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German Pages 244 [246] Year 2019
BKG - Band 32
Sprache zwischen Politik, Ideologie und Geschichtsschreibung Analysen historischer und aktueller Übersetzungen von „Mein Kampf“ Herausgegeben von Othmar Plöckinger
Geschichte Franz Steiner Verlag
Beiträge zur Kommunikationsgeschichte - Band 32
Othmar Plöckinger (Hg.) Sprache zwischen Politik, Ideologie und Geschichtsschreibung
beiträge zur kommunikationsgeschichte Herausgegeben von Carsten Kretschmann, Bernd Sösemann und Rudolf Stöber Band 32
Sprache zwischen Politik, Ideologie und Geschichtsschreibung Analysen historischer und aktueller Übersetzungen von „Mein Kampf“ Herausgegeben von Othmar Plöckinger
Franz Steiner Verlag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2019 Satz: DTP + TEXT Eva Burri, Stuttgart Druck: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12379-2 (Print) ISBN 978-3-515-12380-8 (E-Book)
INHALTSVERZEICHNIS Vorwort ...........................................................................................................
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Othmar Plöckinger Einleitung .......................................................................................................
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TEIL 1 – GRUNDLAGEN Helmuth Kiesel Hitlers Stil in Mein Kampf ..............................................................................
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Claire Placial Einführung in die Geschichte der Übersetzungstheorie ..................................
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TEIL 2 – HISTORISCHE ÜBERSETZUNGEN Stefan Baumgarten Sprachliche und diskursive Tendenzen einer eliminatorischen Narration: Historische englische Übersetzungen von Mein Kampf ..................................
51
Wladislaw Hedeler Grigori Sinowjews Übersetzung und Kommentar zu Adolf Hitlers Mein Kampf ...............................................................................
89
Jesus Casquete Die erste spanische Ausgabe von Mein Kampf................................................ 107 Frank Jacob Mein Kampf in Japan: Einfluss, Rezeption und Übersetzungslücken? ............ 137 Gerard Groeneveld Mein Kampf in den Niederlanden .................................................................... 153
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Inhaltsverzeichnis
TEIL 3 – NEUERE ÜBERSETZUNGEN Oded Heilbronner Mein Kampf in Israel ....................................................................................... 173 Hilmi Bengi Die türkischen Übersetzungen von Mein Kampf – Kavgam ............................ 181 Maria Lin Moniz Die Übersetzungen von Hitlers Mein Kampf ins Portugiesische ..................... 199 Vincenzo Pinto Die Wörter in Mein Kampf – Semantik und Pragmatik eines umstrittenen (und wenig gelesenen) Textes ......................................................................... 213 Olivier Mannoni Mein Kampf in Frankreich: Eine sehr lange Geschichte ................................. 231 Autorinnen und Autoren .................................................................................. 241
VORWORT Die ersten Überlegungen zu diesem Band entstanden bei einer Tagung des Duitsland Instituut Amsterdam (DIA) im Herbst 2016. Bei der Tagung wurden verschiedene Projekte vorgestellt und diskutiert, die das Ziel einer Übersetzung von Hitlers Mein Kampf verfolgten. Deutlich wurde dabei, mit welchen Problemen Übersetzerinnen und Übersetzer nicht nur auf historischer und politischer, sondern auch auf kultureller und sprachlicher Ebene konfrontiert waren und sind. Diesen Aspekten umfassender Raum zu geben und damit insgesamt die Arbeit von Übersetzerinnen und Übersetzern ins Bewusstsein zu rücken, ist ein wesentliches Anliegen dieser Publikation. Nicht zuletzt erhält damit freilich auch der Blick auf das deutsche Original sowohl wirkungsgeschichtlich als auch sprachlich neue Facetten. Einmal mehr danke ich Univ.-Prof. Dr. Bernd Sösemann vom Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin (Forschungsstelle AKiP) nicht nur für die Aufnahme des Buches in seine Schriftenreihe, sondern auch für seine Beratung und Hilfestellung bei manchen Problemen, die eine solche Publikation mit sich bringt. Des Weiteren danke ich Herrn Dr. Thomas Schaber vom Steiner-Verlag für seine Geduld bei den Verzögerungen, die sich gelegentlich eingestellt haben, und Dr. Martin Moll von der Universität Graz für seine wie immer sehr verlässlichen Korrekturarbeiten. Mein besonderer Dank gilt natürlich den Autorinnen und Autoren dieses Bandes, die sich bereit erklärt haben, den historischen, gesellschaftlichen und sprachlichen Herausforderungen eines der berüchtigtsten Bücher des 20. Jahrhunderts außerhalb des deutschsprachigen Raums nachzuspüren. Dass dabei nicht nur die Geschichts- und Sprachwissenschaften zu Wort kommen, sondern auch Einblicke in die praktische Übersetzungsarbeit an Hitlers Buch gegeben werden, ist ihren vielfältigen Zugängen zu dem Thema geschuldet. Und schließlich sei auch den Übersetzerinnen und Übersetzern gedankt, die etliche Beiträge dieses Bandes mit großem Engagement ins Deutsche übertragen haben. Salzburg, im Dezember 2018 Othmar Plöckinger
EINLEITUNG Othmar Plöckinger Als Anfang 2016 die kritische Edition von Mein Kampf vom Münchener Institut für Zeitgeschichte herausgegeben wurde, erreichte der einige Jahre zuvor begonnene Prozess der Neubewertung von Hitlers Schrift einen Höhepunkt, keineswegs aber ein Ende.1 Die zum Teil intensiv geführten Diskussionen nicht nur über die Stärken und Schwächen der Edition, sondern auch über die Möglichkeiten und Grenzen eines solchen Unternehmens insgesamt verzerrten zwar die Bedeutung des Buches gelegentlich, ließen aber die nach wie vor gegebene Virulenz der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus erkennen. Die verschiedentlich erwarteten Übersetzungen der Edition blieben jedoch, mit Ausnahme Frankreichs, aus, sodass trotz einiger Untersuchungen und selbständiger Übersetzungen dieser Aspekt der Geschichte des Buches deutlich weniger Beachtung fand. Diese Lücke zu schließen erscheint aus mehreren Gründen notwendig und aufschlussreich. Zum einen waren und sind Übersetzerinnen und Übersetzer des Buches nicht nur Akteure im politischen, ideologischen und publizistischen Spannungsfeld ihrer Zeit, ihres Landes und ihrer Kultur, sondern sie setzten und setzen sich mit dem Buch in einer Form und einer Intensität auseinander, die einen sehr besonderen Blick darauf erlaubten. Sie mussten Strategien entwickeln, um Hitlers Text (oder jene Teile, die als zweckmäßig erachtet wurden) inhaltlich und sprachlich für ihr Publikum so zu erschließen, dass die Übersetzung den je nach ideologischer Haltung und publizistischem Motiv sehr unterschiedlichen Zielsetzungen möglichst gerecht wurde. Zum anderen bietet die große Zahl an Sprachen, in die das Buch übersetzt wurde2, die Möglichkeit, Publikations- und Überset1 2
Einen Überblick bietet die Homepage des Instituts für Zeitgeschichte. Wie viele Übersetzungen es vor 1945 gegeben hat, lässt sich lediglich auf mindestens 16 schätzen (vgl. Hartmann, Christian / Vordermayer, Thomas / Plöckinger, Othmar / Töppel, Roman (Hg.): Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition. 2 Bde. München: Institut für Zeitgeschichte 2016, Bd. II, S. 1761 f.). Dies hängt zum einen damit zusammen, dass Belege für in der Literatur kolportierte Übersetzungen etwa in asiatische Sprachen kaum beizubringen sind; zum anderen ist auch der Begriff „Übersetzung“ auf manche Publikationen nur bedingt oder gar nicht anzuwenden, da es sich um Nacherzählungen oder Zusammenfassungen einzelner Passagen handelt (vgl. Plöckinger, Othmar: Zur internationalen Rezeption von „Mein Kampf“ vor 1945, in: Totalitarismus und Demokratie, 13. Jg., 2016, H. 1, S. 11–44). Für die Zeit nach 1945 ist eine Schätzung noch schwieriger, da zu vermuten ist, dass manche Übersetzungen oder Bearbeitungen nicht oder nur selten der Wissenschaft bekannt werden, zumal nicht zuletzt mit dem Ablaufen des Urheberrechts Ende 2015 auch die ohnehin nur sehr bedingt wirksamen rechtlichen Einschränkungen wegfielen. So tauchten erst vor kurzem Hinweise auf eine Übersetzung in Indonesien auf, vgl. www.tokopedia.com/cofasiu/buku-mein-kampf-edisi-lengkap-volume1-dan-volume-ii (Zugriff am 23.10.2018).
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zungsstrategien ebenso wie wirkungsgeschichtliche Fragestellungen unterschiedlichster historischer, politischer und kultureller Prägung gegenüberzustellen und damit den Blick auf die Bedeutung und den Einfluss von Übersetzerinnen und Übersetzern zu schärfen. Nach der Lektüre der 1933 in den USA erschienenen gekürzten Übersetzung von Mein Kampf hielt der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt in seinem Exemplar fest: „This translation is so expurgated as to give a wholly false view of what Hitler really is or says – The German original would make a different story.“3 Einige Monate zuvor hatte der Bolschewist Grigori Sinowjew, der 1932/33 das Buch ins Russische übersetzte, über die Mühen seiner Arbeit festgehalten: „Hitler redet und schreibt nicht wie einfache Leute, sondern äußert sich wie Pythia, nebulös und verworren.“4 Beide Stellungnahmen weisen auf zwei fundamentale Probleme hin, mit denen Zeitgenossen außerhalb des deutschen Sprachraums in der Auseinandersetzung mit Hitlers Buch konfrontiert waren. Sofern es sich um Teilübersetzungen handelte, stellte sich zum einen für Übersetzerinnen und Übersetzer und die Leserschaft gleichermaßen die Frage, welche Passagen berücksichtigt wurden und welche unübersetzt blieben. Zum anderen galt es zu bedenken, wie und mit welchen Strategien und Grundhaltungen die Übersetzungen gestaltet wurden. Die inhaltliche Redundanz und Vagheit in etlichen Bereichen, die auf den ersten Blick verwirrende Struktur und nicht zuletzt die sprachlichen Eigentümlichkeiten des Buches, die freilich nicht selten zeit- und genrebedingt waren, forderten nicht nur heraus, sondern boten auch Chancen, die nach je eigener politischer und publizistischer Intention genutzt werden konnten und genutzt wurden. Den Übersetzerinnen und Übersetzern kam und kommt damit eine entscheidende Rolle in der Wahrnehmung Hitlers zu, seine Radikalität kann verschleiert oder hervorgehoben, seine Ideologie philosophisch verbrämt oder in ihrer Menschenverachtung in den Vordergrund gestellt, seine Sprache literarisiert oder in ihrer Eigenheit vermittelt werden. Der Aufbau dieses Bandes soll diese Aspekte auch in ihren zeitlichen Dimensionen deutlich machen, wenngleich die Grenzen dabei fließend sind. Im historischen Teil stehen Übersetzungen im Zentrum, die vor 1945 erschienen sind, wobei freilich nicht selten über diese Zäsur hinausgegangen und Entwicklungen bis zur Gegenwart in den Blick genommen werden. Im aktuellen Teil wiederum richtet sich der Fokus vor allem auf Übersetzungen der Nachkriegszeit, insbesondere auf solche, die im Zusammenhang mit dem Auslaufen des Urheberrechtes Ende 2015 entstanden sind, doch wird auch hier wiederholt die Zeit davor in die Betrachtungen einbezogen. Mit den grundlegenden Aspekten jeder Übersetzung beschäftigen sich die beiden einleitenden Beiträge. Helmuth Kiesel gibt zunächst einen Überblick über die verschiedenen Einschätzungen, die Hitlers Stil seit dem Erscheinen des ersten Bandes 1925 bis in die Gegenwart erfahren hat. Unverkennbar haben sich dabei Stereo3 4
Zit. in: Plöckinger, Othmar: Geschichte eines Buches. Adolf Hitlers „Mein Kampf“ 1922–1945. 2. Aufl. München: Oldenbourg 2011, S. 499. Vgl. den Beitrag von Wladislaw Hedeler in diesem Band.
Einleitung
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type wie die „Unlesbarkeit“ von Mein Kampf herausgebildet, die er mit Verweis auf die Funktion und das Zielpublikum hinterfragt. Normative Kriterien erscheinen nur bedingt hilfreich bei der Beschreibung eines Textes, der sich weder in seinen Zielsetzungen noch in seiner Struktur solchen Kriterien verpflichtet sieht, ja deren Verletzung er als Strategie nutzt. So weist denn auch Claire Placial in ihrer Darstellung zur Geschichte und Methodik der Translation darauf hin, dass bei der Theoriebildung dieser erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts etablierten Wissenschaft literarische Texte meist im Vordergrund standen. Politische oder gar propagandistische Texte fanden auch in den Arbeiten kaum Beachtung, die sich im deutschsprachigen Raum seit Luther mit Übersetzungsfragen beschäftigten. Sie verweist darüber hinaus auf eine tiefe Kluft, ja einen Widerspruch zwischen der Theorie und der Praxis der Translation, wenn sie die Translation im deutschen, französischen und englischen Raum vergleicht und dabei die Wechselwirkungen zwischen der Kultur der Ausgangssprache und der Zielsprache sowie die Relevanz der Textsorten bespricht. In den weiteren Beiträgen werden verschiedene dieser Aspekte aus praktischer Sicht zur Sprache kommen. Dass Mein Kampf vor 1945 kaum rezipiert worden wäre, ist inzwischen auch für den nicht-deutschsprachigen Raum durch zahlreiche Studien widerlegt worden. Die Beiträge dieses Bandes vertiefen diesen Befund. Dies gilt auch für einige der Texte, die sich im dritten Teil mit aktuellen Übersetzungen beschäftigen, aber vornehmlich natürlich für die Untersuchungen im zweiten, historischen Teil. Grenzen zwischen politischen, publizistischen, propagandistischen und übersetzungstechnischen Fragen zu ziehen, war schon für Zeitgenossen unmöglich. Dies macht die Stellungnahme des katholisch geprägten Lektüre-Informationsdienstes IDIL in Amsterdam deutlich, der 1940 seine kritische Rezension der niederländischen Übersetzung von Mein Kampf gegen die heftigen Angriffe des herausgebenden Verlags verteidigte: „Dass ein Buch wie ‚Mein Kampf‘ von den Katholiken nicht mit Begeisterung aufgenommen werden würde, hätten Sie wissen müssen. Die Intellektuellen können über den Inhalt des Buches Kenntnis erlangen, indem sie die deutsche Ausgabe lesen (wir besitzen diese übrigens selbst auch), doch wir können uns lebhaft vorstellen, dass gegen eine Übersetzung, die nicht wortgetreu korrekt ist, schwerwiegendere Bedenken bestehen als bei einem Buch, das man ohnehin lieber nur in die Hände von Personen geben möchte, die hinreichend kritisch lesen können.“5 So folgen denn auch die Beiträge im zweiten Teil unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen, die nicht zuletzt auch dem Forschungsstand zur jeweiligen Übersetzung geschuldet sind.6 Wird in einigen Beiträgen der erstmals umfangreicher dargestellten Übersetzungs- und Wirkungsgeschichte größeres Gewicht gegeben, 5 6
Undatiertes Schreiben (1940), in: NIOD Amsterdam, Archiv, U 25 c; vgl. Groeneveld, Gerard: Zwaard van de geest. Het bruine boek in Nederland 1922–1945. Nijmegen: Vantilt 2001, S. 62. Die Reihenfolge der Beiträge orientiert sich zwar an chronologischen Prinzipien, d. h. an der zeitlichen Abfolge der verschiedenen Übersetzungen von Mein Kampf, da einzelne Übersetzungen voneinander abhängig waren, insbesondere die ersten englischen Übersetzungen dienten verschiedentlich als Ausgangstexte für weitere Übersetzungen. Daneben wurden jedoch auch entstehungs- und rezeptionsrelevante Kriterien berücksichtigt.
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Othmar Plöckinger
konzentrieren sich andere auf sprachliche und übersetzungstechnische Aspekte. Dies gilt zunächst für den angloamerikanischen Sprachraum, der vor 1945 die frühesten und auch die meisten konkurrierenden Übersetzungen hervorgebracht hat. Stefan Baumgarten arbeitet dementsprechend detailliert die verschiedenen Übersetzungsstrategien heraus und macht dabei deutlich, wie und in welchem Ausmaß eine von Sympathie oder Gegnerschaft zu Hitler geprägte ideologische Haltung nicht nur in die Auswahl der übersetzten Passagen (sofern es um gekürzte Ausgaben geht), sondern vor allem in die Art der Übersetzung und den gewählten Sprachduktus einfloss. Gestützt werden seine Ausführungen nicht nur von exemplarischen Beschreibungen, sondern auch von statistischen Analysen. Darüber hinaus kommen auch gestalterische Mittel in der Aufmachung der Übersetzungen sowie diverse Vermarktungsstrategien in den Blick, sodass sich ein überaus differenziertes Bild von den englischsprachigen Übersetzungen ergibt, die in der Folge auch zur Grundlage weiterer Übersetzungen wurden. Etwa zur gleichen Zeit, jedoch unter gänzlich anderen Bedingungen entstand auch die russische Übersetzung. In seinem Beitrag zeichnet Wladislaw Hedeler die Vor- und Rahmenbedingungen nach, mit denen Grigori Sinowjew dabei konfrontiert war. Sinowjews Übersetzungsstrategie war dabei zwiespältig, da er die von ihm konstatierte verworrene Sprache und Gedankenarmut Hitlers transportieren, dabei gleichzeitig aber den Text für russische Leser verständlich machen wollte. Auch wenn eine öffentliche Rezeption oder gar Diskussion in der Sowjetunion ausgeschlossen war, so war der Umgang mit dem Buch im engen Netzwerk des bolschewistischen Macht- und Parteiapparates kaum weniger komplex als die publizistischen Verwerfungen im angloamerikanischen Raum. Ungewöhnlich erscheint auch die von Jesus Casquete erstmals ausführlich dargestellte Geschichte der ersten spanischen Übersetzung. Sie ist in verschiedener Hinsicht bemerkenswert, da sie nicht nur zu jenen Übersetzungen zählt, die eine überaus positive Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus einnehmen, sondern auch auf private und nicht auf staatliche oder parteiamtliche Initiativen zurückgeht. Darüber hinaus stammte der Übersetzer aus der Elite Boliviens, studierte in Deutschland und hatte Kontakte zur Führungsschicht der NSDAP, was auch in die Übersetzungsarbeit einfloss. Letztlich blieb die Rezeption des Buches in Spanien jedoch ambivalent, nicht zuletzt aufgrund der starken katholischen Prägung des spanischen Faschismus. Wenngleich die Vorbehalte gegen das Buch in Japan ebenfalls ideologische Züge trugen, so entsprangen sie doch anderen Ursachen als in Spanien, wie Frank Jacob herausstellt. Hitlers abschätzige Bemerkungen über die japanische Kultur mussten zwangsläufig auf Ablehnung stoßen und fielen den Kürzungen in den japanischen Übersetzungen zum Opfer. Aber auch der Antisemitismus stieß auf Skepsis oder Unverständnis, wenngleich er in Japan keineswegs ein unbekanntes Phänomen war. Insgesamt blieb dem Buch in Japan eine größere Aufmerksamkeit versagt, zumal die Übersetzungen der Leserschaft kaum Hilfestellungen an die Hand gaben, in Japan schwer nachvollziehbare Vorstellungen und Begriffe einzuordnen. Dabei wird freilich auch deutlich, dass angesichts der zahlreichen verschiedenen Übertragungen ins Japanische manche Forschungsfragen noch offen sind.
Einleitung
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In den Niederlanden hingegen entstand lediglich eine Übersetzung, und dies erst sehr spät. Erste Bemühungen waren im Sand verlaufen, nicht zuletzt aufgrund der mangelnden Qualität der Übertragungen, wie Gerard Groeneveld erläutert. Die schließlich publizierte Ausgabe war sowohl von ideologischen als auch verlegerischen Motiven getrieben. Der Übersetzer war ein überzeugter Nationalsozialist und verstand es trotz seines ungewöhnlich jungen Alters und seiner Unerfahrenheit eine Arbeit vorzulegen, die sich zu einem Bestseller entwickelte. Zwar wurde seine Tendenz, Hitlers Buch zu glätten und ihm manche Schärfe zu nehmen, schon von Zeitgenossen kritisiert, doch blieb sie bis zur Neuausgabe 2018 die einzige vollständige niederländische Übersetzung. Auch wenn sich die Ausgangslage nach 1945 drastisch änderte, blieben einige Grundprobleme erhalten, wie die Beiträge im dritten Teil zeigen. So standen sich auch weiterhin Übersetzungen gegenüber, die zum einen aufklärerische Ziele verfolgten und zum anderen affirmativen oder gar sympathisierenden Charakter trugen. Auch die juristischen Rahmenbedingungen änderten sich zwar mit der Übertragung der Urheberrechte an Mein Kampf an den Bayerischen Staat, doch entzogen sich Herausgeber wie schon vor 1945 auch weiterhin nicht selten legistischen Bestimmungen. Und auch weiterhin verschwammen bei der Übersetzung und Herausgabe des Buches verlegerische, politische und ideologische Motive, die vereinzelt bis in die Tagespolitik reichten. Gelegentliche aktuelle Bezüge in den verschiedenen Beiträgen dieses Teiles beinhalten daher natürlich auch persönliche Wertungen und Sichtweisen der einzelnen Autorinnen und Autoren. Gerade sie zeigen die Virulenz des Themas auf und lassen erkennen, dass die Auseinandersetzung mit Mein Kampf nach wie vor nicht immer von aktuellen politischen Entwicklungen zu trennen ist. Eine Sonderstellung kommt der hebräischen Übersetzung zu, wie Oded Heilbronner ausführt. Wenngleich sie ursprünglich nur für den akademischen Gebrauch gedacht und konzipiert war, erregte sie Mitte der 1990er Jahre doch einige Aufmerksamkeit in Israel. Die Reaktionen reichten von scharfer Ablehnung bis zur Betonung der Notwendigkeit, Hitlers Buch auch für den israelischen Bildungs- und Forschungsbereich zugänglich zu machen. Neben dem Begriff „völkisch“ stellte auch die Titelgebung eine Herausforderung dar, die aufgrund ihres Symbolgehaltes weit über verlegerische und übersetzungstechnische Fragen hinausreichte und sogar in der Knesset diskutiert wurde. In der Türkei entstand vor 1945 nur eine Übersetzung und sie entsprang anders als im spanischen oder niederländischen Raum einer dezidiert anti-nazistischen Haltung, wie Hilmi Bengi erläutert. Seit Ende der 1990er Jahre änderte sich das Bild jedoch. Zahlreiche Verlage publizierten neue Übersetzungen in den verschiedensten Varianten, sodass Hitlers Buch schließlich sogar in den türkischen Bestsellerlisten auftauchte und damit auch international Aufmerksamkeit erregte. Ein Verbot in der Türkei war die Folge, das jedoch immer wieder unterlaufen wurde. Ein beträchtliches Spannungsfeld zwischen verlegerischen, politischen und ideologischen Deutungen entstand rund um die Frage nach den Hintergründen dieser Entwicklung, wobei Bengi gerade dem finanziellen Aspekt eine besondere Bedeutung beimisst, ideologische Momente hingegen geringer bewertet sehen will.
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Welche langanhaltende Wirkung frühe Übersetzungen auch auf spätere Ausgaben hatten, zeigt Maria Lin Moniz am Beispiel der portugiesischen Übersetzungen auf. Sie eröffnet damit die Reihe der Beiträge, die von Übersetzerinnen und Übersetzern von Mein Kampf verfasst wurden. Auch wenn die erste und einzige Übersetzung vor 1945 aus Brasilien stammte, blieben ihre Vorgaben lange Zeit einflussreich, auch oder gerade weil Hinweise auf Übersetzer immer wieder unterschlagen wurden. Darüber hinaus gibt Moniz Einblicke in ihre eigene Arbeit als bisher letzte Übersetzerin von Mein Kampf ins Portugiesische und erläutert anhand einiger Beispiele die übersetzungstechnischen Entscheidungen, die sie dabei treffen musste. Mit Vincenzo Pinto beschäftigt sich ebenfalls ein Übersetzer von Hitlers Buch mit der Geschichte und mit den sprachlichen Aspekten der italienischen Ausgaben. In einer ausführlichen Analyse von drei wesentlichen Übersetzungen spürt er anhand einiger Beispiele den Techniken und Ansätzen seiner Vorgänger nach. Ausgangspunkt ist dabei die Deutung der untersuchten Begriffe im Grimm’schen Wörterbuch, von der aus auf die Konnotationen möglicher Übersetzungen ins Italienische übergeleitet wird. Schließlich werden auch die eigenen Ansätze in der Auseinandersetzung mit Hitlers Text erläutert. Den Abschluss bildet der Beitrag von Olivier Mannoni, dessen Übersetzung von Hitlers Buch noch vor der Publikation steht. Gemeinsam mit einem Team von französischen Historikern bereitet er eine Ausgabe vor, die Hitlers Text inhaltlich aufbereiten und ihm sprachlich gerecht werden will. Was dies allerdings für die Übersetzungsarbeit konkret bedeutet und welche verschlungenen Wege dabei zu gehen waren, beschreibt Mannoni in einer durchaus auch persönlich gefärbten Reflexion über die Herausforderungen, die Hitlers Sprache an eine Übersetzung stellt. Dieser Band beschäftigt sich mit den Übersetzungen von Mein Kampf in zehn Sprachen und vereinigt dabei Autorinnen und Autoren aus acht Ländern, die ihre Beiträge in sechs verschiedenen Sprachen verfasst haben. Sie brachten darüber hinaus auch ihre unterschiedlichen wissenschaftlichen Traditionen, Darstellungsweisen und Begrifflichkeiten, ihre historischen und kulturellen Hintergründe und in einigen Fällen auch die aktuelle politische Situation mit ein. Hinzu kommt, dass nicht nur Übersetzungen, ihre Entstehung, Wirkung und Sprache untersucht wurden, sondern auch Übersetzerinnen und Übersetzer selbst über ihren Umgang mit Hitlers Buch reflektierten. Wenn diese Vielzahl an Unterschieden und Divergenzen trotz des Bemühens um ein einheitliches Bild gelegentlich spürbar wird, so trägt vielleicht auch dies zu einem besseren Verständnis der Herausforderungen der Translation bei.
TEIL 1 – GRUNDLAGEN
HITLERS STIL IN MEIN KAMPF Helmuth Kiesel Über den Stil von Adolf Hitlers Buch Mein Kampf kann man nicht voraussetzungslos und nur schwerlich objektiv schreiben. Gleich nach dem Erscheinen des ersten Bandes setzte eine heftige Kritik ein, die nicht nur den Inhalt des Buches, sondern auch seinen Stil betraf, und diese wurde in den Jahren vor und nach der Regierungsübernahme, als Hitler zur Zentralfigur der deutschen Politik wurde, fortgeschrieben; die zwischen 1924 und 1945 publizierten Artikel, die sich – anfangs der Veröffentlichung vorgreifend – mit Hitlers Buch beschäftigen, machen in der von Othmar Plöckinger herausgegebenen großformatigen Dokumentation nicht weniger als 360 dicht bedruckte Seiten aus.1 In den Jahren nach 1945 wurden die zumeist kritischen Urteile über den Stil von Mein Kampf durch zahlreiche abwertende Urteile von Historikern sowie Literatur- und Sprachwissenschaftlern ergänzt. Die fast einhellige Negativität des Urteils über Hitlers stilistisches Vermögen und das hinzutretende Bewusstsein, es im Falle von Mein Kampf mit einem Elaborat eines historischen Ungeheuers zu tun zu haben, lässt kaum eine andere als eine von vornherein ablehnende Befassung mit Hitlers Buch zu, eine Betrachtung, die kritisch konditioniert ist und nur zu einer Bestätigung der kritischen Konditionierung führen kann. Warum aber sollte man es dann nicht mit der vielfach ausformulierten Verwerfung des Stils von Mein Kampf bewenden lassen und ihn stattdessen erneut untersuchen? Drei Gründe sind zu nennen: Zum Ersten ist aufgrund der Rekonstruktion der Entstehungs- und Textgeschichte durch die Münchener Editorengruppe sicherer als zuvor erkennbar, in welchem Maß der Stil von Mein Kampf Hitlers Stil ist. Zum Zweiten zeigt die Aufarbeitung der Rezeptionsgeschichte, dass die oft wiederholte These von der Unlesbarkeit und Ungelesenheit von Mein Kampf nicht zutreffend ist, was auf die Bewertung des Stils zurückwirkt. Und drittens stellt sich damit die bisher zu wenig erörterte Frage, welchen Anteil der Stil von Mein Kampf an der doch beträchtlichen Wirkungskraft dieser „Bibel“2 des Nationalsozialismus hatte.
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Vgl. Plöckinger, Othmar (Hg.): Quellen und Dokumente zur Geschichte von „Mein Kampf“ 1924–1945. Stuttgart: Steiner 2016, S. 307–668. Zur Deklaration von Mein Kampf als „Bibel“ vgl. Plöckinger, Othmar: Geschichte eines Buches. Adolf Hitlers „Mein Kampf“ 1922–1945. München: Oldenbourg 2006, S. 405 f.
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Helmuth Kiesel
1. HITLERS STIL? REDE- ODER SCHREIBSTIL? Die früher kursierende These, dass Mein Kampf nicht allein Hitlers Buch, sondern das Werk auch einiger Helfer wie Rudolf Heß und Ilse Pröhl (Heß’ späterer Frau) sei, ist durch die Rekonstruktion der Entstehung widerlegt. In der Einleitung der Münchener kritischen Ausgabe heißt es dazu, die früheren Forschungsergebnisse bündelnd, lapidar: „Hitler verfasste den Text [des ersten Bandes] tatsächlich allein, große Teile des Manuskripts tippte er selbst auf einer Schreibmaschine.“3 Dass Hitler Teile des ersten Bandes den Landsberger Mithäftlingen sozusagen probeweise vorlas, dass Heß und Pröhl das Typoskript durchsahen4 und dass Hitler den zweiten Band ganz oder zum größten Teil einer Schreibkraft diktieren konnte, ändert an seiner Alleinurheberschaft letztlich nichts. Mit Blick auf beide Bände heißt es in der Einleitung der Münchener Edition wiederum lapidar: „Hitler hatte damit eine Schrift veröffentlicht, die er im Wesentlichen selbst verfasst hatte; Unterstützung und Hilfestellung erhielt er lediglich in einem Umfang, wie es für solche Publikationen üblich war und ist.“5 Man darf also wohl auch sagen: Der Stil von Mein Kampf ist Hitlers Stil, und nicht etwa der von Heß oder von anderen Helfern. Die Frage, ob Hitler sein Buch diktiert oder eigenhändig getippt hat, spielte auch für die Qualifizierung seines eigentümlichen Stils eine Rolle. Die – irreführenden – Angaben von Mithäftlingen, Hitler habe schon den ersten Band diktiert, und die – wohl zutreffenden – Berichte, er habe Teile davon seinen Mithäftlingen vorgelesen und danach überarbeitet6, führten immer wieder zu der Vermutung, der Stil von Mein Kampf verdanke sich der rednerischen Veranlagung Hitlers und sei weniger ein Schreib- als vielmehr ein Redestil. Gestützt wurde diese Vermutung durch Hitlers mehrfach ausgesprochenes Lob der öffentlichen Rede, deren Wirkungskraft er weit höher als die des Buches einschätzte7, desgleichen durch Bekundungen von Zeitgenossen, sie seien von dem Redner Hitler viel stärker als von dem Schriftsteller beeindruckt worden.8 In der Forschung wird die daraus resultierende Frage, ob Hitlers Stil eine spezifische rednerische Prägung aufweise, bis heute verhandelt. So liest man in Wolfram Pytas großer Untersuchung Hitler. Der Künstler als Politiker und Feldherr von 2015 über den ersten Teil von Hitlers Buch:
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Hartmann, Christian / Vordermayer, Thomas / Plöckinger, Othmar / Töppel, Roman (Hg.): Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition. 2 Bände. München/Berlin: Institut für Zeitgeschichte 2016, Bd. I, S. 15. Vgl. Plöckinger (Hg.), Quellen, Dok. 24, 29 und 30. Ebd., S. 18. Vgl. ebd., Dok. 10, 13, 33, 35, 36 und 39. – Die Gewichtung der Zeugnisse ist allerdings ein Problem für sich; Wolfram Pyta zum Beispiel hebt in Hitler. Der Künstler als Politiker und Feldherr vor allem die Zeugnisse hervor, die auf den kommunikativen und rednerischen Aspekt der Entstehung von Mein Kampf hinweisen (vgl. Pyta, Wolfram: Hitler. Der Künstler als Politiker und Feldherr. Eine Herrschaftsanalyse. München: Siedler 2015, S. 225 ff.). So im vorletzten Abschnitt des Vorworts zu Mein Kampf. So etwa der Reichsarbeitsführer Konstantin Hierl (vgl. Pyta, Hitler, S. 219).
Hitlers Stil in Mein Kampf
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„Bei diesem ersten ernsthaften Ausflug in die Schreibkultur hatte sich der Autor Hitler seinen Text so zurechtgelegt, dass er in produktions- wie rezeptionsästhetischer Hinsicht auf das gesprochene Wort hin ausgelegt war – jedenfalls was das Herzstück seines Werks, die autobiographischen Passagen, anlangt. Hitler hatte seinen Text probeweise vorgetragen, wozu Heß und die übrigen Mitgefangenen ein willkommenes Auditorium bildeten; danach fand eine eng an der Redefassung ausgerichtete endgültige Verschriftlichung statt. Das druckreife Resultat wurde schließlich vor einer größeren Runde laut vorgelesen, was den erwünschten Nebeneffekt hatte, dass Hitler sich nun auch als Autor – und nicht mehr allein als Redner – den Respekt seiner Anhänger erwarb. Es wäre eine eingehende literaturwissenschaftliche Formanalyse wert, wie Rhythmus, Melodik, Sprechtempo, Stimmlage und Stimmfärbung seiner Rede in den Text einflossen. Alle Anzeichen sprechen dafür, dass der erste Teil von Mein Kampf sehr stark an prosodischen Kriterien ausgerichtet war.“9
Pyta verweist dafür auf eine Studie des in den Vereinigten Staaten lehrenden Literaturwissenschaftlers Cornelius Schnauber, die schon 1972 unter dem Titel Wie Hitler sprach und schrieb. Zur Psychologie und Prosodik der faschistischen Rhetorik erschien. Schnauber untersucht zwar nicht Mein Kampf, sondern vorzugsweise Hitlers Rede zum Ermächtigungsgesetz, von der es eine Aufnahme gibt, die von Schnauber einer „experimentalphonetischen Analyse“ unterzogen wurde.10 Mein Kampf wurde von Schnauber gelegentlich berücksichtigt, aber, wie ausdrücklich gesagt wird, nicht zum Gegenstand der Untersuchung gemacht, weil das Maß der stilistischen Korrekturen durch andere nicht absehbar und der Vergleich von schriftlicher Fassung und rednerischer Ausführung mangels Aufnahmen nicht möglich war.11 Seinen Befund umreißt Schnauber in einem einleitenden Abschnitt, in dem es heißt: „Es ist oft behauptet worden, Hitlers Reden seien stilistisch schlecht. Sie sind es, daran besteht kein Zweifel, solange man sie vom Satzbau und der Wortwahl her analysiert. Und was die Prosodik betrifft, wirkt der Schrifttext wesentlich uninteressanter und ungeschickter, als ihn Hitler dann selbst sprach. Dennoch zeigt auch schon dieser Schrifttext jene rhythmischen Ausdrucksbewegungen, die beim Sprechen nur noch verstärkt wurden und ganz bestimmte physiopsychologische Hintergründe verraten. Diese Übereinstimmung haben wir nicht nur deshalb, weil Hitler, dem Bericht seiner Sekretärin zufolge, seine Reden ohnehin sprechend entwarf; sie wäre vielmehr auch dann gegeben, wenn Hitler seine Reden zunächst als Schrifttext konzipiert hätte. Denn ‚sprechend‘, wenn auch akustisch stumm, hätte er […] trotzdem seine Reden entworfen.“12
Hitlers Rhythmik wird von Schnauber in Anlehnung an eine Goethe-Studie des Wiener Psychiaters und Phonetikers Felix Trojan13 hauptsächlich als „ergotrop“ 9 10
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Pyta, Hitler, 228. Schnauber, Cornelius: Wie Hitler sprach und schrieb. Zur Psychologie und Prosodik der faschistischen Rhetorik. Frankfurt a. M.: Athenäum 1972, S. IX f. – Merkwürdigerweise wird diese Studie in den beiden sprachwissenschaftlich orientierten Forschungsreferaten von Johannes G. Pankau und Christoph Sauer, die sich in dem von Josef Kopperschmidt herausgegebenen Sammelband Hitler der Redner (2003) finden, nur bibliographisch genannt, aber nicht erörtert, ebensowenig in Kopperschmidts eigenem Aufsatz über den Redner Hitler. Vgl. Schnauber, Hitler, S. VIII. Ebd., S. 8. Vgl. Trojan, Felix: Sprachrhythmus und vegetatives Nervensystem. Eine Untersuchung an Goethes Jugendlyrik. Wien/Meisenheim: Sexl 1951.
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(leistungssteigernd) bezeichnet, das heißt: mit „Kräfteverausgabung“ und Bemühen um „Wirkung auf die Außenwelt“ verbunden, wobei unter „Wirkung“ „ein Ringen um die Gewinnung lebensnotwendiger Werte oder eine Abwehr von Gefahren“ zu verstehen ist, geprägt durch Kampfstimmung und Zorn.14 Dazu gehört, Schnauber zufolge, dass Hitlers Rhythmik engagiert, kurz, spitzig, steil, hart, holprig, unmusikalisch und militant wirkt.15 Das alles wurde durch Hitlers Vortragsweise verstärkt, deren Schallbild (bei Schnauber: Akuem) eine Tendenz zum starken Skandieren aufweist, gepaart mit starker Gepresstheit und harter Klangfarbe der Artikulation.16 Insgesamt kann Hitlers Redeweise als „ergotrop-aggressiv“ bezeichnet werden: Ausdruck von Bedeutungs- oder Führungsanspruch, Kampfstimmung, Entschlossenheit und Kompromisslosigkeit. Für das Publikum bedeutet dies, dass es unter dauernder „Erlebnisspannung“ gehalten und einer massiven Suggestionskraft ausgesetzt wird.17 Spätere Einschätzungen von Hitlers Reden haben dies bestätigt. Nach dem Erscheinen von Hitlers Reden, Schriften und Anordnungen aus den Jahren 1925 bis 1933 schrieb Joachim Fest in seiner Besprechung vom 7. Juli 1992: „Seine Rhetorik blieb das einfache Gegeneinander von hasserfüllter Diffamierung der Gegenwart und der Verheißung einer machtvollen Zukunft. […] Die Aura von Widerstand, Grimm und Verachtung, die Hitler daraus [aus der Gegnerschaft zur dominierenden Politik] zog, zählte womöglich zu seinen wirksamsten Mitteln.“18 Diese Befunde auf Mein Kampf zu übertragen, ist, wenn überhaupt, nur sehr bedingt möglich. Schnaubers Analyse und prosodisch markierte Nachschrift19 der Rede zum Ermächtigungsgesetz zeigt, dass Hitlers rednerische Realisierung dieser Rede die an der schriftlichen Vorlage ablesbare Prosodik stark abwandelt. Und das heißt auch: Schreiben und Reden waren auch bei Hitler so sehr zweierlei, dass es, wie Schnauber feststellt, „schwer“ ist, „am bloßen Schrifttext zu erkennen, welchen Einfluss er als Sprecher auf die Stilistik des Schrifttextes hatte“.20 Oder anders gesagt: Der grobe Befund, dass die Phrasierung des Textes von Mein Kampf einer rednerischen Veranlagung und Absicht gehorcht, kann durch eine genauere Beobachtung des Textes gestützt, aber nicht wesentlich erweitert und im Einzelnen zwingend präzisiert werden. Vor allem kann nicht gesagt werden, der Text gewinne eine bessere Qualität, wenn er als rednerisch konzipierter Text betrachtet würde. Keineswegs ist er eine genaue Partitur für einen theatralischen rednerischen Vortrag, wie er von Hitler zu hören und zu sehen gewesen sein soll – oder, mit sicherlich anderen Nuancen, von Helmut Qualtinger inszeniert wurde.
14 15 16 17 18 19 20
Schnauber, Hitler, S. 4. Vgl. ebd., S. 32 ff. Vgl. ebd., S. 51 ff. Vgl. ebd., S. 52 und 90. Fest, Joachim: Die Zentralfigur des Geschehens. Hitlers Reden, Schriften und Anordnungen – ein lange vermißtes Buch, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 155, 7.7.1992, S. 31. Vgl. Schnauber, Hitler, S. 128 ff. Ebd., S. 59.
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2. DER STIL VON MEIN KAMPF IM URTEIL DER ZEITGENOSSEN Dass die gedankliche und stilistische Qualität von Hitlers Buch miserabel sei, wurde von Rezensenten schon früh gesagt und von literarischen Experten und Historikern oft beteuert. Zwar gibt es aus völkischen, nationalistischen und nationalsozialistischen Kreisen auch positive Einschätzungen; aber sie beschränken sich – bis auf einige Ausnahmen, die noch berücksichtigt werden – auf relativ grobe und lobhudlerische Charakterisierungen von Hitlers Stil. Beispielhaft ist gleich die erste Rezension von Mein Kampf, die am 12. Juli 1925 im Fränkischen Kurier erschien und von dem Publizisten Josef Cerny stammt, der seit 1922 Mitarbeiter des Völkischen Beobachters war und den ersten Band von Mein Kampf in seiner Endphase redaktionell betreute. Dort heißt es: „Der Stil ist markig, kernig, sich hier und da zu hinreißendem Schwunge erhebend; nicht einen Augenblick erlahmt die Teilnahme, die Spannung hält sich bis zum Schlusse.“21 Ähnliches ist auch später noch hie und da zu lesen, etwa von dem NSDAP-Funktionär Adolf Dresler in der Monatsschrift Deutschlands Erneuerung vom März 1927, wo es heißt, der zweite Band von Mein Kampf sei „ein Buch höchster Leidenschaft, unerhörter Wucht, kräftiger, bildhafter Sprache“,22 oder in der Wochenschrift Der Stürmer vom September 1930, wo Hitlers Darstellungskunst in einem nicht namentlich gezeichneten Artikel gerühmt wird: „Denn das ist das Eigenartige an Hitler, gleichgültig, ob er uns in einer Rede oder in seinem Buche entgegentritt: er entwickelt tief durchdachte Gedanken, philosophiert, sucht durch nüchterne Logik zu überzeugen und bleibt trotzdem auch für den weniger Vorgebildeten interessant und packend. Er, der vom Sohn des kleinen Beamten über den Bauarbeiter, Künstler, Frontsoldaten zum Führer von anerkannter politischer Bedeutung aufgestiegen ist, er kennt die Seele des Volkes, für das er schreibt und zu dem er spricht. Das Grundsätzliche verliert die Trockenheit durch ein sarkastisches Wort, einen Satz voll feinen Humors, einen drastischen Vergleich, einen Ausbruch temperamentvollen Zornes. Weltanschauliche Abschnitte wechseln ab mit Kapiteln, die in unerhörter Lebendigkeit von der Entwicklung des Verfassers, vom Werden seiner Bewegung, vom Kampf erzählen. Kampf ist die Losung! Kampf um das nackte Dasein, Kampf um die Erkenntnis, Kampf um den Wiederaufstieg der Nation, Kampf gegen feindliche Gewalten, die sich entgegenstemmen. Ein Buch voll Leidenschaft und voll ungekünstelter Ehrlichkeit. Frischer Wind weht aus ihm, ja oft Sturm.“23
Leser, die weniger oder gar nicht für Hitler und den Nationalsozialismus eingenommen waren, urteilten kritischer. Einige waren enttäuscht, dass der Schreiber Hitler nicht hielt, was der Redner versprochen hatte. Selbst der Rezensent des im württembergischen Lorch erscheinenden Völkischen Herold stellte – ausdrücklich „als Nationaler und Völkischer“ – fest, „dass, gemessen an dem Eindrucke der Reden Hitlers[,] ‚Mein Kampf‘ eine Enttäuschung ist. Der große Redner ist zweifellos kein guter Schreiber, selbst wenn wir annehmen, dass die vielfach von ihm gewählten scharfen Ausdrücke absichtlich eingeflochten wurden, um ungebildete Leser in der Atmosphäre seiner Reden zu erhalten.“24 21 22 23 24
Plöckinger (Hg.), Quellen, S. 165 (Dok. 41). Ebd., S. 285 (Dok. 87). Ebd., S. 298 (Dok. 92). Ebd., S. 214 (Dok. 61).
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Im Gegensatz zu den Lobhudeleien der Parteigänger fiel das Urteil von namhaften Publizisten und Schriftstellern über den gedanklichen Gehalt und die stilistische Qualität von Mein Kampf einhellig negativ aus. Als Beispiel kann die Besprechung dienen, die der sozialistisch eingestellte Schriftsteller und Publizist Stephan Großmann Anfang November 1925 zunächst in der Wiener Neuen Freien Presse und bald darauf in der von ihm selbst mitherausgegebenen Berliner Zweiwochenschrift Das Tage-Buch veröffentlichte. Großmann hatte schon 1923 einen Artikel über ausländische Geldquellen der NSDAP publiziert und war dafür seitens der Hitler-Mannschaft mit Drohungen überzogen worden. In seiner Besprechung von Mein Kampf charakterisierte Großmann Hitler zunächst als einen „von einem pathologischen Ichgefühl beherrscht[en]“ Hysteriker, um dann die Angebereien, Romantizismen und Verbrämungen seines Buches sowie die gedanklichen Entgleisungen und stilistischen Verfehlungen exemplifizierend zu entlarven: „Uebrigens gibt Hitler seine Wahrnehmungen über Wien in sehr pathetischer Form zum besten. Es entging ihm nicht, dass in Wien neben Deutschen auch Czechen, Ungarn, Polen, Italiener lebten, und deshalb schreibt er: ‚Mir erschien die Riesenstadt als die Verkörperung der Blutschande.‘ Bums, da liegt das Wort. Es ist für Hitlers gedankenlose Pathetik charakteristisch. Blutschande nennt man den Umgang zwischen Geschwistern oder Verwandten. Hitler aber, als Rassenfanatiker, dürfte Slawen, Romanen oder Juden doch nicht als Bruder und Schwester ansehen. […] Das knallende Wort ‚Blutschande‘ ist also an dieser Stelle krasser Unsinn. Aber es kommt Hitler, wenn er einmal ins rollende Pathos gerät, auf ein bisschen mehr oder weniger pathetischen Stumpfsinn nicht an.“25
Dafür gab Großmann ein weiteres Beispiel, das hier aber übergangen werden kann. Sein abschließendes Urteil über Mein Kampf lautet: „Klappt man dieses dicke und doch armselige Buch zu, so fragt man sich, wie es möglich war, daß ein besessener Psychopath, wie es Hitler unzweifelhaft ist, Tausende um sich sammeln konnte. Die Erklärung ist verhältnismäßig einfach: Hitler ist ein Redner, und dem Rhetor ist ein nicht allzu großes Quantum Wahnsinn gestattet, ja, es befeuert ihn. Am Schreibtisch aber muß man dauerhaftere und tiefere Wirkungen erzielen, der Buchschreiber ist mit dem Leser allein, alle Versammlungspsychose fällt weg, da enthüllt sich jeder Kopf. Dieses Buch zeigt Adolf Hitler, wie er ist, arm an Herz, unwissend, eitel, vollkommen phantasielos, und als Milderungsgrund läßt sich nur anführen, daß er offenbar ein unheilbarer Kriegshysteriker ist.“26
Die von Othmar Plöckinger und zuvor schon von Günter Scholdt27 gesammelten Urteile von Publizisten und Schriftstellern wie Carl von Ossietzky, Lion Feuchtwanger, Reinhold Schneider und anderen stimmen mit dem Urteil von Großmann mehr oder minder überein. Auch das Vorgehen gleicht dem von Großmann. Der nicht genauer bekannte Publizist Heinz Horn präsentierte 1932 in einem anderthalbseitigen Artikel, der unter dem Titel Hitlers Deutsch in der Weltbühne erschien, etwas mehr als ein Dutzend Sätze, die gedanklich und stilistisch defizitär sind, um zum Schluss zu kommen, dass es sich bei Hitlers Buch um die „reichhaltigste Ka25 26 27
Ebd., S. 241 (Dok. 69). Ebd., S. 242. – Anm. des Herausgebers: „Dieser Schlusssatz fehlt in der Version im TageBuch.“ Vgl. Scholdt, Günter: Autoren über Hitler. Deutschsprachige Schriftsteller 1919–1945 und ihr Bild vom „Führer“. Bonn: Bouvier 1993, S. 356–370.
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thederblüten-Sammlung der Welt“ und zugleich um ein unlesbares Machwerk handle.28 Auch Walter Mehring führte, um seine Verwerfung von Hitlers Buch zu begründen, in seinem 1935 in Österreich publizierten Artikel Mein Kampf gegen die deutsche Sprache ein halbes Dutzend von Beispielen an, von denen das folgende, das später wieder zu finden sein wird, samt Mehrings Kommentar zitiert sei. Über den Hunger heißt es in Mein Kampf einmal: „Wer nicht selber in den Klammern dieser würgenden Natter sich befindet, lernt ihre Giftzähne niemals kennen.“ Mehring merkt dazu an: „Um Vergebung! Eine Natter hat keine Klammern. Man kann sich also nur in der Umklammerung einer Natter befinden.“29 Lion Feuchtwanger, der in seinem 1930 erschienenen München-Roman Erfolg den Möchtegern-Revolutionär Hitler unter dem Namen Rupert Kutzner als Zauderer verspottet, dem Prozess-Redner Hitler aber einigen Respekt gezollt hatte30, glaubte 1935 feststellen zu müssen, dass jedes der 164.000 Wörter, die Mein Kampf nach Feuchtwangers Schätzung zählt, identisch sei mit „164.000 Verstöße[n] gegen die deutsche Grammatik oder die deutsche Stillehre“.31 Eine Ausnahme bildet allein das Urteil Gerhart Hauptmanns, der Mein Kampf Ende Juni 1933 las und diese „wild und jugendlich“ geschriebene, gleichwohl „sehr bedeutsame Hitlerbibel“ (so Hauptmann in seinem Tagebuch) mit einer Fülle teils kritischer, teils aber auch anerkennender Randbemerkungen versah.32 Unter den mehr als fünfzig Artikeln über Mein Kampf, die von Scholdt und Plöckinger zusammengetragen wurden, findet sich nur einer, der Hitlers Schreibweise einer genaueren Analyse unterzieht. Er stammt von dem in Dresden tätigen Oberstudienrat und Professor Karl Müller, der zu den Gründungsmitgliedern des Deutschen Sprachvereins gehörte, und erschien 1935 mit Genehmigung der „Parteiamtlichen Prüfungskommission“ im Dresdener „Verlag völkischer Literatur M. O. Groh“ in Form einer 56 Seiten umfassenden Broschüre im Taschenbuchformat.33 Der Tenor der Ausführungen ist rühmend: Mein Kampf ist für Müller nicht nur „das wichtigste Buch“, das den Deutschen „in neuester Zeit geschenkt worden ist“; es ist auch ein Buch von beispiellosem Erfolg, und das nicht zuletzt wegen seiner Sprache, denn im Gegensatz zur Sprache vieler anderer Autoren ist „die Sprache A. Hitlers wie in seiner Rede so auch in seiner Schreibe klar und verständ28 29
30
31 32 33
Vgl. Plöckinger (Hg.), Quellen, S. 530 (Dok. 126). Mehring, Walter: Mein Kampf gegen die deutsche Sprache, in: Der Christliche Ständestaat 2 (1935), S. 936 f. – Hier zitiert nach: Mehring, Walter: Das Mitternachtstagebuch. Texte des Exils 1933–1939. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Georg Schirmer. Mannheim: persona verlag 1996, S. 84–90, hier S. 88. Vgl. Feuchtwanger, Lion: Erfolg. Drei Jahre Geschichte einer Provinz. 6. Aufl. Berlin: Aufbau 2008, S. 805, wo es über den Prozess-Redner Hitler heißt: „So hohl das war, was er, immer das gleiche, vorbrachte, Rupert Kutzner wirkte, solange er sprach, nicht lächerlich. Im Gegenteil, wie dieser Mann seinen Sturz und Zusammenbruch mit weiten Bewegungen und langhallenden Worten garnierte, das war großartig.“ Zit. nach Scholdt, Autoren, S. 358. – Scholdt weist auch darauf hin, dass Feuchtwanger an anderer Stelle mit 150.000 Wörtern und Verstößen rechnete. Vgl. ebd., S. 363, sowie Sprengel, Peter: Der Dichter stand auf hoher Küste. Gerhart Hauptmann im Dritten Reich. Berlin: Propyläen 2009, S. 32 f. Vgl. Plöckinger (Hg.), Quellen, S. 593–613 (Dok. 143).
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lich für alle, die sie hören und lesen“. Denn Hitler „verfügt“, so Müller, „über einen schier unerschöpflichen Wortschatz, der seinen Gedanken immer den treffenden Ausdruck verleiht“.34 Diese These versucht Müller zu untermauern, indem er das Vokabular von Mein Kampf kategorisiert und nach quantitativen und funktionalen Gesichtspunkten beschreibt. Stichwortartig kann der Befund folgendermaßen wiedergegeben werden: Hitler verwendet überraschend wenig mundartliche Ausdrücke und Dialektwörter, verzichtet aber auf volkstümliche Schmähwörter nicht. Neue Wortformen bildet er nicht. Einige der von ihm gebrauchten Wortformen (z. B. herinnen) erinnern an seine österreichische Heimat, andere (z. B. sintemalen) an das überholte Kanzleideutsch und wirken etwas altertümlich. Auffallend sind Häufungsfiguren (z. B. „Ich erhielt die Erlaubnis, nach Berlin fahren zu dürfen“), die in Österreich bevorzugte Ersetzung einfacher „Seiformen“ wie „wäre“ und „hätte“ durch „würde sein“ und „würde haben“, die zeitübliche Tendenz zum Nominalstil und zur damit verbundenen „Zerdehnung der Satzaussage“, ebenso die große Zahl von Fremdwörtern („an die 700, von denen über 200 uns nur je einmal vor Augen treten, während andere bis zu zwanzigmal wiederkehren“). Nicht alles davon mochte Müller gutheißen. Er sieht durchaus „Schönheitsfehler“ und wundert sich geradezu, „dass Hitlers Schreibweise nicht noch mehr“ davon aufweist, da er seine Sprache doch hauptsächlich aus den Zeitungen bezogen habe, die er in Wien „tagtäglich las“, und während seiner „kämpferischen Zeit“ nicht die Muse und innere Ruhe hatte, seinen Sprachstil zu kultivieren.35 Die „Schönheitsfehler“ werden aber durch die Vorzüge von Hitlers Schreibweise aufgewogen. Dazu gehören neben seiner Klarheit und Verständlichkeit die vielen Vergleiche, die für „Anschaulichkeit und Sinnfälligkeit“ sorgen. Müller zitiert, geordnet nach Bildfeldern, ausgiebig und mit Anerkennung für die Fähigkeit des „Führers“, Bilder zu finden. Dass Vergleiche von Menschen mit Tieren und Schädlingen aller Art verwerflich sein könnten, kommt ihm selbstverständlich nicht in den Sinn. Dass Hitlers Derbheiten bei manchen Lesern Anstoß erregen können, ist ihm bewusst, und er nimmt sogar davon Abstand, Beispiele anzuführen, bezeichnet sie aber nichtsdestoweniger als „herzerfrischend“. Man sieht, dass dem konservativen „Sprachpfleger“ Müller nicht alles an Hitlers Schreibweise gefiel, aber – sei es aus Affinität zum Nationalsozialismus oder aus Opportunismus – entschuldigt oder positiviert und einem insgesamt rühmenden Urteil eingegliedert wird. 3. LEKTÜREN UND FORSCHUNGEN NACH 1945 Die Auseinandersetzung mit dem Stil von Hitlers Buch nach 1945 geht, grob gesagt, zwei Wege. Der eine, von Hitler- und NS-Forschern aller Art vielfach begangene Weg besteht in der mehr oder minder aufmerksamen und vollständigen Lektüre von Mein Kampf und in einer Charakterisierung des Stils nach mehr oder minder elaborierten Beschreibungs- und Bewertungskriterien sowie in der Rückbin34 35
Ebd., S. 594. Ebd., S. 601.
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dung des Stils an Charakter und Bildung des Verfassers. Gerne werden zur Bekräftigung auch ältere Urteile angeführt. Als beispielhaft dürfen die knapp zwei Druckseiten umfassenden Ausführungen gelten, die Joachim Fest in seiner großen HitlerBiographie von 1973 Hitlers Buch widmete. Sie seien auszugsweise zitiert: „Hinter den tönenden Wortfassaden hockt unverkennbar die Sorge des Halbgebildeten vor dem Zweifel des Lesers an seiner intellektuellen Kompetenz, bezeichnenderweise verwendet er, um der Sprache Monumentalität zu geben, häufig lange Substantivreihen, viele der Wörter bildet er aus Adjektiven oder Verben, so daß ihr Gewicht hohl und künstlich wirkt: ‚Durch das Vertreten der Meinung, daß man auf dem Wege einer durch demokratische Entscheidungen erfolgten Zubilligung …‘ – es ist im ganzen eine Sprache ohne Atem, ohne Freiheit und wie im Krampfzustand: ‚Indem ich neuerdings mich in die theoretische Literatur dieser neuen Welt vertiefte und mir deren mögliche Auswirkungen klarzumachen versuchte, verglich ich diese dann mit den tatsächlichen Erscheinungen und Ereignissen ihrer Wirksamkeit im politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Leben … […]‘ Auch die zahlreichen stilistischen Entgleisungen […] haben in der wortreich vorgespiegelten Scheingelehrsamkeit des Verfassers ihre Ursache […]. Rudolf Olden hat gelegentlich darauf aufmerksam gemacht, wie der Logik durch die stilistischen Überspannungen Hitlers Gewalt angetan wird; so äußert er [d. i. Hitler] sich beispielsweise über die Not: ‚Wer nicht selber in den Klammern dieser würgenden Natter sich befindet, lernt ihre Giftzähne niemals kennen.‘ In so ein paar Worten sind mehr Fehler, als sich in einem ganzen Aufsatz richtigstellen ließen. Eine Natter hat keine Klammern, und eine Schlange, die einen Menschen umklammern kann, hat keine Giftzähne. Wenn aber ein Mensch von einer Schlange gewürgt wird, so lernt er doch dadurch nie ihre Zähne kennen.‘36 Gleichzeitig und inmitten aller hochtrabenden Unordnung der Gedanken finden sich in dem Buch jedoch scharfsinnige Überlegungen, die unmittelbar aus tiefer Irrationalität hervortreten, nicht selten auch treffende Formulierungen oder eindrucksvolle Bilder: es sind überhaupt die widersprüchlichen und sperrigen Züge, die das Werk vor allem kennzeichnen. Seine Steife und Verbissenheit kontrastiert eigentümlich mit der unstillbaren Neigung zur strömenden Phrase, der stets spürbare Stilisierungswille mit dem gleichzeitigen Mangel an Selbstkontrolle, die Logik mit der Dumpfheit, und nur die monoton und manisch in sich verbissene Egozentrik […] bleibt ohne Gegensatz: so ermüdend und schwierig die Lektüre im ganzen auch ist, vermittelt sie doch ein bemerkenswert genaues Porträt des Verfassers, der sich in der immer präsenten Besorgnis, durchschaut zu werden, erst eigentlich durchschaubar macht. […] Der prätentiöse Stil des Buches, die gedrechselten, wurmartigen Perioden, in denen sich bildungsbürgerliche Paradiersucht und österreichischer Kanzlistenschwulst umständlich verbanden, hat zweifellos den Zugang dazu erheblich erschwert und zur Folge gehabt, dass das am Ende in nahezu zehn Millionen Exemplaren verbreitete Werk das Schicksal aller Pflicht- und Hofliteratur erlitt und ungelesen blieb. Nicht minder abweisend wirkte offenbar auch der unausgelüftete, von immer den gleichen trüben Zwangsvorstellungen heimgesuchte Bewußtseinsgrund, auf dem alle seine Komplexe und Gefühle gediehen, und den Hitler offenbar nur als Redner, in präparierten Auftritten, zu überspielen vermochte: ein merkwürdig verdorbener Geruch schlägt dem Leser aus den Seiten entgegen, am spürbarsten aus dem Kapitel über die Syphilis, aber darüber hinaus auch aus dem vielfach schmuddeligen Jargon, den abgestandenen Bildern, dem schwer beschreibbaren, aber unverwechselbaren Armeleutegeruch seiner Stilhaltung im ganzen.“37
36 37
Das Originalzitat in: Olden, Rudolf: Hitler. Amsterdam: Querido 1936, S. 140. Fest, Joachim: Hitler. Eine Biographie. Frankfurt a. M./Berlin: Ullstein 1973, S. 291–293. – Vergleichbar sind die Ausführungen von: Herbst, Ludolf: Hitlers Charisma. Die Erfindung eines deutschen Messias. Frankfurt a. M.: Fischer 2010, S. 194 f.
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Wie man sieht, ist Fests Kritik nicht undifferenziert. Ausdrücklich konzediert er, dass Hitler zu „treffende[n] Formulierungen“ und „eindrucksvolle[n] Bildern“ fähig gewesen sei. Das Gesamturteil ist aber doch so negativ, dass man annehmen muss, zum weitaus größten Teil sei Mein Kampf eine stilistische Katastrophe: steif und monoton, peinlich und ermüdend, letztlich unlesbar. Neuere biographische Arbeiten folgen dieser Linie. Ian Kershaw verweist in seiner 1998 erschienenen Biographie auf die Zeitgenossen und meint ebenfalls, dass „der entsetzliche Stil“ viele Leser abgeschreckt habe.38 Thomas Weber stellt in seinem 2010 erschienenen Buch Hitlers erster Krieg umstandslos fest, Mein Kampf sei „in einer furchtbaren, kaum verständlichen Prosa“ geschrieben.39 Volker Ullrich begnügt sich im 2013 erschienenen ersten Band seiner Biographie damit, in einer Fußnote auf Fests „Analyse“ zu verweisen und anzumerken, dass von dem „klaren Stil“, den Hitler gelegentlich von Autoren verlangte, in Mein Kampf „nicht die Rede sein“ könne.40 Eine weitere Befassung mit dem Stil von Mein Kampf schien sich zu erübrigen. Der Ansatz zu einer differenzierteren Bewertung, der bei Fest zu erkennen ist, wurde nicht aufgegriffen und weitergeführt. Allerdings gibt es in der neueren geschichtswissenschaftlichen Literatur doch auch Ansätze, der unbestreitbaren Wirkung von Mein Kampf durch eine gewisse Anerkennung auch der erzählerischen und stilistischen Faktur gerecht zu werden. Genannt sei das Mein Kampf betreffende Kapitel von Wolfram Pytas Hitler-Buch von 2015. Auch Pyta konzediert, dass man, wenn man Mein Kampf „an hochwertiger Prosa misst“, „zu einem vernichtenden Urteil über dieses sprachliche Elaborat kommen muss“.41 Er macht dann aber darauf aufmerksam, dass für die Weltanschauungsliteratur, die in den 1920er Jahren Konjunktur hatte, andere Kriterien galten, und kommt überdies zu dem Befund, dass Hitler mit der Schilderung seines Kriegseinsatzes, so „zurechtgeschliffen“ diese war, eine mustergültige und extrem wirkungsvolle „Kriegserzählung“ geschaffen habe, und dies Jahre vor dem Aufblühen der erzählerischen Kriegsliteratur um 1928/29.42 Der andere Weg der Auseinandersetzung mit dem Stil von Mein Kampf ist der, den Karl Müller mit seiner Studie Unseres Führers Sprachkunst eingeschlagen hatte. Er zielt auf die Erfassung, Analyse und Evaluation von Hitlers Wortschatz sowie der von ihm verwendeten Redensarten und Formeln, Metaphern und Vergleiche samt den Satzmustern und größeren Textstrukturen. Die gründlichste und aufschlussreichste Arbeit dieser Art ist wohl die an der London University entstandene und 2006 erschienene Untersuchung The Language
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Kershaw, Ian: Hitler 1989–1936. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2002, S. 301. Weber, Thomas: Hitlers erster Krieg. Der Gefreite Hitler im Weltkrieg – Mythos und Wahrheit. Berlin: Propyläen 2011, S. 357. Ullrich, Volker: Adolf Hitler. Biographie. Band 1. Die Jahre des Aufstiegs 1889–1939. Frankfurt a. M.: Fischer 2013, S. 888, Anm. 82. Pyta, Hitler, S. 220. Vgl. ebd., S. 222 f.
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of Violence von Felicity Rash. Sie beschreibt in den einleitenden Kapiteln Hitlers historischen Hintergrund, benennt und erläutert die Leitbegriffe von Hitlers Ideologie in ihrem ideologiegeschichtlichen Zusammenhang43, widmet dann ein langes Kapitel Hitlers Metaphorik (breit aufgefächert nach Metaphern und Metonymien, Personifikationen und Vergleichen, Redewendungen und Sprichwörtern, mythologischen und historischen Anspielungen)44 und bietet dann ein mit vielen Beispielen belegtes Register der von Hitler angewandten rhetorischen Mittel:45 Superlativformen verschiedener Art; Wiederholungsfiguren phonetischer, morphologischer, grammatikalischer, lexikalischer und semantischer Art; Akkumulationsmittel wie Paarformeln („auf Biegen und Brechen“), Dreier-, Vierer- und Fünferfiguren („die Kämpfer, die Lauen und die Verräter“, „Repräsentanten der Lüge, des Betrugs, des Diebstahls, der Plünderung, des Raubes“); aggressives und apokalyptisches Vokabular; antithetische Argumentation; Ironie und Sarkasmus; Euphemismen; Redefiguren, die auf die Einbeziehung des Lesers zielen: rhetorische Fragen, Anreden und Ausrufe, Appelle und Imperative; umgangssprachliche Formen; Archaismen und Fremdwörter; textinterne Rück- und Vorverweise; Gedankenstriche, die an Punkten, an denen strittige Fragen endlich Klärung verlangen, Zäsuren oder Pausen anzeigen und die Spannung auf die Antwort steigern. Vieles von dem ist, wie die Arbeiten von Detlef Grieswelle (1972)46 und Christian A. Braun (2007)47 gezeigt haben, auch an anderen Texten Hitlers und anderer nationalsozialistischer Autoren zu beobachten. Die Textgattung von Mein Kampf wird von Rash nicht eigens thematisiert; ihr hat der Germanist und Historiker Björn Dumont eine etwas schmälere Studie gewidmet, die 2011 unter dem Titel Gewebe oder Flickenteppich? Textmuster in Adolf Hitlers ‚Mein Kampf‘ erschien. Textmuster, die für Mein Kampf vorzugsweise in Frage kommen, sind Autobiographie und Memoiren, Bekenntnisschrift, Pamphlet, Programmschrift, Abhandlung und Traktat.48 Die genauere Beobachtung zeigt, dass Hitler diese Textmuster in Mein Kampf großzügig mischte und dabei die Differenzen zwischen den verschiedenen Mustern in manchen Fällen missachtete, in anderen verwischte. So erscheint Mein Kampf „aufgrund der zahlreichen thematischen Sprünge“ einerseits „wie ein Flickenteppich“, andererseits aber auch wie „ein schwer zu durchdringendes und ausgesprochen unregelmäßiges Gewebe aus unter-
43 44 45 46 47 48
Vgl. Rash, Felicity: The Language of Violence. Adolf Hitler’s Mein Kampf. New York u. a.: Peter Lang 2006, S. 5–73. Ebd., S. 75–189. Ebd., S. 191–247. Grieswelle, Detlef: Propaganda der Friedlosigkeit. Eine Studie zu Hitlers Rhetorik 1920–1933. Stuttgart: Enke 1972. Braun, Christian A.: Nationalsozialistischer Sprachstil. Theoretischer Zugang und praktische Analysen auf der Grundlage einer pragmatisch-textlinguistisch orientierten Stilistik. Heidelberg: Winter 2007. Vgl. Dumont, Björn: Gewebe oder Flickenteppich? Textmuster in Adolf Hitlers ‚Mein Kampf‘. Berlin: Frank & Timme 2011, S. 98 ff.
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schiedlichen Textmustern und Textmustermerkmalen“.49 Die zugrunde liegenden Beobachtungen münden in eine Wertung, die dem Verfasser von Mein Kampf – nach dem unabweisbaren Muster vieler anderer Evaluationen – Originalität selbstverständlich abspricht, ihm zugleich aber eine starke Individualität im Bösen zugesteht: „Hinsichtlich der verwendeten Textmuster ist Hitlers Text zunächst nicht ‚originell‘, denn Hitler erfindet keine Textsorte, sondern greift auf tradierte Textmuster zurück. Individuell ist jedoch, wie er diese Textmuster miteinander kombiniert, […], indem er […] von den Textmustern nur jene Aspekte übernimmt, die ihm zweckdienlich erscheinen. Dass Hitler so viele unterschiedliche Textmuster integriert, kann letztlich wieder auf seine Maßlosigkeit und seine Hybris zurückgeführt werden: Er will einen Text schreiben, der alles kann. Die Textgestalt von Mein Kampf wird damit auch zum Ausdruck der Selbstsicht des Autors, und die Textmustermischung als solche lässt sich verstehen als Teil von Hitlers Selbststilisierung zum Genie, das aus sich heraus schöpft, individuelle und außergewöhnliche Leistung [!] vollbringt und selbst außerhalb aller Ordnung steht. Als Textproduzent kommt er zwar nicht ohne Muster aus, aber er besteht auf seine ‚Herrschaft‘ über die Textmuster. Schon knapp zehn Jahre vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten zeigt sich Hitler in Mein Kampf also nicht nur durch seinen ‚Gewaltstil‘ bzw. seine ‚language of violence‘, sondern auch durch die Vermischung und Entdifferenzierung von Textmustern als jener Machtmensch, als der er sich in die Geschichte eingeschrieben hat.“50
4. PROBLEME DER EVALUATION Konzeptionelle Struktur und stilistische Faktur von Mein Kampf müssen nicht bessergeredet werden, als sie nach einhelligem Urteil aus vielerlei Gründen sind: miserabel und widerwärtig. Es gilt aber, der Tatsache zu genügen, dass Mein Kampf ein wirkungsreiches Buch war und den politischen Erfolg Hitlers nicht gehemmt, sondern befördert und stabilisiert hat. Die abschließenden Ausführungen wollen diesem Umstand gerecht werden. 1.) Die These, dass Hitlers Buch nicht gelesen worden sei, weil es aus stilistischen Gründen unlesbar sei, beruht, wie Plöckinger gezeigt hat, auf einer Legende und ist nicht haltbar. Die Auswertung der Anschaffungsunterlagen und Ausleihlis-
49 50
Ebd., S. 152. Ebd., S. 155. – Hinsichtlich der literarischen Struktur von Mein Kampf vertrat Götz Aly neuerdings die These, Hitler habe damit „ein neues, noch heute hochbeliebtes literarisches Genre“ geschaffen, indem er – die bis dahin üblichen Politiker-Memoiren hinter sich lassend – „als Erster in Deutschland sein politisches Programm aus seiner stilisierten, teilweise erfundenen Biographie entwickelte“ (vgl. Aly, Götz: Propagandaschrift von Adolf Hitler, in: Berliner Zeitung, 11.1.2016, www.berliner-zeitung.de/23448632, Zugriff am 1.7.2018). Es scheint mir allerdings, dass Hitler auch hierfür Vorbilder haben konnte, etwa in der einen oder andern der manchmal romanhaft gestalteten Autobiographien von sozialistischen oder sozialdemokratischen Funktionären und Politikern, die ihren Weg von Armutserfahrungen zum sozialistischen Engagement beschrieben; Gustav Noskes Wie ich wurde (1919) und August Winnigs Frührot (1919 und 1924) seien als Beispiele genannt.
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ten öffentlicher Bibliotheken lässt darauf schließen, dass das Interesse an Mein Kampf vor allem in den Jahren 1933 bis 1936/37 „ganz erheblich“ war.51 2.) Es gibt eine auffällige Diskrepanz zwischen der vielfach wiederholten Behauptung, dass Mein Kampf eine einzige stilistische Katastrophe sei, und der relativ geringen Zahl von Beispielen, die angeführt werden, um dies zu belegen. Wenn Horn in seiner „Kathederblüten-Sammlung“ über ein Dutzend nicht hinauskommt und davon nicht alle gleich schlagend sind; wenn von drei Kritikern – Mehring, Olden und Fest – dreimal ein und derselbe Nattern-Satz als Paradebeispiel für Hitlers stilistische Hochstapelei angeführt werden muss, kommt der Verdacht auf, dass sich dergleichen gar nicht so häufig finden lässt. Selbstverständlich gibt es in Mein Kampf Sätze, die in ihrer Bildlichkeit entgleisen oder in ihrer syntaktischen Struktur vertrackt und sperrig wirken. Die Frage ist aber, ob sie in einer solchen Vielzahl auftreten, dass das Buch für Leser mit durchschnittlichen stilistischen Ansprüchen ungenießbar wird, oder ob sie in der Masse des Textes untergehen. 3.) Die von Mehring intonierte, von Olden weitergeführte und von Fest übernommene Kritik an dem Nattern-Satz – und das gilt auch für vergleichbare Sätze – ist zwar sachlich berechtigt, verkennt aber das Wirkungspotential dieses Satzes vollständig. Es geht hier nicht um biologische Richtigkeit, an deren Fehlen sich Kenner stoßen mochten, sondern darum, dem aufnahmebereiten Leser zu verdeutlichen, was anhaltende materielle Not ist: ein Schicksal, das nicht nur erdrückend wirkt, sondern dem Betroffenen auch noch mit giftigen Bissen zusetzt. Wer wollte, konnte das leicht mit gleichartigen, aber sich verschärfenden existentiellen Erfahrungen assoziieren, mit anhaltend würgender materieller Not, die in bestimmten Momenten eine äußerst bittere Zuspitzung erfuhr. Die sachliche Unstimmigkeit muss nicht nur als Bildbruch (Katachrese) registriert werden; sie kann auch als Steigerung empfunden werden. 4.) Manche Urteile über Hitlers Stil sind von überraschenden Idiosynkrasien getragen. Das gilt etwa für Joachim Fests naserümpfende Bemerkung, dass von Hitlers „Stilhaltung im ganzen“ ein „unverwechselbarer Armeleutegeruch“ ausgehe, und für die Behauptung der Schriftstellerin Mechthilde (Fürstin) Lichnowsky, einer Freundin des großen Sprach- und Ideologiekritikers Karl Kraus, für Hitlers Deutsch – „das Deutsch eines grössenwahnsinnigen Commis“, das „Deutsch der Reklame“ – gebe es „nur eine Bezeichnung“, die „den Nagel einigermaßen auf den Kopf“ treffe: „Jüdischer Schmus!“52 Dergleichen entwertet die Kritik nicht völlig, lässt aber doch fragen, ob die Wahrnehmung von Hitlers „Stilhaltung im ganzen“ und die Schärfe des Urteils nicht durch Voreingenommenheiten bestimmt sind, die ihrerseits problematisch sind und einer adäquaten Einschätzung des Stils von Mein Kampf und der darauf beruhenden Wirkungsmöglichkeiten im Weg stehen. Was würde man in einem anderen Fall dazu sagen, wenn „Armeleutegeruch“ attestiert und als Stigma ausgespielt würde? Und könnte es nicht sein, dass es Leser gab, die durch eben diese sprachliche Einfärbung, die Fest als „Armeleutegeruch“ identifiziert, angesprochen oder angezogen wurden? 51 52
Vgl. Plöckinger, Geschichte, S. 356 ff. Zit. nach ebd., S. 450.
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5.) Viel zu wenig wird beachtet, dass der Stil eines Buches, das sich an ein politisches Publikum und zumal, wie Hitler im Vorwort ausdrücklich sagt, an die „Anhänger“ einer „Bewegung“ richtet, nicht allein nach generellen und schon gar nicht allein nach literarischen Stilkriterien beurteilt werden sollte. Gerade für derartige Schriften gilt das häufig, aber meist nur verkürzt zitierte Diktum des Grammatikers Terentianus Maurus: „Pro captu lectoris habent sua fata libelli“ [„Bücher haben ihre Schicksale (oder ihre Wirkungen)“], und zwar je „nach Fassungskraft (oder Einstellung) des Lesers“. Man versteht, dass Heinz Horn in der Weltbühne am Ende seiner oben zitierten „Kathederblüten-Sammlung“ aus Mein Kampf schrieb, dass dem, der solches mit Zustimmung lese, nicht zu helfen sei. Was aber, wenn das Buch von jemandem gelesen wird, der der Meinung ist, dass ihm gerade durch das, was er in diesem Buch zu lesen bekommt, geholfen wird? Er wird wie der anonyme Rezensent der sudetendeutschen Nationalsozialistischen Monatshefte vom August 1925 die Hinweise auf „schriftstellerische Mängel“ mit dem Bescheid abtun: „Wir sahen diese Mängel nicht, weil wir sie nicht suchten! Wir fragen nicht nach der Form, sondern nach dem Inhalt.“53 Was aber diesen angeht, sollte man sehen, dass Mein Kampf – trotz der Abscheulichkeit seines Inhalts – nicht so konfus ist, wie oft behauptet wird. Schon Hermann Broch, der sich – bei aller Ablehnung Hitlers – weniger von Affekten als von kühler Beobachtung leiten ließ, bescheinigte Hitlers Weltbild einen – zumal für Anhänger – starken „Plausibilitätscharakter“54, und Barbara Zehnpfennig stellte in ihrer Analyse des gedanklichen Aufbaus von Mein Kampf fest, „dass das Denken Hitlers, wie in der Literatur immer wieder behauptet, in der Regel aber nicht nachgewiesen wird, voller Widersprüche stecke, lässt sich bei eingehender Untersuchung nicht bestätigen. Ein Denken im Zusammenhang löst manchen vermeintlichen Widerspruch auf, und es wird eine innere Logik sichtbar, die zunächst überrascht.“55 Mit all dem soll, wie noch einmal gesagt sei, Mein Kampf in keiner Hinsicht gutgeredet werden. Es sollte nur deutlich gemacht werden, dass die Bewertung seiner stilistischen Beschaffenheit, die schon mit der Beschreibung oder Bezeichnung der Phänomene beginnt, von Parametern abhängt, die ihrerseits reflexionsbedürftig sind und bei der stilistischen Bewertung von Mein Kampf selbstkritisch in Anschlag gebracht werden müssen, zumindest bei der Frage nach dem Wirkungspotential der stilistischen Faktur. Manches schroff negative Urteil könnte dann eine gewisse Relativierung erfahren.
53 54 55
Zit. nach Plöckinger (Hg.), Quellen, S. 190 (Dok. 52). Broch, Hermann: Kommentierte Werkausgabe. Hg. von Paul Michael Lützeler. Band 13/2. Briefe 2 (1938–1945). Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981, S. 175 (Brief vom 3.3.1940 an Giuseppe Antonio Borgese). Zehnpfennig, Barbara: Hitlers „Mein Kampf“. Eine Interpretation. München: Fink 2000, S. 34.
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5. MERKMALE VON HITLERS STIL Was kennzeichnet Hitlers Stil? Folgt man den Urteilen der zeitgenössischen Publizistik und der späteren Forschungsliteratur, so ist es neben der exzessiven und mitunter katachretischen Bildlichkeit, auf die hier nicht mehr weiter eingegangen werden muss, der oft „gedrechselte“ (Fest) oder „vertrackte“ (Mehring) Periodenbau. Beispiele finden sich leicht, in manchen Abschnitten in dichter Folge, so etwa im ersten Kapitel des ersten Bandes, wo es um das Deutschtum im Vielvölkerstaat Österreich geht. Zwei dieser Sätze seien zitiert: „Man begriff nicht, dass, wäre nicht der Deutsche in Österreich wirklich noch von bestem Blute, er niemals die Kraft hätte besitzen können, einem 52-Millionen-Staate so sehr seinen Stempel aufzuprägen, dass ja gerade in Deutschland sogar die irrige Meinung entstehen konnte, Österreich wäre ein deutscher Staat.“56
Und: „Erst heute, da diese traurige Not vielen Millionen unseres Volkes aus dem Reiche selber aufgezwungen ist, die unter fremder Herrschaft vom gemeinsamen Vaterlande träumen und sich sehnend nach ihm, wenigstens das heiligste Anspruchsrecht der Muttersprache zu erhalten versuchen, versteht man in größerem Kreise, was es heißt, für sein Volkstum kämpfen zu müssen.“57
Beide Sätze sind syntaktisch korrekt, abgesehen davon, dass im zweiten Beispiel zwischen „und“ und „sich“ ein Komma angebracht gewesen wäre („… und, sich sehnend nach ihm, wenigstens …“); dennoch sind sie stilistisch missglückt, propositional überfrachtet und syntaktisch auf eine nicht auf Anhieb durchschaubare Weise verschachtelt, also sperrig und nicht leicht verständlich. Dergleichen Perioden finden sich im ersten Teil mehr, später weniger. Sie tragen dazu bei, dass der Stil von Mein Kampf nicht nur prätentiös, sondern auch umständlich wirkt, die Lektüre bisweilen erschwert oder zur Qual macht, und nicht zuletzt auf sie ist die These zurückzuführen, dass Mein Kampf ein eigentlich unlesbares Buch sei. Aber auch hier ist in Erwägung zu ziehen, dass die Wirkung solcher Sätze auf „diejenigen Anhänger der Bewegung, die“, wie Hitler im Vorwort schrieb, „mit dem Herzen ihr gehören und deren Verstand nun nach innigerer Aufklärung strebt“, eine ganz andere sein mochte. Auch hierfür gibt es ein beachtenswertes Beispiel. So bekannte der angesehene evangelische Theologe und liberale Politiker Martin Rade 1932 in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Die Christliche Welt, er habe Mein Kampf trotz vieler Hinweise auf die Ungenießbarkeit dieses Buches „mit wachsender Anteilnahme“ komplett gelesen, und fügte dem hinzu: „Die breite Rhetorik des Stils verdrießt den Gebildeten, der mit seiner Zeit geizt. Aber das Buch ist nicht schlecht geschrieben. Es gibt reines Deutsch. Nur ein einziges Mal stolperte ich über eine Sprachdummheit: ‚ab heute‘. Es fehlt nicht an glücklichen, drastischen Wendungen. Es fehlt an originellen Gedanken. Es fehlt an Sachen und Gründen. Kurz, es fehlt am Gehalt.
56 57
Hartmann/Vordermayer/Plöckinger/Töppel (Hg.), Hitler. Mein Kampf, Bd. I, S. 109, 111. Ebd.
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Helmuth Kiesel […] Das Pathos der Rede allein tut’s nicht. Wo einem aber echte glühende Leidenschaft entgegenschlägt, da handelt es sich für den Leser nicht mehr nur um die schriftstellerische Gabe.“58
Dem Befund, dass Hitler „reines Deutsch“ schreibe, muss man nicht zustimmen. Aber die ansonsten übliche Totalverwerfung seines Stils, so berechtigt sie unter normativen Gesichtspunkten ist, muss vor dem Hintergrund eines solchen Bekenntnisses unter Wirkungsaspekten relativiert werden. Hitlers Satzbau ist oft kompliziert, aber nicht falsch. Sein Stil ist sperrig, aber nicht unverständlich. Seine Ausführungen wirken oft umständlich, mochten aber den „geneigten“ Leser, der sich hindurchgebissen hatte, mit dem Gefühl belohnen, etwas unter Berücksichtigung aller zu bedenkenden Umstände genau auseinandergesetzt bekommen zu haben. Hitlers vertrackte Schreibweise ist nicht nur Zeichen von Unvermögen oder Nachlässigkeit. Sie folgt auch einem dezidierten Stilwillen. Dessen hauptsächliche Äußerungsformen sind dogmatische Umständlichkeit, die dem Gesagten den Anstrich des gründlich Durchdachten und sachlich Zwingenden geben will, und jene potenzierte Bildhaftigkeit, die Abstraktes anschaulich und emotional wirksam machen will. Dazu kommt die Verwendung von Füllwörtern, die das Gesagte bekräftigen, steigern, dramatisieren wollen, ebenso die Verwendung von Elativen, also absolut gesetzten Superlativen, die aber nicht aus einem ausgeführten Vergleich resultieren, sondern besagen wollen, dass man es mit Unüberbietbarem zu tun habe, etwa mit einem „tödlichsten Feind“, dem man mit „letzten und brutalsten Mitteln“ oder mit „brutalster Rücksichtslosigkeit“ entgegentreten müsse. Das alles findet sich übrigens nicht nur bei Hitler, sondern auch in den Programm- und Propagandaschriften anderer militanter Gruppen59 und zudem in einem großen Teil der kulturkritischen und weltanschaulichen Literatur jener Zeit60, kurz: überall da, wo es auf eindringliche oder gar erschütternde Behauptungen und auf mobilisierende oder gar enthemmende Direktiven ankam. Nicht zuletzt gehört zu diesem Stil auch Hitlers Gepflogenheit, längere dogmatische Ausführungen mit rigoros vereinfachten Konklusionen, die in plakativen Sentenzen ausgestellt werden, zu besiegeln, so etwa, wenn er am Ende einiger Abschnitte über den Kampf um Lebensraum feststellt: „Im ewigen Kampfe ist die Menschheit groß geworden – im ewigen Frieden geht sie zugrunde.“ Oder am Ende einiger Abschnitte über den Aufstieg und Niedergang von Kulturen: „So brechen Kulturen und Reiche zusammen, um neuen Gebilden den Platz freizugeben.“ Oder gleich danach: „Was nicht gute Rasse ist auf dieser Welt, ist Spreu.“ Ein Spezifikum von Hitlers Buch, dessen erster Band nicht umsonst den Untertitel „Eine Abrechnung“ hat, ist der exzessive Gebrauch von aufreizenden Schimpf58 59 60
Zit. nach Plöckinger (Hg.), Quellen, S. 301 (Dok. 93). Vgl. Röpenack, Arne von: KPD und NSDAP im Propagandakampf der Weimarer Republik. Eine inhaltsanalytische Untersuchung in Leitartikeln von „Rote Fahne“ und „Angriff“. Stuttgart: ibidem 2002. Als Beispiel sei die von Hitler bewunderte und vielfach zitierte Abhandlung Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts von Houston Stewart Chamberlain (1899 u. ö.) genannt. Weitere Hinweise in der Einleitung zur kritischen Edition von Mein Kampf, S. 56 ff., und bei Glaser, Hermann: Adolf Hitlers Hetzschrift „Mein Kampf“. Ein Beitrag zur Mentalitätsgeschichte des Nationalsozialismus. München: Allitera 2014, passim.
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wörtern, wenn es darum geht, politische Prinzipien etwa als „Wohlfahrtsduseleien“ zu diskreditieren oder deren Repräsentanten als „Strauchdiebe“, „Lumpen“, „Jämmerlinge“, „Hohlköpfe“, „geistig abhängige Nullen“ oder „parlamentarische Schieber“ herabzusetzen. Hitler beschimpft nicht nur Personen, sondern auch Institutionen und Ideologien, und gerade ihnen gegenüber entlädt sich sein Furor gelegentlich in einer Kaskade von herabsetzenden Metaphern wie in der folgenden Verurteilung des westlichen Parlamentarismus: „Die Demokratie des heutigen Westens ist der Vorläufer des Marxismus, der ohne sie gar nicht denkbar wäre. Sie gibt erst dieser Weltpest den Nährboden, auf dem sich dann die Seuche auszubreiten vermag. In ihrer äußeren Ausdrucksform, dem Parlamentarismus, schuf sie sich noch eine ‚Spottgeburt aus Dreck und Feuer‘61, bei der mir nur leider das ‚Feuer‘ im Augenblick ausgebrannt zu sein scheint.“ Lesbarkeit, Interessantheit, Überzeugungskraft (sofern man sich nicht von vornherein dagegen sperrt) und suggestive Wirkung werden durch die rhetorische Struktur und typographische Gestaltung unterstützt. Ein gutes Beispiel findet sich im Wien-Kapitel: Hitler erinnert dort zunächst mit wenigen Sätzen an seine angeblich so schwere Zeit als Gelegenheitsarbeiter, um auf dieser Erfahrungsbasis ein allgemeineres soziales Problem zu erörtern, nämlich die Proletarisierung der vielen jungen Menschen, die damals aus dem ländlichen Raum in die Metropole strömten. So schildert er, wie ein „Bauernbursche“ in die Großstadt wandert, schwer Arbeit findet, allmählich das Selbstvertrauen verliert, in eine depressive Stimmung gerät und zum hilflosen Objekt von Ausbeutung wird. Den anderthalb Seiten, über die sich diese Schilderung erstreckt, folgen in einem getrennten Abschnitt zwei beglaubigende und pointierende Sätze: „Diesen Prozeß konnte ich an tausend Beispielen mit offenen Augen verfolgen. Je länger ich das Spiel sah, um so mehr wuchs meine Abneigung gegen die Millionenstadt, die die Menschen erst gierig an sich zog, um sie dann so grausam zu zerreiben.“ Dem folgen zwei wiederum typographisch isolierte Sätze, die nun in einem grammatikalischen Parallelismus, der die proportionale Antithetik auffällig macht, die traurige Konklusion ziehen und das eigentliche Skandalon des geschilderten großstädtischen Entfremdungs- und Verelendungsprozesses benennen: „Wenn sie kamen, zählten sie noch immer zu ihrem Volke; wenn sie blieben, gingen sie ihm verloren.“ Isolierte Sätze, die zuvor Dargelegtes oder Angedeutetes pointieren, Schlussfolgerungen ziehen, Einschnitte oder Entscheidungen markieren und den Leser für einen Moment einhalten lassen wollen, sind ein wichtiges Strukturierungsmittel, das Hitlers dramatischer Lebensauffassung und seinem Dezisionismus entsprach: „Jetzt aber kommt er erst noch in die Hohe Schule dieses Daseins.“ „Dort erhält er den letzten Schliff.“ „Ich stand manches Mal starr da.“ „Ich war vom schwächlichen Weltbürger zum fanatischen Antisemiten geworden.“ „So kam ich in das Lazarett Pasewalk in Pommern, und dort musste ich – die Revolution erleben.“ „Ich aber beschloß, Politiker zu werden.“ Ein weiteres von Hitler oft verwendetes Mittel der rhetorischen Strukturierung und gedanklichen Emphatisierung sind verneinende Interjektionen und Ausrufungssätze: „Ich wollte nicht Beamter werden, nein und nochmals nein.“ Oder: 61
Zitat aus Goethes Faust, Erster Teil, Ende der Szene „Martens Garten“.
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„Nein, so soll dies nicht verstanden werden.“ Oder: „Nein, wahrhaftiger Gott, darauf kommt es wenig an.“ In der Regel folgt darauf eine apodiktische und oft durch Sperrdruck hervorgehobene Darstellung dessen, was Hitler für richtig hielt. Häufig verwendet Hitler auch ein bekräftigendes „ja“, doch dient dies zumeist nur der Emphatisierung, nicht aber der gedanklichen Strukturierung. Der Verlebendigung der schriftlichen „Rede“ und zugleich der Vereinnahmung des Lesers dienen rhetorische Fragen, die einen problematischen Sachverhalt zwar in Frageform beschreiben, aber so, dass der Leser – zumal der eingestimmte – im Sinne des Fragestellers antworten wird. Hitler nutzt dieses Mittel in Mein Kampf häufig, gelegentlich exzessiv. So reiht er im Zuge seiner Auseinandersetzung mit der parlamentarischen Demokratie einmal in einundzwanzig isoliert stehenden Sätzen einundzwanzig Fragen aneinander, die allesamt darauf angelegt sind, den Leser zur Konklusion kommen zu lassen, dass „das parlamentarische Prinzip der Majoritätsbestimmung die Autorität der Person ablehnt“ und damit „wider den aristokratischen Grundgedanken der Natur“ sündigt. Es ist ein Musterbeispiel jener „innigeren Aufklärung“, von der Hitler im Vorwort sprach: Er stellt die Fragen, die den Leser Schritt für Schritt und unabweisbar an die Antwort heranführen, die dann vom schreibenden Redner nur noch explizit formuliert wird. An weiteren Wirkungsmitteln sind anzuführen: gravitätische Vokabeln wie „ward“ und „sintemalen“; Adjektive, die extreme Haltungen und Fähigkeiten bezeichnen („radikal“, „brutal“, „fanatisch“, „infernalisch“, aber auch „genial“); Pathoswörter wie „Schwurstätte“, „Kainstat“, „Herrenrecht“, „Faustrecht des Stärkeren“ und „Radikalmittel“; gelegentlich ein exquisites Fremdwort wie „Marasmus“ oder eine gebildete Floskel wie „Hekuba“; nicht selten affektiv erregende Komposita wie „Rassenbabylon“ (für Wien) und „Novemberschande“ (für die deutsche Revolution), „Kulturparfüm“ und „Pazifistenspülwasser“; die mehrfache Wiederaufnahme von Wörtern; die emphatisierende Veränderung (Inversion) der Wortstellung („nicht Herr sein zu können der eigenen Zeit“); die Bildung plakativer Antithesen („Blut“ vs. „Staat“, „Volk“ vs. „Dynastie“); die Arbeit mit Alliterationen und Assonanzen („Wiener Lehr- und Leidensjahre“, „Gleiches Blut gehört in ein gemeinsames Reich“). Die Liste ist nicht vollständig, doch dürfte sie lang genug sein, um erkennen zu lassen, dass Hitler über ein breites Register an rhetorischen und stilistischen Wirkungsmitteln verfügte. Trotz mancher „Schnitzer“ war er kein Stümper, sondern ein wirkungsbewusster Schreiber, der sehr wohl in der Lage war, ein Buch mit einem eigenen rhetorisch-stilistischen Profil zu Papier zu bringen. Die Wirkung, die er damit erreichte, dürfte deutlich größer gewesen sein, als es die zeitgenössischen Stilkritiker und spätere Kommentatoren für möglich halten wollten. Nicht umsonst hielt Brecht den Schriftstellerkollegen, die sich über Mein Kampf lustig machten, in seinem geplanten Tuiroman entgegen: „Die Tuis [= Intellektuellen] machen sich lustig über den unwissenden Hu-ih. Sein Werdegang. Seine 53000 Sprachschnitzer in seinem Buch ‚Wie ich es schaftete‘. Inzwischen siegt er draußen [eigentlich: drinnen].“62 62
Brecht, Bertolt: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Band 17. Prosa 2.
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Wenn, wie im Licht der neueren Forschung anzunehmen ist, die Wirkung von Mein Kampf beträchtlich größer war, als es die Kritik erwarten ließ, sind allerdings auch die besonderen Rezeptionsbedingungen in Rechnung zu stellen, die vor einigen Jahren von Christian Alexander Braun und Christiane Friederike Marxhausen63 sowie neuerdings von Albrecht Koschorke mit schmalen, aber gehaltvollen Abhandlungen über Hitlers Buch verdeutlicht wurden. Koschorke profiliert Mein Kampf als das Werk eines „triggers“, also „eines Auslösers von sozialen Explosionen“64, der in einem Moment der „Liminalität“ oder eben in einem krisenhaften Übergangs- oder „Schwellenzustand“ in Erscheinung tritt und für die zu lösenden sozialen und politischen Probleme Lösungen vorschlägt, die für eine Mehrheit der Bevölkerung überzeugend wirken. Neben den Lösungsvorschlägen, die durchaus heterogen sein dürfen, und dem Ermächtigungsstil, in dem diese vorgetragen werden, trägt zur Wirkung aber auch bei, dass die Rezeption in einer Atmosphäre der „organisierten Gewalt“ stattfindet, also des Terrors seitens nationalsozialistischer Schlägertrupps und später staatlicher Organe.65 Koschorke zitiert ein treffendes Wort des Kabarettisten Serdar Somuncu, der in den Neunzigerjahren mit Lesungen aus Mein Kampf auftrat: „Hitler plus Macht ist grausam, aber Hitler minus Macht ist eine Komödie.“66 Er hätte aber auch sagen können: eine Groteske, und zwar in dem präzisen und umfassenden Sinn, dass eben das an ihm und seinem Buch zu beobachten ist, was eine Groteske ausmacht, nämlich Vermischung, Verkehrung und Verzerrung aller normalen Verhältnisse, und dies auf der kognitiven wie auf der ethischen und ästhetischen Ebene: indem Wahrheit und Lüge vielfach vermischt, ethische Normen verkehrt und Stilformen verzerrt werden.67 Mein Kampf ist damit auch das erste und zugleich monströse Monument jener „Politik im Groteskstil“, die Thomas Mann am 17. Oktober 1930, einen Monat nach Hitlers frappierendem Erfolg bei der Reichstagswahl vom 14. September, in seiner Deutschen Ansprache im Berliner Beethoven-Saal als Ausdruck einer heillosen Zeit beschrieb und beklagte.68
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Romanfragmente und Romanentwürfe. Bearbeitet von Wolfgang Jeske. Berlin und Weimar: Aufbau/Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1989, S. 26 (Einfügungen von H. K.). Braun, Christian Alexander / Marxhausen, Christiane Friederike: Adolf Hitlers Mein Kampf. Herrschaftssymbol, Herrschaftsinstrument, Medium ideologischer Kommunikation. in: Koschorke, Albrecht / Kaminskij, Konstantin (Hg.): Despoten dichten. Sprachkunst und Gewalt. Konstanz: Konstanz University Press 2011, S. 177–209. Koschorke, Albrecht: Adolf Hitlers „Mein Kampf“. Zur Poetik des Nationalsozialismus. Berlin: Matthes & Seitz 2016, S. 10 f. Ebd., S. 58 ff. Ebd., S. 63. Zum Begriff der Groteske vgl. Fuß, Peter: Das Groteske. Ein Medium des kulturellen Wandels. Köln u. a.: Böhlau 2001. Mann, Thomas: Essays. Hg. von Hermann Kurzke und Stefan Stachorski. Band 3: Ein Appell an die Vernunft: 1926–1933. Frankfurt a. M.: Fischer, 1994, S. 259–279, hier S. 268.
EINFÜHRUNG IN DIE GESCHICHTE DER ÜBERSETZUNGSTHEORIE Claire Placial 1. STAND DER WISSENSCHAFT In den letzten Jahren stieg die Zahl der Publikationen im Bereich der Übersetzungsgeschichte stark an.1 Für Ernst F. K. Koerner ist es ein Zeichen der epistemologischen Reife der Translationswissenschaft: „A discipline comes of age when it seriously contemplates its own past“.2 Die Frage der disziplinarischen Unabhängigkeit der Translationswissenschaft bleibt aber noch offen, wie am Schluss dieses Beitrags erklärt wird. In mehreren Ländern haben es Forscher kollektiv unternommen, Gesamtüberblicke über die Geschichte der Übersetzung in einem bestimmten Land bzw. in einer bestimmten Sprache zu publizieren. 2004 gaben Francisco Lafarga und Luis Pegenaute in Salamanca die Historia de la Traduccion en España3 heraus; das Buch beschäftigt sich mit der Entwicklung der Übersetzung seit dem Mittelalter in den verschiedenen Sprachen Spaniens, Kastilisch so wie Baskisch und Katalanisch. 2005–2010 erschien in vier Bänden, unterteilt in vier Zeitperioden vom Mittelalter bis 1900, The Oxford History of Literary Translation in English. Die Histoire des traductions en langue française (2012–2019) wird ebenfalls in vier Zeitabschnitten behandelt. In den beiden Fällen konzentrieren sich die jeweiligen Kapitel eines Bandes nicht auf verschiedene Sprachen, sondern auf Textbereiche (u. a. erzählende Prosa, Versdichtung, Theater, Religion). Derzeit ist der Band 4 (1914–2000) der französischen Übersetzungsgeschichte noch in Vorbereitung: Er soll Erläuterungen zur Übersetzung politischer bzw. propagandistischer Texte ins Französische enthalten. Nach heutigem Stand gibt es keinen ähnlichen Gesamtüberblick zu Übersetzungen in deutscher Sprache. Die 2002 und 2011 in zwei Bänden und in drei Sprachen erschienene Arbeit Übersetzung – Translation – Traduction. Ein internationales Handbuch zur Über1 2
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Vgl. Introduction. Un bref état des lieux, in: D’hulst, Lieven: Essais d’histoire de la traduction. Avatar de Janus. Paris: Classiques Garnier 2014. Vgl. Koerner, Ernst Frideryk Konrad: The development of linguistic historiography – history, methodology, and present state, in: Auroux, Sylvian / Koerner, Ernst Frideryk Konrad / Niederehe, Hans-Josef / Versteegh, Kees (Hg.): History of the Language Science. Berlin/New York: Walter de Gruyter 2006, S. 2803. Lafarga, Francisco / Pegenaute, Luis: Historia de la Traduccion en España, Salamanca: Editorial Ambos Mundos 2004.
