Sprache und Sprachen in den Wissenschaften: Geschichte und Gegenwart. Festschrift für Walter de Gruyter & Co. anläßlich einer 250jährigen Verlagstradition 9783110801323, 9783110155792

In dem vorliegenden Band unternehmen namhafte Wissenschaftsphilosophen und Sprachwissenschaftler den Versuch, von ihren

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German Pages 752 [756] Year 1999

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Table of contents :
Vorwort
Kapitel I
Die Sprachmäßigkeit des Körpers
Überlegungen zwischen Psychologie und Logik
Überlegungen zur Genese von Sprachkompetenz
Kommunikation und Rationalität
Sprache und Wirklichkeit in der Quantenphysik
Sprache und Anschauung in der modernen Physik
Morphologische Irritationen
Die Konstitution des Gegenstandes der linguistischen Morphologie im Wege der terminologischen Setzung
Wissenschaftstheorie der Wissenschaftssprache oder: Wie beeinflußt die Sprache die Wissenschaft?
Inwiefern wissenschaftliche Gegenstände sprachlich konstituiert sind (und inwiefern nicht)
Kapitel II
Theoretisches und Empirisches zur Typographie der parole über language(s) und langage in Grammatiken des 16. bis 19. Jahrhunderts
Linguistics and Philosophy
Von der Fachsprache zum Modell
Das funktionalistische Paradox
Zum Problem funktionaler Erklärungen in der Linguistik
Linguistische und neurobiologische Struktur der Sprachbeherrschung
Gibt es eine Sprache hinter dem Sprechen?
Mit Wittgenstein über die Wortbedeutung nachdenken Gebrauch? Regel des Gebrauchs? Ein Etwas im Kopf?
Sprachvertrauen. Die notwendige Illusion der „richtigen Bezeichnung“ in der Wissenschaftssprache
Language and Institutions
Wie bestimmen Sprachformen den Horizont einer Wissenschaft?
Bemerkungen zur Vagheit und zur Norm der Exaktheit
Kapitel III
„Wissenschaftssprachen“ – heilige Kühe oder Unumgänglichkeiten?
Wissenschaftssprache und Sprache in dichterischen Texten
Sprachwissenschaft und Wissenschaftssprache
Mit den gemeinen Leuten – der Aufbruch der Royal Society zu einer neuen Wissenschaftssprache
Brauchen wir eine vergleichende europäische Sprachgeschichte?
Latein als Hintergrund und Untergrund unserer Wissenschaftssprache
Deutsch als Wissenschaftssprache: die Entwicklung im 20. Jahrhundert und die Zukunftsperspektive
Afrikaans as a language of science
La lingua di questa Scienza: Alte Sprache – Neue Wissenschaft
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Sprache und Sprachen in den Wissenschaften: Geschichte und Gegenwart. Festschrift für Walter de Gruyter & Co. anläßlich einer 250jährigen Verlagstradition
 9783110801323, 9783110155792

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Sprache und Sprachen in den Wissenschaften

1749

1999

Sprache und Sprachen in den Wissenschaften Geschichte und Gegenwart Festschrift für Walter de Gruyter & Co. anläßlich einer 250jährigen Verlagstradition

Herausgegeben von Herbert Ernst Wiegand

W DE

G Walter de Gruyter · Berlin · New York 1999

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek — ClP-Einheitsaufnahme Sprache und Sprachen in den Wissenschaften : Geschichte und Gegenwart ; Festschrift für Walter de Gruyter & Co. anläßlich einer 250jährigen Verlagstradition / hrsg. von Herbert Ernst Wiegand. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1999 ISBN 3-11-015579-6

© Copyright 1999 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin Datenkonvertierung und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin

Vorwort Ein Geschenk an die Wissenschaft soll der geplante Jubiläumsband werden, nicht ein Buch über den Verlag. — Diese Leitlinie formulierte KurtGeorg Cram, als er mir im Spätsommer 1996 die Bitte der Verlagsleitung vortrug, eine Festschrift zu planen und herauszugeben, deren Anlaß eine 250jährige Verlagstradition sei, die man im Herbst 1999 feiern wolle. Da die inhaltliche Gestaltungsfreiheit des Herausgebers nur durch den angemessenen Wunsch begrenzt wurde, er möge ein anspruchsvolles Thema mit geschichtlicher Dimension wählen, das von interdisziplinärem Interesse sei, habe ich der Bitte gern entsprochen. Im Herbst 1996 habe ich dann, angesichts der historischen Tatsache, daß im Verlag Walter de Gruyter über viele Generationen Wissenschaftler aus fast allen Wissenschaften in ihren Sprachen auf der Grundlage ihrer Sprache in gedruckten Texten zur Sprache gekommen sind, den Titel und damit das Thema vorgeschlagen: „Sprache und Sprachen in den Wissenschaften. Geschichte und Gegenwart". Den großen Spielraum für die inhaltliche Gestaltung des Jubiläumsbandes, der dem Herausgeber gewährt wurde, habe ich — lediglich eingeschränkt durch das gewählte Thema — an die eingeladenen Autorinnen und Autoren weitergegeben; dies geschah in der Erwartung, daß dadurch wechselnde Perspektiven, unterschiedliche Wissenschaftsstile, sachliche Vielfalt, produktive Spekulation, konstruktive Provokation und nicht zuletzt gelehrte Nachdenklichkeit — ungestört durch eine vorgegebene Systematik für den geplanten Band — am besten zur Geltung kommen könnten. Nur einige wichtige Motive, die zur Wahl des Titels maßgeblich beigetragen haben, wurden in der Einladung den Autorinnen und Autoren in der Form von Fragen mitgeteilt. Diese waren als Angebot gedacht, bei der Wahl und Bearbeitung des selbst zu wählenden Themas für den Festschriftbeitrag die Intentionen des Herausgebers berücksichtigen zu können. Die wichtigsten dieser Fragen werden anschließend für die Leserinnen und Leser in modifizierter Form wiedergegeben; dies geschieht in der Hoffnung, ihre Kenntnis könne dazu beitragen, das Anliegen und die Rahmenkonzeption des vorliegenden Bandes zu erfassen. In einigen Wissenschaften, wie vor allem der Linguistik, der Psychologie und der Philosophie, wird die Sprache, sei es nun als Sprachfähigkeit, als Sprachorgan, als sprachliches Wissen, als soziale Gestalt, als Lebensform, als abstraktes Repräsentationssystem oder als System von

VI

Vorwort

Handlungs- und Verständigungsmitteln zum Gegenstand von Erkenntnisbemühungen, die sich bis in die griechische Antike zurückverfolgen lassen. Aber — so wird ein kritischer Beobachter unvoreingenommen fragen müssen — wie ist uns die Sprache eigentlich empirisch gegeben? Und was heißt es denn, daß die Sprache zum Gegenstand der Erkenntnis wird? Wird ein erfahrbarer Gegenstand analysiert, wird er konstruiert, rekonstruiert oder konstituiert er sich? Und welche Rolle spielt die jeweils verwendete Wissenschaftssprache in diesen Prozessen? Oder sind solche Fragen falsch gestellt, weil man zunächst nach den neurobiologischen Grundlagen fragen muß? Sind wir hinsichtlich der unterschiedlichen Antworten nur wechselnden wissenschaftstheoretischen Moden ausgesetzt, die von jeweils unterschiedlichen Leitwissenschaften initiiert werden, oder gibt es bei diesen Fragen eine historische Orientierung, die insofern nützlich sein könnte, als sie Fort- und Rückschritt zu unterscheiden hilft? Wie haben sich beispielsweise Vico, Leibniz oder Wilhelm von Humboldt dazu geäußert? Im Unterschied zu der Sprache sind die Sprachen als historische Einzelsprachen mit ihren inneren Differenzierungen den Wissenschaften, die sie erforschen, in mündlichen Diskursen und schriftkonstituierten Texten empirisch wenigstens fragmentarisch gegeben. Aber was heißt dies dann, wenn man nicht die naive Annahme vertreten möchte, Diskurse und Texte seien als Ganzes vor unseren Wahrnehmungsapparat zu bringen? Und welche Rolle — so gilt es weiter zu fragen — spielen die Sprache und die jeweils verwendeten Wissenschaftssprachen, zu denen auch die Konstruktsprachen gehören, in den Wissenschaften, in denen Sprache und die Sprachen nicht zum wissenschaftlichen Gegenstand werden? Welche Funktion haben wissenschaftliche Sprachen beispielsweise in der Physik, der Biologie, der Mathematik und in der Soziologie innerhalb der Forschungs- und Forschungsdarstellungsprozesse sowie in den Prozessen der Durchsetzung von Ergebnissen, und wie wird die Rolle der Sprache und der Sprachen bei der Erkenntnisfindung und -Vermittlung fächerintern eingeschätzt? Wird ein Fach dann zur Wissenschaft — wie Linne meinte —, wenn es seine eigene Sprache gefunden hat? Differenzieren sich die Fächer intern vor allem aufgrund unterschiedlicher Sprachen? Welche Vor- und welche Nachteile hat die Verwendung einer internationalen Wissenschaftssprache, wie beispielsweise die des Wissenschaftsenglisch, für die, deren Muttersprache nicht eine der Ausprägungen des Englischen ist? Die meisten der genannten Fragen wurden in den 26 Beiträgen berücksichtigt und darüber hinaus wichtige weitere Fragestellungen in Geschichte und Gegenwart.

Vorwort

VII

Die angedeutete Entstehungsgeschichte des vorliegenden Bandes machte nachträgliche Gliederungsbemühungen des Herausgebers erforderlich, wollte er sich nicht der Herrschaft des Alphabets unterwerfen. Ich sah mich allerdings nicht berechtigt, den Beiträgen dadurch eine augenfällige und deutliche Vorinterpretation zu geben, daß ich sie nachträglich in Kapiteln mit Kapitelüberschriften stellte. Unterstützt von Klaus-Peter Konerding, der wissenschaftlicher Assistent an meinem Heidelberger Lehrstuhl ist, habe ich die Beiträge vielmehr wie folgt zu drei namenlosen Kapiteln geordnet: Auf acht Beiträge im Kapitel I, in denen das Verhältnis von Sprache und Gegenstandskonstitution aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet wird und einen erkennbaren Schwerpunkt, aber nicht das alleinige Thema bildet, folgen im Kapitel II zehn Beiträge, die ihre zentrale Thematik im Spannungsfeld von Modellbildung und Sprachpraxis entfalten und den beiden Polen ein unterschiedliches Gewicht im Forschungsprozeß zuweisen. Schließlich stehen im Kapitel III acht Beiträge zusammen, in denen es in erster Linie um die Funktionen und den Status von Fach- und Wissenschaftssprachen geht sowie um ihr Verhältnis zur Alltags- und zur dichterischen Sprache. — Die drei Kapitel weisen auch eine innere Ordnung auf. Da diese aber das Ergebnis der Diskussion von Leseerlebnissen des Herausgebers ist, bleibt sie subjektiv und kann bestenfalls lesend nacherlebt werden. Sie hierzu begründen, wäre eitel. Am Ende einer Arbeit, die Freude gemacht hat, steht vor allen Dingen der Dank an die Autorinnen und Autoren, die nicht nur meiner Einladung gefolgt sind, sondern mir auch die Arbeit in allen wichtigen Hinsichten leicht gemacht haben. Danken möchte ich weiterhin KlausPeter Konerding für hilfreiche Diskussionen, Michael Beißwenger für aufmerksame Hilfe bei den Korrekturarbeiten sowie Wolfgang Konwitschny für den Rat des erfahrenen Herstellers und nicht zuletzt Brigitte Schöning, die diesen Band als Fachbereichsleiterin mit gewohnter Umsicht betreut hat. Die Autorinnen und Autoren dieses Jubiläumsbandes wünschen dem Verlag Walter de Gruyter eine erfolgreiche und unabhängige Zukunft. H. E. W.

Heidelberg, im Juli 1999

Inhalt Vorwort

V

Kapitel l GUNTER GEBAUER Die Sprachmäßigkeit des Körpers

3

KUNO LORENZ

Überlegungen zwischen Psychologie und Logik Überlegungen zur Genese von Sprachkompetenz

27

GEORG MEGGLE Kommunikation und Rationalität

48

PETER MITTELSTAEDT Sprache und Wirklichkeit in der Quantenphysik

64

BRIGITTE FALKENBURG Sprache und Anschauung in der modernen Physik

89

DIETRICH BUSSE Morphologische Irritationen Die Konstitution des Gegenstandes der linguistischen Morphologie im Wege der terminologischen Setzung 119 KLAUS MUDERSBACH Wissenschaftstheorie der Wissenschaftssprache oder: Wie beeinflußt die Sprache die Wissenschaft? 154 CLEMENS KNOBLOCH Inwiefern wissenschaftliche Gegenstände sprachlich konstituiert sind (und inwiefern nicht) 221

X

Inhalt

Kapitel II HERBERT E. BREKLE Theoretisches und Empirisches zur Typographie der parole über language(s) und langage in Grammatiken des 16. bis 19. Jahrhunderts 247 MARIO BUNGE Linguistics and Philosophy

269

GABRIEL ALTMANN Von der Fachsprache zum Modell

294

GÜNTHER GREWENDORF Das funktionalistische Paradox Zum Problem funktionaler Erklärungen in der Linguistik

313

HELMUT SCHNELLE Linguistische und neurobiologische Struktur der Sprachbeherrschung

337

SYBILLE KRÄMER Gibt es eine Sprache hinter dem Sprechen?

372

HERBERT ERNST WIEGAND Mit Wittgenstein über die Wortbedeutung nachdenken Gebrauch? Regel des Gebrauchs? Ein Etwas im Kopf?

404

ANDREAS GARDT Sprachvertrauen. Die notwendige Illusion der „richtigen Bezeichnung" in der Wissenschaftssprache 462 WOLFGANG BALZER Language and Institutions

487

PIRMIN STEKELER-WEITHOFER Wie bestimmen Sprachformen den Horizont einer Wissenschaft? Bemerkungen zur Vagheit und zur Norm der Exaktheit

508

Inhalt

XI

Kapitel IM SIEGFRIED J. SCHMIDT „Wissenschaftssprachen" — heilige Kühe oder Unumgänglichkeiten?

535

WERNER WOLSKI Wissenschaftssprache und Sprache in dichterischen Texten

561

THORSTEN ROELCKE Sprachwissenschaft und Wissenschaftssprache

595

WERNER HÜLLEN Mit den gemeinen Leuten — der Aufbruch der Royal Society zu einer neuen Wissenschaftssprache 619 UWE PÖRKSEN Brauchen wir eine vergleichende europäische Sprachgeschichte? Latein als Hintergrund und Untergrund unserer Wissenschaftssprache 638 ULRICH AMMON Deutsch als Wissenschaftssprache: die Entwicklung im 20. Jahrhundert und die Zukunftsperspektive 668

FRITZ PONELIS Afrikaans as a language of science

686

JÜRGEN TRABANT La lingua di questa Scienza: Alte Sprache — Neue Wissenschaft . . 716

Kapitel l

Die Sprachmäßigkeit des Körpers GUNTER GEBAUER

1. Ordnungen der Gesellschaft und Ordnungen der Individuen 2. Kritik am reflexiven Subjekt 3. Geordnete Bewegungen und Ordnungen von Bewegungen 3.1 Sprachmäßigkeit und Inkorporierung von Bewegungen 3.2 Die Subjektivierung gesellschaftlicher Ordnungen 4. Ordnungen der Hand 4.1 Die geordnete Hand 4.2 Das Erzeugen von Ordnungen durch den Gebrauch der Hand 4.3 Soziale Ordnungen und symbolische Welten 5. Schlußbemerkungen 6. Literatur

In den folgenden Überlegungen soll eine besondere Verwendungsweise natürlicher Sprachen betrachtet werden, die man als protowissenschaftlich bezeichnen könnte. Sie bereitet eine typische Leistung von Wissenschaft vor, die darin besteht, daß sie Ordnungen herstellt, Ordnungen der Zeit und des Raumes sowie Klassifikationen von Dingen, Ereignissen und Eigenschaften. Auch Sprachen erzeugen, zwar auf einer vorwissenschaftlichen Ebene, solche Ordnungen, die aber doch schon fundamentale Strukturierungen des Denkens darstellen. Die ersten Ordnungen, die wir in unserem Leben lernen, sind in der Sprache enthalten, die wir von Kind auf gelernt haben. Sind sie Eigenschaften der natürlichen Sprachen oder sind sie diesen sozial aufgeprägt worden? Gewiß erhalten sie mit Hilfe der sprachlichen Symbole und Syntaxstrukturen eine besondere Form — aber sind sie sprachlichen Ursprungs? Haben sie Vorgänger, die, metaphorisch gesprochen, unterhalb der Sprache liegen?

1. Ordnungen der Gesellschaft und Ordnungen der Individuen Wenn man annimmt, daß die in der Sprache ausgedrückten Ordnungen von Menschen hergestellt, also nicht auf ein göttliches Prinzip zurückzuführen sind und nicht dem menschlichen Erbgut zugerechnet werden

Gunter Gebauer

können, findet man zwei allgemein verbreitete diametral entgegengesetzte Lösungen des skizzierten Problems: 1. Lösungsvorschlag: Die Ordnungen sind von der Gesellschaft erzeugt. Die in der Sprache ausgedrückten Ordnungen entsprechen den Strukturen sozialer Gruppen. Daß Klassifikationen eine Sozialordnung ausdrükken, war ein bahnbrechender Gedanke, der von Emile Durkheim und Marcel Mauss entwickelt wurde. 1 Dieser auf den ersten Blick bestechende Gedanke stößt auf das folgende Problem: Die von der Gesellschaft erzeugten Ordnungen gewinnen erst dadurch soziale Realität, daß sie von ihren Mitgliedern übernommen werden, dadurch daß sie also nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die individuellen Welten ihrer Angehörigen strukturieren. In den individuellen Ordnungsentwürfen gewinnen die für die ganze Gesellschaft verbindlichen Ordnungen Gestalt; ihre Wirkung entfalten sie in den individuellen Gebräuchen. Von den Individuen müssen die Ordnungen anerkannt, in ihr eigenes Handeln und Denken übernommen werden; diese engagieren sich für sie und sind bereit, sie sogar gegen ihre eigenen Interessen anzuwenden. Sie machen sich beispielsweise zu Sachwaltern einer für sakrosankt gehaltenen Sozialordnung, der sie auch dann Geltung zusprechen, wenn sie Nachteile für sie zur Folge hat. So geschieht es beispielsweise mit den Klassifikationen, die die Gesellschaft strukturieren: in oben und unten, männlich und weiblich, in Einheimische und Ausländer. 2 Die kollektiven Ordnungen, wie sie von Durkheim und Mauss konzipiert werden, gehen nicht selbstverständlich in die individuellen Handlungs- und Denkweisen ein, sondern bedürfen der Zustimmung durch die Individuen in irgendeiner Form. Dies geschieht gewiß nicht in Form expliziter Akte, nicht als bewußte und reflektierte Zustimmung, aber es muß auf Seiten der Individuen eine Bereitschaft ausgeprägt sein, sich den Ordnungen zu unterstellen. Die Gesellschaftsmitglieder müssen bereitwillige Mitspieler sein, die der Ordnung des sozialen Spiels zustimmen und ihre Regeln für die richtigen halten — sie müssen einen Glauben an das Spiel haben. 3 2. Lösungsvorschlag: In ihren Handlungen entwickeln die Individuen spezifische Ordnungen, die sie Schritt für Schritt in ihrer Lebensgeschichte entfalten. Schon sehr früh in ihrem Leben bilden Menschen 1 Vgl. Emile Durkheim/Marcel Mauss: De quelques formes primitives de classification. 2 Pierre Bourdieu bezeichnet solche Fälle der freiwilligen und aktiven Übernahme einer den eigenen Interessen zuwider laufenden Ordnung als „strukturelle Gewalt". 3 Vgl. Pierre Bourdieu: Le sens pratique, insbesondere das Kapitel „Croyance et corps".

Die Sprachmäßigkeit des Körpers

Ordnungen heraus, indem sie primitive Klassifikationen konstruieren, mit deren Hilfe die Welt — die Gegenstände, Handlungen und Eigenschaften — wiedererkennbar gemacht werden. Eine solche subjekterzeugte Ordnung wird von so unterschiedlichen Theoretikern wie George Herbert Mead, Arnold Gehlen und Jean Piaget behauptet. Ihren Annahmen gemäß bilden alle Menschen in ihren Handlungen vergleichbare Ordnungen heraus, so daß es zu einer Übereinstimmung individueller und gesellschaftlicher Ordnungen kommt. 4 Aber auch bei diesem Lösungsvorschlag entsteht ein analoges Problem wie bei dem ersten, nur in umgekehrter Richtung: Eine Ordnung, die vom Einzelfall zu einer allgemeinen sozialen Ordnung ausgedehnt wird, bedarf der Anerkennung durch die Gesellschaft, die sie strukturieren soll. Sie muß durch irgendeinen Akt der Akzeptanz als grundlegende gesellschaftliche Strukturierung angenommen werden. Auch dies kein automatischer Vorgang — die Ordnung einzelner Individuen erlangt erst dann allgemeine Verbindlichkeit, wenn sie sozial legitimiert wird. Auch hier braucht man sich wieder keinen ausdrücklichen Vorgang vorstellen, keinen formellen Akt, der einer individuellen Ordnung den Status einer gesellschaftlichen zuerteilt. Eine solche Legitimierung ist gegeben, wenn die gesellschaftliche mit einer individuellen Ordnung übereinstimmt, so daß diese in jener enthalten ist und einen bestimmten Platz in ihr einnimmt. Weder die erste noch die zweite Lösung ist fähig, die Übereinstimmung von Gesellschaft und Individuen in gemeinsamen Ordnungen zu begründen. Keine von beiden ist in der Lage zu zeigen, wie die Ordnungen der Gesellschaft von den Individuen akzeptiert und wie die individuellen Ordnungen in jenen der Gesellschaft einen Platz finden. Es gibt keinen automatischen Übergang weder von der gesellschaftlichen zur individuellen Ordnung noch umgekehrt. Beide Vorschläge erweisen sich als wenig tauglich: Weder verbreiten sich die sozialen Ordnungen unter den Individuen noch dehnen sie sich von diesen auf die ganze Gesellschaft aus. Die Kritik an den Lösungsvorschlägen hat gezeigt, daß beide zu kurz greifen, weil diese zwei Elemente vernachlässigen, die für die Akzeptierung und Legitimierung von Ordnungen notwendig sind: der Glaube an die sozialen Ordnungen durch die Individuen und das Enthaltensein der individuellen in den Ordnungen der Gesellschaft. Diese können nicht als den Individuen fremd, von ihnen unabhängig angesehen werden, sondern sie werden erst durch die Individuen, durch ihren Glauben und ihren Gebrauch gesellschaftlich wirksam.

4 Diese Behauptung wird nicht explizit gemacht, aber sie muß dem Gedanken zugrunde liegen, daß individuelle und gesellschaftliche Ordnungen zusammenfallen.

Gunter Gebauer

Die Beziehung von individuellen und gesellschaftlichen Ordnungen muß anders entworfen werden als in den beiden vorgestellten Lösungsvorschlägen. Diese beruhen, obwohl sie entgegengesetzt sind, auf einer gemeinsamen Annahme: Die Ordnungen der Gesellschaft werden als eine Menge von Vorschriften, Anordnungen, Forderungen gedacht, die das Verhalten der Individuen mehr oder weniger explizit vorschreiben. Auf der anderen Seite werden die Ordnungen der Individuen als eine Struktur von Regeln angenommen, die mental wirksam sind, indem sie die Individuen bei ihren Handlungen von innen anleiten. Mit dieser von beiden Lösungsvorschlägen geteilten Annahme über die Beziehung von Individuen und Gesellschaft werde ich mich zuerst auseinandersetzen. Die Diskussion wird darauf hinauslaufen, daß die in den Sozialwissenschaften übliche Konzeption des gesellschaftlich handelnden Menschen als autonomes und rationales Subjekt in Frage gestellt wird. In einem zweiten Schritt wird dann die Sprachmäßigkeit der Welt und des menschlichen Körpers gezeigt. Anschließend werde ich versuchen, die Übereinstimmung der Ordnungen von Gesellschaft und Individuen in dem wechselseitigen Prozeß ihrer Konstruktion zu begründen.

2. Kritik am reflexiven Subjekt In den Sozialwissenschaften werden die in der Gesellschaft handelnden Menschen als autonome und rationale Subjekte angesehen. Es wird zwar zugegeben, daß sie sozial beeinflußt, geprägt, kontrolliert werden, aber als ihr Hauptmerkmal wird angenommen, daß sie die Welt in ihrem Inneren als denkende Wesen rezipieren und entwerfen. Die Gesellschaft und Umwelt nehmen nur soweit Gestalt an, wie sie in dieses Innere eingehen. Die anderen treten nicht als körperlich existierende Personen in Erscheinung. Ihre Handlungen werden zu Normen, Regeln, Gesetzen, Erwartungen, Rollen und rationalen Entscheidungen abstrahiert. Daß sie als körperliche, materielle Wesen kaum vorkommen, fällt deswegen nicht besonders auf, weil sich, gemäß den meisten Theorien der Sozialwissenschaften, das Handeln vor allem im Kopf der Individuen abspielt. Auf diese Weise wird das Verhältnis der Individuen zur sozialen und materiellen Umwelt nur unvollständig beschrieben, nämlich als einseitige Einwirkung von Menschen auf ihre Umgebung.Tatsächlich handelt es sich aber um wechselseitige Aktivitäten in zwei Richtungen: Individuen handeln in der Welt, formen und strukturieren diese; umgekehrt werden sie von der sozialen Welt geformt und strukturiert. Auf das handelnde Subjekt wirken insbesondere andere Personen ein, zu denen es sich ins Verhältnis gesetzt hat. Andere Menschen formen sein Verhalten, geben seinem Körper eine Haltung, liefern ihm Modelle und Vorbilder. Es erlei-

Die Sprachmäßigkeit des Körpers

7

det die materielle und gesellschaftliche Umwelt nicht passiv, sondern nimmt auf sie Bezug und integriert sie in sein Handeln. Sie wird zu einem Teil des Ichs; das Ich wird zu einem Teil von ihr. Überall, wo jemand mit Bezug auf eine schon bestehende Welt handelt und dabei selbst eine Welt herstellt, besteht ein solches wechselseitiges Verhältnis; beispielsweise, wenn man die Bewegung eines anderen nachahmt, wenn man nach einem Modell handelt, wenn man etwas darstellt oder einen Gedanken körperlich ausdrückt. Diese Verschränktheit von Subjekt und Gesellschaft ist ein grundlegendes Merkmal des Weltverhältnisses von Menschen, das von den Sozialwissenschaften selten gewürdigt wird. Die Unterscheidung von Subjekt und Gesellschaft, Ich und anderen funktioniert nicht im Sinne einer Dichotomic oder Abgrenzung zweier grundlegend verschiedener, scharf voneinander getrennter Bereiche. Das Subjekt ist, wie die Gesellschaft, eine offene Kategorie, die so gedacht wird, daß sich beide Seiten wechselseitig erzeugen. Ohne die Gesellschaft könnte das Subjekt nicht entstehen; es enthält von vornherein das, was ihm gegenübersteht. Auch die soziale Welt würde es ohne die Wahrnehmungen, Bewertungen, Interpretationen, ohne die inneren und gesellschaftlichen Beteiligungen der einzelnen Subjekte nicht geben. Die Vermittlungsinstanz zwischen Subjekt und Gesellschaft ist der Körper. Er gehört nicht dem Subjekt; er ist kein individuelles, subjektives Ding, sondern wird von den frühesten Entwicklungsstufen an durch Übungen, Disziplinierungen, durch gesellschaftliche Beeinflussung ergriffen, die ihn von außen in Prozessen gestalten und umformen, die seinem Bewußtsein, Willen und seinen Intentionen nicht verfügbar sind. Von ihnen wird der Körper aufgrund seiner materiellen Beschaffenheit verändert; er wird in eine gesellschaftlich gemachte Umwelt integriert und in bestehende Ordnungen eingefügt: in festgelegte Zeitabläufe, in organisierte Räume, in strukturierte Formen des Zusammenlebens und ritualisierte Verhaltensweisen. Am menschlichen Körper setzen soziale Strategien an und arbeiten erwünschte Reaktionen in ihn hinein 5 , so daß er in die Lage gebracht wird, bestimmte Handlungen zu produzieren. Von Anfang seiner Existenz an wirken die anderen auf das Individuum ein und machen ihm klar, wer es ist, welchen Platz es im sozialen Raum einnimmt und wie es sich zu verhalten hat. Was den Körper zum entscheidenden Mittler zwischen den handelnden Subjekten und der Gesellschaft macht, ist seine Plastizität. Im Nachahmungsprozeß, der von dem Entwicklungspsychologen Walloh be5 Vgl. zu diesem Hineinarbeiten der Reaktionen in das Kind, so daß entsprechende Reaktionen ausgelöst werden, George Herbert Mead: Geist, Identität und Gesellschaft. Siehe insbesondere die Abschnitte „Nachahmung und der Ursprung der Sprache" und „Die vokale Geste und das signifikante Symbol", 90—107.

Gunter Gebauer

schrieben wird 6 , nimmt das Kind sein Modell in sich hinein, paßt diesem seine Motorik an und führt es schließlich als Geste aus, die sich dem gegebenen Prototyp angleicht. Die neue Geste ist keine detailgenaue Kopie des Vorbilds, sondern ein Äquivalent, das mit diesem eine gewisse Ähnlichkeit hat. Das Kind stellt gleichsam eine Verdoppelung des Modells durch sich selbst und seine Übereinstimmung zwischen seinem eigenen Handeln und den nachgeahmten Vorbildern fest. Bei seinen spontanen Nachahmungen hat das Kind freilich noch kein abstraktes oder objektives Bild des Prototyps. Es erzeugt seine Gesten nicht von inneren Vorstellungen her, sondern mit Hilfe „einer Art mimetischer Intuition" 7 . Auch Adorno, der einen Blick für diese von Walion untersuchten mimetischen Prozesse hat, beschreibt den Vorgang in ähnlichen Worten, als ein „Sich Anschmiegen"8. Mit diesem Ausdruck wird hervorgehoben, daß es sich dabei nicht um intellektuelle Akte handelt, sich aber die Nachahmung auch nicht auf ein motorisches Geschehen beschränkt. Auf den frühen Entwicklungsstufen des Subjekts ist sie eine Verdoppelung der ursprünglichen Handlungspraxis. Mimetische Handlungen sind eine wirksame Weise, das Subjekt in Übereinstimmung mit der Welt zu bringen. Auf einer Stufe weit unterhalb der Ausbildung des autonomen Subjekts macht sich der Handelnde mit der Welt anderer Menschen solidarisch; er gleicht sich dieser an. Als zweiter wichtiger Aspekt des mimetischen Verhaltens ist hervorzuheben, daß es nicht nur rezeptiv ist, sondern wiederum körperlich aufgeführt wird. Die Gesellschaft hat die Möglichkeit, auf die mimetischen Produktionen der Individuen zu antworten. Die Verdoppelung steht also unter sozialer Kontrolle; insofern hat sie einen öffentlichen Charakter. Die Vorstellung des reflexiven Subjekts wird überwunden, wenn man erkennt, daß der Körper in eins mit seinem instrumenteilen Gebrauch nachahmende, darstellende, aufführende Akte vollzieht, in denen das Individuum auf andere Menschen Bezug nimmt. Was an ihm als Natur erscheint, ist sozial gemacht worden. Die Konstruktion von Ordnungen findet nicht in einem Innenraum statt, nicht im Raum eines reflexiven Subjekts, sondern ist ein Spiel mit vielfältigen Beteiligungen, gekennzeichnet durch die Bezugnahme auf andere Menschen und ihre Ordnungen. Als Ausgangspunkt für mein weiteres Vorgehen habe ich die Körperpraxis ausgezeichnet. Insbesondere Bewegungen sind eine Weise des In-der-Welt-Seins, die keineswegs elementar ist, sondern durch und 6 Von Henri Wallon habe ich herangezogen: L'evolution psychologique de l'enfant; Les origines de la pensee chez l'enfant; De l'acte ä la pensee. 7 Henri Wallon: L'evolution psychologique de l'enfant, 146. 8 Vgl. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie.

Die Sprachmäßigkeit des Körpers

durch in Zusammenhänge der sozialen Welt eingefügt. In ihnen entstehen Regularitäten der Welt des Individuums, ein Vorverständnis, das sich unterhalb von Sprache und Texten bildet und soziale Ordnungen, die in einem gegenseitigen Formungsprozeß des Subjekts durch seine Umwelt und seiner Umwelt durch das Subjekt entstehen. In den noch nicht symbolischen, aber schon regelhaften und kodifizierten Bewegungen werden erste Ordnungen vorbereitet. Sie enthalten bereits auf der untersten Ebene der Entwicklung ein systematisierendes und gestalterisches Moment; am deutlichsten ist dies am Gebrauch der Hand erkennbar. Mit dem formenden Aspekt ist jener der sinnlichen Wahrnehmung verknüpft. In den Bewegungen der Hand werden die soziale und subjektive Welt mit dem Körper und mit den Sinnen erzeugt. Von Anfang an hat die Welt, die das Individuum mit Hilfe des Handgebrauchs erzeugt, sprachliche Qualitäten. Es kommt darauf an, die Körperlichkeit der sozialen Ordnungen und die Ordnungsmäßigkeit des Körpers, seiner Bewegungen, seiner Gestaltungen und Produkte in den Blick zu nehmen.

3. Geordnete Bewegungen und Ordnungen von Bewegungen Bewegungen werden von den ersten Lebenstagen des Menschen an im Alltagsleben ausgebildet, eingeschliffen, gewohnheitsmäßig gemacht und in der individuellen Körpergeschichte zu Haltungen verfestigt; sie bilden eine soziale und individualgeschichtliche Kategorie. In ihr überkreuzen sich das Natürliche und Gesellschaftliche, das Individuelle und Allgemeine. Das Medium der Bewegung produziert Verbindungen, Berührungen, gegenseitig bewirkte Veränderungen — ein gemeinsames Spiel, das die Teilnehmer nicht unverändert läßt, sie an den Welten anderer Menschen beteiligt und zu einem Teil ihrer Gesellschaft macht.

3.1 Sprachmäßigkeit und Inkorporierung von Bewegungen Bewegungen, die auf die Welt zugreifen, sind den Dingen nicht äußerlich. Sie rufen in diesen ein „Antwortverhalten" 9 hervor. Von Arnold Gehlen stammt der Gedanke, daß bewegungsmäßige Handlungen an den Dingen bestimmte „Umgangsqualitäten" hervorrufen und sich „buchstäblich mit den Sachen unterhalten, wobei jede freigelegte Eigenschaft aufgegriffen und in neuen Leistungen beantwortet wird" (Gehlen 1972, 187). Die anthropologische Leistung von Bewegungen geht weit über die Manipu9 Arnold Gehlen: Der Mensch, 170.

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Gunter Gebauer

lation der Umwelt und das Ausdrucksverhalten hinaus. Auf Grund ihrer „Sprachmäßigkeit" (Gehlen 1972, 170) bilden sie einen „Schatz stummer Erfahrungen", die der Handelnde an den Sehdingen mit einem Blick erkennen kann, wie man beispielsweise einer dünnwandigen Teetasse ihre Zerbrechlichkeit ansieht. Im geübten Handeln ist man fähig, aufgrund der visuellen Erscheinungen der Dinge die Eigenschaften zu erkennen, „die sie beweisen würden, wenn wir mit ihnen hantierten" (Gehlen, ebd.). Mit Hilfe von Bewegungen organisieren Menschen ihre Umgebung; sie stellen einen symbolischen Bewegungsraum her, in dem die Dinge nach ihren Umgangsqualitäten geordnet werden. Dieser enthält mehr als die gegebene Situation, insofern als er mögliche und zukünftige Bewegungen mit einbezieht. Viel mehr als eine einfache Strukturierung, enthält die symbolische Ordnung des Bewegungsraums potentielle, virtuelle und zukünftige Bewegungen und verknüpft sie mit den „Umgangsvorschriften und Gebrauchsandeutungen" der Dinge (Gehlen 1972, 223). Sie interpretiert die Gegenwart im Hinblick auf zukünftiges Handeln und ermöglicht so einen praktischen Vorgriff auf die Dinge, die kommen werden. „Wir können sozusagen unser real gegenwärtiges Verhalten in einer Art inneren Stellungswechsels in ein nächstmögliches Verhalten hinein fortsetzen" (Gehlen 1972, 185). Eine solche praktische Erkenntnis bildet, unterhalb der Sprache, eine vorreflexive Schicht, in der bereits Kommunikation, Bedeutungen, Antizipation, Interpretation und zukünftige Absicht vorhanden sind. Der Anblick der Dinge genügt, um Bewegungen in Gang zu setzen; diese erfolgen bewußtlos und sicher aus sich selbst (Gehlen 1972, 223). Unterhalb des kognitiven Denkens und ontogenetisch früher als die verbale Sprache entsteht aus Bewegungen heraus eine Kommunikation des Individuums mit der Welt, in der sowohl die Dinge als auch die Handlungen „sprachmäßig" werden. In Gehlens Darstellung erhalten Bewegungen freilich eine eigenartige Autonomie, als konstruierten sie aus sich selber heraus die Dinge und ihre Verhalten. Die Tatsache, daß sie erlernt, sozial geformt, anerzogen, korrigiert, gefordert werden, nimmt Gehlen nicht zur Kenntnis. Nach seinem Entwurf befindet sich der Einzelmensch direkt vis-ä-vis der Welt und konstruiert vollkommen selbständig seine symbolische Raumordnung. Im Gegensatz zu dieser autistischen Konzeption zeigen die anthropologischen, soziologischen und historischen Arbeiten von Marcel Mauss, Norbert Elias, Michel Foucault und Pierre Bourdieu, daß Bewegungen im Kontext einer Gesellschaft von außen geformt und zugleich unter wesentlicher Mitwirkung des Individuums ausgebildet werden. Das Subjekt bewegt sich nicht in einer privaten Umgebung, sondern in einer gesellschaftlich geformten, von Kulturtechniken geprägten und von Machtbeziehungen durchzogenen Sozialwelt. Es befindet sich nicht in einem Raum freier Beliebigkeit, in dem

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es aufgrund seiner privaten Erfahrungen eigene symbolische Ordnungen bilden kann, sondern es wird in unabhängig von ihm existierende, weitgehend genormte Bewegungsweisen eingeübt, in ein mimetisches Verhalten, bei dem es die Modelle seiner unmittelbaren, selbstverständlichen Umgebung entnimmt. Man kann also erwarten, daß die von Menschen hergestellten Ordnungen im Zusammenspiel von individuellen Handlungen und gesellschaftlichen Anforderungen entstehen. Marcel Mauss beschreibt, wie der Körper technologisch umgeformt, an gesellschaftliche Gebrauchsweisen angepaßt und auf diese Weise zu einem speziellen zivilisatorischen Ding gemacht wird. 10 In diesem Vorgang werden Bewegungskönnen und praktisches Erkennen erworben, die für die Integration in die jeweilige Gesellschaft, in die von ihr eingerichteten und gegenüber ihren Mitgliedern geforderten symbolischen Ordnungen notwendig sind. Bewegungen sind in dieser Sichtweise nicht Werkzeuge eines Individuums, nicht von seinem Willen abhängig, sondern sein Körper wird entsprechend den Ordnungen der Gesellschaft zivilisationstechnisch bearbeitet und deren Anforderungen angepaßt. Bevor Menschen Instrumente bedienen, haben sie bereits „die Gesamtheit der Techniken des Körpers" herausgebildet (Mauss 1978, 206). In diesen Prozeß der Technisierung des Körpers und Anpassung an die Gesellschaft mit ihren kulturellen Gegenständen werden Bewegungen in soziale Zusammenhänge eingebunden, sie werden zu habitualisierten Tätigkeiten gemacht, die sowohl persönlich angeeignet und individuell ausgeführt als auch in die Ordnungen der Gesellschaft eingefügt werden. Auf diese Weise werden die Vorschriften, Anforderungen und Normen, deren Einhaltung die Gesellschaft von ihren Mitgliedern verbindlich verlangt, inkorporiert. Dies geschieht nicht als eine von außen auferlegte, gesellschaftlich erzwungene Übernahme einer fremden Ordnung, sondern als eine Konstruktion des handelnden Individuums selbst. Norbert Elias beschreibt in seinem Hauptwerk die Inkorporierung sozialer Ordnungen in die Individuen als Wirkungen des Zivilisationsprozesses.11 In diesem Geschehen wird der Körper von sozialer Kontrolle besetzt und zugleich unter eine von der Psyche und den Muskeln des Individuums selbst ausgeübte Aufsicht gestellt. Von innen her lenken die in Selbstzwang umgearbeiteten sozialen Ordnungen das Individuum vermittels seines psychischen und anatomischen Apparats. Der Aufbau des Psychischen, der auf diese Weise zustande kommt, wird von Elias als ein Vorgang entworfen, in dem Dispositionen, soziale Gefühle, Bewertungen, Beurteilungsmaßstäbe und moralische Grundsätze herausgebildet werden. 10 Marcel Mauss: Die Techniken des Körpers. 11 Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation.

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3.2 Die Subjektivierung gesellschaftlicher Ordnungen Während Elias die soziale Ordnung, die dem Körper im Zivilisationsprozeß gegeben wird, als eine Folge von expliziten Vorschriften, Anweisungen, Kontrollverfahren und Korrekturakten darstellt, gehen Michel Foucault und Pierre Bourdieu einen Schritt weiter. Foucault analysiert die Rolle von spezifischen Institutionen bei der Herstellung der sozialen Ordnungen, die von den Individuen einverleibt werden. Sein zentraler Begriff bei der Beschreibung des körperlichen Formungsprozesses ist die Übung. In den seit Beginn der Moderne geschaffenen Disziplinarinstitutionen, wie in der Fabrik, Schule, dem Krankenhaus und Gefängnis, werden den Individuen mit Hilfe körperlicher Exerzitien spezifische Positionen in der räumlichen und zeitlichen Ordnung der Gesellschaft zugewiesen und die geforderten Verhaltensweisen regelrecht eingebläut. In allen von Foucault untersuchten Institutionen wird das eine Ziel verfolgt, die Individuen mit Hilfe explizit und minutiös geregelter sozialer Praktiken zu disziplinierten und auf diese Weise zu unauffällig funktionierenden, „normalen" Bürgern zu machen. Die Übung ist „jene Technik, mit der man dem Körper Aufgaben stellt, die sich durch Wiederholung, Unterschiedlichkeit und Abstufung auszeichnet" 12 . In den Übungen werden Bewegungen nach einer exakt strukturierten raum-zeitlichen Ordnung ausgeführt und anhand festgelegter Kriterien genau kontrolliert. Seine Plastizität macht den Körper gelehrig; er übernimmt die vorgegebenen Bewegungen, formt sich selbsttätig grundlegend um, produziert die verlangten Verhaltensweisen, reproduziert auf diese Weise die sozialen Ordnungen und übernimmt die Kontrolle über sich selbst. Die Disziplinarinstitutionen nutzen diese Gelehrigkeit der Körper; sie weisen jedem Individuum einen genau gekennzeichneten Platz zu, mehr noch: sie definieren jedes Individuum durch genau den Platz, den es im gesamten Funktionszusammenhang einnimmt. Nicht nur werden die gesellschaftlichen als individuelle Ordnungen verinnerlicht, sondern das Individuum findet in jenen auch seinen Platz. Anders als Foucault, der die Herstellung des disziplinierten Individuums in spezialisierten Institutionen untersucht, geht Pierre Bourdieu auf die alltäglichen Bewegungen der sozialen Subjekte ein, mit denen sie sich die objektiven Strukturen der Gesellschaft einverleiben. In dem von ihm beschriebenen Prozeß wird deutlich, welche Beiträge der Handelnde selbst für die Aneignung, subjektive Ausdeutung und individuelle Gestaltung der sozialen Ordnungen leistet, indem er die von außen gesetzten Zwänge, Erwartungen, Normen in die individuelle Biographie seiner 12 Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, 207 f.

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Person umwandelt. Viel stärker als Foucault bezieht Bourdieu die Arbeit der Individuen ein, mit der sie aus den gesellschaftlichen Ordnungen eigene subjektive Konstruktionen bilden. In diesem Prozeß bilden die Subjekte soziale Fähigkeiten, praktisches Wissen, Dispositionen, Wahrnehmungs- und Bewertungsweisen heraus, die sie zu einem systematischen Gesamtkonstrukt synthetisieren, von Bourdieu als „Habitus" bezeichnet. Mit Hilfe dieser Instanz werden die sozialen Ordnungen im Inneren der Subjekte dargestellt und wiederum alle individuellen Verhaltensweisen generiert, mit denen jene als subjektive Ordnungen reproduziert werden. Den sozialen Bedingungen, unter denen eine gesellschaftliche Gruppe lebt, entspricht auf der Seite der Subjekte eine Homogenität der Habitusformen, die Handlungen erzeugen, durch die eine Übereinstimmung mit den sozialen Ordnungen hergestellt wird. Die Regelgemäßheit der individuellen Handlungen entspricht jener der sozialen Praxis. Subjektive und objektive Ordnungen korrespondieren einander. 13 „Alles geschieht so, als ob der Habitus, ausgehend vom Zufall und von der Kontingenz (der sozialen Praxis — meine Hinzufügung, G. G.), Kohärenz und Notwendigkeit herstellen würde; als ob er es fertig brächte, die Wirkungen der sozialen Notwendigkeit zu vereinheitlichen, zusammenzufassen, die seit der Kindheit vermittels der materiellen Existenzbedingungen erfahren werden." (Bourdieu 1980, 134) Typisch für den Prozeß der Inkorporierung ist, daß das Einverleibte „jenseits des Bewußtseinsprozesses angesiedelt" und daher unkommunizierbar ist; es befindet sich, als „zu Körpern gemachte Werte", auf einer Ebene unterhalb von Sprache und Bewußtsein (Bourdieu 1979, 200). Die individuellen Ordnungen des sozialen Subjekts sind nicht Ergebnis eines reflektierten oder intendierten Prozesses; sie sind erzeugt von einer „den Praktiken immanenten Vernunft, die ihren Ursprung weder in den ,Entscheidungen' der Vernunft, eines bewußten Kalküls, noch in den Determinierungen durch Mechanismen findet, die dem Handelnden äußerlich oder übergeordnet sind" (Bourdieu 1980, 85). Die Fähigkeit, solche Handlungsweisen zu erzeugen, die mit den sozialen Ordnungen übereinstimmen, nennt Bourdieu den „praktischen Sinn" (sens pratique). Mit dieser Bezeichnung hebt er hervor, daß dieser Sinn nicht explizit gelehrt und gelernt, sondern in der Praxis erworben, in unzähligen Wiederholungen geübt und angewendet wird. Er ist in die praktischen körperlichen Tätigkeiten der Subjekte involviert; diese benötigen keine Distanz, keine Reflexion, um sofort und ohne Überlegung zu wissen, was in einer Situation zu tun ist. So sieht ein Fußballer die Mitspieler mit einem Blick und weiß, ohne nachzudenken, welche Aktion er im nächsten Augenblick zu tun hat. Sobald er zögert und nachzudenken beginnt, ist es um den Erfolg seiner Handlung geschehen. 13 Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis.

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Über Bewegungen und Körperhaltungen werden die sozialen Ordnungen im Inneren der Subjekte nachkonstruiert. Mit ihnen übernimmt das Subjekt mehr als nur motorische Schemata; es erweitert seine Welt. „Daß man bestimmte Positionen oder Körperhaltungen einnimmt, heißt, wie man seit Pascal weiß, daß die von diesen ausgedrückten Gefühle eingeflößt oder verstärkt werden. Die Geste verstärkt, wie das Paradox des Schauspielers oder Tänzers lehrt, das Gefühl, das wiederum die Geste verstärkt. Auf diese Weise erklärt sich die Stellung, die alle Regimes mit totalitären Zügen jenen kollektiven körperlichen Praktiken verschaffen, die dazu beitragen, das Gesellschaftliche zu inkorporieren, indem sie es symbolisieren, und die mit Hilfe dieser körperlichen und kollektiven Mimesis der sozialen Orchestrierung darauf abzielen, diese zu verstärken... Die »geistigen Exerzitien' sind körperliche Exerzitien, und zahlreiche moderne Trainingsweisen sind eine Form innerweltlicher Askese".14 Über körperliche Übungen, Exerzitien und Training kommt es dazu, daß die sozialen Subjekte innere, unterhalb des Bewußtseins liegende Ordnungen herstellen, die sie fähig machen, sich in den jeweiligen sozialen Feldern angemessen zu verhalten. Inneres und Äußeres sind zwei Seiten des Körpers. Arme und Beine sind „voller verborgener Imperative" (Bourdieu 1980, 128), mit denen man in der Kindheit und in späteren Erziehungsprozessen konfrontiert wurde („Sitz gerade!" „Sprich nicht mit vollem Mund!"). Vieles von dem, was wir gelernt haben, ist freilich nie sprachlich ausgedrückt worden. So lernt man viele körperliche Verhaltensweisen und -haltungen direkt von Vorbildern, indem man sie beobachtet, sie nachahmt, etwas so tut wie sie, beispielsweise wenn man einem Tennislehrer beim Aufschlag zusieht und dann versucht, die gleiche Bewegung nachzumachen. „Es gibt eine Vielzahl von Dingen, die wir allein mit unserem Körper verstehen, diesseits des Bewußtseins, ohne sie mit Worten ausdrücken zu können... es gibt Dinge, die man nicht ausdrücken kann, und die sportlichen Praktiken sind solche Praktiken, in denen das Verstehen körperlich ist. Sehr oft kann man nur sagen: ,Schau, mach' wie ich.'" (Bourdieu 1987, 214 f.) Bewegungen sind der Ansatzpunkt für die Subjektivierung der sozialen Ordnungen. Diese werden, über Bewegungen vermittelt, in die Körper hineingenommen und von den Individuen angeeignet. Auf diese Weise kommt es, daß die Subjekte in den sozialen Ordnungen ihre eigenen wiedererkennen. Die Einverleibung des Sozialen ist der Grund dafür, daß die Individuen an die gesellschaftliche Ordnung als fraglos gegebene glauben. Aufgrund der Tatsache, daß sie diese selbst miterzeugt haben, ist sie ihnen gewiß und ein Teil ihrer selbst geworden. 14 Pierre Bourdieu: Choses dites, 216.

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4. Ordnungen der Hand Durch den Gebrauch der Hand, die Gehlen mit Recht als „Führungsorgan" bezeichnet, werden einige der Bedingungen erzeugt, die überhaupt erst die geistige Erfassung und sprachliche Benennung der sozialen Welt möglich machen. Ich habe auf die Bedeutung der Plastizität des Körpers bereits hingewiesen — die Hand besitzt von allen Körperteilen im höchsten Ausmaß die Fähigkeit, zu formen und geformt zu werden. Einerseits verändert und modelliert sie die Welt, auf der anderen ist sie fähig, sich dieser auf das Engste anzupassen. Diese zweiseitige Plastizität, die sich darin ausdrückt, daß sie vielfältige Gestalten anzunehmen und sowohl sich selbst als auch die Umweltdinge auf verschiedenste Weise zu formen vermag, läßt die Hand als das Zentrum der Herstellung von Ordnungen durch den Körper erscheinen. Sie vollzieht Handlungen, die auf die Welt zugreifen. Ihre Vermittlung zwischen den Dingen und dem Körper läßt beide Seiten nicht unverändert. Ebenso wie die manipulierten Gegenstände mit einem spezifischen „Antwortverhalten" reagieren, integriert das Individuum die Weise, wie die Hand mit ihnen umgeht, in eine von ihm erzeugte Ordnung. Die Berührung stellt die Gewißheit her, daß es den berührten Gegenstand gibt. Sie hat einen objektiven und subjektiven Aspekt — Berührung und Ergreifen heben den Gegenstand nicht nur hervor, sondern lösen ihn auch aus seinem Kontext heraus und zeigen ihn als einen spezifischen. Die subjektive Seite daran ist, daß das Individuum den Gegenstand inkorporiert, verinnerlicht; im vorhergehenden Abschnitt habe ich angedeutet, wie dies geschieht. Das Berührte und Ergriffene, das unabhängig von der Hand existiert, ist für den Handelnden nicht weniger wirklich als sein Körper, als seine Hand selbst. Für diesen gibt es den Gegenstand insofern, als dessen Behandlung und Antwortverhalten in seinen Körper übernommen worden ist. Der Handgebrauch hat einen wesentlich konstruktiven Aspekt, der sowohl das Verhalten der Dinge als auch die materielle Beschaffenheit der Hand umfaßt.

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Die Hand erhält ihre vielfältigen Handlungs-, Wahrnehmungs- und Ausdrucksfunktionen im Laufe einer langen und feinste Einzelheiten erfassenden „Erziehung". Dabei entsteht ein zunehmend differenzierter Gebrauch, bei dem mehrere Stufen unterschieden werden können: 15 15 Die folgende Differenzierung entwickelt Jean-Hubert Levame in: Main-objet et main-image.

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Beim Neugeborenen findet man die einfachste Form des Gebrauchs, bei der die fünf Finger und die Handfläche eine gemeinsame, ungeschiedene Funktionseinheit bilden (s. Abb. l 16 ). In diesem Stadium gibt es weder eine Differenzierung der Finger noch ein Zusammenwirken der beiden Hände. Es können Dinge berührt und festgehalten, die Oberfläche und Form von Gegenständen abgetastet und eigene Bewegungsschemata herausgebildet werden. Aber schon hier werden in Körperbildern sowohl die Hand als auch ihre Gebrauchsweisen repräsentiert. Diese Bilder erfüllen eine wichtige Funktion insbesondere dafür, daß der inkorporierte Gegenstand Hand (die Hand als Bild) entstehen kann. Sie erhalten im Laufe der Entwicklung immer mehr Eigenständigkeit gegenüber der Umgebung und den Bewegungen.

Abb. l

Mit dem zweiten Entwicklungsschritt beginnt der Daumen sich selbständig gegenüber den Fingern zu bewegen (s. Abb. 2). Das Individuum kann nun Gegenstände fest in der Hand halten. Im Handbild entsteht ein Zwischenraum zwischen Daumen und Fingern, ein erster künstlich geschaffener räumlicher Unterschied, der später als ein Maß verwendet wird. Auf der dritten Stufe erhält der Zeigefinger seine eigene Beweglichkeit; mit diesem Stadium beginnen die individuellen Bewegungen, das Zusammenspiel und die Feinkoordination der Finger (s. Abb. 3). Von dieser Stufe an wird die Verwendung von Werkzeugen möglich. Zwischen den beiden sensiblen und beweglichen Flächen von Daumen und Zeigefinger können Gegenstände erspürt werden.

