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German Pages [513] Year 2019
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EICHSTÄTTER philosophische Studien
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Michael Rasche
Sprache und Methode
Geschichte und Neubeschreibung einer rhetorischen Philosophie
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495817773
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VERLAG KARL ALBER
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https://doi.org/10.5771/9783495817773 .
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EICHSTÄTTER philosophische Studien
4
Herausgegeben von Walter Schweidler
https://doi.org/10.5771/9783495817773 .
Michael Rasche
Sprache und Methode Geschichte und Neubeschreibung einer rhetorischen Philosophie
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495817773 .
Michael Rasche Language and Method History and new description of a rhetoric philosophy »Rhetoric is not a philosophic method, is it?» »I don’t know. Maybe it is in fact the only one!» Gadamer’s answer has one of the fundamental questions of philosophy at its heart, namely in what relation philosophical truth and linguisticality stand to one another. The question has a long and tension-filled history that is portrayed as a philosophical struggle between rhetoric and philosophy in this book. Next to the traditional philosophical discourse the work describes a certain rhetorical humanistic interpretation of language that has become potent at different points in the history of the mind, for example in the Sophists, Vico, Humboldt and Nietzsche. Based on this history Rasche develops a rhetoric philosophy that interprets philosophy in regard to its linguisticality and rhetoricity and that sees humans as linguistic beings at its centre. Gadamer’s hermeneutics plays a vital role in this. Just as Gadamer wanted to describe hermeneutics as a path to philosophical truth in »Truth and Method«, in his work »Language and Method« Rasche attempts to establish what role language has in philosophical truth and thereby becomes the method of philosophy, as rhetoric.
The Author: Michael Rasche, born 1974, studied theology and philosophy in Bochum and Rome. PhD in theology in 2004 and PhD in philosophy in 2010. Substitute Professor at the Chair for fundamental philosophical questions of Theology at KU Eichstätt from 2015–2016, lecturer in Eichstätt since 2016.
https://doi.org/10.5771/9783495817773 .
Michael Rasche Sprache und Methode Geschichte und Neubeschreibung einer rhetorischen Philosophie »Aber die Rhetorik ist doch keine philosophische Methode, oder?« »Das weiß ich nicht. Vielleicht ist sie tatsächlich die einzige!« Diese Antwort Gadamers rührt an eine der Grundfragen der Philosophie, nämlich wie sich die philosophische Wahrheit zur Sprachlichkeit verhält. Die Frage hat eine lange und spannungsreiche Geschichte, die in der vorliegenden Untersuchung dargestellt wird als gemeinsames philosophisches Ringen von Rhetorik und Philosophie. Neben dem traditionellen philosophischen Diskurs wird eine bestimmte rhetorisch-humanistische Sprachinterpretation beschrieben, die an verschiedenen Punkten der Geistesgeschichte etwa durch die Sophisten, Vico, Humboldt oder Nietzsche wirkmächtig geworden ist. Aus dieser Geschichte heraus entwirft Rasche eine rhetorische Philosophie, die die Philosophie auf ihre Sprachlichkeit und Rhetorizität hin auslegt und den Menschen als sprachliches Wesen in den Mittelpunkt stellt. Hierbei spielt die Hermeneutik Gadamers eine zentrale Rolle. So wie Gadamer in »Wahrheit und Methode« die Hermeneutik als Methode des Weges zur philosophischen Wahrheit beschreiben wollte, versucht Rasche in seinem Werk »Sprache und Methode« herauszuarbeiten, welche Rolle die Sprache innerhalb der philosophischen Wahrheit spielt und damit als Rhetorik zur Methode der Philosophie werden kann.
Der Autor: Michael Rasche, geb. 1974, Studium der Theologie und Philosophie in Bochum und Rom. 2004 Promotion zum Dr. theol., 2010 Promotion zum Dr. phil. 2015–2016 Vertretungsprofessur am Lehrstuhl für philosophische Grundfragen der Theologie an der KU Eichstätt, seit 2016 Privatdozent in Eichstätt.
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2018 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48937-6 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81777-3
https://doi.org/10.5771/9783495817773 .
Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Diskussion um die Rhetorik . . . . . . . . . . . . . 1.1 Die hermeneutische Renaissance der Rhetorik . . . . . Heidegger: existentialontologische Deutung der Rhetorik Gadamer: Ubiquität und Universalität der Rhetorik . . 1.2 Die sprachanalytische Kritik . . . . . . . . . . . . . . Die Wurzeln der Sprachanalytik . . . . . . . . . . . . Die sprachpragmatische Kritik an der Hermeneutik . . 1.3 Problemfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Frage von Offenheit und Geschlossenheit . . . . . Epistemologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Persuasivität und Performativität . . . . . . . . . . . 2. Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die Krisis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die reine Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kritik der objektiven Wissenschaften . . . . . . . . . . 2.2 Die Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gegebenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Relativität und Historizität . . . . . . . . . . . . . . . Fundament der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Intersubjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Zeichenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Universale Geisteswissenschaft . . . . . . . . . . . . Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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25 25 25 34 42 42 48 54 54 58 62 66 67 68 70 77 77 80 84 90 92 96 96 99
7 https://doi.org/10.5771/9783495817773 .
Inhalt
3. 3.1 3.2 3.3
Humanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist Humanismus? . . . . . . . . . . . . Die humanistisch-hermeneutische Perspektive Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . 4. Rhetorik und Philosophie? . . . . . . . . . . . .
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Rhetorik und Philosophie in der Antike . . . . . . . 5. Die Entstehung eines Humanismus . . . . . . . 5.1 Mythos: Einheit von Aletheia und Doxa . . . . 5.2 Die Trennung von Aletheia und Doxa . . . . . 5.3 Die Sophistik als Frühform des Humanismus . . 6. Metaphysische Philosophie als nichthumanistische Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Ursprünge in der Vorsokratik . . . . . . . . . . 6.2 Philosophie vs. Rhetorik . . . . . . . . . . . . Platon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die humanistische Kritik des Isokrates . . . . . Trennung von Philosophie und Rhetorik . . . . 6.3 Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wissenschaftlichkeit und Sprache . . . . . . . Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Hellenismus: Krise der Metaphysik – Rhetorizität der Philosophie . . . . . . . . . . . 7.1 Die materialistische Metaphysikkritik . . . . . 7.2 Humanitas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Rhetorische Philosophie . . . . . . . . . . . . 7.4 Durchdringung der Sprache . . . . . . . . . . Grammatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Tropen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entstehung der Exegese . . . . . . . . . . 7.5 Topik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Ursprünge der Topik . . . . . . . . . . . . Die aristotelische Topik . . . . . . . . . . . . . Die stoische Topik . . . . . . . . . . . . . . . 7.6 Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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201 201 205 207 211 211 213 216 222 222 225 230 234
8 https://doi.org/10.5771/9783495817773 .
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127 127 136 147
Inhalt
Die topische Erstarrung der Rhetorik im Christentum 8. Patristik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Die antike Bildung und das Christentum . . . . . 8.2 Theologie als Auslegung . . . . . . . . . . . . . 8.3 Die theologische »Wende« der Rhetorik . . . . . 9. Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1 Die Rhetorik in den Artes liberales . . . . . . . . 9.2 Die Topisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3 Der Universalienstreit . . . . . . . . . . . . . .
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Wiederbelebung und Tod der Rhetorik . . . . . . . . . . 10. Humanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Philologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Rhetorische Renaissance . . . . . . . . . . . . . . 10.3 Topische Reformation . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Der neue Wissenschaftsbegriff und seine humanistische Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1 Die »Neue Wissenschaft« . . . . . . . . . . . . . . 11.2 Vico und der Humanismus . . . . . . . . . . . . . Humanismus und Wissenschaft . . . . . . . . . . . Tropische Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der topischen Rhetorik zur rhetorischen Topik . 12. Die Aufklärung und das Ende der Rhetorik . . . . . . 12.1 Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Logik und Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Genie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2 Die Auflösung der Rhetorik . . . . . . . . . . . . .
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278 278 282 282 286 288
Die Wiedergeburt des Rhetorischen . . . . 13. Die Neubesinnung auf die Sprachlichkeit 13.1 Der Neuhumanismus . . . . . . . . . 13.2 Der Beginn der Hermeneutik . . . . .
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239 239 241 247 254 254 257 259
263 264 265 272
292 292 292 297 299 306
311 312 335
9 https://doi.org/10.5771/9783495817773 .
Inhalt
14. Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.1 Sprache ist Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.2 Alles ist Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . .
346 346 355
Grundlagen einer rhetorischen Philosophie . . . . 15. Die Geschichte von Rhetorik und Philosophie 15.1 Die Mechanismen von Separation und Zusammenführung . . . . . . . . . . . . . 15.2 Die Frage des Humanismus . . . . . . . . . 16. Der Humanismus . . . . . . . . . . . . . . 16.1 Humanismus – Naturalismus . . . . . . . . 16.2 Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . Verstehen als Geschehen . . . . . . . . . . Reflexivität . . . . . . . . . . . . . . . . . 17. Die Metaphorik . . . . . . . . . . . . . . . 17.1 Die metaphorische Bewegung . . . . . . . . 17.2 Logik und Analogik . . . . . . . . . . . . . 17.3 Metaphorologie . . . . . . . . . . . . . . . 17.4 Logik der Phantasie . . . . . . . . . . . . . 17.5 Das Mythische . . . . . . . . . . . . . . . 18. Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.1 Langue – Parole . . . . . . . . . . . . . . . 18.2 Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.3 Textualität . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.4 Funktionalität . . . . . . . . . . . . . . . . 19. Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . 361 . . . . . . 363 . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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363 370
Inhalt einer rhetorischen Philosophie . . . . 20. Philosophie und Literatur . . . . . . . 21. Rhetorische Anthropologie . . . . . . 21.1 Animal symbolicum . . . . . . . . . 21.2 Das Unbewusste . . . . . . . . . . . 21.3 Fundamentalrhetorische Anthropologie 22. Topik . . . . . . . . . . . . . . . . .
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375 375 385 385 388 392 392 398 401 404 407 410 410 414 417 422 426
432 441 442 450 457 462
Inhalt
23.
Die Rhetorizität der Philosophie . . . . . . . . . . . . .
469
Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505
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Einleitung
Walter Jens, der große Rhetoriklehrer des Nachkriegsdeutschlands, hat die Rhetorik als »alte und neue Königin der Wissenschaften« bezeichnet. 1 Mit dieser Aussage verbindet sich der riesige Anspruch der Rhetorik, dass jede Wissenschaft aufgrund ihrer Sprachlichkeit und der Notwendigkeit der sprachlichen Mitteilung von ihr abhängig ist. Dieser Anspruch war jedoch niemals unumstritten, erst recht nicht in der Philosophie. Seit ihrem gemeinsamen historischen Beginn im antiken Griechenland stehen Rhetorik und Philosophie in einem Spannungsverhältnis zueinander, ohne allerdings voneinander lassen zu können. Spätestens mit der vernichtenden Kritik Platons an den sophistischen Rhetorikern gilt die Rhetorik der nach der Wahrheit strebenden Philosophie als Verzerrung des eigenen philosophischen Anspruchs und als Missbrauch der der Sprache innewohnenden Möglichkeiten. Auf der anderen Seite hat sich die Rhetorik im Laufe der Geschichte immer wieder als sehr wirkmächtig erwiesen und – gewollt oder ungewollt – auf den philosophischen Diskurs eingewirkt und diesen wesentlich mitgeprägt. Auf diese Weise ist die Geschichte von Rhetorik und Philosophie eine Geschichte sich wiederholender Abgrenzungen und Verurteilungen, aber auch von Annäherungen, Inspirationen und Überlagerungen. Gerade in ihren antiken Ursprüngen, aber auch im Verlauf ihrer langen Geschichte hat sich die Rhetorik nicht nur als Beschreibung der Redekunst erwiesen, sondern auch darauf geschaut, wie Sprache funktioniert, wie Sprache entsteht, welche Wirkungen sie erzeugt und was eigentlich Argumente sind. Die Rhetorik war in weiten Teilen ihrer Geschichte nicht nur ein sprachliches Bildungsprogramm, sondern Erforschung der Sprache selbst. Mit dem sog. »linguistic turn«, der Neuausrichtung der Philosophie auf die Sprache hin, stellte sich noch einmal in verschärfter Form die Frage, wie sich die Philosophie zur Rhetorik ver1
Jens, Von deutscher Rede, S. 16.
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Einleitung
hält bzw. welche Rolle die Rhetorik in der Philosophie spielen kann und soll. Die philosophische Beurteilung der Rhetorik ist bis heute ausgesprochen heterogen und reicht von einem Sprechen von einer »rhetorischen Wende« 2 oder gar einer »Suspendierung der Logik« 3 durch die Rhetorik auf der einen Seite hin zu einer Ablehnung einer philosophischen Relevanz der Rhetorik auf der anderen Seite: »Die Rhetorik ist nicht Anwalt irgendeines Wahrheitsanspruchs, sondern ihres jeweiligen Klienten.« 4 Kein Geringerer als Kant hat die Rhetorik abgetan als ein »Spiel mit Ideen, um den Zuschauer zu unterhalten«. 5 Zwischen diesen beiden Polen euphorischer Vereinnahmung und kompromissloser Ablehnung spielt sich die Geschichte von Rhetorik und Philosophie ab. Aus dieser wechselvollen Geschichte heraus und vor dem Hintergrund der aktuellen Bedeutung der Sprache für die Philosophie stellen sich verschiedene Fragen, deren jeweilige Beantwortung die Triebkraft der Geschichte von Rhetorik und Philosophie war und ist: Ist die Rhetorik ein philosophisches Geschehen? Inwiefern ist eine auf der Sprache basierende Philosophie gezwungen, die Rhetorik zu beachten? Was bedeutet eigentlich die Sprachlichkeit der Philosophie für die Philosophie selbst und ihr Selbstverständnis? Die Frage der philosophischen Beurteilung der Rhetorik ist letztlich die Frage nach der philosophischen Deutung der Sprache. Die Geschichte von Rhetorik und Philosophie ist die Geschichte sich verändernder, ablösender, aber auch weiterführender philosophischer Sprach- und damit Menschenverständnisse. Die Rolle der Rhetorik wird heute zumeist reduziert auf die einer Hilfe zur Erstellung einer Rede. Gerade für die Situation in Deutschland kommt erschwerend hinzu, dass der rhetorischen Fähigkeit, gut reden zu können, eine große Skepsis entgegengebracht wird, und – wohl auch bedingt durch die rhetorische Praxis des Nationalsozialismus – die Rhetorik als Lehre angesehen wird, mit unlauteren Mitteln zu arbeiten und zu manipulieren. Diese Einschränkungen werden jedoch der Rolle der Rhetorik nicht gerecht, die sie in der Vergangenheit besessen hat, in besonders herausragender Weise in der Antike. Wenn in der historisch ersten staatlich geförderten Hochschule im ägyptischen Alexandrien 20 von 22 Lehrstühle der Rhetorik ge2 3 4 5
Gabriel, Logik und Rhetorik der Erkenntnis, S. 4. De Man, Allegorien des Lesens, S. 40. Stroh, Die Macht der Rede, S. 46. Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, B 205.
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Einleitung
widmet waren, dann zeigt dies offensichtlich: die Rhetorik war alles. Was es an geistigem, kulturellem Leben gab, was für das gesellschaftliche Leben als irgendwie relevant erkannt wurde: es war rhetorisch. Diese Dominanz hat die Rhetorik im Laufe der Zeit eingebüßt; sie hat in den verschiedenen Phasen der Geschichte immer wieder andere Rollen eingenommen und diese Veränderungen sind nicht zu verstehen ohne ihr Verhältnis zur Philosophie. Diese Geschichte der Rhetorik ist nicht nur interessant für den Rhetorik-Historiker im engeren Sinne, sie ist auch interessant für den Philosophen, der die Geschichte seiner eigenen Disziplin nicht verstehen kann, ohne diese gigantische Wirkmacht der Rhetorik zu berücksichtigen, die für den modernen Menschen nur ansatzweise nachvollziehbar ist. Die Rhetorik hat nicht nur als Hilfsmittel der Verschönerung der Texte auf die Philosophie eingewirkt, sie hat auch ihr Innerstes getroffen, indem sie in all ihren Unterdisziplinen und Ausfächerungen ein bestimmtes Menschenbild verkörperte, nämlich das des Menschen als Wesen, dessen Sprache nicht nur Beiwerk ist, sondern sein Wesensmerkmal, und dessen sprachliche Bildung Bildung des Menschen selbst ist. Auf diese Weise ist die Geschichte von Rhetorik und Philosophie nicht die Geschichte zweier getrennter Disziplinen, sondern die Geschichte zweier Antworten auf die eine gemeinsame Frage, was der Mensch eigentlich sei. Diese Frage ist philosophisch und deshalb lässt sich diese Geschichte aus philosophischer Perspektive darstellen als die Geschichte zweier philosophischer Deutungen des Menschen. Hans-Georg Gadamer hat sich in seiner hermeneutischen Philosophie für eine Beachtung der Rhetorik eingesetzt. Dies tat er nicht nur vor dem systematischen Hintergrund einer Verbindung von rhetorischer Sprachkonstruktion und hermeneutischer Sprachdestruktion, sondern in erster Linie mit dem Hinweis der Einordnung der Rhetorik in den Humanismus. Gadamer begreift seine Philosophie im Unterschied zur sprachanalytischen Philosophie als weiterzuentwickelnde Arbeit an den bisherigen Traditionen und Weltdeutungen. Die Hermeneutik ist nicht Analyse der Sprache im engeren Sinne, sondern Arbeit an der faktischen Selbstauslegung des Menschen, die sprachlich vermittelt ist, und zur Geschichte dieser Selbstauslegung gehört laut Gadamer die Rhetorik als Teil der humanistischen Tradition. Das Verständnis dessen, was eigentlich Humanismus sein soll, ist sehr umstritten. Verschiedene Epochen und verschiedene Ideologien haben sich diesen Begriff zu eigen gemacht und damit eine allgemeingültige Definition dieses Begriffs unmöglich gemacht. Den15 https://doi.org/10.5771/9783495817773 .
Einleitung
noch gibt es bestimmte Kennzeichen des Humanismus, die Gadamer in der Geistesgeschichte erkannt hat, und die es möglich machen sollen, die Geschichte von Rhetorik und Philosophie als die Geschichte eines philosophisch relevanten Humanismus darzustellen. Der Humanismus lässt sich charakterisieren als konsequente Auslegung des Menschen auf seine Sprachlichkeit hin. Nicht eine dem Menschen transzendente metaphysische Größe, sondern seine Sprachlichkeit sind Maßstab seiner Weltdeutung. Diese Prämisse erlaubt die Darstellung von Autoren und Denkrichtungen als Teil des innerphilosophischen Diskurses, die diesem – oft anachronistisch und gegen deren Selbstverständnis – zumeist nicht zugerechnet wurden. Die Sophistik, aber auch Autoren wie Quintilian, Vico oder Wilhelm von Humboldt sollen als Teil einer bestimmten Menschen- und Weltdeutung dargestellt werden, die den Menschen in seiner Sprachlichkeit zur Grundlage des Denkens macht und die im Laufe der Geistesgeschichte immer wieder wahrnehmbar wird. Eine bestimmte Grundhaltung zum Menschen spricht sich immer wieder aus, und diese Grundhaltung ist als humanistisch zu kennzeichnen. Insofern Autoren, die diesem Humanismus zugerechnet werden, philosophisch relevante Aussagen über den Menschen und seine Sprachlichkeit machen, sind sie Teil des philosophischen Diskurses. Der Humanismus als eine bestimmte philosophische Richtung ist keine Fundamentalkritik an der Philosophie, sondern Kritik an einer bestimmten Art, Philosophie zu betreiben. Die Rhetorik als Beschreibung der sprachlichen Produktivität und Funktionalität war ein wesentlicher Ausdruck dieses humanistischen Menschen- und Weltbildes. Die Geschichte von Rhetorik und Philosophie ist somit zu beschreiben als eine innerphilosophische Auseinandersetzung zwischen einer humanistischen und einer nichthumanistischen Deutung von Sprache. Eine Darstellung dieser Geschichte macht die modernen Auseinandersetzungen zwischen Humanismus und Naturalismus, Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften, sog. »kontinentaler« und sprachanalytischer Philosophie begreifbar als die vielfältige Fortsetzung eines alten Konflikts um das Sprachbild, das in der Auseinandersetzung von Platon und den Sophisten seinen ersten Höhepunkt erlebte. Eine humanistische Deutung des Menschen und seiner Sprachlichkeit bzw. eine stärkere anthropologische Ausrichtung der Philosophie wird – so zeigt die Geschichte – in den Zeiten vorangetrieben, in denen eine bestimmte Philosophie ihre Wirkmacht verliert, die eben nicht über ein anthropozentrisches Selbstverständnis verfügt, son16 https://doi.org/10.5771/9783495817773 .
Einleitung
dern auf ein dem Menschen Externes oder Transzendentes hin betrieben wird. Die Zeiten des Niedergangs dieser Philosophie wurden zu Zeiten des Neuanfangs humanistischen Denkens. Die Art und Weise, wie Rhetorik im Laufe ihrer Geschichte ausgeübt wurde und welcher Rang ihr in der Bildung und in den Wissenschaften zugesprochen wurde, ist ein verlässlicher Indikator dieses die Philosophiegeschichte begleitenden Konfliktes um die humanistische Frage nach dem Menschen. Die Geschichte von Rhetorik und Philosophie ist die gemeinsame Geschichte von Humanismus und klassischer Philosophie als Geschichte der philosophischen Frage nach der Sprachlichkeit des Menschen und damit nach dem Menschen selbst. Diese Geschichte offenbart zugleich die Mechanismen und Fragestellungen, nach denen sich Rhetorik und Philosophie zueinander verhalten haben und macht ihre Annäherungen und Abstossungen erklärbar. Aus dieser Geschichte von Rhetorik und Philosophie und aus der Darstellung der diese Geschichte bestimmenden Kräfte ergibt sich die systematische Frage einer Rhetorizität der Philosophie bzw. der Notwendigkeit der Philosophie, die Rhetorik in ihren Diskurs zu integrieren. Diese Beurteilung ist abhängig von der Einschätzung, was Sprache letztlich ist und welche Rolle die Sprache in der Philosophie spielen soll. Die Hermeneutik erkennt in der Sprache nicht nur ein Kommunikationsgeschehen und deutet die Sprache auf ihre bloße Funktionalität hin, sondern sieht in der Sprache den den Menschen als Menschen konstituierenden Akt. Der Mensch ist Mensch im Sinne des aristotelischen ζῷον λόγον ἔχον. Heidegger hat diese Sprachlichkeit des Menschen existentialontologisch ausgelegt. Gadamer hat diesen Weg weiterverfolgt und in seiner Hermeneutik die Sprachlichkeit der menschlichen Existenz zum Grundprinzip des Verstehens und des Denkens gemacht. Indem die Sprache sowohl Selbstkonstitution als auch Ausdruck der menschlichen Existenz ist, ist ihre Auslegung nicht nur Analyse der bloßen Funktionalität der Sprache, sondern der menschlichen Existenz selbst. Die hermeneutische Philosophie Gadamers und ihre Deutung der Sprache auf die menschliche Existenz hin knüpft explizit an die Tradition des Humanismus an und macht in diesem Rahmen die Rhetorik zu einem notwendigen Bestandteil der Philosophie. Daneben soll der Phänomenologie Husserls eine wichtige systematische Funktion zukommen, ist sie es doch, welche in der Analyse der Intersubjektivität und der Lebenswelt eine bestimmte Möglichkeit einer Integrierung der Sprachlichkeit in den 17 https://doi.org/10.5771/9783495817773 .
Einleitung
philosophischen Diskurs gewiesen hat, die dann von Heidegger und Gadamer, aber auch von Derrida und anderen beschritten wurden. Die Rhetorizität der Philosophie ist somit nicht nur der Tatsache geschuldet, dass jeder philosophische Text, ja jede philosophische Aussage rhetorisch ist, sondern vielmehr der Aussage, dass die menschliche Existenz wesentlich sprachlich verfasst ist und die Rhetorik als die Betrachtung der Kreation von Sprache Nachvollzug eines Handelns ist, das konstitutiv für den Menschen ist. Dieses Handeln hat Ernst Cassirer den Menschen als »animal symbolicum« beschreiben lassen, der letztlich als »animal rhetoricum« zu interpretieren ist insofern die Rhetorik die sprachliche Dimension der Kreation von Symbolen beschreibt. Entsprechend große Bedeutung hat die Metaphorik bzw. haben die verschiedenen tropischen Figuren der klassischen Rhetorik, die zu begreifen sind als sprachliche Vollzüge dieses Symbolhandelns. Die Metaphorik ist seit vielen Jahrzehnten in den Fokus der linguistischen und philosophischen Diskussion gerückt. Hat die klassische Philosophie seit Aristoteles in der Metaphorik eine sprachliche Verschiebung vom eigentlich zu Sagendem hin zu einem »uneigentlichen« Künstlerischen erkannt, so versuchen gerade Autoren der Postmoderne wie Derrida oder de Man in der Metaphorik den grundsätzlichen Charakter eines jeden sprachlichen Geschehens festzumachen – inhaltlich anknüpfend an Autoren, die der humanistischen Tradition zuzurechnen sind wie Vico, Hamann, Herder oder v. Humboldt. Indem sich eine rhetorische Philosophie zum metaphorischen Charakter der Sprache bekennt, führt sie die humanistische Tradition in die moderne Diskussion um die Metaphorik. Gerade im Aufgreifen verschiedener Autoren der Postmoderne – namentlich der Dekonstruktion – muss eine rhetorische Philosophie spätestens im Zusammenhang mit der Metaphorik ihr Verhältnis zur Metaphysik klären. Auch eine rhetorische Philosophie ist in ihrer Weiterführung eines humanistischen Welt- und Menschenbildes und in ihrer Kritik an einer metaphysischen Philosophie angewiesen auf die Metaphysik und auf die metaphysische Fähigkeit, Aussagen mit einer bestimmten Geltung treffen zu können. Diese Frage ist vor allem wichtig, um die von Paul de Man aufgeworfene Diskussion um eine Unterscheidung von Philosophie und Literatur führen zu können. Eine rhetorische Philosophie gründet sich in einer bestimmten Deutung von Sprache, welche in der Tradition des Humanismus steht. Während die Sprachanalytik die Sprache auf ihre Funktionalität hin 18 https://doi.org/10.5771/9783495817773 .
Einleitung
befragt, interpretiert der Humanismus die Sprache als den wesentlichen Konstitutionsakt des Menschen. Auf diese Weise ist eine humanistische Philosophie in der Lage, dasjenige zu integrieren, das über die Frage der Funktionalität der Sprache hinausgeht, die philosophische Tradition spricht hier vom »Geist«, die humanistische Tradition etwa von der Kunst, die Psychoanalyse vom Unbewussten. Die Hermeneutik, aber auch andere philosophische Richtungen greifen Grundpositionen des Humanismus auf und führen ihn auf diese Weise in die aktuelle philosophische Diskussion ein. Die rhetorische Philosophie, die in dieser Untersuchung entwickelt werden soll, versteht sich als Resultat des Konflikts zwischen dem Humanismus und der klassischen Philosophie, der als innerphilosophische Diskussion begriffen wird und historisch in besonderer Weise im Verständnis der Rhetorik manifest geworden ist. Hierzu soll der Weg von Rhetorik und Philosophie historisch als Weg beschrieben werden, der von bestimmten Fragestellungen und Mechanismen geprägt ist und der sich bis heute fortsetzt. Auf diese Weise sollen Autoren oder Meinungen, die aus der philosophischen Diskussion verbannt wurden, in diese reintegriert werden. Systematisch will eine rhetorische Philosophie damit auch eine Aussage über die Philosophie als solche treffen, die in der Frage der Differenzierung von Geistes- und Naturwissenschaften relevant ist. Indem eine sprachliche Aussage in ihrer (rhetorisch zu beschreibenden) Geltung, aber nicht auf ihre Funktionalität hin zu befragen ist, verweist die rhetorische Philosophie darauf, dass letztlich der Mensch selbst nicht auf seine Funktionalität hin zu deuten ist, sondern in seinem Wesen über diese hinausgeht und als solcher Anfang und Ziel der Philosophie sein muss. Die Einführung, die dem historischen Teil dieser Arbeit vorausgeht, versucht die systematische Grundlage für die philosophische Betrachtung der Geschichte der Rhetorik zu legen und auf diese Weise die Frage zu beantworten, inwiefern die Rhetorik überhaupt in die Philosophie integrierbar sein kann. Diese systematische Einführung beginnt mit einer Darstellung der Diskussion zwischen Gadamer und Habermas, die in den 1960er und -70er Jahren stattfand und die in mehrfacher Hinsicht exemplarisch ist. Zum einen, weil sie die erste weitreichende Diskussion um den Status der Rhetorik in der heutigen Philosophie darstellt und auf diese Weise am Anfang der aktuellen Diskussion steht. Zum anderen, weil in ihr exemplarisch die verschiedenen Sprachverständnisse von Hermeneutik und Sprachanalytik 19 https://doi.org/10.5771/9783495817773 .
Einleitung
bzw. Sprachpragmatik auftauchen, die sich auf die wesentlichen Diskussionslinien der gesamten Philosophiegeschichte zurückführen lassen. Anhand dieser Diskussion werden bestimmte Problemfelder benannt, die es bei der Darstellung der gemeinsamen Geschichte von Rhetorik und Philosophie zu berücksichtigen gilt. Die in dieser Diskussion auftauchenden unterschiedlichen Verständnisse von Philosophie lassen sich bereits im Werk Edmund Husserls und seiner Phänomenologie nachweisen, das auf diese Weise eine Schlüsselfunktion für die Frage einer rhetorischen Philosophie besitzt und auf diese Funktion hin dargestellt wird. Gerade die Themen der späten Jahre Husserls – Intersubjektivität und Lebenswelt – bieten die Basis, eine formallogische Philosophie in Richtung eines Sprachverständnisses zu öffnen, das die Geschichte und die Kulturalität zu integrieren vermag und auf diese Weise nicht nur für die Frage der Einbindung der Rhetorik in die Philosophie von Belang ist, sondern für die grundsätzliche Frage des Verhältnisses der Geisteszu den Naturwissenschaften. Ausgehend von dieser im Spätwerk Husserls präsenten Öffnung gegenüber der humanistischen Tradition und ausgehend vom Anspruch Gadamers, die hermeneutische Philosophie als Weiterentwicklung des Humanismus zu betreiben, wird der Einführungsteil dieser Untersuchung abgeschlossen mit der Frage, was der Humanismus eigentlich ist und inwiefern die Geschichte von Rhetorik und Philosophie aus der Perspektive einer hermeneutisch-humanistischen Philosophie aus geschrieben werden soll, die eine bestimmte Anthropologie verkörpert, die den Menschen in seiner Sprachlichkeit in den Mittelpunkt stellt. Aus dieser humanistisch-hermeneutischen Perspektive wird die Geschichte von Rhetorik und Philosophie dargestellt, beginnend mit Entstehung und Trennung dieser beiden Disziplinen, endend mit Nietzsche, der die von Platon vollzogene Trennung der Philosophie von der Rhetorik umkehrt und auf diese Weise einen geistesgeschichtlichen Kreis schließt, der 2500 Jahre umspannt. Rhetorik und Philosophie werden beide als Teil einer gemeinsamen philosophischen Fragestellung nach dem Bild des Menschen und seiner Sprachlichkeit dargestellt. Ein besonderes Augenmerk wird auf die Mechanismen gelegt, welche Abstoßung oder Annäherung dieser beiden Disziplinen bewirkten und die erklärbar sind durch die unterschiedlichen anthropologischen Grundlagen, die sich jeweils in ihnen aussprechen. Daneben spielen auch andere Faktoren in dieser Geschichte 20 https://doi.org/10.5771/9783495817773 .
Einleitung
eine wichtige Rolle: die topische Struktur der Rhetorik, die Metaphorik usw. Diese Faktoren bilden die Elemente des Rhetorischen, die über die Rhetorik philosophisch relevant geworden sind und zu denen sich eine rhetorische Philosophie verhalten muss. Aus dieser Geschichte von Rhetorik und Philosophie heraus wird im Schlussteil dieser Untersuchung eine rhetorische Philosophie entworfen. Diese Philosophie versteht sich als Zuspitzung des humanistischen Menschenbildes auf seine Sprachlichkeit hin, aus dem von Cassirer beschriebenen Menschen als animal symbolicum wird das animal rhetoricum. Hierzu werden zum einen die Bezüge erläutert, die sich aus der Geschichte von Rhetorik und Philosophie für eine rhetorische Philosophie ergeben, zum anderen werden noch einmal die sprachphilosophischen Grundlagen dargestellt, welche die notwendige Basis einer rhetorischen Philosophie bilden. Aus der Darstellung dieser diachronen und synchronen Bedingungen einer rhetorischen Philosophie soll ihr anthropologischer Inhalt entwickelt werden, der in der Beschreibung des Menschen als animal rhetoricum gipfelt. Dieses Menschenbild ist nicht ohne Konsequenzen für das Selbstverständnis und für die Perspektiven der Philosophie überhaupt, deren Darstellung den Schluß dieser Arbeit bildet. Eine rhetorische Philosophie – so soll es diese Untersuchung darstellen – führt historische Ansätze fort, die sich im Laufe der Geschichte sowohl innerhalb als auch unmittelbar neben der klassischen Philosophie entwickelt haben. Die rhetorische Philosophie ist aber nicht nur Fortsetzung eines historischen Phänomens, sondern auch der Anspruch, den Menschen und seine Sprachlichkeit nicht nur zu einem Teil, sondern zum Mittelpunkt der Philosophie zu machen. Die Philosophie ist der Versuch des Menschen, sich und seine Welt zu deuten, in einem bestimmten Sinnzusammenhang erklärbar zu machen. Diese Versuche sind sprachlicher Natur, sie sind Explikationen des sprachlichen Wesens des Menschen, der in der Philosophie in erster Linie sich selbst ausspricht, und dieses Sich-selbst-Aussprechen des Menschen in der Philosophie macht diese zu einer rhetorischen.
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Einführung
Im Jahre 2000 führte das Magazin Der Spiegel ein Interview mit Hans-Georg Gadamer. Nach einem kurzen Anreißen der für die Philosophie relevanten Themen fragte der Interviewer nach den dafür in der Philosophie benutzten Methoden: Spiegel: »Welche Methoden benutzt die Philosophie denn dann, um die genannten Fragen zu behandeln?« Gadamer: »Man will den anderen überzeugen. Das nennt man auch Rhetorik.« Spiegel: »Aber die Rhetorik ist doch keine philosophische Methode, oder?« Gadamer: »Das weiß ich nicht. Vielleicht ist sie tatsächlich die einzige!« 1 In seinem Hauptwerk Wahrheit und Methode sucht Gadamer in der Hermeneutik methodische Schritte der philosophischen Wahrheitserkenntnis herauszuarbeiten. Wie steht nun die Sprache zu dieser Wahrheitserkenntnis? Wie kann die Rhetorik zur Methode der philosophischen Erkenntnis werden? Welche Geschichte hat diese Frage, welche Relevanz kann sie für den heutigen philosophischen Diskurs besitzen? Auch wenn Gadamer in seinem Hauptwerk Wahrheit und Methode nur am Rande die Rhetorik zu behandeln scheint, ist die Rhetorik seit Beginn seines Studiums sehr präsent in seinem Denken. Er selbst schildert 2001 in einem Interview mit Ansgar Kemmann, 2 dass er sich in seinem Studium der Klassischen Philologie intensiv mit Autoren der attischen und römischen Rhetorik beschäftigt habe,
Der Spiegel 8 (2000), S. 305–307. »Können wir den alten weiten Sinn von Rhetorik neu beleben?« – Hans-Georg Gadamer im Gespräch, in: Kopperschmidt, Josef (Hg.): Heidegger über Rhetorik, S. 439–456.
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Einführung
namentlich nennt er Cicero und Quintilian. 3 Die systematische Beschäftigung mit der Rhetorik, der Versuch, die Rhetorik als Teil eines hermeneutischen Geschehens zu betrachten bzw. die Hermeneutik sogar aus rhetorischen Fragestellungen zu entwickeln, rührt aus dem Kontakt mit Heidegger in den 1920er Jahren: »Und da habe ich zu meinem größten Erstaunen begriffen, dass λόγος etwas mit Sprechen zu tun hat.« 4 Die Vernunft, so Heidegger, ist nicht zu denken ohne ihre sprachliche Verfasstheit. Diese sprachliche Verfasstheit begründete Heidegger in seinen Daseinsanalysen, die dann zur Grundlage von Gadamers Beschreibung des Verhältnisses von Rhetorik und Hermeneutik wurden. Gadamers Einschätzung der Rhetorik wurde vor allem von Habermas und Apel aus sprachpragmatischer Perspektive angegriffen und führte in den 1960er und -70er Jahren zu einer intensiv geführten Diskussion, in deren Hintergrund ein unterschiedliches Sprachund Philosophieverständnis steht. Die Frage der Einbeziehung der Rhetorik in den philosophischen Diskurs ist abhängig von bestimmten Voreinstellungen, die anhand der Diskussion zwischen Hermeneutik und Sprachpragmatik dargestellt werden sollen und deren Relevanz es in der gemeinsamen Geschichte von Rhetorik und Philosophie nachzuweisen gilt.
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A. a. O., S. 440. A. a. O., S. 439.
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1. Die Diskussion um die Rhetorik
1.1 Die hermeneutische Renaissance der Rhetorik Heidegger: existentialontologische Deutung der Rhetorik In Sein und Zeit hat Heidegger die Rhetorik »als erste systematische Hermeneutik der Alltäglichkeit des Miteinanderseins« 1 bezeichnet und aus der aristotelischen Rhetorik und ihrer Affektenlehre hergeleitet. Diese Herleitung konnte in ihrem vollen Ausmaß erst durch die späte Veröffentlichung im Jahre 2002 seiner im Sommer 1924 gehaltenen Vorlesung Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie in seiner weitreichenden Bedeutung erfasst werden. 2 In, so formuliert es Oesterreich, »zumeist unausdrücklicher und apokrypher Form« 3 gehen die Ergebnisse der Aristoteles-Vorlesung in die Daseinsanalyse von Sein und Zeit ein. Bei Aristoteles findet Heidegger Hinweise darauf, dass das »Sein des Menschen« den »Charakter des Sprechens« 4 besitzt; umgekehrt ist daher die Konstruktion von Sprache, die »Begriffsbildung«, eine »Grundmöglichkeit des Daseins selbst«. 5 Wenn Aristoteles den Menschen als ζῷον λόγον ἔχον definiert, ist er in seiner Sprachlichkeit verwiesen auf ein Miteinandersein, das im Sprechen sein eigenes Selbst ausspricht, 6 und daher, so Heidegger, Heidegger, Sein und Zeit, S. 138. Die Vorlesung aus dem SS 1924 war bis 1991 für den 18. Band der Gesamtausgabe als »Aristoteles: Rhetorik« angekündigt. 2002 wurde sie dann von Mark Michalski unter dem Titel »Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie« veröffentlicht. Vgl. das Nachwort des Herausgebers, S. 405 f. 3 Oesterreich, Kryptoplatonismus, S. 192. 4 Vgl. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, S. 103. 5 Vgl. Heidegger, a. a. O., S. 104: »Wir suchen nach der Basis, der Bodenständigkeit der Begriffsbildung im Dasein selbst. Begriffsbildung ist keine zufällige Angelegenheit, sondern eine Grundmöglichkeit des Daseins selbst.« 6 Vgl. ebd.: »Der Mensch ist in der Weise des Miteinanderseins, die Grundbestimmung seines Seins selbst ist Miteinandersein. Dieses Miteinandersein hat seine 1 2
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Die Diskussion um die Rhetorik
zu bestimmen als ein »Lebendes, das im Gespräch und in der Rede sein eigentliches Dasein hat«. 7 Die Rhetorik als die Lehre dieser Konstruktion der Sprache, besitzt genau hier eine hermeneutische Funktion: »Die Rhetorik ist nichts anderes als die Auslegung des konkreten Daseins, die Hermeneutik des Daseins selbst.« 8 Damit stellt die Rhetorik trotz aller ihr innewohnenden Formalität letztlich keine formale Disziplin dar – und ist abzusetzen von einer rhetorischen Kunstlehre –, sondern ist Teil der menschlichen Existenz. 9 Die Ontologie der menschlichen Existenz ihrerseits ist Bestandteil einer Phänomenologie der Rede 10 und diese Phänomenologie ist ausgearbeitet in der Rhetorik, die so zur »ersten systematischen Hermeneutik« werden kann. Bereits 1922 hat Heidegger in seiner Ontologie-Vorlesung die Hermeneutik existentialontologisch verankert und diese Hermeneutik der Faktizität beschrieben als eine Selbstauslegung des je eigenen Daseins 11 vor dem Hintergrund des Seins, in das es gestellt ist. Diesen Hintergrund des Daseins, die je schon gegebene Welt, nennt Heidegger das »Man«, wie er in Sein und Zeit ausführt. 12 Dieses »Man« in seiner Alltäglichkeit ist das selbstverständlichste und realste Subjekt des Daseins, es ist als solches ein Existential und »gehört als ursprüngliches Phänomen zur positiven Verfassung des Daseins«. 13 Vor dem Hintergrund seiner Analysen in Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie muss man das »Man« als Weiterführung oder sogar Verschärfung der rhetorischen Doxa auffassen. 14 Dieses »Man« beschreibt er zu Beginn der Grundbegriffe-Vorlesung wie folgt: Grundmöglichkeit im Sprechen, und zwar Miteinandersprechen, Sprachen als Sichselbst-Aussprechen im Sprechen-über-etwas.« 7 A. a. O., S. 108. 8 A. a. O., S. 110. 9 Vgl. a. a. O., S. 134. »Die Rhetorik ist also selbst keine rein formale Disziplin, sondern es zeigt sich, dass sie Beziehung hat zum Sein des Miteinanderseins der Menschen.« 10 Vgl. Michalski, Hermeneutic Phenomenology as Philology, S. 72 f. 11 Vgl. Heidegger, Hermeneutik der Faktizität, S. 15: »Hermeneutik ist nicht eine künstlich ausgeheckte und dem Dasein aufgedrungene Weise neugierigen Zerlegens. […] Die Beziehung zwischen Hermeneutik und Faktizität ist dabei nicht die von Gegenstandserfassung und erfasstem Gegenstand, […] sondern das Auslegen selbst ist ein mögliches ausgezeichnetes Wie des Seinscharakters der Faktizität. Die Auslegung ist Seiendes vom Sein des faktischen Lebens selbst.« 12 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, S. 126 ff. 13 A. a. O., S. 129. 14 Vgl. Oesterreich, Kryptoplatonismus, S. 193: »Obwohl die Adaption der Doxa in
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Die hermeneutische Renaissance der Rhetorik
»Dieses Man ist das eigentliche Wie der Alltäglichkeit, des durchschnittlichen, konkreten Miteinanderseins. Aus diesem Man heraus erwächst die Art und Weise, wie der Mensch die Welt zunächst und zumeist sieht, wie die Welt den Menschen angeht, wie der die Welt anspricht. Das Man ist das eigentliche Wie des Seins des Menschen in der Alltäglichkeit und der eigentliche Träger dieses Man ist die Sprache.« 15
Die Doxa wird nun ähnlich wie das »Man« beschrieben als »die Weise, in der die Welt des Miteinanderseins da ist«. 16 Sie »ist die spezifische Orientierung des Seins-in-der-Welt«. 17 Diese Doxa ist der Boden, aus dem die einzelnen Möglichkeiten der Weltdeutungen entspringen, sie ist – wie das »Man« – eine unausdrückliche Vorgabe, 18 die sich dem Dasein darbietet. Heidegger beschreibt das »Man« als die besorgte Welt, an die das Dasein verfallen ist. 19 In seiner Grundbegriffe-Vorlesung stellt er fest, dass die Doxa die »Grundweise« ist, »in der die so besorgte Welt gehandhabt wird«. 20 Heidegger entwickelt in Sein und Zeit das Bild eines Daseins, das sich in seinem In-der-Welt-sein entschlossen zur Welt verhält und in dieser Entschlossenheit die ursprünglichste Wahrheit des Seins gewinnt und für sich erschließt. 21 Diese Entschlossenheit hat Heidegger auch für die Doxa festgestellt. Hier spricht er von einer Orientierung, die im Dasein eingeschlossen ist, aber auf anderes bezogen ist und daher ein Anderssein darstellt: Sein und Zeit apokryph bleibt, lässt sich ihre Spur aber unschwer auffinden: Das terminologische Korrelat zur Doxa bildet in Sein und Zeit die ›alltägliche Ausgelegtheit‹ bzw. die ›öffentliche Ausgelegtheit‹ des Daseins oder: die Öffentlichkeit.« 15 Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, S. 64. 16 A. a. O., S. 138. 17 A. a. O., S. 154. 18 Vgl. Heidegger, a. a. O., S. 154 f.: »Das, worüber die Ansicht herrscht, ist ein solches, das noch über sich reden lässt. Die Möglichkeit des Miteinanderverhandelns liegt in der δόξα beschlossen. Die κοινωνία vollzieht sich auf diese Weise. […] Das, von wo aus gesprochen wird, ist nicht ausdrücklich da. Sofern es ausdrücklich ist, ergibt sich das Phänomen der πρότασις, ›Vorgabe‹ dessen, was aber in der Diskussion nicht zur Sprache kommt.« 19 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, S. 184. 20 Vgl. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, S. 140. 21 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, S. 297: »Nunmehr ist mit der Entschlossenheit die ursprünglichste, weil eigentliche Wahrheit des Daseins gewonnen. Die Erschlossenheit des Da erschließt gleichursprünglich das je ganze In-der-Welt-sein, das heißt die Welt, das In-Sein und das Selbst, das als ›ich bin‹ dieses Seiende ist. Mit der Erschlossenheit von Welt ist je schon innerweltliches Seiendes entdeckt.«
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Die Diskussion um die Rhetorik
»Dieser Charakter ist das Aussein auf etwas; das, worauf man aus ist, ist vorweggenommen. Δόξα: Für-etwas-Sein. Im Dafürsein liegt eine gewisse Orientierung. Dieses Aussein in der δόξα hat nicht etwas den Charakter der ὄρεξις, eines ›Strebens‹. Die δόξα ist vielmehr ein gewisses Ja, sie ist zu einem Ende gekommen und steht.« 22
Die Entschlossenheit ist es, welche die Möglichkeit der Öffnung zum anderen erschließt, sie ist ein »verstehend-sich-entwerfender Entschluss«, 23 »das erschließende Entwerfen und Bestimmen der jeweiligen faktischen Möglichkeit«. 24 Erst in der Entschlossenheit vollzieht sich das Miteinandersein und genau das kennzeichnet auch die Doxa: »Die δόξα ist die eigentliche Entdecktheit des Miteinanderseins-inder-Welt. Die Welt ist für uns als Miteinanderseiende in der Entdecktheit da, sofern wir in δόξα leben. In der δόξα leben heißt: sie mit anderen haben. Zur Meinung gehört, dass sie auch andere haben.« 25
In der Doxa erkennt Heidegger offensichtlich ein antikes Andenken dessen, was er in der Öffentlichkeit des »Man« gesehen hat: dasjenige, in das das Dasein gestellt ist, zu dem es sich sorgend und entwerfend verhält und in diesem Entwurf sich selbst als Dasein konstituiert. Dieses Dasein stellt sich dar als eine Befindlichkeit, die Heidegger ontisch beschreibt als Stimmung und Gestimmtsein. 26 In der Stimmung, gedeutet als Akt des Welterschließens und der Weltausrichtung und konstituiert durch die Affekte, kommt ein Bezug zur Welt zum Ausdruck. Dieses Zusammen der Affekte einerseits, in denen der Bezug zur Welt offenbar wird, und der Welt andererseits, in die das Dasein gestellt ist, wird erstmals, so Heidegger, systematisch in der Rhetorik des Aristoteles und seiner Pathos-Lehre reflektiert: »Es ist kein Zufall, dass die erste überlieferte, systematisch ausgeführte Interpretation der Affekte nicht im Rahmen der ›Psychologie‹ abgeHeidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, S. 146. Vgl. a. a. O., S. 298: »Die Entschlossenheit zu sich selbst bringt das Dasein erst in die Möglichkeit, die mitseienden Anderen ›sein‹ zu lassen in ihrem eigensten Seinkönnen und dieses in der vorspringend-befreienden Fürsorge mitzuerschließen. […] Die Entschlossenheit ist ihrem ontologischen Wesen nach je die eines jeweiligen faktischen Daseins. Das Wesen des Seienden ist seine Existenz. Entschlossenheit existiert nur als verstehend-sich-entwerfender Entschluss.« 24 A. a. O., S. 298. 25 A. a. O., S. 149. 26 Vgl. a. a. O., S. 134 ff. 22 23
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Die hermeneutische Renaissance der Rhetorik
handelt ist. Aristoteles untersucht die πάθη im zweiten Buch seiner ›Rhetorik‹. Diese muss […] als die erste systematische Hermeneutik der Alltäglichkeit des Miteinanderseins aufgefasst werden. Die Öffentlichkeit als die Seinsart des Man hat nicht nur überhaupt ihre Gestimmtheit, sie braucht Stimmung und ›macht‹ sie für sich. In sie hinein und aus ihr heraus spricht der Redner.« 27
Diese Affekte, so stellt Heidegger in der Grundbegriffe-Vorlesung klar, sind »nicht nur Zustände des Seelischen, es handelt sich um eine Befindlichkeit des Lebenden in seiner Welt. […] Die Affekte spielen eine fundamentale Rolle bei der Bestimmung des Seins-in-der-Welt, des Seins-mit-und-zu-anderen«. 28 Erst in den Affekten wird das Dasein in seiner Leiblichkeit zu einem vollen In-der-Welt-sein. 29 In der Pathos-Lehre findet Heidegger die Grundlegung seiner Differenzierung von Furcht und Angst in Sein und Zeit, die er dort deutet als eine Angst vor dem Nichts, dem Unbestimmten. 30 In seinen Grundbegriffen der aristotelischen Philosophie schreibt er »Πάθη: Wir werden die Analyse der Furcht als Beispiel nehmen. Furcht als Angst ist bei den Griechen konstitutiv für die Art und Weise der Erfassung dessen, was ist und nicht ist. Dabei sieht Aristoteles das Phänomen der Furcht so weit, dass er auch aufmerksam geworden ist darauf, dass es eine Furcht auch dann gibt, wenn nichts da ist, was unmittelbar Anlaß einer Furcht wäre – Furcht vor dem Nichts.« 31
In der aristotelischen Pathos-Lehre und ihren Ausweitungen erkennt Heidegger das Element, das er braucht, die Rhetorik (und mit ihr die Hermeneutik) in vollem Sinne in der Lebenswelt zu verankern, nicht nur als eine Kunstlehre zu betrachten, sondern als im Dasein des Menschen verankerte Existentialhermeneutik. 32 Erst durch die Affek-
A. a. O., S. 138. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, S. 122. Vgl. auch a. a. O., S. 192. 29 Vgl. a. a. O., S. 197 f. 30 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, S. 186. 31 Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, S. 192. 32 Vgl. Dilcher, Die erste systematische Hermeneutik der Alltäglichkeit des Miteinanderseins, S. 110: »Die Interpretation der Affektenlehre erweist sich geradezu als ein Prüfstein der unterschiedlichen Auffassungen der Rhetorik. Fasst man die Rhetorik bloß als ›Kunstlehre‹ auf, selbst in weiter Bedeutung dieses Ausdrucks, so wird die Affekterregung vornehmlich aus dem Blickwinkel der Anwendung eines ›Mittels‹ zur Erreichung des persuasiven Erfolgs betrachtet werden können. Verborgen bleibt dieser Sichtweise jedoch, inwiefern Affekte Grundierung des Handelns überhaupt und 27 28
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Die Diskussion um die Rhetorik
te des Pathos wird die Doxa wahrnehmbar, sie sorgen dafür, dass aus der Doxa der Logos entstehen kann. 33 Heidegger hat in Sein und Zeit kein Interesse an einer breiten Analyse der Rhetorik. Ihm geht es primär um eine Beschreibung der Affektivität des in die Welt gestellten Daseins und um die aristotelische Rhetorik als Beleg für einen antiken Versuch dieser Beschreibung. 34 Trotz dieser Beiläufigkeit, die der Rhetorik in Sein und Zeit anhaftet, stellt sie inhaltlich als »erste systematische Hermeneutik« oder auch als »ein erstes Stück rechtverstandener Logik« 35 eine wichtige Markierung auf dem Weg zur Analyse des Daseins dar. Dieses Dasein, das aktiv-passive Verhalten des In-der-Welt-seins, ist sprachlich: »Die befindliche Verständlichkeit des In-der-Welt-seins spricht sich als Rede aus. Das Bedeutungsganze der Verständlichkeit kommt zu Wort.« 36 Diese Sprachlichkeit, so Heidegger, macht das Dasein aus insofern das Dasein als Befindlichkeit und Verstehen nicht ohne Sprache denkbar ist. Dasein und Sprache gehören zusammen: »Das Dasein hat Sprache.« 37 Diese Sprachlichkeit des Daseins kommt in der Lehre zum Ausdruck, die sich erstmal systematisch mit ihr beschäftigt: der Rhetorik. Die Rhetorik ist Konstruktion von Sprache, damit Entwurf des eigenen Daseins. Das Verstehen dieses Daseins ist nicht nur Auslegung, es ist auch Entwurf: »Der Entwurfcharakter des Verstehens konstituiert das In-der-Welt-sein hinsichtlich der Erschlossenheit des Da eines Seinskönnens. Der Entwurf ist die existentiale Seinsverfassung des Spielraums des faktischen Seinskönnens.« 38 Dieser Entwurf als Teil des Verstehens des Daseins muss nicht thematisch sein, wie es damit auch der ›Grund‹ sind, warum ›Affekterregung‹ innerhalb der Rhetorik eine entscheidende Rolle zu spielen hat.« 33 Vgl. Gross, Being-Moved: The Pathos of Heidegger’s Rhetorical Ontology, S. 31: »If we could imagine living in a world without pathos, that world leave anything but pure reason behind. Without human emotion what we would be left with is apathy and unexamined belief. And without the dynamism that only pathos can provide, doxa would remain frozen and inarticulate. It is pathos and pathos alone that draws logos out of doxa.« 34 Vgl. Pöggeler, Heidegger’s Restricted Conception of Rhetoric. 35 Vgl. Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, S. 364. 36 Heidegger, Sein und Zeit, S. 161. 37 Vgl. a. a. O., S. 165: »Weil für das Sein des Da, das heißt Befindlichkeit und Verstehen, die Rede konstitutiv ist, Dasein aber besagt: In-der-Welt-sein, hat das Dasein als redendes In-sein sich schon ausgesprochen. Das Dasein hat Sprache.« 38 A. a. O., S. 145.
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Die hermeneutische Renaissance der Rhetorik
die Rhetorik ist. Aber die Rhetorik stellt – das lässt sich aus diesen Zeilen Heideggers folgern – die thematische und theoretische Fortsetzung eines unthematischen Verstehens dar und ist somit »erste Hermeneutik«, »konkreter Leitfaden«, das Dasein auszulegen: »Das Miteinandersprechen ist demnach der Leitfaden für die Aufdeckung des Grundphänomens der Entdecktheit des Daseins selbst als Sein-in-einer-Welt. Als konkreten Leitfaden nehmen wir die Rhetorik, sofern sie nichts anderes ist als die Auslegung des Daseins hinsichtlich der Grundmöglichkeit des Miteinandersprechens.« 39
Heidegger sieht in diesen Entwürfen den Ausdruck von Möglichkeiten: »Dasein versteht sich immer schon und immer noch, solange es ist, aus Möglichkeiten. […] Das Verstehen ist, als Entwerfen, die Seinsart des Daseins, in der es seine Möglichkeiten als Möglichkeiten ist.« 40 Hier schließt sich der Kreis zu seiner Analyse der aristotelischen Rhetorik, die er eben als δύναμις, als Möglichkeit auffasst. In Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie schreibt Heidegger, die Rhetorik sei »eine Möglichkeit, in bestimmten Weisen zu sprechen«. 41 Diese Möglichkeit ist aber nicht nur eine des Sprechenkönnens, sie ist ein Sehen, »das Sehenkönnen dessen, was für eine Sache spricht«, 42 »was sich gerade in einer bestimmten Situation des Miteinanderseins bietet«. 43 Heidegger hat in seiner Einleitung zu Sein und Zeit geschrieben, dass das Seinsverständnis selbst eine »Seinsbestimmtheit des Daseins« ist. 44 Dieses Verständnis des Seins ist untrennbar mit dem Verstehen der »Welt« verbunden, da das Dasein nur als Sein in der Welt gedacht werden kann. 45 Wenn nun die Hermeneutik sich bemüht, Licht in dieses Verhältnis des Daseins zu seiner Welt zu bringen, dann bildet die Rhetorik, so Heidegger, eine primäre Hermeneutik, da sie dieses Verhältnis in ihrer Sprachlichkeit reflektiert und abbildet. Als primäre Hermeneutik wird jedoch ein
A. a. O., S. 139. Ebd. 41 Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, S. 115. 42 A. a. O., S. 115. 43 A. a. O., S. 117. 44 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, S. 12. 45 Vgl. a. a. O., S. 13: »Zum Dasein gehört aber wesenhaft: Sein in einer Welt. Das dem Dasein zugehörige Seinsverständnis betrifft daher gleichursprünglich das Verstehen von so etwas wie ›Welt‹ und Verstehen des Seins des Seienden, das innerhalb der Welt zugänglich wird.« 39 40
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Die Diskussion um die Rhetorik
wichtiger Aspekt ausgeblendet, der normalerweise das Wesen der Rhetorik definiert: die Persuasivität. 46 Diese rhetorisch-sprachliche Hermeneutik steht im klaren Gegensatz zur normalen Wissenschaftlichkeit bzw. zur traditionellen Logik, wie Heidegger insbesondere in den Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs ausführt. 47 Die Wissenschaftlichkeit ist weiterhin gebunden an die grundlegende Sprachlichkeit: »Eine solche wissenschaftliche Logik ist nichts anderes als eine Phänomenologie der Rede(, d. h. des λόγος.« 48 Aus der Sprachlichkeit der Logik ergeben sich Konsequenzen für jede Art logischer Systeme, auch der Philosophie, die ohne Berücksichtigung ihrer Sprachlichkeit ein »verworrenes Gemisch« darstellen. 49 Heideggers Existentialphilosophie in Sein und Zeit ist wesentlich geprägt durch seine Beschäftigung mit der aristotelischen Rhetorik. 50 Die Frage, ob Heideggers Beschäftigung mit der Rhetorik neue Aspekte der Rhetorik selbst offengelegt bzw. welche Rolle diese Beschäftigung für die Renaissance der Rhetorik im 20. Jahrhundert gespielt hat, ist umstritten. Kopperschmidt, der sehr kritisch auf die RhetorikRezeption Heideggers blickt, stellt fest, dass kein Zusammenhang mit der philosophischen Wiederentdeckung der Rhetorik erkennbar ist: »Heideggers Rhetorikbegriff lässt sich in die erschlossene paradigmengestützte Dynamik einer philosophischen Wiederentdeckung
Vgl. Rohling, Der Boden der Redekunst, S. 204: »Die Konsequenzen dieses Programms sind weitreichend: die technisch-instrumentellen Termini der ›Rhetorik‹ und die anthropologischen der ›Politik‹ werden zu existentialanalytischen Begriffen. Sie stehen also nicht mehr im Funktionszusammenhang der Persuasion, sondern dienen der Grundlegung einer neuen Philosophie, der Existentialontologie, die ihre erste systematische Gestalt in Heideggers Werk Sein und Zeit finden wird.« 47 Vgl. Niehues-Pröbsting, »Ein erstes Stück rechtverstandener Logik«, S. 161 f. 48 Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, S. 364. 49 Vgl. a. a. O., S. 364: »Was sonst unter dem Titel ›Logik‹ herumläuft, ist ein verworrenes Gemisch von Analyse des Denkens, Erkennens der Bedeutungslehre, Psychologie der Begriffsbildung, Wissenschaftslehre oder sogar Ontologie. Erst aus dem Horizont dieser Idee von ›Logik‹ wird ihre Geschichte und damit die Verlaufsform der philosophischen Forschung selbst verständlich.« 50 Oesterreich, Fundamentalrhetorik, S. 19: »Es kann mit einigem Recht von einer impliziten – unter dem neuzeitlichen Decknamen ›Hermeneutik‹ – verborgenen konzeptionellen Rhetorikaffinität der Existentialphilosophie Heideggers gesprochen werden.« 46
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Die hermeneutische Renaissance der Rhetorik
der Rhetorik nicht nur sehr schwer, sondern gar nicht einfügen.« 51 Was Kopperschmidt aber zugibt, ist die Relevanz für den hermeneutiktheoretischen Diskurs. 52 Heideggers Sicht auf die aristotelische Rhetorik hat weder den Anspruch, neue Sichtweisen der aristotelischen Rhetorik selbst offenzulegen, noch den Anspruch, die Theorie der Rhetorik als solche weiterzuentwickeln. Seine Perspektive ist diejenige der Hermeneutik. Er fügt die Rhetorik ein in das weltdeutende Geschehen der Hermeneutik und fragt danach, wie die Rhetorik sich zur der Seinsfrage verhält. Knape ordnet die Rhetorik Heideggers ebenfalls in das metaphysische Deutungsgeschehen ein: »So gesehen wird die moderne Rhetorikdisziplin wohl unvermeidlich an der antimetaphysischen Seinsphilosophie des späten Heidegger vorbeigehen müssen. […] Dass die Rhetorik aber gute Dienste bei der unerschöpflichen, ja solange diese Welt in ihrem Dasein und Sosein existiert, permanenten Arbeit an der Metaphysik leisten kann […], nimmt sie von Heidegger gerne als Standortbestimmung an.« 53
Heidegger nennt die Rhetorik die »erste systematische Hermeneutik«. Als solche ist sie bezogen auf das »Man«, auf die Alltäglichkeit, die von Heidegger sehr kritisch gesehen wird. Im § 35 von Sein und Zeit führt Heidegger die Konsequenz dieser Verfangenheit in der »Öffentlichkeit des Man« aus – und damit auch die Konsequenz des Verbleibens in der Rhetorik: das Gerede, das in ein bodenloses Weiterund Nachreden entartet 54 und zur Verfallenheit an die Welt führt. 55 Die antike Sophistik, so Heidegger in den Grundbegriffen der aristo-
Kopperschmidt, Heidegger im Kontext der philosophischen Wiederentdeckung der Rhetorik, S. 59. 52 Vgl. a. a. O., S. 59 f.: »Wenn etwas am ehesten Anspruch auf eine ›exzeptionelle Beachtung und Aufwertung‹ erheben könnte und auch den vergleichsweise größten Beifall gefunden hat, dann waren es hermeneutiktheoretische Umdeutungen der Rhetorik, insofern ihnen wie im Fall von ›doxa‹ (Meinung) und ›pathos‹ (Stimmung/Befindlichkeit) durchaus systemrelevante Übersetzungen gelangen.« 53 Knape, Heidegger, Rhetorik und Metaphysik, S. 150. Vgl. auch Nieheus-Pröbsting, »Ein erstes Stück rechtverstandener Logik«, S. 156: »Es geht also weniger um die Inhalte der Rhetorikrezeption als vielmehr um ihren Stellenwert in der philosophischen Entwicklung Heideggers, in der die Hinwendung zu und die Abkehr von der Rhetorik entscheidende Wendepunkte markieren, Marksteine in der Entwicklung jenes Themenkomplexes, der ihn wie das Sein lebenslang und komplementär dazu beschäftigt hat: Logik und Sprache als Medien der Wahrheit.« 54 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, S. 168. 55 Vgl. a. a. O., S. 175. 51
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Die Diskussion um die Rhetorik
telischen Philosophie, ist genau dieser Verfallenheit erlegen. 56 Die Hermeneutik, um die es Heidegger eigentlich geht, ist eine Analyse des Daseins, die zwar in der vorverstehenden Auslegung des Alltäglichen beginnen muss, aber erst dann zu einer wirklich verstehenden Hermeneutik werden kann, wenn sie diese Alltäglichkeit hinter sich lässt bzw. das an ihr, was das Dasein sich selbst entfremdet und was zu destruieren ist. 57 Die Rhetorik ist in dieser Hermeneutik präsent insofern sie als erste und ursprüngliche Auslegung des Daseins in die Struktur der Hermeneutik eingeflossen ist. Sie ist als Auslegung der Affektivität und Befindlichkeit »von grundsätzlicher methodischer Bedeutung«, 58 erster, nicht zu überspringender Schritt der existentialontologischen Analyse. Damit weist Heidegger der Rhetorik eine neue Funktion zu, sie ist nicht mehr Lehrerin der Redekunst und in ihrer Rolle auf die Erstellung rhetorischer Handbücher beschränkt, sondern sie ist eine bestimmte Gestaltung der Philosophie. 59
Gadamer: Ubiquität und Universalität der Rhetorik Gadamers Interesse an der Rhetorik und ihre Einordnung in die Hermeneutik gründet in einem bestimmten Sprachverständnis, das konstitutiv für die Hermeneutik ist. So steht bereits am historischen Anfang der hermeneutischen Philosophie Schleiermachers Diktum: »Alles Vorauszusetzende in der Hermeneutik ist nur Sprache«. 60 Die Sprache ist nicht nur einzig mögliche Grundlage des Verstehens, der Vollzug des Verstehens selbst ist sprachlich, wie insbesondere Gadamer betont und für seine Hermeneutik als konstitutives Fundament erkennt. 61 Hieraus lässt sich aber nicht die These einer linguistischen Reduktion jedes Seins ableiten. Mit Heidegger kritisiert er die Fixierung auf den Aussagegehalt der Sprache als eine folgenschwere FehlVgl. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, S. 108. Vgl. Heidegger, Ontologie. Hermeneutik der Faktizität, S. 12. 58 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, S. 139. »Die Befindlichkeit ist eine existentiale Grundart, in der das Dasein sein Da ist. Sie charakterisiert nicht nur ontologisch das Dasein, sondern ist zugleich auf Grund ihres Erschließens für die existentiale Analytik von grundsätzlicher methodischer Bedeutung.« 59 Vgl. Struever, Alltäglichkeit, Timeless, in the Heideggerian Program, S. 106 f. 60 Schleiermacher, Hermeneutik, S. 38. 61 Vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 392: »Vielmehr ist die Sprache das universale Medium, in dem sich das Verstehen selber vollzieht. Die Vollzugsweise des Verstehens ist Auslegung.« 56 57
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entscheidung. Es stellt für Gadamer eine Verengung von Sprache dar, sie auf das theoretisch Ausgesagte begrenzen zu wollen. Ein solch reiner Aussagesatz existiert gar nicht: »Das ist ein Satz, der in dem Sinne theoretisch ist, dass er von allem abstrahiert, was er nicht ausdrücklich sagt. Nur das, was er selber durch sein Gesagtsein offenbarmacht, bildet hier den Gegenstand der Analyse und das Fundament der logischen Schlüssigkeit. Ich frage nun: Gibt es solche reinen Aussagesätze, und wann und wo?« 62
Die Sprachlichkeit ist zwar einzig mögliche Grundlage des Verstehens, dieses schränkt sich aber selbst ein, wenn es sich auf den sprachlichen Ausdruck des Gesagten reduziert, das abstrahierter Ausdruck auch dessen ist, was nicht ausdrücklich gesagt wird. 63 Die Wahrheit der Aussage liegt nicht in der Formulierung der Aussage selbst: »Es gibt keine Aussage, die man allein auf den Inhalt hin, den sie vorlegt, auffassen kann, wenn man sie in ihrer Wahrheit erfassen will.« 64 Die Sprache vollzieht sich als ein dialogisches Geschehen, das es gegen jeden Versuch einer Beschränkung auf die Aussagelogik oder einer »Subjektsbefangenheit« 65 zu wahren gilt. »Die Sprache ist Gespräch«, 66 so Gadamer, sie lässt sich nicht herauslösen aus dem Kontext, in dem sie entstanden ist, in dem sie gesprochen und gehört wird. Der in ihr ausgedrückte Sinn liegt nicht in ihr, sondern sie verweist auf ihn: »Sprache und Schrift bestehen immer in ihrer Verweisung. Sie sind nicht, sondern sie meinen.« 67 Auch wenn die Sprache daher aus ihrer Natur heraus auf etwas verweist, das außerhalb ihrer selbst ist, bleibt sie – und so ist die Sprachlichkeit des Verstehens gemeint – einzig mögliche Grundlage und einzig möglicher Vollzug des hermeneutischen Gesprächs.
Gadamer, Sprache und Verstehen, S. 193. Gadamer, Selbstdarstellung, S. 504: »Was ausgesagt wird, ist nicht alles. Das Ungesagte erst macht das Gesagte zum Wort, das uns erreichen kann.« 64 Gadamer, Was ist Wahrheit?, S. 52. 65 Vgl. Gadamer, Text und Interpretation, S. 336: »Die Tiefe des dialogischen Prinzips ist, wie schon angedeutet, erst in der Abenddämmerung der Metaphysik, im Zeitalter der deutschen Romantik, zu philosophischem Bewusstsein gelangt und in unserem Jahrhundert erneut gegen die Subjektsbefangenheit des Idealismus geltend gemacht worden.« 66 Gadamer, Destruktion und Dekonstruktion, S. 364. 67 Gadamer, Text und Interpretation, S. 357. 62 63
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Indem die Welterfassung einerseits auf die ihr vorgängige Sprachlichkeit zurückgreift und andererseits immer neu nach sprachlicher Formulierung des je Erfassten sucht, vollzieht sich ein universal zu nennendes Spiel, durch das die Hermeneutik als Verstehen dieses Spiels selbst universal ist. 68 Die Hermeneutik ist universal, insofern sie das sich immer neu verstehende Sprachspiel der Welterfassung abbilden will: »Indem wir nun als das universale Medium solcher Vermittlung die Sprachlichkeit erkannten, weitete sich unsere Fragestellung von ihren konkreten Ausgangspunkten, der Kritik am ästhetischen und historischen Bewusstsein und der an ihre Stelle zu setzenden Hermeneutik, zu einer universalen Fragerichtung aus. Denn sprachlich und damit verständlich ist das menschliche Weltverhältnis schlechthin und von Grund aus. Hermeneutik ist, wie wir sahen, insofern ein universaler Aspekt der Philosophie und nicht nur die methodische Basis der sogenannten Geisteswissenschaften.« 69
Der universale Aspekt der Hermeneutik beinhaltet auch eine ontologische Komponente, insofern jedes Seinsverständnis notwendigerweise sprachlich ist und die Sprache somit nicht nur äußerliches Konstrukt ist, sondern Träger des Seins. Gadamers berühmtes Diktum »Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache« verweist auf die Bindung der Hermeneutik an das sprachlich gefasste Sein selbst, und in dieser Bindung versteht sich die Hermeneutik als universal. 70 Als Jean Grondin 1988 Gadamer danach befragte, worin der universale Aspekt der Hermeneutik genau bestehen würde, habe dieser geantwortet: »Im verbum interius.« Die Universalität, so erläuterte Gadamer dem verblüfften Grondin, liegt in der Erfahrung der UnVgl. Gadamer, Die Universalität des hermeneutischen Problems, S. 230: »Was ich so beschreibe, ist aber die Weise der menschlichen Welterfahrung überhaupt. Ich nenne sie hermeneutisch. Es ist stets eine sich schon auslegende, schon ihn ihren Bezügen zusammengeordnete Welt, die in die Erfahrung eintritt als etwas Neues, das umstößt, was unsere Erwartungen geleitet hatte, und das sich im Umstoßen neu einordnet. […] So ist der Anspruch der Universalität zu verstehen, der der hermeneutischen Dimension zukommt.« 69 Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 479. 70 A. a. O., S. 478: »Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache. Das hermeneutische Phänomen wirft hier gleichsam seine eigene Universalität auf die Seinsverfassung des Verstandenen zurück, indem es dieselbe in einem universellen Sinne als Sprache bestimmt und seinen eigenen Bezug auf das Seiende als Interpretation.« Vgl. auch a. a. O., S. 480: »Sprache, die Sinn aussagt, ist nicht nur Kunst und Geschichte, sondern alles Seiende, sofern es verstanden werden kann.« 68
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fähigkeit, dasjenige vollständig auszudrücken, was »in der Seele«, im inneren Gespräch des Bewusstseins vollzogen wird. 71 Diese nicht aufzulösende Defizienz der Sprache begründet die universale Dimension der Hermeneutik, der es um den verstehenden Nachvollzug dessen geht, was sich dem unmittelbaren Verstehen widersetzt. Die Hermeneutik setzt als Auslegung bei dem an, was auf seinen Sinn hin zu befragen ist und erkennt in der Sprache ein bipolares Wechselspiel von Verstehen und Missverstehen, ein Gespräch, das universal ist und der Hermeneutik selbst als Betrachterin dieses Gesprächs der Sprache Universalität verleiht: »Alles Verstehen ist Auslegen, und alles Auslegen entfaltet sich im Medium einer Sprache, die den Gegenstand zu Worte kommen lassen will und doch zugleich die eigene Sprache des Auslegers ist.« 72 In der Sprachlichkeit des Verstehens liegt die Bedeutung der »Wirkungsgeschichte«, die Gadamer als »Prinzip« seiner Hermeneutik bezeichnet. 73 Die Wahrnehmung der Wirkungsgeschichte bedeutet nicht nur die Akzeptanz eines nie ganz zu überwindenden historischen Abstands zu dem Auszulegenden und zu Deutenden, sondern das Wissen darum, dass Sprache – die eigene wie auch die wahrgenommene – geschichtlich ist, damit zwangsläufig auch das sich in diesem Sprachspiel vollziehende Verstehen selbst geschichtlich ist und damit Ausdruck der Wirkungsgeschichte: »Die Sprachlichkeit des Verstehens ist die Konkretion des wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins.« 74 Die Wirkungsgeschichte ist das Prinzip der Hermeneutik, weil sie es ist, die dasjenige offenbart, das überhaupt Objekt der Hermeneutik werden kann; sie ist es erst, die etwas fragwürdig erscheinen lässt, die, so Gadamer, »im Gewinnen der rechten Frage wirksam« ist. 75 Als Prinzip ist die Wirkungsgeschichte nicht nur Ausgangspunkt hermeneutischen Fragens, sondern dieses Fragen ist nicht einmal in der Lage, diesen Ausgangspunkt zu verlassen und bleibt auf
Vgl. Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, S. 9: »›Die Universalität‹, fuhr er fort, ›liegt in der inneren Sprache, darin, dass man nicht alles sagen kann. Man kann nicht alles ausdrücken, was in der Seele ist, den λόγος ἐνδιάθετος. Das kommt mir von Augustin, vom ›De trinitate‹ her. Diese Erfahrung ist universal: der actus signatus deckt sich nie mit dem actus exercitus.‹« 72 Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 392. 73 Vgl. a. a. O., S. 305 f. 74 A. a. O., S. 393. 75 Vgl. a. a. O., S. 306. 71
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ihn verwiesen; die Wirkungsgeschichte bleibt der Horizont, vor dem sich das hermeneutische Gespräch vollzieht, vor dem sich Sprache immer neu bildet und dennoch die alte bleibt. Gadamer schreibt der Sprache einen ontologischen Charakter zu, weil sie als Wirkmacht der Wirkungsgeschichte auf das Bewusstsein einwirkt und diesem trotz aller sprachlichen Prägung unverfügbar bleibt. Die Wirkungsgeschichte, die präsent ist in Traditionen, Vorurteilen, aber vor allem in der Sprache, geht jedem Versuch voraus, sie zu überwinden und erweist sich als unüberwindbar: »In Wahrheit gehört die Geschichte nicht uns, wir gehören ihr. […] Darum sind die Vorurteile des einzelnen weit mehr als seine Urteile die geschichtliche Wirklichkeit seines Seins.« 76 Die Wirkungsgeschichte ist sichtbarer und wirksamer Ausdruck sprachlicher Universalität. In dieser sprachlichen und zugleich ontologischen Universalität begründet Gadamer in Wahrheit und Methode seine Hermeneutik. In Wahrheit und Methode finden sich erstaunlicherweise nur gelegentliche Hinweise auf die Rhetorik. Erst durch eine Rezension des Werkes durch Klaus Dockhorn 1966 wurde Gadamer – wie er selbst wenig später zugegeben hat 77 – auf die Bedeutung der Rhetorik für seine eigene hermeneutische Lehre aufmerksam. Dockhorn wirft Gadamer in seiner Rezension vor, die rhetorischen Ursprünge der Hermeneutik nicht genügend berücksichtig zu haben. Er weist nach, dass die vier von Gadamer beschriebenen »humanistischen Leitbegriffe« 78 Bildung, sensus communis, Urteilskraft und Geschmack ihre Wurzeln in der klassischen Rhetorik haben. Dockhorns Argumentation geht über den Gedanken der Allgemeinheit: wenn die genannten Aspekte ihren Grund in der Allgemeinheit haben und die Allgemeinheit nicht reduzierbar ist auf eine begriffliche oder intellektuelle Einheit, dann, so Dockhorn, »bleibt als Quelle dieser Kultur der humanitas schlechthin nur die Rhetorik«. 79 Diese Allgemeinheit ist diejenige, die »im Gespräch entsteht«, keine »Allgemeinheit im generellen Sinne, […] sondern […] im Sinne von Gemeinsamkeit«. 80 A. a. O., S. 281. Vgl. Gadamer, Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik, S. 234. 78 Vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 15–47. 79 Dockhorn, Rez. von H.-G. Gadamer »Wahrheit und Methode«, S. 172. 80 Vgl. ebd.: »Die Allgemeinheit, welche die Rhetorik im Auge hat, ist nicht die Subsumption des analytischen Urteils, sondern eben die Allgemeinheit, die im Gespräch, dialektisch, entsteht, wenn ›ex repugnantibus sententiis‹, d. h. enthymematisch (im 76 77
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Es geht Dockhorn darum, der Bildung oder den konkreten Ausdrücken einer Kultur einen Horizont zuzuordnen, der sich nicht im Allgemeinen verflüchtigt, sondern sämtliche dieser Ausdrücke in ihrer Konkretheit beinhaltet, aber dennoch mehr ist als die Summe seiner Teile. Dieser Horizont, so die Stoßrichtung Dockhorns, ist der Horizont der Rhetorik, welche als Lehre der Konstruktion dieser Äußerungen die »Organisation der Geistesgeschichte im Sinne einer Weltanschauung und Anthropologie« 81 bewirkt. Hieraus ergibt sich, so Dockhorn, die »Ubiquität der Rhetorik«. 82 Dockhorn schließt seine Rezension mit der an Gadamer gerichteten Aufforderung: »Darf die Wissenschaft vom Verf. erwarten, dass er die ›logique du cœur‹, die erregende und mildernde Macht der Sprache, zum Gegenstand begriffsgeschichtlicher Untersuchung und existentieller Strukturerhellung mache? Er könnte es mit einer Autorität tun wie kein zweiter.« 83
Die »erregende und mildernde Macht der Sprache« ist die ubiquitäre Macht der Rhetorik, die, so die Forderung Dockhorns, in ihrer diachron-historischen und synchron-ontologischen Relevanz wahrzunehmen ist. Im gleichen Jahr 1966 verfasst Gadamer den Artikel Die Universalität des hermeneutischen Problems, in dem er zugibt, dass sich die hermeneutische Frage »durchaus nicht beschränkt auf die Gebiete, von denen ich bei meinen eigenen Untersuchungen ausgegangen bin«. 84 Die Universalität der Hermeneutik sei begründet »im Ganzen unseres Erfahrungslebens«, das im Sprachlichen vollzogen würde: »Jetzt haben wir die Fundamentalschicht erreicht, die man (mit Johannes Lohmann 85) die ›sprachliche Weltkonstitution‹ nennen kann. Sie
rhetorischen Syllogismus) geschlossen wird, indem conträre Meinungen auf die gemeinsame Mitte gehoben werden. Es handelt sich dabei nicht um Allgemeinheit im generellen Sinne, wie bei der stoischen κοινὴ ἔννοια, sondern um Allgemeinheit im Sinne von Gemeinsamkeit.« 81 Vgl. a. a. O., S. 172. 82 Vgl. a. a. O., S. 178, 183 u. a. 83 A. a. O., S. 206. 84 Gadamer, Die Universalität des hermeneutischen Problems, S. 226. 85 Vgl. Lohmann, Philosophie und Sprachwissenschaft, veröffentlicht in der Reihe Erfahrung und Denken, Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften, Nr. 15 (1965).
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stellt sich dar als das wirkungsgeschichtliche Bewusstsein, das alle unsere Erkenntnismöglichkeiten vorgängig schematisiert.« 86
In diesem Artikel spricht Gadamer noch nicht direkt von der Rhetorik, aber er sieht die »fundamentale Dimension des Hermeneutischen« im »Gespräch, das zwischen jedem solchen Sprechenden und seinem Partner im Gange ist«, 87 wohlwissend, dass es die Rhetorik ist, welche die Regeln des Gesprächs beschreibt. 1967 knüpft Gadamer bewusst und direkt an Dockhorn an und erkennt an, dass »wahrhaft universale Sprachlichkeit, die dem Hermeneutischen im anderen Sinne wesenhaft vorausliegt und fast so etwas wie das Positiv zu dem Negativ der sprachlichen Auslegungskunst darstellt« in der Rhetorik bezeugt ist. 88 Im Folgenden geht Gadamer bis in die Antike zurück, um die Bedeutung der Rhetorik für die hermeneutische Fragestellung nachzuweisen und gelangt zu dem Schluss, dass »die theoretischen Mittel der Auslegungskunst, wie ich an einigen Punkten zeige und wie Dockhorn auf breiter Basis durchführt, weitgehend der Rhetorik entlehnt sind«. 89 Rhetorik wie Hermeneutik verkörpern einen universalen und ubiquitären Anspruch, da sie auf die Vermittlung von Sprache blicken; menschliche Sprachlichkeit ist nur verständlich in ihren rhetorischen und hermeneutischen Dimensionen. Damit wird die Rhetorik nicht verstanden als eine Kunstlehre, sondern als Weiterführung einer »natürlichen menschlichen Fähigkeit« des Redenwie Verstehenkönnens, wie Gadamer in Rhetorik und Hermeneutik expliziert. 90 Rhetorik und Hermeneutik als kunstvolle oder methodische Weiterführung natürlicher Fähigkeiten gehören damit »zum
Gadamer, Die Universalität des hermeneutischen Problems, S. 228. Vgl. Gadamer, Die Universalität des hermeneutischen Problems, S. 231: »Es ist die eigentliche Zuordnung des Menschen zueinander, die sich damit ergibt, dass jeder zunächst eine Art Sprachkreis ist, und dass sich diese Sprachkreise berühren und mehr und mehr verschmelzen. Was so zustande kommt, ist immer wieder die Sprache, in Vokabular und Grammatik wie eh und je, und nie ohne die innere Unendlichkeit des Gespräches, das zwischen jedem solchen Sprechenden und seinem Partner im Gange ist. Das ist die fundamentale Dimension des Hermeneutischen.« 88 Vgl. Gadamer, Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik, S. 233 f. 89 A. a. O., S. 236. 90 Vgl. Gadamer, Rhetorik und Hermeneutik, S. 280: »Nun sind in einem Punkte Rhetorik und Hermeneutik zutiefst verwandt: Redenkönnen wie Verstehenkönnen sind natürliche menschliche Fähigkeiten, die auch ohne bewusste Anwendung von Kunstregeln zu voller Ausbildung zu gelangen vermögen, wenn natürliche Begabung und die rechte Pflege und Ausübung derselben zusammenkommen.« 86 87
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Die hermeneutische Renaissance der Rhetorik
Menschsein als solchen« 91 und sind gleichermaßen universal und ubiquitär. Damit habe die Rhetorik eine hermeneutische Funktion, und beide – Rhetorik wie Hermeneutik – verweisen auf das, was in der philosophisch-ontologischen Geschichte vergessen worden sei. Gadamer hatte in Wahrheit und Methode diesen Gedanken angedeutet, wenn er auf die Vergessenheit der rhetorischen Tradition hinweist, die es wieder neu wahrzunehmen gilt. Systematisch führt Gadamer die von Heidegger vertretene Zusammengehörigkeit von Dasein und Sprache fort. 92 Die Universalität des Seins und des Weltzugangs ist die Universalität der Sprache. Die Beschäftigung mit ihr in der Hermeneutik eröffnet der Hermeneutik ihre universale Perspektive und macht gleichzeitig die Rhetorik zum unverzichtbaren Element der universal verstandenen Hermeneutik. Ein wichtiges Stichwort, um die Komplementarität von Rhetorik und Hermeneutik zu fassen, nennt Gadamer fast beiläufig in seinem Artikel Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik: das atopon. Dieses kennzeichnet das Fremde, das Seltsame, das Nicht-Deutbare, das dem Menschen entgegentritt und notwendige Grundlage einer jeden Hermeneutik ist. 93 Atopisch ist das Unvertraute, das dem Vertrauten, dem Topischen, gegenübersteht. Die Rhetorik wiederum ist topisch, weil sie auf das Vertraute setzt, sie will überzeugen und das kann sie nur, wenn sie auf das Vertraute abhebt. Sie zielt auf einen Konsens, den sie herstellen muss, wenn sie als Rhetorik gültig und erfolgreich sein will. Wie die topische Rhetorik auf Verständigung zielt, setzt die Vgl. a. a. O., S. 291. Vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 478: »Wir erkennen jetzt, dass diese Wendung vom Tun der Sachen selbst, vom Zur-Sprache-kommen des Sinns, auf eine universal-ontologische Struktur hinweist, nämlich auf die Grundverfassung von allem, auf das sich überhaupt Verstehen richten kann. Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache. Das hermeneutische Phänomen wirft hier gleichsam seine eigene Universalität auf die Seinsverfassung des Verstandenen zurück, indem es dieselbe in einem universellen Sinne als Sprache bestimmt und seinen eigenen Bezug auf das Seiende als Interpretation. So reden wir jetzt nicht nur von einer Sprache der Kunst, sondern auch von einer Sprache der Natur, ja überhaupt von einer Sprache, die die Dinge führen.« 93 Vgl. Gadamer, Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik, S. 237: »Die Unverständlichkeit oder Missverständlichkeit überlieferter Texte, die sie ursprünglich auf den Plan gerufen hat, ist nur ein Sonderfall dessen, was in aller menschlichen Weltorientierung als atopon, das Seltsame begegnet, das sich in den gewohnten Erwartungsordnungen der Erfahrung nirgends unterbringen lässt.« 91 92
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Die Diskussion um die Rhetorik
atopische Hermeneutik da an, wo diese Verständigung nicht gelungen ist. Beide bedingen einander: »So durchdringen sich der rhetorische und hermeneutische Aspekt der menschlichen Sprachlichkeit auf vollkommene Weise. Es gäbe keinen Redner und keine Redekunst, wenn nicht Verständigung und Einverständnis die menschlichen Beziehungen trüge – es gäbe keine hermeneutische Aufgabe, wenn das Einverständnis derer, die ›ein Gespräch sind‹, nicht gestört wären und die Verständigung nicht gesucht werden müsste.« 94
Rhetorik wie Hermeneutik sind für Gadamer sich am sprachlichen Geschehen in ihrer Komplementarität notwendig vollziehende Wirkungen. Sie beruhen als Kunstformen auf natürlichen und unbewussten menschlichen Verstehens- und Deutungsweisen, von denen sie sich ablösen, aber dennoch nicht zu trennen sind. Gadamer hatte in Wahrheit und Methode der Rhetorik noch nicht diese bedeutende Stellung zugesprochen, sondern sie als einen Teil von vielen des universalen Sprachgeschehens betrachtet. Angeregt durch Dockhorn und seinen Nachweis der inhaltlichen und methodischen Überschneidungen von Hermeneutik und Rhetorik gelangt Gadamer immer mehr zur Überzeugung der Komplementarität von Hermeneutik und Rhetorik, die sich aus seiner Perspektive – der hermeneutischen – als Rhetorizität der Hermeneutik darstellt.
1.2 Die sprachanalytische Kritik Die Wurzeln der Sprachanalytik Die Bezeichnung »linguistic turn« wurde im Umfeld der analytischen Philosophie publik durch eine Veröffentlichung von Richard Rorty, der allerdings darauf hinwies, sie vom österreichischen Philosophen Gustav Bergmann übernommen zu haben. 95 Inhaltlich ist der Beginn des »linguistic turn« eng verbunden mit Gottlob Frege (1848–1925), einem der Begründer der analytischen Philosophie. Sein philosophisches Anliegen besteht in der Analyse der Sprache auf ihre logischen Strukturen hin. Die Wahrheit der Sprache ist streng wissenschaftlich auf wahr oder falsch zu unterscheiden: »Ich verstehe unter dem 94 95
A. a. O., S. 238. Vgl. Rorty, The Linguistic Turn, S. 9.
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Die sprachanalytische Kritik
Wahrheitswerte eines Satzes den Umstand, dass er wahr oder dass er falsch ist.« 96 Dem steht die sprachliche Unvollkommenheit gegenüber: »In den abstrakteren Teilen der Wissenschaft macht sich immer aufs neue der Mangel eines Mittels fühlbar, Missverständnisse bei anderen und zugleich Fehler im eigenen Denken zu vermeiden. Beide haben ihre Ursache in der Unvollkommenheit der Sprache.« 97
Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit einer Begrifflichkeit, die Frege wie folgt beschreibt: »Sie muss für die logischen Beziehungen einfache Ausdrucksweisen haben, die, an Zahl auf das Notwendige beschränkt, leicht und sicher zu beherrschen sind.« 98 Dass dies möglich ist, macht Frege daran fest, dass es ja die Vernunft ist, welche die Sprache geschaffen hat. Entsprechend handelt es sich nur um eine »Scheinschwierigkeit«, die Sprache wieder auf ihre Vernunft zurückzuführen. 99 Für Freges Sprachphilosophie ist die Unterscheidung von »Sinn« und »Bedeutung« zentral. Unter der Bedeutung einer Aussage versteht Frege den Gegenstand, auf den sich die Aussage bezieht: die Übereinstimmung von Zeichen und Bezeichnetem verleihen der Sprache eine Bedeutung. Von der Bedeutung zu unterscheiden ist der Sinn, welcher von der Vorstellungskraft dem Gegenstand zugesprochen wird. Den Sinn nutzt Frege, um eine kulturelle oder subjektive Ebene der Sprache verdeutlichen zu können – auch wenn der Sinn laut Frege nicht mit der Subjektivität übereinstimmt, sondern zwischen der subjektiven Vorstellung und der objektiven Bedeutung steht. 100 Worum es ihm allerdings geht, ist letztlich die objektive Ebene der Bedeutung, d. h. der bezeichnete Gegenstand selbst und dessen Ausdruck. Die Unterscheidung von Sinn und Bedeutung setzt Frege ein, um die kulturelle, historische oder subjektive Gefärbtheit der Sprache aus der Wissenschaft zu verbannen und eine sprachliche Objektivität anzuzielen. Der Begriff, so Frege, ist von jeder Art subjektiFrege, Über Sinn und Bedeutung, S. 30. Frege, Begriffsschrift, S. 70. 98 A. a. O., S. 75. 99 Vgl. ebd. 100 Vgl. Frege, Über Sinn und Bedeutung, S. 27: »Die Bedeutung eines Eigennamens ist der Gegenstand selbst, den wir damit bezeichnen; die Vorstellung, welche wir dabei haben, ist ganz subjektiv; dazwischen liegt der Sinn, der zwar nicht mehr subjektiv wie die Vorstellung, aber doch auch nicht der Gegenstand selbst ist.« 96 97
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Die Diskussion um die Rhetorik
ver oder psychologischer Färbung zu befreien und in einen streng logischen Gebrauch zu überführen. 101 Hieraus ergibt sich ein klarer Auftrag an die Philosophie, den Frege am Schluß seiner Begriffsschrift äußert: »Die logischen Verhältnisse kehren überall wieder, und die Zeichen für die besonderen Inhalte können so gewählt werden, dass sie sich in den Rahmen der Begriffsschrift einfügen. Mag dies nun geschehen oder nicht, jedenfalls hat eine anschauliche Darstellung der Denkformen eine über die Mathematik hinausreichende Bedeutung. Möchten deshalb auch die Philosophen der Sache einige Beachtung schenken!« 102
Frege zielt auf eine »Philosophie der idealen Sprache« (ideal language philosophy) hin. Dieses später so bezeichnete Projekt sucht eine Struktur der Sprache offenzulegen, welche die Tiefenstruktur der natürlichen Sprachen anzeigt. Die ideale Sprache soll – wie es Frege in seiner Begriffsschrift darlegt – gewonnen werden durch eine Formalisierung der natürlichen Sprache bzw. durch die Auslegung ihrer logischen Verhältnisse. Dieses Projekt wird von Autoren wie Wittgenstein, Russel und Carnap fortgesetzt, nimmt dann aber beim späten Wittgenstein eine Wendung, die von großer Bedeutung für den weiteren Verlauf der analytischen Philosophie ist. Wittgensteins Früh- und Spätwerk sind stark voneinander unterschieden. Als zentrales Werk des frühen Wittgenstein gilt der Tractatus logico-philosophicus von 1918, in dem er klar in der Tradition der »Philosophie der idealen Sprache« steht. So schreibt Wittgenstein im Vorwort des Tractatus die berühmt gewordenen Sätze: »Das Buch behandelt die philosophischen Probleme und zeigt – wie ich glaube –, dass die Fragestellung dieser Probleme auf dem Missverständnis der Logik unserer Sprache beruht. Man könnte den ganzen Sinn des Buches etwa in die Worte fassen: Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen.« 103
Der philosophischen Tradition wirft Wittgenstein – wie Frege – vor, eine nicht präzise und irrtumsbehaftete Sprache zu verwenden. Dies hängt damit zusammen, dass in der Umgangssprache »dasselbe Wort 101 102 103
Vgl. Frege, Über Begriff und Gegenstand, S. 47. Frege, Begriffsschrift, S. 76. Wittgenstein, Tractatus, S. 9.
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auf verschiedene Art und Weise bezeichnet« 104 wird. Hieraus ergeben sich, so Wittgenstein, die »fundamentalsten Verwechslungen (deren die ganze Philosophie voll ist)«. 105 Wittgenstein stellt daher folgende Forderung: »Um diesen Irrtümern zu entgehen, müssen wir eine Zeichensprache verwenden, welche sie ausschließt, indem sie nicht das gleiche Zeichen in verschiedenen Symbolen, und Zeichen, welche auf verschiedene Art bezeichnen, nicht äußerlich auf die gleiche Art verwendet. Eine Zeichensprache also, die der logischen Grammatik – der logischen Syntax – gehorcht.« 106
Zentral für die Sprachphilosophie des frühen Wittgenstein ist seine sog. »Bildtheorie des Satzes«. Wittgenstein geht davon aus, dass ein Satz einen Sachverhalt abbildet: »Das Bild ist ein Modell der Wirklichkeit.« 107 Dieses Modell bildet die Struktur der Wirklichkeit ab: »Dass sich die Elemente des Bildes in bestimmter Art und Weise zu einander verhalten, stellt vor, dass die Sachen sich so zu einander verhalten.« 108 Entsprechend ist die Wahrheitsfrage die Frage der Übereinstimmung des Bildes mit seinem Gehalt. Damit ist offensichtlich, dass die Wahrheit nicht in der Sprache selbst liegt oder in ihr selbst erkennbar ist, sondern nur im Vergleich der Sprache mit dem in der Sprache Bezeichneten. 109 In seinem Spätwerk entwickelt Wittgenstein seine Sprachphilosophie weiter und stellt in den 1953 posthum veröffentlichten PhiWittgenstein, Tractatus 3.323. Vgl. a. a. O. 3.324. Vgl. auch a. a. O. 4.003: »Die meisten Sätze, welche über philosophische Dinge geschrieben worden sind, sind nicht falsch, sondern unsinnig. Wir können daher Fragen dieser Art nicht beantworten, sondern nur ihre Unsinnigkeit feststellen. Die meisten Fragen und Sätze der Philosophien beruhen darauf, dass wir unsere Sprachlogik nicht verstehen. (Sie sind von der Art der Frage, ob das Gute mehr oder weniger identisch sei als das Schöne.) Und es ist nicht verwunderlich, dass die tiefsten Probleme eigentlich keine Probleme sind. 106 A. a. O., 3.325. 107 A. a. O., 2.12. 108 A. a. O., 2.15. 109 Vgl. a. a. O.: (2.221) Was das Bild darstellt, ist sein Sinn. (2.222) In der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung seines Sinnes mit der Wirklichkeit besteht seine Wahrheit oder Falschheit. (2.223) Um zu erkennen, ob das Bild wahr oder falsch ist, müssen wir es mit der Wirklichkeit vergleichen. (2.224) Aus dem Bild allein ist nicht zu erkennen, ob es wahr oder falsch ist. 104 105
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losophischen Untersuchungen die Alltagssprache (ordinary language philosophy) in den Vordergrund, was eine klare Revision einer »Philosophie der idealen Sprache« darstellt. Bereits zu Beginn dieses Werkes, im § 2, nennt Wittgenstein einen wesentlichen Kritikpunkt an der idealen Sprache: die Fixierung auf die Namentheorie, auf die Übereinstimmung des Namens mit dem von ihm Bezeichneten, ist nicht durchzuhalten und der Komplexität der entwickelten Sprache nicht angemessen, es handelt sich um eine Theorie für »eine primitive Sprache«. 110 Wittgenstein spricht von einem »Dunst«, den »der allgemeine Begriff der Bedeutung der Worte« auf das »Funktionieren der Sprache« legen würde. 111 Die ideale Sprache beschränkt die Sprache auf ihre Behauptung. Damit erweist sich die von Frege auf die Sprachlogik ausgerichtete Philosophie, so Wittgenstein auch selbstkritisch sein frühes Werk betreffend, als nicht zureichend. 112 Der idealen Sprache setzt Wittgenstein die »Alltagssprache« entgegen; Bezugspunkt der Sprachphilosophie ist damit die sich konkret im gesellschaftlichen Alltag vollziehende Sprache. Ist die ideale Sprache festzulegen durch das Verhältnis der Sprache zu den Gesetzen der Logik, betrachtet Wittgenstein die Alltagssprache vor dem Hintergrund ihrer Gebundenheit an den Kontext, in dem sie hervorgebracht wird. Wittgenstein spricht hier von einem »Sprachspiel« 113. Sprachliche Ausdrücke stehen in einem bestimmten Zusammenhang, in einem »Spiel«, das sie hervorbringt und auf das hin sie zu deuten sind. Wenn Wittgenstein feststellt, dass die »Bedeutung eines Wortes« dessen »Gebrauch in der Sprache« ist, 114 dann ordnet er das einzelne Wort dem gesamtsprachlichen Kontext unter und revidiert damit vor allem die repräsentationistische Auffassung der Philosophie der idealen Sprache, die im sprachlichen Ausdruck das passende oder nicht passende Bild des Bezeichneten erkennen wollte. Nicht der Ge-
110 Vgl. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 2. Vgl. a. a. O., § 5: »Solche primitiven Formen der Sprache verwendet das Kind, wenn es sprechen lernt. Das Lehren der Sprache ist hier kein Erklären, sondern ein Abrichten.« 111 Vgl. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 5. 112 Vgl. a. a. O., § 23: »Es ist interessant, die Mannigfaltigkeit der Werkzeuge der Sprache und ihrer Verwendungsweisen, die Mannigfaltigkeit der Wort- und Satzarten, mit dem zu vergleichen, was Logiker über den Bau der Sprache gesagt haben. (Und auch der Verfasser der Logisch-Philosophischen Abhandlung.)« 113 Vgl. ebd. 114 Vgl. a. a. O., § 43.
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genstandsbezug, sondern die Position im »Sprachspiel« ist es, die der Aussage eine Bedeutung verleiht. Aus diesen beiden Motiven der analytischen Philosophie – des Bezugs auf die ideale Sprache und des Bezugs auf die Alltagssprache – entwickelte sich ein drittes Motiv: die Sprechakttheorie, die wesentlich von John L. Austin (1911–1960) vorgetragen wurde. Dieses Motiv versucht stärker als die beiden vorhergehenden den Sprecher als Sprecher in die Sprachanalyse einzubeziehen. Die Bedeutung der sprachlichen Ausdrücke liegt für Austin nicht durch den Abbildcharakter des Gesagten im menschlichen Geist oder in der Übereinstimmung mit dem Bezeichneten, sondern darin, dass das Gesagte als vom Sprecher Gesagtes etwas bewirkt. 115 Die sprachlichen Äußerungen werden von Austin auf ihre Performativität hin ausgelegt, auf die Handlung, die durch das Sprechen hervorgerufen wird, nicht mehr – wie in extremer Weise in der Philosophie der idealen Sprache – auf ihren Wahrheitswert hin. 116 Die Sprechhandlung, auf die Austin zielt, unterteilt er in einen lokutionären (die Äußerung an sich), illokutionären (Art der Lokution) und perlokutionären Akt (Wirkung). Worum es ihm allerdings letztlich geht, ist der illokutionäre Akt, der – so Austin – von der bisherigen Philosophie meistens missachtet worden wäre. 117 Austin definiert die Illokution als den Akt, »den man vollzieht, indem man etwas sagt, im Unterschied zu dem Akt, dass man etwas sagt«. 118 Die Art und Weise des Sprechens, die Intention des Sprechers, ob er eine Frage stellen oder etwas beantworten will, ob er etwas beurteilen oder verurteilen will: diese Ebene beschreibt Austin in der Illokution und versucht auf diese Weise, die bisherige analytische Philosophie um eine neue Ebene zu bereichern. Diese Ebene steht für das »Mehr« der bloßen Aussage. Austin will deutlich machen, dass eine Aussage nicht für sich steht, sondern erst dann ihren Sinn erhält, wenn sie auf etwas hin ausgesprochen wird, sich als Handlung darstellt und sogar eine Handlung bewirkt.