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setzungsforschung4 beleuchtet die Übersetzung nicht nur aus historischer, sondern auch aus theoretischer und epistemologischer Sicht. Besonders relevant darin sind für unseren Beitrag die Studien von Lieven D’hulst, „Questions d’historiographie de la traduction“5, und von Kate Sturge, „Ideology and translation in Germany, 1933–1945“. Diese zum Teil sehr umfangreichen Verlagsunterfangen ergänzen die etwas älteren Publikationen, die im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts von einzelnen Autoren verfasst wurden und Gesamtüberblicke über die Geschichte der Übersetzungstheorie, zum Teil seit der Antike, gaben. Zu nennen sind etwa die Werke von Douglas Robinson6, André Lefevere7, Michel Ballard8, Jean Delisle und Judith Woodsworth.9 Diese Arbeiten, wie auch das neuere, von Daniel Weissbort und Astradur Eysteinsson herausgegebene Buch Translation. Theory and practice. A historical reader10, konzentrieren sich nicht auf die Praxis, sondern auf die Theorie der Übersetzung. Zum Teil fungieren solche Werke als Anthologien, in denen Leser/ innen nachlesen können, wie sich Übersetzer/innen im Laufe der Geschichte über ihre Aufgabe geäußert haben. Während die bisher erwähnten Werke deskriptiv bleiben wollten, hat das sehr umstrittene Buch von Lawrence Venuti The Translator’s Invisibility, a History of Translation11 den Akzent auf die „Unsichtbarkeit des Übersetzers“ gelegt: Venuti kritisiert die Art, wie die Illusion der Unsichtbarkeit „conceals the numerous conditions under which the translation is made, starting with the translator’s crucial intervention in the foreign text.“ Obgleich Venuti sich hautsächlich auf die Übersetzung literarischer Texte ins Englische bezieht und die englische bzw. amerikanische Übersetzungstheorie kritisiert, ist sein Standpunkt auch für das Problem der Übersetzung politischer und historischer Texte gültig. Daneben nahmen in den letzten zehn Jahren zahlreiche Publikationen auch politische Aspekte der Übersetzung in den Blick, wobei sich mehrere spezifischer für 4 5
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Kittel, Harald / Paul, Armin / Greiner, Norbert / Hermans, Theo / Koller, Werner / Lambert, José / Fritz, Paul (Hg.): Übersetzung – Translation – Traduction. Ein internationales Handbuch zur Übersetzungsforschung. Berlin: Walter de Gruyter 2002–2011. Der Verfasser hat seitdem ein Buch zum selben Thema herausgegeben: Essais d’histoire de la traduction. Avatars de Janus. Paris: Classiques Garnier 2014. Er beschäftigt sich darin mit theoretischen Ansätzen der Übersetzungsgeschichte, darunter auch mit den politischen Aspekten der Übersetzung in der postkolonialen bzw. globalisierten Welt. Robinson, Douglas: Western Translation History, from Herodotus to Nietzsche. Manchester/ Nothampton: St. Jerome Publishing 1997. Lefevere, André: Translation, History, Culture. A Sourcebook. London/New York: Routledge 1992. Ballard, Michel: De Cicéron à Benjamin. Traducteurs, traductions, réflexions. Lille: Presses universitaires de Lille 1992. Delisle, Jean / Woodsworth, Judith (Hg.): Les traducteurs dans l’histoire. Ottawa: Les Presses de l’université d’Ottawa 2002. Weissbort, Daniel / Eysteinsson, Astradur (Hg.): Translation. Theory and practice. A historical reader. Oxford: Oxford University Press 2006. Venuti, Lawrence: The Translator’s Invisibility, a History of Translation. London/New York: Routledge 1995–2002.
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die Übersetzung im Dritten Reich bzw. im Zweiten Weltkrieg interessieren. Sowohl eine Arbeit von Miriam Winter12 als auch ein von Dörte Andres, Julia Richter und Larisa Schippel herausgegebenes Buch13 stellen die Bedingungen dar, unter denen Übersetzer/innen bzw. Dolmetscher/innen im Dritten Reich ausgebildet und angestellt wurden; diese Bücher betreffen aber hauptsächlich die Übersetzung ins Deutsche und nicht aus dem Deutschen. In Frankreich arbeitet gegenwärtig Christine Lombez an einem Projekt über La traduction littéraire sous l’Occupation – France, Belgique, 1940–1944, dessen erste Ergebnisse bereits veröffentlicht wurden.14 Die Vielfältigkeit dieser Publikationen lässt erahnen, welche theoretischen Hindernisse bestehen, eine einheitliche Übersetzungsgeschichte darzustellen und die Übersetzungsgeschichte überhaupt zu definieren. Eine erste Schwierigkeit liegt darin, dass man die Geschichte der Theorie und die Geschichte der Praxis unterscheidet: Theoretische Abhandlungen haben in der Tat keine automatische Wirkung auf die tatsächlichen Übersetzungen und zum Teil werden die theoretischen Behauptungen eines Übersetzers von seiner eigenen Produktion widerlegt. Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass die Übersetzungsgeschichte sich hauptsächlich mit literarischen Texten beschäftigt, mit der Folge, dass die Übersetzung wissenschaftlicher, pragmatischer, politischer oder propagandistischer Texte weitgehend undokumentiert bleibt. Dazu kommt noch, dass die Übersetzung sich in unterschiedlichen Sprachen bzw. Nationen höchst unterschiedlich entwickelt hat: Es ist daher unmöglich, die Übersetzungsgeschichte global abzuhandeln. 2. EINFÜHRUNG IN DIE GESCHICHTE DER TRANSLATIONSTHEORIE BIS 1945 1886 wurde die Berner Übereinkunft zum Schutz von Werken der Literatur und Kunst getroffen. Ihr Einfluss auf die Produktion theoretischer Texte ist gering, auf die Praxis hingegen sehr groß: Jede in einem der Vertragsstaaten publizierte Übersetzung hängt von der vorherigen Zustimmung des Autors ab. Das Urheberpersönlichkeitsrecht wird dadurch garantiert, wohingegen die Möglichkeit freier Übersetzungen abnimmt. Während die Publikationen von Übersetzungen gesetzlich strenger geregelt werden, ändert sich auch die soziale Lage der Übersetzer/innen im Laufe des 19. Jahrhunderts. Die Übersetzung wird allmählich zur beruflichen und bezahlten Tätigkeit. Im 20. Jahrhundert nimmt dann auch die berufliche Ausbildung der Übersetzer/innen in ihren jeweiligen speziellen Gebieten zu.15 12 13 14 15
Winter, Miriam: Das Dolmetscherwesen im Dritten Reich. Gleichschaltung und Indoktrinierung. Frankfurt a. M.: Peter Lang 2012. Andres, Dörte / Richter, Julia / Schippel, Larisa (Hg.): Translation und ‚Drittes Reich‘. Menschen – Entscheidungen – Folgen. Berlin: Frank und Timme 2016. Lombez, Christine (Hg.): Traducteurs dans l’histoire, traducteurs en guerre, in: Atlantide n°5, Juli 2016, atlantide.univ-nantes.fr/-Traducteurs-dans-l-histoire- (Zugriff am 15.6.2018). Vgl. Pickford, Susan: Traducteurs, in: Histoire des traductions en langue française XIXe siècle, Paris: Verdier 2012, S. 149–187.
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Obwohl die Translationswissenschaft sich erst ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts herausgebildet hat, existieren theoretische Texte über die Übersetzung, seitdem es Übersetzungen gibt. Die obige Einleitung verweist auf Publikationen, die einen Überblick darüber bieten, wir wollen es hier nicht wiederholen. Was aber betont werden soll, ist die Unmöglichkeit, die Geschichte der Translationstheorie global zu betrachten. Wir werden also kurz skizzieren, wie sich die Übersetzung in die deutsche Sprache von der in die englische und französische im Laufe der Moderne unterscheidet. Dass das Gewicht der Übersetzung in der deutschen Sprache bedeutend war, ist offensichtlich. Luthers Bibel trug dazu bei, die deutsche Sprache zu vereinheitlichen; sein Sendbrief vom Dolmetschen (1530) darf als erste wichtige deutsche theoretische Schrift über die Translation eingeschätzt werden. Luthers Auffassung nach soll die „Verdeutschung“ die Nachahmung der Ausgangssprachen vermeiden: „sehen aber nicht, daß es gleichwohl dem Sinn des Textes entspricht, und wenn man’s will klar und gewaltiglich verdeutschen, so gehöret es hinein, denn ich habe deutsch, nicht lateinisch noch griechisch reden wollen, als ich deutsch zu reden beim Dolmetschen mir vorgenommen hatte.“16 Diese Auffassung, die heutzutage kaum bestreitbar klingt, ist aber zu Luthers Zeit nicht selbstverständlich. Während Hebräisch und Griechisch als göttliche Sprachen gelten, hat Deutsch keine ähnliche Würde: die „Verdeutschung“ Luthers trägt zugleich dazu bei, der deutschen Sprache, die der „einfache Mann auf dem Markt“ spricht, Erhabenheit zu verleihen. Als sich jedoch in den nächsten drei Jahrhunderten die deutschsprachige Literatur entwickelte, entstanden auch neue Ansichten über das Verhältnis zwischen dem Ausgangstext und der deutschen Sprache. Als am Ende des 18. Jahrhunderts die Klassiker (z. B. die Vossischen Übersetzungen Homers) sowie die Franzosen und etwas später die Literatur des Orients in großem Umfang übersetzt wurden, wurde die Übersetzung, also die Auseinandersetzung mit dem Fremden, als eine Gelegenheit betrachtet, die heimische Sprache und Literatur zu verbessern bzw. zu bereichern. Der Theologe, Übersetzer und Begründer der modernen Hermeneutik Friedrich Schleiermacher schrieb 1813 einen Essay, der einen sehr großen Einfluss auf die Translationswissenschaft gehabt hat. In Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens unterscheidet er zuerst zwischen dem „Dolmetscher“, der pragmatische bzw. wirtschaftliche Texte übersetzt, und dem „Übersetzer“, der sich auf künstlerische und wissenschaftliche Texte konzentriert. Er unterscheidet auch zwischen zwei Methoden, ohne den gewöhnlichen Gegensatz zwischen Wort und Sinn anzuwenden: „Entweder der Übersetzer lässt den Schriftsteller möglichst in Ruhe, und bewegt den Leser ihm entgegen; oder er lässt den Leser möglichst in Ruhe und bewegt den Schriftsteller ihm entgegen.“17 16 17
Luther, Martin: Sendbrief vom Dolmetschen (1530). Vgl. House, Juliane: Zwischen Sprachen und Kulturen. Dialog und Dominanz in der Übersetzung, in: Albrecht, Jörn / Gerzymisch-Arbogast, Heidrun / Rothfuss-Bastian, Dorothee (Hg.): Übersetzung – Translation – Traduction. Neue Forschungsfragen in der Diskussion. Tübingen: Gunter Narr 2004.
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Für Schleiermacher ist die erste Methode zu empfehlen; Goethe, der sich 1819 in den Noten und Abhandlungen des West-östlichen Divans über die Übersetzung äußert, stimmt zu und konstatiert eine zeitliche Unterscheidung zwischen drei Typen – für Goethe gehört Luthers Übersetzung zur ersten Art: „Es gibt dreierlei Arten Übersetzung. Die erste macht uns in unserm eigenen Sinne mit dem Auslande bekannt; eine schlicht-prosaische ist hiezu die beste. […] Eine zweite Epoche folgt hierauf, wo man sich in die Zustände des Auslandes zwar zu versetzen, aber eigentlich nur fremden Sinn sich anzueignen und mit eignem Sinne wieder darzustellen bemüht ist. […] Weil man aber weder im Vollkommenen noch Unvollkommenen lange verharren kann, sondern eine Umwandlung nach der andern immerhin erfolgen muß, so erlebten wir den dritten Zeitraum, welcher der höchste und letzte zu nennen ist, derjenige nämlich, wo man die Übersetzung dem Original identisch machen möchte, so daß eins nicht anstatt des andern, sondern an der Stelle des andern gelten solle.“18
Goethes Meinung nach gehört die Übersetzungsmethodik der Franzosen zur zweiten Art. Wie Lawrence Venuti gezeigt hat19, kann diese mit jener der Engländer verglichen werden: Obwohl eine nähere Untersuchung individueller Übersetzung Nuancen zum Vorschein bringt, darf man die Übersetzung in Frankreich, England und später in den Vereinigten Staaten als weithin zielorientiert und sogar, wie es am Ende des 20. Jahrhunderts Antoine Berman ausdrückt, als ethnozentrisch betrachten.20 Da das Ziel dieser „zweiten Epoche“ ist, dass sich die Übersetzung wie ein Original in ihrer Sprache und Kultur lesen lässt, soll der Übersetzer den fremden Text an die Zielsprache und -kultur anpassen. Die pragmatischen Ergebnisse dieser Methodik – die allerdings keine Methodik ist, sondern eher die Konsequenz einer zum Teil unausgesprochenen Weltanschauung – sind extrem unterschiedlich: Wie Michael Schreiber feststellt, ist nach dem 19. Jahrhundert „kulturelle Einbürgerung nach Art der belles infidèles21 die Ausnahme; die Anpassung bezieht sich meist nur auf sprachlich-stilistische Normen“.22 Hier kann man etwa die ersten Übersetzungen Dostojewskis erwähnen, in denen Wiederholungen und die Stilebene korrigiert wurden. Das Hauptkonzept der Übersetzungstheorie in Frankreich war im 17. und 18. Jahrhundert – und ist es zum Teil bis heute – „le génie des langues“, der Genius der Sprache.23 Der Geist der Sprache ist die Art und Weise, wie eine Sprache die moralischen Merkmale des Volkes widerspiegelt, das sie spricht; wenn man dieses 18 19 20 21 22 23
Goethe, Johann Wolfgang: West-östlicher Divan [1819]. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 2. Gedichte und Epen II, textkritisch durchgesehen und kommentiert von Erich Trunz. 17. Aufl. München: C. H. Beck 2005, S. 255–256. Vgl. Venuti, Invisibility. Vgl. Berman, Antoine: La traduction et la lettre ou l’auberge du lointain. Paris: Seuil 1999. Vgl. Zuber, Roger: Les „belles infidèles“ et la formation du goût classique. Paris: Albin Michel 1995. „Les belles infidèles“ (wörtlich: „die schönen Untreuen“) sind Übersetzungen, die nach stilistischer Schönheit streben auf Kosten der wortwörtlichen Genauigkeit. Schreiber, Michael: Grundlagen der Übersetzungswissenschaft – Französisch, Italienisch, Spanisch. 2. Aufl. Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2017, S. 16. Vgl. Tran-Gervat, Yen-Maï (Hg.): Traduire en français à l’âge classique. Génie national et génie des langues. Paris: Presses de la Sorbonne nouvelle 2012; Placial, Claire: Le génie des langues, notions poétique ou politique?, in: Lombez (Hg.), Traducteurs.
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Konzept der Übersetzung anwendet, muss in der französischen Auffassung des „génie“ der Ausgangstext sich in den Sprachstrukturen, aber auch in den Denkweisen der Zielsprache und -kultur anpassen. Der Einfluss dieser Vorstellung lässt sich auch außerhalb Frankreichs feststellen: „Die italienische Übersetzungstheorie war im 18. Jahrhundert stark von der französischen Aufklärung beeinflusst. Von dort wurde der Schlüsselbegriff des génie übernommen. Dieser wurde sowohl auf Sprachen angewandt als auch auf Autoren.“24 In der deutschen Philosophie liest man z. B. bei Herder: „Der Genius der Sprache ist also auch der Genius der Literatur einer Nation.“25 Damit meint Herder hauptsächlich, dass die Sprache sich in der Zeit entwickelt: sie „keimt, trägt Knospen, blüht und verblüht“; daher ist der Zustand der nationalen Literaturen von den Sprachen abhängig, weshalb sich auch einzelne „Nationen“ nacheinander der Versdichtung, Prosa und Philosophie widmen. Herders oben genannte Äußerung wird sehr häufig zitiert und öfters aus ihrem Zusammenhang gerissen und dazu genutzt, den intrinsischen Geist einer Nation als unveränderlich darzustellen. In der Nazi-Zeit wird daher auf Herder als Wegbereiter der völkische Bewegung verwiesen; die völkische Bewegung versteht aber Herder falsch, indem sie den Genius der Sprachen und der Völker als Ausdruck einer Hierarchie der Völker interpretiert. Der Einfluss der romantischen Übersetzungstheorie ist groß, sei es auf die französische Theorie des späten 20. Jahrhunderts, die wir später besprechen wollen, sei es auf die Schriften Martin Bubers, Franz Rosenzweigs und Walter Benjamins.26 In Die Schrift und ihre Verdeutschung erklären Buber und Rosenzweig, dass sie mehr auf die wörtliche Struktur des Ausgangstextes achten als auf den Sinn oder die Aussage des Textes, die für sie von der wörtlichen Textformulierung nicht getrennt werden kann.27 Bis zu Hitlers Machtübernahme haben die deutschen Übersetzer und Denker also allerlei Betrachtungen produziert, die der englischsprachigen und französischsprachigen Theorie und Praxis der Übersetzung wie auch der Auffassung der NSDAP entgegenstehen. Kate Sturge schreibt: „Importantly for the issue of translation, literature was seen as growing organically from the soil, determined by the blood relationship of writer with reader and always nationally specific: never mixed, international or universal in its origin or aim.“28 Nicht nur wurde in der Nazi-Zeit die Veröffentlichung von Übersetzungen fremdsprachiger Bücher streng zensiert, und Bücher aus den alliierten Ländern 24 25 26 27 28
Schreiber, Grundlagen, S. 31. Herder, Johann Gottfried: Über die neuere Deutsche Litteratur (1767), in: Herders Sämtliche Werke, hg. von Bernhard Suphan, 33 Bände. Berlin: Weidmannsche Buchhandlung 1877– 1913, Bd. IX, Fragmente, S. 147. Vgl. u. a. „Martin Buber und Franz Rosenzweig“, in: Weissbort/Eysteinsson (Hg.), Translation, S. 310 f. Buber, Martin / Rosenzweig, Franz: Die Schrift und ihre Verdeutschung. Berlin: Schocken 1936, S. 125–167. Sturge, Kate: Ideology and translation in Germany, 1933–1945, in: Kittel u. a. (Hg.): Übersetzung, S. 1769.
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nach Kriegsausbruch ganz und gar verboten: die Übersetzung an und für sich wurde daraufhin verdächtig: „For example, translation is sometimes portrayed as a form of smuggling (e. g. Der Buchhändler im neuen Reich 1939, 209) or as infiltration, a wolf in sheep’s clothing (e. g. Die Neue Literatur 1937, 208). Even more common is the image of translation as a flood threatening to wash away the recipient culture’s value.“29 Immerhin sieht man bei diesem extremen Beispiel, dass das kollektive Ideengut der Übersetzung von politischen Auffassungen nicht unabhängig ist: Die Übersetzungstheorie erfordert eine zum Teil implizite Herausforderung mit dem Fremden, mit dem Konzept der Nation und mit der Verbindung zwischen Sprache und Volk. Bis 1945 hatte man also über die Übersetzungstheorie viel geschrieben. Ob die tatsächlichen Translate diesen Theorien entsprechen, vor allem dem Unterschied zwischen der deutschen und der französischen und englischen Theorie, bleibt offen. Es ist auch zu beachten, dass die theoretischen Texte sich auf die Übersetzung der Belletristik fokussierten, im Gegensatz zur Nachkriegszeit, in der sich die Translationswissenschaft im eigenen Sinne entfaltete. 3. NEUERE ENTWICKLUNGEN DER TRANSLATIONSTHEORIE In der Nachkriegszeit verwandeln sich nicht nur die Translationstheorie, sondern auch die Bedingungen der Übersetzung selbst. Michael Schreiber hält fest: „Nun zu einigen didaktischen und berufspraktischen Aspekten: Der steigende Bedarf an Übersetzer und Dolmetscher nach dem Zweiten Weltkrieg führte zur Einrichtung von universitären Instituten für die Übersetzer- und Dolmetscherausbildung.“30 Das Aufblühen solcher Institute war in mehreren Ländern Europas und Amerikas festzustellen und hatte einen großen Einfluss auf die Entwicklung der Translationstheorie. Man darf darüber aber nicht vergessen, dass nicht alle Übersetzer solche Studiengänge absolviert haben – zahlreiche Übersetzer sind Akademiker, die sich mit Literatur beschäftigen, andere sind Autodidakten – und dass Theoretiker zum Teil Philosophen, Historiker oder Literaten sind. Jedenfalls kann man feststellen, dass sich die Publikation theoretischer Beiträge über die Übersetzung in einem allmählich unabhängigen Rahmen fassen lässt: „It has often been said that it is not until the 1960s that translation studies becomes a discipline in its own right. While it may be hard to draw any firm lines in this regard, and while many of the key statements in the field pre-date the 1960s, even by centuries, it is true that certain book-length studies appeared in the sixties that helped define the scope of a separate field of scholarly study.“31 Die Translationstheorie im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts erweist sich zugleich als stärker spezialisiert als zuvor und gestaltet sich epistemologisch sehr un29 30 31
Ebd. Schreiber, Grundlagen, S. 16. Weissbort/Eysteinsson (Hg.), Translation, S. 393.
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terschiedlich. In den 1960er und noch in den 1970er Jahren wird die Translationswissenschaft weitaus überwiegend noch als eine Abteilung der Linguistik konzipiert. Der Akzent wird auf die Kommunikation einer Botschaft gelegt: Es handelt sich für den Übersetzer darum, die Botschaft des Senders zu entziffern und sie in die Zielsprache umzucodieren. Die pragmatischen Folgen der linguistischen Translationstheorie sind unterschiedlich, aber generell eher zielorientiert. Für Roman Jakobson ist die eigentliche Übersetzung eine von drei Typen – intralingual, interlingual und intersemiotic translation –, die sich mit verschiedenen Methoden auf die Wiedergabe einer Botschaft konzentrieren.32 Eugene Nida ist ein Linguist und Bibelwissenschaftler, dessen Buch Toward a Science of Translating33 ein Eckpfeiler einer unabhängigen Translationswissenschaft ist, obwohl es zur angewandten Sprachwissenschaft gehört, da sich Nidas Theorie der funktional-äquivalenten Übersetzung auf die Bibelübersetzung stützt. In der DDR war Otto Kade derjenige, der vorschlug, sein Fach „Translationswissenschaften“ zu nennen; die Leipziger Schule, deren prominenter Vertreter er ist, zielt ebenfalls auf eine „Äquivalenzlehre“ ab, die auf dem Vergleich der Sprachsysteme beruht. Die Leipziger Schule hat jedenfalls einen großen Einfluss auf die Entstehung der deutschen Fachbegriffe der Übersetzung gehabt. In Frankreich kann man Georges Mounin erwähnen, dessen Les Problèmes théoriques de la traduction34 auch zur Linguistik zu rechnen ist. Die aus der Linguistik stammende Translationstheorie hat eine Tendenz zur Einbürgerung, d. h. sie vermeidet Übersetzungen, die einen Verfremdungseffekt haben könnten, und wird von mehreren Seiten stark kritisiert: zum Teil, weil sie zur Vernachlässigung der Gattung und des Stils des Ausgangstexts führt, zum Teil auch, weil sie den sozialen und historischen Zusammenhang des Autors sowie des Übersetzers kaum wahrnimmt: „Die ‚Abnabelung‘ von der Linguistik fand dann in den achtziger Jahre statt, besonders dezidiert im Rahmen der Skopostheorie, die nicht nur den Übersetzungszweck (Skopos) in das Zentrum des Interesses rückte, sondern auch betonte, dass Übersetzen und Dolmetschen nicht nur ein sprachlicher, sondern immer auch ein kultureller Transfer sei.“35 Die in der BRD von Katharina Reiss und Hans Vermeer begründete Skopostheorie konzentriert sich auf den Zweck nicht nur des Ausgangstextes, sondern auch der Übersetzung und deren Wirkung auf den Empfänger. Außerdem unterscheidet Katharina Reiss drei Texttypen: den informativen Texttyp, den expressiver Texttyp (der die Literatur umfasst) und den operativen Texttyp36 (der u. a. die Predigt und die Propaganda umfasst): „Bei der Übersetzung von Texten des operativen Texttyps steht die Verhaltensorientierung im Vordergrund, d. h. es wird die Wiedergabe des 32 33 34 35 36
Vgl. Jakobson, Roman: On Linguistic Aspects of Translation, in: Brower, Reuben A. (Hg.): On Translation. Cambridge: Harvard University Press 1959. Nida, Eugene: Toward a Science of Translating. Leiden: Brill 1964. Mounin, Georges: Les Problèmes théoriques de la traduction. Paris: Gallimard 1963. Schreiber, Grundlagen, S. 42. Vgl. Reiss, Katharina: Texttyp und Übersetzungsmethode. Der operative Text. Kronberg: Scriptor Verlag 1976; Busch-Lauer, Ines-A.: Textwissenschaftliche Grundlagen und übersetzungsrelevante Texttypologie, in: Kittel u. a. (Hg.): Übersetzung, S. 607–618.
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textimmanenten Appells angestrebt, so dass eine ‚adaptierende‘ Übersetzungsmethode erforderlich ist.“37 Bei dem Beispiel der Übersetzungen des Buches Mein Kampf, das dieser Typologie nach zum operativen Texttyp gehört, kann man doch feststellen, dass nicht nur der Texttyp, sondern auch der Zweck der Übersetzung wahrgenommen werden soll: Das Buch wird unterschiedlich übersetzt, je nach dem Ziel des Übersetzers und des Herausgebers, Hitlers Ideen zu verbreiten oder im Gegenteil die Entstehung und Hitlers Diskurs kritisch zu analysieren. Im letzteren Fall kann man vermuten, dass wörtlichere Übersetzungen produziert werden, die großen Wert auf die Syntax und die Wortwahl legen. Über den „cultural turn“ innerhalb der Übersetzungstheorie und insbesondere der Skopostheorie schreibt Mary Snell-Hornby: „What all the new approaches have in common is the emphasis on translation, not as a mere ‚linguistic operation‘, but as a ‚cultural transfer‘ depending, not on the surface structure of a ‚sacred‘ source text, but on the function of the translation in the target culture. This ‚dethroning‘ of the source text in favour of the ‚target text function‘ was to be one of the most hotly debated issues among the various schools developing in the new discipline.“38 Im Gegensatz zur Skopostheorie, deren Ziel didaktisch und präskriptiv ist, ist Itamar Even-Zohars „polysystem theory“ ebenfalls kulturorientiert und eher deskriptiv.39 Der israelische Kulturwissenschaftler untersucht Ende der 1970er Jahre übersetzte Texte und Texte insgesamt als Teile eines weiteren, komplexeren soziologischen und kulturellen Systems: Die Übersetzungsstrategie hängt davon ab, ob die Übersetzung eine überragende oder subalterne Stellung hat. Für Even-Zohar liegen Übersetzungen generell in einer untergeordneten Stellung und bilden ein Nebensystem innerhalb des Polysystems. Doch liegen sie in einer beherrschenden Stellung, wenn eine „junge“ Literatur ältere literarische Modelle massiv importiert, wenn eine periphere Literatur bzw. Sprache Texte aus einer bedeutenderen Literatur bzw. Sprache importiert und wenn kanonische Modelle veraltet sind. Obwohl sie die Arbeit der Übersetzer bestimmt nur wenig beeinflusst hat, hat die „polysystem theory“ einen bedeutenden Einfluss auf die Translationswissenschaft gehabt: Sie ist weniger präskriptiv, indem sie eher retrospektiv wirkt und es fördert, Übersetzungen der Vergangenheit durch die Untersuchung ihrer politischen, ökonomischen und ideologischen Kontexte zu analysieren. Gewissermaßen ist die vorliegende Publikation eine Anwendung der „polysystem theory“. In den 1980er und 1990er Jahren entwickelte sich eine neue Tendenz in der Translationstheorie, die die ethischen Grundlagen der Übersetzung mehr berücksichtigt und sich zugleich vermehrt mit der Geschichte der Übersetzung und der Übersetzungstheorie beschäftigt. Die Art und Weise, wie man übersetzt und wie man die Übersetzung beschreibt, gilt als Barometer der Beziehung zu dem Fremden. Der Titel des ersten Buches des Franzosen Antoine Berman dazu lautet: 37 38 39
Busch-Lauer, Grundlagen, S. 611. Snell-Hornby, Mary: Translation in Europe through the decades, in: Zybatow, Lew N. (Hg.): Translation zwischen Theorie und Praxis. Frankfurt a. M.: Peter Lang 2002, S. 3. Even-Zohar, Itamar: The Position of Translated Literature within the Literary Polysystem, in: Holmes, James S. u. a. (Hg.): Literature and translation. Leuven: Acco 1978.
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L’Epreuve de l’étranger. Culture et traduction dans l’Allemagne romantique.40 Er zeigt auf, wie u. a. Schleiermacher, Humboldt und Hölderlin die Übersetzung bewusst im Gegensatz zur französischen einbürgernden Übersetzungsweise theoretisieren. Die Figur des Fremden und die des Empfangs des Fremden sind bei Berman zentral, wie sich im Titel des Buches La traduction et la lettre ou l’auberge du lointain41 zeigt. Während L’Epreuve de l’étranger eher historisch und deskriptiv ist, entwickelt Berman in seinen späteren Büchern zugleich eine Übersetzungsmethodik, die sich auf die höchstmögliche Worttreue stützt (dabei allerdings eher literarische Texte im Blick hat), und eine Philosophie der Übersetzung, die die Andersartigkeit des fremden Autors und der fremden Sprache und Kultur achtet und hervorhebt. Eine ähnliche Stellung bezieht der amerikanische Übersetzer und Theoretiker Lawrence Venuti, dessen erstes Buch ein bedeutendes Echo fand. In The Translor’s Invisibility. A History of Translation42 kritisiert er die für ihn langfristige, in der englischen Sprache zentrale Tendenz zur Einbürgerung, die dazu führt, dass die Übersetzung „the illusion of transparency“ aufrechterhält und dass die Rolle des Übersetzers unsichtbar wird. Venutis Einfluss auf die Terminologie der Translationswissenschaft war nicht gering, indem er auf Englisch die Wörter „domestication“ (Einbürgerung) und „foreignization“ (Verfremden) verbreitete, die er übrigens aus Schleiermachers Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens ableitete. Der Einfluss dieser ethisch-philosophischen Übersetzungstheorie auf heutige Übersetzer und Theoretiker ist sehr unterschiedlich, beschränkt sich allerdings bei eigentlichen Übersetzungen auf literarische und philosophische Texte. Die Übersetzer achten dann besonders auf die Syntax des Ausgangstexts, auf die Verschmelzung der Sprachebenen und der Dialekte, auf für den Autor typische Redensarten: Es wird eher der Diskurs des Autors betont, statt eine Äquivalenz für die Aussage des Textes zu suchen. Stark wirkte diese Übersetzungsmethodik auf die „postcolonial studies“ und besonders auf die Theorie der Übersetzung im postkolonialen Kontext, denn sie erlaubt, die Diskrepanz zwischen mehrheitlichen und minderheitlichen Sprachen bzw. Kulturen wahrzunehmen. Die postkoloniale Übersetzungstheorie entfaltete sich in den 1990er Jahren auf der Basis einer Kritik der Kräfteverhältnisse zwischen Ex-Kolonisierten und ExKolonisatoren. Gayatri Spivak schreibt zum Beispiel: „In the act of wholesale translation into English there can be a betrayal of the democratic ideal into the law of the strongest. This happens when all the literature of the Third World gets translated into a sort of with-it translatese, so that the literature by a woman in Palestine begins to resemble, in the feel of its prose, something by a man in Taiwan.“43 40 41 42 43
Berman, Antoine: L’Epreuve de l’étranger. Culture et traduction dans l’Allemagne romantique. Paris: Gallimard 1985. Berman, Antoine: La traduction et la lettre ou l’auberge du lointain. Paris: Seuil 1999. Das Buch erschien nach dem Tode des Autors, der 1991 an Krebs starb. Venuti, Lawrence: The Translator’s Invisibility. A History of Translation. London/New York: Routledge 1995. Spivak, Gayatri: The politics of translation, in: Venuti, Lawrence: The Translation Studies Reader. London/New York: Routledge 2004. S. 371.
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Tejaswini Niranjana44 geht noch weiter, indem sie die Translationswissenschaft als west-orientiert kritisiert. Ihr Ansatz ist wie auch bei Spivak höchst multidisziplinär und beruht auf Gender Studies und Dekonstruktion. Die postkoloniale Übersetzungstheorie ist vielleicht für die vorliegende Publikation wenig relevant, doch man kann sich die Frage stellen, inwiefern die Kräfteverhältnisse zwischen Sprachen und Kulturen die Übersetzung des Buches Mein Kampf beeinflussen: Ist die Übersetzungsmethodik anders, wenn das Buch ins Französische und Englische oder ins Türkische übersetzt wird? Tatsächlich wurde Mein Kampf in wesentlich mehr Sprachen übersetzt, als in diesem Band präsentiert.45 Es fällt schwer, die Geschichte der Übersetzungstheorie zusammenzufassen: Man möge im Gedächtnis behalten, dass die Translationswissenschaft an der Kreuzung mehrerer Disziplinen steht (Sprachwissenschaft, Philosophie, Soziologie, Cultural Studies, Postcolonial Studies usw.), die jeweils unterschiedlich wiegen, je nachdem, welchen epistemologischen Hintergrund die Autoren haben, je nachdem, ob das Ziel der Theorie deskriptiv oder präskriptiv ist, je nachdem, ob es sich um literarische, wissenschaftliche oder pragmatische Texte handelt. Ob die Theorie eine tatsächliche Wirksamkeit auf die Praxis ausübt, bleibt auch offen, umso mehr als Berufsübersetzer, die keine systematische und professionale Ausbildung in Translationswissenschaft haben, sich öfters der Theorie verweigern. Man soll also von diesem Beitrag nicht erwarten, dass er die Ursachen der Übersetzungen darstellt, die in diesem Buch beschrieben werden. Die Geschichte der Theorie entspricht nicht unbedingt der Geschichte der Praxis, umso mehr im gegenwärtigen Fall, da Mein Kampf außerhalb der Normen steht. Was die Geschichte der Übersetzung des Buches Mein Kampf betrifft, kann man vermuten, dass die von geschichtlichen und politischen Faktoren überbestimmte Rezeption die Übersetzungsmethodik beeinflusst haben. Man sollte zum Beispiel Bermans und Venutis Ethik anders verstehen, wenn es sich um Texte Hitlers handelt, als wenn literarische oder philosophische Texte übersetzt werden, deren Andersartigkeit geachtet werden soll, damit das Publikum lernt, sich dezentrieren zu lassen, um das Fremde kennenzulernen. Doch die Geschichte der Übersetzungen des Buches Mein Kampf ist ein interessanter Fall: Eben weil Mein Kampf einen geschichtlichen und politischen Ausnahmefall verkörpert, werden die Übersetzungen des Buches genauer abgesucht und geprüft, während die Übersetzer, vor allem in der Gegenwart, gezwungen sind, die Prinzipen ihrer Arbeit genauer und explizit zu reflektieren und sie in Paratexten deutlich vorzustellen. Die Übersetzung fungiert als ein Abstandsmittel zum Text Hitlers, indem eben nicht von der Übersetzung erwartet wird, dass sie denselben Zweck wie der Ausgangstext erreicht.
44 45
Niranjana, Tejaswini: Siting translation. History, Post-Structuralism and the Colonial Context. Berkeley: University Press 1992. Vgl. Einleitung, S. 9.
TEIL 2 – HISTORISCHE ÜBERSETZUNGEN
SPRACHLICHE UND DISKURSIVE TENDENZEN EINER ELIMINATORISCHEN NARRATION Historische englische Übersetzungen von Mein Kampf Stefan Baumgarten 1. DIE ÜBERSETZUNG EINES GENOZIDAL MOTIVIERTEN TEXTES Übersetzungen werden in der Regel dann angefertigt, wenn ein Text als wichtig für eine andere Kultur erscheint. Die erste übersetzerische Entscheidung ist also die Auswahl eines Textes zum Zwecke der Übersetzung. Mein Kampf wurde auf internationaler Ebene erst im Zuge der Machtübernahme im Januar 1933 als zentraler kanonischer Text der nationalsozialistischen Ideologie wahrgenommen.1 Die internationale Rezeption entwickelte sich im Spannungsfeld von öffentlichem und politischem Diskurs und war insbesondere im angelsächsischen Raum zum großen Teil tagespolitischen Ereignissen unterworfen. Die stark polarisierte und somit emotionalisierte Wahrnehmung von Autor und Werk spiegelte sich entscheidend in den englischen Übersetzungen der 1930er Jahre wider. Dieser Beitrag präsentiert die englischen Übersetzungen der 1930er und frühen 1940er Jahre mit einem besonderen Augenmerk auf ideologisch und politisch motivierte Übersetzungsentscheidungen. Die Kunst und das Handwerk des Übersetzens umfassen eine Vielzahl an Entscheidungsprozessen, die sich nicht nur auf die eigentliche Textebene auswirken. In den allerwenigsten Fällen, insbesondere wenn es sich um politische Publikationen handelt, können allein die Übersetzer für ihre Entscheidungen verantwortlich gemacht werden. Nicht selten haben Verlagsleiter und Redakteure, und bei einem politisch hochbrisanten Text wie Mein Kampf auch ins politische Geschehen eingebundene Akteure, einen Einfluss auf die in Umlauf gebrachte Endfassung einer Übersetzung. Zudem stehen übersetzerische Entscheidungsprozesse in einem engen Zusammenhang mit der jeweils antizipierten Leserschaft. Kurzum, bei der Analyse verschiedener Übersetzungen des Ausgangstextes Mein Kampf sehen wir uns mit einem komplexen Handlungsgefüge konfrontiert, bestehend aus interdependenten Netzwerken von privaten, öffentlichen und politischen Akteuren. Eine historischdiskursive Untersuchung sollte also die Handlungskette der übersetzerischen Entscheidungen und die sich hieraus ergebenden Kausalzusammenhänge genauestens betrachten: Wann wurde eine Übersetzung produziert? Warum wurde sie benötigt? Wie wird der Text dem Leser präsentiert? Wieviel ist übersetzt worden? Wie ist der 1
Vgl. Kellerhof, Sven-Felix: „Mein Kampf“. Die Karriere eines deutschen Buches. Stuttgart: Klett-Cotta 2015, S. 263.
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Text strukturiert? Wie ist der Text sprachlich gestaltet? Gibt es Abweichungen? Wenn ja, welche? Für die übersetzungshistorische Forschung ist es zudem von Bedeutung, die ideologischen Haltungen und Handlungsspielräume der jeweils beteiligten Personen und Gruppen auszuloten und zu durchleuchten, um somit Rückschlüsse auf die Beweggründe bestimmter übersetzerischer Entscheidungen zu erhalten.2 Verbindliche Schlussfolgerungen lassen sich bei der historischen Forschung jedoch selten aufstellen, weshalb man über die wahren Beweggründe bestimmter Übersetzungsentscheidungen meist nur spekulieren kann. Gleichwohl sind die verschiedenen englischen Übersetzungen von Mein Kampf eine wahre Fundgrube für die diskursanalytische Forschung, kann man doch anhand aufeinander rekurrierender Textund Kontextebenen beobachten, wie ein Ausgangstext zu verschiedenen Zwecken gebraucht oder missbraucht wurde. Ich verwende hier ganz bewusst den unbestimmten Artikel, denn die ideologische Ausrichtung einer jeden Übersetzung von Hitlers Mein Kampf hängt ganz entscheidend davon ab, welche deutsche Ausgabe für die Übersetzungsarbeit zugrunde gelegt wurde. Vor dem Hintergrund der erhitzten politischen Lage und der sich dramatisch verschlechternden diplomatischen Beziehungen bis zum Ende der 1930er Jahre können wir also davon ausgehen, dass sowohl der Autor des Ausgangstextes als auch die Leser der englischsprachigen Zieltexte bewusst politisch positioniert wurden, was auf eine ideologische Rekontextualisierung des Buches Mein Kampf im angelsächsischen Raum hindeutet. Dieser Beitrag befasst sich mit den sprachlichen Tendenzen und ideologischen Implikationen übersetzerischer Entscheidungen. Während der 1930er und 1940er Jahre entstanden drei unterschiedliche Übersetzungstypen: auszugsweise angefertigte (AÜ), gekürzte (GÜ) und komplette (KÜ) Übersetzungen. Im Folgenden werden Übersetzungsbeispiele aufgezeigt, welche die ideologische und politische Motiviertheit vieler Übersetzungsentscheidungen belegen. Die rechtlich-wirtschaftlichen und politisch-ideologischen Umstände der Übersetzungen sowie die angloamerikanische Rezeption werden nur unterstützend skizziert, denn zu diesem Thema existiert schon einiges an Forschungsliteratur.3 Überdies gibt es eine Viel2 3
Vgl. zur Geschichte der Translationstheorie den Beitrag von Claire Placial in diesem Band. Vgl. Barnes, James J. / Barnes, Patience P.: Hitler’s Mein Kampf in Britain and America – A publishing History 1930–39. Cambridge: Cambridge University Press 1980; Barnes, James J. / Barnes, Patience P.: James Vincent Murphy – Translator and Interpreter of Fascist Europe 1880–1946. New York: University Press of America 1987; Lankiewicz, Donald: Mein Kampf in America. How Hitler came to be published in the United States, in: La Moy, William T. (Hg.): Printing History New Series 20 (2016), S. 3–28; Worthington, Jay: Mein Royalties, in: Cabinet Magazine 10 (Spring 2003), cabinetmagazine.org/issues/10/mein_royalties.php (Zugriff am 24.11.2018); Clemens, Detlev: Herr Hitler in Germany. Wahrnehmung und Deutungen des Nationalsozialismus in Großbritannien 1920 bis 1939. Göttingen/Zürich: Vandenhoeck & Ruprecht 1996; Plöckinger, Othmar: Geschichte eines Buches. Adolf Hitlers „Mein Kampf“. München: R. Oldenbourg Verlag 2006, S. 461–512; Baumgarten, Stefan: Translation as an Ideological Interface. English Translations of Hitler’s „Mein Kampf“. Saarbrücken: VDMVerlag 2010 (Kapitel 3 und 4).
Sprachliche und diskursive Tendenzen einer eliminatorischen Narration
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zahl an Studien zum nationalsozialistischen Sprachgebrauch, zur Rhetorik und Metaphernkonstruktion, welche auch in die folgenden Erwägungen mit einfließen.4 Abgerundet wird die Diskussion mit einem Ausblick auf eine eventuell neu zu erstellende Übersetzung ins Englische, welche in ähnlicher Form wie die neue kritische deutsche Ausgabe angefertigt werden könnte.5 Von entscheidender Bedeutung ist hierbei die Frage, in welchem Maße die eliminatorisch motivierte Grundhaltung von Mein Kampf bei zukünftigen Übersetzungen berücksichtigt werden sollte.6 2. ENGLISCHE ÜBERSETZUNGEN, CA. 1933 BIS 1943 Gegenstand der folgenden Ausführungen sind elf historische Übersetzungen ins Englische. Die Genese, Entstehung und Verbreitung der einzelnen Übersetzungen sind engstens mit den jeweiligen ideologischen und politischen Zusammenhängen verknüpft. Es ist eine weit bekannte Tatsache, dass bis 1939 nur eine vom Eher Verlag autorisierte und um zwei Drittel gekürzte Fassung auf dem britischen und nordamerikanischen Markt kursierte.7 Um die Informationslücke bezüglich der ausgelassenen Stellen zu füllen, entstanden zwischen 1933 und 1937 einige unautorisierte Übersetzungen von Auszügen in Großbritannien. Eine direkte Bedrohung durch die nationalsozialistische Außenpolitik war in Nordamerika weniger konkret spürbar, weshalb dort wohl erst in den Jahren 1938 und 1939 vier unautorisierte Übersetzungen erschienen, eine auszugsweise angefertigte Übersetzung, eine gekürzte Übersetzung und zwei Komplettübersetzungen. Die letzte historische Komplettübersetzung folgte dann im Jahr 1943, sie wird weiterhin international vertrieben. Die Übersetzungshistorie von Mein Kampf im englischen Sprachraum begann eigentlich schon in den späten 1920er Jahren, jedoch waren erste Versuche des Eher Verlags, geeignete Rechteabnehmer zu finden, wenig erfolgreich.8 In den Jahren 4
5 6 7 8
Vgl. zur Sprache in Hitlers Mein Kampf den Beitrag von Helmuth Kiesel in diesem Band. Weiters: Winckler, Lutz: Studie zur gesellschaftlichen Funktion faschistischer Sprache. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1970; Ehlich, Konrad (Hg.): Sprache im Faschismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989; Chilton, Paul: Manipulation, Memes and Metaphors. The Case of Mein Kampf, in: L. de Saussure (Hg.): New Perspectives on Manipulative and Ideological Discourse in Pragmatics and Discourse Analysis. Amsterdam und Philadelphia: John Benjamins 2005, S. 15–43; Rash, Felicity: The Language of Violence: Adolf Hitler’s Mein Kampf. New York: Peter Lang 2006; Musolff, Andreas: What role do metaphors play in racial prejudice? The function of antisemitic imagery in Hitler’s Mein Kampf, in: Patterns of Prejudice 41/1 (2007), S. 21–43; Baumgarten, Translation (Kapitel 5 bis 7). Vgl. Hartmann, Christian u. a.: Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition. 2 Bde. München und Berlin: Institut für Zeitgeschichte 2016. Vgl. Gregor, Neil: How to Read Hitler. London: Granta Books 2005; Kallis, Aristotle: Genocide and Fascism. The Eliminationist Drive in Fascist Europe. New York: Routledge 2009. Zur Rezeption in Indien vgl. Plöckinger, Othmar: Zur internationalen Rezeption von „Mein Kampf“ vor 1945, in: Totalitarismus und Demokratie 13 (2016), S. 11–44. Vgl. ebd., S. 12.
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vor der Machtergreifung, zumindest bis zur ersten für die Nazis erfolgreichen Reichstagswahl 1930, zeigten die internationale Politik und Publizistik eher wenig Interesse an dem zum Führer einer politischen Bewegung emporgestiegenen Gefreiten. Nichtsdestotrotz schloss der Eher Verlag schon im Jahr 1928 einen Vertrag mit der britischen Literaturagentur Curtis Brown. Die Übersetzungshistorie, besonders in Bezug auf Urheberrechte, Verlagsrechte und die Entstehung einzelner Texte, ist kompliziert und unübersichtlich.9 Es existieren nur zwei von den Nationalsozialisten autorisierte Übersetzungen, die gekürzte Fassung von 1933, die zeitgleich in Großbritannien und den USA erschien, und eine während der 1930er Jahre vom Propagandaministerium beaufsichtigte Komplettfassung. Auch gibt es gelegentlich Hinweise auf weitere Übersetzungen, deren genaue Identität jedoch nicht eindeutig erschlossen ist. Hier sticht die sogenannte Stalag-Edition aus dem Jahr 1940 heraus. Sie basiert auf der im Propagandaministerium initiierten Version, die anscheinend vom Eher Verlag in Erwartung einer Eroberung Großbritanniens angedacht und wohl auch an britische Kriegsgefangene ausgehändigt worden war.10 Nach dem Kriegseintritt einzelner Nationen – z. B. von Großbritannien im September 1939 und den USA im Dezember 1941 – hatte die deutsche politische Führung dann den Anspruch auf Übersetzungsrechte verwirkt. Drei grundlegende Gesichtspunkte sind bei den historischen englischen Übersetzungen von Mein Kampf von entscheidender Bedeutung: Zum Ersten versuchten die Nationalsozialisten mit aller Macht, eine englische Komplettübersetzung zu verhindern, da insbesondere Großbritannien als wichtiger potentieller Bündnispartner galt und durch eventuell kompromittierende Aussagen nicht echauffiert werden sollte. Zweitens weckte das Vorhandensein einer stark zensierten und gekürzten Übersetzung zwischen 1933 und Frühjahr 1939 erhebliches politisches Misstrauen seitens ausländischer Beobachter und bewirkte somit eine unvollständige, widersprüchliche und fragmentierte Rezeption des Buches im englischsprachigen Raum. Drittens verursachte die sich immer stärker aufheizende politische Großwetterlage bis zum Ausbruch des Krieges publizistische, diplomatische und politische Verwerfungen, die sich auf die Entstehung und Gestaltung verschiedenster Übersetzungen auswirkten. Im Zusammenhang mit den drei Hauptgesichtspunkten der angloamerikanischen Übersetzungshistorie lassen sich zwei ideologische Grundtypen unterscheiden: konforme und resistente Übersetzungen (siehe Tabelle).
9 10
Vgl. Smith, Sarah: The Kampf About „Mein Kampf“. Boston University Law Review 19 (1939), S. 633–643; Kellerhof, Kampf, S. 274–276; Lankiewicz, Mein Kampf; Barnes/Barnes, Hitler’s Mein Kampf. Stalag bezeichnet den Begriff „Stammlager“, hier im Kontext von Kriegsgefangenenlagern; vgl. Anonymous: My Struggle (Stalag Ausgabe). München: Zentralverlag der NSDAP, 1937– 1944; Barnes, James J. / Barnes, Patience P. / Carey, Arthur E.: An English Translation of Hitler’s „Mein Kampf“ Printed in Germany, ca. 1940, in: The Papers of the Bibliographical Society of America 80 (1986), S. 374–377.
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Tabelle: Englische Übersetzungen von Mein Kampf, 1933–1943 Ü-Typ
Titel
Jahr
Verlag und Ort
Übersetzer
Ideologisch konforme Übersetzungen GÜ KÜ
My Battle
11.10.1933
Houghton Mifflin, Boston
E. T. S. Dugdale
My Struggle
13.10.1933
Hurst & Blackett, London
E. T. S. Dugdale
Mein Kampf
20.3.1939
Hurst & Blackett, Berlin/ London
James Murphy
My Struggle
1937–1944?
Zentralverlag der NSDAP, Franz Eher Nachf. GmbH, Berlin? (Stalag-Ausgabe)
James Murphy
Ideologisch resistente Übersetzungen AÜ
ohne Titel
Juli 1933
unveröffentlicht, London (28 einzelne DIN-A4 Seiten)
Leonard Stein (Initiator Chaim Weizmann)
AÜ
The racial conception of the world by Adolf Hitler
April 1936
Friends of Europe Publications, London (21 Seiten, DIN-A5)
Friends of Europe
AÜ
Mein Kampf
7.5.1936
unveröffentlicht, Berlin/ London (11 einzelne DIN-A4 Seiten)
Britische Botschaft Berlin
AÜ
Germany’s foreign policy as stated in Mein Kampf
Juni 1936
Friends of Europe Publications, London (21 Seiten, DIN-A5)
Rennie Smith (Initiator Katharine Atholl)
AÜ
Mein Kampf – an Unexpurgated Digest
Sommer 1939
Political Digest Press, New York (31 Seiten, DIN-A5)
B. D. Shaw
GÜ
Adolf Hitler’s own Book Mein Kampf (My Battle)
Sommer 1939
Noram, Greenwood
Alan Cranston
KÜ
Mein Kampf
28.2.1939
Stackpole, New York
Barrows Mussey
KÜ
Mein Kampf
28.2.1939
Reynal & Hitchcock, New York (basierend auf Leasingvertrag mit Houghton Mifflin)
Helmut Ripperger
KÜ
Mein Kampf
Oktober 1943
Houghton Mifflin, Boston
Ralph Manheim
Die jeweiligen Entstehungs- und Publikationszeiten sowie die ideologische Orientierung der handelnden Akteure spielten eine erhebliche Rolle bei der Gestaltung und Formulierung der englischsprachigen Zieltexte. Genauso entscheidend war, auf welcher Ausgabe des deutschen Ausgangstextes eine Übersetzung basierte, denn die verschiedenen deutschen Auflagen unterlagen einer Reihe von stilistischen Änderungen, auch wenn inhaltlich nur äußerst wenige Änderungen vorgenommen
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Stefan Baumgarten
worden waren.11 Einzig die amerikanische Ausgabe der konformen Übersetzung von E. T. S. Dugdale lässt durchblicken, dass sie sich auf die damals aktuelle deutsche Ausgabe stützt. Im Gegensatz dazu betonen die drei resistenten Komplettübersetzungen und auch eine von der britischen Botschaft in Berlin für das britische Foreign Office hergestellte Auszugsübersetzung explizit, dass sie auf der deutschen Erstausgabe basieren, was aufgrund der antagonistischen ideologischen Haltung der jeweiligen Hauptakteure nicht verwunderlich ist. Viele redaktionelle Änderungen im deutschen Text, zumeist zwischen den Jahren 1930 und 1939 vorgenommen, minderten die wüstesten Beschimpfungen und verbesserten die peinlichsten Stilblüten. Vor diesem Hintergrund liegt es natürlich nahe, dass feindlich gesinnte Übersetzungsakteure anhand der noch „unverbesserten“ Erstausgabe ihren Lesern ein ungeschöntes und vor allem „ungezähmtes“ Bild von Autor und Text zu vermitteln suchten. Politisch relevant ist auch die explizite Nennung der Übersetzer, welche nur in der konformen gekürzten amerikanischen Ausgabe, in der konformen Komplettübersetzung von Hurst & Blackett und in der letzten resistenten Übersetzung von 1943 Erwähnung finden. Die erste konforme Übersetzung von E. T. S. Dugdale, einem ehemaligen britischen Soldaten, der mit der Nichte des ehemaligen Premierministers Arthur James Balfour verheiratet war, entstand eigenverantwortlich vor der nationalsozialistischen Machtübernahme. Sein Text wurde nach einer ersten Begutachtung durch die Nazis ab dem Frühjahr 1933 zensiert, es wurden Kürzungen vorgenommen und sicherlich auch einige Textstellen „kosmetisch“ bearbeitet. Leider gibt es bisher noch keine Hinweise auf die Existenz eines Manuskripts, was eine genauere Untersuchung der durch die Nazis erwirkten Kürzungen, Veränderungen und Abschwächungen ermöglichen würde. Dugdales Übersetzung wurde zeitnah in Nordamerika am 11. Oktober 1933 und in Großbritannien am 13. Oktober erstveröffentlicht.12 Dies ist die allererste fremdsprachige Veröffentlichung von Mein Kampf, und sie diente auch als Grundlage für Übersetzungen in andere Sprachen.13 Die zweite konforme Übersetzung von James Murphy, einem irischen Publizisten mit Sympathien für die Nazis, entstand im Propagandaministerium etwa ab dem Jahr 1936. Sie wurde unautorisiert am 20. März 1939 von Hurst & Blackett in Großbritannien veröffentlicht, während die auf Murphys Text basierende mysteriöse Stalag-Edition autorisiert war und wohl nur eine sehr kleine Leserschaft fand.14 Die meisten englischen Übersetzungen lassen sich vor dem Hintergrund der facettenreichen publizistischen, diplomatischen und politischen Wahrnehmungsmuster als ideologisch resistent klassifizieren, denn sie wurden in der Regel von politischen Widersachern ins Leben gerufen. Diese Texte entstanden oft als direkte 11 12 13 14
Vgl. Hammer, Hermann: Die deutschen Ausgaben von Hitlers „Mein Kampf“, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 4 (1958), S. 161–178; Plöckinger, Geschichte, S. 192–195. Vgl. Publishers’ Weekly 4.3.1939, S. 971. Vgl. Plöckinger, Rezeption, S. 12–13. Ein kursorischer Vergleich mit der von Hurst & Blackett herausgegebenen Murphy-Übersetzung förderte erhebliche Unterschiede zutage, sowohl in den Kapitelüberschriften als auch im Fließtext. Eine digitalisierte Version ist online erhältlich: archive.org/details/MeinKampfTheStalag EditionTheOnlyCompleteAndOfficiallyAuthorisedEnglishTranslatio (Zugriff am 2.12.2018).
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Reaktion auf die gekürzte Übersetzung von Dugdale, sie wurden von den verschiedensten kulturell und politisch aktiven Personen und Institutionen initiiert und sie zeichnen sich meist aus durch kritische und feindselige Kommentare gegenüber Ausgangstext und Autor. In Großbritannien versuchten in den Jahren 1933 und 1936 der britisch-jüdische Politiker Chaim Weizmann und das Foreign Office mit auszugsweise angefertigten Übersetzungen Licht ins Dunkel der Auslassungen der Dugdale-Übersetzung zu bringen. Diese beiden resistenten Übersetzungen waren der Öffentlichkeit nicht zugänglich. Wer wollte, konnte sich jedoch durch eine ab 1933 einsetzende Flugschriftenserie der konservativen Organisation Friends of Europe über die Gefahren des Faschismus informieren. Mit mehr als 50 Veröffentlichungen während der 1930er Jahre, die zudem häufig auf kommentierten Auszügen aus Mein Kampf basierten, leisteten die Friends of Europe keinen unerheblichen Beitrag zu einem gründlichen Verständnis des deutschen Nationalsozialismus.15 In den USA veröffentlichte im Sommer 1939 der Publizist B. D. Shaw eine billige kommentierte Auszugsübersetzung für den nordamerikanischen Markt. Darüber hinaus brachte 1939 der US-amerikanische Senator Alan Cranston eine stark gekürzte Übersetzung heraus, die jedoch nicht den Namen einer äquivalenten Übersetzung verdient (siehe Abschnitt 5). Weiterhin existieren drei resistente komplette US-amerikanische Buchübersetzungen. Zwei untereinander konkurrierende Übersetzungen von den Verlagen Stackpole und Reynal and Hitchcock wurden ein halbes Jahr vor Kriegsbeginn in Umlauf gebracht. Reynal and Hitchcocks Übersetzung basiert auf einem LeasingVertrag mit Houghton Mifflin, dem Rechteinhaber für den nordamerikanischen Markt. Diesem Text liegt auch ein sehr umfangreicher, von einem wissenschaftlichen Konsortium angefertigter Katalog von Kommentaren zugrunde, ähnlich wie bei der jüngsten kritisch kommentierten deutschen Ausgabe, wobei auch alle von der Dugdale-Übersetzung ausgelassenen Textstellen explizit markiert sind. Bei der vom Verlag Stackpole herausgebrachten Übersetzung handelt es sich um eine illegale Publikation. Reynal and Hitchcock und Stackpole lieferten sich eine hitzige juristische Auseinandersetzung, die zur Folge hatte, dass Stackpoles Version per Gerichtsbeschluss ab Juni 1939 vom Markt genommen werden musste. Das Gericht widersprach der Argumentation Stackpoles, Hitlers Staatenlosigkeit erlaube eine unautorisierte englischsprachige Publikation.16 Im Jahr 1943 wurde dann Reynal and Hitchcocks Übersetzung zugunsten einer bei Houghton Mifflin erschienenen Version des renommierten Übersetzers Ralph Manheim vom Markt genommen. Es kann stark angenommen werden, dass sich Houghton Mifflin das lukrative Geschäft mit dem weltberühmten Titel Mein Kampf mit niemandem auf längere Sicht teilen wollte. Zwar sind zwei der drei US-amerikanischen Komplettübersetzungen rechtlich zulässig, sie bekamen aber nie die offizielle Autorisierung des Eher Verlags.
15 16
Vgl. Plöckinger, Geschichte, S. 474. Vgl. Barnes/Barnes, Hitler’s Mein Kampf.
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3. STRATEGIEN DER ÜBERSETZUNG EINER ELIMINATORISCHEN NARRATION Eine auch in der historischen Forschung immer noch wenig beachtete Eigenschaft einer jeden Übersetzung ist deren Zielgerichtheit. Dies zeichnet sich deutlich ab in den historischen Übersetzungen der 1930er und 1940er Jahre, insbesondere wegen ihres Ursprungs in einer politisch hochbrisanten Zeit. Verschiedene Übersetzungen verfolgten unterschiedliche Intentionen, die auf verschiedenartige Weise vom deutschen Ausgangstext abwichen. Abgesehen von der funktionalen Ausrichtung einer Übersetzung sind natürlich für den Übersetzungsvergleich auch sogenannte paratextuelle Elemente maßgeblich. Es handelt sich hierbei um die eigentliche Gestaltung und das Layout der Übersetzung, die Quantität und Strukturierung des Textes, und insbesondere um Vorworte, Fußnoten und Kommentare. Wenn also auf dem Titelbild einer amerikanischen Übersetzung der Autor des Ausgangstextes mit den Puzzlestücken Europas jongliert17 oder in der Übersetzung eines wissenschaftlichen Konsortiums die Ausdehnungspolitik der Nazis auf einer Karte dargestellt wird18, kann man ohne auch nur einen Satz gelesen zu haben davon ausgehen, dass ihm diese Texte nicht sonderlich wohlgesonnen sind. Umgekehrt lassen in der im Propagandaministerium von James Murphy angefertigten Version schon der Inhalt und Tenor des Vorwortes auf einen ideologisch konformen Text schließen.19 Die für die amerikanische und britische Öffentlichkeit brisantesten Themenbereiche erstreckten sich in den 1930er Jahren auf die außenpolitischen und rassenideologischen Themenkomplexe. Die in der Dugdale-Version ausgelassenen Textstellen, in denen Hitler eine Expansion nach Osten proklamiert, waren von besonderer Bedeutung für die Entstehung einiger Übersetzungen. Auch wenn das Buch keine direkten Anhaltspunkte auf einen möglichen Überfall auf Großbritannien gibt, so wurde der in Hitlers Werk inhärente Expansionsdrang mit großer Sorge wahrgenommen. Anhand der außenpolitischen Stellen wurden immer wieder Anstrengungen unternommen, Hitlers frühere Aussagen mit eventuellen zukünftigen politischen Schachzügen in Einklang zu bringen. Auf diese Weise versuchten die Übersetzungsakteure teilweise mittels ihrer englischen Versionen die eigenen politischen Überzeugungen zu kommunizieren. Diesbezüglich ist es interessant zu beobachten, wie einzelne Übersetzungen, um die jeweilige politische Gegenwart zu erhellen, den Tenor und die Modalität von Hitlers Sprachduktus verschieben, was den im deutschen Text deutlichen „Drang nach Osten“ oder die erklärte Feindschaft zu Frankreich noch klarer aufscheinen lässt.20 17 18 19 20
Vgl. Cranston, Alan (Hg.): Adolf Hitler’s Own Book, Mein Kampf (My Battle). Greenwood: Noram Publishing Co. 1939. Vgl. Ripperger, Helmut (Übersetzer): Mein Kampf. New York: Reynal & Hitchcock 1939, S. ii. Vgl. Murphy, James: Translator’s Introduction, in: Murphy, James (Übersetzer): Mein Kampf. London: Hurst & Blackett 1939, S. 9–13. Vgl. H. M. Embassy, Berlin: Confidential – A Translation of Some of the More Important Passages from Hitler’s Mein Kampf (1925 edition) (1936), The National Archives, 371/19938: 207–
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In den Jahren vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs sind Hitlers außenpolitische Erwägungen die wohl am meisten diskutierten Textstellen im englischsprachigen Ausland. In Übereinstimmung mit dem programmatischen Titel des Buches schreibt Hitler an einem wichtigen Wendepunkt: „Bündnisse schließt man nur zum Kampf“21 – ein entscheidender Satz, handelt es sich doch hier um eine für die Nazis wohl ewig gültige Wahrheit und um eine Richtschnur der darauf aufbauenden Außenpolitik. Die Aussage ist recht vage gehalten, und eine Alternative wie – „Bündnisse schließt man nur zum Krieg“ – wäre natürlich zu eindeutig auslegbar, denn ganz anders als der Begriff „Kampf“ impliziert „Krieg“ zweifelsfrei einen Gegenpol zum Ideal des Friedens. Um diesen Gegensatz explizit hervorzuheben, hat sich die amerikanische Auszugsübersetzung aus dem Jahr 1939 für den englischen Begriff „war“ entschieden.22 In ähnlicher Manier übersetzte sechs Jahre zuvor Leonard Stein, der Übersetzer der von Chaim Weizmann initiierten unveröffentlichten Auszugsversion, den Satz „Denn daß auch die Wiederherstellung der Grenzen des Jahres 1914 nur mit Blut zu erreichen wäre, dürfte kaum für irgend jemand fraglich erscheinen“23 mit „That the re-conquest of the frontiers of 1914 could only be achieved by war no-one will hardly doubt“.24 Dies legt natürlich die Vermutung nahe, die zeitgenössischen Leser sollten zu einer bestimmten Schlussfolgerung verleitet werden, da im deutschen Text die Assoziationen für „Krieg“ zumindest nur angedeutet sind. Weizmann selbst war unter anderem Vorsitzender der Zionistischen Bewegung und in den 1940er Jahren erster Präsident Israels; seine Übersetzung wurde vom British Foreign Office, vor dessen eigener Erstellung einer Auszugsübersetzung, zu dessen Akten hinzugefügt.25 Im Hinblick auf die Rassenideologie wurden durch das Mittel der Übersetzung weitaus weniger Anstregungen unternommen, Hitlers Aussagen der 1920er Jahre mit den sich abzeichnenden politischen Realitäten abzugleichen. Hier existierte wohl kein so dringendes Desiderat für politisches – oder besser „übersetzerisches“ – Handeln seitens der englischsprachigen Publizistik, Diplomatie und Politik, wobei man auch die damals weit verbreitete höhere Akzeptanz gegenüber rassistischen und antisemitischen Denkmustern in Betracht ziehen muss. Ganz anders
21 22 23 24 25
217; Shaw, B. D. (Hg.): Mein Kampf – An Unexpurgated Digest. New York: Political Digest Press 1939. Hitler, Adolf: Mein Kampf (Ausgabe in einem Band). 851.–855. Aufl. München: Zentralverlag der NSDAP 1943, S. 749. Vgl. Shaw (Hg.), Mein Kampf, S. 20. Hitler, Mein Kampf (1943), S. 738. Weizmann, Chaim (Hg.): An Untitled and Unpublished Selection of Extracts (1933), S. 22; The National Archives, 371/16759: 1–28. Vgl. Barnes/Barnes, Hitler’s Mein Kampf (Kapitel 1 und 2). Die meisten britischen Auszugsübersetzungen stehen in einem engen Kausalzusammenhang: Im Dezember 1935 überließ das Foreign Office den 28-seitigen Text von Weizmann der Initiatorin der Flugschrift mit dem Fokus auf Hitlers Außenpolitik, Katharine Atholl (damals auch bekannt als „Duchess of Atholl“), und in einem Anflug ungewohnter Freimütigkeit gegenüber Außenstehenden überließ es ihr im Mai 1936 auch die eigene 11-seitige Auszugsübersetzung; im Anschluß daran ließ Atholl wiederum dem Foreign Office im Juni eine Kopie ihrer fertiggestellten 21-seitigen Flugschrift zukommen.
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hingegen auf Seiten des Hitler-Regimes. Es wurde Wert darauf gelegt, offensichtlich kompromittierende Ausssagen in den konformen Übersetzungen zu beschönigen. Hier lassen sich übersetzerische Entscheidungen auch ohne Beweise für direkte Handlungsanweisungen nachvollziehen. So wurde z. B. in der vom Propagandaministerium kontrollierten Übersetzung von James Murphy der Begriff „Vernegerung“26 durch das umgangssprachliche „becoming more and more negroid“ umschrieben.27 Die letzte Komplettübersetzung von Ralph Manheim verwendet hingegen die kalt anmutende Nominalisierung „negrification“.28 Nun ist es gut möglich, dass Murphy aus diplomatischen Erwägungen diesen Begriff wählen musste, denn 1934 deklarierten die deutschen Behörden eine Presseanweisung mit folgendem Wortlaut: „Von autoritativer Seite wird nochmal gebeten, nicht immer von einer ‚Vernegerung‘ Frankreichs zu sprechen“.29 Vermutlich sollte Murphys Wortwahl hier einen kalt kalkulierenden pseudo-wissenschaftlichen Unterton vermeiden. Diese eventuell vorgegebene Strategie steht ganz im Widerspruch zu einer italienischen Übersetzung, welche die Hitlersche Rassenideologie legitimieren sollte und deren Konstruktion eines quasi-wissenschaftlichen Anstriches genau diesen Unterton zu vermitteln suchte.30 Auf der Ebene der Textoberfläche lassen sich durch drei Arten des Vergleichs übersetzerische Ungenauigkeiten und Verschiebungen erkennen, die auf offensichtliche Texteingriffe schließen lassen: direkter Vergleich mit dem deutschen Text, direkter Vergleich verschiedener Übersetzungen untereinander und der Vergleich durch eine Verbindungslinie zum weiteren Kontext. Wenn man nun im Rahmen der zweiten Vergleichsmethode längere Textabschnitte verschiedener konformer und resistenter Übersetzungen liest und vergleicht, offenbart sich recht schnell ein ideologisch, rhetorisch und stilistisch abweichender Diskurs: Die beiden konformen Übersetzungen wirken in ideologischer und rhetorischer Hinsicht weniger radikal und stilistisch verbessert. In letzter Konsequenz verweisen die außenpolitischen und rassenideologischen Themenkomplexe auf den wohl schicksalsträchtigsten ideologischen Baustein in
26 27
28 29 30
Hitler, Mein Kampf (1943), S. 730. Murphy (Übersetzer), Mein Kampf, S. 25. Siehe auch Dan Stones Analyse von Emily Lorimers zeitgenössischer Rezeption des Buches und ihrer beispielreichen sprachlichen Kritik: Murphys Übersetzung „conveys not a hint, nor the shadow of a hint, of the gripping power, the dynamism, the fire, the vigour, the brutality, the passion of the original“ (zit. in: Stone, Dan: The ‚Mein Kampf Ramp‘: Emily Overend Lorimer and Hitler Translations in Britain, in: German History 26/4 (2008), S. 504–519, hier S. 512). Manheim, Ralph (Übersetzer): Mein Kampf. Boston: Houghton Mifflin 1943/2003, S. 589. Zit. in: Schmitz-Berning, Cornelia: Vokabular des National-Sozialismus. Berlin und New York: Walter de Gruyter 2000, S. 633. Vgl. Baumgarten, Stefan / Caimotto, M. Cristina: Political and ideological translation practice. Italian and English extracts of Hitler’s Mein Kampf, in: Andres, Dörte / Richter, Julia / Schippel, Larisa (Hg.): Translation und „Drittes Reich“. Menschen – Entscheidungen – Folgen. Berlin: Frank und Timme 2016, S. 277–300. Zur italienischen Übersetzung von Mein Kampf siehe den Beitrag von Vincenzo Pinto in diesem Band.
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Hitlers Machwerk: den eliminatorischen Grundtenor.31 Die Katastrophe, in die das Dritte Reich mündete, ist unbestreitbar in extenso in Hitlers brachialer Rhetorik enthalten. Man kann also davon ausgehen, dass die (wohl zum Teil auch halbbewusste) Wahrnehmung einer eliminatorisch narrativen Grundstruktur, in Verbindung mit den Passagen zur Außenpolitik und zur Rassenideologie, die übersetzerischen Entscheidungen mitprägte. Das Übersetzen ist nicht nur im Hinblick auf politische Textsorten ein durch und durch ideologiegeprägter Vorgang. Handelnde Akteure befinden sich zumeist in der Zielkultur und sind dadurch beeinflusst von zielkulturellen Normen und Werten.32 Ein gutes Beispiel von sogenannten normbasierten Übersetzungen ist die Tendenz auf dem englischsprachigen Markt, fremdsprachige Texte hauptsächlich in flüssiges, stilistisch gutes Englisch zu übertragen. Dieser Vorgang geschieht oft unbewusst und folgt einer Marktlogik des flüssigen Lesens, was viel mit dem Prestige angloamerikanischer Kulturgüter sowie der weltweiten Dominanz der englischen Sprache zu tun hat.33 Mein Kampf wurde nicht nur im deutschsprachigen Raum als umständlich strukturiertes und vor allem schlecht geschriebenes Machwerk wahrgenommen.34 Unbestritten ist dies ein schwer zu lesendes Buch, was der angloamerikanischen Norm des flüssigen Lesens diametral entgegensteht. Bei den englischen Mein Kampf-Übersetzungen kann man allerdings von freien (normbasierten, den holprigen Stil verbessernden) und von eher wörtlichen (normverletzenden, den holprigen Stil beibehaltenden) Übersetzungsstrategien sprechen (dies ist natürlich nur eine grobe Richtlinie, denn einzelne Übersetzungen können beide Merkmale aufweisen). Angesichts der angespannten politischen Situation der 1930er Jahre lässt nun eine sehr wörtliche ‚entfremdende‘ Reflektion des eliminatorischen Grundtenors den Schluss zu, man wolle sich vom Autor und dessen Werk distanzieren. Bei einer flüssigen ‚domestizierenden‘ Übersetzung hingegen kann man davon ausgehen, man wolle Autor und Werk in ein besseres Licht rücken, denn ein stilistisch verbesserter Sprachduktus, auch über Sprachgrenzen hinweg, lässt den Text in einem ganz anderen ‚ideologischen‘ Licht erscheinen. In diesem Zusammenhang spielte normbasiertes Übersetzen, also ein flüssig übertragener Text, hauptsächlich bei den beiden konformen Übersetzungen eine Rolle. James Murphys Übersetzung zum Beispiel, die zum großen Teil im Propagandaministerium in Berlin angefertigt worden war, zeigt einen Hang zu stilistisch ausgefeiltem Englisch. Dass dieser Text in der deutschen Ausgangskultur entstand, widerlegt zwar die These, Übersetzer in der Zielkultur bemühten sich in der Regel um flüssig zu lesende Texte, aber zumindest die beiden autorisierten Übersetzungen 31
32 33 34
Gregor, Hitler: „the patient reader can detect in Hitler’s writings both the presence of a genocidal mentality and the statement of an implicitly genocidal message“ (S. 10); „the implicitly genocidal message that resonates through Hitler’s work“ (S. 56); „the manufacturing of a genocidal climate“ (S. 67). Vgl. Toury, Gideon: Descriptive Translation Studies and beyond. Amsterdam/Philadelphia: Benjamins 1995. Vgl. Venuti, Lawrence: The Translator’s Invisibility. London: Routledge 1995. Vgl. dazu die Anmerkungen von Helmuth Kiesel in diesem Band.
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konnten es sich sicherlich nicht erlauben, den deutschen Zensoren einen fremd und holprig klingenden englischen Text vorzulegen.35 Der Unterschied zwischen wörtlicher und entfremdender Übersetzung soll im Folgenden anhand eines Beispiels aufgezeigt werden. Die von James Murphy im Propagandaministerium angefertigte Version liest sich flüssig und elegant, was in einem Kontrast steht zur stilistisch bewusst holprigen Sprache des von Ralph Manheim übersetzten Textes. Alle Textbeispiele in diesem Beitrag basieren auf einer deutschen Ausgabe von 1943, wurden aber mit der deutschen Erstausgabe auf mögliche sprachliche Abweichungen überprüft. Das Beispiel stammt aus dem neunten Kapitel des zweiten Buches mit dem Titel „Grundgedanken über Sinn und Organisation der SA“: „Kleine Landesverräter beseitigen ist sinnlos in einem Staat, dessen Regierung selbst die Landesverräter von jeder Strafe befreit. Denn so kann es passieren, daß eines Tages der redliche Idealist, der für sein Volk einen schuftigen Waffenverräter beseitigt, von kapitalen Landesverrätern zur Verantwortung gezogen wird. Und da ist es doch eine wichtige Frage: Soll man solch eine verräterische kleine Kreatur wieder durch eine Kreatur beseitigen lassen oder durch einen Idealisten? In einem Fall ist der Erfolg zweifelhaft und der Verrat für später fast sicher; im anderen Fall wird ein kleiner Schuft beseitigt und dabei das Leben eines vielleicht nicht zu ersetzenden Idealisten aufs Spiel gesetzt. Im übrigen ist in dieser Frage meine Stellungnahme die, daß man nicht kleine Diebe hängen soll, um große laufen zu lassen, sondern daß einst ein deutscher Nationalgerichtshof etliche Zehntausend der organisierenden und damit verantwortlichen Verbrecher des Novemberverrats und alles dessen, was dazugehört, abzuurteilen und hinzurichten hat.“36 „It would be absurd to do away with small traitors in a State whose government has absolved the great traitors from all punishment. For it might easily happen that one day an honest idealist, who, out of love for his country, had removed from circulation some miserable informer that had given information about secret stores of arms might now be called to answer for his act before the chief traitors of the country. And there is still an important question: Shall some small traitorous creature be suppressed by another small traitor, or by an idealist? In the former case the result would be doubtful and the deed would almost surely be revealed later on. In the second case a petty rascal is put out of the way and the life of an idealist who may be irreplaceable is in jeopardy. For myself, I believe that small thieves should not be hanged while big thieves are allowed to go free. One day a national tribunal will have to judge and sentence some tens of thousands of organizers who were responsible for the criminal November betrayal and all the consequences that followed on it.“37
35
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E. T. S. Dugdale hatte eventuell schon vor 1931 mit seiner gekürzten Übersetzung begonnen und suchte wohl auf eigene Faust einen geeigneten Verlag. Aus diesem Grund erfolgten höchstwahrscheinlich sowohl die meisten Kürzungen als auch ein flüssig geschriebener Text aus eigenem Antrieb. Dies lässt sich durch einen Brief an die Literaturagentur Curtis Brown bekräftigen: „I was particularly careful not to omit any of the points which Hitler made in his book. The abridgment was done in order to induce some publisher to consent to take it on, and certainly not in order to suppress anything.“ (Zit. in: Lankiewicz, Mein Kampf, S. 6). Hitler, Mein Kampf (1943), S. 610–611. Hervorhebung in Fettdruck in diesem und allen folgenden Beispielen hinzugefügt. Murphy (Übersetzer), Mein Kampf, S. 447.
Sprachliche und diskursive Tendenzen einer eliminatorischen Narration
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„It is senseless to eliminate petty traitors in a country whose government itself frees these traitors against the nation from any punishment. For then it is possible that some day the honest idealist, who puts a scoundrelly armaments stoolpigeon out of the way, for his people, is called to account by capital traitors against the nation. Therefore, it is an important question: Should we have such a traitorous petty creature eliminated by another creature or by an idealist? In one case the success is doubtful and the treason for later almost certain; in the other case, a small scoundrel is eliminated and the life of a perhaps unreplaceable idealist is risked. Further, in this question, my position is that there is no use in hanging petty thieves in order to let big ones go free; but that some day a German national court must judge and execute some ten thousand of the organizing and hence responsible criminals of the November betrayal and everything that goes with it.“38
Schon auf den ersten Blick wird deutlich, dass James Murphys Übersetzung mehr Wörter benötigt und sich recht flüssig liest, jedoch gleichzeitig auch etwas altbacken und umständlich daherkommt. Murphy versucht den gesamten deutschen Text rhetorisch und stilistisch zu verbessern, mit dem Ergebnis, dass Hitler in der Tat rationaler und gelehrter als im deutschen Text daherkommt. Ralph Manheims Formulierungen schmiegen sich sprachlich und stilistisch eng an die düstere Prophezeihung im deutschen Text, wodurch Hitlers eigener Stil authentisch reflektiert und folglich akzentuierter im englischen Gewand hervorscheint; seine Version besticht durch die Intention, Hitlers eigentümliche Terminologie und Satzbau so eng wie möglich zu imitieren. Dies ist in gewisser Hinsicht der rabiateste Absatz im gesamten Buch mit nicht weniger als sechs (!) Verben, die eine klare Tötungsabsicht suggerieren, und deren Bedeutungsspielraum von Murphy – und/oder dessen Vorgesetzten! – geschickt breit interpretiert wurde. Im Zentrum des Absatzes steht in vier aufeinanderfolgenden Sätzen das Verb „beseitigen“. Während die semantische Manipulation dieser Tötungsverben in Murphys Übersetzung – „do away“, „removed from circulation“, „suppressed“, „put out of the way“ – eine allgemein reduzierte eliminatorische Stoßkraft offenbart, so lässt sich die Übersetzung von „hinzurichten“ als „sentence“ relativ eindeutig als politisch motiviert bezeichnen, denn „to sentence“ bedeutet nichts weiter als jemanden „bloß“ zu etwas verurteilen.39 Es ist nicht verwunderlich, dass dieser Abschnitt in der gekürzten Übersetzung von E. T. S. Dugdale zur Gänze fehlt, und es lässt sich natürlich nur darüber spekulieren, ob und wie eine frühere und gezielte umfangreiche Verbreitung solcher und ähnlicher Auslassungen die europäische Außenpolitik der 1930er Jahre verändert haben könnte. Unbestritten ist jedoch, was allein dieser kurze Abschnitt über den Charakter und die politische Linie des Autors preisgibt. In den folgenden zwei Abschnitten wird der Blick gerichtet auf drei ineinander verwobene Ebenen: äußere Textgestaltung, handelnde Akteure und deren Kommentare, innere Textgestaltung. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass die sich 38 39
Manheim (Übersetzer), Mein Kampf, S. 496. Ein Vergleich mit der Stalag-Ausgabe bringt zusätzliche Divergenzen ans Licht, z. B. lesen wir hier „some petty traitorous wretch to meet death at the hands of another petty traitor“ oder „an unworthy rascal is put out of the way“, auch wenn interessanterweise „judge and sentence“ unverändert bleibt (vgl. Anonymous, Struggle (Stalag Ausgabe), S. 584).
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schrittweise erhellenden ideologischen und politischen Ausrichtungen der unterschiedlichen Übersetzungen engstens verknüpft sind mit der jeweiligen geopolitischen Konstellation, mit persönlichen und institutionellen Netzwerken, und nicht zuletzt mit dem Habitus40, in anderen Worten mit der ideologisch-kulturellen Disposition, der unterschiedlichen Textproduzenten. 4. DER BLICK AUF DIE VERPACKUNG: GEOPOLITIK ALS PUZZLE Die ideologische Ausrichtung einzelner Übersetzungen lässt sich zum Teil deutlich anhand von extratextuellen Aspekten aufzeigen. Die „Verpackung“ von Übersetzungen hat einen erheblichen Anteil daran, wie Leser auf einen Text reagieren und ihn dann interpretieren. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass aufgrund der großen Vielzahl an englischsprachigen Ausgaben hier nur vereinzelte Beispiele präsentiert werden können. Die gekürzten britischen Ausgaben von Hurst & Blacketts My Struggle präsentierten sich äußerlich nicht immer in Übereinstimmung mit Dugdales rhetorisch abgeschwächtem Übersetzungsstil. Zwar zeigt die in den Farben schwarz-rot-weiß gestaltete Umschlaghülle einer Ausgabe der Paternoster Library von 1936 das typische, von den deutschen Ausgaben wohlbekannte, Autorenporträt über einem anerkennenden Zitat – „An astonishing book“ – der Tageszeitung News Chronicle.41 Ein Jahr später jedoch führte eine amerikanische Umschlaghülle von Houghton Mifflins My Battle zu diplomatischen Komplikationen, denn deren in schwarz-rotgold gehaltenes Farbschema, inklusive eines abwertenden Klappentextes der damals hoch angesehenen Publizistin und Radiokommentatorin Dorothy Thompson, führte zu heftigen Protesten des deutschen Konsulats in Boston.42 Die veränderten politischen Vorzeichen spiegeln sich nach Kriegsbeginn ebenfalls in der äußeren Aufmachung der britischen ungekürzten Buchausgabe von Hurst & Blackett, insbesondere durch den expliziten Hinweis „The Royalties on all sales of this book since the declaration of the war will go to the Red Cross and St. John Fund“. In der Tat wurde Murphys Übersetzung dann im Jahr 1940 als erschwingliche 18-teilige Fortsetzungsserie veröffentlicht, wobei deren billige Aufmachung und Aufsehen erregende Untertitel wie „The blueprint of German imperialism“ oder „Royalties on all sales will go to The British Red Cross Society“ im Gegensatz standen zu Murphys rhetorisch gemäßigtem Erzählstil.43 Letztere beide Publikationen – in gewissem Sinne ‚konforme Übersetzungen in resistentem Gewand‘ – führten ihre Leserschaft mit einer zensierten Übersetzung in die Irre, denn der eigentliche Text war ja im Propagandaministerium entstanden. 40 41 42 43
Vgl. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1982. Vgl. Dugdale, E. T. S. (Übersetzer): My Struggle. London: Hurst & Blackett 1933/1936. Lankiewicz, Mein Kampf, S. 17. Vgl. Murphy, James (Übersetzer): Mein Kampf (18-teilige Fortsetzungsserie). London: Hurst & Blackett 1940.
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Demgegenüber verklären die Verleger- und Übersetzerkommentare in beiden konformen Übersetzungen den Autor des deutschen Textes als idealistischen Realpolitiker. Hitler versuche, so die amerikanische Dugdale-Ausgabe von 1933, seine Nation wieder auf den rechten Weg zu bringen, denn das Buch „was written not as propaganda for foreign consumption, but for the instruction and guidance of those already committed to his movement – for those … who ‚belong to it in their hearts‘“.44 In ähnlicher Weise konstatiert die britische Ausgabe: „Whatever one’s political views may be, it is a book everyone should read, for it reveals the forces and circumstances which went to make a remarkable character, whose intense beliefs in his ideals won over a mighty nation, and changed the course of history“.45 Der Übersetzer selbst wird nur in der amerikanischen Ausgabe namentlich erwähnt, jedoch enthält nur die britische Ausgabe ein Übersetzervorwort, wo es unter anderem heißt: „Herr Hitler looks to the Movement to make the German nation call for the kind of government which he considers to be the right one, and to eliminate, if necessary by force, all elements which try to oppose it“.46 Erfährt das Bild der „Eliminierung“ hier eine positive Aufwertung, so zielt auch der Hinweis auf das Hitlersche Prinzip der Massenmobilisierung auf ein intellektuell lohnenswertes Leseerlebnis. Die Umschlaghüllen der Buchausgabe von James Murphys Übersetzung verraten nichts über ihren Ursprung im Propagandaministerium. In den Fußnoten wird der politische Aktivismus überbetont, und auch Murphys Vorwort setzt auf eine wohlwollende Leserschaft: „I feel it my duty to call attention to certain historical facts which must be borne in mind if the reader would form a fair judgment of what is written in this extraordinary work“.47 Die Kommentare in den konformen Übersetzungen spiegeln die Einschätzungen wider, die Mein Kampf als eine Art Jugendsünde zu interpretieren suchten.48 Tatsächlich lässt sich diese Projektion eines idealistischen Politikers bis hin zu einer Art Opferrolle ausweiten, womit Leser und Autor sozusagen ideologisch „rechts“ positioniert werden. Ganz im Gegensatz zu den konformen Übersetzungen sind die Handlungsträger der meisten resistenten Auszugsübersetzungen praktisch auf jeder Seite sichtbar. Die beiden Texte der britischen Organisation Friends of Europe enthalten mehr Kommentare als die nicht veröffentlichten Texte von Chaim Weizmann und vom britischen Foreign Office. Das anonyme Vorwort des Foreign Office vom 7. Mai 1936 basiert auf einer Zusammenfassung der nationalsozialistischen Ideologie, die im Jahr 1933 von Horace Rumbold, dem britischen Botschafter in Berlin, angefertigt worden war.49 Als Spiegelbild der sich verschärfenden politischen Großwetterlage, insbesondere vor dem Hintergrund der deutschen Remilitarisierung, zeigt sich 44 45 46 47 48 49
Anonymous: Publisher’s Note, in: E. T. S. Dugdale (Übersetzer): My Battle. Boston: Houghton Mifflin 1933, S. iii–iv, hier S. iii. Anonymous: Publisher’s Note, in: Dugdale (Übersetzer), My Struggle (1933/1936), S. 3. Dugdale, E. T. S.: Translator’s Preface, in: Dugdale (Übersetzer), My Struggle (1933/1936), S. 11. Murphy (Übersetzer), Mein Kampf, S. 9. Vgl. Plöckinger, Geschichte, S. 479. Vgl. ebd., S. 470–472.
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das Vorwort sowohl intellektuell fundiert als auch gut informiert über die von Hitler ausgehende außenpolitische Gefahr. An einer Stelle heißt es: „Herr Hitler’s aim is the recovery for Germany of the place in the world to which her history, her past achievements, the capacity of her people and the size of her population entitle her. How this aim is to be achieved and Herr Hitler’s general ideas are illustrated by the following extracts from Mein Kampf“.50 Der Flugschrift Nr. 37 der Friends of Europe mit dem Fokus auf Hitlers Überlegungen zur Rassentheorie ist ein verurteilendes Vorwort von Charles Grant Robertson, Historiker der University of Birmingham, vorangestellt, wobei niemand das Buch lesen könne „without amazement at the shallowness of its ‚philosophy‘, the travesty and superficiality of its historical interpretation of the past, or the demagogic crudity of its anti-semitic appeal to all the basest and fiercest of human motives“.51 In ihrem Vorwort zur Flugschrift Nr. 38 betont Katharine Atholl, die Initiatorin dieser Ausgabe und eine britische Abgeordnete des Unterhauses, Hitlers unversöhnliche außenpolitische Haltung gegenüber Frankreich. Die Schlussfolgerung der damals als „Duchess of Atholl“ bekannten Politikerin gestaltet sich als eindringlicher Appell an die Leser: „The menacing situation in Europe, of which the rearmament of Germany is the dominating factor, makes it all-important that English readers should be acquainted with the foreign policy set forth in Mein Kampf“.52 Die Umschlaghüllen von zwei im Jahr 1939 erschienenen resistenten US-amerikanischen Übersetzungen, einer auszugsweisen Version von B. D. Shaw und einer gekürzten des amerikanischen Senators Alan Cranston, lassen keine Zweifel an ihrer ideologischen Stoßrichtung aufkommen: Was passiert, wenn man Hitler weiterhin freien Lauf läßt? Mit apokalyptischem Unterton und beißender Rhetorik wird eine Verbindung hergestellt zwischen der zensierten Dugdale-Übersetzung und der anhaltenden innen- und außenpolitischen Bedrohung durch das nationalsozialistische Regime. Auf Cranstons Titelseite betrachtet eine Karikatur des vor einer großen Europakarte postierten Diktators nachdenklich in seinen Händen befindliche große Puzzlestücke von Großbritannien und Italien, während triumphalistisch verkündet wird, dass diese anscheinend ‚komplette‘ Ausgabe sowohl „Unpublished Nazi propaganda maps“ als auch „Hitler’s 10 year plan for conquest of Europe“ aufdecke. In ähnlicher Weise präsentiert sich Shaws Titelbild als ein „Anti-Nazi classic“ und „Unexpurgated digest … Read what Hitler tried to hide from you“. Bemerkenswert ist auch der jeweils billige Preis von 10 Cent, umso mehr bei Cranstons Übersetzung, da diese fast die gleiche Länge wie die Dugdale-Übersetzung aufweist, also ca. ein Drittel des deutschen Textes ausmacht. Mittels einer visuellen Form ideologischer Persuasion wird, wie bei der serialisierten ‚konformen‘ Aus-
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Anonymous: Foreword, in: H. M. Embassy, Berlin, Confidential, S. 208. Grant Robertson, Charles: Foreword, in: Grant Robertson, Charles (Hg.): The Racial Conception of the World by Adolf Hitler. London: Friends of Europe Publications 1936, S. 3–6, hier S. 6. Atholl, Katharine: Foreword, in: Atholl, Katharine (Hg.): Germany’s Foreign Policy as Stated in Mein Kampf. London: Friends of Europe Publications 1936, S. 2–6, hier S. 6.
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gabe zugunsten des British Red Cross, auf die politische Solidarität der Leser spekuliert. Die Auszugsübersetzung von B. D. Shaw beruft sich auf das intentionalistische Motiv, welches Mein Kampf als klare Richtschnur für die gesamte deutsche Politik ab 1933 begreift. Die rhetorische „Verpackung“ dieser Übersetzung leistet einem „religiösen Framing“ Vorschub, was dem „wissenschaftlichen Framing“ einer auszugsweise angefertigten Übersetzung des italienischen Außenministeriums auf interessante Art und Weise entgegensteht.53 Wie schon bei den Friends of Europe wird die Übersetzung quasi als Schuldbekenntnis des kriminalisierten Autors vermarktet, wobei man sich noch um zahlreichere unbewiesene Behauptungen und drastischere Bilder bemüht, Shaw schließt beispielsweise seine Einleitung mit den Worten: „Rarely has a criminal convicted himself with such eloquence as Hitler does“.54 Übertroffen an polemischer Schärfe wird Shaws Text aber noch von Cranstons Kommentaren. Dies ist auch die dem Ausgangstext am wenigsten „authentisch nachempfundene“ Version. Ausgestattet im Format der Regenbogenpresse, mit vielen Illustrationen und aufpeitschenden Überschriften, erlaubt dieser Text dem Leser keine Gelegenheit zu einem differenzierten Urteil über das Hauptwerk nationalsozialistischer Ideologie. Die authentische Stimme des deutschen Textes wird quasi überlagert von einer fast hysterisch anmutenden Gegenposition; wie ein Ruf zu den Waffen lesen sich viele Erläuterungen der Herausgeber: „A startling, almost miraculous prophecy of present-day history“, „If Hitler’s plans as stated in Mein Kampf are carried out – if he is not stopped – they mean inevitable war, bloodshed, and the destruction of civilization as we know it“.55 Der in den früheren britischen Auszugsübersetzungen noch eher spekulative Gestus verwandelt sich hier – auch vor dem aktuellen politischen Hintergrund der Besetzung der Tschechoslowakei – in Gewissheiten. Cranstons gekürzte Übersetzung enthält vier Artikel, welche die antagonistische Grundhaltung weiterhin argumentativ untermalen. Hier wird nicht, wie noch bei den konformen Übersetzungen, die auf Massenmobilisierung ausgerichtete Rhetorik in Mein Kampf betont, sondern durch verbale und visuelle Verunglimpfung des ideologischen Gegners der Leser selbst politisch mobilisiert und instrumentalisiert. Neben einigen Karikaturen enthält Cranstons Übersetzung auch einen Zeitplan Hitlers – „For Conquering Europe“ –, wonach ab dem Jahr 1948 weite Teile Eurasiens erobert seien: „All Europe and Western Asia under Complete Subjugation“. Die politisch-ideologische Haltung der Textproduzenten und deren Interpretation des Ausgangstextes dienen als Maßgabe für die Erstellung des Zieltextes. Dies ist eine Übersetzung, die schon durch ihr äußeres Erscheinungsbild und die begleitenden Kommentare ein klares Feindbild konstruiert. Der Leser wird 53 54 55
Zum Begriff „Framing“, dt. Rahmenanalyse, siehe Goffman, Erving: Rahmenanalyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980; auch Baumgarten/Caimotto, Translation Practice. Shaw, B. D.: Introduction, in: Shaw (Hg.), Mein Kampf, S. 3–4, hier S. 4. Cranston, Alan: Publisher’s Foreword, in: Cranston (Hg.), Own Book, S. 2 (Hervorhebung im Original).
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nicht durch rationale Argumentation an den Text herangeführt und intellektuell aufgeklärt, sondern, wie im deutschen Ausgangstext, durch ‚psychologische Kriegsführung‘ argumentativ überwältigt. Die vielfältigen Umschlaghüllen, Kommentare und Vorworte der drei amerikanischen Komplettübersetzungen sind dem Ausgangstext durchgängig feindseliger gesinnt als die britischen Versionen. Die ab Februar 1939 in nur einer Ausgabe erschienene Übersetzung von Stackpole präsentiert sich auf ihrer Titelseite als komplettes und unautorisiertes Werk mit dem Hinweis: „This edition pays no royalties to Adolf Hitler“. Ein geschickter Marketingcoup, denn Stackpole konnte sich so vom Konkurrenten Reynal and Hitchcock abgrenzen, der Tantiemen an den Eher Verlag entrichten musste. Die erste Ausgabe von Reynal and Hitchcock warb ihrerseits auf der Titelseite mit dem Slogan „Complete and definitive – unexpurgated edition – fully annotated“ sowie mit einem Zitat von Dorothy Thompson, wonach das gründliche Lesen des kompletten Textes der Schlüssel zu Hitlers Denken und Handeln sei. In einer späteren Ausgabe reagierte der Verlag auf Stackpoles Handstreich und überschrieb Thompsons Zitat mit der verbosen Ankündigung: „Profits to refugee children – All proceeds from this edition, after deducting all legitimate expenses as approved by the Editorial Committee, will be turned over to a fund for refugee children“. Ein paar Jahre später wiederum, inmitten der Wirren des Krieges, bewarb Houghton Mifflin die neue Übersetzung von Ralph Manheim als „definitive new translation“, während ein Zitat von Edgar Ansel Mowrer sogar apodiktisch verfügt, dies sei „the one book which if read and believed by the outside world might have prevented this war“.56 Die Vorworte und begleitenden Kommentare vermitteln ein ähnliches Bild: Stackpoles Vorwort beispielsweise, geschrieben von dem Sozialisten Ludwig Lore, dämonisiert Mein Kampf als „outpouring of wilful perversion, clumsy forgery, vitriolic hatred and violent denunciation“.57 Die gesamte Politik der Nazis sei nur das Symptom einer gefährlichen Viruserkrankung, und der Autor selbst habe es geschafft, das deutsche Volk mit einem „faschistischen Bazillus“ zu infizieren58; verfasst in einem miserablen Schreibstil und mit unendlich vielen Widersprüchen habe dieses Werk auf unzählige Jahre einen unheilvollen Einfluss auf die Weltpolitik.59 Die von einer Forscherkommission beaufsichtigte Übersetzung von Reynal and Hitchcock hingegen klingt in ihrem Vorwort um einiges zurückhaltender. Die Forscher konzedieren, dass der Kampf gegen den Nationalsozialismus nur dann gewonnen werden kann „until there are in the world ideas or ideals which are stronger than that contained in Mein Kampf“.60 Der Begriff des „Ideals“ ist hier augenscheinlich ganz anders ideologisch positioniert und interpretiert als in den konfor56 57 58 59 60
Mein Kampf. New York: Stackpole Sons Publ. 1939; Mein Kampf. New York: Reynal & Hitchcock 1939 (zwei Ausgaben im selben Jahr); Mein Kampf. Boston: Houghton Mifflin 1943. Lore, Ludwig: Preface to the First Unexpurgated Edition in English, in: Mussey, Barrows (Übersetzer): Mein Kampf. New York: Stackpole Sons Publ. 1939, S. 5–10, hier S. 9. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 6–7. Shuster, George N. u. a.: Introduction, in: Ripperger (Übersetzer), Mein Kampf, S. vii–xii, hier S. xi (Hervorhebung im Original).