Abb. 2

Abb. 3

16 Diese und die folgenden Abbildungen sind dem Aufsatz von J.-H. Levame (vgl. Anm. 15) entnommen.

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Die Eigenständigkeit der anderen Finger, die auf der vierten und fünften Stufe erworben wird, ist die Folge einer Schulung der Hand (s. Abb.en 4 und 5). Dieser Gebrauch hat bereits so etwas wie einen intelligenten Aspekt; er läßt sich beispielsweise beim Schreibmaschineschreiben und Klavierspielen beobachten.

Abb. 4

Abb. 5

Die Erziehung der Finger, die zu einer wirklichen Dressur werden kann, steigert die Strukturierungsmöglichkeiten der Hand in einem erheblichen Ausmaß. Sie erhöht die motorischen und sinnlichen Fähigkeiten der einzelnen Finger und führt zu äußerst komplexen instrumenteilen, gestuellen und ästhetischen Leistungen (s. Abb. 6). Aufgrund ihrer Artikulationsfähigkeit beginnt die Hand, Raum und Zeit einzuteilen. Die raum-zeitliche Strukturierung tritt insbesondere am Zählen hervor, im Nacheinander der einzelnen Fingerbewegungen, die in einem zeitlichen Ablauf jeweils eine Zahl markieren. Dabei wird nicht nur die einzelne Zahl gezeigt oder genannt, sondern es wird eine Weiterbewegung von Zahl zu Zahl vollzogen. Diese Fähigkeit wird voll entfaltet, wenn alle Finger ihre Eigenständigkeit erlangt haben. Die Hand wird dann das feine Instrument der Gliederung, Strukturierung und Artikulation, die nicht mehr nur gleichförmig, sondern auch nach allen möglichen selbst gesetzten und gefundenen Regeln vorgenommen werden.

Abb. 6

4.2 Das Erzeugen von Ordnungen durch den Gebrauch der Hand Mit Hilfe des Handgebrauchs legt das Subjekt Ordnungen über die vorgefundene und behandelte Welt. Als erste Ordnung ist die räumliche Gliederung zu nennen, wie sie beispielsweise in Strichzeichnungen, Markierungen von Abständen oder von Einheiten auftritt. Dabei folgt die Gliederung der Bewegung; an ihrem Leitfaden wird der Zeitfluß zu einer

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temporal artikulierten Welt strukturiert, in der das Erste vor dem Zweiten und dieses wiederum vor dem Dritten getan wird, eine Welt der gleichförmigen Strukturierung einer Zahlenordnung. Die Hand mit vier und mehr funktionalen Einheiten, die das Individuum beherrschen lernt, ist für gestische und rituelle Bewegungen geeignet. Ihre hohe Differenziertheit und Artikulationsfähigkeit von Raum und Zeit, ihre sinnlichen, gestalthaften Strukturierungen ermöglichen die Ausformung von Symbolen. Die differenzierte Bewegungsfähigkeit der Hand, so der Handchirurg Levame, ist von Natur aus anatomisch und physiologisch vorbereitet, aber der tatsächliche Erwerb dieses Vermögens ist Ergebnis von Schulung, Lernen und Erziehung, das Resultat eines sozialen Prozesses. Dieser geschieht implizit aufgrund des Aufforderungscharakters der Umgebung und explizit mit Hilfe von Handlungsanweisungen, Konventionen, Vorbildern, verlangten gesellschaftlichen Praktiken, die sich ständig wiederholen, beispielsweise beim Essen, Handgeben, Werkzeuggebrauch, Bedienen von Geräten und Spielen von Instrumenten. Der immer weiter differenzierte Handgebrauch erzeugt neue Dimensionen, Bereiche und Schichten der Gegenstandswelt. Nicht nur Objekte außerhalb des Körpers, sondern auch dieser selbst, angefangen bei der Hand und allem, was sie berührt, greift und tastet, wird exploriert und erhält eine Gestalt. Der Körper wird in fein strukturierte Formen gegliedert, mit sensiblen Oberflächen ausgestattet, die wiederum auf die Handintervention taktil, in diesem Fall propriozeptiv, antworten, wobei das Antwortverhalten symbolisch gedeutet und wiedererkennbar gemacht wird. Diese Tätigkeiten bereiten die Benennungen von Körperzonen und ihrer sensiblen Eigenschaften vor; sie richten den Platz ein, den später Empfindungsausdrücke einnehmen werden. Bevor man einen Körperteil bezeichnet, hat man ihn aus seiner Umgebung herausgetastet. Erwachsene versuchen manchmal, wenn sie den Namen eines Körperteils oder einer Empfindung vorübergehend vergessen haben, diesen mit Hilfe von Tastbewegungen wiederzufinden. Die Sprache über Empfindungen beruht auf einer umfangreichen Praxis des Tastens und der Propriozeption. Die Hand selbst ist, obwohl sie viele Eigenschaften einer Sprache besitzt, nicht zum Benennen fähig. Für die Erzeugungen von Bedeutungen ist sie auf die verbale Sprache angewiesen. Deren Benennungen kann sie allerdings dynamisch modifizieren. Sie erzeugt nicht die Identität des Benannten, sondern ist an die jeweils einzelne Erscheinung und Bewegung gebunden. Während eine sprachliche Bezeichnung über alle Einzelgebräuche hinaus gleich bleibt und als ein invariantes Wort für viele unterschiedliche Vorkommnisse verwendet wird, gleicht ein Handgebrauch nie einem anderen. Freilich sind viele verschiedene Verwendungsweisen einander ähnlich. Dieser Umstand ist nicht einfach nur als Nach-

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teil des Handgebrauchs gegenüber der Sprache aufzufassen. „Das Individuum hat ständig wiederkehrende Folgen von Gesten zu reproduzieren, aber muß sie stets adaptieren und organisieren, denn diese sind niemals vollkommen und die materiellen Bedingungen niemals identisch". 17 Die Unmöglichkeit, eine Bewegung exakt zu reproduzieren, ist die Bedingung dafür, daß die Hand sich an immer neue Umstände anpaßt, daß sie Variationen erzeugt, sich immer wieder neu organisiert, von neuem Beziehungen zu anderen Bewegungen des Individuums oder zu anderen Individuen herstellt. Betrachten wir die verschiedenen mit Hilfe des Handgebrauchs entstehenden Ordnungen. Eine von ihnen entsteht aus Berührung, Nachfahren, Nachformen — alle diese Handbewegungen sind produktive Wiederholungen von Dingen der zur Verfügung gestellten Welt, die gestalthaft gegliedert wird. Eine zweite Ordnung ist diejenige der Raumgliederung. Ihre Strukturierung wird durch Spuren oder Inschriften der Hand, die in den Raum hineingreift, erzeugt. Bei der Konstruktion der Raumordnung kooperiert die Hand mit dem Gesichtssinn. Diese Zusammenarbeit setzt sich auf höheren Stufen in immer komplexeren Weisen fort. Die hergestellte räumliche Ordnung strukturiert ertastete und gesehene Räume. Dabei bleiben beide Erfahrungsmodi nicht getrennt, aber verschmelzen auch nicht miteinander, sondern ergänzen und setzen einander fort. Eine der wichtigsten Leistungen der Hand besteht darin, daß sie neue Wahrnehmungsmöglichkeiten, Aspekte und Blickweisen erzeugt. In Hinweisen, in gestischem Spiel, in der Nachahmung von Bewegungen entfaltet sie ihre Kreativität, nämlich die Fähigkeit, eine Fülle verschiedenartiger Referenzen und Ordnungen zu erfinden. Diese protosemantischen Konstruktionen der Hände werden für den Gebrauch sprachlicher Benennungen genutzt. „Worte und Gegenstände wären Ausfluß und Ergebnis eines einzigen einheitlichen Erlebnisses, eben der Darstellung durch die Hände." 18 Dieser Zusammenhang tritt einerseits im Nachspielen hervor, bei dem die Hand zu einer Gestalt des Nachgeahmten gemacht wird, andererseits in zeichnerischen und malerischen Gesten. Zeichnen und Malen nach einem Vorbild ist Vergewisserung einer anderen Welt — die künstlerische Geste gibt die Gewißheit, daß diese vorhanden ist, daß sie der Künstler in einer bestimmten Sichtweise wieder herstellt und dabei auf seine Weise anordnet. Mit diesen letzten Überlegungen ist schon die Strukturierung der Zeit einbezogen worden. Im gestischen Gestalten der Erfahrungswelt wird die Bewegungszeit gegliedert — als Ablauf, Reihenfolge, Geschwindigkeit, Rhyth17 Jean Pelegrin: La main et l'outil prehistorique, 22. 18 Elias Canetti: Masse und Macht, Bd. I, 241.

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mus. Dabei kann die Integration des Raums in ein zeitliches Schema besonders wichtig werden, beispielsweise bei der gestischen Malerei oder in der Musik. Das Zählen geht ebenfalls aus der freien Zeit- und Raumgestaltung hervor. Es beginnt willkürlich mit dem ersten Schritt, dann aber werden die Gestaltungsprinzipien als feste, unveränderbare Regel gesetzt und mit unnachgiebiger Strenge eingehalten. Ebenso geschieht es beim räumlichen Vermessen mit der Hand. Ob man beim Zählen mit der ganzen Hand oder mit einem Finger, von links oder von rechts beginnt, welche Finger man in welcher Reihenfolge verwendet, welche Bezeichnungen gewählt werden, alles dies beruht zwar auf Konventionen, aber ist — im Alltagsgebrauch — absolut nicht verhandelbar. 19 Jeder einzelne muß dabei vorgehen wie alle anderen. Zählen ist ebenso stark gesellschaftlich reguliert wie Messen oder Benennen. Es stehen dabei nicht nur die Bewegungen und die Zahlwörter fest, sondern es wird auch die Bewegungsrhythmik und Geschwindigkeit kontrolliert. Man darf weder zu schnell noch zu langsam zählen, man muß einen bestimmten Bewegungsfluß erzeugen und ihn mit einem gleichförmigen Stimmeinsatz begleiten. Aus diesen Konstruktionsleistungen entsteht eine erste Ordnung des Zählens, eine rekursiv aufgebaute Ordnung, die nicht allein den Bewegungen angehört, sondern eine gedachte ideale Ordnung darstellt, die sowohl die Zeit als auch den Raum mit Hilfe der gedanklichen Prinzipien der Zahlenordnung untergliedert.

4.3 Soziale Ordnungen und symbolische Welten An der gesellschaftlichen Verwendung der Hände setzt eine ganze Zivilisationstechnologie an. Ihre Gelehrigkeit wird genutzt für Werkzeuggebrauch, für Spiele, Malerei, Musik, für das Schreiben und Zählen, für Hindeuten und Hervorheben und für soziale Gestiken. Am Handgebrauch zeigt sich der zivilisatorische Stand einer Person. Die Vielzahl der Sozialtechniken, die hohen Ansprüche an das Verhalten, die Feinheit der Regulierungen, die starke Befrachtung mit Symbolik, die variable Artikulation und die Ritualisierung — alles dies macht die Hände zu außerordentlich regulierten Körperteilen. Die meisten dieser Leistungen gehen ontogenetisch den entwickelten Sprachformen vorher und bereiten diese vor. Selbst sozial erzeugt, wirkt die Hand wesentlich daran mit, der sozialen Welt eine Ordnung zu geben. Die ordentliche Hand ist selbst ordnend. Die großen Orientierungen der Gesellschaft, ihre fundamentalen Einteilungen werden im Handgebrauch vorbereitet. 19 Vgl. Georges Ifrah: Universalgeschichte der Zahlen, 36 — 60.

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Dieser Gedanke wird zum ersten Mal in einer frühen Arbeit von Robert Hertz 20 systematisch entwickelt. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Tatsache der Zweihändigkeit des Menschen. Wenn man nur von „der" Hand spricht, übergeht man die Tatsache, daß die beiden Hände ungleich benutzt werden. Die Differenzierung zwischen rechter und linker Hand und die damit einhergehende ungleiche Verwendung ist nach Hertz über alle Kulturen verbreitet. Mit Hilfe des Handgebrauchs wird das soziale Universum in eine rechte und eine linke Hälfte aufgeteilt und entsprechend der Werte, die rechts und links zuerteilt werden, klassifiziert. Mit der rechten Hand wird gegrüßt, gegessen, gesegnet; sie ist die reine Hand. Ausschließlich mit ihr dürfen bestimmte rituelle Akte vollzogen werden; sie ist die gute Hand. Alle Gegensätze zu diesen Leistungen, Bewertungen und Eigenschaften werden der linken Hand zugeschrieben: Was die rechte darf, ist der linken versagt. Dafür hat diese wiederum Aufgaben in Bereichen des Unreinen zu erfüllen, die die rechte Hand unterlassen muß. Über den Körper wird eine regelrechte Geometrie gelegt, die die Funktionen, symbolischen Deutungen und Bewertungen anordnet. Der Gebrauch beider Hände wird einem Schema der Gegensätzlichkeit, der spiegelsymmetrischen Opposition unterworfen, das zur Einteilung der praktischen Funktionen, symbolischen Gesten und moralischen Bewertungen dient. Vom Körper, von seiner Einteilung aus — in eine geschickte, reine, sozial akzeptierte Hand und ihr Gegenteil — wird eine dualistische Ordung über die Person und das ganze soziale Universum ausgebreitet. Mit der Einteilung von rechts und links wird eine Ordnung der Einschließung und Ausschließung festgesetzt. Sie entscheidet, auf welche Seite ein Mensch oder eine Gruppe gehört, ob auf die Seite des Reinen, Geraden, Angesehenen, des Heiligen oder auf die andere Seite des Unreinen, Ungeraden, des Profanen. Die binäre Differenzierung der großen Weltordnungen haben hier ihren Ausgangspunkt, insbesondere die Einteilung der Menschen nach männlich und weiblich, die wiederum mit einer Geographie der Symbole und Werte überzogen wird. Diese Gliederung des Raums ist, im Unterschied zu jener des Zählens und Messens, keine ideale; sie wird nicht nach einem Regelsystem konstituiert. Im unterschiedlichen Gebrauch der beiden Hände wird eine Ordnungs- und Urteilsstruktur hervorgebracht, die über Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit, über Annahme und Ablehnung, über rein und unrein, gut und schlecht entscheidet. Nach dem Modell der Körperdualität von rechts und links bauen traditionelle Gesellschaften die symbolische Darstellung 20 Robert Hertz: La preeminence de la main droite.

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ihrer Sozialordnung auf. Auf diese Weise werden die Schneidungen des sozialen Raums als Positionen rechts und links einer gedachten Trennungslinie metaphorisch kartographiert. Vom Handgebrauch selbst geht keine Wertung aus, aber er erzeugt eine Art und Weise des Ordnens, ein Sprachspiel, das den Spielrahmen, den Spielraum und die Spielanlage für Bewertungen bereitstellt. Was die Hand so wichtig für das Denken macht, ist ihre Fähigkeit, Darstellungsmöglichkeiten zu finden oder zu erfinden und auszugestalten. Sie besitzt in eins mit ihrer praktischen auch eine darstellerische Funktion. So ist das Zugreifen ein praktischer Akt des Festhaltens, des In-Besitz-Bringens; es zeigt zugleich die Macht des Greifenden über den Ergriffenen. Es stellt das Verfügen-Können über das, was sich greifen läßt, dar. Im Akt des Greifens — so läßt sich diese Handlung interpretieren — führt die Hand das Verhältnis von Macht und Unterordnung auf, wie ein mikroskopisches Theaterstück des Alltagslebens, mit einem Bühnenraum, einer Rollenverteilung und einer Handlungsstruktur. In analoger Weise läßt sich auch das Hindeuten beschreiben. Hierbei verfügt das Individuum nicht über den Gegenstand, es zeigt auf diesen und läßt ihn, wie er ist. Im ,Theaterspiel' des Hindeutens sind viele Erfahrungen präsent, die die Hand mit dem gezeigten Gegenstand (oder vielen anderen Dingen, die diesem ähnlich sind) zuvor gemacht hat. Die ,Rolle' des Gegenstands, auf den hingedeutet wird, ist in früheren Gebrauchsweisen bereits exploriert und erarbeitet worden. Im Werkzeuggebrauch wird das Spiel des Hindeutens fortgesetzt und weiter ausgestaltet. Der Gegenstand selbst wird mit regelhaften und ihm angepaßten Bewegungen behandelt und — im instrumenteilen Gebrauch — auf ein anderes zu bearbeitendes Objekt angewendet. In diesem Spiel wird der ergriffene Gegenstand als Werkzeug dargestellt. Es wird gezeigt, wie er als Instrument auf ein entsprechendes Objekt angewendet wird und wie er dies verändert. Der Werkzeuggebrauch von symbolischen Gegenständen ist, nach einem Gedanken Wittgensteins, das Modell des instrumentellen Gebrauchs von Benennungen. 21 Die Produktionen der ,Handspiele' sind selbst noch keine Erkenntnisse, sondern konstruierte Ordnungen, die in Handlungen erzeugt werden und die Voraussetzungen für Erkenntnisse herstellen. Erzeugt werden sie im Wiederholen, Hindeuten, artikulierten Handgebrauch und in der unterschiedlichen Verwendung der rechten und linken Hand sowie in der instrumentellen Benutzung der Hand. Die ,Handspiele' gehören zweifellos zu den ersten und wichtigsten Spielen im Leben des Menschen; sie lassen sich als Vorgänger der Sprachspiele ansehen. Ihre wesentliche 2l Vgl. Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen (PU) § 14 f.

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Leistung besteht darin, daß sie die elementaren Regularitäten der Sprachspiele ausbilden, indem sie regelhafte Handlungsweisen in Bezug auf alles, was von der Hand erfaßbar ist, und eine verhaltensstrukturierte Umwelt erzeugen. Auf diese Weise tragen sie dazu bei, sowohl individuelle als auch gesellschaftliche Ordnungen herzustellen. Die regelhafte Verwendung der Hand gibt dem Handeln, Wahrnehmen und Denken eine grundlegende Systematik, die aus dem Berühren, Ergreifen, Zeigen, Anordnen entsteht. Aus ihr werden auf den weiteren Entwicklungsstufen erste Sprachspiele und eine strukturierte Umwelt hergestellt. Die Art und Weise, wie die ersten Umwelten beschaffen sind, kann auf höheren Stufen des Denkens korrigiert werden. Aber die Tatsache des Körpergebrauchs und der daraus konstruierten Welten kann nicht mehr zurückgenommen werden. Denn die regelhafte Verwendung des Körpers macht erst spätere Korrekturen und Zweifel möglich. Die durch den Handgebrauch hergestellten Ordnungen sind notwendige Bedingung von Erkenntnis und Sprache. Wittgensteins zentrale Kategorie des Gebrauchs findet ihre Fundierung in der materiellen Form des Körpers, die von der Verwendung der Hände exemplifiziert wird. Die Umwelt nimmt durch das handelnde Subjekt in der Weise Gestalt an, wie seine Hände mit ihr umgehen. 22 Zu sagen, sie entstehe durch Gebrauch, heißt annehmen, daß sie in der sozialen Praxis mit Hilfe des Körpers, insbesondere der Hände geformt wird. Es ist kein Zufall, daß Wittgenstein in den „Philosophischen Untersuchungen" seine Annahme, der Gebrauch von Wörtern konstituiere, in den meisten Fällen, deren Bedeutungen, immer wieder an Beispielen des Handgebrauchs exemplifiziert: am Zugreifen, Herreichen, Fassen, Hinweisen. Die variable Funktionsweise sprachlicher Ausdrücke wird mit derjenigen von Gegenständen verglichen, die mit der Hand bewegt werden und deren Funktionen fortsetzen oder erweitern: mit Werkzeugen und Handgriffen. 23 Der Spracherwerb wird als Erlernen eines Umgehens mit Gegenständen, mit symbolischen Objekten, dargestellt. 24 Wenn jemand den Gebrauch eines Wortes lernt, geschieht dies nicht, weil er schon die Regel weiß, „sondern dadurch, daß er in anderm Sinn schon ein Spiel beherrscht" (Wittgenstein PU § 31). In vielen Fällen ist der Wortgebrauch eine Art „Greifen" zu Namen für Dinge. Bedeutungen werden durch Greifen erzeugt; sie entstehen aus der Tätigkeit der Hand — auf höheren Ebenen im symbolischen, auf unteren Ebenen im wörtlichen Sinn. „Eine Bedeutung eines Wortes ist 22 Der Ausdruck „Umwelt" ist insofern etwas mißverständlich, als durch den Handgehrauch der eigene Körper des Handelnden ebenfalls Gestalt gewinnt. 23 Vgl. Wittgenstein PU § 11 und § 12. 24 Vgl. Gunter Gebauer: Über Aufführungen der Sprache.

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eine Art seiner Verwendung. — Denn sie ist das, was wir erlernen, wenn das Wort zuerst unserer Sprache einverleibt wird." 25 Auf den höheren Ebenen wird eine neue Wortbedeutung dem ,Sprachkörper' wie eine Erweiterung des Körpers „einverleibt". Durch Benennungen wird die Umwelt in einem realen und symbolischen Körper aufgenommen; daher sind sie viel tiefer verankert als nur in reinen Abmachungen und Übereinkünften. Lange bevor ein Kind sprachliche Ausdrücke für Gegenstände seiner Umgebung erwirbt, hat es in seinen primitiven Sprachspielen seine Umgebung symbolisch geordnet und auf diese Weise von ihr Besitz ergriffen.

5. Schlußbemerkungen In dieser Arbeit habe ich versucht, eine Beziehung zwischen dem Köpergebrauch und den symbolischen Ordnungen herzustellen, die eine der wichtigsten Voraussetzungen der Sprache sind. Tatsächlich muß es solche Ordnungen schon geben, wenn sprachliche Benennungen, Qualifikationen und Klassifikationen eingeführt werden. Diese Voraussetzung kann weder durch Denken noch durch Handeln allein hervorgebracht werden. Die Erfahrungswelt steht nicht schon fertig vor den Individuen, sondern sie muß Stück für Stück in diese hinein geholt werden. Die Vorausetzung der Sprachmäßigkeit des Körpers ist die vorgängige Sprachmäßigkeit der sozialen Welt und der menschlichen Praxis. Mit Hilfe der Inkorporation kommt es dazu, daß die Geregeltheit der Erfahrungswelt als subjektive Strukturen nacherzeugt wird und in die Grundlagen der Praxiserfahrungen der Individuen eingeht. Als erstes habe ich auf die soziale Rolle des Körpers, seine Sprachmäßigkeit und seine Fähigkeit, intelligent zu handeln, aufmerksam gemacht; als zweites auf die Strukturierung der gesellschaftlichen Welt, der Handlungen und der Subjekte; als drittes auf die wechselseitige Konstituierung von Subjekt und Welt, mit der die objektiven Strukturen der gegebenen Welt und die subjektiven Ordnungen der Handelnden weitgehend in Übereinstimmung gebracht werden. Mit Hilfe seines Körpers, seinen Sinnen und Handlungen verbindet sich das Subjekt mit der sozialen Welt, in die es gehört, und bildet auf einer präreflexiven Stufe inkorporierte Strukturen heraus, die den objektiven Ordnungen der sozialen Welt entsprechen. 26 Die Gesellschaft nimmt im Handeln der Individuen konkrete Gestalt an. Sie wird von den Individuen angeeignet, in sie hineingenommen und gestaltet. Auf der anderen Seite eignet sich auch die 25 Ludwig Wittgenstein: Über Gewißheit § 61. 26 Pierre Bourdieu: Meditations pascaliennes, 212 f.

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Gesellschaft die Individuen dadurch an, daß sie ihnen bestimmte Positionen im strukturierten sozialen Raum zur Verfügung stellt. Weit entfernt, einen Gegensatz zu bilden, hat das Gesellschaftliche eine subjektive und das Subjektive eine objektive Seite.

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Gunter Gebauer

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Grammatik zwischen Psychologie und Logik Überlegungen zur Genese von Sprachkompetenz KUNO LORENZ

1. 2. 3. 4. 5.

Einleitung Die Neubesrimmung der Semiotik durch C. S. Pcirce Von der Handlung zum Sprachzeichen Grammatik in Kunst und Wissenschaft Literatur

1. Einleitung Ursprünglich wurde unter Grammatik ganz allgemein ein Wissen von der Sprache verstanden, wobei dieses Wissen in einer Fertigkeit bestand — zunächst das Lesenkönnen —, die nicht ihrerseits noch einer sprachlichen Artikulation bedurfte: Das als Grammatik tradierbare Sprachwissen war operational und nicht propositional. Damit gehörte sie zu den poietischen Disziplinen, die in der Einteilung von Aristoteles gegenüber den theoretischen und den praktischen Disziplinen von minderem Rang war. Sie war weder eine auf Wahrheitsermittlung gerichtete Lehre — theoretische >Philosophie< oder Wissenschaft im engeren Sinn — noch eine mit dem Gut-Lebenkönnen befaßte Lehre — praktische >Philosophie< oder Wissenschaft im weiteren Sinn — mit der Folge, daß Sprache als Gegenstand einer theoretischen oder auch einer praktischen Wissenschaft im Sinne von Aristoteles nicht so ohne weiteres in Frage kam. Die Grammatik hatte nicht, wie eine theoretische Disziplin, die Aufgabe, nach Gründen (für die Geltung von Sätzen) zu suchen, und genau so wenig hatte sie die den praktischen Disziplinen gestellte Aufgabe zu lösen, (die für die Güte von Handlungen maßgebenden) Ziele zu bestimmen. Als eine sprachliche Fertigkeit teilte sie diesen Status mit den beiden anderen sprachlichen Fertigkeiten, der Dialektik bzw. Logik und der Rhetorik, die seit dem 4. Jahrhundert die ersten drei, das >TriviumFreien< bildeten. Sie unterschied sich jedoch von diesen beiden dadurch, daß ausdrücklich zwar die logischen Fertigkeiten im Rahmen der Geltungssicherung von den theoretischen Wissenschaften in Anspruch genommen und die rhetorischen Fertigkeiten von den praktischen Wissenschaften für die Anerkennung der Ziele benötigt werden, aber für die grammatischen Fertigkeiten keine besondere Rolle in den Wissenschaften vorgesehen war. Diese besondere Rolle erhielt die Grammatik stattdessen nach dem Vorbild der Poetik des Aristoteles in den (sprachlichen) Künsten. In allen drei Fällen sind es durch Übung zu Fertigkeiten ausgebildete sprachliche Fähigkeiten, die in den Wissenschaften und Künsten in jeweils besonderer Weise zur Geltung kommen. Unter Verwendung einer gegenwärtig üblichen Terminologie kann man davon sprechen, daß bei den logischen Fertigkeiten die semantische Kompetenz, bei den rhetorischen Fertigkeiten die pragmatische Kompetenz, bei den grammatischen Fertigkeiten hingegen die syntaktische Kompetenz eingesetzt wird; alle drei Kompetenzen zusammen erst machen die Sprachkompetenz aus. Wenn daher von Grammatik als Sprachwissen die Rede ist, so ist auf eine Zweideutigkeit zu achten. Sprachwissen bezieht sich als grammatische Fertigkeit weder auf ein Wissen über die beabsichtigte oder eintretende (praktische) Wirkung von Sprachhandlungen noch auf ein Wissen über die erwartete oder bestehende (theoretische) Zuverlässigkeit von Sprachzeichen, auch wenn für diese beiden Wissensformen, auf die man sich unter anderem beim Erwerb von Weltwissen stützt, grammatische Fertigkeiten ebenfalls in Anspruch genommen werden: im ersten Fall beim Aufbau einer Kommunikationstheorie, im zweiten Fall beim Aufbau einer Beweistheorie, zweier Hilfsdisziplinen, die dem Erwerb von (praktischem und theoretischem) Weltwissen dienen. Wird hingegen Sprachwissen als ein (sprachlich artikuliertes) Wissen über die (allgemeine) Sprachkompetenz beziehungsweise ihre (besondere) Realisierung in einer Sprachperformanz angesehen, so sind sämtliche sprachliche Fertigkeiten der Gegenstand dieses (propositionalen) Wissens; die sprachlichen Fertigkeiten treten in diesem Fall nicht selbst schon als (operationales) Wissen auf. Die genannte Zweideutigkeit läßt sich terminologisch mit der Unterscheidung von Grammatik und Linguistik leicht beheben. Es ist dann auch verständlich, inwiefern Grammatiktheorie nur als Bestandteil der Linguistik erscheint, als ein Wissen allein über die grammatischen, nicht aber die übrigen sprachlichen Fertigkeiten. Schwieriger ist es, der mit dem Übergang vom operationalen Wissen der Grammatik zum propositionalen Wissen der Linguistik einhergehenden Bedeutungsverschiebung des Ausdrucks ,Sprache' in ,Sprachwissen' gerecht zu werden. In welchem Sinne sind die von der grammatischen Fertigkeit und damit der

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syntaktischen Kompetenz unterschiedenen sprachlichen Fertigkeiten, traditionell also die rhetorischen und die logischen Fertigkeiten als Ausdruck pragmatischer und semantischer Kompetenz, überhaupt sprachspezifisch, setzen also die Sprache nicht nur als ein bloßes Hilfsmittel ein — für ein Wissen über die "Wirkungen von Sprachhandlungen beziehungsweise ein Wissen über die Zuverlässigkeit von Sprachzeichen? An dieser Stelle ist es unerläßlich, auf eine eigentümliche Doppelrolle der Sprache einzugehen, was helfen wird, auch die titelgebende Zwischenstellung der Grammatik zwischen Psychologie und Logik aufzuklären. Auf der einen Seite nämlich gehört Sprache als ein Zeichensystem, wird es verwendet, zu den Hilfsmitteln, die Welt der (äußeren) Gegenstände, der Partikularia, zugänglich zu machen, während sie auf der anderen Seite selbst einen Bereich (erzeugter) Gegenstände oder Artefakte bildet, die sich ihrerseits untersuchen lassen. Aber damit nicht genug! Die Zeichenfunktion der Sprache wird auf die Ausübung besonderer >mentaler Handlungen zurückgeführt, die als >Denken< gegenwärtig sowohl in (empirisch) psychologischer Hinsicht zum Gegenstand der Kognitionswissenschaft als auch in (rational) logischer Hinsicht zum Gegenstand der Philosophie des Geistes gemacht werden, aber selbstverständlich die philosophische Tradition schon seit langem begleiten. Die Sprache als Gegenstand wiederum wird ebenfalls seit langem als Verkörperung des Geistes angesehen, also besonderer >mentaler Gegenstände^ die in traditioneller Redeweise rational als >sinnliche Gestalt< eines begrifflichen Gehalts< und empirisch als Ausdruck psychischer Phänomene gelten; diese aber werden von der Logik beziehungsweise von der Psychologie untersucht. Es sieht daher so aus, als stehe die Sprache als Gegenstand zwischen der >inneren< Welt des Geistes oder der Seele und der >äußeren< Welt der Partikularia, indem sie die innere Welt versinnlicht und die äußere Welt versprachlicht, während die Sprache in ihrer Verwendung, zum Beispiel in der Rede, sich zwischen Kognition und Aktion befindet: Als Zeichenhandlung repräsentiert sie eine innere Welt, als Zeichenhandlung greift sie in die äußere Welt ein (vgl. Lorenz 1997). Zeichenhandlungen gehören zu den Handlungen, Zeichenhandlungen gehören zu den Zeichen. Es bedarf einer diese mittlere Stellung zwischen Gegenständen auf der einen Seite und Zeichen für Gegenstände auf der anderen Seite zur Geltung bringenden Rekonstruktion des Begriffs einer Zeichenhandlung, speziell einer verbalen Zeichenhandlung oder Sprachhandlung, um unter den sprachlichen Fertigkeiten die grammatischen Fertigkeiten als im engeren Sinne sprachspezifisch begreifen zu können. Erst dann wird sich auch einsehen lassen, daß unter dem üblichen Verständnis der semantischen Kompetenz, die hauptsächlich von den beiden großen Theoriesorten thematisiert wird, einer Theorie des Verste-

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hens oder Bedeutungstheorie und einer Theorie des Anerkennens oder Wahrheitstheorie — ihre Verallgemeinerungen in Theorien der Bedeutsamkeit bzw. der Geltung können hier nicht mit einbezogen werden —, das operational Sprachwissen der Grammatik und damit die syntaktische Kompetenz lediglich Hilfsfunktion hat. Denn in einer (von Aussagen handelnden) Wahrheitstheorie ist mit der Ausnahme des Falles formaler Wahrheit, die tatsächlich ein Fall bloß >grammatischer Geltung< zu sein scheint, allein der gegenständliche Bezug maßgebend, wie es sich an Verfahren des Beweisenkönnens von Aussagen (über Gegenstände) ablesen läßt. Die für den gegenständlichen Bezug wiederum erforderlichen Hilfsmittel werden in einer Bedeutungstheorie (von prädikativen Ausdrücken) behandelt, und zwar in der Regel in Gestalt einer Untersuchung der Beziehung zwischen Zeichen und Gegenständen entweder als Beziehung zwischen zwei Sorten von >Sachen< oder als Beziehung zwischen zwei Sorten von >Namen< mit den jeweiligen Konsequenzen für den Typ der entstehenden Bedeutungstheorie. Dazu gehört dann auch die Bestimmung des Status der selbst gegenständlich aufgefaßten Hilfsmittel, etwa der Vorstellungen (und Begriffe) als psychologischer Mittel oder der Klassen (und Begriffe) als logischer Mittel. Der eigenständige Beitrag der (speziell verbalen) Zeichen selbst, den sie für die Bestimmung der bezeichneten Gegenstände spielen, ihr >grammatischer SinnWissenschaft von den allgemeinen Zeichengesetzen< als Verallgemeinerung der bei J. Locke (An Essay Concerning Human Understanding IV 21, §4) auch schon als ,Semiotik ( )' bezeichneten Logik

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eine der drei normativen Disziplinen — neben Ethik und sthetik — und ihrerseits in drei Teile gegliedert: eine spekulative GrammatikKritikMethodeutiktokensverstandenSymbolisierung der Welt< als korrelativ und dadurch nur gleichzeitig lösbar begriffen. Die beiden Hauptfragen einer das Verhältnis von Sprache und Welt thematisierenden philosophischen Semantik, die ontologische ,Was sind Bedeutungen?' und die epistemologische ,Wie bedeuten Zeichen [etwas]?', müssen daher ebenfalls im Verbund behandelt werden. Das geschieht im Rahmen einer Frage nach der Relation zwischen >Namen< und >Sachenrealistischen< Semantiken die Bedeutungsrelation eine externe Relation zwischen Individuen zweier Gegenstandssorten ist (gegebenenfalls wird nur die davon induzierte Relation zwischen den jeweiligen Zeichentypen und Gegenstandstypen — letztere intensional als Schema oder extensional als Klasse — für relevant erachtet); (2) Sachen werden wie Namen behandelt, treten also in Gestalt ihrer mentalen Repräsentationen auf, was ebenfalls eine externe Bedeutungsrelation zur Folge hat, in diesem Fall >mentalistischer< Semantiken aber zwischen Individuen zweier Zeichensorten oder gleich zwischen deren Typen. Die Probleme beider Ansätze und auch von deren Verknüpfung in der kanonischen Fassung von der doppelten Bedeutung sprachlicher Ausdrücke sind bekannt. Was bleibt ist die Option: (3) Namen werden von vornherein als (universale) Züge an individuellen Gegenständen, wie sie durch schematisierenden Umgang mit ihnen gewonnen werden, und Sachen als zugänglich in (singular) aneignenden Aktualisierungen eines Umgangs mit ihnen behandelt. Bei dieser Option, die dem skizzierten Modell dialogischen Handlungskompetenzerwerbs zugrundeliegt, geht es bereits auf beiden Seiten, der Namenseite und der Sachenseite, um den Zusammenhang von Zeichen und Bezeichnetem: auf der Namenseite in der Bewegung vom bloß unterstellten Zeichen zum gegenstandsbezogenen Zeichen und auf der Sachenseite vom bloß unterstellten Gegenstand zum bezeichneten Gegenstand. Die Bedeutungsrelation ist eine interne, weil jeweils eines der Relata vom anderen durch die Relation erst aufgebaut wird. Die beiden Bewegungen, vom Zeichen zum Gegenstand (des Zeichens) und vom Gegenstand zum Zeichen (für den Gegenstand), liegen in der Artikulation verknüpft vor, wenn man sich ihre beiden Seiten klar vor Augen führt. Die pragmatische Seite einer (verbalen) Artikulation findet sich in ihrem ihrerseits pragmatischen Zweig als Sprechen oder Schreiben wieder, in ihrem semiotischen Zweig hingegen als Hören oder

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Lesen. Die semiotische Seite einer (verbalen) Artikulation wiederum ist pragmatisch Kommunikation — etwas [aus]sagen — und semiotisch Signifikation — etwas [be]nennen — , wobei die Kommunikation als Prädikation in einem Modus, d. h. als Satz, und die Signifikation als Ostension in einer Gegebenheitsweise, d. h. als Wort, auftritt. Solange allerdings keine grammatisch realisierte Trennung der Satzrolle und der Wortrolle vorliegt und damit in der Artikulation das, wovon etwas gesagt wird, und das, womit etwas gesagt wird, stets zugleich auftreten, läßt sich allein grammatisch bestimmtes Sprachwissen aus dem symptomatischen oder symbolischen Weltwissen nicht herauslösen. Ein in vielen Sprachen verwendetes grammatischen Hilfsmittel, Wortund Satzrolle eines Artikulators zu unterscheiden, ist die Aufspaltung der semiotischen Seite eines Artikulators in einen >Nominator< mit rein benennender Funktion und einen >Prädikator< mit rein aussagender Funktion unter Verwendung der beiden jeweils eine der beiden Funktionen löschenden Operatoren >Demonstrator< (,dies') und >Kopulawomit< benannt wird. Das weltbezogene Verstehen allerdings — >wovon< die Rede ist — hängt davon ab, ob man auch den Gegenstand kennt, dem der prädikative Ausdruck zukommt. Dabei bezieht sich das sprachbezogene Verstehen stets auf den Nominatorentyp, während sich das weltbezogene Verstehen von Äußerung zu Äußerung desselben Nominators ändern kann, z. B. bei Indikatoren wie ,hier' oder deiktischen Kennzeichnungen wie ,dies Haus'. Auch Aussagen sind in der kanonischen Semantik Nominatoren, deren Sinn bei Frege als Gedanke bezeichnet wird und das sprachbezogene Verstehen der Aussage regiert. Der Gedanke wird benötigt, um die weltbezogene Geltung oder Nicht-Geltung der Aussage und damit ihre Referenz, nämlich ihren Wahrheitswert, in Gestalt einer Beurteilung des Gedankens feststellen zu können. Prädikatoren werden als Ausdrücke für Aussagefunktionen aufgefaßt, deren Werte Sinn oder Referenz einer Aussage sein sollen. Zu diesem Zweck müssen die Aussagefunktionen einerseits sinnbezogen oder >intensional< und andererseits referenzbezogen oder >extensional< bestimmt werden. Diese Forderung läßt sich durch Abstraktion in Bezug auf zwei verschiedene Äquivalenzrelationen zwischen prädikativen Ausdrücken erfüllen: die weder rational-logische noch empirisch-psychologische sondern grammatische Relation der Synonymic im intensionalen Fall und die empirische Relation der generellen (materialen) Äquivalenz

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im extensionalen Fall. Als Sinn der Prädikatoren erhält man die Begriffe und als ihre Referenz die Klassen. Läßt sich die Geltungsfrage für eine Aussage begrifflich beantworten, weil nur vom sprachbezogenen Verstehen des Nominators Gebrauch gemacht wird (z. B. ,Pegasus ist ein geflügeltes Pferd'), so liegt ein Fall reinen Sprachwissens vor, wird auch das weltbezogene Verstehen des Nominators benötigt (z. B. ,dieses Pferd ist ein Schimmel'), so erhalten wir Weltwissen. Symbolisches und symptomatisches Weltwissen wiederum läßt sich daran unterscheiden, daß wir es im symbolischen Fall mit einer Aussage zu tun haben, bei der (im einstelligen Fall) ein Partikulare als ein Ganzes der Träger einer Eigenschaft ist (z. B. ,dies ist braun' zu lesen etwa als ,dieser [Zweig-Stoff, den ich, ihn durch Aktualisierung eines Umgehens mit ihm aneignend, hervorbringe] ist ein (stofflicher) Träger der Eigenschaft Braunsein'; im symptomatischen Fall hingegen beruht dieselbe Aussage auf dem Anzeigen von Braun als einem Ganzen, d.i. die >Substanz< Braun in traditioneller Terminologie, an einem Partikulare als einer Invariante, wiederum etwa einem Zweig, also: ,diese [Zweig-Form, die ich, mich durch Schematisierung eines Umgehens mit ihm distanzierend, wahrnehme] ist eine Erscheinung der Substanz Braun'. Die Möglichkeit von Prädikation und Ostension beruht darauf, daß sich die (inneren) Phasen eines Partikulare durch Attribution einer Eigenschaft und seine (äußeren) Aspekte durch Ausstattung mit einem Teil wiedergeben lassen.

4. Grammatik in Kunst und Wissenschaft Wendet man diese Überlegungen abschließend auf den besonderen Fall künstlerischer und wissenschaftlicher Tätigkeit an, so ergibt sich das folgende Bild. In der dritten behandelten Option der Bedeutungsrelation sind Sachen in singular aneignenden Aktualisierungen eines Umgangs mit ihnen zugänglich. Da es bei künstlerischer Tätigkeit jedoch um reflektierte Kenntnis geht, handelt es sich bei den Sachen bereits um Zeichen. Sie derart zugänglich zu machen, daß Mimesis durch Poiesis erreicht wird, bedeutet daher, sowohl die partikularen Zeichenträger als auch die für sie maßgebende symptomatische Zeichenfunktion herzustellen, um so die Bezeichneten als Ganzheiten über die Formen ihrer Teile kennenzulernen. Dabei ist die Herstellung der Zeichenfunktion in Gestalt der komprehensiven Vermittlung eine Aufgabe, die nur über eine pragmatisch fundierte Syntax, also die als Aufbauregeln auftretenden Verwendungsregeln für die Zeichenträger, im verbalen Fall die Artikulatoren, und deren Komposition gelöst werden kann. Werden nur die Zeichenträger, nicht aber die Zeichenfunktionen hergestellt, letztere vielmehr als gegeben angesehen, so liegt Mimesis der Bezeichneten als Invarianten ohne Vermittlung durch Poiesis vor.

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Aus der umgekehrten Bestimmung der Bedeutungsrelation, bei der Namen als universale Züge an individuellen Gegenständen auftreten, folgt für den Fall wissenschaftlicher Tätigkeit, der es um reflektierte Erkenntnis geht, daß die Namengebung selbst bereits der Gegenstand ist, dessen universale Züge zu artikulieren sind. In der Erforschung der für die Namengebung verantwortlichen Termzusammenhänge geht es um die Bestimmung der Gegenstände als Träger ihrer Eigenschaften und damit um den Aufbau einer referentiellen Semantik. Soll diese Forschung Grundlage für die Darstellung sein, so werden im Aussagezusammenhang die Bezeichneten als Invarianten ihrer Eigenschaften nur über den Termzusammenhang erkannt. Geschieht hingegen Darstellung unabhängig von Forschung, so ist die referentielle Semantik lediglich unterstellt, wie zum Beispiel bei formalsprachlicher Darstellung wissenschaftlicher Theorien. Grammatische Kompetenz als operationales Wissen vom Bau und der Verwendung der Syntax von Zeichensystemen spielt in der Wissenschaft wegen des durch Forschung fundierten symbolischen Charakters wissenschaftlichen Wissens grundsätzlich nur die Rolle einer Hilfsdisziplin, während sie für die Künste, ganz im Einklang mit einer klassischen Tradition, wegen des durch Poiesis erzeugten symptomatischen Charakters künstlerischen Wissens das wesentliche Instrument darstellt. Das erklärt, warum sich in wissenschaftlicher Perspektive die Grammatik zwischen Logik und Psychologie nur so schwer behaupten kann, sie jedoch in künstlerischer Perspektive eine so zentrale Rolle spielt.

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Kommunikation und Rationalität GEORG MEGGLE

1. 2. 3. 4. 5.

Intentionales Handeln, Verstehen und Rationalität Kommunikatives Handeln Intersubjektive Bedeutung Kommunikative Rationalitätsannahmen Literatur

1. Intentionales Handeln, Verstehen und Rationalität 1.1 Kommunikative Handlungen sind Handlungen, mit denen wir unsere jeweiligen Ziele auf kommunikativem Wege zu erreichen beabsichtigen, also spezielle Fälle eines Handelns mit einer Absicht. Charakteristisch für ein kommunikatives Handeln ist, daß es aus der Sicht des Handelnden genau dann erfolgreich ist, wenn es vom Adressaten verstanden wird. Kommunikative Handlungen sind also ein Sonderfall intentionalen bzw. instrumenteilen Handelns. Sehen wir uns daher vor einer Betrachtung dieses Sonderfalls etwas genauer an, was intentionale Handlungen sind, wann solche Handlungen erfolgreich sind, und was es heißt, eine solche Handlung zu verstehen. 1.2

Wir schreiben: T(X,f) für: X tut (zum Zeitpunkt t) die Handlung f G(X,A) für: X glaubt (zu t), daß A P(X,A) für: X will (zu t), daß A

Auf diesem minimalen T-G-P-Alphabet beruht alles weitere. Daß eine Person X etwas mit einer bestimmten Absicht tut, können wir mit diesen 3 Grundbausteinen einfach so erklären: 1 Ganz so einfach, wie hier unterstellt, sind die Dinge in Wirklichkeit natürlich nicht. Das gilt auch für alle folgenden Bestimmungen. Genaueres in: Grundbegriffe der Kommunikation, 19972. Zu ebenfalls vereinfachten Versionen siehe Meggle (1993 b) und (1996). Nur eine der wichtigsten nötigen Änderungen sei genannt: In der Erfolgserwartung wären statt der simplen Äquivalenz selbstverständlich echte Konditionalrelationen anzusetzen.

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Dl

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I(X,f,A) := T(X,f) & P(X,A) & G(X,A = T(X,f)) X intentiert/beabsichtigt mit seinem f-Tun zu erreichen, daß A, gdw. X f tut, X will, daß A, und X glaubt, daß A gdw. X f tut.

Erfolgreich ist ein solches Handeln von X gdw. X mit seiner Erfolgserwartung G(X,A = T(X,f)) Recht hat, d.h., gdw. A = T(X,f). Den Sachverhalt A, also das, was die Person X mit ihrem Tun zu erreichen beabsichtigt, bezeichnet man auch als Ziel ihres Tuns. Und natürlich kann man mit ein und derselben Handlung auch mehrere Ziele verfolgen. (Ein simples Beispiel: Xaver schmeißt einen Stein gegen eine Scheibe — und will damit dreierlei Ziele erreichen: erstens, daß die Scheibe in die Brüche geht; zweitens, daß sich Frau Maier, zu deren Wohnung die betreffende Fensterscheibe gehört, saumäßig ärgert; drittens, daß er, der Xaver, der Frau Maier damit deren ständige Rummeckereien heimzahlt.) Gelegentlich sind derartige Ziele hierarchisch geordnet. Ist aus der Sicht von X das Ziel B seinerseits nur Mittel zum Zweck des Erreichens von Ziel A, so heiße Ziel A gegenüber dem Ziel B primär. (So wäre zum Beispiel Xavers zweites Ziel gegenüber dem ersten und sein drittes Ziel den beiden anderen Zielen gegenüber primär.) Das primäre Ziel wäre dann das Ziel, das gegenüber allen anderen Zielen primär ist. 1.3 Was heißt es, eine (im obigen Sinne) intentionale Handlung zu verstehen? Hierfür gibt es verschiedene Ansätze. Zum Beispiel den, den G. H. von Wright in seinem für die ganze Verstehensdebatte so einflußreichen Werk Explanation and Understanding (1971) vorgeschlagen hat: (V-PS)

Wir verstehen eine Handlung gdw. wir sie als Konklusion eines (passenden) Praktischen Schlusses ansehen

— wobei wir uns einen solchen Schluß hier schlicht wie folgt vorstellen dürfen: (PS)

(1) (2)

P(X,A) G(X,A = T(X,f))

(3)

T(X,f)

Die beiden Prämissen (1) und (2) erfassen, wie von Wright sagt, den 'oluntatii'-kognitiven Aspekt der Handlung. Er ist nichts anderes als die Absicht bzw. die Intention, mit der die betreffende Handlung vollzogen wird. Man kann daher ein Verstehen äquivalent auch so definieren: (V-lNTENTio) Wir verstehen eine Handlung gdw. wir die Absicht kennen, mit der sie vollzogen wurde/wird.

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Georg Meggle

Absichten sind nun aber insofern etwas strikt Subjektives, als man sie (die Absichten) genau dann hat, wenn man überzeugt ist, daß man sie hat. Das paßt nun wiederum genau zu dem, was Max Weber über das (einschlägige) Handlungs-Verstehen sagt: (V—MW)

Wir verstehen eine Handlung gdw. wir den subjektiven Sinn der Handlung kennen.

Der subjektive Sinn der Handlung ist dabei nichts anderes als die Bedeutung bzw. die Funktion, den die betreffende Handlung für das jeweilige Handlungs-Subjekt selber hat. Wir kennen diesen Sinn, wenn wir wissen, welchen Sinn und Zweck das Handlungs-Subjekt selber mit seinem Tun verbindet. Das aber wissen wir, wenn wir wissen, welches Ziel mit der Handlung verfolgt wird und wie der Handelnde dieses Ziel erreichen zu können glaubt. Kurz: Wenn wir die entsprechende Handlungsabsicht kennen. 1.4 Alle bisher betrachteten Verstehens-Erklärungen laufen also auf dasselbe hinaus. Das ist schön. Aber noch hat diese Schönheit ein dickes Manko: Der hinter all diesen Verstehens-Erklärungen stehende Praktische Schluß (PS-1) ist so, wie er dasteht, leider nicht gültig. Gültig ist lediglich der folgende schwächere Schluß: (PS-RATio)

(1) P(X,A) (2) G(X,A ^ T(X,f)) (3*) Rational:T(X,f)

Aus den Prämissen dieses Schlusses folgt nur, daß es für X rational ist bzw. rational wäre, f zu tun, nicht, daß X tatsächlich f tut oder tun wird. Letzteres ergibt sich nur, wenn für die betreffende Situation darüber hinaus auch noch die sogenannte Rationalitätsunterstellung gilt, d. h., wenn X sich in der betreffenden Situation insofern rational verhält, als er auch tatsächlich tut, was zu tun für ihn rational ist oder wäre. Daß diese Rationalitätsunterstellung zutrifft, das setzen wir beim Verstehen einer Handlung voraus. 1.5 Hinter allen obigen Verstehens-Charakterisierungen steckt also letztlich diese: (V-RATio)

Wir verstehen eine Handlung gdw. wenn wir ihre Rationalitätsgründe kennen.

Diese Explikation ist nun (wegen ihres deutlichen Bezugs auf den jetzt wirklich korrekten Praktischen Schluß (PS-RATio)) nicht nur sehr viel klarer als die anderen Erläuterungen. Sie hat einen weiteren Vorteil:

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sie ist auch sehr viel allgemeiner. Während z. B. (V-PS) und (V-iNTENTio) nur auf den sehr engen Spezialfall sogenannter Entscheidungen unter Sicherheit zugeschnitten sind, erfaßt (V-RATio) außer diesem Spezialfall auch den ganzen Rest, insbesondere also auch alle Fälle von sogenannten Entscheidungen unter Risiko. Alternativ könnte man (V-RATio) daher auch so formulieren: (V-RATio*)

Wir verstehen eine Handlung von X gdw. wenn wir wissen, aufgrund welcher von X's Präferenzen und Wahrscheinlichkeitsannahmen die betreffende Handlung rational war bzw. ist.

Trotz meines soeben verkündeten Lobs auf die Allgemeinheit hantiere ich i. f. nicht nur mit dem natürlich weiterhin unverzichtbaren (VRATIO), vielmehr bevorzugt mit dessen Spezialfall ( V-INTENTIO). Denn statt mit Präfenzen und Wahrscheinlichkeiten im allgemeinen spiele ich i. f. weiterhin ausschließlich mit unseren elementaren starken Wollensund Glaubensbegriffen — und frisiere zu diesem Zweck alles so zurecht, daß wir uns stets nur im Rahmen von Entscheidungen unter Sicherheit bewegen. Denn nur so werden wir imstande sein, uns über das komplexe Gelände, das noch vor uns liegt, rasch einen ersten groben Durchblick zu verschaffen. Probleme gibt es auch so noch genug. 1.6 Für unser Paradigma einer intentionalen Handlung machen wir (V-lNTENTio) jetzt noch expliziter — wobei wir ein Wissen einfach mit einer zutreffenden Überzeugung (einem starken Glauben also) gleichsetzen wollen: W(X,A) := G(X,A) & A. D2 V(Y,I(X,f)) := versteht das f-Tun von X gdw. alles zu erreichen beabsichtigt.

weiß, was X mit ihrem f-Tun

A::" stehe hier also für die Summe all der Ziele, die X mit seinem f-Tun zu erreichen beabsichtigt. Daß wir alle Ziele der betreffenden Handlung kennen müssen, um sie zu verstehen, ist natürlich ein starkes Stück. Wer es schwächer lieber hätte, wird sicher anders anfangen, sich zunächst mit einem sogenannten partiellen Verstehen zufriedengeben und so zum Beispiel sagen wollen: versteht das f-Tun von X bezüglich des Ziels A gdw. weiß, daß X mit f-Tun das Ziel A verfolgt. Natürlich wäre dann nicht jedes partielle Verstehen gleich wichtig. Wer das bzw. jeweils die diversen primären Ziele kennt, dessen partielles Verstehen ist sicher besser als das partielle Verstehen dessen, der lediglich sekundäre Ziele kennt.