Vgl. Austin, Zur Theorie der Sprechakte, S. 27 f. Vgl. a. a. O., S. 23: »Die Philosophen haben jetzt lange genug angenommen, das Geschäft von ›Feststellungen‹ oder ›Aussagen‹ sei einzig und allein, einen Sachverhalt zu ›beschreiben‹ oder ›eine Tatsache zu behaupten‹, und zwar entweder zutreffend oder unzutreffend.« 117 Vgl. a. a. O., S. 118. 118 Vgl. a. a. O., S. 115. 115 116
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Die sprachpragmatische Kritik an der Hermeneutik Verschiedene Autoren, die der Sprachpragmatik zuzuordnen sind, haben das hermeneutische Sprachverständnis, wie es von Heidegger oder Gadamer formuliert worden war, in den 1960er und -70er Jahren scharf kritisiert. 119 Die Sprachpragmatik im Gefolge von Austin betrachtet die Sprache vorrangig als eine Handlung, die auf ihre Funktionalität und Instrumentalität hin zu befragen ist. Die Sprache stellt somit nicht – wie in der Hermeneutik geschildert – etwas Abkünftiges dar, sondern einen für sich zu betrachtenden Akt. Aus dieser Perspektive wirft Habermas Gadamer vor, dass seine Fokussierung auf die Vorurteilsstruktur bzw. auf das der Sprache Vorgängige zu einer verkehrten »Ontologisierung der Sprache und zur Hypostasierung des Überlieferungszusammenhangs« 120 führt. Habermas bestreitet nicht die Existenz dieses Vorgängigen, aber er bestreitet ihre Bedeutung bzw. ihren Bezug für den Wahrheitsgehalt des in der Sprache Ausgedrückten. 121 Die Sprache in ihrer grammatischen Struktur ist Träger des Wahrheitsgehaltes: »Nur in Sätzen spiegeln sich Sachverhalte.« 122 Die sprachpragmatische Fokussierung auf die Sprache in ihrer äußeren Form, die neutrale, äußere Perspektive, mit der sie kategorisiert und theoretisiert wird, verzichtet auf den hermeneutischen Blick auf das die Sprache Hervorbringende und das die Sprache Wahrnehmende. Die Analyse des Sprechaktes selbst muss darauf verzichten, da nur der Sprechakt selbst analysefähig ist, wie vor allem Austin 123 und Searle 124 herausgearbeitet haben. Verstehen vollzieht sich auf der Basis des Sprechaktes selbst; Verstehen heißt, den im Gesprochenen ausgedrückten Willen zu erfassen und auf sich beziehen zu können (»Wir verstehen einen Sprechakt, wenn wir wissen, was ihn akzeptabel macht.« 125). Die Betrachtung des Sprechaktes Vgl. Wetzel, Die Wirksamkeit der Rede, S. 54 f. Vgl. Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, S. 303. 121 Vgl. a. a. O., S. 361 ff. 122 Vgl. Habermas, Nachmetaphysisches Denken, S. 115: »Allein die grammatische Sprache, die eine Realität eigener Art und Dignität bildet, ermöglicht die klare Artikulation von Gedanken und Intentionen – nur in Sätzen spiegeln sich Sachverhalte. … Die vielfältigen Funktionen, die die Sprache erfüllt, erschließen sich einer Analyse nur über die Form der verwendeten Sätze, und zwar letztlich über die Form assertorischer Sätze, die Darstellungsfunktionen erfüllen.« 123 Vgl. Austin, Zur Theorie der Sprechakte. 124 Vgl. Searle, Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay. 125 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, S. 400. 119 120
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löscht die hermeneutische Betrachtung der Wirkungsgeschichte, die Habermas als »subjektiv« deutet, als »unbewusst«. 126 Während die rhetorisch-hermeneutische Problematisierung innerhalb der Bewegung »natürlicher Sprachen« gefangen ist, will die von Habermas angezielte »Interpretation der Wissenschaft für die Lebenswelt« zwischen den Sprachen einerseits und den »monologischen Sprachsystemen« andererseits vermitteln. 127 Diese Interpretation ist eine nachträgliche Konstruktion und steht damit konträr zur hermeneutischen Vorgängigkeit: »Diese Theorie soll die rationale Nachkonstruktion eines Regelsystems darstellen, das die allgemeine Sprachkompetenz zureichend definiert. Wenn dieser Anspruch in der Weise eingelöst werden könnte, dass sich in jedem Element einer natürlichen Sprache theoriesprachliche Strukturbeschreibungen eindeutig zuordnen lassen, dann würden die in der Theoriesprache ausgedrückten Strukturbeschreibungen an die Stelle des hermeneutischen Sinnverstehens treten können.« 128
Gadamer hatte die Komplementarität von Rhetorik und Hermeneutik mit ihrer sprachlichen Universalität und Ubiquität begründet. Diese Universalität war der zentrale Kritikpunkt der sprachpragmatischen Position. Gadamer verfasste die Artikel über die Rhetorik, in denen er anhand der Rhetorik die Universalität und Weite der Hermeneutik nachweisen wollte, als Reaktion auf die Kritik von Habermas, die dieser 1967 in seinem Werk Zur Logik der Sozialwissenschaften publiziert hatte. Habermas wirft Gadamer vor, den Charakter des von ihm als nur sprachlichen beschriebenen Weltzugangs zu verkennen. Diese Sprachlichkeit bzw. Ontologisierung der Sprachlichkeit würde einen Konsens voraussetzen, den es nicht gibt: »Gadamer sieht die fortlebenden Traditionen und die hermeneutische Forschung zu einem einzigen Punkt verschmolzen. Dem steht die Einsicht entgegen, dass die reflektierte Aneignung der Tradition die naturwüchsige Substanz der Überlieferung bricht und die Stellung der Subjekte in ihr verändert.« 129 Vgl. Habermas, Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik, S. 78: »Die Subjektivität des Sprechers, in deren Horizont die Erfahrung der Reflexion allein möglich ist, bleibt grundsätzlich ausgespart. Man kann sagen, dass eine gelungene linguistische Nachkonstruktion den unbewusst funktionierenden Sprachapparat ins Bewusstsein hebt.« 127 Vgl. a. a. O., S. 80. 128 A. a. O., S. 82 f. 129 Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, S. 302. 126
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Der von Heidegger und Gadamer propagierte sprachliche Daseinsvollzug setzt, so Habermas, die konsensuale Aufnahme der Sprache voraus. Dem setzt Habermas entgegen, dass das Dasein sich diesem Konsens nicht nur, aber auch widersetzt. Die Aufnahme der Sprache bzw. sprachlichen Tradition ist nur dann ein Verstehen, wenn sie auch eine kritische Distanzierung beinhaltet, die von Gadamer nicht gesehen wurde: »Gadamer verkennt die Kraft der Reflexion, die sich im Verstehen entfaltet.« 130 Gadamers sprachliche Universalität setze eine Objektivität der Tradition voraus, die es nicht gibt. 131 Die Kritik Habermas’ mündet in eine Ideologiekritik, insofern er diese von Gadamer erklärte Objektivität der Überlieferung oder der Vorurteilsstruktur als zu hinterfragende Ideologie betrachtet, als eine verabsolutierte Autorität, deren Macht zu beschneiden ist. Habermas erkennt gerade in der Sprache eine möglicherweise verhängnisvolle Meta-Institution, die »auch ein Medium von Herrschaft und sozialer Macht« ist. 132 Die Objektivität, die Gadamer erkennt, ist nicht die der Sprache, sondern »konstituiert sich aus Sprache, Arbeit und Herrschaft«. 133 In seinem 1970 erschienenen Artikel Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik führt Habermas seine Kritik weiter aus. Die Annahme einer Universalität der Hermeneutik würde eine Objektivität und einen Konsens voraussetzen, der nicht existent ist. Bereits das Wissen darum, dass diese Objektivität gestört wird durch Missverständnisse, Verzerrungen und gewollte oder ungewollte Sprachverschiebungen macht diesen Konsens unmöglich: »Schon die implizite Kenntnis der Bedingungen systematisch verzerrter Kommunikation … genügt, um das ontologische Selbstverständnis der Hermeneutik, das Gadamer im Anschluss an Heidegger expliziert, in Frage zu stellen.« 134 Habermas hebt auf eine Hermeneutik des Verdachts ab, die diese A. a. O., S. 303. Vgl. a. a. O., S. 307: »Die Objektivität eines Überlieferungsgeschehens, das aus symbolischen Sinn gemacht ist, ist nicht objektiv genug. Die Hermeneutik stößt gleichsam von innen an die Wände des Traditionszusammenhangs; sie kann, sobald diese Grenzen erfahren und erkannt sind, kulturelle Überlieferungen nicht länger absolut setzen.« 132 Ebd. 133 Vgl. a. a. O., S. 309: »Der objektive Zusammenhang, aus dem soziale Handlungen allein begriffen werden können, konstituiert sich aus Sprache, Arbeit und Herrschaft zumal. An Systemen der Arbeit wie der Herrschaft relativiert sich das Überlieferungsgeschehen, das nur einer verselbständigten Hermeneutik als die absolute Macht entgegentritt.« 134 A. a. O., S. 359. 130 131
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den Konsens störenden Faktoren berücksichtigt, ja sogar berücksichtigen muss, um als Ideologiekritik die Schein-Objektivität zu entlarven. Das Beharren auf dieser Schein-Objektivität ist eine PseudoKommunikation, weil sie ein Verstehen impliziert, das gar nicht vorhanden sein kann: »Deshalb steht jeder Konsensus, in dem Sinnverstehen terminiert, grundsätzlich unter dem Verdacht, pseudokommunikativ zu sein.« 135 Als Werkzeug dieser Entlarvung nennt Habermas die Psychoanalyse in ihrer Fähigkeit, die vorsprachlichen und voranalytischen Gründe der Kommunikation wahrzunehmen. Die Kritik an der Universalität der Hermeneutik ist folgerichtig auch eine Kritik an der Ubiquität der Rhetorik. Rhetorik und Hermeneutik, soviel gesteht Habermus zu, bauen beiderseits auf der natürlichen sprachlichen Fähigkeit des Menschen auf: »Rhetorik und Hermeneutik sind als Kunstlehren entstanden, die ein natürliches Vermögen methodisch in Zucht nehmen und kultivieren.« 136 Als Kunstlehren besitzen diese jedoch weder eine erkenntnistheoretische noch eine kritische Funktion. Habermas unterscheidet zwischen einer Hermeneutik, die im Bunde mit der Rhetorik »der Anleitung und disziplinierten Ausbildung kommunikativer Kompetenz dient« und einer »philosophischen Hermeneutik«, welche sich auf »die Strukturen dieser Kommunikation besinnt«. 137 Wenn Habermas die Universalität der Hermeneutik mit dem Hinweis auf ihre Fixierung auf die bloße Sprachlichkeit bestreitet und gleichzeitig der Rhetorik zuschreibt, sich nicht um das Wahre, sondern um das Wahrscheinliche der Sprache zu bemühen, 138 so wirft er beiden vor, nicht auf das blicken zu können, was im nichtsprachlichen Bereich den sprachlichen Konsens verhindert, aber das Verstehen und den Aufbau von Sinn beeinflusst. Habermas wird seine scharfe Kritik in späteren Jahren inhaltlich einschränken – wie auch andererseits Gadamer durchaus Elemente von Habermas aufnimmt –, indem er im Rahmen einer »Universalpragmatik« einen tiefenpsychologisch erhärteten Grund des Verstehens anerkennt und auf diese Weise eine Objektivität beschreibt, die mit derjenigen Gadamers durchaus vergleichbar ist, die er als Fundament seiner universalen Hermeneutik erkannt hat. Dennoch blei135 136 137 138
A. a. O., S. 361. Habermas, Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik, S. 331. Vgl. a. a. O., S. 331 f. A. a. O., S. 334.
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ben mit Blick auf die Komplementarität von Hermeneutik und Rhetorik die kritischen Anfragen, inwiefern sie – als Betrachtung sprachlicher Reflexion und Konstruktion – in der Lage sein sollen, Teil eines Sinngeschehens zu sein, das sich nicht nur sprachlich vollzieht. Mit zwei Artikeln nahm Karl-Otto Apel Stellung zu der zwischen Habermas und Gadamer laufenden Debatte. Hatte sich Apel noch in Die Idee der Sprache von 1960 der hermeneutischen Philosophie verbunden gewusst, kommt es seit Ende der 1960er Jahre zu einer Distanzierung. In Szientistik, Hermeneutik und Ideologiekritik von 1968 argumentiert Apel ähnlich wie Habermas in seiner Gadamerkritik und kommt zu dem Schluss, dass Gadamer zu weit geht, »wenn er den Sinn der methodisch-hermeneutischen Abstraktion von der Wahrheitsfrage bestreitet und das Modell des Richters oder Regisseurs mit dem des Dolmetschers gleichsetzt«. 139 Der hermeneutische Erkenntnisakt darf nicht mit einem philosophischen Sprechen gleichgesetzt werden, das einen Wahrheitsanspruch verkörpert. Apel bestreitet die von Gadamer vorgeschlagene Einheit von Wahrheit und Methode in der Hermeneutik und stellt fest, dass der hermeneutischen Methode in ihrer Sinnerkenntnis ein »präreflexives Engagement« 140 vorausgeht, somit etwas, das nicht Teil der Methode ist und auch nicht durch sie erfasst oder bearbeitet werden kann. In seinem Artikel Szientismus oder transzendentale Hermeneutik von 1970 spricht Apel der Sprache durchaus eine auf den ersten Blick mit Gadamer vergleichbare Universalität zu, wenn er davon spricht, dass jedes Wort nicht nur Instrument der Kommunikationspartner sei, sondern die Bedingung der Kommunikation darstellt, da sie als »Institution der Institutionen« jede Art von Grundlage sozialer Interaktion legt und so eine »Metainstitution« ist. 141 Die Begründungsstruktur der sprachlich-hermeneutischen Universalität ist jedoch eine andere: Sprache vollzieht sich in einem Rahmen, den Apel beschreibt als »eine reale Experimentier- und Interpretationsgemeinschaft, in der zugleich eine ideale, unbegrenzte Gemeinschaft als Telos vorausgesetzt wird«. 142 Diese ideale Gemeinschaft setzt Apel voraus, um ein regulatives Prinzip in das hermeneutische Geschehen 139 140 141 142
Apel, Szientistik, Hermeneutik und Ideologiekritik, S. 117. Vgl. a. a. O., S. 118. Vgl. Apel, Szientismus oder transzendentale Hermeneutik, S. 210. A. a. O., S. 198.
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einzuführen, das er bei Gadamer vermisst. 143 Apel stößt sich an der These Gadamers, dass Verstehen vorrangig ein Verstehen des Anderen sei, nicht ein Besser-Verstehen. Mit Peirce und Royce versucht Apel die Ebene eines Verständnisses der Hermeneutik als Traditionsvermittlung zu durchbrechen und ein transzendentes, regulatives Prinzip ins Spiel zu bringen 144 und stellt Gadamer die Frage, »was die Hermeneutik überhaupt daran hindert, sich dem regulativen Prinzip der Peircen Sinnerklärung zu unterstellen, das doch den Fortschritt der Interpretation im Sinne metaszientifischer Objektivität sicherzustellen scheint«. 145 Dieses regulative Prinzip besteht für Apel »in der Idee der Realisierung einer unbegrenzten Interpretationsgemeinschaft, die jeder, der überhaupt argumentiert (also jeder, der denkt!), implizit als ideale Kontrollinstanz voraussetzt«. 146 Die Kritik, die Apel auf diese Weise an die rhetorische wie hermeneutische Universalität Gadamers richtet, ist diejenige, ob es überhaupt möglich ist, im komplementären Spiel von Rhetorik und Hermeneutik, wie es sich in der bloßen Traditionsvermittlung darstellt, eine Wahrheit und Objektivität zu erreichen und ausdrücken zu können. Die in den 1960er und -70er Jahren zwischen Gadamer und Habermas bzw. Apel geführte Diskussion ist exemplarisch für den umstrittenen philosophischen Umgang mit der Rhetorik. Nach vielen Jahrhunderten rückt die Rhetorik wieder in den Fokus der Philosophie, sicherlich angeregt durch verschiedene Autoren des 19. Jahrhunderts wie Nietzsche, aber mit wirklicher diskursiver Intensität erst mit den Autoren der Hermeneutik, begonnen mit Heidegger, weitergeführt mit Gadamer oder Ricœur, schließlich mündend bei den Autoren der Postmoderne wie Derrida oder de Man. Sie alle sind Träger einer bestimmten Interpretation der philosophischen Sprachwende, des »linguistic turn«, der in einer philosophischen Neubesinnung die Fundamente der Philosophie nicht mehr in einer wie auch immer beVgl. a. a. O., S. 214 f. Vgl. a. a. O., S. 205 f.: »In Royces Philosophie der Interpretation, welche die Peirce’sche Semiotik gewissermaßen aus der pragmatischen Kanttransformation in eine neoidealistische Hegeltransformation übersetzt, ist zweifellos die größte Nähe der amerikanischen Philosophie zur deutschen Tradition der Hermeneutik erreicht, die […] mit H.-G. Gadamers Konzeption der Traditionsvermittlung ebenfalls wieder auf die Linie Hegels zurückbiegt.« 145 Vgl. a. a. O., S. 208. 146 A. a. O., S. 215. 143 144
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schriebenen Metaphysik, sondern in der Sprache erkannte. Die Art und Weise, Philosophie zu betreiben, war immer abhängig vom Verständnis dessen, was Sprache eigentlich ist und welcher Einfluss der Sprache als solcher auf den philosophischen Diskurs zugebilligt wird. Von diesem Verständnis ist auch die Einschätzung der Relevanz der Rhetorik für die Philosophie abhängig. Die Geschichte von Rhetorik und Philosophie ist lesbar als eine Geschichte des Sprachverständnisses. Der »linguistic turn« der Philosophie stellt eine wichtige Markierung dieser Geschichte dar, die Konsequenzen für das Verhältnis zur Rhetorik haben musste.
1.3 Problemfelder Die Diskussion, die zwischen Habermas und Apel auf der einen Seite sowie Gadamer auf der anderen Seite in den 1960er und zu Beginn der 1970er Jahre geführt wurde, verweist auf tiefgehende Unterschiede im sprachanalytischen und hermeneutischen Sprachverständnis. Diese haben Konsequenzen für die Frage einer Einordung der Rhetorik in den philophischen Diskurs. Die Frage, die in jener Diskussion behandelt wurde, verweist auf verschiedene Problemfelder, die beim Nachdenken über das Verhältnis von Rhetorik und Philosophie vor dem Hintergrund des sprachanalytischen und hermeneutischen Sprachverständnisses beachtet werden müssen.
Die Frage von Offenheit und Geschlossenheit Sprachpragmatik wie Hermeneutik sehen sich als Träger der linguistischen Wende der Philosophie. Während die Sprachpragmatik vorrangig auf den sprachlichen Akt selbst blickt, sieht die Hermeneutik die Sprache in ihrer Abhängigkeit und Verwiesenheit auf dasjenige, was sie hervorgebracht hat und auf den Kontext, in den sie gestellt wird. Die konkrete sprachliche Formulierung ist Teil eines sie umfassenden Geschehens, auf das hin sie zu öffnen ist. Gadamer spricht von einem »dialogischen Prinzip« der Sprache, von einer »Brücke« der Sprachlichkeit, die der (sprachpragmatischen) »Schranke« entgegenzusetzen ist:
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Problemfelder
»Brücke oder Schranke. Brücke, durch die der eine mit dem anderen kommuniziert und über dem fließenden Strome der Andersheit Selbigkeiten aufbaut, oder Schranke, die unsere Selbstaufgabe begrenzt und uns von den Möglichkeiten abschrankt, uns selber je ganz auszusprechen und mitzuteilen.« 147
Es ist offensichtlich, dass solche Bilder wie »Brücke« oder »Schranke« eine vereinfachende und polarisierende Wirkung haben, dennoch weisen sie auf eine durchaus vorhandene Akzentuierung von Hermeneutik und Sprachanalytik hin. Auch die sprachpragmatische Analyse beschränkt sich nicht auf die Betrachtung einer sprachlichen Formulierung, auch sie sucht Entstehensgründe, soziale Faktoren usw. einzubinden. Habermas definiert seine Universalpragmatik als die »Aufgabe, universale Bedingungen möglicher Verständigung zu identifizieren und nachzukonstruieren«. 148 Neben der sprachlichen Kommunikation existierende Formen, »andere Formen des sozialen Handelns«, seien »Derivate verständigungsorientierten Handelns«. 149 Dieser Zugang zur Sprache ist dem hermeneutischen genau entgegengesetzt: analysiert jener die Sprache als Abkünftigkeit eines ihr Vorgängigen, nimmt die Sprachpragmatik die Sprache als Grundlage, aus ihr heraus nichtsprachliches Handeln verständlich zu machen. Habermas sieht den Unterschied zwischen hermeneutischer und sprachpragmatischer Analyse in der Semantik: wo die Hermeneutik die Sprache als Äußerung der Welt fasst, setzt die Sprachpragmatik auf das Verhältnis der Sprache zur Tatsache: »So beschränken sich, von entgegengesetzten Punkten ausgehend, die analytische und die hermeneutische Philosophie auf semantische Aspekte, nämlich einerseits auf das Verhältnis von Satz und Tatsache, andererseits auf die einer natürlichen Sprache im ganzen eingeschriebene grundbegriffliche Artikulation der Welt.« 150
Die Sprachpragmatik sieht einen Text als Grundlage zu explizierenden Handelns bzw. Geschehens, die Hermeneutik sieht einen Text in seiner Sprachlichkeit ebenfalls als Grundlage ihrer Analyse, betrachtet ihn aber als abhängig und letztlich defizitär gegenüber dem, der den Text verfasst hat bzw. die Sprache äußert. Diese nicht aufzulösende Defizienz der Sprache bedeutet eine der Sprache innewohnende 147 148 149 150
Gadamer, Text und Interpretation, S. 336 f. Habermas, Was heißt Universalpragmatik, S. 174. Vgl. a. a. O., S. 174 f. Habermas, Hermeneutische und analytische Philosophie, S. 78.
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Offenheit, die es in dieser Art für die Sprachpragmatik nicht geben darf, weil sie nicht Teil ihrer Methodik sein kann, da es ihr Ziel ist, das Geschehen der Sprache selbst, den Sprechakt, zu analysieren, nicht aber, die Bedingungen zu betrachten, dass ein bestimmter sprachlicher Akt entstehen konnte. Die Sprachpragmatik sucht in ihrer Analyse eine Letztbegründung des Sprachgeschehens zu beschreiben, die es für die Hermeneutik nicht gibt. Deshalb wendet sich Gadamer gegen die Fixierung auf die Aussagelogik und nennt die Sprache eine »Suche«. Es ist die Suche nach dem richtigen Ausdruck, der ständig neue Versuch, eine Wahrheit begrifflich fassen zu können, in dem Wissen, dies letztlich nicht zu vermögen. Damit erkennt die Hermeneutik in der sprachlichen Formulierung selbst, in der Rede, im Text, in der Aussage eine immanente Offenheit, die es für die Sprachpragmatik nicht geben kann. Diese Offenheit ist letztlich darin begründet, dass das einzelne Wort bzw. die sprachliche Formulierung ihren Wert erst als Teil eines Gesprächs erhält. Gadamer bezieht sich ausdrücklich auf Jacques Lacan, wenn er sagt, »[…] dass das Wort, das nicht an einen anderen gerichtet ist, ein leeres Wort ist. Das macht den Primat des Gespräches aus. […] Erst die Antwort, die wirkliche oder die mögliche, macht ein Wort zu einem Wort.« 151 Indem das Wort seinen Sinn in der gegenseitigen Verwiesenheit zu einem anderen Wort erhält, besitzt es eine Offenheit, welche die sprachpragmatische Analyse in dieser Form nicht wahrnehmen will. Diese Offenheit drängt die Hermeneutik dazu, sich nicht nur mit der Aussage selbst und ihrer Funktionalität oder ihrem Aussageinhalt zu beschäftigen, sondern mit den Gründen ihrer Entstehung, im weiteren Sinn mit der Wirkungsgeschichte, mit Traditionen, Vorurteilen und Meinungen, im engeren Sinn schließlich mit der Rhetorik, die ja die Wege der Konstruktion dieser Aussage beschrieben hat. Zudem ist es in besonderer Weise die Rhetorik, welche die Leerstellen sprachlicher Formulierungen zu füllen bzw. innerhalb der Formulierung Leerstellen und Floskeln zu schaffen vermag. 152 Gadamer sieht diese Offenheit der Sprache neutral, er akzeptiert ihre dauerhafte Suche nach sich selbst, ihre ihr inhärente Unfähigkeit, sich selbst ausdrü-
Gadamer, Destruktion und Dekonstruktion, S. 364 f. A. a. O., S. 365: »In denselben Erfahrungsbereich gehört, dass alle Rhetorik, eben weil sie keinen beständigen Austausch von Frage und Antwort, von Rede und Gegenrede zulässt, immer Einschläge leerer Worte enthält, die wir als Floskeln oder ›bloße Redensarten‹ kennen.« 151 152
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cken zu können. Wo diese Unfähigkeit unter negativen Vorzeichen gesehen wird, da sich die Sprache in einer Krise befindet, 153 und die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten für die Interpretation sichtbar werden, gelangt man zur Hermeneutik des Verdachts. Sie geht auf Ricœur zurück, der jedes Verstehen von Sprache unter einen kritischen Vorbehalt stellt und die Interpretation als Wiederherstellung des Sinns aufgrund dieser Defizienz als »Schule des Zweifels« bezeichnet. 154 Dem Einwand der Logik, dass eine derartige Sprache trügerisch sei, begegnet Ricœur mit dem Hinweis darauf, dass der Doppelsinn unaufgebbarer Bestandteil der sprachlichen Reflexion ist: »Darum legitimiert man die Hermeneutik nur dann wirklich radikal, wenn man in der Natur des reflektiven Denkens selbst das Prinzip einer Logik des Doppelsinns sucht.« 155 Der Sprache liegt eine grundlegende Gespaltenheit zugrunde, eine Zerrissenheit, die eine Offenheit des Sinns bestehen lässt, in der Derrida seine Konzeption der Spur entwickelt – wie auch Lévinas und Ricœur es tun. Die Spur, gerade in ihrer Eigenschaft als Zeichen einer gleichzeitigen An- und Abwesenheit, ist sinnstiftend. 156 Im Buch Glas hat Derrida diesen Weg derart radikal fortgesetzt, dass die Grenzen zwischen Philosophie und Literatur, zwischen Bewusstem und Unbewusstem verschwimmen. Pöggeler merkt zu diesem Buch an: »Ist das nicht der Sache nach ein neuer Sieg des Rhetorischen?« 157 Ob Derrida von der sich immer wieder entziehenden Spur spricht, Lévinas über den Anderen, Ricœur über den Sinnüberschuss der Sprache oder Gadamer von der dauernden Suche der Sprache: die Sprache in ihrer konkreten Formulierung ist gekennzeichnet von einer Leerstelle, die sie nicht zu schließen vermag. Diese Offenheit der Sprache drängt denjenigen, der sie zu ergründen versucht, an ihre Ränder, an dasjenige, was in der Sprache bzw. der konkreten sprachlichen Formulierung anwesend und abwesend zugleich ist. Die Rhetorik, in ihrem Bemühen, die Konstruktion der Sprache zu erfassen, die Entstehung einer Formulierung zu beeinflussen, ist natürlicher Partner desjenigen, der die Ricœur, Die Interpretation, S. 40: »Die Krise der Sprache, aufgrund derer wir heute zwischen Entmystifizierung und Wiederherstellung des Sinns hin und her schwanken, offenbar zu machen, das ist der tiefe Grund, der unsere Problemstellung motiviert.« 154 A. a. O., S. 45. 155 Ricœur, Existenz und Hermeneutik, S. 29. 156 Vgl. Derrida, Grammatologie, S. 114. 157 Pöggeler, Gadamers philosophische Hermeneutik und Rhetorik, S. 212. 153
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Die Diskussion um die Rhetorik
Sprache auf ihren Sinngehalt hin auflösen will, und ist im Rahmen einer rhetorischen Philosophie als solcher darzustellen. Auch die sprachpragmatische Theorie erkennt eine grundlegende Offenheit der Sprache. Habermas kritisiert Wittgenstein, dass dieser »zu positivistisch« Sprache als »Reproduktion fester Muster« denken würde: »so als würden die sozialisierten Einzelnen dem Ganzen aus Sprache und Tätigkeiten subsumiert. Das Sprachspiel gerinnt unter seinen Händen zu einer opakten Einheit.« 158 Eine derartige monologische »Kalkülsprache« würde die Sprache aus dem Gespräch ausschließen. 159 Die Perspektive der Sprachpragmatik ist diejenige, von außen auf die Sprache zu blicken und die ihr innewohnende Offenheit zu überwinden, während die Hermeneutik um die prinzipielle Unüberwindbarkeit dieser Offenheit weiß. Gerade die Dekonstruktion beschreibt den Weg des Verstehens als den Nachvollzug eines sich ständig dem Verstehen Entziehenden und Entgleitenden. Diese sich im Verstehen immer neu entwickelnde Offenheit verweist auf die Rhetorik als diejenige, die mit dieser Offenheit arbeitet oder sie sogar bewusst einsetzt. Die Hermeneutik betrachtet die Rhetorik nicht als Teil der zu überwindenden Defizienz von Sprache, sondern – im Wissen um die eigene Sprachlichkeit und ihre Defizienz – als diejenige, die sie selbst mitkonstruiert hat. Die Anlehnung an die Rhetorik ist daher auch Vergewisserung ihrer selbst in ihrer eigenen Sprachlichkeit. Diesen Weg kann die Sprachpragmatik nicht mitgehen, die sich insofern aus dem sprachlichen Diskurs hinausstellt, als sie eine der Sprache externe Methodik der Spracherläuterung anzielt und ein geschlossenes System der Sprache zu entdecken sucht. Beide Wege – der sprachanalytisch-sprachpragmatische wie auch der hermeneutische – sind zwei verschiedene philosophische Perspektiven auf die Sprache hin, und diese unterschiedliche Perspektive bedingt ein unterschiedliches Verständnis der philosophischen Relevanz der Rhetorik.
Epistemologie Wenn Heidegger die Rhetorik als »primäre Hermeneutik« bezeichnet oder Gadamer die Rhetorik als Komplementär der philosophischen Vgl. Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, S. 277. Vgl. a. a. O., S. 278: »Die Eindeutigkeit der Kalkülsprachen ist durch ihren monologischen Aufbau, d. h. durch eine Konstruktion erkauft, die Gespräche ausschließt.« 158 159
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Problemfelder
Hermeneutik, dann schreiben beide der Rhetorik eine unverzichtbare erkenntnistheoretische Funktion zu, die allerdings sehr umstritten ist. So fasst W. Stroh die verschiedenen Vorwürfe zusammen, wenn er sagt, dass Gadamers Äußerungen über die Rhetorik zu der »irrigen Meinung« geführt haben, »es gehe bei der Rhetorik um eine Art populäre Weise des Erkennens (bzw. der Konsensfindung), die von der wissenschaftlichen abweiche.« 160 Er fährt fort: »Aber die von der Rhetorik angestrebte Wahrscheinlichkeit ist nur ein Mittel, um dem Hörer bestimmte gewünschte Überzeugungen beizubringen. Die Rhetorik ist nicht Anwalt irgendeines Wahrheitsanspruchs, sondern ihres jeweiligen Klienten. So sind auch höchst problematisch Gadamers weitere, damit zusammenhängende Thesen: (1) dass die ›theoretischen Mittel der Auslegungskunst‹ (Hermeneutik) ›weitgehend der Rhetorik entlehnt‹ seien und (2) dass (erst) durch Rhetorik ›Wissenschaft zu einem gesellschaftlichen Faktor des Lebens‹ werde.« 161
Strohs Kritik hebt – wie auch andere Kritiken – darauf ab, dass die Rhetorik in einer bestimmten Lebenswirklichkeit steht, in der sie überzeugen muss und sich um die Darstellung von Wahrscheinlichkeiten müht, nicht aber um Wahrheiten. Stroh spielt hier auf einen Grundkonflikt an, um den es auch in der Hermeneutik Gadamers geht: die Frage der Wissenschaftlichkeit der Geisteswissenschaften bzw. die Frage, inwiefern man von einer Geisteswissenschaft als Wissenschaft sprechen kann obwohl sie nicht den methodischen Anforderungen der Naturwissenschaften genügt. So wirft Habermas der Hermeneutik das Fehlen genau dieser den Naturwissenschaften entsprechenden Analyse der Rhetorik vor: »Das Versäumnis, die Darstellungsfunktion der Sprache, also die Bedingungen für Referenz und Wahrheit von Aussagen überzeugend zu analysieren, bleibt die Achillesferse der gesamten hermeneutischen Tradition. Dieses Defizit spiegelt eine seit dem Renaissancehumanismus eingetretene Entfremdung der Rhetorik und der Grammatik von der Logik.« 162
Perelman verortet seine Neue Rhetorik genau an dieser Stelle und versteht sie als Versuch, die Rationalität der in der Rhetorik präsen-
160 161 162
Vgl. Stroh, Die Macht der Rede, S. 45. A. a. O., S. 46. Habermas, Hermeneutische und analytische Philosophie, S. 77.
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Die Diskussion um die Rhetorik
ten Argumentationstheorie auszuarbeiten. 163 Diese Theorie versteht sich nicht als das Resultat einer Ausarbeitung, die naturwissenschaftlichen Methoden folgt, 164 sondern sieht sich in der Tradition der aristotelischen Schlüsse der Darstellung der Dialektik in der Topik. 165 Perelman fasst seine Methode wie folgt zusammen (in Abgrenzung zur Psychologie): »Unsere Methode ist jedoch eine andere. Wir versuchen zuallererst, verschiedene Argumentationsstrukturen (structures argumentatives) nach Unterscheidungsmerkmalen zu beschreiben. […] In diesem Sinne wollen wir versuchen, eine Argumentationstheorie dadurch zu erarbeiten, dass wir die Beweismittel analysieren, deren man sich in den Geisteswissenschaften, im Recht und in der Philosophie bedient.« 166
Perelman schreibt der Rhetorik eine ihr eigene Rationalität zu, die mit den Kriterien der bis dahin üblichen formalen Logik nicht darstellbar ist, und hebt darauf ab, dass der rhetorische Diskurs deshalb nicht in formallogischen Kriterien beschreibbar ist, da er sich in ständig neuen Bezügen konstituiert. 167 Indem Perelman einerseits logische Strukturen der Argumentation im Diskurs selbst aufdeckt, die Rationalität dieses Diskurses selbst jedoch in Frage stellt durch mangelnde Kenntnis jeweils wechselnder Bezüge, in denen der Diskurs stattfindet, setzt er die faktische Rede in das Verhältnis zu einer idealen Rede und befindet sich ganz in der Nähe der »idealen Sprechsituation« der Habermas’schen Diskurstheorie. 168 Die Kategorialität der formalen Logik wird damit nicht auf die Rhetorik als Ganze angewandt – die so weder beschreibbar ist noch sein will, da sie mit Wahrscheinlichkeiten arbeitet –, sondern auf ihre internen Strukturen, die argumentationstheoretisch ausgelegt werden. 163 Vgl. Perelman, S. 17: »Wer dagegen an die Existenz vernünftiger Wahlhandlungen glaubt, die durch Beratungen und Diskussion der unterschiedlichen Lösungen vorbereitet werden, kommt, wenn er sich über die gebräuchlichen intellektuellen Methoden Klarheit verschaffen will, ohne eine Theorie der Argumentation, wie sie die neue Rhetorik bietet, nicht aus.« 164 Vgl. a. a. O., S. 2 f. 165 Vgl. a. a. O., S. 6. 166 A. a. O., S. 13.14. 167 Vgl. Perelman, Das Reich der Rhetorik, S. 55: »Da sich die Argumentation auf Thesen richtet, denen unterschiedliche Öffentlichkeiten mit jeweils unterschiedlicher Intensität zustimmen, kann der Status der in eine Argumentation eingehenden Elemente nicht wie in einem formalen System unveränderlich sein, da er ja von der effektiven oder angenommenen Übereinstimmung des Auditoriums abhängt.« 168 Vgl. Kopperschmidt, Neue Rhetorik als Argumentation, S. 110 f.
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Problemfelder
Gadamer hat in Wahrheit und Methode die humanistische Tradition als Basis der Geisteswissenschaften herausgearbeitet und ausdrücklich die Annahme einer den Naturwissenschaften vergleichbaren formalen Logik abgelehnt. Natur- und Geisteswissenschaften – das hatte Gadamer aus einer Rede von Helmholtz aus dem Jahre 1862 gelernt – verfügen über zwei Arten der Induktion: die logische und die künstlerisch-instinktive, die somit »nicht logisch, sondern psychologisch« zu unterscheiden sind. 169 Die Geisteswissenschaften zielen auf das Verständnis der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt und verlangen nach einer verstehenden Verarbeitung der historischen Erfahrung, zielen auf »Reichtum des Gedächtnisses und Geltenlassen von Autoritäten«. 170 Diese humanistische Tradition bildet den Horizont von Gadamers Hermeneutik und in diesem Horizont nimmt die Rhetorik ein als untrennbares Glied des Bildungsideals eine wichtige Stellung ein: »So wurde dieses Ideal im Altertum bekanntlich ebenso sehr von den Lehrern der Philosophie wie von denen der Rhetorik proklamiert.« 171 Gadamer machte in seinem Sprechen von der Komplementarität der Rhetorik diese noch mehr als Heidegger zum unverzichtbaren Bestandteil philosophischer Erkenntnis. Das Wissen, das Gadamer gewinnen will, ist dasjenige, das seine Gültigkeit bereits in der Tradition bewiesen hat, das als Teil der »Bildung« den Menschen »gebildet« hat. In der Einleitung zu Wahrheit und Methode schreibt Gadamer über das »hermeneutische Phänomen«: »Es geht überhaupt nicht in erste Linie um den Aufbau einer gesicherten Erkenntnis, die dem Methodenideal der Wissenschaft genügt – und doch geht es um Erkenntnis und um Wahrheit auch hier.« 172 Für Gadamer ist nicht die Erkenntnis entscheidend, die methodisch gewonnen werden kann, sondern diejenige, die sich als wirkmächtig erwiesen hat. Hier erweist sich bereits Gadamers Hermeneutik in der Nähe der Rhetorik, der es eben genau um die Konstruktion von Wirkmacht geht. Rhetorik und Hermeneutik stehen in klarem Gegensatz zum naturwissenschaftlichen Methodenbegriff. Deshalb kann Gadamer auch von einem »antirhetorischen Methodologismus der Neuzeit« 173 sprechen: während die wissenschaftliche Methodik
169 170 171 172 173
Vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 11. Vgl. ebd. A. a. O., S. 25. A. a. O., S. 1. A. a. O., S. 25.
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Die Diskussion um die Rhetorik
eine reine, formale Logik sucht, die sich eben durch ihre Unabhängigkeit gegenüber dem Geschichtlichen und Kontingenten auszeichnet, schaut die Hermeneutik gerade auf das, was sich geschichtlich erwiesen hat und über dessen sprachliche Konstruktion die Rhetorik Aufschlüsse gibt. Die Hermeneutik Gadamers hat einen rezeptiven Grundzug, ihre Erkenntnis erlangt sie nicht aus sich selbst heraus, sondern aus dem Umgang mit dem Anderen: der Tradition, der Bildung, der Sprache. Die Hermeneutik kann nicht für sich existieren, sondern immer nur in der Arbeit an dem, was sie ergründen will. Die Rhetorik ist die Lehre der Formulierung dessen, was die Hermeneutik ergründen will, und somit notwendiges Werkzeug der Hermeneutik. Sie beschreibt nicht selbst einen Weg der Erkenntnis, ist aber dennoch epistemologisch relevant, da sie die Wege der Formulierung der Erkenntnis beschreibt, welche die Hermeneutik re-konstruieren will.
Persuasivität und Performativität Die Rhetorik ist nicht als eine Sprachtheorie entstanden, sondern als Kunst der Rede, als eine Theoretisierung der Konstruktion einer Rede. Eine Rede soll beim Zuhörer etwas bewirken bzw. den Zuhörer von einer bestimmten Meinung überzeugen. Dieses grundsätzliche Ziel einer Rede berücksichtigt die Rhetorik und insofern verfügt ihre Theorie über einen persuasiven und performativen Charakter. Diese Eigenschaft hat sie aus Sicht der Philosophie da angreifbar gemacht, wo sie sich zu sehr auf die philosophische Wahrheitsfrage zu beziehen scheint. Persuasivität und Performativität der Rhetorik scheinen unvereinbar mit der objektiven Darstellung einer Wahrheit und wurden seitens der klassischen Philosophie als manipulierend und verzerrend kritisiert. Die an der Rhetorik interessierte Philosophie versucht nun oftmals, genau diese persuasive und performative Ausrichtung der Rhetorik als positiven Wert zu sehen und in eine neue, rhetorisch geprägte Sprachphilosophie zu integrieren. So schreibt Hetzel in seiner Einleitung zur Wirksamkeit der Rede, es sei zu unterscheiden zwischen der rhetorischen Rede und der philosophischen Konzeption von Sprache, und Ziel seiner Arbeit sei es, »die über ein begründungslogisches Konzept von Sprache hinausweisenden Dimensionen
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der Rede zurückzugewinnen«. 174 Perelman begreift seine Neue Rhetorik als eine Theorie der Argumentation, »die mit Hilfe von Reden gezielt Einfluss auf Menschen zu nehmen versucht«. 175 Oesterreich knüpft in seiner Fundamentalrhetorik sehr bewusst an die existentialontologischen Begründungen von Heidegger und Gadamer an, stellt aber auch Aporien fest, die letztlich in der Missachtung des persuasiven Charakters der Rhetorik zu suchen sind: »Gadamers universalistische und ubiquitäre Fassung des Rhetorischen führt als Kehrseite des Bedeutungszuwachses auch die Gefahr einer konzeptionellen Entgrenzung und des damit verbundenen Präzisionsverlustes mit sich. Ferner wird dem Rhetorischen bei aller Wertschätzung in sinnkonstitutiver Hinsicht ein ursprünglich produktiver Charakter doch abgesprochen. Es bleibt bei Gadamer auf die atopischen Sinnbildungen der Hermeneutik und bei Apel auf die sinnstiftende Tätigkeit der dichterischen Sprache angewiesen.« 176
Oesterreich kritisiert einerseits, dass sich eine ubiquitäre Rhetorik begrifflich wie inhaltlich nicht mehr fassen lässt. Andererseits – und das ist die schwerwiegendere Kritik – wird die Rhetorik ihres »produktiven Charakters« beraubt, da sie in ihrer Produktivität angewiesen ist auf ein anderes, sei es auf die hermeneutischen Sinnbildungen, wie sie Gadamer beschreibt, oder auf die Dichtung, wie sie Apel in Die Idee der Sprache beschreibt. 177 Die Produktivität der Rhetorik ist ihre Persuasivität, ihr Abheben auf eine bestimmte Wirkung oder Überzeugung. Dieser persuasive Grundaspekt des Rhetorischen wird bei Gadamer durch seine Sicht auf eine eng an die Hermeneutik angebundene Rhetorik in den Hintergrund gedrängt zugunsten einer Fixierung auf das sich zwischen Doxa und Episteme vollziehende Geschehen. Die Rhetorik, so Oesterreich, ist eben nicht entstanden als Schwesterdisziplin der Philosophie, die sich auf die Episteme ausrichtet, sondern mit dem Ziel, überzeugen zu können und Kommunikation gelingen zu lassen. Oesterreich anerkennt die große Leistung Gadamers, der Rhetorik wieder einen bedeutenden Platz in der Geistesgeschichte zugesprochen zu haben. Aber er kritisiert, dass diese als Vgl. Hetzel, Die Wirksamkeit der Rede, S. 11. Vgl. Perelman, Die neue Rhetorik, Bd. 1, S. 12. 176 Oesterreich, Fundamentalrhetorik., S. 33. 177 Vgl. Apel, Die Idee der Sprache, S. 37: »Dichtung […] eröffnet und begründet sprachlich allererst die öffentliche Ausgelegtheit von Mensch und Welt, an der die rhetorische Topik und die zugehörige politische Zweckpragmatik einer geschichtlichen Epoche ihre ›Richtigkeit‹ bemisst.« 174 175
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Die Diskussion um die Rhetorik
Komplementär der Hermeneutik in ein Geschehen eingeordnet wird, das mit der Lebenswirklichkeit, in der die Rhetorik in ihrer Persuasivität entstanden ist, nichts mehr oder nur wenig zu tun hat. Es ist berechtigt zu sagen, dass Heidegger die Persuasivität der Rhetorik nicht nur missachtet, sondern sogar negiert hat, wenn er feststellt, dass das Überzeugen gar nicht die ursprüngliche Aufgabe der Rhetorik gewesen sei: »Die Rhetorik hat als solche nicht die Aufgabe des πεῖσαι (Rhet. A 1355 b 10), sie hat nicht eine bestimmte Überzeugung über eine Sache auszubilden, bei den anderen ins Werk zu setzen, sondern sie stellt nur eine Möglichkeit des Redens dar für den Sprechenden, sofern er entschlossen ist zu sprechen in der Absicht des πεῖσαι.« 178
Als Beleg nennt Heidegger 1355b der aristotelischen Rhetorik, wo es heißt, dass es nicht die Aufgabe der Rhetorik sei, »zu überreden, sondern zu erkennen, was, wie in allen übrigen Wissenschaften, jeder Sache an Überzeugendem zugrunde liegt«. Heidegger weist im Gefolge von Aristoteles darauf hin, dass die Rhetorik als Theorie der Rede nicht selbst überzeugt, sondern beurteilt, was überzeugen kann. Die Frage, die man an Heidegger herantragen muss, ist allerdings die, ob die Tatsache, dass die Rhetorik als Beurteilung oder Konstruktion einer persuasiven Rede sich selbst von der Persuasivität vollständig entbinden kann, oder ob sie nicht als Konstruktion der Rede derart eng mit der Rede verbunden ist, dass eine solche Losbindung unmöglich ist. Die antike Rhetorik unterschied noch nicht zwischen einem argumentativen Überzeugen und einem affektiven Überreden: 179 Wenn Aristoteles die Rhetorik definiert als das Auffinden von Überzeugungsgründen, dann sind das die Vernunftgründe, um die es auch der Philosophie geht. Umgekehrt ist damit auch die philosophische Argumentation nach den Maßstäben des antiken Denkens persuasiv, insofern sie vernünftig ist. Heidegger trifft also nicht das antike Denken, wenn er in der Interpretation der aristotelischen Rhetorik die Vernünftigkeit von der Persuasivität trennt bzw. feststellt, dass durch eine grundlegende Rationalität der Rhetorik die Persuasivität in ihr keine Rolle spielt. Andererseits lenkt Heidegger die Aufmerksamkeit auf eine Fragestellung, die nicht aus antiker, sondern aus moderner Perspektive
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Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, S. 115. Vgl. Hetzel, Die Wirksamkeit der Rede, S. 94.
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Problemfelder
möglich ist: Inwiefern sind die Rede selbst und die Rhetorik als Lehre der Konstruktion dieser Rede zu differenzieren? Inwiefern ist auch das Schaffen persuasiv-nichtrationaler Sprache rationalen Kriterien unterworfen oder zumindest um Rationalität bemüht, unter Umständen sogar in dem Wissen, nicht mit Rationalität überzeugen zu wollen? Es ist innerhalb der Rhetorik zu differenzieren zwischen einer ihr natürlicherweise immanenten Persuasivität und Performativität, von der sie sich gar nicht lösen kann, und ihrem Grundcharakter als Reflexion von Persuasivität und Performativität. Heidegger hat diese Differenzierung zu Unrecht bereits bei Aristoteles erkannt und eine Rhetorik ohne Persuasivität beschreiben wollen. Trotz der Illegitimität dieses Versuchs zeigt er auf, dass zumindest bestimmte Aspekte der Rhetorik nicht deckungsgleich mit der Persuasivität sind und daher auch isoliert von dieser betrachtet werden können. Es ist nicht nur zu unterscheiden zwischen einer rhetorischen Rede und einer philosophischen Sprache, sondern auch innerhalb der Rhetorik zwischen der von der Rhetorik angezielten Rede und der Idee von Sprache, die der Rhetorik zugrunde liegt. Heidegger und Gadamer binden die Rhetorik als Teil ihrer Hermeneutik ein, d. h. auf die Fragestellung hin, inwiefern die Rhetorik Teil des hermeneutischen Arbeitens ist und inwiefern sie eine Antwort auf die hermeneutische Frage gibt. Die Rhetorik wird in die Hermeneutik eingebunden, weil sie Teil der Sinnerschließung ist, welche die Hermeneutik freizulegen sucht. Damit wird die Rhetorik streng genommen als solche gar nicht ernst genommen, da sie nicht danach befragt wird, ob sie gute Techniken der Redeerstellung darbietet und damit persuasiv ist, sondern danach, was sie produktiv zur hermeneutischen Fragestellung beitragen kann. Die Annahme einer Komplementarität der Rhetorik zur Hermeneutik beachtet nicht das Proprium der Rhetorik (Persuasivität, Performativität), sondern das in die Hermeneutik Integrierbare: den Entwurf einer Idee von Sprache, das Schauen darauf, inwiefern die Sprache einen Sinn vermittelt, welches Welt- und Menschenbild aus der rhetorischen Sprachbetrachtung spricht, welche in der Rhetorik entwickelten Techniken Einfluss auf das in der Sprache ausgedrückte Weltbild haben. Die Frage der Relevanz der Persuasivität darf und soll aus dieser Perspektive nicht beantwortet werden auf die Frage hin, welche Relevanz sie für die Rhetorik besitzt, sondern welche Relevanz sie für eine hermeneutische Philosophie besitzt.
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2. Phänomenologie
Die Auseinandersetzung zwischen der Sprachanalytik bzw. der Sprachpragmatik und der Hermeneutik um das Sprachverständnis und damit um die Möglichkeit einer Einbindung der Rhetorik in den philosophischen Diskurs rührt an dem Grundverständnis der Philosophie und an der Frage, inwiefern sie sich einer objektiven formalen Logik verpflichtet fühlt oder inwiefern sie sich als rationale Deutung einer den Menschen umgebenden Welt begreift, die letztlich nicht rational auflösbar ist. In dieser Frage kommt der Phänomenologie Husserls eine Schlüsselstellung zu, gerade vor dem Hintergrund, dass sich Husserl in seinen frühen Werken um den Entwurf einer an der »reinen Logik« orientierten Phänomenologie bemühte, die er in seinen späten Werken enger an der empirischen Welt, der »Lebenswelt« ausrichtete. Die hier anklingenden Veränderungen und Verschiebungen im Werk Husserls sind für die heutige Forschung schwierig zu deuten, was vor allem, aber nicht nur damit zusammenhängt, dass in den letzten Jahrzehnten noch unveröffentliche Schriften Husserls das Licht der Öffentlichkeit erblickten und die Veröffentlichung von neuen Schriften Husserls in den Husserliana noch nicht abgeschlossen ist. Die Spannung im Werk Husserls zwischen einer Ausrichtung auf die reine Logik und der Ausrichtung auf die »Lebenswelt« wurde aus verschiedenen Richtungen thematisiert: von metaphysikkritischen Autoren wie Heidegger oder Derrida, welche Husserl (gerade dem frühen Husserl) eine heimliche Metaphysik vorwarfen, die noch am Grundgedanken der Präsenz festhalten würde, aber auch von verschiedenen Autoren, welche die Stärke von Husserls Phänomenologie gerade in ihrer formallogischen Ausrichtung sahen. Diesen Kritiken ist der gemeinsame Grundzug zu eigen, die spätere Entwicklung Husserls nicht einzubeziehen – sei es, weil wichtige Schriften Husserls noch nicht veröffentlicht waren, sei es, weil Neugewichtungen in bereits veröffentlichten Schriften nicht in
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Die Krisis
angemessenem Ausmaß anerkannt wurden. 1 Durch die Veröffentlichung neuer Schriften – insbesondere durch Die Lebenswelt im Jahre 2008 in den Husserliana XXXIX – stellt sich immer klarer eine Orientierung der Phänomenologie Husserls heraus, welche die Möglichkeit der Integration der Rhetorik in den philosophischen Diskurs eröffnet und das Anliegen einer rhetorischen Philosophie begründbar macht. Husserl selbst hat sich nicht über die Rhetorik geäußert; auch die Sprache als solche wird bei ihm auffällig wenig beachtet. Aber indem er seine phänomenologische Philosophie auf Themen wie »Intersubjektivität« und »Lebenswelt« öffnet, schafft er den inhaltlichen Raum, den eine rhetorische Philosophie besetzen kann und der eine rhetorische Philosophie zudem phänomenologisch begründbar macht.
2.1 Die Krisis 1935 hielt Edmund Husserl in Wien einen Vortrag mit dem Titel Die Philosophie in der Krisis der europäischen Menschheit. Die Diagnose einer Krisis ist das bestimmende Thema seiner letzten Lebensjahre, sicherlich angeregt durch die Erfahrung des noch immer nachwirkenden Ersten Weltkriegs und der damaligen nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland, aber mit dieser Diagnose ohnehin im Einklang mit vielen Zeitgenossen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Untergang der europäischen Kultur vor sich sahen. Unter dem Titel Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie veröffentlichte Husserl 1936 einen ersten Teil seiner Krisis-Arbeit, die von ihm nicht mehr vollendet werden konnte. Husserl war zudem gezwungen, den ersten Teil in Belgrad zu veröffentlichen, da er als Jude nicht mehr in Deutschland publizieren Vgl. Zahavi, Husserls Phänomenologie, S. 147: »Lange Zeit war es aber auch eine vorherrschende Meinung, dass er trotz bester Absicht niemals fähig gewesen sei, sich aus den Fesseln einer klassischen Metaphysik der Präsenz zu befreien: Husserl habe niemals die Überzeugung aufgegeben, dass sowohl die Wirklichkeit als auch der Andere von einem reinen (leib- und weltlosen) transzendentalen Subjekt konstituiert würden und sein Denken sei deshalb fundamentalistisch, idealistisch und solipsistisch geblieben. Obwohl Husserl immer noch als ein Initiator respektiert werden müsse, sei seine Position von Heidegger endgültig überwunden worden, und spätere Phänomenologen, Hermeneutiker, Dekonstruktivisten und Sprachphilosophen hätten sich aus gutem Grund von ihm distanziert.«
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Phänomenologie
durfte. 1954 wurde das Werk dann posthum mit einigen noch nicht veröffentlichten Teilen in den Husserliana VI herausgebracht. Husserls Diagnose einer Krise des europäischen Geistes, die für ihn gleichzeitig eine Krise der Philosophie ist, rückt seine eigene, bisherige Philosophie in ein neues Licht und setzt zugleich in dieser Diagnose Akzente, die für die Begründung einer rhetorischen Philosophie wichtig sind.
Die reine Logik Mit der Krisis wurde eine wichtige Wende oder – je nach Interpretation: Weiterentwicklung – im Denken Husserls offensichtlich. Die Husserl’sche Philosophie der frühen Jahre, wie sie sich etwa in den Logischen Untersuchungen darstellt, war davon geprägt, eine Philosophie als eine »Neubegründung der reinen Logik und Erkenntnistheorie« 2 zu formulieren und somit eine Philosophie zu vertreten, die unvereinbar mit der Rhetorik ist. Dieses Anliegen einer reinen Logik hat die sprachphilosophische Konsequenz, eine Sprache anzustreben, die der »Idealen Sprache« der Sprachanalytik ähnlich ist. So schreibt Husserl, »es ist auf die Begriffe abzusehen, welche die Idee der theoretischen Einheit konstituieren«. 3 Für diese Begriffe gilt – wie für die Phänomenologie als ganze –, dass sie Teil eines in sich abgeschlossenen Systems sind, und sämtliche Dinge zu verbannen sind, die nicht integrierbar sind: »Jede Unklarheit, die ihr übrig bleibt, gibt einen günstigen Nährboden für allerlei Verwechslungen und Erschleichungen, für Verderbnis phänomenologischer Resultate, auch für Missdeutungen der ganzen phänomenologischen Methode.« 4 Damit wendet sich Husserl genau gegen das, wovon die Rhetorik lebt: sich die sprachlichen Unreinheiten zunutze zu machen. Wie sehen die Begriffe aus, die Husserl einbeziehen will? Es sind Träger von Bedeutung, »Ausdrücke«. Dabei ist Husserl sich bewusst, den Terminus »Ausdruck« in einem Sinne zu verwenden, der »manches ausschließt, was in normaler Rede als Ausdruck bezeichnet wird« und dass man so »der Sprache Zwang antun« muss. 5 Husserl beschränkt sich hierbei 2 3 4 5
Husserl, Logische Untersuchungen I, S. VII. Vgl. a. a. O., S. 243. Vgl. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie III, S. 93–95. Vgl. Husserl Logische Untersuchungen II,1, S. 30.
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Die Krisis
auf die Rede selbst, unabhängig davon, ob sie »wirklich geredet« worden sei, aber auch unabhängig von Mienenspiel, Geste oder Seelenzuständen. 6 Grundlage der phänomenologischen Analyse ist eine Voraussetzungslosigkeit, die ausdrücklich auch die Abhängigkeit von der Sprache beinhaltet: »Diese metaphysische, naturwissenschaftliche, psychologische Voraussetzungslosigkeit, und keine andere, wollen auch die nachfolgenden Untersuchungen erfüllen. Selbstverständlich wird sie nicht geschädigt durch gelegentliche Zwischenbemerkungen, die auf Inhalt und Charakter der Analysen einflusslos sind, oder gar durch die vielen Äußerungen, in welchen sich der Darsteller an sein Publikum wendet, dessen Existenz – wie seine eigene – darum noch keine Voraussetzung des Inhalts der Untersuchungen bildet. Die von uns gesteckten Grenzen überschreiten wir auch nicht, wenn wir z. B. vom Faktum der Sprache ausgehen und die bloß kommunikative Bedeutung mancher unter ihren Ausdrucksformen erörtern, und was dergleichen mehr. Man überzeugt sich überall mit Leichtigkeit, dass die angeknüpften Analysen ihren Sinn und ihren erkenntnistheoretischen Wert unabhängig davon haben, ob es wirklich Sprachen und einen Wechselverkehr von Menschen gibt, dem sie dienen wollen.« 7
Die Stoßrichtung dieser Zeilen ist eindeutig anthirhetorisch: die Äußerungen als solche, das, was zwischen dem Darsteller und dem Publikum passiert, die »bloße kommunikative Bedeutung«, wird konsequent ausgeblendet zugunsten der Bedeutung des Gesprochenen, denn, so Husserl, »leben wir doch ganz und gar nicht im Vorstellen des Wortes, sondern ausschließlich im Vollziehen seines Sinnes, seines Bedeutens«. 8 Husserl strebt eine »reine Grammatik« an sowie »das im echten Sinne ›Rationale‹ und insbesondere ›Logische‹ der Sprache, auf das Apriori der Bedeutungsform« zurückzuführen. 9 Die Sprache, so Husserl, ist letztlich nicht mehr als die Einkleidung einer Vgl. a. a. O., S. 30 f.: »Zur vorläufigen Verständigung setzen wir fest, dass jede Rede und jeder Redeteil, sowie jedes wesentlich gleichartige Zeichen ein Ausdruck sei, wobei es darauf nicht ankommen soll, ob die Rede wirklich geredet, also in kommunikativer Absicht an irgendwelche Personen gerichtet ist oder nicht. Dagegen schließen wir das Mienenspiel und die Geste aus, mit denen wir unser Reden unwillkürlich und jedenfall nicht in mitteilender Absicht begleiten, oder in denen, auch ohne mitwirkende Rede, der Seelenzustand einer Person zu einem für ihre Umgebung verständlichen ›Ausdruck‹ kommt. Solche Äußerungen sind keine Ausdrücke im Sinne der Reden.« 7 A. a. O., S. 22. 8 Vgl. a. a. O., S. 39. 9 Vgl. a. a. O., S. 338. 6
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Phänomenologie
die Sprache überschreitenden Bedeutung. 10 Damit ist die Sprache nicht völlig bedeutungslos, aber für Husserl ist sie eindeutig den Bewusstseinsakten nachgeordnet. 11 Husserl ist sich durchaus der Tatsache bewusst, dass die Phänomenologie eine Forschung ist, die auf die Sprache angewiesen ist: »Alle theoretische Forschung, obschon sie keineswegs bloß in ausdrücklichen Akten oder gar in kompletten Aussagen bewegt, terminiert doch letztlich in Aussagen.« 12 Desweiteren weiß Husserl darum – trotz allen Strebens nach Idealität –, dass die Begriffe nicht identisch sind mit ihren Bedeutungen, dass es »Bedeutungen an sich« gibt, die niemals ausgesprochen werden und über jeden konkreten Ausdruck hinausgehen. 13 Husserl weiß auch darum, dass die Bedeutungen der Worte schwankend sind: »Der Begriff als mehr oder minder schwankende Wortbedeutung, das Gesetz, weil aus Begriffen sich bauend, als nicht minder schwankende Behauptung.« 14 Die phänomenologische Analyse, so Husserl, soll der Behebung dieser Unklarheiten dienen und die logischen Gesetze in aller Klarheit darlegen. Im Gang zu den »Sachen selbst« bzw. im Rückgang auf ihre Anschauung soll dieser Schritt gelingen.
Kritik der objektiven Wissenschaften Edmund Husserl beschreibt in Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie die Krise eines Denkens, das die modernen Wissenschaften hervorgebracht hat. Das Vgl. ebd.: »Innerhalb der reinen Logik grenzt sich als eine, an sich betrachtet, erste und grundlegende Sphäre die reine Formenlehre der Bedeutungen ab. Vom Standpunkt der Grammatik aus betrachtet, legt sie ein ideales Gerüst bloß, das jede faktische Sprache, teils allgemein menschlichen, teils zufällig wechselnden empirischen Motiven folgend, in verschiedener Weise mit empirischem Material ausfüllt und umkleidet.« 11 Vgl. Zahavi, Husserls Phänomenologie, S. 28 f. 12 Husserl, Logische Untersuchungen II,1, S. 3. 13 Vgl. a. a. O., S. 104 f. 14 A. a. O., S. 5. Vgl. auch a. a. O., S. 6: »Desgleichen überzeugen wir uns durch die Veranschaulichung der wechselnden Bedeutungen, die demselben logischen Terminus in verschiedenen Aussagezusammenhängen zuwachsen, eben von dieser Tatsache der Äquivokation; wir gewinnen die Evidenz, dass, was das Wort hier und dort meint, in wesentlich verschiedenen Momenten oder Formungen der Anschauung, bzw. in wesentlich verschiedenen Allgemeinbegriffen seine Erfüllung findet.« 10
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Die Krisis
Streben dieser Wissenschaften nach Objektivität wird in Bezug auf den Menschen als defizitär beschrieben, da es nicht in der Lage ist, den Menschen und seine Lebenswelt zu erfassen. Husserl stellt in einem Rückgang in die europäische Geistesgeschichte die Wurzeln dieser Krise dar. Die Krisis der Wissenschaft, so beginnt Husserl sein Werk, ist die Krise ihrer Wissenschaftlichkeit, die »ganze Weise, wie sie sich ihre Aufgabe stellt und dafür ihre Methodik ausgebildet hat«, sei fraglich geworden. 15 Diese Krisis, so Husserl weiter, ist nicht nur eine Krisis der Wissenschaft selbst, es ist eine Krise der von den Wissenschaften dominierten Weltanschauung: »Die Ausschließlichkeit, in welcher sich in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts die ganze Weltanschauung des modernen Menschen von den positiven Wissenschaften bestimmen und von der ihr verdankten ›prosperity‹ blenden ließ, bedeutete ein gleichgültiges Sichabkehren von den Fragen, die für ein echtes Menschentum die entscheidenden sind. Bloße Tatsachenwissenschaften machen bloße Tatsachenmenschen.« 16
Die Frage, der sich der Mensch stellen muss und die von den positiven Wissenschaften ausgeklammert und missachtet wird, ist die nach »Sinn und Sinnlosigkeit dieses ganzen menschlichen Daseins«. 17 Zur Erläuterung dieser Krise blickt Husserl in die Vergangenheit zurück und gelangt in die Renaissance-Zeit als der Zeit, welche der modernen Wissenschaftlichkeit voranging. Husserl stellt die humanistische Entdeckung des Menschentums in den Vordergrund: die Renaissance löste sich aus den Zwängen des Mittelalters, um eine neue Freiheit des Menschen zu proklamieren. Die Philosophie jener Zeit, so Husserl, zielte nicht wie die modernen Wissenschaften auf einzelne, abgegrenzte Bereiche ab, sondern trachtete danach – unter Zuhilfenahme der antiken Vorbilder –, »die ganze menschliche Umwelt, das politische, das soziale Dasein der Menschheit aus freier Vernunft« zu gestalten. 18 Warum zerbrach dieses Denken, das die Renaissance ge-
Vgl. Husserl, Krisis, Husserliana VI, S. 1. A. a. O., S. 3 f. 17 Vgl. a. a. O., S. 4: »Gerade die Fragen schließt sie prinzipiell aus, die für den in unseren unseligen Zeiten den schicksalvollsten Umwälzungen preisgegebenen Menschen die brennenden sind: die Fragen nach Sinn und Sinnlosigkeit dieses ganzen menschlichen Daseins.« 18 Vgl. a. a. O., S. 6. 15 16
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Phänomenologie
prägt hat? Dieses Denken entwickelte sich in dem spätestens mit Descartes manifest werdenden Versuch weiter, eine »Einheit eines theoretischen Systems« zu konstituieren, das alle Fragen der Wissenschaft methodisch zusammenfassen sollte. 19 Dieser Versuch, so Husserl, scheiterte daran, dass er sich nur auf bestimmte Bereiche der Wissenschaften erstrecken konnte, andere Bereiche – etwa diejenigen, die klassischerweise der Metaphysik zugeschrieben werden – konnten nicht erfasst werden. Indem die neu entstehenden Einzelwissenschaften in immer neue Bereiche vorstoßen, verlieren sie das große Ganze aus den Augen, das »Ideal einer universalen Philosophie«: »Es ist eine Krisis, welche das Fachwissenschaftliche in seinen theoretischen und praktischen Erfolgen nicht angreift und doch ihren ganzen Wahrheitssinn durch und durch erschüttert.« 20 Indem nun aber der Glaube an das weltumfassende Ganze verschwindet bzw. der Glaube an eine weltumfassende Gesamtdeutung gerät der Mensch selbst in eine Krise, denn diese Weltdeutung sei notwendig für die Sinnhaftigkeit: »Sie ist es, die allem vermeintlich Seienden, allen Dingen, Werten, Zwecken letztlich Sinn gibt. […] Damit fällt auch der Glaube an eine ›absolute‹ Vernunft, aus der die Welt ihren Sinn hat, der Glaube an den Sinn der Geschichte, den Sinn des Menschentums, an seine Freiheit, nämlich als Vermöglichkeit des Menschen, seinem individuellen und allgemeinen menschlichen Dasein vernünftigen Sinn zu verschaffen. Verliert der Mensch diesen Glauben, so heißt das nichts anderes als: er verliert den Glauben ›an sich selbst‹, an das ihm eigene wahre Sein.« 21
Der Versuch, eine wissenschaftliche Objektivität zu erlangen, führt, so Husserl, zum Verlust der menschlichen Subjektivität bzw. zum Verlust der sinnhaften Einordnung des Menschen in seine Welt. Husserl gesteht zu, dass der Schritt der (Natur-)Wissenschaften zur formalen Logik rechtmäßig und notwendig sei, aber es müsse auch dafür Sorge getragen werden, »dass hierbei gefährliche Sinnverschiebungen vermieden bleiben«, und zwar durch den dauernden Bezug auf die »ursprüngliche Sinngebung der Methode, aus welcher sie den Sinn einer Leistung für die Welterkenntnis« hat: 22 »So unterliegt also die Naturwissenschaft einer mehrfältigen Sinnverwandlung und 19 20 21 22
Vgl. ebd. A. a. O., S. 10. A. a. O., S. 10 f. Vgl. a. a. O., S. 46 f.
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Die Krisis
Überdeckung.« 23 Husserl setzt dieser Wissenschaftlichkeit den Begriff der »Lebenswelt« entgegen. Husserl interpretiert die europäische Geistesgeschichte als den Konflikt zweier Weltanschauungen: des Objektivismus und des Transzendentalismus. 24 Der Objektivismus ist diejenige Haltung, welche die Naturwissenschaften in der von Husserl kritisierten Form hervorgebracht hat. Demgegenüber charakterisiert er den Transzendentalismus als einen in der Subjektivität verwurzelter Seinssinn der erfahrenen Lebenswelt, der jeder Wissenschaft vorausgeht: »In ihm baut sich der Sinn und die Seinsgeltung der Welt auf.« 25 Der Konflikt zwischen dem Objektivismus und dem Transzendentalismus ist als derjenige zwischen den Natur- und den Geisteswissenschaften zu interpretieren. In einer der Abhandlungen, die der Krisis in der späteren Veröffentlichung beigefügt wurde, nimmt Husserl eine klare Abgrenzung zwischen diesen beiden vor: »Die Geisteswissenschaft ist Wissenschaft von der menschlichen Subjektivität in ihrer Bewusstseinsbeziehung auf die Welt als für sie erscheinende und sie in Tun und Leiden motivierende; und umgekehrt: von der Welt als Umwelt von Personen, oder als der ihnen erscheinenden, geltenden.« 26
Dieses »personale Leben«, so Husserl weiter, steht nicht im »thematischen wissenschaftlichen Interesse«. 27 Die Geisteswissenschaft hat als »allumfassende Wissenschaft von der Geisteswelt« die Personalität und Kulturalität zum Thema; zu dieser zählt Husserl auch die Naturwissenschaft, die er damit der Geisteswissenschaft unterordnet. 28 Indem die Geisteswissenschaften, die auf der natürlichen Einstellung beruhen, den Menschen in seinem kulturellen und historischen Sein beschreiben, zeigen sie den »der Geschichte immanenten Sinn« auf. 29 Diese historische Immanenz beschreibt Husserl auf sich bezogen als ein »historisches Gebilde« und knüpft exakt an die KrisisSchrift selbst an, wenn er als Grundlage dieser sich in der Relativität 23 24 25 26 27 28 29
A. a. O., S. 48. Vgl. a. a. O., S. 70 f. A. a. O., S. 70. A. a. O., S. 297. Vgl. ebd. Vgl. a. a. O., S. 298. Vgl. a. a. O., S. 312.
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Phänomenologie
vollziehenden Geisteswissenschaft die »Subjektivität als transzendentale« erkennt. 30 Die Naturwissenschaft, so Husserl im Vortrag Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie, muss letztlich scheitern »an der Komplexität der nötigen psychophysisch-exakten Forschung schon hinsichtlich der einzelnen Menschen und erst recht der großen historischen Gemeinschaften«. 31 Auf der anderen Seite, so Husserl im gleichen Vortrag, ist jedoch auch die Rolle dessen, was in den Geisteswissenschaften thematisiert wird, in diesem Konflikt eine nicht nur positive. Insofern sich die Philosophie um Erkenntnis bemüht, insofern sie darum bemüht ist, durch neue Ideen der Gesellschaft eine neue Richtung zu geben, gerät sie in den Konflikt mit der damaligen Bildungselite – gemeint sind die Sophisten –, die er beschreibt als die »in der Tradition konservativ Befriedigten«, die im Kampf gestanden hätten mit den Philosophen. 32 Die Philosophie, so erklärt Husserl auch hier historisch, habe sich jedoch zu einer reinen Rationalität entwickelt, und diese sei die Ursache ihrer Krise. Er wirft dieser objektiven Wissenschaft vor, den menschlichen Geist als solchen missachtet zu haben bzw. nicht gesehen zu haben, dass der Geist überhaupt nicht Thema einer objektiven Wissenschaft werden kann: »Allen Ernstes meine ich: Eine objektive Wissenschaft vom Geiste, eine objektive Seelenlehre, objektiv in dem Sinne, dass sie den Seelen, den personalen Gemeinschaften Inexistenz in den Formen der Raumzeitlichkeit zukommen lässt, hat es nie gegeben und wird es nie geben. Der Geist und sogar nur der Geist ist in sich selbst und für sich selbst seiend, ist eigenständig und kann in diesem Eigenstande, und nur in diesem, wahrhaft rational, wahrhaft und von Grund auf wissenschaftlich behandelt werden.« 33
Vgl. a. a. O., S. 313: »Wir, die wir universale personale Betrachtung durchführen, in sie universale Betrachtung der Umwelt etc. einbeziehen, sind selbst Menschen, europäische Menschen, sind selbst historisch geworden, wir erzeugen selbst als Historiker Welthistorie und Weltwissenschaft jedes Sinnes, ein historisches Kulturgebilde in der Motivation der europäischen Geschichte, in der wir stehen. Die Welt, die für uns ist, ist selbst ein historisches Gebildete von uns, die wir selbst nach unserem Sein ein historisches Gebilde sind. Was ist bei dieser Relativität das von ihr selbst vorausgesetzte Irrelative? Die Subjektivität als transzendentale.« 31 Vgl. a. a. O., S. 316. 32 Vgl. a. a. O., S. 334 f. 33 A. a. O., S. 345. 30
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Die Krisis
Eine Naturwissenschaft, welche den menschlichen Geist einem tertium comparationis zuordnen muss, ist nicht in der Lage, den Geist als Geist zu erfassen. Dem stehen die Geisteswissenschaften gegenüber, die den menschlichen Geist unverhüllt für sich schauen und damit als menschlichen Geist für sich wahrnehmen können. 34 Die Wahrnehmung dieses Konflikts zwischen dem naturwissenschaftlichen Objektivismus und dem geisteswissenschaftlichen Anthropozentrismus sowie die Wahrnehmung der Defizite, die sich aus der Nichtbeachtung der »Lebenswelt« ergeben, sollen zu einer neuen Art der Philosophie führen, die in besonderer Weise historisch ist. Dieses Anliegen beschreibt Husserl wie folgt: »Wir versuchen, die Einheit, die in allen historischen Zielstellungen, im Gegeneinander und Miteinander ihrer Verwandlungen waltet, herauszuverstehen und in einer beständigen Kritik. […] schließlich die historische Aufgabe zu erschauen. […] Ein Erschauen nicht von außen her, vom Faktum, […] sondern von innen her. Wir, die wir nicht nur geistiges Erbe haben, sondern auch durch und durch nichts anders als historisch Gewordene sind, haben nur so eine wahrhaft uns eigene Aufgabe.« 35
Diese Hinwendung Husserls zur Geschichte darf nicht interpretiert werden als eine völlige Umdeutung seiner Philosophie. Ströker hat das Neue der Historisierung der Philosophie Husserls dahingehend zusammengefasst, dass es nunmehr nicht nur um die Offenlegung der Sachkomplexität gehen würde, sondern um die sinnkonstituierenden Schichten. 36 Die Perspektive Husserls beschränkt sich daher nicht nur – wie in der reinen Logik – auf die Wahrnehmung der Synchronie der Philosophie, sondern auch ihrer diachronen Zusammenhänge. Husserls Diagnose einer Krise oder sogar des Untergangs einer bestimmten Form der europäischen Kultur deckt sich mit der Einschätzung, die durchaus von vielen seiner Zeitgenossen geteilt wurde, man denke nur an Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlands oder an die Kulturgeschichte der Neuzeit von Egon Friedell, die das Ende des »Menschen der Neuzeit« heraufbeschwört. Unabhängig daVgl. ebd.: »Nur in der reinen geisteswissenschaftlichen Erkenntnis wird der Wissenschaftler von dem Einwand der Selbstverhülltheit seines Leistens nicht betroffen.« 35 A. a. O., S. 71 f. 36 Ströker, Geschichte und Lebenswelt, S. 115. 34
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Phänomenologie
von, wie berechtigt oder unberechtigt diese Diagnose Husserls und vieler Zeitgenossen von einem Ende der europäischen Kultur gewesen ist, bietet sie interessante Aspekte für die Frage des Verhältnisses von Wissenschaft und Philosophie. Wenn Husserl die Geschichte der Philosophie vor dem Hintergrund eines Konflikts einer Wissenschaft beschreibt, die durch Beachtung einer Methodik eine absolute Objektivität zu erreichen sucht, und einer »transzendentalen« Haltung, die eng mit dem konkreten Leben verknüpft ist, dann lässt sich dieser Konflikt interpretieren als derjenige zwischen einer naturalistischen bzw. einer auf die metaphysischen Objektivität abzielenden Philosophie auf der einen Seite und der humanistisch-hermeneutischen Tradition auf der anderen Seite. Die zeitgenössische Erfahrung sah durch die grauenvollen Erfahrungen des Ersten Weltkriegs das Ende einer Fortschrittsgläubigkeit und damit inbegriffen auch das Ende eines Glaubens an die modernen Wissenschaften. Kern sieht in Husserls Beschreibung der Krisis die Erfahrung einer »Lebensentfremdung der objektiven Wissenschaften«, 37 die nicht mehr wahrgenommen werden als etwas, das die Lebenswirklichkeit des Menschen umfassend deuten kann, und damit – so Held – einen Sinnverlust markiert. So gesehen ist Husserls Beschreibung der Krisis letztlich der Hinweis auf die Notwendigkeit, die eigene Lebenswirklichkeit sinnvoll und damit verantwortlich wahrzunehmen: »Die ›Krisis‹ der modernen Wissenschaften ist der Sinnverlust der dadurch entsteht, dass eine schlechthin subjekt-irrelevante Welt, wenn es sie wirklich gäbe, eine Erinnerung an die Verantwortlichkeit des Menschen gänzlich unmöglich machte. Husserls letzte Einführung in die Philosophie ist nichts anderes als der Nachweis, dass eine solche Erinnerung doch noch möglich ist.« 38
Was Husserl als Vollendung der Geisteswissenschaften anstrebt, ist nicht eine Verurteilung jeder Rationalität, sondern der Allgemeingültigkeit der naturwissenschaftlichen Methodik als einer bestimmten Form der Rationalität. Husserl strebt eine Philosophie an, die geprägt ist durch einen »den Naturalismus endgültig überwindenden Heroismus der Vernunft«. 39 Diese Vernunft ist für ihn ein vernünftiger Umgang mit den Werten, die durch die Geisteswissenschaften erkennbar und beschreibbar sind. Die Wahrheit, die auf diese Weise 37 38 39
Kern, Lebenswelt als Wahrheits- und Seinsproblem, S. 73. Held, Husserls neue Einführung in die Philosophie, S. 113. Vgl. Krisis, Husserl, Husserliana VI, S. 348.
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Die Lebenswelt
beschrieben wird, ist die den Menschen wirklich betreffende; die Wahrheit der Naturwissenschaften jedoch, so Husserl sehr deutlich in seiner Formalen und transzendentalen Logik, ist mit dem Anspruch, eine dem Menschen angemessene Wahrheit zu formulieren, Blendwerk: »Man muss endlich aufhören, sich von den idealen und regulativen Ideen und Methoden der ›exakten‹ Wissenschaften blenden zu lassen, und insbesondere in der Philosophie und Logik, als ob deren An-sich wirklich absolute Norm wäre, sowohl was gegenständliches Sein anlangt, als auch was Wahrheit anlangt.« 40
2.2 Die Lebenswelt Das Thema »Lebenswelt« taucht bereits in früheren Schriften Husserls auf, vermittelt durch Richard Avenarius und Wilhelm Dilthey. In Die Krisis der europäischen Wissenschaften und transzendentale Phänomenologie wird die Lebenswelt zu einem zentralen Thema Husserls, zu dem er viele Texte verfasst hat, die posthum erst 2008 in den Husserliana XXXIX veröffentlicht werden und welche den in der Krisis beschriebenen Konflikt noch einmal deutlicher werden lassen. Welter schrieb bereits vor Jahrzehnten, dass der Begriff »Lebenswelt« bei Husserl sehr diffus sei und keine klare Kontur besitzen würde 41 – eine Beschreibung, die bis heute durchaus berechtigt ist. Vielleicht liegt diese Schwierigkeit, die »Lebenswelt« wissenschaftlich zu beschreiben und eindeutig zu definieren, in ihrem Wesen begründet, das eben der Wissenschaft entgegensteht und sich damit der Möglichkeit einer logisch-methodischen Erfassung immer wieder entzieht.
Gegebenheit Der Mensch findet die Welt als gegeben vor. Sie ist da und die Beziehung zu ihr ist intentional insofern sich das Bewusstsein immer auf diese Welt bezieht. Aufgrund dieser Intentionalität gegenüber der Welt wird sie zu einer unumgehbaren Größe für das Bewusstsein. 40 41
Husserl, Formale und transzendentale Logik, Husserliana XVII, S. 284. Vgl. Welter, Die Lebenswelt als »Anfang« des methodischen Denkens, S. 143.
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Phänomenologie
Die sich daraus ergebende Einstellung nennt Husserl »natürlich«. Im I. Buch seiner Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie stellt Husserl eine »Generalthesis der natürlichen Einstellung« auf: »Ich finde beständig vorhanden als mein Gegenüber die eine räumlichzeitliche Wirklichkeit, der ich selbst zugehöre. […] Die ›Wirklichkeit‹ […] finde ich als daseiende vor und nehme sie, wie sie sich mir gibt, auch als daseiende hin. Alle Bezweiflung und Verwerfung von Gegebenheiten der natürlichen Welt ändert nichts an der Generalthesis der natürlichen Einstellung. ›Die‹ Welt ist als Wirklichkeit immer da, sie ist höchstens hier oder dort ›anders‹ als ich vermeinte.« 42
Diese Generalthesis der Apodiktizität ist letztlich die Grundlage der Beschreibung der Lebenswelt. Diese ist dem Menschen vorgegeben, sie affiziert ihn ständig. 43 Diese Gegebenheit der Lebenswelt ist zum einen eine unthematische – in allen Sinneseindrücken und Wahrnehmungen –, aber zum anderen auch eine thematische, »thematisch nach einzelnen Objekten als Substraten hervortretender Erfahrungsbestimmungen, sich in fortgehender Kenntnisnahme weiter bestimmend«. 44 Die Vorgegebenheit der Lebenswelt ist eine doppelte: die direkte, dasjenige, was sich unmittelbar und vor jeder Einordnung darbietet; schließlich die indirekte, dasjenige, was bereits begrifflich gefasst und thematisiert ist und sich anhand der Erfahrungen weiterentwickelt. Eine entscheidende philosophische Wendung erhält die Lebenswelt, wenn Husserl sie als notwendig für die Selbstkonstitution bezeichnet. 45 Der Mensch ist sich in einer natürlichen Selbstbesinnung, einer Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie I, Husserliana III, S. 61. Vgl. Husserl, Lebenswelt, Husserliana XXXIX, S. 42: »Die Welt ist für uns da als vorgegeben, sofern schon vor der thematischen Blickrichtung auf die oder jene Objekte oder gar auf die Welt als Universum durch unser Leben beständig eine Weltapperzeption hindurchgeht. Immerfort ›erscheinen‹ Dinge; ob wir auf sie achten oder nicht, erscheinen (sie) als Gegenstände eines jeweiligen, wenn auch relativ dunklen Sinnes […] und Hintergrundes; und mit diesem Sinn und Hintergrund erscheinend, affizieren ›sie‹ uns.« 44 Ebd. 45 Vgl. a. a. O., S. 234: »Bei dieser Sachlage ist die Seinssetzung der Welt – und die(se) in Form einer Evidenz, einer Selbstgebung – eine durch unser Leben hindurchgehende Notwendigkeit. […] Vielmehr, es ist universale Selbstgebung, (die) sich in sich selbst in ihrem Verlauf als durchgängige, an jedem Punkte sich mitvollziehende Selbstbegründung, Selbstbewährung charaktersisiert.« 42 43
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Die Lebenswelt
»Selbstapperzeption« seiner selbst bewusst. Diese Selbstapperzeption ist allerdings nur ein Teil eines umfassenderen Geschehens der Weltwahrnehmung: »Die Reflexion auf mein Menschsein ist nur ein unselbständiger Modus innerhalb meiner totalen Weltwahrnehmung in ihrer Struktur eigentlicher Wahrnehmung und mitapperzipierter Horizontgeltung, die auch Weltvergangenheit und -zukunft befasst.« 46 Damit revidiert Husserl seine frühere Annahme der alleinigen Apodiktizität des Bewusstseins. So hatte er im II. Teil der Logischen Untersuchungen die Bewusstseinsinhalte klar von dem getrennt, was er später als Lebenswelt bezeichnen wird: »Es sei nun gleich darauf hingewiesen, dass sich dieser Erlebnisbegriff rein phänomenologisch fassen lässt, d. i. so, dass alle Beziehung auf empirisch-reales Dasein (auf Menschen oder Tiere der Natur) ausgeschaltet bleibt.« 47 Nicht nur das Bewusstsein selbst in seiner Intentionalität, sondern auch die Lebenswelt, auf die sich das Bewusstsein erstreckt, sind aber – so Husserl in seinen späteren Werken – als apodiktisch gegeben vorauszusetzen. Aus dieser Perspektive muss Husserl Descartes kritisieren. Das cartesianische »Ich bin«, das Abheben auf den reinen Bewusstseinsakt, muss schon aufgrund der Leiblichkeit der eigenen Existenz scheitern. Die Welt, die sich dem Bewusstsein darbietet, ist eine körperlich vermittelte. 48 Der Dualismus, den Descartes gesehen hat, ist aus dieser Perspektive »widersinnig«: »Der cartesianische Dualismus, der traditionelle Realismus, der personales Ich (als Seele) von der körperlichen Welt überhaupt trennt und für die intentionale Korrelation blind ist, ist widersinnig.« 49 Husserl wurde von seinen Kritikern – Heidegger wie Derrida – vorgehalten, insgeheim einer Metaphysik anzuhängen, die vom Gedanken der Präsenz der reinen Selbstgegenwart getragen sei. Diese Kritik wird der Phänomenologie Husserls vor dem Hintergrund der Lebenswelt allerdings nicht in vollem Umfang gerecht. Husserls Kritik an Descartes und sein Hinweis auf die Gegebenheit des Leiblichen ist ein deutliches Zeichen, dass sich Husserl der Zeitlichkeit und auch Ver-
A. a. O., S. 243. Husserl, Logische Untersuchungen II,1, S. 347 f. 48 Vgl. Husserl, Lebenswelt Husserliana XXXIX, S. 247 f.: »Nur darin besteht für mich Leib als Organ, wodurch ich Welt überhaupt habe. Diese selbst ist die in meinem weiteren und ganzen Bewusstseinsleben, worin mein Leibbewusstsein bloße Komponente ist, konstituierte Seinsgeltung ›Welt‹.« 49 A. a. O., S. 248. 46 47
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Phänomenologie
mitteltheit der eigenen Existenz bewusst ist und dieses damit der metaphysischen Präsenz entzieht. Indem Husserl nicht mehr nur das Bewusstsein, sondern auch die sich dem Bewusstsein darbietende Lebenswelt zur apodiktischen Gegebenheit erklärt, vollzieht er eine wichtige Wende seiner Phänomenologie, die eine philosophische Integration der gesamten kulturellen und historischen Errungenschaften ermöglicht und damit den Inhalt der Geisteswissenschaften aus der philosophischen Verbannung herausführt.
Relativität und Historizität Das Anliegen Husserl in der Beschreibung der Lebenswelt besteht, so Sowa in seiner Einleitung der Husserl’schen Texte über die Lebenswelt, in der »Rehabilitierung der subjektiv-relativen anschaulichen Welt gegenüber dem sie entwertenden Objektivismus der Naturwissenschaften und der naturalistischen Philosophien«. 50 Die Lebenswelt, so Husserl in der Krisis, sei die anschauliche und wirkliche Welt, die sich dem Menschen darbietet und der gegenüber die Wissenschaft nur eine »Voraussicht« dieser Welt darstellt: »Diese wirklich anschauliche, wirklich erfahrene und erfahrbare Welt, in der sich unser ganzes Leben praktisch abspielt, bleibt, als die sie ist, in ihrer eigenen Wesensstruktur, in ihrem eigenen konkreten Kausalstil ungeändert, was immer wir kunstlos oder als Kunst tun. Sie wird also nicht dadurch geändert, dass wir eine besondere Kunst, die geometrische und Galileische Kunst erfinden, die da Physik heißt. Was leisten wir durch sie wirklich? Eben ins Unendliche erweiterte Voraussicht.« 51
Husserl betont den »eigenen« Kausalstil, die besondere »Wesenstruktur« der Lebenswelt. Diese Struktur ist vorrangig durch das geprägt, was der Mensch wahrnimmt: es ist die existenzielle eigene Seinsgewissheit, es sind die Dinge, die der Mensch sieht und fühlt, und die aufgrund dieser Direktheit der Wahrnehmung einen fundamentalen Einfluß auf das menschliche Bewusstsein haben. 52 Die Beschaffenheit dieser Welt ist in den verschiedenen Schriften des 50 51 52
Vgl. Sowa, Einleitung, Husserliana XXXIX, S. XXVI. Husserl, Krisis, Husserliana VI, S. 51. Vgl. ebd.
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Die Lebenswelt
Nachlasses, die in den Husserliana XXXIX (»Lebenswelt«) veröffentlicht wurden, ausgeführt. Im Unterschied zur objektiven Welt der Wissenschaft, so heißt es dort, gibt es noch die subjektiv-relative Welt, die Umwelt als »Welt des heraklitischen Flusses«. 53 Diese Welt ist in all ihrer Veränderlichkeit dem Menschen vorgegeben, er kann ihr nicht entkommen. Entsprechend sind die Eindrücke, die er empfängt, veränderlich und das Weltbild, das der Mensch sich aufbaut, unweigerlich von relativen Größen geprägt: »Wir ersehen aus dieser Betrachtung, dass wir in unserem gesamten Leben, das immerzu Weltleben ist, in einem höchst merkwürdigen Relativismus befangen sind und notwendig befangen sein müssen.« 54 Die Konsequenzen führt Husserl in der Beilage LVI vor Augen: »In gewissem Sinn ist alles und jedes in welchem Sinn immer Seiende relativ, alles hat relative Bestimmungen und in Bezug auf alles andere.« 55 Jeder Versuch einer Bestimmung eines Begriffs oder Urteils führt daher in eine unendliche Relativität, »in einer Unendlichkeit immer neuer und beschreibender Urteile«, eine Haltung, die Husserl historisch mit den Sophisten verbindet. 56 Insofern sich die Sophisten der rational-wissenschaftlichen Weltdeutung widersetzt haben, blieben sie im Relativismus der Lebenswelt gefangen. Außerhalb dieser Lebenswelt und ihrer Relativität, so Husserl, ist nichts: »Seiende Welt ist nichts außerhalb der Relativität dieser Seinsgeltung; und was ›Seiendes‹ nennt, ist immer und notwendig nichts anderes als […] Bewährtes und in weiteren Korrekturen zu bewährendes.« 57 Diese Sätze in dieser Form hätte auch ein Sophist der griechischen Antike unterschrieben. Husserl will mit dieser Kennzeichnung der Lebenswelt nicht eine zukünftige Philosophie des reinen Relativismus entwerfen, sondern er will die lebensweltliche Grundlage des Denkens schildern. Die objektive Wissenschaft und auch die Philosophie, die sich durch diese wissenschaftliche Objektivität definiert, hat diese lebensweltliche Grundlage aus den Augen verloren und damit, so Husserl, den Menschen selbst. Vgl. Husserl, Lebenswelt, Husserliana XXXIX, S. 691. Vgl. ebd. »Meine Lebensgegenwart, die in diesem Leben selbst bewusste Gegenwart, ist in kontinuierlichem Fluss, und mit ihm fließt die Welt selbst, die die meines Lebens ist, die mir geltende, mich in Affektion und Aktion bestimmende.« 54 A. a. O., S. 692. 55 A. a. O., S. 722. 56 Vgl. a. a. O., S. 723. 57 A. a. O., S. 726. 53
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Phänomenologie
In der Schilderung der Lebenswelt rückt für Husserl ein Thema in den Vordergrund, das er in seinen Frühwerken wenig bis gar nicht beachtet hat, ja sogar auszuschließen versucht hat: die Zeitlichkeit und Historizität. Doch finden sich auch in seinen früheren Werken durchaus Hinweise auf eine Philosophie, die sich ihrer Historizität bewusst ist. 58 So schreibt Husserl bereits Mitte der 1920er Jahre in der Ersten Philosophie, dass es ihm in seiner Phänomenologie darum gehen würde, aus einem historischen Verständnis heraus »die abgebrochenen Brücken« zu den philosophischen Traditionen neu zu beleben. 59 Ganz grundsätzlich, so in den Schriften der Lebenswelt, ist die Zeitlichkeit bereits durch die eigene leibliche Existenz angezeigt, 60 aber auch durch die beständige und fortschreitende Welterfahrung, welche die eigene Existenz macht. Die sozial-überindividuelle Dimension dieser Zeitlichkeit wird in der Lebenswelt als Kulturwelt deutlich. Jede Lebenswelt bietet sich insofern als Kulturwelt dar, weil sie zum einen eine Weiterentwicklung der natürlichen Welt ist und zum anderen diese Weiterentwicklung nicht nur einen eigenen Stil besitzt, sondern auch der Wahrnehmung einen eigenen Stil verleiht: »Die Welt und die verschiedenen Umwelten der Menschen, der menschlichen Sondergemeinschaften sind dem jeweiligen einzelnen Ich (und der einzelnen Gemeinschaft) vorgegeben. […] Die jeweils vorfindliche Struktur der sozusagen fertigen, im jeweiligen Stil und Erscheinungsgehalt vorgegebenen Welt ist zunächst durch statische Analyse aufzuweisen und so insbesondere aufzuweisen der universale Stil einer Menschenwelt und Welt für Menschen, mit der ausgezeichneten notwendigen Kernstruktur bloßer Natur, in dieser verteilt organische Körperlichkeit, als Leiblichkeit für animalisches und vor allem menschliches geistiges Sein; und diese gesamte physische und psychophysische Objektivität (ist) ausgestattet mit Kulturbestimmungen, in ihrer sekundären Objektivität bezogen auf Gemeinschaften, für die sie Gemeinsamkeit objektiver Geltung haben, wie sie aus ihrem Gemeinschaftsleben ihre Bedeutung gewonnen haben.« 61
Die Welt der Kultur verfügt über eine durch die Gemeinschaft konstituierte Objektivität, die allerdings sekundär ist. Husserl fasst zusammen: »Das ganze Reich der Kulturgegenständlichkeiten ist ein Vgl. Ponsetto, Die Tradition in der Phänomenologie Husserls, S. 11 f. Vgl. Husserl, Erste Philosophie I, Husserliana VII, S. 407. 60 Vgl. Husserl, Lebenswelt, Husserliana XXXIX, S. 181: »Aber ich bin immer in meinem Leib, in ihm und durch ihn waltend.« 61 A. a. O., S. 32 f. 58 59
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Die Lebenswelt
Reich des Subjektiven, das es – immer den Kern vorausgesetzt – bloß zu relativer Objektivität erlangt.« 62 Dies gilt auch für die vermeintlich primäre Objektivität, wie Husserls direkt hinzufügt: »Aber im Grund gilt das auch für die Natur, die für uns europäische Kulturmenschen nur darum feste Objektivität ist, weil wir die historisch in uns ausgebildete, uns allen geltende Norm der Naturwissenschaft haben. Auch hier also eine Relativität, die nur für uns verdeckt zu sein scheint.« 63
Die Wissenschaftlichkeit als solche bzw. die Objektivität, die in der Wissenschaft angezielt wird, sind selbst nur ein Produkt der jeweiligen Kultur, in diesem Fall der europäischen. Husserl beschreibt diesen Vorgang im Sinne des klassischen consensus omnium, einer Wahrheit, die dem allgemeinen historischen, gesellschaftlichen und kulturellen Konsens entspringt, aber nichts mit einer dieser Zeitlichkeit enthobenen Wahrheit zu tun hat, wie sie in der Metaphysik oder auch in einer naturalistischen Wissenschaft beschrieben werden. Einen solchen Konsens erkennt Husserl in seiner Krisis-Schrift sogar in der Philosophie selbst. Er bildet sich in der Beschäftigung mit den schriftlichen Zeugnissen der philosophischen Geschichte heraus: »Die Sachlage ist kompliziert. Jeder Philosophie ›entnimmt aus der Geschichte‹ vergangener Philosophen, aus vergangenem philosophischen Schrifttum – so wie er aus der gegenwärtigen philosophischen Umwelt die ihr zugerechneten jüngst in Umlauf gesetzten Werke in seinem Verfügungsbereich hat, die neuerscheinenden hinzunimmt und, was hier allein möglich ist, von der Möglichkeit mehr oder minder Gebrauch macht, mit den noch lebenden Mit-Philosophen in persönlichen Gedankenaustausch zu treten.« 64
Die Philosophie ist damit kein in dem Sinne transzendentales Geschehen, dass es den consensus omnium der Philosophen verlassen könnte. Es ist Bezug auf die philosophische Tradition, Beschäftigung mit den philosophischen Texten der Vergangenheit und Gegenwart und damit ein historisch-kulturelles Geschehen. Das, was die Philosophie A. a. O., S. 33. Ebd. Vgl. a. a. O., S. 33 f.: »Gehen wir der Genesis der vorgegebenen Welt nach, so werden wir auf einzelne Ich – jedem von uns als eigenes in ausgezeichneter und für sich in absoluter Weise gegeben – geführt und von da aus auf eine universale Genesis, für die Natur ein relativer Ausgangspunkt sein kann, während tiefer eingehend, sich zeigt, dass auch die Natur ihre subjektiv konstituierte Genesis hat.« 64 Husserl, Krisis, Husserliana VI, S. 355. 62 63
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Phänomenologie
anzielt, ist jedoch sehr wohl dem consensus omnium bzw. dem sensus comunis enthoben. Husserl unterscheidet nun zwei Arten von Philosophie: »›Philosophie‹ – da müssen wir wohl scheiden Philosophie als historisches Faktum einer jeweiligen Zeit und Philosophie als Idee, Idee einer unendlichen Aufgabe. Die jeweils historisch wirkliche Philosophie ist der mehr oder minder gelungene Versuch, die leitende Idee der Unendlichkeit und dabei sogar Allheit der Wahrheiten zu verwirklichen.« 65
Damit, so kommentiert Gander, geht es Husserl »nicht um eine Geschichte dieser einzelnen Stationen in ihrer Geschichtlichkeit als solcher […], sondern darum, den geschichtlich-genetischen Fortgang im werdenden transzendentalen Bewusstseinsleben aufzuzeigen«. 66 Husserl gelingt es damit zwar, die Philosophie als ein historisches Geschehen zu beschreiben, das aber über einen ahistorischen Grund verfügt. Die Tatsache, dass er hier zwei Arten von Philosophie unterscheiden muss, denen er beide eine Legitimität zuspricht, verweist aber auf die grundsätzliche Aporie dieser Dualität.
Fundament der Wissenschaft Die Lebenswelt ist das Fundament der Wissenschaft. Diese Tatsache muss Husserl gegen Kant – aber wohl auch gegen sein eigenes Frühwerk – herausstellen. 67 Die Lebenswelt, so Husserl in der Krisis, ist nicht mehr »Teilproblem«, sondern »philosophisches Hauptproblem« 68 und damit betreibt Husserl eine philosophische Neubeschreibung des Verhältnisses von Lebenswelt und Wissenschaft. Eine solche Wende hat sich bei Husserl bereits früh angedeutet, als er in den Jahren 1917 bis 1921 begann, zwischen einer statischen und genetischen Phänomenologie zu unterscheiden. Die statische Phänomenologie ist diejenige der Logischen Untersuchungen; sie ist insofern statisch, »da sowohl die Gegenstandstypen als auch die intentionalen Strukturen selbst als fertig vorliegende hingenommen werden«. 69 Dem steht eine genetische Phänomenologie gegenüber, welche die 65 66 67 68 69
A. a. O., S. 338. Vgl. Gander, Selbstverständnis und Lebenswelt, S. 152. Vgl. Husserl, Krisis, Husserliana VI, S. 105 f. Vgl. a. a. O., S. 135 f. Vgl. Zahavi, Husserls Phänomenologie, S. 97.