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men Übersetzungen, die Hitlers rassistischen Ultranationalismus als einen „idealistischen“ Diskurs anpreisen. Das Hauptmerkmal dieser Übersetzung ist die sehr umfangreiche Kommentierung, die sich auf über 60.000 Worte beläuft und deren Begründung recht schlüssig daherkommt: „Mein Kampf is a propagandistic essay by a violent partisan. As such it often warps historical truth and sometimes ignores it completely. We have, therefore, felt it our duty to accompany the text with factual information which constitutes an extensive critique of the original“.61 Vier Jahre nach Beginn des Krieges ersetzte eine Übersetzung des überaus produktiven und in späteren Jahren vielfach preisgekrönten Übersetzers Ralph Manheim62 das akademisch fundierte Werk von Reynal and Hitchcock. Der Exilant und Publizist Konrad Heiden gestaltete ein Vorwort, worin auch er religiös inspirierte Narrationsmuster zum Ausdruck bringt, denn Hitlers Buch sei eine „satanische Bibel“, der überdies ein absoluter Vernichtungswille innewohnt: „The light-heartedness with which he threatens murder at the slightest provocation is perhaps even more frightful than the threats themselves“.63 Trotz seines expliziten Verweises auf die eliminatorisch motivierte Tiefenstruktur des Buches wurde Heidens Text den Nachkriegsausgaben nicht mehr beigefügt. Manheim selbst garnierte seine Arbeit mit einigen kritischen Fußnoten und verfasste auch ein vierseitiges Übersetzervorwort, in dem er Hitler einen tiefsitzenden Antiintellektualismus, fehlende literarisch-wissenschaftliche Bildung sowie einen starken Einfluß durch die rechtsgerichtete Regenbogenpresse bescheinigt.64 Manheim optierte in seiner Übersetzungsarbeit für eine „entfremdende“ Wiedergabe des deutschen Ausgangstextes (siehe Abschnitt 3). Sein Kommentar und die Fußnoten zeugen von einem guten Gespür für den Zusammenhang von sprachlichen Nuancen und dem sozialen Hintergrund des Ausgangstextautors, insbesondere in seiner Darlegung der sich durch den „entfremdenden“ Übersetzungsansatz ergebenden rezeptiven Herausforderungen. Letztendlich sind auch die paratextuellen Kommentare der amerikanischen Komplettübersetzungen dem Ausgangstext und Autor feindlich gesinnt und dienen somit hauptsächlich der Abschreckung potentieller Sympathisanten. 5. DER BLICK AUF DIE TEXTE: SPRACHE ALS IDEOLOGIE Die sprachlich-ideologische Untersuchung einer oder mehrerer Übersetzungen eines beliebigen Ausgangstextes stützt sich in der Regel auf zwei Grundannahmen: Gibt es a) einzelne offensichtlich manipulierte Textstellen, und/oder b) erkennbare ideologisch gesteuerte Übersetzungsstrategien? Für die sprachlich-ideologische Analyse empfiehlt sich eine Kombination aus manuellem Textvergleich und einem 61 62 63 64
Ebd. Vgl. Calder, John: Obituray: Ralph Manheim, in: The Independent, 28.9.1992, independent. co.uk/news/people/obituary-ralph-manheim-1554162.html (Zugriff am 16.11.2018). Heiden, Konrad: Introduction, in: Manheim, Ralph (Übersetzer): Mein Kampf. Boston: Houghton Mifflin 1943, S. xv–xxi, hier S. xx. Vgl. Manheim, Ralph: Translator’s Note, in: Manheim (Übersetzer), Mein Kampf, S. xi–xiv.
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korpusbasierten Ansatz. Hierbei sollten einzig sich wiederholende Muster vermuteter ideologischer Übersetzungsstrategien als möglicherweise bewusst gesteuert angesehen werden.65 Dieser Abschnitt beschäftigt sich mit den unterschiedlichen sprachlichen Tendenzen der konformen und resistenten Übersetzungen. Es werden ideologisch relevante Übersetzungsentscheidungen und -strategien präsentiert, wobei ein Hauptaugenmerk auf die Übersetzungen von James Murphy und Ralph Manheim gelegt wird. Wie oben besprochen, lassen sich hier zwei unterschiedliche globale Übersetzungsstrategien beobachten: Während Murphy einen domestizierenden Ansatz verfolgt, hatte sich Manheim auf einen entfremdenden Ansatz festgelegt. Während Murphy den Ausgangstextautor in einwandfreiem und stilistisch ausgefeiltem Englisch „referieren“ lässt, imitiert Manheims Übersetzung so eng wie möglich den atemlos aufwiegelnden Bewusstseinsstrom des Ausgangstextes. Diese Differenz zwischen der Anpassung an sprachliche Normen und Ausdrucksweisen der englischen Zielsprache und der fremd und befremdlich wirkenden Imitation des authentischen deutschen Tenors erweist sich in der Tat als entscheidend für die ideologische Rezeption und infolgedessen politische Bewertung der verschiedenen englischsprachigen Texte. Sprachliche Muster der konformen Übersetzungen Kurz vor der Publikation der gekürzten Übersetzung in Großbritannien und den USA erschien zwischen dem 24. und 28. Juli 1933 eine kurze Serie mit Auszügen von Mein Kampf in der Times unter dem Titel Hitler on his Creed. Die Times unterstützte die britische Appeasementpolitik und hatte auch gute Verbindungen zur britischen Regierung. Geoffrey Dawson, Herausgeber zwischen 1923 und 1941, legte großen Wert auf eine möglichst reibungsfreie Berichterstattung über Nazideutschland und scheute sich nicht, kritische Informationen herunterzuspielen. Die Tatsache, dass versteckte Diplomatie bei der Publikation eine Rolle spielte, zeigt eine Mitteilung der deutschen Botschaft in London an das Außenministerium in Berlin vom 24. Juli: „Der Leitartikel bemüht sich, einigermassen objektiv zu sein und beweist, wie mir bereits seitens der ‚Times‘ unter der Hand mündlich zugesichert worden war, dass nicht böse Absicht, sondern der Wunsch, Verständnis für das neue Deutschland in England zu erwecken, die ‚Times‘ veranlasst hat, die Artikelserie zu veröffentlichen“.66 Es steht außer Frage, dass diese Fortsetzungsserie signifikant war für die deutsch-britischen Beziehungen und somit hinter den Kulissen sicherlich einigen Staub aufgewirbelt hat. Man kann davon ausgehen, dass die Serie für die Nazis als eine Art Probeversion fungierte und deshalb wohl auch zum Publikationsprozess gehört. Pikanterweise zeigt diese Vorpublikation der Times textuelle Unterschiede zur ersten Veröffentlichung der Dugdale-Übersetzung. Darüber hinaus zeigen sich auch 65 66
Vgl. Hatim, Basil / Mason, Ian: The Translator as Communicator. London: Routledge 1997. Deutsche Botschaft London an Auswärtiges Amt am 24.7.1933, in: Bundesarchiv Berlin, R43/ II/1431, Blatt 108.
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wichtige Unterschiede zwischen der britischen und der amerikanischen Version. Nach der Veröffentlichung der Fortsetzungsserie in der Times wurden gründlichere textuelle Änderungen in der britischen als in der amerikanischen Ausgabe vorgenommen, was ein neues Licht auf die unbestreitbar erwiesenen Zensurbemühungen der deutschen Behörden wirft! Das folgende chronologische Beispiel zeigt unterschiedliche Übersetzungsvarianten eines lautstarken Ausbruchs gegen die kommunistischen russischen Machthaber: (0) „Man vergesse doch nie, daß die Regenten des heutigen Rußlands blutbefleckte gemeine Verbrecher sind, daß es sich hier um einen Abschaum der Menschheit handelt, der, begünstigt durch die Verhältnisse in einer tragischen Stunde, einen großen Staat überrannte, Millionen seiner führenden Intelligenz in wilder Blutgier abwürgte und ausrottete und nun seit bald zehn Jahren das grausamste Tyrannenregiment aller Zeiten ausübt.“67 (1) „The present rulers of Russia are blood-stained criminals … Favoured by circumstances in a tragic hour, they subdued a great state, wiped out ten millions of their most intelligent fellow countrymen, and now for ten years they have been conducting the most tyrannous régime of all time.“68 (2) „We must not forget that they are low blood-stained criminals, that it means dealing with the scum of humanity, and that, favoured by circumstances in a tragic hour, they overran a great State, and in a fury of massacre wiped out millions of their most intelligent fellow-countrymen, and now for 10 years they have been conducting the most tyrannous regime of all time.“69 (3) „We must not forget that they are low blood-stained criminals, that it means dealing with the scum of humanity, and that, favoured by circumstances in a tragic hour, they overran a great State and in a fury of massacre wiped out millions of their most intelligent fellow-countrymen, and now for 10 years they have been conducting the most tyrannous regime of all time.“70 (4) „We must not forget that Bolshevists are blood-stained, that, favoured by circumstances in a tragic hour, they overran a great State, and in a fury of massacre wiped out millions of their most intelligent fellow-countrymen, and now, for ten years, they have been conducting the most tyrannous regime of all time.“71
Die in einem Artikel von E. T. S. Dugdale im Jahr 1931 abgedruckte Version (1) erscheint ähnlich abgeschwächt wie die zensierte britische Buchausgabe (4). Die Version (2) in der Times ist identisch mit der amerikanischen Buchausgabe (3). Die Dugdale-Übersetzung My Battle wurde am 11. Oktober 1933 in den USA und zwei Tage später als My Struggle in Großbritannien veröffentlicht. Nach anfänglichen Schwierigkeiten seitens der literarischen Agentur Curtis Brown, die Übersetzungsrechte zu verkaufen, erwirkte erst der Regimewechsel im Januar 1933 ein reges 67 68 69 70 71
Hitler, Adolf: Mein Kampf. 2. Bd. (Erstausgabe). München: Zentralverlag der NSDAP 1927, S. 323. Dugdale, E. T. S.: National Socialism in Germany, in: English Review 53 (1931), S. 565–573, hier S. 571. The Times: Hitler on his Creed (Kommentierte Übersetzung von Auszügen aus Mein Kampf, 24.–28.7.1933), 28.7.1933, S. 16. Dugdale (Übersetzer), My Battle, S. 284–285 (amerikanische Ausgabe). Dugdale (Übersetzer), My Struggle, S. 260 (britische Ausgabe).
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Interesse an einer Buchübersetzung. Der englische Verlag Hutchinson, damals sehr aktiv im Bereich rechtsgerichteter Literatur, erwarb die Übersetzungsrechte im Frühjahr 1933, die auch für die Verbreitung im gesamten Commonwealth galten. Unabhängig von diesen Bemühungen begann Dugdale eventuell schon im September 1930 an seiner Übersetzung zu arbeiten, kam aber wohl erst im Jahr 1933 mit den deutschen Behörden in Kontakt. Hutchinson hatte zwischenzeitlich die Veröffentlichung der Übersetzung dem Londoner Verlag Hurst & Blackett übertragen, doch im Frühjahr 1933 mussten sie Dugdales Manuskript Wilhelm Thost, dem Londoner Korrespondenten des Völkischen Beobachters, überlassen. Thost brachte daraufhin das Manuskript nach Deutschland.72 Erst einen Tag nach Veröffentlichung der Fortsetzungsserie in der Times, am 29. Juli, unterschrieb Hurst & Blackett den Publikationsvertrag. Am selben Tag erwarb der Bostoner Verlag Houghton Mifflin die US-amerikanischen Rechte für My Battle.73 Im Gegensatz zu Hurst & Blackett sah sich Houghton Mifflin, noch heute einer der größten amerikanischen Verlage im Bildungssektor, vehementen öffentlichen Protesten gegenüber.74 Abschwächungen in der Dugdale-Übersetzung lassen sich an einigen Beispielen verdeutlichen. Generell fällt eine gesamtheitliche Zensur des rhetorischen Ausdrucks und der verwendeten lexikalisch-grammatischen Mittel ideologisch stärker ins Gewicht als systematische Veränderungen und Auslassungen einzelner Themenbereiche. Ideologische Abweichungen sind natürlich per se an inhaltliche Erwägungen geknüpft, wie man anhand der Übersetzung mancher sarkastischer Kommentare ersehen kann. Beispielsweise übersetzt Dugdale das ironische, auf England zielende Anführungszeichen in der Wendung „Lande der klassischen ‚Demokratie‘“75 mit „‚classic‘ democracy“76, und auch Murphy scheint mit einer ganz ohne Anführungszeichen versehenen Übersetzung vor einem Verbalangriff auf England zurückzuschrecken. Alle drei amerikanischen Komplettübersetzungen hingegen bleiben nah am Text und versehen den Begriff „democracy“ ebenfalls mit Anführungszeichen. Allgemein erscheinen in Dugdales Übersetzung Hitlers wütende Ausbrüche gegen die Sozialdemokratie weniger energisch formuliert als gegen Marxisten und Juden, und auch seine außenpolitische Radikalität wird an manchen Stellen zurechtgestutzt. Jedoch gibt es einige Unterschiede zwischen der britischen und der amerikanischen Ausgabe, wie das folgende, im deutschen Text in Sperrschrift gedruckte Beispiel aus dem 13. Kapitel des zweiten Buches „Deutsche Bündnispolitik nach dem Kriege“ zeigt: „Denn unterdrückte Länder werden nicht durch flammende Proteste in den Schoß eines gemeinsamen Reiches zurückgeführt, sondern durch ein schlagkräftiges Schwert. Dieses Schwert zu schmieden, ist die Aufgabe der innerpolitischen Leitung eines Volkes; die Schmiedearbeit zu sichern und Waffengenossen zu suchen, die Aufgabe der außenpolitischen.“77 72 73 74 75 76 77
Vgl. Barnes/Barnes, Hitler’s Mein Kampf (Kapitel 1). Vgl. Publishers’ Weekly, 4.2.1939, S. 591. Vgl. Plöckinger, Geschichte, S. 501. Hitler, Mein Kampf (1943), S. 81. Dugdale (Übersetzer), My Struggle, S. 41. Alle in diesem Beitrag erwähnten Übersetzungsbeispiele wurden auf etwaige Unterschiede zwischen der britischen und amerikanischen Buchausgabe überprüft. Hitler, Mein Kampf. 2. Bd. (1927), S. 266.
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„It is not by flaming protests that oppressed lands are brought back into the embrace of a common Reich, but by a power – or combination of powers. It is the task of the leaders of a nation, in their domestic policy, to forge that power; in their foreign policy they must see that the forging is done, and they must seek men to wield the weapon.“78 „It is not by flaming protests that oppressed lands are brought back into the embrace of a common Reich, but by a sword ever ready to strike. It is the task of the leaders of a nation, in their domestic policy, to forge that sword; in their foreign policy they must aim at the work of forging, and they must seek comrades.“79
Eine außenpolitische Bedrohung ist nur für den amerikanischen Leser klar ersichtlich. Außerdem scheint die amerikanische Ausgabe die Aufteilung der Absätze anders zu reflektieren als die britische Version. Abgesehen von der zum Teil stärker zensierten britischen Ausgabe finden sich in beiden Ausgaben identische Modifizierungen. Beispielsweise werden „Todfeinde“ zu „enemies“ oder ein Begriff wie „stramme Kampfgemeinschaft“ wird umformuliert in „community of aim“. Die britische Ausgabe jedoch übersetzt das viel zitierte „Herrenvolk“ als „leader of the world“, während es in der amerikanischen Ausgabe als „master-nation“ wiedergegeben wird. Besonders auffällig ist die Abschwächung von Hitlers sich durch den gesamten deutschen Text ziehenden Sarkasmus, seiner Neigung zum kriminellen Jargon und der berüchtigten eliminatorischen Grundhaltung. Zum Beispiel mutiert ein Verb wie „totschweigen“ zu „silenced“ oder ein Ausdruck wie „den Kopf zerbrechen“ wird als „to worry“ euphemisiert. Brisant erscheint, dass Dugdales englische Übersetzung Hitlers kalte Menschenverachtung durch subtile semantische Operationen abschwächt. Dies wird besonders deutlich in der Reduktion bombastischer Rhetorik, z. B. wird „Terror“ zu „intimidation“, oder in der Herunterstufung von Superlativen und der Auslassung zynischer menschenverachtender Kommentare. Im Gegensatz zu Dugdales Übersetzung wurde die Arbeit von James Murphy wohl nicht nach, sondern während des Übersetzungsprozesses zensiert. Unterlag aber der eigentliche Übersetzungsprozess noch der Kontrolle durch die nationalsozialistischen Behörden, verloren Letztere jeglichen Einfluss auf den in den Jahren 1938 bis 1939 einsetzenden Publikationsprozess. Der Übersetzer James Murphy stammte aus Irland und erhielt den Übersetzungsauftrag wohl auch wegen eines 1934 publizierten wohlwollenden Buches mit dem Titel Adolf Hitler: The drama of his career. Er begann seine Übersetzungsarbeit im Propagandaministerium gegen Ende 1936, wobei sich im Lauf der Zeit seine Einstellung zum Regime änderte. Erstaunlicherweise wurde seine Arbeit ab Frühjahr 1937 auch von seiner Sekretärin Greta Lorcke, die einem marxistischen Spionagering angehörte, kompromittiert. Sie beklagte sich über Murphys kultivierte Anwendung der englischen Sprache und erwirkte daraufhin einige heimliche stilistische Änderungen.80 Abgesehen von den möglichen Texteingriffen seiner Sekretärin und der Zensur durch die deutschen Be78 79 80
Dugdale (Übersetzer), My Struggle, S. 242 (britische Ausgabe). Dugdale (Übersetzer), My Battle, S. 261 (amerikanische Ausgabe). Vgl. Barnes/Barnes, Hitler’s Mein Kampf, S. 54–55.
74
Stefan Baumgarten
hörden kann man auch davon ausgehen, dass Murphy einen flüssigeren und idiomatischeren Textfluss als Dugdale anstrebte, hielt er doch dessen Übersetzung ohnehin für misslungen.81 Im Sommer 1938 wurde Murphy jedoch vom Propagandaministerium entlassen und kehrte nach Großbritannien zurück. Während der Sudetenlandkrise im Herbst desselben Jahres rettete seine Frau sein Manuskript auf abenteuerliche Weise aus Deutschland. Die fertige Übersetzung wurde dann erst veröffentlicht, nachdem die Amerikaner im Februar 1939 eigene unautorisierte Übersetzungen herausgebracht hatten. Trotz der Kritik Murphys an der Dugdale-Übersetzung erweckte seine Arbeit beim englischsprachigen Leser den wohl „gelehrtesten“ Eindruck. Ein wichtiger Aspekt von Murphys Übersetzungsstil ist in diesem Zusammenhang eine Neigung zur Verbosität im Verbund mit einer gleichzeitigen Komprimierung vieler langer Sätze des Ausgangstextes: Mit einer Gesamtwortzahl von ca. 266.000 Wörtern geht diese Übersetzung mehr als 51.000 Wörter über die ca. 215.000 Wörter des Ausgangstextes hinaus und ist auch wesentlich länger als die drei amerikanischen Komplettübersetzungen (Stackpole ca. 230.000, Reynal and Hitchcock ca. 243.000, Manheim ca. 236.000 Wörter). Die mehr als 10.000 Sätze in Murphys Text (Ausgangstext ca. 8.200 Sätze) verdeutlichen auch die extreme syntaktische Komprimierung im Vergleich zu den anderen Komplettübersetzungen (Stackpole ca. 8.400, Reynal and Hitchcock ca. 8.200, Manheim ca. 8.200 Sätze).82 Ein weiteres wichtiges Merkmal ist eine stark ausgeprägte lexikalische Diversifizierung: Anstatt häufig wiederkehrende Ideologeme (z. B. die Schlüsselbegriffe „Blut“, „Kampf“, „Volk“) und emphatische syntaktische Muster (z. B. „wahrhaftiger Gott“ oder „immer wieder und wieder“) auch im Zieltext wiederholend einzusetzen, um somit den Lesern eine Ahnung von der beschwörend-ideologischen Überzeugungskraft sich ständig wiederholender Sprachmuster zu bieten, bedient sich Murphy einer Fülle verschiedener stilistisch erhöhter Muster. Dies wird besonders deutlich bei Schimpfwörtern und emotionalisierten Ausdrücken: „Beamtenhuren“ werden zu „kept officials“ (Manheim: „official whores“), „verlogene heimtückische Duckmäuser“ mutieren zu „slinking hypocrites“ (Manheim: „lying, treacherous sneaks“) oder es werden Ausrufe wie „wahrhaftiger Gott“ einfach ausgelassen. Allgemein erklingen scharfe Ausbrüche zahmer, Tautologien und Pleonasmen werden umformuliert, drastische Bilder werden unterdrückt, und Superlative und apodiktische Beschwörungen verschwinden. Insbesondere der sich wie ein roter Faden durch den deutschen Text ziehende hyperbolische Ausdruck fällt vielfach unter den Tisch: beispielsweise übersetzt Murphy „rücksichtslose und fanatisch einseitige Einstellung“ als „ruthless and devoted insistence“ (Manheim: „ruthless and fanatically onesided orientation“), „fanatische Unduldsamkeit“ wird zu „passionate intolerance“ (Manheim: „fanatical intolerance“), „in dieser Welt des ewigen Ringens“ wird syntaktisch erweitert zu „in this world, where permanent struggle is the law of life“ (Manheim: „in this world of eternal struggle“), „gewaltigste Bestätigung“ wird zu „strongest confirmation“ (Manheim: „mightiest confirmation“), die 81 82
Vgl. ebd., S. 54. Vgl. Baumgarten, Translation, S.86.
Sprachliche und diskursive Tendenzen einer eliminatorischen Narration
75
ungeschickte tautologische Wendung „diese Maßnahme versagte in der praktischen Durchführung“ verwandelt sich in „this legislation failed in practice“ (Manheim: „this measure was a failure in its practical application“), oder eine Beschwörungsformel wie „Vernichtung Frankreichs“ wird abgeschwächt zu „suppression of France“ (Manheim: „destruction of France“). Im direkten Vergleich mit Dugdales Übersetzung zeigen sich auch lexikalische Veränderungen, die von der Zensur veranlasst sein könnten: Dugdales wörtliche Übertragung von „Menschenmaterial“ als „human material“ wurde eventuell bewusst zu „persons“ umgeändert, oder die Übertragung der emphatisch-hyperbolen Struktur „hunderttausend und aber hunderttausend fanatische Kämpfer für unsere Weltanschauung“ als „a hundred thousand, and again a hundred thousand, fanatical fighters“ mutiert in Murphys Text zu „a hundred thousand devoted champions of our Weltanschhauung“. Außer solchen semantischen Manipulationen lassen sich in Murphys Übersetzung auch weitere syntaktische Veränderungen beobachten, wobei eine Tendenz zur Umwandlung von Hitlers häufig sehr gestelzt wirkendem Nominalstil zu einem leichter rezipierbaren Verbalstil besonders ins Auge fällt: Beispielsweise verwendet Hitler an mehreren Stellen die für die nationalsozialistische Rassentheorie bedeutende Metapher menschlicher „Höherzüchtung“, die in der Regel sehr ungenau und verbalisierend übersetzt wird, beispielsweise durch einen Begriff wie „selective improvements“. Durch die Vermeidung einer ähnlich konnotierten Nominalisierung im Englischen, wie z. B. „higher breeding“ (Manheim), geht der elitäre und menschenverachtende, nach sozialer Ausgrenzung und physischer Eliminierung trachtende Zuchtaspekt gänzlich verloren. In der Gesamtbetrachtung und im Gegensatz zum deutschen Ausgangstext wirkt Murphys domestizierender Text akademisch rationalisiert und stilistisch ausgefeilt. Letztlich legitimieren beide konformen Übersetzungen den deutschsprachigen Autor mitsamt Ausgangstext für das englischsprachige Zielpublikum. Der Sprachduktus resistenter Übersetzungen Die sprachlichen Merkmale der resistenten Übersetzungen verweisen auf einen gegensätzlichen übersetzerischen Habitus. Die sprachlich-ideologischen Muster dieser Übersetzungen lassen sich im direkten Vergleich mit dem deutschen Ausgangstext und den konformen Übersetzungen erschließen. Allerdings kann auch der ausschließliche Vergleich verschiedener resistenter Übersetzungen untereinander zu aufschlussreichen Ergebnissen führen. Aussagekräftige Ergebnisse lassen sich insbesondere durch eine korpusbasierte Methodik erzielen. Sogenannte kontrastive Konkordanzen ermöglichen einen besseren Einblick in vermutete strategische Übersetzungsentscheidungen als ein manueller Seitenvergleich zwischen Ausgangstext und Übersetzung. Die sprachliche Oberflächenstruktur der meisten resistenten Übersetzungen, insbesondere in Bezug auf die prosodisch-semantischen Merkmale, steht, wenn auch nicht immer eindeutig, einer positiv wohlwollenden Rezeption von Ausgangstext und -autor entgegen.
76
Stefan Baumgarten
Das Betrachten vergleichender Konkordanzen ermöglicht eine übersichtliche Visualisierung semantischer Präferenzen und prosodisch-emotionaler Textmuster. Eine überschaubare Darstellung sprachlicher Einheiten auf engstem Raum erlaubt also die Rekonstruktion mutmaßlicher rekurrenter Übersetzungsstrategien und somit ideologischer Übersetzungsentscheidungen. Die vergleichende Konkordanz 1 wurde generiert auf der Basis des Ausgangstextadjektivs „blutig“. Man erkennt deutlich den Kontrast zwischen Manheims wörtlich imitierendem Ansatz und Murphys stilistisch aufwertendem Übersetzungsstil. Nicht nur die emotionale Aufladung der unmittelbaren sprachlichen Umgebung des Begriffes „blutig“ ist kaum noch sichtbar in Murphys polierter Übersetzung, es lassen sich auch mögliche bewusste Veränderungen ablesen wie bei der Übersetzung in Zeile 28 von „blutiger Vergewaltigung der Nation“ durch die explizierende Wendung „the nation is groaning under an oppression“. Nichtsdestotrotz schießt Manheims superlativische Übersetzungsentscheidung – „the bloodiest rape of our nation“ – etwas über das Ziel hinaus, was generell auf Ungenauigkeiten auch in dieser Übersetzung hindeutet. Eine erhebliche Reduktion der Emotionalität und somit unauthentische Reflektion der prosodischen Eigenschaften und eliminatorischen Tiefenstruktur des Ausgangstextes wird in Murphys Übersetzung durch die konnotative Auflösung von Kollokationen bewirkt: „blutige Ausrottung“ wird zu „ruined“, „sich blutig bekämpfend“ zu „bitterly fight“, oder „blutige Brachialgewalt“ zu „force and bloodshed“. Solche visuell aufbereitete Konkordanzen geben somit weiteren Aufschluss über eine regulative Steuerung von Murphys Arbeit durch das Propagandaministerium. Eine korpuslinguistische Übersetzungsanalyse kann jedoch auch auf der Basis von zielsprachlichen Einheiten zu ideologisch relevanten Ergebnissen gelangen. Ein Vergleich der Wortfrequenzlisten aller elf im Korpus befindlichen Übersetzungen ergab eine besonders hohe Frequenz des Lemmas „destruction“ in den Texten von B. D. Shaw und Alan Cranston (ein Lemma beinhaltet alle semantischen Variationen eines Suchbegriffes, z. B. „destructive“, „destroyer“, etc.). Da diese Häufigkeiten insbesondere wegen der jeweils relativ geringen Gesamtwortzahl dieser beiden Übersetzungen auffällig erschienen, lohnte sich ein Konkordanzvergleich mit dem Ausgangstext. Wie Konkordanz 2 belegt, kann man annehmen, dass Cranstons Übersetzung durch eine bewusste Reduktion der lexikalischen Vielfalt des Ausgangstextes das Rezeptionsverhalten zu steuern suchte. Wenn also eine relativ große lexikalische Bandbreite einen Text als akademisch ausgefeilt erscheinen lässt, wie bei Murphys Übersetzung in Konkordanz 1 ersichtlich, dann bewirkt die in Konkordanz 2 aufscheinende Verflachung der lexikalischen Vielfalt genau das Gegenteil. Es wird eine semantische Prosodie erzeugt, die eine noch eindeutigere, eventuell auch pessimistischere, Botschaft von Zerfall und Niedergang vermittelt als der eigentliche Ausgangstext. Wird also durchgehend ein lexikalischer Rahmen wie „destruction“ in einer Übersetzung verwendet, obwohl verschiedenartige Synonyme und auch unterschiedlich konnotierte Begriffe im Ausgangstext vorhanden sind – beispielsweise „Untergang“, „Zerstörung“, „Verderben“, „Vernichtung“, „Ausrottung“, „Zusammenbruch“ – dann soll möglicherweise ein bestimmtes Bild des Ausgangstextautors generiert werden: ein Autor
5 6
12 13
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roceeded to suppress it with force and bloodshed? Would we stil erged from the ordeal of the most bloody civil wars, while from
e Marxists, who had always derided and exploited the individual etted sword; in other words, through a fight where blood will ha
rague there was nothing but gibes and sneers for that masterpiece r; in the other were those of blood and terror. Was it not perfectl the loss of its liberty after a sanguinary and honourable struggl an ever called to impose its sanguinary despotism on the rest of
3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29
im Handumdrehen eine sich blutig bekämpfende Rotte von Ratt
nun den Kampf dagegen mit blutiger Brachialgewalt aufnimmt?
gegenwärtigen, daß aus den blutigsten Bürgerkriegen häufig ei
n auf dem Schlachtfeld dem blutigen Ende auszuliefern, aber zeh
genug, diesen Streit bis zum blutigen Ende durchzufechten. Die
rgehende Spielerei, sondern blutiger Ernst. Ich habe schon dam
o wie es sich im Jahre 1918 blutig gerächt hat, daß man 1914 un
seinem viereinhalbjährigen blutigen Geschehen das innere Glei
n in Deutschland immer mit blutigstem Hohn übergossen hatte,
robern hat, also durch einen blutigen Kampf. Da allerdings steh
h so heftig zucken unter den blutigen Kämpfen der einzelnen Na
an einer solchen wurden mit blutigen Köpfen auseinandergeschla
Rücksicht auf Wunden und blutige Opfer, ganz erfüllt von dem
s- und Gefängnisstrafen und blutigster Maßnahmen, die er in za
nt, er begrüßte das Ende des blutigen Ringens, war glücklich, die
nicht die Schuld des ganzen blutigen Ringens auf Deutschland?
on SA-Hundertschaften mit blutigen Schädeln auseinandergetrie
Man stelle sich vor, daß die blutigen Schlachten des Weltkrieg
ner Hof wohl doch noch das blutige Spiel um die Rache für Sado
n nichts mehr vorhanden als blutiger Spott und Hohn. Man mac
rdnung und die Gruppe des blutigen Terrors. Was aber war nun
g dieser Freiheit nach einem blutigen und ehrenvollen Kampf di
enn je berufen glaubt, seine blutige Unterdrückung der ganzen
hl oder übel die schwersten, blutigsten Verfolgungen auf sich ne
azifist zu jeder auch noch so blutigen Vergewaltigung der Natio
rgang ist und bleibt aber ein blutiger. Wenn man jedoch der Über
will always be marked with bloodshed. If we are once convinced
nation is groaning under an oppression which is being exercised
ve to submit to a severe and bloody persecution. And in that case
e Court might have chanced the game of blood in order to get its
man soil. Let us imagine the bloody battles of the World War not
w minutes and sent off with bleeding skulls. The National Sociali
lay the whole blame for the sanguinary struggle on the shoulder
gladly welcomed the end of the strife in which so much blood h
s of years, and even though the most sanguinary methods of rep
t, indifferent to wounds and bloodshed, inspired with the great id
ersed and driven away with broken heads. It certainly did not cal
rnally rickety because of the terrific conflict going on between th
ever fight their own battles. The outpouring of blood for four-an
ngth. Just as in 1918 we had to pay with our blood for the failure
e no idle dallying but only a cause to be championed ardently. I
ation and tenacity to fight a sanguinary issue through to the end
llions of human beings to be slaughtered on the battlefields, while
urn into a swarm of rats that bitterly fight against each other. If t
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till vaster horde of workers. Abject poverty confronted the wealt
2
kratie und des Handels eine blutige Armut. Vor den Palästen der
den Kampf steigernd bis zur blutigen Ausrottung der ihm verhaß
d disintegration, until he has ruined his hated adversary. In Russia
1
Murphy ders were to open to-day the bloodstained accusers would arise,
1
Ausgangstext
o würden sich aus ihnen die blutigen Ankläger erheben, Hundert
Konkordanz 1: blutig Manheim
h a process is and remains a bloody one. If, however, we harbor t
ist will accept in silence the bloodiest rape of our nation at-the h
or worse invite the gravest, bloodiest persecutions. But then we
us of a mission to impose its bloody oppression on the whole wo
e loss of this freedom after a bloody and honorable struggle ass
and order and the group of bloody terror. Now what was more
There there was nothing but bitter scorn and mockery for this ‚
ould probably have risked a bloody venture to avenge Sadowa.
erman soil. Suppose that the bloody battles of the World War ha
few minutes scattered with bloody skulls by SA detachments. T
ove tile blame for the whole bloody struggle on Germany? And
ont welcomed the end of the bloody struggle; he was glad to retu
n and jail sentences and the bloodiest measures which in innum
thout regard for wounds and bloody victims, filled entirely with t
ersed and driven away with bleeding heads. Such an accomplish
uiver and quake beneath the bloody battles of the different natio
sword; in other words, by a bloody fight. But I do not hesitate t
princes in Germany with the bloodiest scorn, now came out as an
h its four and a half years of bloody events disturbed the inner ba
nal strength. Just as in 1918 we paid with our blood for the fact
it was no passing game but grim earnest. Even then I had an ins
carry through the fight to its bloody end. And the Pan-German m
ship‘ to subject millions to a bloody end on the battlefield withou
been borne in mind that the bloodiest civil wars have often give
p the struggle against it with brutal strong-arm methods? Are w
into a horde of rats, fighting bloodily among themselves. If the Je
g the struggle to the point of bloodily exterminating his hated fo
nd commercial wealth dwelt dire poverty. Outside the palaces on
, from them would arise the bloody accusers, hundreds of thousa
Sprachliche und diskursive Tendenzen einer eliminatorischen Narration
77
rted their disintegrating and destructive effects. The broad ma ncreased understanding of the destructive effects of Social Dem ceed in convincing them how ruinous their Marxist madness wa
ation has not yet gotten in its destructive work. This great mass
t seemingly realization of the destructive destiny of social dem
ould convince the Jews of the destructive nature of their Marxis
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reat men are only great in the destruction of humanity and its c onstructive effect, but will be destructive, and in very rare cases
have been racial mixture and destruction, therefore, of the Ger
19
race whose great men are all destructors, scornfully labels all t
of our collapse, as well as the destruction of its beneficiaries ca ase not a Germanization but a destruction of the Germanic elem
asons for our collapse and the destruction of those who took ad
18
ent toward a higher sphere, is destructive, never constructive. A
one whose sole interest is the destruction of his partner. Above
tner whose sole interest is the destruction of the other. An allian
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occur, the last pacifist would die out with the last German, sinc
d Pacifism would die with the destruction of the last German, fo
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d as a ‚philosophy.‘ With the shattering of the personality and t tate conception, but above all elimination of the existing Jewish
ns of human civilization. The destruction of personality, nation,
dea of the racial state, but the destruction of the Jewish idea. In
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an nation was the question of destroying Marxism. In the catast
‚s future was a question of the destruction of Marxism. This infe
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a Jewish one, just as today a destruction of Japan serves Britis
tion of Germany - that is, the extermination of the national folk
erests. The Jew works for the destruction of Germany as a step
10 ays after her Isonzo front had collapsed? And what again did Fr
borne in patient silence. The fall of Carthage is the most horribl
een passed by in silence. The destruction of Carthage was a ter
9
did Italy do in the days of the destruction of her Isonzo front?
ld be safeguarded only by the destruction of Austria, and, furth
the German race required the destruction of Austria; further, na
8
me way, the Jews pray for the destruction of Japan to clear the
hose goal is and remains the destruction of all non- Jewish nat
arxism aims for the ultimate destruction of all non-Jewish Nat
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ed our people into misery and ruin and amid the misfortune of t
11
ime I dug into this doctrine of destruction- this time no longer l
y investigated this doctrine of destruction, led this time not by p
ed our people into misery and destruction, loving themselves m
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a nationality is led toward its destruction, then rebellion is not
hen a people is driven toward destruction by any government p
3
5
tock exchange Jews in such a development is great. The cleava ction between this doctrine of destruction and the nature of a pe
mies are still working for our destruction. But the Marxist soldi
lation between the doctrine of destruction and the nature of a ra
2
Manheim s a state destined to the same fate. And you do not make pacts
Cranston
state singled out for the same destruction. An alliance is not for
1
Konkordanz 2: Cranston-Übersetzung – destruction Ausgangstext
te mir gelingen, sie von der Verderblichkeit ihres marxistisc
steigende Einsicht von der vernichtenden Wirkung soziald
hatten hier noch nicht ihre zersetzenden und zerstörenden
aufbauend wirken, sondern zerstörend und in ganz seltenen
rößen nur groß sind in der Zerstörung der Menschheit und
rmanisierung, sondern eine Vernichtung germanischen Ele
usammenbruchs sowie die Vernichtung der Nutznießer des
essen einziges Interesse die Vernichtung des anderen ist. Ma
hen auch der letzte Pazifist aussterben, da die andere Welt a
assung, sondern vor allem: Beseitigung der vorhandenen jüd
g“ bezeichnen darf. Mit der Zertrümmerung der Persönlich
schen Nation die Frage der Vernichtung des Marxismus ist.
nau so wie auch heute eine Vernichtung Japans weniger brit
tat Italien in den Tagen des Zusammenbruches seiner Ison
ung Deutschlands, d. h. die Ausrottung der nationalen völki
duldend ertrug. Karthagos Untergang ist die schrecklichste
erung des Deutschtums die Vernichtung Österreichs voraus
mus, dessen letztes Ziel die Vernichtung aller nichtjüdische
, die unser Volk in Not und Verderben führten und die im U
ich mich in diese Lehre der Zerstörung hinein - und diesmal
sgewalt ein Volkstum dem Untergang entgegengeführt wird
zwischen dieser Lehre der Zerstörung und dem Wesen ein
judentums an einer solchen Entwicklung. Der Zwiespalt zwi
sondern einen zu gleichem Schicksal bestimmten Staat sieht
78 Stefan Baumgarten
Sprachliche und diskursive Tendenzen einer eliminatorischen Narration
79
mit einer einfachen, ungehobelten, ja brutalen Ausdrucksweise, die noch gewaltbereiter als im Ausgangstext anmutet. Da es sich um eine gekürzte Übersetzung handelt, sollte man auch betonen, dass wohl bewusst solche Ausgangstextstellen ausgewählt wurden, die Hitlers apodiktische Verwendung des semantischen Feldes „Zerstörung“ hervorheben. In diesem Zusammenhang erbrachte eine vergleichende Konkordanz mit Shaws Übersetzung dasselbe Ergebnis. Natürlich decken sich solche Beobachtungen leicht mit den vorliegenden situativen und paratextuellen Informationen über Shaws und Cranstons Übersetzungen83, jedoch wären solche Ergebnisse ohne eine vergleichende korpuslinguistische Untersuchung nur schwer zu erzielen. Halten sich also Murphy und Manheim stärker an die eher variierende lexikalische Gestaltung des Ausgangstextes, so kann man durch die Verflachung der lexikalischen Bandbreite in Shaws und Cranstons Übersetzungen gewiss von einer Dämonisierung des Autors ausgehen. Die resistenten Übersetzungen von Shaw und Cranston sind sehr ungenau und somit die qualitativ schlechtesten im gesamten Textkorpus. Sie bewirken eine Erhöhung der autoriellen Selbstreferenz, was sich auch in einer sehr häufigen Verwendung von Personalpronomen wie „I“ und „we“ niederschlägt. Die Fokussierung der englischen Wiedergabe auf die Stimme des Autors zeigt sich auch in der häufigen Kürzung ganzer Sätze, wodurch die genozidal motivierte Unerbittlichkeit kategorischer Aussagen noch potenziert zu werden scheint: „Es wäre die Pflicht einer besorgten Staatsregierung gewesen, nun, da der deutsche Arbeiter wieder den Weg zum Volkstum gefunden hatte, die Verhetzer dieses Volkstums unbarmherzig auszurotten. Wenn an der Front die Besten fielen, dann konnte man zu Hause wenigstens das Ungeziefer vertilgen“84 wird in Cranstons Text zum knappen und selbstverständlichen Mordaufruf: „These fakers should have been destroyed: if the best men were to die in the front line trenches, certainly the vermin at home should have been wiped out“.85 Der folgende Textausschnitt aus B. D. Shaws Übersetzung verdeutlicht, wie das Zusammenspiel antagonistischer Kommentare und sprachlicher Manipulation das Bedrohungsszenario für den amerikanischen Leser des Jahres 1939 noch verstärkt haben muss: „Heute werde ich nur von der nüchternen Erkenntnis geleitet, daß man verlorene Gebiete nicht durch die Zungenfertigkeit geschliffener parlamentarischer Mäuler zurückgewinnt, sondern durch ein geschliffenes Schwert zu erobern hat, also durch einen blutigen Kampf. […] Ein Bündnis, dessen Ziel nicht die Absicht zu einem Kriege umfaßt, ist sinn- und wertlos. Bündnisse schließt man nur zum Kampf. Und mag die Auseinandersetzung im Augenblick des Abschlusses eines Bündnisvertrages in noch so weiter Ferne liegen, die Aussicht auf eine kriegerische Verwicklung ist nichtsdestoweniger die innere Veranlassung zu ihm.“86 83
84 85 86
Miller, Anthony: Court Halted Dime Edition of „Mein Kampf“; Cranston Tells How Hitler Sued Him and Won, in: Los Angeles Times, 14.2.1988, S. 4; Kreisler, Harry: Conversation with Alan Cranston: former US-Senator from California, in: Institute of International Studies, UC Berkeley (2000); globetrotter.berkeley.edu/people/Cranston/cranston-con0.html (Zugriff am 12.10.2018); Tong, Lorraine H.: Hitler on Trial: Alan Cranston, Mein Kampf, and The Court of World Opinion. LHT Productions (2017); Shaw, B. D.: Introduction, S. 3–4. Hitler, Mein Kampf (1943), S. 185–186. Cranston (Hg.), Own Book, S. 10. Hitler, Mein Kampf, S. 710, 749 (Hervorhebung im Originaltext).
80
Stefan Baumgarten „Today I am guided only by the cold argument that lost territories cannot be reconquered by the speeches of sharp parliamentarians, but only by a sharp sword – a bloody war.“
An dieser Stelle fügt Shaw den Kommentar ein: „Before subjugating France, however, he must first conquer other parts of Europe – Russia and her neighboring countries. What was Czecho-Slovakia has already been reduced to a German colony. Wars of conquest may be necessary for the attainment of the rest of his objectives. This is where alliances with other powers will be most useful. For to Hitler alliances have only one purpose, that of war.“
Daran schließt die weitere Übersetzung an: „An alliance that does not include war among its aims is foolish and useless. Alliances are made for the sole purpose of war. Even though a dispute entailing armed conflict seems ever so far removed at the time of the formation of an alliance, its fundamental motivation nevertheless remains preparation for war.“87
Die forcierte semantische und syntaktische Nachlässigkeit auch dieser Übersetzung ist augenscheinlich. Die systematische Anordnung und Kommentierung der sorgfältig ausgewählten Textversatzstücke dient ausschließlich der Konstruktion eines Feindbildes. Dies kulminiert in der sechsmaligen Verwendung des Begriffes „war“, der explizit und unumstößlich einen deutschen Angriffskrieg heraufbeschwört. Die im Ausgangstext verwendete Schwertmetapher fungiert hier nur als Aufhänger einer an den Zieltextleser gerichteten politischen Botschaft. Das Zusammenwirken von äußerer Aufmachung, ideologischen Kommentaren und übersetztem Text lässt sich besonders an der Übersetzung der wichtigen außenpolitischen Stellen festmachen. Die folgende bekannte und vielzitierte Stelle aus Mein Kampf wurde in der Dugdale-Übersetzung ausgelassen, aber von fünf der sieben unvollständigen Übersetzungen berücksichtigt. Das Beispiel zeigt, wenn vorhanden, auch die unmittelbar angrenzenden Überschriften oder Kommentare: „Denn darüber muß man sich endlich vollständig klar werden: Der unerbittliche Todfeind des deutschen Volkes ist und bleibt Frankreich.“88
In den Komplettübersetzungen lautet diese Stelle: „Finally, we must be quite clear on the following point: France is and will remain the implacable enemy of Germany.“89 „About this finally one must be perfectly clear: France is and remains the inexorable enemy of the German people.“90 „Because we must at last become entirely clear about this: the German people’s irreconcilable mortal enemy is and remains France.“91
87 88 89 90 91
Shaw (Hg.), Mein Kampf, S. 12. Hitler, Mein Kampf (1943), S. 699. Murphy (Übersetzer), Mein Kampf, S. 505. Mussey (Übersetzer), Mein Kampf, S. 600 Ripperger (Übersetzer), Mein Kampf, S. 902.
Sprachliche und diskursive Tendenzen einer eliminatorischen Narration
81
„For on this point we must at length achieve full clarity: The inexorable mortal enemy of the German people is and remains France.“92
In der gekürzten Cranston-Übersetzung wird diese Stelle solcherart präsentiert: „Everlasting Enemy – France With regard to this we must be clear about one thing: The everlasting enemy of the German people is and remains France. (This is undoubtedly the most-quoted sentence in Mein Kampf. It is especially popular in France!)“93
In den Auszugsübersetzungen wird diese Stelle auf diese Weise vorgestellt: „Let this be perfectly clear! The inexorable deadly enemy of the German people is and remains France.“94 „XI.–France * On this point we must at last be completely clear: the inexorable enemy of the German nation is and will always be France. …“95 „France, however, is not only not a possible ally in Herr Hitler’s thought. She is the deadly enemy of Germany. There must be full clarity about one thing. The deadly enemy of the German people now is and remains France. …“96 „FOREIGN POLICY To explain completely the character of Hitler one would have to be a particularly penetrating psychologist. This much however, is obvious to the intelligent reader, that the author of ‚Mein Kampf‘, who is so enamoured of war, is obsessed by an all-consuming hatred – hatred of almost everybody and everything. He hates Jews, Catholics, Protestants, Marxists, Democrats, Liberals, intellectuals, humanitarians – to name only a few. The world has already seen what he has done to the Jews, Catholics and Protestants. But he also hates Frenchmen. What is he going to do? Why, make war against France, of course! […] One must be perfectly clear on this point: France is and will always be the inexorable enemy of the German people. …“97
Abgesehen von den als eine Art „ideologischer Verstärker“ wirkenden Kommentaren untermauert dieses Beispiel anschaulich die relativ gewissenhafte Textarbeit der Komplettübersetzungen im Vergleich zu den anderen Übersetzungen. Die Akzentuierung „is and will always be“ in Shaws Text und im Memorandum des britischen Foreign Office geht noch über die „Vorgabe“ des Ausgangstextes hinaus und könnte auf eine recht eindeutige Zielsetzung zurückzuführen sein: die Leser im britischen Kabinett und in der amerikanischen Öffentlichkeit jeweils von der großen außenpolitischen Gefährdungslage in Kenntnis zu setzen. Weiterhin kann man nicht ausschließen, dass sich Shaw auf vorherige Übersetzungen stützen konnte, 92 93 94 95 96 97
Manheim (Übersetzer), Mein Kampf, S. 565. Cranston (Hg.), Own Book, S. 27 (Überschrift, Kommentar und Hervorhebungen im Original). Weizmann, Selection, S. 15. H. M. Embassy, Berlin, Confidential, S. 8 (Überschrift im Original; die in diesem Text benutzten Sternchen signalisieren die Auslassungen der Dugdale Version). Atholl (Hg.), Policy, S. 17 (Kommentar im Original). Shaw (Hg.), Mein Kampf, S. 10 (Überschrift und Kommentare im Original).
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vielleicht sogar auf die Flugschriften der Friends of Europe. Die übersetzerische Rezeption und Behandlung der außenpolitischen Einstellungen und Ziele des Autors von Mein Kampf basierten wohl zu einem großen Teil auf individuellen Reaktionen zum politischen Tagesgeschehen und führten dadurch zu vereinzelten überproportionierten und auch (zum Teil bewusst) falschen Übersetzungsentscheidungen. Schwerwiegender als solche als politisch einzustufenden Reaktionen ist jedoch die ideologische Rezeption des sich in Mein Kampf graduell entfaltenden eliminatorischen Grundtenors. Das fünfte Kapitel des ersten Buches mit dem Titel „Der Weltkrieg“ repräsentiert eine Zäsur in der narrativen Progression. Die Ursachen und Konsequenzen des Ersten Weltkriegs werden vom Autor als nationaler Vernichtungskampf und persönliche Katharsis hochstilisiert, wobei er insbesondere die Wirren und Grausamkeiten des Krieges in pathetischer Sprache glorifiziert. In diesem Kapitel offenbart sich seine endgültige Berufung zum Politiker sowie die unumstößliche und unumkehrbare Erkenntnis, dass sich eine neue Weltanschauung nur mit Gewalt durchsetzen lässt. Die 1918 bei Kriegsende einsetzende marxistische Revolution hatte die endgültige Niederlage des Deutschen Reiches verursacht, aber die eigentlichen Verantwortlichen wurden nicht zur Rechenschaft gezogen. In diesem narrativen Rahmen und durch eine sich graduell brutalisierende Sprache entfaltet sich erstmalig in Hitlers Buch ein inhärenter Vernichtungswille: Die Bekämpfung anderer Weltanschauungen kann nur zur vollständigen Auslöschung eines der Kontrahenten führen. Auf weltanschauliche Gewalt folgt die physische Vernichtung. Hier bildet sich langsam heraus, wie „ein theoretisches Konzept“ als „praktisches Rezept“ in die Konzentrationslager und später in den deutschen Angriffskrieg im Jahr 1939 münden sollte98. Die übersetzerische Rezeption dieses genozidal motivierten Eliminationismus auf sprachlicher Ebene versinnbildlicht letztlich den entscheidenden Gegensatz zwischen konformen und resistenten Übersetzungsstrategien. Der Umgang mit den Agitatoren der Novemberrevolution von 1918 erlangt für Hitler eine existentielle Bedeutung, sowohl im Hinblick auf den von ihm heraufbeschworenen Überlebenskampf des deutschen Volkes als auch auf die Dominanz einer schließlich siegreichen spirituellen und normativen Ordnung. Im Zentrum steht in diesem Zusammenhang folgende Frage: „Kann man denn geistige Ideen überhaupt mit dem Schwerte ausrotten? Kann man mit der Anwendung roher Gewalt ‚Weltanschauungen‘ bekämpfen?“99 Murphy übersetzt euphemistisch und fast schöngeistig: „Is it possible to eradicate ideas by force of arms? Could a Weltanschauung be attacked by means of physical force?“100 Manheim hingegen übersetzt wörtlich und lakonisch: „Can spiritual ideas be exterminated by the sword? Can ‚philosophies‘ be 98 Zehnpfennig, Barbara: Hitlers „Mein Kampf“. Eine Interpretation. München: Wilhelm Fink Verlag 2001, S. 93: „Die erstaunliche Offenheit in der Darstellung der von ihm favorisierten Methoden, die zunehmende Brutalisierung seiner Sprache hat sicher nur eine Ursache: Hitlers Glaube, sich in einer absoluten Notwehrsituation zu befinden – ‚Stand doch Sein oder Nichtsein eines ganzen Volkes auf dem Spiele!‘ (186) […] Sein theoretisches Konzept, das durchaus einiges psychologisches Gespür verrät, wurde später zu seinem praktischen Rezept.“ 99 Hitler, Mein Kampf (1943), S. 186. 100 Murphy (Übersetzer), Mein Kampf, S. 151.
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combated by the use of brute force?“101 Hitlers Antwort ist kompromisslos und fast einzigartig in ihrer übersteigerten Radikalität, denn nicht allein bloße Gewaltanwendung, sondern einzig die ideelle und physische Ausrottung anderer Denkweisen und anders Denkender kann der nationalsozialistischen Idee zum Sieg verhelfen. Das folgende Beispiel verdeutlicht die Signifikanz der Hitlerschen eliminatorischen Grundhaltung im Verbund mit der grammatischen Figur der Nominalisierung. In der öffentlich-politischen Kommunikation ist der Nominalstil in vielen Textsorten ein beliebtes Stilmittel, um abstrakte Sachverhalte zu verdeutlichen. In der politischen Sprache finden Nominalisierungen sehr häufig ihre Anwendung, um die Verursacher einer Handlung zu verschleiern. „Die Anwendung von Gewalt allein, ohne die Triebkraft einer geistigen Grundvorstellung als Voraussetzung, kann niemals zur Vernichtung einer Idee und deren Verbreitung führen, außer in Form einer restlosen Ausrottung aber auch des letzten Trägers und der Zerstörung der letzten Überlieferung.“102 „The application of force alone, without moral support based on a spiritual concept, can never bring about the destruction of an idea or arrest the propagation of it, unless one is ready and able ruthlessly to exterminate the last upholders of that idea even to a man, and also wipe out any tradition which it may tend to leave behind.“103 „The use of force alone without the driving power of a basic intellectual conception can never destroy an idea and its spread except by complete extermination of its very last adherent and the destruction of all tradition.“104 „Use of force alone, without the driving forces of a spiritual basic idea as presupposition, can never lead to the destruction of an idea and its spreading, except in the form of a thorough eradication of even the last representative and the destruction of the last tradition.“105 „The application of force alone, without the impetus of a basic spiritual idea as a starting point, can never lead to the destruction of an idea and its dissemination, except in the form of a complete extermination of even the very last exponent of the idea and the destruction of the last tradition.“106
Zwar ist die offen zur Schau gestellte Vernichtungsabsicht für die deutsch- und englischsprachige Leserschaft eindeutig erkennbar, doch verliert Murphys verbalisierte englische Wiedergabe des deutschen Nominalstils genau den sachlich-rationalen Unterton, den wir heute im Nachhinein als schauerliches Symptom des millionenfachen fabrikmäßigen Tötens im Krieg und den Konzentrationslagern deuten können. Die empfindungslose Unbarmherzigkeit nationalsozialistischer Ausrottungsphantasien zeigt sich in Mein Kampf auch anhand der äußerst häufigen Verwendung von Modalpartikeln. Der exzessive Gebrauch von Partikeln wie „ja“, „gar“ oder „eben“ steht sinnbildlich für Hitlers antiintellektuellen Habitus und seinen hochemotionalisierten, apodiktischen und hyperbolen Sprachgestus. Die meist 101 102 103 104 105 106
Manheim (Übersetzer), Mein Kampf, S. 156. Hitler, Mein Kampf (1943), S. 187. Murphy (Übersetzer), Mein Kampf, S. 151 f. Mussey (Übersetzer), Mein Kampf, S. 171. Ripperger (Übersetzer), Mein Kampf, S. 221. Manheim (Übersetzer), Mein Kampf, S. 156.
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umgangssprachlich verwendeten Modalpartikel kennen in vielen Sprachen kein lexikalisches Äquivalent, weshalb sich ihre Übersetzung oft als Herausforderung erweist. Diese übersetzerische Schwierigkeit kommt besonders dann zum Tragen, wenn der strategische Gebrauch von Modalpartikeln der eliminatorischen Rhetorik deutlich zum Ausdruck verhilft. Sowohl die spätere Verfolgung und Ermordung politisch Andersdenkender und als rassisch minderwertig eingestufter Menschen als auch die Aufopferung des eigenen Volkes gegen Ende des Krieges kommen in Mein Kampf maßgeblich zum Ausdruck: „Unterliegt aber ein Volk in seinem Kampf um die Rechte des Menschen, dann wurde es eben auf der Schicksalswaage zu leicht befunden für das Glück der Forterhaltung auf der irdischen Welt.“107 „If, in its struggle for human rights, a race goes under, it means that it has weighed too light in the scales of fate to be fit to continue to exist in this terrestrial world.“108 „But if a people be defeated in the struggle for its human rights this means that its weight has proved too light in the scale of Destiny to have the luck of being able to endure in this terrestrial world.“109 „But if a people is defeated in its battle for the rights of man, that means simply that in the scales of Fate it weighed too lightly to have the good fortune of survival in our mundane world.“110 „But if a nation succumbs in its struggle for the rights of mankind, then it was probably found weighing too lightly in the scales of destiny to justify its good fortune of being allowed to continue on this mortal globe.“111 „And if a people is defeated in its struggle for human rights, this merely means that it has been found too light in the scale of destiny for the happiness of survival on this earth.“112 „If, in its struggle for human rights, a race goes under, it means that it has weighed too light in the scales of fate to be fit to continue in this world. …“113 „… If in its struggle for the rights of men a people is defeated, then on the scales of Destiny it has been weighed and found wanting …“114
Die Genauigkeit der resistenten Komplettübersetzungen im Gegensatz zu allen anderen Versionen ist wiederum klar erkennbar. Darüber hinaus zeigt das Beispiel, dass sich auch resistente Übersetzungen, wie hier das Foreign Office Memorandum, teilweise wohl wortwörtlich auf die konforme Übersetzung von Dugdale stützen. Es ist wichtig zu betonen, dass die oft breite Palette an Übersetzungsstrategien sowohl innerhalb eines Textes als auch im Vergleich zwischen den verschiedenen Versionen eine eindeutige ideologische Ausrichtung selten zwingendermaßen auf107 108 109 110 111 112 113 114
Hitler, Mein Kampf (1943), S. 105. Dugdale (Übersetzer), My Struggle, S. 50. Murphy (Übersetzer), Mein Kampf, S. 92. Mussey, Mein Kampf, S. 102. Ripperger (Übersetzer), Mein Kampf, S. 123. Manheim (Übersetzer), Mein Kampf, S. 88. H. M. Embassy, Berlin, Confidential, S. 7. Grant Robertson, Conception, S. 10.
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zeigt. In letzter Konsequenz symbolisiert dieses abschließende Beispiel einen Kulminationspunkt der zynisch-eliminatorischen Grundhaltung in Mein Kampf: Werden die äußeren Feinde nicht ideell und physisch vernichtet, dann wird „eben“ das eigene, aber zu schwache Volk der Vernichtung preisgegeben. Die Ideologie des Kampfes und des Rechts des Stärkeren findet hier seine allerletzte Konsequenz. Der Volkssturm und die Einsetzung von Kindersoldaten ab 1944 sind reale Zeugen der in Mein Kampf vorgezeichneten Vernichtungs- und Aufopferungslogik. Aus diesem Grund hat die übersetzerische Nichtbeachtung des kleinen, aber wichtigen Modalpartikels „eben“ erhebliche Auswirkungen auf die ideologische Rezeption des englischen Textes. In Hinblick auf den großen Stellenwert der übersetzerischen Beachtung der eliminatorischen Grundstruktur des Buches Mein Kampf soll nun die Frage erörtert werden, ob die Anfertigung einer neuen kommentierten englischen Übersetzung in Erwägung gezogen werden kann. 6. SCHLUSSWORT: BRAUCHEN WIR EINE NEUE ENGLISCHE ÜBERSETZUNG? Mein Kampf wird weiterhin weltweit in Millionenauflagen und vor allem im Internet vertrieben. Noch heute besitzt das Buch ein ausgesprochen hohes Maß an ideologischer Relevanz und politischer Sprengkraft. Sowohl Befürworter als auch Gegner des Nationalsozialismus stützen sich nach wie vor auf historische englische Übersetzungen. Einerseits wird die konforme Übersetzung von James Murphy von Teilen der rechtsgesinnten Leserschaft als beste Version gepriesen, andererseits dient die Übersetzung von Ralph Manheim als Grundlage für den akademischen englischsprachigen Diskurs über den Nationalsozialismus. Auch wenn man der Manheimschen Übersetzung den Vorrang geben muss in punkto Genauigkeit und Gesamtqualität, so hat auch dieser Text Schwachstellen. Das Übersetzen ist eine anspruchsvolle und auch undankbare Aktivität. Sprachliche Strukturen, Worte und deren Begriffe, der Rohstoff der Übersetzer, lassen sich nur selten eins zu eins in eine andere Sprache übertragen. Sprachen basieren auf historisch gewachsenen Kulturen und Traditionslinien, auf unterschiedlichen Haltungen und Interpretationen der Geschichte und der realen Lebenswelt. Stark kulturell geprägte und politisch konnotierte Texte lassen sich nicht leicht in eine andere Sprache übertragen, da viele Begriffe und Konzepte häufig eine große Fülle an Interpretationen offenbaren. Besonders bei Schlüsselbegriffen der nationalsozialistischen Ideologie – wie „Nation“, „Volk“, „Rasse“, oder auch „Blut“ und „Kampf“ – gibt es in anderen Sprachen erheblichen Interpretationsspielraum. Hinzu kommt, dass historisch tradierte Schlüsselbegriffe auch innerhalb einer Kultur- und Sprachgemeinschaft erheblichen diachronen Bedeutungsverschiebungen ausgesetzt sind. Weltanschauliche Orientierungen spiegeln sich in den historischen englischen Übersetzungen wider. Diese Orientierungen können herrühren aus den Zensurbemühungen der Nationalsozialisten oder aber aus dem jeweiligen ideologischen Weltbild übersetzerischer Entscheidungsträger. Zwar kann eine Unterscheidung in politische und ideologische Übersetzungsstrategien hilfreich sein, jedoch erlaubt
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die oft uneindeutige Beweislage selten verbindliche Schlussfolgerungen. Ideologische Strategien beruhen auf unbewussten Dispositionen bei den übersetzerischen Entscheidungsträgern, sie können aktiviert werden durch tiefsitzende verinnerlichte Werte. Ideologische Strategien beruhen also eher auf dem oft unreflektierten „gesunden Menschenverstand“ eines handelnden Akteurs. Politische Strategien sind eher bewusst reflektiert. Weitere und detailliertere historische und diskursanalytische Studien könnten eventuell zu mehr Klarheit bezüglich der Werteorientierungen der Übersetzungen führen. Im Grunde genommen kann man an die historischen englischen Übersetzungen die Frage stellen, welchen Hitler man dem Zielpublikum präsentieren wollte. Das jeweilige Zusammenspiel von gestalterischen und sprachlichen Komponenten ist unmittelbar verknüpft mit individuellen und kontextuellen Determinanten, die sich teilweise an den bis 1943 entstandenen Übersetzungen ablesen lassen. Die vorangehende Diskussion hat einige Textstellen aufgezeigt, die manipuliert oder zumindest ideologisch gefärbt zu sein scheinen. Die Heraushebung zweier grundlegender kontextuell determinierter – konformer und resistenter – Übersetzungsstrategien ermöglicht eine relativ genaue Bestimmung des jeweiligen Handlungsspielraums übersetzerischer Entscheidungen. Die Anwendung dieser globalen Übersetzungsstrategien bewirkte eine politisch motivierte Repositionierung des Autors und mündete in eine ideologische Rekontextualisierung des Ausgangstextes. Eine wichtige Frage verweist auf die Arbeitsgrundlage einzelner Übersetzungen: Ideologisch resistente Texte hielten sich eher an die Erstausgabe des Buches, da dort noch keine stilistischen Änderungen vorgenommen worden waren. Ideologisch konforme Texte hielten sich eher an spätere stilistisch „verbesserte“ Ausgaben. Pikanterweise gibt es auch innerhalb der konformen Übersetzungen sprachlich-ideologische Unterschiede, weshalb weitere korpusbasierte Studien sowohl die Unterschiede zwischen den beiden Dugdale-Versionen als auch zwischen der Stalag-Ausgabe und der von Hurst & Blackett publizierten Murphy-Übersetzung herausarbeiten könnten. Schlussendlich erweist sich die in Mein Kampf offen zur Schau getragene eliminatorische Grundhaltung nicht nur als wichtigste Richtschnur für den ideologischen Übersetzungsvergleich, sondern auch als wesentliches Argument für eine neu anzufertigende englische Übersetzung: Jede übersetzerische Interpretation von Hitlers genozidal motivierter Narration impliziert ganz unmittelbar die ethische Grundhaltung und ideologische Einstellung der jeweiligen Entscheidungsträger im Übersetzungsprozess. Das weltweit verstärkte Aufkommen illiberaler und rechtspopulistischer Strömungen macht eine erneute Beschäftigung mit Mein Kampf auf englischer Grundlage unabdingbar. Vor dem Hintergund dieser gegenwärtigen geopolitischen Lage lässt sich ein aufwendiges englisches Übersetzungsprojekt rechtfertigen. Eine autoritative und kommentierte englischsprachige Ausgabe kann international einen erheblichen Beitrag leisten zu einer aufklärerisch-normativen, ethisch-begründeten und demokratisch-fundierten Pädagogik.115 Es ist natürlich nicht von der Hand zu 115 Neil Gregor spricht in seiner Analyse der langanhaltenden Debatte über die kommentierte deutsche Ausgabe von 2016 von einer „democratically committed historical pedagogy“, jedoch
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weisen, dass sich eingefleischte Nazisympathisanten weiterhin auf eine für sie akzeptable, der Ideologie des Nationalsozialismus nahestehende, englische Übersetzung stützen, wie z. B. die Murphy-Übersetzung oder auch neuere faschistisch motivierte Übersetzungsprojekte wie die Texte von Michael Ford und Thomas Dalton.116 Natürlich ist auch der Einwand nicht ganz abwegig, man solle Hitlers Mein Kampf eher auf dem Friedhof der Geschichte begraben als mit einer neuen englischen Übersetzung unnötig Staub aufwirbeln. Dem lässt sich entgegnen, dass eine moderne und authentische Version der ungebremsten Verbreitung von schlechten und bewusst falschen Übersetzungen, insbesondere von Neonazis und anderen ideologisch nahestehenden Gruppen, entgegentreten kann. Aber was soll mit dem Begriff einer „authentischen Übersetzung“ gemeint sein? Führt man sich noch einmal den in Mein Kampf stark ausgeprägten genozidal motivierten Eliminationismus vor Augen, dann erscheint uns die globale Verbannung von genozidal motivierter Politik als oberste Priorität auf der gegenwärtigen politischen Weltbühne. Es wird hier entscheidend sein, dass sich zukünftige Übersetzungsakteure die eliminatorische Grundstruktur von Mein Kampf ebenfalls bewusst vor Augen halten und auf dieser Grundlage ihre Übersetzungsstrategien gestalten. Hierbei ist darauf zu achten, dass bei der Übersetzungsarbeit weder eine Reduktion dieser Grundstruktur, wie bei den historischen konformen Übersetzungen, noch eine Steigerung, wie bei vielen historischen resistenten Übersetzungen, vollzogen wird. Auch im Hinblick auf den Stellenwert des Englischen als derzeitige Weltsprache ergibt sich für eine neue englische Übersetzung ein erhebliches Maß an ethischnormativer Verantwortung. Eine neue Übersetzung, die authentisch-entfremdend und somit auch verbessernd über die Manheim-Übersetzung hinausgeht, wäre auch in der Lage, pseudohafte und faschistisch geprägte Übersetzungen zu delegitimieren. Es erweist sich deshalb als dringendes Desiderat, eine englische Übersetzung mit sachlich und historisch fundierten Kommentaren anfertigen zu lassen, wie dies bereits im deutschsprachigen Raum geschehen ist.
ohne die unbestreitbar normative Dimension jeglicher demokratisch-inspirierter Neuauflage, ob in Deutsch oder anderen Sprachen, explizit anzuerkennen (vgl. Gregor, Neil: ‚Mein Kampf‘: Some Afterthoughts, in: Gestrich, Andreas / Schaich, Michael (Hg.): Hitler, Mein Kampf: A Critical Edition – The Debate. German Historical Institute London Bulletin 39/1 (2017), S. 105–111, hier S. 111). 116 Ford, Michael (Übersetzer): Mein Kampf. o. O.: Elite Minds Inc. 2009; Ford, Michael: Mein Kampf: A Translation Controversy. An Analysis, Critique, and Revelation. o. O.: Elite Minds Inc. 2009; Kritik des Propagandaforschers Randall Bytwerk „Errors in the Ford Translation of Mein Kampf“, in: bytwerk.com/Ford-Translation/ford-errors.htm (Zugriff am 12.10.2018); Dalton, Thomas (Übersetzer): Mein Kampf – Dual German-English Translation. o. O.: Clemens & Blair, LLC. 2017.
GRIGORI SINOWJEWS ÜBERSETZUNG UND KOMMENTAR ZU ADOLF HITLERS MEIN KAMPF Wladislaw Hedeler „Die Vernunft ist hier zum Teil durch Mystik, zum Teil durch eine Art von Fuchsschläue ersetzt worden. Das mystische ‚Ganze‘ erscheint als kosmische Hierarchie faschistischer gesellschaftlicher Werte, als Universalisierung der faschistischen Ständeordnung. Das gnoseologische Kriterium der Wahrheit sind die Thesen Hitlers, als Ausdruck einer irrationalen Glückseligkeit.“ (Nikolai Bucharin)1
Bei Recherchen zur Gründungsgeschichte der Kommunistischen Internationale im „Russischen Zentrum zur Aufbewahrung und zum Studium der Dokumente der neuesten Geschichte“ (heute: Russländisches Staatsarchiv für sozial-politische Geschichte) konnte ich das im Sinowjew-Bestand (RGASPI, F. 324, Op. 1, D. 436 und 437) überlieferte Typoskript der von Grigori Sinowjew angefertigten Übersetzung von Adolf Hitlers Mein Kampf einsehen. Eine erste Auswertung des Dokumentes ist in der 1999 veröffentlichten Ausgabe des „Jahrbuchs für Historische Kommunismusforschung“ veröffentlicht.2 Othmar Plöckinger hat die in diesem Archiv aufbewahrte, von Sinowjew angefertigte Analyse des Buches in der Übersetzung von Valery Brun Zechowoj und Dennis Scheller-Boltz 2016 publiziert und ausführlich kommentiert.3 Im vorliegenden Beitrag4 greife ich auf meine Recherchen zurück, gehe auf die von Sinowjew verfasste Analyse „Die Bibel der deutschen Faschisten“ ein und versuche, auf einige von O. Plöckinger in seiner Publikation über die Geschichte von Mein Kampf5 aufgeworfene Fragen zur Übersetzung und zum Kommentar zu ant1 2
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Uhlig, Dieter / Hedeler, Wladislaw (Hg.): Nikolai Bucharin. Philosophische Arabesken. Dialektische Skizzen. Berlin: Karl Dietz Verlag 2005, S. 94. Hedeler, Wladislaw: Neue Archivdokumente zur Biographie von Grigori Jewesejewitsch Sinowjew. Über Adolf Hitlers „Mein Kampf“ und Friedrich Engels Aufsatz „Die Auswärtige Politik des russischen Zarentums“, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 1999, S. 296–316. Die Bibel der deutschen Faschisten, in: Plöckinger, Othmar (Hg.): Schlüsseldokumente zur internationalen Rezeption von „Mein Kampf“. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2016, S. 17–74. Die in der „Einleitung“ auf Seite 14 fehlerhaft angegebene Signatur lautet richtig: F. 324, Op. 1, D. 440. Im vorliegenden Artikel wird nach der Ausgabe Hitler, Adolf: Mein Kampf. 112.–113. Aufl. München: Zentralverlag der NSDAP 1934 (im Folgenden: Mein Kampf) zitiert. Das im RGASPI überlieferte Typoskript der von Sinowjew angefertigten Übersetzung (RGASPI, F. 324, Op. 1, D. 436 und 437) liegt der 1992 veröffentlichten Ausgabe von Mein Kampf in russischer Sprache zugrunde: Gitler, Adol’f: Moja bor’ba. Perevod s nemeckogo s kommentarijami redakcii. O. O. 1992 (im Folgenden: Moja bor’ba). Plöckinger, Othmar: Geschichte eines Buches. Adolf Hitlers „Mein Kampf“ 1922–1945. München: Oldenbourg Verlag 2006, S. 518–528.
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worten. Abschließend skizziere ich die heute in Russland (im Vergleich zu den 1990er Jahren) veränderte Situation bezüglich des Drucks, des Vertriebs und der Verfügbarkeit von Hitlers Mein Kampf. GENESE, AUFTRAGGEBER UND ZIELSETZUNG DER ÜBERSETZUNG Es ist – in Anbetracht der in Russland immer noch ausstehenden Publikation der Materialien der Moskauer Schauprozesse von 1936 und 1937 und des von Nikolai Jeshow6 vorgelegten Prozessszenarios7 – mehr als angebracht, auf die politische Laufbahn des sozialdemokratischen Funktionärs jüdischer Abstammung OwsejGersch Aronowitsch Radomyslskij, bekannter unter dem Parteinamen Grigori Sinowjew, einzugehen. 1901 trat er in die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) ein, ging 1908 ins Exil, aus dem er gemeinsam mit Wladimir Lenin im April 1917 zurückkehrte. Von 1912 bis 1927 gehörte er dem Zentralkomitee (ZK) an, von 1921 bis 1926 dem Politbüro (PB). Von Januar bis März 1918 war er Vorsitzender des Zentralverbandes der Gewerkschaften, von 1917 bis 1926 des Petrograder Sowjets und von 1919 bis 1926 des Exekutivkomitees (EKKI) der Kommunistischen Internationale (Komintern). Als Führungsmitglied der „Neuen Opposition“ bzw. des vom Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten (NKWD) erfundenen „trotzkistisch-sinowjewistischen Blocks“ wurde er im Juli 1926 aus dem PB, im November 1927 und Oktober 1932 aus der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) ausgeschlossen. Seit 1931 gehörte er dem Volkskommissariat für Volksbildung der RSFSR an und war als Rektor der Kasaner Universität tätig. Von Oktober 1932 bis Dezember 1933 verbüßte er eine Verbannungsstrafe in Kustanaj. Nach einer Reihe von Briefen an die Mitglieder der Parteiführung voller Loyalitätsbekundungen erfolgte seine Entlassung aus der Verbannung und die Wiederaufnahme in die KPdSU(B).8 Diese Unterwerfungsrituale hatte Valeriu Marcu mit Blick auf Sinowjew 1929 treffend beschrieben: „Im Getriebe russischer Parteiumwälzungen, in den Haupt- und Staatsaktionen der herrschenden Kaste der Sowjets, nach Lenins Tod, trat Sinowjew oft in den Hintergrund; er wurde mehrmals beiseite gedrängt. Aber seine Zähigkeit verließ ihn nicht, und er rutschte wieder bis an die Stufen des Thrones.“9 Am 17. Parteitag der KPdSU(B) vom 26. Januar bis 10. Februar 1934 durfte er als Gast teilnehmen. Bis zum erneuten Parteiausschluss gehörte Sinowjew der Redaktion der theoretischen Zeitschrift der KPdSU(B) Bol6 7 8 9
Jeshow, Nikolai Iwanowitsch (1895–1940) – Von 1936 bis 1938 Volkskommissar des Innern. Am 10.4.1939 verhaftet, am 2.2.1940 erschossen. Hedeler, Wladislaw: Jeshows Szenario. Der Moskauer Schauprozess 1938, in: Mittelweg 36, Heft 2/1998, S. 61–75. O prieme v členy partii Zinov’eva i Kameneva, in: Politbjuro CK RKP(b) – VKP(b). Povestki dnja zasedanij 1919–1952. Katalog. V trech tomach. Tom II. 1930–1939. Moskva: Rosspėn 2001, S. 489. Redakcionnaja kollegija: G. M. Adibekov, K. M. Anderson, L. A. Rogovaja. Marcu, Valeriu: Grigori Sinowjew oder Der Sieg der Quantität, in: derselbe, Schatten der Geschichte. Europäische Profile. Leipzig: Paul List Verlag 1929, S. 162.
Grigori Sinowjews Übersetzung und Kommentar zu Adolf Hitlers Mein Kampf
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schewik an. Am 16. Dezember 1934 wurde er als angebliches Mitglied des „Moskauer Zentrums“10 verhaftet und am 16. Januar 1935 zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt und in den „Politisolator“ in Werchneuralsk verbracht. Hier wurde er erneut verhaftet und im August 1936 im Moskauer Schauprozess gegen das „Vereinigte antisowjetische trotzkistisch-sinowjewistische Zentrum“ zum Tode verurteilt.11 Sinowjew war, entgegen der Vermutung von O. Plöckinger, nie in die „Entstehung des ‚Bundes der Marxisten-Leninisten‘ involviert“.12 In der gemeinsamen Sitzung des PB und der Zentralen Kontrollkommission (ZKK) am 27. November 193213 sowie in den 1934 und 1935 geführten Vernehmungen der in den Prozessen gegen das „Moskauer Zentrum“ und das „Vereinigte antisowjetische trotzkistischsinowjewistische Zentrum“ Angeklagten taucht diese „Anschuldigung“ nie auf.14 Anlass, Sinowjew nach Kustanaj, in diese unwirtliche und seine Gesundheit untergrabende Region Kasachstans zu verbannen, war seine Unterlassung, die Parteiorganisation über die ihm von Jan Sten15 Ende September 1932 übergebene RjutinPlattform zu informieren. Die Vorgeschichte dieser Disziplinierung reicht jedoch bis in das Jahr 1926 zurück.16 Dass Sinowjew als Kominternfunktionär und Mitarbeiter des Volkskommissariats für Volksbildung mit den Aufgaben der Bildungsarbeit und Propaganda vertraut war, bedarf keines Beweises. „Es erscheint bemerkenswert, in welchem Ausmaß Sinowjew über die zeitgenössischen deutschen Publikationen über Hitler und die NSDAP informiert war“, konstatiert O. Plöckinger.17 Die dem Exekutivkomitee der Komintern (EKKI) zuarbeitenden Abteilungen stellten für den internen
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O dele tak nazyvaemogo „Moskovskogo centra“. Spravka KPK pri CK KPSS i IML pri CK KPSS, in: Izvestija CK KPSS, 1989, Nr. 7, S. 64–85. 11 Hedeler, Wladislaw: Chronik der Moskauer Schauprozesse 1936, 1937 und 1938. Planung, Inszenierung und Wirkung. Berlin: Akademie Verlag 2003.; O tak nazyvaemom „Antisovetskom ob”edinennom trockistsko-zinov’evskom centre“, in: Izvestija CK KPSS, 1989, Nr. 8, S. 78–94; Prozessbericht über die Strafsache des trotzkistisch-sinowjewistischen terroristischen Zentrums. Moskau 1936. Hg. vom Volkskommissariat für Justizwesen der UdSSR (im Folgenden: Prozessbericht 1936). 12 Plöckinger, Schlüsseldokumente, S. 13. 13 Stenogramma ob”edinennogo zasedanija Politbjuro CK VKP(b) i Prezidiuma CKK po voprosu „O gruppe Smirnova A. P., Ėjsmonta i dr.“ 27 nojabrja 1932, in: Stenogrammy zasedanij Politbjuro CK RKP(b) -VKP(b) 1923–1938 gg. V trech tomach. Tom 3. 1928–1938. Redakcionnyj sovet izdanija: K. M. Anderson, A. Ju. Vatlin, P. Gregory, A. K. Sorokin, R. Sousa, O. V. Chlevnjuk. Moskva: Rosspėn 2007, S. 551–676. 14 Lubjanka. Stalin i VČK-GPU-OGPU-NKVD. Janvar’ 1922-dekabr’ 1936. Dokumenty. Sostaviteli: V. N. Chaustov, V. P. Naumov, N. S. Plotnikova. Moskva: Izdatel’stvo Materik 2003.; O dele tak nazyvaemogo „Sojuza marksistov-lenincev“. Spravka KPK pri CK KPSS i IML pri CK KPSS, in: Izvestija CK KPSS, 1989, Nr. 6, S. 103–115. 15 Sten, Jan Ernestowitsch (1899–1937) – Mitarbeiter der Prawda, stellvertretender Leiter der Abteilung Propaganda im ZK der KPdSU(B) 1932, am 3.6.1936 verhaftet, am 19.6.1937 verurteilt, am 20.6.1937 erschossen. 16 Hierzu ausführlicher: Hedeler, Archivdokumente, S. 298. 17 Plöckinger, Schlüsseldokumente, S. 38, Anm. 95 zur Analyse der „Bibel der deutschen Faschisten“ durch Sinowjew.
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Dienstgebrauch Übersetzungen und Information über die im Ausland veröffentlichte „Feindliteratur“ zur Verfügung.18 Es war kein Zufall, dass sich der nach Kustanaj verbannte Sinowjew für die Übersetzung von Hitlers Buch als Loyalitätsbeweis gegenüber der Parteiführung entschied. Damit konnte er sich von Leo Trotzki absetzen, dessen Faschismusanalysen in der Komintern verfemt waren. Sinowjew wollte seinen Genossen Material für die Auseinandersetzung auf dem außenpolitischen Frontabschnitt liefern. Die Übersetzung des 1. Teils von Mein Kampf nahm zwei Monate, vom 20. Januar bis 20. März 1933, in Anspruch. Die Endfassung lag im Juli 1933 vor. In der auf die Übersetzung folgenden Analyse „Die Bibel des deutschen Faschismus“ finden sich Zitate aus zwischen März und Juni 1933 in der UdSSR sowie im Ausland19 publizierten Quellen. Dass Sinowjew nicht für die Schublade arbeitete, sondern die Übersetzung im Auftrag des Verlages für sozialökonomische Literatur anfertigte, geht aus einem Schreiben hervor, das Jakow Agranow20 zusammen mit anderen, den Verbannten Sinowjew betreffenden Unterlagen am 18. September 1935 an Wjatscheslaw Molotow21 schickte. Sinowjew informierte am 22. August 1935 Genrich Ljuschkow22 vom NKWD über seine Gespräche mit Michail Tomski23: „Vor meiner Abreise nach Kustanaj im Herbst 1932 ging es u. a. um meine literarische Arbeit für Sozekgis (den Staatsverlag für sozial-ökonomische Literatur – W. H.). Tomski hatte damals die Anweisung, mir eine solche Arbeit zu besorgen. Ich schlug vor, Hitlers bekanntes Buch ‚Mein Kampf‘ ins Russische zu übersetzen. Tomski hatte mich damals an den Leiter der Auslandsabteilung des Verlages Sozekgis verwiesen. […] Mit dem Abteilungsleiter habe ich den Vertrag unterschrieben.“24 Alexandra Kollontai erinnert sich: „Jossif Wissarionowitsch empfing mich im Kreml, erkundigte sich, wie üblich, nach der Atmosphäre in Schweden und wollte wissen, wie man dort auf Hitlers Buch ‚Mein Kampf‘ reagiere“. Mit Hinweis auf
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Zur Verfügbarkeit faschistischer Literatur vgl. Uhlig/Hedeler (Hg.), Bucharin, S. 391 f. Das Juniheft der Zeitschrift der „Austromarxisten“ Der Kampf (S. 35), das im Sommer erschienene Buch von Johannes Steel Hitler as Frankenstein (S. 37). Agranow (Sorendson), Jakow Saulowitsch (1893–1938) – Am 10.6.1934, nach der Bildung des NKWD, Stellvertretender Volkskommissar für Inneres, Kommissar der Staatssicherheit 1. Ranges, seit April 1937 Leiter der Geheimen politischen Abteilung der OGPU, am 20.7.1937 verhaftet, am 1.8.1938 zum Tode verurteilt und erschossen. Molotow (eigentl.: Skrjabin), Wjatscheslaw Michailowitsch (1890–1986) – Von 1921 bis 1930 Sekretär des ZK der KPR(B), von 1929 bis 1930 Leiter des EKKI, 1930 bis 1941 Vorsitzender des Rates der Volkskommissare und des Rates für Arbeit und Verteidigung der UdSSR. Ljuschkow, Genrich Samojlowitsch (1900–1945) – Ab Juni 1937 Leiter der Gebietsverwaltung des NKWD des Asowo-Tschernomorsker Gebiets, bis Mai 1937 Leiter des NKWD in Fernost, am 13.6.1938 Flucht in die Mandshurai, von den Japanern am 19.8.1945 erschossen. Tomski (eigentl.: Jefremow), Michail Pawlowitsch (1880–1936) – Gewerkschaftsfunktionär. 1922 bis 1929 Vorsitzender der WZSPS. Von 1922 bis 1930 Mitglied des PB, seit Mai 1932 Leiter des Staatsverlages. 1934 bis 1936 Kandidat des ZK, nach der Veröffentlichung der Beschuldigung gegen ihn Selbstmord am 22.8.1936. RGASPI, F. 82, Op. 2, D. 198, L. 130–132.
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diese Notiz von A. Kollontai über die Dienstreise im Januar 1931 nach Moskau25 stützt der Publizist Gennadi Kostyrtschenko seine These, dass Stalin den Auftrag zur Übersetzung erteilte.26 Demgegenüber vertreten die Herausgeber des Briefwechsels zwischen Stalin und Lasar Kaganowitsch27 die Auffassung, dass die Korrespondenz im ruhigen Herbst 1933 Stalins Gleichgültigkeit gegenüber der Festigung der Macht Hitlers belegt.28 Generell ist zu sagen, dass „Stalin den Beziehungen zu Deutschland große Aufmerksamkeit“ schenkte. Er griff in Details der diplomatischen Routinearbeit aktiv ein. „Die ideologische Komponente war dabei in seinen Entscheidungen nicht bestimmend.“29 Auch dass Sinowjew ein Vor- oder Nachwort zur Übersetzung bzw. eine separate Broschüre zum Thema plante, versteht sich – mit Blick auf die in der Sowjetunion gängige Praxis – eigentlich von selbst. Der Zweck der Analyse war demnach keineswegs „unklar“30, wie O. Plöckinger annimmt, auch wenn die erhoffte größere Verbreitung des Textes nicht erfolgte. In einem „Nachwort des Übersetzers“31, das nicht in die für den Dienstgebrauch bestimmte Ausgabe aufgenommen wurde, benannte Sinowjew einige Probleme bei der Übertragung von Hitlers Buch ins Russische. Sein Vorschlag, ein „Vorwort“ mit einer Kritik von Mein Kampf aufzunehmen, wurde vom Verlag verworfen. Stattdessen wurden Kommentare, die als redaktionelle Fußnoten ausgewiesen oder ungezeichnet waren, sowie Anmerkungen des Übersetzers32 übernommen. Zum 1. Teil von Mein Kampf gibt es sieben redaktionelle Anmerkungen. Gestützt auf Informationen aus deutschen Tageszeitungen, wie Berlin am Morgen vom 5. September 1930, dem Völkischen Beobachter vom 25. Dezember 1931, der Frankfurter Zeitung vom 7. Februar 1932 oder der Roten Fahne vom 28. April 1932, dienten sie der Erläuterung und Kritik einiger von Hitler genannten Personen, erwähnten Ereignisse und angesprochenen Themen. In Gliederung und Anlage folgten diese polemischen Kommentare der Gliederung des da25
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Kollontai, Alexandra: Mein Leben in der Diplomatie. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1945. Hg. von Heinz Deutschland. Aus dem Russischen von Ruth und Heinz Deutschland. Berlin: Karl Dietz Verlag 2003, S. 293. Kollontai war am 16.1.1931 in Stalins Kabinett, vgl. Na prieme u Stalina. Tetradi (žurnaly) zapisej lic, prinjatych I. V. Stalinym (1924–1953 gg.) Spravočnik. Naučnyj redaktor A. A. Černobaev. Moskva: Novyj chronograf, 2010, S. 40. Ihre Aufzeichnung darüber ist mit dem 20.1.1931 datiert. Kostyrčenko, Gennadij Vasil’evič: Tajnaja politika Stalina. Vlast’ i antisemitizm. Moskva: Meždunarodnye otnošenija 2001, S. 179. Kaganowitsch, Lasar Moissejewitsch (1893–1991) – Von 1930 bis 1957 Mitglied des PB des ZK der KPdSU(B). Stalin i Kaganovič. Perepiska. 1931–1936 gg. Sost. O. V. Chlevnjuk, R. U. Devis, L. P. Košeleva, E. A. Ris, L. A. Rogovaja. Moskva: Rosspėn 2001 (Im Folgenden: Stalin i Kaganovič), S. 404. Slutsch, Sergej: Einleitung, in: Deutschland und die Sowjetunion 1933–1941. Dokumente aus russischen und deutschen Archiven. Band 1: 1933–1941. Teilband 1. Januar 1933 – Oktober 1933. Hg. von Sergej Slutsch und Carola Tischler unter Mitarbeit von Lothar Kölm. München: Oldenbourg Verlag 2014, S. 20. Plöckinger, Schlüsseldokumente, S. 14. RGASPI, F. 324, Op. 1, D. 436, L. 340. RGASPI, F. 324, Op. 1, D. 436, L. 110ob. Im Typoskript (T. 1, Kap. 3).
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mals gerade erschienenen Buches von Ernst Ottwald33 Geschichte des Nationalsozialismus. Bei den meisten der als „redaktionelle Fußnoten“ gekennzeichneten Anmerkungen handelt es sich um weitgehend wörtliche, jedoch ohne Hinweis auf die Quelle vorgenommene Übersetzungen aus Ottwalds Buch. Der Linie des EKKI folgend, wurde im redaktionellen Kommentar zur Übersetzung von Mein Kampf am Beispiel des Prozesses gegen Hitler von 1924 der Klassencharakter der „von Sozialdemokraten dominierten Justiz“ betont. Die in der redaktionellen Fußnote angegebenen Belege sind dem Buch von Emil Gumbel Zwei Jahre Mord (Berlin 1921) entnommen. Darüber hinaus gibt es erläuternde Anmerkungen zum Freikorpssoldaten Leo Schlageter (1894–1923)34, dem Reichsminister des Inneren Wilhelm Frick (1877–1946)35, dem katholischen Geistlichen Emil Wetterle (1861–1931)36, dem Ministerpräsidenten des Freistaates Bayern Kurt Eisner (1867– 1919)37, dem Wiesbadener Staatsanwalt Hans Adam Dorten (1880–1963)38, dem Münchener Putsch39 und München als „Hauptstadt der Bewegung“.40 Hitler wird seinem Werdegang und Denken nach sowohl in den redaktionellen Anmerkungen zur Übersetzung als auch in der darauffolgenden, von Sinowjew verfassten Analyse als „aufstrebender Kleinbürger“ vorgestellt.41 Die Bezüge auf Ottwalds Publikationen sind sehr zahlreich.42 Hier finden sich auch die von O. Plöckinger43 vermissten Bemerkungen zum Stellenwert der Rassentheorie und des Antisemitismus44 als Ausdruck der Umsetzung der Interessen des Monopolkapitals.45 Im zweiten Teil von Mein Kampf über „Die nationalsozialistische Bewegung“, der, geht man von den zahlreichen Unterstreichungen und Randbemerkungen46 in Michail Kalinins47 Exemplar aus, von den Mitgliedern des PB gründlicher gelesen worden ist als der erste Teil, gibt es keine redaktionellen Anmerkungen.48 Sinow33
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Ernst Ottwald d. i. Ernst Gottwald Nicolas (1901–1943) – Ottwald traf im Oktober 1933, aus Dänemark kommend, in der UdSSR ein. Von hier aus ging er nach Prag, um in der Redaktion der Neuen Deutschen Blätter zu arbeiten. Im Dezember 1934 kehrte er in die Sowjetunion zurück, wo er 1936 als „faschistischer Spion“ verhaftet wurde. Moja bor’ba, S. 8. (T. 1, Kap. 1). Moja bor’ba, S. 307. (T. 1, Kap. 12); Ottwald, Ernst: Deutschland erwache! Geschichte des Nationalsozialismus. Wien/Leipzig: Hess & Co. 1932, S. 271 f. Moja bor’ba, S. 227. (T. 1, Kap. 1). Moja bor’ba, S. 468. (T. 2, Kap. 10). Moja bor’ba, S. 470. (T. 2, Kap. 10); Ottwald, Deutschland, S. 136. Moja bor’ba, S. 5 und 6. Moja bor’ba, S. 277. (T. 1, Kap. 12). Plöckinger, Schlüsseldokumente, S. 30. Ausführlicher in: Hedeler, Archivdokumente, S. 304 f. Plöckinger, Schlüsseldokumente, S. 17, Anm. 3 zur Analyse der „Bibel der deutschen Faschisten“ durch Sinowjew. Moja bor’ba, S. 252. (T. 1, Kap. 11). Moja bor’ba, S. 308. (T. 1, Kap. 12). RGASPI, F. 78, Op. 8, D. 140. Kalinin, Michail Iwanowitsch (1875–1946) – Seit 1922 Vorsitzender des ZEK der UdSSR, seit 1926 Mitglied des PB des ZK der KPdSU(B), 1938 Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR. Ausführlicher in: Hedeler, Archivdokumente, S. 305 f.
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jew hat es vorgezogen, seine Bemerkungen zum zweiten Teil des Buches, der die außenpolitischen Ziele zum Inhalt hat, ausführlich in der Analyse der „Bibel der deutschen Faschisten“ darzulegen. Zu Beginn und zum Abschluss seiner Analyse fasst er Hitlers außenpolitisches Programm in zehn Punkten zusammen.49 Nikolai Krestinski50 informierte Stalin am 19. Mai 1934 über die in Deutschland begonnene antisowjetische Kampagne und legte der Notiz einen Artikelentwurf bei, in dem von den irrigen, in Mein Kampf enthaltenen Thesen, u. a. von den dem Hungertod preisgegebenen 30 Millionen Menschen51, die Rede war.52 Am 20. Mai veröffentlichte die Regierungszeitung Iswestija eine mit dem 18. Mai 1934 datierte Information über die von Sergej Bessonow53 dem Außenminister übergebene Protestnote der Sowjetregierung, in der die jüngsten Äußerungen Hitlers, die denen in Mein Kampf gleichen, zurückgewiesen wurden.54 Ein Grund für die nicht erfolgte Publikation der von Sinowjew angefertigten Übersetzung und Analyse ist dessen gescheiterter Versuch, in der Redaktion des Bolschewik Fuß zu fassen. Die Geschichte kann hier nur angedeutet werden. Anfang August 1934 zitierte Sinowjew in Unkenntnis von Stalins ablehnenden Bemerkungen aus einem Brief von Friedrich Engels. Es ging um Engels’ Aufsatz über „Die auswärtige Politik des russischen Zarentums“.55 Die daraufhin von Stalin geforderte Disziplinierung erfolgte umgehend. Niemand würde auch nur eine Zeile von Sinowjew drucken, solange diese Angelegenheit nicht beigelegt war. Hinzu kommt, dass er in seiner Polemik gegen Hitler die in der Komintern entwickelte Sozialfaschismusthese aufgriff. Er konnte nicht wissen, dass sich nach Georgi Dimitroffs56 Eintreffen in der UdSSR und dessen Gesprächen mit Stalin im April 193457 in dieser Frage ein Kurswechsel anbahnte. Dmitri Manuilski58 unter49 50
51 52 53 54 55
56 57 58
Plöckinger, Schlüsseldokumente, S. 20 f., 62–64. Krestinski, Nikolai Nikolajewitsch (1883–1938) – Diplomat, von 1921 bis 1930 bevollmächtigter Vertreter der UdSSR in Deutschland, ab 1930 stellvertretender Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten, am 20.5.1937 verhaftet, am 13.3.1938 verurteilt, am 15.3.1938 erschossen. Moja bor’ba, S. 288; Mein Kampf, S. 358. Zapiska N. Krestinskogo I. Stalinu, 19 maja 1934 g., in: SSSR-Germanija. 1933–1941. Vestnik Archiva Prezidenta Rossijskoj Federacii. Moskva 2009, S. 93. Sergej A. Bessonow (1892–1941) – Botschaftsrat in der Botschaft der Sowjetunion in Berlin. 1937 verhaftet, 1938 im Schauprozess angeklagt und zu 15 Jahren Haft verurteilt. Am 11.9.1941 zusammen mit anderen Häftlingen auf Befehl Stalins erschossen. Protest tovarišča Bessonova protiv vystuplenija Gitlera, in: Izvestija, Nr. 116, 20 maja 1934, S. 1. Ausführlicher in: Hedeler, Archivdokumente, S. 311 f. Siehe auch: Stalin – Kaganoviču, 5 avgusta 1934, in: Stalin i Kaganovič, S. 419; Iz protokola Nr 12 zasedanija Politbjuro CK VKP(b), 25 avgusta 1934, in: Politbjuro CK RKP(b) – VKP(b) i Komintern. 1919–1943. Dokumenty. Moskva: Rosspėn 2004, S. 707–709. Dimitroff, Georgi (1882–1949) – Von 1935 bis zur Auflösung der Komintern ihr Generalsekretär. Georgi Dimitroff. Tagebücher 1933–1943. Hg. von Bernhard H. Bayerlein. Aus dem Russischen von Wladislaw Hedeler und Birgit Schliewenz. Berlin: Aufbau Verlag 2000 [Textband], S. 101 ff. Manuilski, Dmitri Sacharowitsch (1883–1959) – 1903 Mitglied der SDAPR, 1907 Emigration nach Frankreich, 1917 Rückkehr nach Russland, von 1923 bis 1939 Mitglied des ZK der
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strich am 14. Juni 1934 in der Beratung der mit der Vorbereitung des VII. Kominternkongresses beauftragten Kommission, dass sich die Situation nach dem VI. Kominternkongress 1928 grundsätzlich gewandelt hatte. Im Unterschied zur Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie sei der Kampf gegen den Faschismus vernachlässigt worden. „Wir waren der Auffassung“, führte er aus, „dass der Faschismus, ebenso wie das Buch von Hitler ‚Mein Kampf‘ derart unsinnig sind, dass sie nicht widerlegt werden müssen. Doch es stellte sich heraus, dass derartige Ideen, ein Sammelsurium aus Überresten des Anarchismus, Parlamentarismus und der Sozialdemokratie plus Nationalismus, Millionenmassen ergreifen. Deshalb bin ich der Meinung, dass die Frage des Kampfes gegen den Faschismus jetzt etwas anders gestellt werden muss als bisher.“59 Stalin nutzte die Ermordung des Leningrader Parteichefs Sergej Kirow am 1. Dezember 1934, um massiv gegen die „Sinowjewisten“ vorzugehen. Damit war ein Rückgriff auf Sinowjews Ausarbeitungen, die im Führungszirkel bekannt waren, ausgeschlossen. Am 3. Dezember 1935, drei Monate nach dem Nürnberger Parteitag der NSDAP, informierte Maxim Litwinow60 Stalin über eine von Jakow Suriz61 verfasste Analyse der Kriegsvorbereitungen in Deutschland und schlug die Durchführung einer systematischen „Konterkampagne gegen den deutschen Faschismus und die deutschen Faschisten vor“.62 Litwinow gehörte Ende 1933 einer Kommission an, deren Aufgabe darin bestand, die Berichterstattung über den Reichstagsbrand in der sowjetischen Presse zu koordinieren. Das hierfür erforderliche Material entnahmen er und seine Genossen dem „Braunbuch“.63 Ihr Erfolg hielt sich in Grenzen. Wilhelm Pieck64 wies in der Beratung der Deutschen Kommission des Sekretariats des EKKI am 11. Februar 1937 auf die „politische Schwäche unserer Kader“ hin. „70 % unserer Kader im Land haben keine Ahnung von Theorie und leben von der Alltagspolitik. Doch diese ist heute viel schwieriger und komplizierter geworden,
59
60 61 62 63 64
KPdSU(B), seit 1924 Mitglied des Präsidiums des EKKI, von 1928 bis 1943 Sekretär des EKKI. Von 1943 bis 1944 Mitarbeiter der Politischen Hauptverwaltung der Roten Armee. 1946–1953 stellvertretender Vorsitzender des Ministerrates. Vystuplenie D. Manuil’skogo na zasedanii komissii IKKI po pervomu punktu porjadka dnja VII kongressa Kominterna o podgotovke tezisov k otčetnomu dokladu IKKI, 14 ijunja 1934, in: Komintern protiv fašizma. Dokumenty. Sostaviteli, avtory vstupitel’noj stat’i i kommentariev V. V. Dam’e, N. P. Komolova, M. B. Korčagina, K. K. Širinja. Moskva: Nauka 1999 (im Folgenden: Komintern 1999), S. 324. Litwinow, Maxim Maximowitsch (1876–1951) – Von 1930 bis 4.5.1939 Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten. 1934 bis 1941 Mitglied des ZK der KPdSU(B). Suriz, Jakow Sacharowitsch (1882–1952) – Von 1934 bis 1937 Botschafter der UdSSR in Deutschland. Zapiska M. M. Litvinova I. V. Stalinu, 3 dekabrja 1935 g., in: Izvestija CK KPSS, 1990, Nr. 2, S. 211–212. O pečati v svjazi s processom o podžoge rejchstaga, in: SSSR-Germanija. 1933–1941. Vestnik Archiva Prezidenta Rossijskoj Federacii. Moskva 2009, S. 71. Pieck, Wilhelm (1876–1960) – Mitbegründer und von 1935 bis 1945 Vorsitzender der KPD, seit 1931 Mitglied des Präsidiums und des Politischen Sekretariats des EKKI. 1946 bis 1954 gemeinsam mit Otto Grotewohl Vorsitzender der SED, 1949–1960 Präsident der DDR.