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1.7 Ich liebe es am Anfang in der Regel möglichst stark. Bleiben wir also bei D2. Selbst dieser Stärkstmögliche Verstehensbegriff ist in anderer Hinsicht noch sehr schwach. Gefordert ist durch ihn für ein Verstehen nur, daß wir wissen, welche Ziele X mit ihrem Tun verfolgt. Nicht gefordert ist hingegen, daß wir auch wissen, wie es kommt, daß X die Ziele hat, die er hat. Es kann also sein, daß wir eine Handlung von X verstehen, uns aber trotzdem ganz unbegreiflich ist, wie X zu seinen entsprechenden Präferenzen und Annahmen kommen konnte. Wissen wir auch noch, wie es zu diesen Präferenzen und Annahmen kam, so liegt, wie man oft dafür sagt, ein tieferes Verständnis vor. Unser oben eingeführtes Verstehen ist noch kein solches, schließt ein solches aber natürlich auch nicht aus. Des weiteren läßt D2 auch völlig offen, wie das Verstehen selber zustandekommt, d.h. wie wir zu den Überzeugungen gekommen sind, die wir haben müssen, damit wir verstanden haben. 1.8 Verstehen ist ein Wissen, impliziert also einen zutreffenden Glauben. Das unterscheidet das Verstehen simpliciter von dem, was man korrekterweise als ein etwas-als-etwas-Verstehen bezeichnet. Letzteres ist nichts anderes als ein Glaube, daß etwas so und so ist — wobei dieser Glaube auch falsch sein kann. Während jedes Verstehen auch ein Verstehen-als ist, gilt das Umgekehrte natürlich nicht. Nicht jedes Verstehen-als ist auch ein Verstehen; nicht jeder Glaube ist richtig. 1.9 Des weiteren ist streng zwischen einem Verstehen einer Handlung einerseits und einem Billigen, Gutheißen, Akzeptieren oder gar Befürworten und Unterstützen der Handlung andererseits zu unterscheiden. Daß ich eine Handlung insofern verstehe als ich deren Rationalitätsgründe kenne, heißt ja nichts weiter, als daß ich weiß, wie der Handelnde selbst seine Handlung sieht — und daß unter Voraussetzung dieser Sichtweise seine Handlung als rational anzusehen ist. Es heißt keineswegs, daß ich diese Sichtweise selbst teile. In diesem Sinne ist es also schlicht falsch, daß ich, um eines anderen Handeln verstehen zu können, mich mit ihm, wie man sagt, zuvor gleichsam identifizieren muß. Ich muß nicht selbst zum Heiligen oder zum Nazi werden, um das Handeln eines Heiligen oder eines Nazi verstehen zu können. 1.10 Handlungs-Verstehen und Handlungs-Rationalität sind dem bisherigen zufolge nur zwei Seiten derselben Medaille. Jede rationale Handlung ist verstehbar; und in dem hier erklärten Sinne von Verstehen sind auch nur rationale Handlungen verstehbar. Der Grund ist trivial: Von Rationalitätsgründen kann man nur dann wissen, wenn es sie gibt.

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Aufgrund der strikten Subjektivität der Rationalitätsgründe — d. h. der Präferenzen und Annahmen des betreffenden Handlungs-Subjekts — gilt sogar eine noch stärkere Gleichsetzung. Es decken sich nicht nur Handlungs-Rationalität und Verstehbarkeit; sondern auch HandlungsRationalität und tatsächliches Verstandenwerden. Denn bei jeder rationalen Handlung gibt es jemanden, der deren Rationalitätsgründe kennt und die betreffende Handlung somit versteht: nämlich den Handelnden selbst. All dies gilt nun a fortiori auch für ein Kommunikatives Handeln als Spezialfall eines intentionalen Handelns.

2. Kommunikatives Handeln 2.1 Auch ein kommunikatives Handeln hat Ziele. Und manche Ziele muß eine Handlung haben, damit sie überhaupt ein Kommunikationsversuch sein kann. Solche für das Vorliegen eines Kommunikatonsversuchs notwendigen Ziele heißen ab jetzt kommunikative Ziele — im Unterschied zu bloßen Kommunikationszielen, Zielen also, die mit Kommunikationsversuchen zwar auch verbunden sein können, aber eben nicht notwendigerweise. Unterscheiden wir nun zwischen zwei Typen von Kommunikations-Versuchen, nämlich zwischen Aufforderungshandlungen einerseits und Informationshandlungen andererseits. Das primäre kommunikative Ziel der ersteren ist, daß der Adressat etwas bestimmtes tut (nämlich das, wozu er aufgefordert wird); das primäre kommunikative Ziel von Informationshandlungen ist, daß der Adressat etwas bestimmtes glaubt:2 Tl.l

KV(S,H,f,r)

-

I(S,f,T'(H,r))

f-Tun von S ist ein an den H gerichteter Kommunikations-Versuch des Inhalts, daß H (S zufolge) r tun soll — nur dann, wenn S mit seinem f-Tun zu erreichen beabsichtigt, daß H (zu t') r tut. T1.2

KV(S,H,f,p) -+ I(S,f,G'(H,p)) f-Tun von S ist ein an den H gerichteter Kommunikations-Versuch des Inhalts, daß p — nur dann, wenn S mit seinem f-Tun zu erreichen beabsichtigt, daß H (zu t') glaubt, daß p.

2 T'(H,r) bzw. G'(H,p) drückt dabei ein Tun bzw. Glauben von H zu einem von t (dem Zeitpunkt des f-Tuns von S) aus gesehen späteren Zeitpunkt t' aus.

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Georg Meggle

2.2 Diese Ziele lassen sich natürlich auch auf nicht-kommunikativem Wege erreichen. Was zeichnet also kommunikative Handlungen vor einem bloßen instrumentellen Handeln im allgemeinen aus? Die Antwort ist klar: Der kommunikative Sonderweg ist das Besondere. Und der sieht aus der Sicht von S (dem zu kommunizieren Versuchenden, kurz: dem Sprecher3' so aus: T2.1

KV(S,H,f,r) -* G(S,T'(H,r) = W'(H,KV(S,H,f,r))) Ein f-Tun von S ist nur dann ein an den Hörer H gerichteter Kommunikationsversuch des Inhalts, daß H r tun soll, wenn S glaubt (erwartet), daß H erst und gerade dann r tun wird, wenn H erkennt, daß das f-Tun von S ein solcher Kommunikationsversuch ist.

Mit anderen Worten: Charakteristisch für Kommunikationsversuche ist die mit diesen verbundene kommunikative Erfolgserwartung, wonach das primäre kommunikative Ziel erst und gerade insofern erreicht werden wird, als der Hörer erkennt, daß das, was S tut, ein Kommunikationsversuch mit diesem Ziel ist. 2.3 Beide Forderungen (d. h. die der primären kommunikativen Intention und die der kommunikativen Erfolgserwartung) zusammen führen zu folgendem Postulat: (AK-KV)

KV(S,H,f,r)

«·

I(S,f,T'(H,r)) & G(S,T'(H,r) = W'(H,KV(S,H,f,r)))

Klar, das ist keine brauchbare Definition. Es ist schlicht und hoffnungslos zirkulär. Aber das macht nichts. Denn wir haben etwas viel Besseres als eine Definition entdeckt: nämlich ein Adäquatheits-Kriterium für eine jede brauchbare Definition von KV. M.a.W: Wir wissen jetzt: Wie auch immer KV des näheren zu definieren ist, brauchbar ist eine Definition nur dann, wenn sie das Kriterium (AK-KV) erfüllt, d. h., wenn (AK-KV) als ein Theorem aus der Definition folgt. 2.4 Die wichtigste Folgerung aus diesem Kriterium ist die sogenannte Reflexivitätsbedingung: (RB-KV)

KV(S,H,f,r) -» I(S,f,W'(H,KV(S,H,f,r))) Kommunikation zielt auf ein Verstandenwerden ab.

3 Man vergesse aber nicht: Um „Sprecher" zu sein, braucht man nichts zu sagen. Kommunikationsversuche brauchen keine sprachlichen Äußerungen zu sein; Medium der Kommunikation kann wirklich alles Mögliche sein. Entsprechendes gilt selbstverständlich auch für die hier gepflegte Verwendung von „Hörer".

Kommunikation und Rationalität

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Und diese Reflexivitätsbedingung zeitigt ihrerseits Folgen, nämlich insbesondere die der grenzenlosen Offenheit der kommunikativen Absichten: Sei I] eine kommunikative Absicht, dann ist auch \2 (= I(S,f,W(H,Ii))) eine solche, also auch I3 (= I(S,f,W(H,I 2 )) - usw. Allgemeiner: Ist I n eine kommunikative Absicht, dann auch I„+i — für beliebige n > 1. Mit anderen Worten — wobei I* für die grenzenlos offene kommunikative Absicht stehe: (RB:;--KV)

KV(S,H,f,r)



I(S,f,W'(H,P))

2.5 Die Testfrage ist jetzt natürlich die: Wie lautet eine brauchbare Explikation von KV? Und jetzt wäre, wenn man die verschiedenen Antworten auf diese Frage Revue passieren lassen wollte, eine längere Geschichte fällig. Hier nur der Start- und der Endpunkt dieser Geschichte. Startpunkt war das sogenannte Gricesche Grundmodell, das sich — bereits stark zurechtfrisiert — so formulieren läßt, wobei Ii nunmehr im Fall von Aufforderungshandlungen für die primäre kommunikative Absicht I(S,f,T'(H,r)) stehe: (GGM)

KV(S,H,f,r)

:=

I(S,f,T'(H,r)) & G(S,T'(H,r) - W'(

Und jetzt der Endpunkt — mit I* für die grenzenlos offene primäre kommunikative Absicht: D3

KV(S,H,f,r)

:=

I(S,f,T'(H,r)) & G(S,T'(H,r) = W'(H,P))

Der Unterschied ist, wie man sieht, auf der Oberfläche minimal: ein einziges Sternchen. Aber hinter diesem Sternchen verbergen sich Welten. 4 2.6 Wie Kommunikationsversuche Spezialfälle eines intentionalen Handelns sind, so erfolgreiche Kommunikationsversuche Spezialfälle eines erfolgreichen intentionalen Handelns. Und wie ein intentionales Handeln (i. S. von Dl oben) erfolgreich ist gdw. der Handelnde mit der dabei involvierten Erfolgserwartung richtig liegt, so ist ein kommunikatives Handeln erfolgreich gdw. wenn der Sprecher mit seiner kommunikativen Erfolgserwartung richtig liegt, d.h., gdw. außer G(S,T'(H,r) = W'(H,P)) auch tatsächlich T'(H,r) = W'(H,P) gilt. 2.7 Was unter dem Verstehen einer kommunikativen Handlung zu verstehen ist, läßt sich jetzt genau sagen — wobei im Falle einer Informationshandlung KV,(S,H,f) := VpKV(S,H,f,p): 4 Zu diesen Welten mehr in Meggle (1991).

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D4

Georg Meggle

V(Y,KV,(S,H,f)) := W(Y,KV(S,H,f,p*)) versteht den von S mittels f-Tun an H gerichteten Kommunikationsversuch gdw. weiß, was S mittels f-Tun dem H alles zu verstehen geben will.

p* ist also wieder die Summe aller p's, für die KV(S,H,f,p) gilt. 2.8 Obwohl jeder Kommunikationsversuch eine intentionale Handlung ist, gilt trotzdem nicht, daß, wer den Kommunikationsversuch verstanden hat, damit eo ipso auch die mit der betreffenden Handlung vollzogene intentionale Handlung verstanden hat. Denn es brauchen ja nicht alle Ziele der Handlung kommunikative zu sein. Beispiel: Fritzchen möchte an Mamas Marmeladeglas ran — weiß aber, daß Mama was dagegen hat. Also verlegt er sich auf die krumme Tour. Er weiß, daß Mama auf einen Brief von Papa wartet und schon ständig die Ohren spitzt, ob nicht endlich der Briefträger durch das quietschende Gartentor kommt. Um Mama glauben zu machen, daß dem so sei, sagt Fritzchen „Mmmhh, ich glaub', da ist jemand am Gartentor". Und diesen Kommunikationsversuch können Mama und wir natürlich verstehen — auch wenn wir (kontrafaktisch) nicht wüßten, worauf Fritzchen mit diesem Versuch letztlich hinauswill. Und wenn Mama das wirklich nicht spannt, nun ja, dann war vielleicht nicht nur Fritzchens KV erfolgreich, sondern auch noch die von ihm damit vollzogene umfassendere intentionale Handlung. Übrigens: Der Aufwand hat sich gelohnt: Es ist Zwetschgenmarmelade. 2.9 Wie schon unser obiger Begriff des Verstehens einer intentionalen Handlung, so ist auch der soeben erklärte Begriff des Verstehens einer kommunikativen Handlung höchst allgemein. Insbesondere steckt in einem solchen Verstehen wieder nichts von einem Wissen darüber, wie es kommt, daß S die Überzeugungen hat, die er haben muß, damit sein Tun ein Kommunikationsversuch ist; ebenso nichts darüber, wie es dazu kommt, daß wir die Überzeugungen haben, die wir haben müssen, damit wir einen Kommunikationsversuch verstanden haben. Und nichts darüber, wie es dazu kommt, daß S und H die Überzeugungen haben, die sie haben müssen, damit ein von S an den H gerichteter Kommunikationsversuch erfolgreich ist. Insbesondere also auch nichts darüber, auf welche weiteren Gründe sich die Verstehenserwartungen und die Erfolgserwartungen des Sprechers stützten und auf welche weiteren Gründe sich die Hörer-Überzeugungen stützen, aufgrund derer sich diese Erwartungen erfüllen — oder auch nicht. 2.10 Nicht einmal auf die folgenden Überzeugungen wurde bisher eingegangen, die man treffend als die sogenannten kommunikativen Normalbedingungen bezeichnet. Um diese zu entdecken, fragen Sie

Kommunikation und Rationalität

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sich einfach am besten selbst: Wann würden Sie aufgrund dessen, daß Sie ein Tun von S als an Sie gerichteten Kommunikationsversuch des Inhalts, daß p, verstehen, daraufhin dessen Erfolgserwartung tatsächlich entsprechen, d. h. also, daraufhin tatsächlich glauben, daß p? Doch wohl nur dann, wenn (wie Sie glauben) sowohl (KNB-1) KV(S,H,f,p) D G(S,p) Aufrichtigkeit als auch (KNB-2) G(S,p) D p Irrtumsfreiheit gelten, S Sie also (wie Sie glauben) weder täuschen will, noch sich selber täuscht. 2.11 Trotzdem: Es war schon ganz recht so, daß von all dem bisher abstrahiert wurde. Denn eben dieser Abstraktionsgrad zeichnet eine wirklich Allgemeine Kommunikationstheorie aus. Diese hat eben z. B. nicht nur den Normalfall zu behandeln, sondern wirklich jeden, wie unnormal dieser auch sein mag. Diese Ignoranz gegenüber speziellen Bedingungen können wir uns aber nicht mehr leisten, sobald wir zu solchen Kommunikationsversuchen kommen, die bereits von ihrem Handlungstyp her eine intersubjektive kommunikative Bedeutung haben.

3. Intersubjektive Bedeutung 3.1 Wir unterscheiden zwischen Handlungen (Pfeifen z.B.) einerseits und deren Produkten (Pfiffen z. B.) andererseits — und zudem bei beiden zwischen Typen (dem Handlungstyp Pfeifen z. B.) versus Vorkommnissen (z. B. meinem Pfeifen jetzt): Typ Vorkommnis

Handlung Handlungsweise konkrete Handlung

Produkt Handlungsprodukt-Form konkretes Handlungsprodukt

Bisher war vom Sinn einer Handlung nur insofern die Rede, als es dabei um den subjektiven Sinn ging, also um den Sinn, den ein Subjekt zu einem bestimmten Zeitpunkt mit einer konkreten Handlung verbindet. Von Handlungsweisen und deren nicht mehr nur subjektivem Sinn war bisher nicht die Rede. 3.2 Daß eine Handlungsweise (bzw. ein Ausdruck als deren Handlungsprodukt-Form) in einer Population P die-und-die (intersubjektive) Bedeutung hat, das gilt nur dann, wenn diese Bedeutung in P auch als

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Georg Meggle

solche bekannt ist. Berücksichtigt man ferner, daß Handlungsweisen (bzw. Ausdrücke) nicht generell, sondern immer nur relativ auf gewisse einschlägige Situationstypen Bedeutung haben, so führt dies zu folgendem Adäquatheits-Kriterium für Bedeutungen — wobei wir schon bei diesem Schritt speziell kommunikative intersubjektive Bedeutungen vor Augen haben: (AK-B)

( , ,, ) -» Für alle : W(x,B(P,Z,f,p)) f-Tun bedeutet in P in Situationen der Art soviel wie „p ist der Fall" — nur dann, wenn jeder aus P weiß, daß f-Tun diese Bedeutung hat.

Sei nun Bn irgendeine für das Vorliegen von Bedeutung notwendige Bedingung. Dann muß, damit Bedeutung vorliegen kann, auch jeder aus P wissen, daß diese Bedingung erfüllt ist; und da somit auch das Wissen in P um Bn eine notwendige Bedingung für Bedeutung ist, muß auch jeder aus P wissen, daß es Wissen in P ist, daß Bn erfüllt ist, usw. Kurz, das Kriterium (AK-B) führt direkt zu der Forderung:5 (AK-B*)

( , ,, ) -> GW(P,B(P,Z,f,p)) f-Tun bedeutet in P in Situationen der Art soviel wie „p ist der Fall" — nur dann, wenn gilt: Es ist in P Gemeinsames Wissen, daß f-Tun in P in Situationen der Art diese Bedeutung hat.

3.3 Soviel zu unserer Adäquatheits-Bedingung für eine jede Erklärung von „Bedeutung". Nun zur Erklärung selbst. Intersubjektive Bedeutungen implizieren Regularitäten. Und so können wir in einem ersten (noch nicht (AK-B) genügenden) Schritt einen Begriff der regulären kommunikativen Bedeutung einer Handlungsweis wie folgt bestimmen: D5.1

( , ,, )

:=

In P gilt in den einschlägigen -Situationen für die jeweiligen S und und H: T(S,f) D KV(S,H,f,p)

Ein Beispiel: Am Rand einer Autobahneinfahrt einfach dazustehen und den sich nähernden Autofahrern mehr oder weniger erwartungsvoll entgegen zu blicken bedeutet bei uns soviel wie „Ich will mitgenommen werden". Und das gilt gdw. gilt: Wer bei uns am Rand einer Autobahneinfahrt einfach dasteht und den sich nähernden Autofahrern ( = H) mehr oder weniger erwartungsvoll entgegen blickt, der will damit den 5 Das durch GW(P,A) ausgedrückte Gemeinsame Wissen in P, daß A, besagt dabei soviel wie: (i) Jeder aus P weiß, daß A, (ii) jeder aus P weiß, daß (i), ... (n+1) jeder aus P weiß, daß (n) ... . Zum Gemeinsamen Wissen und Glauben Näheres in Meggle (1993c).

Kommunikation und Rationalität

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sich nähernden Autofahrern zu verstehen geben, daß er mitgenommen werden will. 3.4 Dieser schwache Bedeutungsbegriff ist, wie gesagt, noch zu schwach, als daß er unser Adäquatheits-Kriterium erfüllen würde. Die nötige Verstärkung versteht sich aufgrund dieses Kriteriums freilich von selbst: D5

( , ,, ) := GW(P,B 0 (P,I,f,p)) f-Tun bedeutet in P in Situationen der Art soviel wie „p ist der Fall" gdw. gilt: Es ist Gemeinsames Wissen in P, daß, wer auch immer in einer -Situation in der Sprecher-Rolle f tut, damit seinem Hörer zu verstehen geben will, daß p der Fall ist.

Es ist Gemeinsames Wissen bei uns, daß jeder, der bei uns am Rand einer Autobahneinfahrt einfach dasteht und den sich nähernden Autofahrern ( = H) mehr oder weniger erwartungsvoll entgegen blickt, damit den sich nähernden Autofahrern zu verstehen geben will, daß er mitgenommen werden will. Und genau das meint man, wenn man sagt, daß dieses Verhalten bei uns in diesen Situationen die Bedeutung „Ich will mitgenommen werden" hat. 3.5 In jedem Kommunikationsversuch steckt, wie wir schon aus dem in 2. oben skizzierten allgemeinen Teil der Kommunikationstheorie her wissen, die Verstehenserwartung: (VE)

KV(S,H,f,p) ->

G(S,G'(H,T(S,f)) D W'(H,KV(S,H,f,r)))

Worauf sich diese stützt, war bisher offen. Jetzt kennen wir den besten Grund, den diese Erwartung haben kann: ( , , , ). Ebenso steckt, wie wir wissen, in jedem Kommunikationsversuch die Erfolgserwartung: (EE)

KV(S,H,f,p) ->

G(S,G'(H,p) = W'(H,KV(S,H,f,p)))

wobei sich diese Erwartung im Normalfall auf die oben schon erwähnten Kommunikativen Normalbedingungen (Unterstellung der Irrtums- und der Täuschungsfreiheit) stützt. Aber was hält diese Erwartung plus der sie stützenden Antitäuschungs-Unterstellungen selbst stabil? Zweierlei: Zum einen das gemeinsame Interesse daran, daß G'(H,p) = p; und zum anderen das Gemeinsame Wissen, daß diesem gemeinsamen Interesse gedient ist, wenn beide sich an eine gemeinsame Strategie halten — wie zum Beispiel an diese: S-Strategie: T(S,f) = p Als Sprecher tue f gdw. p der Fall ist. -Strategie: G'(H,p)= T(S,f) Als Hörer glaube p gdw. S f tut. woraus sich ergibt: G'(H,p) = p H glaubt genau dann, daß p, wenn tatsächlich p.

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Georg Meggle

Halten sich S und H an die gemeinsame Strategie (als S sich an die SStrategie und als H sich an die -Strategie zu halten), so kommt das (nämlich G'(H,p) = p) zustande, was in ihrem gemeinsamen Interesse ist. Eine sich auf ein derartiges gemeinsames Interesse stützende reguläre Befolgung einer gemeinsamen Kommunikation entspricht einer Signalkonvention im Sinne von David Lewis. 3.6 Statt von der regulären bzw. konventionalen Bedeutung einer Handlungsweise kann man dann auch von der entsprechenden Bedeutung von (ganzen) Ausdrücken als den Produkten solcher Handlungsweisen sprechen. Auf dieser Basis lassen sich dann auch Bedeutungen von sprachlichen (i. e. strukturierten) Ausdrücken auf handlungstheoretischer Basis einführen.

4. Kommunikative Rationalitätsannahmen Soweit also meine ganz ganz grobe Skizze dessen, wie man sowohl eine allgemeine Theorie des Kommunikativen Handelns als auch eine auf darauf beruhende Semantik auf handlungstheoretischer Basis entwickeln kann. Blicken wir kurz nochmal auf den begangenen Weg zurück — und markieren wir, an welchen Stellen welche Arten von Rationalitätsannahmen eine Rolle spielten. 4.1 Allgemeine Handlungstheorie. Auf Rationalitätsüberlegungen stießen wir erstmals bei dem Versuch, einen allgemeinen Begriff des Verstehens einer Handlung zu erklären. Verstehen = die Rationalitätsgründe kennen. Diese Gründe sind: die Präferenzen und Glaubensannahmen des Handelnden, gemessen an denen seine Handlung als rational erscheint. Das war der Begriff der Handlungsrationalität. Dabei hatten wir freilich eines bereits vorausgesetzt: Nämlich daß diese Rationalitätsgründe selbst gewissen Standards entsprechen, denen sie entsprechen müssen, damit sie als Gründe überhaupt in Frage kommen können. Welche Standards das sind? Nun, auf jeden Fall gehört die Forderung der Widerspruchsfreiheit der betreffenden Glaubensannahmen und des betreffenden Wollens dazu. Also die Forderungen: G(X,A) P(X,A)

-* -

Zudem noch gewisse Forderungen eines sogenannten konsequenten Glaubens oder Wollens. G(X,A) & G(X,A DB)

->

G(X,B)

Kommunikation und Rationalität

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Umstritten ist, ob auch noch stärkere Forderungen notwendig sind — wie z. B. die nach der logischen Abgeschlossenheit des Glaubens oder Wollens. All dies sind Prinzipien, die die Rationalität unserer Einstellungen betreffen. Zu diesen gehören natürlich auch noch solche Prinzipien, die die Rationalitätsverhältnisse zwischen den verschiedenen Einstellungen regeln, wie z. B. das folgende Brücken-Prinzip von Kant: (KANT)

P(X,A) & G(X,A D B) -> P(X,B) „Wer den Zweck will, will (sofern die Vernunft auf seine Handlungen entscheidenden Einfluß hat) auch das dazu [seiner Meinung nach] unentbehrliche notwendige Mittel" (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, B 44 f).

Zu diesen Brücken-Prinzipien, die zwischen verschiedenen Einstellungen bei einer Person zu ein und derselben Zeit vermitteln, kommen solche Prinzipien hinzu, die zwischen denselben Einstellungen zu verschiedener Zeit vermitteln. Deren Bestimmung ist unter den Stichwort „Belief-Revision" inzwischen Thema eines ganzen Forschungszweigs. Und schließlich waren wir bei der Erörterung der Gültigkeit von Praktischen Schlüssen auf einen weiteren Punkt gestoßen, an dem sich die Rationalitätsfrage stellt. Daß jemand über hinreichende Rationalitätsgründe für eine Handlung verfügt, heißt noch nicht, daß er sie auch tatsächlich vollzieht. Das tut er nur, wenn er in der betreffenden Situation auch rational ist. Kurz: Schon im handlungstheoretischen Vorspann hatten wir dreierlei Rationalitätsgesichtspunkte zu unterscheiden: Handlungsrationalität, Rationalität der Handlungsgründe und die situationsrelative Personenrationalität. Des durch-und-durch subjektiven Charakters der Handlungsrationalität wegen offen bleiben konnte hingegen die Frage, ob die Glaubensannahmen des Handelnden auch fundiert sind — insbesondere also, ob seine Handlung (wie es bei May Weber heißt) außer subjektiv-zweckrational auch objektiv-richtig-rational ist. Letzteres ist nur für ein erfolgreiches intentionales Handeln erforderlich, nicht schon für ein intentionales Handeln im Sinne von Bewirkens-Versuchen. 4.2 Allgemeine Kommunikationstheorie. Was kommt zu all dem bei kommunikativen Handlungen hinzu? Nichts — außer weiteren Erwartungen auf Seiten des Sprechers: in Form der Verstehenserwartung nämlich eben die, daß ihm bezüglich seines Kommunikationsversuchs vom Adressaten all diese drei soeben genannten Rationalitäten unterstellt werden; und infolge der Reflexivität von Kommunikation zudem die Erwartung, daß der Adressat auch erkennen wird, daß der Sprecher erwartet, daß ihm vom Adressaten diese Rationalitäten unterstellt werden etc.

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Kommunikative Nationalität ist also nichts anderes als ein Speziallfall der allgemeineren dreifachen Handlungsrationalitäten — plus deren vom Sprecher intendierten Offenheit. Auch beim kommunikativen Handeln ist die Fundiertheit der kommunikativen Handlungsgründe nur beim erfolgreichen kommunikativen Handeln relevant. Ob die bei Kommunikationsversuchen involvierten Verstehens- und Erfolgserwartungen fundiert sind, darüber ist im Rahmen der Allgemeinen Kommunikationstheorie noch nichts gesagt. 4.3 Handlungstheoretische Semantik. Sobald die beim Kommunizieren realisierten Handlungsweisen selbst eine (intersubjektive) Bedeutung haben, ändert sich das Bild. Gehören S und H zur relevanten Population, so wird in den einschlägigen Bedeutungssituationen die kommunikative Verstehenserwartung fundiert, der entsprechende Kommunikationsversuch in Hinsicht auf dessen Verstehens-Ziel also nicht nur subjektiv, sondern auch objektiv rational sein. Und auch die involvierten kommunikativen Erfolgserwartungen werden hinreichend oft fundiert sein müssen — andernfalls die einschlägige Kommunikationsregularität über kurz oder lang kollabieren würde. Kommunikation mittels Gesten, Zeichen oder Ausdrücken mit einer regulären, konventionalen oder gar bereits sprachlichen (also: intersubjektiven) Bedeutung zeichnet sich gegenüber Kommunikation ohne dieses backup also vor allem durch die durchgängige bzw. zumindest relativ häufige Fundiertheit der involvierten Verstehens- und Erfolgserwartungen aus. Diese subjektive wie intersubjektive Sicherheit vor allem der Verstehenserwartungen eröffnet weitere kommunikative Spielräume — vor allem für die sogenannte Kommunikation zwischen den Zeilen. Aber das ist für heute ein zu weites Feld. 4.4 Wie sich kommunikatives Handeln als Spezialfall instrumentellen Handelns erklären läßt, so gilt entsprechendes also auch für die kommunikativen Rationalitäten. Mit anderen Worten: Die These von Habermas, wonach Kommunikative Rationalität ein Fall sui generis sei, ist somit falsch. Oder besser gesagt: Sie wäre falsch, falls kommunikatives Handeln bei Habermas dasselbe heißen würde wie hier. Aber das ist begrifflicherweise nicht der Fall.

5. Literatur Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt/M: Suhrkamp 1981. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 1921. Meggle (1991): Meggle, Georg: Kommunikation und Reflexivität, in: B. Kienzle (Hg.), Dimensionen des Selbst, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, 375 — 404.

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Meggle (1993 a): Meggle, Georg (Hg): Handlung, Kommunikation, Bedeutung. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993. Meggle (1993 b): Meggle, Georg: Kommunikation, Bedeutung und Implikatur. Eine Skizze. In: Georg Meggle (Hg.): Handlung, Kommunikation, Bedeutung. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993, 483-507. Meggle (1993 c): Meggle, Georg: Gemeinsamer Glaube und Gemeinsames Wissen. In: Neue Realitäten — Herausforderung der Philosophie. Hrsg. Von der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie. Berlin 1993, 761—767. Meggle (1996): Meggle, Georg: Kommunikation und Verstehen. In: Sprachphilosophie — Philosophy of Language — La philosophic du langage. Hrsg. Von Marcelo Dascal, Dietfried Gerhardus, Kuno Lorenz, Georg Meggle. 2. Halbbd. Berlin. New York: de Gruyter 1996 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 7.2), 1346-1358. Meggle, Georg: Grundbegriffe der Kommunikation. Berlin. New York: de Gruyter 19972. Von Wright, Georg Henrik: Explanation and Understanding. Ithaca. New York: Cornell University Press 1971; dtsch: Erklären und Verstehen. Frankfurt/M.: Hain, 199l3.

Sprache und Wirklichkeit in der Quantenphysik PETER MITTELSTAEDT

Einleitung 1. Sprache und Wirklichkeit 1.1 Objektsprache 1.2 Sprecher-Beobachter 1.3 Selbstreferentialität 1.4 Apriorismus 1.5 Revidierbarkeit 2. Die Sprache der klassischen Physik 2.1 Ontologie und Pragmatik 2.2 Semantik 2.3 Klassische Logik 3. Die quantenmechanische Realität 3.1 Komplementarität 3.2 Nichtobjektivierbarkeit 3.3 Wahrscheinlichkeit 3.4 Meßprozeß 3.5 Universalität 4. Die Sprache der Quantenphysik 4.1 Kritik der klassisch-physikalischen Sprache 4.2 Quanten-Pragmatik und Prozeß-Semantik 4.3 Syntax 4.4 Quantenlogik 5. Kritik an der Sprache der Quantenphysik 5.1 Nichthintergehbarkeit 5.2 Unvollständigkeit 5.3 Empirismus Resümee Literatur

Einleitung Die Wissenschaftssprache der Physik unterscheidet sich von der Umgangs- und Bildungssprache zunächst durch physikalische Termini, die zusätzlich in die Sprache eingeführt worden sind und deren syntaktische

Sprache und Wirklichkeit in der Quantenphysik

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Verwendung wenigstens teilweise durch die entsprechende Definition festgelegt ist. Auch die Semantik weist physikalische Eigenheiten auf. Die Bedeutung der einzelnen Termini wird durch reale physikalische Situationen festgelegt und damit eine Sprache und Realität verbindende Semantik aufgebaut. Schließlich werden die außersprachlichen Bedingungen sprachlicher Aktivitäten in einer Pragmatik erfaßt. Im Fall der physikalischen Wissenschaftssprache müssen insbesondere die Bedingungen betrachtet werden, unter denen eine Überprüfung von Aussagen im Sinne der eingeführten Semantik möglich ist. Auch die Intentionen des Sprechers müssen im Rahmen der Pragmatik behandelt werden, sie sind jedoch für die Wissenschaftssprache der Physik weitgehend einheitlich festgelegt. Von diesen keineswegs unwichtigen Themen soll hier weniger die Rede sein. Statt dessen sollen im folgenden diejenigen Probleme besprochen werden, die bei dem Versuch auftreten, eine Wissenschaftssprache der Quantenphysik aufzubauen. Aus Gründen, die im einzelnen diskutiert werden sollen, wird hier der lineare Aufbau einer Sprache durch Pragmatik, Semantik und Syntax nicht mehr beibehalten werden können. Der sprachlich erfaßte Realitätsbereich weist Besonderheiten auf, die zu einer Revision der Semantik und Pragmatik zwingen, die ihrerseits weitreichende Folgen für die Syntax der Sprache hat. Die am meisten hervorstechende, aber keineswegs einzige Veränderung der Sprachstruktur ist die Revision der formalen Logik, die zur Quantenlogik führt. Die Bedeutung dieser strukturellen Veränderungen der Wissenschaftssprache der Quantenphysik wird noch erhöht durch die Erkenntnis, daß sich die erwähnten Revisionen nicht auf den von der Lebenswelt weit entfernten Bereich der mikroskopischen Physik beschränken lassen, sondern Ausstrahlungen auf die gesamte Sprache der Physik haben.

1. Sprache und Wirklichkeit 1.1 Die Konzeption einer Objektsprache Die folgenden Überlegungen befassen sich mit einer wissenschaftlichen Sprache der Physik, deren Aussagen und Aussagenverbindungen sich auf physikalische Objekte beziehen. Eine derartige Sprache soll als eine Objekt-Sprache der Physik bezeichnet werden. Unter einem Objekt wollen wir einen in der Physik behandelten Gegenstand verstehen, also etwa einen mechanischen Körper, ein astronomisches Objekt oder ein Elementarteilchen. Durch eine Aussage werden einem solchen Gegenstand dann zu einer bestimmten Zeit Eigenschaften zugeschrieben oder abgespochen. Unter Eigenschaften wollen wir physikalische Merkmale verstehen, die in der Regel beobachtet werden können.

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Die Gegenstände und Eigenschaften gehören der materiellen raumzeitlichen Realität an. Die Sprache ist daher von ihrer Konzeption her eine Objektsprache, deren Ausdrücke sich auf Gegenstände der äußeren Realität beziehen, nicht aber auf die Eindrücke, Beobachtungen und Kenntnisse eines Sprechers. Es ist allerdings zunächst noch weitgehend offen, ob die Konstruktion einer Wissenschaftssprache, die allein auf die äußere Wirklichkeit bezogen ist, überhaupt gelingt. Gerade für den Bereich der modernen Physik, die auf der Quantentheorie basiert, sind Zweifel daran geäußert worden, ob eine Trennung von Objekt und Beobachter immer durchführbar ist. Wir wollen daher zunächst nur daran festhalten, daß sich die hier betrachtete Sprache wenigstens auch auf die äußere materielle Realität bezieht. Zugleich aber ist die Sprache auf den Sprecher bezogen und ist möglicherweise in ihrer Struktur vorgeprägt durch dessen Intentionen und Möglichkeiten . Um diese beiden Funktionen des Sprechers hervorzuheben, verwenden wir hier den Begriff Sprecher-Beobachter. Der Sprecher-Beobachter vereinigt in sich die beiden Funktionen des physikalischen Beobachters, der Aussagen auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüft und des Sprechers, der diese Beobachtungen in sprachlich formulierter Form zum Ausdruck bringt. Die in der Umgangssprache außerdem wichtige Funktion des Hörers spielt im Kontext der Wissenschaftssprache der Physik dagegen keine Rolle. Ein „Dialog mit der Natur" 1 findet nicht statt.

1.2 Der Sprecher-Beobachter Die in der Objekt-Sprache der Physik formulierten Aussagen über die physikalische Realität hängen sicherlich von dieser Realität ab. Sie hängen aber auch von der Sprache ab, die der Sprecher-Beobachter zur Formulierung seiner Feststellungen benutzt. Diese Abhängigkeit bezieht sich zunächst auf die Intentionen, die der Sprecher-Beobachter bei der Konstruktion der Sprache verfolgt hat und die die Struktur der Sprache möglicherweise beeinflussen. Außer von den Intentionen wird die Sprachstruktur aber auch von den Möglichkeiten des Sprecher-Beobachters abhängen, sprachliche Handlungen auch auszuführen. Die Intentionen und Möglichkeiten des Sprecher-Beobachters gehören als außersprachliche Vorbedingungen der Sprache zur Pragmatik. Die Entscheidung, eine wissenschaftliche Sprache aufzubauen, bedeutet, daß der Sprecher dieser Sprache bei den von ihm behaupteten Aussagen die Verpflichtung eingeht, sie zu rechtfertigen. Im Rahmen der l Prigogine und Strengers, Dialog mit der Natur, 1981.

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Sprache der Physik besteht diese Verpflichtung aus zwei Komponenten. Einerseits müssen die Aussagen gegenüber anderen Sprechern gerechtfertigt werden, wodurch der intersubjektive Charakter der jeweiligen Behauptungen gesichert wird. Anderseits müssen die Behauptungen auch an der sprachlich erfaßten Wirklichkeit überprüft und damit ihre Objektivität bestätigt werden. Diese beiden Teilaspekte der Rechtfertigung von Aussagen entsprechen der Doppelfunktion des Sprecher-Beobachters. Er muß seine Feststellungen sowohl durch Beobachtungen überprüfen als auch durch geeignete Dialog-Strategien 2 intersubjektiv absichern. Beobachtungen in einem sehr allgemeinen Sinne dienen der Überprüfung von elementaren, logisch nicht weiter zerlegbaren Aussagen, die einem Objekt eine bestimmte Eigenschaft zusprechen. Aussagen, die aus solchen Elementaraussagen logisch zusammengesetzt sind, werden dagegen im Rahmen einer Dialog-Strategie gegenüber anderen Sprecher-Beobachtern gerechtfertigt werden müssen. Ein Sprecher-Beobachter, der diese unterschiedlichen Aufgaben ausführt, wird im allgemeinen Beschränkungen unterliegen, die zum Teil in seinen begrenzten Fähigkeiten begründet sind, zum Teil aber auch in den physikalischen Grenzen möglicher Beobachtungen. Die Tatsache, daß ein Sprecher-Beobachter immer nur endlich viele Schritte eines Rechtfertigungsprozesses durchführen kann, ist sicher eine Einschränkung, deren Folgen im Sprachaufbau wichtig werden kann. Ob darüber hinaus die Möglichkeiten sprachlicher Handlungen Beschränkungen unterworfen sind, die von strukturellen Eigentümlichkeiten des Realitätsbereichs herrühren, dem die jeweiligen Beobachtungsgeräte angehören, wird von den Gesetzen dieses Realitätsbereichs abhängen.

1.3 Selbstreferentialität Von besonderer Bedeutung ist diese Frage, wenn die Gesetze des sprachlich untersuchten Wirklichkeitsbereiches universell gültig sind. Dann werden die Gesetze desjenigen Realitätsbereiches, dem die Beobachtungs- und Meßinstrumente angehören, übereinstimmen mit den in der Objekt-Sprache formulierten Gesetzen des sprachlich untersuchten Realitätsbereiches. Die in der Wissenschaftssprache untersuchten Gesetzmäßigkeiten des Objektbereichs gehören dann zu den physikalischen Vorbedingungen der Pragmatik, in der die Bedingungen der Möglichkeiten von Beobachtungen formuliert sind. Die physikalischen Gesetze des sprachlich erfaßten Realitätsbereiches gehören damit zu den pragmatischen Vorbedin2 Vgl. etwa: Lorenzen und Lorenz, 1978.

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gungen des Sprecher-Beobachters, der seinerseits zu den Vorbedingungen der wissenschaftlichen Sprache gehört, in der physikalische Gesetze überhaupt erst formuliert werden können. Durch diese Selbstreferentialität der Sprache hinsichtlich ihrer pragmatischen Vorbedingungen entsteht eine zyklische Struktur. Der Sprecher-Beobachter spricht über die Struktur der Wirklichkeit und diese Struktur legt fest, wie er über die Wirklichkeit sprechen kann. Die Übereinstimmung der beiden Realitätsbereiche sichert zugleich die Konsistenz der sprachlichen Erfassung der Welt. Die Wirklichkeit, die als Gegenstand objektsprachlicher Beschreibung auftritt, muß übereinstimmen mit der Wirklichkeit, die die Vorbedingungen des wissenschaftlichen Sprechens bestimmt. Wir wollen diese Forderung, die die Verträglichkeit in zwei semantisch verschiedenen Ebenen ausdrückt, im folgenden als Selbstkonsistenz bezeichnen. Die Selbstkonsistenz ist keineswegs immer gegeben. Wenn sich die Wirklichkeit des Sprecher-Beobachters von der physikalisch untersuchten Realität unterscheidet, dann muß man auf Inkonsistenzen gefaßt sein. Für den Sprecher-Beobachter ist die Selbstkonsistenz ein Gebot disziplinierten Sprechens. Die zur Erschließung der Wirklichkeit verwendete Sprache muß in ihrer Struktur durch die Eigenschaften der physikalischen Realität, die sie beschreibt, gerechtfertigt sein. Die Sprache darf nicht reicher sein als die Welt, die sie erfassen soll, und dadurch Strukturen vortäuschen, die es in Wirklichkeit nicht gibt. Diese Problematik spielt insbesondere in der Kopenhagener Interpretation der Quantenmechanik eine bedeutsame Rolle, in der Widersprüche der erwähnten Art tatsächlich auftreten. 1.4 Linguistischer Apriorismus Die in der Pragmatik zusammengefaßten Möglichkeiten des SprecherBeobachters betreffen zunächst die Ausführung der zur Konstituierung einer Objektsprache erforderlichen schematischen Operationen in räumlicher und zeitlicher Anordnung, durch die aus elementaren Termini zusammengesetzte Ausdrücke gebildet werden können. Sodann gehören alle diejenigen sprachlichen Handlungen zur Pragmatik, die zur Überprüfung von Aussagen und Aussagenverbindungen hinsichtlich ihrer Wahrheit und Falschheit erforderlich sind. Erst wenn diese Möglichkeiten feststehen, kann eine Semantik formuliert werden, die im einzelnen regelt, wann eine elementare oder zusammengesetzte Aussage als wahr oder als falsch zu bezeichnen ist. Die zur Überprüfung der Wahrheit und Falschheit von Aussagen erforderlichen Verfahren müssen möglich sein im Sinne der vorausgesetzten Pragmatik. Mit Hilfe einer so formulierten Semantik kann dann eine Sprache konstituiert werden, deren Syntax sich

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aus Definitionen der verschiedenen sprachlichen Termini ergibt. Die Bedeutung dieser sprachlichen Ausdrücke ist durch die vorausgesetzte Semantik bestimmt. Aufgrund der syntaktischen Regeln und der vorausgesetzten Semantik der Wahrheit und Falschheit gibt es im allgemeinen komplexe sprachliche Bildungen, die im Sinne der Semantik „wahr" sind, und zwar unabhängig davon, ob die enthaltenen Elementaraussagen wahr in einem außersprachlichen Sinne sind. Die Gesamtheit dieser immer wahren, tautologischen Ausdrücke bilden dann die formale Logik der betreffenden Sprache. Im folgenden wird das stets eine Aussagenlogik sein. Die Logik stellt also denjenigen Teil der Syntax der Sprache dar, der wahr ist unabhängig vom materiellen Gehalt der jeweiligen sprachlichen Ausdrücke. Die Logik ergibt sich aus den in der Sprache verwendeten syntaktischen Regeln und Definitionen und aus der vorausgesetzten Semantik der Wahrheit. Insofern sind die Voraussetzungen der Logik konventionell. Die in der Semantik angenommenen Verfahren zur Überprüfung von elementaren und zusammengesetzten Aussagen müssen aber möglich sein im Sinne der vorausgesetzten außersprachlichen Pragmatik. Das betrifft sowohl die Möglichkeiten der empirischen Überprüfung elementarer Aussagen als auch die dialogischen Strategien zur Rechtfertigung zusammengesetzter Aussagen. Die logischen Gesetze der untersuchten Sprache sind also nicht wahr in einem absoluten Sinne, sondern sie ergeben sich aus den außersprachlichen Bedingungen der Überprüfung von Aussagen auf ihre Wahrheit. — Dieser Rekurs auf die Bedingungen der Möglichkeit von Wahrheit ist eine Argumentationsfigur, die aus der transzendentalen Begründung des Apriorismus bei Kant 3 bekannt ist, und die hier zu einem auf die Sprache bezogenen, linguistischen Apriorismus führt. 1.5 Revidierbarkeit Das transzendentale Modell des linguistischen Apriorismus wird der komplexen Situation in einer Sprache der Physik nicht ganz gerecht. Der Grund ist die oben genannte Selbstreferentialität der Sprache einer als universell angesehenen physikalischen Theorie. Die in der Pragmatik formulierten Bedingungen der Möglichkeit der Überprüfung von Sachverhalten sind nichts anderes als die Gesetze und Eigenschaften der Meßgeräte, mit denen diese Überprüfungen vorgenommen werden. Diese Gesetze gehören aber bei vorliegender Selbstkonsistenz der gleichen physikalischen Realität an, die von der hier konzipierten Objektsprache erfaßt 3 Kant, Kritik der reinen Vernunft.

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wird. Daher hängen die Bedingungen der Möglichkeit der Überprüfung von Aussagen auf ihre Wahrheit auch ab von der Struktur des sprachlich erfaßten Bereichs physikalischer Wirklichkeit. Diese Beschreibung der Situation ist aber nur dann zuteffend, wenn das Postulat der Selbstkonsistenz wirklich erfüllt ist. Falls, was häufig der Fall ist, die physikalische Basis der Pragmatik einem anderen Realitätsbereich angehört als die objektsprachlich erfaßte Wirklichkeit, dann können Inkonsistenzen auftreten. Die Strukturen der Sprache und Logik, die aus der für die Pragmatik maßgebenden Realität im Sinne des linguistischen Apriorismus stammen, müssen nicht mit den Strukturen des Wirklichkeitsbereiches übereinstimmen, der von der Objekt-Sprache beschrieben wird. Man muß daher in dieser Situation auf Widersprüche zwischen der Sprachstruktur und der sprachlich erfaßten Wirklichkeit gefaßt sein. Wenn solche Widersprüche auftreten, dann muß man den Gebrauch der Sprache in diesem Realitätsbereich entweder durch zusätzliche Verbotsregeln einschränken oder eine Revision der Sprache selbst vornehmen. Diese Revision muß dann darin bestehen, daß man die objektsprachlich beschriebene Wirklichkeit als Basis für eine neue Pragmatik verwendet, die dann eine revidierte Semantik und eine revidierte Syntax und Logik ermöglichen. Das Ergebnis einer solchen Revision sollte sein, daß die Strukturen der Sprache mit den Strukturen der sprachlich erfaßten Wirklichkeit in dem Sinne verträglich sind, daß die Sprache weder mehr noch andere Strukturen aufweist als die Welt, die sie beschreibt. Nach dieser Revision wird die Selbstkonsistenz der Sprache wieder hergestellt sein.

2. Die Sprache der klassischen Physik 2.1 Ontologie und Pragmatik Unter der Sprache der klassischen Physik verstehen wir hier diejenige physikalische Wissenschaftssprache, die den Bereich der makroskopischklassischen Realität und der Alltagswelt erfaßt. Dieser Bereich läßt sich nach den Bemerkungen des letzten Kapitels nicht streng von anderen Wirklichkeitsbereichen trennen, er stellt aber einen historisch und systematisch außerordentlich wichtigen Idealfall dar, der eine eigenständige Untersuchung rechtfertigt. Wir gehen daher von der idealisierenden Vorstellung aus, daß die Sprache der klassischen Physik in ihrem Anwendungsbereich als eine selbstkonsistente Sprache formuliert werden kann. Entsprechend zu diesem Programm beginnen wir mit den in der Ontologie zusammengefaßten allgemeinen Zügen des untersuchten Wirklichkeitsbereiches, die auch der Pragmatik der Sprache zugrunde liegen.

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Der Realitätsbereich der klassischen Physik ist bestimmt durch eine lückenlose Kausalität, durch Erhaltung der Substanz und Materie und durch die vollständige Bestimmtheit aller Objekte. Besonders die letzte Eigenschaft ist für die Sprachkonstruktion von großer Bedeutung. Sie besagt, daß ein Objekt alle möglichen Eigenschaften entweder positiv oder negativ besitzt. Ein Tisch ist rund oder er ist nicht rund; ein Tisch ist weiß oder er ist nicht weiß, u.s.w. Diese Eigenschaften kommen dem Gegenstand Tisch objektiv zu, d. h. unabhängig von einem möglichen Prozeß der Beobachtung. Sie können aber jeweils durch ein aus endlich vielen Schritten bestehendes, finites Überprüfungsverfahren festgestellt werden. Die voneinander logisch unabhängigen elementaren Eigenschaften sind überhaupt unabhängig voneinander und können ohne gegenseitige Beeinflussung überprüft werden. Eine elementare Eigenschaft, deren Vorliegen an einem Objekt festgestellt worden ist, kommt diesem Objekt also auch noch zu, wenn anschließend andere elementare Eigenschaften überprüft und als vorliegend festgestellt worden sind.

2.2 Semantik und Syntax Diese sehr allgemeinen, hier ontologisch genannten Züge des betrachteten klassisch-physikalischen Realitätsbereiches haben einen wesentlichen Einfluß auf die formale wissenschaftliche Objektsprache, die zur sprachlichen Erfassung dieses Wirklichkeitsbereiches verwendet werden kann. Diese formale Sprache ist eine Aussagensprache, deren Aussagen einem Gegenstand Eigenschaften zu- oder absprechen. Diejenigen Aussagen, die einem Objekt eine elementare Eigenschaft zu- oder absprechen, bezeichnen wir als elementare Eigenschaften. Aufgrund der vorausgesetzten Ontologie steht von jeder elementaren Eigenschaft objektiv fest, ob sie vorliegt oder nicht, und dieser Sachverhalt kann durch ein geeignetes, finites Überprüfungsverfahren bestätigt werden. Damit aber eröffnet sich die Möglichkeit, eine Realsemantik für Elementaraussagen zu formulieren. Eine Elementaraussage A, die einem Gegenstand eine Eigenschaft zuordnet, ist dann und nur dann wahr, wenn der Gegenstand die durch die Aussage bestimmte Eigenschaft E(A) besitzt. Durch das zu dieser Eigenschaft gehörende Überprüfungsverfahren kann die Wahrheit der betreffenden Aussage überprüft werden. Elementaraussagen der klassisch-physikalischen Sprache sind daher wertdefinit. Auf der Basis einer Aussagensprache, die wertdefinite Elementaraussagen und deren Gegenaussagen enthält, lassen sich Aussagen definieren, die durch logische Operationen zusammengesetzt sind. Wir betrachten hier eine einstellige Operation, die Negation —iA (nicht A) einer Aussage A und drei zweistellige Operationen, die aus zwei Aussagen A und ß gebildete Konjunkion AAB (A und ß), die Disjunktion AVß (A

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oder ß) und die materiale Implikation A—>B (wenn A dann ß). Die verbalen Ausdrucksformen dienen hier nur der Erläuterung. Definiert werden die Junktoren —iA, AAß, AVß und A—>ß durch Strategien, mit deren Hilfe die betreffenden Aussagen bewiesen oder widerlegt werden können. So ist etwa die Konjunktion AAß durch einen zweistufigen Beweisprozeß zu beweisen, bei dem zuerst A und dann ß als Elementaraussagen zu beweisen sind. Man kann diese Definition durch einen Beweisbaum mit zwei Verzweigungen darstellen, der drei Verlustäste und einen Gewinnast besitzt.4 Von mehr grundsätzlicher Bedeutung ist die Definition der Junktoren durch Dialoge. Wenn der Sprecher-Beobachter (hier als Proponent) etwa die Aussage A—»ß behauptet, dann übernimmt er damit die Verpflichtung, für den Fall, daß ein anderer Sprecher-Beobachter (hier der Opponent) A beweist, seinerseits ß nachzuweisen. 5 — An den dialogischen Definitionen der Junktoren wird die Intersubjektivität des verwendeten Wahrheitsbegriffs besonders deutlich. Wenn der Sprecher-Beobachter die Wahrheit einer bestimmten Aussage nachweisen kann, dann ist dieser Nachweis auch für jeden anderen Sprecher verbindlich, da der Beweis-Dialog gegenüber einem idealtypischen Opponenten gewonnen wurde. Zur Kennzeichnung wahrer Aussagen ist es zweckmäßig, neben den genannten logischen Operationen noch die Relationen der Äquivalenz und der Implikation einzuführen. Die Äquivalenz A = ß (A ist äquivalent zu ß) drückt aus, daß A dann und nur dann wahr ist, wenn ß wahr ist. Die Implikation A > ß (A impliziert ß) wird durch A = AAß definiert und gilt genau dann, wenn die Aussage A~+ß wahr ist. 2.3 Klassische Logik Die dargestellte Semantik ist eine Verbindung von Realsemantik und Beweissemantik. Während Elementaraussagen durch Beobachtung und Messung überprüft werden, ist für zusammengesetzte Aussagen ein Beweis im Sinne eines Beweisbaumes oder Dialogs erforderlich. (So wird man etwa ohne zusätzliche Annahmen die materiale Implikationsaussage A-»ß nicht allein durch einen Beobachtungssprozeß überprüfen können.) Die Wahrheit einer zusammengesetzten Aussage wird also einerseits von der Art der Zusammensetzung, anderseits von den Wahrheitswerten der enthaltenen Elementaraussagen abhängen. Man kann daher die Frage stellen, ob es zusammengesetzte Aussagen gibt, die allein aufgrund ihrer Zusammensetzung wahr sind, also unabhängig von den Wahrheitswerten der in ihnen enthaltenen Elementaraussagen. Solche Aussagen bezeichnet man als formal wahr. 4 Mittelstaedt, 1987 5 Kamiah und Lorenzen, 1973

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Beispiele für formal wahre Aussagen sind leicht zu finden. Wegen der vorausgesetzten Wertdefinitheit der Elementaraussagen ist die Aussage A V—iA formal wahr (terüum non datur}. — Elementaraussagen, die in einem Überprüfungsprozeß als wahr nachgewiesen worden sind, stehen im weiteren Verlauf des Prozesses ( Beweisbaum oder Dialog ) unbeschränkt zur Verfügung. Daraus und auch ohne Verwendung der Wertdefinitheit ergibt sich, daß die Aussage A-»(ß—>A) formal wahr ist. Diese beiden Aussagen sind besonders wichtige Beispiele für Aussagen, die im Sinne der vorgegebenen Semantik formal wahr sind. Die Beispiele ließen sich leicht vermehren. Es gibt sogar unendlich viele formal wahre Aussagen, die sich alle aus einem endlichen Kalkül gewinnen lassen. Die Gesamtheit der formal wahren Aussagen bezeichnet man als die klassische Logik und den Algorithmus zur Gewinnung solcher Aussagen als den Kalkül der klassischen Logik. Die formale Aussagenlogik hängt nicht ab von den Elementaraussagen, die in den Zusammensetzungen enthalten sind. Sie hängt aber ab von den Bedingungen, unter denen materielle und dialogische Beweisprozesse möglich sind. Im vorliegenden Fall ist die finite Überprüfbarkeit der Elementarausagen von Bedeutung sowie die unbeschränkte Verfügbarkeit von einmal bewiesenen Aussagen in einem dialogischen Beweisprozeß. Die formal wahren Aussagen sind daher nicht in einem absoluten Sinne wahr, sondern ihre Wahrheit folgt aus den pragmatischen Bedingungen der Möglichkeit der Überprüfung von Aussagen. Dieser Rekurs auf die Bedingungen der Möglichkeit der Überprüfung von Aussagen ist aber ein auf die Sprache bezogenes transzendentales Argument. Die Sätze der formalen Logik können daher als in diesem transzendentalen Sinne -priori wahr angesehen werden.

