt man darüber hinaus die Überlegungen des 1. Kapitels, ist die Vermutung zulässig, daß die Entwicklung der Sprachkcnpetenz mit den kognitiven und den pragmatischen Bedingungen des Erwerbs der Fähigkeit zu karmunikativem Handeln verbunden ist und deshalb von diesen in noch nicht hinreichend geklärter Weise beeinflußt ist. 2.2
Mentale Grairmatik und linguistische Grairmatik
2.2.1 Korrespondenz- und Korrelations-Hypothese Die TG wird in diesem Arbeitsheft (mit Einschränkungen) in der "Aspekte"-Versian Chomskys (1965, dt. 1969) zugrunde gelegt, nicht nur, weil sie irrmer noch die verbreitetste Standard-Form einer TG ist, sondern auch, weil die Spracherwerbsforschung und Psycholinguistik seit 1965 weitgehend darauf aufbauen
27
oder sich damit auseinandersetzen. Danach besteht eine generative Granmatik aus drei Hauptkomponenten: einer syntaktischen, einer semantischen und einer phonologischen. Einem Satz liegt zunächst eine von der syntaktischen Könponente erzeugte Struktur zugrunde, der von der semantischen Komponente eine bestürmte semantische Repräsentation und von der phonologischen Komponente eine bestürmte Lautstruktur zugeordnet werden. Die beiden letzteren Korrponenten interpretieren die syntaktische Struktur derart, daß die semantische Könponente die Tiefenstruktur eines Satzes determiniert, während seine Oberflächenstruktur von der phonologischen Komponente interpretiert wird. Die syntaktische Körrponente enthält eine Basis (oder Formationsteil) und einen Transformationsteil. Die Basis ist als Regelsystem definiert, das eine beschränkte Menge von Basisketten mit der dazu gehörigen Strukturbeschreibung liefert, aus denen sich die Tiefenstrukturen zusammensetzen. Der Transfornatiansteil der syntaktischen Konpanente generiert die Oberflächenstruktur eines Satzes aus seiner Tiefenstruktur. Diese fragmantarische Skizze des TG-Modells genüge, um daran eine Fragestellung der Spracherwerbsforschung und der Psycholinguistik aufzuzeigen. Nach dem Chcrnsky-Mode 11 von 1965 darf sich die Semantik eines Satzes durch Transformationen nicht verändern. Deshalb gehören Elemente wie 'Negation' oder 'Frage' zur Tiefenstruktur, während sie nach dem älteren Chomsky-Modell von 1957 dem Transformations-Teil angehörten. An dieser ursprünglichen Konzeption der TG orientieren sich aber zahlreiche psycholinguistische Experimente, von denen hier eines kurz skizziert sei. Man kann theorieganäß davon ausgehen, daß die Oberflächenstruktur eines Satzes umso korrplexer ist, (1) je mehr Basisketten für die Formation der Tiefenstruktur benötigt werden, und (2) je mehr Transformationen notwendig sind, um die Tiefenstruktur in die Oberflächenstruktur überzuführen. Vcm Psychologischen her kann man vermuten, daß der Grad der Komplexität einer Oberflächenstruktur dem Schwierigkeitsgrad entspricht, diese Oberflächenstruktur zu generieren. Als Gradmesser dient u.a. die Zeitspanne, die Versuchspersonen benötigen, um mittels Transformationen eine Oberflächenstruktur in eine andere umzubilden. Transfornationen liegen dann z.B. vor, wenn ein einfacher feststellender Aussagesatz im Aktiv (= A) so verändert wird: (B 2) (1) (2) (3) (4)
Egon lobt den Egon lobt den Der Hund wird Der Hund wird mation (= PN)
Hund (= A) Hund nicht : Negations-Transformation (= N) von Egon gelobt : Passiv-Transformation (= P) nicht von Egon gelobt : Negations- + Passiv-Transfor-
Sollten nun die Versuchspersonen eine gegebene Form in eine bestinntte andere umformen, so ergeben sich bei dem Satz "Joe hit the ball" folgende durchschnittliche Zeitwerte:
23 Aufgabe
A A P N A N