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sie können nicht in erforderlichem Maße auf die Argumentation der Sozialdemokraten und der Faschisten reagieren.“65 BASISTEXT DER ÜBERSETZUNG Grundlage für Sinowjews Übersetzung war, wie aus der von ihm vorgelegten Analyse hervorgeht, die 11. Auflage der am 14. April 1932 erschienenen Volksausgabe von Mein Kampf. Sinowjew übersetzte beide Bücher, die er mit Kommentaren versah. Bis auf wenige Auslassungen (z. B. Hitlers Hinweis auf die in die erste und zweite Auflage des Buches aufgenommenen Abbildungen der 1920 verbreiteten Plakate)66 ist alles übersetzt. Das Manuskript wurde mit Schreibmaschine abgeschrieben und von Sinowjew einer Endkorrektur unterzogen. Sinowjew legte mit der Übersetzung großen Wert darauf, dem Leser Hitlers „Originalsprache“ nahezubringen. Daher verzichtete er bewusst auf eine durchgehende Stilkorrektur und beließ es bei einigen wenigen Anmerkungen des Übersetzers (z. B. zu Max von Mexiko). Bei den flüchtig ausgeführten Korrekturen im Typoskript handelt es sich überwiegend um Korrekturen von Tippfehlern. Die Übersetzung gleicht eher einer sinngemäßen Übertragung, ihr ist die Eile, in der sie entstand, anzumerken. „Duckmäuser“ werden zu „klugen Ratten“67. Statt von „Pflichterfüllung“ ist von „Verpflichtung“68 die Rede. Redewendungen wie „von oben herunter“ (von oben herab, im Sinne von überheblich)69 werden nicht oder falsch („von oben nach unten“) übersetzt. Da russische Leser mit Rübenfeldern offensichtlich nichts anfangen konnten, ist in der Übersetzung von Kartoffelfeldern70 die Rede. Aus neutralen Begriffen wie „die andere Welt“71 bzw. „in der endlich gekommenen Stunde“72 wird die „Welt der Reichen“ bzw. „Krieg“. Hitler versuchte „seine Genossen“73 davon zu überzeugen, mehr Versammlungen durchzuführen. Den Begriff „Volksgenossen“ übersetzt Sinowjew mit „Menschen“74. Aus „roten Fetzen“ werden „Fahnen des Aufstandes“75. Aus Fragestellungen werden Feststellungen. Aus: „Ist dies auch ein Jude?“ wird: „Auch das ist ein Jude!“76 Problematisch ist die Übersetzung von „völkisch“ mit „narodnik“, einem Begriff, der in der sowjetischen Parteigeschichtsschreibung für die Bewegung der Volkstümler 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76
Iz vystuplenija V. Pika na zasedanii nemeckoj komissii Sekretariata IKKI, 11 fevralja 1937, in: Komintern 1999, S. 445. Mein Kampf, S. 402; RGASPI, F. 324, Op. 1, D. 436, L. 337. Mein Kampf, S. 400; RGASPI, F. 324, Op. 1, D. 436, L. 336ob. Mein Kampf, S. 327; RGASPI, F. 324, Op. 1, D. 436, L. 292ob. Mein Kampf, S. 23; RGASPI, F. 324, Op. 1, D. 436, L. 25. Mein Kampf, S. 180; RGASPI, F. 324, Op. 1, D. 436, L. 203. Mein Kampf, S. 28; RGASPI, F. 324, Op. 1, D. 436, L. 30. Mein Kampf, S. 141; RGASPI, F. 324, Op. 1, D. 436, L. 156. RGASPI, F. 324, Op. 1, D. 436, L. 332ob. Mein Kampf, S. 438; RGASPI, F. 324, Op. 1, D. 437, L. 44. Mein Kampf, S. 221; RGASPI, F. 324, Op. 1, D. 436, L. 228. Mein Kampf, S. 59; RGASPI, F. 324, Op. 1, D. 436, L. 64.
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steht.77 Aus „Oberamtmann“ Frick wird der „Oberrichter“ Frick.78 Falsche Datierungen wie 1918 statt 191979 sind nicht korrigiert. Diese Fehler und Ungenauigkeiten finden sich in den nach 1992 in russischer Sprache publizierten Ausgaben bzw. in der im Internet abrufbaren, Sinowjews Übersetzung folgenden Fassung von Moja bor’ba. Lediglich offensichtliche Fehler in der Paginierung der Archivvorlage80 wurden bei der Vorbereitung der Druckfassung stillschweigend korrigiert, die Hervorhebungen/Kursivierungen nicht übernommen. Sinowjews in der Übersetzung des 2. Teils von Mein Kampf unterbreitete Kürzungsvorschläge wurden ignoriert. Die meisten der insgesamt 45 Vorschläge betrafen ausschweifende Kommentare und Wiederholungen. In einem Fall schlug Sinowjew eine inhaltliche Auslassung vor, es ging um die im 14. Kapitel des 2. Teils81 enthaltene Kennzeichnung der „Regenten des heutigen Russlands“ als „blutbefleckte gemeine Verbrecher“ und „Abschaum der Menschheit“. In der einzigen redaktionellen Anmerkung in Moja bor’ba82 ist unter Hinweis auf Mein Kampf, Teil 2, 6. Kapitel, von Sinowjews fehlerhafter Übersetzung die Rede. Doch das trifft für die betreffende Passage nicht zu. Sinowjew hat in diesem Falle den monierten Satz korrekt übersetzt: „Das Volk der Analphabeten ist wirklich nicht durch die theoretische Lektüre eines Karl Marx zur kommunistischen Revolution begeistert worden, sondern durch den gleichen Himmel, den Tausende von Agitatoren, allerdings alle im Dienste einer Idee, dem Volke vorredeten.“83 Von der „bolschewistischen Idee“ ist in Mein Kampf nicht die Rede. Im Absatz darüber, von Sinowjew ebenfalls korrekt übersetzt, nimmt Hitler auf die „bolschewistische Revolution in Russland“ Bezug, die nicht auf das Schrifttum Lenins, sondern auf „hassaufwühlende rednerische Betätigung zahlloser größter und kleinster Hetzapostel“ zurückzuführen sei. Sinowjew hob (in einer Notiz des Übersetzers) hervor, dass die von Hitler gewählte Darstellungsform ihm größte Schwierigkeiten bereitete. „Hitler redet und schreibt nicht wie einfache Leute, sondern äußert sich wie Pythia, nebulös und verworren.“84 Oft hat man den Eindruck, bemerkte er, dass Hitler die Kunst des Lesens und vor allem die des Schreibens nicht beherrscht. Philosophische Überlegungen und soziologische Verallgemeinerungen sucht man in Mein Kampf vergebens. Hitler hatte offensichtlich ein Interesse daran, seine Gedanken verworren und verklausuliert darzubieten, damit sie jeder Leser auf seine Weise auslegen konnte.
77 78 79 80 81 82 83 84
Mein Kampf, S. 398; RGASPI, F. 324, Op. 1, D. 436, L. 335; Moja bor’ba, S. 319. Mein Kampf, S. 403; RGASPI, F. 324, Op. 1, D. 436, L. 338. In Moja bor’ba, S. 322, korrigiert, hier steht nur „treuer Berater“. Mein Kampf, S. 393; RGASPI, F. 324, Op. 1, D. 436, L. 332; Moja bor’ba, S. 315. RGASPI, F. 324, Op. 1, D. 436, L. 500. Mein Kampf, S. 750–751. Moja bor’ba, S. 413. Mein Kampf, S. 532. RGASPI, F. 324, Op. 1, D. 436, L. 340.
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Nikolai Bucharin85 zog nach der Lektüre faschistischer Literatur vergleichbare Schlussfolgerungen: „Für die Lösung philosophischer Probleme bedeutete diese faschistische ‚Vorstellungsweise‘ einen gigantischen Rückschritt, denn sie bewegt das Verständnis des Subjekts weg von der Abstraktion des gesellschaftlichen Menschen (wie es in der alten bürgerlichen ‚Philosophie‘ erreicht worden war), entweder hin zu einer biologisch-rassenmäßigen, d. h. zu einer zoologischen Abstraktion, oder hin zu einer mittelalterlich-theologischen ‚Weise‘ des hierarchisch-starren Denkens in den Kategorien der mittelalterlichen Scholastik und Mystik.“86 ANALYSE DER ÜBERSETZUNG BZW. VERGLEICH VERSCHIEDENER ÜBERSETZUNGEN Dimitri Wolkogonow, der Bücher aus der Bibliothek Stalins87 einsehen konnte, erwähnt in Triumph und Tragödie Stalins Lektüre faschistischer Publikationen.88 In der vom Claassen Verlag besorgten, jedoch stark gekürzten Übersetzung von Wolkogonows Stalin werden die in der russischen Ausgabe ausdrücklich auf das Buch von Konrad Heiden Die Geschichte des Nationalsozialismus89 (1932) bezogenen, aber nicht in die deutsche Ausgabe übernommenen Passagen90 irrtümlich als Stalins Kommentar zu Hitlers Mein Kampf wiedergegeben.91 Wolkogonow gibt ferner an, aus dem in Stalins Bibliothek überlieferten Exemplar der Übersetzung von Mein Kampf zu zitieren. Nur ist der von ihm zitierte Text
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Bucharin, Nikolai Iwanowitsch (1888–1938) – Seit 1906 Mitglied der SDAPR, 1910 bis 1917 Emigration. 1922 Kandidat, seit 1924 Mitglied des Politbüros der KPR(B), seit 1920 Mitglied des Präsidiums des EKKI, nach Sinowjews Absetzung Vorsitzender der Komintern, 1924 bis 1929 Chefredakteur des Zentralorgans der KPdSU(B) Prawda und Redakteur der theoretischen Zeitschrift der KPdSU(B) Bolschewik, 1929 Mitglied der AdW der UdSSR, als „Rechtsabweichler“ aus dem Politbüro ausgeschlossen, von 1934 bis zum Ausschluss aus der KPdSU(B) 1937 Chefredakteur der Iswestija. Auf dem Februar-März-Plenum 1937 des ZK der KPdSU(B) Ausschluss aus der KPdSU(B) und Verhaftung durch das NKWD. Im Moskauer Schauprozess 1938 gegen den „Block der Rechten und Trotzkisten“ zum Tode verurteilt und erschossen. Uhlig/Hedeler (Hg.), Bucharin, S. 230. Nach Lew Besymenski sind im RGASPI 734 Bände aus der Bibliothek Stalins überliefert. Besymenski, Lew: Stalin und Hitler. Das Pokerspiel der Diktatoren. Berlin: Aufbau Verlag 2002, S. 12. Laut Findbuch zum Stalinbestand F. 588, Op. 3 sind im RGASPI 390 Bücher mit Stalins Bearbeitungsspuren vorhanden. Hitlers Mein Kampf ist nicht darunter. Eventuell befindet sich das von Wolkogonow genannte Exemplar noch im Archiv des Präsidenten der Russischen Föderation. Vgl. Wolkogonow, Dimitri: Stalin. Triumph und Tragödie. Ein politisches Porträt. Aus dem Russischen von Vesna Jovanoska. Düsseldorf: Claassen 1989, S. 471. Vgl. Wolkogonow nennt als Titel: „Die Geschichte des deutschen Faschismus“, als Erscheinungsjahr 1922. Vgl. Volkogonov, Dmitrij: I. V. Stalin. Triumf i tragedija. Političeskij portret. V dvuch knigach. Kniga II, čast’1. Moskva: Novosti 1989, S. 24–25. Zur Rezeption durch Sinowjew vgl. Plöckinger, Schlüsseldokumente, S. 38 f.
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nicht mit dem Wortlaut der von Sinowjew besorgten Übersetzung ins Russische92 identisch. Die von Wolkogonow zitierte Stelle lautet: „Мы заканчиваем вечное движение германцев на юг и на запад Европы и обращаем взор к землям на восток. Мы кончаем колониальную торговую политику и переходим к политике завоевания новых земель. И когда мы сегодня говорим о новой земле в Европе, то мы можем думать только о России и подвластных ей окраинах. Сама судьба как бы указала этот путь. Предав Россию власти большевизма, она отняла у русского народа интеллигенцию, которая до этого времени создавала и гарантировала его государственное состояние. Ибо организация русского государства не была результатом государственной способности славянства в России, а только блестящим примером государственнотворческой деятельности германского элемента среди нижестоящей расы“.93
In Sinowjews Übersetzung liest sich die Stelle wie folgt: „Мы хотим приостановить вечное германское стремление на юг и на запад Европы и определенно указываем пальцем в сторону территорий, расположенных на востоке. Мы окончательно рвем с колониальной и торговой политикой довоенного времени и сознательно переходим к политике завоевания новых земель в Европе. Когда мы говорим о завоевании новых земель в Европе, мы, конечно, можем иметь в виду в первую очередь только Россию и те окраинные государства, которые ей подчинены. Сама судьба указует нам перстом. Выдав Россию в руки большевизма, судьба лишила русский народ той интеллигенции, на которой до сих пор держалось ее государственное существование и которая одна только служила залогом известной прочности государства. Не государственные дарования славянства дали силу и крепость русскому государству. Всем этим Россия обязана была германским элементам – превосходнейший пример той громадной государственной роли, которую способны играть германские элементы, действуя внутри более низкой расы.“94
Stalin, so Wolkogonow, hatte u. a. die folgende Stelle in Mein Kampf unterstrichen: „Wir stoppen den ewigen Germanenzug nach dem Süden und dem Westen Europas und weisen den Blick nach dem Land im Osten. Wir schließen endlich ab die Kolonial- und Handelspolitik der Vorkriegszeit und gehen über zur Bodenpolitik der Zukunft. Wenn wir aber heute in Europa von neuem Grund und Boden reden, können wir in erster Linie nur an Russland und die ihm untertanen Randstaaten denken. Das Schicksal selbst scheint uns hier einen Fingerzeig geben zu wollen. [Indem es Russland dem Bolschewismus überantwortete, raubte es dem russischen Volke jene Intelligenz, die bisher dessen staatlichen Bestand herbeiführte und garantierte.]95 Denn die Organisation eines russischen Staatsgebildes war nicht das Ergebnis der staatspolitischen Fähigkeiten des Slawentums in Russland, sondern vielmehr nur ein wundervolles Beispiel für die staatenbildende Wirksamkeit des germanischen Elementes in einer minderwertigen Rasse. […] Nicht West- und nicht Ostorientie-
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RGASPI, F. 324, Op. 1, D. 437, L. 191ob. Zur Rückübersetzung der von der WolkogonowFassung abweichenden Sinowjew-Fassung vgl. Plöckinger, Schlüsseldokumente, S. 23. Volkogonov, Stalin, S. 24. RGASPI, F. 324, Op. 1, D. 437, L. 191ob. Den Satz in eckigen Klammern [] zitiert Wolkogonow nicht.
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rung darf das künftige Ziel unserer Außenpolitik sein, sondern Ostpolitik im Sinne der Erwerbung der notwendigen Scholle für unser deutsches Volk.“96 Die Rückübersetzung der von Sinowjew übersetzten Stelle lautet: „Wir wollen das ewige germanische Streben nach dem Süden und Westen Europas anhalten und weisen mit dem Finger entschieden auf die Landgebiete, die im Osten liegen. Wir beenden die Kolonial- und Handelspolitik der Vorkriegszeit endgültig und gehen bewusst zu einer Politik der Eroberung neuen Landes in Europa über. Wenn wir von der Eroberung neuen Bodens in Europa reden, können wir natürlich in erster Linie nur an Russland und die Randstaaten denken, die ihm unterworfen sind.“97 Damit stellt sich die Frage, auf wen die Stilkorrektur der betreffenden, von Wolkogonow zitierten, Passage zurückgeht. Nicht Sinowjew, der als Gast am 17. Parteitag der KPdSU(B) teilnehmen durfte, sondern Nikolai Bucharin setzte sich in seiner am 28. Januar 193498 gehaltenen Rede mit der in Mein Kampf skizzierten Außenpolitik Hitlers auseinander. Lew Besymenski hat die betreffende ausführliche Passage, die mit den folgenden Worten beginnt, in sein Buch übernommen: „Wir stoppen den ewigen Germanenzug nach dem Süden und dem Westen Europas und weisen den Blick nach dem Land im Osten. Wir schließen endlich ab die Kolonial- und Handelspolitik der Vorkriegszeit und gehen über zur Bodenpolitik der Zukunft.“99 Der Wortlaut der von ihm zitierten russischen Fassung ist mit dem von Wolkogonow zitierten, von Sinowjews Übersetzung abweichenden, identisch. In der vom Aufbau Verlag besorgten Übersetzung von Besymenskis Buch findet sich statt der wörtlichen Rückübersetzung von Bucharins Ausführungen die entsprechende oben zitierte Belegstelle aus Mein Kampf. Und das, obwohl Besymenski in der für den deutschen Leser bestimmten Ausgabe ausdrücklich betont, „Hitler bewusst nicht nach ‚Mein Kampf‘, sondern nach Nikolai Bucharin“ zu zitieren, „dem Politiker der Sowjetunion, der die Gefahr bereits damals erkannte, auf den aber niemand hörte und dessen Warnung Stalin100 nicht dazu brachte, seine Schlüsse zu ziehen. Oder doch – in Gestalt des verhängnisvollen Paktes von 1939.“101 Stalins „Warnung“ wurde damals sofort,
96 Mein Kampf, S. 742 und 757 (2. Band, 14. Kapitel, Ostorientierung oder Ostpolitik). Grigori Sinowjew hatte auf die Bedeutung dieser Stellen aus Mein Kampf in seiner Analyse hingewiesen, vgl. Plöckinger, Schlüsseldokumente, S. 23. 97 Grigori Sinowjew hatte auf die Bedeutung dieser Stellen aus Mein Kampf in seiner Analyse hingewiesen, vgl. Plöckinger, Schlüsseldokumente, S. 23. 98 Besymenski datiert den Redebeitrag irrtümlich mit dem Datum der Publikation. Nikolai Bucharin hielt die Rede in der Abendsitzung am 28.1.1934. Sie wurde am 31.1.1934 in der Zeitung Iswestija auf S. 2 publiziert. Siehe auch: Reč’ tov. Bucharina. Prenija po političeskomu dokladu tov. Stalina o rabote CK VKP(b). Večernee zasedanie 28 janvarja 1934 g., in: 17 S”ezd VKP(b), Stenografičeskij otčet. Moskva 1934, S. 124–129. 99 Bezymenskij, Lev: Gitler i Stalin pered schvatkoj. Moskva: VEČE 2000, S. 30–31. 100 Stalin, J. W.: Rechenschaftsbericht an den XVII. Parteitag des ZK der KPdSU(B), 26. Januar 1934, in: J. W. Stalin. Werke, Bd. 13. Juli 1930 – Januar 1934. Berlin: Dietz Verlag 1955, S. 252–336. 101 Besymenski, Lew: Stalin und Hitler. Das Pokerspiel der Diktatoren. Berlin: Aufbau Verlag 2002, S. 22.
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u. a. von Hans Günther102 in Der Herren eigner Geist, aufgegriffen.103 Die Antwort auf die oben aufgeworfene Frage nach dem Urheber der Stilkorrektur ist, dass es Bucharin war, der sich bei der Ausarbeitung seines Diskussionsbeitrages104 für eine Bearbeitung der von Sinowjew besorgten Übersetzung entschied. WIRKUNG DER ÜBERSETZUNG Marschall Tuchatschewski zitierte in seinem am 29. März 1935 verfassten Artikel „Über Hitlers militärische Pläne“ u. a. aus Molotows Rede auf dem VII. Sowjetkongress (28. Januar bis 6. Februar 1935). Unter Hinweis auf Hitlers Mein Kampf hatte Molotow das folgende Zitat ausgewählt: „Wir Nationalsozialisten ziehen bewusst einen Schlussstrich unter die Außenpolitik Deutschlands in der Vorkriegszeit. Wir fangen dort an, wo Deutschland vor 600 Jahren aufhörte. Wir beenden ein für alle Mal die ewige Bewegung der Germanen gen Süden und gen Westen Europas und richten unseren Blick auf das Land im Osten. Und schließlich beenden wir die Kolonial- und Handelspolitik der Vorkriegszeit und gehen zur Politik der Zukunft über, zur Politik der territorialen Eroberung. Doch wenn wir heute von neuen Gebieten in Europa sprechen, dann können wir in erster Linie nur Rußland meinen und die ihm untertanen Randgebiete. Das Schicksal selbst weist uns diesen Weg.“105 Auch in diesem Fall handelt es sich um eine stilistische Bearbeitung der von Sinowjew vorgelegten Übersetzung. In Sinowjews Fassung lautet die Passage: „Wir Nationalsozialisten machen völlig bewusst ein Kreuz unter die gesamte deutschen Auslandspolitik der Vorkriegszeit. Wir wollen an jenen Punkt zurückkehren, an dem unsere alte Entwicklung vor 600 Jahren abbrach. Wir wollen dem ewigen germanischen Streben gen Süden und gen Westen Europas Einhalt gebieten und 102 Hans Günther (1899–1938) – 1932 Ausreise in die UdSSR. Hier am 4.11.1936 verhaftet und am 16.10.1937 zu fünf Jahren Lager verurteilt. Am 10.11.1938 im Durchgangslager Wladiwostok an Typhus verstorben. 103 Günther, Hans: Der Herren eigner Geist. Die Ideologie des Nationalsozialismus. Moskau/Leningrad: Verlagsgenossenschaft ausländischer Arbeiter in der UdSSR 1935, S. 60–62.; vgl. auch: Günther, Hans: Der Herren eigner Geist. Ausgewählte Schriften. Berlin/Weimar: Aufbau Verlag 1981, S. 67–69. 104 Auf der russischen Seite www.hrono.ru ist das Stenogramm des 17. Parteitages der KPdSU(B), das den Diskussionsbeitrag N. Bucharins enthält, abrufbar. 105 „Мы, национал-социалисты, сознательно подводим черту под внешней политикой Германии довоенного времени. Мы начинаем там, где Германия кончила 600 лет назад. Мы кладём предел вечному движению германцев на юг и на запад Европы и обращаем взор к землям на востоке. Мы прекращаем, наконец, колониальную и торговую политику довоенного времени и переходим к политике будущего к политике территориального завоевания. Но когда мы а настоящее время говорим о новых землях в Европе, то мы можем в первую очередь иметь в виду лишь Россию и подвластные ей окраиные государства. Сама судьба как бы указывает этот путь.“ Zit. nach: Rukopis’ stat’i M. N. Tuchačevskogo „Voennye plany Gitlera“ s pravkoj I. V. Stalina, in: Izvestija CK KPSS, 1990, Nr. 1, S. 167.
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weisen mit dem Finger in Richtung der im Osten gelegenen Territorien. Wir brechen endgültig mit der Kolonial- und Handelspolitik der Vorkriegszeit und gehen bewusst zur Politik der Eroberung neuer Territorien in Europa über. Wenn wir von der Eroberung neuer Territorien in Europa sprechen, können wir in erster Linie nur Russland und jene Randstaaten im Blick haben, die ihm untertan sind. Das Schicksal weist uns den Weg.“106 Stalin führte im Gespräch mit Lion Feuchtwanger im Januar 1937 unter Hinweis auf Sinowjew und die in den Moskauer Schauprozessen Angeklagten u. a. aus: „Sie meinen, dass ganz Europa vom Faschismus erfasst wird und wir Sowjetmenschen untergehen werden. […] Die Panik vor dem Faschismus hat ihnen diese ‚Konzeption‘ eingeflößt.“107 Warum aber wurden weder die von Sinowjew angefertigte Übersetzung noch sein Kommentar zu Hitlers Mein Kampf in den von 1934 bis 1936 gegen ihn vorgebrachten Anschuldigungen erwähnt? Anders als im Falle seines Mitangeklagten Lew Kamenew108, der für die 1934 im Moskauer Academia-Verlag erschienene Ausgabe von Machiavellis Fürst ein Vorwort geschrieben hatte, wurde Sinowjews Arbeit an Hitlers Mein Kampf verschwiegen. Hitlers Buch wurde nicht als „Ideenquelle“109 genannt. Als der Hinweis auf Leo Trotzki nicht mehr ausreichte, wurde das Szenario der Schauprozesse modifiziert. In Mein Kampf sahen die 1938 106 „Мы, национал-социалисты, совершенно сознательно ставим крест на всей немецкой иностранной политике довоенного времени. Мы хотим вернуться к тому пункту, на котором прервалось наше старое развитие 600 лет назад. Мы хотим приостановить вечное германское стремление на юг и на запад Европы и определенно указываем пальцем в сторону территорий, расположенных на востоке. Мы окончательно рвем с колониальной и торговой политикой довоенного времени и сознательно переходим к политике завоевания новых земель в Европе. Когда мы говорим о завоевании новых земель в Европе, мы, конечно, можем иметь в виду в первую очередь только Россию и те окраинные государства, которые ей подчинены. Сама судьба указует нам перстом.“ Moja bor’ba, S. 572. 107 Aufzeichnung der Unterredung des Genossen Stalin mit dem deutschen Schriftsteller Lion Feuchtwanger (8. Januar 1937), in: Hartmann, Anne: „Ich kam, ich sah, ich werde schreiben.“ Lion Feuchtwanger in Moskau 1937. Eine Dokumentation. Göttingen: Wallstein Verlag 2017, S. 308. 108 Kamenew (eigentl.: Rosenfeld), Lew Borissowitsch (1883–1936) – Mitglied des PB 1919 bis 1926, Vorsitzender des Mossowjet. Seit 1923 Direktor des Lenin-Instituts. 1924 bis 1926 Mitglied des EKKI. 1926 Volkskommissar für Binnen- und Außenhandel, 1926 bis 1927 Botschafter in Italien. 1927 Führer der Vereinigten Opposition. 1932 Ausschluss aus der KPdSU. Im Juli 1935 im Prozess gegen das „Moskauer Zentrum“ zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt. Nach Anrechnung der vorhergehenden Verurteilung im Prozess gegen den „Bund der Marxisten-Leninisten“ und der verbüßten Verbannung in Tobolsk und Minussinsk (1932 bis 1933) wurde das Strafmaß auf 5 Jahre herabgesetzt. 1933 bis zu seiner Verhaftung am 16.12.1934 Direktor des Akademie-Verlages und 1934 Direktor des Instituts für Weltliteratur „Maxim Gorki“. Am 27.7.1935 wurde das Urteil kassiert und Kamenew nunmehr zu 10 Jahren im „Kremlprozess“ verurteilt. Kamenew, der mit Trotzkis Schwester verheiratet war, wurde 1936 als „Trotzkist“ verhaftet und im Schauprozess 1936 zum Tode verurteilt. 109 Vgl. Rede des staatlichen Anklägers, des Staatsanwalts der UdSSR, Genossen A. J. Wyschinski, in: Prozessbericht 1936, S. 142; Wyschinski, A. J.: Gerichtsreden. Berlin: Dietz Verlag 1951, S. 517.
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verurteilten „Verschwörer“ – kommentierten Prozessbeobachter – eine Art Handbuch.110 Der Angeklagte Krestinski111 erklärte unter Hinweis auf Hitlers Ostpolitik die „Pläne der Verschwörer“, der Generalstaatsanwalt Andrej Wyschinski112 zitierte 1938 in der Anklageschrift genau jene Passage aus Mein Kampf, in der von der Eroberung der Territorien der Sowjetunion die Rede war.113 Auf diesem Hintergrund konnte Stalin die einst von Sinowjew herausgearbeitete und von Bucharin auf dem 17. Parteitag zur Debatte gestellte Schlussfolgerung nun als seine eigene ausgeben. Im Gespräch mit L. Feuchtwanger brachte er es auf die Formel: „Der Faschismus – das ist Unsinn, eine vorübergehende Erscheinung.“114 ERNEUT AUF DEM INDEX Auszüge aus Mein Kampf in russischer Übersetzung erschienen 1990 in der vom Verteidigungsministerium herausgegebenen militärhistorischen Zeitschrift Woenno-istoritscheskij shurnal. 1992 und in den darauffolgenden Jahren erschien in der Russischen Föderation sowie in den ehemaligen Sowjetrepubliken die auf Sinowjews Übersetzung fußende Ausgabe von Mein Kampf.115 Sie wurde nicht in den Buchläden, sondern „auf der Straße“, von fliegenden Händlern angeboten. Diese Fassung war bis 2002 auch auf russischen Internetseiten abrufbar. Die Situation änderte sich am 25. Juli mit der Verabschiedung des Gesetzes „Über die Unterbindung extremistischer Tätigkeit“ („О противодействии экстремистской деятельности“). Moja bor’ba wanderte in die „Giftschränke“ der Bibliotheken und ist seitdem den Nutzern nur nach Vorlage eines entsprechenden Schreibens der Leitung einer wissenschaftlichen Einrichtung zugänglich. Bereits am 8. Juli 2009 war die Internetseite Chronos, hier war ein Konspekt des Buches abrufbar, gesperrt und erst nach der Entfernung dieses Eintrags freigeschaltet worden. Regionale Gerichte der Russischen Föderation ordneten in der Folgezeit mehrmals die Sperrung von Internetseiten an, auf denen Auszüge bzw. Hinweise auf Mein Kampf platziert waren. Auf der russischen Wikipedia-Seite finden sich lediglich das Inhaltsverzeichnis so-
110 Vgl. die Aufzeichnungen des Schriftstellers Wsewolod Iwanow über die Vernehmung des Angeklagten Pawel Petrowitsch Bulanow im Moskauer Schauprozess 1938, in: Process Bucharina 1938. Dokumenty. Sostaviteli: Ž. V. Artamonova, N. V. Petrov. Moskva: MFD 2013, S. 519. 111 Process Bucharina, S. 278 f. 112 Wyschinski, Andrej Januarjewitsch (1883–1954) – Jurist. Löste 1931 N. W. Krylenko als Staatsanwalt der RSFSR ab. Von 1935 bis 1939 Generalstaatsanwalt der UdSSR. 1940 Stellvertretender Volkskommissar, 1949 Minister für Auswärtige Angelegenheiten. 113 Process Bucharina, S. 611; Wyschinski, Gerichtsreden, S. 671. 114 Hartmann, Feuchtwanger, S. 308. 115 Gitler, Adol’f: Moja bor’ba, T-Oko, 1992.; Gitler, Adol’f: Moja bor’ba, 1998, mit redaktionellen Anmerkungen, Moskva: izdatel’stvo Vitjaz’; Gitler, Adol’f: Moja bor’ba, 2002, zdatel’stvo „Russkaja pravda“; Gitler, Adol’f: Moja bor’ba, 2003, Moskva: izdatel’stvo „Social’noe dviženie“.
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wie Links zu Seiten mit deutsch- und englischsprachigen Ausgaben. Ungeachtet dieser Zensurbestimmungen ist der Wortlaut der russischen Übersetzung auf etlichen anderen Seiten abrufbar.
DIE ERSTE SPANISCHE AUSGABE VON MEIN KAMPF 1 Jesus Casquete (Übersetzung aus dem Spanischen von Johannes Hofer-Bindeus, Salzburg) „Lernt lesen, was eure Retter so schreiben.“ (Max Frisch, Vorwort für Mein Kampf, von Clément Moreau2)
1. EINLEITUNG Das autobiographische und programmatische Werk Adolf Hitlers, der „Auslöserfigur“3 des Nationalsozialismus, erweckte nach seiner Machtergreifung im Januar 1933 ein plötzliches Interesse auf der ganzen Welt. Die Pioniere hinter der Initiative, Mein Kampf in andere Sprachen zu übersetzen, waren die Briten, die sich bereits seit Beginn desselben Jahres der Aufgabe widmeten, die Programmschrift der Nazis in ihrem Land zu veröffentlichen.4 Sie leisteten damit maßgebliche Vorarbeit. Auf Eigeninitiative, und möglicherweise auch veranlasst durch seine Frau (Nichte des britischen Ex-Premierministers Arthur Balfour und Verfechterin des zionistischen Programms), arbeitete Edgar Dugdale, ein früherer Kriegsoffizier, der in Eton und Oxford studiert hatte, intensiv an einer Übertragung von Mein Kampf ins Englische. Der Eher Verlag gab die Erlaubnis für die Veröffentlichung einer gekürzten Version. Unklar ist allerdings, wer die endgültige Selektion des Originaltexts durchführte; der Verlag der NSDAP, das Propagandaministerium, die Partei-Leitung der NSDAP 1
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Dieser Artikel ist Teil eines Forschungsprojekts, das vom Secretaría de Estado de Investigación, Desarrollo e Innovación (Staatssekretariat für Forschung, Entwicklung und Innovation) (ref. HAR2015–64920-P, MINECO/FEDER) im Rahmen einer Forschungsgruppe der Universidad del País Vasco / Euskal Herriko Unibertsitatea (Universität Baskenland) (ref. GIU 17/005) subventioniert wurde. Folgenden Personen gebührt mein ganzer Dank für die gewährte Unterstützung: Martín Alonso Zarza, Gonzalo Álvarez Chillida, Carlos Collado Seidel, Noé Cornago, Rafael Cruz, Ferrán Gallego, Michael Grüttner, Amaia Guerrero, Fernando Molina, Xosé Manoel Núñez Seixas, Matteo Tomasoni. Besondere Erwähnung verdient Othmar Plöckinger für seinen Anstoß, seine Anregungen und seine beständige Verfügbarkeit. Moreau, Clément: ‚Mein Kampf‘. Ein Versuch, mit dem authentischen Text, die Entwicklung von Hitler zu zeigen. München: Neue Galerie 1975. Koschorke, Albrecht: Adolf Hitlers ‚Mein Kampf‘. Zur Poetik des Nationalsozialismus. Berlin: Matthes & Seitz 2016, S. 11. Von hier an verwenden wir die Bezeichnung Mein Kampf, um uns auf das deutsche Original zu beziehen, und Mi lucha, wenn auf die spanische Ausgabe Bezug genommen werden soll. Zu den englischsprachigen Übersetzungen von Mein Kampf siehe den Beitrag von Stefan Baumgarten in diesem Band.
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oder etwa Dugdale selbst? Das Buch erschien im Oktober 1933 in London als My Struggle im Hurst&Blackett-Verlag sowie als My Battle in Boston im Verlag Houghton Mifflin.5 Bis 1941, jenem Jahr, in dem in einigen nordischen Ländern (Norwegen, Schweden, Finnland), in Flandern sowie in Kroatien vollständige Übersetzungen erschienen, blockierten die Naziautoritäten die Veröffentlichung kompletter Ausgaben von Hitlers Buch im Ausland.6 Aus diesem Grund – und wir beschränken uns auf die autorisierten Ausgaben – handelt es sich bei der erwähnten englischen Ausgabe, den verschiedenen italienischen Ausgaben der 1930er Jahre,7 der französischen Ausgabe von 19388 und der spanischen Ausgabe von 1935 (sowie jener von 1937), wie wir im Anschluss feststellen werden, in allen Fällen um auszugsweise Übersetzungen; allerdings ist jede einzelne Ausgabe verschieden, mit jeweils unterschiedlichen Textselektionen des Originals. Die spanische Ausgabe, die unter dem Titel Mi lucha veröffentlicht werden sollte, weist eine Besonderheit in Bezug auf die übrigen auszugsweisen Ausgaben in anderen europäischen Hauptsprachen auf. Die Ausgaben auf Englisch und Französisch gingen auf Privatinitiativen von Verlagsunternehmen zurück; die beiden italienischen entstanden ihrerseits unter Förderung des faschistischen Regimes. In diesen Fällen handelte es sich also um einen Impuls von innen. Im Falle der spanischen Ausgaben hingegen weist alles darauf hin, dass die Initiative direkt von Deutschland ausging. Der Aufsatz behandelt die folgenden Themen: Zuallererst überprüfen wir zwei weitverbreitete Legenden, welche die spanischen Übersetzungen von Mein Kampf Antonio Bermúdez Cañete und Onésimo Redondo zuschreiben; wir werden überprüfen, wie viel Wahrheit hinter den jeweiligen Legenden steckt. Im Anschluss widmen wir uns der Analyse der Entstehung sowie der wichtigsten Merkmale der beiden spanischsprachigen und während der 1930er Jahre in Spanien veröffentlichten Ausgaben von Mein Kampf (wobei es sich, wie wir feststellen werden, in Wirklichkeit um ein und dieselbe mit kleineren Abänderungen handelt); die erste wurde im Jahr 1935 veröffentlicht, die zweite zwei Jahre später. Weitere Publikationen, die in lateinamerikanischen Ländern im besagten Jahrzehnt entstanden, werden wir dabei ausklammern; von dort stammen nachweislich zwei weitere Ausgaben: Eine wurde in Argentinien veröffentlicht, die andere in Chile.9 Ebenso wenig werden 5 6 7
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Vgl. Kellerhoff, Sven Felix: „Mein Kampf“. Die Karriere eines deutschen Buches. Stuttgart: Klett-Cotta 2015, S. 264–267. Vgl. Plöckinger, Othmar: Geschichte eines Buches: Adolf Hitlers „Mein Kampf“. 2. Aufl. München: Oldenbourg 2011, S. 197. La Mia Battaglia, 1934, mit einem Vorwort, das Hitler zum Thema hatte; La Mia Vita, 1937/38 (vgl. den Beitrag von Vincenzo Pinto in diesem Band; Plöckinger, Geschichte, S. 199; Plöckinger, Othmar: Zur internationalen Rezeption von „Mein Kampf“ vor 1945, in: Totalitarismus und Demokratie 13/2 (2016), S. 11–44, hier S. 36–38). Ma doctrine, Paris, Fayard, 1938; vgl. den Beitrag von Olivier Mannoni in diesem Band. Mi lucha, Buenos Aires, Luz Ediciones Modernas. Die Ausgabe hat einen Umfang von 250 Seiten, die Übersetzung ist mit dem Namen Alberto Saldivar P. versehen. Es handelt sich um eine Ausgabe, die ausgehend von der englischen Version von Dugdale übersetzt wurde. Im Katalogisat der Biblioteca Nacional Mariano Moreno de Argentina [Nationalbibliothek Mariano Moreno von Argentinien] wird darüber spekuliert, ob die Edition aus dem Jahr 1935 stammt, da im Buch die besagte Information nicht enthalten ist. Die chilenische Ausgabe, so
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wir jene in Spanien gedruckten Ausgaben behandeln, die ab diesem Zeitpunkt bis in die Gegenwart erschienen, alle davon in Auszügen. Im dritten Teil widmen wir uns der Person des Übersetzers des Buches, bei dem es sich, basierend auf den bekannten Daten (im Buch erschien nämlich nie sein Name), um den bolivianischen Diplomaten und Nazi Federico Nielsen Reyes handelt, die Schlüsselfigur bei der Übersetzung von Hitlers autobiographischem und programmatischem Werk ins Spanische. Im letzten Teil geben wir einen Rückblick auf die Rezeption, die das Buch in faschistischen und konservativen Kreisen Spaniens erfuhr. 2. ÜBERSETZUNGEN VON MEIN KAMPF IN SPANIEN VOR 1935? – ZWEI LEGENDEN Spanien war von jenem Zeitgeist nicht ausgenommen, der gierig darauf bedacht war, den meteorhaften Aufstieg und die Ergreifung der Staatsgewalt durch den Totalitarismus deutscher Prägung aus erster Hand kennenzulernen und diesen, im Falle Spaniens, nachzuahmen. In einem Bericht über das Jahr 1933 setzte Johannes Graf von Welczeck – damals seit 1926 deutscher Botschafter in Spanien – seine Regierung darüber in Kenntnis, dass die Machtergreifung „von den rechtsgerichteten Teilen des Volkes und der spanischen Presse wohlwollend aufgenommen, teilweise sogar freudig begrüsst“10 worden war. Der entschiedene Antimarxismus und Antiliberalismus – beide waren fixe Bestandteile im Programm und in der Praxis der Nazibewegung, die erst seit kurzem an der Macht war – erklären die Anziehungskraft, die die Figur des Führers in Spanien anfangs hatte. Jedoch warnte Welczeck im Bericht des Folgejahres vor der Unzufriedenheit, die sich in katholischen Kreisen angesichts des erst seit Kurzem etablierten Regimes regte.11 Gegenwärtig zirkulieren in der spanischen Geschichtsschreibung zwei Legenden, in denen über verschiedene Übersetzungsprojekte für „das erste der diktatorischen Bücher des 20. Jahrhunderts“12 spekuliert wird; man hätte es hierbei freilich in beiden Fällen mit auszugsweisen und von den zuständigen Naziautoritäten nicht autorisierten Versionen zu tun. Es handelt sich dabei um Mutmaßungen, für die entweder die nötigen empirischen Beweise bzw. historischen Daten nicht vorliegen oder bei denen es sich eindeutig um Übertreibungen handelt. Die erste Legende besagt, dass der Journalist und Wirtschaftswissenschaftler Antonio Bermúdez Cañete einige Kapitel von Mein Kampf übersetzt habe, die in
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wie sie im Katalog der Biblioteca Nacional de Chile [Nationalbibliothek von Chile] aufscheint, lautet: Mi lucha, Valparaíso, Impr. Cultura, 1936, und umfasst 254 Seiten. Bei einer weiteren Ausgabe mit gleichnamigem Titel und einem Umfang von 267 Seiten (der Verlag scheint nicht auf), die in der Biblioteca y Hemeroteca Nacionales de México [Nationalbibliothek und Zeitungsarchiv von Mexiko] liegt, ist es nicht einmal möglich, das Jahrzehnt festzustellen, da im Katalog nur „19--“ aufscheint. Vgl. Böcker, Manfred: Antisemitismus ohne Juden. Die Zweite Republik, die antirepublikanische Rechte und die Juden. Spanien 1931 bis 1936. Frankfurt a. M.: Peter Lang 2000, S. 168. Vgl. Böcker, Antisemitismus, S. 171. Koschorke, Mein Kampf, S. 37.
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Buchform hätten erscheinen sollen. Bermúdez Cañete war ab Mitte der 1920er Jahre Student in München, wo er den Beginn der Eroberung der Straßen durch die SA-Truppen direkt miterlebte. Er war einer der Unterzeichner eines faschistischen programmatischen Manifests, das im März 1931 in der ersten Ausgabe von La Conquista del Estado [Die Eroberung des Staates] veröffentlicht wurde, einer Wochenzeitschrift der Falange, der spanischen Version des Faschismus.13 Zwischen Oktober 1932 und Februar 1935 profilierte sich Bermúdez Cañete als Korrespondent der katholischen Tageszeitung El Debate in Berlin, doch letzten Endes kritisierte er den Rassismus, den Atheismus und den „sozialistischen“ Kurs der Nazis. Er wurde dem deutschen Regime schließlich unangenehm, weshalb er laut der offiziellen, an ihn adressierten Anzeige aufgrund von „Aktivitäten gegen den Staat“ sowie „monatelanger böswilliger und verleumderischer Berichterstattung“14 des Landes verwiesen wurde. Nach der anschließenden Übernahme der Korrespondenz seiner Zeitung in Paris wurde er im Zuge der Wahlen im Februar 1936 als Abgeordneter der Liste des konservativen und katholischen Blocks der CEDA (Confederación Española de Derechas Autónomas [Spanische Konföderation der autonomen Rechten]) gewählt. Dies waren die letzten demokratischen Wahlen vor dem Staatsstreich, der am 18. Juli desselben Jahres unter dem Befehl von General Franco durchgeführt wurde. Einen Monat nach dem Putsch wurde Bermúdez Cañete in Madrid von republikanischen Truppen verhaftet, in einer „checa“15 eingesperrt und erschossen. Der Ursprung der Legende über die Übersetzung von Kapiteln aus Mein Kampf durch Bermúdez Cañete lässt sich auf einen Sammelband von Artikeln zurückführen, die 1939 von der La Conquista del Estado veröffentlicht wurden. Darin behauptet der Herausgeber des Bandes, „[Bermúdez Cañete] übersetzte vor allen anderen in Spanien einige Kapitel von Adolf Hitlers Mein Kampf, die wir beabsichtigten unter dem Titel Mi batalla herauszugeben.“16 Dieses Gerücht wurde von Historikern, Wirtschaftswissenschaftlern und Germanisten weiterverbreitet, ohne dafür jeglichen Beweis anzuführen.17 Diese Zuschreibung ist eine Übertreibung, in 13 14
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„Nuestro manifiesto político“, in: La Conquista del Estado, 14.3.1931. Es handelte sich um die erste Publikation im Zeichen des Faschismus in Spanien, die den gleichen Namen trug wie La Conquista dello Stato unter der Leitung von Curzio Malaparte. El Debate, 26.1.1935. Für die verschiedenen Regierungs- und Parteiinstanzen, die an der Beaufsichtigung der Arbeit der Auslandskorrespondenten zur Zeit des Dritten Reichs beteiligt waren, siehe: Herzer, Felix: Auslandskorrespondenten und auswärtige Pressepolitik im Dritten Reich. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2012, S. 39–60. Die „checas“ waren „wilde Lokale“, die von politischen Kräften, die den Republikanern nahestanden, eingerichtet und in denen vermeintliche politische Gegner festgehalten, Misshandlungen und Folter ausgesetzt und unter Umständen ermordet wurden. Aparicio, Juan: Prólogo, in: Antología de La Conquista del Estado. Barcelona: FE 1939, S. XI. Vgl. Payne, Stanley G.: Franco y José Antonio. El extraño caso del fascismo español. Barcelona: Planeta 1997, S. 140; Velarde Fuertes, Juan: Introducción para la obra de un español importante: Antonio Bermúdez Cañete, in: Velarde, Juan u. a.: Antonio Bermúdez Cañete. Periodista, economista, político. Madrid: Actas 2008, S. 17; Sala Rose, Rosa / Garcia-Planas, Plàcid: El marqués y la esvástica. César González-Ruano y los judíos en el París ocupado. Barcelona: Anagrama 2014, S. 130; Núñez Seixas, Xosé M.: Spanish Views of Nazi Germany, 1933–45: A Fascist Hybridization, in: Journal of Contemporary History 2018; Núñez Seixas, Xosé M.:
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der das Vorhaben überbewertet wird. Zwar war ein solches Projekt tatsächlich geplant, doch dieses befand sich bestenfalls in seiner Anfangsphase. Es existieren gedruckte Indizien, denen zufolge Bermúdez Cañete sich der Aufgabe angenommen hatte, Mein Kampf zu übersetzen, doch alles deutet darauf hin, dass er nicht allzu große Fortschritte gemacht hatte: nur einige wenige Seiten insgesamt, die mit Fragmenten von zwei Kapiteln des Originals – beide aus dem zweiten Band – übereinstimmen. In der sechsten Ausgabe der La Conquista del Estado erschien ein Artikel unter dem Titel „Propaganda und politische Organisation“, der mit „Adolf Hitler“ unterzeichnet war und als ein Artikel „speziell für ‚La Conquista del Estado‘“ präsentiert wurde.18 In Wirklichkeit handelt es sich um Auszüge aus Kapitel 11 des zweiten Bands von Mein Kampf. Es wird keine Information angeführt, die die Identifizierung des Übersetzers ermöglichen würde. Eineinhalb Monate später erschien in der 12. Ausgabe derselben Zeitschrift ein Teil von Kapitel 1, ebenfalls aus dem zweiten Band. Unterzeichnet mit „Hitler“ enthielt auch dieser keine Angabe zum Übersetzer. Das Originalkapitel trägt den Titel „Weltanschauung und Partei“, welcher in der La Conquista del Estado in „Die Funktionsweise der alten Parlamentsparteien“ umbenannt wurde. In der gleichen Ausgabe Nr. 12 (wie auch in den drei vorherigen Ausgaben, allesamt von Mai 1931) wurde angekündigt, dass Mi batalla gedruckt werden würde; ein weiteres Mal wurde die Veröffentlichung nicht bekanntgegeben.19 Dieselbe Übersetzung wurde erneut im Jahr 1933 unter dem gleichen Titel in einer Zeitschrift des spanischen Faschismus publiziert, der Revista JONS. Im Jahr 1931 war Bermúdez Cañete regelmäßiger Mitwirkender bei der La Conquista del Estado. Sämtliche Indizien deuten darauf hin, dass er der Übersetzer war.20 Allerdings hat ihm die Übersetzung wohl nicht sonderlich viel Energie abverlangt: In den hunderten Artikeln, die er zwischen Ende 1925 bis 1936 in El Debate veröffentlichte, nahm er lediglich sechs Mal Bezug auf das Hauptwerk des Nationalsozialismus; drei Mal davon nach Mai 1935, d. h. als die Ausgabe von Mi lucha bereits am spanischen Markt verfügbar war.21 Die zweite der vermeintlichen spanischen Übersetzungen von Mein Kampf, die in Spanien entstanden sein sollen, wird Onésimo Redondo zugeschrieben, gemeinsam mit Ramiro Ledesma Ramos und José Antonio Primo de Rivera einer der
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Falangismo, nacionalsocialismo y el mito de Hitler en España (1931–1945), in: Revista de Estudios Políticos 169 (2015), S. 13–43, hier S. 23. Vgl. La Conquista del Estado, 18.4.1931, S. 3. Vgl. La Conquista del Estado, 30.5.1931, S. 12. Vgl. Revista JONS 7, Dezember 1933, S. 309–315. Ich bedanke mich bei Ferran Gallego, der mir freundlicherweise diese Publikationen des spanischen Faschismus zur Verfügung stellte, ebenso wie sein Fachwissen, als es darum ging, diese zu interpretieren. Die Zitate stammen aus Artikeln, die zu den folgenden Zeitpunkten veröffentlicht wurden: 22.1.1933, 3.1.1934, 3.11.1934, 11.5.1935, 29.2.1936, 1.3.1936. Eigenartigerweise wird Hitlers Werk in den ersten drei Artikeln als Mi lucha bezeichnet, wohingegen in den letzten dreien, als die spanische Version bereits verfügbar war, von Mein Kampf gesprochen wird. Sämtliche Referenzen auf das Buch sind generischer Natur, mit Ausnahme der Referenz vom Februar 1936, in der ein Zitat enthalten ist, das sich direkt auf das deutsche Original bezieht und nicht etwa auf die spanische Übersetzung.
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höchsten spanischen Vertreter der nationalsyndikalistischen Doktrin (spanischer Faschismus). Zwei von ihnen, Ledesma und Redondo, waren mit der deutschen Kultur und Sprache vertraut. Erstgenannter, ein Schüler des Philosophen Ortega y Gasset und Direktor der La Conquista del Estado, absolvierte 1930 einen viermonatigen Aufenthalt an der Universität Heidelberg. Redondo wiederum hatte eine Stelle als Lektor für Spanisch an der Handelshochschule von Mannheim während des Studienjahres 1928–29; zum Zeitpunkt seiner Ankunft verfügte er über keinerlei Deutschkenntnisse.22 Laut Ferran Gallego, einem Historiker und Experten für den spanischen Faschismus, „interessierte Redondo viel mehr die rassistische, antisemitische und vor allem gemeinschaftsbezogene Version einer Bewegung, in der die Verherrlichung des Staates der Nation als höchstem Wert Platz machte, weswegen er offen den Nationalsozialismus bevorzugte und den [italienischen] Faschismus schließlich als eine übertrieben pragmatische Bewegung ablehnte.“23 Laut nicht überprüften Informationen soll Redondo sich der Mission angenommen haben, Mein Kampf zu übersetzen. In Bezug auf den Einfluss, den die besagten Quellen auf andere Forscher ausüben, die sich dem Thema annähern, lässt sich der namhafte britische Hispanist Paul Preston erwähnen, der Redondo als „Möchtegern-Nazi und Übersetzer von Mein Kampf“ bezeichnete.24 Den Ursprung dieser Zuschreibung muss man in der Ausgabe der gesammelten Werke von Redondo suchen, wo die Herausgeber behaupten: „Und im Gegensatz zu den ersten Kleingeistern, die beginnen, sich in leisen Tönen über die Zeitung25 zu beschweren, nutzt Onésimo Redondo seine Zeit zum Übersetzen und liefert dem Blatt ‚Libertad‘ ganze Kapitel von einem zu jener Zeit in Spanien unbekannten Mann namens Hitler.“26 Der Historiker Matteo Tomasoni, die höchste Autorität in Bezug auf das Leben und Denken Redondos, fand keinerlei Beweis dafür, dass diese Behauptung auch nur ansatzweise wahrscheinlich sei. Was sehr wohl als glaubwürdig betrachtet wird – eben von Tomasoni –, ist das aktive Engagement Redondos bei der Übersetzung (ins Französische) und der Veröffentlichung einer Version der Protokolle der Weisen von Zion.27 Darüber hinaus scheinen sein begrenzter Kontakt mit der deutschen Sprache sowie seine geringe sprachliche Kompetenz keine ausreichend glaubwürdigen Bedingungen zu sein, die es ihm erlauben würden, sich einer derartig komplexen Aufgabe zu widmen, wie es die Übersetzung von Hitlers Leitideen ist. Redondos sprachliches Instrumentarium lässt sich wie folgt zusammenfassen: 22 23 24 25 26 27
Vgl. Tomasoni, Matteo: El Caudillo olvidado. Vida, obra y pensamiento de Onésimo Redondo (1905–1936). Granada: Comares 2017, S. 27–38. Gallego, Ferran: El evangelio fascista: la formación de la cultura política del franquismo. Barcelona: Crítica 2014, S. 177–178. Preston, Paul: Las tres Españas del 36. Barcelona: Plaza y Janés 1998, S. 116. Gemeint ist Libertad, eine faschistische Publikation. Redondo, Onésimo: Obras completas (2 Bde.). Madrid: Dirección General de Información 1954– 1955, S. 256, zit. nach: es.scribd.com/doc/12599993/Obras-Completas-de-Onesimo-Redondo (Zugriff am 19.9.2018). Vgl. Tomasoni, El Caudillo, S. 262–269. Ich danke Matteo Tomasoni für seine hilfreichen Erklärungen im Zuge von persönlichen Gesprächen. Er widerlegte dabei eindeutig die Existenz einer Übersetzung von Mein Kampf durch Redondo.
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spärliche Kenntnisse vor seiner Ankunft in Deutschland, ein Studienjahr mit Wohnsitz vor Ort und der Erhalt persönlicher Unterrichtsstunden durch einen Dozentenkollegen auf Freundschaftsbasis. Demnach kannten die jungen faschistischen Studenten Spaniens bereits vor der Machtergreifung der Nazis den Leitfaden der Hitlerbewegung aus erster Hand und waren fasziniert von ihrem Programm der nationalen Wiedergeburt, ihrem Antimarxismus und Antisemitismus; allesamt Bestandteile, in deren Mittelpunkt ein charismatischer Führer stand, über jeglicher parlamentarischen Kontrolle oder jedweder anderen Ordnung. Doch trotz des Interesses an Mein Kampf war Deutschland nicht der Hauptbezugspunkt im beginnenden spanischen Faschismus, der seit 1934 in der Partei Falange Española y de las JONS (FE-JONS) Ausdruck fand. Die Mehrheit ihrer Führungskader betrachtete das italienische Modell der Machtergreifung (mittels eines Staatsstreichs anstelle von Wahlen) als das angemessenere Modell für Spanien, wo der Rassismus der Nazis weniger Anerkennung genoss. So besuchte beispielsweise der charismatische Führer des spanischen Faschismus José Antonio Primo de Rivera im Mai 1934 auf Einladung der NSDAP Deutschland. Das Ziel der besagten Reise war es, einen Beitrag für die transnationale Verbreitung des Faschismus nach Vorbild der Hitlerbewegung zu leisten und diesen aber gleichzeitig mit einem aufrichtigen Katholizismus in Einklang zu bringen. Nach seiner Rückkehr war der Führer des spanischen Faschismus nicht davon überzeugt, dass der Nazismus das Modell war, dem man folgen sollte.28 So viel zu den Legenden über die Übersetzungen von Mein Kampf, für die gegenwärtig keine stichhaltigen empirischen Beweise vorliegen, die deren Wahrscheinlichkeit bestätigen könnten oder sie in diesem Fall zumindest plausibel machen würden. Dennoch ist es bezeichnend, dass die Gerüchte über die Übersetzung von Hitlers Buch allesamt aus dem Lager des spanischen Faschismus stammten; obwohl dieser sich im Allgemeinen stärker an seinem italienischen Pendant orientierte, dem er sich stärker verbunden fühlte, hatte er in seinen Reihen immer auch fromme Anhänger der politischen Religion der Nazis, die mit großer Aufmerksamkeit die Entwicklungen der Bewegung und, nach 1933, der Regierung des Dritten Reichs verfolgten. 3. ZWEI AUSGABEN, DIE EINE SIND: VON BARCELONA NACH ÁVILA Es gibt zwei Ausgaben von Mi lucha, die in Spanien während der 1930er Jahre veröffentlicht wurden, beide auszugsweise und autorisiert bzw., wie wir im Anschluss feststellen werden, eine einzige mit leichten Variationen: Die erste erschien 1935 in Barcelona über das Verlagshaus Casa Editorial Araluce und die zweite wurde zwei Jahre später in Ávila direkt über den Verlag der NSDAP veröffentlicht. Aus Gründen, die wir im folgenden Teil detaillierter erläutern werden, betrachten wir die Ausgabe von Ávila als eine zweite korrigierte Auflage. 28
Vgl. Núñez Seixas, Spanish, S. 8.
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a. Die Ausgabe von Araluce aus 1935 Die anhand konkreter Belege dokumentierte Geschichte der spanischsprachigen Version von Mein Kampf in Spanien beginnt 1935 mit der Veröffentlichung einer Übersetzung unter dem Titel Mi lucha. Das Deckblatt des Buches ist mit einem Farbfoto von Hitler versehen, der mit einem braunen Hemd bekleidet ist. Dieses Foto (dasselbe, das auch auf den deutschen Ausgaben dieser Jahre erschienen war29) wurde dem Katalog von Heinrich Hoffmann entnommen. Im unteren Bereich des Deckblattes taucht der Titel „Autobiografía“ auf, im oberen Bereich der Name „Adolf Hitler“. Eben dieses Titelblatt ist die einzige Stelle im Buch, in der der Begriff „Autobiografía“ vorkommt, vermutlich eine Vermarktungstaktik mit dem Ziel, das Buch einem breiteren Publikum als attraktives Produkt zu präsentieren. Auf der ersten Seite kommt es zu einer Änderung des Titels: Das Etikett „Autobiografía“, das auf dem Deckblatt sichtbar war, verschwindet vollkommen und erscheint nun als Mi lucha. Die geradzahligen Seiten des Buches tragen den Übertitel „Mi lucha“, während in der Kopfzeile der ungeradzahligen Seiten „A. Hitler“ steht. Die spanischsprachige Version ist eine gekürzte Version des Originals, die durch das Verlagshaus Franz Eher genehmigt wurde. Sie wurde direkt aus dem Deutschen übersetzt, eine Besonderheit, auf die auf der ersten Seite ausdrücklich hingewiesen wird. Sie wurde vom Verlagshaus Araluce in Barcelona mit einem Gesamtumfang von 355 Seiten veröffentlicht, inklusive einer „Einleitung“. Ihr Verkaufspreis betrug 10 Pesetas.30 Die Wahl des Verlags mag wohl etwas seltsam anmuten. Das Verlagshaus Araluce wurde im ausgehenden 19. Jahrhundert von Ramón de San Nicolás Araluce gegründet, der 1865 in Santander (Spanien) geboren wurde. Nachdem er Erfahrungen in der Verlagswelt in Mexiko gesammelt hatte, unternahm De San Nicolás Araluce sein eigenes Verlagsabenteuer in der katalanischen Hauptstadt, aus der seine Ehefrau stammte. Seit seiner Gründung spezialisierte sich das Verlagshaus Araluce auf ein Angebot für Kinder und Jugendliche.31 Ein Katalog vom Dezember 1934 beinhaltet um die 400 Titel, allesamt auf Spanisch (d. h. kein einziger auf Katalanisch), von denen sich 180 in verschiedene Kollektionen für Kinder unterteilen lassen. Die Kollektion „Las Obras Maestras al Alcance de los Niños“ [„Die großen 29 30 31
Vgl. Hartmann, Christian / Vordermayer, Thomas / Plöckinger, Othmar / Töppel, Roman (Hg.): Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition. 2 Bde. München: Institut für Zeitgeschichte 2016, Bd. I, S. 68. Zum selben Zeitpunkt war ein Exemplar der Tageszeitungen Abc (Madrid) und La Vanguardia (Barcelona) um 10 Céntimos erhältlich. Die Informationen über den Araluce-Verlag in diesem Abschnitt beruhen auf den folgenden Quellen: Llanas i Pont, Manuel: L’edició a Catalunya: el segle XX (fins a 1939). Barcelona: Gremi d’Editors a Catalunya 2005, S. 247–250; Pascual, Emilio: Araluce y los libros, in: Diario de León, 12.12.2010; Chumillas i Coromina, Jordi: „Semblanza de Publicaciones de la Casa Editorial Araluce“, en Biblioteca Virtual Miguel de Cervantes – Portal Editores y Editoriales Iberoamericanos (siglos XIX–XXI) 2016 – EDI-RED: www.cervantesvirtual.com/obra/publicaciones-delacasa-editorial-araluce-semblanza/ (Zugriff am 26.1.2018).
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Werke aufbereitet für Kinder“], die sich aus 84 Titeln zusammensetzte, bot Adaptierungen der großen Werke der Universalliteratur, von den griechisch-lateinischen Klassikern bis zu den Romanciers des 19. Jahrhunderts, unter anderem Sophokles, Charles Dickens oder Miguel de Cervantes. Die Kollektion „Los Grandes Hechos de los Grandes Hombres“ [„Die großartigen Taten der großartigen Männer“] vereinte 37 Biographien von historisch relevanten Persönlichkeiten, unter anderem Leonardo da Vinci, Johannes Gutenberg, Karl der Große, Christoph Kolumbus und George Washington. Eine dritte trug den Titel „Páginas Brillantes de la Historia“ [„Glanzvolle Seiten der Geschichte“] und beinhaltete 27 Darstellungen von historischen Persönlichkeiten und Momenten, während sich eine vierte Kollektion „Literatura Infantil“ [„Kinderliteratur“] aus 19 Geschichten- und Märchensammlungen zusammensetzte, mehrheitlich übersetzte Erzählungen von Autoren wie die Gebrüder Grimm oder Charles Perrault. Eine fünfte Kollektion machte mit einigen Basishandbüchern für den Schulgebrauch in den Bereichen Naturwissenschaften oder Zeichnen das Angebot an Publikationen für Kinder komplett. Sämtliche Bücher aus diesem Katalog beinhalteten die „Garantie, dass sie der kirchlichen Zensur unterliegen“32; in diesem Fall wurden sie vom Bistum in Barcelona genehmigt. Die Werbung des Verlags betonte dessen Seriosität, die mit dem Erhalt verschiedener Preise sowie mit anderen Formen der Anerkennung in Spanien, Deutschland und Hispanoamerika begründet wurde: „In den Ausstellungen von Leipzig, Barcelona und Sevilla mit Preisen ausgezeichnet. Am 29. Juni 1912 vom spanischen Staat als nützlich für die Gemeinschaft sowie für Leih- und Universitätsbibliotheken erklärt. Von einigen amerikanischen Regierungen ins Inventar der öffentlichen Schulen aufgenommen. In den Schulen verschiedener Gemeinden Spaniens preisgekrönt.“33 Die Kollektionen für Erzählliteratur, die auf einem Mittelweg zwischen einem Angebot für ein jugendliches und für ein erwachsenes Publikum angesiedelt waren, enthielten eine beachtliche Liste hispanoamerikanischer Autoren (wie Sor Juana Inés de la Cruz oder Rómulo Gallegos) und darüber hinaus vier Romanserien: 10 Titel von den Abenteuern von Till Mark, 21 von Salgari, 10 von Stanley J. Weyman und 75 von Zévaco (ein Held mit Umhang und Schwert, der auf der anderen Seite des Atlantiks besonders erfolgreich war). Neben seiner Spezialisierung auf Kinder und Jugendliche beinhaltete der Katalog Werke aus den Bereichen der Wissenschaft, Technologie, Kunst, Geschichte und Geographie (mit einigen Bänden über die Geschichte und Kolonisierung Amerikas) oder Pädagogik. Allerdings gibt es keine Hinweise auf völkische oder nazistische Autoren. Zu guter Letzt verfügte Araluce auch noch über eine Sektion für experimentelle und angewandte Wissenschaften mit über 40 Handbuchtiteln für die praktische Anwendung und den Lehrbereich, die sich auf verschiedene Disziplinen und Fertigkeiten spezialisierten: Physik, Chemie, Medizin, Elektrizität, Mechanik, Industrie- und Textiltechniken, Bauwesen, Agrargewerbe oder Tierzucht.
32 33
El Siglo Futuro, 30.4.1935, Nr. 18290, S. 16. Vgl. Llanas i Pont, L’edició, S. 248.
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Anhand dieses groben Überblicks über die Spezialisierungsbereiche von Araluce, unmittelbar bevor Mi lucha 1935 auf den Markt kam, wird man feststellen, dass a priori nichts darauf hinweist, dass es sich um einen Verlag handelt, der einen fruchtbaren Boden für das Werk eines lebenden Staatsmannes darstellen könnte, der eine rassistische und totalitäre Ideologie vertritt. Es handelte sich also nicht um einen Verlag mit einer klar erkennbaren ideologischen Prägung, wenngleich sehr wohl Wert darauf gelegt wurde, jenen moralischen Vorgaben zu entsprechen, die von der Kirche vorgeschrieben wurden. Mit dem Tod von San Nicolás Araluce im Jahr 1941 setzte der langsame und dennoch unaufhaltsame Verfall des Geschäfts in den Händen seiner Erben ein, bis dieses gegen Ende der 1950er Jahre seine Tätigkeiten endgültig einstellte. War die Veröffentlichung von Hitlers Programmschrift durch das Verlagshaus Araluce Teil jener Aktivitäten, die während der Zweiten Republik (1931–36) in Spanien von den Nazis finanziert wurden? Die Originaldokumente, die von den Aktivitäten der NSDAP in Spanien berichteten, gingen größtenteils verloren. Es gibt Beweise dafür, dass die Organisation der Partei in Spanien 1934 mehr als 164 Artikel in rund 30 Zeitungen „untergebracht“ hatte; in den ersten vier Monaten des Jahres 1935 wurden auf diese Weise ganze 68 Artikel in 25 Zeitungen publiziert.34 Die Veröffentlichung von Mi lucha durch Araluce könnte Teil dieser propagandistischen Ausbreitung der Nazis gewesen sein, deren Ziel es war, die öffentliche Meinung in Spanien in eine Richtung zu lenken, die ihren Interessen entsprach; allerdings verfügen wir über keine Dokumente, die diese Annahme bestätigen könnten. Die Version von Araluce aus dem Jahr 1935 ist eine gekürzte Ausgabe des Originals mit folgender Struktur: An erster Stelle steht eine „Introducción“ [„Einleitung“], verfasst vom Übersetzer des Buches. Diesem folgt das Vorwort von Hitler, das im deutschen Original enthalten ist und ungekürzt übersetzt wurde. An dritter Stelle befindet sich der Nachruf, den Hitler den „Blutzeugen der Bewegung“ widmete, ebenfalls vollständig adaptiert. Zuletzt erscheinen einige „biographische Daten von Adolf Hitler“, in schematischer Form präsentiert. Es sei darauf hingewiesen, dass auf dem Deckblatt und auf der ersten Seite des Buches „Adolf“ steht, während in diesem Teil – ebenso wie bei der einzigen Erwähnung des Vor- und Nachnamens des „Führers“ durch den Übersetzer in der Einleitung – die hispanisierte Version „Adolfo“ auftaucht. Die biographischen Daten erstrecken sich über vier Seiten und umschließen den Zeitraum von Hitlers Geburt bis zum 10. März 1935, jenem Datum, an dem „das deutsche Volk mit großem Jubel die Wiedereingliederung des Saarlands unter die Souveränität des Reichs feiert“. Die englisch-, französisch- und italienischsprachigen Ausgaben beinhalten keinen derartigen Überblick über das Leben Hitlers, weshalb es sich hierbei um eine Einzigartigkeit der spanischen Ausgabe handelt. Dieser biographische Abschnitt muss kurz vor der Drucklegung des Buches abgeschlossen worden sein, da Mi lucha auf der dritten Madrider Buchmesse präsentiert wurde. Auf dieser Buchmesse, die vom Agrupación de Editores Españoles [Verband spanischer Verleger] zwischen 5. und 20. Mai 34
Vgl. Viñas, Ángel: La Alemania nazi y el 18 de julio. Madrid: Alianza 1974, S. 146; Böcker, Antisemitsmus, S. 239.
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desselben Jahres organisiert wurde, hatte das Verlagshaus Araluce einen der 45 Stände.35 Es ist daher möglich, das Erscheinen des Buches auf dem spanischen Markt mit relativer Genauigkeit zwischen März und Ende April 1935 anzusetzen. Das Werk wurde in den Druckereien der Imprenta Layetana in Barcelona gedruckt. Dies war die einzige Drucklegung für diese Ausgabe. Unmittelbar vor Ende der Buchmesse bewarb Araluce Mi lucha in Zeitungsanzeigen als Erfolg.36 Die spanische Ausgabe, die in dieser Hinsicht mit den Ausgaben von Dugdale von 1933, der französischen von 1938 und den italienischen von 1934 und 1937/38 übereinstimmt, unterschlägt drei Besonderheiten der deutschen Ausgabe: das Personen- und Sachverzeichnis (welches in Mein Kampf zu Beginn des Buches, vor dem Vorwort erscheint – eine freilich sehr untypische Praktik), das Schlusswort des Originals und die Seitenüberschriften, welche für den ersten Band von Joseph Stolzing-Cerny, dem Redakteur des Völkischen Beobachters, und für den zweiten Band von Rudolf Heß erstellt wurden.37 Die vier einleitenden Textstellen zu Beginn des Buches sind eine Mischung aus Abschnitten, die direkt aus dem Original übernommen wurden (das Vorwort von Hitler und die Widmung) sowie anderen Zusatztexten, die von den Verlegern der spanischen Version hinzugefügt wurden (die Einleitung und die biographischen Daten: Erstere wurde ex profeso verfasst; von den biographischen Daten ist der Ursprung unbekannt, aufgrund der akribischen und propagandistischen Züge könnten sie aber von den Nazis selbst diktiert worden sein). Jener Teil des Buches, der an diese Textstellen anschließt, besteht überwiegend aus einer zusammenfassenden Übersetzung jedes einzelnen Kapitels des Originals, wobei Reihenfolge und Struktur berücksichtigt werden; das bedeutet einen ersten Teil bestehend aus 12 und einen zweiten Teil aus 15 Kapiteln. Die spanische Version des ersten Bandes des Buchs umfasst 162 Seiten von insgesamt 328 (49,39 Prozent der Gesamtseitenzahl), die Abschnitte zu Beginn nicht eingeschlossen; im deutschen Original sind es 406 Seiten zu 785 (51,69 Prozent). Was die prozentuelle Verteilung des Umfangs betrifft, bleibt die spanische Version dem Original also treu. Wenn auch die spanische Version in statistischer Hinsicht dem deutschen Original auffällig ähnlich ist, kann man dasselbe auch behaupten, wenn wir uns auf die Inhalte konzentrieren? Gibt es irgendeinen essenziellen Aspekt von Hitlers Gedankengut, der in der Araluce-Ausgabe abgeschwächt oder angepasst wurde? Alle Merkmale, die es uns erlauben, die Hitler-Ideologie als unzivilisiert, unmoralisch und antidemokratisch zu bezeichnen, sind im Buch enthalten, ohne dass wesentliche Elemente verborgen oder ausgesondert worden wären. Der Ultranationalismus, der Rassismus und „fanatische“ Antisemitismus38, das „anti“-Konglomerat (Anti35 36 37 38
Vgl. Abc, 5.5.1935, S. 32. Vgl. Abc, 18.5.1935, S. 33. Vgl. Hartmann u. a. (Hg.), Mein Kampf, Bd. I, S. 284, FN 118. Erika Mann war eine der ersten, die auf die sprachliche Perversion durch den Nationalsozialismus aufmerksam machten, bei der der negative Wert eines Ausdrucks umgekehrt werden konnte: „Es gibt eine Reihe von Worten, die man überall sonst in der Welt nur in negativem Sinne verwendet, denen die Nazis jedoch eine positive Bedeutung verliehen. ‚Fanatismus‘ rechnet unter diese Worte – und Adjektive wie ‚hart‘, ‚schonungslos‘, ‚erbarmungslos‘,
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marxismus, Antipazifismus, Antifeminismus, Antiliberalismus, Antiparlamentarismus), jene Gender-Auffassung, in der die Frau in den privaten Bereich abgedrängt wird, die Geschichtsdeutung, die organizistische Weltauffassung, in der das Individuum als ein Mittel zum Zweck verstanden wird, jenes pädagogische Projekt, das darauf abzielt, das Individuum zu einem Bestandteil der Volksgemeinschaft umzuformen, die Außenpolitik und die Idee des Lebensraums oder das biopolitische Projekt, den Volkskörper von Fremdkörpern und „Schädlingen“ zu säubern; all diese Züge aus Hitlers Gedankengut sind in der Araluce-Ausgabe einwandfrei wiedererkennbar. Kapitel XI des ersten Bandes „Volk und Rasse“ wird von Spezialisten als das „wohl bekannteste Kapitel“ des Buches39 und als dessen „ideologisches Schlüsselkapitel“ betrachtet.40 Obwohl es das Kapitel ist, das in der gesamten Übersetzung die verhältnismäßig meisten Kürzungen hinnehmen musste (in der spanischen Ausgabe macht es 4,88 Prozent aus, im Original 6,62 Prozent), wird in ihm nichts Wesentliches von dem, was Hitler vermitteln wollte, ausgelassen. Der blinde und wütende Antisemitismus, den das Kapitel offenbart, schlägt sich spiegelbildartig in der spanischen Auswahl nieder: Die Vermischung der Rassen führt unweigerlich zur Degenerierung der überlegenen Rasse, die Arier, die einzigen „Kulturbegründer“, jene, die den „Aufopferungswillen“ besitzen und die man als Idealisten bezeichnen muss, da deren Mitglieder dazu fähig sind, ihre Eigeninteressen im Namen des Kollektivs zu opfern. Das Gegenstück zum Arier wäre der Jude, „der grosse Meister der Lüge“, der Parasit par excellence, der sich im Laufe der Geschichte im „Organismus“ anderer Völker festzubeißen pflegte. Die Juden konstituieren demnach eine Rasse und keine Religion, deren wesentliche Waffen die Freimaurerei und allen voran die Presse waren, um fremde Volkskörper heimzusuchen und zu zerstören, und deren Leitideologie der Marxismus war; sie sollen die Hauptverantwortlichen für die Niederlage gewesen sein, die Deutschland im Ersten Weltkrieg erlitten hatte. All diese Bestandteile, die den Kern von Hitlers rassistischem Gedankengut bilden, finden sich schwarz auf weiß in der spanischen Version. b. Mi lucha von 1937: Neuauflage oder Zweitauflage? Wie wir also festgestellt haben, wurde die erste spanische Ausgabe von Mi lucha Mitte 1935 in Barcelona veröffentlicht. Am 18. Juli des Folgejahres brach die von General Franco orchestrierte Militärrevolte los; dieser Moment markierte den Be-
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‚blind‘, – ja sogar ‚barbarisch‘.“ (Mann, Erika: Zehn Millionen Kinder. Die Erziehung der Jugend im Dritten Reich. Hamburg: Rowohlt 1997 [Original: 1938], S. 155). Victor Klemperer setzte ihre Liste fort und ergänzte diese um eines jener in Manns Serie implizierten Adjektive, nämlich „fanatisch“ (Klemperer, Victor. LTI. Notizbuch eines Philologen. Leipzig: Reclam 1975, S. 77–83). Zehnpfennig, Barbara: Hitlers Mein Kampf. Eine Interpretation. München: Wilhelm Fink 2006, S. 127. Wirsching, Andreas: Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition des Instituts für Zeitgeschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 65 (2015), S. 9–16, hier S. 11.
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ginn eines Bürgerkriegs, der sich beinahe über die gesamten darauffolgenden drei Jahre fortsetzte. Katalonien, und damit auch Barcelona, blieb auf der Seite jener, die sich der demokratischen Ordnung der Republik verpflichtet fühlten. Wenn also der Propagandaapparat der Nazis Mi lucha weiterhin auf dem Markt halten und das Buch der öffentlichen Meinung Spaniens zugänglich machen wollte, gab es keine andere Möglichkeit, als dieses in einem Gebiet neu aufzulegen, das keinen kriegerischen Unruhen ausgesetzt war. Diese Faktoren erklären die Tatsache, dass 1937 eine neue Ausgabe von Hitlers Buch in der „Nationalen Zone“ erschien.41 Tatsächlich handelt es sich um eine zweite Auflage mit Korrekturen von begrenzter Tragweite. Die neue Ausgabe wurde in Ávila veröffentlicht, einer Stadt und Provinz, die der Militärerhebung vom ersten Moment an wohlgesonnen war. Sie wurde nicht mehr von einem kommerziellen Verlagshaus herausgegeben, sondern erschien nun unter direkter Förderung der NSDAP. Das Deckblatt ist das gleiche wie das der Araluce-Ausgabe (mit der Hitler-Fotographie von Hoffmann), allerdings mit einem signifikanten Unterschied: Der Schriftzug „Autobiografía“ verschwindet und an seine Stelle tritt der Titel „Mi lucha“. Die Übersetzung ist dieselbe wie jene von Araluce, die sich erneut dadurch auszeichnet, dass es sich um eine direkte Übersetzung aus dem Deutschen handelt und dass sie vom „Zentralverlag der Nationalsozialistischen Partei. Franz Eher Nachf. G. m. b. H. München/Deutschland“ genehmigt wurde. Der auf der Rückseite des Buches vermerkte Verkaufspreis betrug 14 Pesetas. Die Ausgabe von Ávila umfasst 367 Seiten; die Seitenzahl stimmt allerdings nicht mit der Araluce-Ausgabe mit 355 Seiten überein, da das Layout anders gestaltet wurde. Sie besitzt dieselbe Struktur und denselben Inhalt wie die erste, mit dem Zusatz einer weiteren Einleitung im Umfang von zwei Seiten, ebenso mit „El traductor“ [„Der Übersetzer“] unterzeichnet. Es handelt sich im Übrigen um eine Ausgabe, in der viele der formalen Mängel korrigiert wurden, die die erste Edition durchzogen: Druckfehler, Probleme im Bereich der Interpunktion und Akzentsetzung sowie der eine oder andere offensichtliche Übersetzungsfehler bei Konzepten, die im Nazigedankengut nicht essenziell waren. Ein Beispiel dafür: Die Edition aus Barcelona übersetzt Hitlers Originalsatz „Allein, man beschritt diesen Weg ja überhaupt nicht“42 auf die folgende, offensichtlich inkorrekte Weise: „Pero sensiblemente no se optó por seguir ese camino“43 [„Doch ganz offensichtlich entschied man sich nicht dazu, diesem Weg zu folgen.“]. Der Neudruck von 1937 korrigiert den Satz, der nun so lautet: „Pero desgraciadamente no se optó por seguir ese camino“44 [„Doch unglücklicherweise entschied man sich nicht dazu, diesem Weg zu folgen.“]. Dies sind formale Korrekturen, die die vorherige Ausgabe verbessern, die der bereits bestehenden Version aber nichts sonderlich Neues hinzufügen. 41 42 43 44
Die „Nationale Zone“ war während des spanischen Bürgerkriegs jenes Gebiet, das sich unter der Kontrolle der Faschisten befand. Hartmann u. a. (Hg.), Mein Kampf, Bd. I, S. 149. Mi lucha, 1935, S. 84. Mi lucha, 1937, S. 89.
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4. FEDERICO NIELSEN REYES, „VORKÄMPFER DES TOTALITARISMUS“ a. Übersetzer von Mi lucha, Diplomat und bolivianischer Nazi Wenn es eine zentrale Figur in der Geschichte der Veröffentlichung von Mi lucha auf Spanisch gibt, dann ist dies Federico Nielsen Reyes. Ohne seine Unterstützung wäre die Editionsgeschichte von Hitlers Werk auf Spanisch und in Spanien zweifelsohne sehr anders verlaufen. Nielsen Reyes wurde am 9. Januar 1904 in La Paz, Bolivien geboren. Er war das älteste von sechs Geschwistern (fünf Brüder und eine Schwester) aus einer großbürgerlichen Familie, die in ihrem Domizil Mitglieder der Führungsschicht des Landes zu empfangen pflegten, wie Hernando Siles Reyes, Präsident von 1926 bis 1930.45 Der Vater, Federico Thomas Nielsen, geboren in Schleswig-Holstein, begab sich mit 23 Jahren in Begleitung von zwei Freunden nach Bolivien. Als Nielsen Reyes sich 1927 an der Universität von Berlin immatrikulieren ließ, gab er an, dass sein Vater von Beruf „Chemiker“ war.46 Höchstwahrscheinlich hatte seine Mutter Sara Reyes Díaz de Oliver familiäre Beziehungen zu Präsident Siles Reyes. Dies würde den beruflichen Werdegang des jungen Federico erklären, der laut seiner Schwester „seit sehr jungen Jahren häufig in den Kreisen der wohlhabenden Mächtigen verkehrte sowie in jenen, die internationales Ansehen genossen“47. Egal, ob Blutsverwandtschaft nun eine Rolle spielte oder nicht, feststeht, dass die Familie und der Präsident in regem Kontakt zueinander standen. Der zweitälteste Bruder aus dem Hause Nielsen Reyes, Walter, der ein enger Mitarbeiter von Präsident Siles Reyes war, erinnert sich, dass dieser „mehr als einmal zu abendlicher Stunde bei meinen Eltern zuhause war, um sich an einer kreolischen Speise und einem Glas ‚Chicha Cochabambina‘48 zu erfreuen; er blieb oft bis acht oder neun zum Plaudern hier.“49 Federico Nielsen Reyes absolvierte seine Schullaufbahn bis zur Reifeprüfung im Colegio Nacional Ayacucho in La Paz, das 1826 gegründet wurde und welches elf Präsidenten des Landes besucht hatten.50 Nachdem er den Militärdienst im Regimiento Bolívar de Artillería [Artillerieregiment Bolívar] in Viacha abgeschlossen hatte, trat er mit 19 Jahren als Vizesekretär im Bildungsministerium in die öffentli45
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Die biographischen Daten und weitere relevante Informationen aus dem Leben von Nielsen Reyes stammen aus dem Buch (1989) seiner Schwester Emmy Nielsen Reyes de Gaspar, das fünfte der sechs Geschwister. Es handelt sich um ein Erinnerungsbuch, nicht um eine handelsübliche Biographie (vieles wird wiedergegeben, vieles auch verschwiegen). Ich verdanke diese Information den Zuständigen für das Archiv der Humboldt Universität von Berlin. Nielsen Reyes de Gaspar, Emmy: Federico Nielsen Reyes. Recuerdos de su hermana. La Paz: Proinsa 1989, S. 106. Gemeint ist ein bolivianisches Maisbier aus der Cochabamba-Region. Vgl. Crespo Rodas, Alfonso: Hernando Siles. El poder y su angustia. La Paz: Siglo 1985, S. 148. Vgl. www.comunicacion.gob.bo/?q=20130918/12708 (Zugriff am 3.2.2018).
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che Verwaltung ein. Drei Jahre später, im Mai 1926, wurde er im Alter von 22 Jahren zum Zivil-Attaché an der bolivianischen Botschaft in Berlin ernannt. Seine Schwester erinnert sich, wie er am Vorabend seiner Abreise „auf den Knien der Messe lauschte, die seine Mutter zuhause anlässlich seiner Reise abhalten ließ.“51 Nachdem er sich in der deutschen Hauptstadt niedergelassen hatte, setzte er sein Studium der Rechtwissenschaften und Wirtschaftspolitik fort, das er an der Universidad Mayor de San Andrés in La Paz begonnen hatte. Im Register der FriedrichWilhelms-Universität in Berlin scheint er zwischen dem 10. Mai 1927 und dem Wintersemester des Studienjahres 1928/29 an der Fakultät für Wirtschaftslehre als angemeldet auf.52 Sein beruflicher Aufstieg im Diplomatenkreis war kometenhaft. Zwei Jahre nach seiner Ankunft in der deutschen Hauptstadt wurde Nielsen Reyes 1928 im Alter von 24 Jahren vom Zivil-Attaché in den Rang eines Zweiten Sekretärs befördert. 1932, als seine Schwester Emmy nach Berlin kam, um ihr Malereistudium fortzuführen und bei ihm und ihrer Schwägerin zu wohnen, war er bereits Erster Sekretär.53 Im Laufe der Zeit übte er noch weitere Funktionen aus: Nach der Amtsniederlegung von Heinrich Mendelsohn (dieser ging während des Dritten Reichs ins Exil nach Großbritannien) übernahm er das Konsulat als Honorarkonsul von Bolivien und fungierte als Inspector General de Consulados en Europa [Generalinspekteur für Konsulate in Europa]. Unter diesen Vorbedingungen fand er sich im August 1939 in Barcelona ein, einige Monate nach dem Sieg von General Franco, der für die darauffolgenden vier Jahrzehnte einer Diktatur den Weg ebnen sollte. Die spanische Presse, die bereits faschistisch bestimmt und der Zensur unterworfen war, gab den Besuch mit den folgenden Worten bekannt: „Herr Nielsen Reyes besuchte das Nationale Spanien54 1937 und ausgehend von seiner damaligen Reise veröffentlichte er in den Zeitungen Amerikas verschiedene Artikel, in denen er das Werk des Generalísimo lobte, und als er im Februar dieses Jahres in seinem Land das Unterstaatssekretariat für auswärtige Angelegenheiten übernahm, erkannte Bolivien die Regierung Spaniens an.“55 Dieselbe Pressenotiz bestätigte so die ideologische Prägung von Nielsen Reyes: „Der hochangesehene Besucher, der im Rahmen dieser Weltanschauung weitreichende publizistische Arbeit geleistet hat, ist ein alter Vorkämpfer des Totalitarismus und ein großer Kenner des III. Reichs, da er 51 52 53
54 55
Nielsen Reyes de Gaspar, Nielsen, S. 16. Ich verdanke diese Information den Zuständigen für das Archiv der Humboldt Universität Berlin. Die Familienresidenz befand sich in der Markgraf-Albrecht-Straße, einer Nebenstraße des Kurfürstendamms. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Nielsen Reyes gerade nach katholischem Ritus mit Ilse Kütscher vermählt, Tochter von Karl Kütscher, einem hohen Funktionär im Landwirtschaftsministerium, und seiner Frau Margarethe Gottschalk. Deren Schwägerin Emmy erinnerte sich: „Die Braut besaß viele gute Eigenschaften, sie war gebildet und sprach Spanisch.“ (Nielsen Reyes de Gaspar, Nielsen, S. 18). Die Familie Nielsen hatte eine Wohnung, die sich im selben Gebäude befand wie die Bolivianische Botschaft in Deutschland (ebd., S. 22). Gemeint ist Spanien unter der Kontrolle Francos. Es muss darauf hingewiesen werden, dass bis zum 1. April 1939, als Franco die letzte Kriegsmeldung unterzeichnete, die Kampfhandlungen offiziell nicht beendet waren.
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den größten Teil seines diplomatischen Werdegangs in Berlin durchlaufen hatte.“56 Zuvor, zwischen dem 4. und 10. November 1936, nahm Nielsen Reyes in Feldafing (in der Nähe von München) an der „Ersten Vertraulichen Internationalen Antikommunistischen Konferenz“ teil (die Anti-Komintern unter der Förderung des NaziPropagandaministeriums, wo er das „Gesetz zum Verbot der Kommunistischen Partei in Bolivien“ vorstellte).57 Derlei Aktivitäten veranlassten die Geheimdienste der Alliierten dazu, ihn als Nazi einzustufen. Inmitten des Zweiten Weltkriegs wurde Nielsen Reyes, der seit 1939 wieder zurück in seinem Land war, in einem Memorandum, das man dem US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt zukommen ließ, als „ein großer Nazipropagandist in Südamerika“ bezeichnet.58 Laut Emmy Nielsen Reyes bestand das Grundprinzip im beruflichen und politischen Werdegang ihres Bruders darin, seinem Vaterland zu dienen: „Nichts konnte ihn aufhalten in dieser inbrünstigen Hingabe im Dienst für sein Land. Die patriotische Gesinnung war ein brennendes Ideal, das sein Leben bestimmte.“59 Ein Vaterland in einem rassistischen Sinne nach der Auffassung der Nazis, könnte man sagen. Als Hitler in Mein Kampf die Juden ins Visier nahm und sich dabei der antisemitischen Tradition völkischen Vorbilds bediente, fanden die lateinamerikanischen Vertreter einer weißen Vorherrschaft in Ländern mit einer zahlenmäßig hohen indigenen Bevölkerung im geplanten Völkermord der Nazis eine Inspirationsquelle für die „Lösung“ des „Indio-Problems“. Bolivien war eines jener Länder, in dem die traditionelle Elite danach strebte, das Land zu „weißen“, zum Beispiel durch die Gestaltung einer Migrationspolitik nach dem Krieg, um europäische Immigranten im Allgemeinen anzulocken, insbesondere Deutsche.60 Nielsen Reyes spielte eine Schlüsselrolle in diesem bevölkerungstechnischen Experiment. Nach dem Zweiten Weltkrieg vertrat er Bolivien 15 Jahre lang im „Comité Intergubernamental para las Migraciones Europeas“ (CIME) [„Zwischenstaatliches Komitee für europäische Auswanderung“], eine transnationale Organisation mit Sitz in Genf, die 1951 gegründet wurde und ein dreifaches Ziel verfolgte: 1) Flüchtlinge in Länder zu übersiedeln, die definitive Niederlassungsmöglichkeiten gewährleisteten; 2) der Nachfrage nach Arbeitskräften der überseeischen Länder durch die Vermittlung europäischer Immigranten nachzukommen; 3) zur wirtschaftlichen und sozialen Verbesserung der lateinamerikanischen Länder durch selektive Migration beizutragen.61 In Bezug auf die Arbeit ihres Bruders an der Spitze des besagten Komitees merkte Emmy Nielsen Reyes an, dass „der CIME mit der Ansiedelung von Fachkräften, die 56 57 58 59 60 61
La Vanguardia Española, 2.8.1939. Vgl. „Protokoll der Ersten Vertraulichen Internationalen Antikommunistischen Konferenz in Feldafing bei München vom 4. bis 10. November 1936“. Eine Kopie dieses Dokuments befindet sich in: Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Berlin, R 100336. Originaldokument verfügbar unter: gaic.info/wp-content/uploads/2016/07/26-Mar-1942-OSSReport-on-LA-infiltration-by-Nazis.pdf (Zugriff am 9.2.2018). Nielsen Reyes de Gaspar, Nielsen, S. 23. Vgl. Conea-Rosenfeld, Mari Mariana: Wartime Bolivia and Refugees from Nazism: A Unique Case. University of Miami: Ph. D. Dissertation 2000, S. 3. Gómez de la Serna, Gaspar: El Comité Intergubernamental para las Migraciones Europeas, in: Revista de Instituciones Europeas 1 (Mai – August 1974), S. 723–730, hier S. 723.
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in Deutschland ausgebildet wurden und in diesem Land arbeiteten, einen maßgeblich Beitrag für das Land leistete“.62 Wäre es denn möglich anzunehmen, dass der CIME als eine Plattform operiert hat, um frühere Nazis zu beherbergen, welche vor den Kriegstribunalen geflüchtet waren, die von den Siegermächten unmittelbar nach dem Krieg etabliert wurden? Klaus Barbie zum Beispiel, der „Schlächter von Lyon“, traf 1955 in Bolivien ein. Die Wochenzeitung Der Spiegel stellte 1981 in einem Artikel über die Verbindungen zwischen dem Drogenhandel und den Diktaturen von Hugo Banzer (1971–1978) sowie Luis García Meza (1980–1981) fest, „emigrierte deutsche Nazis finden sich in Bolivien seit Jahren in der besten Gesellschaft.“63 Diese Spekulation wäre nicht gänzlich unangebracht. Schon bevor er nämlich begann, seinen Pflichten in Berlin nachzugehen, tat sich Nielsen Reyes durch seine Bemühungen in der Verbreitung der Naziideologie in Bolivien hervor.64 Da es sich um ein Mitglied der Elite des Landes mit hervorragenden Kontakten in den höchsten Kreisen handelte, ist es gut möglich, dass er seine Stellung ausnutzte, um einen Posten in der deutschen Hauptstadt zu erhalten und auf diese Weise im Dienste der Konsolidierung und Expansion der Nazibewegung Aufträge von größerer Bedeutung auszuführen. Als belegt gelten in diesem Sinne zwei Dienste von historischer Tragweite, die Nielsen Reyes für den Nationalsozialismus leistete. In chronologischer Reihenfolge bestand der erste darin, ausgehend von seinem Sekretariat in der Botschaft Ernst Röhm die Verfahrenswege zu erleichtern, damit dieser einen Vertrag unterzeichnen konnte, um sich dem bolivianischen Heer als Ausbildner anzuschließen; der zweite – welcher uns hier intensiver beschäftigen wird – war seine Autorenschaft der ersten autorisierten Übersetzung von Mein Kampf ins Spanische. Auf diese Tätigkeiten werden wir im Anschluss zurückkommen. Auf Initiative des Andenstaats verzeichnete das bolivianische Heer zwischen 1909 und 1942 eine ununterbrochene Präsenz von mehreren Dutzend deutscher Offiziere, mit Ausnahme der Jahre des Ersten Weltkriegs.65 Während die Militärmissionen bis 1918 offizieller Natur waren, d. h. von Staat zu Staat ausgehandelt wurden, ging die Präsenz deutscher Offiziere in Bolivien nach der Unterzeichnung des Versailles Vertrags auf Privatinitiativen zurück; deren Präsenz unterlag also nicht dem Verantwortungsbereich der darauffolgenden Regierungen der Weimarer Republik und genauso wenig derjenigen des Dritten Reichs. Der Anreiz war ein wirtschaftlicher: Ab 1911 war das Gehalt, welches das bolivianische Heer den deutschen Ausbildnern zahlte, höher als jenes der Offiziere im eigenen deutschen Heer. Dies waren also die Bedingungen, unter denen sich Röhm nach Bolivien begab. Er unterzeichnete einen (verlängerbaren) Vertrag für die Dauer von zwei 62 63 64 65
Nielsen Reyes de Gaspar, Nielsen, S. 73. Der Spiegel, 11.5.1981, S. 163. Vgl. Conea-Rosenfeld, Bolivia, S. 337–338. Diese Anmerkungen über deutsche Offiziere in Bolivien beruhen auf: Brockmann, Robert: El general y sus presidentes: vida y tiempos de Hans Kundt, Ernst Röhm y siete presidentes en la historia de Bolivia, 1911–1939. La Paz: Plural Ed. 2007, S. 447–450; Hancock, Eleanor: Ernst Röhm. Hitler’s SA Chief of Staff. Nueva York: Palmgrave 2008, S. 95–104.
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Jahren zwischen Januar 1929 und Dezember 1930 mit einem Entgelt von 1000 Bolivianos während des ersten Jahres und 1100 Bolivianos während des zweiten Jahres (1 Boliviano = 1,5 Goldmark), ein Entgelt, das dem Gehalt des bolivianischen Stabschefs entsprach. Der damals prominenteste unter den in Bolivien stationierten Militärs deutscher Abstammung war Hans Kundt. Kundt wurde 1911 angeworben, um das bolivianische Herr nach dem preußischen Modell umzuorganisieren. Während des Ersten Weltkriegs trat er wieder ins deutsche Heer ein, nur um 1921 erneut nach Bolivien zurückzukehren. Ausgestattet mit der Staatsbürgerschaft seines Aufnahmelandes, wurde er 1923 für einen kurzen Zeitraum zum Stabschef (dem Äquivalent zum Kriegsminister) ernannt. Im Januar 1929 wurden Kundt und Röhm neben anderen deutschstämmigen Offizieren von der Regierung unter Hernando Siles unter Vertrag genommen: Ersterer erneut als Stabschef, Röhm als Oberstleutnant.66 Basierend auf einer Autobiographie eines weiteren in Bolivien stationierten hochrangigen deutschen Militärs, Adolf Röpnack, berichtet der bolivianische Historiker und Journalist Robert Brockmann, dass Kundt der Entscheidung, Röhm solle sich seinem Kontingent anschließen, nicht aus freiem Willen stattgegeben hätte; lediglich ein Befehl von Präsident Siles Reyes habe ihn dazu verpflichtet, zu gehorchen.67 Auch der deutsche Botschafter in Bolivien, Hans Gerald Marckwald, zeigte sich keineswegs enthusiastisch, als er die Neuigkeit erfuhr, dass Röhm im Land eingetroffen war, um die Streitkräfte auszubilden: „Ist dieser Herr wirklich der richtige deutsche Militärvertreter für hier?“68 Für die Nominierung Röhms lässt sich keine einfache Erklärung finden angesichts seines überaus bemerkenswerten ideologischen Profils, das der etablierten Ordnung nicht gerade respektvoll gegenüberstand: Als NSDAP-Mitglied der ersten Stunde (er war einer der wenigen Personen, die mit Hitler per Du waren) beteiligte er sich am Putsch vom November 1923 in München (wofür er eine fünfmonatige Gefängnisstrafe abbüßte) und war 1925 für einige Monate Oberster SA-Führer. Zu jener Zeit war er bereits aus dem Heer ausgeschlossen worden. Man bedenke, dass Nielsen Reyes zu diesem Zeitpunkt zweiter Sekretär der Botschaft war. Wir verfügen über keinerlei Belege, mit denen die Intervention der bolivianischen Botschaft in Berlin anhand von Dokumenten bewiesen werden könnte; doch mit Nielsen Reyes als deren Sekretär war diese wohl kaum unbeteiligt. Der bolivianische Historiker Robert Brockmann merkt an, dass die Gesandtschaft Boliviens in Berlin bei der Anstellung von Röhm direkt vermittelte.69 Als sehr wohl bewiesen gilt, dass sich Nielsen Reyes und der Oberste SA-Führer miteinander verbrüderten, nachdem Letzterer nach Deutschland zurückgekehrt war. Nachdem er sein ursprünglich zwei Jahre dauerndes Arbeitsverhältnis beendet hatte, war Röhm für unbestimmte Dauer vom boliviani66 67 68 69
Vgl. Hancock, Eleanor: Ernst Röhm versus General Hans Kundt in Bolivia, 1929–1930? The Curious Incident, in: Journal of Contemporary History 47/4 (2012), S. 691–708, hier S. 696– 697. Vgl. Brockmann, El general, S. 458; Hancock, Röhm (2012), S. 697. Vgl. Hancock, Röhm (2008), S. 99. Vgl. Brockmann, El general, S. 457.