3. Die quantenmechanische Realität 3.1 Komplementarität Im Bereich der quantenmechanischen Realität bestehen die einfachen und überschaubaren Beziehungen zwischen Sprache und Wirklichkeit nicht mehr. Niels Bohr 6 machte die wichtige Beobachtung, daß es im allgemeinen nicht möglich ist, an einem Objekt zwei unabhängige Elementaraussagen E(A) und E(B) gleichzeitig zu beobachten bzw. durch einen Meßprozeß festzustellen. Bohr erkärte diesen Sachverhalt, den er Komplementarität nannte, damit, daß die für die beiden Eigenschaften 6 Bohr, 1928

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E(A) und E(B) passenden Beobachtungs- und Meßgeräte sich gegenseitig ausschließen. Aus diesem Grunde kann es auch kein Meßgerät geben, mit dessen Hilfe beide Eigenschaften gemeinsam gemessen werden können. Eine Abschwächung der strengen Komplementaritäts-Relation wurde von Heisenberg7 gegeben und als Unschärfe-Relation bezeichnet. Diese Beziehung besagt, daß man zwei komplementäre Eigenschaften E(A) und E(B) dann gemeinsam messen kann, wenn sowohl E(A) als auch E(B) unscharf gemessen werden, wobei das Produkt geeignet gewählter Maße für die Unscharfen von E(A) und E(B) eine universelle Schranke nicht unterschreiten darf. Terminologisch wollen wir festsetzen, daß zwei Eigenschaften E(A) und E(B), die gleichzeitig scharf gemessen werden können, kommensurabel sind. Wenn eine gleichzeitige und scharfe Messung nicht möglich ist, bezeichnen wir die Eigenschaften als inkommensurabel. Die Inkommensurabilität von zwei Eigenschaften kann verschiedene Grade annehmen, die sich in den unvermeidlichen Unscharfen gemäß der Unschärferelation ausdrücken. Eigenschaften, die maximal inkommensurabel sind, bezeichnen wir als komplementär, da die von Bohr besprochenen Beispiele maximal inkommensurable Eigenschaften wie Ort und Impuls betreffen. 8

3.2 Nichtobjektivierbarkeit Sowohl die Komplementaritäts-Relation als auch die Unschärfe-Relation lassen sich an komplementären Eigenschaften in dafür geeigneten Experimenten nachweisen. Aus diesen Experimenten ist aber zunächst nicht ersichtlich, ob die Komplementarität nur das gegenseitige Sich-Ausschließen von Meßinstrumenten ausdrückt oder ob sie auch etwas über die Eigenschaften des Objektsystems aussagt. Falls die Komplementarität sich nur auf die Meßanordnung beziehen würde, dann könnte nach der Feststellung der Eigenschaft E(A) an einem Objekt diesem Objekt trotzdem eine komplementäre Eigenschaft E(B) entweder selbst zukommen oder ihr Gegenteil E(—\B). Die Eigenschaft E(B) wäre dann objektiv bestimmt, aber für den Beobachter subjektiv unbekannt. Eine solche Deutung ließe sich im Rahmen der klassischen Physik bereits aus der für die Sprache der klassischen Physik gültigen klassischen Logik rechtfertigen. Ist nämlich die Eigenschaft E(A) durch Messung nachgewiesen und somit die Aussage A wahr im Sinne der Realsemantik, dann folgt für jede Aussage B allein aufgrund der in der klassischen Logik gültigen Äquivalenz A = ( ) ( - ), daß die Aussage 7 Heisenberg, 1930 8 Im Kontext der klassischen Mechanik sind Paare von komplementären Eigenschaften kanonisch konjugiert.

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wahr ist. Zusammen mit der Eigenschaft E(A) würde somit die Eigenschaft E(B) entweder vorliegen oder nicht. In diesem Fall bezeichnen wir die Eigenschaft E(B) als objektiv. Von einer objektiven Eigenschaft weiß der Sprecher-Beobachter, daß sie objektiv vorliegt oder nicht, auch dann, wenn dieser Sachverhalt dem Sprecher-Beobachter selbst unbekannt ist. Es ist eines der wichtigsten Resultate der Quantenphysik, daß man von einem Objekt mit bekannten Eigenschaften, etwa E(A), nicht annehmen darf, daß eine beliebige andere Eigenschaft E(B) objektiv ist, also selbst vorliegt oder ihr Gegenteil. Eine Eigenschaft E(B), die zu einer schon bekannten Eigenschaft E(A) komplementär ist, kann nicht experimentell überprüft werden, ohne dabei die vorliegende Eigenschaft E(A) zu verändern. Das ist aber nur ein vordergründiger Aspekt. Der Grund für dieses Verhalten ist, daß die Eigenschaft E(B) unter den genannten Bedingungen nicht nur für den Beobachter subjektiv unbekannt ist, sondern daß objektiv unbestimmt ist, ob E(B) oder E(—>B) vorliegt. Zu jedem vorgegebenen Präparationszustand eines Objekts gibt es also zwei Klassen von Eigenschaften: Die objektiven Eigenschaften, deren Werte (ja — nein) objektiv vorliegen und auch experimentell bestätigt werden können und die nichtobjektiven Eigenschaften, bei denen objektiv unentschieden ist, ob sie vorliegen oder nicht. 3.3 Wahrscheinlichkeit Die Rechtfertigung der Behauptung, daß eine bestimmte Eigenschaft E(B) objektiv unentschieden ist, wenn eine dazu komplementäre Präparationseigenschaft E(A) vorliegt, erfolgt über eine reductio ad absurdum: Angenommen, es läge E(B) oder E(—iB) vor, dann befände sich das Objektsystem in einem Gemischzustand, der die beiden Alternativen E(B) und E(—\B) mit entsprechenden Wahrscheinlichkeiten WA(B) und WA(—>B) enthält. 9 Die Wahrscheinlichkeit für eine dritte, weder mit E(A) noch mit E(B) kommensurable Eigenschaft E(C) wäre dann durch wA(C) = WA(B)-WB(C) + WA(-IB)-W^B(C) gegeben. Diese einfache Formel, die man sich leicht an Beispielen aus der elementaren Mengenlehre klarmachen kann, 10 ist aber quantenmechanisch falsch. Statt dessen berechnet sich die quantenmechanisch korrekte Wahrscheinlichkeit nach der Formel WA(C) = WA(B)-WB(C) + WA(—Aint(B,C) der im allgemeinen nicht verschwindende quantenmechanische „Interferenzterm" ist, der nicht nur aus der Theorie folgt, sondern auch experimentell bestens bestätigt ist. 9 Wir schreiben WA(B) für die Wahrscheinlichkeit von B, wenn A vorliegt. 10 Setzt man etwa für Kugel, B für leicht (Holz), -iß für nicht leicht (Blei), C für weiß und —iC für nicht weiß (schwarz), so kann man sich die angegebene Formel leicht an einer mit Kugeln gefüllten Urne klar machen.

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Diese Rechtferigung der Nichtobjektivierbarkeit zeigt, daß die Kenntnis der Präparationseigenschaft E(A) allein nicht ausreicht, um deutlich zu machen, daß man nicht annehmen darf, daß eine zu E(A) inkommensurable Eigenschaft E(B) entweder vorliegt oder nicht. Zur Begründung müssen zwei weitere quantenmechanische Resultate herangezogen werden. Die erste zusätzliche Annahme behauptet, daß man bei Vorliegen einer Präparationseigenschaft E(A) eine andere, mit E(A) nicht kommensurable Eigenschaft E(C) am Objekt durch Messung überprüfen kann. Das Ergebnis einer solchen £(CJ-Messung ist aber vollständig unbestimmt. Dennoch kann man für eine hinreichend große Folge von EfCJ-Tests unter gleichen Bedingungen die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von E(C) bzw. E(—iC) mit Hilfe der Quantenmechanik berechnen. Diese berechenbaren und experimentell überprüfbaren Wahrscheinlichkeiten sind es aber, die zeigen, daß Eigenschaften E(B), die mit E(A) nicht kommensurabel sind, nicht objektiviert werden dürfen.

3.4 Meßprozeß Dem Meßprozeß kommt in der Quantenphysik eine besondere Bedeutung zu. Wenn nämlich an einem Objekt die Eigenschaft E(A) vorliegt, dann ist eine andere, mit E(A) nicht kommensurable Eigenschaft E(B) objektiv unbestimmt und kann deshalb nicht durch eine lediglich passive Beobachtung überprüft werden. Die Messung einer nichtobjektiven Eigenschaft muß daher aus zwei Schritten bestehen. In einem ersten Schritt wird durch einen physikalisch materiellen Eingriff die Präparationseigenschaft E(A) so verändert, daß die Eigenschaft E(B) objektiv ist. Das System besitzt dann entweder die Eigenschaft E(B) oder die Gegeneigenschaft E(—iB). Dann aber kann der Beobachter in einem zweiten Schritt durch eine passive Beobachtung (Ablesung) des Meßinstruments feststellen, welche der beiden Alternativen realisiert ist. Anders als in der klassischen Physik kann der Beobachter in der Quantenmechanik die Realität nicht unmittelbar erkennen. Nur diejenigen Eigenschaften eines Objekts, die durch den ersten, in das System eingreifenden Schritt eines Meßprozesses objektiviert worden sind, können so wie in der klassischen Physik direkt durch Beobachtung überprüft werden. Die Wirklichkeit ist dem Beobachter daher nur indirekt durch einen Meßprozeß zugänglich. Er erkennt unmittelbar nur die objektiven Eigenschaften. Über alle anderen, nichtobjektiven Eigenschaften weiß der Beobachter vor dem ersten Schritt des Meßprozesses, der Objektivierung, gar nichts. Auch die oben genannten Wahrscheinlichkeiten WA(B) und WA(—>B) für die Alternativen E(B) und E(—\B) beziehen sich nicht auf das unberührte Objekt, sondern auf die Situation nach dem ersten, aber vor dem zweiten Schritt der Messung, wenn die Eigenschaft E(B) zwar objektiviert, aber noch nicht registriert worden ist.

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3.5 Universalität Nach unseren heutigen experimentellen und theoretischen Kenntnissen ist die Quantenmechanik eine universell gültige Theorie. Diese Feststellung bezieht sich auf die allgemeinen und mehr abstrakten Strukturen der Theorie, wie sie etwa in der in Abschnitt (4.4.) behandelten Quantenlogik sichtbar werden, und nicht auf die konkrete Ausgestaltung der Theorie als Kernphysik, Atomphysik und Festkörperphysik. Diese Teildisziplinen sind ihrer Konzeption nach auf klar umrissene Gegenstandsbereiche bezogen und beschränkt. Der allgemeine theoretische Rahmen scheint jedoch keine Anwendbarkeitsgrenzen zu haben. Insbesondere ist die Quantenmechanik auch anwendbar auf den Bereich makroskopischer Phänomene und damit auf die unmittelbare menschliche Umwelt. Eine Bestätigung dieser Behauptung liefern die zahllosen makroskopischen Quantenphänomene, die eine quantenmechanische Beschreibung nicht nur erlauben, sondern unbedingt erfordern. Aufgrund dieser Universalität ist die Quantentheorie aber auch anwendbar auf die makroskopischen Apparate, die zur Überprüfung quantenmechanischer Behauptungen verwendet werden, also auf die Meßgeräte. Die in der quantenmechanischen Objekttheorie formulierten Gesetze sind also zugleich die Gesetze derjenigen Prozesse, die zur Verifikation und Falsifikation von quantenmechanischen Prognosen verwendet werden. Damit erhält die Quantentheorie die im ersten Abschnitt (1.3.) besprochene Selbstreferentialität, die hier einem Einfluß der Objekttheorie auf die pragmatischen Vorbedingungen der Theorie entspricht. Die Gleichheit des Objektbereichs der Theorie mit dem Gegenstandsbereich der Meßinstrumente garantiert hier die für die Konstruktion einer formalen wissenschaftlichen Sprache wichtige Selbstkonsistenz. Im folgenden Abschnitt wird davon Gebrauch gemacht werden.

4. Die Sprache der Quantenphysik 4.1 Kritik der klassisch-physikalischen Sprache Die Universalität der Quantenmechanik bewirkt deren Selbstreferentialität. Für eine Sprache der Quantenphysik bedeutet das, daß die in der Pragmatik erfaßten materiellen Möglichkeiten der Überprüfung von Aussagen abhängig werden von den in der Objektsprache geltenden Regeln und Gesetzen. Dadurch wird die Sprache hintergehbar und der Sprecher-Beobachter als Inbegriff aller sprachlichen und physikalischen Aktivitäten verliert seine Autonomie. Die Möglichkeiten sprachlicher Handlungen müssen durch die in der Sprache ausgedrückten Gesetzmäßigkeiten gerechtfertigt sein. Die dadurch hergestellte Selbstkonsistenz der Sprache verhindert, daß der Sprecher-Beobachter eine Sprache ver-

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wenden kann, die in ihren Strukturen reicher ist, als die Realität, die sie beschreibt. Die Gefahr einer zu stark strukturierten Sprache wird in den folgenden Überlegungen zur Sprache und Logik der Quantenphysik deutlich werden. Die Sprache der klassischen Physik basiert unter anderem auf der ontologischen Hypothese, daß es objektiv entschieden ist, ob ein ObjektSystem eine beliebige, elementare Eigenschaft besitzt oder nicht, und zwar unabhängig von der Möglichkeit einer Beobachtung. Weiterhin wird angenommen, daß elementare Eigenschaften unabhängig voneinander durch endliche Testverfahren überprüft werden können. Aus diesen ontologischen Prämissen folgen dann die in der Pragmatik zusammengefaßten Möglichkeiten des Sprecher-Beobachters, Aussagen über das Vorliegen von Eigenschaften am Objekt-System zu beweisen oder zu widerlegen. Auf der Basis dieser Beweis- und Widerlegungsmöglichkeiten kann dann eine Tarski-Semantik eingeführt werden, die die Wahrheit beliebiger Aussagen an objektiv vorliegenden Sachverhalten orientiert. Wahrheit und Realität sind damit auf eine umkehrbar eindeutige Weise miteinander verbunden. Die syntaktische Struktur der klassisch-physikalischen Wissenschaftssprache folgt aus den dargestellten Möglichkeiten und aus der verwendeten Semantik. Insbesondere ergibt sich, daß die allgemeinsten syntaktischen Regeln, d.h. die Gesetze der formalen Logik, in starkem Maße abhängig sind von den pragmatischen Möglichkeiten des SprecherBeobachters. Anderseits sind aber die ontologischen Hypothesen der klassisch-physikalischen Pragmatik nicht mit den grundlegenden Prinzipien der Quantenphysik, der Komplementarität und Nichtobjektivierbarkeit, zu vereinbaren. Man muß daher darauf gefaßt sein, daß die Anwendung der klassisch-physikalischen Sprache auf den Wirklichkeitsbereich der Quantenphysik zu Inkonsistenzen führt. Der oben dargestellte Widerspruch zwischen der aus der klassischen Logik folgenden Objektivierbarkeit und den quantenmechanischen Wahrscheinlichkeitsgesetzen von Interferenzphänomenen bestätigt diesen Verdacht. Aus Selbstkonsistenz wird hier selbstreferenzielle Inkonsistenz.

4.2 Quanten-Pragmatik und Prozeß-Semantik Man kann aber eine Objektsprache der Quantenphysik aufbauen, die eine widerspruchsfreie Beschreibung aller quantenmechanischen Phänomene gestattet, wenn man auf diejenigen ontologischen Prämissen verzichtet, die nicht im Einklang mit den Gesetzen der Quantenphysik sind. Eine auf der Basis dieser neuen und schwächeren Quanten-Ontologie formulierte Quanten-Pragmatik berücksichtigt von vornherein diejeni-

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gen Einschränkungen des Beweisens von Aussagen, die von quantenmechanischen Inkommensurabilitäten herrühren. Da die Beweisverfahren für Aussagen der Sprache der Quantenphysik auch Meßverfahren für quantenmechanische Eigenschaften sind, so sind sie durch mögliche Inkommensurabilitäten dieser Eigenschaften eingeschränkt. Aufgrund der realen Möglichkeiten von Messungen wollen wir hier stets voraussetzen, daß eine Elementaraussage A, die das Vorliegen einer Eigenschaft E(A) behauptet, immer bewiesen oder widerlegt werden kann. Wenn aber nach dem Beweis einer Aussage A eine andere Aussage B als wahr nachgewiesen wurde, dann ist nicht sicher, daß ein erneuter Beweisversuch von A wiederum erfolgreich ist. Daher sind die Aussagen A und B im allgemeinen nicht gemeinsam entscheidbar. Das ist vielmehr nur dann der Fall, wenn die entsprechenden Eigenschaften E(A) und E(B) kommensurabel sind. Wir bezeichnen dann auch die Aussagen als kommensurabel. Die Kommensurabilität von zwei Aussagen A und B ist eine kontingente Relation, deren Vorliegen in jedem Einzelfall durch Messung überprüft werden muß. Für ein Objekt-System mit der Präparationseigenschaft E(A) ist die Aussage A wahr. Eine beliebige andere Eigenschaft E(B) ist dann aber im allgemeinen nicht objektiv. Von der entsprechenden Aussage A kann man daher weder sagen, daß sie wahr noch daß sie falsch ist. Man kann allerdings, wie im letzten Abschnitt erläutert wurde, die Eigenschaft E(B) durch einen Meßeingriff überprüfen. Im ersten Schritt des Meßprozesses, der Objektivierung, wird dabei der Präparationszustand des Objekts durch einen materiellen Eingriff so verändert, daß die Eigenschaft E(B) danach objektiv ist und somit die Aussage ß wahr oder falsch. In einem zweiten Schritt kann dann durch bloßes Ablesen des Meßgerätes festgestellt werden, ob ß wahr ist oder nicht. Man kann daher die Wahrheit einer Aussage B nur dann mit einer realen Eigenschaft E(B) des Objekt-Systems in Beziehung setzen, wenn diese Eigenschaft zuvor durch einen Meßprozeß objektiviert worden ist. Eine Semantik der Sprache der Quantenphysik muß diese Schwierigkeiten des Beweisens mit in Betracht ziehen. Wir bezeichnen aus diesem Grunde eine Aussage ß dann und nur dann als wahr, wenn mit Hilfe eines Meßprozesses gezeigt worden ist, daß das Objektsystem die Eigenschaft E(B) besitzt. Eine Semantik, die in dieser Weise die Wahrheit einer Aussage nur mit dem Ergebnis eines Meßprozesses in Beziehung setzt, nicht aber mit einer nicht näher bestimmten Realität, wollen wir als „Prozeß-Semantik" bezeichnen. Die Prozeß-Semantik stellt eine Abschwächung der Real-Semantik dar, da durch sie nur ein schwächerer Zusammenhang zwischen wahren Aussagen und Sachverhalten der physikalischen Realität hergestellt wird als durch die Realsemantik. Wenn

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eine Aussage wahr ist im Sinne der Prozeß-Semantik, dann ist sie auch wahr im Sinne der Realsemantik. Über die Umkehrung läßt sich jedoch nichts sagen.11

4.3 Syntax Quanten-Pragmatik und Prozeß-Semantik haben zur Folge, daß auch quantenphysikalische Elementaraussagen wertdefinit sind. Ein Meßprozeß endet immer mit einer Ja-Nein Entscheidung. Bei den zusammengesetzten Aussagen machen sich jedoch die durch die Inkommensurabilität bewirkten Einschränkungen der Beweismöglichkeiten bemerkbar. Zwar kann man die einstellige Operation der Negation —\A (nicht A) wie in der klassisch-physikalischen Sprache definieren, bei der Konjunktion AAß (A und ß) treten aber Schwierigkeiten auf. Wir führen zunächst die sequentielle Konjunktion ( und dann ß) ein, deren Beweis in einem Beweis von A und einem zeitlich darauf folgenden Beweis von ß besteht. Dabei soll es keine Rolle spielen, ob der B-Beweis das Ergebnis des vorangegangenen -Beweises wieder zerstört, wie das bei inkommensurablen Elementaraussagen möglich ist. Im Falle der logischen Konjunktion werden aber beide Aussagen simultan auf das Objektsystem bezogen. Da das nur für kommensurable Elementaraussagen möglich ist, muß man zum Beweis von AAß außer den Aussagen A und ß selbst auch noch deren Kommensurabilität beweisen. Es ist zweckmäßig, dazu eine Kommensurabilitätsaussage k(A,B) einzuführen, die genau dann wahr ist, wenn A und ß kommensurabel sind, d. h. wenn A und ß in beliebiger Reihenfolge überprüft werden können, ohne daß sich dadurch die Ergebnisse der jeweiligen Beweisversuche verändern. Für einen Beweis der logischen Konkunktion muß man dann außer A und ß auch noch die Wahrheit von k(A,B) beweisen. — Auf ähnliche Weise können auch die anderen logischen Verknüpfungen AVß und A-»ß neu definiert werden. Aussagen, die aus Elementaraussagen mit Hilfe der logischen Verknüpfungen zusammengesetzt sind, werden durch einen mehrstufigen Beweisprozeß bewiesen, der durch einen Beweisbaum oder durch einen Dialog dargestellt werden kann. Die hier zusätzlich eingeführten Kommensurabilitätsaussagen verlängern die Beweisbäume und Dialoge und vermindern im allgemeinen die Erfolgschancen eines Beweisversuchs. So läßt sich etwa der dreistufige Beweisprozeß der logischen Konjunktion AAß durch einen Beweisbaum mit drei Verzweigungen darstellen, der einen Gewinnast und drei Verlustäste (klassisch zwei) besitzt. Auch an 11 Darüber hinaus läßt sich unter sehr allgemeinen Bedingungen zeigen, daß es keine konsistente Erweiterung der Prozeß-Semantik gibt, die jede Aussage auf einen Sachverhalt in einer experimentell „verborgenen" Realität bezieht. Vgl. Giuntini, 1987.

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den Dialogen werden die verminderten Gewinnchancen deutlich. Wenn der Sprecher-Beobachter (als Proponent) die Aussage A~>B behauptet, dann übernimmt er damit die Verpflichtung, für den Fall, daß ein anderer Sprecher-Beobachter (als Opponent) A beweist, seinerseits B zu beweisen und die Kommensurabilitätsaussage k(A,B). Der Nachweis von k(A,B) ist hier notwendig, um sicherzustellen, daß nach dem ß-Beweis die Aussage A noch gültig ist. — Die durch die KommensurabilitätsTests eingeführten zusätzlichen Komplikationen wirken sich aber nicht auf die Möglichkeit aus, in einem Beweisprozeß überhaupt ein eindeutiges Ergebnis — wahr oder falsch — zu erhalten. Die Wertdefinitheit der Elementaraussagen vererbt sich vielmehr auch hier auf alle mit endlich vielen Junktoren zusammengesetzten Aussagen. Solche Aussagen sind also wie in der klassischen Logik wertdefinit. Zur Charakterisierung wahrer Aussagen ist es zweckmäßig, neben den bereits erwähnten logischen Operationen Anß, AAß, AVß, A~*ß und —iA ebenso wie in der Sprache der klassischen Physik noch die Relationen der Wertäquivalenz^2 und der Implikation einzuführen. Die Relation der Wertäquivalenz A = ß (A ist wertäquivalent zu ß) drückt aus, daß A wahr ist, wenn ß wahr ist und umgekehrt. Die Relation der Implikation A < ß (A impliziert ß) läßt sich dann explizit durch A = AAß definieren. Die Beziehung der Implikationsrelation zu der Operation der materialen Implikation besteht auch hier darin, daß die Implikation A < ß dann und nur dann gilt, wenn die Aussage A -> ß wahr ist.

4.4 Quantenlogik Die gegenüber der Sprache der klassischen Physik erschwerten Bedingungen des Beweisens von Aussagen wirken sich besonders dann aus, wenn man sich für Aussagen interessiert, die unabhängig von den in ihnen enthaltenen Elementaraussagen wahr in dem hier erklärten Sinn sind, also für formal wahre Aussagen. Dann zeigt sich, daß es in der Sprache der Quantenphysik deutlich weniger formal wahre Aussagen gibt als in der Sprache der klassischen Physik. Es gibt aber zunächst viele Übereinstimmungen, d. h. formal wahre Aussagen der klassisch-physikalischen Sprache, die auch noch in der Sprache der Quantenphysik formal wahr sind. So ist wegen der Wertdefinitheit aller finit zusammengesetzten Aussagen auch hier die Aussage A V—iA (tertium non datur) formal wahr, ebenso wie in der klassischen Logik. Von größerer Allgemeinheit, weil 12 In der Sprache der Quantenphysik muß man zwischen Wertäquivalenz und Beweisäquivalenz unterscheiden. In der klassisch-physikalischen Sprache fallen beide Begriffe zusammen und werden dort als Äquivalenz bezeichnet. Wir gehen auf diese Thematik hier nicht näher ein und verweisen statt dessen auf Mittelstaedt, 1987.

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ohne erkennbare pragmatische Voraussetzungen beweisbar, ist die Wahrheit der Aussage A-*A (Satz der Identität) und der Aussage — ( — ) (Satz vom Widerspruch), die beide sowohl in der klassischen Logik als auch in der Sprache der Quantenphysik formal wahr sind. Hinsichtlich dieser drei Aussagen ist das nicht überraschend, denn es handelt sich in allen Fällen um Zusammensetzungen von nur einer Aussage A, so daß Kommensurabilitätsprobleme nicht auftreten können. Es gibt aber auch formal wahre Aussagen, die zwei oder mehr Teilaussagen enthalten, über deren wechselseitige Kommensurabilitäten nichts vorausgesetzt wird. So ist etwa die Aussage (AAß)->A formal wahr, da die für den Beweis der Implikation erforderliche Kommensurabilitätsaussage k(A/\E, A) für alle Aussagen A und ß wahr ist. In ähnlicher Weise läßt sich die formale Wahrheit von unendlich vielen zusammengesetzten Aussagen nachweisen. Die Gesamtheit der formal wahren Aussagen der Sprache der Quantenphysik bildet die formale Logik dieser Sprache, die sich ebenso wie die klassische Logik durch einen endlichen Kalkül erfassen läßt. Sie wird als Quantenlogik bezeichnet. Einfacher als durch die Übereinstimmungen läßt sich die Quantenlogik durch die Unterschiede gegenüber der klassischen Logik charakterisieren. Allgemein bewirken die erschwerten Beweisbedingungen, daß die Quantenlogik schwächer ist als die klassische Logik, d. h. daß es weniger formal wahre Aussagen der Quantenlogik gibt als in der klassischen Logik. Die kürzeste und in einem Logikkalkül zugleich wichtigste Aussage, die in der klassischen Logik formal wahr ist, in der Quantenlogik aber nicht mehr, ist durch ^·( -> ) gegeben. Nur dann, wenn man die Kommensurabilität von A und ß voraussetzt, ist die Aussage A->(ß->A) auch in der Quantenlogik wahr. Für die Anwendung von größerer Bedeutung ist, daß die klassisch-logische Äquivalenz A = (AAß)V(AA—iß) quantenlogisch nicht mehr allgemein gilt, sondern nur noch die schwächere Implikation (AAß)V(AA—iß) ^ A. Die klassischlogische Äquivalenz spielte bei der Frage der Objektivierung eine wichtige Rolle. Wenn für ein Objekt-System die Aussage A wahr ist, dann würde man aufgrund der klassisch-logischen Äquivalenz erwarten, daß dann auch entweder ß oder —iß wahr ist. Diese Annahme der ß-Objektivierung führt jedoch zu einer Wahrscheinlichkeits-Aussage, die mit der quantenmechanisch berechneten Wahrscheinlichkeit in Widerspruch steht. — Das war der deutlichste Hinweis darauf, daß die klassische Logik und die aus ihr folgende Wahrscheinlichkeitstheorie mit der Quantenmechanik unvereinbar sind. Aus der in der Quantenlogik (statt der klassisch-logischen Äquivalenz) nur noch gültigen Implikation (AAß)V(AA—iß) < A läßt sich aber keine Motivation dafür entnehmen, bei Vorliegen der Aussage A die Aussage ß zu objektivieren. Darüber hinaus folgt aus dieser Implikation

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auch nicht mehr die oben angegebene wahrscheinlichkeitstheoretische Gleichung, sondern nur noch die schwächere Ungleichung WA(ßAC) + WA(ßA—iC) ^ WA(B), die in der Quantentheorie immer erfüllt ist. Man kommt daher auch nicht in Konflikt mit Wahrscheinlichkeits-Aussagen, die sich auf quantenmechanische Interferenzphänomene beziehen. Damit gelangt man zu dem wichtigen, aber durchaus erwarteten Ergebnis, daß der Widerspruch zwischen der Objektsprache und der durch sie beschriebenen quantenphysikalischen Wirklichkeit vermieden werden kann, wenn man die klassisch-physikalische Sprache durch eine Sprache ersetzt, deren ontologische Prämissen mit den Gesetzen der Quantenphysik in Einklang stehen. Die Sprache der Quantenphysik, die Quanten-Pragmatik, die Prozeß-Semantik und die quantenphysikalische Realität bilden daher ein selbstreferentielles und konsistentes System.

5. Kritik an der Sprache der Quantenphysik 5.1 Nichthintergehbarkeit Gegen die Einführung und Verwendung der Sprache der Quantenphysik und der Quantenlogik sind verschiedene Einwände erhoben worden, von denen hier drei herausgegriffen werden sollen, weil an ihnen in einem besonderen Maße der Sinn und die Möglichkeiten der neuen Sprache verdeutlicht werden können. Die erste, von Bohr formulierte Kritik basiert auf der Kopenhagener Interpretation der Quantenmechanik. Nach dieser Deutung kann man nicht über die quantenphysikalischen Objekte selbst sprechen, sondern nur über das Verhalten der makroskopischen Meßgeräte, von denen in dieser Interpretation angenommen wird, daß sie den Gesetzen der klassischen Physik unterliegen und nicht der Quantenmechanik. Die Sprache, in der diese klassisch-makroskopischen Gegenstände beschrieben werden, ist dann die Sprache der klassischen Physik, deren Logik die vertraute klassische Logik ist. Solange man auf diese Weise Quantenmechanik auf eine Theorie klassischer Meßgeräte reduzieren kann, besteht kein Grund zu einer Revision der Sprache und Logik. In diesem Sinne ist Bohr's Reaktion auf die ersten Versuche zur Formulierung einer dreiwertigen Quantenlogik 13 zu verstehen: „...the recourse to three-valued logic, sometimes proposed as means for dealing with the paradoxical features of quantum theory, is not suited to give a clearer account of the situation, since all well defined 13 Bohr bezieht sich hier vermutlich auf einen Versuch von Reichenbach (1944), eine dreiwertige Quantenlogik zu formulieren. Diese Ansätze sind wegen unlösbarer formaler Probleme nicht weitergeführt worden.

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experimental evidence, even if it cannot be analysed in terms of classical physics, must be expressed in ordinary language making use of common logic."14 Bohr geht bei seiner Ablehnung der Quantenlogik von zwei nicht haltbaren Voraussetzungen aus. Die erste Voraussetzung betrifft den klassischen Charakter der Meßgeräte. Diese Annahme rührt von den Widersprüchen her, in die man verstrickt wird, wenn man quantenmechanische Objekte und deren Eigenschaften in einer Sprache mit klassischer Logik beschreiben will. Bohr verzichtete deshalb auf eine objektsprachliche Beschreibung der quantenmechanischen Realität und beschränkte sich auf eine metasprachliche Beschreibung der Meßvorgänge. Bohr hat nicht gesehen, daß ein so starker Verzicht nicht notwendig ist, da man zu einer konsistenten objektsprachlichen Beschreibung gelangt, wenn man bereit ist, eine Revision der Logik in Kauf zu nehmen. Bohrs zweite Voraussetzung betrifft die Nichthintergehbarkeit der Sprache der klassischen Physik und der klassischen Logik. Diese Sprache basiert auf der pragmatischen Vorbedingung, daß auch die in der Quantenphysik verwendeten Meßgeräte Gegenstände der klassischen Physik sind. Auch dann, wenn sich Bohr dieser Vorbedingung der klassischen Logik bewußt gewesen wäre, hätte er sie nicht in Frage gestellt. Bohr betrachtete die Quantenmechanik nicht als universell gültig und sah deshalb auch keinen Sinn in einer quantenmechanischen Behandlung des Meßvorgangs. Daß Inkommensurabilitäten, Interferenzen u.s.w. auch bei makroskopischen Prozessen aufteten können, war zum Zeitpunkt der Formulierung des Bohrschen Einwandes noch nicht bekannt. Heute dagegen gehören makroskopische Quantenphänomene zu den gesicherten Erkenntnissen der Physik. Damit ist aber der für Bohr noch mögliche Ausweg eines Rückzugs in die klassische Physik nicht mehr gangbar. Universelle Gültigkeit der Quantenmechanik bedeutet, daß es keinen Bereich der Wirklichkeit gibt, der in Strenge durch die klassische Physik beschrieben wird. Die oben dargestellte Revision der Sprache und Logik in der Physik ist damit aber unausweichlich. Die Frage, welche Sprache und Logik im Bereich der quantenphysikalischen Realität verwendet werden muß, liegt daher nicht mehr im Ermessen des jeweiligen Sprecher-Beobachters. Bohrs Ausweg ist heute nicht mehr möglich.

5.2 Unvollständigkeit Der zweite Einwand, der hier besprochen werden soll, geht zurück auf Einstein15, der zu zeigen versuchte, daß die Quantentheorie und damit auch die quantenphysikalische Objektsprache unvollständig ist. Unvoll14 Bohr, 1948 15 Einstein, Podolsky und Rosen, 1935

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ständigkeit bedeutet hier, daß es reale und empirisch überprüfbare Sachverhalte gibt, denen keine wahren Aussagen der Objektsprache entsprechen. Anders als in der Tarski-Semantik, in der Sachverhalte unmittelbar in Beziehung zu wahren Aussagen gesetzt werden, entsprechen wahre Aussagen in der Prozeß-Semantik nur solchen Sachverhalten, die durch einen aus Messungen und Beweisen zusammengesetzten Erkenntnisprozeß bestätigt worden sind. Über die von solchen Prozessen unberührte Realität macht die Sprache der Quantenphysik daher keine Aussagen. Durch diese Einschränkungen vermeidet man Inkonsistenzen, sie könnten aber auch zur Folge haben, daß die Objektsprache nicht mehr vollständig ist und es Sachverhalte gibt, die von der Sprache nicht erfaßt werden. Diese Zusammenhänge bilden die Basis für Einsteins Kritik. Um die Unvollständigkeit konkret nachzuweisen formuliert Einstein ein Realitätskriterium, das Situationen kennzeichnet, in denen man auch unter den einschränkenden Bedingungen der Prozeß-Semantik von Realität im klassisch-physikalischen Sinne sprechen kann. In einem zweiten Schritt versucht Einstein dann zu zeigen, daß es Sachverhalte im Sinne seines Kriteriums gibt, denen keine wahren Aussagen der Objektsprache entsprechen. — Die Gründe für die Einführung der Prozeß-Semantik sind die Nichtobjektivierbarkeit von Eigenschaften und die unvermeidliche Beeinflussung eines Objekts bei der Überprüfung nichtobjektiver Eigenschaften. Das Einsteinsche Kriterium kennzeichnet daher Situationen, in denen diese beiden Gründe nicht zum Tragen kommen und deshalb die Realität selbst in den Blick kommt. Es lautet: „Wenn man, ohne ein Objekt in irgendeiner Weise zu stören, den Wert einer physikalischen Größe mit Sicherheit voraussagen kann, dann gibt es ein Element der physikalischen Realität, das dieser physikalischen Größe entspricht.'''' Anhand eines Gedankenexperiments versuchte Einstein zu zeigen, daß dort einerseits die Bedingungen des Kriteriums erfüllt sind, es also ein genau bestimmtes Element der Realität gibt, daß anderseits dieses Realitätselement aber nicht von der Objektsprache erfaßt wird. Ohne auf das trickreiche Gedankenexperiment und die fast unüberschaubare Sekundärliteratur einzugehen, läßt sich aber aufgrund der bisherigen Überlegungen bereits folgendes sagen. Wenn ein Objektsystem so präpariert worden ist, daß eine bestimmte Eigenschaft E(A) vorliegt, dann ist diese Eigenschaft E(A) objektiv. Das Vorliegen dieser Eigenschaft E(A) läßt sich daher mit Sicherheit voraussagen und kann durch eine wiederholbare Messung bestätigt werden, ohne das Objekt in irgendeiner Weise zu stören. Diesem Sachverhalt entspricht die Wahrheit der Aussage in der Objektsprache und umgekehrt. Eine Unvollständigkeit der Sprache der Quantenphysik liegt also offensichtlich nicht vor. — Wichtiger in diesem Zusammenhang ist der positive Vollständigkeitsbeweis für die

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Objektsprache und die Prozeß-Semantik. Im Rahmen dieser Semantik entsprechen nur den objektiven Eigenschaften objektive Aussagen. Darüber hinaus gilt aber das oben erwähnte Theorem,16 daß es keine konsistente Erweiterung der Prozeß-Semantik gibt, die es erlauben würde, allen Aussagen Wahrheitswerte zuzuordnen und die als eine realistische Erweiterung der Prozeß-Semantik angesehen werden könnte.

5.3 Empirismus Es ist in der Literatur gelegentlich die Auffassung vertreten worden, daß die hier dargestellte Sprache der Quantenphysik lediglich eine an einem speziellen Gegenstandsbereich orientierte und nur dort sinnvoll anwendbare Wissenschaftssprache sei. So hat Putnam 17 die These vertreten, daß man zur Quantenlogik nicht anders gelangt als „just to read the logic off from the Hilbert space"18. Quantenlogik wäre dann eine kontingente, empirisch gefundene Struktur. Der hier dargestellte Zugang zu Sprache und Logik der Quantenphysik zeigt jedoch, daß die empiristische Deutung einen wichtigen Zusammenhang übersieht. Die Sprache der Quantenphysik wird nicht am Gegenstandsbereich der Quantenphysik orientiert, sondern man erhält diese Sprache durch Verzicht auf diejenigen pragmatischen Vorbedingungen, die im Rahmen der Selbstreferentialität nicht durch die Strukturen des Objektbereichs gerechtfertigt werden können. Dabei werden keine Strukturen des Objekbereichs in die Pragmatik übernommen, sondern es werden nur einige nicht gerechtfertigte Prämissen weggelassen. Diese Methode der Reduktion der ontologischen und pragmatischen Prämissen entspricht der oben formulierten Maxime, daß die Struktur einer wissenschaftlichen Sprache nicht reicher sein soll als die Struktur des von ihr erfaßten Gegenstandsbereiches. Für die universell gültige Quantenphysik folgt dieser Grundsatz aus dem Postulat der selbstreferentiellen Konsistenz. Ohne Bezug auf Selbstkonsistenz ist die kritische Revision der sprachlichen Mittel in Hinblick auf einen Gegenstandsbereich nicht neu und findet sich schon bei Aristoteles. In Pen Hermeneias IX wird gezeigt, daß aus der Bestimmtheit der Wahrheitswerte (Bivalenz) kontingenter, prognostischer Aussagen folgt, daß in dem spachlich erfaßten Bereich der Wirklichkeit zukünftige Ereignisse determiniert sind. Am Beispiel der Aussage a: „Morgen findet eine Seeschlacht statt"' macht Aristoteles dann klar, daß die Annahme, sei wahr 16 Giuntini, 1987 17 Putnam, 1969 18 Der Hubert-Raum ist der Zustandsraum der Quantenmechanik und Ausdruck der allgemeinsten formalen Strukturen dieser Theorie.

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oder sei nicht wahr, über die Realsemantik zur Folge hat, daß schon heute, wenn die Aussage behauptet wird, feststeht, ob die Seeschlacht morgen stattfindet oder nicht. Da Aristoteles einen solchen Determinismus für falsch hält und ablehnt, verwirft er auch die Bivalenz kontingenter prognostischer Aussagen. Am deutlichsten wird die Methode der Reduktion der ontologischen und pragmatischen Prämissen in der Quantenlogik deutlich. Der Sprecher-Beobachter kann nur solche sprachlichen Handlungen ausführen, die im Rahmen der Selbstkonsistenz mit den Gesetzen des quantenphysikalischen Gegenstandsbereiches vereinbar sind. Gegenüber der klassisch-physikalischen Sprache sind die Möglichkeiten des SprecherBeobachters stark eingeschränkt, ohne daß er irgendwelche neuen Möglichkeiten hätte, die klassisch-physikalisch nicht vorhanden wären. Die Quantenlogik ist daher eindeutig schwächer als die klassische Logik. Die Möglichkeit einer Rechfertigung formal logischer Sätze durch einen Rekurs auf die Bedingungen der Möglichkeit des Beweisens von Aussagen, wie sie aus der klassischen Logik bekannt ist, besteht also in der Quantenlogik erst recht. Die formal wahren Aussagen der Quantenlogik sind daher nicht nur in gleichem Sinne, sondern sogar in einem höheren Maße wahr als die klassisch-logischen Sätze. Ihre Wahrheit hängt von weniger pragmatischen Vorbedingungen ab als die Wahrheit der klassischen Logik. Für einen Empirismus der Quantenlogik fehlt daher jede Begründung.

Resümee Die universelle Gültigkeit der Gesetze der Quantenphysik bewirkt, daß diese Gesetze auch für die zu ihrer eigenen Überprüfung verwendeten Meßgeräte gelten. Es gibt deshalb keinen autonomen und von der physikalischen Realität losgelösten Sprecher-Beobachter. Er ist selbst ein Teil der Welt, die er erkennt und beschreibt. Die Gesetze und Beschränkungen der sprachlich erfaßten quantenphysikalischen Wirklichkeit bestimmen somit auch die pragmatischen Möglichkeiten des Sprecher-Beobachters. Die auf der Basis dieser pragmatischen Vorbedingungen aufgebaute Sprache ist ausgestattet mit einer Prozeß-Semantik und einer Syntax, deren allgemeinster formaler Teil die Quantenlogik ist. Die Quantenlogik ist schwächer als die klassische Logik und die Prozeß-Semantik ist schwächer als eine Realsemantik. Es fließt in diese neuen Strukturen aber keine neue Erfahrung ein. Bei ihrer Formulierung sind nur einige vermeintliche Erfahrungen der klassischen Physik weggelassen worden, die durch die Quantenphysik nicht mehr gerechtfertigt sind. Man hätte daher die Quantenlogik schon lange vor den negativen

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Erfahrungen der Quantenphysik allein durch vorsichtigeres Argumentieren finden können. Es gibt Situationen, in denen man die stärkere klassische Logik und die Realsemantik verwenden kann. Das ist die Domäne der klassischen Physik. Die Verwendung der klassischen Strukturen erfordert in jedem Einzelfall eine Rechtfertigung. Weder die Realsemantik noch die klassische Logik können als Normalfall angesehen werden. Nicht die Abschwächungen dieses „Normalfalls" sind rechtfertigungspflichtig, sondern der „Normalfall" selbst. Die einzigen, von speziellen Voraussetzungen freien, nicht rechtfertigungspflichtigen und universell anwendbaren Sprachstrukturen sind die Prozeß-Semantik und die Quantenlogik.

Literatur Aristoteles, Peri Hermeneias, in: Philosophische Bibliothek, Band 8, Leipzig 1948: Felix Meiner Verlag. Bohr, N., „Das Quantenpostulat und die neuere Entwicklung in der Atomistik", Naturwiss., 16, (1928), pp. 245-267 Bohr, N., „On the notion of causality and complementarity", Dialectica, 2, pp. 312-319. Giuntini, R., Studia Logica, 46, 1, (1987), pp. 17—35 Heisenberg, W., Physikalische Prinzipien der Quantentheorie, Leipzig 1930, S. Hirzel Verlag. Kamiah, W. und P. Lorenzen, Logische Propädeutik, 2. Aufl. Mannheim: BI Wissenschaftsverlag 1973. Kant, I. Kritik der reinen Vernunft, Bd. II von: Werke in sechs Bänden, W. Weischedel (Hrsg.), Wiesbaden: 1956 Insel-Verlag. Lorenzen, P. und K. Lorenz, Dialogische Logik, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1978. Mittelstaedt, P., Sprache und Realität in der modernen Physik, Mannheim: BI. Wissenschaftsverlag 1987. Prigogine, I.und I. Strenger, Dialog mit der Natur, München: Piper-Verlag 1981. Putnam, H., „Is Logic Empirical", in: Cohen, R. S., and M. W. Wartofsky (Eds.), Boston Studies in the Philosophy of Science, Vol. V, Dordrecht Holland: D. Reidel Publ. Co. 1969. Reichenbach, H. „Three-Valued Logic and the Interpretation of Quantum Mechanics". An edited portion of sections 29—37 of: Philosophic foundations of Quantum Mechanics, Los Angeles: University of California Press, 1944.

Sprache und Anschauung in der modernen Physik BRIGITTE FALKENBURG

1. 2. 3. 4.

Sprache und Wirklichkeit Funktionen der Anschauung Die Faßlichkeit der Erkenntnis Literatur

Physikalische Theorien gelten als unanschaulich, denn sie sind in der abstrakten und symbolischen Sprache der Mathematik formuliert. Zugleich sollen sie der Modellierung realer Dinge, Ereignisse oder Prozesse dienen, also ideale Beschreibungen wirklicher Sachverhalte inner- oder außerhalb eines physikalischen Labors liefern. Dabei unterstellt man heute oft, daß uns erst die wissenschaftlichen Revolutionen des 20. Jahrhunderts abstrakte, unanschauliche Theorien bescherten und zu gravierenden Interpretationsproblemen führten, die an unserem traditionellen Wirklichkeitsverständnis rüttelten. Nach klassischer Auffassung gilt die konkrete und anschauliche Bedeutung physikalischer Theorien und Modelle als notwendige Bedingung für deren Wirklichkeitsbezug. Vor allem Kants Theorie der Natur spricht der Anschauung die Funktion zu, die semantische Lücke zwischen der formalen Sprache der mathematischen Physik und der Charakterisierung ihres empirischen Objektbereichs zu füllen. Dagegen entwickelte die Physik des 20. Jahrhunderts Theorien und Modelle für die Welt im Kleinen wie im Großen, die den klassischen Vorstellungen nicht mehr entsprechen. Die spezielle und allgemeine Relativitätstheorie sowie die quantentheoretische Beschreibung der Wirklichkeit sind nur noch sehr bedingt mit einer anschaulichen Darstellung ihrer Theorieansätze und spezifischen Modelle verträglich. Der heutige common sense bezüglich dessen, was als anschaulich gilt, ist jedoch etwas historisch Gewordenes. Er hat sich erst lange nach der Entwicklung der neuzeitlichen Physik herausgebildet — nicht zuletzt durch Kants Theorie der Anschauung. Für einen Aristotelianer des 17. Jahrhunderts waren die kopernikanische Theorie und die Newtonsche Mechanik nicht weniger unanschaulich, als es für uns heute die

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Theorien von Planck, Einstein, Bohr, Heisenberg, Schrödinger, Weinberg oder Hawking sind, die sich mit den kosmologischen Vorstellungen und mit dem Wirklichkeitsverständnis des 18. und 19. Jahrhunderts nicht mehr vertragen. Im folgenden möchte ich zunächst die traditionellen erkenntnistheoretischen Debatten zur Beziehung von physikalischer Sprache und Wirklichkeit skizzieren (1. Abschnitt) und sodann zeigen, wie Kants Theorie der Anschauung bestimmte semantische Lücken zwischen der Sprache der mathematischen Physik und unserer Erfahrungswelt schließen sollte (2. Abschnitt). Zuletzt möchte ich im Rückgriff auf Kant andeuten, inwiefern auch die moderne Physik auf anschauliche Begriffe und Modelle angewiesen ist, um ihre abstrakten Systembeschreibungen in den natürlichen Sprachgebrauch einzubetten (3. Abschnitt).

1. Sprache und Wirklichkeit Das mathematische und experimentelle Vorgehen der Physik führt fort vom Alltagsverständnis der Wirklichkeit, von der üblichen qualitativen Erfahrung des Geschehens um uns herum und von der natürlichen Sprache, in der wir unsere Erfahrungen sonst ausdrücken. Die Experimente der Physik sind darauf angelegt, Phänomene zu erzeugen, die man klassifizieren und zum Gegenstand der mathematischen Physik machen kann. Das Buch der Natur, das nach Galilei in mathematischen Lettern geschrieben ist, liegt abgesehen vielleicht vom Sternenhimmel nicht einfach aufgeschlagen vor uns. Wir müssen es in großen Teilen zunächst mit technischen Hilfsmitteln in die Phänomene hineinschreiben, bevor wir daran gehen können, es zu entziffern. Galileis experimentelle Methode ist für die gesamte neuzeitliche Naturwissenschaft konstitutiv — für die Physik, Chemie, Biochemie, Mikrobiologie genauso wie für die Anwendung dieser Disziplinen in der Gentechnologie, Medizin oder den Geowissenschaften. Sie zielt darauf, bestimmte Teilaspekte natürlicher Phänomene zu isolieren, die man unter möglichst idealen natürlichen und technischen Bedingungen analysiert. Die Experimente der Physik und der anderen modernen Naturwissenschaften sind darauf angelegt, regularisierte und reproduzierbare Phänomene herzustellen und sie auf kontrollierbare Weise zu variieren. Um dies zu erreichen, muß man schon theoretisches Wissen oder wenigstens spezifische Vermutungen darüber haben, wie die Naturerscheinungen zusammengesetzt sind und wie sie zusammenwirken. Jedes Experiment soll komplexe Naturvorgänge in spezifische Komponenten zerlegen, die man dann systematisch untersucht, um aus ihnen numerische Meßwerte und funktionale Zusammenhänge für physikalischen Größen zu ermitteln. Erst die Zerlegung der

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Phänomene in regularisierte Komponenten, das analytisch-synthetische Vorgehen nach der experimentellen Methode Galileis, ermöglicht die Anwendung der Mathematik auf Naturerscheinungen. Nur eine beobachtbare Wirkung in einem Versuchsaufbau, die man auf kontrollierte Weise beliebig oft erzeugen kann, läßt sich als Element einer wohldefinierten Klasse gleichartiger physikalischer Phänomene auffassen, die dann der mathematischen Beschreibung zugänglich ist. Die experimentelle Methode dient also der Herstellung wohldefinierter Phänomenklassen und der Untersuchung der systematischen Relationen von deren Elementen. Damit korrespondieren die Ergebnisse von Experimenten dem abstrakten und symbolischen Charakter physikalischer Gesetze und Theorien, den vor allem Pierre Duhem hervorgehoben hat. 1 Physikalische Gesetze werden durch mathematische Symbole wie Ä:, m, dx/dt, p, K, q ausgedrückt, die in bestimmten funktionalen Zusammenhängen wie p = m-dx/dt stehen. Was diese Symbole formal bedeuten, ist implizit durch die axiomatische Basis einer Theorie definiert, in der sie vorkommen — durch Axiome wie das Kraftgesetz der klassischen Mechanik K = m · d2x/dt2. Die physikalische Interpretation dieser formalen Symbole geschieht dann durch Größenbegriffe wie Ort, Masse, Geschwindigkeit, Kraft, Energie, Ladung oder Temperatur. Die physikalische Bedeutung eines Größenbegriffs wie ,Masse' ist abstrakt. Sie liegt nicht in konkreten Gegenständen, sondern in einer Klasse physikalischer Eigenschaften, denen eine ganze Skala numerischer Meßwerte entspricht. Jeder Meßwert wiederum entspricht einer Klasse konkreter Phänomene, die sich unter wohldefinierten experimentellen Bedingungen erzeugen lassen. Bei den Größenbegriffen der Physik handelt es sich nach der Terminologie von Freges Semantik 2 somit um Begriffe zweiter Stufe: (i) Jeder numerische Wert einer physikalischen Größe entspricht einer Klasse von konkreten physikalischen Phänomenen, die sich unter wohldefinierten Bedingungen in Experimenten erzeugen lassen und für die ein Meßgerät oder -verfahren eines bestimmten Typs innerhalb gewisser Fehlergrenzen ein-und-denselben Meßwert liefert. (ii) Ein Größenbegriff ist formal als eine Funktion definiert, die eine Klasse von Eigenschaften in eine Menge von reellen Zahlen abbildet, 3 wobei jeder reellen Zahl ein bestimmter Größenwert entspricht. Diese Menge von reellen Zahlen, die Größenskala, ist nur bis auf die Wahl einer Maßeinheit festgelegt und reicht i. a. von 0 bisx. 1 Vgl. seine Analysen der Beziehung von Theorie und Experiment in: Ziel und Struktur physikalischer Theorien. 2 Vgl. Freges Aufsätze zur Semantik in: Funktion, Begriff, Bedeutung, insbesondere: Über Begriff und Gegenstand, sowie seine Definition des Zahlbegriffs als eines Begriffs zweiter Stufe in den „Grundlagen der Arithmetik". 3 Dies gilt nur in der klassischen Physik unter Einschluß beider Relativitätstheorien; in einer Quantentheorie sind die Größen nicht reellwertig, sondern operatorwer-

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Jeder Größenbegriff der Physik bezieht sich demnach auf eine Klasse von Klassen konkreter physikalischer Phänomene — oder auf eine Klasse physikalischer Eigenschaften, die eine Skala numerischer Meßwerte ausmachen und die man konkreten Phänomenen zusprechen kann, die sich unter wohldefinierten experimentellen Bedingungen erzeugen lassen. Dabei sind die meisten Physiker der Auffassung, daß die Klassenbildung der Physik auf fundamentalen physikalischen Eigenschaften beruht, die Entitäten wie Atomen, Elementarteilchen oder schwarzen Löchern zukommen, die man nicht unmittelbar beobachten kann. Dies ist eine essentialistische Haltung, die ausdrückt, daß die Größenbegriffe der Physik auf die Wesenseigenschaften (oder primären Qualitäten) der Naturerscheinungen zielen. Man kann die Eigenschaftsklasse, die einem physikalischen Größenbegriff entspricht, aber auch ohne jede essentialistische Metaphysik operational festlegen, d. h. an Meßverfahren knüpfen. Hierfür muß man eine Kette empirischer Meßverfahren definieren, mit denen sich die Skala einer Größe lückenlos erfassen läßt.4 Duhem war kein Essentialist; er vertrat eine anti-metaphysische Deutung der abstrakten und symbolischen Sprache physikalischer Größenbegriffe. Nach ihm stehen physikalische Begriffe, Gesetze und Theorien nicht für Dinge oder Vorgänge in concreto. Er betrachtete sie auch nicht als Elemente einer wirklichkeitsgetreuen Beschreibung einer physikalischen Realität, die den beobachtbaren Phänomenen in Form von Wesenseigenschaften und wahren Ursachen 5 zugrundeliegt. Aus Duhems Sicht sind die abstrakten Begriffe einer physikalischen Theorie bloße Instrumente der Theorienbildung. Er hob hervor, daß ihre Festlegung immer ein gewisses Maß an Willkür an sich hat und daß sie primär dazu dienen, möglichst viele qualitativ höchst unterschiedliche Phänomene auf möglichst ökonomische Weise zu bündeln. Im ersten Punkt tendierte er zu Poincares konventionalistischer Sicht der Physik, nach der es immer ein Stück weit willkürlich bleibt, wie man im Einklang mit den experimentellen Ergebnissen physikalische Größenbegriffe definiert und physikalische Gesetze aufstellt. Im zweiten Punkt stand er Ernst Machs empiristischer Auffassung der physikalischen Theorienbildung nahe; tig. Der klassische Größenbegriff geht auf Newton zurück, nach ihm kann die Beziehung zwischen zwei beliebigen (empirischen) Quantitäten durch eine reelle Zahl ausgedrückt werden; vgl. den Artikel Größe von Suppes im „Handbuch wissenschaftstheoretischer Grundbegriffe". 4 Vgl. hierzu meinen Aufsatz: Incommensurability and Measurement. Dagegen legt nach Bridgmans radikalem Operationalismus jedes Meßverfahren eine andere Größenart fest. 5 Im Sinne von Newtons erster Regel des Philosophierens; vgl. den Anfang von Buch III der „Principia".