«—» N «-» * P «—» P N » PN J.Lyons-R.Wales (Hrsg.), 135-154 Gardner,R.-Gardner,B. (1969): Teaching sign language to a chimpanzee, in: Science 165, 664-672 Langacker,R. (dt. 1971): Sprache und ihre Struktur, Tübingen Lenneberg,E. (dt. 1972): Biologische Grundlagen der Sprache, Frankfurt
39 Maas,U. (1973): Grundkurs Sprachwissenschaft I, München, bes. 213-238 Ploog,D. (1972): Kommunikation in Affengesellschaften und deren Bedeutung für die Verständigungsweisen des Menschen, in: H.-G.Gadamer-P.Vogler (Hrsg.): Biologische Anthropologie II, Stuttgart, 98-178; vgl. auch ZEIT-Magazin v 1.3.74, 25-29 Schlesinger,I. (1971): Production of utterances and language acquisition, in: -»• D.Slobin (Hrsg.), 63-101 Slobin,D. (1970): Universals of grammatical development in children, in: -»• G.Flores d*Arcais-W.Levelt (Hrsg.), 174-186 -*• Slobin,D. (dt. 1974), 11-45 Watt,W. (1970): On two hypotheses concerning psycholinguistics, in: •+ J.Hayes (Hrsg.), 137-220
Hörmann,H. , 185ff. (zu 3.2.1) Lewis,M.M. (dt. 1970) (zu 3.3.1) ->• Luria,A.-Judowitsch,F. (dt. 1970) Major,D. (1974): The acquisition of modal auxiliaries in the language of Children, The Hague (zu 3.3.4) ->• McNeill,D. (dt. 1974), 152-173 -»• Menyuk,P. (1971), 162-197 (zu 3.3.1; bes. 174) Osgood,C.-Sebeok,T. (1965): Psycholinguistics, Bloomington & London (zu 3.2.1 bes. 130f.) -»- Piaget,J. (dt. 1972) (zu 3.1.1) - (dt. 1972): Urteil und Denkprozeß des Kindes, Düsseldorf - -Inhelder,B. (21973) : Die Psychologie des Kindes, Ölten •*• Stern,C. und W. (1928) ->• Wygotski,L.S. (dt. 1964, 1969) (zu 3.1.2)
3
ZUM ERWERB UND ZUR ENTWICKLUNG DER SEMANTIK
3.1
Zum Verhältnis von psychisch-kognitiver und sprachlicher Entwickimg In der wissenschaftlichen Erforschung der Kindersprache, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzt, war das Erkenntnisinteresse lange Zeit auf das Verhältnis der geistigen Entwicklung des Kindes zur sprachlichen ausgerichtet. Es wurde hauptsächlich im Zusammenhang mit dem Problem diskutiert, wie Wortbedeutungen erworben werden. Einen Höhepunkt erreichte diese Forschungsrichtung mit der "Kindersprache" des Ehepaars C.und W.Stern (zuerst 1907). In den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts erschienen die ersten Arbeiten des Genfer Psychologen J.Piaget, mit denen sich 1934 der Sowjetrusse L.S.Wygotski auseinandersetzte (vgl. auch 1.1). Im Gegensatz zu dieser semantisch orientierten Tradition erfolgte der Aufschwung der angloamerikanischen Psycholinguistik und Spracherwerbsforschung vor allem im Zusammenhang mit dem Aufkommen der TG. Deshalb standen hier Fragen des Erwerbs syntaktischer Strukturen im Vordergrund des Interesses.
3.1.1 Die Entwicklung des Denkens nach J.Piaget Unter "Entwicklung" versteht J.Piaget den kontinuierlichen Anpassungsprozeß des Individuums an die Unweit. Inden das Rind die Unweit in den Formen des eigenen Selbst sieht und erlebt, interpretiert es sie entsprechend den eigenen Reizen und Affekten; es denkt egozentrisch. Der Egozentrismus zeigt sich in der Entwicklung des Sprechens. Sprechen ist eine Form der Daseinsbewältigung für das Kind: Es spricht nicht nur, im sich seiner Unweit verständlich zu machen, sondern für sich selbst (autistisch) und undifferenziert zu allen möglichen belebten und unbelebten Objekten. Nachdem das egozentrische Sprechen meist beim Dreijährigen seinen Höhepunkt (lange Monologe) erreicht hat, verliert es sich im Lauf der Jahre in dem Maße, in dem das Kind aufgrund des Sozialisationsprozesses Sprache vor allem zu kanmunikativen Zwecken verwendet. Sprache und Sprechen des Kindes sind von der Entwicklung des Denkvermögens weitgehend abhängig. Nach einfachen Vorformen des Denkens, das nur unmittel bar aufeinanderfolgende Wahrnehmungen und Bewegungen koordinieren kann (sensurrotorische Intelligenz), entsteht mit etwa eineinhalb Jahren eine neue Intelligenzstufe, das vorbegrifflich-synibolische Denken: Durch Nachahmungsprozesse erwirbt