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Die Lebenswelt
Gewachsenheit und Entwicklung der Strukturen anerkennt. Husserl baut in seinen späten Schriften eine solche genetische Phänomenologie weiter aus. Hierzu greift er auf das antike Paar von Doxa und Episteme zurück. Die Lebenswelt ist die Doxa als dasjenige, was sich unmittelbar darbietet, der Schein, den zu überwinden die antike Philosophie entstanden ist: »Diese Lebenswelt ist nichts anderes als die Welt der bloßen, traditionell so verächtlich behandelten δόξα.« 70 Diese Doxa ist dem Menschen vorgegeben, als eine »ständig im voraus seiend geltende« 71. Sie ist der Boden, auf dem die Wissenschaft entsteht: »Die Welt dieser selbstverständlich verständlich seienden und in der Weise der δόξα als wahr und wirklich auszuweisenden Dinge ist der Boden, auf dem alle objektive Wissenschaft sich erst entfalten kann; mit einem Worte die Lebenswelt, diese ›bloß‹ subjektive und relative, in ihrem nie stillhaltenden Fluß der Seinsgeltungen, deren Verwandlungen und Korrekturen ist – so paradox das erscheinen mag – der Boden, auf dem die objektive Wissenschaft ihre Gebilde ›endgültiger‹, ›ewiger‹ Wahrheiten, der ein für allemal und für jedermann absolut gültigen Urteile aufbaut.« 72
Wie entsteht nun eine Wissenschaft aus dieser sich ständig verändernden und fließenden Lebenswelt? Wie entsteht Objektivität aus Subjektivität? Husserl spricht hier von einer »Universalisierung«, der universalisierenden Zusammenfassung der heterogenen Erfahrungen. Die Welt, so Husserl, wird nicht in Einzelobjekten, sondern als Ganze wahrgenommen. 73 Diese Wahrnehmung als Ganze wird ausgesprochen, dadurch transzendiert und zur Grundlage einer objektiven Wissenschaft. Die Entstehung der griechischen Philosophie wird von Husserl genau als dieser Vorgang beschrieben, als Transzendierung des bloß Subjektiven durch die Methode der EpisteHusserl, Krisis, Husserliana VI, S. 465. Vgl. auch a. a. O., S. 127 f.: »Das wirklich Erste ist die ›bloß subjektiv-relative‹ Anschauung des vorwissenschaftlichen Weltlebens. Freilich für uns hat das ›bloß‹ als alte Erbschaft die verächtliche Färbung der δόξα. Im vorwissenschaftlichen Leben selbst hat sie davon natürlich nichts; da ist ein Bereich guter Bewährung. […] Die Verächtlichkeit, mit welcher alles ›bloß SubjektivRelative‹ von dem neuzeitlichen Objektivitätsideal folgenden Wissenschaftler behandelt wird, ändert an seiner eigenen Seinsweise nichts.« 71 Vgl. a. a. O., S. 461. 72 A. a. O., S. 465. Vgl. auch Husserl, Die Lebenswelt, Husserliana XXXIX, S. 77: »Die Weltvorstellung ist die Grundlage alles begrifflichen Weltwissens, aller Wissenschaften, die sich auf die Welt, die wirkliche und als möglich erdenkliche, beziehen.« 73 Vgl. Husserl, Lebenswelt, Husserliana XXXIX, S. 89. 70
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Phänomenologie
me. 74 Während die Lebenswelt sinnlich wahrnehmbar ist, ist ihre Universalisierung und Transzendentalisierung sinnlich nicht wahrnehmbar. Auf die Lebenswelt, so Husserl, hat die objektive Wissenschaft faktisch keinen Einfluß. 75 Die naturwissenschaftliche Interpretation, die aus ihr entsteht, sei letztlich ein »Ideenkleid«, das die konkrete Wirklichkeit umfängt, 76 ja sogar letztlich als Kritik an der Lebenswelt entstanden. 77 Die Wissenschaft sucht die Lebenswelt zu überwinden, indem sie etwas beschreiben will, das sich unabhängig vom menschlichen Bewusstsein befindet. Da nun die Ideen der Wissenschaft sich in der Lebenswelt herausbilden, sich durch den Austausch über diese ständig neu bewähren müssen, ist die Wahrheitsfindung ein Prozess, der immer weiter voranschreitet. Vielleicht wird der Abstand zur reinen Logik des frühen Husserl gerade am Wahrheitsbegriff offensichtlich: »Aber insofern bleibt Wahrheit Wahrheit, als die Idee eines sich einstimmig bewährenden Zusammenhangs von Erfahrungen desselben in jeder Stufe verbleibt und dasselbe, was wahrhaft Seiendes der früheren Stufe ist, wahrhaft seiend verbleibt in der höheren. […] Aus dem relativen Relativismus ist ein absoluter Relativismus geworden.« 78
Indem Husserl in der Doxa das Fundament der Wissenschaft erkennt, verabschiedet er sich von der von ihm früher eingeforderten Voraussetzungslosigkeit. Was ist der Grund für diese Veränderung? Biemel stellt dazu fest: »Eine Forschungsweise, die sich nicht mit der Feststellung des wissenschaftlichen Ideals und seiner Charakterisierung begnügt […], sondern eine Forschungsweise, die wesentlich darauf ausgerichtet ist herauszufinden, wie es zu bestimmten Sinnstiftungen kommt.« 79 Es ist eine Wende zur diachronen Frage der Entstehung von Sinn, nicht nur diejenige der Zusammensetzung von Sinngebilden. Ähnlich äußert sich auch Ströke: »Nicht Sinn und Wahrheitswert ihrer gleichsam fertigen Sätze und Satzsysteme stehen in Frage. […] Gefragt ist vielmehr, woher sie überhaupt als Sinngebilde zu verstehen sind, woraus sie letztlich Geltung haben.« 80 In 74 75 76 77 78 79 80
Vgl. a. a. O., S. 336. Vgl. Husserl, Krisis, Husserliana VI, S. 54. Vgl. a. a. O., S. 55. Schumann, Lebenswelt als Unterlage der Phänomenologie, S. 79. Husserl, Die Lebenswelt, Husserliana XXXIX, S. 706. Biemel, Doxa und Episteme in der ›Krisis‹, S. 14. Ströker, Geschichte und Lebenswelt, S. 111.
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Die Lebenswelt
der Philosophie Husserls hat sich ein wichtiger Perspektivwechsel vollzogen: aus der synchronen Analyse der Kausalitäten ist die diachrone Analyse von Geltungen geworden, der Entstehung von Sinngebilden. Der Aufweis der Bedeutung der Lebenswelt für die Philosophie bzw. der Aufweis der Historizität der objektiven Wahrheiten der Wissenschaften und der Philosophie impliziert jedoch einige Schwierigkeiten. Die Historizität der wissenschaftlichen Wahrheiten beinhaltet auch – so Schumann – die Historizität und damit Kontingenz der Wahrheiten, welche die Phänomenologie selbst erarbeitet hat. 81 Auf eine weitere Schwierigkeit weist Held hin: Wenn die lebensweltliche Erkenntnis als Erkenntnisakt unanschaulich ist, ist es schwierig, diese von der wissenschaftlichen Erkenntnis abzugrenzen, die ebenfalls über ihre Unanschaulichkeit definiert ist. 82 Inwiefern ist es überhaupt möglich, das Konkret-Geschichtliche und das Objektive zusammen zu denken? Bernhard Waldenfels macht diesbezüglich eine pointierte Feststellung, die nicht von der Hand zu weisen ist: »Sofern die Lebenswelt konkret-geschichtlich ist, ist sie kein universales Fundament, und insofern sie ein solches ist, ist sie nicht konkretgeschichtlich.« 83 An genau diesem Punkt setzt auch die Kritik Gadamers an, der die Möglichkeit einer Entwicklung einer reinen Objektivität aus dem Geschichtlichen strikt verneint. So stellt er in Wahrheit und Methode rigoros fest: »[…] hier ist die Folgerung nicht zu vermeiden, daß angesichts der Geschichtlichkeit der Erfahrung […] die Idee eines Universums möglicher geschichtlicher Lebenswelten grundsätzlich nicht durchführbar ist. Die Unendlichkeit der Vergangenheit, aber vor allem die Offenheit der geschichtlichen Zukunft ist mit einer solchen Idee unvereinbar.« 84
Gadamer wirft Husserl vor, die »Lebenswelt« nicht als einen wirklich subjektiven und historischen Horizont zu konzipieren, sondern als etwas, das letztlich objektiv ist und durch die phänomenologische Reduktion aufgelöst werden kann. Der Gegensatz von Lebenswelt und Wissenschaft ist damit nur ein vorübergehender, der letztlich zu-
81 82 83 84
Vgl. Schumann, Lebenswelt als Unterlage der Phänomenologie, S. 91. Vgl. Held, Husserls neue Einführung in die Philosophie, S. 109. Waldenfels, Die Abgründigkeit des Sinnes, S. 129. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 251.
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Phänomenologie
gunsten der Wissenschaft überwunden werden kann. 85 Die phänomenologische Reduktion, so Gadamer in einem Artikel, ist »bodenlos«, insofern sie »keinen vorausgesetzten Erfahrungsboden« hat und diesen Boden selbst schaffen muss. 86 Gadamer kann dem Impuls von Husserl, die Lebenswelt gegenüber der Wissenschaft philosophisch zu verankern, zustimmen, aber möchte »ihm im Sinne unseres praktisch-politischen Menschseins den alten Impuls eines echten sensus communis zur Seite stellen«, 87 und damit die Dimension, die aus der Lebenswelt einen zeitlich-subjektiven Akt macht. Das Hauptproblem bei der Beschreibung der Lebenswelt bzw. bei der Beschreibung des die Lebenswelt wahrnehmenden Subjekts sieht Gadamer in der mangelnden »Selbstkonstitution der Zeitlichkeit«, 88 dem Fehlen der zeitlichen Dimension. Indem Husserl die Philosophie in das Wechselspiel von Lebenswelt und Wissenschaft einordnet, kann er sie nicht jenseits jeder zeitlichen Kategorisierung einordnen. Gadamer verweist auf die Sprache als notwendige Struktur dieses Wechselspiels zwischen Lebenswelt und Wissenschaft und damit auch auf die grundsätzliche sprachliche Struktur der Philosophie selbst. 89 Hier liegt ein großer Schwachpunkt der Husserl’schen Phänomenologie, die Rolle der Sprache für die Phänomenologie selbst zwar anzusprechen, aber nicht hinreichend auszuführen. Dies gilt auch für den späten Husserl der Krisis. Wenn er zu Recht die Lebenswelt der objektiven Wissenschaft gegenüberstellen will, dann kann er nicht in dieser Lebenswelt selbst ein objektives, der Zeit enthobenes Geschehen erkennen. So stellt Husserl in seiner Krisis heraus, dass die Lebenswelt erst durch Vgl. a. a. O., S. 252: »Aber Husserl hält das alles für Paradoxien. Sie lösen sich nach seiner Überzeugung auf, wenn man den transzendentalen Sinn der phänomenologischen Reduktion mit wirklicher Konsequenz festhält und sich vor dem Kinderschreck eines transzendentalen Solipsismus nicht fürchtet.« Vgl. auch Gadamer, Die Wissenschaft von der Lebenswelt, S. 156 f. 86 Vgl. Gadamer, Die phänomenologische Bewegung, S. 130. 87 Vgl. Gadamer, Die Wissenschaft von der Lebenswelt, S. 159. Vgl. auch Gadamer, Zur Aktualität der Husserl’schen Phänomenologie, S. 171: »Und in diesem Sinne möchte ich dem sittlichen Impuls von Husserls Idee einer ›neuartigen Praxis‹ zustimmen, um ihm freilich den alten Impuls eines echten Gemeinsinns (›sensus communis‹) zur Seite zu stellen, der die Praxis unseres politischen Menschseins trägt.« 88 Vgl. Gadamer, Die phänomenologische Bewegung, S. 134 f. 89 Vgl. a. a. O., S. 141: »Es ist die Sprache, auf deren Universalität alle Wege unseres Denkens angewiesen sind. […] Es ist erstaunlich, in wie geringem Grade das Problem der Sprache in der Phänomenologie, bei Husserl wie bei Scheler, überhaupt bedacht wird.« Vgl. auch Gadamer, Zur Aktualität der Husserl’schen Phänomenologie, S. 168. 85
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Die Lebenswelt
die phänomenologische Analyse und nicht aus sich heraus Fundament der Philosophie sein kann, da sie ohne die eidetische Reduktion im »Ungefähren, Typischen« verbleibt. 90 Ströker schreibt dazu, dass »die Lebenswelt als Sinnesboden der Wissenschaft gar nicht außerhalb einer spezifischen Fragestellung der transzendentalen Phänomenologie vorfindlich werden kann. […] ›Sinnesboden‹, ›Sinnesursprung‹, ›Sinnesfundament‹ entbehren jeder mundanen Bedeutung. Die Funktion des Bodens ist […] eine transzendentale Funktion«. 91 Das Wechselspiel zwischen Lebenswelt und Wissenschaft ist kein gleichberechtigtes und hier liegt eine Schwäche in der Lebenswelt-Beschreibung Husserls, den Weg, den er in der Vorgegebenheit der Lebenswelt beschritten hat, nicht konsequent weitergegangen zu sein. Wo ist die Philosophie in diesem Wechselspiel zwischen Lebenswelt und Wissenschaft zu verorten? Waldenfels spricht nicht von einem »Dazwischen«, sondern von der Grenze dieser beiden: »Die Philosophie hat ihren Stand nicht mehr diesseits oder jenseits der Wissenschaften, wie Husserl noch meint, indem er diese zwischen Alltagsmeinung und Vernunfteinsicht ansiedelt, sondern vielmehr bewegt sie sich mit ihren eigenen Denkmitteln in demselben Bereich wie jene, oder, wo sie ihre kritische Funktion wahrnimmt, an ihren Rändern.« 92
Die Philosophie beschreibt die Grenze zwischen der Lebenswelt und der Wissenschaft, das Umschlagen der Lebenswelt in die Wissenschaft genauso wie den Bezug der Wissenschaft zur Lebenswelt. Dieses Umschlagen – darauf weist Gadamer hin – ist sprachlich. Mit Gadamer gesprochen und auf Husserl bezogen ist die Philosophie der Rand der Wissenschaft zur Lebenswelt hin und in dieser Perspektive sinnerklärend-hermeneutisch. Auf der anderen Seite ist die Philosophie der Rand der Lebenswelt zur Wissenschaft hin und in dieser Perspektive sinnstiftend-rhetorisch.
Vgl. Husserl, Krisis, Husserliana VI, S. 29. Vgl. Ströker, Geschichte und Lebenswelt, S. 117. Vgl. dazu auch Gander, Selbstverständnis und Lebenswelt, S. 126: »Das aber bedeutet, dass für Husserl die Lebenswelt einer unmittelbar deskriptiven Erfassung nicht zugänglich ist. In dem von ihm ihr zugeschriebenen ontologischen Status der Vorgegebenheit wird sie aufweisbar erst mittels einer phänomenologisch methodischen Rückbesinnung.« 92 Waldenfels, Die Abgründigkeit des Sinnes, S. 136. 90 91
89 https://doi.org/10.5771/9783495817773 .
Phänomenologie
2.3 Intersubjektivität Die Intersubjektivität ist ein weiteres, zentrales Motiv der späten Jahre Husserls. Im Denken der Intersubjektivität erhält die Überwindung oder Weiterentwicklung des Solipsismus und der reinen Logik der früheren Philosophie Husserls ihren Ausdruck. Die Intersubjektivität ist als eine Konsequenz der Subjektivität zu verstehen, die sich aufgrund von Erfahrungen konstituiert, die nicht nur privat-subjektiver Natur sein können. Insofern der Seinssinn der Welt als intersubjektiv erfahren wird, wird sie zur Grundlage der Objektivität. 93 Die intersubjektiv-transzendentale Sozialität wird damit zur Grundlage der Konstitution der Wahrheit. Entsprechend ist Husserls Projekt verstehbar als das einer »soziologischen Transzendentalphilosophie«. 94 Der absolute Selbstbezug als »primordiale Welt« erweist sich als nicht möglich. So schreibt Husserl 1932: »Aber komme ich zu einem fremden körperlichen Leib, so verzweigt sich die Möglichkeit der Forterfahrung. Ich kann gerichtet bleiben auf das sinnlich Erfahrbare, also die pure Körperlichkeit, oder mich auf die fremde Person richten. […] Tue ich das in meinem möglichen Wahrnehmen, so halte ich mich in meiner primordialen Wahrnehmungssphäre. Aber so wie ›Geistiges‹, Psychisches oder objektiver Geist, in meiner fortschreitenden möglichen Wahrnehmung mit auftritt, habe ich eine mögliche Verzweigung.« 95
Niehues-Pröbsting weist auf das Zentrale dieses Zitats hin: »Wenn ich mich entscheide, einen begegnenden ›körperlichen Leib‹ nur als physischen Gegenstand wahrzunehmen und damit in der primordialen Sphäre zu verbleiben, muss ich ihn zuerst als Leib aufgefasst haben, sonst kann ich mich nicht entscheiden; dann aber habe ich sie schon verlassen.« 96 In der Wahrnehmung und in der Einschätzung des Anderen als Anderen – in seinem Leib – erweist sich die von Husserl in seinen Logischen Untersuchungen postulierte PrimordiaVgl. Husserl, Phänomenologische Psychologie, Husserliana IX, S. 344: »Die konkret volle transzendentale Subjektivität ist das von innen her, rein transzendental einige und nur so konkrete All der Ichgemeinschaft. Die tranzendentale Intersubjektivität ist der absolute, der allein eigenständige Seinsboden, aus dem alles Objektive, das All des objektiv real Seienden, aber auch jede objektive Idealwelt, seinen Sinn und seine Geltung schöpft.« 94 Vgl. a. a. O., S. 539. Vgl. auch Zahavi, Husserls Phänomenologie, S. 115 f. 95 Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana XV, S. 486. 96 Niehues-Pröbsting, Überredung zur Einsicht, S. 235 f. 93
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Intersubjektivität
lität des Selbst als brüchig. Über die Leiblichkeit verweist Husserl auf dasjenige als unhintergehbar, was er eigentlich aus der phänomenologischen Analyse verbannen wollte. Neu in den Fokus kommt das Andere, die hergestellte Beziehung zum Anderen als Vermittlung bzw. Mitteilung. In diesem Zusammenhang begibt sich Husserl auf das Feld der Rhetorik: »Zum Sinn einer solchen Rede, zum normalen Begriff von Mitteilung gehört natürlich, dass ich, während ich im Absehen und Ausführen der Mitteilung bin, zugleich von dem Anderen verstanden (erfahren) werde als so agierendes Ich, was einerseits voraussetzt, dass mein mitteilendes Tun für den einfühlungsmäßig für mich daseienden Anderen sich ausdrücklich bekunde, dass es in seiner sinnlichen Außenseite meine zugehörige Innerlichkeit nach Absehen und wollendem Tun ausdrücke. Auch die Absichtlichkeit eines Ausdrucks muss sich also ausdrücken.« 97
Husserls entwirft eine »Phänomenologie der Mitteilungsgemeinschaft«. 98 Diese Mitteilungsgemeinschaft wird durch das Zusammen konstituiert, durch die Erfahrung des Anderen und den Austausch mit ihm. Der eigene Umgang mit der Welt wird vom Umgang des Anderen mit der Welt geprägt, der auch für einen selbst somit Geltung gewinnt. 99 Aus der intersubjektiven Haltung, die gewonnen wird aus der Übernahme, aber auch Ablehnung der Welthaltung des Anderen, entsteht eine Verhaltensweise, die Husserl »doxisch« nennt und die er als das Verbleiben »desselben gegenständlichen Seinssinnes« definiert: »dasselbe, was für ihn ist und so beschaffen ist, ist nun für mich seiend und so beschaffen.« 100 Das eigene Bewusstsein wird zu einem relativen Geschehen, konstituiert durch den anderen, es ist »relative Konkretion«, »socius einer Sozialität«. 101 Dieses Mitteilungsgeschehen ist es, das die menschliche Gemeinschaft als solche
Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana XV, S. 473 f. Vgl. a. a. O., S. 460 f. 99 Vgl. a. a. O., S. 463: »Ich übernehme sozusagen sein ihm als wirklich Geltendes als meine Geltung, seine Urteile als meine.« 100 A. a. O., S. 464. 101 Vgl. a. a. O., S. 193 f.: »Ebenso ist jedes ego, jede Monade konkret genommen Substanz, aber nur relative Konkretion, sie ist, was sie ist, nur als socius einer Sozialität, als ›Gemeinschaftsglied‹ in einer Totalgemeinschaft. Hier tritt aber ein völlig neuer Begriff von Aufeinander-angewiesen-sein, Voneinander-abhängig-sein, Miteinanderverbunden-sein und der weitesten Form nach überhaupt Miteinander-sein, Koexistieren, In-der Einheit-einer-Zeitlichkeit-sein, auf.« 97 98
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Phänomenologie
konstituiert, und dieses Geschehen, so Husserl, weist hinaus in die Sprachlichkeit: »Aller Sozialität liegt zugrunde […] der aktuelle Konnex der Mitteilungsgemeinschaft, der bloßen Gemeinschaft von Anrede und Aufnehmen der Anrede, oder deutlicher, von Ansprechen und Zuhören. Diese sprachliche Verbundenheit ist die Grundform der kommunikativen Einigung überhaupt, die Urform einer besonderen Deckung zwischen mir und dem anderen.« 102
2.4 Zeichenlehre Nicht zu trennen vom Nachdenken über die philosophische Relevanz des Sprachlichen ist die Zeichenlehre, die Frage, welche semiotische Wirkung Sprache hat bzw. wie eine semiotische Wirkung erzeugt wird. Husserl hat in den Logischen Untersuchungen im Zeichen eine Differenzierung vorgenommen, einen »doppelten Sinn« erkannt. Er unterscheidet zwischen »Ausdruck« und »Anzeichen«. Während der »Ausdruck« das Zeichen darstellt, das eine Bedeutung, einen Inhalt transportiert, drücken die Zeichen als »Anzeichen« nichts aus, »es sei denn, daß sie neben der Funktion des Anzeigens noch eine Bedeutungsfunktion erfüllen«. 103 Der Ausdruck, so Husserl, verfügt über eine Bedeutung. Diese Bedeutung verleiht dem Ausdruck eine andere Ebene als die rein stimmlich-physische. Die Bedeutung wird dem Begriff verliehen, Husserl spricht hier von »bedeutungsverleihenden Akten«. 104 Das, was dem Ausdruck Bedeutung verleiht, ist nicht – und das ist Husserl wichtig – der bezeichnete Gegenstand, sondern das, was der Intention des Sprechers entspricht. Die reine Logik bezieht sich nun auf diese »ideale Einheiten, die wir hier Bedeutungen nennen«, die als »ideale Wesen« »aus den psyschologischen und grammatischen Verbänden herauszulesen« sind. 105 Dieser theoretische Gehalt der Wissenschaft, so Husserl, ist der »von aller Zufälligkeit der Urteilenden und Urteilsgelegenheiten unabhängige Bedeutungsgehalt«. 106 Die Philosophie als Wissenschaft hat sich nun auf diese Idealität zu beziehen, die aller Zeitlichkeit und Subjektivität 102 103 104 105 106
A. a. O., S. 475. Vgl. Husserl, Logische Untersuchungen II,1, S. 23. Vgl. a. a. O., S. 38. Vgl. a. a. O., S. 91 f. Vgl. a. a. O., S. 92.
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Zeichenlehre
enthoben ist, aber durch den sprachlichen Ausdruck in die Zeitlichkeit gesetzt wird. Husserl unterscheidet zwischen der physischen Ausdruckserscheinung, dem sinngebendem und dem sinnerfüllendem Akt. Diese Akte, so Husserl, sind zwar zu unterscheiden, aber sie bilden »eine innig verschmolzene Einheit von eigentümlichem Charakter«. 107 Husserls Kritik an der Metaphysik besteht darin, die Idealität nicht an einer Sache festzumachen, etwa an der Bedeutung des Gesagten, sondern an dem Geschehen, das Bedeutung erzeugt bzw. in dem Bedeutung erzeugt wird. Dieses Geschehen muss im jeweils Gesagten zwar eine Idealität voraussetzen, aber diese ist von der Intentionalität des Geschehens selbst abhängig, d. h. von der Subjektivität des Sprechenden. Indem der Sprechende in dem, was er sagen will, eine Idealität voraussetzt, schafft er eine Idealität nicht auf das hin, was er sagen will, sondern in dem Akt des Bezeichnens selbst. Eine wissenschaftliche Theorie wird mit dem Anspruch aufgestellt, eine Objektivität und Idealität auszudrücken, unabhängig von jeder Subjektivität und »sonstigen psychischen Akten«. 108 Husserl fährt fort: »Der Forscher stellt dann Sätze auf. Natürlich behauptet, urteilt er hierbei. Aber er will nicht von seinen oder irgendjemandes Urteilen sprechen, sondern von den bezüglichen Sachverhalten, und wenn er sich in kritischer Erwägung auf die Sätze bezieht, so meint er ideale Aussagebedeutungen; nicht die Urteile, sondern die Sätze nennt er wahr oder falsch; Sätze sind ihm Prämissen und Sätze sind ihm Folgen. Sätze bauen sich nicht auf aus psychischen Akten, aus Akten des Vorstellens oder Fürwahrnehmens, sondern wenn nicht wieder aus Sätzen, so letzlich aus Begriffen. Sätze selbst sind Bausteine von Schlüssen.« 109
Husserls Zeichentheorie schwankt immer wieder zwischen den beiden Polen der Objektivität und Subjektivität, zwischen Idealität und Veränderlichkeit. Die Einheit des Zeichens wird konstituiert aus der veränderlich-subjektiven Dimension des Lautes oder der unterschiedlichen Intention des Sprechers, aber auch aus der Idealität des Gesche-
Vgl. a. a. O., S. 39. Vgl. a. a. O., S. 93: »Wo die Wissenschaften systematische Theorien entwickeln, wo sie, statt den bloßen Gang der subjektiven Forschung und Begründung mitzuteilen, die reife Frucht erkannter Wahrheit als objektive Einheit darstellen, da ist auch von Urteilen und Vorstellungen und sonstigen psychischen Akten nie und nirgends die Rede.« 109 A. a. O., S. 93 f. 107 108
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Phänomenologie
hens, das eine Bedeutung erzeugt, die unabhängig jeder Subjektivität ist. Derridas Kritik in Die Stimme und das Phänomen entzündet sich an mehreren Punkten. Im Wesentlichen geht es Derrida darum, die Orte zu hinterfragen, an denen Husserl von einer wie auch immer gearteten Idealität spricht. Prinzipiell fragt Derrida, ob die Differenzierung Husserls, von der konkreten Sprache eine ideale Ebene abzusondern, überhaupt legitim ist und diese Differenzierung nicht eigentlich eine innersprachliche zwischen dem Ausdrücklichen und dem Nicht-Ausdrücklichen sei. Die von Husserl propagierte Reinheit der Sprache sei nicht möglich. 110 Husserls Idealität des Zeichens beruht auf dem Zusammen verschiedener Faktoren, die in ihrem Zusammen eine Gegenwärtigkeit voraussetzen, die Derrida bezweifelt: »Die Idealität der Form der Gegenwärtigkeit selbst impliziert nämlich, dass sie sich ins Unendliche wiederholen könnte, dass ihre Wieder-kehr als Wiederkehr des Selben unendlich notwendig und in die Gegenwärtigkeit als solche eingeschrieben sei. […] Wie sollte man ohne diese Nicht-Identität-mit-sich der als originär behaupteten Gegenwärtigkeit erklären können, dass die Möglichkeit der Reflexion und der Vergegenwärtigung zum Wesen eines jeden Erlebnisses gehört? Dass sie als eine ideale und reine Freiheit zum Wesen des Bewusstseins gehört?« 111
Wenn Husserl davon spricht, dass die physische Ausdruckserscheinung, der sinngebende und der sinnerfüllende Akt miteinander zu einer Einheit verschmelzen und auf diese Weise eine Idealität konstituieren, dann weist Derrida darauf hin, dass dieses Verfahren eine Gegenwärtigkeit und eine Wiederholbarkeit voraussetzt, die nicht existieren. Die genannten Faktoren verfügen in sich nicht über eine derartige Idealität oder Unveränderlichkeit, dass ihr Zusammen eine Idealität oder reine Gegenwart herstellen könnte. Der entscheidende Faktor, der dies behindert und den Husserl laut Derrida nicht genügend berücksichtigt hat, ist die Zeit: »Haben nicht die Anzeige und all die Begriffe, von denen aus man sie bislang zu denken versucht hat […] einen unentwurzelbaren Ursprung 110 Vgl. Derrida, Die Stimme und das Phänomen, S. 51: »Husserl zieht eine Grenze, die nicht zwischen Sprache und Nicht-Sprache, sondern in der Sprache im allgemeinen verläuft, zwischen dem Ausdrücklichen und dem Nicht-Ausdrücklichen (mit allen Konnotationen). Denn es dürfte schwierig – und de facto unmöglich – sein, aus der Sprache sämtliche Formen der Anzeige auszuschließen.« 111 A. a. O., S. 92 f.
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Zeichenlehre
in der Bewegung der transzendentalen Zeitigung? Und wird nicht im selben Zug alles das, was sich in dieser Reduktion auf das ›einsame Seelenleben‹ ankündigt […] gleichsam in seiner Möglichkeit zerspalten durch das, was sich die Zeit nennt?« 112
Das von Husserl beschriebene Geschehen ist nicht der Zeit enthoben, sondern ein zeitliches. Entsprechend entstehen Lücken und Verschiebungen zwischen diesen Faktoren. Diese Lücken sind sogar das Kennzeichen dieses Geschehens, das Derrida auf seine différance hin auslegt, die jeder Gegenwärtigkeit und jeder Identität vorausgeht. 113 Eine wichtige Rolle im Nachweis der Zeitlichkeit kommt laut Derrida der Stimme zu. Die Stimme ist nicht nur als Äußerung des inneren Bewusstseins zu interpretieren, sondern wirkt auch auf das Bewusstsein ein, begründet damit, »dass ich mich in der Zeit, in der ich spreche, höre.« 114 Die Stimme ist nicht nur als Äußerung Teil eines sich selbst immer gegenwärtigen Bewusstseins, sondern – indem sie auch gehört wird – Träger des Aufschubs und damit der Zeitlichkeit. Es gibt keine ungebrochene Gegenwärtigkeit, kein reines Jetzt, sondern die Sprache birgt als hörbare Stimme oder auch als phonetische Schrift immer den zeitlichen Aufschaub, die différance, in sich. In diesem Aufschub wird die Sprache auf all das hin geöffnet, was Husserl in seiner Beschreibung der Idealität aus ihr entfernen wollte: »Die Selbstaffektion als Operation der Stimme setzte voraus, dass eine reine Differenz die Selbstgegenwart teile. In dieser reinen Differenz ist die Möglichkeit von all dem verwurzelt, was man aus der Selbstaffektion glaubt ausschließen zu können: der Raum, das Draußen, die Welt, der Körper usw. Sobald man zugesteht, dass die Selbstaffektion die Bedingung der Selbstgegenwart ist, ist eine reine transzendentale Reduktion nicht möglich.« 115
Indem Derrida gegen (den frühen) Husserl den Raum, das Draußen, die Welt und den Körper zum notwendigen Teil des Sprachgeschehens und der menschlichen Sinnkonstruktion macht, öffnet er die A. a. O., S. 93. Vgl. ebd.: »In allen diesen Ausrichtungen wird die Gegenwärtigkeit der Gegenwart von der Falte der Wiederkehr, der Bewegung der Wiederholung her gedacht und nicht umgekehrt. Dass diese Falte in der Gegenwärtigkeit oder in der Selbstgegenwart irreduzibel ist, dass diese Spur oder diese différance stets älter ist als die Gegenwärtigkeit und ihr ihre Offenheit verschafft, verbietet das nicht, von einer einfachen Identität-mit-sich ›im selben Augenblick‹ zu sprechen?« 114 Vgl. a. a. O., S. 105. 115 A. a. O., S. 111 f. 112 113
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Phänomenologie
phänomenologische Analyse auf die Rhetorik hin. Husserl interpretiert die Sprache auf eine vom Bewusstsein abhängige Idealität hin, die von Derrida kritisiert wird. Derrida erkennt in der Sprache, im Hören des Gesprochenen oder auch im Schriftcharakter der Sprache, ein das sprechende Bewusstsein retardierendes Moment. Husserl deutet die veränderliche Sprache auf das Bewusstsein hin, Derrida ändert die Perspektive und deutet das Bewusstsein auf die veränderliche Sprache hin. Die reine Gegenwärtigkeit der Sprache wird unmöglich und lässt den Freiraum, den die Rhetorik für ihre Sprachkonstruktion benötigt. Indem die Sprache sich als vermittelndes Spiel verschiedener und heterogener Faktoren erweist, ist sie auf die Rhetorik angewiesen, die diese Vermittlung als natürliche rhetorische Fähigkeit erst in Gang setzt und als akademische Disziplin systematisiert.
2.5 Anthropologie Universale Geisteswissenschaft In dem im Zusammenhang der Intersubjektivität geäußerten Gedanken der Konstituierung der menschlichen Gemeinschaft durch die Kommunikation, das Mitteilungsgeschehen, entwirft Husserl eine »Universale Geisteswissenschaft als Anthropologie«. Diese Anthropologie ist insofern universal, weil sie die engen Grenzen bisheriger Geisteswissenschaften nicht anerkennt: es geht ihr um den »Menschen überhaupt«, »die Menschheit in universaler Allgemeinheit als Thema«, letztlich um jede Art »menschlicher Bestrebungen, Wertungen, Handlungen, in denen Menschen ihre Welt gestalten und ihr dabei ein ›menschliches Gesicht‹ erteilen.« 116 Da die Naturwissenschaften und die anderen deskriptiven Wissenschaften die Welt oder bestimmte Aspekte des Menschseins beschreiben, werden sie von der Anthropologie überschritten, welche aufgrund der Tatsache, dass sie den Menschen als Menschen zum Thema hat, alle Wissenschaft umfasst. 117 Der Mensch wird ausgelegt als ein die Natur erfahrendes Wesen und in dieser Bezogenheit wird auch die Welt ausgelegt als 116 Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana XV, S. 480. 117 Vgl. a. a. O., S. 481 f.
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Anthropologie
eine Welt, die »für uns ist«. 118 Jedes Wissen über die Welt ist vor diesem Hintergrund zu interpretieren, das Selbstbewusstsein impliziert Weltbewusstsein: »Welt ist für mich, der ich selbst für mich bin.« 119 Indem nun die Welt erfahren wird, diese Erfahrungen abgeglichen werden mit neuen Erfahrungen, aber auch im Austausch mit anderen Menschen, schreitet der Mensch in der Erkenntnis der Welt voran, die anthropologisch ist. Dieses Voranschreiten – und auch hier geht Husserl über seine Frühwerke hinaus – ist zeitlich. Die Letztbegründung dieser Zeitlichkeit liegt in der Körperlichkeit des Menschen, durch die er das Andere als »intentionale Wiederholung« wahrnimmt. 120 Orth sieht in dieser Beschreibung der Anthropologie als einer Verbindung logischer und zeitphänomenologischer Zusammenhänge eine große Gefahr: »Es besteht die Gefahr, dass der Leser zu einer Illustrierung der genetischen Analysen motiviert wird«, 121 mit anderen Worten, dass die Inhalte der reinen Logik rhetorisch verkleidet werden und diese rhetorische Verkleidung als Philosophie bzw. Anthropologie im Sinne der Phänomenologie verkauft wird. Orth sieht einen »hypostasierenden Biologismus« heraufziehen und fährt fort: »Im Grunde wiederholen sich methodische Probleme der Lebenswelttheorie. Sowenig wie die Lebenswelt hypostasiert werden darf, sowenig kann das mit dem durch abstrakte Reduktion gewonnenen Begriff der Primordialität geschehen.« 122 In der Tat handelt es sich um die gleiche Struktur der Anthropologie und der Lebensweltthematik. Beide zeigen eine Weiterentwicklung der reinen Logik des frühen Husserl auf, die zu einer Integration historischer und kultureller Elemente in die Phänomenologie führt. Orth klassifiziert diese Integration als »Illustrierung«. Was er hier despiktierlich meint, ist eine treffende Kennzeichnung der Phänomenologie des späten Husserl als rhetorisch. Vgl. a. a. O., S. 483. A. a. O., S. 493. 120 Vgl. a. a. O., S. 489: »Der Andere ist meine intentionale ›Wiederholung‹, und darin liegt nicht nur, dass ich ihn als Wiederholung habe (aktuell oder vermöglich), sondern auch, dass er (so muss er mir gelten, das ist in meiner Seinsgeltung, durch die er für mich ist, intentional beschlossen) auch mich als seine intentionale Wiederholung hat. In der Vergemeinschaftung, die wechselweise Vergemeinschaftung ist, liegt dann weiter die ›Objektivität‹ jedes Leibes und jedes durch Fungieren im Leib für das Ich.« 121 Vgl. Orth, Anthropologie und Intersubjektivität, S. 125. 122 A. a. O., S. 126. 118 119
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Phänomenologie
Eine sehr feinsinnige, aber beachtenswerte Kritik an dem anthropologischen Anliegen Husserls hat Blumenberg formuliert: »Das Wesen Mensch gehört nicht zum Wesen Welt. Welche Wendungen auch die Phänomenologie sonst hätte nehmen können, mit der Zulassung von ›Welt‹ als einem ihrer genuinen Themen ist der Zwang schon ausgelöst, statt vom Menschen als einem kontingenten Weltwesen, von dem einen letzten Horizont aller Gegenstände korrespondierenden ›Bewusstsein überhaupt‹ als dem konstituierenden Subjekt jeder möglichen Welt zu sprechen.« 123
Die Gefahr, auf die Blumenberg hinweist, ist folgende: Indem Husserl dem reinen Bewusstseinsakt die Lebenswelt als konstitutives Moment seiner Anthropologie hinzufügt, macht er paradoxerweise den Menschen bzw. den ein Bewusstsein habenden Menschen von der Welt unabhängig. Indem die Lebenswelt, die auf das Bewusstsein einwirkt, getrennt wird vom Bewusstsein selbst, unabhängig interpretiert wird als Konstituens einer »anthropologischen Phänomenologie«, kann sie ohne den Menschen gedacht werden: »Beim Vollzug der Frage, was das Wesen einer Welt ohne Rücksicht auf deren Existenz ausmacht, fällt der Mensch gleichsam aus dem systematischen Rahmen heraus.« 124 Blumenberg wirft Husserl vor, die Lebenswelt nicht als Teil des menschlichen Bewusstseins zu fassen, sondern als sein Gegenüber, und in dieser Gegenüberstellung Lebenswelt und Bewusstsein als voneinander unabhängige Teile zu sehen, die letztlich den Menschen aus seiner Lebenswelt herauslösen oder den Menschen als Thema der Philosophie nicht berücksichtigen können. Blumenbergs Kritik an Husserl mag sehr scharf klingen, und er selbst weist darauf hin, dass es mit Sicherheit nicht die Intention Husserls war, leichtfertig das Grundanliegen einer Anthropologie missachten zu wollen. 125 Aber die Gefahr auch der späten Phänomenologie Husserls liegt darin, letztlich im Wechselspiel zwischen Mensch und Lebenswelt eine Objektivierung zu erkennen, die über den Menschen hinausgeht und ihm »aufstrukturiert ist«. 126 Diese Interpretation der Blumenberg, Beschreibung des Menschen, S. 29. A. a. O., S. 28. 125 Vgl. a. a. O., S. 30. 126 Vgl. a. a. O., S. 29: »An dieser Stelle ist mir die einmütige Empörung derjenigen sicher, die in dem großen Thema der Intersubjektivität die sicherste Verankerung einer Anthropologie im Denken Husserls erblicken; auch gegen seine Abwehr und Verweigerung. Um mir diese Empörung nicht stärker und länger als notwendig zuzuziehen, schicke ich allem anderen voraus, dass nach den in vollem Umfang vorliegen123 124
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Anthropologie
Anthropologie Husserls wird seinem Anliegen mit Sicherheit nicht gerecht. Ihm ging es um die Möglichkeit, die Welt des Menschen in das Sprechen über den Menschen philosophisch verantwortbar integrieren zu können. Dennoch konnte Husserl dabei wohl nicht alle Gefahren einer den Menschen übersteigernden Objektivität umgehen. Die Frage wird zu klären sein, wie eine Philosophie möglich ist, die dieser Gefahr nicht erliegt.
Rhetorik Trotz aller Hinwendung zur Empirie, sowie zur Historizität und Kulturalität des Menschen war Husserl stets sehr skeptisch gegenüber der Sprache. So schreibt er in der Krisis von einer »Verführung der Sprache«: das Leben, so Husserl, »verfällt in großen und immer größeren Strecken in ein rein von Assoziationen beherrschtes Reden und Lesen, wonach es oft genug in seinen so gewonnenen Geltungen von der nachkommenden Erfahrung enttäuscht wird.« 127 Entsprechend, so Husserl weiter, soll eine Wissenschaft darauf bedacht sein, diese Assoziationen zu vermeiden und »auf Eindeutigkeit des sprachlichen Ausdrucks bedacht« sein. 128 Grundlage hierfür ist Husserls Meinung, dass die Sprache »aus idealen Gegenständlichkeiten aufgebaut« ist, 129 eine These, die ihm die scharfe Kritik Derridas eingebracht hat. 130 Wie aber, so fragt Husserl weiter, kommt die Objektivität – hier erläutert als geometrische – in das Bewusstsein? Die Antwort Husserls: »mittels der Sprache, in der sie sozusagen ihren Sprachleib erhält.« 131 Die Sprache ist Teil des Horizonts, in dem sich das Menschsein abspielt: den Resultaten der Analysen über Fremderfahrung alle Intersubjektivität gebunden ist an die Appräsentation eines anderen Ich durch die Erscheinung eines dem meinen ähnlichen Leibkörpers, aber gerade diese Prämisse es gleichgültig werden lässt, ob die Ähnlichkeitsbeziehung auf ein spezifisch so gestaltetes Gebilde wie den Organismus des homo sapiens sapiens aufstrukturiert ist.« 127 Husserl, Die Krisis, Husserliana VI, S. 372. 128 Vgl. ebd. 129 Vgl. a. a. O., S. 368: »Denn die Sprache selbst ist in allen ihren Besonderungen nach Worten, Sätzen, Reden, wie in grammatischer Einstellung leicht zu sehen, durchaus aus idealen Gegenständlichkeiten aufgebaut, z. B. das Wort ›Löwe‹ kommt in der deutschen Sprache nur einmal vor, es ist Identisches seiner unzähligen Äußerungen beliebiger Personen.« 130 Vgl. Derrida, Husserls Weg in die Geschichte, S. 88 ff. 131 Husserl, Die Krisis, Husserliana VI, S. 369 f.
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Phänomenologie
»Eben zu diesem Menschheitshorizont gehört die allgemeine Sprache. Menschheit ist vorweg als unmittelbare und mittelbare Sprachgemeinschaft bewusst. Offenbar kann nur durch die Sprache und deren Dokumentierungen als mögliche Mitteilungen der Menschheitshorizont ein offen endloser sein, wie er es für Menschen immer ist.« 132
Durch die Sprache erhält der Mensch die Weltoffenheit, die er braucht, sich als freies Wesen zu entwickeln. Hier spielt die sprachliche Benennung eine zentrale Rolle. Diese erläutert Husserl wie folgt: »Alles hat seine Namen bzw. ist nennbar in einem weitesten Sinne, d. h. sprachlich ausdrückbar. Objektive Welt ist von vornherein Welt für alle, die Welt, die ›jedermann‹ als Welthorizont hat. Ihr objektives Sein setzt Menschen als Menschen ihrer allgemeinen Sprache voraus. Sprache ist von ihrer Seite Funktion und geübtes Vermögen, korrelativ auf die Welt, das Universum der Objekte als sprachlich nach seinem Sinn und Sein ausdrückbares, bezogen. So sind Menschen als Menschen, Mitmenschheit, Welt […] und andererseits Sprache untrennbar verflochten.« 133
Husserl hat sich nicht oft über die Sprache geäußert; sie war ihm – gerade in seinen frühen Jahren – ein zu unsicherer Partner einer formallogisch orientierten Philosophie. In der Krisis-Schrift spricht er der Sprache – trotz aller möglichen Verführbarkeit – eine zentrale Rolle in der Konstitution des Menschseins zu, die er allerdings trotzdem nur kurz abhandelt und nicht weiter ausführt. Husserl erkennt einen Horizont, der dem Menschen vorgegeben ist und der sich aus der Geschichte aufgebaut hat, den Traditionen, der Gesellschaft – und eben der Sprache. Insofern diese Gemeinschaft, die den Menschen umgibt, eine Mitteilungsgesellschaft ist, ist sie nicht nur auf Sprache als Memorierungselement angewiesen, sondern auch als diejenige, welche die Gesellschaft funktionieren lässt. Insofern der Mensch ein auf die Sozialität angewiesenes Wesen ist, ist er sprachlich. Damit, so kommentiert Niehues-Pröbsting, »begibt er sich […] aus dem Gebiet der reinen Logik in das der Rhetorik«, die Wahrheit wird zu einem »nachgeordneten Spezialproblem«, ist aber nicht mehr »der dominierende Hauptaspekt des Redens«. 134 Heidegger hat an dieser Schnittstelle seine Kritik an Husserls 132 133 134
A. a. O., S. 369. A. a. O., S. 370. Vgl. Niehues-Pröbsting, Überredung zur Einsicht, S. 242.
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Anthropologie
Phänomenologie angesetzt. Die »Mitteilungsgemeinschaft« Husserls ist für Heidegger die Grundlage der »Alltäglichkeit des Miteinanderseins« und hier erkennt Heidegger die Rhetorik ausdrücklich als die grundlegende Form einer »ersten systematischen Hermeneutik der Alltäglichkeit des Miteinanderseins«. 135 Die intensive Beschäftigung mit der Rhetorik des Aristoteles – inbesondere in seiner Vorlesung von 1924 – gibt Heidegger dann die Möglichkeit, das Anliegen der Phänomenologie auf die Affekte hin auszuweiten und damit die Sprachlichkeit noch enger an die menschliche Existenz zu binden. Der Hauptvorwurf, den Heidegger jedoch Husserl macht, besteht darin, dass dieser die Sprachlichkeit nur auf seine formale Logik hin ausgelegt habe. So stellt Heidegger in seinen Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs im Rückblick auf Husserl fest: »Es ist […] grundverkehrt, die Analyse der Sprache beim theoretischen Satz der Logik oder dergleichen anzusetzen.« 136 Er fährt schließlich fort: »Der Sinn einer wissenschaftlichen Logik ist die Herausarbeitung dieser apriorischen Daseinsstruktur der Rede, die Herausarbeitung der Möglichkeiten und Arten der Auslegung, der Stufen und Formen der darin erwachsenen Begrifflichkeit. Eine solche wissenschaftliche Logik ist nichts anderes als eine Phänomenologie der Rede, d. h. des λόγος. Was sonst unter dem Titel ›Logik‹ herumläuft, ist ein verworrenes Gemisch von Analyse des Denkens, Erkennens, Bedeutungslehre, Psychologie der Begriffsbildung, Wissenschaftslehre oder sogar Ontologie.« 137
Eine solche »Phänomenologie der Rede« ist laut Heidegger angewiesen auf das, was in der Rhetorik behandelt und seit Aristoteles auch in den philosophischen Diskurs integrierbar ist. Wenn Heidegger sagt: »Es gibt Sprache nur, weil es Rede gibt, nicht umgekehrt« 138, dann nimmt er hier die Umkehrung des Husserl’schen Anliegens vor und weist nach, dass der konkrete Vollzug der Sprache in der Rede das primäre Objekt der phänomenologischen Analyse ist, die Heidegger dann als »Hermeneutik« versteht. Niehues-Pröbsting fasste den Kern der Kritik Heideggers zusammen: »Auch die theoretische Sicht lebt in und aus einer bestimmten Befindlichkeit heraus.« 139 Die Rhetorik war und ist Arbeit an dieser Befindlichkeit. Diese Rolle der Rhetorik hat 135 136 137 138 139
Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, S. 138. Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, S. 361. A. a. O., S. 364. A. a. O., S. 365. Niehues-Pröbsting, Überredung zur Einsicht, S. 260.
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Phänomenologie
Heidegger wahrgenommen und ihr auf diese Weise einen neuen Platz in der Philosophie zugewiesen, den Gadamer dann weiter ausbauen wird. Husserl hat dafür allerdings im Denken der Intersubjektivität die entscheidenden Fundamente gesetzt, die wohl wichtiger und bedeutender waren, als Heidegger als Kritiker wahrhaben wollte. In der Tat ist Husserl in vielen Punkten näher bei Heidegger als dieser erkennen wollte oder konnte. Die Sprache ist für Husserl ein zentraler Bestandteil der menschlichen Welterkenntnis, diese konstituiert sich als Ausdruck und Ausdrucksverstehen: »Die Umwelt des Menschen […] ist nicht bloß bewusstseinsmäßig und habituell von ihm wahrgenommen […], sondern sie ist erfahren als menschliches Dasein ausdrückend, indem sie von den Menschen her Seinssinn hat.« 140 Die Welt, so Husserl, konstituiert sich durch »Ausdrucksgebilde, die ein bleibendes Dasein in der Umwelt« haben. 141 Damit gibt es nicht nur eine Sprache, die in einer bestimmten Funktionalität wahrgenommen wird und auf diese hin beurteilt wird – wie es in der formalen Logik der Fall ist –, sondern die Sprache wird auch als Rede gesehen: »Ist das Sich-wechselseitig-Verstehen und das (Sich-Verstehen) in Konnex des Miteinander, des sich vergemeinschaftenden intentionalen Lebens, aufgeklärt, so tritt als grundlegend für menschliches Dasein als personales Sein unter Personen weiter auf die Mitteilung und die der höherstufige leibliche Ausdruck der Rede […] und korrelativ die Rede selbst, nicht als Reden, sondern als erzeugte Rede, als ausgesprochenes Wortgebilde oder Schriftgebilde, das in der Umwelt ist.« 142
Die Sprache als Rede erfüllt nicht nur eine bestimmte Funktion, sie hebt das Menschsein auf eine neue geistige Ebene, sie ist, so Husserl, »versachllichte Geistigkeit«. 143 Diese Geist-Werdung des Menschen anhand der Sprache ist eine Beschreibung des menschlichen Schöpfungsaktes, der in der Sprache seine Welt und sich in ein neues Sein setzt. Diese Schöpfung von Sprache wird in der Rhetorik beschrieben, und so öffnet Husserl seine Phänomenologie der Rhetorik. Das die Welt deutende Verhältnis des Menschen zur Welt ist nicht nur das Erfassen der Welt, es ist auch ein »auslegendes Tun, indem das un-
140 141 142 143
Vgl. Husserl, Lebenswelt, Husserliana XXXIX, S. 345. Vgl. a. a. O., S. 347 f. A. a. O., S. 347. Vgl. a. a. O., S. 347.
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Anthropologie
explizierte Seiende in das explizierte übergeht« 144 und diesen Weg der Explizierung des Seins durch die Sprache beschreibt die Rhetorik. In seiner Krisis-Schrift spricht Husserl von der »wichtigen Funktion des schriftlichen, des dokumentierenden sprachlichen Ausdrucks« 145 und verweist damit auf die Notwendigkeit der sprachlichen Fassung – die immer eine rhetorische Handlung ist. Diesen Weg der Versprachlichung hat Husserl bereits in seinen früheren Werken beschrieben, so etwa in der Formalen und transzendentalen Logik. Dort sagt Husserl: »Die Worte tragen signitive Intentionen, sie dienen als Brücken, um zu den Bedeutungen, zu dem ›mit‹ ihnen Gemeinten überzuleiten.« 146 Die Worte sind Träger von Bedeutungen, insofern sie durchsichtig sind auf das, was sie meinen und so den Weg der »Versachlichung des Geistes« oder der Explizierung des Seins beschreiben und nachvollziehbar machen. Der Sinn, so Husserl, liegt nicht in den Worten selbst, aber er wird durch sie offensichtlich. Waldenfels fasst dies wie folgt zusammen: »Gemeinsame Sinnbildung ist nur denkbar, wenn nicht nur kommunikative Einzelakte durch Zeichen hindurchgehen, sondern wenn die Kommunikation als ein Geflecht von Akten sich in der kontigenten Sphäre der Zeichen, in ihrer Materialität aufhält und eben darin ihre Produktivität entfaltet. Der Sinn stünde und entstünde sozusagen zwischen den Zeilen.« 147
Indem die Kommunikation mehr ist als ihre bloße Funktionalität und sich der Sinn der Kommunikation nicht im Zeichen selbst, sondern in dem offen legt, was »zwischen den Zeilen« ist, öffnet sich die Phänomenologie der Rhetorik, die in der Sprache nicht nur die Identität der sprachlichen Zeichen erkennt, sondern das Geschehen im Auge hat und schöpferisch aktiviert, das nicht im Zeichen selbst liegt. Husserl hat seine phänomenologische Philosophie zusehends auf empirische Fragestellungen hin erweitert und damit sehr bewusst gegenüber einer naturalistisch-objektivistischen Philosophie in Stellung gebracht. Hat er in seinen frühen Werken jede Art von Empirie und Zeitgebundenheit auszuschließen versucht, indem er die Bewusstseinsakte zum Ausgangspunkt seiner Philosophie machte, anerkennt 144 145 146 147
Vgl. a. a. O., S. 446. Vgl. Husserl, Krisis, Husserliana VI, S. 371. Husserl, Formale und transzendentale Logik, Husserliana XVII, S. 26. Waldenfels, Der Sinn zwischen den Zeilen, S. 137.
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Phänomenologie
er in seinen späten Werken, dass diese Bewusstseinsakte von etwas abhängig sind, das außerhalb ihrer selbst liegt, eben das Kontingente, das er zu verbannen versucht hatte. Zahavi spricht hier von einer »Ausdehnung der transzendentalen Sphäre«; 148 diese Ausdehnung ist getragen von den Begriffen »Lebenswelt« und »Intersubjektivität«, von der konkreten Welt, wie sie sich der menschlichen Existenz darbietet und der Tatsache, dass die menschliche Existenz immer auf das »Andere« verwiesen ist und damit ein relationales Gebilde ist. Die Rhetorik kann aus zwei verschiedenen Perspektiven in die Phänomenologie Husserl integriert werden: zum einen, weil sie die Konstitution der Lebenswelt bewirkt hat. Die Lebenswelt ist von der Sprache getragen und konstruiert, und die Rhetorik mit all ihrer historischen Wirkmacht hat die Lebenswelt mitgebaut, die für Husserl in seinen späten Jahren eine immer größere Rolle spielt. Zum anderen ist die Rhetorik auch Träger der Intersubjektivität. Das Funktionieren der Intersubjektivität ist sprachlich und damit rhetorisch. Es ist angelegt, eine Mitteilungsgemeinschaft zu stiften und dieser Stiftungsakt ist nicht anders denkbar als ein rhetorischer.
148 Vgl. Zahavi, Husserls Phänomenologie, S. 139: »Ich glaube deshalb, dass Husserls spätes Denken durch eine entscheidende Revision des Verhältnisses zwischen dem Transzendentalen und dem Empirischen charakterisiert ist, die ihn schließlich zu einer Ausdehnung der transzendentalen Sphäre führte, eine Revision, die teilweise von seinem Interesse an der Intersubjektvität herbeigeführt wurde und die ihn zwang, die transzendentale Bedeutung von Generativität, Tradition, Geschichtlichkeit und Normalität ernst zu nehmen.«
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3. Humanismus
3.1 Was ist Humanismus? Indem Husserl in seinen späteren Werken die »Lebenswelt« zum zentralen Thema seiner phänomenologischen Philosophie macht, öffnet er diese für die Historizität und Kulturalität des menschlichen Daseins. Die Einordnung dieser Bereiche in die Philosophie ist das Kernanliegen der Hermeneutik Gadamers, die er versteht als Fortsetzung des Humanismus, der auf diese Weise zur Interpretation der Lebenswelt Husserls wird. Was Husserl in seiner »Universalen Anthropologie« anstrebte, wird nun von Gadamers Hermeneutik weitergeführt in der Tradition des Humanismus. In Wahrheit und Methode beschreibt Gadamer sein hermeneutisches Projekt im Konfliktfeld von Geistes- und Naturwissenschaften und sucht über die Hermeneutik die Wissenschaftlichkeit der Geisteswissenschaften zu begründen, ohne dass diese abhängig sind von der Methodik der Naturwissenschaften, die nicht in der Lage seien, das Proprium der Geisteswissenschaften zu erfassen. »Die Erfahrung der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt«, so Gadamer, »lässt sich nicht mit dem induktiven Verfahren der Naturwissenschaften zur Wissenschaft erheben.« 1 Was versteht Gadamer unter den Geisteswissenschaften? Er sieht in ihnen den »wahren Sachverwalter des Humanismus«, welche »dem Begriff der Humanität, diesem Ideal der aufgeklärten Vernunft, einen von Grund auf neuen Inhalt gegeben« habe. 2 Gadamer verortet seine Hermeneutik explizit in der Tradition des Humanismus und geht damit einen anderen Weg als Heidegger, der in seinem Brief über den »Humanismus« auf Distanz zur humanistischen Tradition gegangen war, der er eine zu enge Bin-
1 2
Vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 10. Vgl. a. a. O., S. 14.
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Humanismus
dung an die Metaphysik vorwarf. 3 Gadamer hingegen setzt die humanistische Tradition für seine Hermeneutik als Gegenbegriff zur modernen Wissenschaftlichkeit ein: »Was die Geisteswissenschaften zu Wissenschaften macht, lässt sich eher aus der Tradition des Bildungsbegriffs verstehen als aus der Methodenidee der modernen Wissenschaft. Es ist die humanistische Tradition, auf die wir zurückverweisen werden. Sie gewinnt im Widerstand gegen die Ansprüche der modernen Wissenschaft eine neue Bedeutung.« 4
Ähnlich wie es auch Husserl mit der Beschreibung des Gegensatzes von Objektivität und Transzendentalität betrieben hat, wobei er die Krisis des modernen Menschen mit der Unfähigkeit der modernen Wissenschaften begründete, das Wesen des Menschen zu erfassen, ordnet auch Gadamer seine humanistisch-hermeneutische Philosophie als Gegensatz zur modernen Wissenschaftlichkeit ein. Gadamer will mittels der Hermeneutik und mittels der Geisteswissenschaften etwas zurückgewinnen, was er verloren sieht. Die humanistische Tradition, so stellt er fest, sei verkümmert und die Hermeneutik liefere in ihrem Rückgriff auf den Humanismus die Möglichkeit, die nicht durch die naturwissenschaftlichen Methodik greifbaren Werte der humanistischen Tradition wieder in den philosophischen Diskurs zu bringen. 5 Welche Werte sind dies? Der Schlüssel liegt in Gadamers Verständnis der Bildung, in der er das zentrale Element der Geisteswissenschaften erkennt. Gadamer definiert die Bildung als »aufs engste mit dem Begriff der Kultur« zusammengehörig und nennt sie »die eigentümlich menschliche Weise, seine natürlichen Anlagen und Vermögen auszubilden«. 6 Gadamers Bildungsgedanke knüpft bewusst an die antike physis( an: »Bildung kennt, so wenig wie die Natur, außerhalb ihrer gelegene Ziele.« 7 Wie der griechische physisVgl. Heidegger, Brief über den »Humanismus«, GA 9, S. 313–364. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 23. 5 Vgl. a. a. O., S. 29: »Wir umgekehrt müssen uns den Rückweg in die Tradition mühsam bahnen, indem wir erst einmal die Schwierigkeiten zeigen, die sich aus der Anwendung des modernen Methodenbegriffs auf die Geisteswissenschaften ergeben. Zu diesem Zweck gehen wir der Frage nach, wie es zur Verkümmerung dieser Tradition kam und wie damit der Wahrheitsanspruch geisteswissenschaftlicher Erkenntnis unter das ihm wesensfremde Maß des Methodendenkens der modernen Wissenschaft geriet.« 6 Vgl. a. a. O., S. 16. 7 A. a. O., S. 17. 3 4
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Was ist Humanismus?
Gedanke die Gewachsenheit der Natur aus sich selbst heraus beschreibt, versteht Gadamer Bildung als die Weiterentwicklung dessen, was im Menschen vorhanden ist; damit geht es ihm nicht um den bloßen Erwerb äußerer Fähigkeiten, sondern um eine »Bildung« seines Wesens: »Es ist nicht eine Frage des Verfahren oder Verhaltens, sondern des gewordenen Seins.« 8 Gadamer fährt fort und gelangt zur Mitte seines Bildungsbegriffs und damit wohl auch zur Mitte seines eigenen Verständnisses von »Humanismus«: »In ihr [erg.: der Bildung] liegt ein allgemeiner Sinn für Maß und Abstand in bezug auf sich selbst, und insofern eine Erhebung über sich selbst zur Allgemeinheit. Sich selbst und seine privaten Zwecke mit Abstand ansehen, heißt ja: sie ansehen, wie die anderen sie sehen. Diese Allgemeinheit ist gewiß nicht eine Allgemeinheit des Begriffs oder des Verstandes. Es wird nicht aus Allgemeinem ein Besonderes bestimmt, es wird nichts zwingend bewiesen. Die allgemeinen Gesichtspunkte, für die sich der gebildete offenhält, sind ihm nicht ein fester Maßstab, sondern sind ihm nur als die Gesichtspunkte möglicher Anderer gegenwärtig.« 9
Gadamers Bildungsbegriff verfügt über zwei wichtige Motive: zum einen ein nach innen gewandtes, dass die Bildung dem Menschen die Möglichkeit gibt, sich selbst als »Anderen« zu erkennen, sich nicht absolut zu setzen, sondern das menschliche Wesen als soziales zu entwickeln. Gadamer nennt dies die »Erhebung zur Allgemeinheit«. Diese Allgemeinheit – und damit geht es um das zweite Motiv – ist nicht die Objektivität der (natur-) wissenschaftlichen Methodik, sondern die im Sinne des antiken consensus omnium. Gadamer spricht wenige Zeilen später von einem »allgemeinen Sinn«: 10 der Mensch erhält durch die Bildung die Möglichkeit, Objektives zu fassen. Diese Objektivität ist nicht die absolute der Wissenschaft, sondern diejenige, welche der Mensch durch die Öffnung auf seine Sozialität erlangt. Diese Öffnung beschreibt und betreibt der Humanismus. Damit begründet Gadamer die Unabhängigkeit des Humanismus von einem wissenschaftlichen Methodismus und somit die Eigenständigkeit der Geisteswissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften – wie es
A. a. O., S. 22. A. a. O., S. 22 f. 10 Vgl. a. a. O., S. 23: »Das gebildete Bewusstsein übertrifft nur jeden der natürlichen Sinne, als diese je auf eine bestimmte Sphäre eingeschränkt sind. Es selbst betätigt sich in allen Richtungen. Es ist ein allgemeiner Sinn.« 8 9
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Humanismus
auch Husserl für seine Anthropologie und gegen die moderne Wissenschaft gefordert hat. Mit seinem Hinweis auf die Bedeutung der humanistischen Tradition und der Abhängigkeit seiner Hermeneutik vom Humanismus bzw. der Abkünftigkeit der Geisteswissenschaften vom Humanismus lenkt Gadamer den Blick auf eine schwer einzugrenzende Größe der europäischen Geistesgeschichte. Rüsen definiert den Humanismus wie folgt: »Er beruht in seiner neuzeitlichen Ausprägung auf der Annahme, dass sich die Grundfragen der menschlichen Daseinsorientierung nur beantworten lassen, wenn sie als Fragen nach dem Menschen gestellt und aus dem Potential des Menschen beantwortet werden.« 11 Diese Definition impliziert eine historische Ausrichtung, jedoch nicht im Sinne des Aufgehens in der Historie, sondern im Sinne einer »historischen Konkretisierung der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen«. 12 Rüsen sieht in seiner Definition durchaus Schwierigkeiten verborgen, von denen zwei für die Frage der Universalität des Humanismus von Belang sind. Zum einen stellt sich die Frage nach dem Vernunftbegriff: Ist die universale Annahme von Vernunft überhaupt angemessen? 13 Das andere Problemfeld ergibt sich aus der Abhängigkeit des Humanismus von der westlichen Tradition. Trotz des universalen Anspruchs der Hermeneutik und trotz aller ausdrücklichen Verurteilung eines jeden geistigen Kolonialismus der westlichen Tradition gelingt es dem Humanismus nicht, sich zu lösen »von der paradigmatischen Vorbildlichkeit westlicher Tradition«, die als »metahistorische Normativität der griechischen und römischen Antike« konzipiert wurde. 14 Rüsens Hinweise sind in zwei Richtungen zu lesen: einerseits verdeutlichen sie die Abhängigkeit des Humanismus von der westlich-europäischen Tradition, die ihren Ursprung in der griechisch-römischen Kultur hat. Andererseits ist jedoch herauszustellen, dass diese kulturelle Gebundenheit des Humanismus auch Rüsen, Traditionsprobleme eines zukunftsfähigen Humanismus, S. 307. A. a. O., S. 308: »Damit meine ich nicht seine Geschichte, sondern die historische Konkretisierung der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen.« 13 Vgl. a. a. O., S. 318: »Ein besonderes Problem für die Zukunftsfähigkeit der westlichen humanistischen Tradition wirft die Frage auf, ob die Vernunftbestimmung des Menschen, die der klassische Humanismus an seiner Selbstzweckhaftigkeit festgemacht hatte, mit ihrem dezidiert integrativen Universalismus, der allen Menschen eben diese Vernunft unterstellt, als hinreichend begründet einzusehen ist.« 14 Vgl. a. a. O., S. 317. 11 12
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Was ist Humanismus?
für die akademische Philosophie gilt. Die vielfältigen Konflikte zwischen dem Humanismus und der Philosophie, zwischen Geistes- und Naturwissenschaften, zwischen Metaphysikkritik und Metaphysik, zwischen Mythos und Logos sind dem Denken der westlichen Tradition geschuldet – somit stellt der Humanismus in seiner kulturellen Gebundenheit eine Aussage dar, die sich den gleichen Ursprüngen verdankt wie die Philosophie selbst. Die Aussage des Humanismus, den Menschen vorrangig in seiner Sprachlichkeit wahrzunehmen, entstammt einer bestimmten Geisteshaltung, die zwar kulturell bedingt ist, aber dennoch mit einem universalen Anspruch vorgetragen werden muss. Insofern stellen die Universalität der Aussage und die Regionalität der Aussagefindung keinen Gegensatz dar. Der Humanismus hat sich im Laufe der Geschichte auf vielfältige Weise gezeigt; entsprechend vielfältig sind die Deutungsmöglichkeiten darüber, was eigentlich der Humanismus ist. Er scheint keine eigene, greifbare philosophische Richtung darzustellen; aus sich heraus hat er keine wirkmächtige, philosophische Innovation hervorgebracht, sondern hat sich merkwürdig passiv und rezeptiv verhalten. Entsprechend schwierig ist es, den Humanismus als eigenständige, geistige Bewegung zu fassen. Apel stand in seinem Werk Die Idee der Sprache ebenfalls vor dem Problem, den Humanismus inhaltlich und terminologisch als etwas zu fassen, was wenig greifbar, aber dennoch in der Geistes- und Philosophiegeschichte wahrnehmbar war. Er sprach daher von einer »Art Sprach-Ideologie«, einer »geheimen Philosophie« des Sprach-Humanismus, welche immerhin eine »einheitliche Haltung und Grundtendenz« besitzen würde. 15 Diese Ideologie, so Apel, sei meist nicht direkt belegbar, sondern »nur indirekt aus dem Gegensatz der klarer strukturierten Theorie, gegen die die Humanisten polarisieren«. 16 Apel kommt schließlich zu dem Schluß, dass, auch wenn es sich nur um eine »Ideologie« handeln würde, kein Grund bestehen würde,
Vgl. Apel, Die Idee der Sprache, S. 84: »Nichtsdestoweniger umfasst der SprachHumanismus alle jene ›Topoi‹ des abendländischen Sprachdenkens überhaupt, die dem Sprachgelehrten der Neuzeit als Rüstzeug dienten, und darüber hinaus auch so etwas wie eine ›geheime Philosophie‹ der Sprache und der Kultur, welche auch die nicht von ihm selbst geschaffenen Denkmittel (eben die überlieferten ›Topoi‹) aus einer einheitlichen Haltung und Grundtendenz heraus verbindet.« 16 Vgl. a. a. O., S. 85. 15
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Humanismus
»den philosophischen Erkenntniswert ihrer Überzeugungen zu unterschätzen. Ideologien mögen als kaum noch gedachte, aus unbewussten Motiven heraus festgehaltene Überzeugungen die Erstarrungsprodukte echten philosophischen Denkens sein – im gewissen Sinne ist dies auch bei der obligaten Sprach-Topik des Humanismus im Verhältnis zum Denken der griechischen Philosophischen (einschließlich der Sophisten!) der Fall –: sie können nichtsdestoweniger als Reservate berechtigter Standpunkte […] in späteren Zeiten wieder zum Kristallisationspunkt echter Welterfahrung werden.« 17
Der Humanismus, so Apel, ist eine bestimmte Einstellung zum Menschen, eine Grundhaltung, die an verschiedenen Punkten der Geistesgeschichte präsent war und sich gegen die Philosophie auflehnte. Nicht ohne Zufall hat Husserl den Beginn dieses Kampfes bei den Sophisten verortet. Apel sieht diesen Kampf des Humanismus, wie er in Sprache und Wahrheit ausführt, als einen Kampf »fast so gut wie ohne philosophisches Rüstzeug, nahezu nur mit pathetischen Beteuerungen« geführt. 18 In dieser Kritik sieht sich Apel in guter philosophischer Gesellschaft: Curtius, der große Romanist, bezeichnete die Philosophie des Humanismus als »rhetorische Stilübungen«, 19 Cassirer stellt fest, dass es in den historischen Phasen, in denen es eine Einheit von Humanismus und Philosophie gegeben habe, »es in der Philosophie selbst zu keiner wahrhaft methodischen Erneuerung« gekommen sei. 20 Genannte Autoren stützen sich allerdings auf einen Humanismusbegriff, der diesen nur als nostalgische Weiterführung der antiken Bildung betrachtet. 21 Curtius hat, bei all seiner Kritik am Humanismus, einen Satz geprägt, der wichtig ist für das Verständnis des Humanismus: »Wenn man den Humanismus wirksam verteidigen will, darf man ihn an keine seiner geschichtlichen Erscheinungen binden.« 22 Wenn man dies tut, begeht man einen anderen Weg als die Forscher, die den Humanismus an eine bestimmte geschichtliche Form binden und den Humanismus als eine vergangene Geisteshaltung proklamieren, die man als Oberbegriff legitimerweise nicht
A. a. O., S. 85. Vgl. Apel, Sprache und Wahrheit, S. 154 19 Vgl. Curtius, Neuere Arbeiten über den italienischen Humanismus, S. 9. 20 Vgl. Cassirer, Individuum und Kosmos, S. 74. 21 Vgl. Jaeger, Antike und Humanismus, S. 22: »Das Wort Humanismus charakterisiert als historische Periodenbezeichnung die Zeit der sogenannten Wiederbelebung des Altertums, speziell ihrer bildungsgeschichtlichen Stellung.« 22 Curtius, Humanismus als Initiative, S. 167. 17 18
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Was ist Humanismus?
mehr in den aktuellen Diskurs einbringen kann. 23 Der Humanismus ist nicht von seinen historischen Ausformungen zu lösen, dennoch darf er nicht mit diesen identifiziert werden, sondern muss – und so ist Curtius zu verstehen – als das begriffen werden, was sich in diesen Ausformungen ausgedrückt hat. Die hermeneutische Frage, auf was die historischen Ausformungen des Humanismus Antwort sind, führt zu dem, was Apel die »geheime Philosophie« oder »Sprachideologie« genannt hat, eine Geisteshaltung, die den Menschen als sprachliches Wesen in den Mittelpunkt des Denkens stellt und nicht reduziert werden darf auf den Renaissance-Humanismus oder den Neuhumanismus. Wenn Coseriu in seiner Geschichte der Sprachphilosophie Apel vorwirft, Vico zu Unrecht in den Humanismus eingeordnet zu haben, dann geht er von einem enger gefassten Humanismus aus: »Die Humanisten sind Philologen.« 24 Der Humanismus ist jedoch nicht nur auf seine Leidenschaft für die Antike oder seine philologische Tätigkeit zu reduzieren, sondern ist Ausdruck eines bestimmten Welt- und Menschenbildes, das den Menschen von seiner Sprachlichkeit her deutet. Selbst Verteidiger des Humanismus gehen oft von einem eingeschränkten Bild des Humanismus aus, wenn sie diesen z. B. auf die Rezeption der Antike reduzieren, wie es etwa Buck getan hat. 25 Der Humanismus ist zu fassen als eine bestimmte Haltung zum Menschen, die sich in verschiedenen historischen Situationen unterschiedlich ausgesprochen hat. Das humanistische Welt- und Menschenbild, wie es historisch immer wieder zum Vorschein trat, steht nicht in der Tradition einer klassischen Philosophie, wie sie sich in ihren Anfängen in der ionischen Naturphilosophie und schließlich in den vorsokratisch-sokratischen Zugängen äußerte, die schließlich weitgehend in eine metaphysische Philosophie mündeten, sondern in Reinhardt, Vom Tod des Humanismus. Eine wohlmeinende Polemik, S. 328: »Das 21. Jahrhundert sollte denselben Mut haben wie diese ›Kritische Schule‹ von Florenz, eigene Werte in eine eigene Begrifflichkeit fassen und den für die Ethik des. 21. Jahrhunderts untauglichen Begriff Humanismus der Vergangenheit, der er gehört, zurückgeben.« 24 Vgl. Coseriu, Geschichte der Sprachphilosophie, S. 278: »Die Humanisten sind Philologen. Sie haben die Historizität der Sprachen bei der Ausübung ihrer Tätigkeit entdeckt. Damit gelangen sie jedoch nicht zu einer kohärenten Philosophie, und daher kann auch schwerlich von einer ›geheimen Metaphysik‹ des Humanismus gesprochen werden, wie Apel es tut.« 25 Vgl. Buck, Humanismus, S. 473: »Besinnung auf die Antike zum Zweck der geschichtlichen Selbstorientierung: Das sollte die humanistische Aufgabe unserer Zeit sein.« 23
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Humanismus
der Tradition der alten Weisheitslehre, wie sie etwa von den sog. »Sieben Weisen« Griechenlands vorgetragen worden waren. Diese Weisheitslehre hatte den Menschen im Mittelpunkt und erkannte ihr Interesse darin, das Leben des Menschen zu verbessern – sei es durch Hilfen für sein persönliches Leben, sei es durch den Aufweis der politisch-öffentlichen Dimension seines Daseins. In dieser Tradition suchte die neue Rhetorik den Menschen als sprachliches Wesen zu einem besseren Wesen zu machen, den Zustand seines Daseins durch eine Verfeinerung seiner Sprachlichkeit zu verbessern. Aus dieser weisheitlich-rhetorischen Grundhaltung heraus erwies sich der Humanismus als sehr kritisch gegenüber einer Philosophie, die sich oft in Spitzfindigkeiten oder metaphysischen Gewissheiten zu verlieren schien. Die Perspektive des Humanismus ist die konkrete Wahrheit des Menschen, nicht eine dem Menschen irgendwie übergeordnete oder externe Wahrheit. 26 Zwischen diesen beiden Wahrheitsansprüchen – dem humanistischen und dem metaphysisch-naturalistischen – ist streng genommen keine Vermittlung möglich, da beide sowohl in ihrer Grundhaltung und ihrem ideologischen Fundament als auch in ihrer Zielrichtung divergent sind. 27 Damit vertritt der Humanismus nicht aus sich heraus einen wissenschaftlichen Anspruch. Nicht ohne Zufall spricht Buck in der Einleitung seines Humanismus-Bandes von einer »Sonderstellung« des Humanismus, »der keine Wissenschaft, vielmehr eine Bildungsbewegung ist und daher sein Ziel nicht in der Vermittlung von Erkenntnissen, sondern in der Verkündigung einer bestimmten Lebensform erblickt«. 28 In dieser Tradition steht auch die Rhetorik, und diese kann dann für die Philosophie eine Relevanz gewinnen, wenn sich die Philosophie selbst auch in der Tradition der antiken Weisheitslehre versteht.
Vgl. Apel, Sprache und Wahrheit, S. 154: »Aber die ganze Geistesbewegung des sogenannten Humanismus wird in ihrem philosophischen Anliegen nur verständlich, wenn man darin das Rhetoreninteresse sieht, welche die ›Wahrheit‹ im Sinne der ›Weisheit‹ (›sapientia‹) nicht den Logikern überlassen will. Daher ihr jahrhundertelanger Kampf gegen die Spitzfindigkeiten der Dialektik […].« 27 Vgl. Nida-Rümelin, Naturalismus und Humanismus, S. 5: »Entweder ist man Naturalist oder Humanist – eine Zwischenposition gibt es nicht, ebenso wenig eine Position der Neutralität.« 28 Vgl. Buck, Humanismus, S. 9. 26
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Die humanistisch-hermeneutische Perspektive
3.2 Die humanistisch-hermeneutische Perspektive Gadamer hat seine Hermeneutik im Kontext des Humanismus verortet und damit der Philosophie eine mögliche Richtung gegeben, wie sie auch Husserl in seiner Kritik an der modernen Wissenschaft und in seinem Entwurf einer universalen Anthropologie angestrebt hat. Die hermeneutische Arbeit, wie sie von Gadamer beschrieben ist, ist sowohl Offenlegung als auch Fortführung der humanistischen Tradition. Die Rhetorik war und ist Teil dieser Tradition und als solche für Gadamer in das hermeneutische Geschehen einzubeziehen. Wie die Tradition als Ganze wurde die Rhetorik seitens der Philosophie oft als nicht relevant aus dem eigenen Diskurs ausgewiesen. Die Darstellung der gemeinsamen Geschichte von Rhetorik und Philosophie soll im Sinne Gadamers aus der Perspektive des Humanismus beschrieben werden. Damit wird die Geschichte der Philosophie nachgezeichnet, wie sie Husserl in seinen Spätwerken dargestellt hat. Er hat die Geistesgeschichte als den Konflikt zweier Weltanschauungen benannt: des Objektivismus und des Transzendentalismus. 29 Letzterer ist der subjektive Seinssinn, in dem sich die Seinsgeltung der Welt im Menschen aufbaut. Genau auf diese Dimension zielt der Humanismus und aus dieser Perspektive soll eine rhetorische Philosophie beschrieben werden. Diese Perspektive ist zumeist nicht identisch mit derjenigen der klassischen Philosophiegeschichte. 30 Die sophistischen Autoren werden oft genauso wenig als gültige Mitglieder des philosophischen Diskurses anerkannt wie Vico oder Humboldt, die aber alle Träger der humanistischen Tradition sind. Apel hat in Die Idee der Sprache ein ähnliches Anliegen einer Darstellung einer sprachhumanistischen Philosophiegeschichte verfolgt und diese Perspektive gegenüber einer »empirischen oder rationalistischen Bewusstseinsphilosophie« des 19. Jahrhunderts abgegrenzt. 31 Diese hat die Sprache als einen zu untersuchenden Gegenstand unter anderen möglichen Gegenständen behandelt und damit die Sprachlichkeit als etwas RelaVgl. Husserl, Krisis, Husserliana VI, S. 70 f. Vgl. Apel, Die Idee der Sprache, S. 7: »Die Beschäftigung mit der Logosmystik und dem Sprach-Humanismus als Traditionsvoraussetzungen der transzendentalhermeneutischen Sprachauffassung führt nun aber in Bereiche der Geistes- und Sozialgeschichte, die normalerweise von der zünftigen Philosophiegeschichte kaum, von den empirischen Geisteswissenschaften aber selten in philosophischer Absicht untersucht werden.« 31 Vgl. a. a. O., S. 18. 29 30
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Humanismus
tives begriffen, das es zugunsten einer nichtsprachlichen Größe aufzulösen gilt. Demgegenüber sieht eine humanistisch-hermeneutische Philosophie die Sprachlichkeit in dem Sinne als ihre Basis an, dass eine nichtsprachliche Weltdeutung nicht möglich ist. Der Weltzugang des Menschen ist sprachlich. 32 Hieraus ergibt sich auch eine Abgrenzung gegenüber der sprachanalytischen Philosophie. Diese erkennt zwar ebenfalls in der Sprachlichkeit das Fundament ihrer Philosophie (»linguistic turn«), tut dies jedoch in anderer Weise als eine humanistisch-hermeneutische Philosophie, indem sie in ihren unterschiedlichen Schattierungen die Sprache auf ein Sinn- und Bedeutungsgeschehen auslegt, das letztlich ein mechanisch-technisches ist. Dies bedeutet einerseits, dass die Sprachanalytik sich darum bemüht, Fehlfunktionen und Missverständnisse festzustellen und zu beheben, sie andererseits auf einen Gehalt schaut, auf welchen die Sprache verweist oder welchen die Sprache hervorbringt, dieser aber der Sprache extern ist. Die Sprache ist in einem technischen Sinne ein Vermittlungsgeschehen. Wenn die Sprachanalytik sie auf diese Rolle reduziert und die Brüche dieser Vermittlung offen legt, so lässt sie sich durchaus als ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber der Sprache interpretieren, die ihrem eigenen Vermittlungsanspruch nicht gerecht werden kann. 33 Demgegenüber weist auch die humanistischhermeneutische Philosophie auf den Vermittlungscharakter der Sprache hin, betont aber zugleich, dass das Vermittelte nicht von der Sprache zu trennen ist. 34 Zwar haben bestimmte Autoren der sog. »Postanalytik« die analytische Philosophie in Richtung der Hermeneutik weiterentwickelt – zu nennen wären hier Donald Davidson oder Robert Brandom, aber auch bereits Leute wie Willard Van Orman Quine Vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 446: »Die Sprache ist nicht nur eine der Ausstattungen, die dem Menschen, der in der Welt ist, zukommt, sondern auf ihr beruht, und in ihr stellt sich dar, dass die Menschen überhaupt Welt haben.« Vgl. auch a. a. O., S. 387: »Wir hoben hervor, dass die Erfahrung von Sinn, der derart im Verstehen geschieht, stets Applikation einschließt. Jetzt beachten wir, dass dieser ganze Vorgang ein sprachlicher ist. Nicht umsonst ist die eigentliche Problematik des Verstehens und der Versuch der kunstmäßigen Beherrschung – das Thema der Hermeneutik – traditionellerweise dem Bereich der Grammatik und der Rhetorik zugehörig.« 33 Vgl. Leiss, Sprachphilosophie, S. 128 f. 34 Vgl. Apel, Die Idee der Sprache, S. 12: »In der Tat lässt sich die Sprachkonzeption des Humanismus nicht aus dem Horizont einer Sprach-Pragmatik rekonstruieren, welche lediglich das Funktionieren der Verständigung in synchronisch überschaubaren Kommunikations- und Interaktions-Spielen zwischen Sender und Empfänger studiert.« 32
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Die humanistisch-hermeneutische Perspektive
oder Wilfried Sellars Mitte des 20. Jahrhunderts –, dennoch tut sich auch die postanalytische Philosophie trotz aller Einbeziehung der »Welt« in ihren sozialen und kulturellen Facetten schwer, die Dimension der Geistigkeit des Menschen zu beschreiben bzw. die Welt, auf die sich der Mensch bezieht, als geistige Größe zu begreifen, die bereits in ihrer Bezogenheit auf den Menschen »humanistisch« ist. Aus einer humanistisch-hermeneutischen Perspektive soll im Folgenden die Geschichte von Rhetorik und Philosophie beschrieben und aus ihr die Möglichkeit einer rhetorischen Philosophie entwickelt werden. Die Beurteilung dieser Möglichkeit ist auf die Historie als Betrachtung der historisch gewonnenen Erfahrung der Rhetorizität der Philosophie angewiesen. Gadamer begriff seine Hermeneutik als Betrachtung von Erfahrungen, die auf unterschiedliche Weise überliefert sind: »So suchen diese Studien zur Hermeneutik im Ausgang von der Erfahrung der Kunst und der geschichtlichen Überlieferung das hermeneutische Phänomen in seiner vollen Tragweite sichtbar zu machen. Es gilt, in ihm eine Erfahrung von Wahrheit anzuerkennen.« 35
Bezogen auf die Frage der Rhetorizität der Philosophie bedeutet dies, dass die Geschichte von Rhetorik und Philosophie deshalb für die systematische Frage des Verhältnisses von Rhetorik und Philosophie relevant ist, weil sie Ausdruck von Erfahrungen ist, denen sich auch eine Neubeschreibung dieses Verhältnisses nicht vollständig entziehen kann. Diese Neubeschreibung setzt ein philosophisches Gespräch fort, das spätestens mit Platon und den Sophisten begonnen hat. Die humanistisch-hermeneutische Perspektive nimmt die Sprachlichkeit der Weltdeutung wahr und kann die Geschichte von Rhetorik und Philosophie beschreiben als gemeinsame Auseinandersetzung mit dieser Sprachlichkeit. Damit wird der Rhetorik eine philosophische Frage gestellt bzw. die Rhetorik auf ihren Beitrag zur Sinnvermittlung befragt. Diese Perspektive ist eine andere als die vieler neuer Versuche, der Rhetorik wieder eine philosophische Relevanz zuzusprechen. Sei es die Neue Rhetorik Perelmans oder die Fundamentalrhetorik Oesterreichs: sie nehmen die Perspektive der Rhetorik ein, erkennen eine Missachtung der rhetorischen Persuasivität und 35
Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 3.
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Humanismus
versuchen diese in das philosophische Gespräch einzubringen. Eine philosophische Geschichte von Rhetorik und Philosophie muss jedoch den umgekehrten Weg gehen und aus der Perspektive der philosophischen Frage auf die Rhetorik blicken und in ihr einen komplementären Partner erkennen. Diese Fragestellung ist eine philosophisch-hermeneutische, keine rhetorische: Wo gibt es Orte von Sinnkonstruktionen, die es wahrzunehmen gilt und die in eigene Sinnkonstruktionen einzufügen sind? Die Rhetorik ist ein Ort von Sinnkonstruktionen, sie beschreibt einen Zugang zur Wirklichkeit, der für das philosophische Gespräch relevant ist und der aus einer humanistisch-hermeneutischen Perspektive beschrieben werden kann. Diese Darstellung der Geschichte ist nicht die Darstellung der Geschichte der Rhetorik an sich. Es geht streng genommen noch nicht einmal um die Frage, inwiefern die Rhetorik für die Philosophie relevant sein kann, sondern es geht darum, inwiefern sie in Vergangenheit und Gegenwart für die Philosophie relevant ist: welchen Einfluß hat die Rhetorik als theoretische Disziplin faktisch auf die Philosophie genommen? Inwiefern ist sie als Durchdringung der Sprachlichkeit und Beschreibung der sprachlichen Konstruktivität relevant für eine auf der Spachlichkeit basierenden Philosophie und ein auf der Sprachlichkeit basierendes Menschenbild? Inwiefern ist die Rhetorik als Teil des Humanismus gegen eine Lesart der philosophischen Geschichte in ein philosophisches Gespräch einzubringen bzw. immer schon Teil des philosophischen Gesprächs gewesen? Wie kann eine Philosophie beschrieben werden, die sich als rhetorisch-humanistisch versteht? Diese Fragen öffnen die Philosophiegeschichte auf einen bestimmten Bereich hin, den sie oft missachten wollte. Der Humanismus war immer Teil dieser Geschichte und als solcher soll er dargestellt werden. Vor diesem Hintergrund lässt sich der moderne Konflikt zwischen Sprachanalytik und Hermeneutik um das Verständnis von Sprache begreifen als Fortsetzung eines Konfliktes, dessen Wurzeln in die Antike zurückreichen und der die europäische Geistesgeschichte seit ihren Anfängen begleitet und den Husserl in seiner Krisis beschrieben hat. Die Perspektive dieser Geschichte ist die Perspektive der gemeinsamen Fragestellungen von Humanismus und Philosophie, und der Rhetorik kommt in dieser Geschichte eine wichtige Funktion zu.
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Metaphysik
3.3 Metaphysik Eine humanistisch-hermeneutische Perspektive erfordert eine Standortbestimmung der Metaphysik, welche der Antipode des Humanismus zu sein scheint. Die Geschichte des Humanismus scheint eine Geschichte der Absetzung und der Konfrontation gegenüber der Metaphysik. Diese Perspektive ist jedoch einseitig, besitzt doch jede philosophische Aussage einen Wahrheitsanspruch, durch den sie an die Metaphysik gebunden ist und bleibt. Humanismus und Metaphysik sind daher keine sich ausschließende Gegensätze, wohl aber zwei verschiedene Aspekte des philosophischen Denkens, die zwar zusammen gehören, sich aber dennoch nicht vereinheitlichen lassen. Sie sind zwei verschiedene Pole, zwischen denen sich der philosophische Diskurs bewegt. Was eigentlich Metaphysik ist, ist im Laufe der Philosophiegeschichte sehr unterschiedlich beantwortet worden. Dauernder Bezugspunkt bleibt die Metaphysik des Aristoteles. Auch wenn er diesen Begriff als solchen nicht einmal selbst geschaffen hat, ist jedes Nachdenken über Metaphysik noch immer abhängig von dem Werk des Aristoteles, dem posthum dieser Namen verliehen wurde. Bei allen Veränderungen und Metamorphosen, welche die Metaphysik im Laufe ihrer wechselvollen Geschichte durchlaufen hat, lassen sich mit Blick auf Aristoteles bestimmte Eigenschaften verifzieren, welche die Metaphysik bzw. metaphysisches Denken definieren können und die auch tragend für diese Untersuchung sein sollen. Die Tradition unterscheidet zwischen einer metaphysica generalis und einer metaphysica specialis. Erstere umfasst die Frage, was Seiendes als Seiendes ausmacht, fragt nach den Strukturen der Wirklichkeit; letztere blickt auf das Spezielle, was aus diesem Allgemeinen hervorgeht: wie ist Gott zu verstehen, was ist Schöpfung, wie ist der Mensch in ihr zu beschreiben. Dieser Bereich der metaphysica specialis war in der Geschichte des Denkens größten Veränderungen unterworfen, man denke an den Wandel des Weltbildes in den letzten Jahrhunderten. Zentral und für diese Untersuchung maßgebend soll aber der Bereich der metaphysica generalis sein, somit die Frage, was das Sein eigentlich ist, in welchen Strukturen es existiert und wie und ob diese wahrgenommen werden können. Angehrn hat in Der Weg zur Metaphysik zwei Schwerpunkte des metaphysischen Denkens als leitend erkannt: die Substanz und die Ordnung. Als Substanz versteht er eine »Wesensbestimmtheit« dessen, »was das wahrhafte Sein von etwas 117 https://doi.org/10.5771/9783495817773 .
Humanismus
ausmacht, was den akzidentiellen Bestimmungen und Bezügen zugrunde liegt, mit Bezug worauf etwas angesprochen, identifiziert wird«. 36 Der Substanz beigefügt und mit ihr in der Metaphysik untrennbar verbunden, ist die Ordnung. In ihr geht es darum, »einen Wirklichkeitsbereich im Ganzen verständlich zu machen, indem ihm Strukturen, Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten eruiert werden; im Zielpunkt dieses Weges stehen Ideen wie Einheit, Notwendigkeit, Ordnung«. 37 Substanz und Ordnung sind die beiden leitenden Bestimmungen, denen sich die Metaphysik verdankt. Sie geht davon aus, dass die Wirklichkeit ein rationales Ordnungsgefüge darstellt, welches in dieser Rationalität dem rationalen Geist bestimmbar ist. Die Wirklichkeit lässt sich letztlich auf eine sie gründende Einheit zurückführen und diese Einheit wird manifest in der Substanz. Der Begriff »Substanz« ist die Aussage, dass die kontigente Wirklichkeit in etwas identifiziert werden kann, was dieser Kontingenz vorausgeht und sie übersteigt. Damit stellt die Metaphysik in ihrem Kern keinen Inhalt dar (wie er im zweiten Schritt in der metaphysica specialis dargestellt wird), sondern eine bestimmte Denkform, eine Form, die Wirklichkeit zu deuten. Auf diese Weise wurde die Metaphysik mit ihrem Anspruch einer rationalen Zurückführung der Wirklichkeit auf den sie erklärenden und sie bedingenden Logos zum Fundament der Philosophie, aber auch zum Fundament des modernen naturalistischen bzw. naturwissenschaftlichen Anspruchs, die Welt rational zu durchdringen. So konnte Volkmann-Schluck in den modernen Naturwissenschaften die Vollendung der aristotelischen Metaphysik erkennen: »Die Vollendung der Metaphysik in dem genannten Sinne besteht in der absoluten Fraglosigkeit ihrer Herrschaft, dergestalt, dass diese Herrschaft der Metaphysik die Herrschaft der technisch geprägten Wissenschaften über die Welt und des Weltverhältnis des Menschen zu ihrer Existenzform hat.« 38
Die Metaphysik ist nicht identisch mit den Naturwissenschaften. Aber sie formuliert die denkerischen Voraussetzungen, die erst die Naturwissenschaft ermöglichen. Die Metaphysik spricht über Inhalte, wenn sie in der metaphysica specialis über den göttlichen Ursprung der Welt spricht oder über die Einordnung des Menschen in 36 37 38
Vgl. Angehrn, Der Weg zur Metaphysik, S. 30. Vgl. ebd. Volkmann-Schluck, Die Metaphysik des Aristoteles, S. 8.
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Metaphysik
der Welt. Der in dieser Untersuchung zugrundegelegte MetaphysikBegriff ist weniger auf diesen Inhalt bezogen zu verstehen, sondern vielmehr als die Denkform, die Art der Weltdeutung, welche diesen Inhalt hervorbringt. Die Metaphysik hebt ab auf den Gedanken der Einheit und der Ordnung des Seins. Dieser Gedanke ist in den letzten Jahrzehnten insbesondere von der Postmoderne scharf kritisiert worden, welche den Primat der Einheit zugunsten der Pluralität und die Substanz zugunsten der Verschiedenheit und der Relation verschieben will. Vor diesem Kontext soll die gemeinsame Geschichte der Rhetorik und der Philosophie beschrieben werden. Der Humanismus soll nicht mit einer bestimmten historischen Form und einem bestimmten Inhalt identifiziert werden, sondern mit der grundlegenden Denkform, das Sein aus der Verschiedenheit heraus zu beschreiben und auf den Menschen hin zu bestimmen. Dem steht die Metaphysik gegenüber, welche das Sein in ihrer Einheit betrachtet. Beide Denkformen sind als Denkformen nicht vereinbar und haben im Laufe der Geistesgeschichte immer wieder miteinander gerungen. Der Kampf, der sich zwischen Rhetorik und Philosophie abspielte, ist eine Formung dieses Kampfes. Trotz des Ringes dieser beiden Denkformen bleiben beide aufeinander verwiesen. Weder kann die Philosophie auf die Metaphysik verzichten, wenn sie mit einem Wahrheitsanspruch auftreten will, der über den Augenblick hinausreicht. Sie wird aber da zu einer starren Verfestigung, wo sie nicht das beachtet, was für den Humanismus steht: die Heterogenität des Seins, die Pluralität der Wirklichkeit, die sich jedem Einheitsdenken immer wieder entzieht und sich dem Denken doch immer wieder geordnet und somit einheitlich darbietet. Metaphysik und Humanismus stehen somit nicht für bestimmte Inhalte, sondern für zwei Perspektiven, das Sein wahrzunehmen und zu beschreiben, für zwei Arten des Denkens, welche historische Metamorphosen durchlaufen haben und dennoch jeweils über ein konstantes Gerüst verfügten. Dieses Gerüst wird wahrnehmbar in ihrer Gegensätzlichkeit zum jeweils anderen. Der metaphysische Gedanke der Einheit und der Substantialität des Seins wird formuliert in Abgrenzung zur Kontingenz des Seins und will dieses Sein der Zufälligkeit entziehen. Der humanistische Gedanke der Pluralität und der Verschiedenheit des Seins klagt diesen metaphysischen Versuch als der Verschiedenheit und der Würde des Menschen nicht angemessen an. Wie die Metaphysik der ständigen Infragestellung durch den sich als Individuum wahrnehmenden Menschen bedarf, muss der Huma119 https://doi.org/10.5771/9783495817773 .
Humanismus
nismus um seine Angewiesenheit auf die Metaphysik wissen, um den im Zentrum der Weltdeutung stehenden Menschen über sich selbst erheben zu können. Metaphysik und Metaphysikkritik bedingen sich gegenseitig und sind nur zusammen zu verstehen. Rhetorik und Philosophie sind als Stellvertreter dieses Konflikts zu verstehen, der letztlich nicht auflösbar ist und der eine entscheidende Triebfeder der Philosophie als ganzer darstellt.
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4. Rhetorik und Philosophie?
Als I. A. Richards in den 30er Jahren sein Buch The Philosophy of Rhetoric verfasste, musste er sich in der Einleitung noch über den erbarmungswürdigen Zustand der Rhetorik beklagen. 1 Woher kam sein neues, damals außergewöhnliches philosophisches Interesse an der Rhetorik? Es ging um die Aufklärung sprachlicher Missverständnisse. Rhetorik muss, so Richards, in den philosophischen Diskurs einbezogen werden, weil sie über die Qualität dieses Diskurses befinden kann: »How much and in how many ways may good communication differ from bad?« 2 Richards hat mit dieser Frage der Rhetorik und ihrem Verhältnis zur Philosophie neue Wege eröffnet. Seit Richards’ Diagnose hat sich viel getan, es wird gesprochen von einem rhetorischen Aufbruch der Philosophie, oder sogar die Frage nach einem »rhetorical turn« der Philosophie gestellt. 3 Dieser ist als solcher weder in seinem Ausmaß noch in seiner Existenzberechtigung unbestritten. Der »linguistic turn« bildet die inhaltliche und systematische Grundlage eines »rhetorical turn«. Die Frage ist jedoch, was genau unter der Sprachwende der Philosophie zu verstehen ist. Coseriu erkennt in seiner Geschichte der Sprachphilosophie die große Gefahr einer Philosophie, die in der Sprache ihres eigenen Fundaments gewahr wird und sich nicht in ausreichendem Maße von der Sprachwissenschaft abgrenzen kann: 4 Worin besteht der Unterschied zwischen Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie? Coseriu Vgl. Richards, The Philosophy of Rhetoric, S. 3: »I need spend no time, I think, in describing the present state of Rhetoric. Today it is the dreariest and least profitable part […] in Freshman English! So low has Rhetoric sunk that we would do better just to dismiss it to Limbo than to trouble ourselves with it […].« 2 A. a. O., S. 3. 3 Vgl. Simons (Hg.), The Rhetorical Turn: Invention and Persuasion in the Conduct of Inquiry; Roberts/Goods (Hg.), The Recovery of Rhetoric: Persuasive Discourse and Disciplinarity in the Human Sciences. 4 Vgl. Coseriu, Geschichte der Sprachphilosophie, Bd. 1, S. 12 f. 1
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Rhetorik und Philosophie?
verweist darauf, dass die Philosophie die Sprache im »Zusammenhang mit den übrigen menschlichen Tätigkeiten und mit dem Wesen des Menschen überhaupt« betrachten müsse. 5 Mit Blick auf eine Philosophie, die sich als Fortsetzung der Sprachwissenschaft versteht und mit den Fragestellungen der Linguistik auf die Sprache zutritt, stellt Coseriu fest, dass diese nur in einem eingeschränkten Maße wirklich Philosophie ist. So merkt er mit Blick auf die Beiträge von de Saussure, Bloomfield oder Chomsky an, diese seien »eigentlich als Beiträge zur Epistemologie anzusehen – unabhängig davon, ob diese Beiträge annehmbar sind oder nicht«. 6 Die Epistemologie ist unverzichtbarer Bestandteil der Philosophie, aber eben nur ein Bestandteil. Die epistemologische Fragestellung gilt es in zwei Perspektiven zu berücksichtigen: zum einen, inwiefern die Sprache als solche bzw. die Rhetorik als Beschäftigung mit der Sprache eine für die Philosophie notwendige epistemologische Relevanz besitzt. Andererseits ist zu beachten, inwiefern sich die Philosophie in der Beschäftigung mit der Sprache und ihrer epistemologischen Relevanz nicht auf diese epistemologische Frage reduziert und ihr Selbstverständnis mit dieser identifiziert. Richards ging in seiner rhetorischen Philosophie von der Fragestellung aus, wie die Rhetorik als Beschreibung der Produktion sprachlicher Kommunikation die Philosophie als Kommunikationsgeschehen beeinflusst. Diese Frage wurde in verschiedenen Bereichen der Philosophie – namentlich der sprachanalytischen Philosophie – dahingehend verfolgt, dass die Rhetorik bzw. die in der Philosophie eingesetzte Sprache auf ihre argumentationstheoretische Dimension hin befragt wird. Diese Frage stellt jedoch eine Verengung der Philosophie selbst dar, wie bereits von Husserl in seiner Krisis dargelegt. Heidegger und Gadamer haben mit ihren – durchaus unterschiedlichen – existentialontologischen Begründungen der Philosophie neue Möglichkeiten einer zwar sprachlichen, aber nicht auf die Sprache und ihr Kommunikationsgeschehen beschränkten Philosophie geschaffen und damit die Hermeneutik zur natürlichen Begründung einer rhetorischen Philosophie gemacht. So stellte auch Cahn fest, Vgl. a. a. O., S. 13. Vgl. a. a. O., S. 14. Vgl. auch Coseriu, Geschichte der Sprachphilosophie, Bd. 2, S. 4: »Unter den heutigen Linguisten (und nicht nur unter ihnen) besteht eine Tendenz, innerhalb der Sprachphilosophie auch Fragen zu behandeln, die keine philosophischen Fragen sind, d. h. in diesem Fall sprachtheoretische und sprachwissenschaftliche Fragen, ja sogar die Sprachphilosophie auf eben diese Fragestellungen zu reduzieren.«
5 6
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Rhetorik und Philosophie?
dass die philosophische Dimension der Rhetorik – wenn man nicht den »argumentationstheoretischen Bahnen« folgen wollte – das »Verhältnis zur Hermeneutik in den Mittelpunkt rücken« muss. 7 Die Rhetorik ist ein sehr heterogenes Konstrukt. Sie hat nicht nur viele historische Veränderungen durchlaufen, sondern zu jeder Zeit sehr verschiedene Elemente in sich vereinigt. Wenn Platon in der Antike gegen die Rhetorik zu Felde zog, so muss man darum wissen, dass auch die von ihm kritisierte Rhetorik kein monolithischer Block ist – und ebenso wenig die Geschichte von Rhetorik und Philosophie als die Geschichte zweier eindeutig zu trennender Geistesgrößen darstellbar ist. Roland Barthes hat in seinem kurzen, aber vorzüglichen Artikel Die alte Rhetorik über die Rhetorik Folgendes festgestellt, das ihre innere Zerissenheit treffend charakterisiert: »Sie ist ein glanzvolles Objekt der Intelligenz und des Scharfsinns, ein grandioses System, das eine ganze Zivilisation in ihrem vollen Umfang entwickelte, um ihre Sprache einzuteilen und also zu denken, ein Machtinstrument, ein Schauplatz historischer Konflikte, deren Lektüre fesselnd ist, wenn man dieses Objekt in seine mannigfaltige Geschichte einbettet; aber auch ein ideologisches Objekt, das durch das Vordringen des ›anderen‹, das seine Stelle einnahm, der Ideologie verfällt und heute unbedingt kritische Distanz einfordert.« 8
Einerseits lieferte die Beschäftigung mit der Rhetorik die Gefahr ihres Missbrauchs. Dieser ist so alt wie die Rhetorik selbst. Er war der inhaltliche und moralische Hauptgrund der platonischen Verdammung und ist bis heute ein möglicher Grund, sie distanziert zu behandeln. Die andere Seite der Rhetorik ist jedoch ihre große Wirkmacht, die es unumgänglich macht, sich mit diesem Einfluss zu beschäftigen, wenn man den Verlauf der europäischen Geistes- und Philosophiegeschichte wirklich verstehen will. Das philosophische Interesse an der Rhetorik darf jedoch nicht nur ein historisches oder kulturgeschichtliches sein, sondern auch ein systematisches, das nicht nur die Frage stellt, inwiefern die Rhetorik für die Philosophie in der Geschichte notwendig gewesen ist, sondern für jede Philosophie notwendig sein muss. Zwei der ganz großen literaturhistorischen Werke des 20. Jahrhunderts über die Rhetorik sind die Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter von Ernst Robert Curtius und das Handbuch der 7 8
Vgl. Cahn, Paralipse und Homöopathie, S. 275. Barthes, Die alte Rhetorik, S. 49.