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nach Mach zielen physikalische Theorien nur auf die ökonomische Darstellung der experimentellen Erscheinungen. Dagegen vertraten die Begründer der modernen Physik einen wissenschaftlichen Realismus, nach dem physikalische Größen und Theorien auf die Wesenseigenschaften und Strukturmerkmale von Dingen und Vorgängen in der Natur zielen. Boltzmann, Planck, Einstein, Rutherford und Bohr waren Atomisten; sie beteiligten sich ja selbst in entscheidender Weise an der Erforschung der Atome. Max Planck grenzte sich in seinem Vortrag „Die Einheit des physikalischen Weltbildes" von 1908 scharf gegen Machs empiristische und phänomenalistische Auffassung der Physik ab und präsentierte eine realistische und essentialistische, wenn nicht platonistische, Sicht der abstrakten Symbole einer physikalischen Theorie. Nach Planck zielt die Herausbildung physikalischer Begriffe darauf, unser Naturverständnis zunehmend von anthropomorphen Konzepten zu befreien. So emanzipierte man sich bei der Entwicklung des Kraftbegriffs der klassischen Mechanik von der Vorstellung der körperlichen Kraft, die wir aufwenden müssen, um Arbeit zu leisten, etwa wenn wir einen Gegenstand heben wollen. 6 In der zunehmenden Entfernung der physikalischen Theorienbildung von der unmittelbaren Sinneserfahrung sieht Planck anders als Mach keinen Verlust, sondern einen Gewinn — oder, besser gesagt, der erzielte Gewinn überwiegt in seinen Augen den in Kauf zu nehmenden Verlust bei weitem: „Schauen wir auf das Bisherige zurück, so können wir kurz zusammenfassend sagen: die Signatur der ganzen bisherigen Entwicklung der theoretischen Physik ist eine Vereinheitlichung ihres Systems, welche erzielt ist durch eine gewisse Emanzipierung von den anthropomorphen Elementen, speziell den spezifischen Sinnesempfindungen. ... Fürwahr, es müssen unschätzbare Vorteile sein, welche einer solchen prinzipiellen Selbstentäußerung wert sind!"7

Die „unschätzbaren Vorteile" liegen, wie Planck im folgenden ausführt, in der zunehmenden Einheit des physikalischen Weltbilds. Damit meint er viel mehr als eine Denkökonomie im Machschen Sinne; er hebt hervor, daß die Vereinheitlichung der Theorienbildung zum physikalischen Unwersalismus führt. Die begriffliche Einheit einer umfassenden Theorie, die auf wenigen Prinzipien beruht und von den spezifischen Umständen, unter denen wir Naturerscheinungen wahrnehmen, möglichst frei ist, macht die Ergebnisse der physikalischen Forschung unabhängig von Ort und Zeit, von der Individualität des Forschers, von Nation und Kultur. 8 Nach Planck ist ein einheitliches Weltbild der von 6 Vorträge und Erinnerungen, S. 30 f. 7 Ebd., S. 31. 8 Ebd., S. 45.

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Mach geforderten Anpassung unserer Theorien an die Tatsachen9 unendlich überlegen, denn der physikalische Universalismus befreit unsere Erkenntnis von den Zufälligkeiten des menschlichen Daseins und führt zu einer konstanten Wirklichkeit, die hinter den variablen und vielfältigen Sinneserscheinungen steht: „Das konstante einheitliche Weltbild ist aber gerade, wie ich zu zeigen versucht habe, das feste Ziel, dem sich die wirkliche Naturwissenschaft in allen ihren Wandlungen fortwährend annähert Dieses Konstante, von jeder menschlichen, überhaupt von jeder intellektuellen Individualität Unabhängige ist nun eben das, was wir das Reale nennen." 10

Nach Duhem oder Mach führt die abstrakte und symbolische Sprache der Physik also von der Wirklichkeit fort, nach Planck dagegen führt sie zu ihr hin. Hier sind offenbar diametral entgegengesetzte Auffassungen dessen, was wirklich ist, im Spiel. Für Duhem oder Mach besteht die Wirklichkeit in beobachtbaren Phänomenen. Der Experimentalphysiker Duhem identifiziert sie mit Beobachtungsresultaten, die man in physikalischen Experimenten gewinnt; der Phänomenalist Mach sieht sie letztlich in ursprünglichen Elementen unserer Empfindungen — sozusagen in Sinnesatomen anstelle der physikalischen Atome von Boltzmann, Planck, Einstein, Rutherford oder Bohr. Für Planck dagegen ist die Wirklichkeit eine konstante Realität, die man hinter dem wechselnden Spiel von Sinneserscheinungen zu suchen hat. Dieses Spiel der Sinneserscheinungen ist einerseits bedingt durch die Beschaffenheit unseres Erkenntnisvermögens, von der sich die Physik so weit wie möglich emanzipieren soll, und andererseits durch die unveränderlichen Gesetze der dahinterliegenden Realität, deren Beschaffenheit erst durch diese Emanzipation zum Vorschein kommt. Der hier skizzierte Gegensatz von Plancks wissenschaftlichem Realismus zu Machs empiristischer oder Duhems instrumentalistischer Position kam nicht erst an der Schwelle des 20. Jahrhunderts auf. Er ist vielmehr charakteristisch für die erkenntnistheoretische Auseinandersetzung, die schon immer um den Wirklichkeitsbezug der neuzeitlichen Physik geführt wurde — d. h. seit Kopernikus und Galilei. Das kopernikanische Weltbild, für dessen Verteidigung Galilei der Prozeß gemacht wurde, und Galileis neue Bewegungslehre mußten sich gegen das geozentrische Weltbild, die aristotelische Physik und die scholastische Philosophie durchsetzen. Die aristotelische Physik galt als erfahrungsnah und intuitiv, sie machte keinen Gebrauch von mathematischen und technischen Methoden. Auch das geozentrische Weltbild war erfahrungsnah 9 Vgl. Machs Buch „Erkenntnis und Irrtum", S. 164 ff. 10 Vorträge und Erinnerungen, S. 49.

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und intuitiv, und es kam nicht in Konflikt mit der Bibel. Kopernikus, Kepler und Galilei wandten sich vom Aristotelianismus ab, um die pythagoräische und platonische Tradition aufzugreifen. Die in der Schule der Pythagoräer praktizierte angewandte Mathematik hatte seit jeher als eine esoterische Wissenschaft gegolten. Das Neue an Galileis experimenteller Methode war, daß sie es nun erlaubte, die Pythagoräisierung der Natur immens auszuweiten, indem sie die Naturvorgänge unter Laborbedingungen auf die Anwendbarkeit der Mathematik zuschnitt. Darüberhinaus führte Galilei optische Instrumente wie das Fernrohr in die Astronomie ein, um alte Beobachtungsdaten zu präzisieren und neuartige Beobachtungen zu machen. Natürlich rief dies den Einwand der Aristotelianer auf den Plan, Geräte wie das Fernrohr und mechanische Experimente dienten nicht der Naturbeobachtung, sondern der Herstellung künstlicher Phänomene mit technischen Methoden. Auch dieser Einwand findet sich noch in den modernen Debatten um die realistische oder instrumentalistische Deutung der physikalischen Theorienbildung wieder — ich möchte hier nur an Eddingtons provozierende Frage erinnern, ob das Experiment die Natur nicht ins Prokrustes-Bett spannt. 1 1 Seit der Begründung der neuzeitlichen Physik kann man grob fünf Epochen einer nimmer endenden Debatte um die realistische Deutung physikalischer Theorien unterscheiden. Diese Debatte hatte in jeder Epoche ihre spezifische Ausprägung — bedingt teils durch den historischen Stand der Physik und teils durch das philosophiegeschichtliche Umfeld, das immer auch Rückwirkungen auf die Sprache der Physik hatte. (1) Prägend für den Beginn der neuzeitlichen Physik waren die Auseinandersetzung mit dem spätscholastischen Aristotelismus, der Konflikt des kopernikanischen Weltbilds mit der Kirche sowie die theologischen Versuche, den Wahrheitsanspruch des kopernikanischen Systems und Galileis neue astronomische Befunde durch instrumentalistische Einwände zu entschärfen. Galileis Hauptwerke präsentierten die Argumente für das neue Weltbild entsprechend im Gewand kunstvoller Dialoge, die an den Leser appellieren, anders als die Aristotelianer weder dem Augenschein noch der Überlieferung zu glauben, sondern sich durch logische Analyse selbst davon zu überzeugen, daß die neuen, kontraintuitiven Erkenntnisse über den Weltbau und die Bewegungen der Körper wahr sind. (2) Die Ausbildung der klassischen Mechanik zu einer axiomatischen Theorie, wie sie erstmals in Newtons „Principia" vorliegt, wurde prägend für das Zeitalter der Aufklärung. Die vorherrschenden philoso11 Vgl. „The Philosophy of Physical Science", S. 106 ff. Als neuere Arbeit, die diese Frage in der erforderlichen Differenziertheit behandelt, ist vor allem Hackings „Representing and Intervening" zu nennen.

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phischen Strömungen des 17. und 18. Jahrhunderts waren: die rationalistische Metaphysik von Descartes über Leibniz und Wolff bis hin zum vorkritischen Kant; der französische Materialismus; der Cambridger Neuplatonismus, der Newton stark beeinflußte; sowie der englische Empirismus, mit dem Newtons Metaphysik fälschlicherweise lange assoziiert wurde. Die Sprache der Physik ist in dieser Epoche weitgehend beherrscht von metaphysischen Begriffen wie ,Trägheitskraft', ,Substanz' und ,absoluter Raum'. Diese Begriffe waren Gegenstand erbitterter philosophischer Auseinandersetzungen, etwa in der Leibniz-Clarke-Debatte. Kant unternahm es, sie teils zu kritisieren und teils in eine Metaphysik der Erfahrung zu integrieren, die auf die Struktur der Newtonschen Mechanik zugeschnitten war und völlig neue Maßstäbe für die Anschaulichkeit einer wissenschaftlichen Theorie setzte. (3) Die Auseinandersetzung mit Kant brachte erst den deutschen Idealismus, dann die romantische Naturphilosophie des 19. Jahrhunderts und schließlich die strikte Trennung der empirischen Naturwissenschaft von der Metaphysik. Faraday begründete die Feldtheorie; die Thermodynamik, Maxwells Elektrodynamik und die kinetische Gastheorie entstanden. Die Sprache der Physik wurde um die Begriffe ,Energie' und ,Entropie' erweitert. Maxwell und Boltzmann gründeten ihre Theorien noch auf anschauliche mechanische Modelle; Maxwell entwikkelte ein mechanisches Modell des Äthers als Träger elektromagnetischer Wellen. Mach polemisierte gegen die Existenz der Atome und forderte ausgerechnet unter Berufung auf den Atomisten und wissenschaftlichen Realisten Newton, man solle die Atomtheorie später durch eine „natürlichere Anschauung" ersetzen. 12 (4) Durch den Umbruch der Physik zu Beginn des 20. Jahrhunderts bekam die Realismus-Debatte völlig neue Stoffe. Einstein unterzog Newtons Auffassungen von Raum und Zeit einer tiefgreifenden Kritik, die zu einer operationalen Defoinition der Gleichzeitigkeit und zu neuen theoretischen Konzepten der Raum-Zeit führte. Viele Neukantianer sahen diese Kritik als Angriff gegen Kants Theorie der Anschauung. Carnap und Reichenbach wandten sich vom Neukantianismus ab, traten in Machs Fußstapfen und begründeten den logischen Empirismus. Im Zuge des aufkommenden Nationalsozialismus schließlich wurden Einsteins Theorien als Zumutung für den gesunden Menschenverstand verunglimpft. 13 Die experimentellen Befunde der Atomphysik zwangen dazu, die klassische Strahlungstheorie preiszugeben und Abschied zu nehmen vom klassischen Begriff eines physikalischen Objekts, der unverträglich 12 Die Mechanik in ihrer Entwicklung, S. 466. 13 Vgl. Hentschel, Interpretationen und Fehlinterpretationen der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie, S. 122 ff.

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mit der Eigenschaftsstruktur der Quantenmechanik ist. Einstein wiederum fand Heisenbergs operationale Deutung inneratomarer Vorgänge, Bohrs Komplementaritätsbegriff und die Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik völlig inakzeptabel. Er konnte sich niemals mit Bohrs und Heisenbergs Auffassung abfinden, nach der uns die Quantenmechanik zwingt, die Beziehung der Sprache zur Wirklichkeit in der Physik völlig neu zu definieren. 14 (5) Noch die heutige postmoderne Tendenz, die traditionellen Erkenntnisideale für obsolet zu erklären und die neuzeitliche Physik historistisch zu deuten, gehört m. E. in diese Linie. Für die Wissenschaftssoziologen und -historiker der Postmoderne ist die Physik zwangsläufig uneinheitlich; physikalische Theorien und ihre experimentellen Grundlagen sind bloße Konstrukte menschlichen Denkens und Handelns; und unser physikalisches Weltbild ist als rein gesellschaftlich bedingt und kulturrelativ anzusehen. Diese Sicht ist letztlich aus der Not des Nichtverstehenskönnens geboren und macht daraus die Tugend des Nichtverstehenwollens. Ohne neuere konstruktivistische Mißverständnisse der physikalischen Theorienbildung im einzelnen aufzugreifen, 15 möchte ich hier nur folgendes anmerken. Sie sind getragen von einer anti-aufklärerischen Geisteshaltung, deren Fatalität wir uns gerade in Deutschland nicht oft genug vor Augen führen können; daß mancher Konstruktivist sie im Bewußtsein vorträgt, die Aufklärung fortzusetzen, macht die Sache nicht besser. Dennoch hat die neuere Realismus-Kritik ihren wahren Kern. Plancks Plädoyer von 1908 für den wissenschaftlichen Realismus vor Augen, muß man konstatieren, daß die erkenntnistheoretische Debatte um den Wirklichkeitsbezug der Physik mit dem Aufkommen der Relativitäts- und Quantentheorien eine völlig neue Gestalt annahm. Quantenprozesse sind im Prinzip unverträglich mit den Lokalitätsannahmen der klassischen Physik und mit der relativistischen Bedingung der EinsteinKausalität, wonach Signale nicht schneller als mit Lichtgeschwindigkeit übertragbar sind. Bis heute gibt es weder eine restlos überzeugende Quantentheorie der Messung noch einen befriedigenden Ansatz zur Vereinheitlichung von Quanten- und Gravitationstheorie. Die physikalische Erkenntnis ist darum heute tatsächlich fragmentiert; und man muß sich ernstlich fragen, ob sich hier nicht faktische Grenzen für die theoretische 14 Vgl. vor allem Bohrs Como-Vortrag „The quantum postulate and the recent development of atomic theory" von 1927, Bohrs Rekapitulation der Diskussionen mit Einstein von 1949 und Heisenbergs Arbeiten „Ordnung der Wirklichkeit" (insbes. I.Abschnitt) sowie „Sprache und Wirklichkeit in der modernen Physik". 15 Vgl. dazu Erhard Scheibes Aufsatz „Mißverstandene Naturwissenschaft" von 1997.

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Vereinheitlichung in der Physik abzeichnen, die den von Planck geforderten Universalismus bedrohen. 16 Die Existenz einer einheitlichen Sprache mathematischer Funktionen und physikalischer Größenbegriffe stellt eben noch nicht sicher, daß alle physikalischen Systembeschreibungen auch in eine einheitliche axiomatische Theorie eingebettet werden können. Die Skala einer physikalischen Größe, etwa die Längen- oder Massenskala, überdeckt immer die Anwendungsbereiche mehrerer Theorien, deren Grundlagen miteinander unverträglich sind: sie reicht von den Dimensionen der Quarks und Atomkerne über makroskopische Körper bis hin zur geschätzten Masse und Ausdehnung des Universums insgesamt. Die heutige Physik ist weit davon entfernt, alle diese Gegenstände durch eine einheitliche Theorie zu erfassen. Sie ist allerdings noch weiter davon entfernt, angesichts der verlorengegangenen Einheit nun auf den traditionellen Erkenntnisanspruch von Kopernikus, Galilei oder Newton zu verzichten. Stattdessen versucht man, die vielfältigen Theorieansätze und Modelle der heutigen Physik in eine einheitliche informelle Sprache einzubetten, die flexibel genug ist, die Brüche in der physikalischen Wirklichkeitsbeschreibung wenigstens semantisch zu glätten — im Vertrauen auf eine zukünftige axiomatische Einheit der Physik, deren Möglichkeit und Wünschbarkeit als regulatives Prinzip der Theorienbildung fungiert. Diese informelle Sprache ist quasi-klassisch. Sie verleitet dazu, über Quantenobjekte oder das Universum so ähnlich zu sprechen wie über Gegenstände der Alltagserfahrung. Sie umfaßt so anschauliche Ausdrücke wie ,Welle' und ,Teilchen' und wendet sie auf das subatomare Geschehen an, ohne mit diesem Gebrauch den Anspruch auf vollständige klassische Objektbeschreibungen zu verknüpfen; und sie beschreibt die Entwicklung des Universums seit dem Urknall, als handele es sich um ein unter Laborbedingungen beobachtbares physikalisches System. Bevor ihre Funktionsweise und Leistungsfähigkeit behandelt wird, soll aber noch dargestellt werden, was im Übergang zur Physik des 20. Jahrhunderts als Verlust der Anschaulichkeit beklagt wurde.

2. Funktionen der Anschauung Die Begründer der modernen Physik beriefen sich im allgemeinen auf Kant, wenn sie die klassische Physik anschaulich und die nicht-klassische Physik unanschaulich nannten. In den erkenntnistheoretischen Einstel16 Zündstoff für diese Frage liefern Nancy Cartwrights Arbeiten, insbesondere ihr Buch „How the Laws of Physics Lie".

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lungen von Planck, Einstein, Bohr, Heisenberg und auch Pauli hat nicht nur die Auseinandersetzung mit Machs Metaphysik-Kritik ihre Spuren hinterlassen, 17 sondern auch die über den Neukantianismus ausgelöste Auseinandersetzung mit Kants Theorie der Natur. Was konnten die Physiker darin zur Anschaulichkeit physikalischer Objekte finden, welche semantischen Funktionen spricht Kant der Anschauung bei der Interpretation der formalen Sprache der Physik zu? Diese Frage ist entscheidend, denn vor Kants kritischer Philosophie gab es keine einheitliche Theorie der Anschauung; 18 nach der Rezeption von Kants „Kritik der reinen Vernunft" dagegen verstand eigentlich jeder Gebildete, ob Kantianer oder nicht, unter ,Anschauung' mehr oder weniger die reinen Formen der Anschauung, Raum und Zeit, die Kant in seiner transzendentalen Ästhetik beschreibt; 19 dabei handelt es sich um kognitive Vermögen a priori, die zu den Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung zählen. An dieser Stelle sind drei grundsätzliche Bemerkungen zu Kants Theorie der Anschauung erforderlich. (1) Kants Identifikation von Raum und Zeit mit Formen der Anschauung, die zugleich subjektive Bedingungen der Möglichkeit objektiver Erfahrungen sind, beruht auf bestimmten Grundannahmen der Newtonschen Physik. Hervorgegangen ist sie jedoch aus einer langjährigen Auseinandersetzung mit den metaphysischen Debatten des 18. Jahrhunderts über Raum und Zeit, insbesondere mit der Leibniz-Clarke-De-

17 Vgl. etwa Einsteins autobiographische Bemerkungen von 1949, Plancks oben zitierten Vortrag „Die Einheit des physikalischen Weltbilds", Bohrs Nobel-Vortrag von 1922 und meinen Aufsatz „Bohr's Principles of Unifying Quantum Disunities". — Pauli kam der Machsche Einfluß vor allem in den Jahren um 1923/24 zugute, als die sogenannte ältere Quantentheorie aufgrund verwirrender Befunde aus der Atomspektroskopie, die auf den genuin nicht-klassischen Freiheitsgrad ,Spin' zurückgingen, in die Krise geriet. Er hatte Ernst Mach zum Patenonkel und äußerte sich wie folgt über seine Beziehung zu ihm: „Er war offensichtlich eine stärkere Persönlichkeit als der katholische Priester, und das Resultat scheint zu sein, daß ich auf diese Weise ,antimetaphysisch' anstatt katholisch getauft wurde." Vgl. Pauli 1994, S. 13 f. (Rückübersetzung aus dem Englischen). 18 Die rationalistische Ideenlehre von Descartes über Leibniz bis Wolff kannte keinen so scharfen Unterschied zwischen zwei Arten von Vorstellungen, wie ihn Kant seit seiner „Dissertation" von 1770 machte, nämlich zwischen diskursiven Vorstellungen oder Begriffen und intuitiven Vorstellungen oder Anschauungen. Auch wurde die Anschauung vor Kant nicht unbedingt mit unserem kognitiven Vermögen, uns Einzelobjekte in Raum und Zeit vorzustellen, assoziiert. 19 Insbesondere knüpften auch die Begründer der modernen Logik und Mathematik teils kritisch (Cantor und Frege), teils affirmativ (Hubert) an Kant an. Der Marburger Neukantianismus (Cohen, Natorp) eliminierte Kants Theorie der Anschauung allerdings aus seiner Wissenschaftsphilosophie.

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hatte.20 Kant wollte mit seiner Theorie der Anschauung den absoluten Raum als idealen Bezugsrahmen für die Konstruktion von Trägheitsbewegungen beibehalten, ohne Leibniz' Kritik am Begriff eines realen absoluten Raums außer acht zu lassen; er wollte ihn mit Leibniz' relationaler Raum-Zeit-Auffassung vereinbaren, nach der Raum und Zeit bloße Beziehungen materieller Phänomene sind — die Ordnungen der Koexistenz und Aufeinanderfolge von Naturerscheinungen. (2) Kant war ursprünglich ein metaphysischer Realist, dessen Vereinheitlichungsbestrebungen weit über einen wissenschaftlichen Realismus im oben diskutierten, Planckschen Sinne hinausgingen. Seine vorkritische Kosmologie sollte die divergierenden metaphysischen Positionen des 18. Jahrhunderts nach besten Gründen und Gegengründen in eine einheitliche Theorie von Raum, Zeit und Materie integrieren. Dieser Versuch führte schließlich in so unüberwindliche innertheoretische Schwierigkeiten, daß Kant nur noch den Ausweg sah, anstelle einer objektiven Theorie von Raum und Zeit als realen Dingen, Eigenschaften oder Relationen in der Natur eine subjektive Theorie von Raum und Zeit als bloßen Formen unserer Sinnlichkeit zu entwickeln. 21 In Plancks Terminologie von 1908 ausgedrückt, war er nun zur Auffassung gelangt, daß Raum und Zeit anthropomorphe Vorstellungen sind — Vorstellungen allerdings, von denen wir uns nach Kant nicht im Verlauf der Theorienbildung der Physik befreien können, weil sie Bedingungen der Möglichkeit aller objektiven Erfahrung sind. (3) Als subjektive Form der Anschauung, die a priori vor aller Erfahrung gegeben ist, legt der Raum die Struktur der Erfahrung durchgängig mit einer euklidischen Metrik fest. Kant war sich der (rein logischen) Möglichkeit einer nicht-euklidischen Geometrie bewußt, aber er verwarf sie für die Anwendung der Mathematik in einer physikalischen Kosmologie, die von Erfahrungsgegenständen handeln soll. Die Modelle einer nicht-euklidischen Geometrie sind nicht in der Anschauung konstruierbar, darum gesteht Kant ihnen keine „reale" Möglichkeit zu. 22 Seine Theorie der Anschauung ist in diesem Punkt aus moderner Sicht nicht zu retten — auch nicht, indem man sie so interpretiert, daß die RaumZeit-Lehre der transzendentalen Ästhetik eben nur für die Alltagserfahrung gültig sei, von der sich die wissenschaftliche Erfahrung noch einmal erheblich unterscheiden könne. Die Erfahrung, deren Struktur in der „Kritik der reinen Vernunft" analysiert wird, ist eben nicht die Alltagser20 Vgl. etwa das Einleitungskapitel in Friedman, Kant and the Exact Sciences; oder Kapitel XVII, S. 438 ff., in Beck, Early German Philosophy. 21 Vgl. meinen Aufsatz „Kants Kosmologie und die Kritik am metaphysischen Realismus". 22 Vgl. dazu insbesondere Friedman, Kant and the Exact Sciences, S. 92 f.

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fahrung, sondern die wissenschaftliche oder systematische Erfahrung, wie sie den empirischen Naturwissenschaften zugrundeliegt. 23 Weil sich Kants Theorie der Anschauung auf die wissenschaftliche Erfahrung bezieht, gerät sie unvermeidlicherweise mit der speziellen und der allgemeinen Relativitätstheorie in Konflikt. Es war nur konsequent, daß sich Carnap und Reichenbach vom Neukantianismus abwandten, um einen wissenschaftlichen Empirismus zu begründen; sie waren der Auffassung, daß die Einsteins Relativitätstheorien den empirischen Charakter der physikalischen Raum-Zeit-Struktur indizieren. Aus ihrer Sicht hatte Kants Theorie der Anschauung insbesondere die Funktion, die Axiome der euklidischen Geometrie zu begründen — etwa den synthetisch-apriorischen Charakter des Parallelen-Axioms. 24 Einsteins Theorien dagegen demonstrieren, daß es physikalische Alternativen zur euklidischen Geometrie gibt, über die man durch Messungen empirisch entscheiden kann. Kants Formen der Anschauung sind also, selbst wenn sie a priori sein mögen, jedenfalls nicht Bedingungen der Möglichkeit jeder physikalischen Erfahrung; sie haben keine unbedingte Notwendigkeit an sich. Aus der Sicht des logischen Empirismus ist die Raum-Zeit-Struktur (bis auf bestimmte frei wählbare Elemente wie die Einstein-Konvention zur Synchronisation von Uhren 25 ) weitgehend empirisch festgelegt. Das kantische Apriori wird dadurch zumindest relativiert, 26 wenn nicht voll-

23 Dies hebt vor allem Friedman im Anschluß an den Neukantianismus hervor. Siehe auch Kants Vergleich der wissenschaftlichen Metaphysik, die er mit seiner Theorie der Erfahrung begründen will, mit dem systematischen Vorgehen in der empirischen Naturwissenschaft in der Vorrede zur Z.Auflage der „Kritik der reinen Vernunft", S. B XIII ff., und seine Definition von Wissenschaft als Erkenntnis mit systematischer Einheit im Architektonik-Kapitel, S. A 860/B 832. 24 Vgl. etwa Reichenbach in: The Rise of Scientific Philosophy, S. 40 f. Die Theorie der Anschauung ist ja wesentlicher Bestandteil von Kants Lehre der synthetischen Urteile a priori, die sich auf Erfahrungsgegenstände beziehen (also, nach Kant, synthetisch sind) und dennoch apodiktische Notwendigkeit haben (weil sie a priori sind, d.h. vor aller Erfahrung aufgestellt werden können). Danach folgt z. B. aus der intuitiven Evidenz der Vorstellung von zwei parallelen Geraden, daß das Parallelenaxiom ein synthetisches Urteil a priori und damit notwendigerweise wahr ist. 25 Einstein muß in seiner Arbeit von 1905 „durch Definition festsetzen, daß die ,Zeit', welche das Licht braucht, um von A nach B zu gelangen, gleich ist der ,Zeit', welche es braucht, um von B nach A zu gelangen." Zur Elektrodynamik bewegter Körper, § 1. An diese Festsetzung schloß sich ausgehend von Reichenbach eine wissenschaftstheoretische Konventionalismus-Debatte an. Zu den Konsequenzen einer von der Einstein-Konvention abweichenden Nicht-Standard-Festsetzung vgl. Friedman, Foundations of Space-Time Theories, S. 165 ff. 26 Dies war zunächst Reichenbachs Position; vgl. „Relativitätstheorie und Erkenntnis a priori".

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ends aufgehoben. Nach Carnap muß man die mathematische Geometrie, die auf analytischen Urteilen beruht und deren Axiome a priori aufgestellt werden, von der physikalischen Geometrie, die synthetisch ist und deren Wahl auf der Erfahrung beruht, wie folgt unterscheiden: „Die mathematische Geometrie ist a priori. Die physikalische Geometrie ist synthetisch. Keine Geometrie ist beides. Wenn man den Empirismus akzeptiert, dann kann es kein Wissen geben, das sowohl a priori wie auch synthetisch wäre. ... Eine klare Unterscheidung ist hier notwendig, wenn man Verwechslungen vermeiden und die umwälzenden Ideen der Relativitätstheorie verstehen will." 27

Aus der Sicht der abtrünnigen Neukantianer konnte von Kants Theorie der Anschauung kaum mehr als eine psychologische Auffassung von Raum und Zeit übrigbleiben, die von einer mathematischen oder physikalischen Raum-Zeit-Theorie strikt zu unterscheiden ist. Der Psychologismus-Vorwurf, den schon der Marburger Neukantianismus aufgriff, 28 ist naheliegend; denn die Anschauungsformen von Raum und Zeit sind für Kant ja nichts anderes als subjektive kognitive Vermögen, deren Leistung darin besteht, alles, was wir wahrnehmen, in Ordnungen der Koexistenz und der Aufeinanderfolge zu bringen. Unser Wahrnehmungsraum ist zwar nach heutiger Kenntnis nicht exakt euklidisch, aber er hat die Struktur einer dreidimensionalen topologischen Mannigfaltigkeit; und gestaltpsychologische Experimente zeigen, daß wir in unserer Kultur daran gewöhnt sind, seine Euklidizität zu unterstellen. Entsprechend wird noch heute die Unanschaulichkeit einer relativistischen Raum-Zeit gern als ein rein psychologisches Problem bewertet, dem sich mit zweidimensionalen Diagrammen, die den Minkowski-Raum oder eine gekrümmte Raum-Zeit veranschaulichen, wenigstens ein Stück weit abhelfen läßt. Die Entanthropomorphisierung der physikalischen Begriff sbildung, die Planck im Vortrag von 1908 herausarbeitete, ist aus dieser Sicht weiter fortgeschritten, als Kant es je für möglich hielt. Es ist allerdings mehr als fraglich, ob sich die Funktion der Anschauung bei der physikalischen Theorienbildung tatsächlich darin erschöpft, höherdimensionale mathematische Raum-Zeit-Strukturen zu didaktischen Zwecken durch Diagramme zu veranschaulichen. Schon in Kants Theorie der Natur läßt sich die Funktion der Anschauung nicht auf die Auf27 Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften, S. 182. 28 Schon im Marburger Neukantianismus (Cohen, Natorp) war es herrschende Lehre, daß Kants Theorie der Anschauung nur eine psychologische Theorie sei, die in einer wissenschaftlichen Theorie der Natur eigentlich fehl am Platz ist. Der Psychologismus-Vorwurf gegen Kant erstreckt sich auf Kants Anschauungslehre sowie auf die von Kant verwendete traditionelle Begriffs- und Urteilslogik gleichermaßen. Man findet ihn noch in der heutigen analytischen Philosophie, etwa in der „Logisch-semantischen Propädeutik" von Tugendhat und Wolf.

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gäbe reduzieren, die Axiome der euklidischen Geometrie als synthetische Urteile a priori zu erweisen. Darum ist auch keineswegs ausgemacht, daß mit dem Fortfall dieser Aufgabe nur noch die psychologische Funktion der Veranschaulichung übrigbleibt. Um die Funktionen der Anschauung in Kants Theorie der Natur zu charakterisieren, muß man an die Unterscheidung zwischen Anschauungen und Begriffen anknüpfen, die grundlegend für Kants Theorie von Raum und Zeit als subjektiven Formen der Anschauung ist. Kant vollzog mit dieser Unterscheidung den entscheidenden Bruch mit der rationalistischen Ideenlehre, die in der Tradition von Descartes über Leibniz und Wolff bis in den Wolffianismus hinein als gemeinsame Grundlage jeder Erkenntnistheorie fungierte. Ihre Grundannahmen fanden sich selbst im englischen Empirismus. Der Bruch mit ihr war nichts anderes als eine wissenschaftliche Revolution im Kuhnschen Sinne; Kant sprach ja in der Vorrede zur 2.Auflage der „Kritik der reinen Vernunft" selbst von einer „Revolution der Denkart". Diese Revolution leitete das Ende der Leibniz-Wölfischen Schulphilosophie und die Entstehung des deutschen Idealismus ein. Seit 1770 betrachtete Kant intuitive Vorstellungen, die unmittelbare Evidenz für uns haben, und diskursive Vorstellungen, die wir in logischen Operationen schrittweise verknüpfen, nicht mehr wie Descartes, Leibniz oder Wolff als grundsätzlich verwandte Vorstellungstypen, die sich höchstens im Grad der Klarheit und Gewißheit ihrer einzelnen Merkmale unterscheiden. Er sah sie nun als zwei prinzipiell verschiedene Vorstellungstypen an, die aus dem Verstand bzw. der Sinnlichkeit als zwei distinkten kognitiven Vermögen stammen und die entgegengesetzte formale Merkmale aufweisen: Begriffe sind allgemeine Vorstellungen; sie sind aus höchstens endlich vielen allgemeinen Merkmalen (oder Prädikaten) zusammengesetzt und begreifen ihre Teilvorstellungen unter sich. Anschauungen dagegen sind Einzelvorstellungen; sie sind einzeln im Raum oder in der Zeit als reine Formen der Sinnlichkeit gegeben; sie stellen unendliche gegebene Größen (mit den Eigenschaften des mathematischen Kontinuums) dar und können beliebig viele Teilvorstellungen in sich begreifen.29 Mit anderen Worten: Begriffe sind abstrakt und symbolisch und subsumieren spezifische Begriffsinhalte bzw. Gegenstände unter sich; Anschauungen dagegen sind konkret und bildhaft und repräsentieren spezifische Vorstellungsinhalte in sich. Die kognitive Leistung der Anschauung besteht nach Kant primär darin, unser individuierendes Ver29 Vgl. Kants Dissertation „De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis" von 1770, § 14 und § 15, Schriften zur Metaphysik und Logik, S. 47 — 65; parallel dazu die transzendentale Ästhetik der „Kritik der reinen Vernunft", S. A 227 B 37 ff. und S. A 3l/B 46 ff.

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mögen zu sein: sie ermöglicht es uns, Einzeldinge in Raum und Zeit zu unterscheiden. Die unüberwindlichen Schwierigkeiten, in die Kants vorkritische Kosmologie führte, resultierten tatsächlich in erster Linie aus einem Individuationsproblem, das er erst mit seiner Theorie der Anschauung von 1770 lösen konnte und das ich nachher noch skizziere. Erst die Anschauung liefert nach dem kritischen Kant konkrete Begriffsinhalte in Raum und Zeit, und damit konkrete Gegenstände für abstrakte Verstandesbegriffe. Sie liefert den Anwendungsbereich für abstrakte Begriffe, denen objektive Realität zukommen kann, und spielt so in der Erkenntnistheorie der „Kritik der reinen Vernunft" eine zentrale Rolle für die Konstitution von Erfahrungsgegenständen.30 Die Anschauung ist danach konstitutiv für die Erzeugung der Gegenstände jeder wissenschaftlichen Theorie, sei es nun die Mathematik, die Physik oder auch die wissenschaftliche Metaphysik, die Kant mit seiner Vernunftkritik begründen wollte. In seiner Theorie der Mathematik und der Natur hat die Anschauung die semantische Funktion, die Gegenstandsbereiche für die abstrakten und symbolischen Begriffe formaler Theorien zu liefern. Da ihm hierfür noch keine abstrakte Mengentheorie zur Verfügung stand, griff er auf Raum und Zeit zurück. Sie mit reinen Formen der Anschauung zu identifizieren, sollte im folgenden Sinne die Interpretation formaler Theorien ermöglichen: die Gegenstände einer formalen Theorie lassen sich formal jeweils als endliche Einschränkungen des unendlichen Anschauungsraums konstruieren und der Reihe nach gedanklich in der Zeit erzeugen. Kants Theorie der Anschauung sollte so insgesamt drei unterschiedliche semantische Funktionen erfüllen: 1. Sie diente dazu, seine Logik, die auf der traditionellen Urteilslehre beruht und relativ strukturarm ist,31 strukturell zu erweitern. Die Erweiterung ermöglichte ihm unter anderem, (i) potentiell-unendliche Individuenbereiche zu definieren, (ii) über sie zu quantifizieren, (iii) 30 In diesem Zusammenhang ist Kants Unterscheidung von „logischer" und „realer" Möglichkeit zentral; vgl. Plaass, Kants Theorie der Naturwissenschaft, S. 55 ff., sowie Friedman, a.a. O., vgl. Anm. 21. 31 ...die'sich aber nicht in monadischer Prädikation erschöpft: Kant kannte selbstverständlich Relationen und konnte sie mittels der traditionellen Urteilsformen auch ausdrücken. Dagegen behauptet Friedman in: Kant and the Exact Sciences, S. 63: „For Kant logic is of course syllogistic logic or (a fragment of) what we call monadic logic." Diese in der angelsächsischen Literatur verbreitete Auffassung, die traditionelle Logik beschränke sich auf monadische Prädikation, geht auf Russells Leibniz-Kritik zurück. Vgl. dagegen Ishiguros Rekonstruktion der Leibnizschen Relationslogik in: Leibniz's Philosophy of Logic and Language; sowie Strawsons Ausführungen zur Übersetzbarkeit der traditionellen Syllogistik und des Quadrats der Gegensätze in die moderne Prädikatenlogik mit Quantifikation, in: Introduction to Logical Theory, 6. Kapitel.

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kontinuierliche Mengen zu erzeugen und damit insgesamt (iv) die Arithmetik und die euklidische Geometrie zu begründen. Dabei handelt es sich zunächst um eine formal-semantische Erweiterung, die noch nicht auf Gegenstände der empirischen Wissenschaften bezogen ist; sie soll im Prinzip Ähnliches leisten wie in der modernen Mathematik die Mengentheorie. Wie die mathematische Grundlagendiskussion des 20. Jahrhunderts gezeigt hat, kann diese ebenfalls nicht allein auf der Basis einer symbolischen Logik gewonnen werden. 32 Indem Kant die reinen Formen der Anschauung mit Raum und Zeit identifiziert, löst er ein Problem, das ihn seit seiner ersten Schrift beschäftigt hatte — nämlich eine metaphysische Begründung dafür zu liefern, warum sich die mathematische Physik so erfolgreich auf Naturerscheinungen anwenden läßt. Die „Kritik der reinen Vernunft" bietet hierzu die Erklärung an, daß die Gegenstände der mathematischen Physik immer schon die raumzeitliche Struktur unserer Erkenntnisgegenstände aufweisen müssen, weil sie in der reinen Anschauung konstruiert sind. Der Preis für diese Lösung ist allerdings, daß es für Kant nur noch angewandte Mathematik gibt, die sich auf potentiell-unendliche Modelle der Arithmetik und der euklidischen Geometrie beschränkt. Aktual-unendliche Folgen oder nicht-euklidische Räume sind nach dem kritischen Kant zwar logisch denkbar, aber ihre logischen Begriffe sind abstrakte Konzepte ohne Sinn und Bedeutung. Die reinen Formen der Anschauung sollen die Individuierung von Einzelobjekten in Raum und Zeit ermöglichen. Kant hatte sich jahrzehntelang mit der Frage beschäftigt, wie man die Existenz von gleichartigen Dingen, die Gegenstand der empirischen Naturwissenschaft sind, etwa von Kristallbildungen oder von gleich geformten Goldklumpen, mit der relationalen Theorie von Raum und Zeit vereinbaren kann, für die Leibniz gute Gründe nannte. Das schlagendste Beispiel gleichartiger Gegenstände, deren Unterscheidbarkeit erklärungsbedürftig ist, waren für Kant sogenannte inkongruente Gegenstücke, die wie eine rechte und eine linke Hand entgegengesetzten Schraubensinn aufweisen und nur mittels einer Raumspiegelung ineinander transformiert werden können. 33 Nach Kant ist der Unterschied solcher Gebilde keine relationale Eigenschaft, die kombinatorisch definierbar ist,34 sondern eine absolute Eigenschaft, die relativ zu einem bereits 32 Vgl. hierzu Halle«, Logic and Mathematical Existence. 33 Von dem ersten Grunde des Unterschieds der Gegenden im Räume (1768). Vorkritische Schriften, S. 993-1000. 34 Diese Deutung der Rechts-Links-Asymmetrie schlug Weyl vor, in: Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaft, S. 104 ff.

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vorausgesetzten orientierten Bezugsraum feststeht. Seine Theorie von Raum und Zeit als subjektiven Formen der Anschauung sollte auch dieses Problem lösen; in der Tat entwickelte er sie, um es zu lösen, wie man zeigen kann. 35 Vor allem die zweite semantische Funktion, nämlich die angestrebte Lösung für das Anwendungsproblem der mathematischen Physik, bringt Kants Theorie der Anschauung in Konflikt mit der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie. Die Anbindung der Mathematik an eine Kosmologie, die immer schon auf die euklidische Struktur des Anschauungsraums zugeschnitten ist, schränkt eben die Möglichkeiten der mathematischen Modellbildung, und mit ihr die Strukturerweiterung der Logik um eine formale Semantik, ganz erheblich ein. Die Frage, warum die mathematische Physik auf Naturerscheinungen anwendbar ist, könnte man eher durch Analyse der Strukturmerkmale von Galileis experimenteller Methode ein Stück weit beantworten als durch eine Theorie von Raum und Zeit, die zentraler Bestandteil einer Erkenntnistheorie ist. Wenn Kant dies gesehen hätte, hätte er seine Theorie der Mathematik im Vergleich zu Leibniz nicht unnötig einengen müssen. Die individuierende Funktion der Anschauung dagegen ist prima fade unabhängig von Kants problematischem Versuch, die Geometrie und die Arithmetik so zu begründen, daß die Begriffe der mathematischen Physik a priori anwendbar sind. Sie bezieht sich allerdings auf drei z. T. recht verschiedene strukturelle Charakteristika des Individuenbereichs einer empirischen Naturwissenschaft. Die Anschauung gewährleistet nach (3.) nämlich die Unterscheidbarkeit von: (i) empirischen Einzeldingen in Raum und Zeit, die anhand ihrer raumzeitlichen Entwicklungsgeschichte individuierbar sind und die man als konkrete Träger von teils wechselnden, teils permanenten Eigenschaften betrachtet; 36 (ii) gleichartigen (oder nahezu gleichartigen) Gegenständen in der Natur, die man als Repräsentanten natürlicher Arten betrachten darf und der empirischen Klassenbildung zugrundelegen kann — auf sie sind offenbar schon ohne jedes Experiment mathematische Begriffe anwendbar; und (iii) spiegelgleichen Gebilden in der Natur, deren innerer Unterschied in der Tat eine harte Nuß für jede relationale Theorie physikalischer 35 Siehe meinen Aufsatz: Kants Kosmologie und die Kritik am metaphysischen Realismus. Vgl. zum Rechts-Links-Problem auch die Beiträge in: van Cleve und Frederick (Hrsg.), The Philosophy of Right and Left. 36 Nach der „Kritik der reinen Vernunft" reicht hierfür die Anschauung allein allerdings nicht; man benötigt die schematisierten Kategorien und die Grundsätze des reinen Verstandes.

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Eigenschaften ist — er ließe sich viel besser ,essentialistisch' im Rahmen eines metaphysischen Realismus erklären, d. h. entweder durch die Annahme intrinsischer physikalischer Eigenschaften oder durch die Annahme eines absoluten Raums in Newtons Sinne. Das erste und das zweite Individuationsproblem hängen aus Kants Sicht engstens zusammen, da aus Leibniz' relationaler Auffassung von Raum und Zeit und Leibniz' Indiszernibilienprinzip folgt, daß gleichartige Dinge in der Natur nicht nur ununterscheidbar, sondern identisch sind — wenn man ihnen nicht mit Leibniz irgendwelche verborgenen inneren Unterschiede zuspricht, also die Gleichartigkeit zum bloßen Augenschein erklärt. 37 Kant glaubte lange, dieses Problem mittels einer relationalen Theorie der Welt im Ganzen lösen zu können. 1768 entdeckte er jedoch das dritte Individuationsproblem, das ihm diesen Ausweg verschloß. Es fällt schwer, diese drei Hinsichten, in denen Einzelobjekte in Raum und Zeit verschieden sein können, nicht als empirische Eigenschaften materieller Dinge zu betrachten, ähnlich wie Carnap und Reichenbach die metrische Struktur der physikalischen Raum-Zeit als empirisch betrachteten. Die moderne Atom-, Kern- und Teilchenphysik hat ja gezeigt, daß auch die Individuationseigenschaften von Materiebestandteilen ganz anders sein können, als Kant sie sich nach seiner Theorie der Anschauung dachte. Die Quantenmechanik und die neueren Quantenfeldtheorien der Elementarteilchen zwingen dazu, die klassische Sicht der Unterscheidbarkeit von Materiebestandteilen, die Kant zugrundelegt, tiefgreifend zu revidieren. Die raumzeitlichen Eigenschaften subatomarer Teilchen sind nach der Heisenbergschen Unschärferelation für Ort und Impuls nur probabilistisch determiniert; Quantensysteme lassen sich nicht anhand ihrer raumzeitlichen Entwicklung als Einzelobjekte in Raum und Zeit individuieren. Elementarteilchen desselben Typs sind ununterscheidbar und unterliegen einer nicht-klassischen statistischen Zustandsverteilung (Fermi- oder Bosestatistik). Der Unterschied zwischen gewissen radioaktiven Zerfällen und ihrem Spiegelbild wiederum ist mit intrinsischen Eigenschaften der betreffenden Teilchentypen wie der Parität verknüpft, die sich auf die beobachtbare Zerfallsrate eines Teilchentyps auswirken und dabei superponierende Zustände bilden können. Wer mit Kant annehmen will, daß Einzelobjekte a priori durch die Anschauung individuierbar sind, muß sich der Frage stellen, wie es denn dann sein kann, daß man im Gebiet einer Quantentheorie offenbar aus empirischen Gründen zur Preisgabe dieser Annahme gezwungen ist. 37 Nach Kants „Nova dilucidatio" von 1755 hieße dies jedoch „Knoten an einer Binse suchen". Vorkritische Schriften, S. 487.

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Dennoch hat gerade dieses Scheitern zur Folge, daß der Anschauung nach wie vor eine unverzichtbare semantische Funktion für die moderne Physik zukommt. Quantensysteme sind genauso unanschaulich wie eine relativistische Raum-Zeit, insofern wir sie uns nicht als zeitliches Geschehen in einem dreidimensionalen Raum vorstellen können. Die Anschauung versagt jedoch angesichts der relativistischen Physik und der Quantenphysik auf ganz unterschiedliche Weisen. Kosmologische Modelle mit gekrümmter Raum-Zeit sind zwar mit der globalen Struktur des dreidimensionalen Anschauungsraums im Konflikt, aber sie haben zumindest lokal die Struktur von Gegenständen unserer Anschauung. Quantentheoretische Systembeschreibungen dagegen sind mit der lokalen Struktur der Gegenstände unserer Anschauung unverträglich. Quantensysteme lassen sich nicht im Anschauungsraum darstellen, weil sie nicht individuierbar sind, oder weil ihnen die üblichen Lokalitäts- und Separabilitätseigenschaften der Gegenstände unserer Anschauung fehlen. Ein isoliertes subatomares Teilchen befindet sich nach quantentheoretischen Voraussagen nach kurzer Zeit für immer in einem nicht-lokalisierten Zustand; und bis heute kann nicht restlos erklärt werden, warum ein Quantensystem durch eine Messung eine wohldefinierte physikalische Eigenschaft aufweist, wenn es nicht schon vorher einen wohldefinierten Wert der gemessenen Größe hatte.38 Wir benötigen die Anschauung also letztlich, um die abstrakten Modelle einer Quantentheorie auf experimentell erzeugte Quantenphänotnene im physikalischen Labor zu beziehen. Genauer gesagt: um den Formalismus einer Quantentheorie auf experimentelle Resultate anzuwenden, muß man die daraus gewonnenen abstrakten Systembeschreibungen mit konkreten Modellen einzelner Quantensysteme verknüpfen können, die auch anschauliche Bedeutung haben. 39 Dies hob im Anschluß an Kant vor allem Niels Bohr immer wieder hervor. 38 Der fortgeschrittenste Ansatz zur Lösung des quantentheoretischen Meßproblems gelangt zu dem Resultat, daß die Kohärenz superponierender Zustände bei der Messung rasch zerstört wird. Dadurch bekommen die möglichen Meßresultate immerhin eine klassische statistische Struktur; warum bei der Einzelmessung eines von ihnen gegenüber den anderen ausgezeichnet und realisiert wird, bleibt aber unerklärt. Vgl. zum Dekohärenz-Ansatz Giulini et al., Decoherence and the Appearance of a Classical World. 39 Solche Modelle stehen i. a. unter unter quasi-klassischen Anwendungsbedingungen. Z. B. gibt es eine Kette quantentheoretischer Modelle der Struktur des Atominneren, die untereinander in quantitativen Näherungsbeziehungen stehen und letztlich in Korrespondenz zu Rutherfords klassischer Beschreibung der Streuung geladener Teilchen am Atomkern stehen; siehe meine „Teilchenmetaphysik", 4. Kapitel, sowie meine Aufsätze „Bohrs Korrespondenzprinzip und die Grenzen physikalischer Erfahrung" sowie „Korrespondenz, Vereinheitlichung und die Grenzen physikalischer Erfahrung".

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3. Die Faßlichkeit der Erkenntnis Bohr bezeichnete die Phänomene der subatomaren Physik, die zur Entwicklung der Quantenmechanik führten, als individuell. Damit drückte er aus, daß sich Quantenphänomene mittels der experimentellen Methode nicht weiter zerlegen lassen — z. B. in die makroskopische Apparatur, mit der man ein Quantenphänomen mißt, und ein davon wohlunterschiedenes Quanteno£>/e&i.40 Nur die Quantenphänomene, die man in einem Experiment beobachtet, haben den Charakter individueller Dinge oder Prozesse in Raum und Zeit. Darum war Bohr (und mit ihm Heisenberg) der Auffassung, daß die Sprache, in der man den Formalismus einer Quantentheorie deutet, immer auf die Begriffe der klassischen Physik zurückgreifen muß. Diese Sprache betrachtete er als anschaulich im Sinne von Kants Erkenntnistheorie; er sah sie als diejenige Sprache an, die es erlaubt, die Gegenstände wissenschaftlicher Erfahrung als Einzelobjekte in Raum und Zeit zu beschreiben und zugleich ihre kausalen Wirkungen aufeinander auszudrücken. Den Formalismus der Quantenmechanik von 1925/26 dagegen, dem von Neumann erstmals axiomatische Gestalt gab, bezeichnete Bohr immer wieder als abstrakt und symbolisch (ähnlich wie Schrödinger die Reduktion der quantenmechanischen Wellenfunktion bei der Messung). Im Anschluß an Kant hieße dies: für sich genommen ist die Quantentheorie eine formale Theorie ohne Sinn und Bedeutung, die keine objektive Realität oder keine konkreten Bezugsobjekte hat. Auch im Anschluß an Duhem würde man »abstrakt und symbolisch' in diesem Sinne verstehen. Allerdings besteht ein entscheidender Unterschied zwischen Bohrs und Duhems Sicht der Physik. Nach Duhem haben alle physikalischen Theorien und Größenbegriffe nur abstrakte und symbolische Bedeutung. Nach Bohr dagegen gilt dies nur für die axiomatische Quantentheorie und für quantentheoretische Begriffe oder Modelle ohne klassische Korrespondenz. Die heutige common sense -Auffassung, nach der erst die Physik des 20. Jahrhunderts abstrakt und unanschaulich ist, geht also unter anderem auf Bohr zurück. Bohr betrachtete die klassische Physik und ihre Sprache als den entscheidenden semantischen Bezugsrahmen, den man benötigt, um eine Quantentheorie zu konkretisieren. Er vertrat also anders als Duhem zumindest in bezug auf die Sprache der klassischen Physik einen wissenschaftlichen Realismus, der wohl als empirischer Realismus in einem (eingeschränkten) kantischen Sinne verstanden werden darf. Aus Bohrs Sicht ist die subatomare Wirklichkeit nur durch „komplementäre" Beschreibungsweisen erfaßbar, die sich wie die raumzeitliche und die kau40 Vgl. dazu meinen Aufsatz: Bohr's Principles of Unifying Quantum Disunities.

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sale Beschreibung von Quantenprozessen gegenseitig ausschließen; noch diese eingeschränkte Auffassung der Realität von Quantenphänomenen greift offensichtlich auf ein Verständnis von Anschaulichkeit zurück, das entscheidend durch Kant geprägt ist. 41 Bohrs empirischer Realismus war in zwei entscheidenden Hinsichten schwächer als Plancks oder Einsteins metaphysischer Realismus, (i) Er bezog sich nicht auf die Gegenstände einer Quantentheorie, sondern nur auf die Sprache, in der die Quantenphänomene ausgedrückt werden. Nach Bohr verliert der übliche Objektbegriff der Physik im subatomaren Bereich seine Anwendbarkeit, und an seine Stelle kann nur noch die intersubjektive Mitteilbarkeit experimenteller Resultate treten.42 (ii) Darüberhinaus war Bohr zutiefst davon überzeugt, daß der Bruch zwischen klassischer und quantentheoretischer Wirklichkeitsbeschreibung eine unüberwindliche Grenze für die theoretische Vereinheitlichung in der Physik bedeutet — und daß es prinzipielle Gründe für diese Grenze gibt. Nach seiner Auffassung indizieren Heisenbergs Unschärferelationen nämlich, daß die experimentelle Methode im subatomaren Bereich auf natürliche Schranken stößt. Wenn diese Auffassung berechtigt ist, gebieten diese natürlichen Schranken der experimentellen Methode nicht nur der Vereinheitlichung der Physik Einhalt, sondern auch der Entanthropomorphisierung der physikalischen Begriffe, und mit ihr dem metaphysischen Realismus Plancks. Wie aber sollen wir die Begriffe physikalischer Theorien in Anwendungsbereichen deuten, in denen wir keine anschaulichen quasi-klassischen Begriffe mehr verwenden können? Hier eröffnet sich ein hermeneutisches Problem, das engstens mit der Frage zusammenhängt, inwieweit realistische Positionen überhaupt haltbar sind.43 Wir wissen heute, daß die Deutung der quantentheoretischen Beschreibung der empirischen Wirklichkeit in komplementären klassischen Begriffen längst nicht so weit trägt, wie Bohrs Komplementaritätsphilosophie behauptet. Dies hat jedoch nicht dazu geführt, daß quantentheoretische Systembeschreibungen, die ohne jede klassische Entsprechung sind, als abstrakte und symbolische Modelle ohne Sinn und Bedeutung gelten. Der heutigen Physik gelingt es, auch genuin nicht-klassische Begriffe wie den Spin und typische Quantenphänomene wie das Doppelspalt-Experiment oder die Einstein-Podolsky-Rosen-Korrelationen zu veranschaulichen, indem sie flexiblen Gebrauch macht von informellen 41 Siehe dazu Faye, Niels Bohr: His Heritage and Legacy. 42 Vgl. Bohrs „On the Notions of causality and complementarity" von 1948; dazu die Arbeiten von Chevalley. 43 Ich diskutiere dieses Problem in: The Concept of Spatial Structure in Microphysics anhand einer Fallstudie.