41 das Kind die Fähigkeit, reales Objekt und Vorstellung des Objekts zu trennen. Das sprachliche Zeichen kann (im Spiel) auf andere Objekte übertragen werden, wobei diese - dem egozentrischen Denken entsprechend - zu den werden, was der Benennung entspricht (z.B. "ist" der Bauklotz dann ein "Auto"). "Vorbegrifflich" nennt Piaget diese Phase deshalb, weil die sprachlichen Zeichen noch nicht nach logischen Merkmalen klassifiziert werden. Vielmehr ist der Inhalt der Zeichen bestürmt durch das synkretistische Denken des Kindes, d.h. ein Denken, das ohne logische Beziehung unmittelbar Analogien zwischen heterogenen Objekten findet und sie miteinander verbindet (vgl.3.1.2 das "komplexe Denken"). Diese Intelligenzstufe wird im 4./5. Lebensjahr abgelöst von der Stufe des anschaulichen Denkens. Logische Relationen wie Reihenfolgen und Mengenäquivalenzen werden erfaßt, aber nur wenn sie dem Kind durch Objekte anschaulich vor Augen stehen. Eine Mengenäquivalenz wie gleichbleibendes Volumen bei Verformung des Gegenstandes werden dagegen noch nicht erkannt. Hierzu ist das Kind erst in der nächsten Phase, der der konkreten Denkoperationen, befähigt, die van 7. bis zum 12. Lebensjahr reicht, ehe sie durch die abschließende Phase der formalen Denkoperationen ersetzt wird. Der Inhalt aes sprachlichen Zeichens (oder allgemeiner: Sprache und Sprechen des Kindes) ist also nach Piaget determiniert durch die Form des Denkens. Da es ein Hauptcharakteristikum des kindlichen Denkens in den frühen Phasen ist, sich alles konkret-anschaulich vorzustellen, neigt es dazu, neu erworbene Zeichen, mit denen es noch nichts Rechtes anzufangen weiß, abzuwandeln oder versuchsweise mit einen konkreten Inhalt zu füllen: (B 1) (1) (Mutter schimpft mit Peter (36 M.):) M: /wir sind doch nicht beim Zirkus!/ P: /zirkus . zirkus . bein Markus . bein Markus! / (=Name eines Spielkameraden) (2) (In der Tagesschau sieht Peter (35 M.) ein Polizeiauto mit Blinklicht: ) P: /ham wir auch ne polizei?/ V: /ja/ P: /ich kauf dir auch ne polizei! . fürn Opel dadü dadü dadü!/ (/polizei/ •Blinklicht") (3) (Die Eltern waren ohne Peter (35 M.) im Urlaub in Italien. P sieht einen Wohnwagen:) V: /da kamma mit in urlaub fahrn!/ P: /is das zimmer der urlaub?/ (Kurz danach; P baut aus Legosteinen ein Haus:) M: /was ist denn das?/ P: /das ist ein Italien!/
Die Konkretisierungsversuche in (B 1) (2-3) erschienen erst, nachdem die Zeichen "Polizei", "Urlaub", "Italien" von Kind bereits geraume Zeit semantisch und syn-
42
taktisch völlig korrekt verwendet worden waren. Sind sie da nur mechanisch reproduziert worden, ohne daß Peter sie verstanden hatte, d.h. ohne daß Peter den Lautzeichen eine "Bedeutung" zugeordnet hätte? Oder verdeckte die korrekte Anwendung nur die Tatsache, daß Peter etwas ganz anderes darunter verstand als die Erwachsenen? Man kann das Problem auch so formulieren: Sind die Konkretisierungen als Ausfluß des konkret-anschaulichen Denkens nicht Versuche, begriffliche Klarheit über den Zeicheninhalt zu gewinnen? Betrachten Sie unter diesem Gesichtspunkt die folgenden Beispiele: (B 2) (1) (Peter (27 M.) betrachtet mit Vater ein Bild:) V: /das ist ein Springbrunnen!/ P: /Springbrunnen . Springbrunnen - wasser springt . wasser hüpft!/ (2) (Peter (36 M.) kommt häufig an einer Steinmühle vorbei. Auf der Straße unterhält sich die Mutter mit einer Frau; hinterher:) M: /das war die frau Steinmüller/ P: /steinmüller . steinmü:ler . macht die die steinmühle?/