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Rhetorik und Philosophie?
literarischen Rhetorik von Heinrich Lausberg. Kopperschmidt merkt zu diesen Werken an: »Ohne Curtius’ oder Lausbergs Verdienste schmälern zu wollen – es ist an der Zeit, dem auf 1242 §§ skelettierten System der Lausberg’schen Rhetorik endlich die Theorie nachzuliefern, die zu klären vermag, wie die Frage eigentlich hieß, auf die Rhetorik die Antwort war.« 9 Indem die Rhetorik existierte, hat sie eine Antwort gegeben. Sowohl diese Antwort der Rhetorik – in ihrer kulturgeschichtlichen Faktizität – als auch die Frage nach der Sprachlichkeit – in ihrer systematischen Relevanz – sind notwendige Teile der historischen und der systematischen Forschung der Philosophie. Dies sind sie, insofern die Frage, auf welche die Rhetorik antwortet (»Wie funktioniert Sprache?«) für die Epistemologie relevant ist und die Antwort der Rhetorik auch in einer nichtausdrücklichen Weise einen Teil des philosophischen Diskurses abbildet, den die Philosophie ihrerseits allerdings als einen solchen anerkennen muss. Die Grenzen zwischen Rhetorik und Philosophie sind nicht derart eindeutig oder jeder Veränderung enthoben, wie es die vernichtende Kritik Platons vermuten lassen könnte. Im Hintergrund dieses Konflikts zwischen Rhetorik und Philosophie steht nicht nur die Frage der disziplinären Eigenlegitimation, sondern stehen verschiedene »anthropologische Grundkonzepte«. So schreibt Kopperschmidt, es »bilden sich in dieser Konfliktgeschichte dann nicht so sehr zwei inkompatible ›Lebensformen‹ mit entsprechend inkompatiblen anthropologischen Grundannahmen ab, sondern dieser Kampf wird als Stellvertreterkrieg lesbar, der zwar zwischen Philosophie und Rhetorik geführt wird, in dem es aber in Wahrheit um den Streit zwischen zwei anthropologischen Grundkonzepten geht, die beide sowohl in Philosophie wie Rhetorik historisch ihre entsprechenden Anhänger und Schulen gefunden haben.« 10
Verschiedene anthropologische Grundkonzepte führten zu unterschiedlichen Einschätzungen, was eigentlich Rhetorik und Philosophie sind, und wie sie sich voneinander abzugrenzen haben. Insofern die Rhetorik Ausdruck einer bestimmten anthropologischen Grundhaltung ist, tritt sie in den philosophischen Diskurs ein und ist selbst Antwort auf eine philosophische Frage. Die Philosophie ihrerseits muss mit Blick auf die Geschichte der Rhetorik diese anerkennen als Teil ihrer eigenen Geschichte und in der Konsequenz darüber ent9 10
Kopperschmidt, Was weiß die Rhetorik vom Menschen?, S. 14. Kopperschmidt, Was weiß die Rhetorik vom Menschen?, S. 17.
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Rhetorik und Philosophie?
scheiden, inwiefern sie als Philosophie in ihrer heutigen modernen Form an diese gemeinsame Geschichte anknüpfen will oder anknüpfen muss. Die Geschichte von Rhetorik und Philosophie verweist auf eine philosophische Geschichte, die diese nur selten als Teil ihrer eigenen Geschichte und als Teil der Beantwortung ihrer eigenen Fragestellung anerkannt hat. Diese Geschichte verweist auf die Notwendigkeit dieser Anerkennung und damit auf die Notwendigkeit einer rhetorischen Philosophie. Der Ursprung einer solchen rhetorischen Philosophie liegt in der Auseinandersetzung Platons mit den Sophisten. Die Geschichte, die in dieser Auseinandersetzung begann, begleitet die europäische Geistesgeschichte und ist als solche noch zu erzählen: »Das Ringen um die funktionale Zuordnung der Rhetorik, die Bestreitung des sophistischen Autonomieanspruches für die Technik der Überzeugung, waren Grundvorgänge der antiken Geschichte der Philosophie, deren Ausstrahlung in unsere gesamte Geistesgeschichte wir noch nicht annähernd aufgewiesen haben.« 11
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Vgl. Blumenberg, Paradigmen einer Metaphorologie, S. 8 f.
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Rhetorik und Philosophie in der Antike 5. Die Entstehung eines Humanismus
Wenn man den Humanismus nicht auf eine moderne Nostalgie für antike Autoren oder auf ein prinzipielles philologisches Interesse an alten Quellen reduziert, sondern als eine Haltung betrachtet, die den Menschen in seiner Sprachlichkeit in den Mittelpunkt des Interesses stellt, so lässt sich seine Geschichte bis in die Zeit des klassischen und vorklassischen Griechenlands zurückverfolgen. Rhetorik und Philosophie sind zur gleichen Zeit in Griechenland entstanden, und diese gemeinsame Entstehung hängt mit bestimmten Faktoren zusammen, die für beide gültig waren. In diesem gemeinsamen Ursprung beider Disziplinen ist der Beginn einer Grundhaltung verbunden, die aus heutiger Perspektive als humanistisch bezeichnet werden kann und sich vorrangig in der Rhetorik ausdrückte.
5.1 Mythos: Einheit von Aletheia und Doxa Die gemeinsame Geschichte von Rhetorik und Philosophie beginnt in einem gemeinsamen Ursprung. Rhetorik wie Philosophie entstanden in Abgrenzung oder als Weiterentwicklung einer bestimmten Idee von Sprache bzw. eines bestimmten Gebrauchs von Sprache, der kennzeichnend für das mythische Denken ist, das sowohl der Rhetorik als auch der Philosophie historisch und inhaltlich vorausgeht. Die Durchsetzung der Schrift stellt den entscheidenden Wendepunkt dar. Die Literalisierung in der vorklassischen Zeit Griechenlands eröffnete der Sprache neue Perspektiven, und die Entstehung rhetorischer und philosophischer Fragestellungen ist eine Konsequenz dieser Perspektiven, die eine Differenzierung im Gebrauch von Sprache bedeutete, die vorher nicht möglich war. Sie löste eine bestimmte Einheit des Sprachlichen ab, und sie ist zu verstehen als Absetzung von der semantischen Einheit des Sprachlichen im Mythos.
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Die Entstehung eines Humanismus
Die Sprache des Mythos ist getragen von einer bestimmten Einheit, die mit der Ablösung des Mythos zerstört wurde. Der Mythos ist Erzählung einer unmittelbaren Wahrnehmung des göttlichen Kosmos, keine rationale oder reflektierende Durchdringung. Daher verbleibt auch jeder Versuch, das Mythische auf seine rational nachvollziehbaren Gründe zurückzuführen, ein dem Mythos Äußeres und ist nur retrospektiv möglich, aus der Perspektive einer späteren Rationalisierung. 1 Die Sprache des Mythischen ist durch eine Einheit zwischen dem Wort, das formuliert wird, und dem, was es aussagen will, gekennzeichnet. Der Mythos drückt das aus, was ist: »Mit dem Mythos ist ursprünglich das wahre Wort, die unbedingt gültige Rede gemeint, die Rede von dem, was ist.« 2 Er ist Ausdruck unmittelbarer Wahrnehmung und diese Unmittelbarkeit ist die Bedingung der Wahrhaftigkeit des mythischen Wortes. 3 Diese Einheit des gesprochenen Wortes mit dem durch das Wort Bezeichneten bildet die Grundlage kultischer Liturgie, die eben in der Erzählung des Mythos das Erzählte real macht. Die Erzählung einer vergangenen göttlichen Handlung setzt diese wieder neu in die Gegenwart; das mythische Wort schildert nicht nur eine Realität, es bildet eine Realität. 4 Gleiches gilt für den Vortrag des Rhapsoden, des Sängerdichters, der die mythischen Epen vorträgt. Die homerischen Epen sind trotz ihrer schriftlichen Verfasstheit noch Zeugnisse dieser oral kommunizierenden Kultur und bilden damit eine wichtige Schnittstelle zwischen dem alten und neuen Denken. Das genaue Verhältnis literaler und oraler Prägung der homerischen Schriften ist umstritten. Es ist eindeutig, dass die Struktur der Ilias und der Odyssee in ihrem hexametrischen Versmaß und ihren wiederkehrenden Wendungen ihren Ursprung in der mündlichen Rezitation hat. Der entscheidende Durchbruch der Erforschung der Oralität dieser Epen (»Oral-poetryForschung«) gelang Milman Parry und Albert B. Lord in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts durch Studien auf dem Balkan. 5
Vgl. Angehrn, Die Überwindung des Chaos, S. 17; Most, From Logos to Mythos, S. 32 f.; Hübner, Die Wahrheit des Mythos, S. 108 f. 2 Otto, Mythos und Welt, S. 285. 3 Vgl. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 2: Das mythische Denken, S. 87 f. 4 Vgl. Eliade, Das Heilige und das Profane, S. 89 ff. 5 Vgl. Parry, The making of Homeric Verse; Lord, Der Sänger erzählt. Wie ein Epos entsteht (engl. The Singer of Tales). 1
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Mythos: Einheit von Aletheia und Doxa
Dort gab es zu jener Zeit noch Sängerdichter, die als Analphabeten über eine herausragende Memorierungstechnik verfügten und die in der Lage waren, aus dem Gedächtnis nächtelang Epen zu rezitieren. Diese Sänger waren ein Glücksfall für die Forschung, erlaubten sie es doch, wichtige Schlüsse über die griechischen Rhapsoden zu ziehen und damit über eine sonst verlorene Kultur des Mündlichen, die schließlich in die homerischen Epen mündete. Die Sänger griffen in ihrem Vortrag auf Versatzstücke zurück, auf immer wiederkehrende Redewendungen und Formeln. An diese Praxis erinnert der Titel des »Rhapsoden«, der die Aufgabe hatte, die Gesänge »zusammenzunähen« (»ῥαψῳδεῖν«). Der epische Gesang ist damit aber keine Zusammenfügung starrer Blöcke, die sich gemäß festen Schemata wiederholen, sondern eine je neue Umgestaltung überlieferten Materials, die nie identisch ist und immer neue Formen hervorbringt. Damit stellt der Vortrag selbst den entscheidenden produktiven Akt des Sängers dar. 6 Das mündlich vorgetragene Epos lebt von der Unmittelbarkeit, die das mythische Denken kennzeichnet, und die sich hier zwischen Sängerdichter und Hörer vollzieht. Diese Unmittelbarkeit ist es, die dem Gesprochenen Glaubwürdigkeit verleiht, und die nicht nur für den gesamten Epos gilt, sondern sogar für jedes einzelne Wort: »Die Bedeutung eines Wortes bestimmt sich vielmehr in einer Folge konkreter Situationen, mit denen stimmliche Veränderungen und körperliche Gesten einhergehen, die alle darauf zielen, seine spezifische Bedeutung und seine Nebenbedeutungen festzulegen.« 7 Der Anspruch, mit dem der Rhapsode die Worte vorträgt, ist ein religiöser. Er tritt mit dem Anspruch auf, unmittelbares göttliches Wissen zu verkünden, das ihm die Muse geoffenbart hat. Die beiden großen homerischen Epen beginnen mit einer Anrufung der göttlichen Muse, die ausführlichste Anrufung findet sich im II. Buch der Ilias: »Kündet, ihr Musen, mir jetzt, die ihr hauset im hohen Olympos; Göttinnen seid ihr, allgegenwärtig und alles erkennend; Unser Wissen ist nichts, wir horchen allein dem Gerüchte.« 8
Vgl. Lord, Der Sänger erzählt, S. 24. Goody, Watt, Konsequenzen der Literalität, S. 66. 8 Ilias, II 484 f.: »ἔσπετε νῦν μοι, Μοῦσαι, Ὀλύμπια δώματ’ ἔχουσαι, ὑμεῖς γὰρ θεαί ἐστε πάρεστέ τε ἴστε τε πάντα ἡμεῖς δὲ κλέος οἷον ἀκύoμεν οὐδέ τι ἴδμεν.« Vgl. auch Pindar, Paian 6, 51 ff. 6 7
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Die Entstehung eines Humanismus
Dem Menschen ist nur ein begrenztes Wissen möglich; die allgegenwärtigen Musen, alles sehend und hörend, verfügen hingegen über ein vollständiges Wissen, das der Dichter als Hörender in seiner Unmittelbarkeit wahrnehmen muss und dann wiedergeben kann. Die Musen sind die Töchter der »Erinnerung« (μνημοσύνη); 9 Erinnerung ist hier nicht verstanden als Rückblick auf Gewesenes, sondern als Vergegenwärtigung von Existierendem, das dem Dichter wieder in Erinnerung gerufen wird. Das Nichterkennen der Wahrheit ist daher das Verfehlen der Erinnerung, das »Vergessen« (λήθη), 10 das gleichermaßen das Vergessen des Liedes wie auch der Wahrheit ist. Wahrheit und Vergessen sind komplementäre Seiten der göttlichen Offenbarung, sie machen aus dem mündlich »aus der Erinnerung« vortragenden Dichter gleichermaßen einen »Meister der Wahrheit« wie auch einen »Betrüger«. 11 Das Herausfallen aus der Wahrheit ist der Verlust der Einheit mit dem Göttlichen, der Verlust der Unmittelbarkeit, die das mythische Denken kennzeichnet. Die Einheit des Mythischen ist aber nicht nur die Einheit der Darstellung – sei es die zwischen Sänger und Hörer oder die zwischen Sänger und Muse –, sondern auch die des Dargestellten selbst, die des mythisch wahrgenommenen Kosmos. 12 Er ist Manifestation einer allgemeinen göttlichen, »numinosen« Präsenz, wie sie R. Otto in seinem Werk Das Heilige 13 treffend beschrieben hat: es ist die waltende Omnipräsenz des Göttlichen, das dem Menschen entgegentritt. Jedes Seiende ist gleichzeitig Verdeckung des Göttlichen – da es schon aufgrund seiner Materialität nicht identisch ist mit diesem und das Göttliche wiederum nicht auf ein Einzelnes reduzierbar ist – wie auch dessen Offenbarung, insofern es dessen Manifestation ist, sich diesem verdankt und mit seiner eigenen Existenz die Existenz des Göttlichen bezeugt. 14 Das einzelne Sein wird existent und deutbar durch Hesiod, Theogonie 54–56, 135, 915 ff. Vgl. Detienne, Les maîtres de vérités, S. 22 ff. 11 Vgl. a. a. O., S. 77 f.: »De cette ambiguïté fondamentale, deux conclusions se dégagent: d’une part, le ›Maître de vérité‹ est aussi un maître de tromperie. Posséder la vérité, c’est aussi être capable de tromper; d’autre part, les puissances antithétiques Alétheia et Léthé ne sont pas contradictiores: dans la pensée mythique, les contraires sont complémentaires.« 12 Vgl. Cole, The Origins of Rhetoric, S. 33 ff. 13 Vgl. Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. 14 Vgl. Cassirer, Die Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 2: Das mythische Denken, S. 88 f.: »Immer ist es dieser eigentümliche Zug zur ›Transzendenz‹, der alle 9
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Mythos: Einheit von Aletheia und Doxa
seine Bezogenheit auf das göttliche Ganze des Kosmos. Dieses Allgemeine ist nicht vergleichbar mit dem Allgemeinen der Logik: es ist keine begriffliche Abstraktion, sondern Wirkmacht einer göttlichen Präsenz, wie auch ein einzelnes Seiendes kein bloßer Begriff ist, sondern beseelt vom Göttlichen. Hübner spricht hier von einer »mythischen Substanz« 15 eines jeden Seienden. Die mythische Substanz lässt Differenzierung zu, Göttliches und Profanes sind ebenso zu trennen wie Geistiges und Materielles. Letztlich werden diese Differenzierungen jedoch aufgehoben in der Einheit des Numinosen. Damit ist die Wahrheit des Mythos nicht diejenige der späteren Philosophie oder Wissenschaft, sondern sie besteht in der Identität des mythischen Ausdrucks mit der Wahrheit des Göttlichen, das durch ihn repräsentiert wird. Diese Einheit wird in dem Augenblick zerbrechen, in dem dieser Ausdruck als nicht mehr übereinstimmend mit der Wirklichkeit erkannt wird und so die Grundlagen eines wissenschaftlichen bzw. philosophischen Wahrheitsbegriffs gelegt werden. Die Entstehung dieses neuen Weltbildes stellt ein Zerbrechen einer bis dahin grundlegenden Einheit des Sprachlichen im Mythos dar. Die Mythen, die uns schriftlich überliefert sind, sind bereits Zeugen dieses Auseinanderbrechens der Einheit des Sprachlichen. Diese Einheit wurde zerstört durch die neuen Möglichkeiten der Reflexion und der Hinterfragung, welche die Schrift bot, die auf diese Weise zur notwendigen Grundlage der Wissenschaft und der Philosophie, aber auch der Rhetorik wurde. 16 Die mythische Einheit des Sprachlichen, die einerseits zwischen dem mythischen Wort selbst und dem besteht, was es bezeichnet, anderseits aber auch zwischen dem Dichter und der göttlichen Muse, ist zu kennzeichnen als Einheit der Aletheia mit der Doxa. Der oral kommunizierte Mythos ist unmittelbarer und unreflektierter Ausdruck der Wirklichkeit (»Absolutismus der Wirklichkeit« 17) und damit in seiner äußeren Form des Wortes, der Doxa, unmittelbarer Ausdruck der göttlich geoffenbarten Wahrheit, der Inhalte des mythischen und religiösen Bewusstseins miteinander verknüpft. Sie enthalten in ihrem bloßen Dasein und in ihrer unmittelbaren Beschaffenheit eine Offenbarung, die doch eben als solche noch die Art des Geheimnisses behält – und ebendieses Ineinander, die Offenbarung, die zugleich Enthüllung und Verhüllung ist, prägt dem mythisch-religiösen Inhalt seinen Grundzug, prägt ihm den Charakter der ›Heiligkeit‹ auf.« 15 Vgl. Hübner, Die Wahrheit des Mythos, S. 111 f. 16 Vgl. Cole, The Origins of Rhetoric, S. 71 ff. 17 Vgl. Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 14.
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Aletheia. Damit erlangt die Sprache bzw. das begriffliche Denken des Mythos eine Einheit, die der späteren philosophischen Reflexion fremd ist. Claude Lévi-Strauss hat das mythische Denken als »das wilde Denken« beschrieben, das er wie folgt kennzeichnet: »Das wilde Denken trennt nicht den Augenblick der Beobachtung von dem der Interpretation. […] Das rührt daher, dass die artikulierte Sprache in Elemente zerfällt, die nicht Zeichen, sondern Mittel für Zeichen sind: eine distinktive Einheit, die durch keine andere ersetzt werden kann, ohne daß die Bedeutung sich ändert, und die der Attribute dieser Bedeutung entkleidet werden kann, die sie zum Ausdruck bringt, indem sie sich mit anderen Einheiten verbindet oder sich ihnen entgegenstellt.« 18
Als Zeichen wären die einzelnen sprachlichen Elemente wandelbar. Da sie aber nicht Zeichen, sondern »Mittel für Zeichen« sind, sind sie es nicht. Die Ursache dafür erkennt Lévi-Strauss im Anthropomorphismus der Natur. Die Sprache, welche die Natur zu bezeichnen sucht, ist nicht sprachlicher Ausdruck des Wahrgenommen, sondern das Wahrgenommene selbst ist ein Zeichen, das auf seine göttliche bzw. anthropomorphe Natur verweist. Liturgie und Magie sind möglich in dem Glauben, dass die Natur nicht nur das ist, was sie scheint, sondern auf etwas Größeres und Heiliges verweist, das sich in ihr ausspricht und dessen Sprache der Magie das Wort gibt. Wie die Magie aus sich heraus nicht ihren Wortlaut ändern kann, kann es auch nicht die Sprache eines Menschen, der in der Natur nicht etwas Fremdes erkennt, sondern den Spiegel seines eigenen Wesens. Die auf diese Weise konstituierte Sprache geht jeder Reflexion voraus. Cassirer beschreibt diese vorrationale und vorreflexive Einheit wie folgt: »Tatsächlich scheint hier noch eine weit einfachere und ursprünglichere Identifikation vorzuliegen – ebenjene, die auch Wachen und Traum, Namen und Sache usf. miteinander zusammenschließt und die es überhaupt zu irgendeiner strengen Trennung zwischen den Formen des ›abbildlichen‹ und denen des ›urbildlichen‹ Seins nicht kommen lässt. Denn jede derartige Trennung würde etwas anderes verlangen als die bloße Versenkung in den Inhalt selbst; sie würde erfordern, dass die Einzelinhalte, statt in ihrer bloßen Präsenz erfasst zu werden, vielmehr auf die Bedingungen ihrer Entstehung im Bewusstsein und auf das kausale Gesetz, das diese Entstehung beherrscht, zurückgeführt wür-
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Lévi-Strauss, Das wilde Denken, S. 257.
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den – dies aber würde wieder eine Art der Analyse, der rein gedanklichen Zerlegung voraussetzen, die hier noch vollständig fern liegt.« 19
Eine interessante Interpretation und inhaltliche Weiterführung dieser ursprünglichen Einheit des Sprachlichen bietet Walter Benjamin in seinem sog. Sprachaufsatz (»Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen«) aus dem Jahre 1916. Benjamin gewinnt seine Sprachtheorie anhand der Lektüre eines »mythischen« Textes, des Alten Testaments, in besonderer Weise der Schöpfungsberichte. Im Zentrum von Benjamins Theorie steht die Namensgebung. Die Namensgebung ist ein kreativer Akt, in dem eine bestimmte Sache benannt wird. Diese Benennung geht von der Mitteilbarkeit einer Sache aus. Diese stellt ihre Sprache dar: »Das sprachliche Wesen der Dinge ist ihre Sprache.« 20 Indem nun dieses Mitteilbare benannt wird, ein Namen geschaffen wird, befindet sich dieser Name in einer vollkommenen Übereinstimmung mit dem Benannten. In dieser Übereinstimmung, so Benjamin, kommt die Sprache zu sich selbst, teilt sie sich selbst mit, 21 besitzt sie – philosophiehistorisch interpretiert – die Einheit von Aletheia und Doxa. Nur in der Namensgebung selbst gelingt diese Einheit, die somit konstitutiv für die Sprache ist: »Der Name ist dasjenige, durch das sich nichts mehr, und in dem die Sprache selbst und absolut sich mitteilt. Im Namen ist das geistige Wesen, das sich mitteilt, die Sprache. Wo das geistige Wesen in seiner Mitteilung die Sprache selbst in ihrer absoluten Ganzheit ist, da allein gibt es den Namen, und da gibt es den Namen allein. […] Der Inbegriff dieser intensiven Totalität der Sprache ist der Name.« 22
Benjamin erkennt diese Einheit nur im göttlichen Schöpfungsakt bzw. im schöpferischen Sprechen Gottes. Die Bezüge zur »mythischen« Einheit werden deutlich, wenn Benjamin diese Einheit »magisch« nennt. 23 Diese Einheit wird zerstört im Sündenfall: »Der Sündenfall ist die Geburtsstunde des menschlichen Wortes.« 24 Was ist im Sündenfall mit der Sprache geschehen? Die göttliche Sprache war eins mit sich, Benennung war Schöpfung, Sprechen war Erkennen: Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 2, S. 53 f. Benjamin, Über Sprache überhaupt, S. 116. 21 Vgl. ebd. 22 A. a. O., S. 118. 23 Vgl. a. a. O., S. 117. Vgl. auch Menninghaus, Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, S. 17 f. 24 Benjamin, Über Sprache überhaupt, S. 127. 19 20
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»In Gott ist der Name schöpferisch, weil er Wort ist, und Gottes Wort ist erkennend, weil es Name ist. […] Das absolute Verhältnis des Namens zur Erkenntnis besteht allein in Gott, nur dort ist der Name, weil er im innersten mit dem schaffenden Wort identisch ist, das reine Medium der Erkenntnis.« 25
Der Mensch kann diesen Schöpfungsakt nicht fortsetzen, aber er sprach, und indem er sprach, wurde aus dem Schöpferischen bloße Erkenntnis: »Gott ruhte, als er im Menschen sein Schöpferisches sich selbst überließ. Dieser Schöpferische, seiner göttlichen Aktualität erledigt, wurde Erkenntnis. Der Mensch ist der Erkennende derselben Sprache, in der Gott Schöpfer ist.« 26
Diese Erkenntnis vollzieht sich dadurch, dass der Mensch den Dingen einen Namen gibt, sich auf diese Namen bezieht und diese Namen somit zur Erkenntnis werden. 27 Diese Trennung des Schöpferischen von der Erkenntnis ist als die Trennung der Einheit von Aletheia und Doxa interpretierbar. Das Schöpferische Gottes, das die Dinge ins Sein setzt, ist das Sein der Dinge selbst, die Sprache ist mit dem Sein der Dinge identisch, ist ihre Aletheia. Dem steht die Erkenntnis gegenüber. Die Erkenntnis, so beschreibt es auch Benjamin, ist dasjenige, was wahrgenommen wird, und genau das lässt sich als Doxa bezeichnen. Es mag verwundern, dass Benjamin seine Sprachtheorie anhand der Bibel entwickelt. Er selbst weist ausdrücklich darauf hin, weder eine Bibelinterpretation im strengen Sinne vorlegen zu wollen noch auf eine in der Bibel objektive Wahrheit verweisen zu wollen. Ihm geht es um das, »was aus dem Bibeltext in Ansehung der Natur der Sprache selbst sich ergibt«. 28 Benjamin legt mit seiner Interpretation der biblischen Schöpfungsberichte eine wichtige Ergänzung der Beschreibung und des Verlustes der Einheit der Sprache im Mythischen vor und rührt damit an dem Bild der Sprache selbst. Waldow spricht
A. a. O., S. 122. A. a. O., S. 123. 27 Vgl. a. a. O., S. 124: »[…] weil die Sache an sich kein Wort hat, geschaffen ist sie aus Gottes Wort und erkannt in ihrem Namen nach dem Menschenwort. Diese Erkenntnis der Sache ist aber nicht spontane Schöpfung, sie geschieht nicht aus der Sprache absolut uneingeschränkt und unendlich wie diese; sondern es beruht der Name, den der Mensch der Sache gibt, darauf, wie sie sich ihm mitteilt.« 28 Vgl. a. a. O., S. 121. 25 26
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Mythos: Einheit von Aletheia und Doxa
mit Blick auf den Sprachaufsatz von Benjamin von einem »Manifest und Resümee moderner Sprachauffassung«. 29 Dies begründet Waldow in der Beschreibung Benjamins »der Verlusterfahrung einer als ursprünglich vorgestellten Redeweise, die Ausdruck einer Identität zwischen Idee und Laut ist«. 30 Diese Verlusterfahrung bzw. die Interpretation der Sprache als etwas, das den metaphysischen oder mythischen Bezug zur Aletheia verloren hat, ist in der Tat als ein Kennzeichen der modernen Sprachphilosophie deutbar; sie ist gleichermaßen aber auch als ein Motiv deutbar, das die philosophische Auseinandersetzung mit der Sprache seit ihren Anfängen begleitet. Benjamin verfasst einen Aufsatz, der kennzeichnend wird für die »moderne Sprachauffassung« und tut dies im Rückgriff auf die mythisch-religiöse Welt des Alten Testaments, womit er die Aussage trifft, dass die moderne Sprachphilosophie – gerade auch in ihrer Abgrenzung von der Metaphysik – einen Weg verfolgt und die Fortsetzung einer Auseinandersetzung ist, die ihren Ursprung in der Trennung der mythischen Einheit von Aletheia und Doxa hat. Die Entstehung von Philosophie und Rhetorik ist als Folge des Zerbrechens dieser Einheit zu deuten. Die mythische Einheit des Sprachlichen ist vergleichbar mit derjenigen, die in Teilen der Sprachanalytik als »Philosophie der idealen Sprache« (ideal language philosophy) angestrebt wird. Die ideale Sprache ist gekennzeichnet durch die Übereinstimmung des sprachlichen Ausdrucks mit dem durch ihn Bezeichneten. Es gibt keine Leerstelle der Sprache, die diese nicht zu füllen vermöge, deshalb ist sie »ideal«. Aletheia und Doxa sind in der idealen Sprache identisch, wie es auch in der mythischen Sprache der Fall ist. Das Streben nach der idealen Sprache ist vor diesem Hintergrund zu deuten als der Versuch der Wiedererlangung einer Einheit der Sprache, wie sie den Mythos gekennzeichnet hat, aber bereits in vorklassischer Zeit verloren wurde. Wie die mythische Sprache der Entstehung von Rhetorik und Philosophie vorausging bzw. die Entstehung von Rhetorik und Philosophie die Konsequenz des Verschwindens der mythischen Einheit des Sprachlichen war, ist auch die ideale Sprache, die in Teilen der Sprachanalytik angestrebt wird, nicht zusammen zu denken mit der Rhetorik und der Philosophie. Erst die wahrgenommene Defizienz der Sprache ermöglicht das Nachdenken über die Sprache als solche. 29 30
Vgl.Waldow, Der Mythos der reinen Sprache, S. 11. Vgl. a. a. O., S. 11.
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Die Rhetorik nutzt die Leerstellen der Sprache, diese auf ein bestimmtes Anliegen hin zu konstruieren. Die Philosophie hinterfragte die Leerstellen der Sprache, indem sie zum einen auf die Natur dessen blickte, was in der Sprache formuliert werden soll, und zum anderen die Frage nach der Wahrheit einer Sache von ihrer sprachlichen Formulierung löste. Aus dieser Perspektive würde eine Verwirklichung der idealen Sprache, so sie denn möglich wäre, die Existenz von Rhetorik und Philosophie unmöglich machen. Auf die Rhetorik hin ist dies leicht nachzuvollziehen; auf die Philosophie hin ist zu fragen, wie sie zur ihrer eigenen Sprachlichkeit steht bzw. inwiefern sie ihre eigene Arbeit als Arbeit an der Sprache versteht.
5.2 Die Trennung von Aletheia und Doxa Die Sprache des Mythos ist durch die Einheit von Aletheia und Doxa gekennzeichnet. Diese Einheit zerbricht und ihr Zerbrechen ist der Verlust der unmittelbaren Wahrnehmung eines Sinnes im gesprochen Wort. Lévi-Strauss hat diesen Zusammenhang in seinen Traurigen Tropen geschildert: »Jedes Bemühen um Verständnis zerstört den Gegenstand, mit dem wir uns befassen, zugunsten eines anderen Bemühens, das ihn wiederum vernichtet zugunsten eines dritten und so weiter, bis wir Zugang finden zu der einzigen dauerhaften Gegenwart, derjenigen, bei der sich der Unterschied zwischen dem Sinn und dem Fehlen von Sinn verflüchtigt, jener, von der wir ausgegangen waren. Zweitausendfünfhundert Jahre sind vergangen, seitdem die Menschen diese Wahrheit entdeckt und formuliert haben.« 31
Der Verlust der Einheit der mythischen Sprache, so Lévi-Strauss, war auch für den Menschen ein Verlust. Dieser Verlust war abhängig von bestimmten Faktoren, welche die Fortsetzung des mythischen Denkens unmöglich machten. Die Entwicklung ist nicht ohne die wachsende Bedeutung der Schrift denkbar. Erst seit wenigen Jahrzehnten blickt die Forschung auf die Abhängigkeit des Denkens von den Medien, die es ausdrücken. Die Literalisierung bedeutete nicht nur eine Veränderung des Kommunikationsstils, sondern auch eine Veränderung des kommunizierten Inhalts. Solange in der Kultur ausschließlich mündlich kommuniziert wurde, war die Frage der Wahrheits31
Lévi-Strrauss, Traurige Tropen, S. 408.
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Die Trennung von Aletheia und Doxa
gemäßheit des Epos oder einer Rede abhängig von der Qualität des Vortrags, von der Fähigkeit des Vortragenden, den Inhalt dem Publikum angemessen darzubieten. Vollzogen sich kultureller Austausch und Überlieferung bis dahin in einer nicht aufhörenden Unterhaltung und Konsenserringung, wurde durch die neue Schriftkultur eine Sprengung dieses Konsenses möglich. Mit der sich immer mehr durchsetzenden Literalität wurde der Inhalt des nun niedergeschriebenen Epos, ja sogar jedes Wort in neuer Weise auf die in ihm liegende Wahrheit befragt. 32 Dieses Wissen wurde in neuer Weise reflexionsfähig, die Reflexion war nicht mehr an den Augenblick des Vortrags gebunden und erlaubte so eine tiefere und zeitlich unbefristete Beschäftigung mit der Sache selbst. 33 Das hieraus entstehende Bewusstsein nennen Goody und Watt »epistemologisch« 34. Assmann nennt diese sich nun zwischen Texten ereignende Kommunikation »Hypolepse« 35 und überträgt damit einen Begriff, der bisher verwandt wurde, den Anschluss und die Fortführung eines mündlichen Vortrags zu kennzeichnen, auf die Fortführung eines schriftlich durchgeführten Dialogs. Der Begriff »Hypolepse« ist insofern berechtigt, als dass er nicht nur die Anschlussfähigkeit, sondern auch die Anschlussbedingtheit eines Textes beschreibt. Im Unterschied zu einer oralen Hypolepse tritt jedoch noch ein weiterer Aspekt hinzu: der neue Text schreibt nicht nur den alten Text fort, er beurteilt und reflektiert den alten Text, der erst in seiner schriftlichen Verfasstheit reflektierbar wird. Hier beginnt die Reflexion auf Sprache selbst: »Die Reflexion auf den Sprachgebrauch beginnt also zunächst als eine Reflexion auf den Schriftsprachgebrauch.« 36 Das niedergeschriebene Vgl. Stetter, Schrift und Sprache, S. 367 f. Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, S. 219. 34 Goody, Watt, Konsequenzen der Literalität, S. 100: »Dieses epistemologische Bewusstsein scheint mit der allgemeinen Übernahme der Schrift zusammenzufallen, wahrscheinlich deshalb, weil das geschriebene Wort ein Ideal definierbarer Wahrheiten nahe legt, die eine ganz andere inhärente Autonomie und Dauer haben als die Phänomene, die sich im Fluss der Zeiten und durch widersprüchlichen Sprachgebrauch verändern.« 35 Vgl. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 281: »Nicht mehr Sprecher reagieren auf Sprecher, sondern Texte reagieren auf Texte. […] Eine neue Form kultureller Kontinuität und Kohärenz entsteht: die Bezugnahme auf Texte der Vergangenheit in der Form einer kontrollierten Variation, die wir ›Hypolepse‹ nennen wollen.« 36 Totzke, Buchstaben-Folgen, S. 120. Vgl. auch Nieddu, Neue Wissensformen, Kommunikationstechniken und Ausdrucksformen, S. 162: »Der Gebrauch der Schrift führt unvermeidlich zu einer Normalisierung und Rationalisierung, insofern die 32 33
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Die Entstehung eines Humanismus
Wort erreicht eine Unabhängigkeit von der Situation, vom Akt des Sprechens und vom Akt des Hörens, weil, so Goody, »das geschriebene Wort ein Ideal definierbarer Wahrheiten nahe legt, die eine ganz andere inhärente Autonomie und Dauer haben als die Phänomene, die sich im Fluss der Zeiten und durch widersprüchlichen Sprachgebrauch verändern«. 37 Diese Unabhängigkeit ist auch eine Unabhängigkeit gegenüber dem, was es ausdrückt, und bedeutet so eine Trennung von etwas, das im mythischen Denken noch vereint war: Aletheia und Doxa. Im Mythischen war in jeder Äußerung und in jedem Wahrgenommenen das Göttliche in all seiner Wirkmacht präsent. 38 Die »mythische Substanz« – garantiert durch das MythischGöttliche – wurde auseinander gerissen und musste der Frage weichen, welche Wahrheit einer Äußerung zugrunde liegt und inwiefern eine Äußerung auch das bezeichnet, was sie zu bezeichnen beansprucht. 39 Im Zentrum dieser Entwicklung steht der Doxa-Begriff. In ihm wird eine neue Haltung gegenüber dem »nur« Gesprochenen deutlich. Bei Homer hatte das Wort »Doxa« noch in einem neutralen, nicht negativen Sinne für »Meinung« gestanden (Il. X,324; Od. XI,344). Bei Solon heißt es bereits abwertend, dass die Menschen kein Wissen, sondern »nur Meinungen« (Dist. 1,39) hätten. Theognis von Megara gebraucht das Wort »dokei« (V. 137 f.), um vom leeren Glauben der Menschen zu sprechen. Das wahrgenommene Fehlen der mythischen Offenbarung lässt die Unkenntnis des Menschen immer schärfer hergröbsten Wiederholungen und Widersprüche ausgeschlossen werden; auf der anderen Seite unterzieht die schriftliche Abfassung die Formulierungen einem Prozeß der Stilisierung und Verfeinerung, wodurch eine größere formale Strenge erreicht wird.« 37 Goody, Watt, Konsequenzen der Literalität, S. 100. 38 Vgl. Cassirer, Die Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 2: Das mythische Denken, S. 87: »Der theoretische Aufbau des Weltbildes hebt an dem Punkte an, an dem das Bewusstsein zuerst eine klare Scheidung zwischen ›Schein‹ und ›Wahrheit‹, zwischen bloß ›Wahrgenommenem‹ oder ›Vorgestelltem‹ und dem ›wahrhaft Seienden‹, zwischen dem ›Subjektiven‹ und dem ›Objektiven‹ vollzieht. […] Eine solche Scheidung und Schichtung ist dem mythischen Bewusstsein, wie sich gezeigt hat, völlig fremd.« 39 Vgl. Apel, Die Idee der Sprache, S. 63: »Bei den Griechen wurde nun mit dem Bewusstsein der ›ontologischen Differenz‹ und damit zugleich der hermeneutischen Funktion die Sprache selbst zum Logos, d. h. sie verlor ihre magische inhaltliche Identität mit dem Weltgeschehen selbst und wurde zum formalen, intersubjektiven Ordnungsmedium des bewussten philosophischen Denkens.«
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Die Trennung von Aletheia und Doxa
vortreten, die nicht nur besprochen wird als Mangel göttlichen Wissens, sondern sogar zu dessen Antipode wird. So schreibt Pindar von »zahllosen Verwirrungen« des Menschen, der »kein Mittel« hat, Kenntnis zu erlangen (Ol. Od. VII,24 f.) und in seiner Blindheit nicht in der Lage ist, »ein verlässliches Zeichen von Gott« (Ol. Od. XII,7 f.) ausfindig machen zu können. Die Doxa, das Gerede, wird zum Hindernis der Wahrnehmung der göttlichen Wahrheit; Aletheia und Doxa werden zusehends zu Antipoden, deren Verhältnis klärungsbedürftig wird. Die Spannung, die im Auseinanderbrechen von Aletheia und Doxa offenbar wird, wird auch in anderen Begriffspaaren sichtbar. Ob es sich um Natur (φύσις) – Gesetz (νόμος) 40 oder Wahrheit (ἀλήθεια) – Namen (ὄνομα) handelt, es geht immer um den gleichen Konflikt: die Wahrnehmung einer Differenz zwischen einem basalen Prinzip bzw. dem, was ein Seiendes wirklich ist, auf der einen Seite und andererseits dem, wie es nach außen erscheint bzw. benannt wird. Empedokles fasst diesen Vorgang wie folgt zusammen: »Man redet nicht, wie es dem göttlichen Gesetz entspräche; doch auch ich halte mich daran aus Brauchtum.« 41 Die Sprache ist damit nicht mehr der ungeschmälerte Ausdruck dessen, was ist, sondern verbleibt auf der Ebene des »Scheins«, des äußeren Eindrucks, über den man sich verständigt. Was früher in der mythischen Einheit der Sprache »dem göttlichen Gesetz« gemäß ausgesprochen wurde, wird zu einem Gerede, das man weitererzählt, nicht, weil es ein wahrer Ausdruck der Wirklichkeit ist, sondern weil es üblich ist. Die Fragestellung, die sich aus dieser Trennung ergibt, zielt in zwei Richtungen: einerseits dahin, wie es noch möglich ist, zur Wahrheit zu gelangen und diese auch auszudrücken, andererseits, wie mit der Doxa, dem üblichen Gerede, dem Gerücht, dem äußeren Schein der Wahrheit, umzugehen ist und welche Beziehung diese zur Aletheia besitzt. Der den Mythos verkündigende Rhapsode war mit dem Anspruch aufgetreten, eine göttliche Offenbarung zu verkünden. Im Vortrag des epischen Gesangs wird er zum Sprachrohr des Göttlichen. In der Auflösung dieser Einheit mit dem Göttlichen und der Wahrnehmung sinnlicher Eindrücke – der Doxa – kommt es zu einer Stärkung der individuellen Subjektivität. Wenn der Mensch nur in der Lage ist, das Vgl. Heinimann, Nomos und Physis, S. 42 ff.; Hoffmann, Sprache und archaische Logik, S. 27 ff. 41 Empedokles, DK 31 B 9. 40
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auf ihn Einwirkende zu beschreiben, kommt dem Menschen als Wahrnehmenden eine Bedeutung zu, die er bis dahin nicht besessen hat. 42 Die Autoren stellen sich nun in ihren Schriften selbst als Autor vor, die Schrift wird zum Träger der Gefühlswelt des Dichters, zum Ausdruck der auf den Dichter wirkenden Welt. 43 Auf dem Fundament der Doxa wird eine Subjektivität beschrieben als Konstruktion dessen, was der Dichter von der Doxa in sich aufnimmt. Auch wenn die Subjektivität zur neuen Ausdrucksmöglichkeit der Dichtung wird, verliert sie nicht ihren Bezug zu etwas Objektivem, zu etwas, das über das Wahrgenommene, über die schwankende Doxa hinausgeht: die Ideale, die Tugenden, etwas Überirdisches, das in einem Augenblick im Wahrgenommenen aufstrahlt und diesem doch transzendent bleibt. Fundament ist und bleibt die Doxa, die Wahrnehmung dessen, was ist. Aus dieser Doxa heraus muss die Beschreibung von etwas Transzendentem in neuer Weise gewonnen werden, da sie nicht mehr – wie im Epos – geoffenbart ist. Schrittweise nähert sich die griechische Lyrik dieser neuen Objektivität, bezieht das in der Doxa Wahrgenommene auf Tugenden und Ideale einer höheren Welt. Der Höhepunkt in der Darstellung dieser »neuen Transzendenz« 44 in der griechischen Lyrik wird wohl mit Pindar erreicht. Als Chorlyriker war es seine Aufgabe, Lobgesänge zu bestimmten Personen oder Ereignissen zu verfassen. Dies tut er, indem er sie in Bezug zu einem ästhetischen Prinzip setzt. Die Wirklichkeit wird von ihm wahrgenommen und dann auf die ihr immanente Ästhetik sprachlich konzentriert, gemäß der Idee einer allgemeinen Ästhetik, die sich aus der Gesamtschau der Wirklichkeit ergibt und damit auf dem Fundament der Doxa bleibt. Pindar sieht seine Aufgabe als Dichter darin, anhand Schadewaldt, Die frühgriechische Lyrik, S. 89. Vgl. Angehrn, Überwindung des Chaos, S. 364: »Zum ersten Mal nimmt das Subjekt hier selbst das Wort, um in dieser Weise seine Stellung im und zum Wirklichen, das Erwachsen seiner Selbständigkeit und das Innewerden seiner Gebrechlichkeit zum Ausdruck zu bringen.« Vgl. auch Thomas/Webb, From Orality to Rhetoric, S. 10 f. 43 Vgl. Fränkel, Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums, S. 151: »Wenn nun der Geist des Menschen so vollkommen wandelbar ist, und wenn sich mit dem Moment, der unser Wesen umschafft, auch unser Weltbild radikal verschiebt, erhält der jeweilige Zustand der eigene Personen eine überragende Wichtigkeit. Der gegenwärtige eigene Zustand findet seinen künstlerischen Ausdruck im kurzen lyrischen Gedicht, das eine direkte, offene und natürliche Sprache redet, wie sie dem neuen Realismus gemäß ist. Im einzelnen Liede objektiviert sich die Reaktion des Sprechers auf das, was ihm eben jetzt widerfährt.« 44 Vgl. Theunissen, Pindar, S. 11. 42
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Die Trennung von Aletheia und Doxa
der allgemeinen Ästhetik das ästhetische Moment des Einzelnen wahrzunehmen und zu beschreiben und damit eine Einheit herzustellen, die Theunissen die Einheit von »Relativität« und »Absolutheit« nennt. Diese Einheit ist die Wahrnehmung des Kairos im Einzelnen, des Moments, der insofern relativ ist, als dass er aufgrund eines ästhetischen Grundverständnisses mit anderen Momenten vergleichbar ist, aber insofern absolut, weil er nicht von diesen abhängt und für sich im Einzelnen aufstrahlt, in seiner Einzigkeit zudem normierend auf das Allgemeine einwirkt. 45 Der lyrische Sprachgebrauch sieht im konkret Vorhandenen durchaus die Gefahr einer Verzerrung oder Verstellung durch das Gerücht, die bloße Meinung, das, was als Doxa bezeichnet wird. Dennoch wird dieses konkret Vorhandene – damit die Doxa – auf das hin befragt, was ihm immanent ist und gleichzeitig über es hinausgeht. Auf der Grundlage der Doxa, des konkret Wahrgenommenen, des äußeren Scheins, wird eine Sprache konstruiert, gemäß den Prinzipien einer Ästhetik, die dem Wahrgenommenen sowohl immanent als auch transzendent ist. Dieses lyrische Sprachgeschehen setzt sich in der neu entstehenden Rhetorik fort. Der Überlieferung nach waren Korax und sein Schüler Teisias aus dem sizilischen Syrakus die Schöpfer der Rhetorik. Im Jahre 466 v. Chr. wurde in Syrakus der Tyrann Thrasybulos von der Bevölkerung vertrieben. Nach dessen Sturz habe Korax seine Mitbürger zu einer Versammlung aufgerufen und dort eine vielbeachtete Rede gehalten. In der Folgezeit unterwies Korax eine Schar von Schülern in die Redekunst. Antike Autoren berichten von rhetorischen Lehrbüchern, die Korax und sein Schüler Teisias herausgegeben hätten. Die Berichte über den Inhalt dieser Lehrbücher weichen sehr stark voneinander ab, gewisse Gemeinsamkeiten sind dennoch festzustellen: so scheint Korax die Rede in verschiedene, aufeinanderfolgende Blöcke unterteilt zu haben. 46 Vermutlich bestanden diese Lehrbücher sowohl aus Musterreden, als auch aus Versatzstücken, die dann zu Vgl. a. a. O., S. 825: »Das in sich als Kairos bestimmte Maß ist hingegen absolut und relativ zugleich in dem Sinne, dass seine Relativität der ihm eigentümlichen Absolutheit anhängt, also sich nicht von außen hinzugesellt. Absolut ist das Kairos-Maß, insofern es als Maß fungiert.« 46 Vgl. Schöpdsau, Antike Vorstellungen von der antiken Rhetorik, S. 19 f.; Usher, Greek Oratory: Tradition and Originality, S. 21 ff.; Timmerman/Schiappa, Classical Greek Rhetorical Theory, S. 137–139. 45
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einer Rede zusammengefügt werden konnten. Der Überlieferung nach war es dann Gorgias, aus dem sizilischen Leontinoi stammend, der 427/426 v. Chr. die rhetorische Lehre nach Athen brachte und ihr dortiger Begründer wurde. Bei der Beurteilung dieser Überlieferung der sizilischen Ursprünge der Rhetorik ist zu beachten, dass nach antikem Denken die Erfindung einer neuen Sache immer mit Personen verbunden wurde, um greifbar und darstellbar zu sein. Es ist davon auszugehen, dass es sowohl vor Korax in Sizilien als auch vor Gorgias in Athen eine intensive Beschäftigung mit der Redekunst gegeben hat. 47 Die Entstehung neuer politischer Verhältnisse – insbesondere die Einführung demokratischer Elemente – hat die Bedeutung der Rhetorik gesteigert und machte es für jeden politisch tätigen Menschen erforderlich, sich mit der Redekunst zu beschäftigen, ein Zusammenhang, der bereits von antiken Autoren beschrieben wurde. 48 In der Rhetorik kommt es zu einer durch die Literalisierung ermöglichten Reflexion einer bereits üblichen Praxis. 49 Wie auch die beginnende Philosophie ist Rhetorik Theoretisierung und Bearbeitung des Faktischen, dessen, was wahrgenommen bzw. längst ausgeübt wird. 50 Hierbei kommt es in Griechenland zu einer Umstellung der Argumentationsweise: bis dahin galt das Wort des Zeugen, nun gewinnt in der Rhetorik das Wahrscheinliche – die Doxa – Beweiskraft. 51 Das, was in der Rhetorik theoretisiert wird, ist das Geschehen der Doxa: das sich zwischen den Menschen ereignende Sprachgeschehen. Diese Doxa ist einzig mögliche Grundlage der philosophischen Reflexion wie auch einer jeder möglichen lyrischen oder rhetorischen Konstruktion. Vgl. Schiappa, The Beginnings, S. 526 f. Vgl. Cicero, Brutus 45 f. Vgl. auch Schöpsdau, Antike Vorstellungen von der antiken Rhetorik, S. 24; Ueding, Klassische Rhetorik, S. 14 ff. 49 Vgl. Stetter, Schrift und Sprache, S. 368: »Die Rhetorik selbst, nicht erst ihre Philosophie, ist ein Produkt der schriftlichen Zivilisation. […] Die Schriftlichkeit des Argumentationsverfahrens hat vielmehr intrinsisch mit Form und Inhalt des zu Sagenden zu tun. Erst durch sie wird der logos zur autonomen Größe im Prozess des Überzeugens.« Vgl. auch Bahmer, Schriftlichkeit und Rhetorik: Das Beispiel Griechenland. 50 Vgl. Gadamer, Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik, S. 234: »Auch hier setzt sich ein natürliches Vermögen, das jeder hat, in ein Können um, durch das einer alle anderen übertrifft, und die Theorie kann bestenfalls nur sagen, warum. In beiden Fällen besteht ein Verhältnis der Nachträglichkeit zwischen der Theorie und dem, woraus sie abstrahiert ist und was wir Praxis nennen.« 51 Vgl. Kennedy, The Art of Persuasion in Greece, S. 89 f. 47 48
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Die Trennung von Aletheia und Doxa
Die Philosophie entsteht als Kritik am Mythos, der als bloße Doxa wahrgenommen wird, als eine Meinung, die es zu hinterfragen gilt. Die neu entstehende Philosophie sucht hinter dem Schein der Doxa die ihr zugrunde liegende Aletheia offenzulegen. Dennoch wissen sich die philosophischen Autoren auch weiterhin an die Doxa als unhintergehbare Grundlage ihres Forschens gebunden – damit an das, was die Rhetorik beschreibt. Das wohl prominenteste, aber auch umstrittenste Zitat der vorsokratischen Philosophie – das zugleich der treffendste Satz einer bestimmten Geisteshaltung ist – ist wohl der von Parmenides überlieferte Satz: »Dasselbe nämlich ist zu erkennen und zu sein.« 52 Dieser Satz wurde oft missverständlich interpretiert in dem Sinne, dass sich jede Art von Aussage, wenn sie wahr sein soll, auf ein (dann als unveränderlich und transzendent verstanden) Seiendes beziehen muss. Vermutlich wird sich dieser Satz nie ganz zweifelsfrei aufklären lassen, aber er gewinnt eine ganz andere Betonung durch eine Einordnung in ein sehr präsentes Motiv des vorsokratischen Denkens, und nicht nur des philosophischen »vorsokratischen« Denkens. Bereits bei dem frühen Lyriker Archilochos heißt es: »So pflegt der Sinn den Menschen […] zu gestalten (da sie sterblich), […] und sie denken so, wie das ist, woran sie geraten sind.« 53 Diese Haltung, das Sprechen oder das Denken des Menschen in Abhängigkeit von dem zu setzen, was er wahrnimmt, hat vielseitige Konsequenzen, um die es im Folgenden gehen wird. Erst einmal ist sie – gerichtet auf das vorgängige Denken – Kritik an der sprachlichen Objektivität des Mythos, insofern sie das Zu-Sagende nicht mehr durch eine göttliche Offenbarung rechtfertigen kann. Gleiches kann nur mit Gleichem erkannt werden, und Aussagen über den Kosmos müssen sich damit auch am Kosmos messen lassen. Pointiert heißt es in einem von Aristoteles überlieferten Zitat des Empedokles: »Denn mit Erde sehen wir Erde, mit Wasser Wasser und mit Luft strahlende Luft.« 54 Wenn die Wahrnehmung Grundlage der Erkenntnis ist, gewinnt das Parmenides-Zitat die Perspektive, nicht ein (anachronistisches) metaphysisches Sein zur Grundlage der Erkenntnis zu machen, sondern umgekehrt den Prozess des Erkennens in Abhängigkeit zu setzen von Parmenides, DK 28 B 3: »τὸ γὰρ αὐτὸ νοεῖν ἐστίν τε καὶ εἶναι.« Archilochos, Fr. 131/123 West. 54 Empedokles, Fr. 109. Vgl. auch DK 31 A 86: »Die Einsicht wird nämlich durch Gleiches zustandegebracht und die Unkenntnis durch Ungleiches, so dass die Einsicht entweder dasselbe ist wie die Sinneswahrnehmung oder fast dasselbe.« 52 53
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der sinnlichen Wahrnehmung oder sogar mit ihr zu identifizieren. 55 Die Erkenntnis ist genauso wenig abstrakt zu begreifen wie das Sein, beide sind zwei Dimensionen eines Wahrnehmungsaktes: die eine beschreibt das aktive Moment, die Hinwendung zum Seienden, die andere fasst das passive Moment, das reflexive Wahrnehmen. 56 Diese beiden Dimensionen der Wahrnehmung wurden mit unterschiedlichen Gewichtungen gestaltet: Parmenides und andere Philosophen suchten in der Reflexion des Wahrgenommenen dessen Wahrheit zu ergründen, Lyriker oder auch die Rhetoriker gingen den umgekehrten Weg, indem sie im aktiven Moment, in der konstruktiven Hinwendung zum Seienden dieses Seiende auszusprechen suchen und auf diese Weise neue Aspekte der Wirklichkeit schaffen wollen. Fundament beider Zugänge ist die Doxa, das konkret Wahrgenommene, in dem Erkennen und Existenz des Erkannten im vorsokratischen oder besser: vorplatonischen Denken zusammenfallen. Indem die Doxa – das Wahrgenommene – im Zentrum der philosophischen wie nichtphilosophischen Weltdeutung steht, rückt letztlich der Betrachter – somit die menschliche Subjektivität – in den Fokus. 57 Die Welt wird bewusst als von ihm gedeutet wahrgenommen und damit der Grundpfeiler dessen gelegt, was als »humanistisch« zu bezeichnen ist. Die Doxa – die sinnliche wahrnehmbare Welt – ist und bleibt Fundament jeder Erkenntnis. Indem in der beginnenden Philosophie die Doxa zum Gegenpol der Wahrheit wird, ist nicht die Doxa das eigentlich Neue, sondern die nichtsinnliche Wahrheit. Das inhaltlich Neue ist die Aletheia, die freigelegt werden soll, das begrifflich Neue ist die Doxa, die – obwohl sie einzig mögliches Fundament der Erkenntnis ist – als die die Wahrheit Verzerrende gefasst wird. 58 Vgl. Welz, Die Einheit der Erfahrung, S. 186 ff. Vgl. Buchheimer, Die Vorsokratiker, S. 30 f.: »Immer geht es um dasselbe, dem auf zwei Wegen Widmung zuteil wird – einmal mehr auf es zu, das andere Mal mehr von ihm aus. Auf-dasselbe-zu und von-demselben-aus sind als Sein und Gewahrung nach Parmenides, ›dasselbe erschließt sich der Widmung der Gewahrung und des Seins‹«, wie der Satz nach dem Gesagten geradezu wiedergegeben werden könnte, um für unsere Ohren seine wahrere Intention erst vernehmlich werden zu lassen.« 57 Vgl. a. a. O., S. 15: »Das philosophische Denken unterscheidet sich aber nun vom primär sachlich-wissenschaftlich geleiteten von jeher dadurch, dass es seine eigene Stellung zur Sache – d. h. wie man sich in das, was da zu denken ist, auch finden kann – stets mit im Blick hat.« 58 Reinhardt, Parmenides, S. 24: »Die δόξα wäre nie erfunden, nie die Welt der Sinne aus diesem Augenpunkte betrachtet worden, hätte nicht die ἀλήθεια so schroff allem 55 56
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Die Trennung von Aletheia und Doxa
Die Einheit von Erkennen und Sein beruht auf der Annahme, dass Erkennen immer ein Erkennen »von etwas« ist. Erkenntnis vollzieht sich nicht – wie normalerweise im modernen Denken postuliert – ausschließlich geistig und immateriell, sondern ist aufnehmende Verarbeitung dessen, was sich dem Geiste von außen darbietet. Denken ist nicht Neuschöpfung geistiger Inhalte, sondern Vergeistigung des von außen Wahrgenommenen. Die Grundstruktur des Erkennens ist rezeptiv und damit passiv. Die Philosophie als der Versuch, die Doxa zu durchdringen, nimmt diese rezeptiv auf und befragt diese auf ihren Wahrheitsgehalt hin, auf das ihr Zugrundeliegende. Die Rhetorik wie auch die Lyrik gehen einen umgekehrten Weg, indem sie das Wahrgenommene nicht reflektieren, um es letztlich auf seinen Grund hin abzubauen, sondern dieses als Grundlage einer sprachlichen Neukonstruktion nehmen, mit dem Ziel, ein allgemeines ästhetisches Prinzip zu verwirklichen oder dem Zuhörer zu gefallen. Verfügt die Philosophie als Reflexion von Wahrnehmung über eine passive Grundstruktur, sind Lyrik und Rhetorik aktiver Auf- und Umbau des Gegebenen. Dass die Grundstrukturen, die passive Reflexion und die aktive Konstruktion, aufeinander verwiesen sind, ist darin begründet, dass weder die passive Reflexion der Philosophie denkbar ist ohne die Dimension der aktiven Konstruktion, insofern sie nach innen verarbeitet und nach außen kommuniziert wird, noch die lyrische oder rhetorische Konstruktion ohne die passive Wahrnehmung dessen, was sich darbietet und was die Grundlage der konstruierenden Veränderung darstellt. Beide, passive Reflexion wie aktive Konstruktion, sind voneinander abhängig und aufeinander verwiesen, sie können sich nur in der Teilhabe am jeweils anderen vollziehen. Buchheim hat dies in der Erläuterung des Parmenides-Zitats »Erkennen und Sein sind eins« festgehalten: »Beide, Gewahrung und Sein, bringen es nämlich, wie man sagen könnte, auf je eine andere Weise zu demselben und so dieses selbe zu ihm selbst.« 59 Was Buchheim hier über die Einheit bisherigen Denken widersprochen, dass eine genaue Auseinandersetzung mit dem Weltbilde der ›Sterblichen‹ nicht zu vermeiden schien.« 59 Buchheim, Vorsokratiker, S. 30. Vgl. auch ebd.: »Mit etwas Nachdenken lassen sich auch andere Sätze nach dem logischen Muster des Parmenides bilden, die dann ebenfalls ein solches ›Erreichen‹ desselben auf zwei Wegen aussagen. Zum Beispiel: ›Dasselbe ist zu züchten und zu wachsen‹ – aber nichts vermag die Züchtung, wo Wachsen ausbleibt, und umgekehrt, die Züchtung ist nur vorauseilend abgeschaut vom Wachstum.«
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Die Entstehung eines Humanismus
und gegenseitige Bezogenheit von Erkennen und Sein feststellt, gilt auch für die Einheit und gegenseitige Bezogenheit von Reflexion und Konstruktion, insofern sich diese ebenfalls gemeinsam auf das konkret Wahrgenommene, die Doxa, beziehen. Wie im vorplatonischen Denken Erkennen und Sein miteinander verschmelzen und doch zwei verschiedene Aspekte kennzeichnen, sind philosophische Reflexion und rhetorische Konstruktion in ihrer Abhängigkeit von der Doxa eins und dennoch verschieden in ihrem unterschiedlichen Zugang zu dieser. So wie das Erkennen, das Wahrnehmen von Sein, nur zum Erkennen wird, indem es sich auf das Sein bezieht, und umgekehrt das Sein dann konkret wird, indem es wahrgenommen wird, wird die Reflexion des Seins konkret, indem das Wahrgenommene im Denken und Sprechen neu konstruiert wird, während die künstlerische Verarbeitung des Seins in der Lyrik Weiterverarbeitung des rezeptiv Wahrgenommenen und Reflektierten ist. Der Doxa kommt hier eine Schlüsselstellung zu, welche die Grundlage jeder passiven Wahrnehmung und jeder aktiven Gestaltung des Seins darstellt; in ihr kommen Erkennen und Sein zur Einheit, und zwar im Menschen, der zusehends in die Lage versetzt wird, sich selbst zur Mitte seiner Weltdeutung zu machen und damit die Grundlage für das legt, was später als »Humanismus« bezeichnet werden wird. Diese Reziprozität von Erkennen und Sein, von Reflexion und Konstruktion, ist ein Kennzeichen des vorsokratischen Denkens, das spätestens in seinen Konsequenzen auf den modernen Betrachter fremd wirkt. Wenn das Wahrgenommene selbst und die Weiterverarbeitung der Wahrnehmung in gegenseitiger Abhängigkeit sind, dann wird in der Wahrnehmung auch das Wahrgenommene verändert – nicht nur verändert gedacht, sondern wirklich verändert. Deutlich wird dies in der antiken Frage von physis und nomos, der alten Diskussion der Unterscheidung der Natur selbst von ihrer Beschreibung. Demokrit schreibt: »Natur (φύσις) und Lehre (διδαχή) sind eng beieinander. Denn die Lehre formt zwar den Menschen um, aber durch diese Umformung schafft sie auch Natur.« 60 So wie die vorsokratische Philosophie in ihrem Bezug auf die sinnliche Wahrnehmung, in ihrer Rezeption dessen, was ist, die Natur des Menschen vom Nebel der Doxa zu befreien suchte, entstand die Rhetorik in dem Ansinnen, in der Wahrnehmung der Doxa und in ihrer Zuspitzung
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Demokrit (DK 68 B 33).
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Die Sophistik als Frühform des Humanismus
den Menschen nicht nur in seiner Meinung zu beeinflussen, sondern auch dessen Natur zu verändern. Apel hat diese Entwicklung beschrieben als eine, die beim mythischen Logos beginnt, zur Physis führt und schließlich wieder im Logos endet. 61 Dieser Logos steht im Mittelpunkt sowohl der Sophistik als auch der platonischen und nachplatonischen Philosophie.
5.3 Die Sophistik als Frühform des Humanismus Die Abwendung von der Einheit der mythischen Sprache durch die Kritik oder Skepsis am Anspruch des Mythos führt zur Beachtung des Menschen als das das Sein gewahrende Wesen und damit zur stärkeren Beachtung menschlicher Subjektivität. Die Deutung der Welt wurde nun als in besonderer Weise vom Menschen abhängig begriffen, »Denken und Sein« konstituieren aus der Perspektive des Menschen eine neue Einheit des Bewusstseins. Während die Philosophie mit Autoren wie Parmenides diese Perspektive durch die Annahme einer Transzendenz zu relativieren suchte, machte sich gerade die Rhetorik diesen Standpunkt der Subjektivität in besonderer Weise zu eigen und schuf damit die Basis für etwas, das man aus moderner Sicht als »Humanismus« bezeichnen kann. Als Sophismus geriet diese Perspektive in die Kritik der platonischen Philosophie. Eine Betrachtung der Sophistik hat sich aus den historischen Fängen dieser Kritik zu lösen und zu berücksichtigen, dass die Sophistik die Weiterverfolgung eines Ansatzes war, welcher den damaligen Menschen selbstverständlicher erschien als die transzendierende Ideenlehre Platons. Nicht dessen Philosophie, sondern die Sophistik war die bestimmende Größe des damaligen Bildungsverständnisses. Ihr humanistisches Fundament wird in besonderer Weise in dem Schlagwort deutlich, das ihr zugleich die meiste Kritik bescherte: dem sog. »homo-mensura-Satz« des Protagoras, dem »schlimmste(n) aller sophistischen Gedankenfetzen«: 62 »Aller Dinge Maß (μέτρον) ist der Mensch, der seienden, dass sie sind, der nichtseienden, dass sie nicht
Vgl. Apel, Die Idee der Sprache, S. 64: »Wie beim Übergang vom Mythos zum Logos der Weltinhalt sich als Physis vom Logos als der formalen Ordnung der Welt absonderte, so löst sich jetzt der Logos als menschliches Denken, als Vernunft überhaupt, von der Rede qua ›Sprache‹ im engeren Sinne.« 62 Vgl. Buchheim, Die Sophistik, S. 43. 61
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Die Entstehung eines Humanismus
sind.« 63 Dieser Satz stand – laut Platon 64 – am Beginn der leider verschollenen Schrift Über die Wahrheit und wurde zum Sinnbild einer Haltung, die den manipulierenden Menschen in den Mittelpunkt rückt und eine objektive Wahrheit ablehnt oder zumindest als irrelevant zurückweist. Bereits Sextus Empiricus hatte den »homo-mensura-Satz« als Ablehnung einer metaphysischen Wahrheit beschrieben und damit in einen Kontext gestellt, der nicht derjenige des Protagoras sein konnte. Sextus Empiricus deutet das Maß, das μέτρον, das der Mensch laut Protagoras darstellt, als ein objektives Wahrheitskriterium, das κριτήριον, 65 und gibt damit im Nachhinein dem originär von Protagoras benutzten Begriff eine neue Färbung. Zur Zeit des Protagoras ist μέτρον nicht als ein absolutes, von den mit ihm in Zusammenhang gesetzten Dingen losgelöstes Kriterium zu verstehen, sondern als ein Erkenntnismaß, das in den erkannten Dingen selbst präsent und von diesen nicht zu trennen ist. 66 Der Mensch ist nicht neutraler Beobachter und durch sein abstraktes Denken objektiver Maßstab des Seienden, sondern in eine Welt gestellt, die er deutend wahrnimmt und nur insofern mit einer berechtigten Grundlage deuten kann, als dass er sie wahrnimmt. Auf diese Weise ist er »Maß des Seienden« und sind – wie es Parmenides und die anderen vorsokratischen Denker formuliert hatten – Denken und Sein eins. Der Mensch ist nicht Kriterium einer Wahrheit, insofern er die absolute Wahrheit besitzt, mit der er das Sein deuten kann, sondern jedes Seiende, insofern es wahrnehmbar ist, wirkt auf den das Seiende betrachtenden Menschen und macht ihn so zum »Maß des Seienden«. Die Missdeutung des »homo-mensura-Satzes« liegt darin, die Einheit von Denken und Sein nicht vom Seienden her zu deuten, sondern Protagoras, Fr. 1 (DK 80 B 1): »πάντον χρημάτων μέτρον ἐστιν ἄνθρωπος, τῶν μὲν ὄντων ὡς ἔστιν, τῶν δὲ οὐκ ὄντων ὡς οὐκ ἔστιν.« Vgl. Platon, Theait. 152a; Sextus Empiricus, adv. math. VII,60. 64 Platon nennt die Schrift »Über die Wahrheit« mehrere Male im Theaitetos; Sextus Empiricus weist dieses Zitat hingegen den »niederwerfenden (καταβάλλοντες) Reden« zu (adv. math. VII,60). Ob »Über die Wahrheit« ein Teil dieser Reden war, ist nicht bekannt. 65 Sextus Empiricus, Pyrrh. I 216: »Und Protagoras will, dass aller Dinge Maß (μέτρον) der Mensch sei, wobei er mit Maß das kriterion (κριτήριον) meint, mit den ›Dingen‹ aber meint er die konkreten Entitäten. Man kann also sagen: Aller konkreten Entitäten kriterion ist der Mensch, der seienden, dass sie sind, der nichtseienden, dass sie nicht sind.« 66 Vgl. Buchheim, Sophistik, S. 48 ff. Vgl. auch Neumann, Problematik des Homomensura Satzes, S. 264 f. 63
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Die Sophistik als Frühform des Humanismus
vom Denken. Dann erschafft das Bewusstsein das Sein, bzw. jede Äußerung stimmt mit dem Sein überein. Platon lässt einen Sophisten im Euthydemos sagen: »Keiner spricht Irriges, sondern wenn Dionysodoros spricht, sagt er Wahres und also Seiendes.« 67 Protagoras wird von Sextus Empiricus mit den Worten zitiert, er habe »gesagt, jede Erscheinung (φαντασία) und jede Vorstellung (δόξα) sei wahr, alles, was dem Menschen erscheint und was er sich vorstellt, ist für ihn schlechthin vorhanden«. 68 Die Kritiker – wie Platon – setzen die Existenz einer dem Seienden transzendenten Wahrheit voraus. Aus dieser Perspektive ergibt sich aus dem sophistischen Anspruch, dass das Bewusstsein durch das von außen Wahrgenommene bewirkt wird und Bewusstsein immer Bewusstsein von etwas konkret Seiendem ist, die Folgerung, dass dieses Bewusstsein in der postulierten Einheit mit dem Seienden einerseits selbst eine metaphysische Wahrheit ausdrückt und andererseits dem wahrgenommenen Sein – der Doxa – nicht nur seine Deutung aufzwingt, sondern sogar über seine Existenz entscheidet. Diese Kritik an der sophistischen Einheit von Denken und Sein ergibt sich aus der Annahme einer jedem Seienden und jedem Bewusstsein transzendenten Wahrheit. Ein Sophist wie Protagoras lehnt die Existenz einer objektiven Wahrheit nicht einmal ab, aber er bestreitet die Möglichkeit, diese in all ihrer Objektivität wahrzunehmen. Sextus Empiricus schreibt an einer Stelle, die für Gomperz eine Schlüsselstelle des Verständnisses des »homo-mensura-Satzes« darstellt: 69 »Protagoras behauptet, die Materie sei fließend, in diesem Flusse fänden zum Ersatz der Fortschwemmungen fortwährend Neuansetzungen statt, und die Empfindungen verwandelten und veränderten sich je nach den Altersstufen und den übrigen leiblichen Zuständen. Er behauptet auch, in dem Material seien die Gründe aller Erscheinungen vorhanden, so dass die Materie an sich selbst alles das sein könne, was allen erscheint. Die Menschen nähmen aber bald dieses, bald jenes wahr, je nach ihren verschiedenen Dispositionen.« 70
Die Wahrnehmung des Menschen ist Entnahme eines sich ständig verändernden Stoffes, der fließenden Wirklichkeit der Doxa. Das subPlaton, Euthyd. 284c. Sextus Emp., Adv. Math. VII 60: »ἐπεί φησι πάσας τὰς φαντασίας καὶ τὰς δόξας ἀληθεῖς ὑπάρχειν καὶ τῶν πρός τι εἶναι τὴν ἀλήθειαν διὰ τὸ πᾶν τὸ φανὲν ἢ δόξαν τινί εὐθέως πρὸς ἐκεῖνον ὑπάρχειν.« 69 Vgl. Gomperz, Sophistik und Rhetorik, S. 431 ff. 70 Sextus Emp., Pyrrh. I, 217 f. (DK 80 A 14). 67 68
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Die Entstehung eines Humanismus
jektiv wahrgenommene Seiende wird nicht mit einer objektiven Wahrheit abgeglichen, sondern stellt in seiner Subjektivität die einzig mögliche Form der Wahrheit für das Bewusstsein dar. Deleuze/Guattari sprechen treffend davon, dass die Rhetoriker »keine Relativität des Wahren, sondern im Gegenteil eine Wahrheit des Relativen« 71 behaupten. Protagoras wird zitiert, dass diese Wahrnehmungen sogar die Seele bilden würden, 72 auch Gorgias ist in dieser Richtung deutbar. 73 Die bei Parmenides formulierte Einheit von Denken und Sein führt bei den Sophisten damit zur Annahme, dass diese Doxa, das Gedachte, auf das Bewusstsein seinsbildend einwirkt. Wenn die Doxa es ist, die als einzige Einfluss auf die Wahrnehmung des Menschen und damit auf den Menschen selbst nimmt, und die Doxa durch die Rhetorik verändert werden kann, dann wird der Kunst der Rede eine seinsbildende Kraft auf das Bewusstsein zugeschrieben. Damit schafft Protagoras eine Philosophie, die als ihr Fundament die Sprachlichkeit erkennt. Während Parmenides, Platon oder Aristoteles von der Philosophie aus auf die Rhetorik bzw. die Sprachlichkeit blickten, ging Protagoras den umgekehrten Weg. 74 Parmenides hatte versucht, die Wahrheit bzw. den Ausdruck der Wahrheit dem störenden und verzerrenden Geschehen der Doxa zu entziehen. Auch die Sophisten wissen um die Unsicherheit und die Wankelmütigkeit der Doxa, 75 aber sie ist als einzig mögliche Grundlage der Erkenntnis auch einzig mögliche Grundlage der Sprache. Während Parmenides es als einen Defekt betrachtete, dass die Sprache als Ausdruck der Wahrheit diese nicht erlangen kann und von der Deleuze/Guatari, Was ist Philosophie, S. 151. Vgl. Diogenes Laertios, IX 51 (DK 80 A 1): »Er (Protagoras) behauptete, die Seele bestehe lediglich aus sinnlichen Wahrnehmungen.« Vgl. auch Platon, Theait. 152a. 73 Vgl. Buchheim, Die Sophistik, S. 21 f. Buchheim verweist u. a. auf Gorgias-Zitate, in denen die Doxa zusammen mit der »Seele« (ψυχή) beschrieben wird und damit die Doxa zu einem »seelenähnlichen«, untilgbaren Vermögen des Menschen wird. 74 Vgl. Gomperz, Sophistik und Rhetorik, S. 258: »Die Philosophie des Protagoras ist eine philosophische Grundlegung der Rhetorik, oder wenn man lieber will, es ist eine Philosophie der Rhetorik, nicht zu verwechseln mit jenen rhetorischen Theorien, wie wir sie bei Platon und Aristoteles finden, sondern in ihrer Art unvergleichlich größer. Denn Protagoras hat, von der Rhetorik ausgehend und im Sinne der Rhetorik, wirklich eine Kernfrage der Erkenntnistheorie in Angriff genommen und sie so weit bewältigt, als es von diesen Voraussetzungen aus überhaupt möglich war.« 75 Vgl. Gorgias, Fr. 11,11 (DK 82 B 11,11): »Die Meinung (δόξα) – trügerisch und unsicher wie sie ist – umgibt den, der sich ihrer bedient, mit trügerischen und unsicheren Geschicken.« 71 72
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Doxa gefangengehalten wird, akzeptieren Sophisten wie Gorgias diesen Defekt, verändern die Sprache kunstvoll und verbleiben damit im Rahmen der Doxa, die Aletheia spielt keine Rolle: »Eine einzige Rede wirkt auf viel Publikum genussreich und bekehrend, welche nach den Regeln der Kunst verfasst, nicht etwa mit Blick auf die Wahrheit gesprochen ist.« 76 Aus dieser Perspektive wird auch die sophistische Antilogie erklärbar. Protagoras wird von Diogenes Laërtios zitiert, er sei der erste gewesen, der gesagt hätte, dass es »über jede Sache zwei einander gegenüberliegende Aussagen« 77 geben würde, Aristoteles spricht davon, Protagoras habe versucht, »das schwächere Wort zum stärkeren zu machen« 78 und vermutet eine sophistische Ablehnung seines Widerspruchprinzips. Um dieses geht es den Sophisten jedoch gar nicht, sondern um die rhetorische Weiterführung der Spannung und Widersprüchlichkeit, in der sich das Seiende als Doxa dem Betrachter darstellt. Das Aufnehmen dieser Spannung im Rede-Agon, dem rhetorischen Wettkampf, ist der Grund sophistischer Lehre, nicht die Suche nach der Wahrheit. 79 Indem die Rede die Seele des Gegenübers wirklich verändert, schafft sie etwas Reales und damit etwas Wahres. Dieses Wahre ist der Vollzug der Einheit von Denken und Sein; eine diesem transzendente Wahrheit spielt ebenso wenig eine Rolle wie eine dem Seienden immanente Substanz oder ein dem Wort immanenter Wahrheitskern: »Man muss sich abgewöhnen, im sophistischen Rede-Agon die argumentative Substanz einer Rede (gewissermaßen den ἀληθὴς λόγος) von einem scheinbaren Drumherum, dem Beiwerk, der Agitation zu
Gorgias, Fr. 11,13 (DK 82 B 11,13). Gomperz, Sophistik und Rhetorik, S. 212: »Denn dass die Parmenideische Lehre vom ὄν eine menschliche δόξα sei, dieses ὄν selbst somit etwas, ὃ ἀνθρώπῳ δοκεῖ, das zu leugnen wäre sicherlich keinem Hellenen in den Sinn gekommen, – keinem wenigstens, der nicht selbst der Lehre des Parmenides anhing, folglich sollte man denken, am wenigsten dem Abderiten, der ja die Eleatische Lehre bestritt, und dem sie deshalb gewiß nicht als Wahrheit, sondern eben nur als eine menschliche δόξα gelten konnte.« 77 Vgl. Diogenes Laërtios, IX, 51 (DK 80 B 6a): »[…] δύο λόγους εἶναι περὶ παντὸς πράγματος ἀντικειμένους ἀλλήλοις.« 78 Vgl. Aristoteles, Rhet. 1402a 23 (DK 80 B 6b): »[…] τὸν ἥττω […] λόγον κρείττω ποιεῖν.« 79 Vgl. Froleyks, Der agon logon in der antiken Literatur, S. 264–266; Gagarin, Probality and Persuasion, S. 58 f.; Buchheim, Die Sophistik, S. 12. 76
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unterscheiden. Der ›Kern‹ einer Sache, die Substanz, ist noch unentdeckt, das Beiwerk noch so substantiell wie das Argument.« 80
Aus der Perspektive des Homo-mensura-Satzes und der mit ihm zusammenhängenden agonistischen Grundhaltung der Sophisten wird die Schrift Über das Nichtseiende oder über die Wahrheit des Gorgias verständlich. Es geht ihm einerseits um eine Durchführung des rhetorischen Agons am Seinsbegriff. Indem Gorgias in den Seinsbegriff selbst die Spannung des Agons legt, negiert er aber auch die Möglichkeit eines abgeschlossenen, nur für sich existierenden Seins, indem er die dem Seienden zugeschriebenen Eigenschaften in ihrer Begrifflichkeit zerlegt. Der Titel der Schrift Über das Nichtseiende verrät schon in seiner Negation, dass es nicht um die Aussage geht, dass es kein Sein gibt (dann hieße es »περὶ τοῦ οὐκ ὄντος«) sondern dass es das Sein (als Begriff) nicht gibt bzw. für Gorgias nicht relevant ist (περὶ τοῦ μὴ ὄντος). 81 Der Logos, als Ausdruck der Wahrheit, wird in seiner parmenideischen Gelöstheit und Isolation von jedem anderen Sein ad absurdum geführt und an die heterogene Sinnlichkeit rückgebunden. 82 Damit gleitet der sophistische Wahrheitsbegriff nicht in die Beliebigkeit ab. Kennedy nennt die Sophistik als wert- und kulturkonservativer als zumeist vermutet. Im Unterschied zur Postmoderne, die sich, so Kennedy, gerne auf die Sophistik beruft, greife die Sophistik in ihrer rhetorischen Bildung auf traditionelle Werte und Gemeinplätze zurück und suche diese zu erhalten. 83 Kopperschmidt hat das sophistische Paradigma als »weder subjektivistisch noch relativistisch«, sondern »konsensualistisch« bzw. »konventionalistisch« beschrieben. 84 Träger der in der Sprache gefassten Wahrheit ist damit nicht eine transzendente, übergeordnete Identität, sondern der später so bezeichnete consensus omnium, dasjenige, was sich im Spiel der Gesellschaft herausbildet und als gültig Buchheim, Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens, S. 17. Vgl. auch Marrou, Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum, S. 115: »[…] da ihre Heuristik nur eine praktische Kunst der Diskussion ist, bringt sie (die Sophistik) die rationale, wahrhaft zwingende Argumentation auf dieselbe Ebene wie die taktischen Kniffe«. 81 Vgl. Hetzel, Die Wirksamkeit der Rede, S. 111–115. 82 Vgl. Buchheim, Gorgias, S. XVIII: »Einerseits verliert der Logos seine eleatische Zugehörigkeit zu einem durch die Trennung von aller Sinnlichkeit unerschütterlichen ὄν, andererseits wird er angebunden an eine eigene, ihn aufnehmende Sinnlichkeit, die überall ohne das unberührbare ὄν auszukommen vermeint.« 83 Vgl. Kennedy, Classical Rhetoric, S. 37 f. 84 Vgl. Kopperschmidt, Rhetorik nach dem Ende der Rhetorik, S. 13. 80
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erweist. Die Sprache wird in der Sophistik – wie auch in der sich in ihr entwickelnden Rhetorik – nicht auf ihren Inhalt oder auf ihren Wahrheitsgehalt hin gedeutet, sondern als ein Kommunikationsgeschehen. Die Wirklichkeit, um die es der Sophistik geht, ist die sich in der Sprache vollziehende: das Gespräch zwischen den verschiedenen Gesprächspartnern und die Mittel, dieses Gespräch zu gestalten. 85 Damit weist die Sophistik ein Sprachbild auf, das dem im modernen Sinne wissenschaftlichen Sprachbild entgegengesetzt ist und auch dem damals zeitgenössischen philosophischen Sprachbild widerspricht: die Sprache wird nicht ausgelegt auf ihren Informationsgehalt hin und auf die Frage hin, inwiefern der sprachliche Ausdruck mit dem übereinstimmt, was er zu sagen beansprucht, sondern sie wird ausgelegt auf ihre Kommunikativität. Unabhängig davon, ob Sprache im konkreten Akt überhaupt einen Informationsgehalt besitzt, ist sie ein kommunikatives Geschehen und als solches zu definieren. Die Sophistik sah in der Sprache die Produktivität des Kommunikationsgeschehens: Sprache wurde in der Rhetorik auf die Kommunikation hin bedacht und auf diese Weise auf eine der Sprache innewohnende Ästhetik hin entworfen. Vor diesem Hintergrund ist besonders das Werk des wohl bedeutendsten Sophisten zu deuten, Gorgias. Dieser gelangte um 427 v. Chr. nach Athen, fast sechzigjährig. Diodor beschreibt Jahrhunderte später den Eindruck, den Gorgias auf die Athener gemacht hat: »Er brachte die Athener vor Entzücken außer sich durch das Fremdartige seiner Ausdrucksweise. […] Er als Erster gebrauchte nämlich Stilfiguren in hoher Zahl und solche, die besonders kunstvoll waren.« 86 Was sind Stilfiguren (σχήματα) bzw. was hat Gorgias geschaffen? Grundlegend ist das sophistische Verständnis von Sprache. Sprache ist nicht nur eine bloße Wiedergabe von Informationen, sondern Schöpfung des Sprechers, der die Worte, so Gorgias, »gestaltet« bzw. »formt« (»λόγους πλάττειν«, Fr. 11,11), der, ähnlich wie ein Maler oder Bildhauer sein Material gestaltet, mit Sprache künstlerisch umVgl. ebd.: »Unter diesen Bedingungen musste die Sophistik einen Sprachbegriff entwickeln, der Sprache – statt sie zum Repräsentations- und Mitteilungsinstrument sprachunabhängig existierender Sachverhalte zu missdeuten – als konstitutives Medium der Verständigung begreift, in dem über das, ›was wirklich ist‹, entschieden wird. Dieser Sprachbegriff ist der Sprachbegriff der Rhetorik, insofern ihr – von Grammatik durchaus unterscheidbares – Frageinteresse auf Sprache unter Bedingungen konsensstiftender Überzeugungskraft zielt.« 86 Diodor, XII 53,2 f. (DK 82 A 4). 85
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geht (vgl. Fr. 11,18). Das Ergebnis ist die vom parmenideischen Wahrheitsbegriff unabhängige Rede, »nach den Regeln der Kunst verfasst, nicht im Blick auf die Wahrheit gesprochen« (Fr. 11,13). Diese von ihm genannten »Regeln der Kunst« hat er der Lyrik entnommen, die er überaus hoch schätzt und mit der Rhetorik in Verbindung bringt als »eine Rede in Versform«. 87 Besonders Pindar scheint für Gorgias eine wichtige Vorbildfunktion besessen zu haben und besitzt vielleicht den Schlüssel zum Verständnis der ästhetisierenden Redekunst des Gorgias und der Entstehung seiner Stilistik. In seinem »Lobpreis der Helena« (Fr. 11,1) greift Gorgias auf eine Stelle aus Pindars »Nemeischen Oden« zurück, in der jener seinen ästhetischen Grundsatz formuliert hatte, »zu loben, was des Lobes wert ist, zu tadeln, was Übles getan wird« (VIII 3,38). Am Ende der Rede unterstreicht Gorgias noch einmal die Wichtigkeit dieser Zeilen, indem er sie ein »Gesetz« nennt. 88 Gorgias übernimmt die Essenz der pindarischen Dichtung, eine gewählte, würdige Sache durch die Sprache zu verschönern, aber er geht über Pindar hinaus, indem er dessen Prinzip nicht nur auf die Lobpreisung beschränkt, sondern auf die ganze Sprache ausdehnt. 89 Die dichterische Ästhetik wird zum Maßstab der gesamten Sprache; die in der Dichtung präsenten Figuren und Wendungen werden zu Stilfiguren der Redekunst. Damit bringt Gorgias ein neues Element in die entstehende Rhetorik, die sich bisher auf die Aufteilung und Systematisierung von Reden beschränkt hatte. Barthes spricht hier passend von einem neuen »paradigmatischen« Pol, der den bisherigen »syntagmatischen« Pol der Rhetorik eines Korax und Teisias ergänzt, 90 was nicht heißen soll, dass dieser nicht mehr existent wäre. 91 Die Paradigmatik der gorgianischen Rhetorik war bahnbrechend für die Redekunst, da sie es ermöglichte, der Rede ein konstruktives Prinzip zu geben. Dieses Prinzip beruhte auf der vorVgl. Gorgias, Fr. 11,9 (DK 82 B 11,9). Vgl. Gorgias, Fr. 11,21 (DK 82 B 11,21). 89 Vgl. Buchheim, Gorgias von Leontinoi, S. XXIII f.: »Das Prinzip ist sozusagen die Grundform der archaischen, dichterisch hohen Rede; denn es besagt soviel wie: dichterische Rede ist Prädikation im emphatischen Sinne des Wortes, d. h. ›Preisung‹. Und in diesem zum Vorschein bringen dessen, was Anspruch auf Lob hat, sah Pindar ja […] die Quelle der geschilderten Realität der Sprache. Indem nun Gorgias demselben Prinzip auch gehorcht, bekennt er sich zum einen zu seinen Wurzeln, zum andern aber löst er […] die so begründete Macht der Sprache aus der pindarischen Verpflichtung auf das Lob, um sie in freie Verfügung zu nehmen.« 90 Barthes, Die alte Rhetorik, S. 20 f. 91 Vgl. Baumhauer, Die sophistische Rhetorik, S. 130 ff. 87 88
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sokratischen Einheit von Denken und Sein und der gleichzeitigen Relativierung der parmenideischen Aletheia. Indem das Wahrgenommene das Denken bestimmt, kommt es in der kunstvollen Konstruktion des Gedachten nicht zu einer Wiedergabe dieses Wahrgenommenen, sondern das Wahrgenommene ist derart direkt in der Rede präsent, dass dieses streng genommen der Verkünder der Rede ist: »Gewiß doch, sagt er, formiert sich die Rede aus den von außen auf uns einströmenden Dingen, also von dem Wahrnehmbaren. Aufgrund des Kontaktes mit dem Saft entsteht in uns die diese Qualität behauptende Rede und aus der Widerfahrnis der Farbe die die Farbe behauptende Rede. Gilt aber das, so ist nicht die Rede Vermittlung des Äußeren, sondern das Äußere Verkünder der Rede.« 92
Nicht mehr die Rede ist in Abhängigkeit von der Welt zu sehen, sondern die Welt wird zur Deutung der Rede: Damit wird die Ästhetisierung der Redekunst auf die Spitze getrieben. Auch wenn die Doxa es ist, die auf das Bewusstsein einwirkt, jedes Wahrgenommene damit Doxa ist und jedes Denken in der Doxa seinen Ursprung hat, vollzieht sich in der künstlerischen Gestaltung des Wahrgenommenen etwas, das über die Doxa hinausgeht und etwas Eigenes, Unvergleichbares ist: »Nicht also zeigt die Rede das vielfältig Vorliegende, wie auch jene vorliegenden Dinge nicht die Natur der anderen deutlich machen.« 93 Wenn nicht mehr die Rede Abbild der Welt ist, sondern die Welt Abbild der Rede, erlangt die Rede in ihrer künstlerischen Ausgestaltung ein ungeheures Ausmaß an Unabhängigkeit gegenüber der Welt. Ausschließliches Kriterium der Redekunst ist damit weder die Wahrheit noch die sinnlich wahrnehmbare Welt, sondern die Kunst selbst, in ihren Figuren, in ihrer Stilistik. Wenn Protagoras damit zitiert wird, er wolle »das schwächere Wort zu einem stärkeren machen«, 94 dann meint dies nicht, ein in Wirklichkeit schwaches Wort zu einem scheinbar stärkeren zu machen, sondern – aufgrund des Fehlens eines objektiven Wahrheitskriteriums – das schwache Wort wird wirklich zu einem stärkeren. 95 Röttgers sieht die positive Bedeu92 Gorgias, Fr. 3,85 (DK 82 B 3,85): »ὅ γε μὴν λόγος, φησίν, ἀπὸ τῶν ἔξωθεν προσπιπτόντων ἡμῖν πραγμάτων συνίσταται, τουτέστι τῶν αἰσθητῶν· […] εἰ δὲ τοῦτο, οὐχ ὁ λόγος τοῦ ἐκτὸς παραστατικός ἐστιν, ἀλλὰ τὸ ἐκτὸς τοῦ λόγου μηνυτικὸν γίνεται.« 93 Gorgias, Fr. 3,86 (DK 82 B 3,86). 94 Vgl. Protagoras, Fr. 6b (DK 80 B 6b). 95 Vgl. Buchheim, Die Sophistik als Avantgarde des normalen Lebens, S. 16.f
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tung der Sophistik in seinem Wesen, ein »Gespräch vor Dritten zu tun«. 96 In dem Fall, dass die Wahrheitsfrage nicht beantwortbar ist, so Röttgers, verweist die Sophistik auf die Wahl, sich entweder skeptisch eines Urteils zu enthalten oder aber sophistisch den anderen trotz mangelnder Argumente zu überzeugen. Das von Röttgers beschriebene »Philosophieren vor einem Dritten« reduziert die Sophistik jedoch auf ihre Manipulationsmöglichkeiten, die sich aus den rhetorischen Fähigkeiten ergeben und missachtet den humanistisch zu nennenden Kontext der Sophistik. Die Kritik an einem platonischen Wahrheitsbegriff war nicht nur Kritik an einer bestimmten Aussage, die Platon über die Wahrheit gewonnen hat, sondern auch die weit darüber hinausgehende Meinung, dass ein derartiger Besitz der Wahrheit nicht möglich oder nicht relevant ist. Die Sophisten sind nicht die Erfinder dieser ästhetischen Dimension von Sprache – weder die Rhapsoden noch die späteren Dichter hätten ohne diese ihre Werke vollbringen können –, aber sie sind diejenigen, welche die Ästhetik als eine Dimension von Sprache wahrnehmen und damit vom sprachlichen Geschehen selbst differenzieren bzw. die Sprache als Kunstform sogar auf diese reduzieren. Pindar hatte seine eigene Kunst darin begriffen, einem entsprechend würdigen Seiendem die diesem gemäße Sprache zu konstruieren. Sprache war ihm kunstvoller Ausdruck dessen, was sie abbildet. Gorgias löst diese Verbindung der Sprache zu dem in ihr Dargestellten; Sprache ist ihm arbiträr, losgelöst von dem, was sie darstellt. Sprache ist damit ihr eigenes, ästhetisches Prinzip bzw. der Sprecher, der Konstrukteur des Gesagten wird zum alleinigen Prinzip. Taureck hat in dieser Ästhetik die philosophische Relevanz der sophistischen Rhetorik festgemacht. Er stellt fest, dass »die sophistische Verbindung von Philosophie und Rhetorik eine frühe und vergessene Form von Kunst gewesen ist«. 97 Hierbei geht es Taureck nicht nur um die simple Feststellung, dass die Sophisten ihre rhetorischen Leistungen als Kunst verstanden, sondern um das Kunstverständnis, das sich in ihrer Sprachlichkeit ausdrückt. Wenn die Sprache – im historischen und inhaltlichen Gefolge der Lyrik – die notwendige und unumgängliche Ästhetisierung der Lebenswirklichkeit darstellt, dann trifft die Sophistik damit eine wichtige philosophische Aussage, die von
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Vgl. Röttgers, Der Sophist, S. 170. Vgl. Taureck, Die Sophisten, S. 115.
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einer dafür notwendigen Einheit von Rhetorik und Philosophie getragen ist. 98 Von der rhetorischen Konstruktion ist in der Sophistik die Reflexion nicht zu trennen. Die sophistische Rhetorik war nicht nur Konstruktion sprachlicher Kunst, sondern gleichzeitig auch Reflexion und Analyse der bereits bestehenden sprachlichen Kunst, der alten Epen und der Dichtung. So lässt Platon den Protagoras sprechen: »Ich meine, sagte er, Sokrates, der wichtigste Teil der Bildung besteht für einen Mann darin, hinsichtlich der Wörter gewandt zu sein, das heißt, bei dem von den Dichtern Gesagten genau zu verstehen, was richtig gemacht worden ist und was nicht, auch fähig, es auszulegen und auf Fragen darüber Rede und Antwort zu stehen.« 99
In der reflexiven Aufnahme und der gleichzeitigen konstruktiven Verwendung gelungener poetischer Sprachbilder entstehen Figuren, die innerhalb der Rhetorik weitergegeben werden, anhand derer sich rhetorische Rituale herausbilden. Aus dieser Analyse der überlieferten Sprache bilden sich erste Ansätze einer Analyse des Funktionierens der Sprache selbst und damit erste Ansätze einer Grammatik. So berichtet Diogenes Laërtios über Protagoras: »Er unterschied als erster die Rede in vier Formen: Bitte, Frage, Antwort, Befehl. […] Diese bezeichnete Protagoras als Fundamente (πυθμένας) der Rede.« 100 Bereits die frühen Rhetoriker wie Korax und Teisias hatten einzelne Teile der Rede beschrieben, die zu konstruieren sind, um eine gute Rede zu schaffen. Protagoras scheint nun der erste, dem es nicht um eine Systematisierung der Konstruktion, sondern um eine Systematisierung der Funktion der Rede geht. Auch Aristoteles berichtet in Vgl. a. a. O., S. 116: »Es gilt also zumindest in einem minimalen Sinn, dass die Sophistik ihre Redeleistung als Kunst verstand und zugleich in ein positives Verhältnis zur Dichtkunst trat. Unsere Hypothese über den Charakter der später geopferten Einheit zwischen Philosophie und Rhetorik reicht jedoch weiter als diese minimalistische Deutung: Wenn wir annehmen, dass die Sophisten in gewisser Weise die Dichter nachahmten und mit Hilfe der Prosa leisten wollten, was den Dichtern im Metrum gelang, dann dürfen wir annehmen, dass hier zum ersten Mal Kunst zu einem Thema der Philosophie wurde. Wollten die Avantgardebewegungen des 20. Jahrhunderts die Lebenswirklichkeit von seiner sich als autonome Instanz begreifenden Kunst aus verändern, so könnte es sein, dass die Sophisten dazu neigen, ›Kunst‹ als etwas zu verstehen, was eine Unterscheidung zwischen autonomer Instanz der Gestaltung und Lebenswirklichkeit nicht zulässt.« 99 Platon, Prot. 338–339a. 100 Diogenes Laërtios, IX 53 f. (DK 80 A 1). 98
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seiner Rhetorik: »Viertens aber (Regeln für den korrekten Sprachgebrauch) die Genera der Nomina, wie sie Protagoras zu unterscheiden pflegte: männlich, weiblich, sächlich.« 101 Sprache wird nicht nur als Ausdruck von etwas gesehen oder auf seine Wahrheitsgemäßheit oder Glaubwürdigkeit überprüft, sondern sie wird selbst Objekt der Analyse – auch dies eine Konsequenz der neuen künstlerischen Unabhängigkeit der Rede. Die Sophistik legte den Menschen auf seine Sprachlichkeit hin aus und setzte damit einen Akzent, den man als humanistisch bezeichnen kann. Sie legten den Grundstein einer bestimmten geistigen Tradition, die sich im Laufe der Geschichte immer wieder gegen eine bestimmte Form des philosophischen Diskurses gewendet hat. Dieser Humanismus entsprang dem normalen Menschen- und Bildungsverständnis der damaligen Zeit, wie es sich nach der Auflösung bzw. dem Schwächerwerden des Mythos herausbildete durch die Trennung von Aletheia und Doxa. Die Rhetorik bzw. die Sophistik nahmen die Doxa zum Ausgangspunkt ihrer Tätigkeit, suchten schöpferisch zu entwickeln und zu verfeinern, ohne dabei allerdings die Doxa zu durchdringen, und ohne eine dahinterliegende Wahrheit, die Aletheia, offenzulegen. Die zeitgleich entstehende Philosophie versuchte sich hingegen genau diesem Anspruch zu stellen und wurde hierbei zum scharfen Kritiker einer Rhetorik, welche die neuen Maßstäbe des Wahrheitsanspruchs der Philosophie nicht erfüllen konnte oder wollte. Die Interpretation der Sophistik als eine vor- oder gar nebenphilosophische Form des Denkens, welche das praktische Denken gegen das theoretische Denken der platonischen und nachplatonischen Philosophie zu etablieren sucht und wie sie vor allem von Buchheim in seinem Werk Die Sophistik als Avantgarde des normalen Lebens vorgetragen wurde, hat auch Kritik hervorgerufen. Wardy spricht bei der Beurteilung der Sophistik nicht von einer Philosophie, sondern von einer Anfrage an das Selbstverständnis der Philosophie 102 – als ob eine solche Anfrage nicht selbst philosophisch wäre. Ptassek sieht in seinem Werk Rhetorische Rationalität die »Gefahr«, »die Sophistik umstandslos […] für einen Umgang mit der Praxis aus der Binnenpersektive aufzuwerten« und kommt zu dem Schluss: »Zwar ist es 101 102
Aristoteles, Rhetorik III,5 (1407 b6). Vgl. Wardy, The Birth of Rhetoric, S. 24.
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richtig, dass die Sophistik ihr Programm vor dem eigentlichen Einsatz der Philosophie artikuliert, doch ist es mehr als fraglich, ob die Rückbesinnung auf diese auch konzeptionell weiterzuführen vermag«. 103 In der Konsequenz nennt Ptassek es »illegitim«, die Sophistik als antiken Vorläufer moderner Kritik an einer »naturwissenschaftlich orientieren Philosophie« zu verstehen. 104 Man muss sich davor hüten, der Sophistik vorschnell moderne Attribute zuzusprechen, insofern hat Ptassek sicherlich Recht. Wenn die Sophistik sich gegen eine von der Philosophie getragene Vereinnahmung wendet, sich als Kämpferin von Freiheit und menschlichen Werten geriert, so macht das die Sophistik nicht zu einer antiken Version der modernen Aufklärung, die aus ganz anderen Motiven entstanden ist und sich auch diverser Vereinheitlichungen bediente, die der Sophistik fremd sind. 105 Die Einordnung der Sophistik als eine Frühform des Humanismus soll weniger dazu dienen, moderne Fragen oder eine moderne Welteinstellung in die Antike hineinzuprojizieren, als vielmehr dazu, die Abhängigkeit eines modernen philosophischen Konflikts von der Antike zu erweisen. Diese Abhängigkeit ist nicht zu leugnen. Hierbei geht es weniger um den eigenen Anspruch des Humanismus, der sich in der Tradition antiken Denkens begreift und an seinen historischen Neuanfängen immer wieder auf die antiken Quellen zurückgreift, sondern vor allem um die inhaltliche Ausrichtung des Humanismus. Wenn sich der Humanismus als Kritik an einem naturalistischen Weltbild bzw. als Kritik an einer naturwissenschaftlich orientierten Philosophie begreift, dann ist es nur natürlich, sich auf die Tradition eines Denkens zu berufen, das bereits vor einer methodischen Philosophie entstanden ist und interessanterweise von einer methodischen Philosophie auch nach 2000 Jahren nicht überwunden werden konnte. Insofern ist und bleibt die Sophistik eine nicht nur historisch, sondern auch systematisch interessante Infragestellung einer theoretisierenden oder naturwissen-
Vgl. Ptassek, Rhetorische Rationalität, S. 16 f. Vgl. a. a. O., S. 17: »Der Versuch, die Sophistik zum vielversprechenden Gegenpol der philosophischen Vernunft zu stilisieren, scheint letztlich eher ein Beleg für die allgemeine Tendenz der Rhetorikdebatte zu sein, die eigene Auseinandersetzung mit der naturwissenschaftlich orientierten Philosophie der Neuzeit illegitimerweise auf die Antike zurückzuprojizieren.« 105 Vgl. Taureck, Die Sophisten, S. 35–42. 103 104
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schaftlich geprägten Philosophie – bei allem Wissen darum, dass sie sich im Rahmen des antiken Denkens bewegt, wie es auch bei der platonischen oder aristotelischen Philosophie der Fall ist, die bis heute eine große Gültigkeit besitzen.