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Begriffen, deren Herkunft aus der klassischen Physik nicht zu übersehen ist. Die informelle Terminologie der gegenwärtigen Teilchenphysik lehnt sich auf Schritt und Tritt an den Teilchenbegriff der klassischen Physik an — obwohl allen Physikern klar ist, daß dieser Begriff den Bezugsobjekten einer Quantenfeldtheorie völlig unangemessen ist. Man sagt ,Teilchen' und meint die Energie oder Ladung eines quantisierten Felds, die man durch einen Teilchendetektor in diskreten Portionen lokalisiert; man sagt ,Teilchenspur' und meint die Ergebnisse wiederholter Ortsmessungen; man sagt ,virtuelle Teilchen' und meint Beiträge zur störungstheoretischen Entwicklung einer abstrakten Streuamplitude, die sich prinzipiell nicht experimentell isolieren lassen. Zum Umgang mit abstrakten Modellen ersinnen die Physiker überhaupt gern eine bildhafte Sprache, die teils der Popularisierung dient, teils aber auch der Erzeugung kruder Mißverständnisse Vorschub leistet. Bei der Quantenchromodynamik, mittels deren man die Protonen oder Neutronen im Atom als dynamisch gebundene Systeme beschreiben kann, spricht man von ,eingesperrten Quarks' und ,asymptotischer Freiheit'; damit meint man eine Bindungsenergie, die mit wachsendem Abstand zunimmt und bei extrem kleinen Abständen verschwindet. Die Rede von ,superstrings' appelliert an unsere Vorstellung schwingender Saiten. Auch die allgemein-relativistische Kosmologie benutzt bildhafte Ausdrücke — etwa in der Rede vom big bang oder bei der Behauptung, daß innerhalb eines schwarzen Lochs Raum und Zeit ihre Rolle vertauschen. Die abstrakten und symbolischen Inhalte der heutigen physikalischen Theorienbildung lassen sich nicht adäquat in der Anschauung darstellen oder in quasi-klassischer Sprache ausdrücken. Darum spricht man ihnen aber noch lange nicht konkreten Sinn und konkrete Bedeutung ab. Sie hängen wenigstens indirekt mit beobachtbaren Phänomenen zusammen; die experimentelle Erfahrung, auf der sie beruhen, ist theoriegeladen, aber sie ist noch Erfahrung. Die bildhafte Sprache der Physiker ist nicht buchstäblich gemeint; sie ist nur darauf angelegt, die unanschaulichen, erfahrungsfernen Inhalte der heutigen physikalischen Theorienbildung und die entsprechenden experimentellen Resultate faßlich zu machen. Wie ich am Beispiel der Feynman-Diagramme einer Quantenfeldtheorie nachher noch zeigen möchte, dient dieses Faßlichmachen nicht etwa primär der Popularisierung unanschaulicher Theorieansätze und Modelle der relativistischen Kosmologie oder der Quantenphysik für Nicht-Physiker. Es dient vor allem der leichteren Handhabbarkeit komplizierter formaler Methoden durch die Physiker selbst. Der bildhaften Sprache der Physiker liegt offenbar ein Verständnis von Anschaulichkeit zugrunde, das stark abgeschwächt ist gegenüber Kants oder Bohrs Forderung, daß die Gegenstände unserer wissenschaftlichen Erkenntnis in der Anschauung darstellbar sein müssen. Um dieses

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abgeschwächte Verständnis von Anschaulichkeit wenigstens ansatzweise zu präzisieren, möchte ich noch einmal auf Kants Erkenntnistheorie zurückgreifen. Kant präsentierte in der Einleitung zu seinen Logik-Vorlesungen immer eine Lehre von den Vollkommenheiten in der Erkenntnis, mit der er die Erkenntnislehre der Leibniz-Wölfischen Schule nach seinen eigenen erkenntnistheoretischen Prinzipien vervollständigte. Diese Lehre umfaßte einen Kanon von Erkenntnisidealen, die er teils als konstitutiv für Erkenntnis überhaupt und teils als regulative Prinzipien zur Erkenntniserweiterung betrachtete.44 Kant systematisierte diesen Kanon nach seiner Kategorientafel in die (i) Allgemeinheit, (ii) Deutlichkeit, (iii) Wahrheit und (iv) Gewißheit der Erkenntnis. Neu war daran vor allem, daß die Systematik neben den „logischen" Erkenntnisidealen der rationalistischen Tradition auch „ästhetische" Ideale umfaßte, deren Behandlung auf Kants Theorie der Anschauung beruhte, die ja den Bruch mit der rationalistischen Ideenlehre vollzogen hatte. Die logischen Erkenntnisideale betrafen das, was man heute die logische Vollständigkeit und die Adäquatheitsbedingungen der Theorienbildung nennt. Die ästhetischen Erkenntnisideale dagegen betrafen das, was uns hier interessiert — nämlich die subjektive Faßlichkeit unserer theoretischen Erkenntnis. Unter der „ästhetischen Allgemeinheit" von Begriffen, Urteilen oder Theorien verstand Kant die Anwendbarkeit in paradigmatischen Fällen, die allgemein zugänglich sind und der Popularisierung dienen. Unter der „ästhetischen Deutlichkeit" verstand er das Vorhandensein von Beispielen in concreto, die als konkrete Darstellungen in Raum und Zeit bzw. in der Anschauung gegeben sind. Unter der „ästhetischen Wahrheit" verstand er bloße Plausibilität, die unter Umständen auch trügerisch sein kann; und unter der „ästhetischen Gewißheit" die Gewißheit der Sinneswahrnehmung. Diese vier ästhetischen Erkenntnisideale stehen nach Kant meist im Widerstreit mit den logischen Idealen. Erkenntnis, die in jeder Hinsicht ideal ist, gibt es seiner Auffassung nach nicht. Die logischen Erkenntnisideale verlangen, daß eine Theorie ihre Gegenstände logisch vollständig und adäquat beschreibt. Dagegen fordern die ästhetischen Erkenntnisideale, daß sich die Begriffe und Behauptungen einer Theorie zumindest partiell auf etwas beziehen, das bekannt, anschaulich, plausibel und durch Sinneswahrnehmungen erfaßbar ist. Kant selbst wußte am besten, daß beides in den seltensten Fällen auf einmal zu haben ist. Vor allem war ihm klar, daß sein eigenes Hauptwerk, die „Kritik der reinen Vernunft", weit davon entfernt war, dem Anspruch

44 Vgl. für das folgende die Jäsche-Logik, in: Kants Schriften zur Logik und Metaphysik (S. 421 ff.), insbes. S. 463 f., und Parallelstellen in den Vorlesungsnachschriften (Akademie-Ausgabe, Band XXIV, Erster Band).

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auf „ästhetische Vollkommenheit" Genüge zu leisten — darum schrieb er die „Prolegomena", in denen er um der Popularität willen Abstriche an der logischen Vollständigkeit vornahm. Eine gute Popularisierung versucht, zur Darstellung der Inhalte einer Theorie nach Gesichtspunkten der Faßlichkeit möglichst wenig von den logischen Erkenntnisidealen zu opfern, insbesondere nicht die Wahrheit. Es wäre lehrreich, die Forschungsreporte, Lehrbücher und populärwissenschaftlichen Schriften der Physiker einmal nach Kants Kanon von logischen und ästhetischen Erkenntniskriterien zu durchforsten! Dies kann ich hier nicht beginnen; aber ich möchte noch kurz andeuten, wie sich Kants Unterscheidungen auf die Funktionen und Grenzen anschaulicher Begriffe in der modernen Physik beziehen lassen. Die unanschaulichen Theorieansätze und Modelle der Relativitäts- und Quantentheorie verletzen die Bedingung der ästhetischen Deutlichkeit. Weder ein Quantensystem noch ein relativistisches kosmologisches Modell ist in concreto in der Anschauung darstellbar. Die Präsentation populärer Beispiele wie des Doppelspalt-Experiments der Quantentheorie oder des Zwillingsparadoxons der speziellen Relativitätstheorie machen die sogenannten paradoxen Züge dieser Theorien bekannt; sie sorgen nach Kant also für die ästhetische Allgemeinheit von Erkenntnissen, die unanschaulich sind oder denen ästhetische Deutlichkeit fehlt. Die Bedingung der ästhetischen Gewißheit wird natürlich durch die experimentelle Bestätigung theoretischer Vorhersagen und die Widerlegung alternativer theoretischer Erklärungen erfüllt. Die bildhafte Sprache vieler Physiker dagegen hat offenbar bloß die Funktion, ein Surrogat für die anschaulichen Begriffe und Modelle der klassischen Physik zu liefern, die in den Bereichen der relativistischen Physik und der Quantenphysik versagen. Bildhafte Ausdrücke suggerieren anschauliche Objekte; sie erwecken relativ zum Hintergrund klassischer physikalischer Vorstellungen den Anschein der Wahrheit, d. h. sie täuschen die Bezugnahme auf konkrete Gegenstände in Raum und Zeit vor. Im besten Fall ist dieser Sprachgebrauch nicht nur plausibel, weil er an vertraute Vorstellungen anknüpft, sondern steht sogar darüberhinaus im Einklang mit den Bedingungen, unter denen sich formale Systembeschreibungen in concreto auf experimentelle Ergebnisse anwenden lassen. Im schlimmsten Falle dagegen ist er grob falsch und weckt völlig irreführende Assoziationen. Oft koexistieren adäquate und unbrauchbare Plausibilisierungen, und es bedarf der genauen wissenschaftstheoretischen Analyse, sie voneinander zu scheiden. So bleibt etwa die Rede vom Welle-Teilchen-Dualismus quantentheoretischer Systeme oder Systembeschreibungen verwirrend, solange man nicht präzisiert, was man in Bezug auf den Anwendungsbereich einer Quantentheorie unter ,Welle' bzw. /Teilchen' zu verstehen hat. Wenn man die Begriffe in quantentheoretischem Kontext strikt klassisch

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verstehen will, wird man zur grob falschen Behauptung verleitet, ein Quantenobjekt ,sei' Welle und Teilchen zugleich und damit widersprüchlich charakterisiert. Deutet man dagegen bestimmte Modelle des abstrakten Formalismus einer Quantentheorie mittels der physikalischen Größenbegriffe ,Impuls' und ,Wellenlänge', so wird man zur de BroglieBeziehung p = hk geführt, d. h. zu einer präzisen formalen Aussage mit wohldefiniertem operationalen Gehalt. Bohr und Heisenberg wiederum bezogen sich in ihren Schriften auf das Wellen- oder Teilchen£>//c/. Damit meinten sie zweierlei: einerseits die anschauliche Darstellung konkreter Quantenphänomene, die aus ein-und-derselben physikalischen Wirkung, etwa einem Elektronenstrahl, unter verschiedenen experimentellen Bedingungen erzeugt werden können — nämlich Beugungsbilder oder Teilchenspuren; und andererseits die quasi-klassische Modellierung dieser Phänomene durch Meßgesetze der klassischen Physik. — Wenn nun heute im informellen Sprachgebrauch der Atom-, Kern- und Teilchenphysik gar nicht mehr von Wellen, sondern fast nur noch von Teilchen die Rede ist, so meint man damit nicht etwa klassisch strukturierte Materiebestandteile, sondern so etwas wie die Ausbreitung quantisierter Wirkungen, die unter dynamischen Erhaltungssätzen stehen und durch wiederholte Ortsmessungen in Teilchendetektoren nachgewiesen werden. 45 Als Beispiel für eine exzellente Plausibilisierung möchte ich zum Abschluß noch die Feynman-Diagramme der Quantenfeldtheorie anführen. Eine Quantenfeldtheorie ist nicht nur unanschaulich, sondern auch formal äußerst schwer handhabbar. Feynman-Diagramme sind anschauliche Graphen, die eine präzise symbolische Bedeutung im Rahmen des abstrakten Formalismus einer Quantenfeldtheorie haben und dessen Handhabung immens erleichtern. Ihre Anschaulichkeit suggeriert jedoch nur, daß sie konkrete Prozesse in Raum und Zeit darstellen. Aus empirischer Sicht haben sie keinerlei konkrete physikalische Bedeutung, denn die Anteile eines quantenfeldtheoretischen Streuprozesses, die sie symbolisieren, lassen sich prinzipiell nicht durch Experimente isolieren. Sie haben also nur die formale Bedeutung bloßer Recheninstrumente. Jedes Feynman-Diagramm steht für einen formalen Beitrag zur störungstheoretischen Entwicklung einer quantenfeldtheoretischen Übergangsamplitude, deren Betragsquadrat die Wahrscheinlichkeit für einen Streuprozeß von Elementarteilchen liefert. Die Störungsreihe insgesamt wird durch eine unendliche Summe von Feynman-Diagrammen dargestellt. Die graphische Darstellung suggeriert in jedem Diagramm ein raumzeitliches Geschehen, bei dem Teilchen aneinander streuen, ins Vakuum vernichtet und aus dem Vakuum erzeugt werden. Die Eingangs- und Ausgangsteilchen sind in je45 Vgl. dazu meine „Teilchenmetaphysik", S. 253 ff.

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dem Feynman-Diagramm einer Störungsreihe gleich (sie repräsentieren die aneinander gestreuten Teilchen und die Reaktionsprodukte), aber die Zwischenzustände sind verschieden und werden mit wachsender Ordnung der störungstheoretischen Entwicklung immer komplizierter. Jedes Teilchen im Diagramm wird durch eine offene oder geschlossene Linie dargestellt. Jede Linie oder Schleife eines Feynman-Diagramms wiederum läßt sich nach präzisen Vorschriften in einen algebraischen Ausdruck übersetzen, der in die Berechnung der Störungsreihe eingeht. Auf diese Weise wird die Rechnung immens erleichtert; und durch die Anschaulichkeit der symbolischen Darstellung ist zugleich das Vorgehen leicht faßlich. Wer ein Feynman-Diagramm jedoch buchstäblich interpretiert, d. h. als Darstellung eines konkreten Streuprozesses deutet, geht in die Irre.

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Morphologische Irritationen Die Konstitution des Gegenstandes der linguistischen Morphologie im Wege der terminologischen Setzung DIETRICH BUSSE

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Linguistische Morphologie: Was ist sie, was erforscht sie, gibt es sie? Die Mühen des Beginnens: Phonem, Morphem, Wort Suchen und Finden des Gegenstandes: Definitionen, Einteilungen und Abgrenzungen Die Probleme der Vielfalt: Bedeutungen, Funktionen oder allgemeine Eigenschaften? Vom Sinn der Ordnung(en): Wortbildung oder Flexion; Konversion oder Derivation? Probleme und Lösungen: Informationsstruktur und (Wort-) Grammatik Nachdenkliches Nachwort: Vom Umgang mit Sprache in der Sprachwissenschaft Literatur

1. Linguistische Morphologie: Was ist sie, was erforscht sie, gibt es sie? Wissenschaft beginnt (so die Lehre der modernen Wissenschafts- und Erkenntnistheorie) — zumal in den sog. Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften — mit der Bestimmung und Abgrenzung ihres Gegenstandes bzw. der einzelnen Gegenstände, Erkenntnisobjekte. Die Gegenstandsbestimmung erfolgt üblicherweise durch Definition, kommt jedenfalls nicht ohne sie aus. DEFINIEREN ist nun aber nichts anderes als eine spezifische Form sprachlichen Handelns, ein Handlungstyp, der charakteristisch für die soziale Institution (man könnte auch sagen: die soziale Interaktionsform) „Wissenschaft" ist (daneben spielt dieser Handlungstyp etwa noch in der Institution „Recht" eine große Rolle). Es steht daher fest (und nur wissenschaftstheoretisch völlig unreflektierte Forscher können dies bezweifeln), daß wissenschaftliches Arbeiten, Handeln zunächst und vor allem, also in nuce, sprachliches Arbeiten und Handeln ist. Sprachlich nicht nur deshalb, weil Sprache das zentrale Werkzeug der Wissenschaft ist, sich Wissenschaft (wissenschaftliche Ergebnisse, wissenschaftlicher

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Austausch) in Sprache, d. h. in sprachlich verfaßten Texten niederschlägt und (wie man im Wortsinne sagen kann) „ausdrückt". Sprachlich auch deshalb, weil der Gegenstand der Wissenschaft selbst, ihr Erkenntnisobjekt, das Ziel ihrer Bemühungen, nicht da wäre ohne sprachliche Setzungsakte. „Nicht da" heißt mindestens, daß die Erkenntnisobjekte in der Weise, in der sie abgegrenzt und bestimmt werden, sprachlich definiert, also durch Sprache (sprachliche Akte) erst als solche konstituiert werden. „Nicht da" kann aber auch — in einer strikteren Fassung dieser wissenschaftstheoretischen Grunderkenntnis — heißen, daß sie (in einem bestimmten Verständnis des Prädikats „Welt", das hier nicht näher ausgeführt werden kann) ohne diese sprachliche Konstitution gar nicht „in der Welt" sind, als Objekte (der Erkenntnis, des Forschens) gar nicht existieren, zumindest jedoch nicht verfügbar sind. DEFINIEREN steht daher am Beginn jeder Wissenschaft, jedes Forschungsunternehmens, jeder Begründung (durchaus im doppelten Wortsinne: Fundieren und Argumentieren) einer Disziplin oder Teildisziplin — so auch (und gerade) in der modernen Sprachwissenschaft, von deren Definitions- und damit Sprachproblemen (man könnte auch — mit einer sonst eher für literarische Phänomene verwendeten Bezeichnung — sagen, von deren Ausdrucksnot) dieser Aufsatz handeln soll. Die Linguistik ist (wie die meisten Kulturwissenschaften) eine institutionell junge Disziplin — wenn auch mit einer jahrtausendealten (Vor)geschichte. Dies führt dazu, daß in der Abgrenzung und Definition ihrer Teilgebiete und -gegenstände noch die objektkonstitutive Arbeit des Definierens (durchaus auch im Sinne des mittelalterlichen „arebeit") als solche spürbar — um nicht zu sagen: omnipräsent — ist. Kaum ein Gegenstand der Linguistik, dessen Definition nicht (bei manchen Gegenständen: bis zum äußersten) umstritten ist, über dessen begriffliche Fassung und dessen Abgrenzung nicht unterschiedlichste bis gegensätzlichste Auffassungen bestehen. Anfänger in diesem Fach tun sich — wie bezeichnenderweise z. B. auch Jurastudenten — häufig äußerst schwer sowohl damit, für die wichtigsten Begriffe und Definitionen in dem scheinbaren Chaos unterschiedlicher Forschungspositionen überhaupt eine annähernd feste persönliche Semantik / konzeptuelle Vorstellung zu gewinnen, als auch damit, überhaupt zu erkennen (und, was wichtiger und häufig offenbar sehr viel schwerer ist, zu akzeptieren), daß eine Wissenschaft wie die Linguistik sprachlich konstituiert ist, und daß es eine notwendige Folge dieser sprachlichen Konstitution (und nicht etwa — wie viele hartnäckig glauben, und wie ihnen von Ignoranten der wissenschaftstheoretischen Grundlagen auch innerhalb der Wissenschaften häufig auch fälschlich nahegelegt wird — die lästige und vermeidbare Folge einer unzureichend ausgebauten Wissenschaft) ist, daß selbst (Kenner wissen: gerade) über die (Definition der) zentralen Begriffe der Disziplin und ihrer Teilgebiete meist kaum eine Einigung besteht.

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Die sprachliche Konstitution und die Probleme damit betreffen nun in der modernen Linguistik nicht nur die einzelnen Gegenstände und Begriffe und ihre Definition (dabei auch: welche Objekte überhaupt als existent und damit untersuchenswert zugelassen werden sollen; so war es vor noch nicht allzulanger Zeit durchaus strittig, ob Einheiten wie „Text" oder „Sprechakt" überhaupt als Gegenstände existieren und als linguistische Erkenntnisobjekte zugelassen werden dürfen). Die Probleme betreffen auch und gerade die Abgrenzung der einzelnen Teildisziplinen untereinander, schon über deren Existenz ein nur mühsam errungener und höchst fragiler Konsens herstellbar war. Nur mit Not (und aus Rücksicht auf wissenschaftsexterne, institutionelle Zwänge wie z. B. Studien- und Prüfungsordnungen) konnte überhaupt eine Einigung über die wichtigsten zentralen Gebiete (wie Phonologie, Morphologie, Syntax, Semantik, Lexikologie), d.h. ihre Existenz, erzielt werden, ohne daß Hoffnung bestünde, diese Einigung ließe sich jemals auf die genaue Abgrenzung und Definition dieser Teilgebiete ausdehnen. Ein Lehrbeispiel für diese Definitions- und Konstitutionsprobleme der Forschungsgegenstände und -gebiete in der modernen Linguistik stellt die linguistische Morphologie dar, und damit eine keineswegs junge Teildisziplin. Gerade hier wird die Tatsache, daß sprachwissenschaftliche Forschung auch und gerade Arbeit an der eigenen wissenschaftlichen Sprache (ihren Begriffen und Definitionen) ist, besonders deutlich. Angesichts der Tatsache, daß gerade in der neueren Diskussion schon die Existenz eines eigenen linguistischen Bereichs „Morphologie" in Frage gestellt wird (womit natürlich nicht die darunter üblicherweise subsumierten Phänomene geleugnet werden, sie werden vielmehr schlicht auf andere — für wichtiger gehaltene — linguistische Bereiche aufgeteilt), muß man sich zunächst an Äußerlichkeiten halten, wie etwa die, daß es bei keinem der derzeit verfügbaren Einführungsbücher in die Linguistik die Autoren wagen, den Bereich „Morphologie" vollständig aus der Gliederung fortzulassen (Minimalkonsens dokumentiert sich — nur? — in solchen Formalia). Wie viele (wenn nicht die meisten) linguistischen Begriffe (und viele wissenschaftliche Begriffe überhaupt) ist auch der die linguistische Teildisziplin bezeichnende Begriff „Morphologie" eine Übertragung aus einem anderen Wissenschaftsbereich, nämlich der Biologie, in die Linguistik. Man kann solche Bezeichnungsübertragungen (bei natürlich verändertem Inhalt) aus einer Wissenschaft in eine andere durchaus als „metaphorisch" im weiteren Sinne charakterisieren. Wir haben hier ein erstes Problem wissenschaftlicher Sprache: daß sie nämlich — entgegen gerne, häufig und lautstark geäußerten anderen Meinungen — im Grundzug metaphorisch ist (was allerdings deshalb nicht so sehr ins Gewicht fällt, weil dies für 80—90 % unseres Alltags-Wortschatzes ebenfalls gilt). „Morphologie" bezeichnet dann (wie in der Biologie)

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die „Formenlehre", nur hier eben angewendet auf die sprachlichen Formen. Hinter dieser einfachen Aussage versteckt sich aber das erste definitorische Problem, weil zunächst gar nicht ausgemacht ist, welche konkreten sprachlichen Phänomene denn die „Formen" sind, um die es hier geht. Schließlich sind auch Phoneme/Laute oder Syntagmen/Sätze im weiteren Sinne sprachliche „Formen", und es muß zuerst einmal begründet werden, warum nur ein bestimmter Ausschnitt der linguistischen „Formbetrachtung" überhaupt explizit als solche, als Morphologie, bezeichnet wird (und andere nicht). In diesem Zusammenhang begegnen wir einem zweiten Charakteristikum wissenschaftlicher Sprache (Begrifflichkeit), nämlich der Tatsache, daß es sich bei ihr (gerade bei zentralen Begriffen) häufig um wissenschaftliche Transformationen außerwissenschaftlicher (alltagsweltlicher resp. -sprachlicher) Begriffe handelt. Im Fall der linguistischen Morphologie wirkt sich dies zunächst eher indirekt aus: Mit den „Formen" sind nämlich (zunächst ohne jede weitere Problematisierung) die „Wortformen" gemeint. Linguistische Morphologie wäre danach die Beschreibung und Erforschung (ggf. Erklärung) der Wortformen, d. h. ihrer Gestalt, Vielfalt, ihres inneren Aufbaus aus kleineren Teilen, der Regeln dieses Aufbaus usw. Mit dem Ausgehen von der Einheit „Wort" (und ihrer Unterteilung) wird jedoch schon die erste definitorische (und mithin gegenstandskonstitutive) Setzung vorgenommen. Da diese Setzung jedoch meist nicht reflektiert (oft noch nicht einmal als solche erkannt) wird, handelt es sich um ein axiomatisches Verfahren der Gegenstandsbestimmung (und zwar um diejenige in den Wissenschaften gern benutzte und weit verbreitete Spielart von Axiomatik, die das Axiom dadurch setzt, daß eine bestimmte Grundannahme als selbstverständlich unterstellt oder stillschweigend vorausgesetzt wird). Die axiomatische Setzung der Einheit „Wort" als Ausgangsgegenstand der linguistischen Morphologie gibt sich als Zugeständnis an das Naheliegende im alltagsweltlichen common-sense-Verständnis von Sprache, sozusagen als eine Art „natürliche" Grundannahme. Verdeckt wird dabei, daß geistesgeschichtlich gesehen solche nur scheinbar natürlichen Annahmen letztlich Residuen „abgesunkener" älterer (und ältester) Theorien sind; im konkreten Fall: Relikte der traditionellen Grammatik (die am Latein als Vorbild geschult war). Versteckt axiomatisch ist zudem die in Phänomenkonstitutionen wie dieser aufgrund der inhärenten Logik (im Sinne von: Denkzwänge) des abendländischen Denkens unvermeidlich enthaltene Ontologisierung/Ontifizierung eines komplexen geistig-sozialen Gegenstandes. So unvermeidlich solche Verdinglichungen anscheinend sind, will man einen Gegenstand als „entgegen stehend" (ob-iectum) und damit als „etwas" überhaupt erst wahrnehmen, isolieren und konzipieren können, so problematisch ist es, wenn — wie meist der Fall — noch nicht

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einmal in den Wissenschaften der Setzungsakt, der solchen Verdinglichungen zugrundeliegt — und damit der Setzungscharakter (und somit erkenntnistheoretisch problematische Status, z. B. die Fragwürdigkeit des Gegebensein) des Obiectums — kritisch reflektiert wird. Insofern dies verbreitete Erscheinungen in den Einzelwissenschaften sind, repräsentiert die linguistische Morphologie in dieser Hinsicht auch nur den normalen Durchschnitt an wissenschaftlicher Gegenstandskonstitution und ihrer sprachlichen Bewältigung. Wir können also festhalten: für die meisten Linguisten gibt es eine linguistische Morphologie (deren theoretischer Status — ob als Beschreibungsebene, als Phänomenbereich, und dort wiederum: mit welchem Status — allerdings dann immer noch höchst strittig ist); und für fast alle hat sie mit der wissenschaftlichen Untersuchung von Wörtern, ihren Strukturen und den Regeln ihrer Bildung zu tun. Damit fangen dann freilich die definitorisch-begrifflichen Probleme erst richtig an.

2. Die Mühen des Beginnens: Phonem, Morphem, Wort Die Aufteilung der modernen Sprachwissenschaft in eine Hierarchie verschiedener Beschreibungsebenen folgt zunächst dem grundsätzlich komplexen und mehrstufigen Aufbau vollständiger sprachlicher Ausdrücke. (Als vollständige sprachliche Ausdrücke hat man solche Zeichenkombinationen aufzufassen, die als abgeschlossene Sinneinheit eine selbständige kommunikative Funktion erfüllen können. Normalerweise liegen solchen Sinneinheiten sprachliche Zeichenketten der Kategorie „Satz" zugrunde.) Man geht heute (aufbauend auf den kleinsten, fortschreitend zu den größeren sprachlichen Einheiten) von Phonemen, Morphemen, Wörtern, Sätzen und Texten als den wichtigsten Ebenen der Organisation komplexer sprachlicher Zeichen(ketten) aus, und unterscheidet entsprechend Phonologic, Morphologie, Lexikologie, Syntax und Textlinguistik. Diese Ebenen der Zeichenorganisation sind nun nicht strikt unabhängig voneinander und systematisch logisch aufeinander aufbauend, sondern vielfältig miteinander verwoben. Im Extremfall (bei entsprechend weiter Auslegung der relevanten Begriffe) kann ein „Text" aus einem einzigen „Satz" bestehen (selten, und eher umstritten), ein „Satz" aus einem einzigen „Wort" (auch sehr umstritten), ein „Wort" aus einem einzigen „Morphem" (was nun schon sehr häufig vorkommt und allgemein anerkannt ist), sowie ein „Morphem" aus einem einzigen „Phonem" (was ebenfalls recht häufig und dort unstrittig ist). „Typisch" (im Sinne eines „Standardfalls" bzw. default-Werts, d. h. des sog. Normal-

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falls) ist jedoch: Ein Text besteht aus mehreren Sätzen, ein Satz aus mehreren Wörtern, ein Wort aus mehreren (funktionsverschiedenen) Morphemen und ein Morphem aus mehreren (ebenfalls kategorial verschiedenen) Phonemen. Fraglos kommt die Terminologie der modernen Linguistik bei der Beschreibung von Spracheinheiten dieses „Normalfalls" zu beeindruckend klaren Ergebnissen. Dies kann jedoch nicht die Tatsache verwischen — und hier wird Wissenschaft ja erst richtig spannend — , daß es mit den Grundbegriffen bei der Beschreibung der Grenzfälle, und damit beim Ziehen deutlicher Trennungslinien zwischen den einzelnen linguistischen Beschreibungs- resp. sprachlichen Phänomenebenen, doch große Probleme, v.a. Definitionsprobleme (also sprachliche Probleme), gibt. Dies gilt notabene gerade für die Morphologie, deren Gegenstand bzw. Grundeinheit (heute übereinstimmend als „Morphem" bezeichnet) sowohl nach unten (zu den kleineren Einheiten, den Phonemen), als auch nach oben (zu den größeren Einheiten, den Wörtern) abgegrenzt werden muß. Gerade diese Abgrenzung ist nun aber, wie angedeutet, begrifflichtheoretisch besonders schwierig, da es in diesem Phänomenbereich schon zu den „Normalfällen" zählt, daß die Einheit „Morphem" (form)identisch sein kann einerseits (zur nächsthöheren Organisationsebene der Zeichen) mit der Einheit „Wort" und andererseits (zur nächstniedrigeren Ebene) mit der Einheit „Phonem". Damit bekommen die jeweiligen linguistischen Grundbegriffe jedoch den Status von Beschreibungsbegriffen, der es schwierig macht, ihren Bezugsgegenstand auf der Erscheinungsebene eindeutig festzulegen. Ein Morphem (ein Phonem, ein Wort) ist eben nicht „da", „in der Welt", wie ein Baum „da ist", den ich eindeutig als Einzelding identifizieren kann. Vielmehr ist ein Morphem (ein Phonem, ein Wort) immer nur ein konkretes, sinnlich wahrnehmbares Phänomen (hier: eine Laut- oder Buchstabenkette) unter einer bestimmten Betrachtung(sweise), einem bestimmten — durch eine Theorie definierten — Aspekt, mit der/dem andere Betrachtungsweisen/Aspekte konkurrieren. Diese Tatsache (die im linguistischen Alltagsgeschäft meist nicht mehr besonders beachtet wird, kein Nachdenken über die Grundvoraussetzungen der eigenen Arbeit auslöst) kommt in der frühen Morphologie, als es noch darum ging, den Untersuchungsgegenstand als eigenständiges Erkenntnisobjekt (und damit als eigenständigen Teil der Realität) zu behaupten (im doppelten Sinne von: postulieren und verteidigen) noch deutlicher zum Ausdruck. So wird z. B. im Werk eines der wichtigsten Begründer der modernen Phonologic und Morphologie (die damals noch nicht unterschieden wurden), bei Jan Baudouin de Courtenay, die Einheit „Phonem" nicht nur als eine Verallgemeinerung lautphysiologischer Eigenschaften von sprachlichen Segmenten auf der untersten Teilungsebene aufgefaßt (was in etwa der modernen Auffassung des Phonems als einem Bündel abstrakter artikulatorisch-phonetischer Merkmale entspre-

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chen würde), sondern zusätzlich auch noch als eine (durch Vorkommensregularitäten — linguistisch gesprochen: distributioneil — bestimmte) morphologische Funktionseinheit, die auch (ganz im Gegensatz zur heutigen Phonemauffassung) aus mehr als einem Segment bestehen kann (vgl. dazu Kohrt 1985, 148). Eine solche (teilweise) Bestimmung der Größe „Phonem" entspricht aber nun dem, was heute als charakteristisch (ein definierendes Merkmal) für die Einheit „Morphem" angesehen wird. Man kann also davon ausgehen, daß zu diesem Zeitpunkt der Forschungsgeschichte die Einheiten Phonem und Morphem noch nicht deutlich unterschieden, und also noch gar nicht als eigenständige, eindeutig isolierbare Phänomene konstituiert waren. Andererseits gab es durchaus, auch bei Baudouin de Courtenay, dem wir nicht nur eine der ersten Phonemdefinitionen, sondern zudem den Morphembegriff (und seine erste Definition) verdanken, eine Bestimmung der Morphemebene, die relativ klar den gemeinten Gegenstand beschreibt (vielleicht deshalb so klar, weil sie einfach eine andere Bezeichnung für bekannte Einheiten der überlieferten Grammatik ist). Er definiert nämlich (1886, hier zit. nach Ders. 1895): „Morphem = jeder mit dem selbständigen psychischen Leben versehene und von diesem Standpunkte [...] aus weiter unteilbare Wortteil. Dieser Begriff umfaßt also: Wurzel (radix), alle möglichen Affixe, wie Suffixe, Praefixe, als Exponenten syntaktischer Beziehungen dienende Endungen usw." Hier wird der Gegenstand der Morphologie ganz einfach konstituiert durch einen (neuen) Oberbegriff für das bereits Bekannte; er stellt damit eine klassische Abstraktionsleistung — noch ohne jede theoretische Beimengung — dar. Allerdings beseitigt ein solcher (alte grammatische Erfahrungen zusammenfassender) Morphembegriff noch nicht die systematischen Schwierigkeiten, die bei der Abgrenzung der Morphemebene von der (im Gegensatz zu Wurzeln, Affixen oder Endungen als theoretische Einheiten ja damals allererst zu konstituierenden und begründenden) Ebene der Phoneme bestehen. Gerade im Bereich der „Endungen" (also in der Flexionsmorphologie, z. B. der Deklination und Konjugation) bestehen die Morpheme (Flexionselemente) häufig nur aus einem einzigen Sprachlaut (Phonem); ein Zusammenfall bzw. eine Verwechslung mit der Phonemebene liegt bei der Beschreibung von Morphemen also nahe. Dementsprechend gibt es (in der sog. Morphophonemik bzw. Morphonologie) enge Berührungspunkte von Phonologic und Morphologie, die sich letztlich in den Definitions- und Abgrenzungsproblemen der linguistischen Einheiten (und dementsprechend Phänomene) „Phonem" und „Morphem" niederschlagen. Diese Abgrenzungsprobleme, die im Kern vor allem Probleme der Konstitution und theoretisch-begrifflich zureichenden und trennscharfen Begründung des ureigenen Gegenstandes der Morphologie sind (und die deshalb geeignet sind, immer wieder den Status der Morphologie als einer eigenständigen Teildisziplin der Linguistik, resp. als

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eines separaten Teilsystems unseres sprachlichen Regelapparates, unserer sprachlichen Fähigkeiten/Kompetenz in Frage zu stellen) bereiten nun naheliegenderweise gerade bei der genaueren Bestimmung und Definition des zentralen (und disziplin-konstituierenden) Gegenstands der Morphologie Schwierigkeiten, wo es immer wieder zu Interferenzen zwischen phonologischen und morphologischen Betrachtungsweisen (und Begrifflichkeiten) kommt (vgl. dazu das folgende Kapitel). Nur der Vollständigkeit halber: Wenngleich nicht ganz so gravierend wie in Abgrenzung zur Phonemebene, bestehen auch bei der Abgrenzung von Morphem und Wort erhebliche begrifflich-theoretische Probleme. Dies liegt allerdings weniger an Problemen der Morphemdefinition als vielmehr an der Schwierigkeit, den zunächst alltagsweltlichen Begriff „Wort" linguistisch einigermaßen trennscharf zu fassen. Beispiele wie: „Konrad reist morgen ab", „Nina fährt gerne rad/Rad." [sie!], „Da kann ich nichts für.(ugs)", „Die Über- und die Untersetzung ..." bereiten Probleme hinsichtlich der Frage, ob die hier unterstrichenen, im Satz getrennt auftretenden Einheiten (= ein mögliches Kriterium für die Definition des Begriffs „Wort") nun der Ebene der „Wörter" oder „nur" der Ebene der „Morpheme" zuzurechnen sind. Auch hier handelt es sich bei der Unterscheidung beider Begriffe also um eine Frage von Aspekten, die an vielschichtige und mehrfach ineinander verwobene Phänomenbereiche durch den theoretisch gelenkten untersuchenden Blick der Forscher herangetragen werden.

3. Suchen und Finden des Gegenstandes: Definitionen, Einteilungen und Abgrenzungen Da die moderne Linguistik (entgegen dem Anschein, den manche ihrer Vertreter immer wieder gerne verbreiten) ja nicht gleichsam ex nihilo im Akte der Urschöpfung zur Welt gekommen ist, kann sich — wie gesehen — zunächst auch der von Baudouin de Courtenay am Ende des 19. Jahrhunderts eingeführte Begriff „Morphem" auf bewährtes grammatisches Wissen verlassen: es sind Wurzeln, Affixe, „Endungen", die damit zusammenfassend gemeint sind. Bereitet also (zumindest im Kernbereich des Gegenstandsfeldes) die referenzielle (extensionale) Definition des Gegenstands „Morphem" weniger Schwierigkeiten (muß man doch nur eine beliebige Grammatik aufschlagen und kann dann an den Beispielen zeigen: ,das ist mit „Wurzel" gemeint, das mit „Affix (Präfix, Suffix)", das mit „Endung" ...'), so multiplizieren sich die Definitionsprobleme geradezu exponentiell, wenn man die Bemühungen betrachtet, die zentralen morphologischen Begriffe explizit zu definieren und klar voneinander

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abzugrenzen. Dabei treten auch solche Schwierigkeiten auf, die etwas mit dem bereits erörterten Problem der Abgrenzung der Morphologie bzw. des Morphembegriffs nach außen (also zu den Begriffen Phonem und Wort) zu tun haben. Zunächst muß festgestellt werden, daß die linguistische Morphologie nicht nur die Selbstbezeichnung von außen (aus der Biologie) entlehnt hat, sondern sich auch bei der Prägung ihrer zentralen Begriffe eines externen Vorbilds bedient, nämlich der Phonologie. So wie dort (spätestens) seit Trubetzkoy die Begriffe „Phonem" (als geistige, abstraktive, sprachsystematische, regelseitige, nur theoretisch rekonstruierbare Größe) und „Phon" bzw. „Laut" (als physiologisch produzierte, physikalisch meßbare, sinnlich wahrnehmbare Größe) unterschieden werden, und mit ihnen die „Phonemik" von der „Phonetik", so mußte nun auch dem Begriff „Morphem" (ohne Beachtung der eklatanten Ebenenverschiebung und damit Phänomenunterschiede) ein Begriff „Morph" hinzugesellt werden. (Kenneth Pike versuchte — glücklicherweise vergeblich —, daraus sogar ein Grundprinzip linguistischer Theorie und Analyse zu machen, nämlich den Gegensatz zwischen ,,-emik" und ,,-etik" zu einer grundlegenden theorieordnenden Dichotomic zu hypostasieren.) Mit dieser Unterscheidung (bzw. mit ihrer Anwendung auf das Sprachmaterial) gehen nun aber erhebliche Definitions- und Abgrenzungskontroversen einher, die es fraglich erscheinen lassen, ob man von einem Grundkonsens selbst in der Definition des zentralen Gegenstandes der linguistischen Morphologie überhaupt sprechen kann. Dazu ein kleines Beispiel; nehmen wir ein kleines Flexionsparadigma, wie z. B. die Deklination des Substantivs „das Haus" (in morphologischer Schreibweise: {haus}), zunächst im Singular: das Haus, des Haus-es, dem Haus, das Haus; dann haben wir es hier mit dem Wortstamm (der Wurzel) {haus} und dem Flexionselement (der „Endung" in der älteren Terminologie) {-es} zu tun. Beschreiben wir die vier Vorkommen von {haus} nun phonologisch, also unter exakter Kennzeichnung der in ihnen verwendeten Phoneme, dann müßten wir diese vier Formen (in einer der phonologischen Schreibweisen) folgendermaßen notieren: /haus/, /hauz/, /haus/, /haus/. Dabei ergibt die Zerlegung des Wortstamms in phonologische Segmente, daß im Auslaut hier zwei Phoneme konkurrieren, nämlich Ist und Izl (stimmloses und stimmhaftes „s"); man spricht hier von der sog. Auslautverhärtung. Nimmt man die Pluralformen hinzu: die Häus-er, der Häus-er, den Häus-ern, die Häus-er, dann kommt eine weitere Ausdrucksform (Lautform) desselben Wortstamms hinzu: /hoiz/, und kontrastiert man damit noch die auf demselben Stamm basierende (durch Wortbildungsregeln erzeugte) Verkleinerungsform (Diminutiv) das Haus-eben mit dem Stamm /hois/, dann kommt man auf insgesamt vier (phonologische) Varianten des Wortstamms ein und desselben Substan-

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tivs. So einleuchtend es nun für das alltagsweltliche Denken ist, bei all diesen Formen vom Stamm desselben Wortes zu sprechen, so schwierig ist es nun aber für die Morphologie, auf solch einer Datenbasis aufbauend eine eindeutige Definition der morphologischen Grundbegriffe vorzunehmen. Die Schwierigkeiten haben u. a. folgende Gründe: Üblicherweise wird das Morphem definiert als kleinstes sprachliches Zeichen, wobei mit „Zeichen" hier (nach der grundlegenden Definition durch F. de Saussure) eine Einheit gemeint ist, welche einer bestimmten Ausdrucksseite (Lautform, Buchstabenform) eine bestimmte Inhaltsseite (Bedeutung, grammatische Funktion) zuordnet. „Zeichen" in diesem Sinne sind eineindeutige Zuordnungsrelationen von Ausdrücken zu Inhalten. Das Problem der Definition des Morphembegriffs ist es nun, daß von Eineindeutigkeit bei der Zuordnung der Bedeutung HAUS zum Morphem {haus} nun keineswegs gesprochen werden kann. Gehe ich vom Sprachmaterial aus (das ja die Grundlage der empirischen Wissenschaft Linguistik sein müßte), dann stehen dem Inhalt HAUS auf der Ebene der Wortformen (Ausdrucksformen) vier verschiedene Lautvarianten gegenüber: /haus/, /hauz/, /hoiz/, /hois/. Soll man nun — so das terminologische, definitorische und theoretische Grundproblem — hier von vier verschiedenen (dann homonymen) „Morphemen" ausgehen, oder vielmehr, wie es bald vorgeschlagen wurde, von vier Varianten ein und desselben Morphems (das dann zur Unterscheidung von der phonologischen Basis als {haus} notiert wird). Bei dem hier vorliegenden Phänomenbereich scheint die letztere Lösung noch recht plausibel. Zur Bezeichnung des Unterschieds zwischen der nunmehr auf eine abstrakte Ebene gehobenen, übergeordneten morphologischen Grundeinheit („Morphem" in dieser Definition) wurden die konkreten lautlichen Ausdrucksformen (-Varianten) dann als „Morphe" bezeichnet (wenn man von ihnen unter Bezugnahme auf dasselbe zugeordnete Morphem spricht, sie also miteinander vergleicht, zueinander in Beziehung setzt, spricht man von „Allomorphen" desselben „Morphems"). So weit so gut. Übergeht man einmal die Tatsache, daß man sich mit diesem terminologischen Schritt erhebliche zeichentheoretische Probleme eingehandelt hat („sprachliches Zeichen" ist dann nämlich nicht mehr als eineindeutige Zuordnungsrelation zwischen einem bestimmten Ausdruck und einem bestimmten Inhalt definiert, wie bei Saussure, sondern implizit als Relation zwischen einem bestimmten Inhalt und einer mehrzahligen Menge von Ausdrucksformen; damit wird der Zeichenbegriff aber implizit schwerpunktmäßig inhaltsseitig definiert, auf eine abstrakte, rein theorierelevante Beschreibungsbene gehoben und ist somit von der Ebene konkret geäußerter Sprachphänomene abgelöst), dann kann man deutlich machen, daß auch die terminologischen (innermor-

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phologischen) Probleme der beschriebenen Begriffsbestimmung zunehmen, wenn man weitere Beispielgruppen hinzunimmt. Vergleichen wir folgende zwei Teilparadigmen aus der Verbflexion: (a) ich mach-e, du mach-st, sie mach-t, (b) ich seh-e, du sieh-st, sie sieh-t, dann finden wir im ersten Beispiel einen einheitlichen Verbstamm {mach} mit einer einzigen Realisationsform /mach/, im zweiten Beispiel hingegen zwei Ausdrucksformen lse\l und lsi\l als Allomorphe des (üblicherweise mit dem Stamm der Infinitivform zitierten) Morphems {seh}. Hier haben wir nicht nur eine schwächere Form der Lautabweichung, wie bei der Auslautverhärtung (oder dem im Kontrast /haus/ — /hois/ wirksamen Umlaut), sondern es liegen zwei verschiedene Vokale vor, die in einem Kontrast stehen, der auch nicht schwächer ist als z. B. der Kontrast zwischen Isi-.l und /so:/ (vom Morphem {so}), also der Kontrast zwischen den Grundmorphemen zweier gänzlich verschiedener Wörter. Im einen Fall spricht man von Allomorphen desselben Morphems, im ändern von zwei verschiedenen Morphemen. Begründen kann man das immerhin noch mit dem Vorliegen derselben Bedeutung bei den beiden Formvarianten, was jedoch nicht die Tatsache aus der Welt schaffen kann, daß das Verfügen über dieselbe Bedeutung noch lange kein ausreichendes Kriterium dafür ist, bei zwei Ausdrucksformen von ein und demselben Zeichen sprechen zu können. Wendete man dieses Kriterium nämlich auf der Wortebene an, dann gäbe es gar keine Synonymic, und Wortpaare wie Zahnarzt — Dentist, Sprachwissenschaftler — Linguist, fegen — kehren müßten jeweils als ein Wort aufgefaßt werden, was nicht nur unüblich ist, sondern auch gegen jede Intuition wäre. Gehen wir noch einen Schritt weiter, dann muß man ein Paradigma betrachten wie dasjenige des deutschen Hilfsverbs „sein": ich hin, du hist, er ist, wir sind, ihr seid, sie sind. Hier liegen bei sechs Flexionsformen insgesamt fünf grundverschiedene Lautgestalten vor, die, wenn man sie, wie aus der traditionellen Schulgrammatik abgeleitet und üblich, als Allomorphe ein und desselben Morphems (Zitierform: {sein}) bezeichnet, den Morphembegriff vollends zu einer rein abstrakten, allein geistig bzw. inhaltlich aufgefaßten Größe reduziert (und damit den postulierten Zeichenstatus dieser Größe fraglich werden läßt). Von solch einer Verwendung des Morphem- (und Allomorph-) begriff s ist es dann nur noch ein kleiner Schritt zu folgender verbreiteten morphologischen Rede- und Sichtweise: Betrachten wir folgende Reihe von Wortformen: die Katze-n, die Mensch-en, die Kind-er, die Hund-e, die Auto-s. Hier liegen wiederum (wie im Singularparadigma von {sein}) fünf verschiedene Ausdrucksformen (Lautformen) für ein und denselben Inhalt vor, nämlich PLURAL eines deutschen Substantivs (grammatische Kategorien/Funktionen wie PLURAL müssen zeichentheoretisch genauso behandelt werden wie andere, „lexikalische" Bedeutungen wie bei /haus/ — /hoiz/ oder

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/bin/ — /ist/ — /seid/). Es ist dann aufgrund der anhand der vorher behandelten Beispieltypen entwickelten Abstrahierung und inhaltsseitigen Ausrichtung des Morphembegriffs naheliegend, die Formen /-n/, /-en/, /-er/, l-et', l-sl morphologisch ebenfalls als reine Ausdrucksvarianten der identischen Bedeutung PLURAL und damit als Allomorphe ein und desselben (identischen) Morphems {plural} aufzufassen. Damit findet die problematische Abstrahierung des Morphembegriffs aber noch kein Ende. Nehmen wir zwei weitere substantivische Pluralformen des Deutschen hinzu: die Mütter, die Kaiser. Im ersten Fall haben wir immerhin noch ein Pluralkennzeichen, nämlich den Umlaut von lul zu /Y/; dieses Kennzeichen stellt aber kein eigenes Segment innerhalb des Wortstamms dar, so daß wir, wenn wir (wie bei den o. g. segmental isolierbaren Flexionselementen für den nominalen Plural) von einem einzigen einheitlichen Morphem {plural} ausgehen wollen, das sämtliche ausdrucksseitige Realisationsformen umfaßt, unter den Begriff „Morphem" nicht nur segmentale Lautwechsel subsumieren würden, sondern zudem phonologische Prozesse (wie den Umlaut, den Ablaut bei den sog. Stammformenreihen). Das ist zwar nicht unplausibel (auch die oben beschriebene, als Standardfall des Allomorph-Begriffs anzusehende Auslautverhärtung kann nicht nur als segmentaler Kontrast, sondern ebensogut als phonologischer Prozeß erklärt werden), würde aber den Begriff des Morphems noch ein Stück weiter von der verbal stets reklamierten Definition als „kleinstes sprachliches Zeichen" entfernen. Dies wird besonders deutlich im zweiten Beispiel /kaiser/: hier kontrastiert im Paradigma ein und dieselbe Lautform in zwei verschiedenen (grammatischen) Bedeutungen; dieselbe Form kann sowohl für den Inhalt SINGULAR, als auch den Inhalt PLURAL stehen. Man kann daher beide Formen (weil sie nicht weiter in kleinere morphologische Teilsegmente zerlegt werden können) nicht mehr so ohne weiteres als Allomorphe ein und desselben Morphems {kaiser} auffassen, weil wenigstens ein Inhaltsbestandteil (Numerus) nicht identisch ist. Dies hat manche Morphologen zur Annahme der Größe „Nullmorphem" geführt; gemeint ist damit ein isolierbares Element auf der Inhaltsseite, dem auf der Ausdrucksseite kein isolierbares Segment entspricht (notiert wird das dann mit 101 wie in /kaiser-0/ in die Kaiser im Kontrast zu /kaiser/ in der Kaiser). Nähme man die oben beschriebene Variante des Morphembegriffs, als rein inhaltsseitig definiert bzw. abgegrenzt, ernst (und wendete sie streng an) dann müßte man zu der Allomorph-Reihe des Morphems {plural} neben den genannten, phonologisch isolierbaren Segmenten wenigstens noch 1-01 hinzufügen (man spricht dann auch von Null-Allomorph). Es bliebe allerdings das Problem des Umlaut-Plurals, dessen Allomorph- (und Morphem-)Status ungeklärt wäre.

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Die geschilderten sprachlich-terminologischen Grundprobleme der Morphologie (problematisch v.a. hinsichtlich des unklaren Zeichenkonzepts, der fehlenden Eindeutigkeit in der Korrespondenz zwischen wissenschaftlichem Begriff und sachlichem Referenzbereich, auf den er sich bezieht, sowie der unklaren Grenzen des Phänomenbereichs, den er betrifft) wären noch halbwegs hinzunehmen, wenn mit der geschilderten Terminologie wenigstens definitorisch hergestellte Klarheit innerhalb der Teildisziplin herrschte, eine Klarheit, die wenigstens Grundzüge eines Konsenses im Fach trüge. Davon kann aber keine Rede sein. Vielmehr ist das geschilderte Konzept des abstrakten Morphembegriffs selbst stark umstritten; gerade in der neueren Morphologie wird wieder stark die Position vertreten (allerdings ohne daß sich diese Position flächendeckend hätte durchsetzen können), daß Morpheme als Zeichen im ursprünglichen Sinne, und damit als duale Einheiten von Ausdruck und Bedeutung (mit einem bestimmten Ausdruck in Relation zu einer bestimmten Bedeutung) aufgefaßt werden sollten. Das führt nun aber insgesamt zu einer terminologischen Verwirrung derart, daß Phänomene wie Auslautverhärtung (also /haus/ vs. /hauz/} weiterhin als Allomorphe eines gemeinsamen Morphems {haus} bezeichnet werden, Einheiten wie /-en/, /-«/, l-erl, l-sl und l-el als verschiedene synonyme Morpheme, also jeweils eigenständige Zeichen, die nur (wie etwa auch Zahnarzt — Dentist] über dieselbe Bedeutung (nämlich PLURAL) verfügen. Damit werden aber Ausdruckseinheiten, die in der einen Terminologievariante als „Allomorphe" geführt werden, in der anderen Variante als „Morpheme" hezeichnet, und was in der einen Variante als „Morphem" benannt wird, ist in der anderen Variante nur noch die Bedeutung eines Morphems (oder einer Gruppe von Morphemen). Um die terminologische Situation (oder sollte man sagen: das Chaos?) noch zu vervollständigen, wird aber (mindestens) noch eine dritte terminologische Variante vertreten; danach wird zwar am abstrakten, rein inhaltsseitig definierten Morphembegriff festgehalten, die einzelnen Ausdrucksvarianten, die einem solchen „Morphem" zugeordnet werden, werden aber — wohl auch zur Vermeidung von Unklarheiten — nicht mehr als „Allomorphe" bezeichnet, sondern schlicht als „Marker". (Übertrüge man diese terminologische Finesse auf das — zeichentheoretisch gesehen — gleich gelagerte Problem der lexikalischen Synonyme, dann wären Zahnarzt und Dentist zwei verschiedene Marker des gemeinsamen Worts mit der Bedeutung PERSON, DIE EINEM DIE ZÄHNE REPARIERT, und nicht mehr zwei synonyme Wörter. M.a.W: das geschilderte Konzept bringt, wie das ursprüngliche abstrakte Morphemkonzept, das Phänomen der Synonymic auf der Ebene der Morphologie zum Verschwinden, ein Bestreben, das in seinen Motiven nicht ganz einsichtig ist und eigentlich unnötig wäre, da man auf der Ebene der Lexik ja auch ganz gut mit Synonymic leben kann.)