Hier werden die neu erworbenen Zeichen mit Inhalt gefüllt, indem sie mit bereits bekannten Zeichen seines Sprachsystems in Verbindung gebracht werden. Darin scheint ein Ansatzpunkt zu liegen, wie die Sprache des Kindes auf die Entwicklung des Denkens zurückwirkt und zur Entstehung eines begrifflichen Denkens beiträgt. Übung (7) Erklären Sie unter diesem Gesichtspunkt die folgenden Äußerungen Peters (35, bzw. 36 M.): (1) M: /ach, den wolf, den gibt's nur im märchen!/ P: /fahrn wir da auch ma hin?/ (2) (Auf einem Spaziergang wird Peter davor gewarnt, Brennesseln anzufassen:) M: /brennesseln, die brennen auf der hand!/ P: /brennen auf der hand . feuern die auf der hand? ... brennesseln feuern . brennesseln feuern/
з.1.2
Die Funktion des "komplexen Denkens" für die Verwendung sprachlicher Zeichen
In seiner Auseinandersetzung mit Piaget wendet sich L.S.Vfygotski (russ. 1934) и.a. gegen die These Piagets, daß das Sprechenlernen des Kindes ein Zwang des Sozialisationsprozesses (als Anpassungsprozeß an die Umwelt) sei. Das Sprechen des Kindes ist von Anfang an kcmnunikativ gerichtet, d.h. es ist sozial. Auch das egozentrische Sprechen ist nach Wygotski in Wirklichkeit nicht autistisch, denn "die egozentrische Sprache entsteht auf der Grundlage der sozialen dadurch,
43 daß das Kind soziale Verhaltensformen und Formen der kollektiven Zusammenarbeit in den persönlichen Bereich überträgt." L.S.Wygotski
(1969): 43
Deshalb ist die Entwicklung des Denkens nicht nur von den sozialen und kulturellen Erfahrungen des Kindes abhängig, sondern vor allem von den sozialen Denkmitteln, und das ist die Sprache. Sie wirkt z.B. auf die Entwicklung der Logik des Kindes ein. So erwirbt das Kind die syntaktischen Strukturen, um temporale, kausale, konditionale u.ä. Relationen auszudrücken (Nebensatz, Konjunktionen), erheblich früher als die entsprechenden logischen Operationen möglich sind. Geistige und sprachliche Entwicxlung verlaufen ontogenetisch zunächst getrennt, bis sie sich als "sprachliches Denken" vereinigen. Die Sprache wirkt auf ein Denken ein, das beim kleinen Kind von Synkretismus geprägt ist. Wygotski nennt es "komplexes Denken", weil es sich - im Gegensatz zum begrifflichen Denken - in "Konplexen" vollzieht: "Der Komplex ... ist wie der Begriff eine Verallgemeinerung oder Vereinigung konkreter Dinge, aber während einem Begriff logisch untereinander identische Beziehungen eines einheitlichen Typus zugrunde liegen, beruht der Komplex auf den verschiedenartigsten faktischen Beziehungen, die oft nichts miteinander gemeinsam haben. ... Daher findet im Begriff der wesentliche Zusammenhang seine Widerspiegelung, im Komplex dagegen ein zufälliger und konkreter!" , . ,.„,„. „„, L.S.Wygotski (1969): 124
Damit bedingen sich Denken und Sprache in der Entwicklung wechselseitig: Erworbene sprachliche Zeichen und Strukturen wirken einerseits auf das Denken ein, andererseits verändert sich der Inhalt des Zeichens (der Begriff) aufgrund des konplexen Denkens. Die "Bedeutung" eines Worts, das ein kleines Kind verwendet, und die Veränderung dieser "Bedeutung" im Laufe der Entwicklung sind durch sein kcrplexes Denken bestimnt. Als Beispiel diene ein in der älteren Literatur (auch bei Vtygotski (1969: 140) mehrfach zitierter Fall von "Bedeutungsveränderung" : (B 3) Der Sohn von Ch.Darwin erwirbt das Zeichen /kuak/, als er eine Ente auf dem Wasser schwimmen sieht. Danach bezeichnet er jede Flüssigkeit mit /kuak/. Als er einmal ein Geldstück sieht, auf dem ein Adler abgebildet ist, nennt er die Münze ebenfalls so und fortan alle runden Gegenstände, die an eine Münze erinnern.