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schen Heer beurlaubt; das entsprechende behördliche Verfahren ließ er regelmäßig in der bolivianischen Botschaft in Berlin erneuern.70 Mit dieser Absicht, oder aufgrund persönlicher Freundschaft, besuchte Röhm gelegentlich das Gesandtschaftsgebäude von Bolivien und nebenbei auch das Haus von dessen Sekretär: „Röhm liebte Bolivien außerordentlich“, stellte Nielsen Reyes fest. „Er kam immer wieder einmal zu mir nach Hause und spielte auf dem Klavier die bolivianische Nationalhymne, die er auswendig konnte. Er war ein gebildeter, sehr intelligenter Mann und Hitler gegenüber loyal, soweit ich dies beurteilen konnte“.71 Darüber hinaus erwiesen sie sich gegenseitig Gefälligkeiten. Der amerikanische Journalist aus dem Korrespondenzbüro der Associated Press in Berlin und Pulitzerpreisträger von 1939, Louis P. Lochner, erinnert sich an ein Gespräch, das er dank der Vermittlung des „Sekretärs der bolivianischen Gesandtschaft“ Anfang 1930 mit Röhm geführt hatte. Beide Nazis fanden sich gemeinsam in seinem Büro ein, in der Überzeugung, der Moment sei gekommen, in dem die amerikanische Nachrichtenagentur aus erster Hand vom hochrangigen Leiter der Bewegung Kenntnis nehmen würde. Röhm wiederum setzte sich für ein Treffen in München zwischen Lochner und „dem Chef“ ein.72 Zu Nielsen Reyes’ Tätigkeiten in Berlin zählte die Organisierung der Teilnahme Boliviens an den Olympischen Spielen 1936. Einer der drei bolivianischen Sportler, die teilnahmen, war sein Bruder Arnold, der sich als Fahnenträger betätigte. Ab diesem Zeitpunkt war Federico Nielsen Reyes eng mit dem sportlichen Geschehen in seinem Land verbunden und wurde schließlich Vorsitzender des Comité Olímpico Boliviano [Bolivianisches Olympisches Komitee]. Von ihm stammt der Text der Hymne der olympischen Sportler Boliviens mit dem Titel „Sanos y fuertes“ [„Gesund und kräftig“]; mit ihrer Lobpreisung des Vaterlandes, der Kameradschaft und der Ehre vermittelt sie Ideen, die von den Nazis sehr geschätzt wurden.73 Sie lautet wie folgt: Sanos y fuertes, la frente altiva, ya marchamos al rítmico son, baña el sol nuestra tierra nativa, vivo late cada corazón. 70 71 72
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Gesund und kräftig, aufrecht die Stirn, marschieren wir schon zum rhythmischen Klang, es badet die Sonne unseren heimatlichen Boden, lebhaft schlägt jedes Herz.
Vgl. Hancock, Röhm (2008), S. 103; Hancock, Röhm (2012), S. 706. Vgl. Crespo Rodas, Hernando, S. 245. Lochner, Louis P.: What about Germany? London: Hodder and Stoughton 1943, S. 79. Lochner behauptete, Nielsen Reyes habe Röhm „zu jener Zeit, als der deutsche Soldat [Röhm] das bolivianische Heer neu organisierte“, kennengelernt (Lochner, Germany, S. 79); wahrscheinlicher ist jedoch, dass sie sich entweder vor der Abreise Röhms nach Bolivien kennenlernten, denn Nielsen Reyes wäre in irgendeiner Weise verwaltungstechnisch und/oder politisch daran beteiligt gewesen, oder sonst auf alle Fälle nach Röhms Rückkehr nach Deutschland, nicht aber während des Aufenthalts des deutschen Exsoldaten im Andenstaat, da sich Nielsen Reyes in Berlin aufhielt. Die „Ehre“ ist eine der zentralen Ideen in der Moralauffassung des Nationalsozialismus (vgl. Gross, Raphael: Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral. Frankfurt a. M.: Fischer 2010, S. 21). Siehe dazu beispielsweise den „Ehrenkodex“ der SA: „Ehrenordnung für die SA der NSDAP“, München, 1933, in: Archiv des Instituts für Zeitgeschichte, München, Db 052.025 b.
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Jesus Casquete Coro: Camaradería, honor, lucha caballerezca [sic], valor. Adelante! Adelante! Deportistas, Adelante!
Chorus: Kameradschaft, Ehre, ritterlicher Kampf, Mut. Vorwärts! Vorwärts! Sportler, vorwärts!
Por el deporte viril y fuerte A la Patria amamos con fervor. Si la inacción significa Muerte, el dinamismo es vida y vigor.
Durch den Sport, mannhaft und stark, lieben wir das Vaterland mit Jubel. Wenn die Tatenlosigkeit den Tod bedeutet, so ist der Tatendrang Leben und Kraft.
Coro: Camaradería, honor, lucha caballerezca [sic], valor. Adelante! Adelante! Deportistas, Adelante!74
Chorus: Kameradschaft, Ehre, ritterlicher Kampf, Mut. Vorwärts! Vorwärts! Sportler, vorwärts!64
Nielsen Reyes war also mehr als ein Diplomat, der im Dienste seines Landes in Deutschland tätig war; er war ein Nazi mit besten Kontakten zur Führungselite des Nationalsozialismus. b. Nielsen Reyes’ Vorwörter für Mi lucha. Eine Analyse Die Einleitungen der spanischen Version – sowohl der ersten als auch der zweiten Edition – sind mit den Worten „El traductor“ [„Der Übersetzer“] versehen, welcher laut verschiedenen Quellen niemand anderer als Federico Nielsen Reyes war.75 Es handelt sich hier um einen Beitrag von ihm, der für die Verbreitung der nationalsozialistischen Ideologie in Spanien und Lateinamerika ausschlaggebend war. Die Tatsache, dass seine Identität verborgen blieb, könnte mit seiner diplomatischen Funktion zu tun haben; denn die Vorwörter für die spanischen Ausgaben sind nicht das Werk eines Profis mit Distanz zu den Inhalten, die er übersetzt, sondern – wie wir im Anschluss sehen werden – das eines Apostels, der vom Programm der Nazis überzeugt ist. Beide offenbaren eine persönliche Verbundenheit mit dem freiheits- und völkervernichtenden Projekt Hitlers, fern von jeglicher neutraler oder distanzierender Absicht, ganz zu schweigen von einer Anklage, die man von einem Mitglied des diplomatischen Korps eines jeden Landes eigentlich erwarten würde. Sie sind das Produkt eines „fanatischen“ Nationalsozialisten, der stolz die Leitgrundsätze sowie die angeblichen Errungenschaften der politischen Religion der Nazis darlegt. 74 75
Vgl. Nielsen Reyes de Gaspar, Nielsen, S. 62 und 221. Weitere aktuellere Versionen treten mit leichten Abänderungen auf; die erwähnenswerteste darunter besteht darin, dass „honor“ [„Ehre“] durch „vigor“ [„Kraft“] ersetzt wurde. Diese Ansicht vertreten zum Beispiel der Onlinekatalog WorldCat, vgl. www.worldcat.org/ title/mi-lucha/oclc/638186889 (Zugriff am 20.8.2018), die spanische Tageszeitung El País (25.4.1981) und Der Spiegel (Nr. 20, 11.5.1981, S. 161); in Letzterem wird noch erwähnt, dass Nielsen Reyes seinen Schreibtisch mit einer Hitlerbüste schmückte und dass sein Sohn Roberto Nielsen den Posten als Sicherheitschef unter der Diktatur von General Luís García Meza (1980–1981) innehatte.
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Das Vorwort der Ausgabe von Barcelona umfasst vier Seiten und beginnt mit der Bezeichnung von Mi lucha als „el catecismo del movimiento nacionalsocialista“ [„der Katechismus der nationalsozialistischen Bewegung“]. Der Ausdruck „catecismo“ [„Katechismus“] zirkulierte zuvor schon einmal in einem vergleichbaren Kontext: Hitler verwendete ihn in seinem Vorwort des Buches von Gottfried Feder Der deutsche Staat auf nationaler und sozialer Grundlage (1924), das er auf ähnliche Weise lobte wie es Nielsen Reyes mit Mi lucha tat: „Das Schrifttum unserer Bewegung hat damit seinen Katechismus bekommen.“76 Während jener Jahre, in denen Nielsen Reyes das Buch übersetzte, war es gang und gäbe, Hitlers Werk als die „Bibel“ des Nationalsozialismus zu bezeichnen.77 Jedoch wird dieser Vergleich für einen praktizierenden Katholiken wie Nielsen Reyes höchstwahrscheinlich einen übertrieben heidnischen Beigeschmack gehabt haben, weshalb er sich wohl auch dafür entschied, das Buch auf die weniger anmaßende Kategorie des „Katechismus“ herabzusetzen. Die Verurteilung des Marxismus’, eine der Obsessionen der Naziideologie, kommt im Vorwort des Bolivianers zum Ausdruck. In Bezug auf Hitler behauptet Nielsen Reyes, seine „starke Persönlichkeit“ habe ihn zur „Wahrheitsautorität über sein Programm“ gemacht, „indem er eine kraftvolle Bewegung nationaler Begeisterung mit dem Ziel vorantrieb, den Marxismus zu vernichten, der im Begriff war, die Seele des deutschen Volkes zu verschlingen“.78 Ein weiterer richtungsweisender Aspekt des Nazigedankenguts – die Idee der nationalen Zusammengehörigkeit basierend auf „rassischen“ Merkmalen („Volksgemeinschaft“) – findet sich ebenso im Vorwort: „Hitler […] weiß, dass innerhalb der Struktur eines Volkes und seiner Ökonomie niederträchtige Günstlingswirtschaft keinen Platz hat, sondern ein Geist des Verständnisses füreinander und der rechtmäßigen Wertschätzung der Rolle jedes Einzelnen sowie seines Beitrags in der Volksgemeinschaft.“ Nielsen Reyes präsentiert den Nationalsozialismus als eine „konstruktive und daher pazifistische“ Ideologie, „aber nicht pazifistisch dahingehend, dass die Gewaltausübung von internationaler Seite gegen Würde und Ehre eines souveränen Volkes akzeptiert werden würde […]. Der nationalsozialistische Pazifismus ist folglich durchdrungen von elementaren Rechtsgrundsätzen und beruht auf der moralischen Einheit des deutschen Volkes“.79 Im Schlussteil des Vorworts präsentiert der fromme bolivianische Nazi den totalitären Staat des Dritten Reichs – eine Diktatur, die Hitler in seinem Buch als „germanische Demokratie“80 bezeichnete – als Modell „einer neuen Staatsform“ und überträgt dessen Werte und Leitprinzipien auf „die eigenen Bedürfnisse“ und auf „die Völker, die ihre Nationalität lieben und sich nach Fortschritt und gesellschaftlichen Erneuerungen sehnen“.81 76 77 78 79 80 81
Feder, Gottfried: Der Deutsche Staat auf nationaler und sozialer Grundlage. München: Deutschvölkische Verlagsbuchhandlung 1924, S. 3. Vgl. Vitkine, Antoine: Mein Kampf. Histoire d’un livre. Paris: Flammarion 2009, S. 15–168; Plöckinger, Geschichte, S. 349–356; Kellerhoff, Mein Kampf, S. 14. Mi lucha, 1935, S. 6. Ebd., S. 8. Hartmann u. a. (Hg.), Mein Kampf, Bd. I, S. 94. Mi lucha, 1935, S. 9.
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Ein weiteres Leitthema aus dem Nazigedankengut, der Antisemitismus, verdient keinerlei direkte Erwähnung im Vorwort. Das Vorherrschaftsprojekt der Nazis, in dem die jüdische „Rasse“ als Gegenpol zur arischen angesehen wurde, erlaubte keine einwandfreie Übertragung in den Kontext Spaniens, wo seit der Vertreibung der Juden durch die katholischen Könige im Jahr 1492 ein „Antisemitismus ohne Juden“82 vorherrschte; dieser war außerdem viel mehr religiöser Natur als „rassischer“. Ebenso wenig war die unmittelbare Übertragung der Lehren des Nazismus nach Südamerika möglich, da die Bevölkerung jüdischen Ursprungs auf dem amerikanischen Subkontinent statistisch betrachtet irrelevant war. Dort richtet sich die „Übertragung“, auf die sich Nielsen Reyes bezieht, viel mehr auf die indigene Bevölkerung zahlreicher Länder, auch seines eigenen, in dem diese die große Mehrheit darstellte. Die Ausgabe von Ávila hat dieselbe Struktur in fünf Blöcken wie die Ausgabe von Araluce (Einleitung, Hitlers Vorwort, Nachwort, biographische Daten Hitlers und Haupttext), mit dem Zusatz eines neuen Vorwortes. Das Vorwort der zweiten Edition – ebenso mit „El traductor“ [„Der Übersetzter“] unterzeichnet – ist mit dem Datum Oktober 1937 versehen. Folglich deckt der Abschnitt mit den biographischen Daten Hitlers und den Daten der von ihm angeführten Bewegung einen Zeitraum bis kurz davor ab: Der letzte Eintrag berichtet vom „historischen Besuch“ Benito Mussolinis in Deutschland zwischen dem 26. und dem 29. September 1937, welcher der „italienisch-deutschen Freundschaft und deren unveränderlichen Absicht, dem Erhalt des Friedens zu dienen“, gewidmet war.83 Was den Umfang betrifft, nimmt dieser Abschnitt zwei Seiten ein, die Hälfte des ersten Vorworts. Angesichts des Einblicks, den fünf Jahre Nationalsozialismus an den Hebeln der Macht gewähren, präsentiert Nielsen Reyes das Buch als „die Richtlinie der konstruktiven Arbeit im neuen Deutschland“; das Dritte Reich entpuppt sich als „die wahrhaftige Verkörperung der Ideologie Hitlers“.84 In dieser Ausgabe streicht der Urheber des Vorwortes erneut jene Themen hervor, die ihn schon in der ersten Edition beschäftigt hatten; mit Ausnahme des Marxismus’ als weiterhin bestehendes „Problem“ für Deutschland, da dessen Organisationen und Organe (Parteien, Gewerkschaften) zu diesem Zeitpunkt bereits zerschlagen und dessen Anführer in Konzentrationslager verbracht oder ins Exil gezwungen worden waren. Von dieser Ausnahme abgesehen sind die Punkte, die das Vorwort unterteilen, dieselben wie in der ersten Ausgabe: einerseits eine ultranationalistische und organizistische Auslegung der Volksgemeinschaft und andererseits die Rolle des Nationalsozialismus als Garant für den Frieden. Das Panorama ist idyllisch, ein Paradebeispiel einer Volksgemeinschaft ohne Anzeichen von Pluralität in Hinblick auf die gemeinsamen Ziele, „das deutsche Volk repräsentiert momentan einen Block, der durch den nationalen Glauben zusammengehalten wird, den ihm sein genialer Initiator von neuem einzuschärfen vermochte.“85 Ein nationaler Glaube, der sich – 82 83 84 85
Böcker, 1935, S. 18. Mi lucha, 1937, S. 18. Ebd., S. 11. Ebd., S. 11.
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gleich wie in Italien – in der „Idee des Vaterlands“ ausdrückt, das im Rahmen von Homogenitäts- und selbstverständlich auch Rassenfragen bewertet wird. Der Autor des Vorworts verweist auf eine Rede, die Mussolini am 28. September 1937 in Berlin im Zuge seines jüngsten Besuchs im „Reich“ hielt. In dieser dementierte er, dass die faschistischen Regime Diktaturen wären, da diese eine Unterstützung von Seiten des Volkes hätten, die in anderen Regimen unbekannt wäre, in denen „unter dem Deckmantel der sogenannten ‚unverletzbaren Menschenrechte‘ die Politik von der Macht des Geldes, des Kapitals, der Geheimbünde und schließlich von den politischen Gruppen beherrscht wird, die sich untereinander bekämpfen.“86 Nachdem Deutschland die Erniedrigung von Versailles und das unheilvolle Demokratieexperiment überwunden habe, sei das Land nun „das beste Bollwerk des europäischen Friedens“ angesichts der bolschewistischen Gefahr. Genau an dieser Stelle stellte Nielsen Reyes einen Bezug zu Spanien her (der im ersten Vorwort gänzlich fehlte), „wo Generalísimo Franco einen furchtlosen Kampf führt, um sein glorreiches Volk vor den Klauen des Kommunismus zu retten“.87 Angesichts des ultranationalistischen Tons des Vorworts ist die Tatsache, dass der Übersetzer sich für das Pronomen „sein“ anstelle von „unser“ entschied, Beweis dafür, dass es sich nicht um einen Spanier handelte, sondern um einen Hispanoamerikaner. In Anbetracht des sowjetischen Internationalismus war die einzige Alternative der Hurrapatriotismus, vorangetrieben vom Triumvirat bestehend aus Hitler, Mussolini (beide schon an den Hebeln der Macht) und Franco, der sich zum Zeitpunkt, an dem das Vorwort verfasst wurde, einen Bürgerkrieg mit den Verteidigern der demokratischen Ordnung lieferte. Nielsen Reyes schließt das zweite Vorwort ab, indem er betont, wie wichtig es wäre, das ultranationalistische Programm in jedem Land umzusetzen, um so eine harmonische Weltordnung zu erreichen: „Nur die Idee eines idealistisch-sozialistischen Nationalismus, welchen die Gemeinschaft jedes Volkes ihr Eigen nennen kann, vermag es, auf dieser Welt die Bedingungen für eine wahrhaftig höhere Ordnung und für den Frieden zwischen den Nationen zu schaffen, die ihre Traditionen achten und ihre Geschichte würdigen.“88 c. Die Übersetzung Sich der Übersetzung eines Werks in eine andere Sprache anzunehmen, das sich im Original als gekünstelt und redundant herausstellt, und das von einer Person (nämlich Hitler) mit stärkerer Begabung für den mündlichen Diskurs als für die geschriebene Sprache verfasst wurde, birgt eine Reihe von Schwierigkeiten in sich; derartige Schwierigkeiten, dass nur jemand, der über die nötige Sprachkompetenz verfügt und mit der verwendeten Terminologie vertraut ist, Chancen hat, dieses auch nur ansatzweise verständlich zu übertragen. Nielsen Reyes vereinte beide Fähigkeiten in seiner Person: Er beherrschte Deutsch und war als Nazisympathisant, der er 86 87 88
Mi lucha, 1937, S. 11–12. Ebd., S. 12. Nielsen Reyes besuchte Spanien 1937 (vgl. La Vanguardia Española, 2.8.1939). Mi lucha, 1937, S. 12.
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bereits während seiner Jugend in Bolivien war, mit der Ausdrucksweise des Dritten Reichs bestens vertraut. Ob Nielsen Reyes schon Deutsch konnte, als er nach Berlin übersiedelte, um seinen Dienst in der Botschaft seines Landes anzutreten, sei dahingestellt. Seine Schwester Emmy, die für längere Zeit bei ihm und seiner Frau Ilse in Berlin wohnte, beherrschte es, bevor sie sich in Deutschland niederließ, um ihr Kunststudium fortzuführen, allerdings nur deswegen, weil sie (genauso wie der jüngste Bruder der Familie) das Colegio Alemán de La Paz [Deutsche Schule La Paz] besuchte.89 Der Drittälteste unter den Geschwistern etwa sprach nicht Deutsch.90 Ob er sich Deutsch im familiären Umfeld über seinen Vater aneignete oder nicht, sicher ist, dass Federico die Sprache verhältnismäßig schnell beherrschte: Im Wintersemester 1930/31 hielt er einen Kurs auf Deutsch an der Philosophischen Fakultät der Friedrich Wilhelms Universität von Berlin zum Thema „Einführung in die Wirtschaftsgeschichte Südamerikas“.91 Demnach war seine Sprachkompetenz spätestens Anfang der 1930er Jahre ausreichend erprobt, um sich einer Aufgabe von derartiger Komplexität annehmen zu können, wie die Übersetzung von Mein Kampf es war. Die Übersetzungen des Hitler’schen, nazistischen und völkischen Vokabulars deuten auf eine enge Vertrautheit damit hin. Wenngleich sich über die Wortwahl der Übersetzung in gewissen Fällen diskutieren lässt, ist die spanische Version, wenn schon nicht brillant, dann zumindest in jener Weise korrekt und verständlich, in der das Buch auch im Original lesbar ist. Gleichwohl können Mängel festgestellt werden, wie diese Beispiele zeigen: – –
– –
89 90 91 92 93
Nielsen Reyes übersetzt Weltanschauung mit „concepto del mundo“ [„Idee der Welt“], wohingegen „concepción del mundo“ [„Auffassung der Welt“] geeigneter wäre. Bezugnehmend auf die „Los-von-Rom Bewegung“ („Allgemeine politische Betrachtungen aus meiner Wiener Zeit“)92 übersetzt er diese als „movimiento separatista contra Roma“ [„separatistische Bewegung gegen Rom“]; „movimiento emancipador de Roma“ [„Bewegung der Loslösung von Rom“] ist hier passender. Er bezeichnet die Befreiungskriege als „guerras libertarias“ [„libertäre Kriege“]93; „guerras de liberación“ [„Kriege der Befreiung“] ist die korrekte Übersetzung. Weil sie das Schicksal offenbarte, das den Juden im Dritten Reich widerfahren würde, aber auch aufgrund der Absolutheit in der Formulierung, ist die folgende Aussage in Mein Kampf (welcher die Herausgeber des IfZ übrigens keine größere Aufmerksamkeit schenken) von höchster Bedeutung: „Mit den Juden
Vgl. Nielsen Reyes de Gaspar, Nielsen, S. 17. Vgl. ebd., S. 55. Vgl. Kalender der deutschen Universitäten und Hochschulen. Winter-Semester 1930/31. Leipzig: Barth 1930, S. 25. Hartmann u. a. (Hg.), Mein Kampf, Bd. I, Kap. 3. Ebd., Kap. 4.
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gibt es kein Paktieren, sondern nur das harte Entweder-Oder“.94 Der Übersetzer überträgt diese folgendermaßen ins Spanische: „Con los judíos no caben compromisos; para tratar con ellos no hay sino un ‚sí‘ o un ‚no‘ rotundos“95 [„Mit den Juden gibt es keine Kompromisse; um mit ihnen zu verfahren, gibt es nichts als ein entschiedenes ‚ja‘ oder ‚nein‘“]. Eine passendere Version wäre wie folgt: „Con los judíos no cabe ningún compromiso. Es una cuestión de o ellos, o nosotros“ [„Mit den Juden gibt es keinen Kompromiss. Es ist eine Frage von ‚entweder sie oder wir‘“]. Die von Hitler aufgestellte Trichotomie unterteilt die Menschheit in drei Gruppen: „Würde man die Menschheit in drei Arten einteilen: in Kulturbegründer, Kulturträger und Kulturzerstörer […].“96 Nielsen Reyes übersetzt: „Si se dividiese a la Humanidad en tres categorías de hombres: creadores, conservadores y destructores de la cultura, …“97 [„Wenn man die Menschheit in drei Arten von Menschen unterteilen würde: Begründer, Bewahrer und Zerstörer der Kultur […]“]. Hitler spricht von Menschengruppen, nicht von Individuen; darüber hinaus wäre eine angemessenere Übersetzung für die zweite Art, die Kulturträger (in welche – so wird behauptet – die romanischsprachigen Südeuropäer fallen), „portadores de cultura“ [„Träger der Kultur“]. Hitler spricht von „Parteisoldaten“98, was übersetzt wird mit „soldados políticos“ [„politische Soldaten“], während die wortwörtliche Übersetzung „soldados de partido“ [„Soldaten der Partei“] wäre.99
Als weitaus gewichtiger stellt sich die Übersetzung eines deutschen Begriffes heraus, der nur schwer ohne Bedeutungsverluste in andere Sprachen übertragbar ist: „völkisch“. Entsprechend dieser nuancierten ideologischen Auffassungsweise wäre ein Volk eine Kategorie, die biologisch im Sinne einer Abstammungsgemeinschaft
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Hartmann u. a. (Hg.), Mein Kampf, Bd. I, S. 217. Mi lucha, 1935, S. 116. Hartmann u. a. (Hg.), Mein Kampf, Bd. I, S. 306. Mi lucha, 1935, S. 154. Hartmann u. a. (Hg.), Mein Kampf, Bd. II, S. 96. Die Mitglieder der paramilitärischen Kräfte, die zwischen 1917 und 1923 in Europa stark zunahmen (Russland, Ukraine, Österreich, Ungarn, Italien und Deutschland unter anderen Ländern) und die Aktivitäten konventioneller Militärformationen erweiterten oder diese ablösten, definierten sich selbst als „politische Soldaten“ (political soldiers): „Although they did not promote a clearly defined political programme, they fought against socialist, communist, the newly emerging political systems, and the alleged petty bourgeois mentality of security and respectability. Their worlview was defined mainly by its destructive action against ‚Reds‘ and ethnic minorities“ (Gerwarth, Robert / Horne, John: Paramilitarism in Europe after the Great War. An Introduction, in: Gerwarth, Robert / Horne, John (Hg.): War in Peace. Paramilitary Violence in Europe after the Great War. Oxford: Oxford University Press 2012, S. 11). Der Ausdruck wurde von den Freikorps verwendet und später von der SA übernommen (vgl. Casquete, Jesús: Nazis a pie de calle. Una historia de las SA en la República de Weimar. Madrid: Alianza 2017). Dass sich Nielsen Reyes für diesen Begriff entschied, stellt seine Kenntnis des Vokabulars des Nationalsozialismus und seine Vertrautheit damit unter Beweis, wenn auch in diesem Fall die Übersetzung nicht gerade gut gelöst ist.
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verstanden wird.100 Eine Periphrase, die in der Terminologie von heute die Nuancen des Begriffs erfassen würde, wäre „nacionalismo étnico“ [„ethnischer Nationalismus“]. Die Merkmale, die das völkische Gedankengut am zutreffendsten beschreiben, sind der Ultranationalismus, der rassisch begründete Antisemitismus und die Unmengen an mystischen Vorstellungen in Hinblick auf eine einzigartige deutsche Gesellschaftsordnung, die ihre Wurzeln in einer harmonischen, homogenen und hierarchischen teutonischen Vergangenheit hat.101 Das Ziel dieses Gedankenguts bestünde in der Durchsetzung einer „Volksgemeinschaft“, im Sinne einer alleinigen ethnischen Einheit, die es schafft, die trennenden Konflikte in deren Mitte zu überwinden. Das völkische Gedankengut ist per Definition rassistisch, doch es ist in gewisser Weise komplexer und umfassender als bloßer Rassismus. Wenn also Nielsen Reyes „völkisch“ als „racista“102 [„rassistisch“], „nacionalista“103 [„nationalistisch“], „nacionalracista“104 [„nationalrassistisch“] oder „racial-nacionalista“105 [„rassisch-nationalistisch“] übersetzt, werden daher im Verlauf des Buches – von der mangelnden Kongruenz abgesehen – verschiedene Nuancen erkennbar, welche die konzeptuelle Dichtheit dieser Kategorie auflockern.106 Auch dann, wenn es darauf ankommt, die Wurzel dieses Begriffs, nämlich „Volk“, zu übersetzen, geht Nielsen Reyes kein bisschen systematischer vor. Kapitel XI des ersten Bandes, im Original als „Volk und Rasse“ betitelt, erscheint als „La Nacionalidad y la Raza“ [„Die Nationalität und die Rasse“]. Eine standardmäßigere Übersetzung von „Volk“ ins Spanische wäre „pueblo“ oder „nación“. „Volkstum“, ein Wort, das noch weitaus schwieriger in andere Sprachen zu übersetzen ist, erscheint im Text ebenso als „nacionalidad“ [„Nationalität“].107 Ein weiteres erwähnenswertes Detail ist die Verwendung des Substantivs „sud“ [„Süden“] in der ersten Ausgabe von Mi lucha. Im Spanischen der Iberischen Halbinsel ist „sur“ die gängige Form; nicht aber in Hispanoamerika, wo für verschiedene Länder, darunter Bolivien, im Diccionario de la Real Academia Española de la Lengua [Wörterbuch der Königlich Spanischen Sprachakademie] „sud“ angeführt wird (wenngleich dieses Wort heutzutage nur noch selten verwendet wird). Es scheint, dass dieses Substantiv in der Familie Nielsen Reyes Tradition besaß; seine Schwester Emmy verwendet es ebenfalls in ihrem Buch mit den Erinnerungen an ihren Bruder, welches mehr als ein halbes Jahrhundert später veröffentlicht wurde und wo sie von „América del Sud“ [„Südamerika“] spricht.108 Sicherlich deswegen, 100 Vgl. Retterath, Jörn: Volk, in: Fahlbusch, Michael / Haar, Ingo / Pinwinkler, Alexander (Hg.): Handbuch der völkischen Wissenschaften. Akteure, Netzwerke, Forschungsprogramme (2 Bände). 2. Aufl. Oldenburg: De Gruyter 2017, S. 1182–1189. 101 Vgl. Kershaw, Ian: Hitler 1889–1936: Hubris. London: Penguin 1998, S. 135. 102 Zum Beispiel: Mi lucha, 1935, S. 187 und 232. 103 Ebd., S. 221. 104 Ebd., S. 301. 105 Ebd., S. 306. 106 In den Fragmenten, die Bermudez Cañete für La Conquista del Estado übersetzte, übertrug er „völkisch“ mit „popular“ [„volkstümlich“/„volksnah“]. 107 Mi lucha, 1935, S. 193. 108 Nielsen Reyes de Gaspar, Nielsen, S. 71.
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weil ein spanischstämmiger Leser dachte, es würde sich bei diesem Ausdruck um einen (weiteren) Fehler handeln, wurde dieser in der zweiten Edition durch „sur“ ersetzt. Trotz dieser Probleme (und vieler anderer von geringerer Tragweite) erweist sich das Buch als verständlich. Zwar sind darin eine große Menge an Typographie- und Interpunktionsfehlern enthalten, diese wurden allerdings zum Teil in der zweiten Edition von Ávila korrigiert. 5. REZEPTION VON MI LUCHA IN SPANIEN Die Machtübernahme durch den Nationalsozialismus wurde im Spanien der Zweiten Republik (1931–1936) innerhalb des ideologischen Umfelds des Faschismus und Konservativismus mit Wohlwollen, ja sogar Euphorie aufgenommen. Im ersten Moment wurde Hitler als „agarrotador del marxismo“109 [„Bezwinger des Marxismus“] gefeiert, den es zu bewundern und nachzuahmen galt, wenn man Spanien vor der roten und gottlosen Gefahr retten wollte. Kurze Zeit später allerdings, nämlich bereits seit 1934, begann der Enthusiasmus für das kürzlich in Deutschland errichtete Regime abzuklingen; aufgrund seines Hangs zum Neuheidentum, seiner Haltung zur Kirche sowie seines Antisemitismus häuften sich kritische Stimmen über den Nationalsozialismus im antirepublikanischen Umfeld Spaniens, das quasi per Definition katholisch war.110 Die spanischen Faschisten der Falange waren unter den Ersten, die den Regierungsantritt der Nazis willkommen hießen. Dies ist nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, dass die ersten Übersetzungen von Auszügen aus Mein Kampf, wie bereits erwähnt, 1931 in Publikationen der Falange erschienen. Das katholisch-konservative Lager seinerseits schenkte den Ereignissen, die sich in Deutschland zutrugen, große Aufmerksamkeit und drückte seine Zufriedenheit damit aus. Einer seiner wichtigsten Verfechter war der Journalist und Schriftsteller Ramiro de Maeztu, in dessen intellektuellem Werdegang es einen bestimmten Leitfaden gab, der sein Werk prägte: den Nationalismus. Kurz bevor er im November 1936 von republikanischen Milizionären ermordet wurde, schrieb er: „Mein Leben als Schriftsteller habe ich fast ausschließlich der Problematik meines Vaterlandes verschrieben.“111 Der Faschismus erweckte sein Interesse hinsichtlich dessen Funktion als antikommunistisches Bollwerk (wenngleich er streng genommen nie wirklich ein Faschist war).112 1932 hielt Maeztu vor einem exklusiven Publikum, das sich aus Personen zusammensetzte, die sich nach einer elitären und aristokratischen Gesellschaftsordnung zurücksehnten (jener Ordnung vor der Errich109 Der Ausdruck stammt vom baskischen Jesuiten Manuel Aguirre Elorriaga, entnommen aus einem Artikel aus 1934, der in einer christlichen Zeitschrift veröffentlicht wurde. Die Jesuiten wurden 1932 aus Spanien ausgewiesen (zit. in: Böcker, Antisemitismus, S. 189). Böcker übersetzt „agarrotador“ später, z. B. auf S. 326, mit „Bezwinger“. 110 Vgl. Böcker, Antisemitismus, S. 212. 111 Vgl. González Cuevas, Pedro Carlos: Maeztu. Biografía de un nacionalista español. Madrid: Marcial Pons 2003, S. 22. 112 Vgl. ebd., S. 23.
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tung der republikanischen Regierung) einen Vortrag mit dem Titel „Hitler, sein Triumpf und sein Programm“. „Der begeisterte, brennende Patriotismus“ war eines der richtungsweisenden Elemente, die den rechten Gruppierungen Spaniens als Leitfaden dienen sollten, wenn es darum ging, die Popularität des faschistischen Regimes Italiens und der Hitlerbewegung nachzuahmen; ein weiteres Element war „der Geist gesellschaftlicher Solidarität“, der dem Arbeiter zeigen sollte, dass er seine wahren Verbündeten im rechten Lager hätte.113 Maeztu hatte wenige Wochen zuvor eine Reihe von Artikeln über Hitler in einer katholischen und monarchistischen Tageszeitung namens Abc veröffentlicht.114 Einer davon war Mein Kampf gewidmet, in welchem er auf den Ideen des erwähnten Vortrags beharrte. Er trug den Titel „El Milagro de Hitler“ [„Hitlers Wunder“]. Um das besagte Wunder zu erklären, verwies Maeztu auf Hitlers Buch, das er – wie er behauptet – zur Hälfte im deutschen Original gelesen hatte. Er empfand Hitler als keinen guten Schriftseller; darüber hinaus war es seiner Meinung nach nicht unentbehrlich: „Nicht die Schriftsteller, sondern die Redner schaffen politische Bewegungen.“115 Zwei Ideen waren es, die seiner Ansicht nach für das Programm, das im Buch aufbereitet wurde, tonangebend waren: „das Vaterland und die Arbeit“. Aus organisationstechnischer Sicht bestand der große Erfolg Hitlers darin, „beträchtliche Teile des Nationalismus und des Sozialismus in ein und derselben Partei“ vereinigt zu haben. Er lässt den Antisemitismus, der Mein Kampf durchzieht – inklusive Stereotypen und Vorurteilen –, nicht außer Acht: „Die Juden sind reich, sie haben die großen Zeitungen in ihren Händen und, soweit ich weiß, ist die Vergebung fremden Verschuldens nicht Teil ihrer Grundsätze.“116 Laut seinem Biographen und ausgehend von seinem Gesamtwerk empfand er als Katholik jedoch die „Rassenvorurteile“ und den „rassistischen Irrtum“ Hitlers als inakzeptabel.117 Eben Abc schenkte dem Erscheinen der spanischen Version von Mi lucha große Aufmerksamkeit.118 Eine Rezension von Juan Ignacio Bermejo empfahl dem rechten Lager Spaniens, sich an den Propagandatechniken, die in Hitlers Buch dargelegt wurden, zu orientieren, um die Massen auf seine Seite zu bringen; ein unumgänglicher Weg, wenn man die Erfolge, die der Nationalsozialismus in Deutschland erreicht hatte, wiederholen wollte. Die besagte Rezension umfasste beinahe eine Seite, wobei eine Fotografie von Hitler die Hälfte des Platzes für sich beanspruchte. 113 Acción Española, 16.5.1932, S. 538–541. 114 Es handelt sich um die folgenden Arikel: „El milagro de Hitler“ (Abc, 20.4.1932); „Hitler racista“ (Abc, 27.4.1932); „Hitler en Viena“ (Abc, 4.5.1932). 115 Der Biograph von Maeztu, Pedro Pablo Gonzáles Cuevas, zieht die Möglichkeit in Betracht, Maeztu habe Versammlungen Hitlers beigewohnt, da er neben dessen Ideologie und Werk auch mit dessen Redegewandtheit vertraut schien (vgl. González Cuevas, Maeztu, S. 283). 116 Abc, 20.4.1932, S. 3. 117 González Cuevas, Maeztu, S. 283, 294 und 295. Die Tatsache, dass sich Maeztu als Katholik spirituell gegen den Antisemitismus der Nazis aussprach und diesen gleichzeitig legitimierte, da es sich nicht um ein essenzielles Element in ihrem Projekt handeln würde, sondern nur um „eine Waffe im Gefecht“ gegen den Einfluss der Juden im wirtschaftlichen Leben Deutschlands, birgt viel Widersprüchliches in sich (González Cuevas, Maeztu, S. 294). 118 Vgl. Abc, 12.6.1935, S. 8.
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Bermejo schloss seine Rezension folgendermaßen: „Es handelt sich um ein Buch, das nicht resümiert werden kann. Dieser winzige Artikel kann nicht mehr sein als eine Vorspeise, ein Vorgeschmack einer üppigen und gehaltvollen Mahlzeit, welche das Werk des Führers auftischt.“ Die illustrierte Zeitschrift Blanco y Negro, die derselben Verlagsgruppe wie Abc angehörte, veröffentlichte eine umfangreiche Rezension von Mi lucha in ihrer Ausgabe vom 23. Juni 1935. Sie stammte von Andres Revesz, einem aus der Österreich-Ungarischen Monarchie stammenden Journalisten mit deutscher Muttersprache. Sie trug den Titel „‚Mi lucha‘, base de la política hitlerista“ [„‚Mi lucha‘, Grundlage von Hitlers Politik“] und hatte einen Umfang von fünf Seiten. Jede Seite enthielt eine Karikatur, die der satirisch-politischen Zeitschrift Kladderadatsch (mit insgesamt drei Zeichnungen), der ebenso satirischen Wochenzeitschrift Die Brennessel (eine Zeichnung) und dem Völkischer Beobachter (eine Zeichnung) entnommen war. Wegen des Umfangs, der zusätzlichen Illustrationen (mit in Spanien schwer zugänglichem Material) und vor allen aufgrund des eindeutig befürwortenden Untertons liegt die Annahme nahe, dass die besagte Rezension von den in Spanien tätigen Nazis finanziert wurde und dass dies einer jener Artikel war, die mit den Propagandageldern der Nazis subventioniert wurden. 6. SCHLUSSWORTE Das spanische Publikum, das an einem unmittelbaren Zugang zum „Katechismus des Nationalsozialismus“ potentiell interessiert war, hatte schon sehr früh die Möglichkeit, an diesen heranzukommen. Die Veröffentlichung von Mi lucha 1935 durch den Araluce-Verlag aus Barcelona machte Spanien zu einem der ersten Länder, die eine autorisierte (wenn auch nur auszugsweise) Version von Hitlers Programmschrift führten. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es ein Projekt für die Übersetzung und Veröffentlichung von Mein Kampf in spanischer Sprache, das von Bermúdez Cañete hätte durchgeführt werden sollen. Dieses befand sich jedoch in einem äußerst rudimentären Stadium und darüber hinaus gibt es keine Belege dafür, dass es sich um ein Projekt gehandelt hätte, das von den zuständigen Naziautoritäten genehmigt worden wäre. In der Unternehmung, Mein Kampf in Spanien herauszugeben, spielte der bolivianische Diplomat Federico Nielsen Reyes eine Schlüsselrolle. Zwischen 1926 und 1939 hatte Nielsen Reyes, ein Nazi der ersten Stunde und Mitglied der Elite des Andenstaates, einen Posten an der Botschaft seines Landes in Berlin inne. Als Freund von Ernst Röhm und enger Verbündeter des Propagandaministeriums der Nazis erfüllte er sämtliche Bedingungen, um sich der Aufgabe anzunehmen, Mein Kampf ins Spanische zu übertragen: Er war ein „fanatischer“ Nazi, er beherrschte die Sprache ausreichend und er hatte beste Kontakte zum Regime. Alles deutet darauf hin, dass der Übersetzungsauftrag direkt aus Deutschland kam (im Unterschied zu den Ausgaben der 1930er Jahre auf Englisch, Französisch und Italienisch, deren Aufträge allesamt aus dem jeweiligen Land stammten); das bedeutet, dass kein spanischer Akteur in den Prozess eingriff.
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Die Ausgaben des Buches – die erste in Barcelona und die zweite von 1937 in Ávila – vertuschen kein einziges im deutschen Original behandeltes Thema und sparen auch kein einziges Kapitel aus. Die Hasstiraden des Originals gegen den Marxismus, die Demokratie oder die Juden – um uns nur auf einige der wichtigsten Adressaten der Wut der Nazis zu beschränken – werden in der Auswahl der Editionen eindeutig ersichtlich; es wird nicht einmal der von Hitler postulierte Rassismus versteckt, in dem die Menschen südeuropäischer Länder implizit einer „Rasse“ zweiten Ranges zugerechnet werden.
MEIN KAMPF IN JAPAN Einfluss, Rezeption und Übersetzungslücken? Frank Jacob EINLEITUNG In Mein Kampf heißt es: „Würde ab heute jede weitere arische Einwirkung auf Japan unterbleiben, angenommen Europa und Amerika zugrunde gehen, so könnte eine kurze Zeit noch der heutige Aufstieg Japans in Wissenschaft und Technik anhalten; allein schon in wenigen Jahren würde der Bronnen [sic!] versiegen, die japanische Eigenart gewinnen, aber die heutige Kultur erstarren und wieder in den Schlaf zurücksinken, aus dem sie vor sieben Jahrzehnten durch die arische Kulturwelle aufgescheucht wurde. Daher ist, genau so wie die heutige japanische Entwicklung arischem Ursprung das Leben verdankt, auch einst in grauer Vergangenheit fremder Einfluß und fremder Geist der Erwecker der damaligen japanischen Kultur gewesen. Den besten Beweis hierfür liefert die Tatsache der späteren Verknöcherung und vollkommenen Erstarrung derselben. Sie kann bei einem Volke nur eintreten, wenn der ursprünglich schöpferische Rassekern verlorenging oder die äußere Einwirkung später fehlte, die den Anstoß und das Material zur ersten Entwicklung auf kulturellem Gebiete gab. Steht aber fest, daß ein Volk keine Kultur in den wesentlichsten Grundstoffen von fremden Rassen erhält, aufnimmt und verarbeitet, um dann nach dem Ausbleiben weiteren äußeren Einflusses immer wieder zu erstarren, kann man solch eine Rasse wohl als eine ‚kulturtragende‘, aber niemals als eine ‚kulturschöpferische‘ bezeichnen.“1 Adolf Hitler (1889–1945) hielt offensichtlich nicht viel von Japan. Denn mehr als einen „Nutznießerstatus“ wollte er dem japanischen Volk bei der Abfassung von Mein Kampf nicht zugestehen. In Anlehnung an Arthur de Gobineaus (1816–1882) Einteilung der menschlichen Rassen2 teilte Hitler die Welt zwischen den arischen Kulturbringern und den „kulturell minderwertigen“ Völkern auf. Ohne Hilfe und Einwirkung arischer Schaffenskraft wäre damit das Schicksal Japans besiegelt, das doch nur dank eben dieser zur Großmacht aufsteigen konnte.3 Eine solche Darstellung muss beim späteren Bündnispartner des Dritten Reiches mehr als nur Verwirrung ausgelöst haben, schließlich wurde den Japanern nur „eine Mittelstellung“ 1 2 3
Hitler, Adolf: Mein Kampf. 197.–201. Aufl. München: Eher Verlag 1936, S. 318–319. Vgl. Gobineau, Arthur de: Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen. 4 Bde. Stuttgart: Fromann 1939–1940. Vgl. Bieber, Hans-Joachim: SS und Samurai. Deutsch-japanische Kulturbeziehungen 1933– 1945 (Monographien des DIJ, Bd. 55). München: Iudicium 2014, S. 153–154.
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in Hitlers Rassenideologie gewährt. Der Japanhistoriker Gerhard Krebs hat auf die Schwierigkeiten, die mit einer solche Klassifizierung zusammenhängen, bereits hingewiesen: „Die – als Zugeständnis gedachte – Klassifizierung, die den Japanern als einziger nicht-europäischer Rasse die Mittelstellung eines ‚kulturtragenden‘ – also weder ‚kulturschöpferischen‘ noch ‚kulturzerstörenden‘ Volkes zuerkannte, mußte in Tōkyō eher als Beleidigung empfunden werden.“4 Deswegen findet sich diese Passage in keiner der japanischen Übersetzungen von Hitlers Kampfschrift. Gelesen wurde Mein Kampf, das oft als „Nazibibel“5 bezeichnete Werk Hitlers, ob nun in japanischer Übersetzung oder im deutschen Original, allerdings trotzdem. Die Rezeption von Mein Kampf in Japan steht deshalb im Fokus des vorliegenden Beitrages. Dazu wird jedoch in einem ersten Schritt aufgezeigt, weshalb das Interesse an Hitler im „faschistischen“ Japan relativ gering gewesen war, bevor im Detail auf die japanischen Übersetzungen des Werkes und deren Rezeption eingegangen wird. JAPAN UND DER EINFLUSS VON MEIN KAMPF IN DER „FASCHISTISCHEN“ ZWISCHENKRIEGSZEIT Für die Nationalsozialisten spielte Japan bis zur sogenannten „Machtergreifung“ 1933 kaum eine Rolle.6 Ideologisch schien klar, dass das japanische Kaiserreich nicht zu den fortschrittlichen Nationen zu zählen war und deshalb keinerlei besondere Beachtung verdiente, zumal Hitler den Japanern „die Fähigkeit zur Kreativität und eigenständigen Weiterentwicklung ihrer Kultur und ihres Staatswesens“7 in Mein Kampf schon offiziell abgesprochen hatte. Till Philip Koltermann hat in seiner Arbeit über die „deutsch-japanische Kulturbegegnung“ allerdings darauf hingewiesen, dass „Hitlers dreistufige Rassenteilung aus Mein Kampf nicht als unveränderliches Dogma einer Geisteshaltung, die von 1925 bis 1945 unverrückbar erstarrt gewesen wäre, zu werten“8 sei. Im Zuge der knapp zwei Jahrzehnte zwischen der Abfassung von Mein Kampf und dem Ende des Zweiten Weltkrieges veränderte sich also Hitlers Haltung, wenn auch vermutlich vornehmlich aus geostrategischen Gründen, gegenüber dem japanischen Kaiserreich. Der Führer der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) erkannte im Sieg der Japaner im Russisch-Japanischen Krieg (1904/05) mehr als nur den Aufstieg Japans in die Riege
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Vgl. Krebs, Gerhard: Japans Deutschlandpolitik 1935–1941. Eine Studie zur Vorgeschichte des pazifischen Krieges. 2 Bde. Hamburg: Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens 1984, Bd. 1, S. 24–25. Vgl. Caspar, C.: Mein Kampf. A Best Seller, in: Jewish Social Studies 20, 1 (1958), S. 3–16, hier S. 3; Hauner, Milan: Did Hitler Want a World Dominion?, in: Journal of Contemporary History 13, 1 (1978), S. 15–32, hier S. 16. Vgl. Bieber, SS und Samurai, S. 153. Vgl. Koltermann, Till Philip: Der Untergang des Dritten Reiches im Spiegel der deutsch-japanischen Kulturbegegnung 1933–1945. Wiesbaden: Harrassowitz 2009, S. 16. Ebd., S. 21.
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der Großmächte9, denn das japanische Kaiserreich hatte sich dadurch vielmehr zum idealen Verbündeten im Kampf gegen den russischen Bolschewismus qualifiziert.10 Ebenso wenig schien Hitler Ressentiments gegen Japan zu hegen, weil dieses sich auf Seiten der Alliierten und gegen das Deutsche Kaiserreich am Ersten Weltkrieg beteiligt hatte.11 Ungeachtet des japanischen Sieges stellte der Erste Weltkrieg jedoch eine Zäsur für das Land dar12, nach der ein politischer Radikalisierungsprozess eingeleitet wurde, der scheinbar zwangsläufig eine Annäherung an das nationalsozialistische Deutschland bedingte. So war Hitlers Japanbild in den 1930er und 1940er Jahren wesentlich positiver, wobei allerdings davon auszugehen ist, dass dieser Wandel vor allem durch politische Notwendigkeiten im außenpolitischen Kalkül Hitlers, indem Japan als Bollwerk gegen die USA instrumentalisiert werden sollte, initiiert worden war. Durch den Abschluss des Antikominternpaktes (1936) hatte sich Japan im Kampf gegen die Kommunistische Internationale mit dem Deutschen Reich verbündet, konnte ideologisch also nicht länger als „minderwertig“ bezeichnet werden.13 Der Abschluss des Hitler-Stalin-Paktes (1939) machte zudem deutlich, wie wenig Hitler auf Verträge gab, und erschütterte das Vertrauen zur deutschen Regierung in Tōkyō nicht unmerklich.14 Ungeachtet dessen entschloss sich die japanische Regierung dazu, den Dreimächtepakt (1940) mit Deutschland und Italien zu unterzeichnen, vor allem aber, weil dieser den japanischen Interessen dienen sollte. Mittlerweile war auch Hitler nicht mehr an einer militärischen Unterstützung Japans gegen die Sowjetunion interessiert, da er diese als deutschen Exklusivgegner und das japanische Kaiserreich lediglich als pragmatische Unterstützung im Krieg gegen die USA betrachtete.15 Der Germanist Ralf Schnell beurteilt den Pragmatismus innerhalb der deutsch-japanischen Beziehungen daher völlig korrekt, wenn er schreibt, dass das, „[w]as […] Japan und Deutschland in den dreißiger und vierziger Jahren zusammenführte, […] eben nicht eine nationalkulturelle Wahlverwandtschaft [war], sondern etwas viel Schlichteres, nämlich die Not weitgehender außenpolitischer Isolation, eine Not, die sich wohl in die zweifelhafte Tugend politisch-militärischer Solidarität ummünzen ließ, ökonomisch aber bezeichnenderweise nahezu folgenlos blieb.“16 9 10 11 12 13 14 15 16
Zu den internationalen Auswirkungen des Russisch-Japanischen Krieges siehe: Jacob, Frank: The Russo-Japanese War and Its Shaping of the Twentieth Century. London/New York: Routledge 2018. Vgl. Bieber, SS und Samurai, S. 154. Vgl. Koltermann, Untergang, S. 14. Vgl. Jacob, Frank: Der Erste Weltkrieg als ökonomisch-soziale Zäsur der japanischen Moderne, in: Köhn, Stephan / Weber, Chantal / Elis, Volker (Hg.): Tōkyō in den zwanziger Jahren. Experimentierfeld einer anderen Moderne? Wiesbaden: Harrassowitz 2017, S. 17–32. Vgl. Schnell, Ralf: Das Dritte Reich im Fernen Osten. Zum Einfluß der nationalsozialistischen Kulturpolitik auf die japanischen Geistes- und Sozialwissenschaften, in: Leviathan 21, 3 (1993), S. 424–433, hier S. 425. Vgl. Krebs, Gerhard: Deutschland und Pearl Harbor, in: Historische Zeitschrift 253 (1991), S. 313–369, hier S. 313. Vgl. Martin, Bernd: Japan and Germany in the Modern World. Oxford: Berghahn 1995, S. 201–202. Schnell, Reich, S. 425.
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Die politischen Notwendigkeiten erforderten eine kulturelle Anpassung bzw. eine Annäherung der beiden Staaten, was zum Abschluss des „Abkommens über kulturelle Zusammenarbeit zwischen dem Deutschen Reich und Japan“ am 25. November 1938 führte. Die darin „wechselseitig geäußerte Hochachtung der Regierungen beider Länder vor den geschichtlichen Leistungen des jeweiligen Vertragspartners“, die den frühen, seit der Veröffentlichung von Mein Kampf zu Japan herrschenden, nationalsozialistischen Bewertungen entgegenlief, ist deshalb lediglich „Ausdruck der schlichten Notwendigkeit, dem politisch intendierten Bündnis seiner Insuffizienz wegen eine Art kulturelles Stützkorsett zu verpassen.“17 Der Einsatz von „Kulturpropaganda“ bedeutete nicht, dass Hitler seine Geringschätzung für Japan völlig aufgegeben hätte. Dessen Werk hatte keinen Einfluss auf die „kulturpolitische[n] Übungsfeld[er]“18 nationalsozialistisch orientierter Kulturarbeit in Japan, denn dort befassten sich Intellektuelle in erster Linie mit deutscher Literatur, aber nicht mit Mein Kampf. Unter erstgenannter Kategorie verstanden die Japaner noch in den 1940er Jahren viele Werke der deutschen Exilliteratur, so dass in Japan trotz des Bündnisses mit dem Deutschen Reich Arbeiten von Bertolt Brecht, Franz Kafka oder Thomas Mann in japanischer Übersetzung erscheinen konnten. Zwar gab es japanische Germanisten, wie Takahashi Kenji (1902–1998), der 1941 zum Leiter der Kulturabteilung der „Taisei Yokusankai“ (Kaiserliche Unterstützungsgesellschaft) ernannt wurde und in zahlreichen Publikationen die Literatur des Dritten Reiches einer breiteren Leserschaft näher brachte.19 Mein Kampf spielte dabei jedoch keine Rolle. Es stellt sich dahingehend also die Frage, für wen Hitlers Kampfschrift von Interesse gewesen sein sollte. Da Japan oft als faschistischer Bündnispartner des Dritten Reiches verstanden wird, lohnt es sich, einen Blick auf die japanischen „Faschisten“ zu werfen, wobei hier kurz auf die Begriffsproblematik eingegangen werden muss. Selbst wenn es anfänglich scheint, dass Faschismus leicht anhand chauvinistischer Demagogen sowie deren militanter Anhängerschaft zu identifizieren ist20, haben namhafte Autoren gleichfalls auf die Schwierigkeiten der Anwendung des Faschismusbegriffes, etwa auf das nationalsozialistische Deutschland, hingewiesen.21 Selbst wenn versucht wurde, auf die im nationalen Kontext sehr unterschiedlichen Ausprägungen zu verweisen, um Unterschiede im Hinblick auf 17 18 19
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Ebd. Ebd., S. 426. Vgl. Kimura, Naoji: Der ost-westliche Goethe. Deutsche Sprachkultur in Japan. Bern u. a.: Peter Lang 2006, S. 570–572. Zur Rezeption der Literatur des Dritten Reichs in Japan siehe ferner: Matsushita, Taeko: Rezeption der Literatur des Dritten Reichs im Rahmen der kulturspezifischen und kulturpolitischen Bedingungen Japans 1933–1945. Saabrücken: Breitenbach 1989. Vgl. Paxton, Robert O.: The Five Stages of Fascism, in: The Journal of Modern History 70, 1 (1998), S. 1–23, hier S. 1. Bracher, Karl-Dietrich: Zeitgeschichtliche Kontroversen. Um Totalitarismus, Faschismus, Demokratie. München: Piper 1976, S. 20; De Felice, Renzo: Fascism. An Informal Introduction to Its Theory and Practice. New Brunswick, NJ: Rutgers University Press 1976, S. 15, 55–56 und 94–96.
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das politische Konzept des Faschismus und dessen Anwendung zu erklären22, sind die Unterschiede doch mitunter so groß, dass vor allem Japan nur schwer als faschistisch zu bezeichnen ist. Autoritär war die Herrschaft des Kaisers in den frühen Jahren der Shōwa-Periode (1926–1989) durchaus, totalitär die Kontrolle des Militärs während des Krieges gelegentlich ebenfalls, faschistisch war Japan aber dennoch nicht. Es bot eher den Anblick einer kaiserlich tolerierten Militärdiktatur, deren Legitimation sich gerade auf die religiöse Stellung der erstgenannten Instanz, also des Kaisers, berief. Dass der Faschismusbegriff für Japan trotzdem Verwendung fand und findet, ist nicht zuletzt mit den Arbeiten japanischer Historiker und Politikwissenschaftler begründet worden, die in ihren Arbeiten den Begriff zur Beschreibung Japans aufgegriffen haben. In Anlehnung an Maruyama Masao (1914–1996) wurde die Zeit zwischen dem Mandschurischen Zwischenfall und dem Februarzwischenfall 193623, in der sich das Militär zunehmend radikalisierte, mit dem Emblem „Faschismus von unten“24 versehen.25 Die Historiker Tōyama Shigeki (1914–2011), Fujiwara Akira (1922–2003) und Imai Seiichi (*1924) nutzten den Begriff ebenfalls in ihrer bekannten Darstellung der Shōwa-Zeit26, in der das Militär, Bürokraten, große Landbesitzer sowie Monopolkapitalisten zusammenarbeiteten, um die kapitalistischen Strukturen Japans gegen ökonomische Probleme und die Gefahr einer proletarischen Revolution zu verteidigen. Der marxistisch orientierte Historiker Inoue Kiyoshi (1913–2001) beschrieb dieses Konglomerat innerhalb der japanischen „Militärdiktatur“ wie folgt: „In Japan, whatever their subjective view might be as they cried out against the zaibatsu27 and actually did kill some representatives of the zaibatsu, [wanted] to fuse monopoly capital with the state and have the military – the nucleus of the absolutist emperor-system structure – seize the state’s dictatorial power, seeking [thereby] to resolve the crisis of Japanese imperialism. Therefore this is called emperor-system fascism.“28 Von den europäischen „Faschismen“, so der Wirtschaftswissenschaftler Ōuchi Tsutomu (1918–2009), unterschied sich der japanische Fall lediglich darin, dass im „Kaiser-Faschismus-System“ die politische Stellung des Monarchen unangetastet blieb.29
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Vgl. Paxton, Stages, S. 5. Dazu ausführlich: Shillony, Ben-Ami: Revolt in Japan. The Young Officers and the February 26, 1936 Incident. Princeton, NJ: Princeton University Press 2015. Kasza, Gregory J.: Fascism from below? A Comparative Perspective on the Japanese Right, 1931–1936, in: Journal of Contemporary History 19, 4 (1984), S. 607–629, hier S. 607. Vgl. Maruyama, Masao: Gendai seiji shisō to kodoe. Tokio: Miraisha 1973, S. 29–87. Vgl. Tōyama, Shigeki / Fujiwara, Akira / Imai, Seiichi: Shōwa-shi. Tokio: Iwanami shoten 1955. Ein japanischer Ausdruck für Firmen- und Finanzkonglomerate, zumeist in Familienbesitz, wie etwa Mitsubishi, Sumitomo und Yasuda. Inoue, Kiyoshi: Nihon no rekishi, Ill. Tokio: Iwanami shoten 1966, S. 188, zit. nach: Wilson, George M.: A New Look at the Problem of „Japanese Fascism“, in: Comparative Studies in Society and History 10, 4 (1968), S. 401–412, hier S. 403. Vgl. Ōuchi, Tsutomu: Fuashizumu e no michi, in: Nihon no rekishi 24 (1971), S. 470–487.
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All diese Analysen basieren jedoch darauf, dass die Anwendung von Gewalt zur Unterdrückung politischer Optionen allein den Faschismusbegriff rechtfertigte.30 Dabei gab es vergleichsweise wenige Gemeinsamkeiten mit dem faschistischen Italien oder dem nationalsozialistischen Deutschland.31 Andere japanische Historiker, wie etwa Ito Takashi, lehnen den Begriff daher ab.32 Gerade im Hinblick auf die Rollen traditioneller Eliten und das Fehlen einer echten Massenbewegung hinkt die Anwendung des Begriffes33, selbst wenn bisher versucht wurde, Faschismus mit dem Interesse fast aller Gesellschaftsschichten in Verbindung zu setzen: „petty bourgeoisie in town and country,“ „a middle class movement representing a protest against both capitalism and socialism, big business and big unions,“ „one of several groups of the Mittelstand and the capitalist bourgeoisie,“ und natürlich „the small peasant and agricultural labourers“.34 Es ist unmöglich, die asiatischen und europäischen Fallbeispiele unter einen gemeinsamen theoretisch eng gefassten Faschismusbegriff zu subsumieren35, weshalb seine Anwendung unzweckmäßig erscheint und eher vom italienischen Faschismus, deutschen Nationalsozialismus und japanischen Tennō-Militarismus gesprochen werden sollte. Der deutsche Historiker Bernd Martin hat diesbezüglich korrekt angemerkt: „Vergleiche, die den Faschismus allein als Theorie, etwa in den Bewegungsphasen, umfassen, sind Spiegelfechterei ohne Bezug zur historischen Wirklichkeit.“36 Es ist daher besonders wichtig, das militärisch orientierte Bündnis zwischen Deutschland, Italien und Japan nicht hinsichtlich seiner Bedeutung überzustrapazieren, indem man aus politischen Notwendigkeiten heraus nicht vorhandene ideologische Gemeinsamkeiten zu etablieren sucht.37 Japanische Intellektuelle beschäftigten sich bereits in der Zwischenkriegszeit mit dem Faschismus und den politischen Entwicklungen Europas und ließen sich inspirieren, aber für die Intellektuellen, wie etwa Rōyama Masamichi (1895–1980), Ryū Shintarō (1900–1967) und Miki Kiyoshi (1897–1945), die sich in der Shōwa Kenkyūkai (Shōwa Forschungsgruppe) im Auftrag von Prinz Konoe Fumimaro (1891–1945) mit der Zukunft Japans beschäftigten, spielte bei dieser Auseinandersetzung Mein Kampf ebenfalls keine Rolle.38 Während Rōyama mit einigen Ele30 31 32 33 34 35 36 37 38
Vgl. Fletcher, Miles: Intellectuals and Fascism in Early Showa Japan, in: The Journal of Asian Studies 39, 1 (1979), S. 39–63, hier S. 40. Vgl. Lavelle, Pierre: The Political Thought of Nishida Kitarō, in: Monumenta Nipponica 49, 2 (1994), S. 139–165, hier S. 141. Vgl. Itō, Takashi: Jūgonen sensō. Tokio: Shōgakkan 1976, S. 19. Vgl. Reynolds, David: The Origins of the Two „World Wars“: Historical Discourse and International Politics, in: Journal of Contemporary History 38, 1 (2003), S. 29–44, hier S. 42. Duus, Peter / Okimoto, Daniel I.: Comment. Fascism and the History of Pre-War Japan. The Failure of a Concept, in: The Journal of Asian Studies 39, 1 (1979), S. 65–76, hier S. 66. Vgl. Allardyce, Gilbert: What Fascism Is Not. Thoughts on the Deflation of a Concept, in: American Historical Review 84, 2 (1979), S. 367–388; vgl. auch: Wilson, Look. Martin, Bernd: Zur Tauglichkeit eines übergreifenden Faschismus-Begriffs. Ein Vergleich zwischen Japan, Italien und Deutschland, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 29, 1 (1981), S. 48–73, hier S. 48–49. Vgl. ebd., S. 49–52. Vgl. Fletcher, Intellectuals.
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menten des italienischen Faschismus liebäugelte, etwa einem ökonomischen Beratungsgremium aus Repräsentanten der kapitalistischen Betriebe und der Gewerkschaften, war er nicht gewillt, einen faschistischen Einparteienstaat anzupreisen oder zu akzeptieren.39 Ryū hingegen machte in der ökonomischen Krise der späten 1920er und frühen 1930er Jahre den Ursprung der faschistischen Bewegungen aus, die er als antikapitalistisch und nationalistisch charakterisierte.40 Alarmierender bewertete der ausgewiesene Marx-Kenner Miki die Rolle des „Faschismus“, der durch die zunehmenden Konflikte innerhalb der japanischen Gesellschaft, etwa die Minobe-Affäre41 oder den Februarzwischenfall42, befürchtete, dass das rationale Denken per se aus Japan verschwinden könnte.43 Schließlich begann er Ende der 1930er Jahre, die Bedeutung der Nation und der Rasse für die Einheit des Staates hervorzuheben.44 Während sich die Intellektuellen der Forschungsgruppe nicht mit dem Faschismus identifizieren konnten, lehnte auch die Regierung in Tōkyō „in offiziellen Stellungnahmen jede Vergleichbarkeit des Kaiserlichen Systems mit Faschismus oder Nationalsozialismus grundsätzlich ab.“45 Die deutsche Regierung zeigte im Gegensatz dazu, wie oben bereits erwähnt, erst seit 1933 ein gesteigertes Interesse an Japan und begann damit, die Verbindungen in die japanische Hauptstadt, vor allem aber zur dortigen Militärführung, zu intensivieren.46 In Tōkyō und Yokohama bildeten sich Mitte der 1930er Jahre erste NSDAP-Ortsgruppen, und Rudolf Hillmann, der NSDAP-Vertreter in Japan, ging daran, die Beziehungen zwischen der Partei und den japanischen Behörden zu intensivieren, wobei sich dazu vor allem nach der Unterzeichnung des Antikominternpaktes Möglichkeiten ergaben. Abteilungen der Hitlerjugend wurde für die deutschen Schulen in Tōkyō und Yokohama errichtet, allerdings konnten diese keine große Breitenwirkung außerhalb der deutschen Zirkel in Japan erzielen.47 Die Aktionen der Ortsgruppen dürften lediglich lokal ein wenig Aufsehen erregt haben, zur breitenwirksamen Auseinandersetzung mit Hitlers Gedankenwelt, besonders in Form von Mein Kampf, haben sie indes nicht geführt. 39 40 41
42 43 44 45 46 47
Vgl. ebd., S. 45. Vgl. ebd., S. 47. Professor Minobe Tatsukichi (1873–1948), ein namhafter Jurist, hatte den Kaiser 1935 in einer Studie als Verfassungsorgan aufgefasst und war dafür von konservativen Kräften harsch kritisiert worden. Er musste schließlich seinen Sitz im japanischen Oberhaus aufgeben und seine Schrift wurde verboten. Zudem wurde er bei einem Attentatsversuch kurze Zeit später schwer verletzt (vgl. Schwentker, Wolfgang: Max Weber in Japan. Eine Untersuchung zur Wirkungsgeschichte 1905–1995. Tübingen: Mohr 1998, S. 139). Am 26.2.1936 versuchten japanische Offiziere das parlamentarische System zu beseitigen, was allerdings scheiterte. Die verantwortlichen Putschisten wurden im Anschluss an die Ereignisse hingerichtet oder zu lebenslanger Haft verurteilt. Vgl. Fletcher, Intellectuals, S. 48. Vgl. Shōwa kenkyūkai (Ed.): Shin Nihon no shisō genri, zokuhen – kyōdōshugi no tetsugakuteki kiso (1939), in: Miki Kiyoshi zenshū, Bd. 17, zit. nach: Fletcher, Intellectuals, S. 51. Martin, Tauglichkeit, S. 53. Vgl. McKale, Donald M.: The Nazi Party in the Fast East, 1931–45, in: Journal of Contemporary History 12, 2 (1977), S. 291–311, hier S. 296. Vgl. ebd., S. 302.
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Ebenso wenig war das Buch entscheidend für den japanischen Rassendiskurs, der trotz der weitgehenden ethnischen Homogenität Japans auch im asiatischen Inselreich geführt wurde. Natürlich entwickelten japanische Denker ihre Theorien über die Bedeutung menschlicher Rassen nicht in einem intellektuellen Vakuum, sondern waren in internationale Diskurse eingebettet.48 Gerade im Bereich der Seidenraupenzucht konnten Japans Wissenschaftler auf eine lange Tradition von Kreuzungsversuchen und Diskursen im Bereich der „Artenmischung“ zurückblicken, so dass es nicht zwingend verwunderlich ist, dass diese Wissenschaftler ihre Erfahrungen dazu anwandten, um Schlüsse über aufkommende Rassefragen im Humanbereich zu ziehen.49 Der Agrargenetiker Sotoyama Ryūtarō (1867–1918) führte 1910 die Mendelsche Theorie ein, wobei er sie auf die selektive Zucht von Seidenraupen anwandte. Die Diskussion verbreitete die neuen Theorien schnell, diese wurden zunehmend im Hinblick auf die menschliche Rasse ins Spiel gebracht und schließlich von der „Rassenhygiene“-Bewegung um den Arzt Nagai Hisomu (1876–1957) propagiert. Bereits in den 1920er Jahren wurden die Zeitschrift Eugenik (Yūseigaku) sowie die Japanische Gesellschaft für Eugenik (Nippon Yūseigaku Kyōkai) gegründet, welche den Diskurs weiter bestimmten.50 In den 1930er Jahren wurde der Rassendiskurs bzw. der theoretische Diskurs über die „Rassenreinheit“ vor allem von der Japanischen Gesellschaft für Rassenhygiene (Nippon Minzoku Eisei Kyōkai) bestimmt. Nagai, der in Deutschland studiert hatte, berief sich in seinen Studien vor allem auf den deutschen Eugeniker Alfred Ploetz (1860–1940)51 und nicht auf Hitler, dessen Schrift für die etwa 1300 Mitglieder der Gesellschaft für Rassenhygiene, da unwissenschaftlich, unbedeutend war.52 Durch die politische Annäherung und Anlehnung an Deutschland studierten japanische Intellektuelle nun vorwiegend in Deutschland, wo sie mit den Rasseideen der NSDAP und Hitlers in Berührung kamen, viele von ihnen lehnten diese aber, eben gerade wegen der darin gegen Japan geäußerten Standpunkte, ab. Etliche der Studierenden kehrten ob der nationalsozialistischen Rassenideologie mit einem bitteren Beigeschmack nach Japan zurück. Interessant ist, dass Ishiwara Kanji (1889–1949), einer der Hauptverantwortlichen für das Ausgreifen der japanischen Armee in der Mandschurei, Mein Kampf aufgrund der darin vertretenen Rassenlehre ablehnte und davor warnte, diese zu adaptieren, stellte das doch Japans Stellung zu dem seit 1910 annektierten Korea, dessen Bevölkerung japanisiert werden sollte, in Frage. Zudem machte Ishiwara darauf aufmerksam, dass Hitler biologisch gesehen die Fehlannahme vertrete, dass zwischen Deutschen und Juden ein Unterschied bestehe, da es sich doch eher um Varianten der gleichen 48 49 50 51 52
Vgl. Morris-Suzuki, Tessa: Debating Racial Science in Wartime Japan, in: Osiris 13 (1998), S. 354–375, hier S. 356. Vgl. ebd., S. 358. Vgl. ebd., S. 360. Zur Eugenik in Japan siehe ausführlich: Schaffner, Karen J. (Hg.): Eugenics in Japan. Fukuoka: Kyushu University Press 2014. Zu Ploetz siehe: Doeleke, Werner: Alfred Ploetz, 1860–1940. Sozialdarwinist und Gesellschaftsbiologe. Frankfurt a. M.: (Diss.) 1975. Vgl. Morris-Suzuki, Racial Science, S. 362.
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menschlichen Spezies handele. Ishiwaras Kritik53, welche 1944 erschien, wurde jedoch verboten, um keine unnötigen Zerwürfnisse mit dem nun militärischen Bündnispartner zu riskieren.54 Es bleibt die Frage, wer nun eigentlich Mein Kampf las. Intellektuelle und Militärs waren offensichtlich nicht interessiert und wenn, dann nahmen sie eine eher Hitler-kritische Stellung ein, was nicht verwundert aufgrund der oben zitierten Passage, die vor allem Intellektuelle, die Mein Kampf im deutschen Original gelesen hatten, echauffiert haben dürfte. Es bleibt ein Blick auf die sogenannten „Faschisten“ Japans und deren Bezug zum Nationalsozialismus und Hitlers Schrift. Kita Ikki (1883–1937), der gemeinhin als einer der führenden „Faschisten“ Japans bzw. als „Vater des japanischen Faschismus“55 bezeichnet und dessen Werk Umriss eines Planes zur Reorganisation Japans (Nippon kaizō hōan taikō, 1919) als „Mein Kampf der Ultranationalisten“56 Japans betitelt wird, war als politischer Denker allerdings wesentlich komplexer als Hitler.57 Die in seinem „Reorganisationsplan“ formulierten Forderungen sind vor allem sozialpolitischer Natur und gleichen in vielen Punkten eher den wirtschaftspolitischen Forderungen eines Gottfried Feder (1883–1941) als den rassepolitischen Vorstellungen eines Adolf Hitler. Lediglich im Hinblick auf seine Gedanken zur Expansion des japanischen Staates decken sich Kitas Ideen gelegentlich mit denen Hitlers in Bezug auf Schaffung von Lebensraum im Osten. Der japanische Philosoph und Intellektuelle hatte seine Ideen nicht von Hitler bezogen, zumal der „Reorganisationsplan“ schon wesentlich früher entstand als Mein Kampf. Einzig der Politiker und spätere Führer der „Tōhōkai“ („Vereinigung des Ostens“) Nakano Seigō (1886–1943) bezog viele Ideen von den Nationalsozialisten und Hitler, weswegen er durchaus zu Recht als „Hitler Japans“ bezeichnet wurde.58 Nakano betonte seine Sympathie mit den Achsenmächten und forderte eine stärkere Anlehnung an Deutschland, sodass er vor allem von rechten Gesellschaften des panasianistischen Milieus, die oft eine japanische Dominanz Asiens bei gleichzeitiger Abkehr von westlichen Einflüssen forderten, kritisiert wurde.59 Ungeachtet dessen blieben Mussolini und Hitler Nakanos Vorbilder und 53 54 55 56 57 58
59
Vgl. Ishiwara, Kanji: Main kampu hihan, in: Ishiwara Kanji senshū, 10 Bde. Hg. v. Tamai Rei’ichirō. Tokio: Tamaraibō 1985, hier Bd. 4, S. 9–122. Vgl. Godart, G. Clinton: Nichirenism, Utopianism, and Modernity. Rethinking Ishiwara Kanji’s East Asia League Movement, in: Japanese Journal of Religious Studies 42, 2 (2015), S. 235– 274, hier S. 264. Maruyama, Masao: Thought and Behaviour in Modern Japanese Politics. Hg. v. Ivan Morris. London: Oxford University Press 1963, S. 28. Kuno, Osamu / Tsurumi, Shunsuke: Gendai Nihon no shisō. Tokio: Iwanami Shoten 1957, S. 165. Ähnlich auch: Martin, Tauglichkeit, S. 58. Vgl. Wilson, George M.: Kita Ikki’s Theory of Revolution, in: The Journal of Asian Studies 26, 1 (1966), S. 89–99. Vgl. Muro, Kiyoshi: Tōjō utsubeshi. Nakano Seigō hyōden. Tokio: Asahi Shinbunsha 1999, S. 17, 25. Ausführlich dazu auch: Plenefisch, Julian: Faschismus in außereuropäischen Gesellschaften. Zur Bedeutung globaler Verflechtungen. Das Beispiel Nakano Seigō, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 61, 10 (2013), S. 807–825. Vgl. Oates, Leslie Russel: Populist Nationalism in Prewar Japan. A Biography of Nakano Seigō. Sidney u. a.: George Allen & Unwin 1985, S. 59, 71. Kritisiert wurde er unter anderem von
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er argumentierte weiterhin, und das schon vor 1940, für eine Allianz mit den Achsenmächten. Politisch versuchte er mit der von ihm gegründeten Tōhōkai-Partei die Politik Japans zu beeinflussen, konnte bei den Wahlen 1937 dennoch nur zwölf Sitze für seine Partei erringen. Mit dem Dreimächtepakt hätte seine Position gestärkt werden können, allerdings wurde die Tōhōkai wie alle anderen Parteien aufgelöst und mit der Sammelbewegung Taisei Yokusankai zusammengeführt. Wenn Japan für Hitler vor 1933 eher unbedeutend war, so blieb Hitlers Werk auch nach 1933 eher unbedeutend in Japan. Von einem gewichtigen Einfluss auf Japans Intellektuelle, geschweige denn die Massen, kann weder im Hinblick auf den Rassendiskurs noch auf die politischen Entwicklungen der Zwischenkriegszeit gesprochen werden. Diejenigen, die Deutsch lesen konnten – Germanisten, japanische Studenten in Deutschland, germanophile Intellektuelle – waren von Hitlers Einstufung der Japaner eher echauffiert und bezogen sich in ihren Arbeiten auf wichtigere Werke und Darstellungen. Obwohl also ein entscheidender ideologischer Einfluss von Mein Kampf im Falle Japans ausgeschlossen werden kann, lohnt es sich einen Blick auf die Übersetzungen und die Probleme, die mit denselben verbunden waren, zu werfen. Schließlich hatten sich Übersetzer in Japan die Mühe gemacht, Hitlers Werk, und das gleich mehrfach, in die japanische Sprache zu übertragen. Die „Leitschrift“60 der NS-Ideologie ging demnach nicht völlig spurlos an Japan vorüber. MEIN KAMPF AUF JAPANISCH Wenn kein direktes Interesse an Deutschland bestanden hätte, so wäre aufgrund der wenigen Nennungen Japans eine Übersetzung ins Japanische kaum von Interesse gewesen. „Letztendlich kommt man“, wie Koltermann feststellt, „nach aufmerksamer Lektüre der wenigen Japan betreffenden Passagen zu der Erkenntnis, dass der Aussagewert von Hitlers Mein Kampf im Hinblick auf seine Haltung zu Japan relativ unergiebig ist.“61 Trotzdem wurde das Werk mehrfach übersetzt, wobei hier berücksichtigt werden muss, dass die Übersetzungen nicht allein vom „soziale[n] Umfeld“, von „historischen Gegebenheiten“, „individuelle[n] Vorlieben“ und ideologischen Präkonditionierungen der Übersetzer beeinflusst wurden.62 Vielmehr gilt es zu beachten, dass „im deutsch-japanischen Kontext der Großteil der Translation im institutionell-diplomatischen Rahmen stattfand.“63 Dass sich die Äußerungen Hitlers über Japan im Hinblick auf die Stellung des japanischen Volkes im Kontext
60 61 62 63
Mitgliedern der Kokuryūkai (Amur-Gesellschaft), die eine Anlehnung an den Westen ablehnte und Japans expansionistische Ziele unter dem Deckmantel panasianistischer Propaganda zu erreichen suchte. Dazu ausführlich: Jacob, Frank: Japanism, Pan-Asianism, Terrorism – A Short History of the Amur Society (Black Dragons) 1901–1945. Palo Alto: Academica Press 2014. Martin, Tauglichkeit, S. 55. Koltermann, Untergang, S. 22. Trollmann, Christian: Nationalsozialismus auf Japanisch? Deutsch-japanische Beziehungen 1933–1945 aus translationssoziologischer Sicht. Berlin: Frank & Timme 2016, S. 10. Ebd.
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der nationalsozialistischen Rassenideologie negativ auf das Verhältnis der beiden Staaten zueinander auswirken konnten, war den an den Übersetzungen arbeitenden Intellektuellen sowie den über deren Arbeit entscheidenden Stellen bekannt, weshalb penibel darauf geachtet wurde, dass die besagten anti-japanischen Bemerkungen nicht den Weg zum heimischen Lesepublikum fanden.64 Schon die Entlassung von Wissenschaftlern jüdischer Herkunft sowie die Bücherverbrennungen hatten in Japan Unverständnis ausgelöst, zumal sich vielen der Kausalzusammenhang in den besagten Fällen nicht gänzlich erschloss. Erschwert wurde die Einstufung der Hitlerschen Politik zudem dadurch, dass der Führer des Dritten Reiches, wie oben bereits angemerkt, stets in seiner Wahrnehmung des ostasiatischen Landes zu schwanken schien und sich nur schwer zu einer klaren Stellungnahme bereitfand. Darüber hinaus verursachte eine Herabwertung der Japaner jedoch Probleme, auf die der Vorsitzende der Deutsch-Japanischen Gesellschaft, Paul Behncke (1866–1937), in einem Schreiben vom 25. Oktober 1934 explizit hinwies: „Die Herabwertung der Japaner durch Gleichsetzung von Abkömmlingen aus deutsch-japanischen Ehen mit Juden ist politisch nicht tragbar. […] An die Völker der ostasiatischen Hochkulturen ist in diesem Zusammenhang gar nicht gedacht worden, erst spät und anscheinend nur aus einer gewissen übertriebenen Folgerichtigkeit des Denkens sind Stimmen aufgetreten, die eine Unterstellung auch von Abkömmlingen aus solchen Ehen unter die Rassegesetzgebung gefordert haben.“65 Die Japaner, die mit derlei Anfeindungen sowie dem deutschen Text von Mein Kampf konfrontiert wurden, empfanden es als einen Affront, zumal Japan im Russisch-Japanischen Krieg seine Gleichwertigkeit mit anderen Großmächten eindrucksvoll unter Beweis gestellt hatte. In den meisten der im Folgenden aufgeführten Übersetzungen wurden die negativen Passagen, welche Japan betrafen, deswegen vorsorglich entfernt.66 Überblick über Japanische Übersetzungen von Mein Kampf 67
Jahr 1932 193768 193869 1938
64 65 66 67
68 69
Übersetzer Sakai Takaji Ōkubo Yasuo Hanazono Kanesada Kinro Gorai
Umfang
Verlag
366 Seiten 137 Seiten
Mikasa Shobō Komiyama Bonzen
Vgl. ebd., S. 29. Bundesarchiv Berlin R 64/IV/31, Bl. 35, Rassenfragen, zit. nach: ebd. S. 30–31. Vgl. Koltermann, Untergang, S. 24; Trollmann, Nationalsozialismus, S. 32. Erwähnenswert erscheint hier auch, dass in Korea schon im Juni 1933 eine 23-seitige Übersetzung von Teilen aus Mein Kampf in einem von Yi Kwangsu, einem koreanischen „Faschisten“, herausgegebenen Kompendium zum europäischen Faschismus erschienen war (vgl. Tikhonov, Vladimir: The Controversies on Fascism in Colonial Korea in the early 1930s, in: Modern Asian Studies 46, 4 (2012), S. 975–1006, hier S. 999 f.). Diese Übersetzung wurde bis in die 1940er Jahre mehrfach aufgelegt. Diese Übersetzung basiert auf einer englischen Vorlage, die bei Hurst & Blackett erschienen war (vgl. dazu den Beitrag von Stefan Baumgarten in diesem Band).
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Jahr 1940 1940 1941 1941 1942 1942–1944
Übersetzer Murobuse Kōshin Fohai Zhou (1897–1948) Ōkuno Shichirō Sekiguchi Tsugio (1894–1958) Manabe Ryōichi Kawai Testuso
Umfang 346 Seiten 116 Seiten 47 Seiten 197 Seiten 2 Bde. 2 Bde.
Verlag Daiichi Shobō Tōa Kōronsha Sanseido Kōfūkan Tōa Kenkyūjo
Es lässt sich jedoch nicht mit Gewissheit sagen, ob die angeführten Übersetzungen die einzigen sind, die in Japan zirkulierten, zumal auch hier einige Informationen fehlen. Dem Autor des vorliegenden Beitrages war es zudem aus verschiedenen, vor allem logistischen, Gründen leider nicht möglich, eine noch detailliertere Analyse der aufgeführten Texte vorzunehmen und etwa Unterschiede im Hinblick auf die einzelnen Texte bzw. unterschiedliche Auflagen zu untersuchen70, allerdings lassen sich aus der obigen Auflistung bereits einige Schlüsse ziehen. Sieht man einmal von der 1941 erschienenen Version (ÜS Ōkuno), bei der es sich lediglich um eine 47-seitige Zusammenfassung des Buches handelt, ab, wurde Mein Kampf innerhalb eines Jahrzehnts insgesamt neun Mal ins Japanische übersetzt. Warum trotz sicherlich nicht überragender Verkaufszahlen solch ein Aufwand betrieben wurde, kann nur erahnt werden und hängt vermutlich zum einen mit politischen Notwendigkeiten, zum anderen vielleicht mit den unterschiedlichen Verlagen, die eine neue Übersetzung veranlassen mussten, um etwaige Rechte der vorherigen Übersetzer zu umgehen, zusammen.71 Derlei Mutmaßungen bedürfen allerdings umfangreicher Studien in Japan, die sich mitunter vermutlich nur schwer durchführen lassen, da in der untersuchten Übersetzung (1942–1944, ÜS Kawai) selbst keine Hinweise auf die Überlieferungsgeschichte vorhanden sind. Es wird hier daher nur auf den Text der letzten Übersetzung vor Kriegsende eingegangen.72 Zwar wurden, wie bereits angesprochen, die Ausgaben im Hinblick auf die anti-japanischen Ressentiments Hitlers gekürzt, allerdings dürften auch andere weltanschauliche Ideen zunächst auf Unverständnis gestoßen sein. In der untersuchten Übersetzung wird „Juden“ mit „Yudaya-jin“ (ユダヤ人) übersetzt (z. B. S. 187), einem Begriff, der mit der Katakana-Lautschrift, die für die Transkription von ausländischen Fremdwörtern verwendet wird, gebildet wird. Ob 70 71
72
Eine detaillierte Studie von Mein Kampf in Japan bleibt, selbst wenn hier erste Ergebnisse vorgestellt und Mutmaßungen vorgebracht werden können, daher auch weiterhin ein Desiderat der Forschung. Mit der Urheberrechtslage von Mein Kampf befasste sich 1934 auch das japanische Außenministerium (vgl. „Hittorā“-cho „Waga tōsō“ no chosakuken no seki sendenshō karakuri kikan yori mōshi no kudan, Dezember 1934, Diplomatisches Archiv des japanischen Außenministeriums, B13080918000). Es wird dadurch die Frage aufgeworfen, ob die Übersetzung von 1932 offiziell genehmigt war oder ob es sich vielmehr um einen Raubdruck gehandelt hat. Eine abschließende Klärung kann im Rahmen des vorliegenden Beitrages leider nicht stattfinden. Verweise auf den Text erfolgen im Weiteren durch Seitenzahlen in Klammern. Besonders Kapitel 5, in dem Hitler sein Weltbild vorstellt, ist für weitere Detailstudien von Interesse (vgl. Hittorā, Waga tōsō, Bd. 2, S. 187–212).
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die Leserinnen und Leser in Japan, sofern sie nicht bereits zuvor mit antisemitischen Schriften oder Arbeiten aus dem Bereich der jüdischen Studien in Kontakt gekommen waren, diese Begrifflichkeiten und ihre Implikationen sofort verorten konnten, bleibt fraglich. Problematisch ist auch die Verwendung von „minzoku“ (民族), welches sowohl als Volk, Rasse oder Nation übersetzt werden könnte. Wo Hitler in Kapitel 5 seines zweiten Bandes von „Persönlichkeit und völkischem Staatsgedanken“ spricht, wurde daraus im Japanischen eine etwas weitläufigere Übersetzung – wörtlich: „Das menschliche Grundprinzip und die Staatsauffassung des Nationalismus/ Rassismus“ –, zumal gerade das hier verwendete „minzoku-shugi“ nicht nur mit Nationalismus, sondern auch mit Rassismus übersetzt werden könnte (S. 166). Es ist daher höchst problematisch, dass der Text dem Lesepublikum unkommentiert zugemutet wurde, denn ohne ein gewisses Vorwissen zum Thema Nationalsozialismus sind viele Passagen nur schwer zu verstehen, zumal keine Definitionen bereitgestellt werden, um dem Leser eine Art Lesehilfe an die Hand zu geben. Dem Lesepublikum müssten folglich die politisch-ideologischen Grundgedanken sowie das Rassenkonzept des Nationalsozialismus geläufig gewesen sein, um Hitlers weitere Ausführungen über eine jüdische Weltverschwörung zu verstehen. Diese, wie von Hitler in den Kapiteln „Volk und Rasse“ sowie „Die erste Entwicklungszeit der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei“ beschrieben, waren darüber hinaus nicht Teil der japanischen Übersetzung. Zentrale Stellen konnten daher nur von denjenigen verstanden werden, die sich gut mit der nationalsozialistischen Bewegung und deren ideologischen Grundauffassungen auskannten. Wie oben bereits angedeutet, muss dies jedoch zumindest bei einigen Leserinnen und Lesern zu Verständnisproblemen geführt haben, da die ideologischen Grundlagen, auf deren Basis Hitler seine Weltsicht beschrieb, nicht allen Japanerinnen und Japanern geläufig gewesen sein dürften. Dass die Juden alle Nationen der Welt zerstören würden, um selbst zum obersten Herrscher („hasha“, S. 187) aufzusteigen, war aus japanischer Perspektive nur schwer nachvollziehbar. Das soll nicht heißen, dass es in Japan per se keinen Antisemitismus gegeben hätte. Dem japanischen Lesepublikum war das Konzept des Antisemitismus gar nicht unbekannt und es bedurfte nicht erst Hitlers Darstellung, um auf die damit verbundene Problematik aufmerksam zu werden. Zwar verfolgte der japanische Staat keine antisemitische Agenda und die etwa 40.000 Juden, die sich zur Zeit des Zweiten Weltkrieges in Ostasien (u. a. der Mandschurei) befanden – die Hälfte davon war aus Europa geflohen – blieben unbehelligt73, aber trotzdem gab es im frühen Shōwa-Japan durchaus eine rege, wenn auch nur schriftlich-intellektuelle, Debatte über den Antisemitismus.74 Im Zuge der Sibirischen Intervention75 waren die japanischen Truppen mit den Protokollen der Weisen von Zion in Berührung gekom73 74 75
Vgl. Medzini, Meron: Under the Shadow of the Rising Sun. Japan and the Jews during the Holocaust Era. Boston: Academic Studies Press 2016. Vgl. Kowner, Rotem: Tokyo Recognizes Auschwitz. The Rise and Fall of Holocaust Denial in Japan, 1989–1999, in: Journal of Genocide Research 3, 2 (2001), S. 257–272, hier S. 257. Siehe dazu ausführlich: Dunscomb, Paul E.: Japan’s Siberian Intervention, 1918–1922. Lanham, MD: Lexington Books 2012.
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men, die, wie viele andere westliche Schriften, importiert und 1919 erstmals übersetzt wurden. Die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus in Japan basierte folglich auf dem Text der Protokolle, so dass Hitlers Sicht einer jüdischen Weltverschwörung ein Jahrzehnt später zumindest für den Kreis intellektueller Leser, die die antisemitische Diskussion in Japan verfolgt hatten, keiner expliziten Erklärung mehr bedurfte.76 Darüber hinaus wurden in Japan, besonders nach der Russischen Revolution, Juden mit dem Kommunismus in Verbindung gebracht bzw. in gegenseitige Abhängigkeit gesetzt. Während des Zweiten Weltkrieges verstärkten sich die antisemitischen Ressentiments in japanischen Publikationen, die nun ähnlich wie Hitler einen aggressiven Kurs favorisierten, allerdings handelte es sich bei derartigen Publikationen nicht um solche, die von einer großen Masse von Leserinnen und Lesern konsumiert wurden.77 Zudem sollte hier darauf hingewiesen werden, dass die Perzeption der Protokolle nicht ohne Widerspruch vonstattenging, sondern durchaus Kritik auslöste. Der Juraprofessor Yoshino Sakuzō publizierte beispielsweise 1921 zwei Artikel, in denen er der Ansicht, eine jüdische Weltverschwörung bedrohe die Zukunft Japans, energisch widersprach.78 Trotzdem hielten sich antisemitische Ansichten noch längere Zeit und das ganz ohne jüdische Gemeinden in Japan.79 Explizit wurde Hitlers Mein Kampf von den Philosophen der sogenannten Kyōto Schule diskutiert.80 Nishitani Keiji (1900–1990) befasste sich im Zuge dessen mit den spirituellen Aspekten der Hitlerbewegung in Deutschland81 und rezipierte Mein Kampf folglich zuerst als eine religiöse Schrift. Der japanische Philosoph erkannte Parallelen zu Friedrich Nietzsche (1844–1900), zu dessen Arbeiten er zuvor bei Martin Heidegger (1889–1976) in Deutschland studiert hatte. Den fanatischen Nationalismus und Antisemitismus in Mein Kampf, in Kombination mit den erniedrigenden Bemerkungen zu Japan, lehnte Nishitani ab, zumal er das Werk
76
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80 81
Vgl. Kowner, Rotem: On Symbolic Antisemitism. Motives for the Success of the Protocols in Japan and Its Consequences. Vidal Sassoon International Center for the Study of Antisemitism. The Hebrew University of Jerusalem, 2006. S. 1–2; ders., Tokyo, S. 258. Ausführlich dazu: Goodman, David G. / Miyazawa, Masanori: Jews in the Japanese Mind. The History and Uses of a Cultural Stereotype. Lanham, MD: Lexington Books 2000. Vgl. Kowner, Tokyo, S. 258. Vgl. Yoshino, Sakuzō: Yudayajin no sekai tenpuku no inbō no setsu ni tsuite, in: Chûō Kōron (Mai 1921), S. 65–72; ders: Iwayuru sekaiteki himitsu kessha no shōtai, in: Chūō Kōron (Juni 1921), S. 2–42. Zur Problematik eines „Antisemitismus ohne Juden“ siehe: Benz, Wolfgang: Traditional and Rediscovered Prejudices in the New Europe: Antisemitism, Xenophobia, Discrimination against Minorities, in: Patterns of Prejudice 27 (1993), S. 3–13. In den 1990er Jahren wurde Japan erneut von einer antisemitischen Welle mit mehr als hundert Büchern zum Thema erfasst (vgl. Smith, David Norman: The Social Construction of Enemies: Jews and the Representation of Evil, in: Sociological Theory 14, 3 (1996), S. 203–240, hier S. 204). Vgl. Parkes, Graham: The Putative Fascism of the Kyoto School and the Political Correctness of the Modern Academy, in: Philosophy East and West 47, 3 (1997), S. 305–336. Vgl. Nishitani, Keiji: Kinsei Yoroppa bunmei to Nihon, in: ders., Shūkyō to bunka. Tokio: Kokusai Nihon Kenkyūjo 1969, S. 149–190.
Mein Kampf in Japan
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im deutschen Original gelesen hatte.82 Der japanische Philosoph kritisierte zudem den Mangel an Religion, ohne den die Hitler-Bewegung wohl kaum dazu in der Lage sein konnte, die Missstände im modernen Europa zu beseitigen. SCHLUSSBETRACHTUNG Insgesamt betrachtet kann hier zweierlei konstatiert werden. Erstens: Mein Kampf hatte in Japan trotz zahlreicher Übersetzungen keinen wirklichen Erfolg und damit auch keinen Einfluss auf die politische Entwicklung des Landes. Gelesen wurde es in oft nur kleinen Kreisen japanischer Gelehrter, die das Werk zudem, aufgrund der Kenntnis der deutschen Fassung und der darin enthaltenen anti-japanischen Kommentare, zumeist ablehnten. Zweitens konnte gezeigt werden, dass es dessen ungeachtet etliche Übersetzungen des Werkes gegeben hat, deren Entstehung vor dem Hintergrund der politischen Entwicklungen, also der Annäherung der beiden Achsenmächte, zu begreifen ist. Einem Massenpublikum konnte Mein Kampf offensichtlich kaum zugemutet werden. Es erschienen deshalb stark gekürzte Versionen, in denen nicht nur Hitlers anti-japanische Passagen fehlten. Gezeigt wurde darüber hinaus, dass sich eine detailliertere Untersuchung der Translationsgeschichte von Mein Kampf in Japan im Hinblick auf mehrere Fragestellungen lohnen würde. Wie wurden beispielsweise die japanischen Übersetzungen in Japan rezensiert? Wer waren die Leser und inwiefern hatte das Frühwerk Hitlers vielleicht doch Einfluss auf das japanische Deutschlandbild? Viele Fragen müssen zu diesem Zeitpunkt leider unbeantwortet bleiben, allerdings ist zu hoffen, dass diesem Forschungsdesiderat, das an der Schnittstelle von Übersetzungsgeschichte, Wissensgeschichte, Kulturtransfer und Politikgeschichte angesiedelt ist, bald nachgegangen wird.
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Vgl. Parkes, Fascism, S. 314.
MEIN KAMPF IN DEN NIEDERLANDEN Gerard Groeneveld (Übersetzung aus dem Niederländischen von Christine Hermann, Wien) Nach Hitlers Machtübernahme im Jahr 1933 erschienen in den niederländischen Zeitungen regelmäßig Artikel über sein Buch Mein Kampf.1 „Niemand kann behaupten, dass der Mann und sein Regime die Welt noch überrascht hätten“, schrieb Het Volk, dagblad voor de arbeiderspartij (Das Volk. Tageszeitung für die Arbeiterpartei) am 13. Januar 1934. Man hatte rasch erkannt, dass das Buch des „befreundeten Staatsoberhaupts“ einen programmatischen Charakter aufwies. Es handelte sich um ein politisch bemerkenswertes Buch, das auch von vielen internationalen Verlagen als solches gesehen wurde. Deshalb erstaunt es umso mehr, dass erst Ende 1939 eine niederländische Übersetzung auf den Markt kam. Leser in den Vereinigten Staaten, England, Italien, Spanien, Dänemark, Schweden, Frankreich, Bulgarien, Ungarn, Portugal, Russland, Japan und China konnten schon viel früher das Wort des Führers in ihrer eigenen Sprache vernehmen. Selbst den arabischsprachigen Interessenten stand eine Ausgabe zur Verfügung. Es wäre viel früher möglich gewesen. Bereits im Jahr 1934 gaben die Verlage Meulenhoff und Spaarnestad ihr Interesse an einer niederländischen Übersetzung von Mein Kampf zu erkennen.2 Nachdem diesbezügliche Verhandlungen mit dem Rechteinhaber, dem Zentralverlag der NSDAP Franz Eher, erfolglos geblieben waren, war Kurt Fiedler, zuständig für die Auslandskontakte des Zentralverlags, auf der Suche nach einem anderen Interessenten. Eine solche Gelegenheit ließ nicht lang auf sich warten. Schon im Juli 1934 lernte er Johannes Göbel vom niederländischen Pressebüro in Berlin kennen, den Herausgeber des vorwiegend mit Berichten aus der deutschen Presse gefüllten Blattes Berlijnsche Tijdingen. Göbel hatte für Fiedler sogleich einen Tipp: den Verlag De Amsterdamsche Keurkamer, ein am 21. Juli 1932 gegründetes Unternehmen mit dem Zweck, „zur Aufnahme und Verbreitung des Nationalsozialismus als Kulturströmung beizutragen, sowohl durch die Herausgabe von Werken mit ausgesprochen faschistischer Tendenz als auch von solchen mit literarischem Wert“.3 Initiator und treibende Kraft hinter diesem Verlag war der Schriftsteller George Kettmann Jr., der sich schon früh vom Faschismus und Nationalsozialismus angezogen fühlte. Im August 1932 trat er als Mitglied 1 2 3
Delpher, die Datenbank für im Volltext digitalisierte niederländische Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, liefert 1.985 Treffer für Mein Kampf im Zeitraum 1.1.1933 bis 1.1.1940. Groeneveld, Gerard: Zwaard van de geest. Het bruine boek in Nederland 1922–1945. Nijmegen: Vantilt 2001, S. 58. Groeneveld, Gerard: Nieuwe boeken voor den nieuwen tijd: uitgeverij De Amsterdamsche Keurkamer 1932–1944. ’s-Gravenhage: Sdu Uitgeverij Koninginnegracht 1992, S. 20–21.
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Gerard Groeneveld
Nr. 302 der Nationaal-Socialistische Beweging (NSB) des Wasserbauingenieurs Anton Mussert bei.4 Göbel hatte in Kettmanns Verlag unter dem Pseudonym Van Amstel eine antisemitische Broschüre publiziert und fragte bei Kettmann brieflich an, ob er Interesse an der Herausgabe von Mein Kampf habe. Das hatte dieser durchaus, doch er verfügte mit seinem kleinen Betrieb noch nicht über die nötige Finanzkraft für eine derartig umfangreiche Edition. Papierhändler und Drucker standen sicher nicht Schlange, um ihm Kredit zu gewähren. Alle, bei denen Kettmann um finanzielle Unterstützung anklopfte, hielten es für ein kaufmännisches Wagnis, das bestenfalls auf lange Sicht rentabel sei.5 Bei potentiellen Geldgebern stand er vor verschlossenen Türen. Selbst der NSB-Führer Anton Mussert wies ein Finanzierungsansuchen ab. Die Niederlande mussten also vorläufig ohne Übersetzung von Mein Kampf auskommen. Der Gedanke, das Buch des Führers herauszugeben, ließ Kettmann jedoch nicht los, und im April 1938 unternahm er einen neuerlichen Versuch. Er schrieb an seinen Freund Göbel: „Wir haben die Absicht, in diesem Herbst Adolf Hitlers Werk ‚Mein Kampf‘ in niederländischer Übersetzung herauszugeben. […] Würden Sie die Güte haben, diesbezüglich Nachforschungen anzustellen und mir zu berichten, auf welche Weise ich mir rasch und möglichst ohne sofortige Bezahlung diese Rechte sichern könnte?“6 Göbel suchte erneut Kontakt mit dem Zentralverlag Franz Eher und reichte Kettmanns Anliegen weiter. Nach einigen Wochen folgte die Antwort: „Auch wir würden es begrüßen, wenn es möglich wäre, in Holland eine Übersetzung des Werkes ‚Mein Kampf‘ herauszubringen.“7 Kurz darauf folgte die definitive Genehmigung und Kettmann konnte an die Arbeit gehen. Er war der Meinung, Glück zu haben: NSB-Kamerad Bob Zijfers, Eigentümer der Driehoek-Buchläden, die nationalsozialistische Schriften vertrieben (einer davon in der Amsterdamer Kalverstraat), wollte bei der Finanzierung helfen. Die Herstellungskosten für Papier, Druck und Bindung wurden auf 3.500 Gulden veranschlagt. Von diesem Betrag bezahlte Zijfers 1.800 Gulden, dafür sollte er 1.000 Exemplare mit einem 50%-igen Rabatt geliefert erhalten.8 Für die Übersetzung wandte sich Kettmann an L. Timmer. Wie sich herausstellte, hatte dieser, ein ehemaliger Heeresoffizier und NSB-Mitglied, bereits eine fertige Übersetzung in der Schublade. Das traf sich gut. Kettmann hatte es eilig und ließ das Werk sogleich in der NV Flakkeesche Boek- en Handelsdrukkerij (Buchund Handelsdruckerei) in Middelharnis, die bereits früher Werke für die Keurkamer gedruckt hatte, setzen. Im September 1938 wurde die Nachricht von einer niederländischen Übersetzung bekannt, als das Nieuwsblad voor den boekhandel (Nachrichtenblatt für den Buchhandel) die Meldung brachte, dass Wilhelm Bauer, Direktor des Zentralverlags der NSDAP, in einer Radiorede angekündigt habe, eine niederländi4 5 6 7 8
Für eine Biografie Kettmanns vgl. Huberts, W. S.: Schrijver tussen daad en gedachte. Leven en werken van George Kettmann Jr. (1899–1970), met een bibliografie. ’s-Gravenhage: Stichting Bibliogr. Neerlandica 1987. Vgl. Groeneveld, Zwaard, S. 59. Ebd., S. 59. Ebd., S. 59–60 (im Original deutsch). Vgl. ebd., S, 60.