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4. Die Probleme der Vielfalt: Bedeutungen, Funktionen oder allgemeine Eigenschaften? Haben wir bisher Probleme der linguistischen Morphologie beschrieben, ihren zentralen Gegenstand, die Morpheme, definitorisch einigermaßen verläßlich ein- und abzugrenzen und auf einen Phänomenbereich mehr oder weniger eindeutig zu beziehen, so geht es nun um die inhaltliche Ausgestaltung der Definition von „Morphem" selbst, die gleichfalls zu einer blühenden definitorischen Vielfalt führt (bzw. geführt hat). Zunächst sei daran erinnert, daß der Begriff „Morphem" ja — wie die Bestimmung dieses Terminus durch seinen „Erfinder" Baudouin de Courtenay deutliche gemacht hat — ein Sammelbegriff ist: verschiedene, aus der traditionellen Grammatik schon lange bekannte Elemente der Sprache unterhalb der Wortebene (wie „Wurzeln", „Affixe", „Endungen") wurden unter einen Neologismus zusammengefaßt. Hierin unterscheidet sich der Morphembegriff erheblich vom Phonembegriff, der ja angeblich sein Vorbild ist. Während „Phonem" einen im großen und ganzen einheitlichen Gegenstandsbereich bezeichnet, muß die Einheitlichkeit der Phänomene, die unter dem Begriff „Morphem" zusammengefaßt werden (und für die ja vielleicht nicht umsonst in der traditionellen Grammatik verschiedene Begriffe — unter Fehlen einer zusammenfassenden Bezeichnung — existierten) überhaupt erst erwiesen werden. Schauen wir uns an, wie der für diese Phänomenmenge neu eingeführte Sammelbegriff näher bestimmt wird. Bei Baudouin de Courtenay war das Morphem (s. o.) bestimmt worden als „jeder mit dem selbständigen psychischen Leben versehene und von diesem Standpunkte [...] aus weiter unteilbare Wortteil". Die Formulierung „selbständiges psychisches Leben" verweist auf die Bedeutung, den Inhalt der fraglichen Einheit; damit verknüpft wird das Kriterium der Unteilbarkeit; und konkretes Referenzobjekt ist der „Wortteil" (also eine ausdrucksseitig, phonemisch oder graphemisch realisierte Einheit); alle drei Kriterien sind aufeinander verwiesen, setzen einander voraus, so daß, wer eines der drei Kriterien ausschließt, den Morphembegriff auflöst. Dementsprechend lautet etwa eine heute lehrbuchmäßig verbreitete Definition des Morphembegriffs folgendermaßen: „einfache („kleinste") sprachliche Zeichen, die nicht mehr weiter in kleinere Einheiten mit bestimmter Lautung und bestimmter Bedeutung zerlegt werden können". In dieser Fassung geht die Definition des Morphembegriffs auf L. Bloomfield (1926) und Z. S. Harris (1948) zurück, der das Morphem auch als „minimum free form" bezeichnete. Nach dieser Definition ist der Morphembegriff offen gegenüber der Tatsache, ob eine als solches bezeichnete Einheit nun alleine in einem Satz vorkommen kann (streng genommen betrifft Harris' Charakterisierung als „minimum free form" nur Wörter, weshalb Bloomfield lieber nur von einer

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„minimum form" sprach), oder ob es sich dabei um ein gebundenes, nur in einem Wort — zusammen mit einem oder mehreren anderen Morphem(en) — vorkommendes Zeichenelement handelt. Da der Morphembegriff schon von seiner Genese her recht verschiedenartige Erscheinungen zusammenfaßt, muß es nicht weiter verwundern, daß die Standarddefinition schon bald von manchen als zu weitgehend empfunden wurde. Dabei reibt man sich v.a. am Definitionskriterium „Bedeutung"; als kleinste Einheit des Typs Sprachzeichen ist das Morphem ja als Verweisungsrelation zwischen Ausdruckselementen und Bedeutung definiert. Jedoch haben viele Linguisten große Probleme damit, dasjenige, was bei vielen Arten von Phonemketten, die als „Morpheme" bezeichnet werden, der Ausdrucksseite gegenübersteht, mit dem linguistischen Terminus „Bedeutung" zu belegen. Hier intervenieren also Probleme der Definition des Bedeutungsbegriffs (also aus einem der Morphologie benachbarten Forschungsbereich der Linguistik, der Semantik) bei der Definition des zentralen morphologischen Terminus. Will man die geäußerten Bedenken nachvollziehen (wenn man sie auch — wie noch zu zeigen sein wird — nicht akzeptieren sollte), dann sollte man einen genaueren Blick auf den angezielten Phänomenbereich werfen. Im Folgenden also eine kleine Liste solcher Einheiten der deutschen Sprache, die als „Morpheme" klassifiziert werden: 1-1 Straße Schuh Kabeljau Elektrode Quell1-2 schurigel lauf berstbrech1-3 kalt charmant überhaupt 1-4 oder auf aua zwei

2—1 erzgehauptmißun2—2 zerentverereinlosvor2-3 mißunurerz-

3 — 1 -wesen -turn -ung -nis -er -el -ei -e -s 3 — 2 -ier -ig 3—3 -bar -haft -ig -lieh -mäßig

4 — 1 -5 -es -n -en -er -e -ern

5 — 1 -e -st -t -en -t -en 5- 2 ge- ., ge- ..

6 — 1 -er -en -em -en -e -er -en -e -es 6 — 2 -er -st -est

Zur Erläuterung für Nicht-Linguisten: Wir haben hier in der Reihenfolge ihrer Nennung unter (l —1) einmorphemige Substantive/Nomen bzw. Stämme (Wurzeln) von Substantiven/Nomen; (1—2) einmorphemige Verbformen und/bzw. -stamme (im Deutschen ist der Imperativ Singular die einzige einmorphemige Flexionsform der Verben, die in den meisten

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Fällen — d. h. bei der regelmäßigen/„schwachen" Konjugation und den daran mittlerweile überwiegend angeglichenen Formen der unregelmäßigen/„starken" Konjugation — dem Verbstamm entspricht); (1 — 3) einmorphemige Adjektive und Adverben; (1 — 4) Beispiele der — meist einmorphemigen — sog. „kleinen Wortarten" wie Konjunktionen, Präpositionen, Interjektionen, Numeralia (dazu zählen auch noch: Artikel, Pronomen); (2—1) Präfixe von Substantiven/ Nomen; (2—2) Präfixe von Verben, und zwar sowohl nicht-abtrennbare (Er übersetzte das Nibelungenlied.} als auch im Satzkontext abtrennbare (Er setzte Siegfried mit einem Nachen über.); (2—3) Präfixe von Adjektiven/Adverben; (3 — 1) Suffixe von Substantiven/Nomen; (3—2) Suffixe von Verben; (3 — 3) Suffixe von Adjektiven/Adverben; (4—1) Flexionselemente (-marker), d.h. die in der älteren Grammatik als „Endungen" bezeichneten Flexionssuffixe, hier der Deklination des Plurals der Substantive/Nomen; (5—1) Flexionselemente der Verben, hier der Konjugation des Indikativ Präsens der Verben; (5 — 2) zweiteilige („diskontinuierliche") Flexions-Affixe der Verben, hier für die Partizipien; (6—1) Konjugationssuffixe der Adjektive ohne Artikel, hier des Maskulinum Singular und des Plural aller drei Genera sowie das einzige von diesen noch formverschiedene Element (Nom./Akk.Sg. des Neutrum); (6—2) Komparationselemente der Adjektive. Die Beispiele zeigen, daß mit dem Sammelbegriff „Morphem" ein recht vielgestaltiger Phänomenbereich erfaßt werden soll, der einerseits dazu zwingt, systematische Untergruppierungen vorzunehmen, der es andererseits aber erschwert, sich noch ohne Dissens auf eine einheitliche, zusammenfassende Definition zu einigen. Morpheme der Typen (l —1) bis (1—4) sind entweder Formen selbständiger Wörter (Wortschatzeinheiten, die in der Linguistik auch als „Lexeme" bezeichnet werden) — sie werden in der Wortschatzforschung (Lexikologie) auch als „Simplizia" bezeichnet; dazu zählen die meisten Lexeme der „kleinen" Wortarten, aber auch die Grundformen vieler Substantive/Nomen, Verben und Adjektive sowie die Adverben. Oder es handelt sich (bei den flektierten Hauptwortarten) um „Wurzeln" („Stämme") von selbständigen Lexemen, die noch mit einem Flexionselement verbunden werden müssen (dies zeigt der Querstrich an). Auf jeden Fall erfaßt die Gruppe (1) prototypischerweise Lexeme der Hauptwortarten, die über eine volle lexikalische Bedeutung verfügen, welche mit den üblichen Mitteln der lexikalischen Semantik beschreiben werden kann. Man nennt diese Gruppe daher auch „lexikalische Morpheme". Hier ist die Anwendung der o. g. Morphemdefinition unproblematisch und unstrittig; der Zeichencharakter (als Beziehung zwischen Ausdruck und Bedeutung) eindeutig. Etwas schwieriger wird es schon bei den Morphemen der Typen (2—1) bis (3 — 3), also den Präfixen und Suffixen von Substantiven/Nomen, Verben und Adjektiven, die keine Flexionselemente sind. Diese

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Gruppe faßt man üblicherweise als „Wortbildungsmorpheme" (Derivationsmorpheme) zusammen; sie sind (in dieser Funktion) unselbständig, d. h. können nicht alleine in einem Satz auftreten, und dienen dazu, aus vorhandenen Wortstämmen neue Wörter (Lexeme) zu bilden. Semantisch gesehen sind sie sehr heterogen. Sie reichen von trennbaren Präfixen, die in ihrer Bedeutung nahezu identisch sind mit den formidentischen zugehörigen Formen freier Wortarten (vgl. das Präfix vor- in vor-fahren wie im Satz Der Gast verlangte, das Taxi solle vorfahren, und die Präposition vor in Der Gast verlangte, das Taxi solle vor dem Hotel warten.} — hier kann man problemlos von einer lexikalischen Bedeutung im vollen Sinne sprechen; über Wortbildungsmorpheme (sie meinte Baudouin mit „Affixe" = „Präfixe" und „Suffixe") mit immerhin noch beschreibbarer — wenn auch häufig sehr vielfältiger und uneindeutiger — Bedeutung (z. B. un- in Un-verständnis vs. Verständnis mit der Bedeutung NEGATION, oder er- in Sie wollte sich einen Literaturpreis er-schreiben. mit der Bedeutung PERFEKTIV/RESULTATIV, oder -er in Fahr-er mit der Bedeutung PERSON, DIE DIE IN DER VERBALEN BASIS AUSGEDRÜCKTE TÄTIGKEIT AUSFÜHRT) bis hin zu Wortbildungsmorphemen, die eigentlich nur noch den Wechsel einer grammatischen Kategorie ausdrücken (wie z. B. der Wortartenwechsel bei -ung in Schreib-ung von Verb zu Substantiv mit der Funktion „SUBSTANTIVIERUNG" oder bei -ig in wind-ig von Substantiv zu Adjektiv als „ADJEKTIVIERUNG" oder der Genuswechsel - „Movierung" — bei -in wie in Pfarrer-in mit der Bedeutung FEMININUM). Schließlich haben wir die große Gruppe der Flexionselemente /-affixe (im Deutschen meist Suffixe, daher früher als „Endungen" bezeichnet) unter (4—1) bis (6 — 3), die nur noch eine grammatische Kategorie („Funktion") ausdrücken, also Informationen wie „PLURAL" (z. B. -s oder -e bei Substantiven wie Auto-s, Tag-e), „KASUS" (z. B. „GENITIV" durch -s in Maler-s oder „DATIV" durch ~n in Äpfel- ), „PERSON/NUMERUS" (z. B. „1. PERSON SINGULAR" durch -e, in mach-e), „TEMPUS" (wie „VERGANGENHEIT/PRÄTERITUM" durch -t- in mach-t-e), „STEIGERUNG" (z. B. „KOMPARATIV" durch -er in schnell-er), oder abstrakte, rein formale Kategorien wie „INFINITIV" (-en bei arbeit-en) oder „PARTIZIP" (ge-/-t bzw. ge-/-en bei ge-mach-t bzw. ge-sung-en}. [Ich habe im Vorstehenden all diejenigen InhaltsVFunktionsangaben in Anführungszeichen gesetzt, bei denen viele Linguisten Probleme haben, sie noch als „Bedeutung" zu bezeichnen.] Man sieht an diesen Beispielen leicht, daß Elemente der verschiedenen Phänomengruppen, die zusammengefaßt als Morpheme bezeichnet werden, jeweils auf Inhalte recht unterschiedlicher Art und recht unterschiedlichen Status' verweisen. Man hat deshalb gerne zwischen „lexikalischen Morphemen" und „grammatischen Morphemen" bzw. zwischen „Morphemen mit Bedeutung" (gemeint ist: lexikalische Bedeutung im vollen Sinne) und „Morphemen mit Funktion" unterschieden; ganz ana-

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log zu der beliebten Unterscheidung in der Wortschatzforschung/Lexikologie bzw. lexikalischen Semantik zwischen „voll-semantischen" Wörtern/Lexemen (also den Substantiven/Nomen, Verben und Adjektiven wie Baum, schwimmen, grün), den sog. Autosemantika, und Wörtern „ohne eigene (lexikalische) Bedeutung", den sog. „Synsemantika" (also Präpositionen, Artikel, Konjunktionen, Partikeln usw. wie in, die, und, doch). Kurz gesagt: Die linguistische Morphologie hat nicht nur erhebliche Probleme mit dem gegenstands- und disziplinkonstituierenden Begriff „Morphem", sondern ebenso gravierende Probleme mit dem wichtigsten definierenden Kriterium des Morphembegriffs, dem Begriff „Bedeutung" (bzw. „Inhalt"). Diese Probleme sind nun keineswegs hausgemacht, sondern rühren v.a. daher, daß die linguistische Semantik bislang überwiegend einen hochproblematischen Bedeutungsbegriff verficht, der ungeeignet ist, das Phänomen „Bedeutung sprachlicher Zeichen, Teilzeichen und Zeichenketten" vollständig und in seiner ganzen Vielfalt zu erfassen. Linguistische Bedeutungstheorien sind nämlich bislang nahezu ausschließlich für den Wortschatzbereich der sog. „Autosemantika" (s. o.) gemacht worden, und darin eigentlich auch nur für einen bestimmten Ausschnitt, nämlich die sog. „Konkreta", also Wörter, die auf Gegenstände der sinnlich wahrnehmbaren Welt (Sachen, Eigenschaften, Tätigkeiten/Abläufe) verweisen. Deren Bedeutung läßt sich ganz einfach beschreiben, indem die Gegenstände beschrieben werden, auf die sie verweisen. Das ist nun aber sehr viel schwieriger bei Sprachzeichen, zu deren Beschreibung nicht einfach auf Gegenstände verweisen werden kann. Dazu zählen nicht nur selbständige Wörter aus dem Bereich der sog. „Synsemantika" (s. o.), sondern auch Wortbildungsmorpheme und Flexionsmorpheme. Elemente dieser Gruppen können zwar auch für lexikalisch beschreibbare Informationen stehen (wie z. B. Präpositionen in ursprünglicher Verwendung), verweisen häufig aber „nur" auf grammatisch relevante Informationen, wie z. B. bestimmte logisch beschreibbare Formen der Satzverknüpfung bei den Konjunktionen, wie z. B. „KAUSAL" bei weil; grammatische Kategorien wie „NoMiNAL+MASKULiN+SiNGULAR" bei Artikeln wie der in der Schreibtisch; Wortarteninformationen wie „ADJEKTIVISCH" bei Wortbildungsmorphemen; Konjugationskategorien; Deklinationskategorien und Komparationskategorien (s. o.). Warum diese Art (grammatisch-funktionaler) Informationshaltigkeit bestimmter Morphemtypen vielen Morphologen große begrifflichdefinitorische Probleme bereitet, ist aus semantischer/zeichentheoretischer (und damit die einzelnen Teildisziplinen übergreifender sprachtheoretischer) Sicht nicht ganz einsichtig. Aber offenbar sind diese Probleme groß genug, daß sich solche Morphologen weigern, für die Inhaltsseite der zuletzt beschriebenen Phänomene den Begriff „Bedeutung" zu verwenden, und daher lieber von „grammatischer Funktion" sprechen,

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oder sogar mit der oben geschilderten Standarddefinition von Morphem so unzufrieden sind, daß sie zu solch merkwürdigen gewundenen Definitionen wie folgender finden: „Ein Morphem ist die kleinste vom Sprecher in ihren verschiedenen Vorkommen als formal einheitlich identifizierbare Folge von Segmenten, der (wenigstens) eine als einheitlich identifizierbare außerphonologische Eigenschaft zugeordnet ist." (Wurzel 1984, 38, eine — abgesehen von semantischen Fragen — ansonsten ausgesprochen kluge Theorie und Analyse des deutschen Flexionssystems). Das in der älteren und üblicheren Fassung der Definition des Morphembegriffs zentrale Definiens „Bedeutung" wird also ersetzt durch das (im gegebenen Kontext die höchst mögliche Abstraktionsstufe einnehmende) Definiens „außerphonologische Eigenschaft". Mit dieser Bestimmung wird aber die theoretische Einheit des sprachlichen Zeichenbegriffs negiert (und letztlich aufgegeben) zugunsten eines fragwürdigen Modells, wonach Sprachelemente keineswegs Bedeutung/Inhalt haben müssen. Sicherlich kann nicht geleugnet werden, daß in einem Sprachsystem mit Überwiegen sog. „analytischer" Formen (also der Verteilung einer grammatischen Information auf mehrere Wörter/Morpheme wie z. B. das PASSIV PERFEKT in sie ist geliebt worden oder Kongruenzphänomene wie die Signalisierung von Genus, Numerus und Kasus in komplexen Substantivgruppen an allen Elementen der Gruppe, wie MASKULINUM, PLURAL und AKKUSATIV in einen_ schönen großen Hasen, wo die Signalisierung der grammatischen Kategorien an allen Wörtern der Gruppe nicht nur der Übermittlung der grammatischen Information als solcher dient, sondern möglicherweise eher den Zweck hat, die grammatische Zusammengehörigkeit der Wörter der syntaktischen Gruppe zu signalisieren) nicht alle Flexionselemente an jeder einzelnen Vorkommensstelle den alleinigen Zweck haben, „Inhalt" im herkömmlichen Sinne zu vermitteln; andererseits muß anhand solcher Befunde die Frage gestellt werden, ob man den definitorischen Problemen nicht auch — anstatt, wie es semantisch, zeichentheoretisch und sprachtheoretisch unsinnig ist, den Bedeutungsgehalt solcher Elemente vollständig zu leugnen — dadurch beikommen kann, daß man den Begriff „Bedeutung" nicht mehr so eng faßt, wie zuvor, sondern an die geschilderte Phänomenlage anpaßt. Dann könnte selbst eine solche (scheinbar abstrakte, rein „funktionale", „rein grammatische") durch Flexionselemente vermittelte Information wie ZUGEHÖRIGKEIT DER DAS FLEXIONSMORPHEM TRAGENDEN WORTFORM zu DERSELBEN SYNTAKTISCHEN GRUPPE WIE DIE ANDEREN DIESELBEN GRAMMATISCHEN KATEGORIEN SIGNALISIERENDEN WORTFORMEN INNERHALB DER NÄHEREN SYNTAKTISCHEN UMGEBUNG, welche zu den außerdem signalisierten Informationen wie GENUS, NUMERUS, KASUS hinzukommt, als „Bedeutung" besonderen Typs, nämlich dieses Typs von Morphemen, aufgefaßt werden.

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Eine solche Lösung der Definitionsprobleme des Morphembegriffs hätte nicht nur den Vorzug, daß sie die zeichentheoretische Definition des Morphems retten und damit das wohl kaum lösbare Problem aus der Welt schaffen würde, was solche Sprachelemente (wie die Flexionsmorpheme) denn dann darstellen sollen, wenn sie keine Zeichen sein dürfen (weil der Zeichenbegriff nun einmal unwiderruflich als Relation zwischen Ausdruck und Inhalt definiert ist oder andernfalls aufgegeben würde); sie wäre darüber hinaus wohl auch am ehesten in der Linguistik konsensfähig (und, was nicht geringgeachtet werden sollte, außerhalb der Linguistik vermittelbar), weil sie das zentrale Definiens „kleinste bedeutungstragende Einheit der Sprache" aus der Standarddefinition des Morphembegriffs bewahren würde. Außerdem würde eine solche Lösung die doch ziemlich fragwürdigen Versuche überflüssig machen, durch Einführung einer zeichentheoretischen Dichotomic zwischen „Bedeutung" einerseits und „Funktion"/"grammatische Kategorie" usw. andererseits eine begriffliche Unterscheidung zu postulieren, deren Pole kaum vernünftig begründet bzw. definitorisch klar auseinandergehalten werden könnten. (Interessanterweise hat bisher auch noch niemand den Versuch gemacht, diese ziemlich häufig postulierte Dichotomic zu definieren oder gar ausführlich zu begründen; sie wird schlicht axiomatisch vorausgesetzt und ohne nähere Klärung belassen. Dies mag daran liegen, daß Morphologen weit überwiegend von Hause aus Phonologen sind und keine Semantiker, weshalb sie sich sehr viel stärker für die Regularitäten der Ausdrucksseite sprachlicher Zeichen interessieren als für die Bedeutungsseite der Zeichen; diese mag man als Phonologe ignorieren dürfen, da sie dort nur sekundär — via der „bedeutungs- bzw. zeichen-unterscheidenden" Funktion der Phoneme — relevant ist, nicht jedoch als Morphologe, als der man es immer mit Ausdrucks- und Inhaltsseite von elementaren Sprachzeichen zugleich zu tun hat.) Nur der Vollständigkeit halber sei schließlich darauf verwiesen, welcher kleine Phänomenausschnitt die erwähnten Morphologen veranlaßt, den Bedeutungsbegriff aus der Morphemdefinition exorzieren zu wollen: Es handelt sich um die sog. „Fugenelemente" im Deutschen wie -5- in Liebe-s-geflüster oder -er- in Kind-er-stuhl, die anscheinend keinerlei Informationsgehalt aufweisen — auch wenn sie, was heute allerdings für ihre Verwendungsregeln kaum noch eine Rolle spielt, ursprünglich aus Flexionsmorphemen des GENITIVS entstanden sind, also bedeutungstragend waren. Es scheint mir jedoch aus grundsätzlichen sprach- und zeichentheoretischen Gründen, zur Vermeidung der sonst auftretenden unvermeidlichen und unlösbaren begrifflich-theoretischen Aporien, sinnvoller zu sein, diese marginale Klasse sprachlicher Elemente aus dem Referenzbereich des Morphembegriffs auszuschließen und dann möglicherweise als eigene Klasse weiterzuführen oder eine rein phonologische

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Definition zu entwickeln, als ihretwegen den Morphembegriff für die 99,9999 % der übrigen darunter fallenden Sprachphänomene jedes zureichenden Definitionskriteriums zu entblößen. Nur nebenbei sei bemerkt, daß die Ersetzung des Definiens „Bedeutung" durch das Definiens „außerphonologische Eigenschaft" nur eine scheinbare Lösung des Definitionsproblems des Morphembegriffs darstellt, und damit eine reine Problemverschiebung (um nicht zu sagen: Etikettenschwindel bzw. Problemvertuschung), weil bei ihrer Hinnahme sofort die Frage auftauchte: was heißt „außerphonologische Eigenschaft"? Und dann müßte eben (außer für die 0,001 Promille Fugenelemente unter den nichtphonologischen Wortteilen) doch wieder auf den Begriff „Bedeutung" („Information", „grammatische Kategorie", „Funktion", was zeichentheoretisch letztlich alles auf dasselbe hinausläuft) zurückgegriffen werden.

5. Vom Sinn der Ordnung(en): Wortbildung oder Flexion? Konversion oder Derivation? Die Probleme der Konstitution des Gegenstandes einer Wissenschaft bzw. Teildisziplin betreffen, soweit sie sprachlich bzw. terminologisch bedingt sind, nicht nur die Definition der zentralen Begriffe und die genaue Bestimmung ihrer Bezugsobjekte, sondern — wie man sich leicht denken kann — damit zugleich auch die Abgrenzung der Begriffe und/ bzw. der Bezugsobjekte untereinander. Insofern ist es im Falle der Morphologie mit der Definition des Morphembegriffs und der (den Vorgaben der traditionellen Grammatik und ihrer Einteilung in „Wurzeln", „Affixe" und „Endungen" folgenden) Festlegung der drei wichtigsten funktionalen Morphemtypen (als „lexikalische Morpheme", „Wortbildungsmorpheme" und „Flexionsmorpheme") nicht getan. Vielmehr muß diese Abgrenzung und ihre definitorische Begründung auch bei genauerer theoretischer Betrachtung Bestand haben. Wenn nach landläufigem Verständnis die Aufgabe der Wissenschaft nicht nur ist, mit den zentralen wissenschaftlichen Begriffen sozusagen Pflöcke und Pfeiler in den morastigen Untergrund der Phänomenwelt zu schlagen, an denen sich die Forscher festhalten können, sondern das Terrain insgesamt zu sondieren und vor allem säuberlich zu kartieren, dann benötigt man neben den Benennungen der einzelnen Geländeteile Kriterien dafür, wieso man welche Einteilungen und Grenzziehungen vorgenommen hat und wie sich diese begründen lassen. Diese Arbeit ist nun aber im Falle der linguistischen Morphologie nicht sehr einfach, und es scheint fast, als sei sie jeweils umso schwieriger, je (scheinbar) selbstverständlicher die die einzelnen Teilphänomene bezeichnenden Kategorien sind und je länger die

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Tradition ihrer Verwendung in der überlieferten Wissenschaft (hier: der traditionellen Grammatik) ist. In der linguistischen Morphologie zeigen sich diese Probleme bei der Abgrenzung aller drei funktionalen Haupttypen von Morpheme: Das Verhältnis zwischen Flexion und Derivation (also bei den in Frage stehenden Morphemtypen: zwischen Flexionsmorphemen und Derivations-/Wortbildungsmorphemen) ist ebenso schwer zu bestimmen und z. T. umstritten wie das Verhältnis zwischen Derivation und Komposition (also zwischen Wortbildungsmorphemen und „freien", „lexikalischen" Morphemen). Zunächst zum „einfacheren" Abgrenzungsfall. Ein typisches (heute sagen manche Morphologen: prototypisches) Wortbildungsmorphem ist etwa -er. Dieses Element kann nur als sog. „gebundenes" Morphem auftreten (also nicht allein, sondern nur als Affix an ein lexikalisches, sog. „freies" Morphem gebunden; im konkreten Fall: an die Wurzel eines Verbs; -er ist die eingedeutschte Fassung eines aus dem Lateinischen entlehnten und schon dort gebundenen Wortbildungsmorphems, nämlich -arius, also im Deutschen immer schon ein Wortbildungsmorphem gewesen); es dient dazu, aus Verben die Bezeichnung für den Ausführenden oder für ein Instrument der mit dem Verb bezeichneten Handlung (des Vorgangs) abzuleiten (also etwa find-(en) —> Find-erbzw. kühl-(en) —» Kühl-er; manche dieser Bildungen sind hinsichtlich der Wortbildungsbedeutung doppeldeutig/ambig: z.B. Bohr-er, Oruck-er, Schreib-er). Diesen „klaren Fällen" eines Wortbildungsmorphems, also eines Elementes, das nur und ausschließlich unselbständig vorkommt und ausschließlich der Wortbildung, d. h. der Ableitung neuer lexikalischer Wörter aus vorhandenen lexikalischen Wörtern dient, könnte man die (dann so zu nennenden) „klaren Problemfälle" gegenüberstellen, also solche Wortbildungen, bei denen fraglich ist, ob eines der beiden beteiligten Elemente zurecht als „unselbständig" bzw. „gebunden", d.h. als „Wortbildungsmorphem" klassifiziert wird, d. h. bei denen sich die Frage stellt, ob es sich nicht evtl. um eine Kombination zweier „freier" Morpheme (also selbständiger Elemente, sog. „lexikalischer Morpheme", d. h. Wörter) handelt. Hier hängt also die Definition und Abgrenzung von „Derivation" (Wortableitung) und „Komposition" eng zusammen mit der Definition und Abgrenzung sog. „freier Morpheme" von sog. „gebundenen Morphemen" (denn mittels dieses Kriteriums wird üblicherweise Komposition — als „Kombination zweier freier Morpheme/Wortstämme" — von Derivation — als „Kombination eines freien Morphems/Wortstamms mit einem gebundenen Morphem" unterschieden). In Frage steht dabei weniger die Funktion der Elemente unter der jeweiligen Benennung / Definition als vielmehr ihr lexikalischer bzw. grammatischer (man könnte auch sagen — aber das liegt auf der Hand -: morphologischer) Status. Beispiele für solche Problemfälle sind z. B. Menschen-werk vs. Blatt-werk, wasser-arm

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vs. pflege-arm, schul-frei vs. bügel-frei u.a. In den jeweils zuerst genannten Wortbildungen (sog. „Wortbildungsprodukten") liegt die Bedeutung des Zweitelements noch ziemlich nahe an der Bedeutung derselben Form als freies Morphem bzw. selbständiges Lexem/Wort bzw. ist mit dieser identisch; bei den jeweils an zweiter Stelle genannten Wortbildungen ist die Bedeutung des Zweitelements doch recht weit entfernt von der Bedeutung derselben Lautform als freies Lexem. Offenbar gibt es also Übergänge zwischen dem Status eines Morphems als Wort / sog. „freies Morphem" und als „gebundenes Morphem" / Wortbildungsmorphem (solche Elemente werden dann auch als „Affixoide" bzw. „Halbaffixe" bezeichnet). Der Übergang zwischen beiden Gruppen (Morphemtypen) stellt nur unter rein synchronischer Betrachtung ein größeres Problem dar; diachron bzw. sprachhistorisch gesehen kann dagegen festgestellt werden, daß ein großer Teil der heutigen Wortbildungsmorpheme (besonders in der Wortbildung des Substantivs) aus ursprünglich freien Morphemen / selbständigen Wörtern entstanden ist (z. B. -turn, -heit, -wesen usw.). Systematisch und von der Ebene der morphologischen Theorie her gesehen stellen diese Zweifelsfälle deswegen ein Problem dar, weil sie die (von manchen Linguisten als für die Abgrenzung verschiedener grammatischer Teilbereiche wie Syntax, Morphologie und Lexikon wesentlich erachtete) klare Unterscheidung zwischen „Lexemen" und „gebundenen (grammatischen) Morphemen" erschweren. Deskriptiv bereiten sie dagegen meist keine größeren Schwierigkeiten; immerhin stellen sie aber liebgewordene klare Abgrenzungen und damit das (auch in der linguistischen Morphologie) beliebte Schubladendenken in Frage, vor allem die gerade in neueren linguistischen Theorieansätzen hochgehaltene säuberliche Unterscheidung in „Grammatik" vs. „Lexikon", die offenbar so fundamental gar nicht ist. Etwas mehr „ans Eingemachte" gehen schon die Probleme der Abgrenzung zwischen den bislang (und in Anlehnung an die Einteilungen der traditionellen Grammatik) als strikt getrennt und systematisch verschieden aufgefaßten morphologischen Teilbereichen „Flexion" und „Derivation" (bzw. „Wortbildung durch Derivation"). Auch hier liegt dem Problem die Schwierigkeit zugrunde, zwischen zwei Morphemtypen im Einzelfall klar zu unterscheiden, nämlich zwischen „Wortbildungs(Derivations-)morphem" und „Flexionsmorphem". Zunächst wieder die „klaren Fälle": Esel-ei vs. Esel-s; rutsch-ig vs. rutsch-te; park-ier-ten vs. park-ten (hier als regionalsprachliche Varianten) u.a. Der Funktionsunterschied der fraglichen Konstruktionen (das meint: Kombinationen von Morphemen zu Wörtern) und damit der fraglichen Morphemtypen scheint eindeutig zu sein: Entweder dienen sie der Bildung neuer Wörter, d. h. neuer Lexikoneinheiten, aus vorhandenem Wortmaterial (wie die Wortbildungsmorpheme -ei, -ig, -ier), oder sie modifizieren vorhandene

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Wörter durch Hinzufügung (bzw. Modifikation) grammatischer Morpheme, die bestimmte grammatische Informationen ausdrücken (wie Genus, Numerus, Kasus, Tempus beim Verb, Numerus und Kasus beim Substantiv/Nomen oder Adjektiv), welche notwendig an einem vollständigen Wort dieser Wortklassen im Satz bzw. Text ausgedrückt sein müssen. Dieser bei den angegebenen Beispielen und rein einzelsprachlich gesehen zunächst plausible morphematische Funktionsunterschied wird auf der Ebene der Einzelmorpheme durch das Begriffspaar „Wortbildungsmorpheme" vs. „grammatische Morpheme (Flexive)" und auf der Ebene der beteiligten Prozesse durch die strikte Unterscheidung von „Wortbildung" und „Flexion" bezeichnet. Nun ergeben sich bei näherer (und strengerer) Betrachtung dieser eingeführten traditionalen Dichotomien jedoch einige Probleme. Zum einen zeigt schon der Sprachvergleich, daß Phänomene, die im Deutschen zur „Wortbildung" gerechnet werden, in anderen Sprachen zur „Flexion" gezählt werden (z. B. die Bildung von genusverschiedenen Formen bei den Substantiven; im Deutschen durch -in wie in Schreiner-in oder -rieh wie in Ente-rich); auch der umgekehrte Fall kommt vor, daß im Deutschen zur Flexion gezählt wird, was in anderen Sprachen der Wortbildung zugerechnet wird (z. B. die Bildung des Numerus bei Substantiven). Zum anderen ergibt sich auch ohne solche konkreten Daten schon rein begrifflich die Frage, warum angesichts des Phänomens, daß aus vorhandenen Sprachelementen bzw. Sprachzeichen (Morphemen) neue Sprachelemente (-zeichen) erzeugt werden, aus diesem Phänomenbereich ein Teilbereich ausgesondert wird, der dann die Bezeichnung „Wortbildung" tragen darf, während ein anderer Teilbereich (in dem bei Lichte betrachtet ebenfalls „Wörter gebildet" werden) sich mit dieser Bezeichnung nicht schmücken darf, sondern als „Flexion" (oft definiert lediglich als „Wortveränderung", „Wortmodifikation") bezeichnet wird. Im Zentrum des begrifflichen und definitorischen Problems steht offenbar (wieder einmal) der Begriff des „Worts". Implizit vorausgesetzt (aber selten explizit thematisiert) wird bei der zitierten Dichotomisierung (bzw. — wenn dieser Ausdruck erlaubt ist — „Verschubkastelung") nämlich eine strikte Unterscheidung des — alltagssprachlich bzw. vortheoretisch zunächst nicht weiter differenzierten — Wortbegriffs in zwei Teilphänomene, nämlich „lexikalisches Wort / Lexem" vs. „grammatisches Wort / Wortform / Flexionsform eines Wortes/Lexems". Der Bedarf an dieser Art von Unterscheidung resultiert nicht nur aus der vortheoretischen Gewohnheit, beim Sprechen über „Wörter" die durch Flexionsformen vorgenommenen Unterscheidungen bzw. grammatischen Präzisierungen der Wortformen im Satz/ Text außer Acht zu lassen, sondern auch aus der den meisten Theorien des Lexikons und der Lexeme (also der „lexikalischen Wörter") bis hin zur lexikalischen Semantik eigenen Übung, bei der linguistischen Be-

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trachtung von Wörtern als solchen von der Tatsache zu abstrahieren (und diese geflissentlich zu ignorieren), daß zumindest die Wörter der sog. „Hauptwortarten" (also der flektierenden Wortklassen Substantiv, Adjektiv, Verb) im Falle ihrer konkreten Verwendung im Satz bzw. Text stets einer grammatischen Spezifizierung/Konkretisierung bedürfen, welche i.d.R. durch das Anhängen zusätzlicher Flexionsmorpheme an den Stamm des „lexikalischen Worts" auch explizit ausgedrückt wird. Bei unvoreingenommener Betrachtung könnte man diesen Umstand auch folgendermaßen ausdrücken: Wenn man einen neuen Satz bilden will, dann muß man bei den flektierenden Wortarten jeweils zunächst einen Wortstamm (ein „lexikalisches Morphem") mit einem Flexionsmorphem in der Weise miteinander kombinieren, daß das durch diese Tätigkeit erzeugte Wort (also die Kombination aus Stamm und Flexiv) nach den jeweils geltenden grammatischen (syntaktischen und morphologisch-semantischen) Regeln die Bedingungen erfüllt, die es erfüllen muß, um an der vorgesehenen Stelle der geplanten Satzstruktur eingesetzt werden zu können. M.a.W: immer wenn man einen Satz äußert, einen Text verfaßt, bildet man in einem gewissen Sinne Wörter, erzeugt aus vorhandenem morphologischen Material aktuell neue Wörter. Vom reinen Wortsinn her ist es also zunächst nicht plausibel, warum diese alltägliche Form der Erzeugung von Wörtern nicht auch explizit „Wortbildung" genannt werden darf und warum sich mit diesem Prädikat nach üblicher Vorstellung nur die (nach anderen Regeln verlaufende) Erzeugung neuer lexikalischer Wörter schmücken darf. Will man diesen terminologischen Usus rechtfertigen, bedarf es plausibler theoretischer Begründungen, die einen systematischen Unterschied zwischen der Erzeugung von Textwörtern (grammatischen Wörtern bzw. Flexionsformen) und Lexikonwörtern (Lexemen) zu rechtfertigen erlauben. Merkwürdigerweise hat sich die linguistische Morphologie lange Zeit wenig bemüht, diese überlieferte Dichotomic theoretisch stichfest zu begründen und damit zu rechtfertigen. Nun kann man in den „klaren Fällen" natürlich plausible Argumente für die Notwendigkeit einer Unterscheidung anführen: Z. B. müssen durch Wortbildung erzeugte Lexeme der flektierten Wortarten ebenso wie alle anderen lexikalischen Wörter bzw. Wortstämme dieser Klassen i.d.R. mit Flexionselementen ausgestattet werden, um in einem Satz als Textwörter (grammatische Wörter) verwendet werden zu können (d. h. die Kombination eines Stammmorphems mit einem Flexionsmorphem ist — dort wo solche existieren — obligatorisch); hingegen ist die Veränderung eines Wortstamms durch Hinzufügung eines Derivations-(Wortbildungs-)morphems fakultativ. Mehr noch: sie verändert häufig die lexikalische Bedeutung des Gesamtwortes (und zwar meist in eine nicht systematisierbare, nicht vorgegebene Richtung), während die Hinzufügung eines Flexionsmorphems

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nur eine stark begrenzte Information (einer grammatischen Kategorie wie SINGULAR, PLURAL, NOMINATIV, PRÄTERITUM, PERSON usw.) aus einem fest vorgegebenen und kaum veränderlichen Set an Informationen beisteuert. Freilich ist das zuletzt genannte Kriterium der Unterscheidung zwischen Flexion und Wortbildung (man könnte es das Kriterium „Typ der Bedeutungsveränderung" nennen) nicht nur deshalb problematisch, weil auch viele Derivationsmorpheme lediglich Bedeutungsänderungen beisteuern, die minimal sind und sich von denen der Flexionsmorpheme kaum unterscheiden (z. B. ebenfalls eher grammatische Informationen betreffen, wie bei den Morphemen der Genusveränderung/Movierung -in/-rieh); problematisch ist es aus systematischer Sicht vielmehr auch, weil (wie angedeutet) die Verteilung von Bedeutungsveränderungen auf die morphologischen Prozeßtypen „Wortbildung" und „Flexion" einzelsprachspezifisch ist und zumindest aus sprachvergleichender Sicht keine Eins-zu-eins-Zuordnung von Bedeutungstyp zu Prozeßtyp möglich zu sein scheint. Bei reservierter Betrachtung scheint also das Kriterium „Bedeutung" nur wenig geeignet zu sein, trennscharf zwischen beiden Typen unselbständiger, nicht mit einer vollen lexikalischen Bedeutung versehener Morpheme unterscheiden zu können. Noch problematischer wird dieses Kriterium indes, schaut man auf die Problemfälle bzw. Grenzfälle zwischen Flexion und Wortbildung. Hier sind vor allem drei Beispiele zu nennen: das Morphem zur Kennzeichnung des Infinitivs von Verben -(e)n, wie in streit-en, haus-en, morsen (bzw., wie noch zu zeigen sein wird, letztlich nahezu sämtliche Flexionsmorpheme der Verbflexion/Konjugation, wie z. B. in ich streit-e, er haus-t, sie mors-en); die Morpheme der Partizipbildung ge- ... -tl-en bzw. -end wie in ge-tanz-t, ge-sung-en, tanz-end; und schließlich die Morpheme der Komparation der Adjektive -er und -(e)st wie in schneller, ält-est-er usw. Das Problem bei allen drei Beispielfällen ist, daß für sie Zuordnungskriterien gleichzeitig anwendbar sind, von denen sonst angenommen wird, daß sie nur für die Zuordnung von Morphemen zu entweder Flexion oder Wortbildung (aber nicht beides zugleich) sprechen. Dies gilt etwa im Falle der Komparation für das Kriterium „Veränderung der Argumentstruktur", das üblicherweise für die Deutung eines Elements als Wortbildungsmorphem spricht (z. B. bei -er in Schreib-er: Das Verb schreiben hat zwei Argumente, nämlich Subjekt und (effiziertes) Objekt: Fritz8 schreibt einen Brief eff-°. In Schreiber ist das Subjekt in das Wort aufgenommen, so daß nur noch ein externes Argument, nämlich Brief, übrig bleibt: Der Schreib-er5 des Briefs eff-°·). Z. B. ist schnell einwertig (Nina läuft schnell), der Komparativ schnell-er jedoch notwendig zweiwertig (Nina läuft schnell-er als Karla); das Komparationsmorphem -er in schnell-er verändert also ebenso die Argumentstruktur der Basis wie das (homonyme) Nominalisierungsmorphem -er

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in Schreib-er. Außerdem stehen (ein zweites Kriterium) die Komparationssuffixe näher am Stamm als die anderen Flexionssuffixe (Die kleiner-en Kind-er), was typisch für Wortbildungssuffixe ist; andererseits könnte dasselbe Kriterium auch für die Zuordnung der Komparation zur Flexion ins Feld geführt werden, da bei einer Kombination von anderen Wortbildungs- und Komparationssuffixen das andere Wortbildungssuffix stets näher am Stamm steht als das Komparationssuffix (Die reinlich-er-en Katz-en). Eine eindeutige Entscheidung für Wortbildung oder für Flexion ist also im Falle der Komparationsmorpheme nicht möglich. Eine ähnliche Zwitterstellung zwischen Flexion und Wortbildung haben die Partizipien wie ge-lach-t, ge-sung-en, tanz-end usw. Sie werden üblicherweise zur Flexion gerechnet, übernehmen aber syntaktisch häufig Funktionen, die ansonsten von Adjektiven ausgefüllt werden (dann werden sie mit denselben Flexionssuffixen der Kasus-, Genus- und Numeruskategorien kombiniert wie andere Adjektive auch). Vgl. z.B. Die Bratwurst ist heißAd>- - Die Bratwurst ist ge-räucher-tAd>Jpart·· - Die Bratwurst ist ge-räucher-tpart- worden. Aus diesem Grunde werden Partizipien in ihrer adjektivischen Funktion häufig lexikalisiert, was man u. a. daran erkennen kann, daß es morphologisch wie Partizipien von Verben gebildete Adjektive gibt, von denen — in der lexikalisierten Bedeutung — keine entsprechende Verb-Grundform existiert (Z. B. Gerd ist ein geschickt-erAd'· Bastler — Gerd hat den Brief nach Hamburg ge-schick-tpart·; Das ist eine reizend-eAd'· Idee}. Man könnte daher die Partizipien auch als „Verbadjektive" bezeichnen, weil — abgesehen von solchen lexikalisierten Fällen — häufig keinerlei semantische Veränderungen zwischen partizipialer und adjektivischer Verwendung dieser Formen festzustellen sind. Problemfälle wie Komparation und Partizipien veranlassen dann auch manche Linguisten dazu, die traditionelle säuberliche Unterscheidung zwischen Wortbildung und Flexion, und damit die Behauptung, es handele sich um zwei jeweils grundverschiedene Typen morphologischer Prozesse, in Frage zu stellen; demzufolge müßte man nur noch von einem einzigen Prozeßtyp „Herstellung komplexer Wortformen durch Kombination zweier oder mehrerer einzelner Morpheme" ausgehen. Eher zweitrangig wäre dann die Frage, ob die kombinierten Morpheme typologisch verschieden oder typologisch identisch sein müssen/können, denn beides kommt vor (vgl. z.B. Stamm+Stamm in der Nominalkomposition wie in Haus-tür, (Stamm+) Wortbildungsmorphem + Wortbildungsmorphem wie in Rein-lich-keit, (Stamm+) Flexionsmorphem + Flexionsmorphem wie in sie lach-t-en, (Stamm+) Wortbildungsmorphem + Flexionsmorphem wie in rein-lich-en usw.). Zweitrangig wäre dann die Frage der stichfesten Begründung einer Grenzziehung zwischen Flexion und Wortbildung, für die immer noch zahlreiche Morphologen viel Mühe und Gedankenarbeit aufwenden.

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Am interessantesten aus grundsätzlicher morphologischer und zeichentheoretischer Betrachtung scheint mir jedoch der Fall der Infinitivformen der Verben zu sein, der gleich in zweifacher Hinsicht zum morphologischen Problemfall wird: Seine Zuordnung ist sowohl zwischen Wortbildung und Flexion umstritten, als auch innerhalb der Wortbildung zwischen Wortbildung mit Affixen (Derivation) und Wortbildung ohne Formveränderung (Konversion). Vgl. dazu folgende zwei Beispielreihen: er schreib-t — schreib-en — das Schreib-en; das Haus — haus-en — er haus-t. Unzweifelhaft kann ein Infinitiv in verbaler Verwendung als Flexionsform der Verben betrachtet werden: Nina will Rudi einen Brief schreib-en. Ebenso unzweifelhaft ist es jedoch, daß die meisten (wenn nicht alle) Verb-Infinitive kombiniert mit einem Nominal-Artikel als Substantive/Nomen verwendet werden können (Wortartwechsel gilt aber üblicherweise als Kennzeichen der Wortbildung im Unterschied zur die Wortart des Stamms niemals verändernden Flexion): Das laute Sing-en störte die Nachbarn — Das Advents-Sing-en soll um acht Uhr anfangen. (Als Substantive können die nominalisierten Infinitive mit nominalen Flexionsmorphemen kombiniert werden: Des Sing-en-s müde legte sich Rita ins Bett.) Da in der nominalen Verwendung das Infinitiv-Morphem -en beibehalten wird (anders als etwa im inhaltlich parallelen Wortbildungsfall die Sing-erei), also ansonsten keine Formveränderung stattfindet (bis auf die Hinzufügung des Genitiv-s), spricht man von „Konversion" (= Wortbildung, hier: Wortartenwechsel, ohne Veränderung der Ausdrucksseite); m. a. W: das -en wird weiterhin allein als verbales Flexionsmorphem behandelt. Da aber die reine Substantivierung von Verben (ohne weitere Bedeutungsveränderung, wie sie etwa in der völlig suffixlosen Konversion fang-en — der Fang vorläge) notwendig die Infinitiv-Form verlangt (diese also niemals weggelassen werden kann und daher obligatorisch ist), könnte man fragen, ob nicht das -en ebensogut (wie als Flexionsmorphem der Verbflexion) in diesen Fällen als Wortbildungsmorphem aufgefaßt werden könnte. Es hat auf jeden Fall eine Art Brückenfunktion sowohl zwischen beiden Wortarten als auch zwischen den fraglichen Morphemtypen. Kann schon dieser Fall (Nominalisierung von Verben) Anlaß zu Streitfragen sein, wird die morphologische Rolle und Einstufung der Infinitivform im umgekehrten Fall des Wortartenwechsels (von Substantiv zu Verb wie in das Haus — haus-en} vollends problematisch. Üblicherweise wird davon ausgegangen, daß ein Substantiv/Nomen durch Anhängen eines Infinitiv-Morphems an den nominalen Stamm zu einem Verb umgebildet werden kann. Da in dieser Wortbildungsrichtung kein weiteres Wortbildungsmorphem vorkommt, könnte man auch hier von „Konversion" sprechen. Allerdings scheint dieser Fall die übliche Definition von Konversion als „Wortartenwechsel ohne Veränderung der Aus-

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drucksseite" doch nicht ganz zu treffen: Die Verwendung eines zunächst nominalen Stammmorphems in der Funktion eines Verbs setzt obligatorisch die Kombination des Stammmorphems mit einem verbalen Flexionsmorphem voraus; das Infinitiv-en ist dabei nur die üblicherweise im Wörterbuch zitierte Flexionsform, die ansonsten in der täglichen sprachlichen Praxis eher selten (im Futur oder in Verbindung mit einem Modalverb wie in er wird haus-en, er will haus-en) vorkommt; weitaus häufiger sind die anderen Flexionsformen für die verbalen Einzelkategorien wie Tempus, Numerus und Person, Partizip u.a. (sie haus-t-en, sie haben ge-haus-t). Wenn nun in der Forschungsliteratur gelegentlich diskutiert wird, ob das Infinitiv-en in dieser Ableitungsrichtung als Flexionsmorphem oder nicht doch auch als Wortbildungsmorphem (mit dem Informationswert VERBAL) betrachtet werden sollte, dann muß diese Überlegung analog auch für die anderen verbalen Flexionsmorpheme (wie -t, -e usw.) gelten; all diese Elemente reichen gegebenenfalls aus, um aus einem zunächst nominalen Stamm durch Kombination mit diesen verbalen Flexionsmorphemen eine Verbform zu machen; ein zusätzliches verbalisierendes Derivationsmorphem ist nicht nötig (weswegen es von solchen auch nur sehr wenige gibt). Diese Möglichkeit der Bildung eines Verbs aus einem nichtverbalen Wortstamm durch Kombination dieses Stamms mit einem (beliebigen) verbalen Flexionsmorphem stellt aber die übliche (und ausschließliche) Betrachtung der verbalen Konjugations-Morpheme als Flexionsmorpheme ebenso in Frage wie ihre säuberliche Abgrenzung und Unterscheidung von den Wortbildungsmorphemen. Ganz offenkundig leisten verbale Konjugationsmorpheme beides: sie signalisieren die entsprechenden verbalen Konjugationskategorien (TEMPUS, NUMERUS UND PERSON usw.) und können — bei nicht-verbalem Stammmorphem — gegebenenfalls zugleich anzeigen, daß es sich um eine Verbform handelt (der Stamm also in einer anderen, nicht-lexikalisierten, Wortart benutzt wird). Damit wird aber die übliche strikte Unterscheidung zwischen Flexion und Wortbildung auch systematisch, aus grundsätzlichen zeichentheoretischen Überlegungen hinfällig: Es ist gar nicht notwendig, und letztlich auch nicht möglich, zwischen Flexion und Wortbildung in jedem Einzelfall trennscharf zu unterscheiden, weil ein und derselbe Typ von Morphemen beides zugleich leisten kann, nämlich eine Flexionskategorie anzuzeigen und damit zugleich die Wortart anzuzeigen, der die Gesamtform zugehört. Diese Anzeigefunktion wird zwar i.d.R. zusammen mit anderen Indikatoren (wie Wortstellung, syntaktische Position, Kombination mit anderen, für eine Wortart spezifischen Begleitwörtern u.a.) wirksam, muß aber als eine der zentralen Funktionen der fraglichen Morphemtypen angesehen werden. Die erwähnten Problemfälle stellen daher nicht nur Anlaß für morphologische Irritationen dar, die einige

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bisher felsenfest behauptete morphologische Gewißheiten und Einteilungen erschüttern; sie werfen zudem grundsätzliche Fragen nach dem Status morphologischer Theorie und Terminologie auf, welche offenbar erst aus der Dominanz der bisher vorherrschenden phonologischen (rein ausdrucksseitig orientierten) oder syntaktischen Prägung der linguistischen Morphologie befreit werden und einer im vollen Sinne sprachtheoretisch validen, d. h. hier: zeichentheoretisch (bzw. semantisch, inhaltsseitig) reflektierten, Fundierung unterzogen werden muß.