Kann man diesen Vorgang linguistisch als "Bedeutungserweiterung" beschreiben, weil sich der Cbjektbereich, für den das Zeichen gilt, ständig erweitert? Beim Erwerb des Zeichens waren von den Gegebenheiten der Situation offensichtlich zwei Elemente von Belang: Das Wasser und die Ente. Das Element "Wasser" verursachte die Bedeutungsveränderung /kuak/ 'Flüssigkeit'; das Element "Ente" verursachte die Bedeutungsveränderung /kuak/ 'Vogel' und die daran anschließende
44
Kette. Aber zwischen den beiden ersten "Bedeutungen" besteht kein Zusammenhang, auch keine Bedeutungsübertragung. Die Bedeutungsveränderung ist durch zufällige Begegnung mit verschiedenen konkreten Objekten zustande gekommen, ohne daß ein begrifflieh-logischer Zusairmanhang zwischen ihnen bestanden hätte: Ausfluß des kcrrplexen Denkens. Eine "Bedeutungserweiterung" im linguistischen Sinne dagegen würde voraussetzen, daß anfangs eine spezifizierte "Bedeutung" von
/kuak/
be-
stünde, wobei anschließend ein semantisches Merkmal oder nehrere (vgl.3.2.3) weggefallen wären. Übung (8) Stellen Sie die Elemente fest, die zu dieser Bedeutungsveränderung
führen:
Peter (30 M.) nennt (Bahn-) Schienen /striche/. Als er einmal mit seinem Vater im Auto eine Bahnlinie überquert, verbessert ihn V, indem er sagt: /das sind die schienen!/. Kurz darauf fahren sie über eine Lahnbrücke, und V sagt, auf das Wasser zeigend: /das ist die Lahn!/ Peter murmelt das einige Male vor sich hin. Als sich das Auto bei einer neuen Fahrt dem Bahnübergang nähert, schaut Peter auf die aufragenden offenen Schranken und ruft: /jetzt fahrn wir über die lahnen!/. Wieder Tage später spielt Peter zuhause mit Bauklötzen "Eisenbahn". Einige langgestreckte Klötze legt er hintereinander und nennt sie /striche/; andere legt er querüber und nennt sie /lahnen/. So werden die Zeichen mehrere Monate lang verwendet.
3.2
Konditionierung und semantische Merkmale
3.2.1 Der Konditionierungsvorgang nach Ch.Osgood In den vorigen Abschnitten wurde davon ausgegangen, daß Lautform und Inhalt eines Zeichens "erworben" werden, ohne daß geklärt wurde, wie der Vorgang des "Erwerbs" selbst verläuft. Für den Erwerb der ersten sprachlichen Zeichen eines Kindes bietet die behavioristische Konditionierungstheorie folgende Erklärung an. Ausgangspunkt ist der klassische Konditionierungsvorgang: Vfenn ein Heiz (ein Stimulus S) auf den Organismus einwirkt, reagiert dieser mit einer Response R: s
^
R
Wirkt gleichzeitig ein zweiter Stimulus S' ein, so verbindet sich dieser mit der auf S erfolgenden R: S
R 1
s
so daß eine neue S-R-Beziehung hergestellt ist, die - nach mehrmaligem gleichzeitigen Vorkoitmen von S und S' - auch dann besteht, wenn der ursprüngliche Stimulus S wegfällt:
45
Die neue Beziehung S'-R ist "konditioniert". Wenn ein zweijähriges Kind eine geschlossene Bonbonbüchse sieht (S^), läuft es hin und ninnrt sie in die Hände (R1). Das In-die-Hand-nehmen wirkt als S2, den Deckel aufzumachen . Der Anblick der Bonbons (S^) löst die Greifbewegung aus (R3) USW. Beim Erwachsenen vollzieht sich dieser Ablauf "automatisch", d.h. er braucht nicht die jeweils veränderte Situation als Stimulus für eine neue Response. Der Bewegungsablauf ist internalisiert, wobei jede interne Response assoziativ zu einem neuen internen Stimulus führt: R
Im Mittelglied dieser Rette vollzieht sich ein "Vermittlungsprozeß" (mediation process), der graphisch so dargestellt wird: (m = mediation)