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6. Metaphysische Philosophie als nichthumanistische Philosophie
6.1 Ursprünge in der Vorsokratik Platon und Aristoteles gelten als die wesentlichen Motoren der Schöpfung einer metaphysischen Philosophie, welche den historischen Gegenpart einer die Rhetorik zu integrieren suchenden Philosophie darstellt. Die Entstehung dieser Form der Philosophie verdankt sich bestimmten Faktoren, die – wie auch die Entstehung der Rhetorik selbst – in der Ablösung des mythischen Weltbildes und der Trennung von Aletheia und Doxa zu suchen sind. Die Auflösung der mythischen Objektivität – die zu denken ist als Entzug des Wahrheitsanspruchs der epischen Rede – bedeutete gleichzeitig eine neue Suche um eine grundlegende Deutung der Wirklichkeit, nach einer grundlegenden Einheit, die zum Deutungsmuster jedes Seienden wird. Diese Suche vollzieht sich auf verschiedenen Ebenen: Solon schreibt über die eine Tugend, Sappho über das eine Wertvolle oder die milesischen Philosophen halten nach dem einen Grundstoff Ausschau, aus dem der Kosmos entstanden ist, 1 Xenophanes schreibt von einem »einzigen Gott« (εἷς θεός), 2 grenzt diesen von den anderen, anthropomorphen Göttern ab, die Produkte menschlicher Phantasie sind, und gelangt so zur Annahme einer geistigen Wahrheit, die den Kosmos umfasst. Diese Suche nach einer Aletheia, einem grundlegenden Deutungsmuster, findet auf dem Fundament der Doxa statt, der zumeist sinnlichen Wahrnehmung vielfältiger äußerer Faktoren. Dieser Umgang mit dem Äußeren bedeutet bewusstes Überprüfen, aber auch bewusstes Lernen und Aufnehmen dessen, was wahrgenommen wird. Bereits bei den Lyrikern wird deutlich, dass Wissen nicht mehr durch eine Offenbarung mitgeteilt, sondern erworben wird, sei es durch die weitergegebene Erfahrung der anderen (Theo1 2
Vgl. Bruno Snell, Die Entdeckung des Geistes, S. 130. Xenophanes, DK 21 B 23.
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Metaphysische Philosophie als nichthumanistische Philosophie
gnis von Megara verweist darauf, dass »er von den Guten einst gelernt hat« 3), sei es durch eine Überprüfung der Wirklichkeit. 4 Die Doxa ist zwar Grundlage der Aletheia, aber sie wird – nach ihrer kritischen Überprüfung – als Hindernis der Wahrnehmung dessen gesehen, was nicht sinnlich wahrnehmbar ist, aber eigentlich dasjenige ist, was in der Deutung der Welt ausgesagt werden soll. Xenophanes spricht vom »Klaren« (σαφές), das er vom »Schein« (δόκος) abgrenzt: »Und das Klare freilich erblickte kein Mensch und es wird auch nie jemand sein, der es erblickt hat in Bezug auf die Götter und alle Dinge, die ich nur immer erwähne; denn selbst wenn es einem im höchsten Maße gelänge, ein Vollendetes auszusprechen, so hat er selbst kein Wissen davon; Schein haftet an allem.« 5
Neben der Abgrenzung der Doxa von der »klaren« Aletheia wird in diesen Zeilen eine zweifache Dimension der Doxa selbst deutlich: einerseits ist sie – transitiv gewendet – die Bezeichnung der nichtwissenden und wankelmütigen Meinung der Sterblichen, andererseits ist sie – intransitiv gewendet – der Schein, der den Dingen aufliegt und den es zu durchdringen gilt. Damit ist auch ausgesagt, dass die Wahrheit kein vom konkreten Sein Abzulösendes ist, sondern an dieses gebunden ist. Das Verwirrende an der Doxa ist ihre Vielfältigkeit. Um den Kosmos trotzdem auf eine grundlegende Einheit hin zu deuten, muss der Kosmos in all seiner Vielfältigkeit als Einheit gesehen werden. Heraklit spricht von den Gegensätzen, die der Mensch wahrnimmt, von »Ganzheiten und keinen Ganzheiten, Zusammentretendem und Auseinandertretendem« und fasst zusammen: »Aus allem eins und aus einem alles.« 6 Die Einheit des Kosmos ist Grundlage einer jeden auf eine Einheit hinzielende Deutung des Kosmos (vgl. DK 22 B 50). Um diese Einheit – trotz der störenden Vielheit der Vgl. Theognis von Megara, 28 (zit. nach Latacz). Vgl. Theognis von Megara, 57 f. (zit. nach Latacz). 5 Xenophanes, DK 21 B 34: »καὶ τὸ μὲν οὖν σαφὲς οὔτις ἀνὴρ ἴδεν οὐδέ τις ἔσται εἰδὼς ἀμφὶ θεῶν τε καὶ ἅσσα λέγω περὶ πάντων· εἰ γὰρ καὶ τὰ μάλιστα τύχοι τετελεσμένον εἰπών, αὐτὸς ὅμως οὐκ οἶδε δόκος δ’ ἐπὶ πᾶσι τέτυκται.« Vgl. auch DK 21 B 35; Arius Did. bei Stob. Ecl. II 1,18 (DK 21 A 24). Vgl. auch Arius Didymus (bei Stob. Ecl. II 1,8) über Xenophanes (DK 21 A 24): »[…] ὡς ἄρα θεὸς μὲν οἶδεν τὴν ἀλήθειαν, δόκος […] τέτυκται.« 6 Vgl. Heraklit, DK 22 B 67: »ἐκ πάντων ἓν καὶ ἐξ ἑνὸς πάντα.« 3 4
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Ursprünge in der Vorsokratik
Doxa – zu erfassen, plädiert Heraklit dafür, »sich dem Gemeinschaftlichen (ξυνός) anzuschließen«, dem gemeinsamem Wort, das jeder »privaten Einsicht« vorzuziehen ist (DK 22 B 2). Die Bergung der Aletheia aus der sie verdeckenden Doxa vollzieht sich für Heraklit in der Wahrnehmung dessen, was in der Doxa als Gemeinsames festzustellen ist. Nicht der einzelne Mensch ist in der Lage, die Wahrheit auszusprechen, sondern der Diskurs, das Gespräch in dieser wankelmütigen Sprache lässt einen Konsens hervortreten, den es wahrzunehmen gilt. Die Weisheit des Menschen besteht nun darin, diese glaubwürdige Formulierung der Wahrheit im Diskurs zu erkennen. 7 Wahrnehmung der Wahrheit ist für Heraklit Wahrnehmung der grundlegenden Einheit der Doxa. Damit identifiziert Heraklit nicht die Wahrheit mit der sie umgebenden Doxa, aber nur durch die Wahrnehmung der Doxa ist es möglich, eine der Wahrheit angemessene Formulierung zu finden. Letztlich entzieht sich die Wahrheit ihrer Formulierung, Heraklit schreibt, dass die Wahrheit, die »Natur (φύσις) es liebt, sich zu verbergen« (DK B 123), dass »die nichtoffensichtliche Fügung stärker ist als die offensichtliche« (DK B 54). Das basale Eine kann durch Wahrnehmung der Doxa benannt werden und kann trotzdem nicht benannt werden: »Eins, das allein Weise, will nicht und will doch mit dem Namen des Zeus benannt werden.« 8 Das, was in der Doxa offenbar wird – und damit die Doxa selbst –, ist für Heraklit »Andeutung« des Einen, 9 und die Wahrnehmung dieser »Andeutungen« ist notwendig, Aussagen über das Eine, über die Wahrheit machen zu können. Mit Parmenides wird dann der entscheidende Schritt zur Entwicklung einer metaphysischen Philosophie vollzogen. In seinem Lehrgedicht werden Doxa und Aletheia inhaltlich schärfer getrennt als dies beispielsweise bei Heraklit der Fall war. So spricht die göttliche Muse am Ende der Einleitung des Lehrgedichts zu Parmenides: »So steht es dir an, alles zu erfahren, einerseits das unerschütterliche Herz der wohlgerundeten Wahrheit und andererseits die Meinungen der Sterblichen, in denen keine wahre Verlässlichkeit wohnt. Gleichwohl wirst du auch hinsichtlich dieser Meinungen verstehen lernen,
Vgl. Heraklit, DK 22 B 112. Vgl. auch a. a. O. B 28. Heraklit, DK 22 B 32. 9 Vgl. Heraklit, DK B 93: »Der Herr, dem das Orakel von Delphi gehört, spricht nichts aus und verbirgt nichts, sondern er deutet an (σημαίνει).« 7 8
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dass das Gemeinte gültig sein muss, insofern es alles ganz und gar durchdringt.« 10
Der schwankenden Meinung der Sterblichen wird eine »unerschütterliche« Aletheia gegenübergestellt. Doch ähnlich wie auch bei Heraklit gilt es, das in der Doxa »Gültige«, das »alles ganz und gar durchdringt«, kennenzulernen. Was die Rede zu einer verlässlichen und gültigen Rede macht bzw. aus dem Nebel der Doxa heraus der Wahrheit näher bringt, ist ihr Bezug zum Einen. Umgekehrt besteht der täuschende Charakter der Doxa in ihrer Vielheit und damit ist das Verzerrende der Doxa die Sprache selbst: »Sie (die Menschen) haben sich in ihren Ansichten nämlich festgelegt, zwei Formen zu benennen, eine von diesen war ihnen nicht gestattet, darin liegt ihr Irrtum.« 11 Indem Sprache Vielheit schafft, fällt sie aus der grundlegenden Einheit heraus und wird zur täuschenden Doxa: »In dem Zwei statt Eins liegt das ψεῦδος aller δόξα.« 12 Die Vielheit der Doxa ist insofern Täuschung, weil das Sein, das sie ja eigentlich aussagen will, eins ist. Parmenides trennt sehr scharf zwischen der Aletheia und der Doxa, dennoch greift es zu kurz, sie als den Gegensatz von Wahrheit und Lüge aufzufassen. Lesher kennzeichnet beide als zwei verschiedene Kenntnisweisen, das Apriorische der Aletheia sowie das Empirische der Doxa. 13 Es wäre aber treffender, den wesentlichen Unterschied zwischen Aletheia und Doxa in der Sprachlichkeit zu suchen. Im sprachlichen Ausdruck der Aletheia vollzieht sich bereits Vielheit, damit ist Sprache Entfernung von der Einheit und somit Doxa. Das Wissen um die Aletheia des Seins ist nicht apriorisch, es ist nichtsprachlich. Die Doxa ist nicht nur Ausdruck empirischer Erkenntnis, die auf sinnlicher Wahrnehmung beruht und der nichtsinnlichen ErParmenides, DK 28 B 1,28–32 (Simplikios, de caelo 557,25 f.): »[…] χρεὼ δέ σε πάντα πυθέσται, ἠμὲν Ἀληθείης εὐκυκλέος ἀτρεμὲς ἦτορ ἠδὲ βροτῶν δόξας, ταῖς οὐκ ἔνι πίστις ἀληθής. ἀλλ’ ἔμπης καὶ ταῦτα μαθήσεαι, ὡς τὰ δοκοῦντα χρῆν δοκίμως εἶναι διὰ παντὸς πάντα περῶντα.« 11 Parmenides, DK 28 B 8,53. 12 Riezler, Parmenides, S. 41. 13 Vgl. Lesher, Das frühe Interesse am Wissen, S. 220: »Weil die erste dieser Formen mit einer Reihe von Aussagen befasst ist, deren Wahrheit durch den Einsatz logischer Argumentation bewiesen werden kann, während die zweite sich auf die Natur der Dinge richtet, könnte die Darstellung des Parmenides in moderneren Termini als Pionierversuch beschrieben werden, apriorisches Wissen von empirischem Wissen zu unterscheiden.« 10
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kenntnis der Aletheia entgegensteht, sondern darüber hinaus die Differenz zwischen der sprachlichen Formulierung und dem sich dem Menschen entgegentretenden Sein selbst, das sich dieser Fixierung widersetzt. Parmenides spricht zwar nirgends davon, dass die Aletheia in ihrem Wesen nichtsprachlich ist. Aber wenn er den ursprünglichen Akt jeder Benennung eines Seienden als Beginn der Doxa deutet, heißt dies im Umkehrschluss, dass die Aletheia jeder Benennung vorausgeht. Die Benennungen können nur einen Teil der Aletheia ausdrücken, weil dem sterblichen Menschen nur eine Teilsicht auf die Welt gewährt ist und er nur diese Teilsicht in seiner Sprache ausdrücken kann. Die Doxa bleibt für Parmenides immer mit der Aletheia verbunden, insofern die Sprache Ausdruck eines Seienden ist, denn »Erkennen und Sein sind eins«. Sprache, so Parmenides, entsteht aus dem Wunsch heraus – oder wörtlich: »im Vertrauen darauf« – das Sein auszudrücken, muss aber hinter diesem Anspruch zurückstehen, weil sie als Sprache nur Veränderliches aussagen kann: »Und daß man es erkennt, ist dasselbe wie die Erkenntnis, daß es ist. Denn nicht ohne das Seiende, bezüglich dessen es als Ausgesagtes Bestand hat, wirst du das Erkennende finden. […] Darum ist alles Name, was die Sterblichen angesetzt haben, im Vertrauen darauf, es sei wahr: Entstehen und Vergehen, Sein und Nichtsein, den Ort wechseln und leuchtende Farben ändern.« 14
Die Doxa, oder hier: die Sprache, ist durch ihre Vielheit letztlich Täuschung, 15 sie ist aber umso mehr Ausdruck der Wahrheit, je mehr sie in der Vielheit eine Einheit auszudrücken sucht und um die Einheit allen Seins weiß. Dann ist sie nicht identisch mit der Wahrheit, aber immerhin »verlässliche Rede« (πίστος λόγος) 16 und »plausibel« (ἐοικότα). 17 Die Doxa ist in ihrer Vielheit Verzerrung des Einen, aber dennoch einzige Grundlage, das Eine auszudrücken. Dieses Eine ist sprachlich nicht ausdrückbar und steht dem entgegen, was sprachlich ist: der Doxa. Indem Parmenides das Sein der Welt auf eine Einheit hin auslegt, die mit Eigenschaften beschrieben wird, die den Eigenschaften der Welt entgegenstehen – Einheit, Unverändlichkeit, Zeitlosigkeit –, schafft er eine philosophische Weltdeutung, welche mit
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Parmenides, DK 28 B 8,34–36, 38–40. Vgl. Parmenides, DK 28 B 8,38–41. Parmenides, DK 28 B 8,50. Parmenides, DK 28 B 8,60.
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einer auf der Sprache basierenden Philosophie nicht vereinbar erscheint. Wenn man die Sophistik insofern als Frühform des Humanismus kennzeichnet, als dass diese den Menschen in seiner Sprachlichkeit in den Mittelpunkt stellt und die Sprache selbst zum ausdrücklichen Ausgangs- und Zielpunkt der Weltdeutung macht, bildet Parmenides in seiner Kritik an der Sprache, die in ihrer Heterogenität den klaren Gegensatz zum Wissen darstellt, den Beginn einer metaphysischen Philosophie, die als Gegenpol einer humanistischen Philosophie zu begreifen ist. Das Eine, das Parmenides beschreibt, ist das genaue Gegenteil dessen, was die humanistische Sophistik anstrebt. Schaut die Sophistik auf den Menschen und seine Situationsabhängigkeit, strebt Parmenides nach einem Einem, das jeder Art von Situationsabhängigkeit enthoben ist. Das Sein ist nicht – wie in der Homo-mensuraLehre der Sophistik beschrieben – das Produkt der menschlichen Weltdeutung, dasjenige, das sich dem Menschen darbietet, sondern als das Gegenteil dessen zu begreifen, was das menschliche Leben kennzeichnet: es ist eins, unveränderlich, unsterblich.
6.2 Philosophie vs. Rhetorik Platon »Rhetorik« und »Philosophie« sind als Begriffe nachträgliche Beschreibungen zweier Tätigkeiten oder Grundhaltungen, die ursprünglich vereint waren oder vielmehr als zwei verschiedene Aspekte einer Sache gesehen wurden: der praktisch-ethischen Bildung des Menschen. »Sophisten« und »Philosophen« waren Bezeichnungen von »Weisheitslehrern«, die sich in einem möglichst umfassenden Sinne um die Bildung des Menschen bemühten. Gorgias liefert eines der ersten Zeugnisse dieser Differenzierung, wenn er von drei Arten des Wissens spricht: dem meteorologischen Wissen der »Himmelsforscher«, von der Rede, die »mit Kunstfertigkeit geschrieben, nicht gemäß der Wahrheit« sei und schließlich von den »philosophischen Reden, in denen gezeigt wird, wie die Schnelligkeit des Urteils die Überzeugung der Meinung schwankend macht«. 18 Mit Sokrates wer-
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Vgl. Gorgias, 18,13 (DK 82 B 18,13).
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den aus verschiedenen Perspektiven mögliche Gegensätze, indem er die Kunst der Rede auf Grundlagen stellen will, die außerhalb ihrer selbst liegen. Cicero beschreibt diesen Vorgang wie folgt: »Er entriss den Männern, die das, was wir untersuchen, betrieben, behandelten und lehrten, obwohl sie einen Namen trugen [erg. als Philosophen], da jegliche Erkenntnis höchster Werte und die praktische Beschäftigung mit ihnen Philosophie hieß, diesen allgemeinen Titel und trennte in seinen Unterredungen die Wissenschaft des philosophischen Erkennens von der des wirkungsvollen Ausdrucks, obwohl sie in der Sache doch zusammenhingen (re cohaerentis). […] Daher stammt jene so unsinnige, nutzlose und tadelnswerte Trennung gleichsam zwischen Zunge (lingua) und Herz (cor), die dazu führte, dass uns die einen denken und die anderen reden lehrten.« 19
Diese Trennung wird manifest im Duell Platons mit den Sophisten. Platon schafft eine neue theoretische Wirklichkeit, die unabhängig jeder gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit existieren kann. 20 Was bei Sokrates noch eine Kritik am vermeintlichen Scheinwissen seiner Dialogpartner war, wird bei Platon zu einer vernichtenden Fundamentalkritik an der von den Sophisten propagierten Lehre. Gerade in den frühen Dialogen setzt Platon Sokrates’ Weg fort, das Wissen seiner sophistischen Kontrahenten als ein Nichtwissen zu entlarven. Die sophistische Rhetorik sei, so Platon im Gorgias, »Meisterin in einer glaubenmachenden (πιστευκῆς), nicht in einer belehrenden Überredung« (Gorg. 454e–455a), der Sophist sei jemand, der »nur Überredung erkünstelt hat, so dass er, ein Nichtwissender unter den Nichtwissenden, dafür gilt, mehr zu wissen als ein Wissender« (Gorg. 459d). Letztlich sei die Sophistik damit plumpe Schmeichelei, 21 darauf angelegt, den anderen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu überreden, unabhängig davon, ob Wissen oder Täuschung Inhalt der Rede seien. Im Phaidros beschreibt Platon einen schlechten Rhetori-
Cicero, De orat. III, 59. Fuhrmann, S. 9: »Seit Platon heißt nur das um seiner selbst willen betriebene Streben nach einer von den Schlacken des Interesses und der Perspektivität gereinigten theoretischen Erkenntnis ›Philosophie‹, nicht ein auf praktisch-politische Wirksamkeit angelegtes, an den je bestehenden Werten und Meinungen orientiertes Bildungsbemühen.« 21 Vgl. Platon, Gorg. 463a: »Mich dünkt also, o Gorgias, es gibt ein gewisses Bestreben, das künstlerisch zwar gar nicht ist, aber einer dreisten Seele, die richtig zu treffen weiß und schon von Natur stark ist in Behandlung der Menschen; im ganzen aber nenne ich es Schmeichelei.« 19 20
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ker als jemanden, der die »Wahrheit nicht weiß und Meinungen nachjagt«. 22 Platons Kritik an der Sophistik ist eine Fundamentalkritik an ihrer Abhängigkeit von der Doxa, die kein wahres Wissen erlaubt, sondern unbeständig und unklar ist. 23 Platon hält an der alten Identität von Erkennen und Sein fest, die Realität der sinnlichen Wahrnehmung wird nicht bezweifelt, der Unterschied ist aber der Umgang mit dem Wahrgenommenen. 24 Die sinnliche Wahrnehmung ist subjektive Wahrnehmung eines Seins in einem bestimmten Augenblick; dieses Sein verändert sich ständig und erlaubt daher keine objektive Aussage; die sinnliche Doxa ist kein »Sein«, sondern ein »Werden«: »Denn nichts ist jemals, sondern es wird immer.« 25 Damit ist der Seinsbegriff für die Doxa nicht angemessen und muss »völlig ausgemerzt werden«. 26 Im Phaidon schildert Platon die nutzlosen Versuche, aus der sinnlichen Wahrnehmung Erkenntnisse über das Sein zu ziehen (»Denn einige verderben sich die Augen, wenn sie nicht im Wasser oder sonst worin nur das Abbild der Sonne anschauen« 27) und wendet sich den »logoi« zu: »Es scheint mir also, dass ich zu den logoi fliehen müsste, um in jenen die Wahrheit des Seienden zu betrachten« 28 Das Denken ist nicht das Ergebnis sinnlicher Wahrnehmung, sondern Voraussetzung der Verarbeitung sinnlicher Wahrnehmung und damit Kriterium des wahrhaft Seienden. 29 Platon dreht die Sinnspitze der vorsokratischen Einheit von erkennender Wahrnehmung und Sein um, indem nicht mehr die Wahrnehmung die Einheit mit dem Bewusstsein sucht, sondern das Bewusstsein zur Bedingung der Möglichkeit einer Wahrnehmung wird. Das Wahrgenommene wird in das Denken eingefügt, in ein Gespräch, das die Seele mit sich selbst führt:
22 Vgl. Platon, Phaidr. 262c: »Λόγων ἄρα τέχνην, ὦ ἑταῖρε, ὁ τὴν ἀλήθειαν μὴ εἰδώς, δόξας δὲ τεθηρευκώς, […]« 23 Vgl. Platon, Pol. 479de; 484b; Platon, Phaid. 79cd; Platon, Soph, 249bc u. a. 24 Vgl. Lafrance, La théorie platonicienne de la Doxa, S. 225 ff. 25 Platon, Theait. 152d. 26 Vgl. Platon, Theait. 157a. 27 Platon, Phaid. 99d. 28 Platon, Phaid. 99e: »Ἔδοξε δή μοι χρῆναι εἰς τοὺς λόγους καταφυγόντα ἐν ἐκείνους σκοπεῖν τῶν ὄντων τὴν ἀλήθειαν.« 29 Vgl. Platon, Phaid. 100a: »[…] indem ich jedes Mal einen Logos voraussetze (ὑποθέμενος), den ich am stärksten beurteile, setze ich das, was mir mit dem zusammenzustimmen scheint, als wahrhaft seiend.«
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»Darum meine ich, das Vorstellen (δοξάζειν) ist ein Reden, und die Vorstellung (δόξα) ist eine gesprochene Rede, nicht zu einem andern und mit der Stimme, sondern stillschweigend zu sich selbst.« 30
In diesem Geschehen, dem denkenden Abgleich zwischen dem vorausgesetzten Logos und dem Wahrgenommenen, wird das sichtbar, was Platon als »Idee« bezeichnet. Der vorausgesetzte Logos der Erkenntnis bezieht sich auf etwas Reales, auf die Idee, die im einzelnen Sein präsent ist und wiedererkannt wird. Jedes Seiende ist nur insofern, als es Anteil an einer Idee und in ihr seinen Ursprung hat, wie Platon besonders markant in den Gleichnissen seiner Politeia ausführt. Indem die Ideen – in ihrer Beständigkeit und Unveränderlichkeit – Objekte wahrer Erkenntnis sein können, und das sinnlich Wahrnehmbare nur existiert, insofern es Anteil an den Ideen hat, wird den Ideen ein seinsmäßig höherer Rang zugewiesen und eine dualistische Ontologie geschaffen. Diese Ideen »sind« in vollem Sinne und jedes vom Menschen sinnlich Wahrgenommene ist nur durch Teilhabe an den Ideen, die wiederum jedem Seienden transzendent und von diesem aus nicht erkennbar sind. 31 Damit wird im Umkehrschluss die Welt der Ideen zur Referenz der Sprache, die sich damit aus ihrer Abhängigkeit von der Doxa herauslösen soll. Genau hier liegt die Grenze, die Platon zwischen sich und der sophistischen Rhetorik gesetzt hat: Wahrheit ist kein sich im sinnlich Wahrgenommenen, der Doxa, vollziehendes Geschehen, sondern die Doxa ihrerseits ist ein sich aus einer völlig transzendenten Wahrheit vollziehendes Geschehen, eine »Entbergung« des Seins, wie Heidegger diesen Vorgang beschrieb. 32 Die Ideen sind nicht nur bloße methodische Erkenntnishilfen und auch nicht getrennt vom Seienden zu betrachten, sondern der Seinsgrund eines jeden Wahrgenommenen; insofern sind Aletheia und Doxa nicht isoliert: einerseits ist es in jedem Seienden, das wahrgenommen wird, die Idee, die wahrgenommen wird, 33 Platon, Theait. 190a: »Ὥστ’ ἔγωγε τὸ δοξάζειν λέγειν καλῶ καὶ τὴν δόξαν λόγον εἰρημένον, οὐ μέντοι πρὸς ἄλλον οὐδὲ φωνῇ, ἀλλὰ σιγῇ πρὸς αὑτόν.« Vgl. auch Soph. 263e. 31 Vgl. Platon, Pol. 509b. 32 Vgl. Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, S. 32 ff.; Heidegger, Sein und Zeit, S. 219 ff. Vgl. aber auch Szaif, Platons Begriff der Wahrheit, S. 145 ff., der zwar die etymologische Herkunft des ἀλήθεια-Begriffs bestätigt, aber auf einen veränderten Gebrauch zur Zeit Platons hinweist. Inhaltlich ist die Deutung des Wahrheitsbegriffs durch Heidegger als »Entbergung« oder »Unverborgenheit« dennoch berechtigt. 33 Peterreins, Sprache und Sein bei Platon, S. 203 ff. 30
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andererseits haben auch die Ideen kein Sein für sich, sondern existieren in einem anderen ontischen Rang mit dem Erkannten, wie Platon gerade in den späten Dialogen herausstellt: wie Denken immer Denken von etwas ist, so sind auch die Ideen Ideen von etwas. 34 Das Sein bzw. die Wahrheit eines konkreten Dings befindet sich nicht in der Relativität mehrerer Dinge, sondern es liegt im einzelnen Ding selbst, wie Platon mit Blick auf Protagoras festhält. 35 Platon unterscheidet dieses Sein eines konkreten Dings vom transzendenten Sein der Ideen. Im Sophistes schreibt Platon: »Denn von allen gilt, dass die Natur des Verschiedenen, welche sie verschieden macht von dem Seienden, jedes zu einem Nichtseienden macht, und alles insgesamt können wir also gleichermaßen auf diese Weise mit Recht als nicht seiend nennen, und auch wiederum seiend, und sagen, dass es sei, weil es Anteil hat am Seienden.« 36
Jedes konkret wahrgenommene Sein der Doxa in seiner Verschiedenheit und in seiner gegenseitigen Abgrenzung ist eine Mischung von Sein und Nichtsein und existiert nur, insofern sie Anteil am Sein selbst hat. Hieraus ergeben sich zwei verschiedene Seinsweisen, nämlich einerseits diejenige, an einem Sein in einer bestimmten Form teilzuhaben, andererseits diejenige, eine bestimmte Form bzw. Idee zu sein. Wie die Doxa als Abbild des Urbildes der Idee verstanden wird, so ist eine Rede analog dazu das Bild des Wahrgenommenen, der Doxa: »In Hinsicht auf das Abbild (εἰκών) und auf sein Vorbild (παράδειγμα) muss man folgende Unterscheidung treffen: dass die Reden dem, dessen Exegeten sie sind, auch verwandt sind und dass die, die sich also mit dem Beharrlichen, Dauerhaften, auf dem Wege der Vernunft Erkundbaren befassen, beharrlich und unveränderlich sind […], dass aber die Reden, die sich mit dem befassen, was nach jenem gebildet ist und, da es ein Bild ist, nach der Analogie mit jenem bildartig ist.« 37
Vgl. Platon, Parm. 132bc. Vgl. Platon, Krat. 386de: »So ist offenbar, dass die Dinge an und für sich ihr eigenes, bestehendes Wesen haben, und nicht nur, je nachdem wir sind, oder von uns hin und her gezogen nach unserer Einbildung, sondern für sich bestehend, je nach ihrem eigenen Wesen seiend, wie sie geartet sind.« 36 Platon, Soph. 256de: »Κατὰ πάντα γὰρ ἡ θατέρου φύσις ἕτερον ἀπεργαζομένη τοῦ ὄντος ἕκαστον οὐκ ὂν ποιεῖ, καὶ σύμπαντα δὴ κατὰ ταὐτὰ οὕτως οὐκ ὂντα ὀρθῶς ἐροῦμεν, καὶ πάλιν, ὅτι μετέχει τοῦ ὄντος, εἶναι τε καὶ ὄντα.« 37 Platon, Tim. 29b. 34 35
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Platon spricht in diesem Zusammenhang (Tim. 29c) von einer »wahrscheinlichen Rede« (εἰκὼς λόγος/εἰκὼς μῦθος), was nicht als Hinweis auf einen per se unsicheren Status der Rede zu sehen ist, sondern auf den bildhaften Charakter der Rede hindeutet. Diese Hinordnung der Wahrheit auf die Wahrheitsgemäßheit der Rede darf nicht – wie es Heidegger getan hat – als »Verfall« verstanden werden, als eine Abkehr einer sich in das Sein entbergenden Wahrheit, als eine »Wandlung des Wesens der Wahrheit: Wahrheit wird zur ὀρθότης, zur Richtigkeit des Vernehmens und Aussagens«. 38 Platons Wahrheitsbegriff verfügt über beide Aspekte, die letztlich nicht voneinander zu trennen sind: den der »unverhüllten Wirklichkeit« (im Sinne Heideggers) und den der »enthüllenden Richtigkeit«. 39 Nur so kann die Rede im Sinne Platons als »hermeneutisch« interpretiert werden, wie es Böhme getan hat: indem die Welt eine Auslegung des idealen Urbildes (der Wahrheit) ist, ist auch die sich auf diese Welt beziehende Rede wahrheitsgemäße Auslegung und damit hermeneutisch. 40 Sprache findet bei Platon nicht um ihrer selbst willen statt, sondern immer im Hinblick auf etwas, im Idealfall auf die sie bedingende Transzendenz. Wenn sich Erkenntnis in der Dialektik vollzieht, im sprachlichen Herantasten an die Wahrheit, dann ist die Sprache ein Träger von Erkenntnis, aber nicht die Erkenntnis selbst, die ihr transzendent bleibt. Die Doxa ist nicht die Verzerrung der Wahrheit in Gerüchten, sondern sie ist die Grundlage jeder sinnlichen Wahrnehmung, die zwar über eine andere ontische Qualität verfügt als die Wahrheit selbst, aber auch aus ihr stammt: Im Timaios berichtet Platon, dass die Weltseele als Schöpferin des sinnlich Wahrnehmbaren »zuverlässige und richtige Meinungen (δόξαι) und Annahmen (πίστεις)« geschaffen habe, als Schöpferin des mit der Vernunft Wahrnehmbaren hingegen »Vernunft (νοῦς) und Wissen (ἐπιστήμη)«. 41 Doxa heißt nicht, die Wahrheit zu verzerren, Doxa bedeutet die nicht nur sprachliche Zusammenfassung des sinnlich Wahrnehmbaren. Das Verzerrende oder das zumindest nicht der Wahrheit Gemäße entsteht damit nicht notwendigerweise in der die Doxa aufnehmenden Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, S. 42. Vgl. Friedländer, Platon, S. 240: »Wahrheit ist in Platons systematischem Zusammenhang zugleich beides: unverhüllte Wirklichkeit des Seins und enthüllende Richtigkeit des Erkennens und Aussagens. Dazu als drittes: die Wahrhaftigkeit des Nous, der dieses Erkennen auf jene Wirklichkeit richtet.« 40 Vgl. Böhme, Platons theoretische Philosophie, S. 227 f. 41 Vgl. Platon, Tim. 37b. 38 39
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Vernunft, sondern liegt in der ontischen Defizienz des Sinnlichen begründet, wodurch es selbst der Weltseele nur möglich ist, »doxai« über diese Sinnlichkeit zu bilden. 42 Im VII. Brief beschreibt Platon die gleichzeitige Defizienz, aber auch epistemologische Notwendigkeit des Sinnlichen gegenüber der transzendenten Wahrheit anhand der Form des Kreises. 43 Ein Kreis ist eine ideale geometrische Form und in dieser Idealität transzendent. Platon zählt vier verschiedene Erkenntnisformen auf, die Idealität wahrzunehmen. Der sichtbare Kreis, der aufgezeichnet ist, versucht diese Ideale wiederzugeben, kann diese Idealität jedoch nicht erreichen. Dennoch ist er eine Brücke zu dieser Idealität, die sonst nicht wahrnehmbar wäre. Bereits im Kratylos hatte Platon auf die gleichzeitige Defizienz und Notwendigkeit des Wortes hingewiesen, die Ideen wahrzunehmen. 44 Im VII. Brief wird diese Dialektik noch einmal deutlicher: Gerade die Kriterien der Idealität, die er nennt (Benennung, Erklärung, Abbild, Wissen) sind einerseits notwendige Bedingung der Erkenntnis, andererseits jedoch dafür verantwortlich, so Gadamer, »dass man mit ihrer Hilfe die Sache nie mit völliger Sicherheit wirklich ergreift«. 45 Die vorsokratische bzw. vorplatonische Einheit von Erkennen und Sein hatte ihren Grund in der Einheit der Wahrnehmung der Doxa. Wahrheit – sofern die Suche nach ihr überhaupt von Belang war – vollzog sich innerhalb dieser Wahrnehmung, damit innerhalb der Doxa und war ihr immanent. Platon wies diese ausschließlich auf der Wahrnehmung beruhende Erkenntnis zurück und sprengte damit die alte Einheit von Erkennen und Sein. Die subjektive Wahrnehmung wird einer Objektivität zugeordnet, die sich im Bewusstsein selbst vollzieht. Diese Objektivität stellt die Grundlage jeder Erkenntnis dar, sie ist als solche nicht im konkreten Sein der Doxa wahrnehmbar und ihm transzendent, aber dieses ist nur durch sie verifizierbar. Auf diese Weise schafft Platon ein ontologisch-metaphysisches System, das er der schwankenden und manipulierbaren Doxa als Wahrnehmungsgrundlage entgegensetzt. Die Transzendenz dieses Systems beruht auf dem Gegensatz zur Veränderlichkeit jedweder Doxa und damit auf einer Weiterführung der parmenideischen Aussage, dass 42 43 44 45
Vgl. Szaif, Platons Begriff der Wahrheit, S. 310 f. Vgl. Platon, VII. Brief 342a–344d. Vgl. Platon, Krat. 433a und 348b. Vgl. Gadamer, Dialektik und Sophistik im siebenten platonischen Brief, S. 99 f.
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sich Erkenntnis nur auf Seiendes beziehen kann. Dieses Sein wird von Platon allerdings nicht mehr der Wahrnehmung selbst zugeschrieben – in der Einheit von Erkennen und Sein –, sondern dem wahrnehmenden Bewusstsein, das in der Lage ist, die transzendente Welt des Seins von der mit dem Nichtsein durchmischten Doxa zu differenzieren. Die Schärfe, mit der sich Platon gegen die Sophistik bzw. Rhetorik zur Wehr setzt, liegt darin begründet, dass die Fähigkeit sprachlicher Auflösung des konkreten Seins, welche die Grundlage der Philosophie bildet, durch das Verlassen ihres eigentlichen Erkenntnisgrundes gegen sie selbst gewendet werden kann. 46 Platon hatte die sophistischen Rhetoriker zeit seines Lebens scharf kritisiert, weil diese eine Redekunst propagieren würden, die nicht dem Erkenntnisgewinn dienen würde. Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass die Kritik Platons eine Kritik an der Sophistik ist, nicht an der Rhetorik selbst. 47 Platon selbst verzichtet in seinen Werken keineswegs auf rhetorische Mittel, wie schon Cicero mit Blick auf Platons Gorgias feststellte: »Ich bewunderte Platon bei diesem Buch, dass er sich – so schien es mir – mit seinem Spott über die Redner selbst als ein Meister der Beredsamkeit (orator summus) erwies.« 48 Auch in anderen Dialogen beweist Platon fundierte Kenntnisse der Rhetorik; 49 im einige Jahre nach dem Gorgias geschriebenen Phaidros geht Platon der Frage nach, unter welchen Bedingungen die Anwendung der Redekunst akzeptabel ist bzw. welche Kriterien der Redekunst zugrunde liegen sollen. Grundlage der Konstruktion einer Rede sei es, »das überall Zerstreute anschauend zusammenzufassen in eine Ebert, Meinung und Wissen in der Philosophie Platons, S. 28 f.: »An dem historischen Phänomen der griechischen Sophistik und Rhetorik wird etwas Allgemeines sichtbar und in diesem Allgemeinen liegt die eigentliche Bedrohung für die Philosophie: die Möglichkeit nämlich, dass die argumentativen Mittel, die in der Philosophie der Auflösung bloßer Meinung und der Hinführung zum Wissen dienen, gerade für die Erzeugung beliebiger Meinungen in Dienst genommen werden können und dadurch schließlich zur Leugnung der Möglichkeit führen, überhaupt argumentierend Wissen zu begründen und Wahrheit finden zu können.« 47 Vgl. Rahn, Bemerkungen zur philosophischen Rhetorik in der Antike, S. 15. 48 Cicero, De orat. I,47. 49 Vgl. Jaeger, Paideia, S. 1134: »Der Mann, der im ›Symposion‹ und ›Menexenos‹ seine Fähigkeit zur Nachahmung und Überbietung aller Formen der zeitgenössischen Redekunst glänzend bewiesen hatte, konnte sich nicht schlechthin uninteressiert an der Rhetorik fühlen.« Vgl. auch Hellwig, Rhetorik bei Platon und Aristoteles, S. 24– 42. 46
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Gestalt, um jedes genau zu bestimmen und deutlich zu machen, worüber man jedes Mal Belehrung geben will«. 50 Auf die synthetische Zusammenfassung folgt wiederum die analytische Zergliederung, die Dihairese (διαίρεσις): »Ebenso auch wieder nach Begriffen zerteilen zu können, gliedermäßig wie jedes gewachsen ist.« 51 Diese Grundlagen hat Platon der sophistischen Rhetorik entnommen; der Unterschied zur Sophistik besteht in der Anwendung dieser Grundlagen bzw. in dem, was in der Rhetorik transportiert werden soll: während es den Sophisten um Kenntnis des doxastischen Sachverhalts ging, um das der Situation angemessene herauszuholen, ging es Platon um die rhetorische Grundlage einer philosophisch angemessenen Darstellung, das hieß für ihn: der Wahrheit entsprechend. Die erkenntnistheoretischen Grundlagen der platonischen Rhetorik sind die erkenntnistheoretischen Grundlagen der philosophischen Darstellung und damit der hermeneutischen Durchdringung. Anschließend gibt Platon einen Überblick über seine rhetorische Bildung bzw. über die ihm bekannte rhetorische Literatur. Als ersten Gewährsmann nennt er einen gewissen Theodoros von Byzanz, den er zu schätzen scheint und der als »bester« (βέλτιστον) und »gut«/ »nützlich« (χρηστόν) bezeichnet wird. 52 Folgende Teile einer Rede zählt Platon auf, die er dem rhetorischen Kanon entnimmt und damit seine nicht nur marginalen rhetorischen Kenntnisse beweist: den Eingang (προοίμιον), die Erzählung (διήγησις), dieser beigeordnet die Zeugnisse (μαρτυρίαι), dann die Tatsachenbeweise (τηκμήρια), die Wahrscheinlichkeitsbeweise (εἰκότα), schließlich die Übersicht (ἐπάνοδος) oder das Ende (τέλος). In die Rede eingebaut werden können des weiteren Elemente wie Beglaubigung (πίστωσις) und Nebenbeglaubigung (ἐπιπίστωσις); von einem gewissen Euenos aus Paros 53 nennt er noch Widerlegung (ἔλεγχος), Nebenwiderlegung (ἐπεξέλεγχος), Vorandeutung (ὑποδήλωσις), Nebenlob (παρεπαί-
Platon, Phaidr., 265e. Ebd. 52 Vgl. Platon, Phaidr. 266d ff. Theodoros von Byzanz war wohl ein bekannter Theoretiker der Rhetorik, der in der 2. Hälfte des 5. Jahrhunderts wirkte. Er hat sich wohl um eine systematische Unterteilung der Rede bemüht, von ihm ist kein Werk überliefert. Vgl. Aristoteles, Rhet. 1400b; 1414b; Cicero, orat. 12,39; Cicero, Brut. 12,48; Aristoteles, soph. el. 183b, 26–33. 53 Euenos aus Paris wird auch in der Apologie kurz als »Lehrer der Tugend« erwähnt (Apol. 20b). 50 51
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νος), Nebenschimpf (παραψόγος); aus der Sammlung des Polos 54 fügt er dann noch Doppelrederei (διπλασιολογία), Spruchrederei (γνωμολογία), Bildrederei (εἰκονολογία), Erwerb des Wohlklangs (εὐεπεία) sowie das Richtigsprechen (ὀρθοέπεια) hinzu. Tisias und Gorgias werden genannt und dann bewusst missachtet (»sie wollen wir ganz ruhen lassen«, Phaidr. 267a), noch erwähnt werden Rhetoriker wie Prodikos, Hippias, Protagoras und Thrasymachos aus Chalkedon. Ganz offensichtlich besaß Platon eine gute rhetorische Ausbildung. Die aufgelisteten Elemente lassen sich in seinen Dialogen wiederfinden; gerade der Dialog Protagoras ist ein Lehrstück darin, die sophistische Rhetorik mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Die Dialoge sind selbst nach Kriterien der Rhetorik konzipiert: »Er musste die Gesprächsteilnehmer auswählen und anordnen nach den Forderungen der Kunst, die Umgebung zu dem geistigen Vorgang stimmen, den Raum aus seiner Zufälligkeit befreien, um ihn zum Mitwirker des Gesamtwerkes werden zu lassen.« 55 Die Dialoge Platons sind durchstrukturierte, inszenierte Kunstwerke, von denen Ebert einige rhetorische Merkmale beschrieben hat: 56 Platon selbst verbirgt sich als Autor der Dialoge; zwischen Autor und Leser werden – um den »Effekt mimetischer Dichtung« zu potenzieren – weitere Figuren in die Dialoge eingefügt; die Dialoge sind von Aporien geprägt, von kunstvollen Abbrüchen und Unterbrechungen, die neue Fragen provozieren und alte Gewissheiten widerlegen sollen; es werden falsche Antworten auf Fragen gegeben, Dinge werden bewusst überhört usw. Neben der äußeren Form der Dialoge betrifft die Rhetorik aber auch die Argumentation selbst: immer wieder finden sich Stellen, an denen Platon der Rhetorik bzw. der Kunst gemäß argumentiert, die Rhetorik also nicht nur ein Mittel der Vermittlung der Wahrheit ist, sondern damit auch Teil der argumentativen Wahrheit selbst. Im Phaidros liefert Platon zudem eine anthropologische Grundlegung der Rhetorik. Die Rede wird mit der Natur verglichen, sie ist »wie ein lebendiges Wesen gebaut«, »weder ohne Kopf noch ohne
Polos war Schüler des Gorgias (Platon, Gorg. 466a ff.), vermutlich hat er ein Werk mit dem Titel »Sammlung von Worten« (Μουσεῖα λόγον) verfasst. 55 Friedländer, Platon, Bd. 1, S. 169. 56 Vgl. Ebert, Meinung und Wissen, S. 29 f. Vgl. auch Seek, Platon und die Paradoxie der Rhetorik, S. 75–77. 54
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Fuß«, in sich in einem natürlichen Verhältnis stehend. 57 Platon beruft sich dann auf Hippokrates und seine Äußerungen über die Heilkunst und die Natur: »Muss man nicht so nachdenken über jedes Dinges Natur: zuerst, ob das einerlei ist oder vielgestaltig, was wir selbst als Künstler behandeln und wozu wir auch andere geschickt machen wollen; dann, dass man, wenn es einerlei ist, seine Kraft untersuche, was für eine es hat von Natur, um was für Dinge zu wirken, und was für eine, um Einwirkungen und von was für welchen aufzunehmen; wenn es aber mehrere Gestalten hat, dieser erst aufzähle und so von jeder wie vorher von dem einen sehe, was sie ihrer Natur nach ausrichten und was sie welchem anderen erleiden kann.« 58
Die Kriterien der Erkenntnis der Natur sind auch die Kriterien einer guten Rhetorik: die Fähigkeit, die einzelnen Kräfte wahrzunehmen, ihre gegenseitigen Wirkungen zu kennen, einzuschätzen, was an der Wahrnehmung verändert werden muss, um das gewünschte Ziel zu erreichen. Desgleichen muss der Redner das Ziel der Rede beachten, nämlich die Seele des Zuhörers: »Nachdem er die Reden wie auch der Seele Arten und ihr verschiedenes Verhalten ordentlich auseinandergesetzt, wird er alle verschiedenen Ursachen durchgehen, jedes mit jedem zusammenhaltend und lehrend, was für eine Seele durch was für Reden aus welcher Art überredet werden oder unüberredet bleiben wird.« 59
Damit ist Redekunst Wissen um die menschliche Seele und »Seelenleitung«: »Da die Kraft der Rede eine Seelenleitung ist, so muss, wer ein Redner werden will, notwendig wissen, wie viel Arten die Seele hat.« 60 Kriterium der Redekunst ist Erkenntnis dessen, was dargestellt werden muss, und damit die Erkenntnis der Wahrheit. Im Politikos erwähnt Platon, dass ein Staatsmann wissen müsse, wann er »vermittels sinnlicher Darstellung« und wann er durch »ordentliche Belehrung« die Menge überzeugen müsste. 61 Platon ist sich nicht Vgl. Platon, Phaidr. 264c: »Aber dieses, glaube ich, wirst du doch auch behaupten, dass eine Rede wie ein lebendiges Wesen gebaut sein und ihren eigentümlichen Körper haben muss, so dass sie wieder ohne Kopf ist noch ohne Fuß, sondern eine Mitte hat und Enden, die gegeneinander und gegen das Ganze in einem schicklichen Verhältnis gearbeitet sind.« 58 Platon, Phaidr. 270d. 59 Platon, Phaidr. 271b. 60 Platon, Phaidr. 271d. 61 Vgl. Platon, Polit. 304cd. 57
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nur der manipulativen Möglichkeiten der Rhetorik bewusst, zur Vermittlung der Wahrheit scheinen sie – zumindest nach dem Politikos – sogar legitim, immer unter der Voraussetzung, dass das Ziel des Redners der Wahrheit entspricht. Ähnlich agiert Platon ja auch mit den Mythen: Er lehnt die alten Mythen als Verzerrung der Wahrheit ab, setzt aber selbst Mythen ein – beispielsweise den Schöpfungsmythos im Timaios –, wenn sie der Vermittlung der Wahrheit dienlich sind. Damit hat sich natürlich die Funktion des Mythos geändert, er dient nun dem pädagogischen Zweck der Vermittlung eines Sachverhalts, der ohne diesen Mythos vielleicht nicht vermittelbar wäre. 62 Ebenso beweist auch Platon eine sehr pragmatische Grundhaltung gegenüber der Rhetorik. Ähnlich wie er die traditionellen Mythen kritisieren muss, kritisiert er auch die Rhetorik: aufgrund ihrer Grundlagen, die nicht die Grundlagen seiner Philosophie sein können.
Die humanistische Kritik des Isokrates Isokrates gilt als einer der größten Rhetoriker der Antike. Auch wenn er Schüler des Gorgias ist, blickt er durchaus kritisch auf das Gebaren vieler Sophisten, denen er einen nicht angemessenen Umgang mit der Sprache vorwirft. Sprache – der Logos – ist für Isokrates etwas Hohes und Edles. In seiner Schrift Nikokles stimmt er einen Lobgesang auf die Sprache des Menschen an. Durch die Sprache ist der Mensch in der Lage, »Städte zu gründen, Gesetze zu geben, Künste zu erfinden«, ohne diese würde er »nach Art der Tiere leben«. Die Sprache ist Beherrscherin (ἡγεμών) des Denkens und Handelns: »Nichts, was mit Überlegung getan wird, geschieht ohne die Sprache. Die Sprache liegt allen Handlungen und Gedanken zugrunde.« 63 Sein Lehrer Gorgias hatte in der Helenarede ähnlich gesprochen: »Die Rede (λόγος) ist eine große Bewirkerin (δυνάστης), die mit dem kleinsten und unscheinbarsten Körper die göttlichsten Werke vollbringt.« 64 Isokrates geht jedoch einen Schritt weiter als Gorgias, für ihn wird die Sprache zur einzig möglichen Bedingung von Denken und Handeln. Daraus ergibt sich natürlich einerseits die Notwendigkeit eines sehr Vgl. Cürsgen, Die Rationalität des Mythischen, S. 26; Most, Platons exoterische Mythen, S. 18. 63 Vgl. Isokrates, Nik. 9. Vgl. auch Isokrates, Paneg. 47 f. 64 Gorgias, Hel. 11,8 (DK 82 B 11,8). 62
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bewussten Umgangs mit Sprache, einer intensiven Beschäftigung mit der Rhetorik, aber auch eine Bindung der Redekunst an das Wohl der Allgemeinheit. Dies führt Isokrates in seiner Schrift Gegen die Sophisten weiter aus. In dieser Schrift wendet sich Isokrates gegen den Missbrauch der Redekunst und beschreibt klar, woran sich diese zu orientieren habe: nämlich an der Realität, an dem, was den Menschen umgibt (περὶ τῶν παρόντων), und an dem, »was erforderlich« (τὰ δέοντα) ist. 65 Die Doxa ist für Isokrates nicht nur das Einwirken des Seins auf das subjektive Bewusstsein, sondern gewinnt auch eine objektive Note durch die Rückbindung an das Allgemeinwohl, an das, »was erforderlich« ist. In diesem Geschehen der sprachlichen Einbettung der eigenen Wahrnehmung in die Objektivität vollzieht sich, so Isokrates, »Wahrheit«. 66 Eine transzendente Wahrheit im Sinne Platons lehnt Isokrates ab, er spricht verächtlich von Leuten, »die zwar in Reden, nicht aber in ihren Handlungen auf Widersprüche achten, über die Zukunft Bescheid zu wissen beanspruchen, über die gegenwärtigen Probleme aber nichts Brauchbares sagen oder raten können«. Eine solche Beschäftigung, so Isokrates weiter, sei »Müßiggang und Kleinkrämerei«, 67 in der Helenarede schreibt er: »Es ist besser, über Brauchbares angemessene Meinungen als über Unnützes ein genaues Wissen zu haben.« 68 Die Philosophie Platons mit seiner Ideenlehre und metaphysischen Wahrheit lehnt Isokrates als nicht relevant und nutzlos für die Gesellschaft und damit auch für das eigene Leben ab; ihm geht es um die »Paideia«, die Erziehung des Menschen zu einem besseren Wesen, und ob diese Erziehung zum Ziel führt, entscheidet nicht eine transzendente Wahrheit, sondern das Allgemeinwohl der Gesellschaft. Die Rhetorik, die Isokrates vermittelt, hat die Erziehung des Menschen zum Ziel, das ethische Entgleiten der sophistischen Rhetorik (»sie hätten sich an die Wahrheit
Vgl. Isokrates, Soph. 9. Vgl. Eucken, S. 287: »Indem Isokrates die subjektive Vorstellung auf die Realität der Handlungswelt bezieht, gewinnt er ein Kriterium objektiver Richtigkeit und überwindet den Relativismus der Sophistik.« Vgl. auch Steidler, Redekunst und Bildung bei Isokrates, S. 176 ff. 67 Isokrates, Soph. 7 f. 68 Isokrates, Hel. 5. Vgl. auch a. a. O., Antid. 271: »Da es der menschlichen Natur nicht gegeben ist, ein Wissen (ἐπιστήμην) zu erwerben, auf Grund dessen wir wirklich sagen können, was zu tun und zu sagen ist, halte ich zumindest den für weise, der in seinen Meinungen (δόξαις) meistens das Beste treffen kann.« 65 66
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halten sollen« 69) lehnt er genauso ab wie die transzendente Welt Platons. 70 Für Isokrates dürfen Rhetorik und Philosophie keine Gegensätze darstellen, die Philosophie ist Erkenntnis des Inhalts, der den Menschen zu einem besseren Menschen macht, die Rhetorik ist die Methode der Vermittlung dieses Inhalts. In seiner Antidosis schreibt Isokrates entsprechend, es sei die Aufgabe eines Philosophielehrers, aus dem Schüler einen besseren Redner zu machen, ebenso wie ein Gymnastiklehrer einen besseren Athleten aus ihm machen sollte. 71 Die Philosophie als »höchste Bildung« (Panath. 209) wird erkennbar durch die rhetorische Schulung: »Wissende und unwissende Menschen unterscheiden sich am meisten durch Reden. […] Dies aber ist das zuverlässigste Indiz für die Bildung eines jeden von uns, und Menschen, die sprachlich sehr gewandt sind, haben nicht nur in ihren eigenen Poleis großen Einfluss, sondern finden auch bei den anderen große Anerkennung.« 72
Wenn das Reden die wesentliche kulturermöglichende Errungenschaft des Menschen ist, der Teil seiner Natur, der ihn über jedes andere Lebewesen erhebt, dann ist folgerichtig die Redekunst der Maßstab der kulturellen Bildung eines jeden Menschen. Hierbei geht Isokrates einerseits von der auch bei den Sophisten verwandten Prämisse aus, dass eine Rede die Kraft hat, Seiendes – in dem Fall das Bewusstsein – zu ändern, anderseits sind die Vorgänge, die der Rede zugrunde liegen, die Vorgänge des Bewusstseins selbst: »Denn dieselben Beweismittel, mit welchen wir andere beim Reden überzeugen, gebrauchen wir auch beim Überlegen.« 73 Die Logik des Überzeugens ist die Logik des Denkens selbst; das in der Redekunst Erkannte und Formulierte ist Abbild der Erkenntnis und des Verstehens selbst. Wenn der Geist sich nicht nur in der Äußerung abbildet, sondern die Äußerung auch den Geist beeinflusst, hat dies auch Konsequenzen für das ethische Handeln. So stellt Isokrates fest: »Wer nichts un-
Isokrates, Hel. 4. Vgl. Lesky, Geschichte der griechischen Literatur, S. 660. 71 Vgl. Isokrates, Antid. 185. 72 Isokrates, Paneg. 49. 73 Isokrates, Nik. 8. Vgl. auch Isokrates, Antid. 256: »Denn bei unseren eigenen Überlegungen bedienen wir uns der gleichen Argumente, mit denen wir im Gespräch die anderen zu überzeugen suchen.« 69 70
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geprüft sagt, der macht auch im Handeln weniger Fehler.« 74 Die rhetorische Schulung besitzt somit auch eine anthropologisch-ethische bzw. humanistische Dimension, insofern sie das Handeln des Menschen genauso formt wie die Sprache selbst, und das kann sie, weil das Denken des Menschen und somit auch sein Handeln durch seine Sprache bestimmt ist. Indem Isokrates die bis dahin existenten und auch von den Sophisten eingesetzten rhetorischen Grundlagen zur Grundlage einer Beschreibung der Sprachlichkeit des Menschen macht bzw. die Sprachlichkeit des Menschen zu der ihn konstituierenden Wesensforms erhebt und die Rhetorik einsetzt, diese Wesensform weiter zu entwickeln, trifft er zum einen eine philosophische Aussage über den Menschen – der über seine Sprachlichkeit zu definieren ist –, zum anderen trifft er eine philosophische Aussage über die Rhetorik, die notwendiges Werkzeug dieser Philosophie wird.
Trennung von Philosophie und Rhetorik Platon vollzieht eine Trennung von Philosophie und Rhetorik, an deren Ende eine metaphysische Philosophie steht, die der Rhetorik jede philosophische Bedeutung abspricht. Diese von Platon vollzogene Trennung hat sich in der langen, gemeinsamen Geschichte von Rhetorik und Philosophie den meisten Betrachtern als gültig erwiesen. 75 Bis dahin waren beide Bereiche nicht getrennt (aber auch für sich nicht definiert) und gerade ein Zeitgenosse Platons, eben Isokrates, steht für die Einheit von Philosophie und Rhetorik. Man muss sich bewusst machen, dass es entgegen der üblichen nachplatonischen Perspektive Platons ist, der eine Abspaltung vom damals üblichen Denken betreibt und der mit seiner Art, Philosophie zu betreiben, ein Exot gewesen ist. 76 Platon setzt jedoch derart markante Grenzen, dass Isokrates, Antid. 292. Ptassek, Rhetorische Rationalität, S. 8: »Trotz aller Neubestimmungen der Positionen im Laufe einer über zweitausendjährigen Philosophiegeschichte blieb die in diesem Initial-Streit festgelegte Rollenverteilung zwischen Rhetorik und Philosophie für die meisten Interpreten merkwürdig verbindlich.« 76 Bien, Philosophie: Antike, S. 575: »Mag aus der heutigen, nachplatonischen Sicht die Isokratische Konzeption von Philosophie als ›unphilosophisch‹ angesehen werden, so war es für die Zeitgenossen im Gegenteil der neue Philosophiebegriff Platons, der Befremden auslöste und auch zu seinen Lebzeiten bei keinem von ihm unabhängigen Schriftsteller akzeptiert wurde.« 74 75
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im Nachhinein, aus der Perspektive der metaphysischen Philosophie Platons, Isokrates und die anderen, sich ausdrücklich um die Philosophie Bemühenden, nicht als Philosophen, sondern »nur« als Rhetoriker bezeichnet wurden. 77 IJsseling beschreibt diesen Vorgang wie folgt: »Platons Polemik gegen die Sophisten und Rhetoren hatte überdies zur Folge, dass so etwas wie Metaphysik entstehen konnte, wohlgemerkt eine Metaphysik mit einer ontotheologischen Struktur. Sie ist ein riesiges Bauwerk, an dem zahlreiche Philosophen nach Platon stetig weitergearbeitet haben. Heutzutage droht es einzustürzen. Strukturell ist diese Einsturzgefahr an die radikale Besinnung auf die Sprache und die allerorts wahrnehmbare Rehabilitierung der Rhetorik gebunden.« 78
Zwei Faktoren sind es, die IJsseling benennt: die Abwendung von der Sprache (die laut IJsseling in der Sprachwende der Gegenwart wieder umgekehrt wird) und die Entstehung einer »ontotheologischen Struktur«. Die Abwendung von der Sprache bedeutet nicht, dass Platons Philosophie sprachvergessen wäre. Im Gegenteil erreicht die platonische Sprachphilosophie eine bis dahin unerreichte Tiefe, an der sich ein Isokrates nicht messen kann. Aber das Fundament der Philosophie Platons ist nicht sprachlich in dem humanistischen Verständnis, dass die Philosophie eben nicht auf dem doxastischen Sprachgeschehen aufbaut – wie es etwa die Sophisten durchgeführt haben –, sondern auf einer der Doxa transzendenten Aletheia. Dieser Aletheia ist eine metaphysisch-»ontotheologische Struktur« beigeordnet. Diese Struktur ist mit der Aletheia nicht identisch, zumal die Frage schwer zu beurteilen ist, inwiefern Platon seine Ideenlehre als Methode oder als ontische Struktur verstand. Fakt ist jedoch, dass Platon einen transzendenten Urgrund jenseits der Doxa vermutete, diesen Urgrund auch strukturierte und die Philosophie in der Nachbetrachtung der platonischen Werke diese Strukturierung im Sinne einer »ontotheologischen« Metaphysik fortsetzte. Diese Relativierung der Doxa zugunsten einer der Doxa transzendenten Aletheia – sei sie strukturiert oder nicht – bildet den wesentlichen Unterschied zur zeitgenössischen Philosophie etwa eines Isokrates. Dieser konstruierte seine humanistische Philosophie auf eine ethische Mitte hin, auf das Allgemeinwohl, das letztlich ohne Vgl. Timmerman/Schiappa, Classical Greek Rhetorical Theory, S. 46–48; Marrou, Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum, S. 80. 78 IJsseling, Rhetorik und Philosophie, S. 27 f. 77
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eine Transzendenz als Doxa greifbar ist. Damit steht Isokrates in der vollen Tradition und im Verständnis dessen, was zu diesem Zeitpunkt als Philosophie gilt. Selbst die im engeren Sinne sokratische Philosophie und die frühen Schriften Platons belegen ein Denken, das ebenfalls die Philosophie auf ihren ethisch-gesellschaftlichen Grund zurückführen will und damit in etwas zu verankern sucht, was nicht einer transzendenten Wahrheit zuzuordnen ist. Isokrates kritisierte die platonischen »Luftschlösser« und so dürfte es auch den meisten Zeitgenossen im Umgang mit der platonischen Philosophie gegangen sein, die sich strukturimmanent schwer tun muss, ihre Relevanz für das Leben eines gebildeten Athener Bürgers zu beweisen. Aus diesem Grunde muss man sagen, dass – entgegen der späteren Wirkungsgeschichte – Isokrates mit seiner ethischen und der Rhetorik nahe stehenden humanistischen Philosophie erst einmal den Kampf um die Bildung gewonnen hat: »Geschichtlich gesehen, ist Platon unterlegen. Es ist ihm nicht gelungen, bei der Nachwelt mit seinem Erziehungsideal durchzudringen. Im großen und ganzen hat Isokrates gesiegt, er ist der Erzieher Griechenlands, dann der antiken Welt geworden. […] Die Rhetorik ist der eigentliche Gegenstand des griechischen Hochschulunterrichts, der hohen Bildung geblieben.« 79
Die Rhetorik hatte kurz vor Platon – mit Beginn der durchgehenden Literalisierung – begonnen, im Bildungskanon eine alles beherrschende Stellung einzunehmen. Diese Position konnte Platon trotz aller Kritik an der Rhetorik nicht streitig machen. Platon hat jedoch dafür gesorgt, dass Philosophie und Rhetorik – trotz aller gegenseitigen Verwiesenheit – zwei getrennte Bereiche wurden, indem er die Doxa zugunsten eines Transzendenten relativierte. Der entscheidende Einschnitt ist die semantische Absprengung des Begriffs von dem, was er bezeichnet: Egal, ob das dem Begriff Jenseitige eine transzendente Ideenwelt ist oder nicht, die platonische Revolution der Philosophie, die sie von der Rhetorik trennte, bestand in der Differenzierung des Begriffs. Das Gesprochene ist nicht nur, es hat eine Bedeutung. 80 Diese Bedeutung war weder für die Rhetorik noch für eine Marrou, Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum, S. 288. Buchheim, Die Sophistik, S. 32: »Eine Semantik erfordert, dass jedes Gesprochene eine Bedeutung hat. Das heißt, jedes Gesprochene referiert etwas anderes als es selbst ist. Der Referenzzusammenhang zwischen Zweien ist also nicht nur konstituiert durch Identität, sondern auch durch Nicht-Identität. Diese Seite der Nicht-Identität
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humanistische Philosophie im isokratischen Verständnis wahrnehmbar. Wenn Philosophie verstanden wird als Reflexion des Seins, dann muss eine diesem Sein externe Instanz geschaffen werden, die auch jeder sinnlichen Wahrnehmung extern und damit transzendent ist. Diese Transzendenz hat Platon in seiner Philosophie geschaffen und damit die Kriterien einer metaphysischen Philosophie festgelegt, unabhängig davon, wie die Realität dieser Transzendenz zu beschreiben ist und wie genau zwischen Platon und einer späterer Deutung durch den Platonismus zu unterscheiden ist. 81 Indem Platons Philosophie dadurch bestimmt ist, einem Begriff eine Bedeutung zuzusprechen, schafft sie nicht nur eine semantische, sondern auch eine ontologische Realität. Während die Sophistik in ihrer Orientierung an der inneren Relationalität der Doxa »das Nichtansichseins des Seins«, so eine Formulierung Hegels, 82 aufgezeigt habe, besteht die platonische Philosophie auf der Absolutheit und dem »Ansichsein des Seins« und ist insofern eine metaphysische Philosophie. Wurde Philosophie bis dahin als sowohl in ihrer Grundlegung als auch in ihrer Zielrichtung als praktisch-ethische Disziplin gesehen, lenkt Platon den Blick auf eine theoretische Durchdringung der Wirklichkeit, die dann erst – im zweiten Schritt – Konsequenzen für das Leben in dieser Wirklichkeit hat. Isokrates hat diesen Anspruch als nicht einholbar kritisiert und verstand Philosophie weiterhin im ethischen Kontext. Damit sollte Isokrates die Bildung und die Rhetorik der Zukunft beeinflussen wie auch Platon seinerseits den philosophischen Diskurs unwiderrufbar bestimmt hat. Die Trennung der beiden Diskurse war damit vollzogen.
6.3 Aristoteles Mit Aristoteles erreicht die Theoretisierung der Rhetorik ihren antiken Höhepunkt. Die Rhetorik ist für ihn Teil der allgemeinen Gesprächskunst, der Dialektik, und damit wissenschaftlich darstellbar. Das Sprechen und damit auch die Konstruktion von Sprache und
aber fehlt in der Sophistik noch; das semantische Verhältnis steckt noch zur Gänze im Logos: jedes Gesprochene referiert sich selbst nicht ein anderes als anderes.« 81 Vgl. Ebert, Meinung und Wissen in der Philosophie Platons, S. 209–211; Villers, Das Paradigma des Alphabets, S. 234. 82 Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, S. 435.
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Rede sind ein natürliches, jedem Menschen zukommendes Phänomen. Bereits Platon hatte die Redekunst beschrieben als »Seelenleitung«, deren Ausübung es erforderlich mache, »notwendig zu wissen, wie viel Arten die Seele hat« (Phaidr. 271d). Aristoteles knüpfte hier an, wenn er die Sprache in ihrer Überzeugungskraft untersucht, auf ihre Wirkung, die sie auf die menschliche Seele ausüben kann. Wie auch Platon besaß Aristoteles eine hervorragende Kenntnis der rhetorischen Literatur und wurde in der Antike durchaus in der Tradition von Rhetorikern wie Isokrates gesehen. 83 Die Rhetorik wurde von Aristoteles in ihrer Abhängigkeit von der allgemeinen Redekunst begriffen, deren Mechanismen und Funktionsweisen wiederum auch Einfluss auf die Formulierung des höchsten Wissens der Philosophie hatten. Aristoteles begriff sowohl die Rhetorik als auch die Philosophie nur im Zusammenhang mit einem allgemeinen Sprachgeschehen, das diese hervorbringt.
Wissenschaftlichkeit und Sprache Platon hatte die Dialektik in seinen Dialogen als Methode zur Erlangung von Erkenntnis eingesetzt. Die Diskursivität des Gesprächs ermöglichte eine schrittweise Durchdringung des doxastischen Scheinwissens und eine Annäherung an die angezielte Wahrheit. Demgegenüber setzt Aristoteles einen anderen Akzent, wenn er zu Beginn seiner Topik die Dialektik definiert als »Methode, über jedes aufgestellte Problem aus anerkannten Meinungen Schlüsse ziehen zu können und, wenn wir selbst Rede stehen sollen, in keine Widersprüche zu geraten« (Top I,1 100a). Die Dialektik ist für Aristoteles nicht – wie für Platon – der einzig mögliche Weg, eine Wahrheit zu erlangen, sondern die Betrachtung der Mechanismen der Sprache, wenn sie versucht, eine Wahrheit zu formulieren. Das Ziel der Dialektik ist nicht die Wahrheit selbst, sondern eine Betrachtung ihrer Beschreibung. Die Dialektik zieht Schlüsse aus »anerkannten Meinungen«, diese sind, so Aristoteles weiter, »diejenigen, die entweder von allen oder von den meisten […] für richtig gehalten werden«. Diese »anerkannVgl. Cicero, tusc. disp. I 4,7: »Aristoteles, ein Mann von höchster Begabung, Wissen und Gedankenfülle, weil er durch den Ruhm des Redners Isokrates beeindruckt war, begann, junge Leute in der Redekunst zu unterweisen und die Gelehrsamkeit mit der Beredsamkeit zu verbinden.«
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ten Meinungen« sind offensichtlich der Doxa zuzuordnen und stehen im Gegensatz zu den Prämissen wissenschaftlicher Aussagen, denn diese sind »nicht durch andere Sätze, sondern durch sich selbst glaubhaft« (Top. I,1 100a). Seien es die Aussagen nichtwissenschaftlicher Dialektik oder die der Wissenschaft selbst – sie beide unterliegen wissenschaftlichen Kriterien. Aristoteles schreibt in seiner Zweiten Analytik: »Jede Belehrung und jedes Lernen entsteht aus bereits vorhandener Kenntnis. Offensichtlich ist dies für diejenigen, die alle Einzelfälle betrachten. Denn sowohl die mathematischen unter den Wissenschaften kommen auf diese Weise zustande als auch jede der übrigen Künste, und ähnlich auch, was die Argumente angeht, sowohl diejenigen, die durch Deduktion, als auch diejenigen, die durch Induktion entstehen. Denn beiden bringen durch bereits bekannte Dinge die Belehrung zustande, die einen, indem sie etwas annehmen wie von Leuten, die es verstehen, die anderen, indem sie das Allgemeine dadurch aufweisen, dass das Einzelne klar ist. Auf dieselbe Weise nämlich überzeugen auch die rhetorischen Argumente – entweder nämlich durch Beispiele, was eine Induktion ist, oder durch Enthymeme, was eine Deduktion ist.« 84
Deduktion und Induktion sind wissenschaftliche Schlussverfahren, die Deduktion durch den Schluss einer allgemeinen Kenntnis auf das Spezielle, 85 die Induktion durch den Schluss einer speziellen Kenntnis auf das Allgemeine. 86 Beide sind – deduktiv als »Enthymeme«, 87 induktiv als »Beispiele« – Kennzeichen der nichtwissenschaftlichen Argumentation, die Aristoteles hier rhetorisch nennt. Diese Argumentation zielt auf das Wahrscheinliche, und dieses Wahrscheinliche ist hier nicht als Gegensatz zur (wissenschaftlichen) Wahrheit zu sehen, sondern als das der Wahrheit Ähnliche und als dasjenige, das »zuAristoteles, II. Anal. I 1 (71a). Vgl. Aristoteles, Top. I,1 (100a): »Eine Deduktion ist ein Argument, in welchem, wenn etwas gesetzt wurde, sich etwas anderes als das Gesetzte mit Notwendigkeit durch das Gesetzte ergibt. Ein Beweis liegt dann vor, wenn die Deduktion aus wahren und ersten Sätzen gebildet wird. […] Dialektisch ist hingegen die Deduktion, die aus anerkannten Meinungen deduziert.« 86 Vgl. Aristoteles, Top. I,12 (105a). 87 Das Wort »Enthymem« (»τὸ ἐνθύμημα«, von »ἐνθυμεῖσθαι«, »etwas zu Herzen nehmen«, »in Erwägung ziehen«, »in Betracht nehmen«) bezeichnet bei Aristoteles einen rhetorischen Schluss, in Entsprechung zum wissenschaftlichen Syllogismus. Der Begriff ist bereits vor Aristoteles in der rhetorischen Literatur überliefert (Alkidamas u. a.), besaß dort aber eine andere Bedeutung. Vgl. Grimaldi, Studies in the Philosophy of Aristotle’s Rhetoric, S. 72 ff. 84 85
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meist zutrifft, aber nicht in jedem Fall« 88 und das seine Relevanz durch die Überzeugungskraft gewinnt: »Dann nämlich sind wir am meisten überzeugt, wenn wir annehmen, etwas sei bewiesen.« 89 Indem sich das Enthymem aber nur auf Wahrscheinliches als Prämisse stützt, nicht aber auf Notwendiges, kann es kein Wissen im Sinne der wissenschaftlich relevanten Episteme beschreiben, sondern verbleibt im Bereich der Meinung, der Doxa. Doch auch diese Schlüsse, die auf Wahrscheinlichkeiten beruhen, sind gültig, wie auch umgekehrt Wissen auf Notwendigkeiten beruht, die erst einmal geglaubt werden müssen: »Wir glauben aber etwas zu wissen, schlechthin, nicht nach der sophistischen, akzidentiellen Weise, wenn wir sowohl die Ursache, durch die es ist, als solche zu erkennen glauben, wie auch die Einsicht, uns zuschreiben, dass es sich unmöglich anders verhalten kann.« 90
Wenn eine wissenschaftlich zu beurteilende Sache erst einmal geglaubt werden muss, bevor sie sich als wissenschaftlich erweist, ist die Entscheidung, ob etwas wissenschaftlich ist, nicht abhängig von der Durchführung des wissenschaftlichen Verfahrens als solchem, sondern vom Erweis der Notwendigkeit und Wissenschaftstauglichkeit der Quellen bzw. Prämissen dieses Verfahrens. Aristoteles sagt, dass sich Wissenschaft nur auf das beziehen kann, was unveränderlich ist. Es gibt aber auch Dinge, die zwar veränderlich, aber dennoch wahr sind. 91 Auf diese kann sich die Wissenschaft nicht beziehen, aber sie sind nichtsdestoweniger gültig, wie auch Aristoteles mit Blick auf die nicht wissenschaftlichen Fundamente der Ethik feststellt: »Was nämlich allen scheint (δοκεῖ9), existiert auch, behaupte ich. Und wer diese Überzeugung antastet, wird schwerlich Glaubwürdige-
Vgl. Aristoteles, Rhet. I,2 (1357a): »Denn unter Wahrscheinlichkeiten versteht man das, was zumeist zutrifft, aber nicht in jedem Fall, wie manche sie definieren, sondern das, was sich bei Sachverhalten, die auch anders sein können, sich zu dem, bezüglich dessen es wahrscheinlich ist, so verhält wie das Allgemeine zum Besonderen.« 89 Aristoteles, Rhet. I,2 (1355a). 90 Aristoteles, II. Anal. I,2 (71b). 91 Vgl. Aristoteles, II. Anal. I,33 (88b): »Das Objekt der Wissenschaft und diese selbst ist verschieden von dem Objekt der Meinung und dieser selbst, sofern die Wissenschaft allgemein und notwendig ist und auf Notwendigem beruht. Notwendig aber ist, was sich nicht anders verhalten kann. Es gibt aber vieles, was wahr und wirklich ist, sich aber auch anders verhalten kann.« 88
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res vorbringen.« 92 So ist auch die Dialektik keine Wissenschaft, die in ihr durch die Schlüsse vermittelten Kenntnisse sind jedoch gültig. Am Beginn seiner Metaphysik unterscheidet Aristoteles die Kunst von der Wissenschaft: beide beruhen auf Erfahrung (ἐπιστήμη); Kunst (τεχνή) entsteht dann, wenn »sich aus vielen durch die Erfahrung gegebenen Gedanken eine allgemeine Annahme über das Ähnliche bildet«. 93 Grundlage der Kunst wie der Wissenschaft ist eine reale Erfahrung, die dem Bereich der Doxa zuzuordnen ist. Ob diese Erfahrung der Aletheia entsprechend Grundlage der Wissenschaft sein kann, kann nicht unmittelbar in der Erfahrung entschieden werden, sondern in der nachträglichen Betrachtung der Prämissen der methodischen Verarbeitung dieser Erfahrung, wie es beispielsweise in der Topik beschrieben ist, in der dialektischen Überprüfung des Gegenteils der These usw. 94 Diese nachträgliche Betrachtung macht aus nichtwissenschaftlichen Enthymemen wissenschaftliche Prinzipien: »Wenn er nämlich auf Prinzipien stößt, so hat er es nicht mehr mit Dialektik oder Rhetorik zu tun, sondern mit der Wissensdisziplin, deren Prinzipien er vor sich hat.« 95 Damit ist auch die Dialektik – und mit ihr die Rhetorik – insofern wissenschaftlich, weil zwar nicht ihre Grundlagen, aber ihr konkreter Vollzug, ihre Methode der Wissenschaft entspricht. Wenn dieser Vollzug als wissenschaftlicher Syllogismus und als dialektisch-rhetorisches Enthymem identisch ist, so drückt sich in beiden eine gleiche menschliche Fähigkeit aus, die Wahrheit auszudrücken, die einmal wissenschaftlich begründet ist und das andere Mal glaubwürdig und überzeugend weitergegeben wird. 96 Ricœur sieht an dieser Schnittstelle das »große Verdienst« Aristoteles, Nik. Eth. X,2 (1172b): »ὃ γὰρ πᾶσι δοκεῖ, τοῦτ’ εἶναί φαμεν, ὁ δ’ ἀναιρῶν ταύτην τὴν πίστιν οὐ πάνυ πιστότερα ἐρεῖ.« 93 Vgl. Aristoteles, Met. I,1 (981a). 94 Vgl. Aristoteles, Top. I,1 (105b). 95 Aristoteles, Rhet. I,2 (1358a). 96 Vgl. Aristoteles, Top. I,1 (100a): »Ein Beweis liegt dann vor, wenn der Syllogismus aus wahren und ersten Sätzen gebildet wird, oder aus solchen, deren Kenntnis ursprünglich auf bestimmte wahre und erste Sätze zurückgeht. Dialektisch ist dagegen die Deduktion, die aus anerkannten Meinungen deduziert.« Dazu Rapp, Aristoteles’ Rhetorik, Bd. 1, S. 340: »Zwar erfüllen die Beweise, derer sich die Rhetorik bedient, nicht dieselben Begründungs- und Genauigkeitsstandards wie die der Wissenschaft, grundsätzlich aber entsprechen sie demselben Schema wie wissenschaftliche Beweise. […] Dieses parallele Vorgehen in Rhetorik und Wissenschaft wiederum macht von der allgemeineren Voraussetzung Gebrauch, dass das Wahre, mit dem es die Wissenschaft, und das dem Wahren Ähnliche, mit dem es der Rhetor 92
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der aristotelischen Rhetorik, die »diesen Zusammenhang zwischen dem rhetorischen Begriff der Überzeugung und dem Logischen des Wahrscheinlichen« herausgearbeitet hat. 97
Rhetorik Die Rhetorik ist Teil der Dialektik. Die Enthymeme sind rhetorische Beweise, aber weil sie eben Beweise sind, sind sie Schlussverfahren und damit Objekt der Dialektik. 98 Während jene die allgemeinen Prinzipien der Redekunst beschreibt, zielt die Rhetorik auf die Wirkung dieser Redekunst. Die Rhetorik ist – wie die Dialektik – topisch, sie ist auf Schlüsse und Beweise angewiesen, aber sie wird zu einem Teil, zu einem »Schößling« (Rhet. I,2 1356a) der Dialektik, indem sie sich auf ihre Überzeugungskraft konzentriert. In seiner Rhetorik nimmt Aristoteles eine Dreiteilung vor: In den ersten beiden Büchern behandelt er die Heuresis (εὕρεσις), das Auffinden des Stoffes, dann im dritten Buch die Lexis (λέξις), den Stil, die sprachliche Gestaltung, und schließlich am Ende des dritten Buches noch die Taxis (τάξις), die Gliederung des Stoffes bzw. der Rede. Heuresis und Lexis beschreiben Auffindung und Formulierung des Stoffes als zwei nicht zu trennende Aspekte rhetorischer Tätigkeit. Die Rhetorik ist von Aristoteles definiert als »Fähigkeit (τεχνή), das Überzeugende, das jeder Sache innewohnt, zu erkennen« (Rhet. I,2 1355b). Grundlage rhetorischen Schaffens ist also die Auffindung (Heuresis) dessen, was den zu vermittelnden Sachverhalt überzeugend machen kann. Diese Auffindung ist keine Erfindung der Rede angemessener Begründungen, sondern ein Finden dessen, was bereits da ist. König spricht hier von einem »objektiv bestehenden Verhältnis« zwischen dem Redner und den Begründungen. 99 Aufgrund dieses objektiven Verhältnisses ist die Begründung nicht eine mögliche Erfindung, etwas neu zu Konstruierendes, sondern etwas zu Schauendes (θεωρεῖν), dessen der Rhetor ansichtig wird und auf diese Weise nicht erfindet, sondern findet. Das, was er findet, ist die Struktur
zu tun hat, einander nicht grundsätzlich entgegengesetzt sind, sondern im Gegenteil durch ein und dieselbe Fähigkeit getroffen werden.« 97 Vgl. Ricœur, Die lebendige Metapher, S. 18 f. 98 Vgl. Aristoteles, Rhet. I,1 (1355a). 99 König, Aristoteles, S. 49.
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des Arguments, dasjenige, was der zu begründenden These immanent ist, »das Überzeugende, das jeder Sache innewohnt«. Die Auffindung des Stoffes in der Rhetorik ist eng verbunden mit der Argumentationsstruktur der Dialektik. Wie diese geht sie aus von allgemeinen, nicht wissenschaftlichen Meinungen (ἔνδοξα) und erstellt aus diesen anhand von induktiven Beispielen oder deduktiven Enthymemen eine Redestruktur. 100 Wie die Dialektik ist die Rhetorik topisch geprägt, d. h. in Abhängigkeit bereits existierender Sätze und Sprachfiguren. Aristoteles nennt in seiner Rhetorik verschiedene Kriterien, die es bei der Findung des richtigen Stoffes der Rede zu beachten gilt, die Emotionen, die Zuhörer usw. Die Heuresis vollzieht sich in einem Dreieck zwischen dem Redner, dem Publikum und der zu vermittelnden Sache (Rhet I,3 1358a) und gewinnt ihre Qualität durch die genaue Kenntnis dieser drei Faktoren, auf die hin dann passende Enthymeme und Beispiele gefunden werden können. Nicht die Wahrheit, sondern eine der doxastischen Situation angemessene Wahrscheinlichkeit soll dargestellt werden. Diese Wahrscheinlichkeit wird auf das zu vermittelnde Ziel hin formuliert: »Ferner gilt überhaupt das Schwerere mehr als das Leichtere; denn es ist seltener. Andererseits gilt das Leichtere mehr als das Schwerere; es verhält sich nämlich so, wie wir es wünschen.« 101 Diese Formulierung bedeutet keine Abkehr vom Widerspruchsprinzip, beide Sätze sind wahr und besitzen im jeweiligen Bezug ihre Gültigkeit. 102 Nach der Behandlung der Enthymeme und der Topoi kümmert sich Aristoteles im dritten Buch seiner Rhetorik um den Ausdruck, »denn es genügt nicht zu wissen, was man sagen muss, sondern es ist auch notwendig zu wissen, wie man dies sagen muss« (Rhet. III,1 1403b). Rhetorik, so Aristoteles weiter, zielt auf den Schein, die Doxa. Für sie zählt daher nicht nur die Wahrheitsgemäßheit, sondern die Wirkung und ein Absehen auf diese ist notwendig aufgrund der »Schlechtig100 Aristoteles, Rhet. I,2 (1356b): »Die rechte Art der Rhetorik besitzt beide Vorzüge, denn es verhält sich hier etwa schon wie in der Methode dargelegt: es gibt rhetorische Ausführungen von der Art eines Beispiels und solche von der Art eines Enthymems.« 101 Vgl. Aristoteles, Rhet. I,7 (1364a). 102 Vgl. Aristoteles, Rhet. I,1 (1355a): »Unter den übrigen Wissenschaften beweist keine durch Schlüsse Gegensätze; Dialektik und Rhetorik tun dies als einzige. Die wahren Tatsachen allerdings verhalten sich nicht so, sondern stets sind die wahren und besseren von Natur aus leichter zu vertreten und, einfach gesprochen, glaubhafter.«
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keit der Zuhörer« (Rhet. III,1 1404a), der mangelnden Fähigkeit der Zuhörer, den reinen Beweisen und Schlüssen Glauben zu schenken. Eine wirkungsvolle und starke Rede ist ausgezeichnet durch »den sprachlichen Ausdruck und die gedankliche Tiefe« (1404a). In der Poetik hat Aristoteles in den Kapiteln 19–22 die verschiedenen Elemente des sprachlichen Ausdrucks genannt, die grammatischen Elemente, die verschiedenen Redearten (Bitte, Befehl, Frage, Antwort usw.) und den Einsatz von Stilmitteln wie der Metapher. Die Metapher wird von Aristoteles definiert als eine Übertragung bzw. Verschiebung gegenüber dem eigentlichen Ausdruck: »Eine Metapher ist die Übertragung eines Wortes (das somit in uneigentlicher Weise verwendet wird), und zwar entweder von der Gattung auf die Art oder von der Art auf die Gattung, oder von einer Art auf eine andere, oder nach den Regeln der Analogie.« 103
Aristoteles gebraucht den Begriff Epiphora (ἐπιφορά) zur Darstellung der metaphorischen Bewegung. Diese Bewegung vollzieht sich am Nomen (Poetik 21, 1457b), das definiert wird als »zusammengesetzter bedeutungshafter Laut, ohne Zeitelement und ohne dass ein Teil von ihm an sich bedeutungshaft wäre« (Poetik 21, 1457a). Das Nomen – als notwendige Grundlage jeder Semantik – erhält durch die metaphorische Verschiebung eine neue Bedeutung. Indem die Metapher als Bewegung am Nomen begriffen wird, entzieht sie sich jeder festen Definition und macht es in der Konsequenz einer systematischen Betrachtung der Sprache unmöglich, einen metaphernfreien Diskurs aufzubauen. 104 Diese Verschiebungen gegenüber dem eigentlichen, »üblichen« Ausdruck sind deshalb so wichtig, weil sie es sind, die den Schmuck einer Rede ausmachen, »denn die Abweichung vom Gewöhnlichen lässt den Stil erhabener erscheinen«. 105 Die Benutzung ausschließlich üblicher Wörter mag am präzisesten sein, sie scheint 103 Aristoteles, Poetik 21 (1457b): »Μεταφορὰ δέ ἐστιν ὀνόματος ἀλλοτρίου ἐπιφορὰ ἢ ἀπὸ τοῦ γένους ἐπὶ εἶδος, ἢ ἀπὸ τοῦ εἴδους ἐπὶ τὸ γένος, ἢ ἀπὸ τοῦ εἴδους ἐπὶ εἶδος, ἢ κατὰ τὸ ἀνάλογον.« 104 Vgl. Ricœur, Die lebendige Metapher, S. 23: »Einen metaphernfreien Ort, von dem aus man die Metapher und alle sonstigen Redefiguren wie ein dem Blick vorliegendes Spiel betrachten könnte, gibt es nicht.« 105 Vgl. Aristoteles, Rhet. III,2 (1404b): »Von den Substantiva und Verba bewirken die gebräuchlichen die Klarheit der Rede, die anderen Wörter, über die in der Poetik gesprochen worden ist, machen die Rede nicht niedrig, sondern schmuckreich, denn die Abweichung vom Gewöhnlichen lässt den Stil erhabener erscheinen. […] Daher ist es nötig, der Sprache einen fremden Ton zu geben, denn man bewundert das, was ent-
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aber auch banal und diese Banalität gilt es zu durchbrechen durch den Einsatz von Metaphern, also von Begriffen und Wendungen, die eine Verschiebung gegenüber dem Eigentlichen und Üblichen darstellen. Diese Fremdheit darf sich nicht vom Eigentlichen lösen, vom Gedanken, den es auszudrücken gilt. Die Lexis ist nicht ein Äußerliches, das dem eigentlichen Gedanken einer Rede hinzugefügt wird, sondern sie dient auch der Präzisierung des eigentlichen Gedankens: »Es ist daher klar, dass sich unbemerkt ein fremdartiger Ton einstellen wird, wenn jemand sich gut darauf versteht, und der Ausdruck an Klarheit gewinnen wird« (Rhet. III,2 1405a). Aristoteles differenziert zwischen dem Gedanken und seinem sprachlichen Ausdruck, schließlich geht es ihm in seiner Lexis um ein Wie der Rede, das ein bestimmtes Was ausdrücken soll. Aber die Rhetorik nach dem aristotelischen Verständnis bemüht sich nicht um eine äußere Form um ihrer selbst willen, sondern um die dem eigentlichen Gedanken gemäße Form. Dies zeigt auch der Einsatz der Metaphern, wie er in der Poetik beschrieben wird: Wenn die Metapher nicht mehr mit dem Eigentlichen verbunden ist, ist sie ein Rätsel (Poetik 22, 1458a), aber kein Mittel zur Verdeutlichung des eigentlich darzustellenden Gedankens. Die Bildung guter und angemessener Metaphern beruht auf dem »Erkennen von Ähnlichkeiten«, 106 diese bestehen zwischen der uneigentlichen Metapher und dem eigentlichen Gedanken, und die Formulierung dieser Ähnlichkeit ist Formulierung einer neuen Erkenntnis. 107 Aubenque hat die Rhetorik des Aristoteles eine »praktische Anthropologie« genannt. 108 Sie ist insofern eine Anthropologie, weil ihr ein bestimmtes Menschenbild zugrunde liegt, das den Menschen in seiner Sprachlichkeit, aber auch in seiner Emotionalität wahrnimmt. Eines der großen Verdienste des Aristoteles ist es, als erster der Emotionalität einen großen Raum gegeben zu haben. Wenn Rhetorik das fernt ist, und was Bewunderung hervorruft, ist angenehm.« Vgl. auch Aristoteles, Poetik 22 (1458a). 106 Vgl. Aristoteles, Poetik 22 (1459a). 107 Vgl. Aristoteles, Rhet. III,10 (1410b): »Mühelos etwas dazuzulernen bereitet von Natur aus allen Menschen Freude, es sind aber die Worte, die etwas vermitteln, so dass gerade die Worte, die uns neue Erkenntnis verschaffen, die angenehmsten sind. […] So bewirkt am ehesten die Metapher dies, denn wenn man das Alter ein ›Schilfrohr‹ nennt, vermittelte man durch den Gattungsbegriff Verstehen und Erkenntnis. Beides hat ja die Zeit der Blüte hinter sich.« 108 Vgl. Aubenque, Le problème de l’être che Aristote, S. 262.
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Überzeugende einer Sache erkennen und darstellen will, muss sie um die Emotionen wissen und diese auch bewirken können, welche die Sache dem zu Überzeugenden zugänglich machen: »Denn ganz unterschiedlich treffen wir Entscheidungen, je nachdem, ob wir traurig oder fröhlich sind, ob wir lieben oder hassen.« 109 Zu Beginn des zweiten Buches der Rhetorik nimmt die Erforschung der Emotionalität einen großen Raum ein. Hier geht es einerseits um die Selbstdarstellung des Redners als glaubwürdige Person, die emotional den Zuhörer anspricht, andererseits darum, welche Inhalte einer Rede bestimmte Emotionen wecken und wie diese einzusetzen sind. Für die Frage des Verhältnisses von Rhetorik und Philosophie ist aber eine andere Fragestellung entscheidend: Wenn Aristoteles die Emotionalität zum Teil der Rhetorik macht und darauf hinweist, dass die Kommunikation einer Sache darauf angewiesen ist, die Emotionalität des Hörers oder Lesers zu berühren, inwiefern ist dann die Emotionalität auch notwendiger Teil der Philosophie und damit vielleicht sogar eine Einschränkung der Möglichkeit eines rein rationalen Weltzugangs? Aristoteles weist an verschiedenen Stellen auf den nichtrationalen Beginn der Wissenschaft hin: Diese beginnt in der kritischen Analyse nichtwissenschaftlicher Meinungen, die sich erst durch diese Analyse als wissenschaftlich herausstellen können. Diese nichtrationalen, topischen Voraussetzungen sind aber nicht zu verwechseln mit der rationalen Analyse selbst: Wissenschaft ist die rationale Beurteilung der doxastischen Grundlage anhand rationaler Kriterien. Damit kann die Emotionalität nicht Teil der Wissenschaft – und damit auch nicht der Philosophie – sein. Sie ist vielmehr auf Seiten des die Wissenschaft Betreibenden zu suchen und besitzt damit einen indirekten Einfluss auf diesen – wenn auch einen durchaus kritischen. 110 Die Emotionalität kann damit Objekt der Wissenschaft werden – wie es Aristoteles auch durchgeführt hat –, nicht aber Teil der wissenschaftlichen Methode selbst. Aristoteles trennt zwar die wissenschaftliche Erkenntnis selbst von ihrer Darstellung. Dennoch ist ihm natürlich klar, dass Wissenschaft – und damit auch die Philosophie – der Darstellung bedarf. Diese betrifft nicht den Inhalt des Erkannten selbst,
Aristoteles, Rhet. I,2 (1356a). Vgl. Mainberger, Rhetorica I, S. 171: »Die Rhetorik ist somit ein Kapitel der philosophisch-theoretisch fundierten Selbstbescheidung des Menschen – eine Kritik, wie wir heute zu sagen belieben. Die Rhetorik ist Vorspiel und Resultat dieser philosophischen Option.« 109 110
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sondern die Relevanz des Erkannten. Dies macht Philosophie rhetorisch und damit auch emotional. Diese Einbindung der Emotionalität der Rhetorik in die Philosophie lässt sich interessanterweise als erster Schritt zur Auslöschung der Emotionalität in der Rhetorik deuten. Ricœur spricht hier von einem »inneren Konflikt zwischen Vernunft und Gewalt«, 111 der durch die zunehmende Systematisierung und Philosophisierung der Rhetorik nicht gelöst, sondern eingeschläfert wurde.
6.4 Metaphysik Zu Beginn des 6. Buches seiner Metaphysik definiert Aristoteles das Anliegen dieses Werkes und damit auch das Anliegen seiner Ersten Philosophie: »Die Prinzipien und Ursachen des Seienden, und zwar insofern es seiend ist, sind der Gegenstand dieser Untersuchung.« 112 Philosophie besitzt damit für Aristoteles zwei Aspekte: einmal die Betrachtung dessen, was Seiendes bedingt und benennbar macht; zum anderen blickt sie auf die Seiendheit dieses Seienden selbst, auf das »Das« seiner Existenz. Diese beiden verschiedenen Dimensionen der Ersten Philosophie sind auch gekennzeichnet durch ihre unterschiedlichen Verhältnisse zur Dialektik bzw. Rhetorik. Philosophie wird von Aristoteles in einem anderen Sinn als von Platon als dialektisch verstanden. Hatte Platon die Dialektik beschrieben als Vollzug der Philosophie selbst, stellt für Aristoteles die Dialektik die methodische Beschreibung des Weges zur Wissenschaft dar. Inhalte – auch die Inhalte von Wissenschaft – müssen vermittelt werden, und überall da, wo es um Vermittlung geht, bedarf es des Rückgriffs auf dialektische und rhetorische Mittel. 113 Zu Beginn seiner 111 Vgl. Ricœur, Die lebendige Metapher, S. 18: »Am Kreuzungspunkt zwischen dem gefährlichen Vermögen der Beredsamkeit und der Logik des Wahrscheinlichen steht eine Rhetorik, die von der Philosophie überwacht wird. Diesen inneren Konflikt zwischen Vernunft und Gewalt hat die Geschichte der Rhetorik in Vergessenheit gebracht; die ihrer Dynamik und ihres dramatischen Gehalts entleerte Rhetorik wird zum Spielball der Unterscheidungen und Einordnungen.« 112 Aristoteles, Met. VI,1 (1025b). 113 Vgl. Aristoteles, Rhet. III,1 (1404a): »Die Beschäftigung mit sprachlichem Ausdruck jedoch ist in geringerem Ausmaß in jeder Disziplin vonnöten. Es ist nämlich, will man etwas darlegen, durchaus von Belang, ob man so oder so forumuliert.«
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Topik nennt Aristoteles als Ziel seiner dialektischen Erörterungen »die Übung, die Begegnungen mit der Menge, die philosophischen Wissenschaften.« 114 Diese Abhängigkeit der Philosophie von der Dialektik ist aber nicht nur eine Äußerliche der Vermittlung ihrer Inhalte, sondern auch eine, welche die innere Struktur der Philosophie betrifft. 115 Wo die Dialektik ein Gespräch mit einem Kontrahenten strukturiert, bildet die Philosophie ein Gespräch mit sich selbst ab bzw. ein Gespräch des Denkenden über verschiedene Meinungen und Thesen, die er abwägen und dann entscheiden muss. 116 Was die Dialektik in Bezug auf die Meinung durchführt, behandelt die Philosophie auf die Wahrheit hin. 117 Die Philosophie unterscheidet sich von der bloßen Dialektik also nicht durch die Methode, sondern durch das angestrebte Ziel der Erkenntnis: »Die sophistische Kunst nämlich liegt nicht in einer Fähigkeit, sondern in einer Absicht.« 118 Eine Wissenschaft, so Aristoteles, unterscheidet sich von einer Nichtwissenschaft – wie der Dialektik – dadurch, dass sie nicht nur von bloßen Meinungen ausgeht, sondern von wahren Sätzen, ersten Sätzen, deren Interpretation die Wissenschaft zur Wissenschaft im jeweiligen Bereich macht. Aber auch auf diese ersten Sätze muss gemäß den Methoden der Dialektik zugegriffen werden, denn wenn diese Sätze zum Fundament einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung werden sollen, müssen sie diskursfähig und zuallererst beurteilbar sein. 119 Dies gilt auch für die Philosophie, insofern ihr Aristoteles einen wissenschaftlichen Rang zuspricht. Ihre Prämissen können nur dann eine Funktion für die philosophische Wissenschaft besitzen, wenn sie in ein dialektisches Geschehen eingeordnet und damit diskursfähig werden. Philosophie – und im Allgemeinen Wissenschaft – bedeutet denkerischer Nachvollzug der Prinzipien eines Vgl. Aristoteles, Top. I,2 (101a). Vgl. Aubenque, Le problème de l’être che Aristote, S. 300–302. Vgl. auch Mainberger, Rhetorica I, S. 60 f. 116 Vgl. Aristoteles, Top. I,2 (101a): »Für die philosophischen Wissenschaften aber (ist die Dialektik nützlich), denn, wenn wir zu beiden Seiten hin Schwierigkeiten durchgehen können, werden wir leichter an jedem sowohl das Wahre als auch das Falsche erblicken.« Vgl. auch Aristoteles, Cael. II, 13 (294b). 117 Vgl. Aristoteles, Top. I,14 (105b). 118 Aristoteles, Rhet. I,1 (1355b). 119 Vgl. Aristoteles, Top. I,2 (101a): »Ferner ist sie aber für die ersten (Sätze) einer jeden Wissenschaft nützlich: Denn es ist unmöglich, ausgehend von den eigentlichen Prinzipien einer vorliegenden Wissenschaft irgendetwas über diese (Prinzipien) zu sagen, da die Prinzipien allen (anderen Sätzen) vorrangig sind.« 114 115
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Seienden, und die Dialektik ist es, welche die Methode dieses Nachvollzugs darstellt: »Ferner ist die Dialektik aber im Zusammenhang mit den ersten Sätzen einer jeden Wissenschaft nützlich: Denn es ist unmöglich, ausgehend von den eigenen Prinzipien einer vorliegenden Wissenschaft irgendetwas über diese Prinzipien zu sagen, da die Prinzipien gegenüber allen anderen Sätzen erste Sätze sind; es ist dagegen notwendig, sie mit Hilfe der über sie bestehenden anerkannten Meinungen zu untersuchen. Dies aber ist das Eigentümliche oder in höchstem Maße Eigene der Dialektik: Da sie ein Prüfungsverfahren mit Blick auf die Prinzipien aller Disziplinen ist, eröffnet sie einen Weg.« 120
Diese Prinzipien sind keine auf das Seiende wirkenden Kräfte, sondern deren Beschreibungen und damit, so Wieland, »Reflexionsbegriffe«. 121 Diese Reflexionsbegriffe verdanken sich der Durchdringung der Doxa und gliedern diese: »Die Prinzipien sind also bei Aristoteles nichts, was jenseits der Doxa stünde, sondern als Reflexionsbegriffe dienen sie nur dazu, den Bereich der Doxa in sich zu gliedern; d. h. eben, sie über sich selbst zu verständigen. Man hat von diesen Grundlagen aus auch die Möglichkeit, den rhetorisch-dialektischen Stilmomenten in den philosophischen Schriften des Aristoteles gerecht zu werden.« 122
Damit sind die Prinzipien als Bestandteile wissenschaftlicher Argumentation originär in der Doxa verortet, und diese Verortung, so Wieland, ist spürbar im konkreten Vollzug von Philosophie, der sich eben nicht an den Syllogismen orientiert (»ein sehr hartnäckiges und auch heute noch sehr verbreitetes Vorurteil«), sondern seinen Ausgangspunkt in konkreten Dingen der Doxa hat und damit dialektisch ist. 123 In der Tat beschreibt Aristoteles zu Beginn seiner Metaphysik die Liebe zu den Sinneswahrnehmungen und das Sehen als Beginn Aristoteles, Top. I,2 (101a). Wieland, Die aristotelische Physik, S. 202: »Reflexionsbegriffe sind keine Begriffe mit konkreter inhaltlicher Bedeutung, sondern nur Gesichtspunkte, bei deren Anwendung man solche konkreten Begriffe leichter bilden und leichter finden kann.« 122 A. a. O., S. 222 f. 123 A. a. O., S. 216: »Gegeben sind niemals Voraussetzungen, aus denen etwas abgeleitet würde, sondern immer nur konkrete Sachverhalte und Probleme, bei denen nach den zu ihrer Bewältigung notwendigen Voraussetzungen gefragt wird. […] Diese Frühform der Logik zieht bekanntlich nicht aus gegebenen Prämissen eine Conclusio, sondern sie fragt nach den Prämissen, aus denen ein gegebener Satz bewiesen werden kann.« 120 121
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philosophischer Weltdeutung. 124 Die Formulierung von Erkenntnis – auch von philosophischer Erkenntnis – bleibt gebunden an das Erkannte selbst. Diese Bindung wird methodisch in der Dialektik bzw. Topik beschrieben. Auch wenn das Werk Metaphysik erst lange nach dem Tod des Aristoteles seinen Namen erhielt, soll im Folgenden der Begriff »Metaphysik« als Kennzeichnung der Ersten Philosophie des Aristoteles und der darauf aufbauenden Kennzeichnung einer bestimmten Philosophie benutzt werden. Die Metaphysik ist ontologisch, insofern sie von Aristoteles definiert wird als »Wissenschaft, welche das Seiende als Seiendes untersucht« (Met. IV,1 1003a). Der Weg dieser Wissenschaft wird beschrieben durch die Dialektik und durch die »Suche nach den Prinzipien und höchsten Ursachen« (ebd.). Damit verfügt die Metaphysik – wie jede andere Wissenschaft auch – über einen dialektischen Charakter, der methodisch für den Vollzug der Wissenschaft notwendig ist. Dialektik und Philosophie in ihrer dialektischen Prägung vollziehen sich als sprachliche Schlussverfahren im Rahmen einer Logik, die nur innersprachlich existent ist. Die Metaphysik als Erste Philosophie unterscheidet sich nicht in ihrem sprachlichen Vollzug von der Dialektik, sondern in dem, was sie erkennen will – das Seiende selbst: »Sophistik nämlich und die Dialektik behandeln dieselbe Gattung wie die Philosophie, doch unterscheidet sich die Philosophie von der Dialektik durch die Art und Weise ihres Vermögens, von der Sophistik in der Wahl der Lebensweise. Die Dialektik prüft nur das, was die Philosophie erkennt, die Sophistik jedoch erscheint als Philosophie, ist aber keine.« 125
Mesch spricht treffend von einem »Sich-selbst-Überschreiten der Dialektik auf ihre eigenen Ermöglichungsbedingungen«. 126 Metaphysik ist kein Verlassen und keine Überhöhung der Dialektik, sondern ihre Selbstüberschreitung: Indem die Dialektik als Reflexion und Konstruktion des sprachlichen Grundgeschehens nicht nur auf den sprachlichen Vollzug, sondern auch den Ermöglichungsgrund von Sprache blickt und nicht nur auf eine innersprachliche Einheit der Formulierungen zielt, sondern auch auf eine Einheit dessen, was der 124 125 126
Vgl. Met. I,1 (980a). Aristoteles, Met. IV,2 (1004b). Mesch, Ontologie und Dialektik bei Aristoteles, S. 120.