6. Probleme und Lösungen: Informationsstruktur und (Wort-) Grammatik Die Ergebnisse der angestellten Fallbetrachtungen sind Anlaß genug für einige grundsätzliche Überlegungen zu Status, Ausrichtung und sprachtheoretischer Fundierung der linguistischen Morphologie. Diese Überlegungen können auch gelesen werden als ein Plädoyer für eine semiologische Rückbesinnung der Grammatikforschung, insbesondere der Morphologie. Die linguistische Analyse sprachlicher Einheiten (die heute von manchen gerne gesehen wird als Untersuchung angeborener kognitiver Strukturen und damit als Teil der Biologie) muß, will sie nicht ihren Gegenstand um Längen verfehlen, ansetzen an der begrifflichen Konzipierung und Analyse der Grundfunktion sprachlicher Zeichen (bzw. ihrer Verwendung durch die sich sprachlich äußernden Menschen), nämlich mittels externer, physisch realisierter Zeichen-Ausdrucke Sinn zu konstituieren, produzierender Ausdruck und rezipierender Anlaß kognitiver Leistungen der an einem kommunikativen Anlaß beteiligten Individuen zu sein. Alles an Sprache dient dieser Funktion, nur aus ihr kann der (äußerst komplexe und vielschichtige) Aufbau der Sprache — bzw. komplexer sprachlicher Zeichen — angemessen erklärt werden. Die Analyse komplexer Zeichen (als die nicht nur komplexere Wörter, sondern auch Sätze bzw. Texte als sprachlicher Niederschlag kommunikativer Äußerungsakte aufgefaßt werden können) muß eine Analyse der Informationsstrukturen sein, in welchen die Inhalte kommunikativer Handlungen organisiert werden. Dabei kommt es nicht so sehr auf die isolierte Betrachtung einzelner sprachlicher Elemente (seien es Morpheme, Wörter, kleinere Syntagmen) und damit der jeweils unterschiedlichen Organisationsebenen sprachlicher Zeichen (wie Phonologic, Morphologie, Syntax, Textstrukturen) an, als vielmehr darauf, die insgesamt sprachlich vermittelte Information dort festzustellen und zu untersuchen, wo sie sich jeweils niederschlägt (auch die Stellung verschiedener Wörter im Satz zueinander kann informationshaltig sein, ohne daß es ein „etwas"

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gäbe, ein lautlich als solches realisiertes Ausdruckselement, an das diese Information gebunden werden könnte). Dieser Punkt wird in der bisherigen grammatischen Forschung (auch und gerade in der Morphologie) nur zu gern übersehen, sonst wäre es nicht möglich gewesen, daß z. B. über die Einstufung der Infinitiv-, Partizip- oder Komparations-Formen als Flexion oder Wortbildung ernsthaft gestritten wurde. Einer semiologischen (man könnte auch sagen: funktionalen) Betrachtung ist es nämlich gleichgültig, wie die bei der Organisation komplexer Zeichenausdrücke jeweils beteiligten Prozesse benannt oder abgegrenzt werden können, solange die Regeln (und Elemente) einigermaßen präzise beschrieben werden, mit denen die sprachlich vermittelten Informationen am Ausdrucksmaterial realisiert werden. Bei einer solchen Analyse muß mit der Möglichkeit der mehrfachen (ausdrucksseitigen) Besetzung derselben sprachlichen Information (wie sie z.B. für Kongruenzphänomene und die sog. „analytischen Formen" einschlägig ist) ebenso gerechnet werden wie damit, daß der Kontrast von Nichts mit Etwas auch schon informationshaltig sein kann (wie z. B. im Nominativ Singular der Substantive des Deutschen, für den es keine eigenen Flexionsmorpheme gibt). Dasselbe gilt etwa auch für sich allein schon aus der Stellung/Anordnung von Elementen ergebende Informationen, wie z. B. bei den deutschen Determinativkomposita des Typs Haus-tor / Tor-haus. Eine semiologische Rückbesinnung der Linguistik in allen ihren Teilsparten in der genannten Art müßte freilich zunächst mit einigen semantischen (bedeutungstheoretischen) Irrtümern bzw. Fehleinschätzungen aufräumen, wie sie in der bisherigen Linguistik nur allzu verbreitet — wenn nicht gar ubiquitär — sind (vgl. zum folgenden ausführlicher Busse 1991 und 1997). Hierzu zählt zuerst die nahezu kanonische Beschränkung des Bedeutungsbegriffs auf einen einzigen aus verschiedenen semantischen Typen, nämlich den der Substantive, Adjektive und Verben, zur Erläuterung von deren Bedeutung es genügt, auf die außersprachlichen Referenzobjekte dieser Wörter zu verweisen bzw. sie zu benennen oder zu beschreiben. Es ist naheliegend, daß ein solcher in Gehalt und Reichweite stark eingeschränkter Bedeutungsbegriff nicht geeignet ist, die Vielgestaltigkeit der Semantik sprachlicher Zeichen zu erfassen, etwa gerade dort, wo es — wie im Bereich der Morphologie — häufig um sog. „grammatische" Bedeutungsbestandteile geht. Ein so eingeschränkter Bedeutungsbegriff zwingt geradezu zu terminologisch-definitorischen Verrenkungen der oben beschriebenen Art (wie etwa bei der Definition des Morphembegriffs oder der Abgrenzung verschiedener Morphemtypen). Das Gemeinsame in der Semantik der verschiedenen sprachlichen Zeichentypen (zu denen ich, wie angedeutet, auch stellungsbezogene Informationen oder solche aus dem Kontrast von „Nichts" zu „Etwas" — nämlich einem zusätzlichen Ausdruckselement — , oder etwa

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Informationsgehalte, wie sie sich aus morphologischen Veränderungen — wie im Deutschen etwa Umlaut und Ablaut — ergeben, zähle) läßt sich immer noch mit dem Zeichenbegriff der seit dem Mittelalter überlieferten klassischen Zeichenlehre beschreiben: aliquid stat pro aliquo (ein Etwas steht für etwas anderes). Sprachliche Zeichen verweisen — kognitiv oder epistemisch gesehen - auf Segmente unseres Wissens. Ob diese Wissenssegmente auf sinnlicher Wahrnehmung beruhen, und die Bedeutung der auf sie verweisenden sprachlichen Zeichen durch Verweis auf sinnlich wahrnehmbare Gegenstände (bzw. ihre erinnernde Vergegenwärtigung/Re-Präsentation) exemplifiziert bzw. veranschaulicht werden kann, oder ob sie sich aus rein kognitiv-epistemischen (z. B. diskursiv konstituierten und vermittelten) Leistungen ergeben, so daß die Bedeutung der auf sie verweisenden Zeichen nur wiederum diskursiv, durch Erläuterungs- oder Definitionssätze expliziert werden kann, oder schließlich ob diese Wissenssegmente sich aus Extrapolationen sprachinterner Regularitäten (wie beim sog. „grammatischen Wissen") ergeben, ist dabei semiologisch gesehen zunächst gleichgültig. Stets ist es die Funktion der Ausdruckselemente, die Aktualisierung solcher Wissenssegmente bei den Rezipienten einer sprachlichen Äußerung zu aktivieren bzw. anzuregen. Jedes einzelne Element eines komplexen sprachlichen Ausdrucks (Zeichen oder Zeichenkette) muß daher darauf hin untersucht werden, welche Wissenssegmente (und Wissenssegmente welchen Typs) durch es aktualisiert (man könnte unter Rückgriff auf den philologischen Begriff der Allusion auch sagen: „angespielt") werden. Dabei ist mit dem Faktum der „Mehrfachbelegung" ständig zu rechnen: Ein Ausdruckselement kann immer auf mehrere Wissenssegmente zugleich (und damit — wie es in dem im vorliegenden Aufsatz untersuchten Beispiel der linguistischen Morphologie wichtig wird — auf Wissenssegmente verschiedener Organisationsebenen sprachlicher Zeichen zugleich) verweisen. Geht man davon aus, daß dieses Faktum angesichts des dem Zeichensystem ,Sprache' inhärenten Ökonomieprinzips der Normalfall ist (dieses Prinzip zeigt sich etwa auch im Fall der Morphologie in der Häufigkeit der semiologischen — anzeigenden, bedeutungshaltigen — Funktion des „Nichts" im Kontrast zu „Etwas"), dann entfällt die in der derzeitigen Morphologie so häufig beschworene (und als Anlaß allerlei terminologischer und definitorischer Anstrengungen dienende) Notwendigkeit, zwischen einzelnen morphologischen Informations- und Funktionstypen (bzw. den entsprechenden morphologischen Prozessen) trennscharf unterscheiden zu müssen — ein (wie sich gezeigt hat) ohnehin nicht zu bewältigendes Unterfangen. Das gilt in dem von mir untersuchten Phänomenbereich nicht nur für die Unterscheidung verschiedener Morphemtypen oder Abgrenzungen wie die zwischen Wortbildung und Flexion oder zwischen Derivation und Konversion u.a., sondern auch für die Definition des Morphem-

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Begriffs selbst. Dessen Abgrenzung etwa vom Begriff des Worts oder die Probleme, die sich bei der Definition und Abgrenzung der Ebene der Morpheme und derjenigen der Allomorphe ergeben haben, erscheinen unter konsequent semiologisch-epistemischer Betrachtungsweise in einem neuen (weniger problemverheißenden) Licht. Es relativiert sich dann nicht nur das Kriterium „eigene lexikalische Bedeutung", welches bei der Abgrenzung der (grammatischen) Morpheme von den Wörtern und Wortstämmen bemüht wurde, und die Verwendung eines einzelnen („lexikalischen") Morphems ohne weitere Flexionselemente wird — zumal sie ja in unserer Sprache bei manchen flektierenden Wortarten recht häufig vorkommt — semiologisch-morphologisch erklärbar, weil dieses Vorkommen nicht nur auf die „lexikalische Bedeutung" als solche verweist, sondern außerdem die morphologisch-grammatische Bedeutung (z. B. den Kasus) signalisiert, die diesem isolierten (flexionsmorphemfreien) Vorkommen entspricht. Es relativiert sich dann auch das bislang als Problem gesehene Phänomen der funktionsgleichen (bedeutungsgleichen) Morpheme (z. B. der Pluralmorpheme der Nominalflexion des Deutschen wie -n, -en, -s, -er, -e), welche nicht mehr unter Strapazierung des Morphembegriffs und sprachtheoretisch aporetischer Abstrahierung von der Inhaltsseite der Morphemzeichen als „Allomorphe" eines abstrakten „Morphems" „Plural der Nomina" zurechtdefiniert werden müssen, sondern die ganz einfach als synonyme Einzelzeichen — wie in allen anderen verwandten semantisch-lexikalischen Phänomenbereichen auch (Synonymie der Lexeme, der Wortbildungen, von syntaktischen Konstruktionen oder gar Sätzen) — erklärt und damit in ein bekanntes und bewährtes Erklärungsmuster eingereiht werden können. Mit einer solchen (hier: morphologischen) Konzeption, welche die Zeichenvergessenheit eines großen Teils der heutigen systembezogenen Linguistik aufheben und deren Rückbesinnung auf ihre semiologischen Wurzeln bewirken könnte, würde aber auch die bislang in der Linguistik noch allzu häufig hochgehaltene Trennung (oder zumindest sprachtheoretische Ferne) zwischen Grammatik und Semantik überwunden, was — wenn nicht gar theoretische Aporien, so doch zumindest terminologische, begriffliche und modellbezogene Verrenkungen der hier geschilderten Art vermeiden helfen könnte.

7. Nachdenkliches Nachwort: Vom Umgang mit Sprache in der Sprachwissenschaft Der Charakter einer Einzelwissenschaft zeigt sich in der Art des Umgangs mit den eigenen theoretischen Wurzeln und Begründungsansätzen, mit Begriffen, Terminologien, Definitionen, Abgrenzungen und Phänomenordnungen; er zeigt sich jedoch vor allem darin, mit welcher Hai-

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tung auf die in wohl jeder Einzeldisziplin feststellbare Pluralität der genannten Arbeitsmittel der Wissenschaften reagiert wird. Hier ist merkwürdigerweise gerade die Wissenschaft von der Sprache kein besonderes Vorbild hinsichtlich des Umgangs mit der eigenen Sprache, der Begrifflichkeit und ihrer Definition. Zwar kann sicherlich festgehalten werden, daß der Umgang mit Grundbegriffen, ihrer Definition und den darauf aufbauenden Theorien und Modellen selbst schon (ebenso wie die kritische Bewertung dieses Umgangs) durchweg geprägt ist durch die je unterschiedliche Art der Selbstkonstitution und Selbstdefinition als Wissenschaft, auch durch das je unterschiedliche wissenschaftstheoretische Selbstverständnis. Doch auch wenn man dies in Rechnung stellt, sollte es möglich sein, den Umgang einer Disziplin (oder einzelner ihrer Vertreter oder Schulen) mit der eigenen wissenschaftlichen Sprache einer kritischen Würdigung zu unterziehen. Gerade hier schneidet jedoch die Sprachwissenschaft nicht gerade gut ab. Zwar sind heute allem Anschein nach die Zeiten vorbei, in denen nahezu jeder sich als „modern" fühlende deutsche Linguist meinte, sein eigenes terminologisches System aus dem Steinbruch des morphologischen und lautlichen Materials der klassischen Sprachen zusammenbasteln zu können bzw. müssen (wie es so hübsche morphonologische Reihen zeigen wie: Phonem, Morphem, Graphem, Lexem, Klassem, Plerem, Monem, Semem, Tagmem, Noem, Kenem, Glossem, Textern, Taxem usw.), und in denen es schon aus diesem Grunde nahezu unmöglich war, einen theoretischen Konsens zu erzielen; doch ist auch heute noch die Linguistik ein Paradebeispiel dafür, daß sich eine theoretische Schule zunächst und vor allem durch eine eigene und spezifische Prägung ihrer Nomenklatur auszeichnet. Dieser Grundzug einer jeden vorwiegend theorielastigen Wissenschaft (was sich in der Linguistik in der Unkenntnis und meist auch Ablehnung empirischer Verfahren bzw. ihrer zentralen Rolle für die Selbstkonstitution als Disziplin zeigt — es reicht doch völlig aus, auf sein eigenes intuitives Sprachverständnis zurückzugreifen, schließlich kann jeder Germanist selbst am besten Deutsch) verschärft sich freilich in der Linguistik in spezifischer Weise. So gibt es kaum einen Phänomenbereich, in dem Einigung über die Definition der grundlegenden Begriffe erzielt worden sei. Zwar kann man sich heute schon eher als in den siebziger Jahren wenigstens auf gemeinsame Ausdrucksseiten der linguistischen Termini einigen (die Neologismensucht der damaligen Zeit hatte sich als kommunikationszerstörend erwiesen), eine Gemeinsamkeit auch der Inhaltsseiten (bzw. Definitionen) scheint jedoch beim derzeitigen state of the art schlichtweg nicht herstellbar. Deshalb kann — auch weil wissenschaftlicher Pluralismus sich auch und gerade im Bereich der Begriffe, Terminologien, Definitionen und Modelle zeigen können muß und daher jede erzwungene Vereinheitlichung und Normierung Erkenntnischancen zerstören könnte — eine kritische Selbstreflexion einer Wissenschaft auf ihre eigene Sprache weniger

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die Inhalte der Begriffe selbst betreffen als vielmehr die Art und Weise des Umgangs mit ihnen und der unleugbaren Tatsache der terminologisch-theoretischen Differenz. Gerade hierin zeigt sich die Sprachwissenschaft jedoch nicht gerade beispielgebend. Um nur das mindeste zu sagen: kritische Selbstreflexion ihrer eigenen Sprache und ein entspannter Umgang mit ihr ist nicht gerade ihre herausragendste Tugend. Noch immer beherrscht terminologische Axiomatik den Darstellungsstil, lesen sich manche linguistische Arbeiten wie pure Definitionskataloge, hinter denen der eigentliche Gegenstand, das sprachliche Einzelphänomen in seinen Zusammenhängen, tendenziell zu verschwinden droht. Noch immer wird zu viel terminologisch gesetzt oder schlicht unkommentiert vorausgesetzt, wird zu wenig reflektiert, relativiert, zu wenig in Verbindungen und Übergängen zu anderen (konkurrierenden) Modellen und Nomenklaturen gedacht. Eine selbstreflexive, sich ihres pluralen und endlichen Charakters bewußte Wissenschaft, eine Wissenschaft, die nicht versucht, wie heute wieder allerorten zu beobachten, sich in theorienimperialistischer Manier zu gebärden (und damit wissenschaftsbezogene Sprachzerstörung und -lenkung zu betreiben), eine solche Wissenschaft also, die — um es mit Paul Feyerabend zu sagen — für freie Menschen in einer freien Gesellschaft konzipiert ist, sollte mehr auf das Phänomen und weniger auf das Modell achten, eher der Vielschichtigkeit der Problemlage als der Reinheit der Theorie und Terminologie gerecht werden wollen; sie sollte Widersprüche und Brüche hinnehmen, wo sie aus Sachangemessenheit nicht zu vermeiden sind, statt sie mit definitorischen Volten und theoretischen Pirouetten zuzudecken; sie sollte sich eher um Diskurs, Austausch und Vermittelbarkeit als um Abgrenzung, Clubbildung und Exklusivität bemühen; sie könnte eine Wissenschaft sein, deren Vertreter es als oberstes Ziel betrachten, über ihre komplizierten Gegenstände in komplexen Begriffen, aber in einer klaren, offenen und veränderungsbereiten, Anschlüsse erleichternden Sprache zu sprechen.

8. Literatur Baudouin de Courtenay, Jan: Versuch einer Theorie phonetischer Alternationen. Straßburg: Trübner 1895. Busse, Dietrich: Textinterpretation. Sprachtheoretische Grundlagen einer explikativen Semantik. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1991. Busse, Dietrich: Wortarten und semantische Typen. Überlegungen zu den Grundlagen der lexikalisch-syntaktischen Wortarten-Klassifikation. In: Christa Dürscheid / Karl Heinz Ramers / Monika Schwarz (Hrsg.): Sprache im Fokus. (Festschrift für Heinz Vater) Tübingen: Niemeyer 1997, 219-240. Kohrt, Manfred: Problemgeschichte des Graphembegriffs und frühen Phonembegriffs. (Reihe Germanistische Linguistik 61) Tübingen: Niemeyer 1985. Wurzel, Wolfgang Ulrich: Flexionsmorphologie und Natürlichkeit. Berlin: AkademieVerlag 1984 (Studia Grammatica 21)

Wissenschaftstheorie der Wissenschaftssprache oder: Wie beeinflußt die Sprache die Wissenschaft? KLAUS MUDERSBACH

0. Einleitung und Fragestellung: Der Einfluß die Wissenschaftssprache auf Theoriebildung und Datenerfassung 1. Der wissenschaftliche Forschungsprozess 1,1 Die Grundstruktur alles wissenschaftlichen Forschens 2. Die Rolle der Sprache beim wissenschaftlichen Forschungsprozeß 2.0 Übersicht 2.1 Die Beschreibungssprache 2.2 Datensprache D-BS 2.3 Theoriesprache T-BS 2.4 Ein quantitatives Beispiel 2.5 Ein qualitatives Beispiel 3. Zur Sprache als Untersuchungsobjekt: Objektsprache, Metasprache, Paradoxie und Sprach-Logik 4. Wie hängt die Güte einer Theorie von der Sprache ab, in der sie formuliert worden ist? 4.1 Lösungsvorschlag zur Theorie-Sprache-Problematik 4.2 Methode zur Aufdeckung der Sprachabhängigkeit von Problemen (MASP) 4.3 Prinzipien, Aspekte, Fallacies 5. Anwendung der Methode auf Beispiele 5.1 Die extensionale Interpretation von Begriffswörtern 5.2 Freges Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung 5.3 Das Jörgensen-Dilemma 5.4 Paradoxien der Deontischen Logik 5.5 Mögliche-Welt-Semantik 5.6 Interpretation der Quantenmechanik Schluß Literatur

Wissenschaftstheorie der Wissenschaftssprache

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0. Einleitung und Fragestellung: Der Einfluß der Wissenschaftssprache auf Theoriebildung und Datenerfassung „Wo ist denn meine Brille?" „Du hat sie doch auf!" „Und warum seh' ich dann alles so verschwommen?" „Du hast wahrscheinlich die aus dem falschen Etui genommen." Solche Dialoge kennen wir und glauben, das passiere nur zerstreuten Menschen oder solchen, die für einen Zweck noch nicht das „Richtige" gefunden haben, ohne es zu merken. — Aber das geschieht fast genauso, wenn Wissenschaftler nicht merken, ob sie für die Behandlung ihrer Fragen die richtige Sprache benutzt haben: sie bemerken davon nichts, weil sie durch die Sprache hindurch auf die untersuchten Objekte schauen und darauf konzentriert sind, alle Details in der Sache genau zu erkennen. In dieser Situation ist es nicht einfach zu merken, ob die Brille verschmutzt ist oder ob es die falsche Brille ist. Es sind die Dinge, die uns in sonderbarer Gestalt erscheinen. Und wir machen uns daran, sie so zu beschreiben, wie sie „sind". Aber je mehr wir sind, die die gleiche falsche Brille tragen, um so mehr können wir das, was wir sehen, von ändern bestätigt finden. Und eine bestätigte Theorie ist eine richtige Theorie. Oder? (Proper or Popper?). Schon Kleist hat aus Kants Brillenbetrachtung den (Ent-)Schluß gezogen, die Brille hinzulegen und der Welt adieu zu sagen. — Aber vielleicht kann man den Betrachtungswinkel doch so ändern, dass man über den Brillenrand schauen kann und den Effekt der Brille erkennen kann. Dann hat man wenigstens, wenn auch nicht den Lebensplan, so doch eine interessante Untersuchungsaufgabe gefunden. Im folgenden soll daher die Frage angegangen werden, ob der Wissenschaftler die Abhängigkeit der Betrachtung von der Sprache, die er benutzt, hinterfragen und auch eventuell in einem kreativen Sprung „hintergehen" kann. Jeder Wissenschaftler braucht Sprache: beim Besprechen der Forschungsstrategie mit Mitarbeitern, beim Durchführen und Protokollieren der Untersuchung, beim Aufstellen der Theorie und beim Mitteilen der Ergebnisse an Fachkollegen oder interessierte Laien. Aber wer untersucht die Sprache, die bei solchen Untersuchungen als der „stille" Helfer „dient"? Der Wissenschaftler selbst? oder der Sprachwisenschaftler? oder der Wissenschaftstheoretiker? Man hat den Eindruck, keiner will für dieses heiße Eisen zuständig sein. — Der Wissenschaftler nicht, weil er die „Brille" ja benutzt. — Der Linguist nicht, weil er sich für die Strukturen von Sprachen, vorzugsweise natürlichen Sprachen, interessiert. Was jemand in sei-

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nem Praxisbereich in der Sprache behauptet usw., das ist Sache des Praktikers, d. h. des Alltagsmenschen. Ob das wahr ist, was jemand sagt, ist nicht Sache des Linguisten. Er ist nur für die Wohlgeformtheit von Sprache und Gebrauch zuständig. — Aber bei der Wissenschaftssprache? die muß doch der Fachmann, der sie gebraucht, am besten kennen, nicht der Linguist. Und wenn die Linguisten etwas zu „den wissenschaftlichen Fachsprachen" sagen, dann ist das so allgemein, daß das spezifisch Fachliche, das zur Erhellung unserer Frage (s. u.: FWA) beitragen könnte, nicht zur Sprache kommen kann (cf. z. B. Bungarten 1981). — Der Wissenschaftstheoretiker nicht, weil er mit Theoriebildung und der Prüfung der Wahrheitsbedingungen einer Theorie und der Einbettung der Theorie in den Forschungsprozess schon genug zu tun hat. So bleibt die große Chance, dem Wissenschaftler auf die Zunge zu schauen, von allen drei Seiten mehr oder weniger ungenutzt, von der Linguistik aber am meisten, weil sie die einzige Disziplin ist, die von Hause aus das Untersuchungs-„Instrument" „Sprache" (als Meß- und Erklärungs-instrument) in seinen (Nicht-)Möglichkeiten durchprüfen könnte. (Sicher wird dieser Sammelband dieses Räsonnement Lügen strafen... — ) Die Frage selbst, ob die Wissenschaftler ihre (Theorie-)Sprache richtig benutzen und ob sie überhaupt die richtige benutzen, bleibt aber eine Frage aus dem Grenzbereich zwischen Linguistik, Einzelwissenschaft und Wissenschaftshteorie, bei der jede Disziplin Zubringer-Dienste für die andere leisten kann, dafür aber auch ein Wörtchen mitzureden hat. Dies wäre übrigens eine gute Einstiegsmöglichkeit für eine „konzertierende" Disziplin, die noch zu etablieren ist: die „wissenschaftstheoretische Linguistik" (oder kürzer: „Wissenschafts-Linguistik"). Das nachfolgende will als ein Beitrag zu dieser Disziplin in spe verstanden sein. Die Frage, die im folgenden beantwortet werden soll, lautet also: (FWA) Wie hängen die wissenschaftliche Aussagen (über Daten und Modelle) von der Sprache ab, in der sie formuliert sind, und lassen sich Probleme, die sich dabei ergeben, eventuell durch die Änderung der Sprache beheben? Um die Frage, an welchen Stellen des Forschungsprozesses die Sprache relevant wird, auf eine Grundlage stellen zu können, soll zunächst der Forschungsprozeß für diese Zecke in Phasen gegliedert werden. Danach wird die Sprachbeteiligung an den einzelnen Phasen diskutiert und für die verschiedenen Funktionen, die sich dabei ergeben, eine formale Sprachstruktur vorgeschlagen, die die Behandlung der Frage FWA erleichtern kann (Kap. 2). In Kap. 3. wird in diesen allgemeinen Rahmen

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der Spezialfall eingebettet, in dem die Sprache nicht nur in beschreibender Funktion vorkommt, sondern auch als Untersuchungsobjekt. Das führt zur Unterscheidung zwischen Objekt- und Metasprache und deren Bewertung (cf. 3.5). So gerüstet kann die zentrale Frage FWA angegangen werden. Statt der Theorie, die ich hier vorzuschlagen hätte, werde ich jedoch gleich die Methode darstellen, die sich daraus ergibt, damit der Leser die Möglichkeit hat, mit diesem „Prüf-Instrument" Probleme bei der eigenen wissenschaftlichen Arbeit zu untersuchen und eventuell zu beheben (Kap. 4.). Diese Methode gibt „flankierende Maßnahmen" an, die dem Problem- und Sprachbewußten beim Versuch, die Probleme heuristisch zu lösen, auf „kreative Sprünge" helfen können, aber springen muß man dann selbst. Nun haben schon viele Forscher viel Lebenszeit damit verbracht, das zu entdecken, was sie suchen. Und oft vergebens. Die Zeit stattdessen in eine Methode zu investieren, die einem möglicherweise Lebenszeit erspart und vielleicht sogar eine Entdeckung einbringt, ist im Verhältnis dazu vergleichsweise kurz. Soviel zur Entschuldigung, warum die Vorbereitung der Darstellung der Methode so ausführlich angelegt ist und die Methode im Detail geschildert wird. Denn eine nicht anwendbare Methode ist so gut wie gar keine Methode. Abschließend wird die Methode an Beispielen erläutert und vorhandene „Sprungergebnisse" (sowie Vorschläge zur Lösung von ungelösten „Problemen") dargestellt (Kap. 5).

1. Der wissenschaftliche Forschungsprozess Jeder wissenschaftliche Forschungsprozeß hat auch mit Sprache zu tun, sei es in der Kommunikation mit Mitarbeitern während des Forschungsprozesses, sei es bei der Darstellung der Resultate. Auch wenn das Sachgebiet, das die Forschung betrifft, selbst nichts mit Sprache zu tun hat, ist doch das Datenerstellen immer mit Bedingungen verbunden, die das korrekte, vorschriftsmäßige Arbeiten mit den Meßgeräten bzw. den empirischen Methoden betrifft. Diese müssen in einer Sprache formuliert werden („Datensprache" cf. 2.2). Es muß festgelegt werden, wann ein Meßdurchlauf korrekt durchgeführt worden ist und wann die gesammelten Meßwerte (in Form von Zahlen, semiotischen oder sprachlichen Ausdrücken) als ein gültiger Meßpunkt oder als gültiges Sprachdatum betrachtet werden können. Jede Wissenschaft versucht, zu den Daten auch eine einheitliche Beschreibung (oder Erklärung) zu geben, d. h. eine Theorie oder ein Modell (im folgenden dasselbe bedeutend) zu formulieren, in dem die erhobenen Daten einheitlich erklärt werden können. Diese Theorie muß in

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einer Sprache formuliert werden, die mehr oder weniger stark reglementiert ist („Theoriesprache" cf. 2.3). Forschungsintern werden diese den Daten bzw. der Theorie zu Grunde liegenden Sprachen selbst nicht beachtet, sie werden nur benutzt. Entstehen Probleme bei der Datenerfassung oder der Theorie-Interpretation, so wird zunächst im inhaltlichen Arbeiten nach einer Lösung gesucht: Meßmethoden werden verbessert oder neue entwickelt, in der Theorie werden Korrekturen und weiterführende Näherungen eingefügt. Erst wenn es im Forschungsprozeß zu Problemen kommt, die mit solchen sachbezogenen Mitteln zu immer umständlicheren Ad-hoc-Ergänzungen führen oder schließlich gar nicht mehr lösbar sind, kann sich vielleicht der Verdacht einstellen, daß es an der verwendeten Sprache liegen könnte (cf. Mittelstaedt 1986, s.29f.). Meist ist aber dann eine neue Theorie schneller zur Hand und verdrängt das Nachdenken darüber, warum die alte Theorie nicht erfolgreich war. Es kommt aber auch vor, daß man die auftauchenden Widersprüche dadurch „unschädlich" macht, daß man dogmatisch fordert: in dieser Wissenschaft habe man eben von seinem Alltagsdenken Abschied zu nehmen, oder: daß Widersprüche gerade die dualistischen oder dialektische Seiten der Wirklichkeit zeigten, mit denen der Forscher eben leben können müßte (cf. 5.6). Bevor man solche Erklärungs-"Techniken", die eher in den Bereich des Religiös-Mystischen gehören, einsetzt, sollte man den „letzten Ausweg" doch auch versuchen und die Abhängigkeit des Denkens und Erklärens von der verwendeten Sprache betrachten. Vielleicht wird man dabei fündig und der Widerspruch löst sich (auf). (Damit ist die Motivation zum Weiterlesen sicher gegeben.)

1.1 Die Grundstruktur allen wissenschaftlichen Forschens Um die Rolle der Sprache beim wissenschaftlichen Handeln betrachten zu können, soll zunächst eine für diese Zwecke geeignete Unterteilung des wissenschaftlichen Forschungsprozesses in fünf Teile vorgenommen werden (cf. Mudersbach 1997a): Tl. Problemstellung: Der Wissenschaftler geht von einer vorhandenen Forschungslage aus und entwickelt auf dieser Basis eine Fragestellung in Verbindung mit einer Hypothese über zu die erwartenden Resultate. T2. Datenvorgabe: Der Wissenschaftler (als Empiriker) stellt über dem Phänomenbereich mit empirischen Methoden Daten für die Fragestellung (Tl.) zusammen. Die Daten sind unterteilt in einzelne „Datensätze". Jeder Datensatz enthält die (möglichst) vollständige Angabe aller Werte, Aspekte etc., die zu einem „Meßvorgang" gehören sollen. Bestimmte der Größen werden über alle Datensätze hin konstant gehalten

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(Hilfsparameter), andere variieren in Wechselbeziehung miteinander (Variable). Zur Datenvorgabe gehört sowohl die Protokollierung der Vorbereitung (Versuchs- bzw. Beobachtungsanordnung, Eichung und Kontrolle der Meßgeräte etc.) und der Durchführung als auch die datenspezifische Auswertung der Ergebnisse. T3. Intuitive Lösungsansatz: Der Wissenschaftler (als Empiriker und Theoretiker) entwickelt eine Lösungsidee. In ihr sind die Größen, Aspekte, Beziehungen etc. enthalten, von denen der Wissenschaftler glaubt, daß sie für die Beschreibung der Daten relevant sind. T4. Formale Ausarbeitung des Lösungsansatzes zu einem Modell bzw. einer Theorie (je nach Sprachgebrauch): Der Wissenschaftler (als Theoretiker) macht in einer reglementierten (nicht-formalen oder formalen) (Fach-Jsprache Aussagen über den Zusammenhang der in den Daten erfaßten (variierenden) Größen. In bestimmten Bereichen macht er bei der Beschreibung von anderen Wissenschaften (wie Mathematik, Logik, Linguistik etc.) Gebrauch. Diese fungieren dabei als „Hilfswissenschaften". T5. Adäquatheitsprüfung: Da Ziel des Wissenschaftlers (Empiriker und Theoretiker) ist, auf die Fragestellung eine Antwort zu geben, indem er zeigt, daß das vorgeschlagene Modell die Daten auf einer einheitlichen Basis von Gesetzen oder Regeln beschreiben kann, ist in diesem Teil konkret und explizit zu zeigen, wie die Theorie auf die Daten anzuwenden ist. Die Güte der Übereinstimmung zwischen Theorie-"Prognose" und Datenvorgabe wird abschließend beurteilt. Die „Adäquaheit" ist eine Idealforderung, die in verschiedenen aufeinander aufbauenden Forschungsprozessen angenähert werden kann. Das Resultat dieses Schrittes (wenn er überhaupt explizit vollzogen wird) ist die explizite Angabe des „Befundes": an welchen Stellen eine wie gute Übereinstimmung erreicht wurde, d. h., wie gut oder schlecht die Antwort auf die Frage in Tl. ist. Bei allem Streben nach Adäquatheit bietet jedoch gerade der Befund der Diskrepanz zwischen Theorie und Daten und die Zweifel, Problematisierungen, Falsifizierungen, Widersprüche und Paradoxien, die damit einher gehen, Antrieb für das Suchen nach besseren Lösungen und das Formulieren genauerer Fragestellungen. Der Kreislauf beginnt damit wieder bei Tl. Dieser Grundstruktur des wissenschaftlichen Forschungsprozesses soll hier als so allgemein angesehen werden, daß die sonst üblichen Unterschiede zwischen qualitativen und quantitativen Wissenschaftstypen (vorläufig) nicht gemacht werden müssen. Es kommt hier zunächst mehr auf das Interesses des Forschenden an, unabhängig davon, welchem Ge-

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biet er sich zuwendet. Dieses Interesse steht sowohl hinter dem Handeln des Forschers als auch hinter der Rolle der Sprache, die er in den einzelnen Abschnitten bzw. in der Kommunikation verwendet (cf. 4.3.P4.).

2. Die Rolle der Sprache beim wissenschaftlichen Forschungsprozeß 2.0 Übersicht In den fünf Abschnitten Tl. —T5. ist Sprache in unterschiedlicher Weise beteiligt. Die Fragestellung Tl. und der intuitive Lösungsansatz T3. sind heuristische Teile, die Kreativität erfordern. Hier ist eine reglementierte Sprache eher hinderlich; wichtiger ist ein assoziativer oder bisoziativer Umgang mit einer (vor-theoretischen) Sprache (cf. Koestler 1964 und 1967,182ff.). Die Tätigkeit des Forschers ist hier darauf ausgerichtet, vorhandene Ansätze in Frage zu stellen, kritisch zu betrachten, sich Alternativen vorzustellen, Lösungsvorschläge zu erfinden oder vorhandene zu verbessern. Wie man diese Tätigkeit methodisch flankieren kann, wird in Kap. 4 vorgeschlagen. Da in den anderen drei Bereiche, Datenerfassung T2., Theoriedarstellung T4. und Adäquatheitsprüfung T5., Sprache zur methodisch genauen Erfassung und Beschreibung von Strukturen der Wirklichkeit dient, sind hier stark reglementierte Sprachen (bzw. formale Sprachen) erforderlich, die auschließlich dem Sachbezug dienen. Im Gegensatz dazu wird nach Abschluß des Forschungsprozesses eine adressatenorientierten Sprache benötigt, in der die relevanten Teile der Forschungsarbeit (also aus Tl.—T5.) und die Ergebnisse einem Kreis von Fachleuten mitgeteilt werden können (wissenschaftliche Fachsprache). Ich will daher die beiden Funktionen durch die Bezeichnungen — „Beschreibungssprache'' (sachbezogene, stark reglementiert Sprache) und — „Kommunikationssprache" (adressatenbezogene Fachsprache) trennen. Die Beschreibungssprache hat je nach Anwendungsbereich zwei Erscheinungsformen: die Datensprache (cf. 2.2) und die Theoriesprache.(c(. 2.3) Die Kommunikationssprache hat je nach Funktion zwei Erscheinungsformen: die Mitarbeitersprache und die Mitteilungssprache (cf. 2.6.). Zunächst wird die formale Struktur der Beschreibungssprache (2.1) angegeben. Danach wird das je Spezifische der Datensprache (2.2) und Theoriesprache (2.3) und die Beziehungen zwischen beiden (2.3.2 f.) dar-

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gestellt. Dies wird an einem quantitativen und einem qualitativen Beispiel veranschaulicht (2.4 und 2.5). — Nicht-formale Beschreibungssprachen sollen hier nicht einfach ausgeklammert werden, sondern in einem zweiten Schritt an das Vorgehen im formalen Fall angeschlossen werden (2.6).

2.0.1 Sprache vs. Behauptung Es wird im folgenden durchgehend getrennt zwischen der Sprache und der in ihr formulierten Behauptungen etc. Die Sprache ist ein „Werkzeugkasten", d. h. ein Mittel zum Zusammenstellen von wohlgeformten Sätzen. Ein Behauptender benutzt diesen Werkzeugkasten für seine Zwecke. Diese Zwecke beziehen sich auf einen Sachbereich (z. B. Kommunizieren im Alltag, Darstellen einer Theorie, Zusammenstellen von gewonnenen Daten). Die Sprache dient dabei als Hilfsmittel (cf. 2.1.4). Die folgende pragmatische Maxime der Objektbezogenheit der Sprache und der Sprachverwendung ist daher so selbstverständlich, daß sie eigentlich nicht besonders betont werden müßte: Die Sprache hat ihren Zweck außerhalb ihrer selbst. Das soll heißen: wir benutzen dieses Werkzeug, um damit in einem Sachbereich etwas zu erreichen (durch Behauptung, Anweisung, Versprechen etc.). Wir benutzen dieses Werkzeug also nicht, um das Werkzeug selbst zu betrachten oder es zu bearbeiten oder es in seiner Wirkungsweise unbrauchbar zu machen (cf. die „Trennung von Interesse und Hilfsmittel zur Darstellung des Interesses" in 3.3). Dies an dieser Stelle zu betonen hat zwei Funktionen: 1. Formulierungen, die besagen, daß eine Sprache etwas aussagt, behauptet oder falsch darstellt („Aussagen der X-Sprache"), sind falsche Formulierungen, da sie alle den vollziehenden, den Sprechhandelnden vergessen, der allein für seinen Umgang mit Sprachlichem verantwortlich gemacht werden kann (also besser: „Aussagen in der X-Sprache") 2. Diese Auffassung hat Konsequenzen bei der pragmatischen Betrachtung der Begrifflichkeit „Objekt- und Metasprache" und der Behandlung von paradoxen Formulierungen (cf. 3.7).

2.1 Die Beschreibungssprache Eine Beschreibungssprache soll als sachbezogene monolaterale Sprache aufgefaßt werden: D. h. als eine formale Sprache, deren Interpretation in einem formalen ontischen Rahmen allgemein charakterisiert werden kann, deren Ausdrücke also noch nicht auf eine bestimmte (Standard-) Interpretation festgelegt sind, wie das beim bilateralen Sprachkonzept (cf. 2.6) der Fall ist.

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Zur formalen Charakterisierung wird der Montaguesche Begriff der „desambiguierten Sprache" in „Universal Grammar" zu Grunde gelegt (Montague 1974a). Dabei ist zu beachten, daß die folgende Charakterisierung nicht als Feststellung vorhandener Sprachstrukturen dienen kann, sondern vielmehr als Leitfaden oder Rahmen zum Erkunden der Struktur einer vorliegenden Theorie oder Datenvorgabe. Dies ist aber deswegen nötig, weil die meisten Theorien bzw. Datenvorgaben (oder Beispielsammlungen) sich nicht die Mühe machen, die zugrundeliegende Sprache explizit und vorher einzuführen. Definition der Beschreibungssprache Eine Beschreibungssprache (BS) ist eine Sprache, zu der explizit Grundausdrücke und syntaktische Regeln festgesetzt werden (Reglementierung der Sprache). Sie dient dem Zweck, Objekte und Sachverhalte und deren reglementierte Betrachtung in einem wissenschaftlichen Fachgebiet zu beschreiben (Sachbezogenheit der Sprache). Eine Beschreibungssprache BS besteht aus zwei Komponenten, einem syntaktischen Teil SYX und einem semantischen Teil SEM: BS = .

2.1.1 Der syntaktische Teil der Beschreibungssprache Der syntaktischer Teil SYX von BS hat fünf Komponenten: SYX = , U), eine Anwendungszeile og«r, i>, u) wobei , D-SATZ). Der Vergleich einer Tabellenzeile tz mit einer Anwendungszeile az der Theorie erfolgt dann nach dem Schema: T-IPR wird auf vergleichbare Werte-Tupel angewandt: T-IPR(og«r,i>,u), tz«dr,di,du,dx>, dsatz)). Dies ergibt für eine einzelne „Messung": Die Anwendungszeile zur Theorie GSZ(ohm):og(,dsatz). Dabei muss r = dr und i =

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di vorausgesetzt werden, der Wert dx soll während der Messungen konstant gehalten werden, um konstante Versuchsbedingungen zu garantieren. Die Adäquatheit der Theorie liegt dann bzgl. einer bestimmten Tabellenzeile vor, wenn die Prognose ul auf dul zutrifft, d. h. ul = dul. Die Theorie ist eine adäquate Beschreibung der Daten, wenn die Zeilenadäquatheit für alle Zeilen gilt. 2.5. Ein qualitatives Beispiel Thema: Geeignete Regeln zur syntaktischen und semantischen Analyse von deutschen Sätzen sind aufzustellen. (Die semantische Analyse wird hier weggelassen). Gegeben sei: „HANS SCHLÄFT". Aussage: die von Sprechern des Deutschen akzeptierte Wortfolge HANS SCHLÄFT (D-SATZ) soll (zusammen mit einer Menge anderer ähnlicher Wortfolgen) syntaktisch nach einem Regelsystem als wohlgeformter T-SATZ festgestellt werden 2.5.1 Die Datensprache D-BS(dt) D-BS(dt) dient zur Erhebung und ordnungsgemäßen Protokollierung der Akzeptabilität deutscher Sätze. Sie sei folgendermaßen aufgebaut: D-BS(dt) besteht aus zwei Komponenten: D-BS(dt) = , mit D-SYX - und D-SEM = .

2.5.1.1 D-SYX besteht aus: D-CAT: = D-REP zu DTERM: = Eigennamen wie „Hans" (Variablenname: dt) D-REP zu DVERB: = intransitive Verben wie „schlafen" (Variablennamen: dv,ds). D-REP zu DAKZ: = Ausdrücke, die von Sprechern des Deutschen als akzeptable „Sätze" bezeichnet werden (Diese Kategorie darf nicht mit der nachfolgend erwähnten Kategorie für den vollständigen Datensatz D-SATZ verwechselt werden). (Die Bezeichnungen dieser Kategorien wie „Eigennamen", „intransitives Verb", „akzeptabler deutscher Satz" sind vortheoretische (traditionelle) Klassifikationsnamen, an die die nachfolgende Syntaxtheorie im Prinzip nicht gebunden ist.) D-REP zu DX: die Kategorie DX stehe stellvertretend für eine Folge von weiteren Kategorien, in denen Angaben über Korpus, Befragungsweise, Befragte, Urteilsskalen etc. angegeben werden können.

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D-REP zu D-SATZ: Ein Ausdruck dieser Kategorie wird verstanden als ein vollständig und explizit formulierter Datensatz (sozusagen eine „Tabellenzeile" im Protokollbuch). D-REG enthält u. a. Regel zum Protokollieren von akzeptierten deutschen Sätzen als „Tabellenzeile" tz«DTERM,DVERB,DAKZ,DX>, D-SATZ), in der alle vortheoretisch feststellbaren Parameter zu einem Beispielsatz als ein vollständiger Datensatz (zu D-SATZ) enthalten sein sollen. D-WOF gibt für die verschiedenen nach den Regeln in REG bildbaren Strukturen (z. B. für die Zusammenfassung bestimmter Komponenten der Tabellenzeile) das Wohlgeformtheitsprädikat an. D-SATZ: diese Kategorie und die Wohlgeformtheitsbedingung dazu (die sich aus einer Regel in D-REG ergibt) legt für das gesamte Erhebungsprogramm fest, was unter einem vollständigen einzelnen Datensatz (Protokolleintrag, Tabellenzeile) zu verstehen ist.

2.5.1.2 D-SEM besteht aus . Dabei gilt: D-ONT ist hier eine natürlichsprachliche Erläuterung der Rolle der einzelnen Kategorien und Regeln. Der formale Aufbau findet hier mit seiner nicht-formalen Interpretation in einer natürlichen Sprache seinen Abschluß. D-IPR gibt die Zuordnung dieser Erläuterungen und Vorschriften zu den Parametern an.

2.5.1.3 Die Anwendung der Datensprache auf die Datenvorgabe DV(B) Bei der Anwendung dieser Datensprache zur Aufnahme einer Datenvorgabe (2.2.1) DV(B) = gilt: in einer Erhebungssituation SIT werden aus Texten und Befragungen dazu (bzw. aus einer Korpusanalyse etc.) zu den Kategorien DTERM, DVERB, DAKZ, DX Ausdrücke dt,dv,ds,dx (für die entsprechenden Repertoiremengen in D-SYX) ermittelt und in DAT(dt) zusammengestellt. Eine behauptete „Beispielzeile" bz sei dann: DAT: bz«dtl,dvl,dal,dxl>,dsl). Eine solche Beispielzeile sei wohlgeformt nach der Regel bz«DTERM,DVERB,DAKZ,DX>, D-SATZ) aus DAT(dt). Dies ist noch keine theoretische Beschreibung, sondern betrifft nur die regelgerechte Formulierung der Textbeispielsätze als Kette von Ausdrücken. Eine syntaktische Analyse nach dem Regelapparat einer Grammatiktheorie ist damit noch nicht vorweggenommen.

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2.5.2 Die Theoriesprache T-BS(dt) Thema: In T-BS(dt) sind Regeln zur syntaktischen Analyse von akzeptierten deutschen Sätzen zu formulieren. Theorie-Aussage: die Wortfolge HANS SCHLÄFT läßt sich aus einer Syntax-Theorie TH, die in T-BS(dt) formuliert wird, als Ausdruck der syntaktischen Kategorie DTSZ (Deutscher Satzausdruck im Sinne der Theorie) „prognostizieren". Die Theorie-Sprache sei T-BS(dt) = mit T-SYX = , T-SATZ) (wobei die Ausdrücke folgendermaßen in Beziehung stehen: ein TERM t wird mit einem VERB v zu einem DTSZ-Ausdruck s (einem „deutschen Satz" in TH) verknüpft, indem t mit v' verknüpft wird (wobei v' eine Modifikation (z. B. 3.pers.sg.) von v ist, die hier nicht näher erläutert werden soll). Und diese Regel aus T-REG' soll eine Behauptung in der Theorie TH(W) darstellen, also zur Kategorie T-SATZ gehören. (Dies ist nur ein einfaches Beispiel. Komplexere Beschreibungen sind in Montague (1974 b, S. 253) für das Englische zu finden. Auf die semantische Komponente wird hier verzichtet. Für den Zweck des Beispiels sollte dies aber ausreichen). T-WOF gibt für die nach den Regeln aus T-REG' bildbaren Strukturen (von prognostizierbaren Satzteilen bzw. Sätzen des Deutschen) das Wohlgeformtheitsprädikat an. T-SATZ ist die Kategorie, in der die Gesetze bzw. Regeln einer Theorie formuliert werden. 2.5.2.2 T-SEM besteht aus: T-ONT: der ontische Bereich (Interpretationsbereich), über dem die Theoriekategorien formal zu interpretieren sind, ist die Datenspra-

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ehe D-BS(dt). Da T-ONT selbst wiederum als eine formale Beschreibungssprache zu verstehen ist, läßt sich die Datensprache D-BS(dt) in T-ONT einbetten. T-ONT (d. h., D-BS(dt) ist dann aber nur noch nicht-formal interpretierbar (s. o.)). T-IPR ordnet zu T-CAT und T-REP die entsprechenden Einheiten aus D-BS(dt) zu. Für T-REG' gilt: die sz-Regel (als Theoriebehauptung in TH(W) eines Ausdrucks zu T-SATZ) läßt sich selbst nicht als D-SATZ über D-BS(dt) interpretieren. Nur die Ausdrücke der Kategorien (T-REP bzw. D-REP) lassen sich eventuell miteinander in Beziehung setzen. (Hier liegt der Grund, warum sich eine Grammatik (als Theorie) in der Praxis bewährt haben kann, aber die Interpretation der Grammatikregeln als „Regeln", die ein Sprachbenutzer des Deutschen „im Kopf hat", unzulässig ist. Da nur Ausdrucksfolgen als Theorieanwendung mit Beispielsätzen verglichen werden können, ist selbst bei genauer Übereinstimmung beider die Theorie nicht auf die Personen im Phänomenbereich, die die Sprache sprechen, übertragbar, da über ihre „Mechanismen" keine Daten erhoben worden sind.)

2.5.2.3 Die Anwendung der Theoriesprache auf die Theoriedarstellung TH(W) Bei der Anwendung der Theoriesprache zur Aufnahme einer Theorieangabe TH(W): = gilt: GSZ(dt) besteht hier in der Angabe einer Syntaxregel GSZ(dt):sz«TERM,VERB>,DTSZ). Zu den Kategorien TERM,VERB,DTSZ läßt sich dann eine (wohlgeformte) „Anwendungszeile" GSZ(dt):sz«t,v>,s) zu der Regel sz formulieren: bei Vorgabe der Einzelausdrücke für ergibt sich aus GSZ(dt) (d. h. der Regel sz) der komplexe Ausdruck si zur Kategorie DTSZ. 2.5.3 Vergleich zwischen der Theorie TH(VV) und den Daten DV(B) Der Vergleich einer Beispielzeile D-SATZ:bz von DV(B) mit einer Anwendungszeile GSZ(dt):az von TH(W) erfolgt dann nach dem Schema: T-IPR wird auf vergleichbare Werte-Tupel angewandt: T-IPR(sz«TERM,VERB>,DTSZ»,bz«DTERM,DVERB,DAKZ, DX>, D-SATZ)). Der Vergleich für ein Einzelbeispiel lautet dann: T-IPR(sz«t,v>,s»,bz«dt,dv,da,dx>,ds).

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Dabei muss t = dt und v = dv vorausgesetzt werden, der Wert dx soll während der Erhebung konstant gehalten werden, um konstante Bedingungen zu garantieren. Die Adäquatheit der Theorie liegt dann bzgl. einer bestimmten Beispielzeile vor, wenn die Prognose s auf da zutrifft: s = da. D. h., der nach der Theorie wohlgeformte Satzausdruck entspricht dem von Sprechern akzeptierten deutschen Satz. Die Theorie ist eine adäquate Beschreibung der Daten, wenn die Zeilenadäquatheit für alle Zeilen gilt.

2.6 Zur Rolle der Sprache bei der Kommunikation über den wissenschaftlichen Forschungsprozess und dessen Ergebnisse (Kommunikationssprache) Die Kommunikationssprache (KÖMS) soll im Gegensatz zur Beschreibungssprache BS als adressatenorientierte Sprache verstanden werden, die zur fachspezifischen Kommunikation mit Mitarbeitern während der Untersuchung dient oder zur Mitteilung der Ergebnisse nach der Untersuchung an mehr oder weniger spezialisierte Fachwissenschaftler. KÖMS hat außerdem die Aufgabe, die nicht-formale Interpretation der Theoriesprache und der Datensprache aufzunehmen. Dadurch, daß KÖMS als eine bilaterale Sprache verstanden wird, in der die sprachlichen Zeichen ihre Bedeutung schon „mitbringen", also nicht erst formal interpretiert werden müssen, findet der formale Interpretationsprozeß seinen Abschluß in den Vorstellungen der Alltagswelt. Während die Mitteilungssprache zur Information der interessierten Fachleute oder Laien dient, ist die Mitarbeitersprache meist eine hochspezialisierte Jargonsprache, die die genaue Kenntnis und den Umgang mit den Meßgeräten (bzw. Begrifflichkeiten) etc. voraussetzt. Sie dient hauptsächlich zur effizienten Abstimmung von Arbeitsvorgängen oder zur Diskussion von Detailproblemen. Die Kommunikationssprache KÖMS ist als bilaterale Sprache zu denken. Dieser Sprachtyp soll hier nur der Vollständigkeit halber kurz erwähnt werden, wird aber im Rahmen dieser Fragestellung nicht weiter diskutiert. KÖMS läßt sich aber ausgehend von dem (monolateralen) Konzept der Beschreibungssprache BS formal anbinden, wenn man die semantische Komponente SEM (in BS) verdoppelt: es gibt eine zeicheninterne Semantikkomponente, in der die Ausdrucksseite A des Zeichens Z = ,KOMS-IPR>. Hinzu kommt ein externer Informationsstand INF, auf den das bilaterale Zeichen durch eine Referenzrelation REF verweist: der Sachbezug (SBZ) zu Z: SBZ(Z): = : = : = := Hier soll mit V eine „Vielheit" (als vortheoretischer Ausdruck für Menge, Klasse, Kollektiv, etc.) gemeint sein. Die Wahl dieses theoretisch nicht festgelegten Ausdruck soll die Möglichkeiten, einen solchen Übergang zu erkennen, offen halten. TYP 7: „aus vielem wird eines" := Dies ist die Umkehr zu Typ 6. Hier wird eine Vielheit auf eine Einheit abgebildet. TYP 8: „aus etwas wird etwas (entsprechendes?)" : = Bei allen bisherigen Typen war eine Diskrepanz vorgegeben. Aber alle diese Typen können auch in „unproblematischen Fällen" auftreten, d. h. in Fällen, in denen das Verhältnis zwischen den Einheiten (noch) nicht problematisiert worden ist, weil noch kein Widerspruch sichtbar geworden ist. Dies gilt insbesondere hier, wenn eine Dateneinheit einer Theorieeinheit entspricht !)· Eventuell handelt es sich um eine trügerische Übereinstimmung, an der man unhinterfragt festhält, während man den Fehler an einer ändern Stelle vermutet. Erst wenn sich Diskrepanzen ergeben, wird man bereit sein, auch diesen Typ (im Sinne von Typ 5) zu hinterfragen. Ein typisches Beispiel dafür sind Auseinandersetzungen in der Sache im Glauben, dieselbe Begrifflichkeit zu verwenden. Erst spät (oder nie?) ergeben sich durch eine metakommunikative Klärung die Unterschiede in der Sprachverwendung. Resultat dieses Schrittes ist die Klassifikation der vorgegegebenen Diskrepanz nach einem oder mehreren Problemtypen. Mehrere Problemtypen lassen sich dann zuordnen, wenn es verschiedene Aspekte gibt, in denen verschiedenartige Diskrepanzen auftreten können. Es ist aber auch denkbar, das man beim denkerischen Spiel verschiedene Gesichtspunkte zuordnet und dadurch zu unterschiedlichen Anzahlen von vergleichbaren Einheiten gelangt. Schritt M3.3 Zuordnung von Lösungsstrategien zu den Problemtypen Bei den folgenden Lösungsstrategien werden zu TE bzw. DE Einheiten hinzugefügt oder weggenommen. Dies ist aber nur eine anschauliche Formulierung für eventuell sehr tiefgreifende Prozesse: diese heuristische Strategie ist nur der Anfang eines danach erforderlichen Wechsels zu einer anderen Theoriesprache (und damit verbunden einer anderen Wirklichkeitssicht, die wiederum zu neuen Datenerhebungen führt), in der alle Einheiten des Begriffsnetzes neu aufeinander bezogen werden müssen (vgl. dazu Feyerabend 1976, 372 ff.). LS-TYP 1: Lösungsstrategien zu TYP l (aus l wird 2) = < ,2> Lösungsstrategie: erreicht werden soll einer der beiden möglichen Sollzustände oder . = Lösungsstrategie: erreicht werden soll einer der beiden möglichen Sollzustände oder . : In den Daten wird eine der beiden Möglichkeiten anders klassifizieren oder: LS2: In der Theoriesprache wird ein zweiter Parameter eingeführt. Lösung: LSl(l,iy.· Die prädikatenlogische Lösung: „Alle F" wird in „für alle x: F(x) -» ..." übersetzt und als Ext(F) interpretiert. „F" allein kommt in der Prädikatenlogik 1. Stufe nicht vor. LS2