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sche Übersetzung von Mein Kampf sei in Vorbereitung. Bei dieser Vorbereitung trat jedoch ein Problem auf: Timmers Übersetzung erwies sich als unbrauchbar und wurde vom Zentralverlag abgelehnt. Er hatte ganze Seiten einfach weggelassen. Kettmann war fassungslos, aber er hätte den Text auch selbst genauer kontrollieren können. Um die Qualität der Übersetzung hatte er sich so gut wie gar nicht gekümmert. Für diese Nachlässigkeit gab er Göbel später die folgende Erklärung: „Da wir alles daran gesetzt hatten, noch im Herbst 1938 mit dem Buch herauszukommen, hatten wir die Übersetzung Timmers nur stichprobenartig geprüft; das Manuskript als Ganzes sah sehr gut aus.“ Timmer selbst teilte er mit, wie sehr dieser ihn enttäuscht hatte: „Es ist wohl müßig, Ihnen zu sagen, wie wir diese Mitteilung aufnehmen müssen, da sich nun die Möglichkeit, mit dem beschleunigten Druck das Buch noch rechtzeitig vor dem Winter herauszubringen, gänzlich in Luft auflöst“, schrieb Kettmann an Kamerad Timmer. „Unsere Gutgläubigkeit hat uns nun in diese unangenehme Lage gebracht, während schon das gesamte Werk fertig gesetzt ist; wir werden uns nunmehr an einen anderen Übersetzer wenden.“9 Dieser andere Übersetzer bot sich rasch an: Steven Barends. Kettmann war schon früher in den Bann dieses faschistischen Dichters geraten, aus dessen Feder er 1938 den Gedichtband Viva la Muerte! und die Novelle Bruine rebellen in Oostenrijk (Braune Rebellen in Österreich) publiziert hatte. Kettmann hielt Barends für einen „wilden Mann, der dann und wann durchaus auch einmal auf mich hören wollte, halb Student, halb Vagabund, der einfach drauflos lebte und doch, mit Groninger Eigensinn, ein Mann mit Handschlagqualität war.“10 Steven Barends war ein Pseudonym. Eigentlich hieß er Samuel Barends, doch solch ein alttestamentarischer Name konnte in nationalsozialistischen Kreisen leicht als jüdisch verstanden werden und es schien ihm besser, diesen durch Steven zu ersetzen.11 Eine Zeitlang fand Barends Obdach bei der Familie Kettmann: „Bis in die Nacht hinein konnte er Gedichte rezitieren, sein Gesicht war entrückt vor lauter Gefühl, prächtig sein Ausdruck.“ Der euphorische Poet schrieb seine Verse für Viva la Muerte!, zog aber kurz darauf nach Spanien, den Kopf voll mit faschistischer Poesie und fest entschlossen, sich Francos Truppen anzuschließen.12 Zu seiner großen Enttäuschung wurde er jedoch an der Grenze aufgehalten und musste unverrichteter Dinge umkehren. Bei der Rückkehr schlug Kettmann ihm vor, Mein Kampf zu übersetzen. Er erinnerte sich an Barends’ Angebot, Übersetzungen anzufertigen: „Ich spreche vier Sprachen (inklusive meine eigene) und kann eine italienische Zeitung annähernd verstehen, doch das bedarf noch der Ergänzung. Darüber hinaus habe ich viel gelesen“, schrieb Barends in einem Brief an Kettmann.13 Barends, Nationalsozialist, „so lange er 9 10 11 12 13
Groeneveld, Zwaard, S. 60. Ebd., S. 60. Für eine biografische Skizze zu Barends vgl. Groeneveld, Gerard: Steven Barends. Querulant in fascistisch letterland. Hilversum: Flanor 1988. Vgl. Groeneveld, Barends, S. 10. Bei seinen Kameraden aus der faschistischen Bewegung „Zwart Front“ (Schwarze Front) war sein ursprünglicher Name durchaus bekannt. Er konnte äußerst gereizt reagieren, wenn jemand ihn im Scherz „Sam“ nannte. Kettmann, George: Leven in tweespalt. Nagelaten geschriften van een nationaal-socialist. Ingeleid door Louis Ferron. Bezorgd door Willem Huberts. Hilversum: Flanor 1999, S. 56. Groeneveld, Barends, S. 44.
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Gerard Groeneveld
zurückdenken kann“, ging nur zu gern auf das Angebot ein. Voll Eifer stürzte sich der 23jährige Übersetzer auf seinen Auftrag. Innerhalb von fünf Monaten hatte er das 850 Seiten dicke Werk übersetzt, dem Kettmann den Titel Mijn Kamp gab. Erst hatte der Verleger an Mijn Strijd gedacht, sich aber schlussendlich dann doch für ‚Kamp‘ entschieden14, da mit diesem Klang von vornherein jeder Zweifel ausgeschlossen war, ob man es hier tatsächlich mit „dem“ Buch Adolf Hitlers zu tun habe.15 Erneut ersuchte Kettmann den Zentralverlag um Genehmigung für die Publikation. Welche Ausgabe Barends für seine Übersetzung verwendete, ist nicht bekannt, doch der NSDAP-Verlag teilte mit, dass er keine Einwände gegen diese Übersetzung habe.16 Die Kosten waren inzwischen so angestiegen, dass Kettmann einen weiteren Geldgeber suchen musste. Über Vermittlung eines seiner Autoren, Jan Hollander, landete er bei W. O. A. Koster, einem früheren AR (Antirevolutionäre Partei)-Mitglied, Freimaurer und inzwischen Leiter der Abteilung Soziale Angelegenheiten der NSB. Zusammen mit zwei anderen NSB-Kameraden, Dekker und Paes, wollte er Kettmann bei der Herausgabe von Mijn Kamp finanziell unterstützen. Gemeinsam mit dem NSB-Juristen Robert van Genechten wurde ein Vertrag erstellt, wobei Koster Kettmann das Messer an die Kehle setzte. Der Gewinn aus der ersten Auflage wurde zwar 50:50 geteilt, doch Koster sollte bei Neuauflagen auch dann Anspruch auf ein Drittel des Gewinns haben, wenn dafür keine weitere Finanzierung nötig sein sollte. „Faktisch mussten wir also von unserer Hälfte des Gewinns die gesamten Kosten tragen (Reise- und Angebotskosten, Bürokosten, Porto, Reklame usw.). Es sah ziemlich trist aus, doch wir durften nicht riskieren, dass die Herausgabe aus irgendeinem Grund scheiterte“, schrieb Kettmann später.17 Er hielt durch. Die Flakkeesche Boek- en Handelsdrukkerij setzte Mijn Kamp in PerpetuaSchrift und druckte den Text auf Bibeldruckpapier, geliefert von der Firma Proost. Mit der Bindung wurde die Buchbinderei Gebr. Kusters zu Duivendrecht beauftragt. Format und Aussehen glichen der deutschen Ausgabe, der Umfang umfasste bei der niederländischen Ausgabe etwa 70 Seiten mehr.18 Der Schutzumschlag entsprach der deutschen Ausgabe, mit Ausnahme des Titels und des Verlagssignets der Amsterdamsche Keurkamer. Der Ladenpreis wurde mit 4,50 Gulden festgesetzt. Von diesem Betrag mussten 10 % für die Rechte an den Zentralverlag der NSDAP bezahlt werden, sodass also von jedem verkauften Exemplar 0,45 Gulden auf Hitlers Konto landeten. Am 6. Dezember 1939 lag das Werk des „Führers aller Germa14 15 16
17 18
„Strijd“ ist das gebräuchliche Wort für „Kampf, Streit“, hingegen wird „kamp“ hauptsächlich in der Bedeutung „Lager“ verwendet, es kann zwar auch als Synonym für „strijd“ dienen, ist jedoch in dieser zweiten Bedeutung veraltet (Anm. der Übersetzerin). Vgl. Groeneveld, Zwaard, S. 60–61. Vgl. ebd., S. 61. M. C. van den Toorn zitiert sowohl aus einer Ausgabe von Mein Kampf aus 1939 als auch aus der niederländische Fassung Mijn Kamp aus demselben Jahr (vgl. Toorn, M. C. van den: Wij melden u den nieuwen tijd. Een beschouwing van het woordgebruik van de Nederlandse nationaal-socialisten. ’s-Gravenhage: SDU 1991). Groeneveld, Zwaard, S. 61. Es wird angenommen, dass Kettmann der aktuellsten, also der Ausgabe von 1938 folgte – die deutsche Ausgabe zählte 782 und die niederländische 852 Seiten.
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nen“ endlich in den niederländischen Buchhandlungen. Mijn Kamp schlug wie eine Bombe ein. Bereits am Erscheinungstag war die erste Auflage (3.000 Exemplare) ausverkauft.19 Kettmann nützte diesen Erfolg sofort, um noch im selben Monat im Nieuwsblad voor den boekhandel eine zweite Auflage anzukündigen, die ebenfalls im Dezember aus der Druckerpresse kam, diesmal in einer Höhe von 7.000 Stück. Auch in den eigenen Kreisen wurde wiederholt für das Buch Reklame gemacht, so etwa im NSB-Wochenblatt Volk en Vaderland (Volk und Vaterland). Bis Mai 1940 hatte De Amsterdamsche Keurkamer auch diese Auflage abgesetzt. Während der Besatzungszeit sollte die Nachfrage nach Mijn Kamp noch weiter steigen. Kettmann hatte die Flakkeesche Boek- en Handelsdrukkerij bereits Anfang 1940 mit einer dritten Auflage beauftragt, nun in einer Höhe von 15.000 Exemplaren. Als diese im Oktober noch immer nicht geliefert werden konnte, beendete Kettmann seine Beziehung zur Druckerei aus Middelharnis. Beide Parteien einigten sich darauf, dass Mijn Kamp fortan in der Druckerei Thieme in Nijmegen gedruckt werden solle. So geschah es auch. Die dritte und alle weiteren Auflagen wurden von Thieme geliefert, der Bleisatz dafür wurde in einem Lastwagen von Middelharnis nach Nijmegen transportiert.20 Ende 1940 konnte die dritte Auflage erscheinen. Die niederländische Ausgabe von Hitlers Buch sollte insgesamt sechs Auflagen mit 110.000 Exemplaren erleben. Darüber hinaus erschienen für den belgischen Markt eine „Sonderausgabe“ mit 10.000 Stück und eine Volksausgabe mit 30.000 Exemplaren.21 Bei der sechsten und letzten niederländischen Ausgabe im Jahr 1944 änderte Kettmann den niederländischen Titel auf Mein Kampf, gefolgt von dem in Klammern gesetzten Vermerk Nederlandsche uitgave (Niederländische Ausgabe), um zu verdeutlichen, dass es sich nicht um eine deutsche Ausgabe handelte. Die niederländische Übersetzung von Hitlers Buch erwies sich als ein regelrechter Bestseller und war für De Amsterdamsche Keurkamer das wichtigste Zugpferd, das das Überleben des Verlags sicherte.22 19 20 21 22
Vgl. Groeneveld, Zwaard, S. 61. Vgl. ebd., S. 64. Vgl. Groeneveld, boeken, S. 69. Kettmann selbst nennt in Leven in tweespalt (S. 149) eine Gesamtauflage von 120.000 Exemplaren. Dies galt jedenfalls bis September 1944. Dann beantragten einige Gläubiger, allen voran der Papiergroßhandel N. V. Van Gelder & Zonen in Amsterdam, den Konkurs des Verlages. Kettmann selbst war ab Oktober 1942 nicht mehr imstande, den Verlag erfolgreich zu leiten. Er war im selben Jahr der niederländischen SS beigetreten, polemisierte im antisemitischen Wochenblatt De Misthoorn (Das Nebelhorn) gegen Mitglieder der NSB und wurde von Mussert aus der NSB ausgeschlossen. Kettmann zog als SS-Kriegsberichter an die Ostfront und berichtete als Funkberichter aus dem finnischen Karelien. Dank finanzieller Hilfe des SS-Hauptamts, das sich bereit erklärte, seinen gesamten Büchervorrat aufzukaufen, konnte er den drohenden Konkurs abwenden. Herausgegeben wurde nichts mehr. Nach dem Krieg wurde Kettmann zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. In der Haft schmiedete er noch Pläne, mit seinem Verlag neu durchzustarten, doch seine Frau und Teilhaberin verweigerte ihre Zustimmung. Sie sorgte erfolgreich dafür, dass über De Amsterdamsche Keurkamer 1951 neuerlich Konkurs eröffnet wurde. Am 17.6.1952 fiel für den Verlag endgültig der Vorhang. Bemerkenswert ist, dass sich auch der Übersetzer Steven Barends radikalisierte und aus der NSB ausgeschlossen wurde. Auch er landete im April 1944 als SS-Kriegsberichter bei der SS-Standarte „Kurt Eggers“.
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Gerard Groeneveld
Zwei Dinge überschatteten den Erfolg, den De Amsterdamsche Keurkamer mit der Herausgabe von Mein Kampf verbuchen konnte. Erstens beanspruchte Geldgeber Koster den Gewinn, der ihm gemäß der Vereinbarung zustand. Kettmann war bereit, sich bei der ersten Auflage daran zu halten, doch für die nachfolgenden Auflagen könne Koster seiner Meinung nach keinen Anspruch auf den Gewinn erheben. Der hohe NSB-Funktionär gab sich damit nicht zufrieden und die Angelegenheit zog sich bis 1942, als der deutsche Sicherheitsdienst (SD) sich für die Sache zu interessieren begann. Listig erwähnte Kettmann in einem Bericht, dass Koster Freimaurer sei und aus der Finanzierung der niederländischen Übersetzung von Mein Kampf Gewinn ziehe.23 Ein derartiger „Kapitalistenschwindel“ mit Hitlers Buch war nicht zu tolerieren, fand der SD. Vermutlich gab Koster damals klein bei, denn er kam nie mehr auf die Angelegenheit zurück. Das andere Problem stand mit dem Übersetzer in Zusammenhang. Barends hatte seinerzeit mit der Übersetzung auf Basis eines „gentlemen’s agreement“ begonnen. Dass er nach dem Verkauf der Auflage ein Honorar erhalten sollte, stand fest. Die beiden befreundeten Autoren hielten es jedoch nicht für nötig, die Vereinbarung schriftlich festzuhalten. „Dass wir uns mit dieser Ausgabe – auch beim Buchhandel – Feinde machen würden, war vorherzusehen: allein schon darum war es schwierig abzuschätzen, wie viel Geld wir für die Übersetzung würden bezahlen können“, schrieb Kettmann in einer Erklärung.24 Später änderte Barends seine Meinung und wollte nachträglich doch noch einen Vertrag. Im Mai 1939 hatte er nämlich die Antiquariatstochter Truus Pfann kennengelernt und wollte sie heiraten. Um dies tun zu können, musste er seinen Schwiegervater, von dem er das Antiquariat „In dat Boec van Merlijn“ am Amsterdamer Grimburgwal übernehmen sollte, davon überzeugen, dass er imstande war, für den Lebensunterhalt zu sorgen – dafür benötigte er einen Vertrag. Außerdem wollte er von seinem eigenen Vater, mit dem er sich wegen seiner Mitgliedschaft bei der Zwart Front überworfen hatte, Geld borgen, um die Buchhandlung Pfanns zu übernehmen. Mit einem Übersetzungsvertrag in der Tasche könnte er seinem Vater gegenüber beweisen, kein Nichtsnutz zu sein und künftig seinen Unterhalt sehr wohl selbst bestreiten zu können. Kettmann wies Barends darauf hin, dass es relativ unüblich sei, mit Übersetzern eine Tantiemenregelung zu treffen. Doch Barends schob diesen Einwand beiseite. Seiner Ansicht nach war der Vertrag lediglich für den internen Gebrauch. Widerwillig stimmte Kettmann zu. Verleger und Übersetzer vereinbarten, dass Barends für die erste Auflage 0,135 Gulden pro verkauftem Exemplar und für weitere Auflagen 0,315 Gulden erhalten solle.25 Der Vertrag hatte für Barends die beabsichtigte Wirkung. Im Oktober 1939 schloss er mit Truus Pfann den Bund der Ehe. Zur großen Überraschung seines
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Nach dem Krieg floh er nach Deutschland. Vgl. dazu: Groeneveld, boeken, S. 134–135 und Groeneveld, Barends, S. 60–61. Zur Kriegsberichterstattung von Kettmann und Barends vgl. Groeneveld, Gerard: Kriegsberichter. Nederlandse SS-oorlogsverslaggevers 1941–1945. Nijmegen: Vantilt 2004. Vgl. Groeneveld, Zwaard, S. 64. Ebd., S. 64. Vgl. ebd., S. 65.
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Verlegers erklärte er kurze Zeit später den „internen“ Vertrag für rechtsgültig. Kettmann wollte einer lebenslangen Zahlungsverpflichtung aus dem Weg gehen und versuchte, ihm mit einem einmaligen Betrag die Übersetzungsrechte abzukaufen. Es folgte ein langes finanzielles Tauziehen, das schließlich im November 1943 vom Reichskommissariat beigelegt wurde. Kettmann musste den für eine Übersetzung in jenen Tagen enormen Betrag von 3.600 Gulden bezahlen. In einem Brief an De Amsterdamsche Keurkamer schrieb Barends: „Hiermit ist dann fürderhin die Angelegenheit der Übersetzung von ‚Mein Kampf‘ meinerseits definitiv erledigt. Nach Bezahlung dieses Betrages habe ich keinen weiteren Anspruch mehr.“26 Wie reagierte man in den Niederlanden auf die Übersetzung von Mein Kampf? In der Presse blieb es auffallend still. Am 13. Dezember 1939 erschien in der katholischen Tageszeitung De Tijd eine maßgebliche Besprechung der Übersetzung aus der Feder des in Deutschland geborenen Jop Pollmann, der 1935 über die niederländische Nationalhymne promoviert hatte. Pollmann fällt ein vernichtendes Urteil über Barends’ Übersetzungsarbeit und nennt die Übersetzung „unzuverlässig“. Einen minutiösen, erschöpfenden Vergleich zwischen dem deutschen und dem niederländischen Text stellt er nicht an, er beschränkt sich vielmehr auf „diejenigen Teile, welche der Führer selbst für so wichtig hielt, dass er sie gesperrt drucken ließ“, und auf einige Abschnitte (u. a. über Polen), die ihm aufgrund ihrer Aktualität wesentlich erschienen. Der niederländische Text ist jener der ersten Ausgabe, dem Pollmann die deutsche „Ungekürzte Ausgabe“ aus 1938 gegenüberstellt. Zu Beginn erwähnt er einige in seinen Augen „nicht allzu gravierende“ Fehler. So steht im niederländischen Text auf S. 530 über den „völkischen Staat“: „Er hat die Aufgabe, den Einfluss einer bestehenden Gesellschaftsklasse zu unterstützen und zu wahren.“ Hier ist das Wörtchen „nicht“ weggefallen. „Bedenklicher wird es“, so Pollmann, „wenn wir konstatieren, dass nicht nur die Originalabsätze willkürlich getrennt oder zusammengefügt wurden und der Übersetzer anscheinend kein Gefühl für den rhetorischen Stil des Autors hatte, sodass er unzählige Male Wiederholungen und Pleonasmen beseitigte: manchmal erkennen wir den ursprünglichen Stil kaum noch wieder, und auch hier charakterisiert der Stil den Menschen.“ Auf S. 704 des Originals schreibt Hitler über das Zusammenfallen von jüdischen und französischen Interessen: „Allein, gerade in dieser Identität liegt eine immense Gefahr für Deutschland“, dieser Satz wurde von Barends weggelassen. Ein anderer Kritikpunkt gilt der Kursivsetzung, bei der die niederländische Ausgabe wiederholt vom deutschen Text abweicht. Pollmann führt dafür verschiedene Beispiele an und vertritt die Meinung, dass diese Textteile dem Auge eines weniger sorgfältigen Lesers entzogen würden. So nennt er etwa die kursiv gesetzte Passage über die soziale Ungleichheit auf S. 24 des deutschen Textes, die auf S. 24 der niederländischen Ausgabe ohne Kursivsetzung bleibt. Das Zitat auf S. 127 der deutschen Ausgabe, in dem Hitler darlegt, dass die religiösen Lehren und Einrichtungen seines Volkes dem politischen Führer immer unantastbar sein müssen, ist im niederländischen Text (S. 134–135) gleichfalls nicht kursiv gedruckt. Im Abschnitt über die Notwendigkeit der Gebietserweiterung (im deutschen Text auf S. 149, im 26
Groeneveld, Zwaard, S. 65.
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Gerard Groeneveld
niederländischen auf S. 158–159) ist merkwürdigerweise der erste Satz kursiv, während er im deutschen Text wie auch der Rest des Absatzes nicht kursiv steht. Dasselbe gilt für den Begriff der „gleichen Sprache“ innerhalb des Staates auf S. 427 im deutschen Text bzw. auf S. 474 der niederländischen Ausgabe. Der erste Satz der Textstelle, in der Hitler ausführt, dass sich der völkische Staat erst in zweiter Linie mit der Bildung des Charakters zu befassen habe (S. 460 im deutschen Text), erhielt in der niederländischen Übersetzung (S. 509) keine Kursivsetzung. Im Folgenden nennt Pollmann weitere derartige Beispiele, u. a. in den Abschnitten über die Blüte von Handel und Technik (niederländischer Text S. 521, deutscher S. 470); über die Leugnung des Erfolges jeglicher Koalition (niederländischer Text S. 638, deutscher S. 578); über die Beseitigung sogenannter Landesverräter (niederländischer Text S. 672, deutscher S. 610); über den Kampf zwischen Katholizismus und Protestantismus und die Rolle der Juden dabei (niederländischer Text S. 692, deutscher S. 629); über nationalsozialistische Gewerkschaften (niederländischer Text S. 736 und 742, deutscher S. 672 und 678). Der Rezensent verweist auch auf gegenteilige Beispiele: Wörter, die im deutschen Text nicht kursiv gesetzt sind, sind es im niederländischen hingegen sehr wohl, beispielsweise im Abschnitt über Pazifismus und Objektivität (niederländischer Text S. 129–130, deutscher S. 122) und über die frühe Heirat (niederländischer Text S. 303, deutscher S. 276), die Hitler für „richtig“ hält, die aber von Barends in Kursivschrift „gut, richtig und günstig“ genannt wird. Während der Übersetzer hier Wörter hinzufügt, lässt er an anderen Stellen Wörter weg – Pollmann nennt den Wegfall des Wortes „mit“ (niederländischer Text S. 35, deutscher S. 34) im Satz „Die Frage der ‚Nationalisierung‘ eines Volkes ist mit in erster Linie eine Frage der Schaffung gesunder sozialer Verhältnisse“. Ein anderes Beispiel betrifft das Weglassen des Wortes „freien“ im Satz: „Dem steht gegenüber die wahrhaftige germanische Demokratie der freien Wahl des Führers“ (S. 99). Bei Barends wird dies zu: „Dem gegenüber steht die wahrhaftige germanische Demokratie, wobei der Führer gewählt wird“ (S. 104). Zum Thema Rassenhygiene und Heirat zitiert Pollmann den Satz, in dem Hitler die vom Staat zu treffenden Maßnahmen beschreibt, um eine erbliche Weitergabe von Gebrechen zu verhindern: „Er hat die modernsten ärztlichen Hilfsmittel in den Dienst dieser Erkenntnis zu stellen“ (S. 447). Barends ließ das Adjektiv „ärztlichen“ weg und machte daraus: „Er muss die modernsten Hilfsmittel in den Dienst dieser Idee stellen“ (S. 496). „Damit wird dem Leser verschwiegen“, so Pollmann, „dass diese Maßnahmen aus medizinisch-operativen Eingriffen bestehen.“ In der Passage, in der Hitler seinen Staatsbegriff entfaltet, steht im deutschen Text, dass es kein Parlament mehr geben werde, „nur Beratungskörper, die dem jeweilig gewählten Führer zur Seite stehen“ (S. 501). Hier hat der Übersetzer das Wort „jeweilig“ weggelassen, was der Rezensent als Beweis sieht, dass Barends Hitlers Plan, regelmäßige Wahlen abzuhalten, verschleiern möchte. Er übersetzt diese Stelle mit: „umfasst nur beratende Körperschaften, welche dem gewählten Führer zur Seite stehen“ (S. 555–556). Über das Fundament der Macht schreibt Hitler in seinem Buch: „In der Macht also, in der Gewalt, sehen wir die zweite Grundlage jeder Autorität“ (S. 579). Hier lässt Barends „in der Gewalt“ weg. Seine Übersetzung lautet: „Wir sehen also, dass Macht die zweite Grundlage
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jeder Autorität bildet.“ (S. 639). Der Rezensent schließt diese Aufzählung von Auslassungen mit einer Stelle über die SA (Sturmabteilung). Hitler brauchte nicht einoder zweihundert verwegene Verschwörer, „sondern hunderttausend und aber hunderttausend fanatische Kämpfer für unsere Weltanschauung“ (S. 608), was von Barends übersetzt wurde mit: „sondern hunderttausend Kämpfer für unsere Weltanschauung“ (S. 670). Neben der Auslassung von Wörtern und Satzteilen fiel Pollmann auch auf, dass Barends selbst Wörter hinzufügte. So schreibt Hitler, dass im völkischen Staat „Menschen ihre Sorge nicht mehr in der Höherzüchtung von Hunden, Pferden und Katzen erblicken, sondern im Emporheben des Menschen selbst“ (S. 449). Der niederländischen Ausgabe zufolge können die Menschen die Tierzucht auch weiterhin betreiben: „[…] die Menschen sich nicht nur darum sorgen, wie sie durch Zuchtwahl höhere und reinere Rassehunde, -pferde und -katzen erhalten können, sondern auch, wie sie den Menschen selbst erheben können“ (S. 498). Noch ein Beispiel Pollmanns, der ein scharfes Auge für den Glauben, insbesondere auf den Katholizismus oder Katholiken betreffende Passagen hat: Gegen Ende seines Buches schreibt Hitler: „Daß man ein Volk nicht durch Beten frei macht, weiß man im allgemeinen“ (S. 777), Barends übersetzt dies mit: „Dass man ein Volk nicht durch Beten allein befreien kann, weiß man im allgemeinen durchaus“ (S. 846). Auch zahllose falsch übersetzte Wörter erregten Pollmanns Unwillen. „Soll“ wurde „will“ (in beiden Ausgaben auf S. 24), „zurückgedrängt“ (S. 155) wurde „unterdrückt und verdrängt“ (S. 165). Wenn Hitler über die Anwendung von „roher Gewalt“ spricht, um „Weltanschauungen“ (S. 186, von Hitler zwischen Anführungszeichen gesetzt) zu bekämpfen, spezifiziert er diese „Machtmittel technischer Art“ als „körperliche Waffen“. Barends lässt die letzten beiden Wörter weg. Pollmann erwähnt auch die Beschreibung der katholischen Kirche anhand der Eigenschaft „geistige Schmiegsamkeit“ (S. 481), die vom Übersetzer mit „von so lebendigem Geiste“ (S. 532) abgeschwächt wird. „Militärpolitisch“ (S. 728) und „militärgeographisch“ (S. 736) setzt Barends um in „strategisch“ (S. 793 und S. 802) und bringt damit die Nuancierung zum Verschwinden. Der Rezensent bringt im Folgenden noch eine kleine Blütenlese von (in seinen Augen) „Textverstümmelungen“. Seiner Ansicht nach habe es der Leser keineswegs mit einem „dummen“ Übersetzer zu tun, dies illustriert er mit zwei Zitaten: „Es konnte in den Reihen unserer Bewegung der gläubigste Protestant neben dem gläubigsten Katholiken stehen [bei Hitler „sitzen“, hier zitiert Pollmann also nicht korrekt], ohne je in den geringsten Gewissenskonflikt mit seiner religiösen Überzeugung geraten zu müssen“ (S. 632). Barends übernimmt die subtile Stelle mit dem „Gewissenskonflikt“ nicht: „In den Reihen unserer Bewegung konnten die gläubigsten Protestanten neben den gläubigsten Katholiken sitzen, ohne je auf irgendeine Weise zu ihrer religiösen Überzeugung in Widerspruch geraten zu müssen“ (S. 696). Das von Hitler angeführte Gebet: „Allmächtiger Gott, segne dereinst unsere Waffen; sei so gerecht, wie du es immer warst; urteile jetzt, ob wir die Freiheit nun verdienen; Herr, segne unseren Kampf!“ (S. 715) wird übersetzt mit: „Allmächtiger Gott, segne alsbald unsere Waffen; sei so gerecht, wie du es immer warst; urteile jetzt von neuem, ob wir unserer Freiheit nun würdig sind, und verurteile uns nicht; Herr, segne unseren Kampf!“ (S. 780).
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Zum Abschluss noch ein Zitat, in dem Hitler den geringen Umfang des deutschen Staatsgebiets beklagt: „Was bedeutet heute auf dem Planeten ein Gebilde, das in seinem Verhältnis von Volkszahl zur Grundfläche so jämmerlich beschaffen ist wie das derzeitige Deutsche Reich? In einem Zeitalter, in dem allmählich die Erde in den Besitz von Staaten aufgeteilt wird, von denen manche selbst nahezu Kontinente umspannen, kann man nicht von Weltmacht bei einem Gebilde reden, dessen politisches Mutterland auf die lächerliche Grundfläche von kaum fünfhunderttausend Quadratkilometer beschränkt ist“ (S. 729). Dieser Passage wird Barends nicht gerecht: „Was bedeutet heute auf unserer Erde ein Staat, dessen politisches Territorium auf die lächerlich geringe Größe von kaum fünfmal hunderttausend Quadratkilometer beschränkt ist?“ (S. 795). Pollmann: „Zum wiederholten Male wird der aus Hitlers Buch so deutlich sprechende Ausbreitungsdrang für den Niederländer, soweit dies nur irgendwie möglich ist, verschleiert.“ Es sind Beispiele dieser Art, die Pollmann zu seinem unerbitterlichen Urteil führen: „Wenn wir Hitlers ‚Mein Kampf‘ auf den Inhalt prüfen, kann der Wert des Buches seit einiger Zeit nur noch als ein – wenn auch ein wichtiger – historischer bezeichnet werden. Diese Übersetzung suggeriert jedoch, was nicht dort steht, und lässt das, was dort steht, weg. Sie tut dies, wie ich denke, jedoch nicht völlig willkürlich: die Änderungen scheinen fast ausnahmslos in eine bestimmte Richtung zu weisen. Der Übersetzer ist kein Dummkopf: bei vielen großen sprachlichen Schwierigkeiten weiß er sich immer wieder zu helfen; doch gerade das macht uns stutzig. Meine Kritik an der Übersetzung betraf nur einige Passagen; doch kaum eine wichtige von mir kontrollierte Seite konnte einer gründlichen Prüfung standhalten. Und selbst wenn die hunderten Seiten, die ich nicht kontrolliert habe, wirklich viel besser wären als die paar hundert, die ich verglichen habe, ist es immer noch Besorgnis erregend, weil es hier zum Großteil um die durch Kursivsetzung sofort ins Auge springenden Teile ging. Hitler hat sein Werk mehrmals selbst verändert; darum habe ich die Übersetzung mit der neuesten Ausgabe von 1938 verglichen. Jeder Niederländer soll dieses Produkt ablehnen; ein Autor darf sein eigenes Werk abändern: dem Übersetzer verwehren wir dieses Recht, vor allem bei diesem Buch in dieser Zeit.“ Den Beobachtungen Pollmanns zufolge schimmere Barends’ Parteilichkeit durch die Übersetzung hindurch. Sein vernichtendes Urteil blieb nicht ohne Folgen für Mijn Kamp. Der Kritiker stand in engem Kontakt mit dem Informatie Dienst Inzake Lectuur (IDIL), dem Beratungsdienst für katholische Buchhändler und Bibliotheken. Der IDIL klassifizierte Mijn Kamp als D, womit das Buch als für Katholiken ungeeignet erachtet wurde. Kettmann tobte. Er warf der Organisation „politischen Katholizismus“ vor und fand, dass Pollmann in seiner Kritik überall ein Haar in der Suppe suchte.27 Der Verleger befürchtete nicht ganz zu Unrecht einen viel geringeren Absatz im katholischen Teil der Bevölkerung, wenn eine einflussreiche Instanz wie der IDIL oder eine Person wie Pollmann ein negatives Urteil über eines seiner Bücher abgab. Damit sollte er Recht behalten, denn einige katholische Buchhändler aus Brabant retournierten ihre bestellten Exemplare im Anschluss an Poll27
Vgl. Groeneveld, Zwaard, S. 62.
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manns Rezension.28 Später wurde die Einstufung nachträglich doch noch auf C geändert, sodass das Buch doch in Bibliotheken aufgenommen und an katholische Buchhändler verkauft werden durfte. Nach Pollmann hat in den Niederlanden niemand mehr die Barends-Übersetzung von Mein Kampf durchleuchtet. Wohl aber ertappte der Sprachwissenschaftler M. C. van den Toorn 1991 in seiner Studie über den Sprachgebrauch der niederländischen Nationalsozialisten den Übersetzer bei einigen Unregelmäßigkeiten. Auch er konstatierte, dass der Übersetzer Barends Hitler ab und zu Worte in den Mund legte, beispielsweise auf S. 474, wo Barends den Satzteil „besonders in denen unserer liberalen Demokratie“ (S. 427) mit „besonders in dessen demo-liberalem Teil“ übersetzte.29 Mit dem Präfix „demo-“ bescherte der Übersetzer Hitler eine kostenlose Zugabe. Auf S. 195 übersetzte Barends das Wort „Politiker“ mit „politiekeling“ (Politfuchs)30: „Ja, ich hasste damals all diese ‚Politfüchse‘“, während in der deutschen Fassung „Ja, ich hasste damals alle diese ‚Politiker‘“ (S. 182) steht.31 Wer möchte, kann auch Abschwächungen an Stellen finden, in denen Barends selbst in die Rolle des Zensors schlüpft. In der prägnanten Passage, in der Hitler darlegt, was ihn zum Antisemiten machte, schreibt er unter anderem: „Gab es denn da einen Unrat, eine Schamlosigkeit in irgendeiner Form, vor allem des kulturellen Lebens, an der nicht wenigstens ein Jude beteiligt gewesen wäre? Sowie man nur vorsichtig in eine solche Geschwulst hineinschnitt, fand man, wie die Made im faulenden Leibe, oft ganz geblendet vom plötzlichen Lichte, ein Jüdlein“ (S. 61). Barends schwächt das Bild einer „Made im faulenden Leibe“ ab und ersetzt es durch „die Made im faulenden Holz“: „Gab es denn eigentlich etwas Schmutziges, eine Schamlosigkeit, in welcher Form auch immer, vor allem auf kulturellem Gebiet, an der nicht wenigstens ein Jude mitgewirkt hatte? Und wenn man jetzt nur vorsichtig in eine solche Geschwulst schnitt, fand man, wie die Made im faulenden Holz, ein Jüdlein, das oft noch mit geblendeten Augen in das plötzliche Licht zwinkerte“ (S. 63). Doch es gab nicht nur Kritik, es kamen auch Komplimente. So zollte der als Journalist tätige W. R. C. Baron van Boetzelaar in einem Brief vom 18. April 1940 dem Verleger Kettmann umfassendes Lob für die Übersetzung von Mein Kampf: „Rein äußerlich schon stellt die Ausgabe ein Juwel der Buchdruckkunst dar, aber auch der Inhalt ist tadellos ausgeführt. […] Dem Übersetzer Steven Barends erweise ich daher auch gerne alle Ehre für seine äußerst sorgfältige Übertragung. Bei der Lektüre der niederländischen Ausgabe hatte ich stets die deutsche, die ich vor einigen Jahren schon einmal durchgearbeitet hatte, zur Hand. Wiederholt konnte ich daher konstatieren, mit welcher Sorgfalt ein Gedanke, der nicht direkt übersetzt werden konnte, in unserer Sprache wiedergegeben wurde. Nirgends konnte ich ei28 29 30 31
Vgl. Groeneveld, Zwaard, S. 62. Toorn, tijd, S. 81; vgl. Anm. 16. Das Wort „politiekeling“ bezeichnet einen Politiker, der sehr schlau, listig und berechnend vorgeht. Historisch ein vor allem von der NSB für Gegner des Faschismus bzw. Nationalsozialismus verwendeter Ausdruck (Anm. d. Übersetzerin). Toorn, tijd, S. 203.
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nen Fehler finden. […] Ein besseres Mittel zur Förderung einer korrekten Vorstellung von den Grundsätzen der NSDAP als das Studium dieser prächtigen Ausgabe der Amsterdamsche Keurkamer ist kaum denkbar.“32 Die schmeichelnden Worte des Barons waren für Kettmann eine großartige Gratiswerbung, von der er gerne Gebrauch machte. Er druckte den Brief als Anhang in der Broschüre Het verraad der NSB (Der Verrat der NSB) von Jan Hollander (1940) ab, neben einem Inserat für die mittlerweile dritte Auflage von Mijn Kamp. Auch dem libertär-sozialistischen Wochenblatt De Arbeider (Der Arbeiter) war das Erscheinen der niederländischen Übersetzung nicht entgangen, doch das Blatt erachtete Inhalt und Bedeutung als relevanter für die Leser als die Qualität der Übersetzung. „Hitler ist nun das Oberhaupt eines befreundeten Staates, und würde ich nun schreiben und meine Gegner nennen, wie es Hitler im Buch getan hat, dann würde ich hier der Justiz übergeben werden“, schrieb das Blatt 1940 in der 7. Nummer. „Ist Hitler ein tiefsinniger Denker, ein Philosoph, ein Schöpfer neuer Ideen? Nein, ein Realist, ein Mann des Augenblicks. […] Und bringt Hitler etwas Neues? Er sagt: ‚eine neue Weltanschauung‘. Die ‚Rasse‘, der Wille der natürlichen Rasse, für den die Vorsehung den Deutschen ausersehen hat, um es auf der ganzen Welt in Ordnung zu bringen. Und sie haben in Deutschland wirklich auf ihre Weise mit der ‚Rassensäuberung‘ begonnen, doch wer die Geschichte kennt, weiß, dass die Rasse sehr unsauber ist.“33 Es war naheliegend, dass die NSB-Wochenzeitung Volk en Vaderland, der Kettmann als Chefredakteur und Mitarbeiter angehörte, die niederländische Übersetzung freudig begrüßte, deren großes Verdienst nach Ansicht des Parteiorgans darin lag, dass der niederländische Arbeiter nun mit dem Buch in der Hand Wahrheit und Lüge unterscheiden könne.34 De Keurkamer sollte regelmäßig in Volk en Vaderland für Mijn Kamp werben, wobei die Arbeiter die wichtigste Zielgruppe darstellten. „Es ist notwendig, dass jeder niederländische Arbeiter Mijn Kamp, das Werk des großen Arbeiters Adolf Hitler, kennenlernt“, lautet ein Reklametext in Volk en vaderland aus 1941.35 Mit Hitlers Buch sollten die niederländische Arbeiter zur Einsicht kommen, dass sie jahrelang von „eigennützigen Parteipolitikern“ irregeführt worden waren. Auch für die Tatsache, dass das Buch für manch einen Arbeiter schlichtweg zu teuer war, hatte Volk en Vaderland eine Lösung, denn „sollte man einstweilen das Geld nicht entbehren können, so gibt es überall Leihbüchereien, die Mijn Kamp für wenig Geld verleihen. Wenn wir diese Methode auch nicht begrüßen, so ist es doch besser, das Buch dann eben als Leihexemplar zu lesen oder es von einem Freund zu borgen, als darauf gänzlich zu verzichten, als würde die historische Sendung des Nationalsozialismus sich nicht von Tag zu Tag deutlicher abzeichnen.“36 Dank der Notizen von C. Fastré, Repräsentant der Amsterdamsche Keurkamer in Zwolle, sind auch einige Reaktionen von Buchhändlern in den östlichen Provin32 33 34 35 36
Groeneveld, Zwaard, S. 63. Groeneveld, Zwaard, S. 62. Vgl. ebd., S. 62. Vgl. ebd., S. 62. Ebd., S. 62–63.
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zen erhalten geblieben.37 Im Ort Heerde bekam er zu hören: „Mijn Kamp? Ja, das habe ich in der Bibliothek. Zum Verkauf ausstellen? Auf dem Ladentisch? Im Schaufenster? Mann, Sie sind wohl nicht gescheit. Die Bauern hier würden mich zu Brei schlagen.“ In Raalte hingegen schlug der Bibliothekar der Leihbücherei einen anderen Ton an: „Ah, Mijn Kamp. Muss ich unbedingt haben. Das Buch wird hier in meiner Bibliothek nachgefragt. Tja, man muss etwas für seine Leute tun.“ Zwei Reaktionen zeichnete Fastré in Apeldoorn auf: „Natürlich, neu herausgekommene Bücher müssen wir vorrätig haben. Doch es ist so ruhig, dass ich diesmal doch lieber bis zum Herbst warte. Und dann, mit dieser Lektüre muss ich äußerst vorsichtig sein, wenn ich Unannehmlichkeiten mit meinen Kunden vermeiden will.“ Der zweite Buchhändler war etwas zugänglicher: „Mijn Kamp habe ich in der Bibliothek. Das Buch steht nie im Regal. Ob ich das Buch verkaufen könne? Sicher, Ihre Ausgaben sehr gut sogar. Es besteht Nachfrage danach. Aber … ich bin kein autorisierter Buchhändler.“ Ein Fachkollege aus Deventer nahm zwar einige Exemplare ab, doch das Publikum durfte hinterher nicht merken, dass er eine solche Schrift stärker in den Vordergrund rückte. Ein anderer Kollege aus derselben Stadt machte hingegen aus seinem Herzen keine Mördergrube und ließ den Vertreter freimütig wissen: „Wenn unsere Regierung demnächst wieder zurück ist und die Moffen wieder weg sind, dann werdet ihr hängen.“38 Auch ein Buchhändler aus Kampen äußerte sich kurz und unverblümt: „Nein, jetzt nicht und niemals.“ Im Vorwort von Mijn Kampf tat Hitler selbst kund, für wen er sein Buch geschrieben hatte: „Ich wende mich dabei mit diesem Werk nicht an Fremde, sondern an diejenigen Anhänger der Bewegung, die mit dem Herzen ihr angehören und deren Verstand nun nach innigerer Aufklärung strebt.“ Er predigte also vor der eigenen Gemeinde. Auch unter den Nationalsozialisten in den Niederlanden fanden die Worte des Führers Resonanz, etwa bei der niederländischen SS. Im November 1940, kurz nach der Gründung, schrieb deren Anführer J. H. Feldmeijer in einem Rundschreiben: „Die lokalen Leiter müssen sich eingehend mit dem Programm der NSB, mit den Quellen des Nationalsozialismus und mit dem Buch ‚Mein Kampf‘ von Adolf Hitler befassen, das demnächst jedem lokalen Leiter zugesandt wird. Das Buch wurde ins Niederländische übersetzt und ist daher für jeden verständlich. Ich erwarte, dass jeder sich mit dem nationalsozialistischen Gedankengut so vertraut macht und es so gründlich studiert, dass es für jedermann eine Waffe in dem schweren politischen Kampf darstellt, in dem wir uns in diesem Augenblick befinden.“39 In der Januarnummer 1942 machten die Vormingsbladen der Nederlandsche SS (Bildungsblätter der niederländischen SS) nachdrücklich auf das Buch aufmerksam: „Wir möchten darin [d. i. in Mein Kampf] 37 38 39
Aussagen von Buchhändlern, in: NIOD Amsterdam, Doc II-772, U31a. Die Datierung ist nicht bekannt, aber aufgrund der Aussage eines Buchhändlers aus Deventer stammen sie auf jeden Fall aus der Besatzungszeit (1940–1945). Der Begriff „Moffen“ war in den Niederlanden ein Schimpfwort für Deutsche und war in der Zeit des Zweiten Weltkriegs ein Synonym für Nazi (Anm. d. Übersetzerin). Etten, H. W. van: De Nederlandsche SS [unveröffentlichtes Typoskript], S. 51–52, in: NIOD Amsterdam, Doc I, H. W. van Etten.
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über seinen vorausschauenden Blick, seinen genialen Einblick, sein Verständnis von den im Germanentum schlummernden Möglichkeiten lesen und damit unser Verständnis vertiefen. Die Vormingsbladen möchten darum in diesem Jahr regelmäßig jeweils zwei Stellen aus Mein Kampf zur Lektüre vorstellen, die Kernsätze daraus erläutern und die unbekannten Wörter erklären.“ Trotz der niederländischen Übersetzung erwies sich das rund 800 Seiten starke Buch als schwere und oft unzugängliche Kost, selbst für überzeugte niederländische Nationalsozialisten. M. W. Neumann versuchte, mit einer Zusammenfassung der wesentlichen Punkte in der Broschüre Wat iedere NSB’er van „Mein Kampf“ moet weten (Was jedes NSB-Mitglied von „Mein Kampf“ wissen muss) dieses Hindernis zu beseitigen.40 „Es ist erschütternd, dass kaum ein Niederländer den Versuch macht, etwas von den geistigen Veränderungen zu verstehen, die durch den Nationalsozialismus wie ein Wirbelwind durch Europa gehen und die eine Revolution verursachen, so ungeheuerlich, dass die Französische Revolution dagegen ein Kinderspiel ist“, schrieb Neumann in seiner Einleitung. „Glücklicherweise sind nicht alle so. Da und dort keimt der Wunsch auf, einmal etwas darüber zu lesen und zu hören, und viele, die das Neue, diesen großen Nationalsozialismus, bereits prinzipiell angenommen haben, möchten gerne mehr darüber wissen und sich weiterbilden. Ihnen stehen viele Broschüren und Bücher zur Verfügung und es versteht sich von selbst, dass sie gerne auch das Lebenswerk des Führers, sein Buch ‚Mein Kampf‘ lesen möchten, doch das ist nicht so einfach.“ Es sei zu umfangreich, und viele Themen (wie etwa interne österreichische Angelegenheiten) fänden nicht unmittelbar die Aufmerksamkeit der niederländischen Leser, meinte Neumann. Leser verloren das Interesse oder begannen nicht einmal zu lesen. Das war natürlich nicht im Sinne der Bewegung. „Es ist jedoch sehr wünschenswert, dass jeder Niederländer, der danach strebt, Nationalsozialist zu werden, ‚Mein Kampf‘ kennt. Es wird ihm in seinem Kampf eine starke Waffe sein. Denn ‚Mein Kampf‘ enthält zahllose scharfsinnige Aussagen, die jeder bei Gesprächen mit Gegnern und Sympathisanten gut gebrauchen kann.“ War das eine gute Idee? Der Gedanke, Hitlers Buch eine Bildungsrolle spielen lassen, wurde positiv aufgenommen, doch Robert van Genechten, Leiter der Bildungsabteilung der NSB, hielt Neumanns Broschüre für ungeeignet und war überzeugt, dass sie von den deutschen Stellen nicht genehmigt werden würde.41 Auch von Egbert Smith, Leiter des Dienstes Schriftliche Propaganda, wurde Neumanns Broschüre verworfen: sie sei zu sehr eine Zusammenfassung, gespickt mit eigenen Auffassungen, und enthalte zu viel Lebensbeschreibung von Hitler, dazu sei nämlich gerade die Broschüre Adolf Hitler, zijn leven, zijn werk (Adolf Hitler, sein Leben, sein Werk) in Umlauf gebracht worden.42 Außerdem sei der Band nicht übersichtlich genug. 40 41 42
Neumann, M. W., Wat iedere NSB’er van „Mein Kampf“ moet weten [unveröffentlichtes Typoskript, 1942], in: NIOD Amsterdam, NSB-Archiv, Nr. 22a. Brief von H. C. Nije, stellvertretender Leiter der Abteilung Bildung, an Propagandaleiter Ernst Voorhoeve vom 20.5.1942, in: NIOD Amsterdam, NSB-Archiv, 21d. Brief von Egbert Smith, Leiter des Dienstes Schriftliche Propaganda, an Propagandaleiter Ernst Voorhoeve vom 22.5.1942, in: NIOD Amsterdam, NSB-Archiv, 21d.
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Nichtsdestotrotz arbeitete die NSB-Propaganda mit Mijn Kamp. Am 20. August 1942 sandte Propagandaleiter Max Blokzijl seine „streng vertrauliche“ Mitteilung Nummer 2 an alle Propagandasprecher. Darin zitierte er einen Satz aus Mein Kampf, in dem Hitler seine persönlichen Erfahrungen als Redner beschrieb. Blokzijl, der, wie er in seinen Publikationen mehrmals zu erkennen gab, Hitlers Buch sehr genau gelesen hatte, erachtete diese Zeilen als äußerst lehrreich „für diejenigen, die gegenwärtig für unser Volk als Sprecher auftreten müssen, insbesondere in dieser Zeit, in dem unser Volk mitten in der nationalsozialistischen Revolution lebt.“43 Während der Besatzungszeit wurde alles Mögliche unternommen, um die Aufmerksamkeit für das Buch wachzuhalten. Zitate daraus tauchten im Kurs „Deutsch für Fortgeschrittene“ auf, der in Zusammenarbeit mit dem niederländischen Rundfunk im Oktober 1941 begann. Exemplare des Buches wurden als Preis bei Sportwettkämpfen ausgesetzt oder als Bonus für geworbene Abonnenten für Volk en Vaderland oder das antisemitische Wochenblatt De Misthoorn (Das Nebelhorn) vergeben. Auch Ostfrontfreiwillige erhielten einige Jahre hindurch kurz vor ihrer Abreise ein Exemplar. Doch selbst unter den niederländischen Nationalsozialisten war die Lektüre der braunen Bibel keineswegs selbstverständlich. So erhielt NSB-Führer Anton Mussert eine Luxusausgabe des Buches vom Reichskommissar Arthur SeyßInquart zum Geschenk, doch brüstete er sich jahrelang damit, das Buch nie gelesen zu haben.44 Für jemand anderen hatte die Lektüre von Mein Kampf die gegenteilige Wirkung. Der KVP (Katholische Volkspartei)-Politiker und Staatssekretär Norbert Schmelzer erinnerte sich, Hitlers Buch bereits in jungen Jahren gelesen zu haben. In einem Interview mit dem Haarlems Dagblad sagte er darüber: „In der fünften Klasse, im Jahr 1938, sagte mein Geschichtslehrer: ‚Burschen, ihr müsst Mein Kampf lesen, sonst werdet ihr die moderne Geschichte nie verstehen.‘ Ich habe das komplette Buch gelesen, ich war siebzehn, und war völlig fassungslos über zwei Hauptpunkte: die Vernichtung der jüdischen Rasse und die Vorherrschaft der germanischen Rasse. Das stand im Gegensatz zu allen tieferliegenden Überzeugungen von menschlicher Gleichwertigkeit. Das hat mich nie losgelassen. Im Krieg habe ich gesehen, dass dieser Geschichtslehrer Recht hatte. Ich ging damals in den studentischen Widerstand, als Vertreter der Tilburger Studenten.“45 Hitlers Tod und das Ende des Zweiten Weltkrieges bedeuteten nicht das Ende von Mein Kampf in den Niederlanden. Nach dem Krieg wurde das Buch auf den Index verbotener Werke gesetzt. 1974 wagte erstmals ein Verlag, einen fotografischen Nachdruck von Mijn Kamp auf den Markt zu bringen.46 Der Verlag Ridder43 44 45 46
Medeelingen van den propagandaleider, Nummer 2 an NSB-Propagandasprecher vom 20.8.1942, in: NIOD Amsterdam, NSB-Archiv, 32d. Meyers, Jan: Mussert, een politiek leven. Amsterdam: Arbeiderspers 1984, S. 63. Hofland, Dick: Het verdriet heeft mij nooit van de weg af gedrukt, in: Haarlems Dagblad, 6.1.2001. Groeneveld, Gerard: Het boek is nooit thuis. Adolf Hitlers Mein Kampf in Nederland, in: De Parelduiker 4 (1999) 4, S. 15.
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hof ließ dreitausend Exemplare drucken, von denen zweitausend von Belgien abgenommen wurden. Die öffentliche Empörung war groß und die niederländische Justiz reagierte fast unmittelbar und beschlagnahmte die verbliebenen etwa achthundert Stück. Ein Jahr später wurde der Verlag Ridderhof wegen Verstoßes gegen das Urheberrecht zu einer Buße von zweitausend Gulden verurteilt. In diesem Fall berief sich der niederländische Staat auf das geistige Eigentum der niederländischen Übersetzung von Mein Kampf, doch es ist fraglich, ob er damit das Recht auf seiner Seite hatte.47 Seither ist das Buch ein Stein des Anstoßes geblieben. 1997 wurden an den damaligen Justizminister Winnie Sorgdrager parlamentarische Anfragen zu Hitlers Buch gestellt. Er war der Ansicht, dass der Verkauf von Mein Kampf ohne distanzierendes Vorwort strafbar sei, dass aber das Strafrecht durchaus Raum lasse für eine wissenschaftlich verantwortete Ausgabe.48 Immer wenn ein Exemplar in einem Antiquariat oder auf einer Bücherauktion „entdeckt“ wurde, flammte in den Medien die Diskussion über das Buch in unverminderter Stärke wieder auf. Noch 2014 wurde ein Amsterdamer Galeriebesitzer vor den Richter gebracht, weil er das Buch verkaufe und damit zum Hass anstifte. Das Gericht urteilte anders und sprach den Angeklagten frei: „Aufgrund der gesellschaftlichen Entwicklungen, insbesondere der sehr einfachen Verfügbarkeit des Textes von Mein Kampf über das Internet, und des Kontextes, in dem der Angeklagte das Buch als historisches Objekt zum Verkauf anbietet, ist eine Verurteilung des Angeklagten in einer demokratischen Gesellschaft nicht erforderlich, um Juden gegen Diskriminierung, Beleidigung und Anstiftung zum Hass aufgrund ihrer Rasse und/oder Religion zu schützen.“49 Die Staatsanwaltschaft legte 2017 Berufung ein, doch auch diesmal wurde dem Galeriebesitzer keine Strafe auferlegt. Eine Verurteilung stehe im Widerspruch zum Recht des Angeklagten auf freie Meinungsäußerung. Darunter falle auch der Verkauf von Büchern, urteilte der Gerichtshof. Zwischenzeitlich bestanden auch in den Niederlanden Pläne für eine kommentierte Ausgabe nach dem Vorbild Deutschlands. Diese sollte unter den Auspizien des NIOD, des Instituts für Kriegs-, Holocaust- und Genozidstudien stehen.50 Noch zwanzig Jahre zuvor wollte dasselbe Institut von einer wissenschaftlichen Edition nichts wissen. Ein Sprecher hatte damals gegenüber De Volkskrant erklärt, dass das NIOD an einer wissenschaftlichen Neu-Ausgabe nicht mitwirken werde: „Wir haben andere Prioritäten. Mein Kampf ist ein wirres Durcheinander, philosophisches Gefasel.“51 Schlussendlich beschloss das NIOD, das Projekt einzustellen. Man scheute die Reaktionen in der Gesellschaft zu sehr, es war kein Geld vorhan47
48 49 50 51
Willem Huberts argumentierte in NRC Handelsblad, dass eine Neuauflage von Mein Kampf keine Sache der niederländischen Behörden sei. Die Rechte der Übersetzung lägen seiner Ansicht nach bei Kettmanns Nachfolger (vgl. Huberts, Willem: Heruitgave van Mein Kampf is geen zaak voor Nederlandse overheid, in: NRC Handelsblad, 12.11.1997). Groeneveld, Gerard: Nazi-bijbel mag niet gesloten blijven, in: De Volkskrant, 8.11.1997. Volledige tekst uitspraak Rechtbank Amsterdam, 21-11-2014/13/659226–14. ECLI:NL:RBAMS: 2014:7866. Geciteerd naar: recht.nl – het internetportaal voor juristen. Kieft, Ewoud: Het verboden boek. Mein Kampf en de aantrekkingskracht van het nazisme. Amsterdam/Antwerpen: Uitgeverij Atlas Contact 2017, S. 9. Ebd., S. 13.
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den und man fragte sich, ob nicht die deutsche Kritische Edition ausreichend wäre.52 Die Aufgabe wurde vom Verlag Prometheus in Amsterdam übernommen, der im August 2018 eine neue niederländische Übersetzung veröffentlichte.53 Das erste Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Mein Kampf unter dem Titel Mijn Strijd in niederländischen Buchhandlungen offiziell verkauft. Der Herausgeber entschied sich dafür, kein Hitler-Bild für den Einband zu verwenden, sondern einfache graue und weiße Buchstaben für den Namen des Autors und schwarze für den Titel. Das Buch enthält eine Einleitung von Willem Melching, der 2013 eine Hitler-Biografie vorlegte, und wurde auf Basis der deutschen kritischen wissenschaftlichen Edition des Instituts für Zeitgeschichte aus 2016 von Mario Molegraaf übersetzt, der bisher griechische, französische und englische Werke bearbeitet hat.54 Aus dem Deutschen hatte er zuvor noch keine Bücher übersetzt, was er mit dem ersten Übersetzer Steven Barends gemeinsam hat. Doch sei Deutsch immer seine beste Sprache gewesen, wie Molegraaf dem Algemeen Dagblad in einem Interview mitteilte.55 Als Titel wurde Mijn Strijd [Mein Streit] gewählt, weil der frühere Titel Mijn Kamp [Mein Kampf] als Germanismus gesehen wurde. Auch bestehen Unterschiede zur deutschen kritischen Edition. Mijn Strijd enthält viel weniger Fußnoten und weniger Erklärungen als die deutsche Edition. Das Erinnerungsblatt an die 16 Mitglieder der Hitler-Bewegung, die beim Putsch im November 1923 getötet wurden, findet sich in der niederländischen Edition, nicht jedoch in der deutschen. Wie in 1939 war die erste Auflage sofort ausverkauft. Offensichtlich gibt es selbst 80 Jahre nach der niederländischen Erstausgabe noch immer eine Nachfrage nach dem Buch.
52 53 54 55
Kieft, boek, S. 235. Adolf Hitler, Mijn strijd. Amsterdam: Prometheus 2018. Melching, Willem: Hitler, opkomst en ondergang van een Duits politicus. Amsterdam: Bakker 2013. Damme, Jan van / Doomen, Eefje: Ik probeer recht te doen aan Hitlers stijl, in: Algemeen Dagblad, 3.11.2016.
TEIL 3 – NEUERE ÜBERSETZUNGEN
MEIN KAMPF IN ISRAEL Oded Heilbronner (Übersetzung aus dem Englischen von Karl Hubmayer, Salzburg) Im Jahr 1966 trat der „Ausschuss zur Bekämpfung obszöner Literatur“ zusammen, um über pornographische Literatur zu diskutieren, deren Verbreitung die moralischen Grundlagen der israelischen Jugend zu untergraben drohte, wie viele Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens fürchteten. Eines der Mitglieder des Ausschusses, Yosef Melkman, war der Meinung, dass der Vertrieb verboten und der schreckliche Fehler der Deutschen – sie sahen über eine andere Art von obszönem Buch in den frühen 1930er Jahren hinweg – sich nicht wiederholen sollte. Melkman hielt Adolf Hitlers Buch Mein Kampf für moralisch und politisch verabscheuungswürdig. Er stellte fest, dass beide Fälle ähnlich behandelt werden sollten und man aus beiden dieselbe Lehre ziehen sollte. Hätte man den Vertrieb von Hitlers obszönem Text verboten, wären sechs Millionen Juden vom Tod verschont geblieben. Bei einem Verbot des Vertriebs obszöner Literatur in Israel, so Melkman, würden die Jugendlichen Israels mit moralischen Werten aufwachsen.1 Dieser Fall veranschaulicht die generelle Einstellung gegenüber Mein Kampf in Israel. Adolf Hitlers Buch wird ohne Zweifel in vielen Ländern und natürlich auch in Israel als eines der einflussreichsten und gefährlichsten Bücher des 20. Jahrhunderts angesehen. Übersetzungen des Buches in verschiedene Sprachen konnte man schon in den frühen 1930er Jahren finden, auf Hebräisch wurde es jedoch nie veröffentlicht. Es mag sein, dass Melkmans Beobachtung aus dem Jahr 1966 heute immer noch Gültigkeit hat. Das bedeutet aber nicht, dass das Buch und sein Inhalt in Israel nicht Interesse hervorgerufen hätten. Yuval Harari weist in seiner Studie über Hitlers Akzeptanz unter den Kabbalisten Jerusalems in den 1930er und 1940er Jahren darauf hin, dass manche dazu tendierten, Hitler als „Präsident der Deutschen“ anzusprechen und seinen Schriften und Handlungen eine magische und dämonische Kraft beizumessen.2 Israelische Forscher, die den Holocaust und das deutsche Judentum untersuchten, haben in ihre Lehrbücher einige Passagen aus Mein Kampf aufgenommen und ihre Studenten in Kursen über den Nationalsozialismus und Holocaust in Europa auf die relevanten Kapitel der englischen Version des Buchs hingewiesen.3 1 2 3
Israelische Staatsarchive, גל16/4854–6.1.1966. Harari, Yuval: Drei Reize Hitler zu töten: Ein Kapitel in der Geschichte der praktischen Kabbala, in: Zion 2 (2016), S. 177–213 (hebräisch). Z. B. Ash, Shaul: Ausgewählte Dokumente über den Beginn des NS-Regimes in Deutschland, 1933–1936. Jerusalem: Hebräische Universität 1966 (hebräisch); Kulka, Otto Dov: Die Ten-
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Aber weiter geschah nichts. Bis zum heutigen Tag wurde kein Versuch unternommen, eine vollständige hebräische Version des gesamten Buchs zu erstellen und zu veröffentlichen. Im Jahr 1991 legte der Übersetzer Dan Yaron dem Vorstand des Instituts für Deutsche Geschichte an der Hebräischen Universität in Jerusalem, Prof. Moshe Zimmerman, eine vollständige hebräische Übersetzung des Buchs vor. Über viele Jahre hatte Yaron die zwei Bände des Buchs unentgeltlich übersetzt und handschriftlich auf A3-Blättern festgehalten. Zimmerman schätzte sich glücklich, bei der Veröffentlichung des Buchs mitzuwirken. Aus politischen und akademischen Gründen, aber auch wegen der Bedenken der israelischen Öffentlichkeit, wurde entschieden, dass nur bestimmte Teile des Buchs durch den Verlag Academon veröffentlicht und vertrieben bzw. die übersetzten Teile nur in Schulen und Seminaren verwendet werden sollten. Academon ist das Verlagshaus der Hochschülerschaft der Hebräischen Universität in Jerusalem. Moshe Zimmerman und Oded Heilbronner (Lektor am Institut für Deutsche Geschichte an der Hebräischen Universität in Jerusalem) haben beschlossen, nur jene Abschnitte zu veröffentlichen, die am besten Hitlers Beschreibung der historischen Ereignisse in Deutschland kurz nach dem Ersten Weltkrieg, seines Lebens in München, seiner frühen politischen Aktivitäten und seiner Einschätzung der Anfänge der NSDAP in München vermittelten. Zusätzlich entschieden die Herausgeber, jene Abschnitte zu veröffentlichen, die eine ideologisch-politische Dimension hatten und die sich mit Propaganda, Rasse, dem Problem Bolschewismus, dem sogenannten Lebensraum im Osten beschäftigten, sowie Kapitel, die den Sozialismus, die Struktur des deutschen Staates und Hitlers Weltanschauung thematisierten. Viele der antisemitischen Überzeugungen Hitlers aus den beiden Bänden wurden erfasst und als Anhang der hebräischen Ausgabe mit dem Titel „Hitlers Antisemitismus“ hinzugefügt. Der wissenschaftliche Rahmen der Übersetzung beinhaltete Einleitungen, Fußnoten und Erklärungen, die den historischen, ideologischen und semantischen Kontext zu Hitlers Überzeugungen und Anschauungen lieferten. Diese Einleitungen und Kommentare sollten ein genaueres Bild von Hitlers einseitigem und größtenteils falschem Ansatz geben und die historischen Informationen zur Verfügung stellen, die zum Verständnis seiner Ansichten notwendig waren. Die hebräische Ausgabe, die im Jahr 1994 veröffentlicht wurde, umfasste insgesamt 299 Seiten. Anscheinend wussten die Herausgeber, dass die Veröffentlichung des gesamten Buches Kontroversen auslösen würde, die das Ansehen der Hebräischen Universität und des involvierten Koebner Centers für deutsche Geschichte beschädigen könnten. In ihrer Einleitung wiesen Oded Heilbronner und Moshe Zimmerman darauf hin, dass „die Übersetzung einzelner Abschnitte von Adolf Hitlers Mein Kampf ins Hebräische einen Versuch darstellt, die ideologischen Wurzeln des Nationalsozialismus den israelischen Studenten und Lesern unvermittelt näher zu bringen. Vor uns liegt das offizielle und vielleicht wichtigste Programm der NS-Bewegung, wie es ursprünglich vom Führer der Bewegung verfasst wurde […]. Hitlers Buch zu denzen bei der Lösung des Judenproblems im Dritten Reich, Ausgewählte Dokumente. Jerusalem: Hebräische Universität 1972 (hebräisch).
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lesen ist zweifellos eine schwierige Aufgabe […], dennoch muss der große Eindruck, den das Buch hinterließ […], die Neugier gegenwärtiger Wissenschaftler wecken: Was hat die damaligen Leser an dem Text so fasziniert?“ Eine Schwierigkeit bestand darin, das Begriffssystem, das Hitler verwendete, zu verstehen und adäquat zu übersetzen. Das größte Übersetzungsproblem war dabei der deutsche Ausdruck „völkisch“, der zu dieser Zeit bei den deutschen Rechten und in der jungen NS-Bewegung populär war. Hitler benutzte den Begriff immer wieder und die Übersetzer und Herausgeber hatten Schwierigkeiten, eine hebräische Entsprechung dafür zu finden. Den Lesern wurde erklärte, dass „der Begriff eine nationale Ausrichtung hat, bei dem es um biologische Merkmale der Menschen geht – Herkunft, Geschichte, Sprache und Kultur. Das Konzept steht semantisch dem Begriff ‚Rassismus‘ nahe, der jedoch nicht die volle Bedeutung von ‚völkisch‘ abdeckt.“ Die Lösung, für die man sich letztlich entschied, bestand darin, ein Wort zu verwenden, das bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der hebräischen Literatur vorkam –„( “עממותיAmamuti), das im Hebräischen mit Nationalismus und Ethnizität assoziiert wird und dem Terminus „Volkstümlichkeit“ nahe kommt. Der Übersetzer, Dan Yaron, dessen Basis eine deutsche Originalausgabe war, hat dem Buch eine Einleitung hinzugefügt, in der er die Schwierigkeiten aufzeigt, mit denen er bei der Übersetzung konfrontiert war: „Um den Stil der Übersetzung zu verstehen, ist es wichtig zu wissen, dass die Sprache, die Hitler vor etwa hundert Jahren in der Familie und in der Schule gelernt hat, dieselbe deutsche Sprache ist, die für ihre Verschachtelungen und langen Sätze bekannt ist. Seine jungen Jahre verbrachte er inmitten einer kleinbürgerlichen Gesellschaft, mit geringem intellektuellen Input […] und gelegentlichen rauen, aggressiven und heftigen Ausdrucksformen. Ein Übersetzer ist verpflichtet, dem Ausgangstext gegenüber so loyal wie möglich zu sein. Besonders in diesem Fall ist es seine Aufgabe, ohne den Geist des Textes zu verändern, Hitlers Charakter schonungslos aufzuzeigen, der in seiner verabscheuungswürdigen Bösartigkeit Ausdrücke erfand, die die aufgeklärte Welt noch nie erfahren hat. […] Trotz unserer kollektiven Abscheu und starker persönlicher Bedenken kam ich zu dem Ergebnis, dass es notwendig ist, einen praktischen Zugang zu dieser schmerzlichen Thematik, die zu einem historischen Dokument geworden ist, in hebräischer Sprache zu ermöglichen. […] Daher hat diese Übersetzung das Ziel, Studenten, Wissenschaftlern und Historikern dieser und zukünftiger Generationen und besonders jenen, die in einer Fremdsprache nicht ausreichend kompetent sind, eine Hilfestellung zu geben. Wir müssen über die Hintergründe der tragischen Ereignisse sowie über die Gedanken und Methoden des NS-Tyrannen aufgeklärt werden, um ‚unseren Feind zu kennen‘ und auf eine Zeit vorbereitet zu sein, in der sich in der einen oder anderen Gesellschaft derartige Vorfälle wiederholen sollten.“
Die hebräische Übersetzung hatte eine Auflage von 500 Exemplaren und trug an Stelle von Mein Kampf einen hebräischen Titel: „“פרקים מתוך "מאבקי" של אדולף היטלר („Kapitel aus ‚Mein Kampf‘ von Adolf Hitler“). Die Wahl dieses Titels war eine bewusste Entscheidung, da der Titel Mein Kampf auf dem Buchcover öffentliche Proteste hervorgerufen hätte. Das Buch ist ohne jede Werbung und akademische oder öffentliche Auseinandersetzung publiziert worden und Lehrer, die über den Holocaust und Nazismus unterrichteten, haben es schon kurz nach der Veröffentli-
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chung für ihre Kurse verwendet. Das Buch erlangte zu Beginn des Jahres 1995 einen gewissen Bekanntheitsgrad, als die israelische Knesset über seine Veröffentlichung diskutierte. Mitglieder der Knesset verschiedener ideologischer Gruppierungen und Bewegungen haben die Veröffentlichung scharf verurteilt. Sie verwendeten dabei Ausdrücke, die denen von Yosef Melkman dreißig Jahre zuvor ähnlich waren. Hier mehrere Zitate und Antworten von Parlamentsmitgliedern aus einer Sitzung, die am 22. Februar 1995 abgehalten wurde: Yigal Bibi (National-Religiöse Partei): „Ich glaube, dass wir ein Talent dafür haben, die schwersten selbstzerstörerischen Fehler zu begehen. In Deutschland ist es verboten, das Buch des Gewaltherrschers zu publizieren […], man debattiert, ob es gedruckt werden soll oder nicht. Hier im Staate Israel entscheidet die Hebräische Universität in Jerusalem, nicht ein Unternehmer, sondern eine öffentliche Institution, die staatliche Zuschüsse erhält, ob das Buch gedruckt wird oder nicht. Was für eine Torheit. Wie dumm. Wie töricht […], interessant daran ist, dass das Urheberrecht der Bayerischen Staatsregierung gehört […], sie haben die Hebräische Universität nicht verklagt, da sie es gerne sehen würden, wenn das Buch in Israel gedruckt würde; auf diese Weise wäre es für den Rest der Welt legitim, dieses abscheuliche, verachtenswerte, aufhetzerische Buch zu drucken […]. Aber es gibt eine andere Torheit – Wissenschaftler benötigen dieses Buch. Ich habe die Geschichte Israels studiert. Ich habe Geschichte studiert. Ich habe Beiträge geschrieben. Brauchen Wissenschaftler dieses Buch? Was für ein Witz […], wenn Bibliotheken drei oder vier Exemplare für diese Wissenschaftler bräuchten, die kein Englisch, Französisch oder Deutsch sprechen – dann würden wir drei oder vier Exemplare übersetzen und drucken. Aber eine Massenproduktion eines Buches, das vor Verhetzung des Jüdischen Volks strotzt? […] Ich möchte den Gesundheitsminister auffordern, im Interesse der physischen und spirituellen Gesundheit der Menschen, das Buch zu verbieten […]. Ich glaube, dass es auch ein abscheuliches Buch ist. Bei näherer Betrachtung denke ich auch darüber nach, zur Polizei zu gehen und eine Klage gegen die Universität einzureichen, dass sie diese schlechten Bücher druckt.“ Yoram Less (Arbeiterpartei): „Zunächst der Titel des Buchs. Ich lehne den Titel ‚‚( ‘מאבקיMein Krieg‘) vollkommen ab. Er beschmutzt die hebräische Sprache. Stattdessen sollte der Ausdruck Mein Kampf verwendet werden. Jeder, der weiß, wie man es auf Preußisch formuliert, wird es so machen. Denn Mein Kampf impliziert den Abschaum, den es beinhaltet. Der richtige Titel sollte verwendet werden – […] es geht um akademische Glaubwürdigkeit. Dieses zischende Gift kann man nicht übergehen. Es ist kein Nacktfoto. Es sollte genau untersucht werden. Es war richtig, dass der Verlag Academon der Hebräischen Universität in Jerusalem das Buch veröffentlichte. Damit konnten die Studenten diese Geschehnisse erfahren und die notwendigen Schlüsse ziehen. Das Buch kann herausgegeben werden. Was mich betrifft, kann jeder auf jeder Seite ein Kreuz aufdrucken, wie auf einen Scheck. Aber diese Angelegenheit ganz und gar nicht zu berücksichtigen? Das ist ein bisschen primitiv, MK [Abgeordneter zur Knesset] Bibi, das ist nicht der richtige Ansatz.“ Shaul Amor (Likud-Partei): „[…] und nun zu Mein Kampf. Ich stimme meinen Freunden zu, dass der Titel ‚Mein Kampf‘ unbedingt bleiben soll. Ich sage aber nicht, Gott bewahre, dass das Buch ein Bestseller wird; es sollte nicht vertrieben
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werden. Jeder, der behauptet, dass wohl kaum eine Chance auf eine Nazi-Bewegung besteht, liegt falsch. Extreme antinationale Elemente, die bestrebt sind, den Staat Israel zu zerstören, gibt es sogar hier. Diese versuchen, Gott behüte, die größten Gewaltherrscher und Mörder am jüdischen Volke zu imitieren. Daher sollte das Buch nur zu Zwecken der Wissenschaft, der akademischen Beschäftigung und im schulischen Unterricht verwendet werden. Aber, Gott bewahre, es sollte nicht erlaubt sein, dass es öffentlich in Umlauf kommt.“ Moshe Sne (Gesundheitsminister, Arbeiterpartei): „Ich glaube, dass alle Parteien denselben Geist der Verabscheuung und Verachtung verspüren, den wir dem Buch des Gewaltherrschers mit dem Titel Mein Kampf entgegenbringen. Die Parlamentarische Gruppe gegen Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit […] ist der Meinung, dass die Veröffentlichung dieses Buches in hebräischer oder irgendeiner anderen Sprache nur auf Forschungs- und wissenschaftliche Zwecke beschränkt bleiben soll. Daher schlägt die Gruppe vor, den Originaltitel des Buchs Mein Kampf beizubehalten.“ Dan Tichon (Likud-Partei): „Ich möchte Prof. Zimmerman nicht belehren, was und wie er an der Hebräischen Universität in Jerusalem unterrichten soll, aber es besteht ein gewisses Maß an Skepsis gegenüber dieser Entscheidung.“ Avraham Ravitz (Vereinigtes Torah-Judentum): „[…] dieser Ausschuss hat sich darüber besorgt gezeigt, dass manche (sicher nur einige wenige), die vom Rand unserer Gesellschaft kommen, das Buch lesen würden und, Gott bewahre, absurderweise sich aus reinem Masochismus – der leider häufig in der israelischen Gesellschaft zum Ausdruck kommt – mit einigen der Botschaften, die in einem so verachtenswerten Buch vermittelt werden, identifizieren würden. Daher müssen wir darauf bestehen, dass dieses Buch, sollte es schließlich gedruckt werden, nur unter den Bedingungen und Beschränkungen, die vom Gesundheitsminister festgelegt werden, veröffentlicht wird.“ David Magen (Likud-Partei): „Es sollte betont werden, dass kein Wissenschaftler oder Autor, Student oder Schüler, unter welchen Umständen auch immer, irgendeine Zahlung zu leisten hat, um ein Exemplar dieses verabscheuungswürdigen Textes zu erhalten. Sollte dieses Buch für historische Untersuchungen oder wissenschaftliche Zwecke benötigt werden, sollte es unter Studenten übertragbar sein. Klar muss auch sein: Sollte eine Notwendigkeit bestehen, einen Blick auf diese Abscheulichkeit zu werfen, so müsste das kostenlos sein. Das ist von symbolischer und emotionaler Wichtigkeit. Hier möchte ich eine Erfahrung, die ich etwa vor vier Jahren während eines Besuchs in Mumbai machte, mit den Mitgliedern der Knesset teilen. Ich sah dieses abscheuliche Buch in englischer Sprache in einer Buchhandlung. Ich war schockiert. Als ich nach Israel zurückkehrte, suchte ich das Außenministerium auf; wir waren mitten in den Verhandlungen über die Aufstockung unserer Repräsentation von einem Konsulat zu einer Botschaft. Wenn das Cover eines solchen Buchs einen derartigen Schock auslösen kann und ein durchschnittliches Mitglied der Knesset dazu bewegt, die politischen Reihen aufzufordern, das System unserer diplomatischen Beziehungen neu zu überdenken, dann sollten wir selbst, nachdem der Schock verstrichen ist, sicherstellen, dass die Entscheidung ohne Abweichung umgesetzt wird.“
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Salach Tarif (Vorsitzender des Ausschusses, Arbeiterpartei): „Bevor wir abstimmen, möchte ich mich der von den Mitgliedern der Knesset ausgedrückten Entrüstung über dieses Buch anschließen.“ Am Ende dieser Diskussion hat die Knesset mit Stimmenmehrheit und ohne irgendwelche Einwände entschieden, die Angelegenheit an den Ausschuss für Bildungsfragen zur weiteren Beratung weiterzuleiten. Es liegen darüber keine weiteren Aufzeichnungen vor. Die Diskussion in der Knesset war kurz und wurde nicht weiter fortgesetzt. Das Buch war schnell vergriffen und wurde nicht neu aufgelegt. Im Verlauf der Jahre ist der Preis des Buchs gestiegen; Antiquariate bieten es nun zu einem Preis von mehreren hundert Schekel an. Viele junge Leute kaufen es. Als im Jahr 2015 das Urheberrecht, das die Bayerische Staatsregierung besaß, auslief, wurde das Buch in einer kommentierten Neuausgabe vom Münchner Institut für Zeitgeschichte herausgebracht.4 Das Ereignis fand in der israelischen Presse große Beachtung und hat eine neuerliche Diskussion über eine Veröffentlichung des Buchs in Hebräisch ausgelöst. Viele Wissenschaftler haben die Idee unterstützt.5 Verlagshäuser, bei denen wegen der Möglichkeit einer Veröffentlichung angefragt wurde, zeigten sich eher zögerlich, obwohl im Vergleich zu früheren scharfen Erklärungen gegen eine Publikation ein gewisser Wandel zu verspüren war. In einer von Time Out Tel Aviv durchgeführten Umfrage wurden mehrere Verlage über die Möglichkeit der Publikation befragt. „Ein kommerziell ausgerichteter Verlag in Israel sieht absolut keine Veranlassung Mein Kampf auf Hebräisch zu veröffentlichen“, sagte Dana Elazar Levy, Sachbuch-Herausgeber des Verlags Keter Publishing. „Uns allen ist in diesem Land die besondere Sensibilität gegenüber allem, was mit Hitler-Deutschland zu tun hat, bekannt. Vielleicht sollten wir zuerst testen, ob wir in der Lage sind, uns Wagner im Konzerthaus anzuhören; aber als Herausgeber sehe ich dies als sekundäres Problem. Als zentralen Punkt kann man anführen, dass das Buch langweilig und schlecht ist.“ Dazu sagte Sari Guttman, Chefredakteur des Verlags Ahuzat Bayit: „Mein Kampf ist ein Dokument, das auf Hebräisch veröffentlicht werden sollte, sowohl aus prinzipiellen als auch aus praktischen Überlegungen. Zensur ist ein provinzieller Ansatz, der den Realitätstest nicht besteht; in der heutigen Zeit kann keine Information blockiert werden. Deshalb wäre ein gut organisierter Verlag zusammen mit einer hervorragenden Übersetzung und optimalen Kommentaren, Anmerkungen und kontextuellen Hinweisen das einzig Richtige. Ein solches Dokument sollte von einem wissenschaftlichen Verlag veröffentlicht werden, denn das ist genau die Aufgabe, die ein derartiger Verlag leisten sollte.“ Und schließlich forderte Idan Tsvoni, einer der Eigentümer von Resling Academic Press: „Wir wollen Hitler als ein Sym4 5
Hartmann, Christian / Vordermayer, Thomas / Töppel, Roman / Plöckinger, Othmar (Hg.): Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition. 2 Bde. München: Institut für Zeitgeschichte 2016. Heilbronner, Oded: Mein Kampf ist zurück, in: www.haaretz.co.il/literature/study/.premium1.2888705 (hebräisch; Zugriff am 26.12.2018); siehe die Diskussionen in der Tageszeitung Haaretz, in: www.haaretz.co.il/news/world/europe/.premium-1.2789823; www.haaretz.co.il/gallery/ .premium-MAGAZINE-1.2804147 (hebräisch; Zugriff am 26.12.2018).
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ptom verstehen, und dieser Text ist als Symptom einer Kultur von Bedeutung […], das Buch sollte genau übersetzt werden, um das zerstörerische Potential, das es beinhaltet, zu verstehen […]. Da dieses Thema in Israel sehr sensibel ist, würden wir uns gerne zusammen mit einer wissenschaftlichen Institution für ein derartiges Projekt engagieren. Wir haben nicht die Absicht, ein wahnhaftes Dokument zu veröffentlichen. Vielmehr wollen wir ein Vorhaben initiieren, das wesentliche Auswirkungen haben könnte.“6 Die Tatsache, dass das Buch bis heute gerade in Israel nicht vollständig publiziert wurde, ist zwar verständlich, aber auch seltsam: Ist es nachvollziehbar, dass sogar nach 90 Jahren das Buch in der israelischen Gesellschaft immer noch Angst und Schrecken auslöst? Trotz des offenkundigen Unterschieds: Neben dem Verbot von Wagners Musik ist das Fehlen einer hebräischen Übersetzung von Mein Kampf ein weiteres Relikt der Nach-Gründerzeit Israels. Der Boykott der deutschen Sprache und Kultur ist ein Zeichen einer verunsicherten israelischen Gesellschaft. Während Wagners Musik nicht ganz mit Mein Kampf vergleichbar ist, so stellt ihr gemeinsamer Boykott einen letzten Rest einer Epoche dar, die mittlerweile Vergangenheit ist. Ebenso wird damit die komplexe und problematische Position in Bezug auf die Erinnerung der israelischen Öffentlichkeit an den Holocaust aufgezeigt. Wie in den letzten Jahrzehnten scheint interessierten Lesern auch in der nahen Zukunft das Buch nur in Form von Übersetzungen in verschiedenen Sprachen in Universitätsbibliotheken, in Second Hand Shops oder in jüngerer Zeit auf Online-Websites zur Verfügung zu stehen.
6
Farhi, Guy: Know Your Family, in: Time Out Tel Aviv, 15.4.2015.
DIE TÜRKISCHEN ÜBERSETZUNGEN VON MEIN KAMPF – KAVGAM Hilmi Bengi (Übersetzung aus dem Türkischen von Seyma Dönmez, Wien) 1. DIE ERSTE TÜRKISCHE ÜBERSETZUNG VON MEIN KAMPF Das Buch Mein Kampf, in dem Adolf Hitler sein Leben beschreibt, wurde vierzehn Jahre nach seiner ersten Veröffentlichung ins Türkische übersetzt. Der Journalist Hüseyin Cahit Yalçın, der diese erste Übersetzung des Buches Kavgam ins Türkische anfertigte, war zugleich Belletrist, Pädagoge, Intellektueller und Politiker. In der letzten Phase des Osmanischen Reiches brachte er die Zeitung Tanin heraus und übernahm zugleich das Generalsekretariat der „Partei für Einheit und Fortschritt“ („İttihat ve Terakki“). Trotz seines Versuchs, neutral zu bleiben, wurde seine Zeitung Tanin deshalb als das Medienorgan der „Partei für Einheit und Fortschritt“ wahrgenommen. Der im osmanischen Parlament als stellvertretender Nationalratspräsident fungierende Yalçın nahm während der Gründung der Republik Türkei eine oppositionelle Haltung ein und wurde inhaftiert. Yalçın, der sich nicht einmal mit Gazi Mustafa Kemal Atatürk verstand, leistete nach dem Tod von Atatürk in der Zeit von İsmet İnönü als Bundespräsident fast fünfzehn Jahre Dienst als Parlamentarier der Großen Nationalversammlung der Türkei und starb 1957 während einer Wahlkampagne. Da Hüseyin Cahit Yalçın kein Deutsch sprach, legte er der türkischen Übersetzung von Mein Kampf nicht das deutsche Original zugrunde, sondern die englische Übersetzung. Seine eigentliche Fremdsprache war Französisch, und obwohl er Englisch erst später gelernt hatte, reichten seine Kenntnisse für die Übersetzung. Die türkische Übersetzung von Mein Kampf wurde zum ersten Mal in der Zeitung Yeni Sabah als Serie veröffentlicht. Neben der Schlagzeile der Artikelserie, die zwischen dem 1. Oktober 1939 und 12. Mai 1940 unter dem Titel Mein Kampf Adolf Hitler, Übersetzer ins Türkische Hüseyin Cahit Yalçın erschien, waren ein gezeichnetes Bild von Hitler und ein Hakenkreuz zu sehen. Yalçın, der in dieser Veröffentlichung als tägliche Serie den deutschen Originaltitel Mein Kampf verwendete, bevorzugte bei der Veröffentlichung als Buch dann den Titel Kavgam, der Originaltitel Mein Kampf wurde in Klammern ergänzt. Die englische Übersetzung des Titels von Mein Kampf war My Struggle, und es ist auffallend, dass Hüseyin Cahit Yalçın bei der Übersetzung ins Türkische anstatt der genauen Übertragung Benim Mücadelem für My Struggle das Wort Kavgam bevorzugt hat. Der Schriftsteller Ege Cansen vertritt in seinem Artikel in der Zeitung Sözcü die Ansicht, dass von Mein Kampf die Übersetzung Cihadım [Mein Jihad] sein müsse. Cansen, der
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daran erinnert, dass das deutsche Wort „Kampf“ ins Englische als „struggle“ übersetzt wurde, fährt folgendermaßen fort: „Wenn der Titel des Buches, der im Deutschen ‚Mein Kampf‘ lautet, im Englischen mit ‚My Fight‘ wiedergegeben wäre, dann hätte ich gesagt, dass beim türkischen Gegenstück ‚Kavgam‘ kein Fehler besteht. Mir ist jedoch aufgefallen, dass die Übersetzer dieses Buches ins Englische (eine Sprache, die aus dem Deutschen entstanden ist) das Wort ‚Kampf‘ mit ‚struggle‘ übersetzt haben. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass die Übersetzung ins Türkische mit ‚Kavgam‘ inkorrekt war.“1 Es gibt keine Hinweise darauf, aus welcher englischen Übersetzung Hüseyin Cahit Yalçın die türkische Übersetzung von Mein Kampf angefertigt hat. Es ist jedoch bekannt, dass Mein Kampf erstmals von James Murphy vollständig ins Englische übersetzt worden ist und dass auch eine von der Regierung Nazi-Deutschlands genehmigte Variante 1939 zum ersten Mal erschien. (Sein Enkel John Murphy gab der BBC 2015 bekannt, dass ein Exemplar des englischen Buchs, das von Hitler signiert wurde, in der Wiener Library in London existiert.2) Eugene Reynal und Curtice Hitchcock haben Anfang 1939 die Veröffentlichung der amerikanischen Version von Mein Kampf in New Yorker Verlagen verwirklicht. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass Yalçın die Übersetzung von James Murphy als Basis herangezogen hat, ist höher.3 Wenn man berücksichtigt, dass dieses erste Exemplar nicht unter My Struggle veröffentlicht wurde, sondern der Originaltitel Mein Kampf erhalten blieb, können wir davon ausgehen, dass Hüseyin Cahit Yalçın bei der Verwendung des Titels Kavgam nicht von dem Wort „struggle“ ausgegangen ist. Zwar wurde die englische Übersetzung von Edgar Dugdale, die in England durch den Hurst and Blackett Verlag veröffentlicht wurde, 1933 vom Houghton Mifflin Verlag mit dem Titel My Battle in den USA zum Verkauf angeboten. Dies war jedoch eine gekürzte Übersetzung. Die Entsprechung des englischen Wortes „battle“ ist im Türkischen „savaş“, das allerdings in den 1940er Jahren noch nicht geläufig war; damals wurden die Wörter „harp“ oder „muharebe“ mit arabischen Wurzeln verwendet. Die türkische Entsprechung des englischen Wortes „struggle“ ist „mücadele“, das ebenfalls arabische Wurzeln hat. Es ist bedeutungsvoll, dass Hüseyin Cahit Yalçın anstatt der Ausdrücke „Benim Muharebem“ für „My Battle“ oder „Benim Mücadelem“ für „My Struggle“ das rein türkische Wort „Kavgam“ verwendete, das für „My Fight“ steht. Es erscheint vertretbar anzunehmen, dass dies seine ganz persönliche Präferenz war, zumal hier auch seine Persönlichkeit berücksichtigt werden muss. Denn Hüseyin Cahit Yalçın besaß eine widersprüchliche, rebellische, ehrgeizige und kämpferische, sogar streitlustige Persönlichkeit. Seine literarischen Debatten hatte er unter dem Titel Kavgalarım [Meine Streitereien] als Buch zusammengefasst. Daher ist es wohl richtig, die Übersetzung von Mein Kampf ins Türkische mit Kavgam nicht als Fehler, sondern als Präferenz zu werten. Kavgam kann als eine Reflexion der streit1 2 3
Cansen, Ege: Cihat ve Hitler, in: Sözcü, 27.7.2017. Vgl. Interview auf BBC Radio 4, 14.1.2015, www.bbc.com/news/magazine-30697262 (Zugriff am 26.2.2018). Vgl. zu den englischen Ausgaben den Beitrag von Stefan Baumgarten in diesem Band.
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lustigen Persönlichkeit von Hüseyin Cahit im entsprechenden Sinne eingeschätzt werden. Die erste Buchausgabe von Kavgam wurde 1940 von Muallim Ahmet Halit Kitabevi in zwei Bänden fertiggestellt. Das Buch, dessen erster Band 304 Seiten und insgesamt 444 Seiten umfasste, wurde vom Verlag Burhaneddin Matbaa gedruckt. Derselbe Verlag gab ein Jahr später, 1941, eine zweite Ausgabe von Kavgam heraus. In nachfolgenden Ausgaben wurde das Buch nur unter dem Titel Kavgam und damit ohne den deutschen Zusatz veröffentlicht. Obwohl Hüseyin Cahit Yalçın Mein Kampf ins Türkische übersetzte, war er im ideologischen Sinn gegen Hitler und den Nationalsozialismus. Er hat seine Ansichten in einigen Zeitungen und Zeitschriften, insbesondere in der von ihm selbst veröffentlichten Zeitschrift Fikir Hareketleri [Denkbewegungen] zum Ausdruck gebracht. In einem Artikel in Fikir Hareketleri hatte er den Nationalsozialismus in Europa als „rückschrittlich und demokratiefeindlich“ beschrieben. Die deutschen Behörden sahen sich zu einer Reaktion auf diese Darstellungen gegen das NaziRegime genötigt, die sie in einem offiziellen Schreiben an die türkische Regierung vom 12. April 1935 als „unfreundliche Publikationen“ bezeichneten.4 Yalçın übte in der Zeitschrift Yedigün am 30. Juni 1937 unter dem Titel „Eine Diktatur wurde gestürzt“ heftige Kritik an Hitlers Politik „der Schaffung einer überlegenen Rasse.“5 Nebenbei ist bemerkenswert, dass Yalçın unmittelbar nach seiner vollständigen Veröffentlichung von Mein Kampf in der Zeitung Yeni Sabah eine Schriftenreihe mit dem Titel Tarihte Görülmemiş Bir İhanet – Almanlar Büyük Harpte Bizi Ruslara Nasıl Satmak İstemişlerdi? [Ein Verrat, der in der Geschichte nicht gesehen wurde – Wie wollten die Deutschen im Großen Krieg uns an die Russen verkaufen?] fertigstellte. Ausgehend von sowjetischen Dokumenten kritisierte er darin die Einstellung Deutschlands zum Osmanischen Reich im Ersten Weltkrieg. Es ist auch auffallend, dass Yalçın Anfang der 1940er Jahre wieder in der Zeitung Yeni Sabah das Buch Failure of a mission des britischen Diplomaten Sir Nevile Henderson, in dem heftige Kritik an Hitler geübt wird, zu einer Schriftenreihe unter dem Titel Boşa Giden Gayretler [Vergebliche Mühen] gestaltete. Während des Ersten Weltkriegs stellte die „Partei für Einheit und Fortschritt“ in der Regierung des Osmanischen Reiches die Führung. Hüseyin Cahit war der Generalsekretär dieser Partei, seine Zeitung Tanin ihr Medienorgan. Die führenden Personen der „Einheit und Fortschritt“-Regierung (vor allem Talat und Enver Pascha) hatten eine pro-deutsche Haltung, unter deren Einfluss die Osmanen auf Seite der Deutschen in den Krieg eintraten. Der Generalsekretär Hüseyin Cahit von „Einheit und Fortschritt“ war jedoch gegen den Kriegseintritt auf deutscher Seite, er stand den Engländern viel näher. Auch wenn er nach dem Ersten Weltkrieg auf Druck der Engländer ins Exil nach Malta geschickt wurde, änderte dies seine generelle Einstellung nicht. Sogar während des Exils auf Malta bekam er die Reaktion von anderen Deportierten zu spüren, weil die Engländer ihm besondere Aufmerk4 5
Vgl. Kılıç, Sezen: Türk Basınında Hitler Almanya’sı 1933–1945. Ankara: Atatürk Araştırma Merkezi 2010, S. 53, 63. Yedigün, 30.6.1937.
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samkeit schenkten. Innerhalb der kemalistischen Cumhuriyet Halk Partisi (CHP), für die er während des Zweiten Weltkriegs als Abgeordneter fungierte und in der sich auch Unterstützer der Deutschen befanden, bezog er gegen die Deutschen Position. Yalçın wurde jedoch zu den Feierlichkeiten zu Hitlers 50. Geburtstag nach Deutschland eingeladen. Anfänglich wollte er dieser Einladung nicht Folge leisten, erklärte dann, dass er unter Kontrolle des Außenministeriums nach Berlin gehen musste. Zu Hitlers Geburtstag reiste jedenfalls eine Delegation mit folgenden Journalisten zwischen dem 14. April und dem 1. Mai 1939 nach Deutschland: Necmettin Sadık von der Zeitung Akşam, Hüseyin Cahit Yalçın von der Zeitung Yeni Sabah, Falih Rıfkı Atay von der Zeitung Ulus und Nadir Nadi von der Zeitung Cumhuriyet. Der Autor Şiar Yalçın, der nach der Hinrichtung seines Vaters, des ehemaligen Finanzministers Cavit Bey, bei Hüseyin Cahit aufwuchs, überliefert, dass Hitler mit Blick auf Hüseyin Cahit sagte: „Wir haben nicht nur unsere Freunde, sondern auch unsere Feinde eingeladen.“6 Falih Rıfkı Atay hielt seine Meinung über Hitlers Persönlichkeit und Führung in seinem Artikel „Hitlers Geburtstag“ vom 20. April 1939 in der Zeitung Ulus so fest: „Hitler hat ohne Zweifel alles gemacht, was einen sterblichen Bürger die Eigenschaft eines Nationalhelden gewinnen lässt. Deutschland konnte in seiner Person einen Chef finden, der alle Angelegenheiten verwirklicht. Hitler, der mit einer Handvoll Freunden in den kompliziertesten, schlechtesten und niedrigsten Tagen eines schwachen und besiegten Deutschlands anfing zu kämpfen, hat nicht nur seiner Nation Gleichheit bei politischen Rechten verschafft, eine neue Armee errichtet und schließlich die Entwurzelung von Grund und Boden beendet, sondern auch die Einheit der deutschen Rasse so gut wie gesichert […] Wie groß die Feier seiner Nation für den 50. Geburtstag eines solchen Chefs auch wird, niemand kann sie als übertrieben bezeichnen.“7 Hüseyin Cahit Yalçıns Eindrücke von Berlin waren im Gegensatz zu Atay negativ: „Hitler empfing alle Eingeladenen im neu errichteten Gebäude des Premierministers. Wie ein Soldat aufgestellt, wartete man auf Hitlers Inspektion. Hitler ging vor uns, als ob er seine Untertanen in einer Truppenabteilung inspizieren würde. Sein Aussehen und seine Haltung waren sehr unsympathisch. Er stand vor jeder Delegation, während er die Hand des Delegationsvorsitzenden drückte, sagte ein paar Worte dabei und ging danach vorbei, indem er die Hand der Delegationsmitglieder drückte.“8 Hüseyin Cahit, der sich bei Hitlers Geburtstagsfeier über dessen arrogante Haltung ärgerte, wollte die Feier verlassen, wurde jedoch vom türkischen Botschafter in Berlin zurückgehalten. Auch auf die spätere Kritik des Auswärtigen Amtes in Berlin, Hüseyin Cahit Yalçın würde mit seinen gegen Deutschland gerichteten Schriften die Handelsbeziehungen zwischen den beiden Ländern beeinträchtigen, 6 7 8
Vgl. Bengi, Hilmi: Gazeteci, Siyasetçi ve Fikir Adamı Olarak Hüseyin Cahit Yalçın. Ankara: Atatürk Araştırma Merkezi 2000, S. 313. Ulus, 20.4.1939. Bengi, Gazeteci, S. 313.