Auf dieser Basis entwickelt Ch.Osgood sein Modell, wie die "Bedeutung" eines sprachlichen Zeichens erworben wird. Zunächst muß die Fähigkeit zur Produktion von lauten, die gehörte Laute nachahmen, erworben werden. Das geschieht in der Lallperiode (ab 3. Lebensmonat), wenn das Kind auf unbestimnte Bedingungen als Stimulus (Sx) mit einer lautlichen Response R v reagiert. Den von ihm selbst produzierten Laut hört es, und das wirkt als lautlicher Stimulus, ihn erneut zu erzeugen: Das Kind stimuliert sich also selbst
):
/U S x
s = selbst v = verbal x = irgendein
Die Bedeutung dieser Phase liegt darin, daß die gleiche lautliche Response später nicht nur vom selbst-produzierten Laut hervorgerufen wird, sondern auch von ähnlichen Lauten, die es von anderen Sprechern als Stimulus (o = other 'andere') erpfängt: es imitiert. Dazu ist es notwendig, daß es eigene und fremde Laute als gleichartige Stimuli generalisiert: Generalisierung
Imitation
Beim Erwerb der "Bedeutung" einer Lautform handelt es sich nun zunächst um einen einfachen Könditionierungsvorgang. Der Erwachsene sagt das sprachliche
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Zeichen, wenn das Kind seine Aufmerksamkeit einem bestimmten Objekt, z.B. einem Ball, zugewandt hat oder zuwendet: /ball/. Das Kind imitiert die Laute, und so verbinden sich, wenn der Vorgang mehrfach abgelaufen ist, Lautform und wahrgenommenes Objekt in der lautlichen Response des Kindes. Das wahrgenonmene Objekt, im Beispiel der Ball, hat nun aber längst eine "Bedeutung" für das Kind, denn der Ball ist ihm vertraut, es hat damit gespielt, es hat erfahren, wie er rollt, wie er sich anfühlt usw. Diese Erfahrungen sind als Mediationsprozeß internalisiert, und diese Bedeutung ist es nun, die mit der Lautform verbunden wird. Nach der Konditionierung löst deshalb der lautliche Stimulus die gleiche Response aus wie das Objekt:
x
Indem die Lautfom /ball/ auf alle wahrgenomnenen Objekte übertragen wird, die den gleichen Mediationsprozeß hervorrufen, weitet sich die Bedeutung der Lautform auf alle Mitglieder der Klasse "Ball" aus. 3.2.2 Konditionierungsumstände und Bedeutungskonzept Es muß betont werden, daß das behavioristische Modell Osgoods hier nur den Erwerb oer e r s t e n Bedeutungen erklären und nicht etwa exemplarisch für die gesamte Entwicklung der Semantik des Kindes stehen soll. Die ersten sprachlichen Daten, die so erworben werden, haben vielmehr eine Auslösefunktion, die interne Lernmechanismen in Gang setzen (vgl. 2.3.1; vgl. N.Chomsky (dt. 1969): 53). Ein Beispiel mag die Funktion der Könditionierungsumstände in Verbindung mit dem komplexen Denken des Kindes verdeutlichen: (B 4) Im 13. Lebensmonat erwirbt Thomas das Zeichen /hatsi/ 'Blume' (in der phonetischen Form [(h)adi]) dadurch, daß der Vater - Thomas auf dem Arm im Garten ein Stiefmütterchen pflückt, es sich und Thomas unter die Nase hält und dazu mehrfach /hätsi!/ sagt. Thomas freut sich darüber sehr. Am nächsten Tao wiederholt sich der Vorgang, und diesmal reagiert Thomas mit [(h) adi] . In den Tagen darauf bezeichnet er alle Blumen und Blüten in der Wohnung und draußen so. Im 14. Monat nennt er - mittlerweile mit /hatsi/ - auch alle Bäume im Garten so, während unterwegs auf Spaziergängen bloß Blumen und Blüten /hatsi/ heißen. Den Vater, der ihn täglich nach dem Essen auf dem Arm durch den Garten trägt, fordert er regelmäßig auf, ihm ein /hatsi/ zu pflücken, aber er besteht darauf, daß es ein Stiefmütterchen ist!