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Formulierung vorausgeht und was die Formulierung zu formulieren sucht, wird sie zur metaphysischen Philosophie. Die Metaphysik als Ontologie »thematisiert Ermöglichungsbedingungen, die in der Dialektik nur unthematisch vorausgesetzt werden«. 127 Dialektik wie Philosophie durchlaufen in ihren enthymemischen und syllogistischen Schlüssen einen sprachlichen Weg, der von der Diversität des Sprachlichen zu einer grundlegenden Einheit führen soll. Diese Einheit ist in der Dialektik die Einheit der Argumente und Schlüsse, 128 in der Metaphysik die Einheit dessen, was die Argumente bezeichnen und die Schlüsse anzielen und zu ergründen suchen. Die Philosophie ist auf dem Wege der Erkenntniserlangung notwendig dialektisch und topisch. Ihre Erkenntnis selbst ist es nicht bzw. nur insofern, als die Erkenntnis sprachlich vermittelt werden soll. Den Philosophen, so Aristoteles in seiner Topik, »kümmert es nicht«, wenn die Erkenntnis, die er gewonnen hat, nicht vermittelt wird, 129 Philosophie als Erkenntnis selbst ist damit unabhängig von der Dialektik, Philosophie als Weg zur Erkenntnis ist dialektisch. Indem die metaphysische Philosophie auf das »Seiende als Seiendes« blicken will, möchte sie etwas thematisieren, was als Allgemeines jeder Dialektik und damit jeder begrifflichen Bestimmung letztlich transzendent ist – und damit auch dem, was der Humanismus als seine Basis anerkennt. Wenn Aristoteles davon spricht, das Seiende als Seiendes zu thematisieren oder das, was dem Seienden an sich zukommt (Met. VI,1 1026a), dann macht er klar, dass sich die Metaphysik nicht nur auf das Wesen des Seins selbst beziehen muss, sondern auch auf die seinem Wesen zukommenden Merkmale, die wiederum bestimmbar sind (Met. IV,2 1005a), aber nicht mit der Wahrheit identisch. Dieser Zwiespalt zwischen einer letztlich begrifflich nicht fassbaren Wahrheit und den der Wahrheit zwar zukommenden, diese letztlich aber nicht aussagenden Begriffen, ist in der
Vgl. a. a. O., S. 125. Vgl. Aristoteles, Top. VIII,14 (164b). 129 Vgl. Aristoteles, Top. VIII,1 (155a): »Bis zum Finden des Topos verläuft nun die Untersuchung des Philosophen und des Dialektikers ähnlich, diese Dinge aber dann anzuordnen und die Fragen zu formulieren, ist dem Dialektiker eigentümlich, denn alles derartige richtet sich auf jemand anderen. Den Philosophen und jemanden, der für sich selbst forscht, kümmert es nicht, wenn das, aufgrund dessen die Deduktion zustande kommt, zwar wahr und bekannt ist, aber vom Antwortenden nicht zugestanden wird.« 127 128
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Metaphysik des Aristoteles nicht lösbar. 130 Die Sprache der Metaphysik ist daher analog, das Sein als Begriff wird ausgedrückt in seiner Bezogenheit auf das eine Sein (»pros-hen-Analogie«). 131 Mit Blick auf die Dialektik bzw. die Rhetorik ist festzuhalten, dass diese Analogie nicht nur eine begriffliche, sondern auch eine ontische ist. Das Sein und sein Ausdruck sind nicht nur epistemologisch, sondern auch ontisch miteinander verbunden: Der Ausdruck eines Seins wird dadurch möglich, dass das Sein in dem wahrnehmbar wird, was ihm zukommt, in seinen Eigenschaften, in dem, was begrifflich fassbar ist. Die Transzendenz des Seins bedeutet nicht eine Überhöhung oder ontische Abnabelung gegenüber dem konkret Seienden, sondern eine epistemologische Transzendierung einzelner Spezifikationen des Seins, die im Sein an sich zusammengefasst werden, welches wiederum ontisch diese Spezifikationen bedingt. Diese Reziprozität ontischer Grundlegung und epistemologischen Nachvollzugs beruht auf der Einheit von Sprache und Sein, die bereits von den Vorsokratikern formuliert worden war und an der die gesamte antike Philosophie nicht rütteln wird. Die Frage nach dem Sein des Seienden zielt, so Aristoteles, auf das Wesen des Seins, die Ousia. 132 Das Wesen ist dasjenige, was dem Sein zugrunde liegt und es bedingt; es mag epistemologisch, in seiner Bestimmtheit, abhängig sein von der Doxa, dem Zufälligen und Akzidentiellen, ontisch ist es unabhängig von ihr. Das Wesen (»Seiendheit«) des Seins ist zwar nur erkennbar durch zufällige Eigenschaften, deren Träger es ist, aber da es eben deren Träger und deren Existenzbedingung ist, ist es auch Bedingung der Möglichkeit einer jeden Erkenntnis: die Doxa ist ein Geschehen, das sich auf dem Grund der Aletheia vollzieht, die Akzidentien und das Zufällige haben nur Bestand und können interagieren, insofern sie Anteil am Sein haben; sie sind Relationen zwischen den Substanzen. Indem die Doxa ontisch 130 Vgl. Angehrn, Der Weg zur Metaphysik, S. 364: »Zwischen der ontologischen Dignität und der epistemologischen Qualität herrscht für spätere Epistemologie keine Konkordanz: Vom Höchsten gibt es ebenso unklares Wissen wie über zweitrangige Wirklichkeit wahre Sätze. Doch bleibt in formalerem Sinn die leitende Intuition erhalten, dass wahres Erkennen sich daran bemisst, wieweit es Wirklichkeit von ihren eigenen Konstitutionsprinzipien her zu vergegenwärtigen vermag.« 131 Vgl. Aristoteles, Met. IV,2 (1003ab): »Man spricht vom Seienden in vielfachen Bedeutungen, doch stets in Beziehung auf Eines und eine Natur, und nicht nach bloßer Namensgleichheit.« 132 Vgl. Aristoteles, Met. VII,1 (1028b): »Die Frage, was das Seiende ist, meint nichts anderes als die Frage, was das Wesen ist.«
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abhängig ist von der Aletheia, ist sie es auch epistemologisch und schafft auf diese Weise eine erkenntnistheoretische Reziprozität bzw. eine unauflösbare Bipolarität: die Aletheia eines Seins ist nur wahrnehmbar über ihre Doxa, über die Eigenschaften, die sie trägt. Umgekehrt ist jedoch wahre Erkenntnis über diese Eigenschaften, über das konkrete Sein nur möglich mit dem Wissen um die Aletheia, einer grundlegenden Wahrheit, einer Einheit und Identität, die jeder Differenzierung und Zerstreuung vorausgeht. 133 Im Unterschied zu Platon schreibt Aristoteles der Doxa – und mit ihr der Dialektik und der Rhetorik – eine für die Philosophie positive Bedeutung zu. So wie die Doxa als der äußere Schein notwendige Grundlage von Wahrnehmung und Erkenntnis ist, ist die Dialektik als Systematisierung dieser Wahrnehmung notwendige Grundlage von Philosophie und – insofern Philosophie vermittelt werden will – angewiesen auf die Rhetorik. Dialektik und Philosophie bedienen sich der gleichen Methodik, Erkenntnisse zu erlangen; sie beginnen beide als Topik in der Beurteilung bestehender Meinungen. Aristoteles setzt aber einen wichtigen Unterschied und damit wird seine Philosophie zu dem, was später als »Metaphysik« bezeichnet werden wird: indem er die offensichtliche Diversität des Seins auf eine grundlegende Identität zurückführt und ihr das Sein zuspricht, da sie Träger dieser Diversität ist, schafft er eine Ebene, die zwar nur wahrnehmbar über das konkrete Sein ist, die diesem aber letztlich transzendent und von diesem ontologisch unabhängig ist. Die Philosophie als Metaphysik schlägt eine Weltdeutung vor, welche die Welt auf eine grundlegende Einheit und Identität zurückführt, die in der Dialektik und Rhetorik nicht ausgedrückt werden, da diese auf der Ebene des Konkreten und Pluralen immer neu eine Einheit anzielen, die sie nicht erreichen können, wenn sie Dialektik und Rhetorik bleiben wollen. Dialektik und Metaphysik bleiben aufeinander verwiesen: Die Dialektik verbleibt auf der Ebene der Doxa und sucht ihre Beschreibung zu systematisieren. Die Metaphysik ist topisch auf diese Beschreibung angewiesen, um sie gleichzeitig zu relativieren. Umgekehrt ist auch die Dialektik auf den Wahrheitsanspruch der Metaphysik angewiesen, da sie sich sonst in einem haltlosen Gezänke verlieren würde, wie es Aristoteles der Sophistik vorwirft.
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Vgl. Aristoteles, Met. III,4 (999a–c).
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Metaphysische Philosophie als nichthumanistische Philosophie
Die für die Differenzierung einer metaphysischen Philosophie im Sinne eines Aristoteles und einer rhetorisch-humanistischen Philosophie im Sinne eines Isokrates entscheidende Grenzziehung ist diejenige, ob der Wahrnehmungsakt selbst ein die menschlichen Subjektivität überschreitendes Geschehen darstellt oder nicht. Die Metaphysik erkennt in diesem Akt ein objektives Geschehen, das den Zugang zu einer Objektivität ermöglicht, die dem Menschen selbst und seiner sinnlichen Wahrnehmung transzendent ist. Demgegenüber erkennen Isokrates und die Sophisten im Erkenntnisakt selbst kein objektives Geschehen, sondern – extrem formuliert im Homo-mensura-Prinzip – ein subjektives: der Mensch als Wahrnehmender ist Herr und Schöpfer des Wahrgenommenen bzw. des Wahrnehmungsaktes, der es hervorbringt. Entsprechend unterschiedlich ist auch der Umgang mit der Rhetorik: Während Aristoteles die Rhetorik auf eine objektive Argumentationstheorie hin auslegt und damit zugunsten der Philosophie und ihrer Wahrheit relativiert, macht die Sophistik die Rhetorik selbst zur Mitte ihrer Philosophie: Die sprachliche Produktion ist auch die Produktion der für den Menschen relevanten Wahrheit. Entsprechend die Einschätzung des Menschen: Während Aristoteles und Platon den Menschen auf eine dem Menschen externe Wahrheit hin deuten und damit auch den Erkenntnisakt der menschlichen Subjektivität ein Stück weit entziehen, weisen Isokrates und die Sophisten ein derartiges Ansinnen als Luftschloß zurück. Nicht der Mensch wird auf die (metaphysische) Wirklichkeit hin gedeutet, sondern die Wirklichkeit wird als menschliche gedeutet. Das Sein ist nicht ein der sinnlichen Wahrnehmung Enthobenes und Unveränderliches, sondern – im Sinne der physis – ein sich Veränderndes und sich Entwickelndes. Entsprechend unterschiedlich ist auch der Bildungsauftrag, der sich aus diesen unterschiedlichen Verständnissen ergibt: Während eine metaphysische Philosophie den Menschen auf eine externe Wahrheit hin bilden will, der Mensch also – platonisch gesprochen – seine Höhle verlassen muss um das Licht zu schauen, das er nie zuvor erblickte, will eine rhetorisch-humanistische Philosophie den Menschen weiterbilden im Sinne des physisGedankens. Es geht einem Isokrates in der Bildung des Menschen darum, dass dieser das in ihm ruhende Potential entfaltet, im Sinne der physis »wächst« und auf die Weise wahrhaft Mensch wird, als der er das zur Entfaltung bringt, was in ihm bereits angelegt ist.
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7. Hellenismus: Krise der Metaphysik – Rhetorizität der Philosophie
7.1 Die materialistische Metaphysikkritik Die kulturellen Umwälzungen, die in der Epoche des Hellenismus den Mittelmeerraum und den Orient erfassten, gingen an der Philosophie und ihren Fragestellungen nicht spurlos vorüber. Alte philosophische Schulen wie die platonische Akademie richteten sich neu aus, neue philosophische Schulen wurden gegründet (Stoa, Epikureer), gleichzeitig kommt es in weiten Teilen der Bevölkerung zu einer Intensivierung der Religiosität. 1 Inhaltlich bedeutete die philosophische Neuausrichtung die Abkehr von einer Metaphysik, wie sie von Platon oder Aristoteles vorgetragen worden war. Diese Abkehr ist nur selten eine direkte Kritik, aber durch die Veränderung der Fundamente der philosophischen Weltdeutung wurden Konsequenzen formuliert, die eine Metaphysik im platonischen oder aristotelischen Sinne unmöglich machten. Die Ausrichtung auf die praktische Lebensführung ist ein offensichtlicher Grundzug der hellenistischen Philosophie. Die Theorie der metaphysischen Philosophie bzw. ihre Ausrichtung auf die theoretische Durchdringung des Seins wird nicht widerlegt, sondern sie ist nicht mehr relevant, weil die Grundfrage eine andere geworden ist: nämlich die des individuellen Glücks bzw. der konkreten Lebensführung des einzelnen Menschen. Theoretische Durchdringung und Deutung des Kosmos messen sich nun an der Fähigkeit, für das praktische Leben relevant zu sein, und sind nicht mehr notwendige Bedingung der Formulierung des Lebensziels. Die Ursachen dieses Paradigmenwechsels sind vielfältig, und es ist unmöglich zu sagen, ob die gesellschaftlichen Veränderungen jener Zeit Ursache oder Folge geistiger Veränderungen waren: Beide Faktoren sind nicht zu trennen und bedingen einander. 2 1 2
Vgl. Rasche, Mythos und Metaphysik im Hellenismus, S. 65 ff. Vgl. Hossefelder, Geschichte der Philosophie 3, S. 25 ff.
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Hellenismus: Krise der Metaphysik – Rhetorizität der Philosophie
Indem sich die Philosophie am konkreten Leben des Menschen orientiert, setzt auch die Deutung des gesamten Kosmos nicht mit Blick auf eine höhere, transzendente Instanz an, sondern mit der Betrachtung des Faktischen und Materialen, somit in der Doxa: »Alles Denken geht von der sinnlichen Wahrnehmung aus oder vollzieht sich jedenfalls nicht ohne diese […] Und allgemein ist in einem Begriff nichts zu finden, dessen Kenntnis man nicht aus sinnlicher Gegebenheit besitzt.« 3
Die menschliche Seele – die ebenfalls material-körperlich gedacht wurde – wurde in der stoischen Philosophie mit einem leeren Blatt verglichen, auf das sich die Wahrnehmungen »eintragen« würden. 4 Sowohl die Stoa als auch Epikur gehen von einem streng materialistischen Weltbild aus, in den sich daraus ergebenden Konsequenzen gibt es allerdings Unterschiede. Die Menge der sinnlichen Eindrücke, so Epikur, erzeugt in der menschlichen Seele »Vorbegriffe«. Ein Vorbegriff (πρόληψις) ist noch keine bewusste Formulierung, sondern das »Gedächtnis des häufig von außen Erschienenen«. 5 Indem im menschlichen Geist diese Vorbegriffe miteinander abgewogen werden, entstehen »Meinungen«, bewusste Begriffe. Diese Begriffe werden nun im Akt der Wahrnehmung mit dem Wahrgenommenen verglichen, im Fall einer Übereinstimmung drücken sie eine Wahrheit aus, im Falle eines Widerspruchs einen Irrtum. 6 Die in der Metaphysik angezielte Objektivität rückt bei Epikur in den subjektiv-menschlichen Akt der Wahrnehmung selbst, mit der Konsequenz, dass die Formulierung dieser Wahrheit nicht mehr als eine bloße Meinung sein kann, die sich den immer neuen Erfahrungen des Sinnlichen stellen muss. Die stoische Erkenntnislehre stimmt weitgehend mit Epikur überein, setzt aber eine wichtige Differenzierung, indem sie zwischen »erkenntnisfähigen Vorstellungen« und »nicht-erkenntnisfähigen Vorstellungen« trennt. Eine erkenntnisfähige Vorstellung (φαντασία) ist eine »Vorstellung, die von etwas Wirklichem ausgeht SVF II 88. Vgl. Aëtios, SVF II 83. 5 Diogenes Laërtios, X,33. 6 Vgl. Epikur, ep. Her. 50–51: »Täuschung und Irrtum aber liegen immer in dem Hinzuvermuteten. […] Der Irrtum käme nicht vor, träfen wir nicht noch eine gewisse andere Bewegung in uns selbst an, die zwar zusammenhängt (mit dem vorstellungsbildenden Begriff), aber doch einen Unterschied aufweist. Durch sie entsteht, wenn sie entweder nicht bestätigt oder widerlegt wird, der Irrtum, wenn sie aber bestätigt oder nicht widerlegt wird, die Wahrheit.« 3 4
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Die materialistische Metaphysikkritik
und entsprechend dem Wirklichen selbst eingeknetet und eingestempelt ist, von einer Eigenart, wie sie von etwas Nichtwirklichem nicht entstünde«. 7 Damit wird die Frage der Objektivität von der Wahrnehmung in das Wahrgenommene verlagert. Der Unterschied zu Epikur ist derjenige, dass die Stoiker davon ausgingen, dass der gesamte Kosmos ein rationales System ist. Wenn nun etwas erkannt wird als Teil dieses rationalen Systems, dann entspricht diese Wahrnehmung der objektiven Wahrheit – die letztlich die des Systems ist. Der von den Stoikern vorgetragene Materialismus hatte zwei Konsequenzen für die Philosophie: Einerseits die Ablehnung einer jeden nichtmaterialistischen Wirklichkeit, wie sie die platonisch-aristotelische Metaphysik als Grundlage der materialen Wirklichkeit beschreibt. Andererseits eine genaue Analyse des material Gegebenen. Der Sinn des Seins, die göttliche Wahrheit, sein Ursprung, ist diesem nicht mehr transzendent, sondern immanent, festgeschrieben im göttlichen Logos, der die Summe aller Substanz ist, und damit nicht mehr darstellt als die Summe seiner (materialen) Teile. Das konkrete Sein wurde nicht mehr in Relation zu einer ihm transzendenten Wirklichkeit gesehen, sondern nur noch als Vollzug seiner selbst. Für die Annahme, aus der Betrachtung der materialen Wirklichkeit sichere Erkenntnisse ziehen zu können, wurden die Stoiker von der skeptischen Akademie scharf kritisiert. Zu Beginn des 3. Jahrhunderts v. Chr. hatte Pyrrhon von Elis die Prinzipien der Skepsis definiert: Da eine sichere Erkenntnis letztlich unmöglich ist, gelte es, sich eines abschließenden Urteils zu enthalten. Dieses Prinzip des Aufschubs, der Epoché (ἐποχή) wurde ausgerechnet von der platonischen Akademie zu einer skeptischen Lehre ausgebaut. In »ProContra-Argumentationen« 8 wurden bestimmte Thesen sowohl widerlegt als auch gestützt, um das Fehlen eines absoluten Kriteriums nachzuweisen. Dieser Kritik suchte die Stoa durch die Entwicklung einer formalen Logik zu begegnen, die den Betrachter in die Lage versetzen sollte, gültige Aussagen zu treffen und sichere Erkenntnis zu formulieren. Die Ausrichtung der hellenistischen Philosophie – seien es Epikureismus, Stoa oder Skepsis – auf eine materialistische Weltdeutung führten zu einer Kritik an der Metaphysik, wie sie von Platon und Aristo7 8
Vgl. SVF II 65. Vgl. Diogenes Laërtios, IV 28; Cicero, acad. 1,45; 2,60; Cicero, orat. 3,80.
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Hellenismus: Krise der Metaphysik – Rhetorizität der Philosophie
teles vorgetragen worden waren. Um diese Kritik einzuordnen, ist es wichtig, darum zu wissen, dass Platon und Aristoteles als Philosophen noch nicht den übermächtigen Stellenwert besaßen wie in späterer Zeit. Eine Abkehr von der Metaphysik bedeutete also keine Abkehr von einer bis dahin dominierenden philosophischen Richtung, sondern ist ein Zeichen einer Neuausrichtung des »Zeitgeistes«, der ein paar Generationen vorher die idealistische Philosophie eines Platon oder Aristoteles geschehen ließ und dann im Hellenismus durch die Materialisierung der Weltsicht zur Kritik an der Metaphysik wurde. Die metaphysische Philosophie zielte darauf, hinter der schwankenden Doxa das Ansichseiende zu entdecken, das Sein selbst, dem jedes Seiende seine Existenz verdankt. Die materialistische Philosophie des Hellenismus blieb auf der Ebene der Doxa und suchte im Wechselspiel des Seienden Aussagen über das Sein zu treffen. Sie zielte damit auf das Relative ab, ohne die Existenz eines Absoluten voraussetzen zu müssen. 9 Gerade in der stoischen Philosophie – die sich immerhin um die Darstellung eines systematischen Weltaufbaus mühte – wird der Unterschied zur Metaphysik deutlich: Der Logos, der den Kosmos im Dasein hält, ist diesem immanent, der Kosmos ist ein in sich geschlossenes, materiales Ganzes, das keine Ursache außerhalb seiner selbst hat. Der Anspruch der Metaphysik, die Wirklichkeit in einer definitiven Weise in eine Sprache überführen zu können, wird im Hellenismus kritisiert oder zumindest nicht akzeptiert. Diese Kritik ist keine Kritik an der sprachlichen Äußerung selbst, sondern an dem, auf was die metaphysische Sprache verweisen will. 10 Konsequenterweise erkennt die Skepsis daher in der Sprache die Letztinstanz und schließt sich eng an die in der schon in der rhetorischen Lehre formulierten Wahrscheinlichkeit an, welche als Kontrapunkt des Wahrheitsbegriffs zu sehen ist.
Krämer, Platonismus, S. 104: »Der Gesichtspunkt des Relativen (πρός τι) tritt beherrschend in den Vordergrund und triumphiert; der des Ansichseienden hingegen wird ihm als bloßer Komplementärbegriff durchweg subordiniert. […] In der Konsequenz dieser erkenntnistheoretischen Wendung liegt es, dass mit der Ausweitung des Relativitätsprinzips zu universaler Geltung […] das Ansichseiende überhaupt nicht mehr selbständig auftritt, sondern gleichsam als ›Ding an sich‹ hinter der Relativität aller Dinge verschwindet.« 10 Vgl. Villwock, Rhetorik und Philosophie im Hellenismus, S. 60 f. 9
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Humanitas
7.2 Humanitas Die verschiedenen philosophischen Richtungen sind gekennzeichnet durch die Abwendung von einer metaphysischen Philosophie, welche die Wirklichkeit auf eine ihr transzendente Wahrheit hin ausgelegt hatte. Kennzeichen der hellenistischen Philosophie ist ihre Hinwendung zur Ethik, somit zum Menschen, der auf eine bestimmte Art und Weise handeln soll, damit er glücklich ist. Unter diesem Vorzeichen einer philosophischen Hinwendung zum Menschen und einer Deutung des Menschen unabhängig metaphysischer Setzungen vollzieht sich ein neues Nachdenken über das, was Menschsein eigentlich ist. Es entsteht im Lateinischen ein neuer Begriff: humanitas, der interessanterweise erstmals in einem rhetorischen Handbuch auftaucht, der Rhetorik an Herennius. 11 Über die Entstehung dieses Begriffs und damit auch über das neue Verständnis des Menschseins erzählt zu Beginn des 2. Jahrhunderts n. Chr. Aulus Gellius in seinen Attischen Nächten: »Diejenigen, die die lateinischen Wörter geschaffen und sie richtig verwendet haben, wollten unter humanitas nicht das verstanden wissen, was der Pöbel darunter versteht und was die Griechen φιλανθρωπία nennen, indem es eine Art Gefälligkeit und Wohlwollen bezeichnet, das sich auf alle Menschen gleichermaßen erstreckt [das wäre humanitas im Sinn der Menschenliebe], sie benannten vielmehr mit humanitas gerade das, was die Griechen παιδεία [erg. Bildung], wir dagegen Bildung und Unterweisung in den wertvollen Wissenschaften (bonae artes) nennen. Die Menschen, die nach diesen aufrichtig verlangen und streben, die sind in vorzüglicher Weise die ›Humanen‹ (humanissimi). Denn das Sorgen um dieses Wissen und sein Erlernen ist von allen Lebewesen nur den Menschen gegeben und darum wurde es humanitas (Menschsein) genannt.« 12
Zwei Aspekte kennzeichnen die humanitas: eine bestimmte menschliche Haltung gegenüber dem anderen Menschen, die von den Griechen Philanthropie genannt wurde, und eine bestimmte Formung des Menschen, die ihm durch die Bildung verliehen wurde – im Sinne der griechischen Paideia. Menschenliebe und Bildung sind die beiden bestimmenden Größen der humanitas, wie sie insbesondere von Cicero
11 12
Vgl. Renaud, Humanitas, 80. Aulus Gellius, Noctae Atticae, XIII,17.
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Hellenismus: Krise der Metaphysik – Rhetorizität der Philosophie
vorgetragen wurde. Die Menschenliebe kennzeichnet eine soziale Dimension des Menschen; um diese zu erfüllen bedarf der Mensch einer gewissen Bildung. Entsprechend sind nur diejenigen Menschen, so Cicero, »die gebildet sind durch die der Menschheit eigentümlichen Künste«. 13 Diese Verbindung eines bestimmten menschlichen Handlungsideals, das auf das Wohlergehen der menschlichen Gemeinschaft ausgerichtet ist und somit als sozial zu kennzeichnen ist, mit dem Bildungsgedanken ist der weiterführende Gedanke gegenüber der griechischen Kultur. Diese Verbindung, so Buck, ist fortan die »zentrale Idee des Humanismus«. 14 Im Kern des römischen Humanismus Ciceros steht bereits die menschliche Sprachlichkeit. Wie zuvor von Isokrates formuliert, ist es diese Sprachlichkeit, die den Menschen als Menschen von den Tieren abgrenzt. So schreibt Cicero in De oratore: »Was aber, um nicht immer an das Forum, die Richterbänke, die Rednerbühne und die Kurie zu denken, was kann in Mußestunden angenehmer und bezeichnender für menschliche Gesittung sein als eine kultivierte, elegante Unterhaltung? Dies eine ist doch unser wesentlichster Vorzug vor den Tieren, dass wir miteinander reden und unseren Gedanken durch die Sprache Ausdruck geben können.« 15
Die Wende zur Sprache führte einerseits zu einer bis dahin unbekannten tiefen Erforschung der Sprache. Andererseits gewann die Rhetorik eine neue Bedeutung im Bildungswesen, da sie es war, die den Menschen in seiner Sprachlichkeit entwickeln und »bilden« konnte. Dies implizierte auch eine neue Einheit der Rhetorik mit der Philosophie. Hatte auch ein Aristoteles die Sprache als konstitutiv für den Menschen erkannt – der ja ζῷον λόγον ἔχον ist –, so geht Cicero nun einen Schritt weiter, indem er diese Sprachlichkeit in bis dahin nicht gekannter Weise zum Objekt der Wissenschaft überhaupt macht.
Vgl. Cicero, De re publica I 17,28. Vgl. Buck, Humanismus, S. 18: »Damit übernimmt die Humanitas die doppelte Funktion, die sie fortan als zentrale Idee des Humanismus ausübt: Sie ist soziale Tugend und zugleich individuelles Bildungsideal; bestimmt das Verhalten zum Mitmenschen und stellt zugleich die Normen eines höheren Menschseins auf, in dem der Mensch erst eigentlich zu sich selbst gelangt.« 15 Cicero, De or. I,32. 13 14
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Rhetorische Philosophie
7.3 Rhetorische Philosophie Die Wirkung der Rhetorik des Aristoteles war weniger gewaltig, als man aus heutiger Perspektive vermuten könnte. Sein Schüler Theophrast war es, der mit seiner Schrift Über den Stil die aristotelische Rhetorik weiterführte. Bereits mit ihm wird eine neue Orientierung der Rhetorik sichtbar: Die Zeit der griechischen Poleis war vorbei, es begann die Zeit des Hellenismus. Die politische Rede, die kurz zuvor noch mit Demosthenes ihren künstlerischen Höhepunkt erreicht hatte, wurde in den von Alleinherrschern regierten Flächenstaaten belanglos. In zwei Feldern jedoch blieb die Rhetorik von Belang: in der Gerichtsrede, die Hermagoras von Temnos im 2. Jahrhundert v. Chr. auf neue rhetorische Fundamente stellte, und in der Stilistik, in der sich die Schule des Aristoteles – an erster Stelle Theophrast – hervortat. Gerade in Zeiten der Hellenisierung weiter Gebiete des Orients war die Stilistik eine wichtige kulturelle Klammer, die Ausdruck der Allgemeinbildung der neuen Weltsprache wurde. Die Stilisierung der rhetorischen Sprache führte zu einem Manierismus, der Kritik hervorrief und im 1. Jahrhundert v. Chr. als übertrieben gekünstelt beschimpft (»Asianismus«) wurde. In dieser scharfen Kritik, die sich an den Idealen der klassischen athenischen Rhetorik orientierte (»Attizismus«) steckt wohl auch die Ursache dafür, dass keine rhetorischen Schriften in direkter Weise erhalten sind, die zwischen dem Tod des Aristoteles und dem 1. Jahrhundert v. Chr. verfasst wurden. 16 Im 2. Jahrhundert v. Chr. war die griechische Rhetorik nach Rom gelangt; 17 um die Wende zum 1. Jahrhundert v. Chr. öffnet in Rom die erste lateinische Rhetorenschule eines gewissen L. Plotius Gallus. Wenige Jahre später werden die beiden ältesten, bis heute erhaltenen lateinischen Lehrbücher verfasst: die Rhetorik an Herennius eines unbekannten Autors (aber lange Zeit Cicero zugeschrieben) und Ciceros Jugendschrift De inventione. Erst Cicero knüpft wieder an Aristoteles an, sein Ziel ist die Einheit von Philosophie und Rhetorik, die damals von Platon zerstört worden sei: »Daher stammt jene so unsinnige, nutzlose und tadelnswerte Trennung gleichsam zwischen Zunge und Gehirn, die dazu führte, daß uns die einen denken und die anderen reden lernten.« 18 16 17 18
Vgl. Fuhrmann, Die antike Rhetorik, S. 37. Vgl. Conley, Rhetoric in the European Tradition, S. 43 f. Cicero, De or. III,61. Vgl. auch a. a. O., III,60: »Und er [erg. Sokrates] entriß den
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Hellenismus: Krise der Metaphysik – Rhetorizität der Philosophie
Cicero anerkennt die große rhetorische Leistung eines Platon; was er ihm – und mit ihm der metaphysischen Philosophie – vorwirft, ist ein Rückzug aus der gesellschaftlichen Verantwortung. Indem Platon und andere Philosophen sich aus der Politik zurückgezogen haben, ja diese sogar verachtet haben, um »in ihrem Gärtlein« ruhen zu können, haben sie den eigentlichen Auftrag von Philosophie verfehlt. 19 Cicero sieht Philosophie und Rhetorik untrennbar miteinander verbunden. Die Rhetorik ist auf die Philosophie angewiesen, weil ein Redner, gerade ein Redner im politischen Kontext, grundlegende Kenntnisse in den Wissenschaften und auch in der Philosophie besitzen muss. 20 Umgekehrt muss allerdings auch der Philosoph rhetorische Grundkenntnisse besitzen, selbst wenn er – diesen Seitenhieb auf die Metaphysik kann Cicero sich nicht verkneifen – »sich nur um die theoretische Erkenntnis der Welt« kümmert: die sprachliche Darstellung ist »ohne jenes Wissen (der Rhetorik) nicht möglich […] eine wirkungsvolle, schöne, dem Geschmack und dem Empfinden des Menschen angepasste Sprache«. 21 Cicero erzählt, dass er den Dialog Gorgias des Platon gelesen habe und sehr erstaunt darüber gewesen sei, dass Platon sich »mit seinem Spott über die Redner selbst als Meister der Beredsamkeit erwies«. 22 Autoren wie Platon oder Aristoteles wird eine große rhetorische Fähigkeit zugesprochen und damit auf die rhetorische Prägung und Durchwirkung der philosophischen Texte hingewiesen. Cicero zielt auf eine neue Einheit von Rhetorik und Philosophie, aber diese Einheit ist – im Unterschied zu Aristoteles – eine solche, die sich aus dem universalen Anspruch der Rhetorik ergibt, die letztlich im neuen humanistischen Weltbild begründet ist. 23 Cicero weist immer wieder auf die Ubiquität der Vermittlung Männern, die das, was wir untersuchen, betrieben, behandelten und lehrten, obwohl sie einen Namen trugen, da jegliche Erkenntnis höchste Werte und die praktische Beschäftigung mit ihnen Philosophie hieß, diesen allgemeinen Titel und trennte in seinen Unterredungen die Wissenschaft des philosophischen Erkennens von der des wirkungsvollen Ausdrucks, obwohl sie in der Sache doch zusammenhingen.« 19 Vgl. Cicero, De or. III 64. 20 Vgl. Cicero, De or. I,20: »Niemand darf hoffen, ein Redner im wahren Sinne des Wortes zu sein, wenn er nicht gründliche Kenntnisse von allen Wissenschaften und von den großen Problemen besitzt.« 21 Vgl. Cicero, De or. I,54. 22 Vgl. Cicero, De or. I,47. 23 Cicero, De or. III,76: »Die wahre Redekunst jedoch ist so umfassend, dass sie den Ursprung, die Auswirkung und Abwandlungen aller Dinge, Tugenden und Pflichten […] in sich schließt.«
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Rhetorische Philosophie
von Wissen hin. 24 Als praktisch orientierter Mensch hat er kein Interesse an einem theoretischen Wissen um seiner selbst willen. Philosophie, so Cicero, zielt auf das praktische Leben des Individuums und der Gesellschaft, und diese Ausrichtung impliziert auch die notwendige Bindung an die Rhetorik. Die basale Einheit, auf die Philosophie abzielt, ist nicht mehr eine ideale oder transzendente der Metaphysik, sondern der consensus gentium, die Übereinkunft der Völker, bzw. der consensus omnium(, und damit auf der Ebene angesiedelt, die der Doxa entspricht. Hat Cicero hin und wieder Seitenhiebe gegen die metaphysisch-theoretische Philosophie gesetzt, 25 so wird daraus bei Quintilian, dem ersten bestallten Rhetorik-Professor der Antike, eine vernichtende Kritik, die gerade das XII. Buch seiner Institutio oratoriae durchzieht. Wie Cicero bedauert er den Verlust der Einheit von Rhetorik und Philosophie und wirft den Philosophen vor, sich aus der gesellschaftlichen Relevanz verabschiedet zu haben. Zugleich würden die Philosophen unsinnigerweise die Relevanz der Rhetorik für die Philosophie unterschätzen: »Gibt es denn unter den drei Teilen, in die ja die Philosophie zerfällt, Naturphilosophie, Moralphilosophie und Logik, auch nur einen, der nicht mit der Aufgabe des Redners in Verbindung steht?« 26 Philosophie ist auf die Rhetorik angewiesen; wenn sie vermitteln und überzeugen will, dann kann sie das nicht aus eigener Kraft, »sondern mit der Waffe der Rhetorik« 27. Viele Philosophen würden sich mit unnützen Dingen beschäftigen und dann heucheln, etwas Wichtiges entdeckt zu haben: »Philosophie kann […] man heucheln, Beredsamkeit nicht.« 28 Mit dieser Aussage kehrt Quintilian den bisherigen Wissenschaftsbegriff um: nicht mehr die Theorie, sondern die Praxis liefert das Fundament gültiger Aussagen. Indem die Beredsamkeit also solche zum Ausdruck der ObjekHetzel, Die Wirksamkeit der Rede, S. 85, Anm. 32: »Das Werk Ciceros ließe sich vor diesem Hintergrund als Pendant zu frühromantischen und frühidealistischen Versuchen einer Versöhnung zwischen Mythos, Literatur und Rhetorik einerseits und Philosophie andererseits lesen.« 25 Vgl. Cicero, De or. III, 79. 26 Quintilian, Inst. or. XII 2,10. 27 Vgl. Quintilian, Inst. or. XII 2,5. 28 Vgl. Quintilian, Inst. or. XII 3,12: »Die anderen waren in ihrer Faulheit anmaßender, indem sie plötzlich die Stirn in ernste Falten legten und den Bart wachsen ließen, als hätten sie die Lehren der Redekunst verachten gelernt, und dann eine kurze Weile in den Philosophenschulen saßen, um von nun an, in der Öffentlichkeit griesgrämig, zu Hause ausgelassen, durch die Verachtung aller anderen Menschen um Ansehen buhlen; Philosophie kann man nämlich heucheln, Beredsamkeit nicht.« 24
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Hellenismus: Krise der Metaphysik – Rhetorizität der Philosophie
tivität wird, verliert der Inhalt des Gesagten seine philosophische Relevanz bzw. seine Wahrheitsfähigkeit. Seneca, Zeitgenosse Quintilians, sucht die Rolle der Rhetorik zugunsten der Philosophie zu relativieren. In seinem 88. Brief schreibt er über die Artes liberales, die »Freien Künste«, zu denen neben den mathematischen Wissenschaften auch Grammatik, Dialektik und Rhetorik gehören. Diese seien »Vorschule, nicht Leistungen« (88,1), Vorbereitung auf die Weisheit, aber nicht mit ihr identisch. Auch wenn die freien Künste »frei« hießen, so gebe es doch nur eine einzige Wissenschaft, die wirklich frei machen würde: »das ist die der Philosophie, erhaben, stark, hochherzig« (88,2). Mit Blick auf die »Sprachwissenschaften« fügt er hinzu: »Was davon bahnt den Weg zur sittlichen Vollkommenheit? Das Skandieren von Silben, Sorgfalt der Wortwahl, Erinnerung an Sagen, Bau und Abmessung von Versen! Was davon beseitigt die Furcht, nimmt hinweg die Begehrlichkeit, zügelt die Sinnlichkeit?« (88,3) Die Aufgabe der freien Wissenschaften liegt in der Vorbereitung zur Sittlichkeit, nicht in ihrer Durchführung. 29 Am Ende des Briefes setzt Seneca zu einem Rundumschlag an: sowohl Rhetorik als auch jede Philosophie, die sich nicht an der praktischen Sittlichkeit orientiert, ist überflüssig, ausdrücklich auch jede Philosophie, die Wert auf rhetorische Beredsamkeit legt. Er geht verschiedene Philosophen wie Parmenides oder Protagoras durch und markiert ihre ontologischen Fragestellungen als letztlich rhetorisches Geschwätz, das auf den »überflüssigen Haufen der freien Wissenschaften und Künste« 30 gehört. Vgl. Seneca, Ep. 88,20: »Warum also unterrichten wir unsere Söhne in den freien Wissenschaften und Künsten? Nicht weil sie sittliche Vollkommenheit vermitteln können, sondern weil sie die Seele darauf vorbereiten, die sittliche Vollkommenheit in sich aufzunehmen.« 30 Vgl. Seneca, Ep. 88,42–45: »Die Philosophen – wie viel Überflüssiges schleppen sie mit sich, wie viel, was mit praktischem Nutzen nichts zu tun hat. Auch sie haben sich auf Silbenstechereien und der Konjunktionen und Präpositionen Eigentümlichkeiten eingelassen und wollen nicht zurückstehen hinter Grammatikern. […] Was immer an deren Wissenschaft überflüssig war, haben sie in die ihre übernommen. So war der Erfolg, dass sie besser zu reden verstehen als zu leben. Höre, wie viel Unheil verursacht allzu große Spitzfindigkeit und wie abträglich sie der Wahrheit ist. Protagoras behauptet, jeden Sachverhalt könne man auf zweierlei Weise erörtern mit gleicher Berechtigung. […] Parmenides behauptet, von dem, was zu sein scheine, existiere überhaupt nichts. Zenon von Elea verwirft alle Beschäftigung mit dem Problem: er behauptet, nichts existiere. Mit nahezu denselben Fragen beschäftigen sich die Eretriker und die Akademiker, die eine neue Wissenschaft eingeführt haben – das Nicht29
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Durchdringung der Sprache
Das gegen die Freien Künste gerichtete Plädoyer des Seneca erscheint auf den ersten Blick unversöhnlicher als es eigentlich ist: Seneca ist sich durchaus der Tatsache bewusst, dass die Freien Künste eine wichtige Grundlage der Philosophie sind, wie auch umgekehrt Quintilian darum weiß, dass eine Rhetorik, die zum Selbstzweck wird, zur gedankenlosen Spielerei wird. Beiden geht es – aus einer mehr rhetorischen oder mehr philosophischen Perspektive – um die Sittlichkeit des Menschen und um eine Entfernung all dessen, was dafür nicht relevant ist. Quintilian unterstreicht die Bedeutung der Sittlichkeit für die Bildung, Seneca sieht die Bildung als wichtige Vorbereitung, ein sittlicher Mensch zu werden. Beide sind sich einig in der Ablehnung einer (metaphysischen) Philosophie, die sich mit ontologischen Fragen beschäftigt und eine Theoretisierung vorantreibt, die nutzlos und überflüssig ist. Sie sind damit Vertreter einer humanistischen Philosophie.
7.4 Durchdringung der Sprache Grammatik Die Betrachtung und Analyse von Sprache ist zentrales Geschehen stoischer Forschung. Die Abkehr von einer transzendenten Wahrheit war gleichzeitig eine Zuwendung an eine der Welt immanente Wahrheit. Diese wurde im Logos ausgedrückt, sprachlicher und vernunftgemäßer Ausdruck der Weltordnung. Sprache war nicht nur eine Beschreibung des Kosmos, sie war einzig möglicher Ort der rationalen Welterfassung. Jede Erkenntnis war sprachlich und damit war die Erforschung der Sprache gleichzeitig Erforschung menschlicher Erkenntnisfähigkeit. Die stoische Sprachlehre unterschied drei verschiedene Ebenen der Sprache: das Bezeichnende (σημαῖνον), das Bezeichnete (σημαινόμενον) und den Gegenstand (τυγχάνον). Indem die Bedeutung des Begriffs differenziert wird vom Gegenstand selbst, ist es den Stoikern möglich, eine sprachinterne Logik zu entwerfen und aus der Sprache ein in sich geschlossenes System zu machen.
wissen. Das alles wirf auf jenen überflüssigen Haufen der freien Wissenschaften und Künste.«
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Hellenismus: Krise der Metaphysik – Rhetorizität der Philosophie
Neben der lautlichen, als variabel empfundenen Ebene des Begriffs selbst, wird eine weitere Bedeutungsebene eingeführt, die durch ihre Unveränderlichkeit mögliche Erkenntnisgrundlage ist. 31 Auf dieser Grundlage konnte eine Grammatik im heutigen Sinne entstehen. Grammatik und Logik sind in der stoischen Sprachlehre letztlich identisch, da sie beide sprachliche Gesetzmäßigkeiten beschreiben und die Erkenntnis »logischer« Zusammenhänge, die über die Sprache hinausgehen, für den Stoiker einen Widerspruch in sich darstellt. Die Stoiker erklären die verschiedenen Wortarten als »Schräge« oder »Schieflage« eines ursprünglichen Nomens, dessen ursprüngliche Form der Nominativ ist. Dessen Ursprung wird mit einem »Fall« (casus/τύπος) umschrieben, da er »vom Gedanken in die Seele gefallen sei«: wenn eine Sache, an die man denkt, als Begriff geäußert wird, dann wird er senkrecht fallen gelassen, »wie ein Griffel, der von oben her fallen gelassen worden ist und senkrecht feststeckt«. 32 Die anderen »Fälle«, Akkusativ, Dativ usw. sind Veränderungen an diesem gerade stehenden Begriff. Sprache wird als System begriffen, das unabhängig metaphysischer Setzungen ist, aber auch über eine bloße Analyse des konkreten Gebrauchs hinausgeht, und nur so zu einer Grammatik werden konnte. Dieser Vorgang der Rückführung auf ein Ur-Wort, von dem sich andere Bedeutungen weiterentwickeln, wird nicht nur systematisch in der Grammatik, sondern auch historisch in der Etymologie vorangetrieben: die ersten Worte sind die Laute, mit denen die Menschen die zu bezeichnenden Dinge nachgeahmt haben. Aus diesen ursprünglichen Lauten haben sich dann weitere Begriffe entwickelt. 33 Die Einzelheiten der stoischen Grammatik sind für die Frage des Verhältnisses von Rhetorik und Philosophie nicht relevant. Relevant ist aber die Entstehung der Grammatik als solcher und die Art ihrer Durchführung. Rhetorisch relevant ist ihre Fähigkeit, Sprache nicht nur zu rezipieren, sondern – aufgrund der neuen Kenntnis der Regeln der Sprache – neu schaffen zu können und die Entstehung der Sprache nachvollziehen zu können. Philosophisch relevant ist ihre Fähigkeit, menschliche Erkenntnis an Sprache zu binden und diese Erkenntnis ist metaphorisch, weil es die Sprache
31 32 33
Vgl. Hossenfelder, Philosophie der Antike 3, S. 76 f. Vgl. Ammonios, In Arist., De interpr. 43,9–15 (Dillon). Vgl. Martianus Capella, 358–360.
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Durchdringung der Sprache
auch ist, die sich in sich verändert und so zur Grammatik werden kann – wie es die Beschreibung der »Fälle« belegt. 34
Die Tropen Aristoteles hatte die Metapher definiert als »Übertragung« eines Begriffs, als Verschiebung zu einem neuen Begriff. 35 In der Folgezeit entsteht eine breit angelegte »Tropenlehre«: Aristoteles hatte die verschiedenen »tropischen« Bewegungen der Begriffe als metaphorisch zusammengefaßt, in der Stoa werden diese verschiedenen »Tropen« gegenseitig abgegrenzt und definiert, die Metapher wird zu einer »Trope« von vielen. Die genauen Ursprünge der Tropenlehre sind historisch nicht nachvollziehbar. Die Stoa hatte ja in der etymologischen und grammatischen Analyse der Werte bestimmte »Bewegungen« identifziert. Barwick hat diese Bewegungen mit den späteren tropischen Bewegungen gleichgesetzt bzw. in diesen den Ursprung der Differenzierungen der einzelnen Tropen gesehen. 36 Als Beleg führt er die augustinische Schrift De dialectica an, in denen drei tropische Bewegungen (similitudo, vicinitas, contradictio) als etymologische Bewegungen der Begriffsentstehung erwähnt werden, 37 und vergleicht diese mit einer Schrift des Ps.-Plutarch, De Homero, in der acht Tropen genannt werden, die Barwick den Bewegungen der augustinischen Schrift genau zuordnet. Barwick ist für diese These kritisiert worden, weil zum einen fraglich ist, wie eng Augustinus sich an die stoische Wortbildungslehre binden lässt, 38 zum anderen die Zuordnung der Tropen aus De Homero auf die augustinische Schrift nicht durchzuhalten ist. 39 Trotz dieser Aporien scheint die von Barwick angezeigte Richtung korrekt zu sein, die Ursprünge der Tropenlehre in der stoischen Grammatik bzw. Etymologie zu suchen. Vgl. Villwock, Rhetorik und Philosophie im Hellenismus, S. 68: »Zu dem in der wahrnehmbaren Ausdrucksgestalt Vorentworfenen tritt dann ein neuer Inhalt gegenwendig hinzu. So biegt die Dialektik schließlich wieder zu ihren rhetorischen Ausgangspunkten zurück, indem sie bei der Untersuchung der Wortanomalien die metaphorische Sinnspannung als deren Kern entdeckt.« 35 Vgl. Aristoteles, Poetik 21 (1457b). 36 Vgl. Barwick, Probleme der stoischen Sprachlehre und Rhetorik. 37 Vgl. Augustinus, Dial. 6.10. 38 Vgl. Ruef, Augustin über Semiotik und Sprache, S. 134 f. 39 Vgl. Hilgruber, Die pseudoplutarchische Schrift De Homero, Teil 1, S. 68. 34
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Verschiedene antike Autoren sprechen zumindest vage von einer derartigen Verbindung der Tropen zur Grammatik, 40 und wenn Diogenes Laërtios in seiner Schilderung der stoischen Sprachlehre schreibt, dass »die Anregung zum Denken teils in zufälligen Umständen, teils in der Ähnlichkeit, teils in der Analogie, teils in der Versetzung, teils in der Zusammensetzung, teils in der Entgegensetzung« 41 liegt, dann treten die Parallelen zwischen der stoischen Lehre über die Entstehung der Sprache und der Tropenlehre immer deutlicher zum Vorschein. Villwock lenkt den Blick auf die stoische Betrachtung des Tons, auf die Stimme der Sprache. Die in der Etymologie gefundenen Grundworte sind Wiederholungen dessen, was die Stimme als Seiendes ausdrückt bzw. als Stimme ist. Indem sie Wiederholungen der Stimme sind – beruhend auf dem tropischen Prinzip der similitudo –, sind sie selbst tropisch. 42 Neben den grammatisch-etymologischen Ursprüngen der Tropenlehre kennt die Rhetorik auch rein poetologische Gründe für die Erstellung der Tropen. Bereits Aristoteles hatte davon gesprochen, dass Metaphern eingesetzt werden, um die Sprache der Banalität zu entziehen. Welcher Ursache der stoische Autor Priorität einräumt, ist wohl abhängig von der persönlichen Beurteilung des Verhältnisses von Philosophie und Rhetorik. Gleiches gilt für die Frage, ob die Analyse der Entstehung von Sprache oder ihrer rhetorischen Wirkung im Vordergrund steht: Während Cicero die Entstehung der Tropen begründet mit dem »Zwang des Mangels und der Enge«, der dann erst »das Vergnügen und den Reiz vermehrt« 43 habe, nennt Quintilian die Vgl. Quintilian, Inst. or. I 8,l6; Sextus Empiricus, Adv. Math. I,248 f. Vgl. auch Volkmann, Die Rhetorik der Griechen und Römer, S. 416 f. 41 Diogenes Laërtios, II,52. 42 Vgl. Villwock, Rhetorik und Philosophie im Hellenismus, S. 67: »[…] das eigentliche Wort, die πρώτη φωνή, gehört als solches insofern bereits in den tropischen Bereich, als es selbst nach dessen Grundkategorie, nämlich per similitudinem von Laut und Inhalt gebildet ist. Es gibt also keine nichttropische Eigentlichkeit: das eigentliche Wort als terminus a quo der Tropenerzeugung muss seinerseits den Tropen zugezählt werden. Die Onomatopöie ist das Prinzip der Urworte und zugleich der erste Tropus.« 43 Vgl. Cicero, De or. III 38,155: »Sie hat der Zwang des Mangels und der Enge hervorgebracht, dann aber das Vergnügen und der Reiz vermehrt. Denn wie man das Gewand zuerst erfand, um sich der Kälte zu erwehren, dann aber anfing, es auch anzuwenden, um dem Körper Schmuck und Würde zu verleihen, so wurde auch die Übertragung eines Wortes aus Mangel eingeführt, doch zum Vergnügen häufig wiederholt.« 40
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grammatische und die poetologische Herleitung des Tropus als gleichwertig: »Es ist also ein Tropus eine Redeweise, die von ihrer natürlichen und ursprünglichen Bedeutung auf eine andere übertragen wird, um der Rede als Schmuck zu dienen, oder, wie die Grammatiklehrer meist definieren, ein Ausdruck, der von der Stelle, bei der er eigentlich gilt, auf eine Stelle übertragen wird, wo er nicht eigentlich ist.« 44
Die rhetorischen Autoren entwickeln keine Systematik der Tropen, Quintilian beklagt sich bereits über das entsprechende »unentwirrbare Ringen zwischen den Sprach- und Literaturlehrern untereinander sowie gegenüber den Philosophen über die Fragen, welche seine Gattungen, welches seine Arten sind, wie groß die Anzahl der Tropen sei und was unter die einzelnen Gruppen gestellt werden soll«. 45 Meistens werden die einzelnen Tropen aufgezählt und anhand literarischer Beispiele erläutert. Die Anzahl der Tropen divergiert: Quintilian nennt 14 Tropen, Tryphon, ein griechischer Grammatiker aus dem 1. Jahrhundert v. Chr., dessen Rhetorik in der Antike stark rezipiert wurde, zählt (mit Untergruppen) 38 Tropen, die ebenfalls populäre Rhetorik an Herennius kommt auf 10 Tropen. An der Spitze der Listen stehen oft die Onomatopöie (ὀνοματοποίησις/nominatio), die Selbstbildung eines Wortes, das Urwort, sowie die Katachrese (κατάχρησις/denominatio), die für einen fehlenden Begriff eingefügt wird. Beide Figuren, die streng genommen selbst keine Tropen sind, beschreiben die beiden Pole der tropischen Bewegung: den eigentlichen und den uneigentlichen Begriff. Wichtigste Tropen, die in den meisten oder allen Listen erwähnt werden, sind die Metapher (μεταφορά), die auf dem Prinzip der Ähnlichkeit (Similarität) zwischen eigentlichem und uneigentlichem Begriff beruht; die Ironie (εἰρωνεία), die wie die Metapher einen Abstand zwischen den Begriffen beschreibt und als uneigentlicher Begriff den eigentlichen auf der assoziativen Ebene negiert; ferner die Metonymie (μετωνυμία), bei denen sich die Begriffe »berühren« (Kontiguität), und die Synekdoche (συνεκδοχή, Teil-Ganzes-Prinzip). Weitere Tropen, die genannt werden, sind Allegorie (ἀλληγωρία), Ainigma (αἴνιγμα), Ellipse (ἔλλειψις), PeriQuintilian, Inst. or. IX. 1,4: »Ist igitur τρόπος sermo a naturali et principali significatione translatus ad aliam ornandae orationis gratia, vel, ut plerique grammatici finiunt, dictio ab eo loco, in quo propria est, translata in eum, in quo propria non est.« Vgl. auch a. a. O., VIII 6,5–6; Isidor, Or. I 37,1 (PL 82). 45 Quintilian, Inst. or. VIII 6,1. 44
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phrase (περίφρασις), Anastrophe (ἀναστροφή), Hyperbaton (ὑπερβατός), Pleonasmus (πλεονασμός) oder Metalepse (μετάληψις). Diese Tropen werden teilweise sehr unterschiedlich von den einzelnen Rhetoren definiert, dazu sind auch die Grenzziehungen zwischen den Tropen nicht immer eindeutig. Die Tropenlehre ist Teil der rhetorischen Elocutio, also der Konstruktion der Rede. Trotz dieses konstruktiven Grundzugs sind die Tropen jedoch rezeptiv: sie werden in der Literatur gefunden und dann neu »re«-konstruiert in der Rede. Die rhetorischen Autoren sind sich einig, dass der Einsatz von Tropen Teil der Alltagssprache ist: Jeder Mensch ist in seiner Rede darum bemüht, spannend und abwechslungsreich zu sprechen. Die Rhetorik versucht also – anhand der Literatur – ein normales Sprechverhalten zu katalogisieren und damit für den rhetorischen Gebrauch greifbar zu machen. Die Metaphorik der Sprache ist jedoch nicht nur darin begründet, abwechslungsreich zu sprechen, sondern ihr bereits selbst immanent. Wenn das Sprechen die Nachahmung der Natur, ja dieses Nachahmen den Grundakt menschlichen Denkens darstellt, dann ist jedes Sprechen per se metaphorisch. Pohlenz beschreibt die Nachahmung der Natur – das ὁμολογουμένως τῇ φύσει ζῆν – als das zentrale Prinzip der stoischen Philosophie. Die damit verbundene Kritik an der Metaphysik impliziert auch ein anderes Verständnis von Wirklichkeit, die aus »einer Macht, die unser Wesen gestaltet« zur Norm wurde, »an die wir uns anzuschließen« haben. 46 Villwock erkennt in dieser Formel »den Vorgriff, von der her die ganze Sprachbetrachtung rhetorisch ausgerichtet« wird. 47
Die Entstehung der Exegese Die intensive Beschäftigung mit der Entstehung und der Funktion von Sprache bedeutete gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit den sprachlich fixierten Kulturgütern, in besonderer Weise den Epen Homers, die nicht nur Teil des Bildungskanons waren, sondern über dessen Kenntnis Bildung definiert wurde. In diesen Texten fanden sich viele Stellen, die als schwer verständlich oder sogar anstößig galten. Die immer stärkere Tendenz der damaligen Zeit, den Logos zu vergöttlichen und religiös zu deuten, mag das Ansinnen verstärkt 46 47
Vgl. Pohlenz, Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, Bd. 1, S. 117. Vgl. Villwock, Rhetorik und Philosophie im Hellenismus, S. 68.
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haben, den Logos in den Werken Homers durch eine rationalisierende Auslegung von allem zu befreien, was diesem nicht angemessen schien. Die frühe Stoa begann anhand der alten mythischen und epischen Texte mit der Entwicklung einer Exegese, weniger aus einem bloß apologetischen Ansinnen heraus, als vielmehr im Bewusstsein, dass die Rationalisierung von Sprache nicht vor den sprachlichen Zeugnissen schlechthin halt machen darf und eine bis dahin übliche wörtliche oder literale Sinndeutung nicht hinreichend ist. Das entscheidende Motiv der Entstehung der Exegese in der frühen Stoa ist damit nicht moralischer, sondern sprachwissenschaftlicher Natur. 48 Bereits die Gründer der Stoa, Zenon von Kition, Kleanthes und Chrysippos, haben die alten Mythen – insbesondere Homer – durch die Etymologie auf ein rationales Fundament zurückgeführt, getragen von der Überzeugung, nur auf diese Weise das Wesen der in den Schriften erwähnten Göttern fassen zu können. In der Stoa bildeten sich zwei verschiedene Strömungen der Exegese heraus, die beide eine andere Betonung der Rationalität darstellen: zum einen in der exegetischen Rückführung auf metaphysische oder kosmologische Wahrheiten, zum anderen in der Rückführung auf historische oder geographische Fakten. 49 Die frühe Stoa sprach bei diesem Verfahren von einer Hyponoia (ὑπόνοια), einer »Vermutung«, der Unterstellung eines unter der Oberfläche liegenden Sinnes. Ältere Gewährsleute für diesen Gebrauch des Wortes Hyponoia sind Xenophon und Platon: Xenophon tadelte in seinem Symposion (Symp 3,6) die Dichtersänger, dass sie bei ihrem Vortrag die Hyponoia des Textes nicht erfassen würden, Platon möchte in seiner Politeia die Texte Homers aus der Erziehung verbannen, gleichgültig, ob diese Texte »die Hyponoia enthalten oder nicht« (Pol. 378d). Die Hyponoia kennzeichnet also das unter der Formulierung Liegende, das eigentlich Gemeinte, das es freizulegen gilt. Dem steht die aus der Rhetorik stammende Allegorie (ἀλληγορία) als verwandter Begriff gegenüber, der sich bis zum 1. Jahrhundert n. Chr. für das exegetische Verfahren durchsetzt. Grob lässt sich sagen, dass die Hyponoia eher den objektiven Sinn eines Mythos kennzeichnet, während die Allegorie sich eher auf die (rhetorische) Form der Darstellung bezieht. 50
48 49 50
Vgl. Buffière, Le mythes d’Homère, S. 140. Vgl. Brisson, Einführung in die Philosophie des Mythos, S. 63 f. Vgl. Klauck, Allegorie und Allegorese, S. 44.
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Inhaltlich wird die Allegorie als Trope bereits in der frühen Rhetorik beschrieben, als Begriff taucht sie wohl erstmals im 1. Jahrhundert v. Chr. auf, bei Philodemos von Gadara (Rhet. 4,22 f.). Cicero, der Philodemos wohl gekannt hat, spricht in seinem Orator (Or. 27,94) bei der Allegorie von einer in der griechischen Rhetorik gebräuchlichen »Redeänderung«, die aus mehreren Metaphern besteht und den »ganzen Charakter der Rede ändert«. Quintilian hat in seiner Institutio oratoriae die Allegorie als Trope in ihren verschiedenen Aspekten beschrieben. Er übersetzt den griechischen Begriff mit inversio (Umkehrung) und nennt sie einen »Wortlaut, der entweder einen anderen oder gar zuweilen entgegengesetzten Sinn hat«. 51 Die Metapher als uneigentlicher Ausdruck des Eigentlichen ist zentral für das Verständnis der Allegorie. In der reinen Form ist die Allegorie eine »Folge von Metaphern« 52 oder »erfolgt meist in durchgeführten Metaphern«: 53 Quintilian nennt hier eine Ode von Horaz, in der ein Schiff in schwere See gerät. Der Inhalt der Ode ist in sich stimmig, kann (und soll) aber als Bild für die Gesellschaft gesehen werden, die in schwere Unruhe gerät: Die Kenntnis einer einzelnen Metapher in der Formulierung und die Abhängigkeit der gesamten Formulierung von dieser Metapher macht sie zur Allegorie, zu einer sekundären Figur, die auf die »primäre Figur« der Metapher folgt. 54 Neben dieser reinen Form bespricht Quintilian auch eine gemischte Form, das Rätsel und die Ironie als allegorische Ausdrucksform. Diese Komplexität des rhetorischen Allegoriebegriffs wird nicht zusammengehalten vom Begriff oder der Sprachfigur selbst, sondern vom Hörer: Dieser erkennt in der Formulierung die Allegorie und schafft den »metaphorischen« Transfer zum Eigentlichen. 55 Einen wichtigen Meilenstein in der Weiterentwicklung bzw. Begründung der Entwicklung der Allegorie zur allegorischen Textauslegung Quintilian, Inst. or. VIII 6,44: »[…], quam inversionem interpretantur, aut aliud verbis aliud sensu ostendit, aut etiam interim contrarium.« 52 Quintilian, Inst. or. IX 2,46: »[…] quem ad modum ἀλληγορίαν facit continua μεταφορά, […].« 53 Vgl. Quintilian, Inst. or. VIII 6,44. 54 Vgl. Pépin, Mythe et Allegorie, S. 89. 55 Vgl. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, S. 284: »Die Zumutung des Verständnisses an das Publikum bedeutet die Aufforderung zur aktiven (verständnisentschlüsselnden) Teilname des Publikums an der Schöpfung des Werkes.« Vgl. auch Klauck, Allegorie und Allegorese, S. 42. 51
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stellt Pseudo-Heraklit dar, der wohl wie Quintilian im 1. Jahrhundert lebte. In seinen Quaestiones Homericae knüpft Pseudo-Heraklit an die rhetorische Definition der Allegorie an, die eine Trope sei, mit der man »etwas anderes bezeichnet, als man sagt« (Quaest. Hom. 5,2). Er bleibt aber nicht bei dieser Kennzeichnung einer literarischen Figur stehen, sondern macht daraus ein Prinzip der Auslegung, indem er das allegorische Sprechen zum Prinzip des Mythos macht. Überall da, wo sich bei Homer anstößige Stellen finden, verbirgt sich eine allegorisch zu deutende Formulierung: »Denn alles wäre gottlos, wenn es nicht allegorisiert wäre.« 56 Pseudo-Heraklit kehrt bewusst die tropischen Strukturen der rhetorischen Textkonstruktion um: Die Rhetorik hatte die tropischen Figuren als Mittel der Sprachkonstruktion beschrieben, das eingesetzt wird, einen Inhalt dem Hörer angemessener und kunstvoller darzubieten und den eigentlichen Inhalt in eine uneigentliche Form zu geben. Pseudo-Heraklit erkennt in den Anstößigkeiten und Ungereimtheiten der alten Texte dieses Uneigentliche der Tropen, dem ein Eigentliches zugrunde liegen muss, das es freizulegen gilt. Dieses Eigentliche nennt er – wie die Philosophen – Aletheia, Philosophia oder auch Theoria. 57 Das Kriterium, die allegorisch zu deutenden Stellen wahrzunehmen, ist die Vernunft; das, was in den Texten als irrational gilt, ist auf die grundlegende Rationalität zurückzuführen. Die Motivation, diese Texte zu rationalisieren und nicht in ihrer offensichtlichen Irrationalität zu belassen, ist bei Pseudo-Heraklit eine religiöse: Homer wird nicht nur als unverzichtbares Bildungsgut verteidigt, sondern auch mit Begrifflichkeiten beschrieben, die den Mysterienkulten entnommen sind. Homer ist als »Hierophant« Träger einer religiösen Offenbarung (Quaest. Hom. 79,13), die Auslegung seiner Werke ist vergleichbar dem Dienst eines Kultpriesters (Quaest. Hom. 76,1), der Eintritt in die Mysterien der Werke Homers setzt eine »rituelle Waschung« des »Nichteingeweihten« voraus (Quaest. Hom. 3,2 f.). Die Allegorese Pseudo-Heraklits ist der Versuch einer vollständigen Rationalisierung der Werke Homers, dessen Dichtung von der Kunst zur Banalität umgedeutet wird. Wenn Kunst – nach dem Verständnis des Aristoteles und der Rhetoriker – die kunstvolle Veränderung des Eigentlichen bedeutet, um der Banalität zu entfliehen, so ist die Exegese dieser Kunst konsequenterweise die Rückkehr zur Bana56 57
Ps.-Heraklit, Quaest. Hom. 1,1. Vgl. Ps.-Heraklit, Quaest. Hom. 3,2; 6,5; 24,2; 25,12 und 42,1.
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lität des Eigentlichen, welche die Kunst als solche restlos vernichtet. 58 Eine weitere Schwierigkeit wird im Laufe der Zeit immer offensichtlicher: Wenn die Irrationalität der jeweiligen Textstelle das maßgebliche Kriterium der Feststellung der Allegorie ist, dann ist zumindest die Gefahr sehr groß, dass die rationale Auflösung des Textes zu einem willkürlichen Akt wird, der sich nicht mehr kontrollieren lässt. Nicht umsonst werden die Exegeten bereits in der Antike für ihre Spekulationsfreude kritisiert und verspottet. In seiner Schrift De natura deorum schildert Cicero die oft scharfe Kritik an der Praxis der stoischen Exegese seitens der Epikureer und der Neuen Akademie. Der Epikureer Velleius fasst seine Kritik an der gesamten stoischen Exegese dahingehend zusammen, dass er den Eindruck habe, die gesamte Dichtung werde auf die stoische Philosophie hin umgeschrieben und merkt spöttisch an, dass »die ältesten Dichter bestimmt nicht geahnt haben, als Stoiker zu erscheinen« (De nat. deorum I,41). Cotta, als Vertreter der Neuen Akademie, weist auf die inhaltliche Schwierigkeit einer rationalen Rückführung des Allegorisierten hin: »Wenn wir die Feldfrüchte Ceres und den Wein Liber nennen, so wenden wir dabei zwar den üblichen Sprachgebrauch an, aber glaubst du deshalb etwa, es sei jemand so verrückt, seine Nahrung für einen Gott zu halten? Über die Menschen aber, von denen du behauptest, sie seien zu Gottheiten erhoben worden, wirst du Rechenschaft ablegen müssen, wie dies geschehen konnte und warum es heute nicht mehr geschieht.« 59
Wenn die Allegorese das Wesen eines Gottes zu ergründen sucht, indem sie den Götternamen entweder auf eine Sache oder auf eine Person zurückführt, dann muss sie – um Willkür und Phantasterei zu vermeiden – auch begründen können, warum die Sache oder Person überhaupt zu einem tropischen Begriff geworden ist, der in der Allegorie entschlüsselt werden muss. Die überaus scharfe epikureische und akademische Kritik konnte den Erfolg der stoischen Exegese jedoch nicht aufhalten und traf auch argumentativ ins Leere, da es ihr Vgl. Klauck, Allegorie und Allegorese, S. 51 f.: »Mythen werden auf banale Alltagsereignisse reduziert, die Götter viel schärfer noch als im Epos fast zu Marionetten degradiert. Man fragt sich, was hier eigentlich apologetisch verteidigt werden soll. Der Götterglaube wohl kaum. Pseudo-Heraklit geht es einzig und allein um Homer.« 59 Cicero, De nat. deorum III,41. 58
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mit rationalen Argumenten nicht möglich war, das irrationale Fundament der Exegese zu treffen. Letztlich ist es rational nicht begründbar, die alten Texte derart aufzuschlüsseln, wie es die stoische Exegese getan hat, sie ist Rationalisierung eines Kunstvoll-Irrationalen, dem zusehends eine religiöse Bedeutung beigemessen wurde. Deutlich wird dies in der Haltung Plutarchs von Chaironeia. Dieser lehnt die stoische Exegese der alten Mythen als bloßen Ausdruck von Spekulationsfreude ab, um sie dann einer rein religiösen Deutung zu unterziehen, wie er es vor allem in der Deutung des ägyptischen Mythos von Isis und Osiris durchführt: Die stoische Allegorese und ihre Form der Rationalisierung, so Plutarch, führt letztlich in die Gottlosigkeit, es gilt, in den alten Mythen und Bräuchen die göttliche Offenbarung zu kennen und ihr zu folgen. 60 Die stoische Exegese stellt eine inhaltliche Weiterführung der Rhetorik dar insofern sie die in der Rhetorik beschriebenen tropischmetaphorischen Prinzipien der Sprache zur Erläuterung bereits bestehender sprachlicher Zeugnisse umkehrt. Die Rhetorik ist auf diese Weise ausdrücklicher Teil der philosophischen Epistemologie geworden. Wenn die Sprache der wesentliche Träger menschlicher Erkenntnis und menschlichen Denkens ist, dann ist ein Rückgriff auf diese Erkenntnis durch den Nachvollzug des Produktionsaktes möglich, der die Sprache hervorgebracht hat. Die Etymologie in ihrer Beschreibung der natürlichen Entstehung der Sprache und die Allegorese in ihrer Beschreibung der künstlichen Entstehung der Sprache bilden die beiden Pole der epistemologischen Dimension der Sprache, die ohne die Kenntnisse der Rhetorik nicht greifbar sind. Die ausdrückliche Einbeziehung der Rhetorik in den philosophischen Diskurs bzw. die Unterwerfung der Rhetorik unter die philosophische Rationalität führt jedoch zu einer Umdeutung der in der Rhetorik beschriebenen Sprache. Die sprachliche Kunst – wie sie in der Metaphorik beschrieben wurde – wird de facto in die Rationalität hinein aufgelöst. Sie besitzt damit keinen wirklichen Eigenwert, sondern ist Verdeckung dessen, was »eigentlich« zu sagen ist. Die Rhetorizität der Philosophie im Hellenismus – besonders in der Stoa – ist letztlich eine Auflösung der Rhetorik in die Philosophie und in die Sprachwissenschaft hinein nach den Kritieren der Rationalität.
60
Vgl. Plutarch, De Is. et Or. 10 f.; Plutarch, Moralia 354e f.
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7.5 Topik Die Ursprünge der Topik Die Professionalisierung der Redekunst beginnt – neben der Systematisierung von Reden – mit der Erstellung von Musterreden und Versatzstücken, die dann zum Aufbau einer neuen Rede genutzt werden. Vermutlich besaßen bereits die frühesten rhetorischen Handbücher Listen solcher Muster. Belegt sind sie bei verschiedenen sophistischen Autoren: neben Protagoras (A V 9; B III 17) und Gorgias (A V 9) finden sie sich bei Antiphon (B X 13–15), Trasymachos (B IX 11.9.6.1.) und Kritias (B XVII 1). Aristoteles schreibt in seinen Sophistischen Widerlegungen, dass Gorgias und die anderen Sopisten »Reden« (λόγοι) haben auswendig lernen lassen, »die nach ihrer Meinung auf die meisten Reden für und wider eine Sache passten«. Diese Tätigkeit vergleicht Aristoteles abschätzig mit der eines Schusters, der seinem Schüler nicht beibringt, wie man Schuhe anfertigt, sondern nur eine große Auswahl von Schuhen zur Verfügung stellen würde. 61 Cicero erwähnt in seinem Brutus – unter Berufung auf Aristoteles –, dass Protagoras und Gorgias vorbildhafte Formulierungen erstellt hätten, die man als »Gemeinplätze« bezeichnen würde. 62 Der entsprechende griechische Begriff für einen solchen »Gemeinplatz« (communis locus) ist der »Topos« (τόπος), der »Ort«. Der genaue Eingang dieses Begriffs als terminus technicus in die Rhetorik ist unbekannt, erstmals verwendet wurde er wohl von Isokrates; 63 der Beginn der topischen Praxis der Rhetorik ist mit dem Beginn der Rhetorik selbst zu veranschlagen. Wenn man vor den Beginn der professionellen Rhetorik zurückblickt, in die Zeit der Rhapsoden, fällt ein ähnlicher Effekt auf: Die Dichter der Epen haben ihre Lieder nicht erfunden oder neu konstruiert, sondern griffen auf Versatzstücke zurück, die für jeden Vortrag neu zusammengefügt wurden und auf diese Weise etwas praktizierten, was später als »topisch« bezeichnet wird. Damit zusammenhängend, könnte man die Ursprünge der To-
Vgl. Aristoteles, Soph. El. 183b–184a. Vgl. Cicero, Brutus 46 f.: »Und von Protagoras seien Untersuchungen über vorbildliche Gegenstände schriftlich ausgearbeitet und bereitgestellt worden, die man heutzutage als ›Gemeinplätze‹ (communes loci) bezeichnet. Dies habe auch Gorgias getan.« 63 Vgl. Sprute, Rhetorik und Topik bei Isokrates, S. 7. 61 62
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Topik
pik in der Memorierungstechnik der Rhetoren suchen: Das Einprägen von Orten, um die herum die Rede konstruiert wird. 64 Lausberg definierte das Topische in seinem Handbuch wie folgt: »Allgemeine Suchformel zum Auffinden geeigneter Gedanken; mit Hilfe dieser Suchformel gefundener Gedanke«. 65 Topoi sind also Fundorte von Gedanken und Formulierungen, die der Rede eingefügt werden bzw. auf denen die Rede aufbaut. Bei Isokrates finden sich mehrere Belege bestehender topischer Formulierungen, so weist er z. B. in seiner Helenarede (Hel. 4) darauf hin, dass eine bestimmte – von ihm kritisierte – Wendung ein »Topos« ist, oder im Panathenaikos (Panath. 111) spricht er davon, dass seine Gegner die Rede »gemäß allen Topoi« behandelt hätten. Isokrates, der ja die Rhetorik in die allgemeine Bildung der Philosophie einzuordnen sucht, löst sich von der mechanischen Topik seines Lehrers Gorgias. Die Topoi sind daher bei ihm keine auswendig zu lernende Versatzstücke, sondern Elemente einer Rede, »Formen«, die immer wieder neu gefüllt werden müssen: »Ich pflege nämlich allen, die sich mit meiner Philosophie beschäftigen, zu raten, sich zu überlegen, was durch die Rede und ihre Teile erreicht werden soll. Wenn wir das ermittelt und näher präzisiert haben, müssen, so behaupte ich weiter, die Formen gesucht werden, mittels derer die Themen ausgearbeitet werden können und sich das Ziel, das wir uns gesetzt haben, erreichen lässt. Dies mache ich für Reden geltend, es ist aber auch Grundsatz für alles andere, insbesondere für eure Angelegenheiten.« 66
Mit diesen topischen Formen geht Isokrates über die Sophistik hinaus. 67 Gorgias und die anderen sophistischen Rhetoriklehrer hatten feste Formulierungen aufgelistet, die dann je nach Anlass in die Rede eingebaut wurden. Isokrates nimmt diese Formen als einen Rahmen, in dem einerseits neue Erkenntnisse greifbar und formulierbar gemacht werden können 68 und andererseits im Rückgriff auf alte Erkenntnisse und »Gemeinplätze« einer Rede Sicherheit und WiederVgl. Solmsen, Aristotelische Logik und Rhetorik, S. 170 ff. Vgl. auch Sprute, Die Enthymemtheorie der aristotelischen Rhetorik, S. 147 ff. 65 Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, S. 740. 66 Isokrates, Ep. 6,8. 67 Vgl. Steidle, Redekunst und Bildung bei Isokrates, S. 190 f. 68 Vgl. Isokrates, Soph. 16: »Ich behaupte nämlich, dass das Wissen (ἐπιστήμη) von den Formen (ἰδέαι) zu erwerben, mit denen wir Reden halten und verfassen, nicht sehr schwierig ist.« 64
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Hellenismus: Krise der Metaphysik – Rhetorizität der Philosophie
erkennbarkeit gegeben werden kann. Auch Platon kennt diese topischen Formen der Rhetorik: »Ist nun dieses eingestellt, so gibt es wiederum soundsoviele Arten von Reden, und jede ist so beschaffen. […] wenn er all dies innehat und dann noch die Zeiten zu beurteilen weiß, wann er reden und innehalten soll, und von den gedrängten Stellen und den beweglichen Stellen und was er sonst für vorhandene Arbeiten von Verstärkungen der Rede gelernt hat, von denen er weiß, wo sie an ihrer Stelle sind und wo nicht, dann ist seine Kunst schön und vollendet.« 69
Platon lehnt feste rhetorische Formulierungen natürlich ab, da diese – in ihrer Übertragung auf eine je neue Situation – ja gar nicht dem Augenblick angemessen sein können, den sie schildern und insofern auch keine Träger von Erkenntnis sein können. Dennoch kennt auch Platon in seiner Ideenlehre den erkenntnistheoretischen Vorgang, auf feste Formen zurückzugreifen, die einen Rahmen bilden, Wandelbares auszudrücken. Spätestens wenn sowohl Platon als auch Isokrates diesen Denkweg mit der Erfindung der Buchstaben vergleichen, wird ein gemeinsamer Denkweg sichtbar: »Der Vergleich dieser Ideen mit der Erfindung des Alphabets (στοιχεῖα, γράμματα), der sich wie bei Isokrates so später auch bei Plato findet, drängte sich von selbst auf; denn der geistige Prozess des Erkennens durch die Reduktion einer Vielheit zusammengesetzter Gebilde auf eine begrenzte Zahl ihnen zugrunde liegender letzter ›Elemente‹ ist hier wie dort der gleiche.« 70
Diese »zugrunde liegenden letzten Elemente« sind gleichermaßen Ziel wie auch Grundlage sprachlicher Darstellung und Erkenntnis, besitzen somit sowohl eine teleologische als auch eine heuristische Funktion. Damit sind die platonischen Ideen nicht identisch mit den Topoi, aber sie haben eine Stellung im Vollzug sprachlicher Darstellung, die durchaus Ähnlichkeiten aufweist. Der wesentliche Unterschied zwischen den Topoi und den platonischen Ideen besteht in ihrer Grundlage bzw. dem Ort ihres Vollzugs: Ort der Ideen Platons ist die Aletheia, während die Topoi der Doxa zuzuordnen sind. Die Teologizität bzw. Heuristik des Elements selbst ist identisch, unterschiedlich ist der Erkenntnisgrund, auf dem sie sich vollzieht.
69 70
Platon, Phaidr. 272a. Jaeger, Paideia, S. 996 f.
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Topik
Ernst Curtius hat mit seinem Werk Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter die Grundlage der modernen Toposforschung gelegt. Er definiert die Topoi als »gedankliche Themen, zu beliebiger Entwicklung und Abwandlung geeignet«. 71 Diese Themen sind von Beginn an Teil der rhetorischen Konstruktion, des Auffindens von Argumenten und Gedanken sowie der wiederholten Verwendung dieser Gedanken, die so zu festen Größen des sprachlichen Ausdrucks und damit auch des Denkens wurden. Curtius große Leistung ist es, diese topische Prägung des europäischen Denkens in seinem Werk dargestellt zu haben. In dem Augenblick, als die Topoi nicht nur für die Rhetorik verwandt wurden bzw. die Rhetorik in der Antike nicht mehr nur der Konstruktion der Rede, sondern der allgemeinen Konstruktion von Sprache diente, wurde die Topik allumfassend: »Das bedeutet nichts anderes, als dass die Rhetorik ihren ursprünglichen Sinn und Daseinszweck verlor. Dafür drang sie in alle Literaturgattungen ein. Ihr kunstvoll ausgebautes System wurde Generalnenner, Formenlehre und Formenschatz der Literatur überhaupt. Das ist die folgenreichste Entwicklung innerhalb der Geschichte der antiken Rhetorik. Damit gewinnen die topoi eine neue Funktion. Sie werden Klischees, die literarisch allgemein verwendbar sind, sie breiten sich über alle Gebiete des literarisch erfassten und geformten Lebens aus.« 72
Unabhängig von der noch zu klärenden Frage, ob Curtius’ Sicht eines Übergangs einer rhetorikinternen zu einer rhetorikexternen Topik korrekt ist, ist festzuhalten, dass die Topik vom Beginn der Rhetorik an wesentliches Element der Rhetorik war und dass der gewaltige Einfluss, den die Rhetorik über das gesamte antike Denken hatte, der Einfluss der Topik war.
Die aristotelische Topik Seit mehreren Jahrzehnten steht die Topik im Fokus der Auseinandersetzung mit dem Werk des Aristoteles. Aristoteles selbst definiert nirgends – auch nicht in seinem Werk Topik – den Begriff des Topischen und gebraucht ihn mit durchaus unterschiedlichen Konnotationen. Die Tatsache, dass er den Begriff nicht definierte, verweist wahrscheinlich darauf, dass dieser als bekannt vorausgesetzt wird, und das 71 72
Vgl. Curtius, Europäische Literatur, S. 79. Ebd.
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heißt: der damaligen dialektischen und rhetorischen Praxis entsprechend ist. 73 Vielleicht liegt die fehlende Definition der Topik auch im Wesen der Topik begründet: Bornscheuer weist darauf hin, dass die Topik als Argumentation im Bereich der Doxa ihrem Wesen nach einer formalen Definition widerspricht, da deren »spezifisches Leistungsvermögen […] durch eine formalsystematische Logifizierung nicht gesteigert, sondern geschwächt« wird 74 und somit ein »von Aristoteles bewusst verfolgtes Darstellungsprinzip« 75 ist. Das Anliegen der aristotelischen Topik geht aber über diese Praxis hinaus, die er in den Sophistikoi Elenchoi, einer Anfügung an die Topik, als dumpfes Auswendiglernen kritisiert: »Sie ließen die bei den Rednern und bei den Sophisten vorkommenden Wendungen auswendig lernen, auf welche nach ihrer Meinung dieselben bei ihren Erörterungen meistenteils geraten waren. Der Unterricht, der bei ihnen lernenden Schüler war daher schnell, aber unwissenschaftlich, denn sie unternahmen nicht einen Unterricht in der Methode selbst, sondern in dem mittels der Methode bereits Ausgeführten.« 76
Topik im aristotelischen Sinne will also nicht nur Orte rhetorischer Argumente aufzeigen, sondern auch die Methode, das Funktionieren dieser Argumente. Diese Topik stellt aber keine abstrakte Argumentationstheorie dar, sondern sie bleibt »topisch« insofern sie material an der »örtlichen« Sprachfigur gebunden bleibt; sie ist somit sowohl »Interpretandum« als auch »Interpretament« und begründet so eine »methodologische Zirkelstruktur«. 77 Die Grenze der sophistischen Topik liegt in ihrer Beschränkung auf die festen Bindungen zwischen dem konkreten Topos und der konkreten Situation, in ihrer Unfähigkeit, dem Topos eine allgemeine Funktionsweise zuzuordnen und damit die Möglichkeit zu eröffnen, eine Rhetorik auf einem wissenschaftlichen Fundament zu betreiben. In seiner Rhetorik schreibt Aristoteles – der üblichen Rhetorik Vgl. de Pater, Le topiques, S. 101. Vgl. Bornscheuer, Topik, S. 42. Vgl. ebd.: »Um den wahren, ganzen Charakter dieser Schrift [erg. der Topik] zu kennzeichnen, müsste man sie als den paradoxen Versuch bezeichnen, das Unsystematisierbare, die Komplexität natürlichen Sprechens und Verhaltens trotz allem abstrakt-analytisch zu durchdringen und ›methodisch‹ in den Griff zu bekommen.« 75 Vgl. a. a. O., S. 33. 76 Aristoteles, Soph. El. 34 (183bc). 77 Vgl. Bornscheuer, Topik, S. 44. 73 74
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Topik
entsprechend – Topoi seien »allgemeine Gesichtspunkte (οἱ κοινῇ περὶ) über Recht, Physik, Politik und über vieles andere aus verschiedenen Bereichen« 78 und wirbt durchaus offensiv für eine Sammlung solcher Gesichtspunkte, da man »zu jedem Thema eine Auswahl von Argumenten für die notwendigen und wichtigsten Aspekte zur Hand haben muss«. 79 Am Ende des 2. Buches der Rhetorik liefert Aristoteles dann eine »Definitions-ähnliche Bestimmung« 80 des Topos: »Dasselbe nämlich meine ich mit ›Element‹ (στοιχεῖον) und ›Topos‹, denn Element und Topos sind das, worunter viele Enthymeme fallen.« 81 Ein Topos ist Teil einer dialektischen Argumentationsstruktur, des Enthymems, der rhetorischen Variante des Syllogismus. Diese Struktur benennt den Weg von der argumentativ zu stützenden Position zu den diese Position stützenden Prämissen – ontologisch vergleichbar mit dem arche-Gedanken, wie Wieland in Die aristotelische Physik nachgewiesen hat. 82 Die Wissenschaftlichkeit der Prämissen entscheidet schließlich über die Wahrheitsgemäßheit oder Wahrscheinlichkeit der Position. Jede Art von Argumentation muss auf Prämissen zurückgreifen, und die Topik hat die heuristische Funktion, diese auffindbar zu machen und der zu vertretenden Position entsprechend argumentativ einzusetzen. Damit ist die Topik nicht etwas Sekundäres, Nachträgliches, sondern »Ort der inventio selbst«. 83 Brunschwig nannte die Topik treffend eine »Maschine, um Prämissen zu konstruieren, ausgehend von einer bereits gegebenen Konklusion«. 84 Primavesi ordnet dieses topische Geschehen in die dialektische Struktur des Syllogismus ein: »Bevor ein Syllogismos, als Schluss von bestimmten Prämissen auf eine Conclusio, vollzogen wird, werden diese Prämissen im Hinblick auf die stets vorgegebene Conclusio ausgewählt.« 85 Das zentrale Element der topischen Argumentationsstruktur ist die Vorgängigkeit der Konklusion, die eben nicht ein nachträglicher logiAristoteles, Rhet. I,21 (1358a). Aristoteles, Rhet. II,10 (1396b). 80 Vgl. Rapp, Rhetorik, Bd. 2, S. 272. 81 Aristoteles, Rhet. II,26 (1403b). 82 Vgl. Wieland, Die aristotelische Physik, S. 202 ff. Vgl. auch Kemper, Topik in der antiken rhetorischen Techne. 83 Vgl. Bornscheuer, Topik, S. 59: »Topik ist nicht lediglich ein sekundärer Apparat, ein Überbauphänomen, eine Orakelstätte bzw. ein abrufbares Speichersystem potentieller Antworten, sondern der Ort der inventio selbst.« 84 Brunschwig, S. XXXIX: »Le lieu est donc une machine à faire des prémisses à partir d’une conclusion donnée«; vgl. auch Wieland, Die aristotelische Physik, S. 43. 85 Primavesi, Die Aristotelische Topik, S. 78. 78 79
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scher Schluß vorgegebener Prämissen ist, sondern eine eigene Position darstellt, auf die hin die ihr angemessenen Prämissen in der Topik entdeckt und konstruiert werden. Mit den sog. »Prädikabilien« schafft Aristoteles ein Werkzeug, die einer jeweiligen Position entsprechende topische Kategorie zu finden. Er unterscheidet vier verschiedene Prädikabilien, nach denen er seine Topik aufgebaut hat: die Definition, die Eigentümlichkeit, die Gattung und das Akzidens. 86 Grundlage dieser vier Prädikabilien ist das Verhältnis von »Wahrnehmung« und »Wissen« (Top. I,5 102a) bzw. von einem Subjekt und einem Prädikat. 87 Aufgrund der Zuordnung einer Position zu einer der vier in den Prädikabilien beschriebenen Aussageverhältnisse kann der passende Topos gefunden werden – sei er nun ein feststehendes Argument, das man nur einsetzen muss, oder der Argumentationsrahmen, der nun gefüllt werden kann. Die Topik besitzt damit eine doppelt gerichtete Funktionalität, immer ausgehend von einer zu begründenden oder zu kritisierenden Position: Einerseits dient sie dazu, heuristisch das Argument bzw. die Prämisse zu finden, welche die eigene Position stützt, andererseits dient sie aber auch dazu, eine die Prämisse mit der Position verbindende Begründungsstruktur zu schaffen. Primavesi spricht hier treffend von zwei Wegen, der via inventionis, der »Ermittlung der Prämissen im Ausgang von der Conclusio«, und der via expositionis, dem »Vollzug des Syllogismus als Schluß von den Prämissen auf die Conclusio«. 88 Die heuristische Funktion der Topoi ist offensichtlich und bereits in der etymologischen Bedeutung des »Ortes« grundgelegt. Die Beurteilung der zweiten, konstruktiven Funktion – der via expositionis – ist abhängig von der Frage der Beziehung der Topik zur Dialektik. Diese ist jedoch gegeben, wenn Aristoteles selbst die Topik den Enthymemen zuordnet. Diese zweite Dimension des Topischen beschrieb de Pater als »probativ«. 89 Die in der Topik gefundenen Begründungsstrukturen sind als Rahmen der eigenen Argumentation einem »logischen GeVgl. Aristoteles, Top. I,5 (101b–102b). Vgl. Rapp, Rhetorik, Bd. 2, S. 262: »(i.) Kommt ein Prädikat einem Subjekt notwendigerweise (im Sinne der Wesensdefinition) zu? (ii.) Kommt ein Prädikat ausschließlich diesem Subjekt zu? Die Verneinung beider Kriterien definiert das Akzidens, die Bejahung beider die Definition, die Bejahung von (i.) und Verneinung von (ii.) die Gattung, die Verneinung von (i.) und die Bejahung von (ii.) die Eigentümlichkeit.« 88 Vgl. Primavesi, Die Aristotelische Topik, S. 80. Vgl. auch Bornscheuer, Topik, S. 40. 89 Vgl. de Pater, Les Topiques d’Aristote, S. 147. 86 87
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setz« gleichzusetzen und in der Phase der Überprüfung der eigenen Position mit diesem Rahmen probativ. 90 Sprute weist darauf hin, dass dieser probative Charakter der »logischen Gesetze« der Topik nicht für alle Arten der Topoi gelten würde, denn nicht alle Topoi dienen dem Nachweis rationaler Verhältnisse, sondern viele dienen der Erzeugung nichtrationaler Gründe, Emotionen usw. 91 Die Topik schafft und begründet zwar eine Argumentationsstruktur, aber diese ist nicht rational oder logisch im Sinne einer allgemein verbindlichen Logik, sondern nur in der Struktur, die in jeder Rede neu geschaffen wird zwischen der eigenen Position und dem Topos auf der einen Seite und dem zu überzeugenden Gegenüber auf der anderen Seite. Die Topik – als Teil der Dialektik – ist primär Teil einer Überzeugungsstruktur, die erst nach der Überprüfung ihrer Prämissen Teil einer wissenschaftlichen und allgemeinen Logik sein kann. Sie ist Teil einer rhetorischen Konstruktion und diese erweist ihre Gültigkeit nicht aus einer logischen Herleitung wissenschaftlich überprüfter Prämissen, sondern letztlich in der Wirkung auf den Hörer oder Leser – Aristoteles spricht hier von der Topik als »Mittel zum Angreifen« 92 – und damit erst einmal rede- oder textimmanent. 93 Mit Blick auf die antike – und besonders auch auf die aristotelische – Topik lässt sich sagen, dass es vielleicht anachronistisch wäre, eine eindeutige Definition leisten zu können. Zum einen haben die Autoren den Begriff der Topik in verschiedenen Zusammenhängen auch unterschiedlich gebraucht, zum anderen muss berücksichtigt werden, dass eine »allzu absolut-systematische Ausdrucksweise« bei antiken Autoren nicht da zu erwarten ist, bei denen es nicht ausdrücklich um begriffliche Definitionen geht, so Kemper. 94
Vgl. de Pater, La function de lieu, S. 175: »Dans cette perspective le lieu semble fonctionner comme un pont entre les données et la conclusion: le lieu exerce une fonction probative, et il le fait exactement en tant qu’il est une loi.« 91 Vgl. Sprute, Die Enthymementheorie der aristotelischen Rhetorik, S. 157 ff. 92 Vgl. Aristoteles, Top. VII,5 (155a): »Die Topoi, aufgrund deren wir in Bezug auf alle Diskussionsthemen mit Mitteln zum Angreifen reich versehen sein werden, sind nun hinlänglich aufgezählt.« Vgl. auch a. a. O., VIII,1 (155b): »Die erste Aufgabe für denjenigen, der eine Argumentation in Frageform vorbereitet, besteht darin, den Topos zu finden, von dem aus anzugreifen ist.« 93 Vgl. Hetzel, Die Wirksamkeit der Rede, S. 158. 94 Vgl. Kemper, Topik in der antiken rhetorischen Techne, S. 20 f.: »Als praemonendum ist jedoch vorauszuschicken, dass es im allgemeinen in der Antike und auch bei Aristoteles nicht zulässig ist, auf allzu absolut-systematischen Ausdrucksweisen zu 90
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Die stoische Topik Erstaunlicherweise ist die Wirkungsgeschichte der aristotelischen Rhetorik für die nächsten Jahrhunderte relativ dürftig und damit auch der Versuch des Aristoteles, Rhetorik und Philosophie zusammenzuführen bzw. die rhetorische Topik als Teil der wissenschaftlich relevanten Begründungsstruktur zu beschreiben. Die Topik setzte ihren »rhetorischen« Weg fort, war selbstverständlicher Teil der rhetorischen Heuristik und damit ausschließlich von praktischer Relevanz für die Erstellung von Reden. Diese Tendenz führte zu der bereits von Aristoteles bei den Sophisten kritisierten Mentalität, umfangreiche Topoi-Kataloge zu erstellen und sich dort den je passenden Topos zur Erstellung einer Rede herauszusuchen. Die lateinische Überlieferung spricht von loci oder loci communes und ordnet sie weitgehend dem juristischen Feld zu (und damit dem für die Rhetorik immer relevanteren Gebiet). So schreibt Cicero: »Denn bei jedem Fall ist ein Teil der Argumente nur dem Fall zugehörig, der zur Verhandlung steht und aus dem selbst entnommen ist; ein Teil aber ist weiter gefasst und passt entweder zu allen Fällen derselben Gattung oder doch zu den meisten. Diese Argumente, die sich auf viele Fälle anwenden lassen, nennen wir Gemeinplätze (loci communes).« 95
Cicero ist einer der wenigen Autoren jener Zeit, der immerhin noch die aristotelische Topik und ihre Gültigkeit für die Philosophie kennt – auch wenn er sie dort zumindest bewusst nicht anwendet. 96 In Ciceros Werk De Oratore findet sich interessanterweise auch eine erste Erwähnung eines rhetorischen locus, der räumlich deutbar ist. In einem Dialog spricht ein gewisser Antonius: »Wir sollten dies Rüstzeug allgemeiner und grundsätzlicher Aspekte mit auf das Forum bringen, statt jeweils erst dann, wenn uns ein Fall übertragen ist, die Quellen zu durchforsten, aus denen wir Argumente gewinnen können. […] Und darin liegt die ganze Kunst, sei es nun eine Wissenschaft, Beobachtung oder Routine, daß man die Orte kennt, in denen man das, was man sucht, zu jagen und aufzuspüren hat.« 97
insistieren (außer natürlich, wo es sich um scharf umrissene axiomatisch aufgebaute Werke handelt), vor allem nicht in einer τέχνη, die sich mit ἔνδοξα beschäftigt.« 95 Cicero, Inv. II,47 f. 96 Vgl. Cicero, De Or. II, 152. 97 A. a. O. II,146 f.
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Topik
Quintilian, der römische Rhetoriklehrer, definiert die loci als »Sitze (sedes) der Argumente, in denen verborgen ist, was man aus diesen herausholen muss«. 98 Der Grund für diese räumliche Deutung der »Orte« liegt wohl in der Tatsache begründet, dass diese nun metaphorisch gedeutet wurden und als Metaphern somit »begehbar« werden konnten bzw. erst »ergangen« werden mussten, bevor sie nutzbar waren. Cicero hat in seinen Werken eine Differenzierung durchgeführt, die dann auch über Quintilian für die Rhetorik gültig wurde und wirkungsgeschichtlich große Auswirkungen haben wird: »Jede sorgfältige Methode der Auseinandersetzung besteht aus zwei Teilen: einem des Findens und einem des Urteilens. […] Die Stoiker haben nur den einen Zweig ausgearbeitet. Die Wege des Urteilens nämlich haben sie sorgfältig verfolgt in jener Wissenschaft, die sie ›Dialektik‹ nennen, die Kunst des Findens aber, welche ›Topik‹ genannt wird und welche sowohl nützlicher als auch ganz gewiß in der Ordnung der Natur früher ist, haben sie völlig vernachlässigt.« 99
Indem Cicero in der vernünftigen Abhandlung unterscheidet zwischen dem »Finden« und dem »Urteilen« (»unam inveniendi, alteram iudicandi«) eröffnet er eine Problemstellung, welche auch noch die moderne Sprachphilosophie beschäftigen wird: Ist die Sprache auszulegen auf ihre Funktionalität hin (»iudicare«) oder ist sie als historisch Gegebene zu fassen (»invenire«). Insofern die Sprache sich in ihrer historischen und sozialen Faktizität darstellt und als solche eine »Fundgrube« (»invenire«) von Erkenntnis ist, ist die Topik Teil der Analyse. Die Topik beschreibt die sich in der sprachlichen Tradition entwickelten Verdichtungen, die zum natürlichen Objekt der hermeneutischen Analyse werden. Apel erkennt in dieser von Cicero angestoßenen Analyse die einzig mögliche Möglichkeit, die Topik »aus heutiger Sicht« zu begreifen und ihr damit eine aktuelle Relevanz einzuräumen. 100
Vgl. Quintilian, Inst. or. V,10,20. Cicero, Topik II,6. 100 Vgl. Apel, Die Idee der Sprache, S. 143: »Nur als bewusste ›Wiederholung‹ der präreflexiven Aufschließung einer Weltsituation aus menschlichen Gesichtspunkten, wie die Sprache sie immer schon für den Menschen geleistet hat, kann angesichts jeder rhetorisch-dialektisch zu bewältigenden Problemlage eine Besinnung auf die möglichen Weisen und Richtungen ihre Artikulation in der Rede stattfinden. Genau dies, zum Gegenstand genereller Reflexion erhoben, läßt sich als Anliegen einer ›Topik‹ aus heutiger Sichtig begreifen.« 98 99
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Quintilian hat im V. Buch seiner Institutio oratoriae die differenzierteste Topik seiner Zeit hinterlassen. Er unterscheidet die auf die Person hin zu findenden Argumente (loci a persona) von den auf die Sache zu findenden Argumenten (loci a re). Die einzelnen loci bilden ein gutes Fundament, die Weite der rhetorischen Topik des Quintilian bemessen zu können. Zu den loci a persona zählt er das Geschlecht (genus), die Nationalität (natio), das Vaterland (patria), das Geschlecht (sexus), das Alter (aetas), Erziehung und Bildung (educatio et disciplina), die Körperbeschaffenheit (habitus corporis), das Schicksal (fortuna), die soziale Stellung (conditionis), die Wesensart (animi naturae), den Beruf (studia), die Neigungen (quid affectet quisque), die Vorgeschichte (ante acta dicta) und den Namen (nomen). 101 Etwas komplizierter sind die loci a re, die hier gemäß Uedings Klassischer Rhetorik dargestellt werden sollen. 102 Hier nennt Quintilian die loci a causa (aus den Gründen geschehener oder auch künftiger Handlungen), die loci a loco (vom Ort), die loci a tempore (von der Zeit), loci a modo (aus der Art und Weise des Geschehens), die loci a facultate (von der Möglichkeit), loci a finitione (aus der Definition), loci a simili (aus der Ähnlichkeit), loci a comparatione (aus dem Vergleich), loci a fictione (aus fingierten Annahmen) und schließlich die loci a circumstantia (von den Umständen). 103 Diese vielen loci bieten die Möglichkeit, Begründungsstrukturen ausfindig zu machen. Die loci a persona sind schnell einsichtig: Hinweise auf das Geschlecht oder die Nationalität auf den Beruf einer betroffenen Person können einen Zusammenhang einsichtig machen, der nicht wissenschaftlich begründbar sein muss, aber nichtsdestoweniger wirkmächtig ist. Ähnlich funktionieren auch die loci a re: Offensichtlich sind sie Hinweise auf Zeit und Ort einer Sache. Komplizierter ist es bei den anderen loci, beispielsweise dem locus a finitione, der ein Argument »aus der Definition oder Abgrenzung« zeigt. Die Definition einer Sache liefert ein Argument: Eine Sache wird vorgestellt und anschließend mit einer Frage »Ist dies Tugend?« vollendet oder es wird einfach die Frage gestellt »Was ist Tugend«? 104 Es wird ein Zusammenhang zwischen der zu beweisenden Sache und einem nicht zu beweisenden Argument hergestellt und damit ist 101 102 103 104
Vgl. Quintilian, Inst. or. X 10,24–30. Vgl. Ueding, Klassische Rhetorik, S. 62 f. Vgl. Quintilian, Inst. or. X 10,33–104. Vgl. Quintilian, Inst. or. X 10,54.