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reagierte er und wollte seine Erinnerungen an die Einladung Hitlers unter dem Titel „Hitler sagte zu mir“ wieder in der Zeitung Yeni Sabah publizieren. Aber nach der ersten Veröffentlichung am 16. Juni 1940 kam keine Fortsetzung. Es ist zu vermuten, dass von Yalçın verlangt wurde, die Schriftenreihe zu unterbrechen, um ein diplomatisches Problem zu vermeiden. Im Jahr 1941 bezeichnete Yalçın den Nazismus in einem Beitrag in Tanin als „ein Regime, das gestürzt werden müsste.“ Auch kritisierte er mit harten Worten die Zeitung Cumhuriyet von Nadir Nadi, einem der Journalisten, der an Hitlers Geburtstag teilnahm, die während des Zweiten Weltkriegs eine pro-deutsche Haltung einnahm, und spielte darüber hinaus eine aktive Rolle bei ihrer vorübergehenden Schließung. Kurz gesagt – obwohl Hüseyin Cahit Yalçın der Übersetzer von Mein Kampf war, betrachtete er Hitler und seine Ideologie nicht mit Sympathie, im Gegenteil, er hasste den Nazismus. 2. WEITERE ÜBERSETZUNGEN VON MEIN KAMPF Die Übersetzung von Hüseyin Cahit Yalçın wurde 1998 vom Verlag Burak Yayıncılık neu herausgebracht und in den folgenden Jahren veröffentlicht. Es war jedoch notwendig, die Sprache des Buches zu vereinfachen, die nun veraltet und schwer zu lesen und zu verstehen war. Manifesto Yayıncılık hat die vereinfachte Version des Buches zigfach aufgelegt. Insgesamt wurde Mein Kampf neben Yalçın von beinahe 50 weiteren Übersetzern noch einmal ins Türkische übertragen, wobei die meisten auf das deutsche Original zurückgriffen. In fast allen folgenden Ausgaben wurde der Titel Kavgam, der von Hüseyin Cahit Yalçın festgelegt wurde, übernommen. In manchen Publikationen stand das Wort „Kavgam“ zusammen mit dem Originaltitel des Buches Mein Kampf oder es wurde mit Zusätzen wie „Führer“, „Hitlers einziger Roman“, „Nationalsozialismus“, „Nationalsozialistische Bewegung“, „Wichtig ist der Sieg, nicht die Wahrheit“, „Mitleid mit dem Schwachen ist Verrat an der Natur“ versehen. In den Ausgaben von Kavgam des Verlags Kağan Kitabevi in den Jahren 1966, 1968, 1969, 1971, 1972, 1973, 1994 und des Toker-Verlags in den Jahren 1975, 1976, 1989, 1992 wird als Übersetzer der Name A. Nejad erwähnt. Der Toker-Verlag begann ab 1994 die Übersetzungen von Kavgam zu veröffentlichen, die von Mine Toker angefertigt wurden; nach den Ausgaben in den Jahren 1994, 1995, 1996, 1997, 2000 und 2001 wurde zuletzt im Jahr 2017 die 18. Ausgabe veröffentlicht. Es ist auffallend, dass in der Zeitschrift, die im Toker-Verlag unter dem gleichen Namen erscheint, über die sieben Ausgaben in zwei Jahren von Kavgam mit „Stolz“ berichtet wird.9 Die erste Übersetzung von Mein Kampf aus dem deutschen Original stammt von Refik Özdek, einem in Constanta in Rumänien geboren Journalisten, der für
9
Vgl. Toker, Ekim (Oktober) 1976, S. 34.
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seine nationalistischen Ansichten bekannt war.10 Das Buch, das erstmals mit dem Vermerk „in der Türkei als Volltext“ durch den Verlag Yağmur Yayınları im Jahre 1972 veröffentlicht wurde, ist innerhalb desselben Jahres sechsmal und in den Jahren 1975, 1978, 1980, 2001, 2002, 2004 und 2005 erneut aufgelegt worden. Die erste Ausgabe der Übersetzung des Buches durch M. Selman Uğurlu erfolgte 1998 durch den Verlag Kamer Yayınları. In der Einleitung des Buches steht Folgendes: „Kavgam ist eines der Bücher, die die Welt verändert und die Massen am stärksten beeinflusst haben. Wir können besser verstehen, was das bedeutet, wenn wir den Wert, den Hitler der Propaganda gibt, sehen. Was ein Staat ist und was der Staat tun sollte, Staatsbürgerschaft, Überlegenheit der Rassen, Hitlers Sicht auf alltägliche Angelegenheiten, sie zu bewerten und aus diesen Angelegenheiten Lektionen zu ziehen, wofür die Massen nützlich sind, was andere Menschen sind, besser gesagt was jene sind, die nicht von seiner Rasse sind, in seiner eigenen Fassung zu lesen, bildet den beeindruckendsten Aspekt des Buches.“ Die Übersetzung von Uğurlu wurde 2016 und 2018 vom Verlag Yakamoz (Sonsuz) und 2017 vom Verlag Berre Yayınları erneut gedruckt. In dieser Ausgabe findet sich auf dem Titelblatt unter dem Titel Kavgam als Hitler-Zitat der Spruch wiedergegeben: „Vergleichen Sie sich mit niemandem auf der Welt. Wenn Sie sich vergleichen, beleidigen Sie sich selbst“. Als sich das Interesse der Leser an Kavgam erhöhte, begannen nach den 2000er Jahren einige Verlage auch wegen des kommerziellen Reizes, verschiedene Übersetzungen zu drucken. Die meisten davon wurden aus dem deutschen Original angefertigt. Im Jahr 2010 brachte der Verlag Karşı Yayınları die „Manga“-Version von Mein Kampf als Comic auf den Markt, die Dilara Aybar aus dem Japanischen übersetzt hatte. Eigentlich wurde die Comic-Version von Kavgam das erste Mal im Jahr 1977 vom Verlag Havass Yayınevi in der Türkei gedruckt. Sie war jedoch nicht dem Original von Mein Kampf verpflichtet wie das im Jahre 2010 von Karşı Yayınları gedruckte Buch. Die 1977 von Max Frisch eingeleitete Publikation von Karikaturen und Zeichnungen von Clément Moreau bezog einen kritischen Standpunkt. Eine Neuauflage dieser Bildpublikation, die Hitler mit schwarzem Humor karikiert, erschien unter dem Titel Mein Kampf-Kavgam im Jahr 2000 im Verlag Ütopya Yayınevi. Sibel Özbudun hat die Übersetzung dieses Buchs ins Türkische verfasst. Ein weiterer Verlag, der erneut einen Comic von Kavgam mit kritischer Herangehensweise veröffentlichte, ist Habitus Yayıncılık. Das von Kurt Halbritter mit schwarzem Humor illustrierte Comic, dessen Originaltitel Adolf Hitlers Mein Kampf. Gezeichnete Erinnerungen an eine große Zeit lautete, wurde 2013 unter dem Titel Kavgam: Bir Dönemi Çizgilerle Hatırlamak [Mein Kampf: Eine Zeit mit Zeichnungen erinnern] veröffentlicht. Das Buch wurde von Tuvana Gülcan ins Türkische übersetzt. Nach Übersetzern, Verlagen und Erscheinungsjahren können folgende weitere Publikationen des Buchs Kavgam nach 2000 aufgelistet werden: 10
Zu den Übersetzungen von Özdek gehört auch das Buch Die Erinnerungen von General Hans Baur, Hitlers Pilot.
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Tuncar Tuğcu, Gökçe Kitabevi (2001, 2002, 2005) Kamil Turan, Bilge Karınca Kitabevi (2002) Oktay Ertaş, Beda Yayınları (2002, 2004) Eda Kaban Dağhan, Abaküs Yayınları (2004) Emel Yıldız, Ekol Yayıncılık (2004) Evren Aydın, Prestij Yayınları (2004) Mehmet Altun, MDS Yayınları (2004) Yağmur Ceyhani, Birleşik Yayınları (2004) A. Naci Demirci, Okumuş Adam Yayınları (2005) Ömer Kenan Yalıntaş, Emre Yayınları (2005) Yıldırım Karadağ, Nitelik Yayınları (2005) Uğur Filiz, Ihlamur Basım Yayın (2011) Serkan Ateşol, Booccase Yaynevi (2011, 2012, 2013) Mustafa Akpınar, Avro / İnciraltı Yayınları (2012) Mutlu Caner, Gencay Yayınları (2012) Murat Köse, Altınpost Yayınları (2013, 2015) Turgut Buğra Akdoğan, Yason Yayınları (2014) Ali Kaya, Parga Yayıncılık, İstanbul (2015, 2017) Göksu Birol, Yason Yayınları (2016) Çınar Özkan, Maviçatı Yayınları (2016) Ebru Ece Gözsüz, Lokomotif Yayınları (2016) Murat Yıldırım, Karaca Yayınları (2016) Murat Yıldırım, Oscar Yayıncılık (2016) Mümin Semerci, Uğur Tuna Yayınları (2016, 2017) Nursaç Özpınar, Karınca Yayınları (2016) Korhan Göktuğ, Panama Yayıncılık (2016, 5. Aufl.) Ergün Aydın, En Kitap (2016) Şefika Aydın, Böğürtlen Yayıncılık (2016) Merve Turan, Girdap Kitap (2016, 2017) Turgut Akbuğra, Gece Kitaplığı (2016, 2017) A. Basad Kocaoğlu, İlgi Kültür Sanat Yayıncılık (2016, 2017) Ayhan Aslan, Berre Yayınları (2017) Alp Dağ, Eftelya Yayınları (2017) Ayhan Aslan, Dokuz Yayınları (2017) Begüm Şehrazat Çınar, Dokuz Yayınları (2017) Çetin Özkan, Mavi Çatı Yayınları (2017) İbrahim Korkmaz, Lopus Yayınları (2017) Mertcan Ermiş, Lades Kitap Yayın (2017, 2018, 8. Aufl.) Hakan Çelik, Tutku Yayınları (2018) In einigen Ausgaben, die von unterschiedlichen Verlagen publiziert wurden, ist der Name des Übersetzers nicht angeführt.
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3. DAS INTERESSE AN KAVGAM UND SEINE FOLGEN Wenn man sich die obige Liste ansieht, fällt auf, dass die Anzahl von KavgamAusgaben in den Jahren 2004–2005 und nach dem Jahr 2015 gestiegen ist. In den Jahren 2004 und 2005 haben sich gleichzeitig dreizehn Verlage11 in Bewegung gesetzt, um Kavgam zu drucken. Allein in den Monaten Februar und März des Jahres 2005 erreichte der Absatz 100.000 Exemplare. Wenn man bedenkt, dass in der Türkei jedes Jahr acht Bücher pro Kopf gedruckt werden, ist die Zahl beachtenswert. Nachdem Kavgam in der Türkei auf die Liste der meistverkauften Bücher kam, haben sich die deutschen Behörden im Jahr 2005 um ein Verbot bemüht. Dabei war wesentlich, dass durch verschiedene Verlage auch kostengünstige Ausgaben hergestellt wurden und Kavgam so zu den meistverkauften Büchern zählte. Bei dieser Auflagenexplosion wogen jedoch „kommerzielle“ Erwägungen schwerer als „ideologische“ Ansätze. Zu dieser Zeit fiel der Verkaufspreis des Buches bis auf 4,95 Lira.12 Die Verlage waren regelrecht in einen „Wer verkauft billiger?“-Wettbewerb geraten. Der Verlag Manifesto Yayıncılık, der eine auf der ersten Übersetzung basierende Ausgabe gedruckt hatte, konnte bei der Aufholjagd der anderen Verlage nicht zusehen und senkte den Preis des Buches, das zuvor für fast 50 Lira verkauft wurde, auf 5,90 Lira, indem er die Druckqualität minderte und mit der Absicht, „vom Vertrieb zu gewinnen“, auf einen Schlag hunderttausend Exemplare druckte. Diese kostengünstige Ausgabe war eigentlich durch das Kopieren der vorherigen Auflage hergestellt worden und enthielt auch manche ihrer Druckfehler. Mit der Flut kostengünstiger Exemplare im Jahr 2005 erreichte Kavgam den ersten Platz in der Liste der meistverkauften Bücher, indem davon innerhalb eines einzigen Monats zwanzigtausend Stück verkauft wurden. Der Pädagoge Ali Fuat Arıcı bezieht das übermäßige Interesse an Mein Kampf auf die Fernsehserie namens Kurtlar Vadisi [Tal der Wölfe], die im Jahr 2003 auf Sendung gegangen ist und viele Jahre in verschiedenen Fernsehkanälen den Rekord für Einschaltquoten gebrochen hat. Dass in dieser Fernsehserie einer der Schauspieler beim Lesen des Buches Mein Kampf/Kavgam gezeigt wurde, hatte nach Arıcı zur Folge, dass es zu den meistverkauften Büchern in der Türkei gehört.13 Der Verkaufsboom von Kavgam hat die jüdische Gemeinde in der Türkei verstört. Der jüdischen Gemeinde reichte es nicht, ihr Unbehagen zu äußern, sie startete eine Aktion bei der türkischen und der deutschen Regierung, um das Buch zu verbieten. Die deutschen Behörden setzten sich aufgrund dieser Reaktionen in Bewegung. Die Regierungsvertreter Deutschlands behaupteten, dass der Antisemitismus in der Türkei auf ein sehr gefährliches Niveau gestiegen sei und leiteten ihre
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Abaküs, MDS, Yağmur, Toker, Manifesto, Emre, Beda, Gökçe, Bilge Karınca, Dokuzışık, Manifesto, Kum Saati. Etwa 3 Euro. Vgl. Arici, Ali Fuat: A National Reading Compaigne in Turkey: 100 Basic Literary Works (Türkçe Çeviri Hayrullah Kahya), in: World Applied Sciences Journal, 3/2 (2008), S. 162–167.
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Forderungen bezüglich Präventionsmaßnahmen über das Außenministerium an die türkische Regierung weiter.14 Eine der Begründungen für die Forderung der deutschen Regierungsvertreter nach einem Druckverbot dieses Buches in der Türkei war die Lizenzfrage. Das Urheberrecht von Mein Kampf lag aufgrund der Anmeldung Hitlers in München bei der Bayerischen Staatsregierung. Die Bayerische Staatsregierung, die dies als Begründung anführte, verlangte, dass jenen Verlagen, die keine Lizenzgebühr zahlten, keine Genehmigung erteilt werden soll. Demzufolge wurden die türkischen Ausgaben von Mein Kampf von den deutschen Behörden als „Raubkopie“ betrachtet.15 Der Eigentümer des Verlags Manifesto Yayınevi, Oğuz Tektaş, der die Übersetzung von Hüseyin Cahit Yalçın vereinfacht gedruckt hatte, widersetzte sich den „Raubkopie“-Behauptungen und argumentierte, dass laut internationalen Abkommen kein Urheberrecht mehr bestehe, wenn 75 Jahre nach der Abfassung eines Werkes vergangen seien. Wenn man bedenke, dass Hitler Mein Kampf am 18. Juli 1925 veröffentlicht habe, bestehe keine Pflicht für Lizenzgebühren. Doch wie allgemein üblich, ist es auch in der Türkei Praxis, dass die Schutzfrist einer Publikation zu Lebzeiten des Verfassers des Werkes und noch 70 Jahre nach seinem Tod gilt. Nachdem Hitler 1945 starb, musste das Ablaufdatum der Schutzfrist 2015 lauten. Diese Entwicklungen im Jahr 2005 haben auch die Aufmerksamkeit der türkischen, deutschen und britischen Presse sowie die der deutschen Behörden erregt. In einem Bericht der Hürriyet, einer der auflagenstärksten Zeitungen in der Türkei, heißt es, dass in der Türkei, wo die Lesegewohnheit nicht so hoch ist, Kavgam zum Bestseller geworden sei und dies in Deutschland Erstaunen ausgelöst habe und dass der bayerische Finanzminister Kurt Faltlhauser, der Verwalter des Urheberrechts des Buches, das deutsche Außenministerium kontaktiert haben soll, um gegen die türkischen Verlage vorzugehen. Der Bericht gab auch die Auffassung von Oğuz Tektaş wieder, „dass sie kostengünstig gedruckt haben, weil die Bücher häufig verkauft wurden und dass sie damit kommerzielle Gewinne zu erwirtschaften planten.“16 Oğuz Tektaş wiederholte seine Sicht, dass der Absatz mit einer Niedrigpreispolitik erhöht wurde, auch in seiner Stellungnahme in der Zeitung Radikal. Er behauptete, dass sich das Buch mit einem wichtigen Thema befasst, vertrat die Meinung, dass jeder, der die Welt erforschen wolle, Interesse an Kavgam zeige: „Der Absatz des Buches befand sich schon um die 30.000 Exemplare. Indem wir es kostengünstiger und verstärkt gedruckt haben, haben wir es eigentlich zu einem Handelsgut gemacht. Vorwiegend zeigen die radikalen Gruppen Interesse. Aber unter den Käufern befinden sich Menschen jeder Gesellschaftsschicht. Es wird anscheinend sogar im Fach Internationale Beziehungen als Unterrichtsstoff behandelt.“17 14 15 16 17
Vgl. www.amerikaninsesi.com/a/almanyada-kavgam-tartismasi/3124249 (Zugriff am 21.9.2018). Celal Özcan, Hürriyet, 12.3.2015; Şebnem Aksoy, Deutsche Welle, 22.3.2005, www.dw.com/tr/ kavgam-kavgas%C4%B1-bitmiyor/a-2523972 (Zugriff am 21.9.2018). Vgl. Hürriyet, 12.3.2015; Deutsche Welle, 22.3.2005. Hürriyet, 12.3.2005. Radikal, 13.3.2005, www.radikal.com.tr/kultur/adolf-hitleri-hortlattik-740657/ (Zugriff am 27.2.2018).
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Im Bericht der Zeitung Radikal wird erwähnt, dass Erkan Mehmet Düzen, der Leiter des Verlags Kum Saati Yayınları, der Kavgam ebenfalls herausgegeben hat, sich dahingehend äußerte, dass das Buch ein sehr breites Publikum anspreche und der Buchverkauf sehr gut laufe. Laut diesem Bericht meinte Düzen, dass jeder, der neugierig auf Hitler war, das Buch kaufte, aber die nationalistischen Gruppen sichtbarer seien, und behauptete: „Diese Art von Büchern wird in einer Zeit, in der wirtschaftliche Probleme durchsickern, häufiger verkauft. Dem ist so, weil der Zweite Weltkrieg auch aus wirtschaftlichen Problemen entstanden ist.“ Im Bericht werden auch die Ansichten des Präsidenten der jüdischen Gemeinde Silvio Ovadya wiedergegeben. Ovadya sagte, dass die Kampagnen, die für den Verkauf des Buches gemacht werden, beunruhigend seien, und fügte hinzu: „Es ist schlecht, dass dieses Buch mit Sonderangeboten zu niedrigen Preisen verkauft wird. Die ganze Welt weiß, was die Gedanken Hitlers sind. Dieses Buch in Buchhandlungen in den vorderen Regalen zu sehen, beunruhigt mich. Natürlich ist es keine Regel, dass jeder, der das liest, ein Faschist ist, aber die Aufmerksamkeit auf das Buch zu lenken, ist sehr schlimm.“ In einer Bewertung der Deutschen Welle wurde Folgendes festgehalten: „Die Besitzer der Verlage, die das Buch gedruckt und abgesetzt haben, betonen in Erklärungen, die sie in Medien mehrfach abgegeben haben, dass sie ein Buch mit bereits hoher Nachfrage kostengünstiger und mehrfach gedruckt haben. Den Verlagen nach, die mit dem Verkauf zufrieden sind, ist ‚Kavgam‘ ein kommerzielles Gut, das Profit bringt.“18 Dieselbe Bewertung enthielt die Ansicht der Soziologieprofessorin Nilüfer Narlı, die äußerte: „Durch die Auslösung einiger fundamentaler Ängste in der Gesellschaft steigt das Interesse an allen derartigen Publikationen.“19 Narlı zufolge sind Themen wie das Mossul-Kirkuk-Problem, Entwicklungen wie jene im Nordirak, die Teilung des Landes und der Verlust von Siedlungsbebiet die Ursachen der Angst. Da Kavgam und ähnliche Bücher Fremdenfeindlichkeit unterstreichen würden, zeige die Gesellschaft ihre fremdenfeindliche Reaktion, indem sie sich diesen Büchern zuwende. Eine ähnliche Beurteilung fand sich in der britischen Zeitung Financial Times. In dem Bericht mit der Schlagzeile „Mein Kampf wurde plötzlich das Interessenzentrum der jungen Türken“ wird betont, dass Kavgam innerhalb einer Woche in den Handelsketten Migros D&R in Ankara mehr als tausend Mal verkauft wurde und dass es im Buchhandel Remzi Kitabevi im Einkaufszentrum Alışveriş Merkezi in Armada auf Platz drei der meistverkauften Bücher war. Im Bericht wird betont, dass diese Situation die Juden in der Türkei alarmiert hat, und es werden die Ansichten des Präsidenten der türkisch-jüdischen Gesellschaft, Silvio Ovadya, dazu referiert. Im Bericht der britischen Zeitung Guardian mit der Schlagzeile „Der Verkauf von Mein Kampf in der Türkei steigt an“ wird geäußert, dass „das Buch Mein 18 19
Deutsche Welle, 22.3.2005, www.dw.com/tr/kavgam-kavgası-bitmiyor/a-2523972 (Zugriff am 27.2.2018). Ebd.
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Kampf, das Hitler im Gefängnis schrieb, bevor er 1933 an die Macht kam, durch Staunen provoziert zum meistverkauften Buch der Türkei geworden ist.“20 Die Verlage, die das Buch veröffentlichten, erklärten die Angelegenheit mit dem Streben nach Profit. Die Nachfrage hatte das Angebot hervorgebracht. In einer anderen Sichtweise hatte die Niedrigpreispolitik die Nachfrage erhöht. Es gab jedoch auch einige, die entgegneten, dass die Wahrnehmung der hohen Verkaufszahlen von Kavgam unzutreffend wäre und dass diesbezügliche Berichte nicht der Wahrheit entsprächen. Besonders die jüdische Gemeinde fand derartige Nachrichten übertrieben.21 Es gab auch diejenigen, die die Ansicht einer Übertreibung der Verkaufszahlen des Buches mit einer anderen Herangehensweise stützten. Melih Aşık, Autor der Zeitung Milliyet, war einer derjenigen, die an die Berichte über den Verkaufsboom mit Skepsis herantraten. Er suchte auf die Frage „Warum hat das Buch ‚Kavgam‘ von Hitler urplötzlich angefangen, sich so häufig zu verkaufen?“ eine Antwort und schrieb mit dem Verweis auf die Behauptung des Ökonomen Selim Somçağ, dass der Verkauf von Kavgam „erzwungen“ aufgeblasen wurde: „Die Koordinatorin des Verlags İthaki Yayınları, Füsun Taş, bestätigt diese Ansicht auf Basis der Marktforschung, die sie auf unser Ersuchen durchgeführt hat. Sie vermerkt, dass der Verkauf des Buches nach den falschen Behauptungen über den ‚häufigen Verkauf‘ und nach ‚der Reduzierung des Verkaufspreises auf 6 Lira‘ boomte. Warum werden die Berichte über Kavgam aufgeblasen? Selim Somçağ erinnert an den Artikel von Robert Pollock im Wall Street Journal.22 Dieser Artikel ist ein Meilenstein in den türkischamerikanischen Beziehungen. In diesem Artikel wurde die türkische Bevölkerung beschuldigt, sowohl antiamerikanisch als auch judenfeindlich zu sein. Das Ziel solcher Artikel ist es, die Türkei einzuschüchtern, um sie bei den Themen Irak, Iran und Syrien auf die Linie der USA zu bringen […]. Das zweite Ziel des in der Welt verbreiteten forcierten Verkaufs von ‚Kavgam‘ ist es, die Türkei als judenfeindlich darzustellen, um sie leichter in das Bild des fanatischen Nahen Ostens einzuordnen […], das türkische Volk zu dämonisieren und die Bevölkerung der USA an eine Operation gegen die Türkei zu gewöhnen.“23 Im Artikel von Riva Hayim in der jüdischen Wochenzeitung Şalom werden jedoch das Interesse der Verlage und Vertreiber an Kavgam, die Raubkopien des Buches, die Preise, die sich zwischen 5 und 58 Lira bewegten, die Seitenzahlen zwischen 192 und 765 sowie die Haltung der Vereinigung der Verlegerverbände (YAYFED) in einer sarkastischen Art kritisiert: „Was ist der Standard dieses Manifests? Warum soll das Volk teuer kaufen, wenn es die Raubkopie unter 5 Lira kaufen kann? Welcher Verlag druckt die Version mit den Fußnoten und der Kritik? Oder ist 20 21 22 23
The Guardian 29.3.2005, www.theguardian.com/world/2005/mar/29/turkey.books (Zugriff am 27.2.2018). Vgl. Melih Aşık, „Kavgam Kavgası“, in: Milliyet, 22.3.2005. Gemeint ist Robert Pollocks Artikel „The Sick Man of Europe – Again“, in: The Wall Street Journal, 16.2.2005. Milliyet, 22.3.2005; www.internethaber.com/bati-basini-kavgami-abartti-1114773h (Zugriff am 21.9.2018).
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es schon gedruckt worden? Wird es über oder unter dem Preis des Manifests liegen? Und außerdem glaube ich, haben wir zusammen mit den zahlreichen Verlagen, mit den Verlegern, mit dem Vertriebskanal einen weltweiten Verkaufsrekord gebrochen. Unsere seit Jahren erzielten Verkaufszahlen des Manifests sollen bekannt gegeben werden, sodass auf der Welt darüber berichtet werden kann. Ich dachte, dass Deutschland den Rekord gebrochen hat. YAYFED hat sicherlich die Zahlen. Haben wir den Weltrekord gebrochen? Kann dieser Stolz uns gehören? Haben wir Deutschland überholt? Gibt es die meisten Fassungen in der Türkei? Nach so vielen Arbeitern an Hitlers Manifest bin ich überzeugt davon: in der Türkei. Der freie Markt sollte jedoch nicht bedeuten, dass das Volk hereingelegt wird. Eine Regelung ist ein Muss. Der Schutz der Balance zwischen dem Preis und der Qualität ist notwendig, damit unser Volk nicht mit der Annahme, es günstig gekauft zu haben, hereingelegt wird. Zum Beispiel, wenn ein Verleger mit ziemlich unguten Absichten aus dem Buch ein oder zwei Kapitel herausnimmt und druckt, um beim Papier zu sparen, wer wird das Recht desjenigen Bürgers schützen, der das Buch gekauft hat, um von Hitlers breiten Ideen zu profitieren? Wenn der Wettbewerb zwischen den Opportunisten, die mit der Gesundheit der Volksmeinung spielen, Meinungsfreiheit ist, ist es meine Freiheit, diese zu verteidigen. Ohnehin ist alles absurd und so soll auch ich eine absurde Meinung in den Raum geworfen haben. Zusammengefasst, es gibt nichts zu sagen […]. An all jene, die in den Verkauf des kritiklosen Manifests Arbeit investiert haben – guten Profit. Wenn Sie sehr neugierig sind und nichts anderes zum Lesen gefunden haben, lesen Sie, lassen Sie es lesen, aber während des Lesens lassen Sie sich nicht hereinlegen. Und ja, wenn Sie es kaufen wollen, kaufen Sie das Billigste. So etwas wie Respekt für jede Arbeit gibt es nicht. Es geht auch, wenn diejenigen, die in diesem Bereich Arbeit investieren, nicht viel profitieren.“24 4. VERBOT DES BUCHES UND BRUCH DES VERBOTS Nach all diesen Debatten begann die Phase des Verbotes von Kavgam in der Türkei. Als die deutschen Behörden die Forderung nach einem Verbot erhoben, gingen sie dabei nicht mit einer politischen und ideologischen Begründung vor, sondern die Forderung nach einem Verbot begründeten sie mit der Rechtsauffassung, dass die in der Türkei hergestellten Ausgaben Raubkopien sind. Denn nach Ansicht der deutschen Behörden lief das Urheberrecht 2015 aus. Demnach galten im Jahr 2005, als diese Debatten stattfanden, die urheberrechtlichen Verpflichtungen auch für die Ausgaben in verschiedenen Ländern. Die Bayerische Regierung verlangte von den Verlagen in der Türkei, das Buch nicht zu drucken, bevor Lizenzgebühren gezahlt werden. Einige Verlage haben schriftliche und notariell beglaubigte Zusagen darüber gemacht, dass sie das Buch nicht drucken würden. Sechs Verlage, darunter Manifesto Yayıncılık, haben mit der Begründung, das Urheberrecht des Buches sei abgelaufen, Einwand erhoben. Daraufhin hat die Bayerische Regierung eine Urheberrechtsklage gegen diese Verlage 24
Şalom, 9.3.2016.
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eingereicht. Die Klage wurde nach etwa zwei Jahren zugunsten der Bayerischen Regierung entschieden. Somit wurde der Druck von Kavgam in der Türkei im Jahr 2007 verboten.25 Nach dieser Entscheidung hat das Ministerium für Kultur und Tourismus die Anfragen zu den Banderolen bezüglich des verbotenen Buches Kavgam gestoppt und die Verstimmung zwischen Deutschland und der Türkei, die durch das Buch entstanden ist, beseitigt. Doch trotz dieses Verbots wurden Raubdrucke von Kavgam produziert und der Verkauf setzte sich unter den Theken fort. Erwähnt werden soll eine Initiative des Verlags Nokta Kitap Yayınevi als Versuch, in diesen Jahren dieses Verbot auf legalem Weg zu umgehen. Dabei ist zu beachten, dass 2008, basierend auf „Hitlers Zweitem Buch“ aus dem Jahr 1928, ein Text mit dem Titel Hitler’in İkinci Kitabı Kavgam 2 [Hitlers Zweites, Mein Kampf 2] veröffentlicht wurde. Wir können sagen, dass dem Gedanken, das Buch mit dem Titel „Kavgam 2“ in der Zeit des Verbots von Mein Kampf zu verkaufen, die Absicht zugrunde lag, einen Nutzen aus der Popularität und dem „Reiz des Verbotes“ von Kavgam zu ziehen. Das Buch Hitler’in İkinci Kitabı Kavgam 2, das von Orhan Tuncay ins Türkische übersetzt und vom Verlag Nokta Kitap mit der Ankündigung „Zum ersten Mal in der Türkei“ veröffentlicht wurde, war eine Marketingstrategie. Aufgrund des großen Interesses wurde es 2010 nachgedruckt und in der Übersetzung von İlhami Kaya vom Verlag Bilge Kültür Sanat Kitabevi im Jahr 2016 mit dem Titel Hitlerin İkinci Kitabı 1928 Yılından Bir Vesika [Hitlers Zweites Buch, Ein Dokument aus dem Jahr 1928] erneut veröffentlicht. Wir erwähnten oben, dass in der Zeit des Verbots von Mein Kampf das Buch in einer Version in Form eines „Manga“-Comics ins Türkische übersetzt wurde. Das japanische Original Manga De Dokuha Mein Kampf wurde von Dilara Aybar wieder mit dem Titel Kavgam ins Türkische übersetzt. Mit der Formulierung „Özgün Eser“ [„Original eines Kunstwerks“], das auf dem Titelblatt des im Jahr 2010 erschienenen Buches stand, wurde versucht, die Botschaft zu vermitteln, dass es anders ist als das verbotene Buch. Bei der Präsentation wurde erklärt, dass der japanische Verlag East Press, der die Manga-Version von Mein Kampf produziert hat, dem Originaltext treu geblieben sei, und es wurde besonders betont, Ziel sei es, „dem Leser mit einem objektiven kritischen Kommentar das Wesen des Werks greifbar zu machen, ihn über die Menschenrechtsprobleme der Zeit zumindest etwas nachdenken zu lassen und einen Beitrag dazu leisten zu können.“26 Eine optimistische Bewertung aufgrund dieser Aussagen kann lauten, dass mit der Kritik, die an Hitlers Gedanken geübt wird, die Leser gewarnt werden sollen. Es sollte jedoch nicht die Möglichkeit außer Acht gelassen werden, dass die Notwendigkeit für die Abgabe einer derartigen Erklärung darauf zurückzuführen ist, das Veröffentlichungsverbot zu brechen. Auch die folgenden Äußerungen bei der Präsentation der türki25 26
Vgl. www.haber7.com/kultur/haber/264049-hitlerin-kavgami-turkiyede-yasak (Zugriff am 21.9.2018). Miraç Zeyne Özkartal, in: Milliyet, 27.5.2010, www.milliyet.com.tr/kavgam--yasagi--mangayla-deldi-magazin-1243139 (Zugriff am 21.9.2018).
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schen Übersetzung legen diese verhüllte Absicht nahe: „Dialektisch denken wir: An einem Ort, wo das Böse, das Unmenschliche und der Faschismus nicht erzählt und nicht bewusst gemacht werden, wird der Wert des Menschlichen und auch der Freiheit nicht bewusst und sie ergeben keinen Sinn. In diesem Zusammenhang denken wir auch, dass jeder, egal ob alt oder jung, der Kavgam, dessen Druck und Verkauf vor allem in Deutschland, in der Türkei und in vielen Ländern verboten ist, nicht liest und nicht kennt, durch den Manga das Wesen dieses Werks begreifen wird; und das größte Massaker der Menschheitsgeschichte und dessen gedanklicher Hintergrund, das mit wertvollen Charakterzeichnungen symbolisiert wurde, werden auf diese Weise nicht aus dem Gedächtnis gelöscht.“ Özcan Erdoğan, Chefredakteur des Verlags Karşı Yayınları, der Herausgeber der Comic-Version von Manga Kavgam in der Türkei, sagte in der Erklärung in der Zeitung Milliyet, dass sie dieses Buch gedruckt haben, weil „sie glauben, dass das Böse auch gekannt werden muss.“ Erdoğan erzählte, dass die Entscheidung darüber, das Buch zu veröffentlichen, in der Überzeugung getroffen wurde, dass das Buch Hitler nicht sympathisch zeigt, und er der Meinung war, „die jungen Leute sollen wissen, was erlebt wurde.“ Die Aktion „Verbot brechen“ von Manga Kavgam zeigte Wirkung, denn seit dem Jahr 2011 wurde Kavgam entweder durch andere Übersetzungen gekürzt und verändert oder durch Einfügungen ergänzt den türkischen Lesern erneut zugänglich gemacht. Der Verlag Mola Kitap hat in diesem Jahr eine 634-seitige neue Ausgabe von Kavgam herausgebracht. Im selben Jahr hat der Verlag Ihlamur vor das Wort „Kavgam“ den Satz „Deine Daseinsberechtigung entspricht deiner Kampfstärke“ hinzugefügt und das neu übersetzte Buch mit 519 Seiten auf den Markt gebracht. Ähnlich hat der Verlag BookCase in Konya von 2011 bis 2013 an das Ende des Titels Kavgam den Satz „Mitleid mit dem Schwachen ist Verrat an der Natur“ gestellt und eine Ausgabe mit 562 Seiten veröffentlicht. Auch der Verlag Altınpost Yayınevi ließ eine 296-seitige zusammenfassende Übersetzung des Buches, im Titel um denselben Zusatz erweitert, herstellen und veröffentlichte sie im Jahr 2013. Die Zuständigen von Altınpost Yayınevi, nach deren Meinung wir gefragt haben, verteidigten ihre Auffassung damit, dass das Buch, das sie gedruckt haben, eine verkürzte, zusammengefasste, eine andere Version und nicht das verbotene Buch sei und somit nicht unter das Verbot falle. Nachdem das Veröffentlichungsverbot aufgehoben worden war, konkurrierten die Verlage darum, die türkischen Übersetzungen von Kavgam, die vom Original des Buches angefertigt wurden, zu drucken. Im Jahr 2016 haben fünf und im Jahr 2017 acht verschiedene Verlage beim Ministerium für Kultur um die Veröffentlichung des Buches angesucht. In den ersten zwei Monaten des Jahres 2018 erhielten vier verschiedene Verlage ISBN-Nummern, um das Buch Kavgam zu veröffentlichen.27
27
Vgl. Türkiye Cumhuriyeti Kültür Bakanlığı, Kütüphaneler ve Yayımlar Genel Müdürlüğü, ISBN verileri.
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5. REAKTIONEN AUF DAS VERBOT Die allgemeine Tendenz der Intellektuellen ging in Richtung Ablehnung des Verbots, trotz des negativen Inhalts des Buches. Doğan Hızlan, einer der führenden Buchkritiker der Türkei, ist einer der Verteidiger dieser Auffassung. Im Jahr 2005, als die Forderungen nach dem Verbot von Kavgam bekannt wurden, betonte Hızlan in einem Artikel mit der Überschrift „Auch wenn es sich beim Buch um Kavgam handelt, sollte es nicht verboten werden“ in Hürriyet, dass er der Ansicht von Ragıp Zarakolu, Vorsitzender des Ausschusses für Veröffentlichungsfreiheit des Verbands der Verleger der Türkei, zustimme. Er meinte: „Ich als ein Mensch, der für Meinungsfreiheit steht, bin ehrlich gesagt nicht gegen das Verbot eines Buchs, das Katastrophen auf unserer Welt ausgelöst hat und Propaganda für Rassismus macht. Gegen das Verbot von Büchern sollte immer gekämpft werden. Fahrenheit 451 unter der Regie von François Truffaut, das für die Bücher, die zur Zeit Hitlers verbrannt wurden, produziert wurde und in unserem Gedächtnis eingraviert ist, hat die Menschheit nicht vergessen und wird es nicht vergessen.“28 Er verteidigte seine Ablehnung eines Verbotes von Kavgam aus seiner Sicht mit der Feststellung: „Weil es in meinem Interesse ist zu verhindern, dass die verbotenen Bücher größere Neugier wecken.“ Hızlans Artikel enthielt auch einen Vorschlag für derartige Bücher: „So wie auf Zigarettenpackungen ‚gesundheitsschädlich‘ steht, sollte auf diesem Buch ein Band mit der Aufschrift ‚der Menschlichkeit schadend‘ angebracht werden.“ Der Akademiker und Politiker Ümit Özdağ erklärte den Grund für das Interesse an Kavgam in einem Artikel in der Zeitung Akşam dahingehend: „Die guten Türken, die denken, dass sie von hinten erdolcht wurden, lesen Hitler. Jene, die es so sehen, sehen die Lösung in der Befriedung des Eifers des ‚normalen‘ türkischen Nationalismus, den Kavgam anspricht.“29 Für Albrecht Koschorkes Buch Hitler’in Kavgam’ı Üzerine Bir Analiz – Nasyonal Sosyalizmin Poetikası [Adolf Hitlers Mein Kampf – Zur Poetik des Nationalsozialismus], das sich kritisch mit Mein Kampf auseinandersetzt und das von Ayşe Kurultay ins Türkische übersetzt wurde, verfasste der Verleger Tanıl Bora eine Präsentationsschrift und hinterfragte darin, weshalb Kavgam in der Türkei häufig verkauft wird. Bora, der die in den Sozialen Medien verbreiteten Kommentare als „furchterregend“ bezeichnete, schrieb: „Ich sag’ mal so, es gibt einige, die behaupten, dass diese ‚das Leben hinterfragende‘ Arbeit von Adolf Reis [d. i. Anführer Adolf] nach dem Koran das zweite Buch ist, das jeder Muslim lesen sollte‘, und den Rest könnt ihr euch denken. Ihr könnt auch mit euren eigenen Augen sehen, dass es auf sehr vielen Filesharing-Internetseiten viel häufiger heruntergeladen und angesehen wird als der Koran und dass es auf dem Markt Ausgaben von dutzenden Verlagen gibt. Kurz gesagt, wir können behaupten, dass Hitlers Kavgam in einer sehr verbreiteten Sichtweise der Rechten der Türkei, vom Nationalisten bis zum Konservativen und Islamisten, gar nicht tabu ist. Auch in den links erscheinenden nationalistischen Kreisen werden es nicht wenige als wertvoll oder zumindest verzeihlich 28 29
Hürriyet, 14.3.2005. Akşam, 4.3.2005.
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erachten. Der Antisemitismus in der Rechten als eine Art ‚gemeinsamer Wert‘ und das Übergehen mit Gleichgültigkeit durch die Linke tragen seit langer Zeit zu dieser freundlichen Akzeptanz bei. Ich will, was ich 2005 in einer kurzen Schrift erwähnte, wiederholen: Kavgam ist eine Sünde in diesem Land, eine Sünde, der man kaum aus dem Weg gehen kann.“30 Das Druckverbot hat das Interesse an dem Buch nicht gemindert, im Gegenteil, das Verbot hat den Reiz erhöht. Daher hat Kavgam unter anderen Titeln oder als Raubkopien den Leser sogar in jener Zeit erreicht, in der es verboten war. Indem Kopien des Buches damals ins Internet gestellt wurden, war es für die Leser auf virtuellen Plattformen erreichbar, womit es zu einem Diskussionsthema auf Blogseiten im Internet wurde. Und obwohl sich die verschiedenen Kommentare stark in ihrem Urteil und ihrer Beurteilung des Buches unterschieden, stimmten sie doch in der Ablehnung eines Verbots weitgehend überein. 6. BEWERTUNG DER SPRACHE DER TÜRKISCHEN ÜBERSETZUNGEN VON MEIN KAMPF In Anbetracht dessen, dass Hüseyin Cahit Yalçıns Mein Kampf-Übersetzung die erste Übersetzung war, kommt ihr einige Bedeutung zu. Sie ist schwerfällig und wir können vier Gründe anführen, die dafür verantwortlich sind, dass die Übersetzung in einem nicht leicht verständlichen Stil verfasst wurde. Zunächst ist es auf Hitlers Stil zurückzuführen. Da er keine literarische Persönlichkeit war, wird Hitlers Stil in Mein Kampf von vielen Kritikern als schwer empfunden.31 Die Bewertungen von Hitlers Stil können wie folgt aufgelistet werden: – – – – – – –
Das Buch wurde in einem schlechten Deutsch geschrieben. Die Sprache des Hasses wurde verwendet. Vom Anfang bis zum Ende wurde die Wertschätzung der Diktatur hervorgehoben. Rassismus bildete eines der Hauptmotive des Buches. Die Juden wurden gedemütigt. In intellektueller Hinsicht hat das Buch gar keinen Wert. Auch in wissenschaftlicher Hinsicht hat es gar keinen Wert.
In der Sendung von BBC Radio4 vom 14. Jänner 2015 erklärte John Murphy, der Enkel von James Murphy, der Mein Kampf ins Englische übersetzt hatte, dass dieser den Stil von Hitler als „komplex und grob“ beschrieben hat. Der zweite Grund dafür, dass die Übersetzung von Hüseyin Cahit als schwer empfunden wird, ist der Umstand, dass seine türkische Übersetzung nicht aus dem 30 31
In: Koschorke, Albert (Übersetzerin Ayşe Kurultay): Hitler’in Kavgam’ı Üzerine Bir AnalizNasyonal Sosyalizmin Paetikası, İstanbul: İletişim Yayınları 2016, S. 13. Vgl. Yalçın, Doğan, „Yetmiş Yıl Sonra Hitler’den Kavgam“, T24, t24.com.tr/yazarlar/yalcindogan/yetmis-yil-sonra-hitlerden-kavgam, 13617 (Zugriff am 21.9.2018). Zu Hitlers Sprache vgl. den Beitrag von Helmuth Kiesel in diesem Band.
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Deutschen, sondern aus dem Englischen angefertigt wurde. Es wurde also die Übersetzung einer Übersetzung hergestellt. Der dritte Grund ist Hüseyin Cahit Yalçıns eigener Stil. Er selbst kritisierte sich, dass der Stil, den er in seinen Schriften verwendet, so schwer sei, dass der Leser gelangweilt werden würde.32 Der vierte Grund ist der Unterschied zwischen dem Türkisch der 1940er Jahre, als die erste Übersetzung gemacht wurde, und dem Türkisch, das heute verwendet wird. So wurde in der ersten Ausgabe des Buches in den Kapitelüberschriften das arabische Wort „Bab“ statt des Wortes „bölüm“ für „Kapitel“ verwendet. Wiederum auf Seite 21 der ersten Ausgabe: „Das Ziel der sozialen Aktivität ist es nie gewesen, einschläfernden Wohlstand und Glück zu stabilisieren; sondern eine Wirtschaft und Kultur der Prävention tatsächlicher Armut in unserem Leben zu schaffen, die den Aufstieg des Individuums bewirkt oder zumindest diesen hervorbringt.“ Es ist nicht möglich, dass die heutige Generation Wörter wie „refa“, „tereddi“, „saik“, „intaç“ und „içtinap“, die in diesem Satz vorkommen, versteht, ohne ins Wörterbuch zu sehen.33 Ebenso ist es nicht möglich, dass das im Schlussteil des Buches im Satz „In einer Zeit, in der die Rassen der Beschmutzung ausgesetzt werden, soll ein Staat, der mit großer Eifersucht auf die Bewahrung seiner eigenen Elemente achtet, eines Tages unbedingt Meister der Welt werden“ vorkommende Wort „telvisat“ (etwa „beschmutzt werden“) (S. 510) von der heutigen Jugend verstanden wird. Daher wurde der Weg eingeschlagen, die Übersetzungssprache zu vereinfachen, um das Verständnis des Buches für den Leser zu erleichtern. So wurde zum Beispiel in den Ausgaben, die durch den Verlag Manifesto Yayıncılık publiziert wurden, die Übersetzung von Hüseyin Cahit Yalçın durch Mustafa Karaca vereinfacht. Wir können sagen, dass auch die Übersetzungen, die auf der deutschen Ausgabe des Buches basieren, sich nicht wesentlich von der Übersetzung von Hüseyin Cahit unterscheiden, aber in einem flüssigeren und verständlichen Stil verfasst wurden. Es sollte auch angemerkt werden, dass man sich in neuesten Übersetzungen verstärkt bemüht, einen einfacheren Stil zu verwenden, um den Leser nicht zu langweilen. Doch auch wenn in der Übersetzung darauf geachtet wird, einen flüssigen Stil zu verwenden, spiegelt sich zwangsläufig der ursprüngliche Stil des Originaltextes im Buch wider. Die Kommentare im Internet teilen meist die Einschätzung als schwer lesbarer Text.
32 33
Vgl. Yalçın, Hüseyin Cahit: Siyasal Anılar (Baskıya Hazırlayan Rauf Mutluay). İstanbul: İş Bankası Kültür Yayınları 1976, S. XII. Deutsche Übersetzungen für diese Wörter wären etwa „Wohlstand“, „Aufstieg“, „bewirken“, „hervorbringen“ und „vermeiden“.
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7. SCHLUSSWORT Man kann sagen, dass Hitlers Buch Mein Kampf zu den Büchern zählt, denen in der Türkei Interesse zuteilwird. Es ist zu beobachten, dass dieses Interesse vor allem zu Beginn der 2000er Jahre, in einer Phase politischer Instabilität in der Türkei, die auch „nationalistische“ Parolen als Konsequenz hervorbrachte, ein aufsehenerregendes Ausmaß erreichte. Letztendlich wäre aber eine Beziehung zwischen den steigenden Auflage- und Verkaufszahlen von Kavgam und aktuellen Entwicklungen in der Türkei schwerlich empirisch nachzuweisen. Es kann davon gesprochen werden, dass sich viele Verlagshäuser die Schritte zur Ausweitung der Demokratisierung und der Liberalisierung zu Nutze gemacht und sich dem Druck von Kavgam zugewandt haben. Hier treten kommerzielle Tendenzen eher in den Vordergrund und keine ideologische Präferenz. Es handelt sich um einen Wettbewerb, bei dem durch eine Niedrigpreispolitik mehr Absatz und Profit erzielt werden sollen. Obwohl der Druck des Buches nach dem Jahr 2007 mit der Begründung „unbezahlter Lizenzgebühren“ verboten wurde und eine Zeit lang keine neuen Ausgaben erschienen, entwickelte sich das Verbot regelrecht zur Werbung für Kavgam. Es erhöhte den Reiz und das Interesse und die neugierigen Leser verschafften sich das Buch Mein Kampf durch Raubkopien und Verkäufe unter der Theke. Bevor im Jahre 2015 das Urheberrecht abgelaufen ist, wurde neben dem Druck der illustrierten Version im Jahre 2010 das Verbot durch wechselnde Bezeichnungen und durch Kürzungen oder Veränderungen in manchen Abschnitten gebrochen und das erneute Zusammentreffen des Lesers mit Kavgam ermöglicht. Nach den angeführten Sichtweisen verschiedener Intellektueller unterschiedlicher Ausrichtung ist es keine Lösung, das Buch zu verbieten. Im Gegenteil bewirkt das Verbot die Steigerung des Interesses und der Neugier. Heute kann der neugierige Leser durch die Möglichkeiten des Internets Kavgam als Raubkopie auch in Form von E-Books herunterladen und lesen. Übrigens sollte an die erwähnte Sichtweise der jüdischen Gemeinschaft zur Übertreibung steigender Verkaufszahlen von Kavgam in der Türkei erinnert werden. Es wäre nicht zutreffend zu behaupten, dass jeder, der Mein Kampf liest, von Hitlers Anschauungen beeinflusst wird. Im Gegenteil gibt es ziemlich viele, die negative Meinungen hegen, nachdem sie Kavgam gelesen haben. Es mag sein, dass Kavgam zu einer bestimmten Zeit in der Türkei zu den Bestsellern gehört hat. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die türkische Gesellschaft Hitler mit Sympathie betrachtet und den Nationalsozialismus unterstützt. Im Gegenteil glaube ich – obwohl keine konkreten wissenschaftlichen Daten dazu existieren –, dass es nicht falsch wäre zu behaupten, dass die Mehrheit der Türken, einschließlich der Nationalisten, Hitler und den Nazismus scharf ablehnen.
DIE ÜBERSETZUNGEN VON HITLERS MEIN KAMPF INS PORTUGIESISCHE1 Maria Lin Moniz (Übersetzung aus dem Englischen von Karl Hubmayer, Salzburg) 1. ALLGEMEINER ÜBERBLICK Ob bewundert oder verhasst, Adolf Hitler ist wegen der fürchterlichen Auswirkungen seiner Ideen und Handlungen heute immer noch ein unausweichlicher Bezugspunkt der Zeitgeschichte. Es verwundert daher nicht, dass sein Buch Mein Kampf seit der Erstveröffentlichung bis zum heutigen Tag auf der ganzen Welt aus verschiedensten Gründen so viel Interesse hervorgerufen hat. Portugal und Brasilien bildeten da keine Ausnahme. Während des gesamten 20. Jahrhunderts bis in die unmittelbare Gegenwart (2017) finden sich Übersetzungen von Mein Kampf oder andere Bücher, die sich mit Hitlers Werk befassen. Nach den in der portugiesischen Ausgabe von Mein Kampf des Jahres 2015 zur Verfügung gestellten aktualisierten Daten lassen sich in Portugal und Brasilien 13 Ausgaben nachweisen: 1934: 1962: 1976: 1983: 1987: 1990: 1998: 2011: 2011: 2015: 2016: 2016: 2016:
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Livraria do Globo – Porto Alegre (Brasilien) Editora Mestre Jou – São Paulo (Brasilien) Edições Afrodite – Lissabon (Portugal) Editora Moraes – São Paulo (Brasilien) Pensamento Editores – Lissabon (Portugal) Revisão Editora – Porto Alegre (Brasilien) Hugin Editores – Lissabon (Portugal) Centauro Editora – São Paulo (Brasilien) Casa de Berlim – Lissabon (Portugal) E-Primatur – Lissabon (Portugal) Guerra e Paz – Lissabon (Portugal) Contra-Corrente – Lissabon (Portugal) Sábado Magazin/Glaciar – Lissabon (Portugal)
Der Formulierung „Übersetzungen von Hitlers ‚Mein Kampf‘ ins Portugiesische“ wurde gegenüber dem Titel „Die portugiesischen Übersetzungen von Hitlers ‚Mein Kampf‘“ der Vorzug gegeben, weil die vorliegende Untersuchung zwar den Fokus auf Übersetzungen richtet, die in Portugal hergestellt und publiziert wurden, sich aber auch mit einer brasilianischen Übersetzung beschäftigt.
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Von allen brasilianischen Übersetzungen ist nur die erste aus dem Jahr 1934 in der Portugiesischen Nationalbibliothek zu finden. Es soll also auch geklärt werden, warum sich diese Version bis ins Jahr 2016 gehalten hat. Die erste Übersetzung von Mein Kampf ins Portugiesische erschien in Portugal im Jahr 1934. Es war dies die brasilianische Übersetzung, die vom Verlag Livraria Globo in Porto Alegre (Brasilien) herausgebracht wurde. Der Verlag hat für den Erwerb der Übersetzungs- und Publikationsrechte in Brasilien und Portugal bezahlt. Zu dieser Zeit stand Portugal unter dem diktatorischen Regime „Estado Novo“ (Neuer Staat), das von António de Oliveira Salazar (1889–1970) im Jahr 1933 gegründet wurde. Salazar regierte das Land bis 1968, ihm folgte Marcelo Caetano (1906–1980). Das Regime endete am 25. April 1974, jenem Tag, an dem mit der „Nelkenrevolution“ das gegenwärtige demokratische System in Portugal begann. Wie in anderen autoritären Systemen waren Zensur und Geheimpolizei wesentliche Eckpfeiler des Regimes von Salazar. Im Jahre 1934 wurde offiziell die Zensur eingeführt. Dabei wurden die Presse, die Literatur, das Kino und andere kulturelle Einrichtungen mit harter Hand kontrolliert2, um alle Anzeichen, die man als gefährlich, subversiv oder für die konservativ-katholische Gesellschaftsordnung als störend ansah, im Keim zu ersticken. Kommunismus und Sexualität waren zum Beispiel ausgesprochene Tabuthemen. Angesichts der Tatsache, dass ein wesentlicher Teil des „Estado Novo“ dem Deutschen Reich gegenüber positiv eingestellt war, überrascht es nicht, dass Bücher oder Schriften, die Propagandamaterial für Hitler oder das Nazi-Regime enthielten, zugelassen wurden. Eine von vielen Publikationen, die der Kommission für Zensur vorgelegt und autorisiert wurden, war eine Schrift mit dem Titel Adolf Hitler. Die Beurteilung lautete im Bericht der Zensurkommission wie folgt: „Die Schrift stellt eine Huldigung dar, die die Qualitäten und Tugenden des Kanzlers und Führers des deutschen Volkes und der neuen Welt rühmt.“3 Im Gegensatz dazu wurden Bücher und Schriften, die gegen Hitler und sein Regime gerichtet waren, als eine „äußerst verabscheuungswürdige Propaganda“4 oder als eine „gewaltsame Attacke gegen Nazideutschland“5 angesehen. Entgegen den Erwartungen kommt in den Berichten der Zensoren kein Hinweis auf Hitlers Mein Kampf, weder was die deutsche Version, noch was etwaige Übersetzungen betrifft, vor. Es wurden jedoch einige Bücher, die mit Mein Kampf zu tun hatten, der Kommission vorgelegt. Zwei Beispiele sollen angeführt werden. Zum einen 1000 pensamentos de Adolfo Hitler [1000 Gedanken von Adolf Hitler], verfasst vom Portugiesen Eduardo Frias (1895–1975) und veröffentlicht vom Verlag Alma im Jahr 1941. Dieses Buch wurde wie folgt autorisiert: „Es wird die 2 3 4 5
Es wurden mehr als 10.000 Berichte alleine über Bücher erstellt. Alle Berichte befinden sich in den Nationalarchiven (ANTT-Torre do Tombo). Sie können auch unter der folgenden Adresse online eingesehen werden: antt.dglab.gov.pt. Bericht 1453/1941. Bericht 2290/1943. Bericht 2292/1943.
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Biographie des deutschen Kanzlers präsentiert und im Vorwort findet seine Würdigung statt.“6 Es war etwas überraschend, dass der Verlag Contra-Corrente eine Neuauflage dieses Buchs im Jahr 2017 herausgegeben hat. Laut Online-Präsentation hat diese „gut gemeinte Anthologie“ folgendes Ziel: „Die notwendigen Informationen zur Verfügung zu stellen, um eine faire Einschätzung Hitlers vorzunehmen, innerhalb bester Regeln, die zu einer gelassenen Beurteilung führen können, und die Darstellung seiner Ideen und Fakten und die kritische Bewertung seines Gedankenguts.“7 Zum anderen Adolfo Hitler e o seu livro ‚Mein Kampf‘ [Adolf Hitler und sein Buch ‚Mein Kampf‘] von René Ponsul Lichtenbërg, herausgegeben in Lissabon vom Verlag Editorial Progresso „im zweiten Kriegsmonat, am Heiligen Abend des Jahres 1939.“8 Dieses Buch wurde nach Meinung der Zensoren wegen fehlender Objektivität verboten. Obwohl der Zensor das Buch nicht als expliziten Angriff auf Hitler eingestuft hat, stellte er fest, dass der Kanzler in einem äußerst schlechten Licht dargestellt wird.9 Es ist darauf hinzuweisen, dass das Buch 1940 von der Zensur verboten wurde, nachdem es im Jahr zuvor veröffentlicht wurde. Dies ist ein besonders interessanter Fall, da sich der Zensor der tatsächlichen Autorenschaft des Buchs nicht bewusst war. Tatsächlich handelte es sich hier um eine Pseudoübersetzung, da der Name René Ponsul Lichtenbërg eines der Pseudonyme des portugiesischen Autors und Journalisten João Paulo Freire (1885–1953) war.10 Interessanterweise wurde das Buch im Jahr 2010 durch das Verlagshaus Prefácio neu veröffentlicht. Lichtenbërg wird dort noch immer ohne Erklärung seines Namens als Autor angeführt. Eine „Anmerkung des Herausgebers“ rechtfertigt die neue Auflage „71 Jahre nach ihrer Erstpublikation“ mit dem ungewöhnlichen Umstand, dass das Buch kurz nach den Ereignissen, die es beschreibt, verfasst wurde, mit seiner prägnanten Darstellung der Biographie Hitlers sowie mit der Zusammenfassung von Mein Kampf, wodurch der Leser die Möglichkeit habe, Hitlers Theorie mit seiner Praxis zu vergleichen.11
6 7 8 9 10
11
Bericht 1354/1941. editoracontracorrente.wordpress.com/2017/12/19/1000-pensamentos/ (Zugriff am 15.1.2018). Vgl. Lichtenbërg, René Ponsul (i. e. João Paulo Freire): Adolfo Hitler e o seu livro ‚Mein Kampf‘, Lissabon: Editorial Progresso 1939. Vgl. Bericht 992/1940. Pseudoübersetzungen sind Texte, die in der Originalsprache verfasst wurden, aber aus verschiedenen Gründen als Übersetzungen verkauft und gelesen wurden. Sie waren zu dieser Zeit in Portugal üblich – ca. 4 % der übersetzten Literatur in den 1930er Jahren und ca. 13 % in den 1940er Jahren fielen darunter (vgl. www.translatedliteratureportugal.org (Zugriff am 6.2.2018)). Für weitere Informationen zu Pseudoübersetzungen in Portugal vgl. Moniz, Maria Lin: A case of pseudotranslation in the Portuguese literary system, in: Seruya, Teresa (Ed.): Estudos de Tradução em Portugal. A colecção Livros RTP-Biblioteca Básica Verbo – II. Lissabon: Universidade Católica Portuguesa 2017. Vgl. Lichtenbërg, René Ponsul (d. i. João Paulo Freire): Adolfo Hitler e o seu livro ‚Mein Kampf‘, Lissabon: Prefácio 2010, S. 7.
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2. BESCHREIBUNG DER ÜBERSETZUNGEN VON MEIN KAMPF INS PORTUGIESISCHE, DIE IN PORTUGAL IM UMLAUF SIND a) Minha luta, Porto Alegre (Brasilien): Livraria do Globo 1934 Dies war die erste Übersetzung von Mein Kampf, die in portugiesischer Sprache herausgegeben wurde. Der Übersetzer, Júlio de Matos Ibiapina (1890-?), war ein brasilianischer Armeeoffizier und Deutschlehrer an der Militärschule in Rio de Janeiro.12 Es ist schwierig, die tatsächliche Wirkung dieser ersten Übersetzung in Portugal zu beurteilen, wenn man bedenkt, dass die Analphabetenrate im Land zu dieser Zeit extrem hoch war (ca. 62 % der Bevölkerung)13, und nur einige Intellektuelle direkten Zugang zum deutschen Text oder zu einer französischen Übersetzung hatten.14 Nach einer Einschätzung des portugiesischen Historikers João Medina (geb. 1939), der im Magazin Sábado zitiert wird, hat das Buch in Portugal überhaupt keine Verbreitung gefunden.15 Dennoch findet sich ein Hinweis auf eine sechste Ausgabe von Minha luta, herausgegeben 1941, im Online-Katalog (PORBASE) der Portugiesischen Nationalbibliothek. Andererseits wird von Lichtenbërg/Freire eine dritte Auflage aus dem Jahr 1939 erwähnt, die in diesem Katalog jedoch nicht nachgewiesen ist. Wenn man die erste mit der sechsten Ausgabe vergleicht, lassen sich keine Unterschiede feststellen. Beide Ausgaben stellen eine direkte und ungekürzte Übersetzung aus dem Deutschen dar. Es scheinen keine Paratexte auf, mit Ausnahme von zwei oder drei Fußnoten. b) A minha luta. Mein Kampf, Lissabon: Afrodite 1976 Erst im Jahr 1976, zwei Jahre nach der April-Revolution, wurde die erste europäisch-portugiesische Übersetzung produziert. Als Übersetzter wurde Jaime de Carvalho angeführt.16 Die Veröffentlichung von Hitlers Werk nach dem Zusammenbruch des diktatorischen Regimes von „Estado Novo“ war äußerst überraschend und hat damals 12 13 14 15 16
Diese Information zu Ibiapina findet sich in der Übersetzung von António Carlos Rangel (vgl. unten Punkt d). Für weitere Informationen siehe auch: www.portalentretextos.com.br/materia/ um-grande-mestre-jullio-de-matos-ibiapina,723. Vgl. Medeiros, Nuno: Edição e Editores. O mundo do livro em Portugal, 1940–1970. Lissabon: Imprensa de Ciências Sociais 2010, S. 51. Eine spanische Übersetzung mit dem Titel Mi lucha, erschienen 1935 in Barcelona im Verlag Araluce, war im Land verfügbar (vgl. dazu den Beitrag von Jesus Casquete in diesem Band). Sábado, 14.1.2016, S. 37. Bisher konnten keine verlässlichen Informationen über diesen Autor gefunden werden. Im Katalog der Portugiesischen Nationalbibliothek scheint der Name als Übersetzer vieler Titel auf, die beim Verlag Agência Portuguesa de Revistas veröffentlicht wurden. Dieser Verlag hat tausende Titel der sogenannten „leichten“ Literatur herausgebracht. Es lässt sich nicht feststellen, ob es sich hier um dieselbe Person handelt.
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noch heute bekannte Kontroversen und Entrüstung ausgelöst. Aber das war anscheinend genau das Ziel von Fernando Ribeiro de Mello (1941–1992), Eigentümer des Verlags Afrodite. Er hatte sich gegen das alte Regime gewendet, indem er nicht nur einen provokativen Namen für sein Verlagshaus auswählte, sondern auch verbotene Werke ausländischer und nationaler Autoren veröffentlichte, wie im Jahr 1965 das Kama Sutra oder 1966 eine Anthologie portugiesischer erotischer und satirischer Gedichte. Obwohl es im Land keine Diktatur mehr gab, die es zu bekämpfen galt, richtete Mello seine Aufmerksamkeit auf osteuropäische Regime, um aufzuzeigen, dass diese weiterhin diktatorisch und repressiv waren.17 Im Unterschied zu Ibiapinas Übersetzung enthält die vorliegende Ausgabe von 1976 Kommentare und Stellungnahmen zu Mein Kampf verschiedener Autoren: Oliveira Martins (geb. 1933), Historiker; Martins Garcia (geb. 1941), Universitätslehrer für Linguistik¸ Rolão Preto (1893–1977), ein rechts stehender Journalist und Politiker, und Major Sanches Osório (geb. 1940), ein Armeeoffizier, der während der Revolution von 1974 eine aktive Rolle spielte. Ansonsten enthält diese Ausgabe ebenfalls nur wenige Fußnoten. In einem 2006 initiierten Blog, der sich mit dem Verlag Afrodite beschäftigt18, erfährt man, dass der Quellentext eine „brasilianische Übersetzung“ war. Diese Information wird im Abschnitt „História de um livro“ („Die Geschichte eines Buches“) einer Übersetzung von Mein Kampf aus dem Jahr 2016 bekräftigt.19 Dies widerspricht der Angabe im Buch, wonach es sich um eine Übersetzung aus dem Deutschen handelt. c) A minha luta. Mein Kampf, Lissabon: Ed. Pensamento 1987 Diese Ausgabe enthält ein „Vorwort zu dieser Ausgabe“, unterschrieben von Álvaro de Castro20, in dem erklärt wird, dass es wichtig sei, die Geschichte des Nationalsozialismus zu kennen, um seine Gefahren zu bekämpfen und die Menschen zu überzeugen, totalitäre Systeme abzulehnen, und dass die Publikation der vorliegenden Übersetzung das Ziel habe, „vor allem das Recht auf Information in einer demokratischen Gesellschaft zu gewährleisten.“21 Obwohl der Name des Übersetzers nicht erwähnt wird, kann man anhand eines Textvergleichs davon ausgehen, dass es sich hier um den Text aus dem Jahr 1976 handelt.22 Es sind jedoch selbst die wenigen früheren Fußnoten auf manchmal sehr sorglose Art entfernt worden. So lässt zum Beispiel Carvalho zwar das Wort „Deutschtum“ unübersetzt, erklärt aber in einer Fußnote auf Seite 24, dass es „Bevölkerungsgruppen deutscher Herkunft, die im Ausland leben, bedeutet.“ Auf Seite 280 verwendet er das portugiesische Wort 17 18 19 20 21 22
Vgl. Jorge, Ricardo: Afrodite, in: editora-afrodite.blogspot.pt/2006/10/, Zugriff am 6.2.2018. Über den Autor, Ricardo Jorge, wurde keine Information gefunden. Vgl. unten Punkt g). Über de Castro konnten keine Informationen gefunden werden. Vgl. S. 10 der genannten Ausgabe. Vgl. oben Punkt b).
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„racista“, um „völkisch“ zu übersetzen, und fügt eine weitere Fußnote hinzu. Die Version von 1987 entfernt zwar alle Fußnoten, belässt jedoch die Nummern der Fußnoten im Text.23 d) Mein Kampf. A minha luta, Lissabon: Hugin Editores 1998 Diese Übersetzung wird António Carlos Rangel zugeschrieben.24 Auf den Quellentext wird nicht verwiesen, es fehlen auch eine Einleitung oder vorausgehende Bemerkungen. Das Buch enthält jedoch eine große Anzahl von Fußnoten verschiedenster Herkunft. Manche Fußnoten wurden von einer französischen Übersetzung aus 1934 übernommen, andere von einer englischen aus 1939 und wieder andere vor einer spanischen Übersetzung aus Chile aus 1996. Ein abschließendes Kapitel über „História de um livro“ („Die Geschichte eines Buches“) liefert nicht nur wertvolle Informationen über die Geschichte von Mein Kampf in Deutschland, sondern auch über seine vielen Übersetzungen in verschiedenen Ländern der Welt. Ich hatte zwar keinen Zugriff auf die französischen Übersetzung aus dem Jahr 1934, auf die im Buch Bezug genommen wird25, nach Auskunft des Herausgebers von ContraCorrente bildete sie jedoch den Quellentext für diese portugiesische Übersetzung. Sie wurde letztlich verboten, wie unten näher erläutert wird. e) Mein Kampf. A minha luta, Lissabon: Casa de Berlim 2011 Weder der Name des Übersetzers noch die Sprache des Quellentextes werden in dieser Ausgabe genannt. Wie später nachgewiesen werden soll, handelt es sich um die Übersetzung von Jaime de Carvalho aus dem Jahre 1976. Während die 1976er Version Fußnoten enthielt, wurden diese in der hier genannten Version weggelassen. f) Mein Kampf. A minha luta, Lissabon: E-Primatur 2015 Der Leser wird darüber informiert, dass diese Ausgabe die Übersetzung von Jaime de Carvalho aus dem Jahre 1976 ist, die vom Verlag Afrodite herausgegeben wurde. Weiters wird erwähnt, dass die alte Ausgabe „nun eingehend überarbeitet und mit dem Original verglichen wurde.“26 Die Paratexte der früheren Ausgabe sind nun 23 24 25 26
Die vorliegende Ausgabe ist die Nummer 2 der Sammlung „Sinais dos tempos“ [„Zeichen der Zeit“]. Ich kontaktierte den Herausgeber von Contra-Corrente und man sagte mir, dass dieser Übersetzer in Oporto lebe. Man versprach mir, den Kontakt mit dem Übersetzer herzustellen, was aber bisher nicht geschehen ist. Gemeint ist die Übersetzung von J. Gaudefrois-Demombynes und A. Calmettes im Pariser Verlag Nouvelles Éditions Latines (vgl. den Beitrag von Olivier Mannoni in diesem Band). Vgl. S. 7 der genannten Ausgabe.
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nicht mehr enthalten, stattdessen wurden in der neuen Ausgabe eine „Anmerkung des Herausgebers“ sowie „vorhergehende Hinweise“ hinzugefügt, beides von António Costa Pinto (geb. 1953), Professor am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Lissabon und Professor für Politikwissenschaft und Moderne Europäische Geschichte. Erläuterungen finden sich nun am Ende des Buchs, das um zwei weitere Teile ergänzt wird: Der erste trägt den Titel „A história do Mein Kampf“ („Die Geschichte von Mein Kampf“), der andere enthält Bilder. Diese Übersetzung ist schon bei der 4. Auflage angelangt und war mit 1.500 Exemplaren rasch vergriffen, was die Erwartungen des Herausgebers bei weitem übertraf.27 g) A minha luta. Mein Kampf, Lissabon: Contra-Corrente 2016 Da der Verlag Hugin Editores nicht mehr bestand, wurde Rangels Übersetzung im Jahre 2016 vom Verlagshaus Contra-Corrente neu aufgelegt. Diese Ausgabe enthält den Hinweis, dass die Übersetzung von 1998 auf Druck der deutschen Botschaft verboten wurde und infolge eines „umstrittenen“ Prozesses28 aus den Buchhandlungen zurückgezogen werden musste. Weiters wird in der Online-Präsentation der Ausgabe von 2016 erklärt, dass die bayerischen Behörden der Publikation des Buchs von 1998 nicht zugestimmt hätten, da es in der Einleitung keine „Verurteilung“ enthielt.29 Ebenso wird behauptet, dass die Ausgabe von Hugin „ohne Zweifel die beste Übersetzung von Mein Kampf ins Portugiesische“ sei, da alle anderen bekannten Übersetzungen „keine getreue Wiedergabe des Originals“30 darstellten. Die vorliegende Ausgabe enthält nicht nur eine aktualisierte Version von „Die Geschichte des Buches“, die schon in der Ausgabe von 1998 vorkommt, sondern wird mit einem Abschnitt komplettiert, der zeitgenössische Fotografien enthält. Dieses Buch ist Teil der „Contra-Corrente“-Kollektion. h) Mein Kampf. A minha luta, Lissabon: Guerra e Paz 2016 Diese Ausgabe enthält einen ausführlichen Abschnitt, der der Übersetzung von Mein Kampf vorangestellt ist und von Manuel S. Fonseca (geb. 1951) stammt, dem redaktionellen Leiter des Verlagshauses „História da ascensão, poder e crime do Nazismo“ („Geschichte des Aufstiegs, der Macht und der Verbrechen des Nazionalsozialismus“). Nach den vorliegenden Informationen handelt es sich hier um eine neue Version, die von einem Team unter der Leitung von António Rodrigues erstellt 27 28 29 30
Weitere Informationen in: Sábado, 14.–20.1.2016, S. 38. Vgl. S. 499 der genannten Ausgabe. Vgl. editoracontracorrente.wordpress.com/2016/01/08/mein-kampf-a-minha-luta/ (Zugriff am 15.1.2018). Vgl. editoracontracorrente.wordpress.com/2016/01/08/mein-kampf-a-minha-luta/ (Zugriff am 15.1.2018).
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wurde. Sie basiert auf der brasilianischen Übersetzung von Ibiapina und der englischen von James Murphy.31 Die Recherchen wurden von António Rodrigues und André Morgado durchgeführt.32 Das Buch enthält auch eine große Anzahl an Fotografien. Nach der Online-Ausgabe der nationalen Tageszeitung Diário de Notícias waren die erste und zweite Auflage des Buchs bei der Buchmesse in Lissabon im Jahre 2016 bereits ausverkauft.33 i) Mein Kampf. A minha luta, Lissabon: Sábado/Glaciar 2016 Die letzte in Portugal veröffentlichte Übersetzung von Mein Kampf wurde vom Wochenmagazin Sábado in zwei Bänden zu einem sehr niedrigen Preis von € 2.90 pro Band angeboten.34 Der erste Band wurde am 14. und der zweite am 21. Januar herausgegeben. Diese Ausgabe enthält eine umfangreiche Einleitung und eine Vielzahl von Hinweisen des Historikers D. Cameron Watt (1928–2014)35, die von Vasco Gato (geb. 1978) übersetzt wurden. Hitlers Text wurde aus dem Deutschen von Maria Lin Moniz (geb. 1955), Dr. phil. in Übersetzungswissenschaft, übersetzt. Isabel Capeloa Gil (geb. 1965), die jetzige Rektorin der Katholischen Universität Portugal, war für die wissenschaftliche Überarbeitung des kritischen Apparats verantwortlich. Die 10.000 Stück pro Band waren sofort vergriffen und ein Neudruck von 3.000 weiteren Stück erschien innerhalb von 48 Stunden.36 Rezensionen über dieses Buch konnten jedoch bislang nicht gefunden werden. Es scheint immer noch gewisse Vorbehalte gegenüber Büchern zu geben, die von Zeitungen oder Zeitschriften angeboten oder verkauft werden, da die Qualität sehr oft nach dem Preis bewertet wird. Sogar der Herausgeber des Magazins Sábado schien seine eigene Publikation nicht allzu sehr zu schätzen. In den zehn Seiten des Magazins, die Hitlers Biographie, der Geschichte des Buchs etc. gewidmet sind, wird kein einziges Wort über den bzw. die Übersetzer verloren. Ihre Namen werden nie erwähnt und bei den Lesern entsteht der Eindruck, dass sie eine Übersetzung von Cameron Watts englischer Version lesen. Beispielhaft dafür können die Kommentare im Blog Legião Vertical angesehen werden: „Was Sábado veröffentlicht hat, ist nicht Mein Kampf, sondern ein Werk von David Watt, in dem er willkürlich Abschnitte entfernt oder hinzugefügt hat. Herausgekommen ist ein vollkommen neues Buch, das mit dem Original nichts mehr zu tun hat.“ Oder: „O. k., ich habe schon den Verdacht
31 32 33 34 35 36
Vgl. zu den englischen Ausgaben den Beitrag von Stefan Baumgarten in diesem Band. Über beide Autoren konnten keine Informationen gefunden werden. Vgl. Ausgabe vom 14.6.2016: www.dn.pt/artes/interior/mein-kampf-de-hitler-esgotou-na-feirado-livro-5225966.html (Zugriff am 15.1.2018). Die Ausgabe von E-Primatur wurde um € 22,00 pro Band verkauft, die von Guerra e Paz um € 25,00. Basierend auf der Ausgabe des Londoner Verlags Pimlico aus dem Jahr 1992 (vgl. den Beitrag von Stefan Baumgarten in diesem Band) Vgl. Sábado, 21.–27.1.2016, S. 4.
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gehabt, dass diese Version ein Betrug sei, aber besten Dank für die Bestätigung. Auf jeden Fall bin ich froh, das Buch nicht gekauft zu haben.“37 Erst zur der Veröffentlichung des zweiten Bandes findet sich eine kurze Notiz auf Seite 4 des Magazins, dass der erste Band vergriffen sei und dass „beide Bände aus dem Deutschen übersetzt wurden.“ Auch der Name der Übersetzerin wird erwähnt, zusammen mit einem kurzen Verweis auf ihren akademischen Hintergrund. 3. LINGUISTISCHE ASPEKTE Wie oben angeführt, hat die Übersetzung von Ibiapina die Zeiten zwischen der Erstpublikation 1934 und heute mehr oder weniger sichtbar überlebt. Wenn man alle portugiesischen Ausgaben von Mein Kampf analysiert und vergleicht, kommt man zu dem Schluss, dass in den meisten Fällen Ibiapinas Text verwendet wurde: – – – –
vom Verlag Afrodite im Jahr 1976, obwohl die Ausgabe irreführende Informationen enthält; von den Verlagen Ed. Pensamento im Jahr 1987 und Casa de Berlim im Jahr 2011, wobei allerdings nichts über die Übersetzer oder den Ausgangstext gesagt wird; vom Verlag E-Primatur im Jahr 2015, der darüber informiert, dass es sich um einen Neudruck der Ausgabe des Verlags Afrodite aus dem Jahr 1976 handelt; vom Verlag Guerra e Paz im Jahr 2016, der erklärt, dass seine Version auf den Übersetzungen von Ibiapina bzw. Murphy basiert.
Wenn man bedenkt, dass Rangels Übersetzung auch eine indirekte Übersetzung (aus einem französischen Quellentext) ist, kann man mit einiger Sicherheit sagen, dass nur Ibiapina und Moniz direkt aus dem Deutschen übersetzt haben. Die folgende Tabelle enthält zum Beispiel die ersten Absätze des ersten Kapitels des zweiten Bandes – „Weltanschauung und Partei“ – der Übersetzungen aus 1934 und 1976. Diese Textbeispiele sollen belegen, dass die Übersetzung aus 1976, direkt oder indirekt, auf die brasilianische Übersetzung von Ibiapina zurückgreift. Die Unterschiede zwischen Ibiapinas und Carvalhos Text (unterstrichen) sind lediglich lexikalisch; in den meisten Fällen werden Wörter durch Synonyme ersetzt (z. B. „novo“ = „jovem“; „à última hora“ = „no último instante“; „constatei“ = „verifiquei“). Andere Abweichungen ergeben sich aus den unterschiedlichen Schreibweisen zwischen dem brasilianischen und europäischen Portugiesisch (z. B. „quasi/ quase“; „objetivos/objectivos“). Die Syntax bleibt unverändert. Manche lexikalischen Veränderungen sind jedoch störend. So sind zum Beispiel „religioso“ („religiös“) und „sagrada“ („heilig“) keine Synonyme. Dasselbe trifft auf die Ausdrücke „de significação doutrinária“ („von doktrineller Signifikanz“) und „de importância fundamental“ („von fundamentaler Bedeutung“) für die Übersetzung der Phrase „von prinzipieller Bedeutung“ zu. Wie man bei weiter37
Vgl. legiaovertical.blogspot.pt/2016/01/contra-corrente-edita-mein-kampf-minha.html (Zugriff am 6.2.2018).
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Maria Lin Moniz 1934 (Livraria do Globo/Ibiapina)
1976 (Afrodite/Carvalho)
Doutrina e Partido Deu-se em 24 de fevereiro de 1920 a primeira manifestação pública, em massa, de nosso novo movimento. No salão de festas da Hofbräuhaus, de Munich, perante uma multidão de quasi duas mil pessoas, foram apresentadas e jubilosamente aprovadas, ponto por ponto, as vinte e cinco teses do programa do novo Partido. Foram, nesse momento, lançadas as diretrizes e linhas principais de uma luta cuja finalidade era varrer o monturo de idéias e pontos de vista gastos e de objetivos perniciosos. No putrefato e acovardado mundo burguês, bem como no cortejo triunfal da onda marxista em movimento, devia aparecer uma nova fôrça para deter, à última hora, o carro do destino. É evidente que o novo movimento só poderia ter a devida importância, a fôrça necessária para essa luta gigantesca, se conseguisse despertar, no coração dos seus correligionários, desde os primeiros dias, a convicção religiosa de que, para êle, a vida política deveria ser, não uma simples senha eleitoral, mas uma nova concepção do mundo de significação doutrinária. (S. 311)
Opinião filosófica e partido Deu-se em 24 de Fevereiro de 1920 a primeira manifestação, em massa, do nosso jovem jovem movimento. No salão de festas da Hofbräuhaus, de Munique, perante uma multidão de quase duas mil pessoas, foram apresentadas e jubilosamente aprovadas, ponto por ponto, as vinte e cinco teses do programa do novo partido. Nessa ocasião foram lançadas as directrizes e linhas principais de uma luta cuja finalidade era varrer o monturo de ideias e pontos de vista gastos e de objectivos perniciosos. No putrefacto e acobardado mundo burguês, bem como no cortejo triunfal da onda marxista em movimento, devia aparecer uma nova força para deter, no último instante, o carro do destino. É evidente que o novo movimento só poderia ter a devida importância e a força necessária para essa luta gigantesca se conseguisse despertar, no coração dos seus correligionários, desde os primeiros dias, a convicção sagrada de que, para eles, a vida política deveria ser, não uma simples fórmula eleitoral, mas uma nova concepção filosófica de importância fundamental. (S. 273)
führenden Vergleichen klar sehen kann, sind auch die Ausgaben aus den Jahren 1987 und 2011 fast identische Kopien der Afrodite/Carvalho-Übersetzung. Deutliche Unterschiede gibt es jedoch bei der Übersetzung der Kapitelüberschrift. Das deutsche Wort „Weltanschauung“, das für Übersetzer bekanntlich ein Problem darstellt, wird auf verschiedene Weise wiedergegeben: „doutrina“ („Doktrin“), „opinião filosófica“ („philosophische Meinung“) oder „mundividência“ („Vision über die Welt“). Rangel ließ das Wort unübersetzt, verweist aber in einer Fußnote auf eine chilenische Version, in der erklärt wird, dass „Weltanschauung“ ein „nicht übersetzbares deutsches Konzept“ sei.38 Man könnte noch eine Reihe von Wörtern anführen, die für einen (portugiesischen) Übersetzer „problematisch“ sind, aber ich möchte mich speziell auf einen Begriff konzentrieren. Dieser kommt zwar in den oben zitierten Passagen nicht vor, das deutsche Wort „völkisch“ verdient aber dennoch eine eingehendere Betrachtung. Es zeigt sich, dass es für „völkisch“ kein gleichwertiges Äquivalent gibt, da die Bedeutung je nach Kontext stark variiert. So entscheidet sich Ibiapina im oben erwähnten Kapitel für das portugiesische Wort „popular“; Carvalho behält das deutsche Wort bei, schlägt aber das Wort „popular“ in Klammern vor. In Carvalhos aktualisierter Fassung des Verlags E-Primatur bleibt das Wort ebenso unübersetzt, in 38
Vgl. S. 283 der genannten Ausgabe.
Die Übersetzungen von Hitlers Mein Kampf ins Portugiesische
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einer Fußnote findet man jedoch die Erklärung, dass der „Begriff mehrere Bedeutungen“ hat, wie etwa „étnico“ („ethnisch“) und „racista“ („rassistisch“), wobei sich der Übersetzer aber in der Folge für „racista“ entscheidet.39 In der Übersetzung des Verlags Guerra e Paz wird das deutsche Wort verwendet, aber das Wort „étnico“ erscheint in Klammern; Rangel bevorzugt ebenfalls die deutsche Option, ist jedoch in der Verwendung inkonsistent: manchmal findet man „völkisch“, in anderen Fällen „volkisch“. Moniz verwendet in ihrer Übersetzung auch das deutsche Wort. Wenn man bedenkt, dass das Wort auch für deutsche Sprecher mehrdeutig war, wie Hitler selbst an anderer Stelle hervorhebt, dann ist es nicht überraschend, dass auch die Übersetzer unterschiedliche Entscheidungen getroffen haben, inklusive der Option, das Wort nicht zu übersetzen. Weiters ist das Wort „völkisch“ in der Überschrift des vierten Kapitels des zweiten Bandes „Persönlichkeit und völkischer Staatsgedanke“ äußerst wichtig für das Verständnis von Hitlers Staatsidee. Hier die verschiedenen Übersetzungen ins Portugiesische: Ibiapina übersetzt „völkischer Staat“ mit „Estado nacionalista“ („nationalistischer Staat“); Carvalho greift auf den portugiesischen Ausdruck „Estado racista“ („rassistischer Staat“) zurück; Rangels Übersetzung lautet „Estado ‚volkisch‘“ [sic], während sich Moniz für „Estado racial-nacionalista“ („rassistischnationalistischer Staat“) entscheidet; Rodrigues ist bei seiner Übersetzung innerhalb des Kapitels inkonsistent: im Titel übersetzt er das Konzept mit „Estado nacional“ („Nationalstaat“), in anderen Passagen findet man „Estado nacionalista racista“, „Estado nacionalista“ oder „Estado racista“. Meiner Auffassung nach ist „völkisch“ komplexer als „nacionalista“ und obwohl das Adjektiv „racista“ für Hitler und seine Ideen zutrifft, erscheint „racial“ adäquater für die Beschreibung seiner Auffassung vom Staat, da eines seiner Ziele die Förderung und Erhaltung des „rassischen Elements“ war. Auch wenn die Option „Estado racial-nacionalista“ diskutabel ist, kann sie vielleicht doch besser die Komplexität dieses Konzepts vermitteln. 4. FUSSNOTEN UND ANDERE PARATEXTE Nach einer genaueren Analyse der verschiedenen Übersetzungen von Mein Kampf kann festgehalten werden, dass sich die Perzeption von Hitlers Werk bei den portugiesischen Lesern seit der Erstveröffentlichung im Jahr 1934 bis heute verändert haben muss, und dies nicht nur wegen der linguistischen Entscheidungen der Übersetzer. Man kann davon ausgehen, dass eine Übersetzung auch die eigene Interpretation des Übersetzers widerspiegelt, genauso spielen jedoch Paratexte eine wesentliche Rolle bei der Steuerung der Rezeption. Man kann konstatieren, dass im Jahr 1934 der Leser beim Perzipieren des Buches weitgehend auf sich allein gestellt war. Die ganz wenigen Hinweise, die im Buch angeführt werden, enthalten keine zusätzlichen Informationen zum historischen, politischen oder kulturellen Kontext. 39
Vgl. S. 360 der genannten Ausgabe.
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Ebenso wird auf literarische Zitate (z. B. von Goethe oder Schiller) nicht explizit hingewiesen, mythologische Quellenangaben werden sogar gelöscht. So bezeichnet Hitler im zweiten Kapitel des ersten Bandes Wien als „Phäakenstadt“, was Ibiapina mit „cidade dos prazeres“ („Stadt der Freuden“) übersetzt. Auch der lateinische Ausdruck „via triumphalis“, der im selben Kapitel aufscheint, wird wörtlich ins Portugiesische übertragen. Solche Übersetzungsstrategien scheinen der Absicht Hitlers nach einem gehobeneren Stil zuwiderzulaufen. Die Anzahl der Fußnoten ist in den neueren Übersetzungen gestiegen. Die Ausgabe des Verlags Afrodite aus dem Jahr 1976 hat im Vergleich zu Ibiapinas Übersetzung um 20 Fußnoten mehr, die Informationen über Personen, Institutionen, historische Ereignisse, Literaturhinweise etc. bieten. In der Übersetzung von Rangel aus dem Jahr 1998 findet sich sogar eine noch größere Anzahl von erklärenden Fußnoten, die aus einer französischen, englischen und chilenischen Ausgabe übernommen wurden. Diese informative Qualität wird durch eine Geschichte des Buchs Mein Kampf ergänzt. So wird z. B. in einer Anmerkung zu „Phäaken“ erklärt, dass es sich hier um ein mythisches Volk handelte, das von Homer in seiner Odyssee erwähnt wurde und das nicht besonders arbeitsam war und Komfort und ein angenehmes Leben bevorzugte.40 Manche Kommentare werden jedoch unauffällig in der Version von 2016 noch hinzugefügt. Zwei davon sind z. B. der chilenischen Ausgabe entnommen, die Hitlers Hass gegen die Juden untermauern. Die erste lautet: „Unter dem Gesichtspunkt einer wechselnden Politik hatte Hitler absolut recht, wenn er in seinem Buch Mein Kampf schrieb: die religiösen Konflikte wurden von den Juden immer geschickt ausgenützt, um die Aufmerksamkeit abzulenken und die arische Rasse zu zerstören.“41 In der zweiten heißt es: „2.600 Jahre lang, seit dem ‚erneuerten Pakt‘ mit Jahvé, hat der Jude diesen unbesiegbaren rassischen Grundsatz erkannt und angewendet: alle Rassen zu verfälschen, wobei er es selbst vermeidet, sich zu vermischen und so die Welt zu dominieren, was er bereits erreicht hat.“42 Die Übersetzung, die vom Magazin Sábado veröffentlicht wurde, weist die größte Anzahl an Fußnoten auf. Sie stellen nicht nur umfangreiche Informationen auf allen Ebenen zur Verfügung (historisch, literarisch, geographisch etc.), sondern haben auch die Funktion, Hitlers Aussagen zu hinterfragen oder zu widerlegen bzw. seinen „gelehrten“ Stil zu reduzieren. Nochmals kann hier der Hinweis auf „Phäaken“ diesen Ansatz verdeutlichen. Es wird dazu erläutert: „Der Bezug auf die glückliche Insel der Phönizier ist in Deutschland sehr verbreitet, dies bedeutet jedoch nicht, dass Hitler die Odyssee gelesen hat.“43 Oder wenn Hitler feststellt, dass trotz aller Schwierigkeiten die NSDAP kaum Schulden hatte, so ist der Kommentar in der Fußnote dazu wenig schmeichelhaft: „Tatsächlich war die Bewegung ständig verschuldet. Unter Hitlers Finanzierungsquellen waren Darlehen, die durch Juwe-
40 41 42 43
Vgl. S. 26 der genannten Ausgabe. Vgl. S. 491 der genannten Ausgabe. Vgl. S. 493 der genannten Ausgabe. Vgl. S. 97 der genannten Ausgabe.
Die Übersetzungen von Hitlers Mein Kampf ins Portugiesische
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len gesichert waren, die ihm einige vermögende weibliche Bewunderer zur Verfügung stellten.“44 Anhand solcher Beispiele und auf Grund des Inhalts der Einleitung kann man folgern, dass die Paratexte dieser Ausgabe bei weitem nicht neutral sind. Sie sollten eine ablehnende Einstellung des Lesers zum Text erzeugen und versuchen, jede Sympathie gegenüber Hitlers Ideen zu unterbinden. Dabei sollten seine Widersprüche, sein Mangel an Genauigkeit und sogar seine Lügen offengelegt werden. 5. ABSCHLIESSENDE BEMERKUNGEN In Anbetracht der großen Anzahl an Ausgaben ist es offenkundig, dass Hitlers Mein Kampf in Portugal weiterhin auf reges Interesse stößt, und dies sogar im 21. Jahrhundert. Der bekannte portugiesische Soziologe und Politiker António Barreto (geb. 1942) sieht jedoch in der Tatsache, dass im Jahr 2016 mehrere Übersetzungen von Mein Kampf vergriffen waren, kein Alarmsignal. Er geht davon aus, dass die portugiesischen Leser lediglich von Neugier angetrieben werden. Da der größte Teil der Bevölkerung das Buch noch nie gelesen hat, wollen sie nur „sehen, was darin steht.“45 Es ist ebenso anzunehmen, dass im Jahr 2016 das Interesse der Menschen an diesem Buch durch Werbung im Fernsehen, in Zeitungen und Magazinen stark zugenommen hat. Dazu trug auch die Ankündigung bei, dass das Buch nun, nachdem es für eine so lange Zeit verboten war, für jedermann zugänglich sei. Auch der niedrige Preis der Sábado-Ausgabe hat sicher zu den hohen Verkaufszahlen beigetragen. Betrachtet man die Kommentare des vorhin erwähnten Blogs Legião Vertical, dann kann man schließen, dass einige Menschen ihre Kommentare und Meinungen über das Buch zum Ausdruck brachten, ohne es jemals gelesen zu haben. Die Analyse der verschiedenen Übersetzungen von Mein Kampf bestätigt auch den Eindruck, dass Übersetzen und Übersetzer im Allgemeinen unterschätzt werden. Selbst Herausgeber scheinen die Arbeit der Übersetzer wenig zu schätzen und stellen oft keine genauen und verlässlichen Informationen zu den Quellentexten zur Verfügung oder liefern keine Informationen über den Übersetzer bzw. lassen ihn überhaupt unerwähnt. Angesichts der oft geringen Sorgfalt, mit der Ausgaben veröffentlicht werden, stellt sich die Frage nach den wirtschaftlichen und finanziellen Voraussetzungen, die mit der Übersetzung und dem Veröffentlichungsprozess im Zusammenhang stehen. Warum, zum Beispiel, wird eine Übersetzung immer wieder verwendet, anstatt neue zu veröffentlichen? Beurteilungen der Qualität von Übersetzungen, die manchmal etwas leichtfertig geäußert werden, belegen auch den geringen Stellenwert, der ihnen zugeschrieben wird. 44 45
Vgl. S. 251 der genannten Ausgabe. Vgl. www.dn.pt/artes/interior/mein-kampf-de-hitler-esgotou-na-feira-do-livro-5225966.html (Zugriff am 15.1.2018).
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Trotz der „Unsichtbarkeit“ des Übersetzers (um einen Ausdruck von Lawrence Venuti zu verwenden) hat jeder seine Idiosynkrasien und Emotionen. Es ist auch klar geworden, dass Übersetzungen weit davon entfernt sind, neutral oder unverfänglich zu sein, ganz besonders im Falle eines so kontroversen Buchs wie Hitlers Mein Kampf.
DIE WÖRTER IN MEIN KAMPF Semantik und Pragmatik eines umstrittenen (und wenig gelesenen) Textes Vincenzo Pinto (Übersetzung aus dem Italienischen von Daniela Baehr, Salzburg) 1. EINLEITUNG: WAS DIE ÜBERSETZUNG WIEDERGIBT Die Übersetzung eines Textes erweist sich als äußerst heikle Aufgabe, besonders wenn es sich um einen politisch bedeutenden und umstrittenen Text handelt. Sie stellt keine „neutrale“ oder „technische“ Tätigkeit dar, sondern die regelrechte Rekonstruktion einer Lebenswelt. Diese Rekonstruktion des Textes muss nicht nur bemüht sein, eine Kultur in eine andere zu übertragen, sondern auch die Inhalte an den neuen Kontext anzupassen: Sie muss semantisch und pragmatisch gültig sein.1 Selbstverständlich ist dieser Anpassungsprozess umso schwieriger, je weiter der Text in Zeit und Raum entfernt ist. Der Übersetzer kann sich auf die korrekte Sinnübertragung des Textes beschränken, indem er ihn – soweit wie möglich – aktualisiert. Die Aktualisierung ist besonders schwierig und gleichzeitig anregend bei einem so problematischen Text wie Mein Kampf, der in den Jahren des nationalsozialistischen Regimes einen Verlagserfolg feierte und dem, auch wenn er in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zirkulierte, aus bekannten Gründen der Raum für öffentliche Diskussion verwehrt war. Mein Kampf ist jedoch in Italien nie einer vollständigen kritischen Überprüfung unterzogen worden. Die einzigen beiden authentischen Übersetzungen sind von den Verlagshäusern Bompiani und Thule realisiert worden. Dazwischen existieren eine Reihe von Abdrucken der „faschistischen“ Edition und der vor fünfzehn Jahren vom Kaos-Verlag unternommene Versuch.2 Die italienische Kultur hielt das Werk keiner Beachtung wert, wodurch sie letztendlich den Text mythisiert hat, wenn sie ihn auch verachtete und unterschätzte. Es fehlte der Mut seitens der Fachleute (die sich häufig darauf beschränkten, andere Interpreten zu interpretieren) und der Öffentlichkeit, sich den Worten aus Mein Kampf zu stellen. Die Konsequenzen von alldem sind evident: Siebzig Jahre nach dem Ende der Naziherrschaft schwirren nach wie vor die Gespenster eines historisch abgeschlossenen Phänomens umher. Ziel unseres Beitrags ist es, nach einem kurzen Überblick der Editionsgeschichte von Mein Kampf in Italien die drei wichtigsten italienischen Editionen von 1 2
Vgl. Eco, Umberto: Dire quasi la stessa cosa. Milano: Bompiani 2002. Die kritische Kaos-Edition wird anhand des kritischen Apparats von Giorgio Galli untersucht werden, obwohl dieser keine wesentlichen Veränderungen gegenüber der Wiedergabe in der Bompiani-Fassung vorgenommen hat.
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Hitlers Text zu vergleichen: die „faschistische“ Ausgabe der 1930er Jahre, die zu Beginn des 3. Jahrtausends realisierte Kaos-Edition und die Thule-Edition aus dem Jahr 2016. Wir werden uns insbesondere den verlegerischen Entscheidungen hinsichtlich der Übersetzungen diverser Schlüssel-Lexeme von Hitlers Text widmen, um dem Leser einige Denkanstöße zur Bedeutung der Übersetzung für die Übertragung der problematischen Texte zwischen den Generationen zu vermitteln. Besonders wenn wir es mit einem so kontroversen Text und einem so ungewohnten, eigenartigen Wortschatz wie dem der Nationalsozialisten zu tun haben (wie seinerzeit Victor Klemperer feststellte). Wie leicht zu erahnen ist, stehen hinter jeder Übersetzung nicht nur ein (oder mehrere) verschiedene Übersetzer bzw. ein „politischer“ Kontext, sondern vor allem auch eine divergierende politisch-kulturelle Sensibilität und eine verschiedenartige hermeneutische Übersetzungsauffassung. Da wir es seit der Originalausgabe mit einem hoch politischen Text zu tun haben, leuchtet es ein, warum Mein Kampf unterschiedlichen Übersetzungen unterzogen wurde (sofern nicht überhaupt Verzerrungen ganzer Formulierungen oder schlechthin Kürzungen anzutreffen sind). Wir beabsichtigen nicht, die im Verlauf der diversen deutschsprachigen Ausgaben oder italienischen Übersetzungen erfolgten Textmutationen in philologischer Hinsicht zu rekonstruieren, sondern bemühen uns, die Bedeutung der Wörter in Mein Kampf zu verstehen. 2. KURZE GESCHICHTE DER ITALIENISCHEN ÜBERSETZUNGEN VON MEIN KAMPF (1934–2016) Im Gegensatz zu anderen europäischen Staaten kümmerte sich in Italien nicht ein Verleger, sondern die Zentralregierung selbst um die Realisierung der ersten italienischen Ausgabe. Dies erklärt sich aus dem Bestehen einer Einparteiendiktatur und der Notwendigkeit, das Erscheinen eines schwierigen und sperrigen Textes wie dem des neuen „Befehlshabers“ von Deutschland zu steuern. Die Geschichte der „faschistischen“ Edition von Mein Kampf ist vor einigen Jahren von Giorgio Fabre sorgfältig rekonstruiert worden. Zuerst beschloss Mussolini, den Wahlkampf der Nationalsozialisten für die Reichstagswahl am 5. März 1933 sozusagen aus eigener Tasche zu finanzieren (nämlich mit den Mitteln des Außenministeriums, welches er damals ad interim übernommen hatte), indem er 250.000 Lire in Hitlers Parteikassen einzahlte. Zweitens wurde ein Übersetzungsvertrag mit dem Münchner Franz Eher-Verlag (den Max Amann führte und der die Verlagsrechte innehatte) aufgesetzt, wobei der ursprünglich geplante Artikel 6 (welcher untersagte, dass der Übersetzer dem jüdischen Glauben angehöre) gestrichen wurde. Als dritten Schritt suchte man nach einem Verlag. Nach der höflichen Ablehnung des (damals führenden italienischen) Verlagshauses Mondadori fiel die Wahl auf Bompiani, einen in der Zwischenkriegszeit in der Übersetzung ausländischer Autoren recht rührigen Verlag. In einem vierten Schritt präsentierte der Verlag der Pressestelle des Duce die Übersetzung, welche keine vollständige Übersetzung des Textes darstellte, sondern nur eine des zweiten Bandes, versehen mit einer Zusammenfassung des ersten. Im März 1934, genau ein Jahr nach dem nationalsozialistischen Wahlerfolg (wel-
Die Wörter in Mein Kampf
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cher das Ende der Weimarer Republik bedeutete), erschien die italienische Version von Mein Kampf unter dem Titel La mia battaglia, welche – wie bereits erwähnt – nur den zweiten Band (Die nationalsozialistische Bewegung) und eine noch knappere Zusammenfassung des ersten Bandes als ursprünglich vorgesehen enthielt. Vier Jahre später wurde der erste Band unter dem Titel La mia vita („Mein Leben“ und nicht wie im Original Eine Abrechnung) veröffentlicht. Die Übersetzung des ersten Bandes besorgte Angelo Treves (dessen Name erst ein paar Jahre später auf einigen Werbeflugblättern, aber nie auf dem Frontispiz angegeben wurde), während der zweite Band von Bruno Revel übersetzt wurde. Der Einzug von Mein Kampf in Italien ist folglich einem Juden und einem Waldenser zu verdanken.3 In der Nachkriegszeit änderte sich natürlich die Situation, als die Autorenrechte des Buches dem bayerischen Finanzministerium übertragen wurden, welches in der Tat eine gedruckte Neuübersetzung des Buches bis zum Jahr 2015 untersagte. Das Verlagshaus Bompiani vermied den Nachdruck eines solch umstrittenen Buches, doch kursierten illegale oder antiquarische Kopien des Textes ohne weiteres im Italien der Republik. Das Interesse für Mein Kampf flammte erst Ende der Sechziger und Anfang der Siebziger Jahre von neuem auf, als der Text von diversen kleinen Verlegern erneut den italienischen Lesern präsentiert wurde. Den Anstoß dazu gab eine von Sentinella d’Italia im Frühling 1969 initiierte propagandistische und nostalgische Aktion: Der Verlag der gleichnamigen in Monfalcone situierten und von Antonio Guerin (einem ehemaligen Anhänger der mit den Nazis verbündeten Republik Salò) geleiteten Zeitschrift präsentierte der Öffentlichkeit einen anastatischen Druck der „faschistischen“ Edition von Mein Kampf (wobei er, wie wir sehen werden, nicht der erste und letzte sein wird). Das allerdings in der Republik San Marino gedruckte Buch rief Reaktionen der jüdischen Gemeinden Italiens hervor, welche die Zeitschrift wegen der „Verherrlichung des Faschismus“ anzeigten. Der Bompiani-Verlag selbst, der gegen die Aktion Guerins die Übersetzungsrechte (aber nicht die Autorenrechte, die die italienische Regierung innehatte) geltend machen konnte, wurde im Herbst desselben Jahres von dem von Federico Gentile geleiteten Florentiner Verlagshaus Sansoni kontaktiert: Man schlug eine Zusammenfassung des Textes mit einem umfangreichen Anmerkungsapparat vor. Das editorische Vorhaben kam trotz Übereinkunft mit dem Bompiani-Verlag nicht zustande, höchstwahrscheinlich weil die Zustimmung eines Fachmanns der deutschen Geschichte, der zu einer kritischen Ausgabe von Hitlers Werk in der Lage war, fehlte. Im Gespräch war Enzo Collotti, der damals an der Universität Triest für Zeitgeschichte zuständig war.4 Bei den folgenden Editionen wurden geringfügige lexikalische Veränderungen vorgenommen, fast als wolle man mögliche rechtliche Schritte vermeiden. Während Guerins „neofaschistischer“ Nachdruck ein von Giovanni Donaudi verfasstes Vorwort enthielt, welches die Tendenz, die Shoa gegen andere Massenmorde des zwanzigsten Jahrhunderts aufzuwiegen (unter Berufung auf das krypto-negazionis3 4
Vgl. Fabre, Giorgio: Il contratto. Mussolini editore di Hitler. Bari: Dedalo 2004. Vgl. Archivio Casa Editrice Valentino Bompiani, fascicolo 3.3 (Hitler Adolf, 01/01/1934– 31/12/1969).