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Man könnte annehmen, daß es sich um eine kontinuierlich fortschreitende Generalisierung der Bedeutung von /hatsi/ 'Stiefmütterchen' über 'Blume, Blüte' zur Bedeutung 'Pflanze' handle. Eine Analyse unter Berücksichtigung aer angegebenen Verwendungsumstände zeigt jedoch, daß bei der Konditionierung der "Bedeutung" wenigstens drei Elemente eine Folie gespielt haben müssen: (1) Der Vater sagte /hatsi/ (expressiv, Niesen imitierend) und nicht etwa /bZume/ oder /Stiefmütterchen/. Dieser verbale Reiz löst bei Thomas ein ganz leichtes Erschrecken aus, das dann in ein freudiges Lachen übergeht. Mit der visuellen Wahrnehmung von Blumen ist damit für Themas ein angenehmes Gefühl assoziiert worden, das die Response /hatsi/ veranlaßt. (2) Thomas wurde auf dem Arm getragen. Alles Grüne, was im dem Kind vertrauten Garten von Arm des Vaters aus angefaßt (und berochen) werden kann, ist /hatsi/; unterwegs im Sportwagen dagegen nur das, was blüht und was deshalb die angenehme Assoziation auslöst. (3) Bei der Konditionierung wurden Stiefmütterchen gepflückt, nach denen er im Gegensatz zu andern Blumen - greifen durfte. Diese Handlung ist Bestandteil des Mediationsprozesses und erklärt, warum Themas noch nach fünf bis seclis Wochen auf aas Pflücken eines Stiefmütterchens besteht, auch wenn ihm andere Blumen "angeboten" werden. Aufgrund dieser Konditionierungsumstände hat Themas gewissermaßen eine Hypothese: über die Verwendung des Zeichens /hatsi/ aufgestellt. Aufgrund des konplexen Denkens stehen die verschiedenen Verwendungsweisen zunächst relativ unverbunaen nebeneinander. Iitmerhin haben sie soviel gemeinsam, daß sie in einem nächsten Schritt in einem Bedeutungskonzept verbunden werden können, d.h. einer Vorstellung vom Inhalt des Zeichens /hatsi/, das nun die Verwendungsweise steuert. Die Struktur dieses Konzepts ist dann zwar inmer noch von komplexen Denken des Kindes bestürmt und kann sich deshalb in scheinbar unerklärlicher Richtimg verändern (vgl. oben /kuak/). Da aber gleichzeitig die Verwendung des Zeichens , gegebenenfalls von der Unweit korrigiert wird (Zurückweisung bei abweichender Verwendung), stabilisiert sich das Konzept meist auf der Basis der auch von der Urwelt verwendeten Bedeutung. Diese Entwicklung wird dadurch begünstigt, daß das Kind bald soviele Konzepte erworben hat, daß sie sich wechselseitig ein- und abgrenzen. Übung (9) Stellen Sie die Konditionierungsumstände fest, die zur Ausbildung des Konzepts /heiß/ bei Thomas führen:
48 Der Vater verhindert Thomas daran, die heiße Kaffeetasse und die heiße Pfeife zu berühren, indem er den Kopf schüttelt und /nein, heiß!/ sagt. Im 13. Monat wiederholt Thomat /(h)eis!/, wenn er die Tasse oder die Pfeife sieht. Im 14. Monat faßt er die leere, kalte Tasse an und saqt /heiß/. Danach verwendet er das Zeichen für alle Objekte, die er nicht anfassen soll: Aschenbecher, Vasen, Fernseher usw.
3.2.3 Semantische Merkmale Die linguistische Beschreibung der semantischen Entwicklung setzt an diesem Punkt ein. Im Gegensatz zur Referenz-Semantik, die das Verhältnis zwischen Zeichen und dem damit Bezeichneten analysiert, untersucht die strukturale Methode die Bedeutung des Zeichens, indem sie dessen funktionalen Wert im Sprachsystem des Kindes bestirrnrt. Dabei ist die Bedeutung imrrer eine Einheit, auch wenn das Zeichen sich als Bezeichnung auf verschiedene Objekte bezieht (wie z.B. /kuäk/).
Eine Möglichkeit ist es, die Bedeutung eines Zeichens zu ermitteln, irxiem seine semantischen Merkmale festgestellt werden. Von jedem Ncmen N z.B. kann ausgesagt werden, ob es sich um etwas Abstraktes oder etwas Konkretes handelt. Entsprechend erhält ein N wie "Liebe" das semantische Merkmale +Abs , ein Zeichen wie "Knabe" das Merkmal -Abs (Abs = abstrakt). Ein Zeichen wie "Stein" erhält das zusätzliche Merkmal (-Bei) (=nicht belebt), weil es sich dadurch von allen belebten Objekten (+Bel) unterscheidet. Außerdem benötigt es ein Merkmal, das angibt, daß es sich um ein zählbares Objekt handelt, im Gegensatz etwa zu "Milch" ((±Kon) = kontinuativ). "Knabe" unterscheidet sich von anderen belebten Objekten wie z.B. "Pferd" durch das zusätzliche Merkmal (+Hum) (=menschlich), von "Frau" durch das Merkmal (-hnännlich) und von "Mann" durch das Merkmal (-erwachsen). Mit diesem Bündel von semantischen Merkmalen, die in einer Hierarchie angeordnet sind, ist das Zeichen "Knabe" vollständig beschrieben, denn es unterscheidet sich mit seinem spezifischen Bündel von allen anderen Zeichen außer seinen Synonymen ("Junge", "Bub"): Knabe (-Abs) (-Kon) (+Bel) (+Hum) (+männlich) (-erwachsen)
Dabei ist die Notierung der drei ersten Merkmale überflüssig (redundant), weil alle Zeichen mit d m Merkmal (+Hum) notwendig (-Abs), (-Ron) und (+Bel) sein müssen.