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auch die Sache bewiesen. Der locus a comparatione (aus dem Vergleich): Eine Sache wird mit einer anderen verglichen und damit auf ein angeblich gleiches Muster zurückgeführt: »Wer Geld genommen hat für einen Urteilsspruch, wird es auch für ein falsches Zeugnis nehmen«. 105 Die spätantike Topik ist Fluch und Segen der Rhetorik zugleich. Einerseits bietet sie den Boden, auf dem die Rhetorik sich als Kunst entwickeln kann. Andererseits – dies wurde an der Auflistung sichtbar – kann diese aber durch die Topik auch in einer Künstlichkeit erstarren, die ihr die Luft zum Atmen nimmt. Bornscheuer beschreibt dieses zweischneidige Verhältnis wie folgt: »Hinter dem vielgeschmähten rhetorischen Formalismus verbirgt sich eine ebenso oft verkannte schöpferisch-progressive Variationskunst, hinter der so penetrant erscheinenden Wiederholung jahrhundertealter Topoi eine nicht weniger penetrante Sucht des Differenzierens, Uminterpretierens, Korrigierens.« 106
Varga hat diese Entwicklung gekennzeichnet als die von der Rhetorik als Geschichte hin zur Rhetorik als System. War die Rhetorik in ihren Ursprüngen die künstlerische Fortsetzung des natürlichen menschlichen Willens, Sprache zu gebrauchen und etwas zu erzählen, so entsteht nun eine Systematik, die eigentlich nichts mehr mit dem Auffinden sprachlicher Ausdrücke (elocutio) oder der konkreten Anwendung (dispositio) zu tun hat, sondern nur System ist: Eine »Hierarchisierung der Ebenen«. 107 Diese künstliche Erstarrung der Rhetorik in der Topik hat ihre Gründe u. a. in der historischen Tatsache, dass die Rhetorik als bloße Redekunst mit dem Untergang der griechischen Stadtstaaten sowie der römischen Republik ihren Daseinsgrund zu einem großen Teil verloren hatte. Andererseits überlebte sie nun als allgemeine Sprachkunst in den verschiedenen Disziplinen der Literatur. Die topische Rhetorik gewann auf diese Weise einen nicht zu überschätzenden Einfluss auf die europäische Geistesgeschichte.
Quintilian, Inst. or. V 10,87. Bornscheuer, Topik, S. 60. 107 Vgl. Varga, Rhetoric, A Story or a System?, S. 86: »To ›translate‹ this story in a system, to translate this chronology of consecutive activities into a hierarchy of levels. This means that to every phenomenon that appears on a level, however small it can be, something corresponds on another level.« 105 106
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Curtius hat die Geschichte des lateinischen Europas auf diese Topik hin dargestellt und beschreibt diese Entwicklung: »Aber wir sahen, daß die beiden wichtigsten Arten der Rede, Staatsund Gerichtsrede, mit dem Untergang der griechischen Stadtstaaten und der römischen Republik aus der politischen Wirklichkeit verschwanden und in die Rhetorenschule flüchteten; dass die Lobrede zu einer Lobtechnik wurde, die sich auf jeden Gegenstand anwenden ließ; dass auch die Poesie rhetorisiert wurde. Das bedeutet nichts anderes, als dass die Rhetorik ihren ursprünglichen Sinn und Daseinszweck verlor. Dafür drang sie in alle Literaturgattungen ein. Ihr kunstvoll ausgebautes System wurde Generalnenner, Formenlehre und Formenschatz der Literatur überhaupt. Das ist die folgenreichste Entwicklung innerhalb der Geschichte der antiken Rhetorik. Damit gewinnen auch die topoi eine neue Funktion. Sie werden Klischees, die literarisch allgemein verwertbar sind, sie breiten sich über alle Gebiete des literarisch erfassten und geformten Lebens aus.« 108
Die topische Rhetorik wird am Ende der Antike zur Schablone des literarischen Schaffens. Als eine solche prägt sie maßgeblich die geistige Kultur, muss aber auch als ein Faktum gesehen werden, dass die Rhetorik im Sinne einer kunstvollen Sprachbildung eher behindert als fördert.
7.6 Bildung Platon hatte die Rhetorik in seinen Werken äußerst scharf kritisiert und ein Bildungsprogramm vorgeschlagen, das Homer und andere Klassiker der griechischen Literatur aus der Schule entfernen sollte, da diese kein wahres Wissen vermitteln würden. Platons Kampf war ein Kampf gegen den Bildungskanon seiner Zeit, und er hat diesen Kampf verloren, greifbar in der Person des Isokrates und seinem Bildungsprogramm, das sich historisch durchsetzte. Das hellenistische Schulsystem in Griechenland war dreigliedrig: Auf die Elementarschule, in der Grundkenntnisse des Lesens, Schreibens und Rechnens vermittelt wurden, folgte eine höhere Stufe, in der ein Grammatiklehrer (γραμματικός) die Grundzüge der Sprache vermittelte, und dies hieß: Lektüre der Klassiker, an erster Stelle Homer, dessen Bedeutung für die Bildung aus heutiger Sicht gar 108
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Bildung
nicht überschätzt werden kann. Selbst Platon schrieb, dass »dieser Dichter Hellas gebildet habe«, 109 und diese Aussage blieb auch für die nächsten Jahrhunderte gültig. 110 Neben Homer wurden vorrangig Hesiod, die Lyriker Pindar und Sappho, die drei großen Tragödiendichter Aischylos, Sophokles und Euripides, die Historiker Thukydides und Herodot sowie Komödiendichter wie Menander gelesen. 111 Bildung war erst einmal literarische Bildung: Einführung, Erläuterung, Lesen und Vergleich klassischer Texte. Daneben wurden auch geometrische, astronomische oder mathematische Inhalte vermittelt, der Schwerpunkt der vermittelten Bildung lag jedoch eindeutig in der Literatur und besaß damit einen Schwerpunkt, den man als humanistisch bezeichnen kann. Der Besuch einer Hochschule bildete schließlich die Vollendung des Bildungsweges. Wesentlicher Inhalt des dortigen Unterrichts war die Rhetorik, die man zu Recht als eigentlichen Gegenstand der hohen Bildung bezeichnen kann. 112 Die Rhetorik – trotz des Verlustes der direkten politischen Relevanz – formte jede Art von Bildung, nicht nur das literarische Wissen im engeren Sinne, sondern auch das naturwissenschaftliche oder philosophische. In einer Kultur, in der laut gelesen wurde, jede Art von Wissen somit in der Rede kommuniziert wurde, erlangte die Redekunst eine in vollem Sinne umfassende Bedeutung – ein Faktum, das zwar in der Forschung seit jeher bekannt ist, aber oft ohne Konsequenzen geblieben ist. 113 Indem das Denken als Gespräch der Seele mit sich selbst begriffen wird, bedeutet der kunstvolle Umgang mit der Rede gleichzeitig eine SchärVgl. Platon, Pol. 606e. Vgl. Jaeger, Paideia, S. 63: »An seiner [erg. Homers] Herrschaft hat selbst die philosophische Kritik Platons nicht zu rütteln vermocht, wenn sie auch der Welt eine dauernd bestehende Einschränkung der erzieherischen Geltung aller Poesie zum Bewusstsein gebracht hat. Die Auffassung des Dichters als Erzieher seines Volkes – im weitesten und tiefsten Sinne des Wortes – ist den Griechen von Anfang an geläufig gewesen und hat stets ihre Bedeutung bewahrt.« 111 Baumgarten, Schule: Elementar- und Grammatikunterricht, S. 95 f. 112 Vgl. Marrou, Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum, S. 369 f.: »Die Oberhand hat unbestreitbar die Rhetorik. Sie drückt allen Äußerungen des hellenistischen Geistes entschieden ihren Stempel auf. Für die Mehrzahl der Studenten bedeutet Studieren, am Unterricht des Redners teilnehmen, mit ihm in die Kunst der Beredsamkeit eindringen. […] Die Rhetorik ist der eigentliche Gegenstand des griechischen Hochschulunterrichts, der hohen Bildung geworden.« 113 Kennedy, The art of persuasion, S. 3: »One of the principal interests of the Greek was rhetoric. Classicists admit the fact, deplore it and forget it.« 109 110
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Hellenismus: Krise der Metaphysik – Rhetorizität der Philosophie
fung wie auch kunstvolle Erhöhung des Denkens. Die rhetorische Ausbildung folgte im Wesentlichen den Inhalten des Isokrates, jedoch nicht seiner Mahnung, die theoretische Einführung auf ein Mindestmaß zu beschränken. Die einzelnen Gebiete der Rhetorik – besonders die Inventio und die Elocutio – wurden immer weiter systematisiert, zergliedert und verkompliziert. Indem die Rhetorik zusehends ihren eigentlichen Zweck aus den Augen verlor, die politische oder gerichtliche Rede, lief sie immer mehr Gefahr, zu einem Selbstzweck zu werden, der sich darin genügte, die Theorie über sich selbst immer weiter zu theoretisieren, und sich in Formeln und kunstvollen Phrasen zu verlieren oder auch im Erstellen mehr oder weniger sinnvoller Thesen und Deklamationen. Marrou schreibt dazu: »Es fällt uns schwer, einen solchen Eifer zu begreifen. Für uns Moderne ist Rhetorik gleichbedeutend mit Blendwerk, Unaufrichtigkeit, Verfall. Vielleicht nur deshalb, weil wir sie nicht mehr kennen und weil wir wieder Barbaren geworden sind. Denn gewiß stellte die Rhetorik ein System formaler Gesetze dar. Waren jedoch einmal diese Gesetze anerkannt und hatte man sie sich angeeignet, so konnte die Freiheit des Künstlers innerhalb dieses Systems schalten.« 114
Die Rhetorik gab dem Denken einen Rahmen, in dem es sich entfalten konnte. Sie schuf einen einheitlichen Kommunikationshorizont, der für jeden gebildeten Menschen der Antike Gültigkeit besaß, auch und gerade für die Philosophie. Die philosophische Bildung spielte gegenüber der Rhetorik eine klar untergeordnete Rolle, sowohl im Umfang des vermittelten Stoffes als auch in der Quantität von Lehrenden und Lernenden. Der Ort der philosophischen Bildung sind private Schulen, die zumeist in einem konkurrierenden Verhältnis standen. Die Philosophie stand oft im klaren Gegensatz zur Rhetorik, die im Gefolge des Paares Platon-Isokrates polemisch bekämpft wurde. Zugleich stand die Philosophie jedoch in einem Abhängigkeitsverhältnis zur Rhetorik, das im Laufe der Jahrhunderte immer offensichtlicher wurde. 115 Unabhängig von der Tatsache, dass nahezu jeder Philosoph die Laufbahn des Rhetorikers durchlaufen hat: Indem die verschiedenen philosophischen Schulen des Hellenismus einerseits immer kritischer auf metaphysische Fundamente blicken und sich andererseits immer mehr miteinander verhaken, wird auch die Philosophie immer weniger die Suche nach einer grundlegenden Wahr114 115
Marrou, Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum, S. 387. Vgl. Rahn, Bemerkungen zur philosophischen Rhetorik in der Antike, S. 19.
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Bildung
heit in den Mittelpunkt stellen als vielmehr die literarische Diskussion von Standpunkten, deren Darstellung und Analyse den Regeln der Rhetorik folgt. Burckhardt fasst diese rhetorische Mentalität der Antike in seinem Werk Die Zeit Constantins des Großen zusammen: »Hat nun das Altertum die Ausbildung der Rede und des Schreibens überschätzt? […] Die Antwort ist, daß wir darüber gar nicht zu entscheiden berechtigt sind, solange uns selber im Reden und Schreiben die Formlosigkeit überall nachgeht, solange von hundert unserer Gebildeten vielleicht kaum einer von der wahren Kunst des Periodenbaues eine Ahnung besitzt. Die Rhetorik mit ihren Nebenwissenschaften war den Alten die unentbehrlichste Ergänzung ihres gesetzlich schönen und freien Daseins, ihre Künste, ihrer Poesie.« 116
Die Rhetorik war für den antiken Menschen nicht nur »Ergänzung«, sie war einzig möglicher Ausdruck seines Denkens und Fühlens. Die Bildung – die durch und durch rhetorisch geprägt war – war nicht nur ein rein äußerlicher Hinzugewinn des Menschen, sondern der Mensch wurde durch die Bildung als Mensch konstituiert. Indem er als sprachliches Wesen in der rhetorischen Paideia seine Sprache vervollkommnete, ging er als Mensch den Weg, den ihm sein eigenes Wesen aufgetragen hat. Die rhetorische Bildung der Antike besaß für jede humanistische Renaissance der Neuzeit Vorbildcharakter. Die Seelenverwandtschaft ist offensichtlich: Der Mensch wird als sprachliches Wesen wahrgenommen, und Bildung bedeutet vorrangig Beschäftigung mit den überlieferten Zeugnissen der Sprachlichkeit als auch Förderung der eigenen Sprachlichkeit anhand der überlieferten Zeugnisse. Hinter dieser humanistischen Bildung steckt der antike physis-Gedanke, der im Menschen etwas grundgelegt sieht, das er aus sich heraus zur Entfaltung bringen soll. Indem der Mensch sich anhand der literarischen Zeugnisse seiner eigenen Sprachlichkeit vergewissert und diese in sich selbst zur Entfaltung bringt, wird er in vollem Sinne seinem eigenen Menschsein gerecht. Die antiken Autoren – von Isokrates bis Cicero – grenzen das Menschsein gegenüber dem tierischen Leben durch die Sprachlichkeit ab: Der Mensch ist Mensch durch seine Sprache. Träger und Förderer dieser Sprachlichkeit ist der rhetorische Bildungskanon, der damit nicht nur bloße Bildung ist, sondern Ermöglichung der Humanität. Es ist kein Zufall, dass dieser Humanismus entstehen konnte, als die platonisch-aristotelische Metaphysik 116
Burckhardt, Die Zeit Constantins des Großen, S. 304.
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Hellenismus: Krise der Metaphysik – Rhetorizität der Philosophie
ihren Einfluß verloren hatte. Man kann darüber streiten, wie groß dieser Einfluß der Metaphysik in der Antike überhaupt gewesen ist: Fakt ist, dass die Ausrichtung auf die humanistische Bildung und damit verbunden die Formulierung eines auf der Sprache basierenden Menschenbildes sich in den Räumen vollzog, in denen die Metaphysik keinen Einfluss hatte. Nicht die metaphysische Ausrichtung auf die Transzendenz, sondern die humanistische Ausrichtung auf den Menschen in seiner Sprachlichkeit waren die tragenden Grundpfeiler der hellenistischen »Bildung« des Menschen.
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Die topische Erstarrung der Rhetorik im Christentum 8. Patristik
8.1 Die antike Bildung und das Christentum Die Wirkungsgeschichte sowohl der antiken Rhetorik wie auch der Philosophie setzt sich fort im Christentum. Bereits in einem sehr frühen Stadium öffnet sich das Christentum – wenn auch gegen interne Widerstände 1 – der Gesellschaft und gibt seine Botschaft im Rahmen des damaligen Bildungskanons weiter. Jaeger fasst die gesamte Geschichte des frühen Christentums unter dieser Perspektive zusammen, wenn er vom »Prozess einer fortgesetzten Übersetzung« der christlichen Quellen in die Gesellschaft hinein spricht. 2 Durch die pagane Gesellschaft und ihre Bildungsträger werden immer wieder neue Anfragen an das Christentum herangetragen, welche die christliche Theologie auch zu beantworten sucht – im Unterschied zu vielen anderen religiösen Gruppierungen, die auch deshalb im Dunkel der Geschichte verschwunden sind. Die theologischen und philosophischen Anfragen an das Christentum und der Wille der Christen, sich diese Fragen zu beantworten, führten zu einer Formulierung der christlichen Theologie, die ohne den damaligen Bildungskanon nicht möglich gewesen wäre und diesem – nach dem Untergang der römisch-paganen Gesellschaft – sein Überleben sicherte. Die Erkenntnis und Durchdringung der dogmatisch-theologischen Wahrheiten wäre ohne die Philosophie genauso wenig möglich geworden wie ihre Formulierung ohne die Rhetorik. Burckhardt spricht in Bezug auf die Rhetorik von einem »welthistorischen Einfluss«, den diese auf das Christentum genommen habe: »Und dazu möge man noch den welthistorischen Einfluss dieser Rhetorik auf das Christentum bedenken. Im IV. Jahrhundert und schon Vgl. Murphy, Augustinus und die Debatte über eine christliche Rhetorik, S. 60–65. Vgl. Jaeger, Das frühe Christentum und die griechische Bildung, S. 27. Vgl. auch Brown, Macht und Rhetorik in der Spätantike, S. 153 ff.
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Patristik
früher drang sie in die Kirche ein, und der rhetorische und dialektische Eifer wurde über die Dogmatik Meister und gab den großen und so unendlich folgenschweren Kämpfen […] die Form, ohne die sie für uns nicht denkbar sind.« 3
In seinen Ursprüngen befand sich das Christentum in einer sehr distanzierten Haltung gegenüber dem paganen Bildungskanon. Diese Distanz ist diejenige einer neuen Religion, der es um eine wirklich eigene Botschaft geht und die diese Eigenheit auch gegen die vorherrschende Kultur deutlich machen will. Die bisherige Bildung wurde als nutzlose Eitelkeit verworfen. Tertullians berühmte Anklage ist nur die Spitze eines Eisbergs einer im gesamten Christentum präsenten Bildungsfeindlichkeit: »Was hat Jerusalem mit Athen zu schaffen, was die Akademie mit der Kirche?« 4 Die Tatsache, dass Tertullian selbst allerdings ein durchaus gebildeter Mann war und er diese Bildung auch sehr bewusst zur Darstellung seiner Lehre einsetzte, verweist bereits darauf, dass die Verhältnisse nicht derart eindeutig waren wie nach außen kommuniziert. Angefangen bei den Grundlagen des Lesens und Schreibens bis hin zu den Kenntnissen der Literatur, Grammatik und Rhetorik vermittelten die paganen Schulen und Hochschulen das nötige Wissen, das es braucht, die eigene Glaubenspraxis zu beschreiben, die Heiligen Schriften auszulegen, die eigene Botschaft werbend nach außen zu tragen und argumentativ zu festigen. 5 Der Anspruch der Theologie, eine rational verantwortbare Glaubenslehre zu entwerfen, ist sowohl in ihrem Anspruch als auch in ihrer Durchführung nicht denkbar ohne den antiken Bildungskanon. Die antike Rhetorik als Lehre der Konstruktion von Sprache, der Bildung und Beurteilung von Argumenten stellen die Bedingung der Möglichkeit dar, überhaupt Theologie betreiben zu können (und zu wollen!). Rhetorik und Philosophie wurden zu wesentlichen Trägern der neuen christlichen Theologie, ein Prozess, der als solcher im 4. Jahrhundert abgeschlossen wurde und von da aus das Mittelalter wesentlich beeinflusste. 6
Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte, Bd. 3, S. 337 f. Tertullian, praescr. 7 (PL 2). 5 Vgl. Marrou, Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum, S. 585 f. 6 Vgl. Jaeger, Das frühe Christentum und die griechische Bildung, S. 58: »Rhetorik und Philosophie standen seit dem 4. Jahrhundert v. Chr. im Wettbewerb um den ersten Platz auf dem Gebiet der Bildung und Erziehung. Für die Christen war es eine gebieterische Notwendigkeit, beide in ihren Dienst zu nehmen. Dies gelang im dama3 4
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Theologie als Auslegung
8.2 Theologie als Auslegung Die christliche Theologie verfügt über ein festes Objekt ihrer Tätigkeit: Sie ist Auslegung der christlichen Offenbarung. In einem langen Prozess musste sie insbesondere die Rolle der Vernunft in dieser Auslegung klären. Hierzu konnte sie methodisch auf die pagane Exegese zurückgreifen, wie sie insbesondere in der Stoa entwickelt worden war. Wie diese entwickelt sich auch die christliche Exegese in einem engen Verbund mit der Rhetorik: Texterstellung und Texterschließung stellen notwendige Bestandteile einer christlichen Theologie dar, für die mit der Bibel ein Text ihre letztgültige Grundlage ist. Im 2. und 1. vorchristlichen Jahrhundert war in Alexandrien eine breite jüdische Exegese entstanden, die mit den Mitteln der stoischen Allegorese die Bibel interpretierte. Alexandrien besaß eine große jüdische Gemeinde, und diese war selbstverständlicher Teil der hellenistischen Kultur der Stadt. Die jüdische Theologie verstand sich als Auslegung der Heiligen Schrift und insofern war es folgerichtig, dass die jüdischen Theologen in der Auslegung der Schrift auf die methodischen Hilfsmittel zurückgriffen, welche ihnen die sie umgebende Kultur anbot: die stoische Allegorese. Als Begründer der jüdisch-hellenistischen Schriftauslegung gilt der ca. 160 v. Chr. verstorbene Aristobulos. Den jüdischen Exegeten ging es darum, anstößige Stellen der Bibel – wie etwa Anthropomorphismen – deuten zu können. Inhaltlich wurde der Rückgriff auf die pagane Exegese damit begründet, dass ja auch die paganen Autoren – wie Homer, Platon oder Aristoteles – ihre Weisheit der göttlichen Offenbarung zu verdanken hätten, die ihnen durch eine Kenntnis der Schriften des Moses zuteil geworden sei. Als mit Abstand bedeutendster Vertreter der jüdischen Exegese gilt Philon (25/20 v. Chr. – ca. 42 n. Chr.). Er hat ein gigantisches Schriftwerk hinterlassen, das wenig systematisch erscheint, da es ihm weniger um die Anfertigung einer systematischen Theologie ging als vielmehr um eine Auslegung der Heiligen Schrift, aus der sich die Theologie zu entwickeln hat. Er unterscheidet in der Auslegung eine literal-wortgetreue Auslegung von der geistig-allegorischen Auslegung: »Die Auslegung (exegesis) der heiligen Schriften geschieht auf die Weise, dass die in Allegorien verborgene Bedeutung erörtert wird. ligen Augenblick: seit dem Ende des 4. Jahrhunderts n. Chr. beherrschten christliche Rhetorik und Philosophie die Szene.«
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Patristik
Denn die gesamten Gesetzesbücher gleichen nach Ansicht dieser Männer einem Lebewesen, das als Körper die wörtlichen Anordnungen hat, als Seele aber die in den Worten verborgene unsichtbare Bedeutung besitzt. Hierein besonders beginnt die vernunftbegabte Seele das ihr Verwandte zu schauen. Sie erblickt durch die Worte wie durch einen Spiegel die übermäßige Schönheit der in ihnen sich zeigenden Gedanken; sie faltet die allegorischen Symbole auseinander und entfernt sie und führt die Bedeutungen der Worte nackt ans Licht für diejenigen, die imstande sind, durch kleine Indizien das Unsichtbare durch das Sichtbare zu erblicken.« 7
Die Heilige Schrift in ihrer konkreten Formulierung bildet die äußere Hülle einer ihr innewohnenden Wahrheit, die es freizulegen gilt. Diese Freilegung geschieht mit den Methoden der stoischen Exegese und diese Methoden wiederum stehen in einem engen Zusammenhang mit der Rhetorik. Philon war – wie auch die stoischen Homer-Exegeten – davon überzeugt, dass eine künstliche äußere Sprachform das Eigentliche in sich birgt und dass die Entstehung dieser Sprachform gemäß den Regeln der Rhetorik geschehen ist. Der Einfluss Philons auf die beginnende christliche Theologie kann kaum überschätzt werden: Auch diese verstand sich als Auslegung der Heiligen Schrift, welche die nicht überbietbare Offenbarung Gottes darstellt, und griff dankbar auf Philons allegorische Exegese zurück. Die geistige Wahrheit, die es aufzuspüren gilt, ist im Körper der Heiligen Schrift verborgen, und das Ziel des christlichen Denkers ist es, diese Wahrheit freizulegen. Die theologische Durchdringung Gottes ist die exegetische Durchdringung der Heiligen Schrift: Theologie ist Exegese. Jede theologische Wahrheit, die formuliert wird, muss dem Urteil der Schrift standhalten können. Diese exegetische Theologie verlangt nach einer Methodik, mit der auf die Heilige Schrift zugegangen wird. Die pagane Exegese der Stoa sowie die jüdische Exegese bieten das methodische Rüstzeug, das von den christlichen Theologen aufgegriffen und weiter verfeinert wird. Wichtigster Autor in der Entwicklung dieser christlich-exegetischen Methodologie ist Origenes (ca. 185–254). In der Auslegung der Heiligen Schrift unterscheidet er zwischen einem leiblichen Sinn, der die Schrift dem buchstabengetreu-wörtlichen Sinn nach beurteilt, dem seelischen Sinn, der die ethische Dimension der Schrift umfasst, und schließlich 7
Philon, vit. compl. 78.
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Theologie als Auslegung
dem geistigen Sinn, der auf die göttlichen Geheimnisse selbst zielt. 8 Um die nichtwörtliche Ebene des Textes erfassen zu können, greifen Origenes und die anderen Theologen auf die klassische Allegorese zurück und mit ihr auch auf die klassische Rhetorik, welche nicht nur wichtig war für die Weitergabe der christlichen Lehre, sondern für die Erkenntnis der christlichen Wahrheit in der Heiligen Schrift. Die Selbstcharakterisierung der Theologie als Auslegung der Heiligen Schrift erforderte nicht nur Anknüpfungen an die exegetische Methode, sondern im Laufe der Zeit auch eine theoretische Grundlegung, die hermeneutisch zu nennen ist, von Heidegger gar als »erste Hermeneutik großen Stils« 9 gepriesen wird. Diese wurde vorrangig von Augustinus (354–430) durchgeführt, und die Perspektive, aus der er dies tut, ist die Perspektive der Rhetorik. Bevor sich Augustinus dem Christentum zugewandt hatte, war er ein bedeutender Rhetoriklehrer und unterrichtete insgesamt 13 Jahre, schließlich sogar am kaiserlichen Hof in Mailand. Er berichtet in den Confessiones sehr detailliert über seine rhetorische Schul- und Ausbildungszeit, die intensiven stilistischen Übungen, die Beschäftigung mit den verschiedenen Autoren, Cicero an erster Stelle. Augustinus war durch und durch Rhetoriker und als solcher betrieb er Theologie. 10 Sein Werk De doctrina christiana, von Fumaroli als zugleich »letzte antike Rhetorik« und »erste christliche Rhetorik« bezeichnet, 11 gilt mit Recht als einer der Vorläufer der modernen Hermeneutik, sowohl Heidegger als auch Gadamer haben die Bedeutung dieses Werkes mehrfach betont. Bereits in den einleitenden Sätzen zu diesem Werk setzt Augustinus wichtige Markierungen einer exegetisch-hermeneutischen Theologie: »Zwei Dinge sind es, von denen die gesamte Auslegung der Heiligen Schrift abhängt: erstens die Methode, wie man diejenigen Dinge entdeckt (modus inveniendi), die man verstehen muss, und zweitens die Methode, wie man die Dinge, die man verstanden hat, weitergibt (modus proferendi).« 12
Vgl. Origenes, Princ. IV 2,4–5. Vgl. Heidegger, Hermeneutik der Faktizität, S. 12. 10 Vgl. Marrou, Augustinus und das Ende der antiken Bildung, S. 49–73; Magaß, Rhetorik und Philosophie in der Patristik, S. 78 ff. 11 Vgl. Fumaroli, L’Age de l’éloquence, S. 71. 12 Augustinus, De doctr. christ. I 1,1. 8 9
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Patristik
Sowohl Auffindung als auch Formulierung des Themas sind die klassischen Schritte der Rhetorik, inventio und elocutio, und diese Schritte werden zur Methodik der biblischen Exegese und damit der christlichen Theologie als ganzer. Pollmann hat die rhetorische Interpretation dieser Zeilen kritisiert, da die Rhetorik ja nicht nur zwei, sondern fünf Schritte gelehrt habe, nämlich neben der Auffindung (inventio) und Formulierung (elocutio) des Stoffes die Sortierung (dispositio), die Einprägung (memoria) und schließlich die Rede selbst (actio). 13 Nun verhält es sich aber so, dass inventio und elocutio den bedeutendsten und umfangreichsten Teil der rhetorischen Theoriebildung darstellen. Cicero hat zu Beginn seines Werks Orator, aus dem Augustinus oft zitiert, erst recht breit über die möglichst philosophische Stoffauffindung gesprochen und fährt dann fort: »Zu diesen zahlreichen und wesentlichen Punkten sind unzählige Formen des Schmucks hinzuzunehmen.« 14 Stoffauffindung und Ausschmückung des Gefundenen in der Rede sind die beiden Pfeiler der rhetorischen Theorie der Antike. Fuhrmann bezeichnet diese beiden zu Recht als »große Schubfächer, als zusammenfassende Ordnungsbegriffe«. 15 Augustinus, dessen Rhetorik durch und durch von Cicero geprägt ist, übernimmt diese »großen Schubfächer« der Rhetorik als Pfeiler seiner »Christlichen Lehre« (doctrina christiana), somit seiner Theorie über die Bildung der Theologie als ganzer. 16 Die »Christliche Lehre« gründet in der Kenntnis der Heiligen Schrift. Diese besteht aus von Gott gesetzten Zeichen; ein Zeichen definiert Augustinus als »ein Ding, das bewirkt, dass außer seiner äußeren Erscheinung, die es den Sinnen einprägt, irgend etwas anderes aus ihm selbst im Nachdenken ausgelöst wird«. 17 Diese Zeichen zu erkennen und richtig zu deuten bedarf es der Hilfsmittel: Übersetzungen bzw. sprachliche Kenntnisse, Wissen um soziologische oder historische Fakten, der Allgemeinen Wissenschaften, der Künste, Vgl. Pollmann, Nachwort zu: Augustinus. Die christliche Bildung, S. 280. Pollmann sieht nicht in der Rhetorik, sondern in der stoischen Differenzierung von innerem und äußerem Wort den Grund für die Zweiteilung des Werkes De doctrina christiana (vgl. S. 281). Trotz der Bedeutung dieser Unterscheidung für die augustinische (und auch die moderne) Hermeneutik erscheint diese als Strukturgebung für das Werk nicht wahrscheinlich, da die Rhetorik die selbstverständlichere Basis darstellt und ein Abweichen davon deutlicher markiert worden wäre. 14 Cicero, Or. 5,17. 15 Vgl. Fuhrmann, Die antike Rhetorik, S. 76. 16 Vgl. Mainberger, Rhetorica I., S. 328 f. 17 Augustinus, doctr. christ. II 1,1. 13
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Theologie als Auslegung
aber vor allem der Dialektik: »Die Disziplin der Erörterung, d. h. die Dialektik, vermag am meisten bei der Durchdringung und Lösung von allen Arten von Fragen, die in der Hl. Schrift auftauchen.« 18 Augustinus warnt im gleichen Moment vor einem sophistischen Missbrauch der Dialektik, die aber notwendig ist, die Heilige Schrift zu erfassen. Die Dialektik folgt »wahren« und »logischen« Schlüssen, »die nicht von Menschen eingerichtet, sondern vielmehr wahrgenommen und aufgezeichnet worden, damit man diese entweder lernen oder lehren kann«. 19 Augustinus folgt nun dem Prinzip der rhetorischen dispositio, wenn er hinzufügt, dass auch die Kenntnis der Wissenschaft »des Definierens, des Unterteilens und Einteilens« 20 nötig sei. Schließlich gelangt Augustinus zur rhetorischen elocutio: »Es gibt auch einige Vorschriften, die eine reicher ausgeschmückte Redeweise betreffen, welche denn Beredsamkeit genannt wird. Diese sind nichtsdestoweniger wahr, selbst wenn durch sie auch von Falschem überzeugt werden kann.« 21 Auch der Redeschmuck folgt Regeln, die nicht von Menschen eingerichtet, sondern entdeckt wurden, somit logisch und natürlich sind. 22 Augustinus weiß um die Vieldeutigkeit von Sprache, um die vielen Möglichkeiten, im Wort der Heiligen Schrift einen »zwei- oder mehrfachen Sinn« wahrzunehmen. Der Vergleich mit anderen Stellen der Heiligen Schrift, so rät Augustinus, erlaubt schließlich ein Urteil über die betreffende Stelle, auch wenn es der erste Weg sein soll, »zur Aussageabsicht des Autors vorzudringen«. 23 Für den Fall, dass durch den Vergleich mit anderen Stellen der Heiligen Schrift kein Sinn rekonstruierbar ist, »bleibt nichts anderes übrig, als ihn durch Vernunftgründe einsichtig zu machen«. 24 Was Augustinus hier entwirft, ist eine Hermeneutik, und diese Hermeneutik bedient sich erkenntnistheoretischer, aber auch rhetorischer Mittel. Die Heilige Schrift, so Augustinus, besteht aus Zeichen, die nicht mit dem identisch sind, was sie aussagen sollen und A. a. O., II 31,48. A. a. O., II 32,50. 20 A. a. O., II 35,53. 21 A. a. O. II 36,54. 22 Vgl. ebd.: »Diese Sachverhalte, die Wirksamkeit der Rede betreffen, sind eher entdeckt worden, weil sie sich so verhalten, als dass sie von Menschen eingerichtet wurden, damit sie sich so verhalten.« 23 Vgl. a. a. O., III 27,38. 24 Vgl. a. a. O., III 28,39. 18 19
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Patristik
worauf sie verweisen wollen. Damit sind sie – gemäß den Regeln der Rhetorik – uneigentlicher Ausdruck eines Eigentlichen, das es freizulegen gilt. Die Entstehung dieses Uneigentlichen – der in der Bibel fixierten Sprache – hat sich gemäß der Rhetorik vollzogen, somit als metaphorisch-tropische Sprache: »Die Gelehrten aber sollten wissen, dass unsere biblischen Autoren alle Arten der Redeweise, die die Grammatiklehrer mit der griechischen Bezeichnung Tropen nennen, verwendet haben. […] Diejenigen jedoch, die diese Tropen kennen, erkennen sie in der Heiligen Schrift, und durch deren Kenntnis wird ihnen in gewissem Maße geholfen, die Heilige Schrift zu verstehen. […] Deren Kenntnis ist notwendig, um Doppeldeutigkeiten in der Heiligen Schrift, weil ja, während der Sinn dem Wortlaut nach absurd ist, auf jeden Fall erforscht werden muss, ob nicht zufällig mit dieser oder jener Trope ausgedrückt wird, was wir nicht erkannt haben.« 25
Erst durch rhetorische Kenntnisse, durch die Kenntnisse der sprachlichen Konstruktion, ist es möglich, den Sinn der Heiligen Schrift freizulegen. Augustinus entwirft eine theologische Hermeneutik, die in doppelter Weise mit der Rhetorik verbunden ist: einmal prospektiv, da die gewonnenen theologischen Kenntnisse über die Heilige Schrift die Grundlage der Verkündigung und Weitergabe der christlichen Botschaft bilden, dann aber auch retrospektiv im Nachvollzug der Konstruktion der Heiligen Schrift und damit in der Gewinnung der nötigen Erkenntnis selbst. Wenn Augustinus vom Zeichencharakter der Worte spricht, führt er die Bibel auf eine allgemeine linguistische Ebene zurück. Damit wird die Auslegung, die sich auf die biblische Sprache bezieht, zur möglichen Hermeneutik einer jeden Sprache und diese Hermeneutik steht in unauflöslicher Verbindung zur Rhetorik. Die Theologie der ersten Jahrhunderte war nicht nur Auslegung, insofern sie sich auf die Heilige Schrift bezog. Indem sie sich auch auf andere Autoren bezog, indem sie Platon oder Aristoteles auf die Gottesfrage hin auslegte, war sie selbst in ihrem innersten Wesen exegetisch: »Die theologischen Probleme werden zu Problemen der Interpretation.« 26 Die Theologie versteht sich nicht als philosophische Durchdringung der göttlichen Schöpfung, sondern als Auslegung
25 26
A. a. O., III 29,40.41. Hadot, Théologie, exégèse, révélation, S. 18.
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Die theologische »Wende« der Rhetorik
dessen, was als Offenbarung wahrgenommen wird bzw. was in den Zusammenhang der Offenbarung gestellt werden kann.
8.3 Die theologische »Wende« der Rhetorik Die christlich-theologische Nutzung der Rhetorik führte zu einer Umdeutung der Rhetorik selbst, zu einer theologischen Wende der Rhetorik. Die klassisch-humanistische Paideia erstrebte in der Rhetorik eine Beredsamkeit, die der Ausdruck der Bildung schlechthin war. Diese Beredsamkeit war um ihrer selbst willen das Ziel der antiken Bildung. Cicero und andere Autoren haben darauf hingewiesen, dass diese Beredsamkeit im Einklang mit bestimmten ethischen Grundsätzen sein müsste, und haben damit eine notwendige Bindung an die Philosophie proklamiert. Dennoch blieb es unbestritten, dass die Beredsamkeit des Menschen ein derart hohes Gut ist, dass sie um ihrer selbst willen anzustreben ist. Sie steht nicht im Gegensatz zur Ethik oder zur sonstigen Bildung, sondern ist ihr notwendiger Ausdruck, das Kennzeichen dafür, dass der Mensch über Bildung verfügt. Natürlich wurde auch zu Ciceros Zeit die Rhetorik zur Durchsetzung von Zielen missbraucht, die der Ethik nicht entsprachen. Die manipulative Kraft der Rede war nie übersehen worden. Dennoch ist die antike Bildung von dem humanistischen Grundgedanken getragen, dass eine gute Beredsamkeit nicht nur eine technische Fähigkeit ist, sondern Ausdruck eines bestimmten Menschenbildes. 27 Die Paideia ist nicht nur eine zu erlernende Technik, sondern wirklich Formung des Menschen, der sein Menschsein erst in der Bildung entfalten kann, und diese ist nur als rhetorische denkbar. Die Rhetorik verändert sich radikal im Christentum, weniger in ihrer äußeren Gestalt als vielmehr im Verständnis dessen, was Rhetorik ist: Sie wird vom Inhalt der Bildung zur Methode der Bildung. Diese Veränderung ist im Wesen des Christentums begründet, das seine Wahrheit nicht in einem Diskurs finden muss, sondern sich als Religion bereits im Besitz einer Wahrheit befindet. Ziel der christlichen Paideia ist die Vermittlung dieser Wahrheit. Im IV. Buch von De doctrina christiana und in De magistro vollendet Augustinus die Neubewertung der Rhetorik. Augustinus geht in De magistro der Frage nach, wer der wahre Lehrer ist, was es ist, das dem Menschen 27
Vgl. Marrou, Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum, S. 191 ff.
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Patristik
Wahrheit vermittelt. Hier spricht er der Bildung durchaus eine nützliche Funktion zu; die wahre Einsicht des Menschen, so Augustinus, liegt jedoch nicht in den Dingen, die von außen zu ihm gelangen, sondern in seinem Inneren, und das sei Christus als »Kraft Gottes und […] ewige Weisheit«. 28 Die Sprache als solche verfügt nur über sehr begrenzte Fähigkeiten, die nicht zur Erkenntnis selbst führen: »Nur so viel haben Wörter – um ihnen ihre stärkste Funktion zuzuerkennen – vermocht: Sie fordern uns lediglich dazu auf, die Sachen zu suchen, bewirken jedoch nicht, dass wir sie kennen.« 29 Am Beginn des Dialogs hat Augustinus lange und ausführlich über den Zeichencharakter und die Arbitrarität eines Wortes gesprochen. 30 Das Wort kann auf ein anderes verweisen, es ist aber nicht mit dem Bezeichneten identisch und es kann auch in die Irre führen. Aus dieser Defizienz, die jedem Wort innewohnt, ergibt sich für Augustinus die logische Konsequenz, dass der Gebrauch der Sprache immer von einer gewissen Unsicherheit begleitet ist: Sie kann auf etwas verweisen, sie kann helfen, das Bezeichnete zu finden, aber sie ist nicht identisch mit der Erkenntnis des Bezeichneten. Augustinus erkennt die der Sprache immanente Schwäche und folgert daraus ihre Unfähigkeit, die Erkenntnis selbst sein zu können. Damit ist nicht die Sprache der Lehrer des Menschen, sondern Christus als der »innere Lehrer«. In späteren Werken, vor allem in De Trinitate, wird Augustinus an die Stoiker anknüpfen und vom verbum interius, dem inneren Wort sprechen, das dem ausgesprochenen, äußeren Wort zwar zugrunde liegt, durch dieses aber nicht vollständig ausgesagt werden kann. 31 Die Konsequenzen für die Rhetorik führt Augustinus in De doctrina christiana aus. Die Rhetorik hat ihre Bestimmung darin, der christlichen Wahrheit zu dienen. 32 Hier entfaltet sie einen großen Nutzen – und ist in der konkreten Verkündigung sogar notwendig –, aber eben nur im Kontext der Weitergabe der christlichen Botschaft bzw. im VoranVgl. Augustinus, mag. 11,38: »Über alles aber, was wir erkennen, befragen wir nicht einen Sprechenden, der draußen seine Stimme ertönen lässt, sondern die innerlich über den Geist selbst waltende Wahrheit – durch Wörter vielleicht aufgefordert, sie zu befragen. Jener aber, der befragt wird, lehrt, der, von dem es heißt, er wohne im inneren des Menschen: Christus, das ist die unveränderliche Kraft Gottes und die ewige Weisheit.« 29 Augustinus, a. a. O., 11,36. 30 Vgl. Augustinus, a. a. O., 4,6–9. 31 Vgl. Augustinus, trin. XV. 32 Vgl. Kennedy, Classical Rhetoric, S. 180 f. 28
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Die theologische »Wende« der Rhetorik
schreiten im Glauben: »Die Weisheit eines christlichen Redners steht nun in direktem Verhältnis zu seinem Fortschritt im Verständnis der Heiligen Schrift.« 33 Augustinus weist die Rhetorik der biblischen Texte nach, spricht aber von »Prahlerei«, 34 wenn die Aufzählung der rhetorischen Elemente dem Nachweis der Bildung und nicht der Wahrheit dient. Die Rhetorik ist nützlich, hat sich aber ihrem theologischen Ziel unterzuordnen: »Was nützt ein goldener Schlüssel, wenn er nicht öffnen kann, was wir wollen?« 35 Augustinus als Rhetoriker weiß um die große Macht der Sprache, um ihre manipulative Kraft: »O Beredsamkeit, die umso schrecklicher ist, je reiner sie ist, und umso heftiger, je fester in ihren Aussagen!« 36 Weil er um diese Kraft weiß, nennt er den Missbrauch dieser Kraft wenige Zeilen später einen Wahnsinn, nicht ohne sich in der Formulierung rhetorischer Mittel zu bedienen: »Ein so großer Wahnsinn soll von uns fern sein, sage ich. […] Und in der Tat sollen die Dinge, die gesagt werden, lieber weniger verstanden werden, weniger gefallen, weniger erschüttern: Es soll aber auf jeden Fall die Wahrheit gesagt werden.« 37 Indem Augustinus diese im Christentum bereits durchgeführte und gelebte Verschiebung der Rhetorik in den Dienst der Theologie argumentativ untermauert, vollzieht er endgültig deren »theologische Wende« und legt die Fundamente einer Neuausrichtung, welche die antike Bildung ins Mittelalter hinüberführt. In seinem Werk Augustinus und das Ende der antiken Bildung spricht Marrou von einer Umkehrung der »Wertordnung«, 38 von einem Bruch mit der bisherigen jahrhundertealten Bildungstradition. 39 Marrou nennt einen doppelten Sinn, in dem dieser Bruch revolutionär ist: Zum einen durch die Religiosität der Rhetorik, zum anderen durch die Methode, die Bildung im Rückgriff auf die Heilige Schrift und die kirchlichen Klassiker zu sehen:
Augustinus, doctr. christ. IV 5,7. A. a. O., IV 7,14 35 A. a. O., IV 11,26. 36 A. a. O., IV 14,30. 37 Ebd. 38 Vgl. Marrou, Augustinus und das Ende der antiken Bildung, S. 423. 39 Vgl. a. a. O., S. 430: »Man muss die Kühnheit einer solchen Behauptung richtig einschätzen. Das behaupten hieß nichts weniger, als mit einer achthundertjährigen Tradition zu brechen und sich dem entgegenzustellen, was die Menschen seinerzeit für das Wesentliche der Bildung hielten.« 33 34
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Patristik
»Dies alles steht im Gegensatz zur antiken Pädagogik, die sich mühte, das Funktionieren der Redekunst bewusst zu machen, die eine Theorie, ein System von Regeln hatte, das von allen anerkannt und übernommen wurde und das allen geistig Schaffenden einen einheitlichen Bildungsrahmen auferlegte.« 40
Marrou sieht diese Aussage im Kontext der pädagogischen Methode, das Revolutionäre liegt aber tiefer, und er deutet dies in diesen Zeilen zumindest an: Es ist die Neueinschätzung der Sprache. Die bisherige Rhetorik sah ihr Fundament darin, eine sprachliche Kunst zu entwickeln und zu theoretisieren: Die Sprache selbst war Fundament und Ziel der Rhetorik, die Sprache wurde im Sinne des Humanismus als die den Menschen konstituierende Größe gedeutet. Bei Augustinus wird die gesprochene Sprache – und damit auch die Rhetorik – zum Mittler des eigentlichen Ziels: der religiösen Wahrheit. Damit kommt es zu einer Umdeutung der Rhetorik, die ihrer humanistischen Wurzeln entlegt wird und einer religiösen Metaphysik untergeordnet wird: Sie wird zur Funktion. 41 In De Magistro hat Augustinus auf diese Funktionalität von Sprache hingewiesen, und die Reduzierung der Sprache auf ihre Funktionalität ist die Umkehrung der bisherigen Rhetorik. Blumenberg sieht hier mit Recht die Spaltung der traditionellen philosophischen Einheit von Sein und Wahrheit zugunsten einer göttlichen transzendenten Wahrheit. 42 Die bisherige Einheit von Sein und Wahrheit war die des Begriffs, und mit Augustinus und seinem Sprechen vom »inneren Lehrer« oder vom »inneren Wort« wird diese Einheit dem Begrifflichen entzogen und so eine neue Funktionalisierung der Rhetorik ermöglicht. Blumenberg spricht hier von einer »Depotenzierung der antiken metaphysischen Dignität zugunsten der Auszeichnung des Menschen«. 43 Blumenberg trifft diese Aussage mit Blick auf Laktanz und sein Werk Divinae Institutionis. Sie ist jedoch genauso gültig mit Blick auf Ebd. Vgl. Gutzen/Ottmers, Christliche Rhetorik, 205: »Der Weg, auf dem Rhetorik zum produktiven Partner der Theologie hätte werden können, war durch Augustinus zwar angebahnt, aber durch ihn zugleich auch teilweise wieder verdeckt worden.« 42 Blumenberg, Kritik und Rezeption antiker Philosophie in der Patristik, S. 489: »[…] wird man gewahr, dass sie die in der klassischen Philosophie der Griechen grundgelegte Identität von Sein und Wahrheit (im Sinne der veritas ontologica) auflöst. Die Wahrheit ›gehört‹ Gott, der alles geschaffen hat; mit dem Sein, das er begründet, gibt er nicht zugleich die Erkennbarkeit aus der Hand.« 43 Blumenberg, a. a. O., S. 493. 40 41
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Die theologische »Wende« der Rhetorik
Augustinus, weil es einen wichtigen Aspekt der christlichen Wende der Rhetorik benennt: letztlich war die antike Rhetorik zumindest deutbar als ein bloß sprachliches System, eine einzigartige Verherrlichung der sprachlichen Schönheit. Indem die christliche Theologie nun die Sprache nicht mehr für sich betrachtet, sondern in ihrer göttlichen oder menschlichen Abhängigkeit, wird die Sprache nicht mehr zum Selbstzweck der Bildung, sondern zu ihrem Mittel. Damit gewinnt die Rhetorik innerhalb des Bildungskanons eine neue Rolle, die sie für das Mittelalter behalten wird. Dieses Schicksal wird sie mit der Philosophie teilen, die als »Magd der Theologie« ebenfalls zur Dienerin der Theologie wird. Die christliche Theologie wird sowohl die Rhetorik als auch die metaphysische Philosophie konservieren, aber nur als ihre Gehilfen. 44 Durch die unauflösliche Bindung der Rhetorik an das göttliche Wort und an seine Auslegung in der Theologie wird ein weiterer Aspekt der »theologischen Wende« deutlich, auf den Mainberger hingewiesen hat: »Res gegen signa, so lautet die Parole christlicher Umkehrpraxis. Augustinus hat sehr wohl gewusst, welchen radikalen Umschwung er damit einleitete, nämlich nichts Geringeres als die wohl erstmals konsequent inszenierte Fiktionalisierung der Welt, des inneren wie des äußeren Universums.« 45
Indem die Sprache nicht mehr Ausdruck (signum) einer Sache (res) ist, sondern im Wort Gottes die definitive Aussage dieser Welt ist, wird aus einem variablen sprachlichen Zeichen die Sache selbst, an der sich die Wahrnehmung der Welt auszurichten hat. Der Kosmos regelt nicht mehr die Sprache, sondern die Sprache den Kosmos. Indem Gott selbst sich in der Sprache mitgeteilt hat, wird diese zum entscheidenden Kriterium menschlicher Erkenntnis. Die Rhetorik bleibt einerseits notwendig für die Wahrnehmung der als definitiv erkannten Sprache, verliert jedoch andererseits die Freiheit, die sie in der klassischen Paideia des Altertums besessen hat.
Vgl. Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, S. 9: »Die platonische Unterwerfung der Rhetorik, besiegelt durch die christliche Patristik, hat freilich auch die traditionell-schulmäßig zur Rhetorik gehörenden Gegenstände endgültig zum bloßen technischen Rüstzeug der ›Wirkungsmittel‹ geschlagen – wenn nun auch aus der Rüstkammer der Wahrheit selbst.« 45 Mainberger, Rhetorica I, S. 324. 44
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Patristik
Ein weiterer Aspekt für die neue Rolle der Rhetorik ist soziologischer Natur: die Redekunst hatte ihre politische Dimension verloren, die sie beispielsweise in der römischen Republik besessen hat, sie wird im Christentum zur Schriftkunst, »auf dem Boden eines in der Form der Lehre (doctrina) verwalteten Sinnangebots«. 46 Dies allein erklärt jedoch nicht die neue Rolle der Rhetorik: auch wenn sie ihre politische Relevanz verliert, so war sie dennoch weiterhin wirkmächtig als Merkmal der philosophischen Diskussion, die auf die Rhetorik angewiesen war und diese sehr bewusst eingesetzt hat. Insofern die Philosophie über ein humanistisches Fundament verfügte und die Sprache als höchsten Ausdruck des Menschen zu veredeln suchte, besaß die Rhetorik eine gewichtige Rolle, die nicht zu reduzieren ist auf die bloße Erlernung der Redekunst, sondern eine eigenständige geistige Größe war. In dem Augenblick, in dem die philosophische Diskussion – und mit ihr die Rhetorik – letztlich Teil der theologischen Diskussion wurde und damit zugunsten der religiösen Offenbarung immer mehr relativiert wurde, verlor die Rhetorik die letzte Chance ihrer Eigenständigkeit. Die Theologisierung von Rhetorik und Philosophie bedeutete die Verabschiedung des Humanismus: die Größe des Menschen, die sich in besonderer Weise in seiner Sprachlichkeit ausdrückte, ist nicht mehr die Größe des Menschen selbst, sondern er verdankt diese seiner Bezogenheit auf den göttlichen Ursprung. Die Größe des Menschen ist die Größe Gottes. Entsprechend wird das, was der Mensch hervorbringt, auf Gott hin gedeutet und hat sich dem Ziel unterzuordnen, der Erkenntnis Gottes zu dienen. Entsprechend funktional wird die Sprache des Menschen gedeutet und mit ihr die Rhetorik. Diese verliert nicht ihre äußere Form und verbleibt als wichtiger Teil des neuen christlichen Bildungskanons, verliert aber ihre Bedeutung und ihre Selbständigkeit. Sie lebte weiter als Magd der Theologie, als Teil des metaphysischen Systems der christlichen Theologie. Das, was der Metaphysik unter Platon oder Aristoteles
Vgl. Göttert, Einführung in die Rhetorik, S. 129 f.: »Die Redekunst verwandelte sich in eine Schriftkunst, wie es letztlich der Verlagerung von einer (vorwiegend) mündlichen Kultur zu einer (vorwiegend) schriftlichen entsprach. Augustinus führt weit weg von der ›republikanischen Diskussionsgemeinschaft‹, der die Rhetorik einmal diente, und zwar hin zu einer ›hierarchischen Glaubens-, Gehorsams- und Volksgemeinschaft‹ auf dem Boden eines in der Form der Lehre (doctrina) verwalteten Sinnangebots.«
46
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Die theologische »Wende« der Rhetorik
nicht gelungen war, gelingt ihr nun im Gewand des Christentums: die reine und ausschließliche Funktionalisierung der Rhetorik und ihr Ausschluß aus dem philosophischen Diskurs.
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9. Mittelalter
Die meisten antiken Texte sind im Übergang von der Spätantike zum Mittelalter verloren gegangen. Im Laufe des Mittelalters wurden viele dieser Texte wieder entdeckt, aber erst einmal standen nur sehr wenige von ihnen den mittelalterlichen Autoren zur Verfügung. Die mittelalterliche Rhetorik stützte sich im Wesentlichen auf folgende Texte: 1 Ciceros Jugendwerk De inventione, dessen Kommentierung durch Marius Victorinus, die zu dieser Zeit Cicero zugeschriebene Rhetorik an Herennius, sowie einige Schriften von Augustinus und Boethius, in denen diese die antiken Texte aufgegriffen und bearbeitet hatten. Die anderen großen Rhetorik-Werke der Antike spielten erst einmal keine Rolle, Quintilian beispielsweise wurde erst im 12. Jahrhundert rezipiert. Die für die mittelalterliche Rhetorik maßgebliche rhetorische Autorität ist zweifelsohne Cicero. Die Bedeutung der Rhetorik für das Mittelalter ist durchaus ambivalent: einerseits ist auch weiterhin kein Text denkbar ohne die in der Rhetorik vermittelten Strukturen, andererseits verliert sie als Teil des in den Artes liberales vermittelten Bildungskanons weitgehend ihre epistemologischphilosophische Relevanz.
9.1 Die Rhetorik in den Artes liberales Der Ursprung der Artes liberales liegt in der Antike. Vermittelt und in die für das Mittelalter gültige Form gegossen wurden sie von Martianus Capella, der zu Beginn des 5. Jahrhunderts lebte. In seinem Werk De nuptiis Philologiae et Mercurii (»Die Heirat zwischen Philologia und Mercurius«) beschreibt er die Freien Künste, das mathematische Quadrivium, bestehend aus Arithmetik, Geometrie, Musik Vgl. Fried, Dialektik und Rhetorik im früheren und hohen Mittelalter, S. IX; Ward, Cicero’s Rhetorica, S. 53 f.
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Die Rhetorik in den Artes liberales
und Astronomie, dem ein sprachliches Trivium beigeordnet ist: Grammatik, Rhetorik und Dialektik. Im Grammatikunterricht wurden – nach dem Erlernen von Lesen und Schreiben – die Grundlagen der lateinischen Sprache vermittelt. Die Rhetorik war eine Stillehre, sie lehrte die ars bene dicendi, die Kunst des schönen Ausdrucks. Diese Vermittlung war – wie in der antiken und mittelalterlichen Bildung üblich – ausgerichtet auf die großen Texte der Tradition, die nach ästhetisch-rhetorischen Kriterien beurteilt und analysiert wurden und dann auch den eigenen Ausdruck prägen sollten. Die Dialektik schließlich schaute auf die logische Argumentation, auf die sich in der Sprache vollziehende Rationalität. Verschiedene Autoren des frühen Mittelalters haben ausführliche Schriften über die Artes liberales verfasst und der mittelalterlichen Bildung damit einen festen Rahmen gesetzt: zu nennen wären Cassiodor (490–583), Isidor von Sevilla (560–636) oder Beda Venerabilis (672–735). Diese Autoren bemühten sich intensiv, einen möglichst großen Teil des antiken Erbes in den neu zu konstruierenden Bildungskanon zu retten, hatten jedoch wenig Interesse an einer grundsätzlichen Diskussion über die Rhetorik bzw. über die Einordnung der Rhetorik in einen ihr übergeordneten epistemologisch-philosophischen Zusammenhang. Eine der wenigen Ausnahmen ist Boethius (480–524), der ähnlich wie Augustinus an der Grenze der Antike zum Mittelalter steht und als Vermittler antiken Denkens einen ungeheuer großen Einfluss auf das mittelalterliche Denken genommen hat. Neben bedeutenden Kommentaren einiger Werke des Aristoteles verfasste er einen Kommentar zu Ciceros Topik sowie die Schrift De differentiis topicis, in der er sich ebenfalls mit der antiken Topik beschäftigte und die als Topica Boetii im gesamten Mittelalter eine große Wirkungsgeschichte besaßen. Boethius unterscheidet in diesem Werk die analysis, die rationale Rede, die in ihren Syllogismen und ihrem Schema TheseFrage-Schluß Ausdruck der Wissenschaftlichkeit ist, von der inventio, die topisch ist. Die Topik ist der Kern sprachlicher Argumentation, sie zeigt den »Ort« an, an dem das Argument seinen Sitz hat und von wo aus es entfaltet werden kann. 2 Damit ist die Topik, so Boethius, relevant für alle Bereiche, in denen es um sprachliche Beweisführung geht: Dialektik, Rhetorik, Philosophie und Sophistik. Boethius beginnt nun zwischen der Rhetorik und der Dialektik zu Vgl. Boethius, diff. top. 1174 (PL 64): »Locus autem sedes est argumenti, vel id unde ad propositam questionem conveniens trahitur argumentum.«
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Mittelalter
differenzieren; erstere arbeite mit »Hypothesen« (definiert als von äußeren Umständen beeinflusste Fragen), letztere mit »Thesen« (definiert als Fragen ohne Beeinflussung äußerer Umstände). 3 Boethius differenziert nicht mehr die Rhetorik von der Philosophie, indem er vom Wahrheitsgehalt des Gesagten ausgeht, sondern – ausgehend von der Argumentationsweise – die Rhetorik von der Dialektik. 4 Damit wird jedoch die Rhetorik aus dem Wahrheitsdiskurs der Philosophie ausgeklammert und zu einer bloßen Argumentationsform. Als solche wird die Rhetorik Teil der mittelalterlichen Bildung. Sie wird abgegrenzt von der Dialektik, die an die Stelle der Philosophie getreten ist: die Wahrheit selbst wird nicht in der Philosophie gefunden, sondern durch die Theologie vermittelt. Die Dialektik hat nun die Aufgabe, diesen Vermittlungsprozess in ihren Argumentationsstrukturen zu analysieren. Ihr ist die Rhetorik beigeordnet, in der die Techniken und Äußerlichkeiten dieser Vermittlung beschrieben werden. Die Rhetorik ist zwar notwendiger Bestandteil des Bildungskanons, aber in ihrer Funktionalität sehr eingeschränkt. Die Bedeutung der Rhetorik für das mittelalterliche Denken ist schwer einzuschätzen. Die Ansicht, es würde sich bei ihr um eine bloße Kunstlehre ohne jede theoretische Relevanz handeln, ist nicht haltbar. P. von Moos verweist auf die durchaus präsente Rezeption der Cicero-Kommentierung und die zahlreichen Bearbeitungen von Boethius oder auch Marius Victorinus, um festzustellen, »wie ungebrochen sich […] die Rhetorik und Dialektik verbindende Leitidee der argumentativen persuasio( oder pragmatische Intentionalität erhalten hat«. 5 Dennoch kann auch dieser berechtigte Hinweis nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Wahrnehmung der epistemologischen Dimension der Rhetorik im Mittelalter gegenüber der Antike stark nachgelassen hat und sich weitgehend auf die Vermittlung der Stillehre beschränkte. Boethius lebte in einer Zeit, in der die klassische Rhetorik aufgrund der politischen Lage keinerlei praktische Relevanz besaß. Die Einordnung der Rhetorik in die Theorie war daher konsequent. Die mittelalterliche Bildung griff gerade auf diese theoretisierte Rhetorik zurück, da sie sich gut mit dem letzten Ziel der Bildung vereinbaren ließ: der sprachlichen Formulierung einer theoVgl. Boethius, diff. top. 1205 (PL 64). Vgl. Murphy, Rhetoric in the Middle Ages, S. 69 f. 5 Von Moos, Rhetorik, Dialektik und »civilis scientia«, S. 143. Vgl. auch Michel, La rhétorique, sa vocation et ses problèmes, S. 43 f. 3 4
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Die Topisierung
retisch erfassten Wahrheit. 6 Gerade in dieser Orientierung besaß die Rhetorik einen großen Einfluss: indem die Theologie die Rhetorik zu vereinnahmen suchte, konnte sie sich aufgrund ihrer eigenen Sprachlichkeit einer Vereinnahmung ihrerseits nicht widersetzen. 7 Vickers nennt eine interessante und wohl auch treffende Ursache für den Niedergang der Rhetorik, die er als eine Zersplitterung (fragmentation) beschreibt. 8 Neben der geringen Kenntnis der antiken Quellen aufgrund des schlechten Überlieferungszustands nennt er den »Verlust des Kontextes«. 9 Mit diesem meint er das geistige Umfeld, das in der Antike die Rhetorik erzeugt hat. Wenn dieses wegfällt, dann ist es zwar möglich, die äußere Form der rhetorischen Texte oder rhetorische Formeln zu bewahren, aber durch den Verlust des geistigen Umfelds, das diese Quellen hervorgebracht hat und durch die Einordnung in den neuen Bildungskontext der Artes liberales kommt es zur entscheidenden (und aus antiker Perspektive entstellenden) Veränderung der Rhetorik. Der von Vickers benannte Kontext ist in einem humanistischen Menschenbild zu suchen: dieses hat die Rhetorik in der Antike hervorgebracht und wurde nun abgelöst durch eine im engeren Sinne religiöse Weltdeutung, die sich noch der Rhetorik bediente, im Menschen und seiner Sprachlichkeit aber nicht mehr die eigene Mitte erkennen wollte.
9.2 Die Topisierung Boethius hatte in seinen Schriften die Fundamente der theoretischen Begründung der mittelalterlichen Rhetorik gelegt. Dies hatte er im Rückgriff auf die Topik Ciceros getan und seiner Argumentationslehre – sei sie rhetorisch oder dialektisch – eine topische Grundstruktur Vgl. Leff, Boethius’ De differentiis topicis, S. 22 f. Vgl. Maurer, Der junge Melanchthon, Bd. 1, S. 208 f.: »Je mehr das Mittelalter seinem Ende zuging und die Hochscholastik die rhetorische Tradition beseite gedrängt hatte, desto inniger hatte sich diese mit der Theologie, wir würden heute sagen mit der exegetischen und mit der praktischen Theologie, verbunden.« 8 Vgl. Vickers, In Defence of Rhetoric, S. 214 f. 9 Vgl. a. a. O., S. 217. Vgl. auch a. a. O., S. 249 f.: »The ability to conceive to a totality is not only a question of knowledge, of having access to the relevant documents, but also being able to see a discipline, or a period, in his wholeness. The Middle Ages werde certainly aware of the difference between a Christian present and a pagan past. However, the approached the classical world not historically but pragmatically, as a living continuum, albeit fragmented and distorted.« 6 7
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Mittelalter
gegeben. Diese wurde im Laufe des Mittelalters immer mehr ausgebaut und verfeinert – auch unter dem Eindruck immer neuer Schriften Ciceros oder auch Quintilians, die aus der Antike entdeckt wurden. Die Ursachen dieser Topisierung liegen im rezeptiven Grundzug der mittelalterlichen Theologie bzw. Philosophie: Die Wahrheit musste nicht gefunden werden, sie war bereits da, und sie war bereits ausformuliert, in der Heiligen Schrift und in der Tradition der Kirche. Die theologische Argumentation folgt den traditionellen rhetorischen Schritten, wie sie vor allem in der Jurisprudenz dauerhaft ausgeübt worden war. Es wurde eine quaestio vorgelegt, die dann in festgelegten rhetorischen Schritten durchgearbeitet wurde. Das Verfahren, die Argumente zu finden, zu gewichten und in die Argumentation einzufügen, wurde in der Rhetorik beschrieben und war topisch. Es ist kein Zufall, dass im Mittelalter große Sammlungen von Texten und Zitaten der Kirchenväter entstehen, die »Sentenzen«, in denen der Theologe schnell die wichtigen Argumente der Tradition finden konnte. Beginnend mit Petrus Lombardus im 12. Jahrhundert, erreichte die Sentenzenliteratur im 13. Jahrhundert ihren Höhepunkt mit Autoren wie Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Bonaventura und Johannes Duns Scotus. Die Bedeutung, die diese Sentenzenkommentare besaßen, ist ein wichtiges Kennzeichen der topischen Grundstruktur des damaligen Denkens. Die Wahrheitsfindung vollzog sich in den Bahnen dessen, was als wahrheitsgemäß galt und damit innerhalb der Grenzen der jedem offensichtlichen Topoi. 10 Die Rhetorik hat dieses Verfahren beschrieben, das als streng logisch galt: es gab keinen Gegensatz zwischen der Rhetorik und der Logik, die Rhetorik war Teil der Logik, was dazu führte, dass eine Argumentation mit dem Anspruch, sich in einem logischen Verfahren der Wahrheit zu nähern, rhetorisch war. 11 Dies gab der Rhetorik einen auf den ersten Blick sehr wirkmächtigen Einfluss, 12 allerdings war es der Einfluss eines bestimmten rhetorischen Schlussverfahrens, das mit der inhaltlichen Weite und epistemologischen Relevanz der antiken Rhetorik nicht mehr viel gemein hatte. Entsprechend oberflächlich war die Topik, die nicht mehr aus der Sprache heraus entwickelt wurde, sondern Vgl. von Moos, Rhetorik, Dialektik und »civilis scientia«, S. 136: »Der gemeinsame Kern und die pragmatische ›conditio sine qua non‹ aller Rhetorik und Dialektik lässt sich definieren als eine in Kontroversen Zustimmung erzeugende Strategie aufgrund topischer Basisübereinstimmung.« Vgl. Ward, Cicero’s Rhetorica, S. 66. 11 Vgl. Luscombe, Dialectic and Rhetoric, S. 1. 12 Vgl. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 129–142. 10
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Der Universalienstreit
sich einem Absoluten und Objektiven verdankte, das nicht mehr in einer inventio gefunden, sondern geoffenbart wurde.
9.3 Der Universalienstreit Die Reduzierung der Rhetorik auf ihre schulische Funktion und ihre Ausklammerung aus dem erkenntnistheoretischen Diskurs hängt mit einer bestimmten Sichtweise auf die Sprache zusammen. Die frühscholastischen Philosophen des Mittelalters vertraten die Ansicht, dass allgemeinen Begriffen, den Universalien, eine eigene, »reale Existenz« zuzusprechen sei. Der Sprache ist also eine von der konkreten Welt unabhängige ontologische Bedeutung beizumessen. Über Neuplatonismus und Kirchenväter hatte die platonische Ideenlehre eine größere Eindeutigkeit gewonnen als sie in ihrem Ursprung besessen hatte: ist die eigenständige Existenz der Ideen bei Platon selbst zwar oft angedeutet, aber nicht eindeutig festgeschrieben, haben paganer und christlicher Platonismus in den folgenden Jahrhunderten den Ideen als Inhalt des göttlichen Nous oder als Gedanken Gottes einen eigenen ontologischen Bereich zugesprochen, der nicht abhängig ist von der konkreten Welt, sondern im Gegenteil jene sich in ihrer Abhängigkeit befindet. Der ontologische Gottesbeweis eines Anselm von Canterbury ist nicht denkbar ohne diese Überzeugung, dass die Wirklichkeit sich in Abhängigkeit von den allgemeinen Begriffen befindet. Wenn die Erfassung der Wirklichkeit sich an den Begriffen orientiert, nicht die Begriffe an der Wirklichkeit, dann kann die Rhetorik keine erkenntnistheoretische Relevanz besitzen. Platon musste die Rhetorik der Sophisten ablehnen, da sie auf der wankelmütigen Doxa aufbaute, die nur ein schwaches Abbild der ewigen Ideen ist. Aus dem gleichen Grund verlor die mittelalterliche Rhetorik ihre philosophische Relevanz, da sie nicht mehr der sprachlichen Erfassung der Wirklichkeit dienen konnte, sondern maximal der Vermittlung des bereits in den Begriffen Gefassten. Diese Einschätzung der Rhetorik musste sich in dem Augenblick ändern, in dem die eigenständige, von der Wirklichkeit unabhängige Existenz der Universalien bestritten wurde und die Sprache einer neuen Deutung unterzogen wurde. Ende des 11. Jahrhunderts setzt die Kritik an der Realität der Universalien ein. Der bedeutendste Autor dieser Kritik ist Peter Abaelard 259 https://doi.org/10.5771/9783495817773 .
Mittelalter
(1079–1142), der die Universalien nicht als eigenständige Entitäten, sondern als Produkt der menschlichen Vernunft beschreibt. So heißt es in den Logica Ingredientibus: »Die Universalie ist ein Wort, das aufgrund menschlicher Festlegung geeignet ist, einzelnen von mehreren ausgesagt zu werden.« 13 Dieses Wort ist eine Hervorbringung des menschlichen Geistes. Das Allgemeine des Wortes vollzieht sich erst in der Festlegung: indem die Menschen dem einzelnen Wort im Konsens eine Bedeutung geben, wird es zur Universalie, zur »vox significativa«. 14 Somit ist es der Gemeinsinn, der die Worte nicht nur als physischen Laut, sondern als Bedeutungsträger erschafft. Damit führt Abaelard die Begriffe von der ontologischen auf die sprachliche Ebene und eröffnet so auch der Rhetorik wieder neuen epistemologischen Raum, den dann sein Schüler Johannes von Salisbury (1115–1180) nutzen wird. Dieser veröffentlicht 1159 die Schrift Metalogicon, in der er die Rhetorik neu in die grundsätzlichen Fragestellungen der Philosophie einordnet. Wie Aristoteles geht Johannes von Salisbury davon aus, dass sowohl wissenschaftliche (dialektische) als auch nichtwissenschaftliche (rhetorische) Argumentation auf dem aufbaut, das »allen oder den meisten oder Gebildeten wahr erscheint«. 15 Während die Dialektik in ihrer Argumentation auf etwas Allgemeingültiges zielt, darüber eine quaestio oder thesis aufstellt und diese überprüft, beschäftigt sich die Rhetorik mit dem Konkreten und stellt darüber eine zu überprüfende hypothesis auf. In der Dialektik geht es um die ratio, die Vernunft bzw. die vernünftige Durchdringung der Sprache, während es in der Rhetorik um die oratio geht, die sprachgewandte Vermittlung dessen, was in der dialektischen Analyse zutage getreten ist. Was in der Dialektik induktiv aus dem Einzelnen zum Allgemeinen hin entwickelt wurde, wird in der Rhetorik wieder auf das Eine und Konkrete bezogen. 16 Dialektik und Rhetorik sind aufeinander bezogen und als Fundament dieser Bezogenheit erkennt Johannes von Salisbury die Sprache, und zwar nicht die Sprache in Form eines abstrakten Begriffs, sondern die konkrete Sprache, die eine Sache zu erfassen versucht und sich als AlltagsspraPetrus Abaelardus, LI 16,25. Vgl. Petrus Abaelardus, Dial. 562,25. 15 Johannes v. Salisbury, Met. 859d. 16 Vgl. Gerl, Rhetorik und Philosophie im Mittelalter, S. 112 f.: »[…] D. h. rhetorische eloquentia verhält sich zur Dialektik als deren zweiter Hauptteil, welcher nämlich die Allgemeinanalyse wieder kraft Sprache zurückbezieht auf das singulum. Topisch-dialektisch erhobene Wahrähnlichkeit wird konkretisiert, angewendet am Einzelfall.« 13 14
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Der Universalienstreit
che darbietet. Zu Recht erkennt Gerl in ihrer Untersuchung über die mittelalterliche Philosophie und Rhetorik hier eine große Relevanz der Rhetorik und ihres Umgangs mit Sprache für den philosophischen Diskurs und stellt – ausgehend von Johannes von Salisbury – die Frage, ob die eloquentia nicht auch »in ihrer philosophischen genauer gesagt erkenntnistheoretischen und methodologischen Position neu thematisiert« werden solle. 17 Gerl verweist darauf, dass es nicht darum geht, die Ansätze des Metalogicons zu einer philosophischen Rhetorik auszubauen – was auch dem Anliegen des Johannes von Salisbury widersprechen würde –, aber sie verweisen auf etwas im philosophischen Diskurs Präsentes, die »wesentlichen Elemente des philosophischen Diskurses« 18, die es mit der Rhetorik neu herauszustellen gilt. Johannes von Salisbury begnügt sich nicht damit, eine ewige theologische oder philosophische Wahrheit zu beschreiben und dabei die Unzulänglichkeit der Sprache festzustellen, sondern betont – ausgehend von der Topik des Aristoteles – den sprachlichen Beginn und die Sprachgebundenheit eines jeden Diskurses und erkennt in der Dialektik wie auch in der Rhetorik die beiden wesentlichen Arbeitsschritte, das Wahre und Allgemeine zu erkennen und dann auch zu vermitteln – aus der Sprache heraus und auf diese hin. Der Universalienstreit ist die Fortführung der platonischen Auseinandersetzung mit den Sophisten, in der es um die Frage der Relevanz der Doxa gegenüber der Aletheia gegangen war. Johannes von Salisbury folgt der aristotelischen Höherschätzung der Doxa und gelangt wie dieser konsequenterweise zu einer Neubewertung der Rhetorik, der nun wieder eine epistemologische Funktion zugesprochen wird. Diese Einschätzung war im Mittelalter diejenige einer intellektuellen Minderheit: die Rhetorik blieb im Wesentlichen auf ihre Funktion in der schulischen Ausbildung beschränkt, auch Kritiker der Realität der Universalien wie Wilhelm von Ockham (1288–1347) gelangten nicht zu einer Neubewertung der Rhetorik, da sie die Sprache nicht auf ihre Rhetorizität, sondern auf ihre Logik hin deuten. Autoren wie Johannes von Salisbury belegen jedoch, dass die Universalien in ihrer Funktionalität von bestimmten linguistischen Voraussetzungen abhängen, deren Neubewertung auch der Rhetorik wieder neue epistemologische Möglichkeiten eröffnen, die dann im spät- bzw. nachmittelalterlichen Humanismus weiterentwickelt wurden. 17 18
Vgl. Gerl, Rhetorik und Philosophie im Mittelalter, S. 116. Vgl. ebd.
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Wiederbelebung und Tod der Rhetorik 10. Humanismus
Im 14. Jahrhundert beginnt eine neue Strömung von Italien her das geistige Leben in Europa zu erfassen, die seit dem 19. Jahrhundert als »Humanismus« bezeichnet wird. Ihre geistigen Wurzeln liegen in der Antike, in einer bestimmten Einschätzung des Menschen und seiner Sprachlichkeit. Am Ende des Mittelalters entsteht nun der Humanismus im engeren Sinne, dessen Verbindungen zum modernen Humanismus klarer und direkter sind als die seiner antiken Vorläufer. Der im 14. Jahrhundert entstehende Humanismus war im Wesentlichen eine Bildungsbewegung, getragen von dem Gedanken, dass die Bildung den Menschen zum wahren Menschsein, zur humanitas, verhilft. Bildung bedeutete in diesem Zusammenhang Kenntnis und Studium der antiken Texte, von denen einerseits viele neu entdeckt wurden und die andererseits durch die Erfindung des Buchdrucks in bis dahin nicht möglichem Ausmaß vervielfältigt und verbreitet werden konnten. Durch die Hinwendung zu den Quellen der Antike (»ad fontes«) sollten die Quellen der wahren humanitas auf neue Weise für die Entwicklung des »neuen« Menschen fruchtbar gemacht werden. Hierbei ist der Humanismus der Renaissance nicht nur die Wiedergeburt antiker Quellen oder Denkweisen, sondern auch »Geburt« eines Neuen, das sich aus antiken Quellen speist, aber durchaus eigenständig auf sie zutritt und auswählt. 1 Diese studia humanitatis standen in einem bewussten Gegensatz zur scholastischen Theologie des nun so bezeichneten und als abgeschlossen propagierten »Mittelalters«.
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Vgl. Rudolph, Der Renaissance-Humanismus als Epochstifter.
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Humanismus
10.1 Philologie Ernesto Grassi, einer der bedeutendsten Forscher zum italienischen Humanismus der Renaissance, hat seine Einführung in die humanistische Philosophie 2 untertitelt mit der Zeile »Vorrang des Wortes« und trifft damit das inhaltliche Grundanliegen des Humanismus, das bereits in der Antike wahrnehmbar ist: die Orientierung auf das Wort und die Sprache. Der Mensch ist ein Wesen, das sich durch seine Sprache auszeichnet und zu einem kulturellen Wesen wird. Indem der Mensch sich seiner Sprachlichkeit bewusst wird, sie auf ihre Wurzeln und ihre Funktionalität hin reflektiert und sich als sprachliches Wesen von diesen Erkenntnissen formen lässt, wird er zu einem besseren und kulturell höheren Menschen. Apel nennt zwei verschiedene Quellen des »Sprachhumanismus« der Renaissance: neben dem antik-mittelalterlichen Bildungsideal der Artes liberales die Hinwendung zur Volkssprache im ausgehenden Mittelalter. 3 Zwei Personen lassen sich als historischen Beginn dieser neuen Sprachlichkeit markieren: Dante (1265–1321) und seine Schrift De vulgari eloquentia, in der er sich gegen den Primat der lateinischen Sprache der »vulgären« Nationalsprache zuwendet, 4 und schließlich Petrarca (1304– 1374), der die lateinische Sprache nicht als einzig legitimen Ausdruck einer religiösen Wahrheit sieht, sondern als Sprache selbst zum Vorbild erhebt. 5 Beide Ereignisse stehen für ein neues Sprachverständnis. Den Unterschied des mittelalterlichen vom humanistischen Sprachverständnis der Renaissance definiert Grassi – mit Blick auf Dante – so, dass das Mittelalter »von einer Ontologie, einer Lehre des Seienden ausgeht, während das spezifisch humanistische Denken mit dem Problem des Wortes, und zwar des dichterischen Wortes ansetzt«. 6 Grassi, Einführung in die humanistische Philosophie, Darmstadt 1991 (2. Aufl.). Vgl. Apel, Die Idee der Sprache, S. 7: »Der Sprachhumanismus andererseits erschließt sich als ein komplexes Traditionsphänomen der abendländischen Bildungsgeschichte: einerseits hat er seine Keimzelle im sogenannten ›Trivium‹ (Grammatik, Rhetorik, Dialektik) des hellenistisch-mittelalterlichen Bildungssystem der ›sieben freien Künste‹ und in der in der italienischen ›Renaissance‹ erneuerten sapienta-Ideologie des römischen Rhetors (insbesondere Ciceros) das Zentrum seiner der scholastischen Sprachlogik entgegengesetzten geheimen Philosophie; andererseits bezeichnet er den historischen Rahmen und Reflexionsbereich der Entdeckung und Formierung der konkreten Volkssprachen im Abendland.« 4 Vgl. Weisgerber, Die Entdeckung der Muttersprache im europäischen Denken. 5 Vgl. Apel, Die Idee der Sprache, S. 95. 6 Vgl. Grassi, Einführung in die humanistische Philosophie, S. 25. 2 3
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Humanismus
Die Scholastik hatte sich zwar auch am Wort orientiert – an der Bibel als Wort Gottes oder auch an den Texten der Kirchenväter – und nicht umsonst die sprachlichen Disziplinen an den Anfang der Artes liberales gestellt, die treibende Kraft der Scholastik war jedoch die Logik, die Vernunft: die Erkenntnis der Wahrheit vollzog sich dank der Vernunft, Theologie und Logik waren eins. Die rhetorische und grammatische Bildung war Teil der Dialektik als sprachliche Formulierung dessen, was in der Logik erkannt wurde. Der Humanismus distanzierte sich von der scholastischen Dominanz der Logik, richtete sich an der Sprache aus, an den nun als perfekt empfundenen sprachlichen Zeugnissen der Vergangenheit, um über die Sprache und die auf die Sprache fixierte Bildung eine neue Humanität zu verwirklichen. 7 Vor dem Hintergrund der antiken Differenzierung von Aletheia und Doxa lässt sich der spätmittelalterliche/frühneuzeitliche Humanismus mit seiner philologischen Schwerpunktsetzung und seiner Abkehr von der mittelalterlichen Logik als neue Ausrichtung auf die Doxa einordnen. Ein metaphysisches System – wie es das Mittelalter beschrieben hatte – wird negiert zugunsten einer Orientierung auf die Sprache. Diese Negation der mittelalterlichen Scholastik und ihres metaphysischen Systems wird auch inhaltlich bestärkt durch die Lektüre der antiken Autoren. Neben Platon rückt gerade das Werk Ciceros neu in den Fokus der zeitgenössischen Lektüre, der mit seinem Sprechen vom consensus omnium und seinem antik-humanistischen Weltbild wichtige Impulse setzt und die Hinwendung zur Sprache bzw. zur sprachlich verstandenen Bildung bestärkt. 8
10.2 Rhetorische Renaissance Die intensive Beschäftigung mit der Sprache beinhaltete auch ein neues Interesse an der Rhetorik, das zugleich ein Interesse an der antiken Rhetorik war, deren Erforschung durch die Wiederentdeckung zahlreicher Texte in neuem Ausmaß möglich wurde. 1416 wird in St. Gallen eine vollständige Ausgabe der Institutio oratoriae des Quintilian wiedergefunden und herausgegeben, 1421 werden in Vgl. Apel, Die Idee der Sprache, S. 162: »Der logisch universalen, naturontologisch verifizierbaren Latinität tritt die kulturprogammatisch-universale, menschlich-heilsgeschichtlich verifizierbare Latinität entgegen.« 8 Vgl. Mack, History of Renaissance Rhetoric, S. 315 f. 7
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Humanismus
Italien die rhetorischen Hauptwerke Ciceros editiert, Orator, De Oratore und Brutus. Die bereits bekannten Werke – Ciceros Topica, sein Werk De inventione, dessen Kommentierung durch Marius Victorinus und vor allem die Cicero zugeschriebene Rhetorik an Herennius – erreichen in diesen Jahren riesige Auflagen. 9 Gleichzeitig entstehen zahlreiche neue Rhetorik-Handbücher, welche das alte rhetorische Wissen zusammenfassen und aktualiseren: J. Murphy vermutet für die Zeit vom Beginn der Renaissance bis 1700 immerhin ca. 1000 Autoren rhetorischer Handbücher. 10 Die große Anzahl rhetorischer Autoren in dieser Epoche verdankt sich zu einem großen Teil der Erfindung des Buchdrucks, belegt aber auch die Bedeutung, welche die Rhetorik in jener Zeit besessen hat, nicht nur in der Literatur, sondern auch in der Malerei und sogar in der Architektur. 11 Plett sieht in der Rhetorik den entscheidenden kulturellen Faktor der Renaissance, spricht davon, dass die Renaissance, in ihrer Wiedererweckung der antiken Kultur die Wiedererweckung einer rhetorischen Kultur sei und somit als Renaissance selbst rhetorisch sei: »Rhetorik der Renaissance – Renaissance der Rhetorik.« 12 Diese Universalität der Rhetorik für das gesamte Geistesleben der Renaissance beruht basal auf der Erkenntnis, dass jedes Wissen sprachlich ist, dass Sprache in ihrem konkreten Vollzug etwas Relatives ist und dass die Rhetorik die alte und gültige Lehre dieser Relativität der konkreten Sprache darstellt. Ein Leonardo Bruni (1370– 1444) übersetzt zahlreiche Werke der Antike, viele Schriften Platons, die Nikomachische Ethik des Aristoteles, und diese intensive Übersetzungsarbeit bleibt nicht ohne Konsequenzen für das Denken Brunis, wie Grassi feststellt: »Durch diese Übersetzungsarbeit macht er die Erfahrung des Nicht-Vorranges der logischen Definition des Wortes und setzt damit die Umkehrung des traditionellen Denkens an.« 13 Bruni erkennt, dass die Begriffe in einem anderen Kontext eine jeweils andere Bedeutung haben können, und diese Erkenntnis ist zentral für die Abwendung von dem bis dahin dominierenden scholastischen Denken hin zu einer Orientierung auf eine Sprache, die sich nicht in die Logik hinein auflösen lässt, sondern nur deutbar wird Vgl. a. a. O., S. 14–21. Vgl. auch Kennedy, Classical Rhetoric, S. 226 f. Vgl. Murphy, One Thousand Neglected Authors: The Scope and Importance of Renaissance Rhetoric, S. 20–36. 11 Vgl. Vickers, Rhetorik und Philosophie in der Renaissance, S. 122. 12 Vgl. Plett, Rhetorik der Renaissance – Renaissance der Rhetorik, S. 3 ff. 13 Grassi, Rhetorischer Humanismus, S. 160. Vgl. auch a. a. O., S. 160–162. 9
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durch die Beachtung des historischen oder sozialen Kontextes, der circumstantiae. Bruni verlangt keine Abkehr von der Objektivität, er sieht sie nur nicht mehr in einem abstrakten Seienden, sondern in dem, was auf das sprachschaffende menschliche Bewusstsein einwirkt, und in der sprachlichen Interaktion der verschiedenen menschlichen Bewusstseine. Hieraus ergibt sich für Bruni eine Neubewertung der Rhetorik im Kanon der Wissenschaften, die dann von Lorenzo Valla (1407–1457) fortgeführt wird. Valla verbindet die Hochschätzung der Rhetorik mit einer scharfen Kritik an der bisherigen scholastischen Philosophie. Die Philosophie, so weist Valla in Comparatio Ciceronis Quintilianque nach, sei historisch später entstanden als die Rhetorik und habe die sprachlichen Erkenntnisse der Rhetorik übernommen: »Alles, was die Philosophie für sich beansprucht, ist unser.« 14 Die Philosophie, so Valla, sei leeres und haltloses Geschwätz. In seinem Werk De voluptate führt er die Begründung für die Überlegenheit der Rhetorik an: im Unterschied zur rein theoretischen und theoretisierenden Philosophie bildet die Rhetorik den »sensus communis« ab, den Gemeinsinn, wie ihn die stoische Philosophie in der Antike entwickelt hatte. Die Wahrheit ist nicht mehr das Objekt metaphysischer oder logischer Erkenntnis, sondern wird immer neu im sprachlichen Diskurs der Gesellschaft errungen. 15 Die Rhetorik ist die Formulierung dieses Gemeinsinns, und die wahre Philosophie hat ihre eigene Bestimmung nicht in der Erlangung theoretischen Wissens, sondern in der Reflexion und der praktischen Durchführung dieses Gemeinsinns. Ähnlich ist auch die Rhetorik der Renaissance sehr stark an der Praxis orientiert – an der Erstellung von Literatur und Predigten – und geht in ihrer Theorie nicht über ihre antiken Vorgänger hinaus. 16 Risse hat diesen »Rhetorismus« aus sprachanalytischer Perspektive kritisiert und ihm vorgeworfen, die Logik vernachlässigt und sich mit »Wohlredenheit statt mit sachlicher Begründung« begnügt zu haben. 17 Dabei verkennt Risse jedoch das Wesen des von ihm bezeichValla, Comparatio I,907. Vgl. Trinkaus, Truth in Rhetoric and Anthropology, S. 216 ff. 16 Vgl. Kristeller, Rhetoric in Medieval and Renaissance Culture, S. 7 ff. 17 Risse, Logik der Neuzeit, S. 58: »Der Rhetorismus hat wohl den Sprachstil, nicht aber das System der Logik gefördert. In seiner übertriebenen, auf praktische Verwertbarkeit eingestellten Vereinfachung hat er gegenüber der Exegese konkreter Problemlösungen die Untersuchungen des logischen Formalismus vernachlässigt. Auch hat er sich vielfach mit Wohlredenheit statt mit sachlicher Begründung begnügt. […] Vom 14 15
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neten »humanistischen Ideals«. Dieses Ideal war nicht nur die neue Orientierung der antiken Rhetorik bzw. Sprachwissenschaft, sondern zugleich eine Kritik der zeitgenössischen Logik, die aus bestimmten Gründen für weite Kreise der damaligen Bildungselite zu kritisieren war. 18 In dieser Ausrichtung des philosophischen Denkens geht es entsprechend weniger darum, die Philosophie selbst durch eine bloße oberflächliche Überzeugungstechnik zu ersetzen, sondern darum, im Sprachgeschehen selbst die Dimension des »ursprünglichen Philosophierens« zu erkennen. 19 Die Ablehnung der scholastischen Metaphysik und Logik zugunsten einer neuen Hinwendung zur Rhetorik wird erklärbar durch eine prinzipielle Neubewertung der Sprachlichkeit bzw. des Menschen als sprachliches Wesen. 20 Die Frage, in welchem Verhältnis Sprache und Realität zueinander stehen, hatte im Universalienstreit das gesamte Mittelalter begleitet. Der Nominalismus hatte eine unmittelbare ontologische Relevanz der Sprache verneint und die Sprache als ein Produkt menschlicher Abstraktion gesehen. Der Humanismus knüpft an die nominalistische Kritik an und nennt die bisherige scholastische Philosophie mit ihrem Beharren auf der Realität der Universalien bzw. der metaphyischen Verankerung der Sprache eine irreführende Wortfechterei. Lorenzo Valla schreibt mit Blick auf die scholastische Philosophie: »Man soll nicht auf Worte, sondern auf Fakten schauen.« 21 Die Fakten sind es, die Realität der im täglichen Leben erfahrenen Welt, welche die Sprache hervorbringen: Die Sprache entsteht im Konsens der menschlichen Kommunikation, und der Rhetorik kommt eine herausragende Rolle zu, weil sie die Regeln dieser Kommunikation beschreibt. Aus diesem Grunde, so Valla in den Dialecticae Disputationes, sei die Rhetorik die »Königin der Wissenschaften« und die Philosophie habe sich zu ihr zu verhalten »wie ein Soldat oder ein Tribun unter dem Befehl der Redekunst«. 22 Wie die Sprache unmittelbarer Ausdruck der Realität ist, ist es auch die Rhesystematischen Standpunkt mangelhaft, ist die Rhetorikdialektik historisch verständlich aus dem humanistischen Ideal universaler Bildung, nach dem der homo humanissimus seine Gedanken richtig verstehen und zugleich ansprechend vortragen soll.« 18 Vgl. Vickers, Rhetorik und Philosophie in der Renaissance, S. 136. 19 Vgl. Grassi, Rhetorischer Humanismus, S. 168. 20 Vgl. Margolin, Apogée de la rhetorique humaniste, S. 223. 21 Valla, De voluptate I, 947: »Non esse spectanda verba, sed facta.« 22 Valla, Disputationes I,10.
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torik, die wiederum die Praxis der Sprache reflektiert oder anleitet. Die Rhetorik ist somit nicht eine von der Realität losgelöste Redekunst, sondern ihr Ausdruck und damit eins mit ihr. Diese Einheit von res und verbum bewertet Göttert als den »Kern dessen, was als Sprachhumanismus bezeichnet wird«. 23 Die Identifizierung von »Sache« und »Wort« ist eine, die vom Wort ausgeht: eine Sache kann nur aus der Perspektive ihrer Bezeichnung untersucht werden, sie bietet sich dem Menschen im sprachlichen Zugang dar. Diese Einheit zwischen dem Eindruck einer Sache und seiner sprachlichen Verarbeitung ist die Einheit zwischen dem Zeichen des Wortes und dem Bezeichneten selbst: »Es ist kein Unterschied, ob wir sagen, was ist Holz […] oder was bedeutet Holz.« 24 Diese Einheit, so Gerl, ist letztlich eine Einheit, welche die scholastische Differenzierung von Inhalt, Erkenntnis und Zeichen zugunsten einer Auflösung der Sache selbst im sprechenden Intellekt des Menschen aufhebt. 25 Die scholastische Differenzierung war letztlich nur eine sehr oberflächliche; sie war aufgehoben in der Einheit der aristotelischen Metaphysik, genauer: des Substanzbegriffs. Der Humanismus der Renaissance sprengt diese ontologische Einheit des Begriffs und verankert ihn in der Subjektivität des wahrnehmenden und sprechenden Menschen. Das Sprachliche ist aus der Perspektive der rhetorischen Theorie betrachtet tropologisch, »insofern es die von Kontexten und Textsituationen jeweils abhängigen Bedeutungen der Worte, nicht mehr ihre fixe logische Wahrheit zu verfolgen hatte«. 26 Indem nicht mehr die Wahrheit selbst, sondern die tropische Verschiebung bzw. die Abkünftigkeit von der Wahrheit das Prinzip der Sprache ist, wird sie in ihrem Wesen rhetorisch bzw. tropologisch. Sie wird faktisch deckungsgleich mit der Wissenschaft, die nun für das steht, was in der Rhetorik formuliert wird. Die humanistischen Autoren greifen oft auf ein Dictum Ciceros zurück, der die Rhetorik mit einer Bekleidung verglichen habe, die einen bestimmten Inhalt »bekleidet«. In diesem Göttert, Einführung in die Rhetorik, S. 138. Valla, Disputationes I,677. 25 Vgl. Gerl, Rhetorik als Philosophie, S. 223: »Damit hat Valla die von der Scholastik aufgestellte Trennung von Inhalt, Erkenntnis und Zeichen überwunden, denn in der Definition liegt eine unausgesprochene, ungeheure Konsequenz verborgen. Reduziert man nämlich den Satz auf sein sprachliches Grundgerüst von Subjekt, Prädikat und Objekt (res est vox significans […] intellectum) und setzt man hier, wie oben gestattet, statt significare esse ein, so ergibt sich: res est vox ens intellectus.« 26 Vgl. Ueding, Klassische Rhetorik, S. 102. 23 24
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Verweis wird deutlich, dass die Wissenschaft bzw. die Dialektik als die sprachliche Form der Wissenschaft sich nicht völlig in der Rhetorik auflösen lassen bzw. die Rhetorik an diese gebunden bleibt insofern sie immer in ihrem Verweisungscharakter einen Inhalt versprachlicht, den sie selbst nicht erzeugen kann. Die Sprache ist nicht mehr unmittelbare Wahrheit, sondern stellt ein Geschehen dar, das sich zwischen Sprecher, Hörer und dem behandelten Gegenstand abspielt. So schreibt Rudolph Agricola (1444–1485) in seinem Werk De inventione dialectica (1479): »Zu Beginn sagten wir, daß die Sprache darin ihr Objekt besitzt, daß jemand einem anderen seine Gedanken mitteilt. Daher ist es offensichtlich, daß eine Sprache über drei Dinge verfügen muß: der Sprecher, der Hörer und die Sache, über die gesprochen wird. Konsequenterweise gibt es drei Dinge, die beim Sprechen zu beachten sind: das, was der Sprecher zu verstehen machen will, daß der Hörer das Gesagte begierig aufnimmt und daß das Gesagte plausibel und glaubwürdig ist. Zuerst lehrt die Grammatik die ersten Schritte korrekten Sprechens. Das zweite wird von der Rhetorik gelehrt, welche Ausschmückungen und die Eleganz der Sprache anbietet und alles Nötige, das Ohr zu ködern. Die Dialektik schließlich beansprucht den Rest für sich, das heißt überzeugend über jede Sache zu sprechen, die sprachlich möglich ist.« 27
Die klassischen Disziplinen des Triviums werden zu Elementen der Hermeneutik, zur nötigen Grundlage des Sprachverstehens. Die humanistischen Autoren führen eine wichtige, geistesgeschichtliche Wende durch: die Wahrheit ist nicht mehr – wie in der scholastischen Philosophie – abstrakt oder Teil des menschlichen Bewusstseins, sondern sie entwickelt sich im »Dazwischen«, in der Gesellschaft, im Gespräch, im Austausch der Sprache. 28 Die Orientierung auf den praktischen Vollzug der Sprache führt zu einem grundlegenden Methodenwechsel in den einzelnen Wissenschaftsdisziplinen, die bislang – in der Scholastik – induktiv vorgegangen sind und nun in ihrer Rückführung auf sprachliche Phänomene zur Deduktivität gezwungen sind: Jura, Medizin, Mathematik sowie Theologie. 29 In diesem Geschehen wird aber auch eine große Gefahr für die Sprachwissenschaft bzw. Rhetorik offensichtlich: In der Proklamation der Universalität der Sprache in der Wissenschaft und der damit verbundenen
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Agricola, Inv. Dial. 192. Vgl. Margolin, Apegée de la rhétorique humaniste, S. 201. Vgl. Vasoli, L’humanisme rhétorique en Italie, S. 86.
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Dominanz der Rhetorik liegt die Gefahr, dass die Rhetorik beliebig wird: Wissenschaft und Rhetorik bzw. Philologie werden zu austauschbaren Begriffen. Die mittelalterliche Scholastik hatte sich schwergetan, der Rhetorik gegenüber der Logik eine eigene Relevanz zuzugestehen und hatte die Sprache faktisch in der Logik aufgelöst. Der Humanismus der Renaissance zerbrach diese Einheit, um sie aus der Perspektive der Sprache neu zu begründen: nun ist es die Logik, deren Unabhängigkeit gegenüber der Rhetorik zusehends schwer zu definieren war. Dennoch wussten die humanistischen Autoren um die Bedeutung der Logik, die allerdings – wie von Agricola – in Abhängigkeit von der nicht logischen Rhetorik begriffen wurde. Vickers beschreibt das Verhältnis von Rhetorik und Philosophie im Zeitalter der Renaissance aus diesem Grunde treffend als komplementär. 30 Kristeller erkennt in diesem Humanismus der Renaissance die Tradition der Sophisten wieder, die von den Römern und im frühen Mittelalter vergessen worden sei, nun aber wieder zum Vorschein gekommen sei. 31 Ähnlich wie bei den »Humanisten« der Antike geht es dem frühneuzeitlichen Humanismus um eine bestimmte Auslegung der menschlichen Existenz als sprachliche. Wenn nun die Philosophie begriffen wird als Auslegung dieser sprachlichen Existenz, nicht aber als Überprüfung der »rationalen Bestimmung des Seienden«, wie Grassi es formuliert, 32 dann wird diese Philosophie notwendigerweise eine rhetorische. Buck fasste diese Haltung der Renaissance wie folgt zusammen: »Gut reden lernen ist gleichbedeutend mit gut denken lernen, ja noch mehr: mit gut leben lernen.« 33 Damit erlangt die Rhetorik eine über den bloßen Umgang mit Sprache hinausgehende Bedeutung und wird als Spracherwerb zur Grundlage der Philosophie. Vickers sieht diese gemeinsame Entwicklung von Rhetorik und Philosophie sehr skeptisch. Da die Rhetorik selbst zu einem starren System geworden war und sie zugleich die Philosophie in ihr System zwängt, hemmt sie zum einen die Philosophie in ihrer Entwicklung, Vgl. Vickers, Rhetorik und Philosophie in der Renaissance, S. 122. Vgl. Kristeller, Renaissance Thought and his Sources, S. 24. 32 Vgl. Grassi, Einführung in die humanistische Philosophie, S. 39: »Wenn das Problem der Philosophie nicht mehr als das der rationalen Bestimmung des Seienden bestimmt wird, sondern als die Entsprechung des existentiellen Anspruches, die mit dem deutenden Wort geschieht, dann muss das Philosophieren nicht mehr von der Kategorie des ›Wahren‹ ausgehen, sondern von dem jeweiligen Sich-›Entbergen‹ des Seienden in seiner geschichtlichen Situation.« 33 Buck, Humanismus, S. 163. 30 31
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aber auch sich selbst: »Indem die Rhetorik es der Philosophie verunmöglichte, sich autonom und frei zu entfalten, schnitt sie sich selber von den Strömungen des europäischen Denkens ab.« 34 Die Entwicklung des geistigen Lebens, so fährt Vickers fort, wird sich unabhängig von dieser Erstarrung von Rhetorik und Philosophie im 17. Jahrhundert weiterentwickeln – wie gerade auch am wissenschaftlichen Fortschritt ablesbar sei. Vickers sieht zum einen die Philosophie zwangsläufig eng mit der Wissenschaft verbunden, zum anderen soll sich die Rhetorik in nicht zu enger Einheit mit der Philosophie befinden. Diese Haltung wird in der Tat im 17. Jahrhundert von Autoren wie Descartes propagiert werden. Die Frage, die sich aber auch mit Blick auf Vickers ergibt, lautet, ob diese Haltung im 17. Jahrhundert unumstritten war und ob die Bindung an die Wissenschaft im Sinne des Descartes nicht auch eine andere Festlegung der Philosophie impliziert, die andere Gefahren für die Philosophie birgt.