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tische Tu-quoque-Argument), und eindeutig antidemokratische Züge trägt (Zitat: „Es ist zu hoffen, glossiert er, dass die Juden durch dieses Buch sich ihrer selbst bewusst werden und die imperialistischen Feinde daran erinnern, dass wir vierhundert Millionen Menschen sind und dass der Stamm des Odysseus noch nicht ausgestorben ist, nach dem Grundsatz Giuseppe Mazzinis: ‚Europa wurde unabhängig nach (der Schlacht von) Marathon‘“5), präsentieren die Editionen von Pegaso (1970), la Bussola (1971), Homerus (1971) und Campironi (1975) alle dieselbe Übersetzung. Ihr gemeinsames politisch-moralisches Incipit ist allen gleich: „Dieses Buch wird hiermit neu veröffentlicht, damit der Mensch sich Gedanken mache und sich ein Urteil bilden möge, und die Gräuel, die von ihm ausgingen, nicht vergesse“. Homerus und la Bussola sind identische Übersetzungen des zweiten Bandes. Bei beiden fehlen die Verweise auf den Herausgeber sowie den Übersetzer (nämlich den verstorbenen Treves). Einen grundlegenden Unterschied kann man beim politisch-moralischen Impetus der Herausgeber feststellen, die scheinbar pazifistische Positionen einnehmen: „In Zeiten, in denen die nukleare Bedrohung auf uns allen lastet und der Imperialismus den Völkern das Gesetz der Waffen, der Gewalt und der willkürlichen Massaker wieder auferlegt, ist es notwendig, dass sich jeder freie, sich der Vergangenheit bewusste Geist gänzlich für den Triumph einer neuen Menschheit einsetzt, die sich aufmacht, um das Leben wieder aufblühen zu lassen, wo Tod und Schmerz vorherrschen“.6 Im Gegensatz zu all den zitierten Herausgebern (die nur den zweiten Band erneut publizierten), war Pegaso (danach ERS, geführt vom Kommunisten und Anhänger Armando Cossuttas, Roberto Napoleone) der einzige Verlag, der beide Bände von Mein Kampf in Übersetzung veröffentlichte. Der redaktionelle Hinweis zum ersten Band (also zu Eine Abrechnung) gleicht vom Tenor her den anderen: „Wir publizieren dieses Buch im Geist der freien Menschen, damit dem Leser dieses abscheuliche Denkmal, das sich der grausamste aller Despoten errichten wollte, als Mahnung diene, die Intelligenz und den Mut aufzubringen, sich gegen jegliche posthume Rehabilitation des Autors aufzulehnen, welcher Prototyp und grauenhaftes Vorbild für all jene ist, die mit dem schändlichen Traum der Macht mittels Genozid und Tyrannei versuchen, auf seinen blutigen Spuren zu wandeln“. Im Vorwort des zweiten Bandes brandmarkt Napoleone, nachdem er den Autor nur nach „psychiatrischen“ Gesichtspunkten beurteilt hat, den Text auf folgende Weise: „Es ist ein gänzlich dürres Produkt, offensichtlich voller ambitiöser Anwandlungen, welches zusammen mit seinem üblen Autor nur ein einziges Urteil verdient, ein solch uneingeschränktes, erbarmungsloses und unabwendbares Urteil, dass es einer Verurteilung gleichkommt“. Die Version von Pegaso – dem faschistischen Kanon fast spiegelgleich (obwohl man sie nicht als vollständigen Abdruck wie die anderen bezeichnen kann) – weist die Besonderheit auf, Kapitel 10 (das die Gründe für den 5 6
Donaudi, Giovanni: Premessa di A. Hitler, Mein Kampf (La mia battaglia). Monfalcone: Sentinella D’Italia 1970, S. 7. Vorwort des Herausgebers, in: Hitler, Adolf: La mia battaglia. Roma: Edizioni Homerus 1971, S 4; Vorwort des Herausgebers, in: Hitler, Adolf: La mia battaglia. Roma: La Bussola 1971, S. 4.
Die Wörter in Mein Kampf
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Niedergang Deutschlands behandelt) in zwei Teile zerlegt zu haben, wobei ein Teil zu Beginn des Kapitels 11 (jenes über Volk und Rasse und unbestreitbar das heikelste im gesamten Mein Kampf) angefügt wurde. Es kann sich hierbei um eine redaktionelle Entscheidung gehandelt haben (um das bekannte Intro über das Ei des Kolumbus „lesbarer“ zu machen) oder es entstand aus dem Bedürfnis heraus, möglichen Plagiatsvorwürfen zu entgehen.7 In den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts folgten weitere Editionen von Mein Kampf (darunter jene des varesischen Lumino-Verlags, der allerdings den Abdruck der 1970er Jahre neu herausgab).8 Ab 1986 veröffentlichte der Verlag AR von Franco Freda in Padua interessanterweise einen anastatischen Neudruck der „faschistischen“ Edition von Treves-Revel und beschränkte sich dabei auf einen lapidaren Kommentar als vorderen Klappentext: „Trotz einigen verzeihlichen Mängeln bleibt die italienische Bompiani-Edition die angesehenere und ‚historische‘ Ausgabe von Mein Kampf. In kleinster Auflage wird daher ihr Schriftbild in dieser Kollektion AR wieder aufgenommen: Nicht so sehr mit der Achtung des Sammlers und Liebhabers als vielmehr in der Haltung ehrfürchtigen Gedenkens, das auf das letzte der klassischen, europäischen ‚grandes ouevres politiques‘ achtet“. Diese Worte von AR wurden in der Ausgabe von 2009 durch eine Fußnote von Anna K. Valerio bereichert, in welcher die Lebensgefährtin Fredas den italienischen Leser auffordert, sich diesen Klassiker des abendländischen politischen Denkens zuzulegen. Im Jahr 2002 erscheint beim Mailänder Verlag Kaos die erste kritische Edition von Hitlers Text in italienischer Sprache. Der Politikwissenschaftler und Kenner der nazistischen Esoterik, Giorgio Galli, steuert einen kritischen Apparat bei. Er bietet eine Chronologie des Nationalsozialismus, Urteile führender Historiker zum Text, einige Literaturhinweise, diverse Fußnoten und ein Nachwort des Präsidenten von ANED (Nationalverband der ehemaligen italienischen deportierten Politiker in den Lagern der Nazis), Gianfranco Maris. Letzteres ist eine eindeutige Reaktion auf den zunehmenden Negationismus jener Jahre und eine Mahnung, damit Mein Kampf nicht bloß als „historisches Dokument“ gelesen werde, sondern den zukünftigen Generationen als Warn-Impfstoff diene; denn die Problematik des letzten Zeitzeugen kommt langsam zum Tragen.9 Die Kaos-Edition stellte in den letzten Jahren die einzige Möglichkeit dar, sich kritisch mit einem schwierigen und unterschätzten Text wie Mein Kampf auseinanderzusetzen. Es bestand jedoch ein Problem juristischer Natur. Kurz nach dem Erscheinen des Textes zwang die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Rom – stellvertretend für den Freistaat Bayern als Inhaber der Autorenrechte seit 1945 – den Kaos-Verlag, seine kritische Edition zu überarbeiten und 2006 faktisch eine neue, in 11 Sektionen umstrukturierte Version herauszubringen, die allerdings den 7 8 9
Anmerkung des Herausgebers in: Hitler, Adolf: La mia battaglia. Bologna: Pegaso 1970, S. 10; Anmerkung des Herausgebers in: Hitler, Adolf: La mia vita. Bologna: Pegaso 1970, S. 10. Ich danke Prof. Marco Mariano, der mir die Lumino-Ausgabe zur Verfügung gestellt hat. Vgl. Maris, Gianfranco: Una vaccinazione di conoscenza, in: Galli, Giorgio (Hg.): Il „Mein Kampf“ di Adolf Hitler. Le radici della barberie nazista. Milano: Kaos 2002, S. 528–529.
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Aufbau des Werkes beibehielt. 2016, zeitgleich mit dem Ablaufen der Urheberrechte nach siebzig Jahren, legte Kaos der italienischen Öffentlichkeit erneut die vollständige Edition aus dem Jahr 2002 und „Hitlers Zweites Buch“10 vor. Zugleich jedoch publizierte der römische Thule-Verlag (nicht zu verwechseln mit den Edizioni Thule aus Palermo11) eine neue vollständige Edition von Mein Kampf in der Reihe Percorsi della Weltanschauung. Das im Wesentlichen Marco Linguardo zu verdankende Werk ist aus dem Bedürfnis heraus entstanden, nationalsozialistische Texte in neuer Übersetzung vorzulegen und dabei – mit aller nötigen Umsicht – auf jegliches kritisches Urteil zu verzichten, welches Reaktionen in die eine oder andere Richtung auslösen könnte (um so die Verherrlichung des „Neofaschismus“ oder die Dämonisierung des „Faschismus“ zu vermeiden). Linguardo schließt sein Vorwort so: „Wenn die Intention der druckfrischen Edition des bayerischen Instituts in der ‚Dekonstruktion des Textes‘ lag, ist es unsere Aufgabe, ihn zu rekonstruieren und damit die implizite Vereinbarung zwischen dem Herausgeber und dem Leser einzuhalten: nämlich die getreue Wiedergabe des übersetzten Werkes. Aus zeitlichen Gründen überlassen wir die mühevolle Aufgabe des Kommentierens anderen“.12 Mit diesen als Mahnung gegen einen „politischen“ Gebrauch der historischen Quellen dienenden Worten nehmen wir die Frage erneut auf, die durch die Verabschiedung des Wiederbetätigungsgesetzes wieder äußerst aktuell geworden ist: Wo liegen die Grenzen des Rechts auf Meinungsfreiheit? Es bleibt uns nichts anderes übrig, als uns näher mit den Wörtern von Mein Kampf auseinanderzusetzen. 3. LEXIKALISCHE ANALYSE DER „WIEDERGABE“ AUSGEWÄHLTER LEXEME: BOMPIANI, KAOS UND THULE Unsere Analyse wird sich auf einige Lexeme konzentrieren und die verschiedenen Übersetzungen, die die drei wichtigsten italienischen Ausgaben von Mein Kampf anbieten, miteinander vergleichen. Wir beginnen mit einer Begriffsdefinition aus dem Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm und analysieren deren unterschiedliche Bedeutungen.13 Keinen Gebrauch machen wir von den kritischen Urteilen der Zeitgenossen oder anderer Übersetzer über diverse „Wiedergaben“ (besonders gegen die erste Übersetzung von Angelo Treves, die Delio Cantimori aufgrund einiger ihrer umschreibenden oder „verzerrten“ Interpretationen besonders aufstößt).14 10 11 12 13
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Galli, Giorgio (Hg.): Il Libro segreto di Adolf Hitler. Milano: Kaos 2017. Vgl. http://www.edizionithule.it/storia-di-thule.html. Linguardo, Marco: Vorwort zur italienischen Edition von A. Hitler, Mein Kampf, vol. 1. Roma: Editrice Thule 2016, S. 14. Das Deutsche Wörterbuch (Abk. DWB), welches von den Brüdern Jacob und Wilhelm Grimm im Jahr 1838 begonnen und 1961 fertiggestellt wurde. Es umfasst 33 Bände, die vom Leipziger S. Hirzel Verlag herausgegeben wurden. Derzeit ist es online verfügbar unter: woerterbuchnetz. de/DWB/. Vgl. Cantimori, Delio: Rezension von Adolf Hitler, La mia battaglia, in: Leonardo, Mai 1935, S. 224–227, abgedruckt in: Cantimori, Delio: Politica e storia contemporanea. Scritti (1927– 1942). Hg. von Luisa Mangoni. Torino: Einaudi 1991, S. 306–311.
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Auch auf die Syntax (den übermäßigen Gebrauch von Adverbialpartikeln und des substantivierten Infinitivs in seinen verdrehten und geschwätzigen Sätzen) soll nicht eingegangen werden. Wir beabsichtigen vielmehr von den deutschen Originalbegriffen auszugehen, um den semantischen Bereich von Mein Kampf zu umreißen und die „Wiedergaben“ darin pragmatisch einzuordnen. Wir beginnen mit den Worten Klemperers, welche genau belegen, wie sehr die „nachträgliche Erkenntnis“ die Lektüre des Textes beeinflusst hat: „Nie ist ein Lehrbuch des Priestertrugs – nur sagt die LTI statt Priestertrug: Propaganda – mit schamloserer Offenheit geschrieben worden als Hitlers ‚Mein Kampf‘. Es wird mir immer das größte Rätsel des Dritten Reiches bleiben, wie dieses Buch in voller Öffentlichkeit verbreitet werden durfte, ja musste, und wie es dennoch zur Herrschaft Hitlers und zu zwölfjähriger Dauer dieser Herrschaft kommen konnte, obwohl die Bibel des Nationalsozialismus schon Jahre vor der Machtübernahme kursierte.“15 Berücksichtigung finden die „Wiedergaben“ der Version des Bompiani-Verlags (La mia vita, herausgegeben von Revel und La mia battaglia, herausgegeben von Treves), jene vom Kaos-Verlag und die Version des Thule-Verlags von LinguardoMainardi (erster und zweiter Band).16 Dabei beschränken wir uns auf einige Schlüssel-Lexeme: Arbeit/Arbeiter, Jude/Judentum, Volk/völkisch, Weltanschauung/ Weltbild. A. Arbeit – Arbeiter „Arbeit, f. labor, ein uraltes, viel merkwürdige seiten darbietendes wort. schon das genus schwankt, weiblich sind immer goth. arbaiþs, ahd. arapeit, mhd. arebeit, arbeit. bald weiblich, bald neutral alts. arbêð und arbêði, ags. earfoð und earfoðe, earfeðe, engl. ist das wort erloschen und dafür work mitgeltend. mnl. arbed n. und m., nnl. arbeid nur m. überall neutral sind fries. arbeid, arbêd, altn. erfiði (nicht arviði), schw. arbete, dän. arbeide, arbeid. Der wurzel gehört arb, der ableitung eit, weshalb auch die erste silbe den hauptton, die zweite noch tiefton hat (árbèit) […].“17 Die Bedeutung des 1852 aufgenommenen Lemmas ist relativ klar. „Arbeit“ bedeutet Mühe mit speziellem Bezug auf die Landwirtschaft. Die Grimms führen auch die mögliche gotische Wurzel „arjan“ an, das Pflügen in der Feldarbeit betreffend, auch wenn sie folgendermaßen schlussfolgern: „eine höher liegende verwandtschaft der wurzel arb und ar soll nicht abgeleugnet werden, in unsrer sprache musz arb, in der slavischen rab, in der lat. lab als wurzel festgehalten bleiben“. Wenn Arbeit demnach „Mühe auf den Feldern“ bedeutet, dann erscheint Hitlers berühmtberüchtigte im Kapitel I/11 (Volk und Rasse) vorgenommene Unterscheidung zwi15 16 17
Klemperer, Victor: LTI. Notizbuch eines Philologen. Leipzig: Reclam Verlag 1975, S. 36 f. Dazu werden folgende Ausgaben herangezogen: Bompiani (Erstauflage von 1938 und die dritte Auflage von 1937), Kaos (zweite Auflage von 2006 und für die gekürzten Stellen die erste Auflage von 2002), Thule (2016). DWB, 1 (1852), S. 538–541.
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schen „schöpferischer“ und „parasitärer“ Arbeit besser verständlich. Die einzig wirklich produktive „Arbeit“ ist die „uneigennützige“, „idealistische“ im Dienste der Gemeinschaft, da sie an den Boden gebunden ist. Alles andere ist „wirken“, das vom Grimm’schen Wörterbuch anders, als man es erwarten würde, gerade mit „tun“, „erzeugen“ und „schaffen“ verknüpft wird. Arbeit ist demnach ein „schöpferischer“ Prozess, sofern sie der Volksgemeinschaft dient, und Letzterer kann man nur dienen, indem man den Boden mit den eigenen Händen bearbeitet (der Handwerker wird „toleriert“). Andernfalls „agiert“ man, „tut“ und „schafft“ in abstrakter, egoistischer, „monetaristischer“, nämlich „jüdischer“ Weise. Man überschreitet die Grenzen der eigenen im Boden verwurzelten Gemeinschaft. Vergleichen wir nun die „Wiedergabe“ von „Arbeit“ in den drei italienischen Ausgaben. Geht man dabei von der „Arbeit“ zum „Arbeiter“ über, so lassen sich die ersten Diskrepanzen erkennen. Beginnen wir erneut mit dem Lemma der Gebrüder Grimm: „Arbeiter, m. operarius, opifex, nnl. arbeider, sowol der tagelöhner als handwerker (goldarbeiter, silberarbeiter), ja jeder arbeitende: er ist ein guter, schneller arbeiter. unter den arbeitern, der arbeitenden classe denkt man sich vorzugsweise handarbeiter im haus, im felde, in den fabriken, das gesinde. Luther schrieb erbeiter, Logau arbter. also machten alle weise menner unter den erbeitern am werk […]“18 Mit diesem Begriff ist demnach ein „Arbeiter“ oder ein Handwerker gemeint. Der Arbeiter ist somit derjenige, der sich im prometheischen Sinn abmüht, aber in einer bestimmten räumlichen wie zeitlichen Realität fest verankert ist. Er ist nicht „entfremdet“ wie der „proletarische“ Industriearbeiter, sondern sieht sich als Teil einer Gemeinschaft. Dabei kommen einem die Worte in den Sinn, die wenige Jahre später Ernst Jünger zur metaphysischen Gestalt des „Arbeiters“19 formuliert hat. An dieser Stelle ist es jedoch wichtig zu versuchen, die Bedeutung des Begriffs einzugrenzen. Wie bereits angemerkt, ist Arbeit hauptsächlich „Feldarbeit“. Der Arbeiter ist dementsprechend derjenige, der sich auf den Feldern abmüht. Er ist aber nicht nur Bauer und Tagelöhner, sondern auch Handwerker. Das gesamte Werk Mein Kampf ist der Versuch, den Arbeiter aus den Windungen der „marxistisch-jüdischen Schlange“ zu „befreien“, um ihn dadurch in den Schoß seiner Volksgemeinschaft zurückzuführen. Doch dieser Prozess der „teshuvah“ (Rückkehr) kann nur durch einen Erlöser erfolgen. Wie Wagner nur für das entwurzelte wilhelminische Bürgertum, hielt sich Hitler für denjenigen, der das ganze deutsche Volk von der „tödlichen Krankheit“ des jüdischen Bewusstseins befreien würde, um es zur deutschen Muttererde zurückzuführen. Das Instrument für dieses Vorhaben ist die politische Partei. Vergleichen wir, wie die „Deutsche Arbeiterpartei“ (DAP) und die „Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei“ (NSDAP) in einigen Schlüsselpassagen des Textes übersetzt werden, so wird deutlich, dass die Wiedergabe von Thule zweifelsohne die kohärenteste und wortwörtlichste Version darstellt: Die nationalsozialistische Par18 19
DWB, 1 (1852), S. 543. Vgl. Jünger, Ernst: L’operaio. Dominio e forma, edizione italiana a cura di Q. Principe. Parma: Guanda 2010, passim.
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tei ist immer und in jedem Fall eine Arbeiterpartei, „un partito dei lavoratori“; es kommen keine „operai“ und „proletari“ etc. vor. Anders könnte es auch nicht sein: Die Angehörigen der Nationalsozialistischen Partei teilen die Vision einer „völkischen“ Welt und sind zur „völkischen“ Gemeinschaft „zurückgekehrt“. Die (fast identischen) Wiedergaben von Bompiani und Kaos sind schwankender: „operai“ und „lavoratore“ sind austauschbar; „operaio“ wird als Adjektiv für die Partei oder als Substantiv verwendet. Der Bezugsrahmen scheint dabei keinerlei Rolle gespielt zu haben. Analysiert man den Begriff „Arbeiter“ losgelöst von der Partei, lassen sich häufigere Übereinstimmungen finden. Aber man erkennt auch einige Unterschiede: Bompiani und Kaos legen dieselbe Wiedergabe vor (was den Verdacht auf Abschreiben nahelegt). „Operaio“ und „lavoratore“ werden als Synonyme genutzt. Thule hingegen übersetzt „Arbeiter“ sei es mit „operaio“, sei es mit „lavoratore manuale“ und schließlich mit „prestatore d’opera“ für den Arbeitnehmer.20 Es könnte sein, dass dabei der Kontext eine Rolle spielte: Wenn man den Marxismus in den Blick nimmt, ist es „korrekt“ von „operaio“ zu sprechen (aber nicht vom ideologisch geprägten Begriff des Proletariers), während generell der Begriff „lavoratore“ wünschenswert ist. Dabei handelt es sich aber um bloße Mutmaßungen. Ein wesentlicher Aspekt ist, dass die „echte Arbeit“ (die produktive) manueller und landwirtschaftlicher Natur ist. Der „operaio“ (in seiner allgemeinen Bedeutung) ist – sofern er nicht „manuell“ tätig ist – nicht eindeutig vom Proletarier in der Fabrik zu unterscheiden, deshalb erscheint es besser, ihn als „lavoratore“ zu bezeichnen. B. Jude – Judentum „Jude, m. Judaeus. 1) der fremde eigenname, der im lateinischen gewande zu uns kommt, bürgert sich unter einflusz des alten deutschen betonungsgesetzes, das den hochton auf die stammsilbe legt, als Judeo und Judo im ahd. bei uns ein, alts. Judeo und Juðeo, fries. Jotha (Richthofen 130a, 16). von der ersteren form geht das mhd. jüde aus, das wie das daneben bestehende jude seinen charakter als eigennamen häufig verwischt (s. unten), sich lange hält und mundartlich noch heute dauert […].“21 Nach der Erläuterung des fremdländischen Ursprungs (hebräisch, griechisch und lateinisch) des Etymons, führt das Grimm’sche Wörterbuch weitere volkstümliche und literarische Verwendungen an. Der Begriff Jude: 1) kann die Herkunft aus dem Land des Alten Testaments oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion angeben; 2) ist Synonym für Schmutz, Gewinnsucht und Wucher; 3) für Schlauheit und List; 4) für den mehr oder weniger vornehmen Kaufmann; 5) für den Wucherer; 20 21
Denn von einem solchen und nicht von einem „Arbeiter“ ist hier die Rede. Vgl. Anm. 36 (Anm. der Übersetzung). DWB, 10 (1877), S. 2352 ff.
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6) steht für den heimatlos herumziehenden „Ewigen Juden“; 7) kann auf junge Handwerksleute hindeuten; 8) meint eine bestimmte Barttracht. Diese kurze Zusammenfassung erlaubt uns zu verstehen, wie die allgemeine Verwendung des Begriffs vorwiegend an die soziale und wirtschaftliche Dimension gebunden war. Wie ist „Jude“ zu übersetzen? Wie übersetzt man „Judentum“? Im gegenwärtigen Italienisch spricht man generell von „ebreo“ und „ebraismo“, um auf eine Person und ihre Religionszugehörigkeit hinzuweisen, jedoch gebunden an ein gemeinsames historisches, kulturelles und familiäres System. „Ēber“ ist jemand, der aus dem Land Abrahams stammt. Dasselbe gilt für den Begriff „ebraismo“. Die Religion ist ein wichtiger Bestandteil, aber – was den Begriff ebenso betrifft – nicht allumfassend. Anders gesagt, ein „ebreo“ kann nur ein „giudeo“ sein, wenn er sich öffentlich zur jüdischen Religion bekennt, während ein „giudeo“ zwangsläufig ein „ebreo“ ist, weil der „giudaismo“ Teil des „ebraismo“ ist. Die Ungebräuchlichkeit des Begriffs „giudeo“, der im Lauf des vergangenen Jahrhunderts (als man den Terminus „Israelita“ bevorzugte) nicht mehr verwendet wurde, liegt an seiner Verwendung in einer Zeit des Höhepunkts des staatlichen Antisemitismus (Dreißiger- und Vierzigerjahre des letzten Jahrhunderts), um die klare und eindeutige Überschneidung zwischen der ethnisch-kulturellen und der religiösen Herkunft zu untermauern. Das „Blut“ und die „Religion“ waren austauschbar, aber nicht nur das: Für den Antisemiten bleibt ein „ebreo“ ein „giudeo“, auch wenn er sich nicht mehr zur jüdisch-israelitischen Religion bekennt, Atheist wird etc. Ein anschauliches Beispiel hierfür in Mein Kampf ist Karl Marx: Obwohl er 1824 getauft worden war und sich über den „Geist des Judentums“ gelinde gesagt schmählich äußerte (Ursprung des Kapitalismus), sieht Hitler in ihm immer und überall einen „Juden“. Wenden wir uns nun dem Judentum zu: „Judenthum, n. 1) jüdische art, namentlich nach der seite der religion: denn jr habt je wol gehöret meinen wandel weiland im jüdenthum, wie ich uber die masze die gemeine gottes verfolgete und verstörete sie, und nam zu im jüdenthum, uber viel meines gleichen in meinem geschlecht, und eivert uber die masze umb das veterliche gesetz. […] dann aber auch allgemein, und mit niedrigem nebenbegriff: der wirth kam von Adam her, dem stammvater der juden, und sprach die deutsche sprache, die wie jede, eine tochter der hebräischen ist. daher bekennt sich jeder nach seiner art zu einem judenthum und judenzt als korn- oder bücher- oder zuckerjude. […] 2) jüdisches land und volk: Jerusalem war eine mechtige stad, die legt sich sampt dem ganzen jüdenthum wider die christen mit groszem ernst und gewalt […].“22 „Judentum“ ist folglich zurückzuführen auf den religiösen Bereich, auf das Judentum im Allgemeinen (auch im abwertenden Sinn, wie in Richard Wagners Pamphlet, welches im Grimm’schen Wörterbuch ausdrücklich zitiert wird) oder auf das Volk sowie das Stammland. Die „Wiedergabe“ des Begriffs Jude-Judentum (das Lemma stammt aus dem Jahr 1877) schafft in jenen Fällen „ethische“ Probleme, wo in den germanischen Sprachen (wie dem Englischen oder dem Deutschen) der Ter22
Ebd., S. 2358.
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minus jüdischer Herkunft („jehudi“) weiterhin besteht, während hebräisch sich bloß auf die Sprache beschränkt. Das Grimm’sche Wörterbuch führt den Eintrag „Hebräer“ als Synonym für „Jude“, aber seine Verwendung ist äußerst limitiert (zuweilen wird er in Bezug auf die Hofjuden benutzt).23 Der Begriff „ebreo“ hat jedoch eine ausgedehntere Konnotation: Er verweist außer auf eine „exilische“ Religionszugehörigkeit auch auf eine Geschichte und ein Schicksal. Wie wir bereits bei der volkstümlichen und literarischen Verwendung im Grimm’schen Wörterbuch gesehen haben, ist der Terminus „giudei“ (Juden) „vorzuziehen“, wenn man den Juden bestimmte physische oder moralische Charakteristiken zuweisen will. Das Problem liegt aber in der Verwendung des Begriffs: Wenn es wahr ist, dass man ein „giudeo“ sein kann, infolge des Geruchs, der Schlauheit, des Betrugs, der Kleidung, des unsteten Vagabundierens und des „Gottesmordes“, dann muss genauso ein „ebreo“ nicht notwendigerweise ein „giudeo“ im Sinn einer Religionszugehörigkeit sein. Hier ist eine Synekdoche im Spiel: Ist das Hebräertum Teil des Judentums oder umgekehrt? Betrachten wir nun die italienischen „Wiedergaben“ der Begriffe „Jude“ und „Judentum“. Während die „Wiedergaben“ von Bompiani und Kaos übereinstimmen, eliminiert die Version von Thule das Lexem „ebreo“ und ersetzt es durch „giudeo“. Zwischen „ebraismo“ und „giudaismo“ besteht in den ersten beiden Übersetzungen eine gewisse Austauschbarkeit, während Thule seine Kohärenz beibehält: Das Hebräertum wird tatsächlich auf das Judentum reduziert, nämlich auf ein religiöses und „rassisches“ Phänomen. Wie bekannt, ist für Hitler die Religion der „Überbau“ einer Rasse und im jüdischen Fall nur eine Folge der „parasitären“ Metaphysik. Kehren wir aber zum Ausgangsproblem zurück: Wenn das Judentum Teil des Hebräertums ist und die in Mein Kampf dargelegte Ideologie Hitlers die Religion als ein aus der „Rasse“ „entstandenes“ Phänomen ansieht, ist es offensichtlich, dass die Verwendung des Terminus „ebraismo“ in der italienischen Wiedergabe vorzuziehen ist. Es sei denn, der Text bezieht sich eindeutig und unmittelbar auf die Religionsgemeinschaft. C. Völkisch – Volksgemeinschaft „Völkisch, adj.: ags. folcisc, common, vulgar, popular Bosworth-Toller; popularis, volckisch Diefenbach gloss. 447b ; und so er die gemain ersam offen heresch und völkesch gaben verlaussen haut (repudiatoque publico munere populari, das letzte wort irrthümlich auf munere bezogen) Oesterreicher Columella 1, 28 lit. ver. (gleich darauf: uss fölckischer bittung, rogatione tribunicia); die versammlung der volkischen stellvertreter Zschokke schr. 36, 209; deutsch heiszt schon der wortbedeutung nach völkisch Fichte leben u. briefw. 2, 147 (von Fichte 1811 gebraucht); so bedarf es (das preusz. volk) dazu weder ungeheurer zugeständnisse, noch ungeheurer ‚ereignisse‘, noch einer verfassungsveränderung, noch ‚volkischer‘ bewegungen Widmann polit. bedenken wider die ev. kirchenztg. (1846) 16. in neuerer zeit 23
Ebd., S. 734.
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immer mit umlaut als deutscher ausdruck für national, durchaus nicht mit allgemeinem beifalle aufgenommen (aus nationalen oder, wie man mit unschönem worte heute sagt, ‚völkischen‘ kreisen Roethe wege d. deutschen philologie [1923] 3), und im parteigezänk mit dem klange eines schlag- und kampfwortes behaftet; bes. oft wird dabei auch der rassengegensatz gegen die juden betont.24 Die vom Grimm’schen Wörterbuch vorgelegte Definition ist ziemlich klar: Der Begriff völkisch, anfänglich Synonym für volkstümlich, plebejisch, gewöhnlich, ist in jüngerer Zeit (ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts) in Richtung „national“, „nationalistisch“ abgewichen, häufig in „rassischem“ Gegensatz zu den Juden. So kann die deutsche politisch nationale und nationalistische Bewegung antijüdisch (und antisemitisch) sein. Es handelt sich aber nicht um einen beliebigen Nationalismus, sondern um einen volkstümlichen, gemeinschaftlichen, plebejischen, wenn nicht sogar vulgären Nationalismus. Es ist ein nationales Zugehörigkeitsgefühl, das von unten nach oben kommt und seinen Ausgang nicht vom Kopf, sondern vom „Bauch“ aus nimmt. Es handelt sich nicht, um dies klarzustellen, um die Ideale des Frühlings der Nationen, sondern um eine Art Reaktion auf ein gesellschaftliches und individuelles Unbehagen, dessen Wurzeln zwar in den napoleonischen Befreiungskriegen (wie der Verweis auf Fichte zeigt) liegen, aber welches sich dann im Lauf des 19. Jahrhunderts wandelte, verstärkte und „vulgarisierte“. Hitler hat nicht zufällig der Anomie der Metropolen und der Entwurzelung der jungen deutsch-österreichischen Bauern vom Land ein ganzes Kapitel gewidmet. Die Identifizierung des Gegners ist an seine Nichtzugehörigkeit zur Nation im „genetisch-rassischen“ und „sozialen“ Sinn gebunden: Der Jude stammt nicht nur von Juden ab (nämlich von einer jüdischen „Mutter“), sondern ist dem „geliebten Volke“ auch in sozialer wie in ökonomischer Hinsicht fremd. Das „geliebte Volk“ (wie er wiederholt in Mein Kampf bemerkt) wird von den Juden betrogen und ausgebeutet dank der Dummheit der gehobenen Klassen, der verantwortungslosen, kurzsichtigen, korrupten und „feigen“ Eliten, die sich an die internationale Finanzwelt und/oder die Bolschewisierung der Kunst verkauft haben. Blicken wir nun auf die „Wiedergaben“ des Begriffs. Die Ausgaben von Bompiani und Kaos übersetzen den Begriff „völkisch“ tendenziell mit „nazionale“ oder bisweilen mit „popolare“. Thule hingegen verzichtet auf eine Wiedergabe auf Italienisch und begründet dies in zwei seiner seltenen Anmerkungen: „Dieser [der Begriff „völkisch“] bezieht sich auf eine Vorstellung der Nation auf ethnischer Basis, für die das Element des Volkes und des Blutes unabdingbar ist“.25 Und: „In diesem Fall nähert sich der Begriff völkisch eher der im Deutschland des 19. Jahrhunderts entwickelten und bis zu den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts andauernden gleichnamigen Denkrichtung an, deren Anhänger eine germano-zentrische Vision der Rückgewinnung des Germanentums der Vorfahren vertraten, die nationalistisch, rassistisch und auch konservativ war.“26 24 25 26
Ebd., 26 (1926), S. 453 ff. Band 2, Anm. 1, S. 16. Band 2, Anm. 2, S. 89.
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Diese fast „religiöse“ Scheu in Bezug auf den Terminus „völkisch“ – im Übrigen bei Forschern über den Nationalsozialismus anderer politischer Richtung weit verbreitet – kann zweifellos auf die Schwierigkeit zurückgeführt werden, einen semantisch so umfassenden und zweideutigen Begriff auf Italienisch wiederzugeben; andererseits aber auch auf die Zurückhaltung im Umgang mit einem Begriff, der in der Lage ist, das „horizontale“ und gleichzeitig „vertikale“ Element des Ausdrucks zu erfassen: „nazionalpopolare“. Es ist bekannt, dass der Begriff „nazionalpopolare“ im Italienischen zwei fast gegensätzliche Bedeutungen angenommen hat: Einerseits existiert Antonio Gramscis „edle“ Interpretation als historisch und geistig tiefgreifender kultureller Phänomene einer Nation, andererseits der abfällige Gebrauch in Bezug auf die Massenmedien, welche damit beschäftigt sind, Stereotypen und oberflächliche Aspekte nationaler Identität darzustellen. Ein weiteres eng mit „völkisch“ verknüpftes Schlüssel-Lexem des Nationalsozialismus ist jenes der „Volksgemeinschaft“. „Volksgemeinschaft, f.: vom engsten verhältnisse anfangend kommt man leicht durch die familie bis zur volksgemeinschaft Schleiermacher w. 1, 12, 25.“27 Die Passage aus dem Grimm’schen Wörterbuch stellt keine große Hilfe dar. Wenden wir uns daher den italienischen „Wiedergaben“ zu. Die Ausführungen zum Begriff „völkisch“ treffen mindestens ebenso auch auf „Volksgemeinschaft“ zu und auf alle Lexeme des semantischen Felds „Volk (Volkstum, Volkskörper, volkstümlich)“: Den „klassischeren“ Übersetzungen der Verlage Bompiani und Kaos steht die vorsichtigere und wörtlichere Version von Thule gegenüber. Für die einen steht der Genetiv von „Volk“ für „nazione“ (Nation), für die anderen für „popolo“ (Volk). Wenn die „Zurückhaltung“ im Fall von „völkisch“ leicht zu verstehen war, so trifft dies in Bezug auf „Volksgemeinschaft“ weniger zu. Im Vermeiden des Ausdrucks „nazionalpopolare“ (völkisch) läuft man Gefahr, die Konnotation des auf seine Weise für eine populistische Logik emblematischen nationalsozialistischen Lexems zu verkürzen und zu steuern. D. Weltanschauung – Weltbild „Weltanschauung, n., zuerst bei Kant (1790, s. u. 1 b) belegte und trotz Klopstocks kritik […] früh geläufig gewordene bildung, mit der im entwicklungszeitalter moderner philosophie und psychologie der – bereits in Leibnizens monadenlehre vorgebildete […]. begriff der subjektiven weltansicht ins bewusztsein gehoben wurde […]. weltanschauung hat auch in die anderen germ. sprachen eingang gefunden, ins ndl. (wereld-aanschouwing), dän. (verdensanskuelse) und schwed. (världsåskådning) als lehnbildung, ins engl. als lehnbildung (world-view) und lehnwort [..]. im dt. ist die – an ältere bildungen wie weltbeschauer, weltbeschauung […] anknüpfende – komposition gegenüber dem zeitweilig bevorzugten sinnverwandten weltansicht […] weltanschauung besagt wesentlich mehr als „welt27
DWB, 26 (1926), S. 453 ff.
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bild“; unter weltbild versteht man die zusammenfassung und gedankliche verarbeitung der ergebnisse der naturwissenschaften zu einer wissenschaftlichen (oder auch naturphilosophischen) gesamtschau; diese bleibt als solche rein theoretisch und stellt nicht die letzten, metaphysischen fragen nach sein und sinn der welt als ganzer. weltanschauung überschreitet dagegen wesentlich die grenzen der einzelwissenschaften, sie ist eine wertende stellungnahme zum ganzen der welt und schlieszt darum eine antwort auf die letzten fragen nach ursprung, sinn und ziel der welt ein […].“28 Das lange Lemma des Grimm’schen Wörterbuchs aus dem Jahr 1954 welches zweifellos vom während der totalitären Bewegungen der Zwischenkriegszeit (in erster Linie der des Nationalsozialismus) erworbenen schlechten Ruf dieses Begriffes beeinflusst ist, erläutert, warum „Weltanschauung“ (wörtlich als „visione del mondo“ übersetzbar) über den wissenschaftlichen, „objektiven“ Anwendungsbereich hinausgeht und den subjektiven und metaphysischen Bereich betrifft. Diese scheinbar widersprüchliche Doppelnatur (nämlich das empirische Subjekt und die objektive Metaphysik) erlaubt es uns, die „moderne“ Tragweite und Bedeutung der rettenden, totalitären Vision der „Weltanschauung“ im vollen Umfang zu verstehen: Diese ist eine Metaphysik, da sie eine „Wissenschaft von den ersten Ursachen“ darstellt, aber gleichzeitig für jedermann „fassbar“ ist, der sich vom gnostischen Erlöser „führen“ lässt. Es handelt sich somit um einen mehr oder weniger freiwilligen „Bekehrungsprozess“ zur „wahren“ Erkenntnis, die für jeden, der die „Anzeichen“ der Wirklichkeit lesen kann, evident ist. Hitler ist ziemlich eindeutig: Die Weltanschauung ist eine notwendige Voraussetzung, um Politik zu machen, aber sie reicht nicht aus, da sie auf einen „bewaffneten Arm“, nämlich die Partei und den „Führer“ angewiesen ist. Der Unterschied zwischen Partei und Kirche besteht jedoch. Man könnte die im Fall der Lexeme „giudaismo-ebraismo“ bereits erwähnte synekdochisch-metonymische Beziehung ins Spiel bringen: Wenn das Judentum Teil des Hebräertums ist, dann auch in gleicher Weise die Kirche Teil des Deutschtums. Gerade weil die in den Dogmen einer Kirche (wie beispielsweise der katholischen) „verankerte“ Religion einer ersten Ursache untergeordnet ist (dem biologischen „Leben“ das Christentum, der „Rasse“ der Nationalsozialismus), folgt daraus, dass der Streit überhaupt nichts mit der Weltanschauung der Nationalsozialisten zu tun hat. Die einzig metaphysisch nachvollziehbare „Reform“ ist die in Richtung eines „positiven Christentums“ (nämlich eines von der jüdischen Wurzel gereinigten Christentums). Sehen wir uns die „Wiedergaben“ des Begriffes an, so stehen der „buchstäblichen“ Sichtweise des Thule-Verlags (der auch in diesem Fall bevorzugt, den für das Vokabular des Nationalsozialismus so wichtigen Terminus nicht zu übersetzen) die schwankenden „Wiedergaben“ von Bompiani (und Kaos) entgegen: Revel verwendet „visione“ (Vision), während Treves „concezione“ (Auffassung) favorisiert. Aber handelt es sich hierbei um Synonyme? Beginnen wir mit dem Ausdruck Kants aus der Transzendentalen Analytik seiner Kritik der reinen Vernunft (II, 1): „An-
28
DWB, 28 (1954), S. 1530.
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schauungen ohne Begriffe sind blind. Begriffe ohne Anschauungen sind leer“.29 Das Erfassen einer Anschauung in begrifflicher Form ist zumindest zweifelhaft, außer man will in idealistischer Weise die beiden Prozesse des sinnhaften Bewusstwerdens und der intellektuellen Verarbeitung übereinanderlegen. Es gibt jedoch noch einen anderen Grund, warum die „Anschauung“ (visione) entfernt mit „Begriff“ (concetto) verwandt ist: Hitler ist weit davon entfernt, dem „geliebten Volk“ eine neue Erkenntnistheorie zu unterbreiten; wenn überhaupt, dann beabsichtigt er, den Leser auf seinen Weltbegriff hinzuführen. Um dies zu bewerkstelligen, bedarf es einer Vision (Intuition): Nur wenn die Menschen auf ihre „synthetischen Urteile a priori“ und tatsächlich auf die freie Entscheidung des eigenen Gewissens verzichten, werden sie ihren „Richter-Erlöser“ annehmen, der außerhalb ihres Verstandes liegt und ihnen den „Weltbegriff“ auf dem Silbertablett präsentiert. Hier zeigt sich, dass der Ausdruck „visione del mondo“ (Weltanschauung) eindeutig antiaufklärerisch ist, gerade weil er ein völliges Ausbleiben der intellektuellen Verarbeitung voraussetzt. „Weltbild, n., vereinzelt – in anschlusz an lat. imago ideaque mundi – bereits im frühmittelalterlichen dt. nachweisbar […], jedoch erst seit beginn des 19.jhs. in verschiedener anwendung üblich und zu einem oft gebrauchten fach-, ja schlagwort insbesondere der modernen psychologie und philosophie geworden […], mit parallelen in den anderen germ. Sprachen (ndl. wereldbeeld, dän.verdensbillede, norw. verdsbilete und schwed. världsbild). daneben findet sich gelegentlich die komposition mit dem gen. pl.: weltenbild […]“30 Wenn wir uns ansehen, was mit „Weltbild“ (imago mundi) passiert, so sind die „Wiedergaben“ freier. Revel deutet Weltbild philosophisch als „visione della vita“ (Vision/ Vorstellung des Lebens), während Treves von „quadro generale“ (Gesamtbild) spricht. Thule verwendet „visione generale“ oder „immagine generale“. Wie bereits angemerkt, hat der Begriff „imago mundi“ eine andere Bedeutung als „Weltanschauung“ (außer man vertritt einen extremen Idealismus). Es ist jedoch bezeichnend, dass Hitler diesen nur in Verbindung mit „Weltanschauung“ verwendet. Um sich ein Bild von der Welt zu machen, muss man sie „gesehen“ haben: Zuerst die Intuition und dann die Apperzeption. Ein scheinbar selbstverständlicher Vorgang, der aber in seiner abduktiven Logik und indiziellen Methode betrachtet werden muss, mit welcher der Autor von Mein Kampf den Leser zur letzten Wirklichkeit der Dinge führen will. 4. DIE „WIEDERGABE“ DER EDITION „FREE EBREI“ Der Kulturverein Free Ebrei wurde 2012 von Alessandra Cambatzu und mir in Berlin als Informationswebsite in italienischer Sprache gegründet. Sein Ziel ist es, das Studium und das Verständnis der jüdischen Identität auf historischer, literarischer, 29 30
Im Original lautet das Zitat: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind“ (Anmerkung der Übersetzerin). Ebd., S. 1552 ff.
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politischer, wirtschaftlicher, künstlerischer und allgemein menschlicher Ebene zu fördern. Er konzentriert sich insbesondere auf die Gegenwart, auch wenn die tieferen Wurzeln der langfristigen philosophischen und politischen Probleme nicht vernachlässigt werden. Free Ebrei engagiert sich auch für die hohe und intelligente Vermittlung und Verbreitung von humanistischem Wissen. Im Jahr 2016 hat Free Ebrei mit der Veröffentlichung von historischen Dokumenten, Essays und literarischen Werke begonnen und dabei die erste kritische Ausgabe von Hitlers Mein Kampf veröffentlicht. Nach dem Vergleich der „Wiedergaben“ einiger zentraler Schlüssel-Lexeme von Mein Kampf anhand der drei veröffentlichten, „historischen“ Übersetzungen folgen ein paar abschließende Bemerkungen zu den lexikalischen Entscheidungen, die meine Frau und ich in unserer „Wiedergabe“ getroffen haben. Eine Vorbemerkung sei erlaubt: Sowohl ich als auch meine Frau haben Lesefluss und Lesbarkeit des Textes gegenüber einer wortwörtlichen und texttreuen Wiedergabe bevorzugt. Insbesondere haben wir uns entschieden, einige redundante und geschraubte Einschübe, Ausdrücke, Schaltsätze und andere syntaktische Formen zu vereinfachen oder wegzulassen. Der Schreibstil Hitlers ist in der Tat alles andere als leicht, einerseits aufgrund seiner Schulbildung, andererseits wegen seiner fast „deklamatorischen“ Tendenz, seine Ideen ad nauseam zu wiederholen bis zur Akzeptanz (oder Ablehnung) durch den „ermüdeten“ Leser. Darüber hinaus ist nicht zu vergessen, dass der Text abschnittsweise und nicht chronologisch und inhaltlich durchgängig verfasst wurde, was zur Folge hat, dass die Wiederholungen und syntaktischen Fehler wiederkehrend auftreten. Die Tatsache, dass der Text im Lauf der Jahre fast gar nicht überarbeitet worden ist, sagt einiges über die charismatische Macht des Autors aus, aber auch über die Schwierigkeiten, auf welche die Revisoren auch nur beim Anbringen grammatikalischer oder inhaltlicher Korrekturen stießen. Aus all diesen Gründen und um dem italienischen Publikum diesen so wichtigen, wenn auch unterschätzten, wenig gelesenen oder verachtet-verherrlichten Text näherzubringen, haben wir zudem eine lexikalische Anpassung an den heutigen politischen Jargon vorgenommen. Ohne den Inhalt zu verdrehen, sind wir der Ansicht, dass zur Lesbarkeit von Mein Kampf auch eine Annäherung an jenen gewalttätigen und emotionalen politischen Wortschatz gehört, welcher heute weitgehend von den sogenannten populistischen Bewegungen verwendet wird. Was die grundlegenden lexikalischen Entscheidungen betrifft, muss berücksichtigt werden, dass abgesehen von den ersten beiden Kapiteln (welche gänzlich von meiner Frau übersetzt wurden) die verbleibenden 25 von einem Wissenschaftler übersetzt wurden, der nicht wirklich ein ausgebildeter Übersetzer ist. Ich würde mich aber als einen Übersetzer aus „Berufung“ bezeichnen, da ich in meiner wissenschaftlichen Karriere versucht habe, dem italienischen Publikum neben den Interpretationen auch die interpretierten Texte zu präsentieren. Diese Vorbemerkung erklärt zudem meinen Wunsch zu versuchen, einige Begriffe zu übersetzen, die häufig nicht übersetzt vom Ausgangstext übernommen wurden oder bei denen meine „Vorgänger“ sich nicht für eine durchgängige Übersetzung entscheiden wollten (und dies nicht aufgrund des Kontextes). Die oben zitierten Lexeme („Arbeit/ Arbeiter“, „Jude/Judentum“, „völkisch/Volksgemeinschaft“, „Weltanschauung/
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Weltbild“) stehen nach meiner Ansicht sinnbildlich für die Problematik, die ein Text hervorruft, der gewiss nicht philosophisch, vor allem aber archetypisch ist. Es ist nämlich ein Text, der nicht den Intellekt oder den Verstand anspricht, sondern die Emotionen, die „Stimmung“, das „Gefühl“ seines Lesers. Das bringt das Primat der „analogen“ (emotionalen) Vernunft über die „reine“ (experimentelle) Vernunft mit sich, welche als Waffe zur Entkräftung der Paralogismen der Politiker dient. Das Primat der Analogie führt zu einer anderen Bewertung nicht nur des Textes, sondern auch der betreffenden syntaktischen und semantischen Struktur selbst. Dies hat zur Folge, dass die „Wiedergabe“ den Hintergrund jedes Begriffs zu berücksichtigen hat, aber darüber hinaus auch konkret den Leser als Adressaten, den Hitler für seine Sache gewinnen wollte. Deswegen bevorzugte man immer und überall den Begriff „lavoratore“ gegenüber anderen ähnlichen Begriffen im Italienischen, wie „operaio“, „artigiano“ etc., und ersetzte ihn nie durch „proletario“, da dieser nicht nur eine ideologische (marxistische) Konnotation hat, sondern auch, weil Hitler im Verlauf des Textes nie einen direkten Bezug zum „lavoratore-operaio-proletario“ herstellt. Während „operaio“ ein allgemeiner und „proletario“ ein ideologischer Begriff ist, bezieht sich „lavoratore“ genau auf seinen propagandistischen Wirkungsbereich. Der Nationalsozialismus ist ein Sozialismus der Nation, weil er die Arbeit jedes einzelnen Mitglieds der „völkischen“ Gemeinschaft zur Geltung bringen will; ihm sind die neuen Arbeitsbedingungen bewusst (was den Tagelöhner und Handwerker als allgemeine Verweise auf eine längst vergangene Zeit ausschließt) und er lehnt jegliche internationalistische, ideologische Färbung wie im marxistischen Begriff „Proletarier“ ab. Der Begriff „Jude“ benennt im Italienischen eine Person jüdischen Glaubens oder, allgemeiner gesprochen, einen ethnischen Juden (ebreo). Wie bereits angemerkt, existierten (und existieren in einigen Bevölkerungsschichten) im Italienischen andere Ausdrücke zur Bezeichnung dieser Schicksalsgemeinschaft: Israelita (Israelit), giudeo (Jude), israeliano (Israeli) und sionista (Zionist). Die erste geht zurück auf den Liberalismus des 19. Jahrhunderts und bezeichnet bloß die Anhänger der „mosaischen“ Religion. Die zweite Bezeichnung hat konservativere (bisweilen rassistisch motivierte) Wurzeln und meint die ethnische Zugehörigkeit einer Person zu einem bestimmten symbolisch-religiösen Apparat. Die dritte ist jüngerer Abstammung und verweist auf den Bürger des Staates Israel. Die vierte bezeichnet aus politischer Sicht all jene, die sich mit dem historischen, politischen und religiösen Schicksal des jüdischen Volkes identifizieren und wird häufig negativ assoziiert. Wir haben bevorzugt, „Jude“ mit „ebreo“ zu übersetzen, um nicht von der gängigen Verwendung des Begriffs im Italienischen abzukommen und um eine gewisse Objektivität und interpretative Kohärenz beizubehalten. Hitler jedoch meinte mit „Jude“ den „giudeo“, nämlich jene Person, die einen bestimmten symbolischreligiösen Apparat teilt. Laut seiner „rassistischen“ Sichtweise sind nämlich all diejenigen Juden, die von einer jüdischen Familie abstammen, ungeachtet ihres Verhältnisses zur Religion, zur Gemeinschaft etc. Davon abgesehen hielten wir es für nicht angebracht, einen Begriff zu verwenden (im Übrigen häufig in der neonazistischen „Thule-Wiedergabe“ gebraucht), der Zweifel über unsere ethisch-politische Position hätte aufkommen lassen können.
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Einfacher gestaltet sich der Diskurs in Bezug auf die Begriffe „Weltanschauung“ und „Weltbild“, bei denen man sich in der „Wiedergabe“ auf eine wörtliche Übersetzung beschränkt und versucht hat, die unterschiedliche historisch-philosophische Bedeutung der Termini beizubehalten. Ein besonderes Augenmerk möchte ich jedoch auf den Begriff „völkisch“ richten, der in den italienischen Übersetzungen immer auf Probleme bei der „Wiedergabe“ gestoßen ist. Die Forscher über den Nationalsozialismus haben sich generell darauf verständigt, diesen nicht ins Italienische zu übersetzen, da der Begriff ihrer Meinung nach semantisch zu reich war, um ihn einem analogen, italienischen Begriff zuordnen zu können. Ich habe den Begriff mit „nazionalpopolare“ übersetzt und es so vermieden, mich auf „nazionale“ oder „popolare“ zu limitieren. Der Terminus verweist nämlich auf jenen historisch-symbolischen Apparat, der eine Gemeinschaft auf räumliche und zeitliche Art und Weise definiert. Im Italienischen wird der Begriff „nazionalpopolare“ häufig pejorativ zur Bezeichnung des dem Allerweltsgeschmack Entsprechenden, Gewöhnlichen etc. verwendet, das heißt, für alle Stereotypen der Volkskultur. Ich hingegen bin der Ansicht, dass der Ausdruck ein sehr breites semantisches Feld aufweist und nicht in adäquater Weise studiert und verstanden wurde. Hitler verweist mehrmals in seinem Buch auf den Zusammenhang zwischen „nazionalpopolare“ (völkisch) und dem Nationalsozialismus und macht somit deutlich, wie seine Partei den Ehrgeiz hatte, in einem gegebenen Moment der Geschichte eine tausendjährige, ewige Sehnsucht zum Ausdruck zu bringen. „Nazionalpopolare“ ist somit nicht nur ein Begriff zur Bezeichnung eines Stereotyps, sondern liegt dem Gefühl des Volkes zugrunde.
MEIN KAMPF IN FRANKREICH Eine sehr lange Geschichte Olivier Mannoni GESCHICHTE DER FRANZÖSISCHEN ÜBERSETZUNGEN Als die ersten Gerüchte über die Veröffentlichung einer neuen Übersetzung von Mein Kampf in Frankreich die Runde machten, bekam man zu spüren, wie tief in diesem Land die Unkenntnis der Geschichte dieses Buches war. Man fragte sich mit lautstarker Entrüstung, warum man ein verbotenes Buch überhaupt einem jungen Publikum verkaufen wollte, das dieses „Werk“ wirklich nicht brauche. Die Reaktionen werden im zweiten Teil dieses Beitrags näher dargestellt werden. Man muss aber sofort einen Punkt klarmachen: Mein Kampf ist in Frankreich (fast) nie verboten worden. Und wenn eine ganze Auflage eingestampft wurde, war es nicht etwa die französische Regierung, die das verlangt hatte, sondern der „Führer“ selbst: Der einzige, der versucht hat, das Buch in Frankreich zu verbieten, heißt Adolf Hitler. Es ist eigentlich eine lange Geschichte. Vor 1933 war Mein Kampf in Frankreich kaum gelesen worden. Die Diplomaten – André François-Poncet zum Beispiel, der damalige Botschafter in Berlin – kannten zwar den Text und waren über seinen Inhalt eher erschrocken. Wenn der Botschafter den „Führer“ direkt darauf ansprach, antwortete dieser, dass es als Buch eines Gefangenen verfasst wurde, der bitter und leidenschaftlich schrieb.1 François-Poncet, der Mein Kampf gelesen hatte und als Botschafter seit 1931 in Deutschland war, machte sich aber keine falsche Hoffnung: „Dass ein solcher Mann ein Volk von sechzig Millionen Menschen führt und alle Räder der Regierung kontrolliert, ist für Europa eine Gefahr, die man nicht verstecken sollte.“2 Die Militärs wussten es auch. „Jeder Franzose muss dieses Buch lesen“, schrieb der General Louis Lyautey. Dieser Satz wurde als Motto für die französische Ausgabe verwendet. In einer Aktennotiz für den französischen Außenminister schrieb aber auch der General Maurice Gauché, dass „Mein Kampf das Gesetz von Hitlers zukünftigem Tun enthält.“3 Und über de Gaulle, damals noch Oberst, erzählt Maurice Schumann, dass der „General ihn gefragt hatte, ob er das Buch gelesen habe. Da es nicht der Fall war, antwortete de Gaulle: ‚Na, in diesem Fall sollen Sie es lesen. So werden Sie wissen, was das national-sozialistische Deutschland ist‘.“4 1 2 3 4
Vgl. Vitkine, Antoine: Mein Kampf, Histoire d’un livre. Paris: Flammarion 2013, S. 132. Ebd., S. 131. „Mein Kampf contient la loi des actes futurs de Hitler“, zit. in: ebd., S. 137. Zitiert nach Claude Quétel, Gespräch mit der Zeitschrift Philitt, 8.3.2017, in: philitt.fr/2017/ 03/08/claude-quetel-dans-mein-kampf-hitler-annonce-une-utopie/ (Zugriff am 18.3.2018).
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Ende 1933 veröffentliche Charles Appuhn, ein französischer Philosoph mit deutschen Sprachkenntnissen, ein erstes Buch über Mein Kampf: „Hitler von sich selbst in seinem Buch dargestellt.“5 Hitlers Umgebung reagierte scharf und versuchte, rechtliche Mittel zu finden, um das Buch in Frankreich verbieten zu lassen. Da dies nicht möglich war, protestierte das Auswärtige Amt offiziell bei der französischen Regierung. Allerdings war eine vollständige Übersetzung des ganzen Buches damals schon in Vorbereitung. Ein rechter Verleger, Fernand Sorlot, der Mussolini bewunderte, aber für die Deutschen nur tiefes Misstrauen hegte, hatte sich entschieden, Mein Kampf auf Französisch zu veröffentlichen. Für dieses Unternehmen fand er Hilfe beim Ministerium für Kriegsveteranen6, was 15 Jahre nach dem Ersten Weltkrieg völlig normal war: Man hatte immer ein tiefes Misstrauen gegenüber allem, was mit Deutschland zu tun hatte, und noch mehr gegenüber allem, was mit dem deutschen Militarismus in Beziehung stand. Nicht so gewöhnlich war hingegen die Unterstützung durch die Ligue contre l’Antisémitisme (LICA – „Verband gegen Antisemitismus“). Dieser ungewöhnliche Bund zwischen jüdischen und anti-rassistischen Aktivisten einerseits und der alten französischen, katholischen und antisemitischen Rechten anderseits war eine Neuheit in Frankreich. Obwohl Sorlot auch schon manche judenfreundliche Autoren veröffentlicht hatte, war die Zusammenarbeit zwischen den Anhängern Maurras’schem Denkens7 und Anti-Rassisten höchst befremdlich. Den Hass auf die Deutschen („les Boches“) und die Nazis teilten sie aber. Die Gegner des Nazismus, nicht ihre Freunde, haben das Buch in Frankreich veröffentlicht. Und wenn das Buch verboten wurde, hatte die französische Regierung damit nichts zu tun: Der „Führer“ des Reichs verklagte den Verleger, weil dieser die Rechte an dem Buch nicht besaß – und wie hätte er diese Rechte kaufen können, da der Eher-Verlag und Hitler überhaupt keine Ausgabe in Frankreich wollten? Das Buch wurde also verboten, und wenn man es dennoch lesen konnte, so war es der LICA zu verdanken, die 5.000 Exemplare behalten hatte und diese Bücher an einflussreiche Persönlichkeiten Frankreichs verschickte. Ein anderes Buch über Mein Kampf erschien einige Jahre später: eine gekürzte Fassung, in der alle aggressiven Passagen über Frankreich gestrichen wurden.8 „Kein Franzose darf das ‚Phänomen Hitler‘ verkennen“, schrieb der Verleger dieser Ausgabe in dem kurzen Vorwort. Die Übersetzer, François Dauture und Georges Blond, hingegen schrieben in der Einleitung, dass für sie die „historische Sachlichkeit“ zwar darin bestünde, „Teile von Mein Kampf, in denen Frankreich als der gefährlichste und unversöhnliche Feind vorgestellt wird“, zu veröffentlichen, sie aber in Verbindung sähen mit späteren Äußerungen des „Führers“, in denen er „of-
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Appuhn, Charles: Hitler par lui-même d’après son livre. Paris: Jacques Haumont 1933, zit. nach: Vitkine, Kampf, S. 134. Ebd., S. 137. Gemeint ist der antisemitische und nationalistische Journalist und Schriftsteller Charles Maurras. Das Buch wurde vier Jahre später mit der Zustimmung Hitlers und unter dem viel friedlicheren Titel Ma Doctrine („Meine Lehre“) bei Fayard veröffentlicht.
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fiziell erklärte hatte, dass es keinen Grund mehr gab“, sich über Länder zu streiten, und dass „die Grenzen Frankreichs sowie die Grenzen Italiens gesichert waren.“9 Nach dem Krieg wurde Mein Kampf in Frankreich wieder frei verkauft, ab 1979 aber mit einer Warnung versehen, die die LICA diesmal vor Gericht eingeklagt hatte. Bis Anfang 2016 wurden davon einige Hundert Exemplare jedes Jahr verkauft – die Übersetzung von 1934 findet man aber heute frei zugänglich auf vielen antisemitischen oder islamistischen Webseiten. GESCHICHTE DER FRANZÖSISCHEN KRITISCHEN AUSGABE In 2016 wurden in Frankreich wie in Deutschland die Rechte von Mein Kampf zum Gemeingut. In beiden Ländern hatte man aber schon lange zuvor begonnen, über eine neue Übersetzung des Buches nachzudenken. Beim Verlag Fayard war es Anthony Rowley, der eine eventuelle neue Übersetzung in Betracht zog. Nach seinem Tod übernahm der Historiker Fabrice d’Almeida das Projekt und fragte mich, ob ich diese neue Übersetzung übernehmen würde. Von Anfang an war das Projekt ganz klar: Es ging keineswegs darum, nur eine neue Fassung des Textes als solches zu veröffentlichen. Eine solche Arbeit hätte überhaupt keinen Sinn ergeben und wäre nicht begründbar gewesen. Die Idee war, diese Übersetzung in einen umfangreichen textkritischen Apparat einzufügen. Also nicht mehr Mein Kampf, sondern ein Buch über Mein Kampf oder besser: um Mein Kampf. Daran arbeiteten damals mit Christian Ingrao10, Nicolas Patin und David Gallo bereits drei Historiker, die heute noch Mitglieder der Gruppe sind, die das Unternehmen durchführt. Meine erste Übersetzungsarbeit wurde Anfang 2014 fertiggestellt. Nachdem ich eine gewisse Zeit lang keine Nachrichten mehr erhielt, wurde ich im September 2015 via Twitter von einem unverständlichen Cover des Fachmagazins LivresHebdo überrascht: „Mein Kampf: un pataquès français“11 („Mein Kampf: ein französisches Schlamassel“) verkündete die Schlagzeile. Der Bericht, ziemlich unpräzis und bösartig, behauptete, dass das ganze Vorhaben eingestellt worden sei. Das war nicht der Fall. Die Arbeit hätte wahrscheinlich von selbst weitergehen können, obwohl der erste Herausgeber, Fabrice d’Almeida, nicht mehr bei Fayard arbeitete. Entscheidungen sollten zwar getroffen werden, aber in der Ruhe, die eine solche Arbeit verlangt. Wie immer in Frankreich, mischte sich die Politik sehr schnell ein. Mitte Oktober veröffentlichte der linke Populist Jean-Luc Mélenchon einen Brief an seine Verlegerin, Sophie de Closets, da er nicht im selben Verlag wie Hitler veröffentlicht werden wollte: „Ich möchte Ihnen meinen persönlichen, poli-
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Ebd, S. III. Über die Geschichte der neuen Übersetzung äußerte sich der Historiker Christian Ingrao in einigen Gesprächen, in denen man viele Hinweise dazu finden kann, etwa in: L’Histoire, Februar 2016 (www.lhistoire.fr/«-mein-kampf-»-histoire-dun-livre (Zugriff am 21.5.2018)). Lemire, Laurent: Mein Kampf, un pataquès français, in: Livres Hebdo, 18.9.2015.
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tischen und philosophischen Widerstand gegen dieses Vorhaben ausdrücken.“12 Mit seinem typischen hochtrabenden Tonfall und unter dem sinnlosen Titel „Nein, nicht ‚Mein Kampf‘, wenn es schon Le Pen gibt“ versuchte der Populist, die Frage des Projektes in eine schöne Polemik zu verwandeln. Das Niveau des Textes – „Mein Kampf ist das Todesurteil für 6 Millionen Leute in den NS-Lagern und für insgesamt 50 Millionen Tote während des Zweiten Weltkrieges“13 – war natürlich sehr fern von jedem historischen Nachdenken. Mit der Geschichte und der Forschung hatte dieses Pamphlet natürlich gar nichts zu tun. Dieser Brief war aber lautstark genug, um eine Polemik zu schüren, die fast zwei Monate dauerte. Fünf Tage später veröffentlichte die Tageszeitung Libération vier Seiten Texte über das Thema unter dem Titel: „Es veröffentlichen oder nicht?“14 und zeigte auf dem roten Cover ein Bild des „Führers“ mit einem Strichcode als Schnurrbart. So provokativ diese erste Seite war, waren die Texte, die die Zeitung veröffentlichte, viel ernster. Es war nicht nur eine Plattform für einen Anhänger Mélenchons, Alexis Corbières, der eine sehr einfache Sicht verteidigte: „Die Veröffentlichung von ‚Mein Kampf‘ bei einem großen Verlag würde alle Dämme, alle moralischen und impliziten [!] Verbote brechen“.15 Auch zwei namhafte Historiker meldeten sich zu Wort: Johann Chapoutot, der ganz am Anfang an dem Projekt mitgearbeitet hatte, und der schon erwähnte Christian Ingrao. Und diese Konfrontation begann, interessant zu werden. Obwohl er nicht gegen die Veröffentlichung war, sagte Chapoutot in diesem Gespräch, dass dieser „Fokus auf ‚Mein Kampf‘“ den Nachteil hätte, „eine Hitler-zentrierte Deutung des Nazismus“ zu fördern. Chapoutot schloss aber auch nicht aus, dass diese Ausgabe, wenn sie gut ausgearbeitet wäre, gerade zeigen könnte, dass „dieser Text nicht die Bedeutung hatte, die man ihm beimisst“, und dass „sein Autor nicht so absolut zentral war, wie man es glaubt.“16 Christian Ingrao gab als Historiker eine Antwort auf Mélenchon: „Man muss sich mit solche Lektoren wie Sie auseinandersetzen, die Hitler und ‚Mein Kampf‘ ins Pathologische und in die Dämonologie verweisen“, statt in diesem Buch das Bild einer gesellschaftlichen und historischen, deutschen und europäischen Entwicklung zu sehen.17 Die Debatte verlief danach bis Januar 2016 zweigleisig: Einerseits folgte sie dem Skandal, den gewisse Fernsehsender und einige Internet-Seiten wissentlich geschürt hatten. Andererseits gab es aber auch eine echte und sehr interessante Debatte zwischen Historikern. Die bedeutende Wissenschaftlerin Annette Wieviorka formulierte zum Beispiel eine scharfe Kritik an der Veröffentlichung. Mein Kampf sei der Träger von etwas Imaginärem, sagte die Historikerin. „Es ist ein Mythos, ein Teil des Kultes, und der Kult gehorcht nicht der Vernunft. Man kann nicht behaupten, dass man es nur mit der Wissenschaft entschärfen kann.“ Worauf der Wissen12 13 14 15 16 17
melenchon.fr/2015/10/22/non-pas-mein-kampf-quand-il-y-a-deja-le-pen/ (Zugriff am 22.10.2015). Ebd. Libération, 27.10.2017, S. 1. Ebd., S. 5. Ebd. Ebd., S. 4.
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schaftler Denis Peschanski antwortete: „Wenn man bis zum Ende dieser Logik geht, wo wird man aufhören? Wird man über Vichy nicht mehr sprechen können?“18 Währenddessen ging aber die Arbeit voran. Ein neuer Herausgeber, Florent Brayard, Autor eines wegweisenden Buches über Auschwitz19, und eine Gruppe von Historikern, in der auch Patin, Ingrao und Gallo wieder vertreten waren, begannen die Übersetzung zu bearbeiten. Es war eine doppelte Aufgabe: Einerseits wollte man jetzt eine sehr rohe, nahe am Original orientierte Übersetzung haben. Anderseits sollte man an den kritischen Teilen arbeiten und Fußnoten schreiben, die den Text in seinen Kontext stellen sollten. EINE „NACKTE“ ÜBERSETZUNG Als ich im Jahre 2012 die Aufgabe bekommen hatte, eine neue Übersetzung von Mein Kampf zu schreiben, war das Ziel, einen lesbaren Text zu kreieren, ohne Fehler und auf dem aktuellen Stand der Wissenschaften zu den verschiedenen wichtigen Begriffen. Die Übersetzung der „Nouvelles Éditions latines“ war in diesem Punkt sehr fehlerhaft – was aber völlig normal war. Was wussten damals die Historiker, und noch mehr die Germanisten, über die oft nebeligen Konzepte der Nationalsozialisten? Die zentralen Begriffe des Nazismus sind also in dieser Fassung entweder uneinheitlich oder schlecht übersetzt. „Weltanschauung“ ist zum Beispiel entweder, in Anlehnung an Marx, mit „idéologie“ oder in dem Versuch, „philosophisch“ zu klingen, mit „conception de la vie“ wiedergegeben. Das Wort „völkisch“ ist öfters mit dem Wort „raciste“ übersetzt, was natürlich Unsinn ist und zu großen Missverständnissen im Text führte: Wie kann man verstehen, dass Hitler einerseits versucht, die politischen Wurzeln der völkischen Bewegung zu vereinnahmen, dass er aber mit den anderen „völkischen“ Parteien nichts zu tun haben will? Die Vielschichtigkeit eines solchen Begriffes lässt sich natürlich nicht auf den Rassismus beschränken. Und die vielen Aspekte dieser zwar rassistischen Bewegung, die aber auch von der Manie des Volkstums, von gewissen esoterischen Zügen und von einer sehr mythologischen Weltanschauung geprägt war, können auch einen Teil des Wesens des Nationalsozialismus erklären. Über die Verwendung anderer Konzepte in Mein Kampf und ihre Übersetzung ins Französische lässt sich ebenfalls viel sagen. Ein einfaches Beispiel: Wie soll man das Wort „Judentum“ übersetzen? In der französischen Fassung von 1934 ist das Wort ziemlich oft mit „juiverie“ wiedergegeben. Das Wort hat eine stark abschätzige, sogar verachtende Betonung. Die Frage ist natürlich nicht, ob Hitler 1923 ein Antisemit war und ob er die anderen Völker verachtete, sondern ob und wie er in seinem Buch mit dem Antisemitismus umging. Es gibt Anklagen, Drohungen, Schmähungen jeder Art gegen die Journalisten, Parlamentarier, Franzosen und natürlich gegen die Juden – und manchmal verwendet er für diese geradezu Beschimpfungen, wenn er, zum Beispiel, den Juden als Wurm im Apfel beschreibt. 18 19
Ebd. Brayard, Florent: Auschwitz, enquête sur un complot nazi. Paris: Le Seuil 2012.
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Mit dem Wort „Judentum“ ist es aber eine andere Sache. Hitler versucht, sich als Denker zu präsentieren. Und in vielen Fällen wird „Judentum“ nicht als Schimpfwort, sondern als Gegenstück zu anderen Begriffen verwendet, und zwar vor allem gegenüber „Deutschtum“ – es ist daher hier ein Irrtum, es mit dem abwertenden Wort „Juiverie“ wiederzugeben. Solche Übersetzungsprobleme gibt es überall in den beiden Bänden von Mein Kampf. Das Schwierigste hat aber mit der genauen Terminologie nicht sehr viel zu tun, sondern mit der Undurchlässigkeit der Sprache und des Denkens. Hitlers Diktion in diesem Buch ist schon öfters besprochen worden. „Die armen Wörter, zusammengepfercht, wo sie nicht stehen sollen, rächen sich“, stellte zum Beispiel die Schriftstellerin Mechtilde Lichnowsky fest, „es ist das Deutsch eines größenwahnsinnigen Commis. […] Wenn ich nichts von dem Mann wüsste, nichts als dieses Deutsch kennen würde – Le style, c’est l’homme – so würde das genügen, um ihn zu beurteilen.“20 Wie Othmar Plöckinger bemerkt, beschränkten sich die Kritiker damals „auf Spott über die ‚schwülstige‘ Sprache Hitlers“. „Die wenigen unter den Schriftstellern, die sich wirklich die Mühe gegeben hatten, Hitlers Buch zu lesen, spotteten, anstatt sich mit seinem Programm zu befassen, über die Schwülstigkeit seiner papiernen Prosa“, schrieb Stefan Zweig.21 Nun, die Aufgabe des Übersetzers besteht natürlich auch darin, das Buch zu verstehen. In diesem Fall ist der Stil aber tatsächlich so bombastisch und konfus, dass man es kaum schafft, den Inhalt getrennt vom furchtbaren Blei der Sprache zu betrachten. Denn die Sprache ist in diesem Buch immer mit dem Inhalt verwoben. Verworren, wenn das Denken unklar ist (sehr oft), redundant und zwanghaft, wenn die Gedanken sich um sich selbst drehen (fast immer), hochtrabend und lyrisch, wenn die Erzählung episch wird – zum Beispiel am Ende des ersten Bandes: „Ein Feuer war entzündet, aus dessen Glut dereinst das Schwert kommen muss, das dem germanischen Siegfried die Freiheit, der deutschen Nation das Leben wiedergewinnen soll. Und neben der kommenden Erhebung fühlte ich die Göttin der unerbittlichen Rache schreiten für die Meineidstat des 9. November 1918. So leerte sich langsam der Saal. Die Bewegung nahm ihren Lauf.“22 Auch wenn man immer aufpassen soll, sich von den lyrischen Anfällen Hitlers nicht mitreißen zu lassen, ist die Übersetzung solcher Sätze nicht das Hauptproblem. Solche Passagen wie folgende findet man viel öfter: „Daher mag sich die nationalsozialistische Bewegung schon heute restlos in diese Gedanken einleben und sie zur praktischen Auswirkung innerhalb ihrer eigenen Organisation bringen, auf dass sie dereinst dem Staate nicht nur dieselben Richtlinien weisen mag, sondern ihm auch bereits den vollendeten Körper ihres eigenen Staates zur Verfügung stel20 21 22
Zit. in: Plöckinger, Othmar: Geschichte eines Buches: Adolf Hitlers ‚Mein Kampf‘ 1922–1945. 2. Aufl. München: Oldenbourg 2011, S. 450. Zweig, Stefan: Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers. Frankfurt a. M.: Fischer, 1970, S. 412, zit. in Plöckinger, Geschichte, S. 451. Hartmann, Christian / Vordermayer, Thomas / Plöckinger, Othmar / Töppel, Roman (Hg.): Hitler, Mein Kampf, eine kritische Edition. München/Berlin: Institut für Zeitgeschichte 2016, Bd. II, S. 947.
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len kann.“23 Oder noch: „Es würde dem Sinne des Edelsten auf dieser Welt mehr entsprechen, wenn unsere beiden christlichen Kirchen statt die Neger mit Missionen zu belästigen, die jene weder wünschen noch verstehen, unsere europäische Menschheit gütig, aber allen Ernstes belehren würden, dass es bei nicht gesunden Eltern ein Gott wohlgefälliges Werk ist, sich eines gesunden armen kleinen Waisenkindes zu erbarmen, um diesem Vater und Mutter zu schenken, als selber ein krankes, sich und der andern Welt nur Unglück und Leid bringendes Kind ins Leben zu setzen.“24 Bei solchen Sätzen muss der Übersetzer vor allem versuchen, sie auseinanderzunehmen (man könnte sagen: zu sezieren), um sie einigermaßen zu verstehen. Der von Hitler „intendierte Inhalt“ wird hier, und es gibt im Buch eine Reihe solcher Beispiele, von der Form wörtlich verschlungen. Man könnte von solchen Sätzen eine psychoanalytische Deutung geben: Der Waise – davon spricht er recht viel am Anfang von Mein Kampf – ist den Ausgeburten der Natur weit überlegen. Das „gesunde arme kleine Waisenkind“ verheddert sich selbst in seinem Satz, weil es den inneren Mut nicht findet, sich direkt auszudrücken. Denn der Satz sagt die Sterilisation der Geisteskranken voraus und, noch schlimmer, ihre Tötung bei der T4Aktion seit 1940. Der Inhalt ist ganz klar, die Form schafft es aber, die eigentliche Nachricht, dass „ungesunde“ Menschen keine Kinder haben dürfen, unter einer Flut von kitschigen Bildern – das „arme kleine Waisenkind“ – und hohlen Abstraktionen – „die […] unsere europäische Menschheit gütig, aber allen Ernstes belehren würden“ – zu verstecken. Was kann man aber damit auf Französisch machen? Eigentlich nicht sehr viel. Die französische Sprache ist kaum geeignet, solche Sätze zu tragen. Sie liebt das Konkrete, das Sachliche, und obwohl recht viele verworrene Geister auch sie für ihre eigenen Ziele verwendet haben (und noch verwenden), kennt sie aber gewisse Grenzen in diese Richtung. Die erste Lösung – die gewissermaßen die der französischen Ausgabe von 1934 ist – besteht darin, die Sprache zwar treu, aber beschönigend zu behandeln. Die zweite hat zum Ziel, Hitlers Duktus als Anstoß für eine schwierige Arbeit zu nutzen: seine (deutsche) Sprache mit allen seinen Makeln, seinen Fehlern, seiner Schwere ins Französische zu übertragen. Diese Lösung wurde von der Gruppe von Historikern, die die französische Ausgabe betreut, gewählt. Und seit bald drei Jahren baue ich das Niveau meiner eigenen Übersetzung ab, um sie so unelegant werden zu lassen wie das Original – eine sehr eigentümliche Aufgabe für einen Übersetzer. Was soll man also wiedergeben? Zuerst, wahrscheinlich, die Länge der Sätze. Die können unendlich sein, aber auch sehr kurz. Hitlers Rhetorik hat etwas mit seinen öffentlichen Reden zu tun: Er schreibt, als ob er ein Rad drehen würde – manchmal hat man den Eindruck, wenn man ihn übersetzt, die malmende Bewegung des Hakenkreuzes zu sehen. Das Denken dreht sich um sich selbst und wird am Ende von sich selbst zerstört. Ist es ein Stilfehler? Kaum. Man könnte sogar meinen, dass Hitler ganz bewusst so schrieb, als ob diese Verworrenheit der Wörter und der Begriffe das Ziel hätte, den Geist des Lesers zu betäuben: „Wie schon be23 24
Ebd., Bd. II, S. 1143. Ebd., Bd. II, S. 1031.
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tont, werden die Keimzellen zu den Wirtschaftskammern in den verschiedenen Berufsvertretungen, also vor allem in den Gewerkschaften, zu liegen haben. Soll [!] aber diese spätere Ständevertretung und das zentrale Wirtschaftsparlament eine nationalsozialistische Institution darstellen, dann müssen auch diese wichtigen Keimzellen Träger einer nationalsozialistischen Gesinnung und Auffassung sein.“25 Wie kann ein Gehirn solche Windungen herstellen? Und wie kann ein Gehirn ihnen wirklich folgen? Das alles soll man wiedergeben, wenn man Hitlers wirklichen Stil wiedergeben will. Es gibt aber auch so viele andere Besonderheiten – zum Beispiel die Präsenz von religiösen Wörtern in dem Text dieses sogenannten Atheisten, auch die 25 „Thesen“ der Bewegung sind ein Beispiel unter vielen anderen (und das Wort ist auch früher ins Französische falsch mit „25 points“ übersetzt worden). Ungewöhnlich auch der Umgang mit den Zeitstufen, da ziemlich oft vom Präteritum ins Präsens gewechselt wird, ohne dass man genau sagen könnte, wie und warum das so gemacht wurde. Und es ist vor allem diese ungeheure Anhäufung von Adverbien und Adjektiven, die dem Text öfters eine furchtbare Schwere geben – nur ein Beispiel vom Anfang des Buches: „Ich war aber noch mehr entrüstet, daß die gleiche Wiener Presse, die doch vor dem letzten Hofgaul noch die ehrerbietigste Verbeugung riß und über ein zufälliges Schweifwedeln aber auch außer Rand und Band geriet, nun mit scheinbar besorgter Miene, aber, wie mir schien, schlecht verhehlter Boshaftigkeit ihren Bedenken gegen den Deutschen Kaiser Ausdruck verlieh.“26 Kann man das Ganze ins Französisch übersetzen? Ehrlich gesagt: kaum. Wenn man weiß, dass auf Französisch ein Adverb zwei- oder dreimal länger ist als auf Deutsch („jetzt“ – „maintenant“; „doch“ – „tout de même“; „schnell“ – „rapidement“) versteht man sofort, dass der französische Text eine ungeheure Schwere haben wird. Für die Begriffe, die Hitler für seine kriegerischen und vernichtenden Ziele verwendet, sind auf Französisch nur sehr schwer passende Gegenstücke zu finden: Wie kann man „Beseitigung“, „Entfernung“, „Ausrottung“, „Vernichtung“ wiedergeben, wenn dieselben Wörter zum Beispiel für die „Vernichtung“ der Deutschen durch die Demokratie27 und für die „Vernichtung“ des Feindes28 verwendet werden? Die radikale Lösung, die die Herausgeber der neuen französischen Übersetzung von Mein Kampf gewählt haben, wird sicher keine „vornehme“ Übersetzung produzieren. Die Übersetzung aller Makel des Textes wird ein treues Abbild von Hitlers Arbeitsweise geben. So wird der französische Leser wissen, was die Deutschen damals gelesen haben, mit all dieser begrifflichen Verworrenheit, aber auch 25 26 27 28
Ebd., Bd. II, S. 1519. Ebd., Bd. I, S. 205. „Von Jahr zu Jahr war das Parlament mehr zu einer Einrichtung der langsamen Vernichtung des deutschen Volkes geworden.“ (Ebd., Bd. I, S. 319). Zum Beispiel: „[…] erst dann wird man imstande sein, das ewige und an sich so unfruchtbare Ringen zwischen uns und Frankreich zum Abschluß zu bringen; allerdings unter der Voraussetzung, daß Deutschland in der Vernichtung Frankreichs wirklich nur ein Mittel sieht, um danach unserem Volke endlich an anderer Stelle die mögliche Ausdehnung geben zu können.“ (Ebd., Bd. II, S. 1709).
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den großen romantischen und lyrischen Teilen, die die späteren Anhänger aus einem gewissen Schlaf der betäubten Vernunft zum Enthusiasmus des politischen und ideologischen (fast religiösen) Glaubens führten. Als historisches Dokument wird diese neue Übersetzung eine wichtige Bedeutung für die interessierten Leser und für die Historiker haben. Aber auch als Mahnmal kann sie eine Rolle spielen: Die Sprache von Mein Kampf verwendet sprachliche Mittel, die sich heute in ganz Europa verbreiten. Man muss sie kennen, wenn man von ihnen nicht noch einmal zum Narren gehalten werden will. Auch dies ist ein Grund, Mein Kampf heute in Frankreich in einer neuen Übersetzung und vor allem mit den Betrachtungen einer ganzen Mannschaft berühmter Historiker erscheinen zu lassen.
AUTORINNEN UND AUTOREN Helmuth Kiesel, Dr. phil., Jahrgang 1947, studierte in Tübingen Germanistik und Geschichte, promovierte über literarische Hofkritik und habilitierte über Alfred Döblin. Von 1987 bis 1990 Professor für Neuere deutsche Literatur und Literaturvermittlung an der Universität Bamberg, von 1990 bis 2015 Inhaber eines Lehrstuhls für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Heidelberg mit Schwerpunkt auf der Literatur des 20. Jahrhunderts. Zahlreiche Publikationen zur Literatur des Humanismus, der Barockzeit, der Aufklärung und des 20. Jahrhunderts, unter anderem Geschichte der literarischen Moderne: Sprache, Ästhetik, Dichtung (2004), Ernst Jünger: Biographie (2007). Edition verschiedener Werke von Alfred Döblin, Franz Kafka, Erich Maria Remarque, Joseph Roth, zuletzt historisch-kritische Ausgaben von Ernst Jüngers Kriegstagebuch 1914–1918 (2010) und des Kriegsbuchs In Stahlgewittern (2013) sowie einer Auswahl von Gedichten Stefan Georges Geheimes Deutschland (2018). Eine umfangreiche Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1918–1933 (2017). Mitarbeiter des Feuilletons der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Claire Placial ist „Maîtresse de conférences“ in Vergleichender Literaturwissenschaft an der Université de Lorraine. Ihre Forschung konzentriert sich auf die Geschichte der Übersetzung in Europa, insbesondere auf die Übersetzung der poetischen Bücher der hebräischen Bibel, und auf die theoretischen und pragmatischen Probleme der Übersetzung von poetischen Texten allgemein. Sie hat an dem Projekt „Histoire des Traductions en Langue française“ mitgearbeitet. Wesentliche Publikationen und Übersetzungen: Kapitel „Textes sacrés“ in Histoire des traductions en langue française, XVIIe–XVIIIe siècle (2014), Heinrich Heine. Tableaux de voyages (2019), Kapitel „Religions“ in Histoire des traductions en langue française, XXe siècle (2019). Stefan Baumgarten ist Lecturer in German Language Studies an der englischsprachigen Jacobs University in Bremen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Translationswissenschaft, mit besonderem Augenmerk auf soziologische Translationstheorien und die Rolle der Translation als ideologische Praxis im Zeitalter der Globalisierung. Er ist Mitherausgeber von Translation in Times of Technocapitalism (2017), Translation and Global Spaces of Power (2018) (jeweils mit Jordi Cornellà-Detrell) und Translating the European House. Discourse, Ideology and Politics (2016) (mit Chantal Gagnon). Neueste Artikel sind „The crooked timber of self-reflexivity. Translation and ideology in the end times“ (2016), „Translation and hegemonic knowledge under advanced capitalism“ (2017) und „Adorno refracted. German critical theory in the neoliberal world order“ (2018).
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Wladislaw Hedeler (geb. 1953) studierte an der Humboldt-Universität Berlin, promovierte in Moskau und ist als Historiker und Publizist in Berlin tätig. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte der Sowjetunion und der Komintern. Wichtige Publikationen zu diesem Thema sind „Neue Archivdokumente zur Biographie von Grigori Jewsejewitsch Sinowjew“ im Jahrbuch für historische Kommunismusforschung (1999), Chronik der Moskauer Schauprozesse 1936, 1937 und 1938. Planung, Inszenierung und Wirkung. Mit einem Essay von Steffen Dietzsch (2003), Nikolai Bucharin: Philosophische Arabesken. Dialektische Skizzen (2005, gemeinsam mit Dieter Uhlig), Nikolai Bucharin. Stalins tragischer Opponent. Eine politische Biographie (2015) und Die drei Moskauer Schauprozesse 1936, 1937 und 1938 (lernen-aus-der-geschichte.de/Lernen-und-Lehren/Magazin/13522). Jesus Casquete studierte Soziologie und Politikwissenschaft an der Universität Deusto (Bilbao, Spanien), MA in Politikwissenschaft an der New School for Social Research (New York, USA) und Dr. phil. in Soziologie an der Universität des Baskenlandes. Seit 2001 Professor für Geschichte der politischen Theorie und Geschichte der sozialen Bewegungen, 2001/02 Stipendiat der Alexander von Humboldt Stiftung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Verschiedene Forschungsaufenthalte in Deutschland, u. a. am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin, wo er seit 2012 regelmäßig als Fellow tätig ist. Arbeitsschwerpunkte sind die Soziologie der sozialen Bewegungen, Nationalistische Bewegungen, Politische Gewalt und Nationalsozialismus. Zu seinen Publikationen zählen: Política, cultura y movimientos sociales (1998); El poder de la calle (2001); En el nombre de Euskal Herria. La religión política del nacionalismo vasco radical (2009); Berlin, 1. Mai. Un ritual político para un nuevo milenio (2009), und Nazis a pie de calle. Una historia de las SA en la República de Weimar (2017). Frank Jacob ist Professor für Globalgeschichte an der Nord Universitet, Norwegen. Nach dem Studium der Geschichtswissenschaft und Japanologie an den Universitäten Würzburg und Osaka wurde er 2012 mit einer Arbeit zu Geheimgesellschaften in Deutschland und Japan an der Universität Erlangen promoviert. Es folgten Anstellungen an den Universitäten Erlangen, Düsseldorf und Würzburg, bevor er 2014 an die City University of New York und 2018 an die Nord Universitet berufen wurde. Zu Jacobs aktuellen Forschungsschwerpunkten zählen die japanische Geschichte (1868–1945), Militärgeschichte sowie die Geschichte des transnationalen Anarchismus. Er arbeitet momentan an einer Studie zu anti-linker Gewalt in Japan (1868–1951). Gerard Groeneveld, geb. 1956 in Rotterdam, studierte niederländische Sprache und Literatur an der Universität Leiden. Seine Forschungsgebiete konzentrieren sich auf den Zweiten Weltkrieg und reichen von der kulturellen Kollaboration, Propaganda und Pressegeschichte bis zur Fotografie während der Maitage 1940. Er hat zu diesem Bereich zahlreiche Artikel in Tages-, Wochen- und Fachzeitschriften sowie mehrere Bücher veröffentlicht, darunter Zwaard van de geest, het bruine boek in
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Nederland 1921–1944 (2001), Kriegsberichter, Nederlandse SS-oorlogsverslaggevers 1941–1945 (2004), Zo zong de NSB, liedcultuur van de NSB 1931–1945 (2007), Heinz in Holland, Duitse amateurfoto’s van de bezettingstijd (2007), Frontstad Rotterdam, 10–14 mei 1940 (2016) und Nach Holland, de meidagen van 1940 door Duitse ogen (2018). Derzeit arbeitet er an einem Buch über die visuelle Kultur während des Dritten Reichs, insbesondere über die Manipulation der deutschen und niederländischen Jugend durch Illustrationen in Kinderbüchern. Oded Heilbronner ist Prof. am Shenkar College of Art and Design in Tel-Aviv und lehrt Geschichte an der Hebrew University in Jerusalem. Er veröffentlichte zahlreiche Studien zur deutschen, europäischen, deutsch-jüdischen und katholischen Geschichte, zur Populär-Kultur in Großbritannien, zur Theorie der Kulturwissenschaften sowie zum Nationalsozialismus, Holocaust und Antisemitismus. Seine neueste Publikation trägt den Titel From Popular Liberalism to National Socialism. Popular Culture, Popular Politics and Popular Liberalism in Southern Germany: 1860s1920s (2015). Er veröffentlichte zahlreiche Artikel in englischen, hebräischen und deutschen Zeitschriften wie Journal of Modern History, Comparative Studies in Society and History, Historische Zeitschrift, Geschichte und Gesellschaft. Hilmi Bengi absolvierte die Hochschule für Presse und Publizistik der Fakultät für politische Wissenschaften der Universität Ankara. Seinen Master machte er dort am Institut für Geschichte der türkischen Revolution und promovierte am Institut für Atatürks Prinzipien und Geschichte der Revolution der Universität Hacettepe. Seit 1981 war er Mitarbeiter verschiedener Zeitungen wie Sabah Gazetesi, Yankı Dergisi, Tercüman Gazetesi und in führender Position bei Anadolu Ajansı. Als Kolumnist arbeitete er 1991–1993 für Tercüman und 2016–2017 für İstiklal. Er war in leitender Funktion beim Nationalen UNESCO Komitee der Türkei und als Vorstandsmitglied der Kultur- und Kunststiftung „Çankaya Kültür ve Sanat Vakfı“ tätig. Seit 2012 ist er Berater des Rektors der TOBB Universität für Wirtschaft und Technologie. Er veröffentlichte Bücher wie Gazeteci, Siyasetçi ve Fikir Adamı Olarak Hüseyin Cahit Yalçın, Türkdilli Agentliklerin Bakı Görüşü (zusammen mit Aslan Aslanov) und verfasste Beiträge zur Geschichte der türkischen Presse, insbesondere Anadolu Ajansı, zur Verwendung des Türkischen im Journalismus, zur Medienethik und zum Urheberrecht. Maria Lin Moniz ist Übersetzerin und Mitglied des Forschungszentrums für Kommunikation und Kultur der Katholischen Universität Portugal. Sie ist eine der wissenschaftlichen und organisatorischen Koordinatorinnen des Forschungsprojekts „Intercultural literature in Portugal 1930–2000: a critical bibliography“ (www. translatedliteratureportugal.org) sowie Mitarbeiterin an dem Projekt „Übersetzung und Zensur in Portugal während des Estado Novo Regimes (1930–1974)“. Sie absolvierte eine zweijährige postgraduale Übersetzungsausbildung (Englisch, Deutsch) und erwarb 2006 mit ihrer Dissertation über „Narrative zum Großen Krieg in portugiesischen Übersetzungen“ ein Doktorat in Übersetzungswissenschaft an der Universität Lissabon. Sie ist Mitherausgeberin verschiedener Publika-
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tionen zur Übersetzungswissenschaft, u. a. Translation and Censorship in Different Times and Landscapes (2008), Translation in Anthologies and Collections (19th and 20th Centuries) (2013) und The age of translation. Early 20th-century concepts and debates (2017). Aus dem Deutschen übersetzte sie u. a. Franz Kafkas Brief an den Vater (2004), Erzählungen Thomas Manns (2007) und Hitlers Mein Kampf (2016). Vincenzo Pinto (1974), Lehrer am Wissenschaftlichen Gymnasium in Turin (Italien), studierte Zeitgeschichte an der örtlichen Universität, erhielt den Doktortitel in Zeitgeschichte (Turin), Geschichtswissenschaften (San Marino) und Italienische Studien (Grenoble). Er hat Essays und kritische Ausgaben veröffentlicht, darunter die Biographie von Vladimir Ze’ev Jabotinsky, die philosophischen Erzählungen von Theodor Herzl, die Biographie von Julius Langbehn und die erste italienische kritische Ausgabe von Mein Kampf. Er ist der Leiter der Web-Zeitschrift Free Ebrei. Dafür hat er den ersten Band des Free Ebrei-Jahrbuchs herausgegeben (Brill Verlag, 2018). Pinto analysiert die nationalistischen Bewegungen aus dem kulturellen und sozialen Blickwinkel. Er interessiert sich für die Entstehung der völkischen Bewegungen und die Erneuerung der mythologischen Darstellungen durch die literarischen, journalistischen und ästhetischen Werke um die Jahrhundertwende. Olivier Mannoni, geb. 1960, hat Literatur und Philosophie in Paris studiert, als Journalist gearbeitet und Bücher über deutsche Autoren wie Günter Grass, Manès Sperber und Sigmund Freud veröffentlicht. Er hat ungefähr 200 Bücher übersetzt: beinahe das komplette Werk von Peter Sloterdijk, Martin Suter, Zsuzsa Bánk, H. G. Adler, Uwe Tellkamp, Stefan Zweig, Frank Witzel sowie viele Texte und Briefe von Sigmund Freud. Hinzu kommen die Übersetzungen vieler Studien über das Dritte Reich von Peter Reichel, Ernst Klee, Harald Welzer, Joachim Fest, Volker Ullrich, Bettina Stangneth und anderen. Er ist auch Übersetzer der französischen wissenschaftlichen Ausgabe von Hitlers Mein Kampf. Als ehemaliger Vorsitzender des französischen Übersetzer-Verbands (2007–2012) leitet er heute die École de Traduction Littéraire (Schule der Übersetzung), die er am Centre National du Livre gegründet hat. Othmar Plöckinger studierte Deutsch, Mathematik und Geschichte an der Universität Salzburg, Österreich. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Geschichte von Hitlers Mein Kampf und in der Frühgeschichte des Nationalsozialismus. Zu seinen wesentlichsten Publikationen zählen die Studien Geschichte eines Buches. Adolf Hitlers „Mein Kampf“ 1922–1945 (2006) und Unter Soldaten und Agitatoren. Hitlers prägende Jahre im deutschen Militär 1918–1920 (2013). Plöckinger ist einer der Herausgeber der 2016 vom Institut für Zeitgeschichte in München veröffentlichten kritischen Edition von Mein Kampf.
Bereits in den frühen 1930er Jahren wurde Hitlers Schrift „Mein Kampf“ in verschiedene Sprachen übersetzt. Die Zahl der Übersetzungen stieg danach ständig an, und jede von ihnen erschien unter speziellen Umständen und verfolgte eigene Ziele. Sympathisanten wie Kritiker des nationalsozialistischen Regimes bemühten sich, den Text in eine Fassung zu bringen, die ihrer politischen Haltung entsprach. Nach 1945 änderten sich viele Vorzeichen, doch blieben alte übersetzungstechnische Fragen bestehen und neue kamen hinzu. Eingeleitet von Untersuchungen zu Hitlers
Stil und zur Geschichte der Übersetzungstheorie widmen sich die Beiträge dieses Bandes zehn verschiedenen historischen und aktuellen Übersetzungen von „Mein Kampf“ – ins Englische, Russische, Spanische, Japanische, Niederländische, Hebräische, Türkische, Portugiesische, Italienische und Französische. Erstmals wird damit systematisch die Arbeit von Übersetzerinnen und Übersetzern beleuchtet, die die Wahrnehmung Hitlers und des Nationalsozialismus außerhalb des deutschsprachigen Raumes wesentlich beeinflusst haben und immer noch beeinflussen.
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag
ISBN 978-3-515-12379-2
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7835 1 5 1 23 792