49 Die semantischen Merkmale setzen ein System sprachlicher Oppositionen voraus. Hierin liegt die grundsätzliche Schwierigkeit, die Entwicklung der Semantik des Kindes mithilfe von semantischen Merkmalen und deren Erwerb zu beschreiben, denn die semantischen Merkmale sind im Rahmen des entwickelten Sprachsysteins definiert, das vcm Kind ja gerade erst erworben wird. In den folgenden Abschnitten soll deshalb betrachtet werden, wie Merkmale und semantische Entwicklung sich zueinander verhalten könnten. 3.3
Erwerb und Entwicklung semantischer Merkmale
3.3.1
Die Entstehung semantischer Merkmale aus dem Bedeutungskonzept
Cben wurde darzustellen versucht, wie auf der Basis der Könditionierungsumstände und des koirplexen Denkens Bedeutungskonzepte als Hypothesen über einen Zeichenirihalt entstehen. Entwickeln sich nun zwei Konzepte so, daß sie sich in bezug auf einen bestimrrten Referenten überschneiden, dann entsteht daraus ein Konflikt für die Anwendung der beiden Zeichen. Ein Beispiel für diese Entwicklung hat M.M.Lewis (dt.1970: 66-68) beschrieben: (B 5) Sein Sohn bezeichnet mit /tee/ zunächst ein Kätzchen, dann einen kleinen Hund. Im 23. Monat benutzt es das Zeichen für eine Kuh, im 24. für ein Pferd. Als nun /hosh/ (( horse) erworben wird, wird es zuerst in bezug auf Pferde verwendet, dann auch zur Bezeichnung eines großen Hundes (im 25. Monat). Wenige Tage vor Erwerb von /hosh/ erwirbt das Kind als Bezeichnung für einen kleinen Spielzeughund, der vorher nicht /tee/ genannt wurde, das Zeichen /goggie/. Kurz darauf wird auch ein kleiner lebender Hund (vorher /tee/) /goggie/ genannt.
In dieser Entwicklung verschwindet also das Zeichen /tee/ und wird durch neu erworbene Zeichen ersetzt. (Auch die Katze heißt ab dem 24. Monat /pushie/ und die Kuh ab dem 25. MDnat /moo-ka/.) Die Verwendung dieser Zeichen richtet sich ebenso wie bei /tee/ nach dem Konzept, das sich das Kind aufgrund seiner Wahrnehmung gebildet hat. Während bei /tee/ das Wahrnehntungsbild sich darauf bezog, daß es sich um vierbeinige Lebewesen handelte, geht der Erwerb der neuen Zeichen mit einer Differenzierung der Konzepte Hand in Hand. Das Zeichen /hosh/ bezog sich zunächst auf ein Pferd, dessen Erscheinungsbild für das Kind Anlaß war, auch einen großen Hund, einen Bernhardiner, so zu nennen. Daraus kann man schließen, daß das dominierende Merkmal im Wahrnehmungsbild die Größe des Tieres war. Dieses Merkmal ist im Konzept (pferd) enthalten. Für die Übertragung des Zeichens /goggie/ auf einen kleinen lebenden Hund war das gleiche hundeartige Erscheinungsbild, das auch der Spielzeughund aufwies, verantwortlich: es entstand ein Konzept (hund), wobei offensichtlich auch die Kleinheit der Tiere eine Rolle spielte.
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Die beiden Konzepte überschneiden sich da, wo es um die Benennung des Bernhardiners geht. Einerseits erkennt das Kind das hundhafte Aussehen, müßte also das durch /goggie/ repräsentierte Konzept (hund) anwenden, andererseits verbindet die Größe des Tieres mit dem Konzept (pferd). Was bisher in den Konzepten integriert war, nämlich Größe und Kleinheit, wird nun zum spezifisch differenzierenden Merkmal. Aus dem Konzept (pferd) wird (groß) als satlantisches Merkmal herausgenommen; das Konzept (hund) nicht mehr nur auf kleine Hunde bezogen. Als Ergebnis dieses Prozesses nennt das Kind den Bernhardiner /biggie doggie/. Graphisch könnte man den Prozeß so darstellen: (vierbeinige Tiere)
/goggie/