10.3 Topische Reformation Die Ausrichtung der humanistischen Bildung auf die philologische und rhetorische Erforschung der Sprache setzte wichtige Impulse für die christliche Theologie, die ebenfalls mit neuer Motivation auf die antiken Zeugnisse und auf die Heilige Schrift als ein in der Antike verfasstes sprachliches Dokument blickte. Dies galt besonders für die reformatorische Theologie und ihrem Ansinnen, nicht in der kirchlichen Tradition, sondern in der Heiligen Schrift (»sola scriptura«) ihr wesentliches Fundament zu erkennen. Theologen wie Erasmus von Rotterdam (ca. 1467–1536) oder Philipp Melanchthon (1497–1560) teilten mit den anderen Humanisten das große Interesse an der antiken Rhetorik, die Intention ihres Einsatzes war jedoch eine andere. Es bestand kein Interesse an einer Wiedererweckung einer heidnischprofanen Welt, sondern die Texte Ciceros oder anderer antiker Rhetoriker sollten dazu dienen, die Sprache der Bibel und des Glaubens verstehbar und vermittelbar zu machen. Die Rhetorik hatte ihre Existenzberechtigung nicht als Grundlage allen sprachlich verfassten Denkens, sondern nur, wenn sie der Erkenntnis und der Verteidigung des Wortes Gottes dient. Alles andere, so etwa Erasmus, ist grundlose Eitelkeit. In dem Dialog Der Ciceronianer oder Der beste Stil paro34
Vickers, Rhetorik und Philosophie in der Renaissance, S. 153.
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diert Erasmus einen Nachahmer Ciceros, der sich in der Stilistik verzettelt und sich in seiner sinnlosen rhetorischen Kunst verliert. Das Ziel der Bildung definiert Erasmus wie folgt: »Denn dazu studiert man die Wissenschaften, dazu die Philosophie, dazu die Rhetorik, um Christus zu erkennen und Christi Ruhm zu verkünden. Das ist der Sinn aller Bildung und aller Beredsamkeit.« 35 Die Studium der Sprache ist kein Selbstzweck, sondern dient dem Erfassen der göttlichen Wahrheit, die eben sprachlich überliefert ist. Erasmus hat ein großes rhetorisches Werk hinterlassen, seine Kenntnisse der antiken Rhetorik waren allumfassend, seine Rhetorikhandbücher waren die meistpublizierten seiner Zeit und wurden teilweise hundertfach editiert, und doch ist diese Rhetorik nur Mittel zum Zweck der Durchdringung des Wortes Gottes – wie es auch die Lehrmeinung im Mittelalter beschrieben hat. Auch die reformatorische Theologie jener Zeit kennt die auf der Sprache beruhende Einheit von verbum und res, aber führt sie anders aus. So folgt Melanchthon der nominalistischen Kritik an der Scholastik, wendet sich aber zugleich gegen das humanistische Sprachbild, indem das Sprachsystem sich nicht selbst begründet, sondern der ihr übergeordneten Logik folgt. Wiedenhöfer charakterisiert die Universalienfrage bei Melanchthon wie folgt: »Die Unversalienfrage erhebt sich damit nämlich auf der Ebene des Denkens […] und auf der Ebene der Sprache […]. Charakteristisch sind weiter die Verwerfung des metaphysisch Allgemeinen bzw. umgekehrt der metaphysische Individualismus und die Identifikation des Allgemeinen mit der Tätigkeit des Verstandes selbst, so dass die Frage nicht mehr lautet, wie, was und wodurch das Einzelne sei, sondern umgekehrt, was der Grund des Allgemeinen sei.« 36
Der Nominalismus des Melanachthon ergibt sich für ihn aus seinem Humanismus: mit diesem teilt er die Hinwendung zur Sprache, die Perspektive ist aber eine andere. Aus der Perspektive der Logik schaut er auf die Semantik der Sprache – und ist damit letztlich sprachkritisch –, während der Humanismus aus der Sprache heraus auf die Sprache selbst blickt. Indem der reformatorische Humanismus in der Beschäftigung mit der Rhetorik mehr die Durchdringung der Heiligen Schrift im Auge hat als die Formung der eigenen Sprache, geErasmus, Der Ciceronianer, S. 354. Wiedenhöfer, Formalstrukturen humanistischer und reformatorischer Theologie bei Philipp Melanchthon, S. 416.
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winnt die Rhetorik eine hermeneutische Ausrichtung. Diese war auch bei den italienischen Humanisten durchaus präsent gewesen, nun rückt sie in der Reformation in den Vordergrund, besonders durch Melanchthon. Dieses hermeneutische Interesse beschränkt sich nicht auf die Bibel, aber die Bedeutung der Bibel macht das Interesse am Verstehen alter Texte nur umso drängender. Den bisherigen Exegeten und ihrer allegorischen Auslegung der Bibel wirft Melanchthon vor: »Sie verstanden nichts von Rhetorik« 37 und wären damit unfähig gewesen, die Texte zu erfassen. Was für die Bibel gilt, gilt allgemein für das Verstehen: »Denn niemand ist in der Lage, längere Ausführungen und komplizierte Disputationen geistig zu erfassen, wenn er nicht durch eine Art Kunst unterstützt wird, die ihm die Anordnung der Teile, die Gliederung des Textes und die Absichten der Sprecher sowie eine Methode vermittelt, schwierige Dinge auseinanderzulegen und aufzuklären.« 38
Die Funktion der Rhetorik wird eine überwiegend hermeneutische – wie sie damals schon von Augustinus beschrieben worden war. Die Redekunst diene, so Melanchthon in seinem Werk Rhetorik, »weniger zur eigenen korrekten Ausdrucksweise, als vielmehr dazu, zum klugen Verständnis von Texten anderer anzuleiten«. 39 Ziel der Rhetorik, so heißt es später im gleichen Werk, sei es nicht, die Beredsamkeit zu stärken, sondern »für die auszubildende Jugend ein methodisches Rüstzeug bereitzustellen, um elaborierte Texte kompetent zu beurteilen«. 40 Die Konzentration der Rhetorik auf ihre mögliche hermeneutische Dimension wurde fortgesetzt und erweitert bei Matthias Flacius Illyricus (1520–1575), einem Schüler Melanchthons und Luthers. 1567 wurde sein hermeneutisches Hauptwerk veröffentlicht, der Schlüssel der Heiligen Schrift, Clavis scripturae sacrae. Dieser »Schlüssel« sollte helfen, die oft dunklen und schwer verständlichen Stellen der Heiligen Schrift deutbar zu machen. Kern seines »Schlüssels« ist der Verweis auf ausreichende Grammatik- und SprachkenntVgl. Melanchthon, Rhetorik II 5,1 (Knape, S. 95). A. a. O., I 1,1 (Knape, S. 63). 39 Vgl. a. a. O. I 1,1 (Knape, S. 63). 40 Vgl. a. a. O. II 7 (Knape, S. 107). Vgl. auch Encomion, CR XI, 54: »Wenn wir nämlich gewisse Richtlinien des sprachlichen Ausdrucks nicht gründlich lernen, können wir weder unsere eigenen Gedanken darlegen, noch die Schriften aus früheren Zeiten verstehen, die uns erhalten sind.« 37 38
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nisse, bei denen er der Rhetorik eine zentrale Rolle zuweist. Hierzu griff Flacius auf die breite patristische Tradition der christlichen Exegese zurück, besonders auf Augustinus und das IV. Buch seines Werkes De doctrina christiana. 41 Die Abhängigkeit seiner Hermeneutik von der rhetorischen Tradition wird zudem deutlich in der Verwendung des scopus, der Einbeziehung der Aussageintention, die er von Melanchthon übernommen hat und weiter ausführt. 42 Sowohl Dilthey 43 als auch Gadamer 44 haben in Melanchthon einen wichtigen, vielleicht sogar den zentralen Wegbereiter der modernen Hermeneutik erkannt. Gadamer führt allgemein für die Bedeutung der Reformation für die Hermeneutik an, dass diese – neben der Erfindung der Buchdruckkunst – für eine »gewaltige Ausbreitung des Lesens und Schreibens, die mit der Lehre von dem allgemeinen Priestertum verknüpft war«, gesorgt habe. 45 Ob die reformatorische Lehre vom allgemeinen Priestertum der Gläubigen eine gegenüber der Erfindung des Buchdrucks wahrnehmbare Veränderung im Leseverhalten begründet hat, mag dahingestellt sein; Fakt ist jedoch, dass das Lesen von Texten nicht mehr Privileg einer Minderheit war, sondern weite Teile der Bevölkerung alphabetisiert wurden und die Reformation diese Entwicklung bestärkte. 46 Dem Lesen und Erfassen von Texten wuchs eine neue grundlegende Bedeutung des Verstehens überhaupt zu. Die Methodik dieses Verstehens orientierte sich an der antiken Textauslegung und an der Rhetorik als der Lehre der Sprachbildung. Diese Methodik bestimmte die reformatorische Dialektik, die Risse in ihrer Grundstruktur wie folgt zusammenfasst: »In ihrem gegenständlichen Lehrinhalt ist sie theologisch orthodox, in ihrem begrifflichen Aufbau aristotelisch und in ihrer Darstellungsweise ciceronisch-rhetorisch.« 47 Zu dieser hermeneutischen Dimension der Rhetorik, die durch die reformatorische Theologie offen gelegt wurde, zählte auch die Topik, die besonders durch Rudolf Agricola zum Zentrum der Philologie 41 42 43 44 45 46 47
Vgl. Dilthey, GS, XIV/1, S. 602. Vgl. Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, S. 66 f. Vgl. Dilthey, GS, XIV/1, S. 601. Vgl. Gadamer, Rhetorik und Hermeneutik, S. 281 ff. Vgl. a. a. O., S. 279. Vgl. Mack, A History of Renaissance Rhetoric, S. 315. Risse, Logik der Neuzeit, S. 83.
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wurde und auf die Leute wie Erasmus von Rotterdam zurückgriffen. Agricola erstellte vor allem aus antiken Texten eine Fülle von loci – Beispielsätze, Metaphern usw. –, die er in 24 Typen einteilt und schuf damit eine methodische Grundlage, die für alle wissenschaftlichen Disziplinen relevant sein sollte. 48 Das Grundprinzip dieser loci ist die Ähnlichkeit: »Von allen loci, aus denen Argumente genommen werden, besitzt keines mehr Kraft als die Ähnlichkeit.« 49 Ein Topos – wie auch die Rhetorik als Ganze – kann nicht etwas in einer absolut zweifelsfreien Weise belegen, aber durch die Herstellung einer glaubwürdigen Ähnlichkeit dennoch an ihr Ziel gelangen. Agricola bediente sich bei Cicero und Quintilian, um eine topische Rhetorik zu beschreiben, die sowohl der Konstruktion von Sprache galt als auch dem Verstehen von Sprache und auf diese Weise eine neue epistemische Einheit postulierte. 50 Agricolas großes Verdienst liegt in der Herausarbeitung der Einheit von Aufbau und Nachvollzug von Sprache. Das Verstehen von Sprache muss bei dem ansetzen, das Sprache konstruiert hat, auf die sprachlichen Gebilde blicken, die das Bild der Sprache besimmten: die topoi bzw. loci communes. Grundlage der Erkenntnis des Aufbaus von Sprache ist das Studium der alten Schriften, womit sich in Agricola ein wichtiges Grundanliegen der Renaissance vollendet, das historisch und hermeneutisch zugleich ist: das Verständnis der eigenen Sprache über die antiken Quellen zu gewinnen. 51 Melanchthon wendete die Topik endgültig in die Theologie. In seinem Werk Loci communes rerum theologicarum von 1521 erkennt er drei wesentliche loci: die Sünde, das Gesetz und die Gnade. Diese werden zum einen streng auf Christus hin gedeutet, zum anderen aber auch – und hier bleibt Melanchthon ganz Humanist – anthropologisch. Grundlage hierfür ist eine Verankerung in der Affektenlehre, also in der menschlichen Psychologie. In seiner Rhetorik hatte Melanchthon die Bedeutung der Affekte für die Redekunst herausgestellt und mit Aristoteles und Cicero begründet. Durch die Kenntnis der Affekte, so Melanchthon, ist es möglich, das in der Sprache darzustellende Geschehen zu kennen und andererseits so zu formu-
Vgl. Classen, Antike Rhetorik im Zeitalter des Humanismus, S. 200 f. Agricola, Inv. Dial. 142. 50 Mack, A History of Renaissance Rhetoric, S. 73 f. Vgl. auch Risse, Logik der Neuzeit, Bd. 1, S. 19. 51 Vgl. Vasoli, L’humanisme rhétorique en Italie, S. 63. 48 49
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lieren, dass es in der menschlichen Psyche seine Wirkung hat. Diese in der Rhetorik bereits reflektierte Psychologie wird nun mit der reformatorischen Erbsündenlehre verbunden: Wenn die Bibel und die Theologie die menschliche Psyche mit den Kriterien (loci) der Sünde, des Gesetzes und der Gnade beschreiben, dann sind diese mit den für Rhetorik relevanten Affekten zu verbinden. Die Macht der Affekte ist die Macht der den Menschen dominierenden Erbsünde. 52 Ähnlich verfährt auch Erasmus in der Erstellung seiner loci argumentorum in dem 1535 erschienen Ecclesiastes: er greift die antike Topik auf – vor allem Quintilian – um mit dieser Methode christliche Theologie zu betreiben und christliche Inhalte zu vermitteln. Hierbei stützt er sich in weiten Teilen auf die Vorarbeiten von Agricola, ohne allerdings dessen theoretischem Interesse zu folgen. 53 Die Ausrichtung auf die Topik sichert der Rhetorik eine große Bedeutung innerhalb der reformatorischen Theologie, ähnlich wie im Mittelalter befindet sich die Rhetorik allerdings in einer Art Dienstverhältnis gegenüber der Theologie. Der Humanismus eines reformierten Theologen verfügt über andere Fundamente als der Humanismus der italienischen Autoren der Renaissance oder gar der antiken Autoren, indem er weniger anthropozentrisch ist und sich als Humanismus vorrangig über die Erforschung der Sprache, nicht aber über die Sprachlichkeit des Menschen definiert. Wie in der mittelalterlischen Scholastik gilt auch in der reformatorischen Theologie: der Mensch wird nicht auf sich hin, sondern auf eine theologische Wahrheit hin gedeutet.
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Vgl. Maurer, Der junge Melanchthon, Bd. 2, S. 260 f. Vgl. von der Poel, Die loci argumentorum im ›Ecclesiastes‹ (1535) des Erasmus.
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11. Der neue Wissenschaftsbegriff und seine humanistische Kritik
11.1 Die »Neue Wissenschaft« Ende des 16. Jahrhunderts kam es zu einer langsam anschwellenden Kritik an der rhetorisch-humanistischen Philosophie, die dann spätestens mit Descartes eine Generation später einen neuen Wissenschaftsbegriff entwickeln sollte. Einen wichtigen Brückenkopf auf diesem Weg stellt das Werk des Franzosen Petrus Ramus (1515–1572) dar. Er kritisiert die humanistische Tradition zugunsten einer neuen Logik, die er aber auch scharf gegen die aristotelisch-scholastische Logik abgrenzt. Nicht ohne Zufall wenden sich seine frühen Werke gegen antike Autoren, die für die rhetorische Tradition von großer Bedeutung sind: Anti-Aristoteles 1543, Anti-Cicero 1547 sowie AntiQuintilian 1549. Insbesondere das letztgenannte Werk wird zu einer Generalabrechnung mit der antiken Rhetorik. Sein Hauptanliegen besteht darin, Dialektik und Rhetorik von den antiken Einflüssen zu reinigen. Nicht ohne Polemik wirft er den antiken Autoren Methodenlosigkeit und Fehlschlüsse vor. Ramus will dem eine logisch fundierte Neuausrichtung der Sprachwissenschaft im Rahmen des klassischen Triviums entgegensetzen. Im Anti-Quintilian schreibt Ramus: »Ich folge dem Fundament der Wahrheit, nicht dem Irrtum der Gewohnheit«, 1 und dieses Zitat verrät die Verschiebung der wissenschaftlichen Basis vom humanistischen consensus omnium hin zu einer Wahrheit, die diesem doxastischen Geschehen entzogen ist. Die Rhetorik sucht Ramus als Kunst der Rede scharf zu trennen vom Inhalt der betreffenden Rede, die sich am klassischen Syllogismus zu orientieren hat. Jede Art von rhetorischer Allzuständigkeit im Sinne des Cicero oder Quintilian ist abzulehnen, die Rhetorik beschränkt sich auf die Schöpfung des künstlerischen Beiwerks. Jeder Anspruch auf Wissenschaftlichkeit muss begründbar sein. Eine Wissenschaft 1
Ramus, Anti-Quintilian, S. 179 (zit. nach Knape, Anti-Quintilian, S. 243).
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Die »Neue Wissenschaft«
bzw. die Wissenschaftlichkeit wird definiert über eine ihr angemessene Methodik, welche die Rhetorik nicht besitzen kann. 2 Francis Bacon (1561–1626) und René Descartes (1596–1650) werden in den nächsten Jahrzehnten den Weg von Petrus Ramus fortsetzen, Kriterien einer »Neuen Wissenschaft« zu entwicklen, die sich vom klassisch orientierten Humanismus des 16. Jahrhunderts absetzt und sich an einer streng rationalen Methodologie orientiert. Dabei geht es nicht um eine Missachtung der menschlichen Sprachlichkeit. Bacon etwa bezeifelt nicht die Macht der Sprache, aber er deutet sie als eine verderbliche Macht, von der der Mensch sich zu befreien hat. Diese Befreiung schildert er in seinem Werk Novum organon scientarum aus dem Jahre 1620. Bereits im Prolog des Werkes wendet sich Bacon gegen die bisherige enge Verbindung von Philosophie und Rhetorik und weist sie als letztlich nutzlos zurück: »Ich bemühe mich keineswegs, die Philosophie, wie sie jetzt in Blüte steht, oder eine andere, die jetzt oder später besser und vollständiger als diese ist, zu stören. Ich will nicht hindern, daß diese hergebrachte Philosophie und ihre Schwestern die Streitigkeiten unterhalten, die Reden schmücken und zur Erlangung der gelehrten Würden und Bequemlichkeiten des bürgerlichen Lebens benutzt werden; und ich erkläre offen, dass die Philosophie, welche ich herbeibringe, dazu wenig nützen wird. Denn sie ist nicht gleich fertig zur Hand, sie kann nicht im Vorbeigehen erfasst werden, sie schmeichelt dem Geist nicht mit blendenden Begriffen und macht sich der Menge nur durch ihren Nutzen und ihre Wirkungen verständlich.« 3
Bacon nennt vier verschiedene Arten von Idolen, denen der Mensch sich nicht weiter unterwerfen darf. Drei dieser vier Idole sind sprachlicher Natur, es ist die Macht, welche die Sprache durch die Literatur, aber auch durch Geschichten und Sagen über den Menschen besitzt. Das vierte Idol, die idola theatri, das »Idol des Theaters«, geht explizit auf die Philosophie ein. Die verschiedenen philosophischen Theorien und Wissenschaften würden die Welt »zu einer Dichtung und einer Schaubühne« machen. 4 Bequemlichkeit, Gewohnheit und Sinnestäuschung würden diesen Idolen ihre Macht verleihen, so fährt Bacon weiter fort. Dem setzt er seine »empirische Philosophie« entgegen, 2 3 4
Vgl. Knape, Anti-Quintilian, S. 245. Vgl. Bacon, Organon, Prolog. Vgl. a. a. O., I,44.
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Der neue Wissenschaftsbegriff und seine humanistische Kritik
die weder auf der bloßen Macht der Begriffe beruht noch auf den in der Sprache gefangenen aristotelischen Schlüssen, sondern auf der Erfahrung: »Das bei weitem beste Beweismittel ist die Erfahrung, wenn sie bei dem Versuche selbst stehen bleibt. Denn wird sie auf Anderes ausgedehnt, was für ähnlich gehalten wird, so wird sie ein trügerisches Ding, sobald diese Ausdehnung nicht richtig und ordentlich geschieht.« 5 Bacon stellt dem bisherigen Wissenschaftsbegriff eine neue Wissenschaft gegenüber, die auf der Empirie selbst gründet und bereits dann nicht mehr Wissenschaft ist, wenn sie die Erfahrungen reflektiert und zu deuten versucht. Auf diese Weise soll das Wissen, um das es Bacon letztlich geht, von jeder Art der sprachlichen Verunreinigung befreit werden. René Descartes verfolgt ein ähnliches Grundanliegen wie Bacon: den Nachweis, dass die bisherige auf der Rhetorik beruhende Bildung bzw. die eng an die Rhetorik angebundene Philosophie kein wirkliches Wissen hervorbringen. Descartes genoß in seiner Jugend eine humanistische Ausbildung bei den Jesuiten. In seinem Werk Discours de la Méthode schildert er sehr ausführlich seine Studien in den verschiedenen humanistischen Disziplinen, wobei er auch seine Hochschätzuung für die Beredsamkeit erwähnt. 6 Diese habe er aber bereits damals, so Descartes weiter, nicht als Wissenschaft betrachtet: »Ich schätzte die Beredsamkeit sehr, und ich war in die Poesie verliebt, aber ich dachte, daß das eine wie das andere viel mehr Geistesgaben als Früchte des Studiums seien.« 7 Auch die Philosophie würde nur ein zweifelhaftes Wissen hervorbringen, da sie trotz jahrhundertelanger Bemühungen nur Streitereien hervorbringen würde. Da es aber nur eine Wahrheit geben kann, so galt ihm »alles, was nur wahrscheinlich war, für nahezu falsch«. 8 Descartes entschließt sich schließlich »keine andere Wissenschaft mehr zu suchen als diejenige, die ich in mir selbst oder im großen Buch der Welt würde finden können«. 9 Descartes stellt der bisherigen rhetorisch-literarischen Bildung das »Buch der Welt« gegenüber, den empirischen Zugriff auf das, was ist, nicht Vgl. a. a. O., I,70. Vgl. Descartes, Discours de la Méthode, I,7: »Ich erkannte, dass die Beredsamkeit unvergleichliche Kraft und Schönheit, dass die Poesie ganz und gar hinreißende Lieblichkeit und Zartheit besitzt.« 7 A. a. O., I,9. 8 A. a. O., I,12. 9 Vgl. a. a. O., I,14. 5 6
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Die »Neue Wissenschaft«
das Sprechen darüber. Entsprechend ist die Rhetorik überflüssig, da sie sich nicht auf das empirisch Wahrgenommene bezieht, sondern nur auf dessen Darstellung. Diese ist nur abhängig von der Klarheit des Gedankens. Ist diese gegeben, so Descartes, könnte man auch unter Verzicht jeder Rhetorik oder sogar »niederbretonisch« sprechen: »Diejenigen, die die schärfsten Überlegungen anstellen und die ihre Gedanken am besten zu ordnen verstehen, um sie klar und einsichtig zu machen, können stets am besten von dem, was sie vorbringen, überzeugen, selbst wenn sie nur niederbretonisch sprächen und niemals etwas von Rhetorik gelernt hätten.« 10
Descartes stellt mit bis dahin unbekannter Radikalität fest, dass allein der Inhalt der Sprache relevant ist. Über die Erfahrung, dass nicht die Wahrnehmung einer bestimmten Sache, sondern die Wahrnehmung selbst letzte Evidenz bieten kann, gelangt Descartes zu seiner Aussage, im denkenden Selbstbezug des »cogito ergo sum« das Fundament der Wissenschaft zu erkennen. 11 Husserl sieht in genau diesem Vorgang, den er als »Selbstmissdeutung« interpretiert, den Beginn einer in einem verkehrten Objektivismus verharrenden Wissenschaftlichkeit, die bis in die Gegenwart anhält. Der Konflikt, den Husserl in seiner Krisis beschwört, hat hier seinen Ursprung. 12 Bacon wie Descartes stehen für einen epochalen Wechsel im Verständnis dessen, was Wissenschaft ist und wie relevantes Wissen erlangt wird. Die bisherige rhetorisch-humanistische Tradition wird als verzerrendes Scheinwissen scharf zurückgewiesen und weicht einer »Neuen Wissenschaft«, die auf einem neuen Prinzip beruht: der Evidenz, somit dem, was durch die Erfahrung unmittelbar einsichtig ist. Diese Orientierung an der Evidenz war Kritik an der bisherigen sprachlichen Fundierung des Erkennens und damit eine Neueinschätzung dessen, was Sprache eigentlich ist. Wenn Descartes in seinem Discours de la Méthode feststellt, dass der Mensch durch die sprachlich-geschichtliche Erziehung in einem erkenntnistheoretischen Sinne verunreinigt worden wäre, dann erkennt er in der Sprache einen Faktor, der von jeder Art von Geschichtlichkeit zu befreien ist. Die Sprache wird auf eine Idealform hin entworfen, die sich in einem objektiv-neutralen Kommunikationsspiel zu vollziehen hat. Der den10 11 12
A. a. O., I,9. Vgl. a. a. O., IV,1. Vgl. Husserl, Krisis, Husserliana VI, S. 83 ff.
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Der neue Wissenschaftsbegriff und seine humanistische Kritik
kende Selbstbezug des cogito hat auch eine sprachrelativierende Relevanz, indem der Selbstbezug von allem gereinigt werden soll, was ihm nicht eigen ist. In diesem Geschehen liegt die neue Bedeutung der Evidenz für die Erkenntnislehre, die nur das anerkennt, das für die eigene Wahrnehmung Gültigkeit besitzt: »Nichts als unsere Gedanken sind ganz in unserer Macht.« 13 Die Konsequenzen für die Rhetorik und für eine rhetorisch geprägte Philosophie sind gravierend: die Rhetorik wird zur bloßen Stillehre, die von der Wahrheitsfrage entkoppelt wird, die Philosophie muss sich von der Rhetorik lösen, wenn sie nicht selbst zur bloßen Rhetorik werden will. Die Sprache selbst muss einen erheblichen Bedeutungsverlust für die Philosophie erleiden, ist sie nunmehr nicht mehr Träger der Philosophie, sondern ein störungsanfälliges Hindernis auf dem Weg der Philosophie, zur Wahrheit zu gelangen.
11.2 Vico und der Humanismus Humanismus und Wissenschaft Das cartesianische Wissenschaftsverständnis rief wenige Jahrzehnte nach Descartes den Widerstand des neapolitanischen Rhetorikers und Philosophen Giambattista Vico (1668–1744) hervor. Bereits in seiner Antrittsvorlesung De nostri temporis studiorum ratione aus dem Jahre 1708 kritisiert Vico, dass die neue, rationalistische Wissenschaft in ihrer Ablehnung der rhetorisch-humanistischen Tradition wesentliche Faktoren der menschlichen Kultur nicht beachten könnte. So heißt es im III. Kapitel dieser Vorlesung: »Zunächst nun, was die Rüstzeuge der Wissenschaften betrifft, so beginnen wir heute die Studien mit der Erkenntniskritik, die, um ihre erste Wahrheit nicht nur vom Falschen, sondern auch vom bloßen Verdacht des Falschen frei zu halten, alle sekundäre Wahrheit, sowie alles Wahrscheinliche genauso wie das Falsche aus dem Denken entfernt wissen will. Das ist nicht unbedenklich; denn bei den jungen Leuten ist so früh wie möglich der natürliche Allgemeinsinn (sensus communis) auszubilden. […] So wie aber die Wissenschaft aus dem Wahren, der Irrtum aus dem Falschen entspringt, so erwächst aus dem Wahrscheinlichen der natürliche Allgemeinsinn.« 14 13 14
Descartes, Discours de la Méthode, III,4. Vico, Geistige Bildung, S. 27.
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Vico und der Humanismus
Indem sich die kritische Wissenschaft ausschließlich an einem ersten Wahren orientiert, einer evidenten Wahrheit, die als Prämisse aus ihr abzuleitender Deduktionen gilt, schließt sie neben den sog. »Zweiten Wahrheiten« – den Einzelwissenschaften 15 – das »Wahrscheinliche« aus, aus dem der Allgemeinsinn, der sensus communis, hervorgeht. Mit dem »Wahrscheinlichen« greift Vico eine Begrifflichkeit auf, die letztlich auf die aristotelische Rhetorik zurückgeht und in der das Wahrscheinliche dem Wissen entgegengesetzt und zur Grundlage der Rhetorik gemacht wird, insofern sie darauf angewiesen ist, nicht mit Fakten, sondern mit dem umzugehen, was »wahrscheinlich« ist. Das Wahrscheinliche ist für Vico die Basis seines Bildungsbegriffs, da aus ihr der Allgemeinsinn hervorgeht, dessen Kenntnis erst die Möglichkeit eines guten Lebens schafft. 16 Die cartesianische Wissenschaft strebt nach Gewissheiten und Erkenntnissen, die rational belegt und ewig sind. Diese nötige Gewissheit, so Vico, kann sie allerdings nicht besitzen, da ein vollständiges Wissen bzw. eine absolut sichere Erkenntnis als Prämisse nicht möglich ist. Vico begründet seine Ausrichtung am Gemeinsinn zudem entwicklungspsychologisch, da ein Mensch zuerst in den praktischen Dingen des Lebens zu unterrichten sei, um lebenstauglich zu sein, und nicht in der »kritischen Wissenschaft«, die diesen »erstickt«. 17 Die Betrachtung dieses Wahrscheinlichen sei die Aufgabe der humanistischen Wissenschaften, namentlich der Rhetorik und der Philologie. Im VII. Kapitel der Vorlesung spricht Vico mit Blick auf die französische Sprache davon, dass »durch die Sprachen die Geister, nicht die Sprachen durch die Geister gebildet werden«, 18 und verrät damit ein wichtiges inhaltliches Fundament seines Humanismus, der sich zentral gegen Descartes und seinen Wissenschaftsbegriff richtet. Das cogito, die Erkenntnis der eigenen Geistigkeit, kann nicht das Fundament der Wissenschaft sein, da es selbst ein Produkt der Sprachlichkeit ist: »Das cogito ist also ein bloßes Zeichen oder Iudicium meines Seins: nichts weiter.« 19 Die »Neue Wissenschaft«, wie sie Vico anstrebt, richtet sich aus auf die Erforschung der Sprachlichkeit, auf die Philologie. In der EinleiVgl. Grassi, G. B. Vico und das Problem des Beginns des modernen Denkens, S. 112 f. 16 Vgl. Wohlfart, Denken der Sprache, S. 75 f. 17 Vgl. Vico, Geistige Bildung, S. 27. 18 A. a. O., S. 73. 19 Croce, Die Philosophie Giambattista Vicos, S. 5. 15
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Der neue Wissenschaftsbegriff und seine humanistische Kritik
tung seiner Prinzipien einer neuen Wissenschaft (»Scienza nouva«) spricht er von einer bisherigen »Abscheu der Philosophie« vor der Philologie, die er überwinden wolle. Die von Vico betriebene Philosophie soll die Philologie »auf die Form der Wissenschaft zurückführen«, »indem sie in ihr den Plan einer ewigen idealen Geschichte entdeckt«. 20 Hier wird deutlich, dass Vico unter der Philologie nicht nur die Sprachwissenschaft in engerem Sinne versteht, sondern die Geschichte und die menschliche Kultur in ihrer Gesamtheit, die sich allerdings in der Sprache verdichtet und darstellt. Über diese Sprache sagt Vico: »Es ist notwendig, daß es in der Natur der menschlichen Dinge eine allen Völkern gemeinsame Sprache gibt, die in gleichförmiger Weise die Substanz der Dinge, die im geselligen Leben der Menschen vorkommen können, begreift. […] Diese Sprache ist dieser Wissenschaft eigentümlich; mit ihrem Lichte werden die Sprachforscher, wenn sie sich mit ihr befassen wollen, ein geistiges Wörterbuch bilden können.« 21
Diese mit dem klassischen consensus omnium identische Sprache ist Grundlage der »Neuen Wissenschaft«. Die Wahrheit dieser Wissenschaft ist somit keine rein rationale oder metaphysisch-ewige, sondern eine historisch »gemachte«. Hieraus entwickelt Vico sein berühmtes »Verum-factum-Prinzip«: »Doch in solch dichter Nacht voller Finsternis, mit der die erste von uns so weit entfernte Urzeit bedeckt ist, erscheint dieses ewige Licht, das nicht untergeht, folgender Wahrheit, die auf keine Weise in Zweifel gezogen werden kann: daß diese politische Welt sicherlich von den Menschen gemacht worden ist; deswegen können ihre Prinzipien innerhalb der Modifikationen unseres menschlichen Geistes gefunden werden.« 22
Die Erkenntnis der Wahrheit des Geschaffenen impliziert zugleich den Nachvollzug dieses Geschaffenen, seine Neuschöpfung. B. Croce fasst das »Verum-factum-Prinzip« dahingehend zusammen »[…], daß nämlich die Bedingung, ein Ding zu erkennen, darin bestehe, es zu schaffen und das Wahre das Geschaffene selbst sei: verum ipsum factum«. 23 Hieraus ergibt sich konsequent Vicos Hochschätzung der Rhetorik, die ja genau diese Neuschöpfung beschreibt, indem sie das 20 21 22 23
Vgl. Vico, Scienza nouva, Einl., S. 8. A. a. O., II 22,161.162. A. a. O., I 3,331. Croce, Die Philosophie Giambattista Vicos, S. 4.
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Vico und der Humanismus
Verfahren aufzeigt, den wesentlichen Kern des sensus communis immer neu zu entwerfen: die Sprache. Die Evidenz des Logischen, wie sie Descartes in seiner Wissenschaft anstrebt, weicht bei Vico der Faktizität des Seienden, wie es sich in Sprache, Geschichte und Kultur äußert. Entsprechend sind auch die Mathematik oder die Physik nicht aus sich heraus »Wissenschaft«, sondern sie sind dies als Entwürfe des Menschen. 24 Mainberger spricht hier von einer »Objektivation der menschlichen Tätigkeiten« 25 und sieht Vico als den Schöpfer einer Metaphysik, die nicht ein abstraktes Seiendes als ihren Grund anerkennt, sondern die menschliche Faktizität. Gadamer erkannte in Vico einen wichtigen Vorgänger der hermeneutischen Philosophie und einen Nachfolger des antiken Konflikts zwischen der Rhetorik und einer rhetorikfeindlichen Tradition, wie sie sich dann auch im »antirheteorischen Methodologismus der Neuzeit« zeigen wird. 26 Eine ähnliche Position vertritt auch Cassirer in seiner VicoInterpretation. Er spricht davon, dass die rationalistische Methodik die Sprache auf ihren theoretischen Gehalt hin betrachtet. Mit Vico beginnend setzt die humanistische Tradition einen Akzent, der neu und alt zugleich ist, da er sich auf antike Vorbilder berufen kann: »Die Sprache wurde auf die Dynamik des Sprechens, diese letztere selbst aber wieder auf die Dynamik des Gefühls und des Affekts zurückgeführt.« 27 Indem die Sprache nicht nur auf ihre Vermittlungsfähigkeit und Zeichenhaftigkeit hin interpretiert wird, sondern in der Verschmelzung mit dem Menschsein als Ausdruck der Gefühle, setzt Vico einen wichtigen Akzent gegen die wissenschaftliche Methodik, der allerdings erst im späten 18. Jahrhundert wieder aufgegriffen werden wird. Indem die Sprache auf ihre Affektivität hin gedeutet wird, schafft Vico eine enge Bindung an die aristotelische Interpretion der Rhetorik, die sich als die Wissenschaft ebenjener Affekte verstanden hatte. Die hermeneutisch-humanistische Interpretation der Scienza nouva des Vico wurde von verschiedenen Autoren kritisiert. So spricht etwa Vgl. Woidich, Vico und die Hermeneutik, S. 133: »Nicht weil die Welt von den Menschen gemacht ist, sondern weil die Welt von den Menschen gemacht ist, lassen sich deren ›princìpi‹ finden, nach Maßgabe der modificazioni des menschlichen Geistes.« 25 Vgl. Mainberger, Rhetorica II, S. 86. 26 Vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 25. 27 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1, S. 91. 24
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Der neue Wissenschaftsbegriff und seine humanistische Kritik
Mueller-Vollmer von einer fragwürdigen »Einschmelzung Vicos in den Diskurs und den epistemologischen Rahmen der diltheyschen Hermeneutik der Geisteswissenschaften«, 28 Trabant merkt an, dass Vicos Wissenschaftsbegriff gänzlich anders gelagert sei als derjenige der modern-hermeneutischen Geisteswissenschaft. 29 Woidich weist diese Vorwürfe einer hermeneutischen Fehlinterpretation Vicos zurück, indem er einerseits zu Recht darauf hinweist, dass dieser seine Methode in der Auseinandersetzung mit der allegorischen Mythendeutung entwickelt und das »zentrale methodische Ausgangsproblem« ein hermeneutisches sei. Andererseits, so Woidich weiter, geht Vico von der Prämisse aus, dass die geschichtliche Welt, der mondo civile, von Menschen geschaffen ist. Hieraus ergibt sich, dass Vico seine »Neue Wissenschaft« »als eine interpretierende Wissenschaft vom Allgemeinen und Universalen profiliert«, die hermeneutisch ist. 30 Das, was Vico zu einem wichtigen Zeugen einer humanistischen Hermeneutik macht, ist das Welt- und Menschenbild, das seiner Philosophie zugrunde liegt. Indem er in der Beschreibung des »Verumfactum-Prinzips« die Welt anthropozentrisch deutet und in dieser Anthropozentrik auch deutungsbedürftig macht, ist seine Philosophie ähnlich strukturiert wie die moderne Hermeneutik.
Tropische Sprache Vicos Interpretation der Menschheitsgeschichte erkennt zwei geistige Kräfte, die in ihr wirken: eine poetisch-mythische und eine philosophisch-wissenschaftliche. Die poetisch-mythische ist die historisch erste, da die frühesten bekannten sprachlichen Äußerungen der Völker dieser zuzurechnen sind: Die Poesie des Mythos geht der Prosa voraus. Diese Form der sprachlichen Äußerung wurde, so führt Vico in seiner Scienza nouva aus, durch die Philosophie überwunden. Diese reflektierend-wissenschaftliche Überwindung ist nicht nur historisch, sondern auch entwicklungspsychologisch begründet: Auch das Kind, so Vico, gebrauche anfangs die bildhaft-poetische Sprache, bevor diese schließlich abgelöst werde. Die ursprüngliche Sprache – Vgl. Mueller-Vollmer, Vom wahren Homer und vom historischen Abstand. Gedanken zu Vicos wilder Hermeneutik, S. 49. 29 Vgl. Trabant, Neue Wissenschaft vom alten Zeichen, S. 54. 30 Vgl. Woidich, Vico und die Hermeneutik, S. 95. 28
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Vico und der Humanismus
sowohl der Menschheit als auch des einzelnen Menschen – bezeichnet Vico als »poetisch«. Ihr Grundprinzip ist die Metapher, 31 die jeweils nach der »poetischen Logik« gestaltet ist. Die Metaphern sind Begriffe, die »vom menschlichen Körper und seinen Teilen« übertragen werden auf neue Dinge, für die es noch keinen Begriff gibt. Damit ist die Sprache bereits in ihrem Ursprung Interpretation der Natur, keine »Sprache nach der Natur der Dinge«. 32 Dies bedeutet zum einen, dass die Metaphern sich nicht der Erfindung von Schriftstellern verdanken, sondern unverzichtbar in der sprachlichen Entwicklungsgeschichte stehen. 33 Zum anderen wird deutlich, dass die Erfahrung des Neuen, das Noch-»Nicht-Begreifen« der Motor der tropischsprachlichen Entwicklung ist: »Das alles folgt aus jedem Grundsatz, daß ›der unwissende Mensch sich selbst zur Regel des Weltalls‹ macht. […] Denn wie die rationale Metaphysik lehrt, daß ›homo intelligendo fit omnia‹ (der Mensch durch das Begreifen alles wird), so beweist diese Metaphysik der Phantasie, daß ›homo non intelligendo fit omnia‹ (der Mensch durch das Nicht-Begreifen alles wird); und vielleicht liegt in diesem Satz mehr Wahrheit als in jenem, denn durch das Begreifen entfaltet der Mensche seinen Geist und erfasst die Dinge, doch durch das Nichtbegreifen macht er die Dinge aus sich selbst, verwandelt sich in sie und wird selbst zum Ding.« 34
Die tropische Sprache bildet eine »Metaphysik der Phantasie«, die der »rationalen Metaphysik« gegenübergestellt wird. Die »rationale Metaphysik« steht für das cartesianische Wissenschaftsverständnis und bezeichnet eine Sprache, die Träger von Erkenntnis ist und eine bereits erlangte Erkenntis fixiert. Die »Metaphysik der Phantasie« hingegen deutet auf die Sprache hin, die eine neue Erkenntnis eröffnet, deren Motor das Nichtwissen ist und deren Ziel die Erlangung von Wissen. Diese Sprache eröffnet neue Horizonte, sie ist gegenüber der Sprache der cartesianischen Wissenschaft reichhaltiger, wie Vico mit
Vgl. Vico, Scienza nouva, II 2,404. Vgl. a. a. O., II 2,401. Vgl. Woidich, Vico und die Hermeneutik, S. 139 f. 33 Vgl. Vico, Scienza nouva, II 2,409: »Durch all dies ist bewiesen worden, dass alle Tropen […], die man bisher für geistreiche Erfindungen der Schriftsteller gehalten hat, notwendige Ausdrucksweisen aller ersten poetischen Völker gewesen sind und dass sie ursprünglich die ihnen innewohnende eigentümliche Bedeutung ganz besessen haben.« 34 A. a. O., II 2,405. 31 32
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Der neue Wissenschaftsbegriff und seine humanistische Kritik
Blick auf die antiken Philosophenschulen feststellt. 35 Die Rhetorik ist es, die diese tropisch-poetische Sprache reflektiert und zu nutzen lehrt. Der historisch-systematische Primat der poetischen Sprache gegenüber der rational-wissenschaftlichen Sprache bildet den Grund für die Notwendigkeit der Rhetorik für die Wissenschaft. Sie bleibt auf die Redekunst angewiesen, um einerseits das in ihr Erforschte vermitteln zu können, 36 aber auch, weil die poetische Sprache es ist, die ihr neue denkerische Entwicklungsmöglichkeiten aufzeigt. Auf diese Weise ist die Wahrheit der deduktiv-cartesianischen Wissenschaft eine sekundäre: »Zunächst nun, was die Rüstzeuge der Wissenschaften betrifft, so beginnen wir heute die Studien mit der Erkenntniskritik, die, um ihre erste Wahrheit nicht nur vom Falschen, sondern auch vom bloßen Verdachte des Falschen frei zu halten, alle sekundäre Wahrheit, sowie alles Wahrscheinliche sowie das Falsche aus dem Denken entfernt wissen will.« 37
Vico formuliert in der Metaphorik der Sprache einen wichtigen Grundsatz des Humanismus. Nicht jede sprachliche Äußerung ist metaphorisch, aber die Metaphorik bildet die ursprüngliche Struktur der Sprache. Der Anspruch, nichtmetaphorische, »eigentliche« Aussagen zu treffen, ist ein weiterführender Umgang mit der Sprache, der wesentliche Elemente der Sprachlichkeit hinter sich lässt und, so Vico, sachlich falsch ist, wenn er mit der Ambition vorgetragen wird, dem Wesen der Sprache entsprechen zu können.
Von der topischen Rhetorik zur rhetorischen Topik Das zentrale Anliegen Vicos in seiner Universitätsrede von 1708 ist die Rehabilitierung des Humanismus gegen den Wissenschaftsbegriff eines Descartes. Zentrales Element des Humanismus ist die in der antiken Rhetorik entstandene Topik. Cicero hatte in seiner Topik differenziert zwischen der ratio inveniendi, der Rationalität des Auffindens, und der ratio disserendi/iudiandi, der Rationalität des Unterscheidens/Beurteilens. 38 Diese Differenzierung greift Vico auf und 35 36 37 38
Vgl. Vico, Geistige Bildung, S. 35. Vgl. a. a. O., S. 43. A. a. O., S. 27. Vgl. Cicero, Top. II,6.
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Vico und der Humanismus
ordnet sie chronologisch: »Denn wie die Auffindung der allgemeinen Beweisgründe naturgemäß früher ist als das Urteil über die Wahrheit, so muss die Lehre der Topik früher sein als die der Kritik.« 39 Die Topik bietet die sprachliche Fülle der Dichtkunst, der Religion und der Rhetorik, die wahrzunehmen die Anhänger der »modernen« Wissenschaft nicht in der Lage sind: »Die Modernen freilich wollen nichts von ihr wissen und behaupten, sie habe keinen Nutzen. […] Allein, wie können sie gewiß sein, alles gesehen zu haben? […] Die Kritik ist die Kunst der wahren, die Topik aber die der reichhaltigen Rede. Die in der Topik Geübten besitzen, da sie gewohnt sind, beim Reden alle Punkte, wo Argumente bereit liegen, wie die Buchstaben des Alphabets zu durchlaufen, damit schon die Fähigkeit, ohne weiteres zu sehen, was jeweils in der vorliegenden Sache überzeugend gemacht werden kann. Die diese Fähigkeit nicht erreicht haben, verdienen kaum den Namen eines Redners.« 40
Wenn Vico der kritischen Wissenschaft die Frage stellt, ob sie denn gewiss sein könne, alles wahrgenommen zu haben, so spielt er sehr geschickt darauf an, dass ihre Anhänger nicht ausschließen können, in ihren Prämissen nur einen Teilaspekt der Wirklichkeit erfasst zu haben – abgesehen davon, dass die Rhetorik, die Geschichte oder die Politik bereits außen vor gelassen werden. Indem die kritische Wissenschaft auf die eine Prämisse abzielt, aus der sie sich deduktiv entwickelt, nimmt sie sich zum einen die Chance, Dinge außerhalb ihrer selbst wahrzunehmen, und zum anderen ist sie, so Vico, nicht in der Lage, die Prämisse selbst zu begründen: Eine unableitbare Prämisse kann nicht abgeleitet werden. 41 Vico zielt darauf, »den Namen des Redners« zu verdienen, und weist die moderne Wissenschaft zurück, da sie der Rhetorik nicht nützen würde. Dieses Ziel der Vervollkommung der Rhetorik bzw. die Annahme, dass die Rhetorik das anzustrebende Ziel der Bildung sei und aus diesem Grund die Wissenschaft in modernen Sinne abzulehnen sei, weil sie diesem Ziel Vgl. Vico, Geistige Bildung, S. 29. A. a. O., S. 29 f. 41 Vgl. Grassi, G. B. Vico und das Problem des Beginns des modernen Denkens, S. 121: »Der Schlüssel zu Vicos Widerlegung der kritischen Methode und des damit zusammenhängenden Rationalismus besteht in dem Bewusstsein, dass die ursprünglichen ersten Prämissen des logischen Prozesses selbst als solche nicht ableitbar sind; diese vermag der rationale Prozess nicht zu entdecken, oder: eben weil der rationale Prozess wesentlich deduktiv ist, wird er niemals auf die Prämissen, die Axiome, die Prinzipien des rationalen Prozesses angewandt werden können.« 39 40
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Der neue Wissenschaftsbegriff und seine humanistische Kritik
entgegensteht, mag aus heutiger Perspektive eigenartig anmuten, lässt sich aber aus der humanistischen Grundüberzeugung erklären, dass jede Erschließung der Wirklichkeit sprachlich ist, und die Sprache daher das in der Rhetorik zu formende Fundament jeder Wissenschaft darstellt. Dieses Fundament wird nicht – wie in der modernen Wissenschaft – deduktiv erarbeitet, sondern reflexiv in der Topik wahrgenommen. Die Vervollkommung der Rhetorik – und damit auch der Bildung – beschreibt Vico wie folgt: »Daher stammt ja jene höchste und seltene Kraft der Rede, um deretwillen man sie ›voll‹ nennt, die nichts unberührt, nichts im Unklaren, nichts den Zuhörern zu wünschen übrigläßt. Denn die Natur ist ungewiß, und das vorzüglichste, das einzige Ziel der Künste ist, uns gewiß zu machen, daß wir recht getan haben.« 42
Indem die Bildung darauf zielt, das Handeln des Menschen in Einklang mit der ihn umgebenden Welt zu setzen, und die Rhetorik die sprachliche Erfassung dieser Welt derart schärft, dass dieser Einklang möglich wird, kommt der Topik deshalb überragende Bedeutung zu, weil ein Einklang mit der Welt nur möglich ist in einer rezeptiven Wahrnehmung der Welt, wie sie die rhetorische Topik beschrieben hat. In der Scienza Nuova schließlich führt Vico die gesamte menschliche Kultur auf eine »sinnliche Topik« (topica sensibile) 43 zurück, womit er die ganze Fülle an mythischen Bildern und Symbolen meint, die die menschliche Geschichte begleitet und gestaltet haben. Die Topik steht aufgrund ihrer schöpferischen Kraft und Innovationsfähigkeit am Beginn der Menschheitsgeschichte, erst später kam die beurteilende und abwägende Kritik hinzu. 44 Indem Vico die Topik jedoch zum Schlüssel der Erkenntnis macht, gibt er ihr selbst ebenfalls eine kritische Dimension. 45
Vico, Geistige Bildung, S. 31. Vgl. Vico, Scienza Nuova, VII 1,494. 44 Vgl. Vico, a. a. O., VII 5,498: »Die Vorsehung sorgte weislich für die menschlichen Angelegenheiten, indem sie im menschlichen Geist die Topik früher als die Kritik entwickelte; denn zunächst muss man die Dinge erkennen, später erst sie beurteilen. Denn die Topik ist das Vermögen, das den Geist schöpferisch macht, während die Kritik ihn genau macht; und in jenen ersten Zeiten mussten alle zum menschlichen Leben notwendigen Dinge erfunden werden, Erfinden aber ist eine Eigenschaft des schöpferischen Geistes.« 45 Vgl. Mainberger, Rhetorica II, S. 84. 42 43
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Vico und der Humanismus
Vicos Werk wurde erst über ein Jahrhundert nach seinem Tod entdeckt und in der Breite rezipiert. Sein direkter Einfluss auf die zeitgenössische Philosophie ist also marginal. Dennoch besitzt es für die Geistesgeschichte – aus späterer Perspektive – eine wichtige Funktion in dem Versuch, den cartesianischen Rationalismus aus humanistischer Perspektive zu kritisieren und gleichzeitig am Anspruch der Wissenschaftlichkeit festzuhalten. Hier setzt Vico bereits Akzente, die erst wieder in der Diskussion um die Frage der Differenzierung von Geistes- und Naturwissenschaften auftauchen werden.
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12. Die Aufklärung und das Ende der Rhetorik
12.1 Aufklärung Logik und Ästhetik René Descartes hatte in der 1. Hälfte des 17. Jahrhunderts eine neue Wissenschaft entworfen, die auf einer strengen Methodik beruhte und damit eine andere Struktur besaß als der bis dahin dominante Humanismus der Renaissance. Die geistesgeschichtliche Epoche, die nun folgte, definierte sich oft im Gegensatz zur rhetorisch-humanistischen Tradition und verstand sich ihr gegenüber als »Aufklärung«. Durchaus repräsentativ ist folgende Einschätzung von John Locke (1632–1704) über die Rhetorik: »Es ist offensichtlich, wie gern die Menschen sich täuschen und sich täuschen lassen. Denn die Rhetorik, dieses mächtige Werkzeug des Irrtums und Betrugs, hat ihre festangestellten Professoren; sie wird öffentlich gelehrt und hat stets in großem Ansehen gestanden.« 1
Locke interpretiert die Sprache auf ihre Instrumentalität hin, sie ist Zeichen der im Geist befindlichen Ideen. Die Rhetorik, so Locke, ist in der Lage, diese Instrumentalität der Sprache, ihre Ausrichtung auf die Ideen, entscheidend zu stören. Im deutschsprachigen Raum sind Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) und Christian Wolff (1679– 1754) die bedeutendsten Wegbereiter der neuen Aufklärung. Gerade Wolff gilt als Vertreter einer streng rationalistischen Philosophie, die – auch bedingt durch einen großen Schülerkreis – über einen sehr großen Einfluß verfügte und mit großer Vehemenz aus systematischer Perspektive der Frage nachging, in welchem Verhältnis Logik und Rhetorik stehen und ob sich die Rhetorik als Lehre der Sprachschöpfung überhaupt in eine wissenschaftlich verstandene Philoso1
Locke, Über den menschlichen Verstand, II 144.
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Aufklärung
phie einfügen lasse. Autoren wie Christian Weise (1642–1708) oder Christian Thomasius (1655–1728), die sich durchaus als Rhetoriker und Literaten verstehen, gehen in eine sehr kritische Distanz zur traditionellen Rhetorik. Ein Autor, der sich bemühte, der Rhetorik trotz den Vorbedingungen eines strengen Rationalismus eine positive Bedeutung zuzubilligen, war der Literaturtheoretiker Johann Christoph Gottsched (1700–1766), auch er ein überzeugter Anhänger der Philosophie Wolffs. Im Unterschied zu vielen Zeitgenossen und anderen Schülern Wolffs stellt er sich ausdrücklich in die Tradition der antiken Rhetorik eines Cicero oder Quintilian. Dennoch ist seine Fragestellung, mit der er auf die Rhetorik zutritt, diejenige der Aufklärung, und das kann nicht ohne Konsequenzen für die Rhetorik selbst bleiben. Die Rhetorik, so Gottsched in seiner Ausführlichen Redekunst, müsse nach Rationalität streben, damit sie als Redekunst überzeugen könnte. Die rhetorische Topik, wie sie von Aristoteles grundgelegt worden ist, könne diese rationale Argumentation nicht herstellen, da sie nur auf Wahrscheinlichkeiten abziele. 2 Bei Gottsched besaß diese »Wahrscheinlichkeit« – im Gefolge des Aristoteles – durchaus noch eine positive Konnotation, 3 die von den anderen Aufklärern abgelehnt wird. So schreibt August Friedrich Müller (1684–1761): »Allem ansehen nach mag Aristoteles wohl hierbey die Rednerkunst seiner zeiten hauptsächlich vor augen gehabt haben, in welcher man, um die zuhörer, und insonderheit den pöbel zu überreden, diese exoterische art der probalität, die auf den gemeinen wahn aller, oder der meisten, ingleichen auf das vorurtheil des ehransehens berühmter leuthe gründet, vortreflich brauchen konnte.« 4
Aristoteles hatte die Wahrscheinlichkeit eines Gedankens im gesellschaftlichen Konsens verankert und die rhetorische Sprachlehre in dieses Geschehen eingeordnet. Erkenntnistheoretischer Grund dieser Sprachlehre ist die inventio, die sich in der Topik manifestiert. Diese lehnt Gottsched jedoch ab, da sie die »wahre Redekunst« verdecken würde: »Wir widerrathen aber dabey alles Ernstes alle die Erfindungsquellen, die man sonst nach der vormaligen Redekunst angewiesen. […] Alles
2 3 4
Vgl. Gottsched, Ausführliche Redekunst, S. 39. Vgl. Klassen, Logik und Rhetorik, S. 187. A. F. Müller, Einleitung in die Philosophischen Wissenschaften, S. 599.
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dieses widerliche Zeug ist zum Schimpfe der wahren Redekunst erfunden worden.« 5
Die wahre Redekunst, so Gottsched, orientiert sich an der Logik, an der darzustellenden Sache selbst und den sich daraus notwendigerweise ergebenden Schlüssen. Die konkrete Darstellung jedoch ist darauf angewiesen, mit Wahrscheinlichkeiten zu arbeiten, die sich daraus ergeben, dass eine Rede eine bestimmte Wirkung haben muss. Die psychologische Wirkung der Rede und ihr Wahrheitsanspruch stehen in einem Verhältnis, das bei Gottsched zwar oft widersprüchlich dargestellt wird, letztlich aber auf eine Dominanz der Logik und der Wahrheit gegenüber der Wahrscheinlichkeit hinausläuft. 6 So stellt er fest: »Ein jeder Periodus muss einen deutlichen, vernünftigen und wahren Gedanken zum Grund haben.« 7 Die Aufgabe der Rhetorik ist es nun, so Gottsched, diesen wahren Gedanken entsprechend darzustellen: »Und die logische Richtigkeit eines Gedankens muss aller Perioden innerliche Schönheit ausmachen, die hernach durch den Ausdruck nur geputzet wird.« 8 Gottsched vollzieht hier einen entscheidenden Schritt für die Rhetorik der Aufklärungszeit, die mit der Abhängigkeit von der Logik und der Ablehnung der heuristischen Topik ihre erkenntnistheoretische Relevanz vollends verliert. Es ist ihre Aufgabe, die »innerliche Schönheit« eines Gedankens herauszustellen. Die Ästhetik der Rhetorik hat nichts Subjektives, sie ist dem sensus communis enthoben und hat ihren »festen und nothwendigen Grund in der Natur der Dinge«. 9 Die Rhetorik wird zu einer ästhetischen Disziplin, die zum Schmuck einer natürlichen Objektivität einzusetzen ist. Diese Äusrichtung auf die Ästhetik zu Ende gedacht, lässt sich durchaus fragen, inwiefern man noch von Rhetorik sprechen kann. 10 Diese Veränderung wird zementiert durch das Werk des Philosophen Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762). Baumgarten ist durch sein Studium sehr vertraut mit der humanistischen Tradition, Gottsched, Ausführliche Redekunst, S. 76. Vgl. Wetterer, Publikumsbezug und Wahrheitsanspruch, S. 117 f. 7 Gottsched, Ausführliche Redekunst, S. 270. 8 Gottsched, Ausführliche Redekunst, S. 270. 9 Vgl. Gottsched, Critische Dichtkunst, S. 132. 10 Vgl. Wetterer, Publikumsbezug und Wahrheitsanspruch, S. 150: »Die Installierung einer ahistorischen und publikumsunabhängigen Norm wahrer Schönheit wirft letztlich die Frage auf, ob Gottscheds Konzept der schönen Poesie überhaupt länger als rhetorisches bezeichnet werden kann.« 5 6
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und der Aufbau seines Hauptwerkes Ästhetik folgt in vielen Punkten dem klassischen Aufbau der rhetorischen Theorie. So unterteilt er die Theoretische Ästhetik in drei Teile (Heuristik, Methodologie und Semiotik 11), die nicht zufällig an die rhetorischen Unterteilungen inventio, dispositio und elocutio erinnern. 12 Bereits seine Unterscheidung der lehrend-theoretischen Ästhetik (Aesthetica docens) von der ausübend-praktischen Ästhetik (Aesthetica utens) 13 hat aber in der traditionellen Rhetorik keine Entsprechung und ist bezeichnend für eine neue Funktionalität der Rhetorik, die erst einmal rein theoretisch ist und ihren Wert erst in ihrer Praktikabilität erhält. Natürlich war die Rhetorik als Redekunst immer auf die Praxis hin orientiert, nun erhält diese aber einen völlig neuen Stellenwert, indem durch die methodische Trennung von Theorie und Praxis die rhetorische Theorie selbst an praktischer Relevanz einbüßt. Die Rhetorik bezieht sich – soweit folgt Baumgarten der klassischen Definition – auf das Wahrscheinliche, nicht auf das Wahre: »Worüber wir keine vollständige Gewissheit erlangen, worin wir trotzdem keine Falschheit erkennen können, das ist das Wahrscheinliche. Die ästhetische Wahrheit ist also in ihrer wesentlichen Bedeutung Wahrscheinlichkeit, jene Stufe der Wahrheit, auf der man, auch wenn man nicht zur vollständigen Gewissheit geführt worden ist, dennoch keine Falschheit beobachten kann.« 14
Indem Baumgarten das Wahre als dasjenige definiert, über das man »eine vollständige Gewissheit« erlangt hat, stellt für ihn die Rhetorik einen epistemologischen Abfall dar und reduziert sich auf die ästhetische Dimension. Die Reduktion der Rhetorik auf die Ästhetik hat auch Konsequenzen für die Einschätzung der tropischen Sprachfiguren: »Auf den Tropus gebe ich hier nicht so sehr acht, insofern er die kunstvolle Vertauschung der eigentlichen Bedeutung eines Wortes oder Ausdrucks mit einer anderen ist, noch viel weniger auf den Tropus, den die Notwendigkeit und die Armut der Sprache unabdingbar macht, sooft etwas bezeichnet werden soll, für das es in einer gegebenen
Vgl. Baumgarten, Ästhetik, § 13: »[…] 1) de rebus et cogitandis heuristice, […] 2) de lucido ordine, methodologia, […] 3) de signis pulcre cogitarum et dispositorum, semiotica.« 12 Vgl. Linn, A. G. Baumgartens »Aesthetica« und die antike Rhetorik, S. 85. Vgl. auch Stötzer, Deutsche Redekunst im 17. und 18. Jahrhundert. 13 Vgl. Baumgarten, Ästhetik, § 2. 14 A. a. O., § 503. 11
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Sprache kein eigenes Wort gibt […], sondern ich gebe acht auf jede geschmackvolle Ersetzung einer Vorstellung durch eine andere.« 15
Die Tropen bleiben für Baumgarten interessant, aber nur aus ästhetischem, »geschmackvollem« Interesse. Die bisherige Bedeutung der traditionellen Tropenlehre wird bewusst als nicht mehr relevant ausgeklammert. Indem die Tropenlehre auf eine rein ästhetische Dimension hin reduziert wird, ergibt sich für die Rhetorik als bisherige Trägerin der Tropenlehre die Frage, ob sie damit ebenfalls zur bloßen Ästhetik wird oder sich auf die Erstellung von Redetechniken beschränken muss. Zumindest hat sie nichts mehr mit einer epistemologischen Ebene zu tun, der sie ihre große Bedeutung verdankt hatte. Entsprechend differenziert Baumgarten zwischen dem »logischen« und dem »ästhetischen« Denken. 16 Damit verliert die Rhetorik – die auf der Seite des ästhetischen Denkens zu suchen ist – ihre Relevanz für den philosophischen Diskurs. Ricœur hat genau in dieser Reduzierung der Rhetorik den Grund ihres Todes erkannt: »Die Geschichte der Rhetorik ist die eines schrumpfenden Chagrinleders. Hier liegt einer der Gründe für den Tod der Rhetorik: indem sie sich auf einen ihrer Teile reduzierte, verlor sie zugleich den Nexus, der sie über die Dialektik mit der Philosophie verband. Infolge dieses Verlustes wurde die Rhetorik zu einer abgesprengten, gehaltlosen Disziplin. Sie starb, als die Manie der Figurenklassifizierung ganz und gar an die Stelle des philosophischen Sinnes getreten war, der dem weitläufigen rhetorischen Reich Leben verlieh, die Teile zusammenhielt und das Ganze mit dem Organon und der prima philosophie zusammenhielt.« 17
Das »weitläufige rhetorische Reich«, das Ricœur hier anspricht, wurde geschaffen durch die Fähigkeit der Rhetorik, die »Dialektik mit der Philosophie« zu verbinden, den konkreten Einsatz der Sprache, mit ihren logischen und unlogischen Mitteln, zu verbinden mit dem sinngebenden Gehalt einer Aussage mit philosophischem Anspruch. Indem zum einen die Rhetorik selbst sich verlor, sich in ihrer ästhetischen Rolle immer mehr auf das Sammeln von Sprachfiguren beschränkte, zum anderen die Philosophie diese Beschränkung der Rhetorik anerkannte, da diese nicht mehr der nun geforderten Methodologie und Rationalität entsprechen konnte, ging das Reich der Rhetorik unter. Klassen fasst diesen Vorgang der Aufklärungszeit wie 15 16 17
A. a. O., § 780. Vgl. a. a. O., §§ 555–613. Ricœur, Die lebendige Metapher, S. 13 f.
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folgt zusammen: »In Grundzügen stehen Analytik, Überzeugung und Wahrheit auf der philosophischen, Dialektik, Überredung und Scheingründe auf der rhetorischen Seite.« 18 K. Petrus hat in Genese und Analyse eine enge Verbindung textlicher Genese und Analyse erkannt, also des rhetorischen und hermeneutischen Umgangs mit dem Text. 19 Diese Verbindung bezieht sich jedoch nur auf das in die methodische Logik Integrierbare. Das der Rhetorik Eigene, das dieser Logik entgegensteht, wird verbannt in die Ästhetik und philosophisch faktisch belanglos. Das »weitläufige rhetorische Reich« einer Rhetorik mit philosophischer Relevanz war zusammengebrochen.
Das Genie Der Geniebegriff ist einer der zentralen Begriffe der europäischen Aufklärung, der signifikant für die veränderte Einschätzung der Rhetorik ist. Nicht mehr die Nachahmung bzw. Einübung in die Abläufe der Natur durch bestimmte Regeln, sondern die subjektive Erfahrung und Verarbeitung der Natur stellt die Quelle des genialen Schaffens dar. Bis dahin wird die Kunst – auch die rhetorische Kunst – als eine »zugleich nach Regeln erlernbare und herstellbare, also primär handwerkliche Tätigkeit« begriffen. 20 An die Stelle des handwerklichen Künstlers tritt nun das Genie, das die Kunst nicht als Nachahmung, sondern als Schöpfung des Neuen begreift. Kennzeichnend für das Genie ist die enge Bindung an den Naturbegriff; so schreibt Baumgarten in seiner Natürlichen Ästhetik (§§ 28–46) über den Zusammenhang von Natur und Genie. Zu dieser natürlichen Veranlagung eines »glücklichen Ästhetikers« gehören gewisse Eigenschaften wie ein geschmackvoller Geist, Aufnahmefähigkeit usw. Bereits hier wird ein neuer Akzent deutlich, der in der traditionellen Rhetorik bislang nicht vorhanden war: die Betonung des Subjekts gegenüber der Objektivität, im Fall der Rhetorik gegenüber der topisch-rhetorischen Theorie. 21 Das Entscheidende einer »dichterischen Veranlagung« besteht laut Baumgarten in der Fähig-
Vgl. Klassen, Logik und Rhetorik, S. 184. Vgl. Petrus, Genese und Analyse. Logik, Rhetorik und Hermeneutik im 17. und 18. Jahrhundert, S. 40–76. 20 Vgl. Ostermann, Die Authentizität des Authentischen, S. 93. 21 Vgl. Linn, A. G. Baumgartens »Aesthetica« und die antike Rhetorik, S. 90 f. 18 19
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keit, »durch das Verbinden und Trennen von Einbildungen etwas neu zu bilden«. 22 Diese »poetischen Erdichtungen« (§ 511) sind immer in einer Abhängigkeit der bisherigen Tradition zu sehen. 23 Dennoch gilt: die Neuheit, die Fähigkeit, etwas Neues zu schaffen, ist das Entscheidende der Kunst, die »ästhetische Thaumaturgie«: »Das Licht der Neuheit erhellt die Vorstellungen ungemein.« 24 Indem die Neuheit, die novitas, zum wesentlichen Kriterium wird, wird die Rhetorik in ihrer Topizität aufgelöst. Die rhetorische Topik beschrieb die Sprachmuster, in denen Sprache bzw. die Rede gestaltet werden soll. Diese reflexive Methode wird nun gedreht, indem mit dem Erstreben einer Neuheit die alten Sprachmuster im Rahmen des Möglichen abgelöst werden sollen. Die Heuristik wandelt sich vom Finden dessen, was vorhanden ist, zum Er-Finden des Neuen: »Wir kommen zuerst auf die schönen Erfindungen; durch Erfindungen verstanden die Alten, oft gehabte Gedanken sich wieder ins Gedächtnis zu bringen. Unsere Erfindung geht viel weiter; wir verstehen darunter, ein Ding sich zum ersten Mal so vorzustellen, daß es in die Sinne fällt und rührt. Sie enthält die Regeln, schön und rührend von Dingen zu denken, davon man bisher noch nicht so gedacht. Die Erfindung gehört für die Ästhetik, denn die Schönheit der Erkenntnis ist der Zweck derselben.« 25
Diese Änderung des inventio-Gedankens ist Zeichen eines umfassenden Wandelns in der Geistesgeschichte. Die Antike kannte keinen Fortschritt in dem Sinne, dass etwas wesenhaft Neues entsteht. Die Welt – gesehen als physis – ist ein Wachsendes, das sich ähnlich wie eine Pflanze entwickelt. Ein Fortschritt, der nicht nur als Fortwachsen, sondern als der Beginn eines gegenüber dem Alten abzugrenzenden Neuen gesehen wurde, war unbekannt. 26 Entsprechend ging es in der klassischen rhetorischen inventio um das Finden dessen, was bereits vorhanden ist, um die Gliederung und Systematisierung des be-
Vgl. Baumgarten, Ästhetik, § 34: »[…] quanta pulchrae meditationis portio combinando praescinendoque phantasmata formanda sit.« 23 Vgl. a. a. O., § 518: »Eine poetische Erdichtung, die eine neue Welt so schafft, dass sie diese nicht einem Bereich der bereits bestehenden dichterischen Welt überaus ähnlich oder zu dieser hinführend oder mit der füglich zusammenhängend macht, ist ganz und gar unbekannt.« 24 Vgl. a. a. O., § 808. 25 A. a. O., § 14. 26 Vgl. Dodds, Der Fortschrittsgedanke in der Antike. 22
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reits Existenten. Bornscheuer fasst diese in der Konsequenz topische Prägung des Denkens treffend zusammen: »Memoria und imaginatio sind für das antike Bildungsbewusstsein eine Einheit. Das bedeutet: es gibt keine andere Phantasie als eine traditionsbewusste und gesellschaftlich verbindliche; es gibt keine andere Literatur als eine exemplarisch-didaktische, problemorientiere, argumentative. […] Es gibt schließlich keine höhere Bildung als disputatorische Versatilität.« 27
Diese Weltsicht war auch noch die im Mittelalter vorherrschende. Als der Fortschrittsgedanke der frühen Moderne erlaubte, essentiell Neues zu entdecken, musste auch die Topik in ihrer ausschließlichen Reflexivität ihre Bedeutung einbüßen, aus der »Findung« des bereits Vorhandenen wird die »Er-Findung« des Neuen. 28 Der moderne Fortschrittsgedanke macht die topisch-reflexive Ausrichtung der Rhetorik zunichte und zwingt diese, sich der neuzeitlichen Methodik entweder zu unterwerfen oder mit dem Schicksal leben zu müssen, zu einer rein ästhetischen Disziplin zu werden. Der neue Geniebegriff ist nur ein Kennzeichen dieses fundamentalen Wandels, der dann von Kant vollendet werden wird. Der Geniebegriff stellt den Menschen in seiner Subjektivität in den Vordergrund. Ein wichtiger Unterschied zum Humanismus im klassischen Sinne besteht darin, diese Subjektivität nicht in das Geflecht des sensus communis( einzuordnen, den Menschen nicht auf seine Sozialität hin zu entwerfen, sondern auf seine Individualität. Hieraus ergibt sich eine andere Einschätzung der Sprache als im Humanismus, die dort durch die essentielle Sozialität des Menschen zu dessen Konstitutivum wird. Diese Rolle besitzt die Sprache in der Aufklärung nicht, in der sie ihren Wert nicht in sich besitzt, sondern auf ihre Funktionalität hin gedeutet wird.
Kant In seinem berühmten Aufsatz Was ist Aufklärung? definiert Immanuel Kant (1724–1804) die Aufklärung als »den Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit«. 29 Kant strebt 27 28 29
Bornscheuer, Topik, S. 59. Vgl. Bornscheuer, Toposforschung?, S. 295. Vgl. Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, Werke, Bd. 6, S. 51.
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das selbständige, emanzipatorische Denken des Menschen an und sieht in diesem die Verwirklichung der Aufklärung. Diesem freiheitlichen Denken steht, so Kant, die Rhetorik als Mittel der Manipulation diametral gegenüber. Entsprechend wird die Rhetorik in seiner Kritik der reinen Vernunft als erkenntnistheoretisch irrelevant nicht erwähnt. 30 Der transzendentalen Logik stellt er eine »angewandte Logik« gegenüber, die »eine Vorstellung des Verstandes« sei, »unter den zufälligen Bedingungen des Subjekts«. Die weitere Beschreibung der angewandten Logik verrät eine große Nähe zur Rhetorik: »Sie handelt von der Aufmerksamkeit, deren Hindernis und Folgen, dem Ursprunge des Irrtums, dem Zustande des Zweifels, des Skrupels, der Überzeugung usw.« Kant schließt mit der Bemerkung, dass sie niemals eine »wahre und demonstrierte Wissenschaft abgeben kann«. 31 Diese »allgemeine Logik« bezeichnet Kant als Dialektik – und verstößt damit gegen das traditionelle Verständnis von Dialektik. Was er über diese sagt, zielt vollständig auf die Rhetorik: »So verschieden auch die Bedeutung ist, in der die Alten dieser Benennung einer Wissenschaft oder Kunst sich bedienten, so kann man doch aus dem wirklichen Gebrauche derselben sicher abnehmen, daß sie bei ihnen nicht anders war, als die Logik des Scheins. Eine sophistische Kunst, seiner Unwissenheit, ja auch seinen vorsätzlichen Blendwerken den Anstrich der Wahrheit zu geben, daß man die Methode der Gründlichkeit, welche die Logik überhaupt vorschreibt, nachahmete, und ihre Topik zu Beschönigung jedes leeren Vorgebens benutzte.« 32
In seinem ästhetischen Werk Kritik der Urteilskraft beschäftigt sich Kant mit der Rhetorik und bezeichnet sie als ein »Spiel mit Ideen, um den Zuschauer zu unterhalten«. 33 Das Grundlaster der Rhetorik ist die Veränderung der Sprache, die immer Manipulation ist und eine Verstellung dessen darstellt, was eigentlich zu sagen ist. Kant differenziert zwischen der Fähigkeit, Sprache etwa in der Dichtung rhetorisch gut einzusetzen – dann ist sie durchaus Teil der »schönen Kunst« –, und der Rhetorik selbst, der ars oratoria, die zum bloßen Gefallen oder zur Manipulation des Hörers benutzt wird. Der Dichter kündigt sein kunstvolles Spiel mit der Sprache als solches an, der
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Vgl. Bezzola, Die Rhetorik bei Kant, Fichte und Hegel, S. 8. Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 78 f. A. a. O., B 85 f. Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, B 205.
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Redner hingegen spielt zwar auch mit der Sprache, aber er tut es zum Zweck der Manipulation und kündigt es deshalb auch nicht an: »Der Redner gibt also zwar etwas, was er nicht verspricht, nämlich ein unterhaltendes Spiel der Einbildungskraft; aber bricht auch dem etwas ab, was er verspricht, und was doch sein angekündigtes Geschäft ist, nämlich den Verstand zweckmäßig zu beschäftigen. Der Dichter dagegen verspricht wenig und kündigt ein bloßes Spiel mit Ideen an, leistet aber etwas, was eines Geschäftes würdig ist, nämlich dem Verstand spielend Nahrung zu verschaffen, und seinen Begriffen durch Einbildungskraft Leben zu geben.« 34
Kant erkennt an, dass dieses Sprachspiel – das man rhetorisch als tropisch bezeichnen könnte – Raum schafft, der »Einbildungskraft Leben zu geben«, die begriffliche Sprache kreativ weiterzuentwickeln. Der Ursprung der Dichtkunst liegt im Genie und ist nicht – wie die Rhetorik – »durch Vorschrift oder durch Beispiele geleitet«. 35 Indem der Autor die Sprache nicht einsetzt als absichtsfreie Kunst, sondern um ein Ziel zu erreichen, das außerhalb des Sprachspiels liegt, setzt er dieses manipulativ ein, ist nicht »Dichter«, sondern »Redner«, der verführt. So gelangt Kant im § 53 zu einem vernichtenden Urteil über die Rhetorik: »Beredtheit und Wohlredenheit (zusammen Rhetorik) gehören zur schönen Kunst; aber Rednerkunst (ars oratoria) ist, als Kunst, sich der Schwächen der Menschen zu seinen Absichten zu bedienen (diese mögen immer so gut gemeint, oder auch wirklich gut sein, als sie wollen), gar keiner Achtung würdig. Auch erhob sie sich nur, sowohl in Athen als in Rom, zur höchsten Stufe einer Zeit, da der Staat seinem Verderben zueilte und wahre patriotische Denkungsart erloschen war. […] Wer, bei klarer Einsicht in Sachen, die Sprache nach deren Reichtum und Reinigkeit in seiner Gewalt hat, und, bei einer fruchtbaren zur Darstellung seiner Ideen tüchtigen Einbildungskraft, lebhaften Herzensanteil am wahren Guten nimmt, ist der vir bonus dicendi peritus, der Redner ohne Kunst, aber voll Nachdruck, wie ihn Cicero haben will, ohne doch diesem Ideal selbst immter treu geblieben zu sein.« 36
Für Kants Kritik an der Rhetorik spielt es keine Rolle, ob diese »gut gemeint« war. Das Entscheidende ist die manipulative Abweichung von dem, was zu sagen ist. Die Antike hat in der ars oratoria ein
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A. a. O., B 207. Vgl. a. a. O., B 215. A. a. O., Anm. B 218.
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System dieser Manipulation entwickelt. Das für Kant Verwerfliche ist nicht die Beschäftigung mit der Sprache als Kunst, sondern die Systematisierung dieser Kunst als persuasio, einer Kunst, die immer mit Blick auf ihre Wirkung hin gestaltet wird und deshalb notwendigerweise nicht exakt dem entsprechen kann, was sie eigentlich ausdrücken will. Das für Kant Entscheidende der Sprache ist die »klare Einsicht in Sachen«, welche die Sprache »in ihrer Gewalt hat« und dass diese »ohne Kunst« in der Lage ist, den gewünschten Inhalt darzustellen. Um Kants scharfe Kritik zu verstehen, ist es nötig, seine Ästhetik in seine Gesamtphilosophie einzuordnen. Kant spricht in seiner zweiten Einleitung der Kritik der Urteilskraft vom Gesamt der Philosophie, das in die theoretische Naturphilosophie, wie er sie in der Kritik der reinen Vernunft dargestellt hat, und die praktische Moralphilosophie seiner Kritik der praktischen Vernunft zu unterteilen ist. Zwischen diesen beiden Teilen der Philosophie, der Natur und ihrer Erklärung des Verstandes einerseits und der Moral und der Freiheit der Vernunft andererseits, soll nun die Ästhetik in der Kritik der Urteilskraft vermitteln. 37 Diese Dreiteilung begründet Kant anthropologisch damit, dass »alle Seelenvermögen« auf diese drei zurückzuführen sind: »das Erkenntnisvermögen, das Gefühl der Lust und Unlust, und das Begehrungsvermögen.« 38 Lust und Unlust – um die es Kant in seiner Ästhetik geht – vermitteln zwischen dem theoretischen Erkenntnisvermögen und dem ethischen Begehrungsvermögen, indem sie die theoretische Betrachtung motivieren, praktisch zu werden und ihren Endzweck zu erreichen. Das Prinzip, das Kant der Urteilskraft zugrunde legt, ist die Zweckmäßigkeit – im Unterschied zur Gesetzmäßigkeit, auf der der theoretische Verstand basiert, und dem Endzweck, dem Prinzip der ethischen Vernunft. 39 Aus dieser Perspektive wird die scharfe Kritik Kants an der Rhetorik deutlicher: Wenn die Ästhetik jene Vermittlungsfunktion zwischen dem theoretischen Wissen und dem praktischen Begehren besitzt und in dieser Vermittlungssituation derart eng an die Erkenntnis gebunden bleibt, dass ihr
Vgl. a. a. O., Einleitung, B XXI: »Allein in der Familie der oberen Erkenntnisvermögen gibt es noch ein Mittelglied zwischen dem Verstande und der Vernunft. Dieses ist die Urteilskraft.« 38 Vgl. a. a. O., Einleitung, B XXII. 39 Vgl. a. a. O., B LVII. 37
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Prinzip die Zweckmäßigkeit ist, somit das Konkretwerden der Theorie, dann kann die Rhetorik – wie sie Kant versteht – diese Funktion nicht erfüllen, da es ihr nicht um die Vermittlung eines bestimmten Inhalts, sondern um die Vermittlung an sich geht. Wenn Rhetorik die Mechanismen der Vermittlung untersucht und somit adaptionsfähig für jeden beliebigen Inhalt ist, dann muss Kant, der diese Vermittlung nur im Rahmen der Zweckmäßigkeit der Vermittlung eines bestimmten Inhalts anerkennt, diese Form des Sprachspiels ablehnen. Obwohl die Ästhetik in das Gesamtgeschehen der Philosophie integriert ist, ist sie letztlich subjektiv. Kant schreibt im § 17 der Kritik der Urteilskraft: »Es kann keine objektive Geschmacksregel, welche durch Begriffe bestimmte, was schön sei, geben. Denn alles Urteil aus dieser Quelle ist ästhetisch, d. i. das Gefühl des Subjekts, und kein Begriff eines Objekts, ist sein Bestimmungsgrund.« 40
Damit wird der Ästhetik – und damit auch der Rhetorik – jede Art erkenntnistheoretischer Relevanz entzogen, die als ausschließlich subjektive eine solche nicht besitzen kann. Entsprechend kann die Rhetorik nicht wissenschaftlich sein, weil sie Teil der Ästhetik ist und »weil es keine Wissenschaft des Schönen gibt noch geben kann, und das Urteil des Geschmacks nicht durch Prinzipien bestimmbar ist«. 41 Die Ästhetik beruht letztlich auf der Subjektivität, deren Prinzipien nicht verobjektiviert werden können. 42 Kant vollzieht eine klare Trennung zwischen dem Humanismus und der streng methodischen und erkenntnistheoretisch orientierten Philosophie. Dennoch vergisst Kant nicht die objektive Dimension des Humanismus: den Gemeinsinn, den consensus omnium. Im § 60 schreibt Kant über die »Humaniora«, die er als die »Propädeutik der schönen Kunst« bezeichnet. 43 Er blickt auf das Zeitalter der Griechen A. a. O., B 53. Vgl. auch a. a. O., B 3 f.: »Um zu unterscheiden, ob etwas schön sei oder nicht, beziehen wir die Vorstellung nicht durch den Verstand auf das Objekt zum Erkenntnisse, sondern durch die Einbildungskraft […] auf das Subjekt. […] Das Geschmacksurteil ist also kein Erkenntnisurteil, mithin nicht logisch, sondern ästhetisch, worunter man dasjenige versteht, dessen Bestimmungsgrund nicht anders als subjektiv sein kann.« 41 Vgl. a. a. O., B 258. 42 Vgl. a. a. O., B 23 f.: »Aber von einer subjektiven Allgemeingültigkeit, d. i. der ästhetischen, die auf keinem Begriffe beruht, läßt sich nicht auf die logische schließen; weil jene Art Urteil gar nicht auf das Objekt geht.« 43 Vgl. a. a. O., B 262. 40
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zurück, in dem diese Propädeutik entstanden ist und erkennt in ihr den Grund von »Mustern«, die noch ihre Gültigkeit besitzen, obwohl sie »der Natur immer weniger nahe« sind. 44 Die humanistische Tradition, so Kant, entfernt sich immer mehr von ihren Ursprüngen, denen sie sich verdankt. Sie bleibt zwar wirkmächtig, verliert aber durch diese Entfernung von der Natur ihre Legitimation. In der Kritik der reinen Vernunft führt Kant eine Unterscheidung durch, die in der Konsequenz für ihn die Ablehnung der Rhetorik beinhaltet. Kant nennt in seiner transzendentalen Methodenlehre zwei Weisen des »Fürwahrhaltens«: die Überzeugung und die Überredung. Während die Überzeugung sich auf einen objektiven Inhalt bezieht, ist die Überredung ein subjektives »Privaturteil«, das sich nicht mitteilen lässt und »bloßer Schein« ist. 45 Die Rhetorik, so Kant, ist nur in der Lage, diese Subjektivität zu beeinflussen, da sie keinen Bezug zu den objektiven Gründen hat. Bezzola stellt in seiner Untersuchung zu Recht fest, dass Kant hier »die Intention der antiken Rhetorik verkennt« und verweist auf das ciceronianische Bild eines Redners, der eine wissenschaftliche und philosophische Fundierung haben muss und somit den geforderten Bezug zu den objektiven Gründen – womit Bezzola die ciceronianische Rhetorik anders als Kant interpretiert. 46 Interessanterweise gesteht Kant, dass eine Differenzierung zwischen Überzeugung und Überredung im Moment der subjektiven Erkenntnis nicht möglich ist: »Überredung demnach kann von der Überzeugung subjektiv zwar nicht unterschieden werden […].« 47 Dem ersten Erkenntnismoment muss eine Überprüfung anhand der objektiven Gründe folgen, um zu verifizieren, ob es sich um eine Überzeugung oder eine Überredung handelt. 48 Kant erinnert hier an Vgl. a. a. O., B 263: »Schwerlich wird ein späteres Zeitalter jene Muster entbehrlich machen; weil es der Natur immer weniger nahe sein wird, und sich zuletzt, ohne bleibende Beispiele von ihr zu haben, kaum einen Begriff von der glücklichen Vereinigung des gesetzlichen Zwanges der höchsten Kultur mit der Kraft und Richtigkeit der ihr ihren eigenen Wert fühlenden freien Natur in einem und demselben Volke zu machen im Stande sein möchte.« 45 Vgl. a. a. O., B 848 f. 46 Bezzola, Die Rhetorik bei Kant, Fichte und Hegel, S. 47 f. 47 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 849. 48 Ebd.: »Kann man überdem die subjektiven Ursachen des Urteils, welche wir für objektive Gründe desselben nehmen, entwickeln, und mithin das trügliche Fürwahrhalten als eine Begebenheit in unserem Gemüte erklären, so entblößen wir den Schein 44
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Aristoteles, der ja zwischen einem wahren und einem wahrscheinlichen Schluß nicht aufgrund des logischen Verfahrens selbst differenzierte, sondern aufgrund der Prämisse, die dieses Verfahren hat. Ähnlich geht Kant vor, wenn er eine primäre Ununterscheidbarkeit von Überzeugung und Überredung anerkennt und damit streng genommen – wie Aristoteles – das rhetorische Verfahren selbst als gegeben akzeptiert, da nunmehr ausgeschlossen ist, dass jede Rhetorik per se Überredung ist. Kants scharfe Kritik an der Rhetorik bzw. die Ablehnung einer Relevanz der Rhetorik für die Philosophie ist der herausragende Teil einer allgemeinen rhetorikfeindlichen Haltung der Aufklärung. Titzmann hat in seinem Werk Strukturwandel der philosophischen Ästhetik eine interessante Auflistung antirhetorischer Argumente jener Zeit vorgenommen: »a) die Ablehnung von Zweckorientiertheit der Texte. b) die Ablehnung der ornatus-Auffassung als oberflächlich. c) die Ablehnung der Relevanz von Figuren und Tropen als unerheblich gegenüber dem Gesamtzusammenhang des Werkes. d) die Ablehnung von Erlernbarkeitsthesen, denen der Geniebegriff implizit oder explizit gegenübersteht. e) die Ablehnung einer Regelhaftigkeit der Kunst. f) die Ablehnung des Anscheins eines ›Gemachten‹ zugunsten von dem der ›Unabsichtlichkeit‹. g) die Ablehnung großer Partien der Rhetorik, weil diese eher in die Grammatik oder Logik als in die Poetik gehörten. h) die Ablehnung der praktischen angewandten Rhetorik etwa als Prosaform, die eine bestimmte, in der Moderne nicht gegebene Verbindung zum ›Volksleben‹ voraussetze. i) die Ablehnung der Form der Rhetorik, weil in ihr immer ›die trübste logische Verwirrung‹ geherrscht habe.« 49
Die von Titzmann aufgeführten Punkte beschränken sich auf die »Ablehnung« der Rhetorik und sind Darstellung einer Negativfolie, die natürlicherweise auch ihre positive Seite hat: den Willen, die philosophische Sprache in einer Rationalität zu verantworten, die nicht Teil der Rhetorik sein kann. Die Rhetorik wird nicht vernichtet – wie ginge das auch –, aber sie wird aus dem Reich der Philosophie entund werden dadurch nicht mehr hintergangen, obgleich immer noch in gewissem Grade versucht, wenn die subjektive Ursache des Scheins unserer Natur anhängt.« 49 Titzmann, Strukturwandel der philosophischen Ästhetik, S. 189.
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Die Aufklärung und das Ende der Rhetorik
fernt, ihre Themen bleiben zwar erhalten, dennoch wird die Rhetorik verstümmelt und hat ihre philosophische Relevanz restlos eingebüßt. 50
12.2 Die Auflösung der Rhetorik Die Rhetorik bzw. das Verständnis dessen, was Rhetorik eigentlich ist, war im Laufe der Geschichte ständigen Veränderungen unterworfen. All diese Veränderungen bedeuteten den Untergang dessen, was bis dahin Gültigkeit besaß. Trotz aller Veränderungen konnte sich die Rhetorik eine große Bedeutung durch verschiedene Epochen der europäischen Geistesgeschichte hindurch bewahren. Ende des 18. bzw. Anfang des 19. Jahrhunderts kommt es zu einem rapiden Bedeutungsverlust der Rhetorik, die aus den akademischen Lehrplänen verschwindet und ihre überragende Stellung im Bildungswesen verliert. Die Betrachtung dieses Untergangs ist essentiell für die Einschätzung der Rhetorik als Ganzes, so Cahn in Die Kunst der Überlistung, »denn die Wahrheit der Rhetorik kann nicht einfach aus den Trümmern ihres Lehrgebäudes aufgelesen werden, sondern ist mit ihrem Zusammenbruch verbunden«. 51 Schanze beschreibt diesen Tod der Rhetorik wie folgt: »Das rhetorische System, seiner führenden theoretischen Stellung beraubt, vor allem seiner zusammenfassenden, Jahrhunderte sprachlicher Kommunikation steuernden Stiltheorie, führt nunmehr nur noch ein Schattendasein in Figurenkatalogen, oder, worauf allerdings detailliert und mit allem Nachdruck hingewiesen werden muss, ein unterprivilegiertes Nachleben in Briefstellern, sogenannten Trivialpoetiken und endlich, im Schulunterricht.« 52
Die Ursachen für diesen »Tod der Rhetorik« sind genauso vielfältig wie ihre Erklärungen. 53 Nicht außer Acht zu lassen, aber eben auch nicht zu überschätzen, sind soziologische Ursachen. Diese liegen beispielsweise, so Schanze, 54 in der mit der Reformation einsetzenden Vgl. Gabriel, Logik und Rhetorik der Erkenntnis, S. 16: »Damit sind zentrale Themen der Rhetorik bewahrt, die Rhetorik als Disziplin aber – philosophisch ausgeplündert – am Ende.« 51 Cahn, Die Kunst der Überlistung, S. 9. 52 Schanze, Romantik und Rhetorik, S. 127. 53 Vgl. Bezzola, Die Rhetorik bei Kant, Fichte und Hegel, S. 4. 54 Vgl. Schanze, Romantik und Rhetorik, S. 126–144. 50
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Die Auflösung der Rhetorik
flächendeckenden Literalisierung der Bevölkerung vor. Fuhrmann nennt das Eindringen der Volkssprachen in den Bildungskanon und den Verlust der einen Bildungssprache Latein. 55 Diese aufgeführten Faktoren haben sicherlich ihren Einfluss am Verschwinden der Rhetorik besessen, entscheidend waren jedoch andere Faktoren, und diese werden gerade sichtbar im Nexus von Rhetorik und Philosophie, da es sich um Veränderungen handelt, die durch eine neue philosophische Deutung der Sprache bedingt sind. Dass diese wiederum selbst durchaus soziologische Ursachen haben mögen, ist in diesem Zusammenhang zweitrangig. Die meisten Interpretationen sehen Veränderungen im Zusammenspiel von Rhetorik und Wissenschaft als Grund für den Untergang der Rhetorik. Mit Descartes setzt sich in Europa ein neuer Wissenschaftsbegriff durch, der die Rhetorik nicht mehr integrieren konnte und wollte. Nicht die Ablehnung der Rhetorik als solcher, sondern die in der cartesianischen Wissenschaft veränderte Rolle der Sprache bedeutete den langsamen Tod der Rhetorik. Göttert kennzeichnet das neue Verständnis der Sprache als ein »bloßes Instrument des Denkens, dem keinerlei eigene Leistung zuzubilligen ist, sondern das umgekehrt von einer nun als fehlleitend eingeschätzten ›Bildlichkeit‹ gereinigt werden soll«. 56 Die Bildlichkeit der Rhetorik wird durch ihren Bezug zur Wahrscheinlichkeit und ihre Verdeckung der wissenschaftlichen Wahrheit zum störenden Hindernis. Barthes fasst diesen Prozess wie folgt zusammen: »Die Rhetorik wird zwar […] toleriert, ist aber keine Logik mehr, sondern nur eine Farbe, eine Ausschmückung, die unter Berufung auf das ›Natürliche‹ streng überwacht wird.« 57 Das »Natürliche« ist das Ziel der neuen Wissenschaft, seine Erforschung und seine Darstellung, die von aller Rhetorik gereinigt sein soll. Diesen Weg des Descartes hat Kant weiterentwickelt. Die Sprache wird zu einem neutralen und sterilen Instrument der Vermittlung von Erkenntnis. Ob diese Neutralität und Sterilität der Sprache überhaupt möglich ist, ist erst einmal zweitrangig. Sie werden angestrebt, und Wissenschaft ist nur Wissenschaft, wenn diese gelingen. Vgl. Fuhrmann, Rhetorik und öffentliche Rede, S. 23: »Die Rhetorik hatte vor allem der Einübung des Lateinischen als unerlässlicher Voraussetzung für das Universitätsstudium gedient; diese Voraussetzung fiel fort, und so verschwanden die praktischen rhetorischen Übungen.« 56 Vgl. Göttert, Einführung in die Rhetorik, S. 162. 57 Barthes, Die alte Rhetorik, S. 45. 55
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Die Aufklärung und das Ende der Rhetorik
Eine zentrale Rolle bei der Beurteilung des Todes der Rhetorik – und auch Hauptkritikpunkt der Aufklärer – besitzt die Topik. Die Rhetorik jener Zeit stellte sich wesentlich topisch dar. Die Topik war bereits in der antiken Rhetorik präsent, ihre Rolle war aber eine andere gewesen. Sie stellte von der Rhetorik unabhängige »Orte« zusammen, in denen der Redner Elemente und Muster für seine Rede finden konnte. Indem diese Orte im Mittelalter und in der frühen Neuzeit – genauer gesagt in der Reformation – theologisiert wurden, die Orte also nicht mehr Hilfen der Argumentation, sondern das Ziel der Argumentation wurden, kehrte sich das Verhältnis von Topik und Rhetorik um: Nicht mehr die Topik war Teil der Rhetorik, sondern die Rhetorik wurde zum Anhängsel der Topik. Mit den loci communes der Reformation entstand die Möglichkeit, Topik unabhängig von Sprache zu denken, damit unabhängig von der Rhetorik als der Beherrscherin der Sprache. Nur so bestand die Möglichkeit, die Rhetorik als als die Sprache dominierenden Faktor zu entmachten, da sie nun nicht mehr das Denken des Menschen bestimmte bzw. seine Formulierung der Wahrheit, sondern zu einem bloßen Stilmittel wurde. Indem sich die Rhetorik immer mehr von ihrem eigentlichen Kontext löste, das Wahrscheinliche nicht mehr in den Zusammenhang der konkreten Mitteilung und der konkreten Rede stellte und auf diese Weise zur bloßen, auf sich gestellten Ästhetik wurde, die Topik somit nicht mehr der Intention des zu Sagenden unterordnete, sondern das zu Sagende darstellte, wurde sie zu einem starren System. Ricœur stellt fest, »[…] daß die Rhetorik aufgrund ihrer Bindung an unkritisch aufgenommene Inhalte zu einer Art Popularwissenschaft wird. Indem sich die Rhetorik an allgemein geltende Vorstellungen bindet, begibt sie sich in eine lose Folge von Argumentations-›Topoi‹ […]. Dieses geheime Einverständnis von Rhetorik und Topik war gewiß eine der Ursachen ihres Todes.« 58
Durch den Anspruch der neuen Wissenschaftlichkeit gerät die Rhetorik unter Druck, selbst den Kriterien der Wissenschaft genügen zu müssen. Da sie sich nur auf Wahrscheinlichkeiten stützen kann und das System der Topik erhöht, wird sie so zu einer »Popularwissenschaft«. Cahn nennt diesen Schritt denjenigen »von der Lehre zur Forschung«. 59 Die Rhetorik war Lehre, als sie zwar auf die Wissen58 59
Ricœur, Die lebendige Metapher, S. 39. Cahn, Die Kunst der Überlistung, S. 148.
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schaft bezogen war, aber nicht selbst Wissenschaft sein wollte. Indem sie die Methodik der Wissenschaft anerkannte, musste sie in der Aufklärung auf eine bloße Ästhetik reduziert werden und damit als Rhetorik sterben. Cahn deutet diesen Schritt »von der Lehre zur Forschung« als »Rettung« im »Dienste der Selbsterhaltung«. 60 Dies kann er, da er die Rhetorik bereits in ihrer antiken Entstehung für gescheitert erklärt, dieses Scheitern spätestens in der Aufklärung offensichtlich wird, und so die Schritte zur ästhetischen Rettung der Rhetorik eingeleitet werden können. Cahn nennt bereits in seiner Einleitung in Die Kunst der Überlistung die Rhetorik ein »Debakel«: »Sie erscheint als blöde Pseudokunst, die das Überreden nicht methodisch zu lehren vermag und nicht weiß, ob und wie sie selbst zum Überredungserfolg beiträgt.« 61 Indem die Rhetorik zur Wissenschaft zu werden versucht, wird einerseits ihre prinzipielle Unwissenschaftlichkeit sichtbar, andererseits entzieht sie sich »einer methodischen Einflussnahme auf die Praxis«. 62 Die Rhetorik, so Cahn, konnte jahrhundertelang überleben, eben weil sie sich dem wissenschaftlichen Diskurs entzog. Indem sie Teil der Wissenschaft werden wollte und sich disziplinär akademisierte, wurde sie aufgespalten in die verschiedenen anthropologischen, pädagogischen oder psychologischen Interessen, hat aber ihr »Eigenstes« verloren, das eben »im Reiz ihrer eigenen Unmöglichkeit« bestand, 63 somit in ihrer Unwissenschaftlichkeit. Abgesehen davon, ob Cahn damit wirklich treffend das »Eigene« der Rhetorik beschrieben hat, gelingt es ihm, überzeugend die Chancenlosigkeit der Rhetorik darzustellen, die sich im 18. Jahrhundert dem neuen Anspruch ausgesetzt hat, Wissenschaft zu sein und einer wissenschaftlichen Methodik genügen zu können. 64 Auch Apel erkennt in der neuen Wissenschaft den Grund der Entwertung der Rhetorik. Die historische Schwäche der Rhetorik sieht er in ihrer Tendenz zur Verfestigung der Sprache: »Mit Hilfe der reflexiven ›Logoswissenschaften‹ (Grammatik, Rhetorik, Dialektik, in gewissem Sinne auch Poetik), in welche die auf das mythische Zeitalter folgende schöpferische Eruption des Denkens und Vgl. ebd. A. a. O., S. 13. 62 Vgl. a. a. O., S. 148. Vgl. ebd.: »Sie reklamiert durch ihre Akademisierung den Rang der Wissenschaft und übernimmt jene Widerlegungsimmunität, die die Wissenschaftlichkeit disziplinär so attraktiv macht.« 63 Vgl. a. a. O., S. 176. 64 Vgl. Dyck, Philosophisches Ideal und rhetorische Praxis, S. 196 ff. 60 61
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Dichtens (die ›Achsenzeit‹ im Sinne von K. Jaspers) ausmündet, wurden die mythisch-poetischen Gehalte dann in einem neuen traditionalistischen Sprachverhältnis verfestigt und, gleich den Gattungsformen der Literatur, durch zwei Jahrtausende hindurch verfügbar gehalten – so lange, bis das nominalistisch-wissenschaftliche Denken und das unmittelbar die Welt ›wortende‹ Dichten der neuzeitlichen Sprachschöpfer den Bildungskosmos der Topik auflöste und die Topoi als ›Gemeinplätze‹ […] wissenschaftlich und künstlerisch entwertet wurden.« 65
Indem die Rhetorik aufgrund ihrer topischen Ausrichtung Sprache verfestigt, aber nicht in der Lage ist, sie zu entwickeln oder im Sinne der neuen Wissenschaft zu gebrauchen, verliert sie ihre Bedeutung. Apel überschätzt jedoch die zweifellos vorhandene Bedeutung der Topik für die antike Rhetorik, welche noch nicht in dem Maße durch die Topik vereinnahmt worden war wie es dann im Mittelalter und in der Renaissance der Fall sein sollte. Die Topik der Antike war eine Hilfe der Argumentation, nicht das Ziel der Argumentation. Genau hier liegt die Wurzel der Topisierung der Rhetorik im Mittelalter und in der Reformation: Die Topik des Mittelalters und der Reformation war bedingt durch die Ausrichtung auf die Theologie, auf die Bibel und die Kirchenväter; die der Renaissance – um dies hinzuzufügen – war gekoppelt an die Ausrichtung auf die antiken Quellen und ihre Ästhetik. Beide Epochen machten die Rhetorik in ihrer Topisierung damit angreifbar, denn wenn die jeweiligen loci communes der Topik nicht mehr gültig sind, weil die Wirkmacht der Heiligen Schrift, der Kirchenväter oder der antiken Autoren nachlässt und nicht mehr das aktuelle Denken ausdrücken kann bzw. den neuen Erfordernissen der Wissenschaft nicht gerecht werden kann, dann ist mit dem Ende der loci communes auch das Ende der Rhetorik eingeläutet. Dieses Ende der Rhetorik war und ist aus philosophischer Sicht unvermeidbar. Es bedeutete das Ende einer Rhetorik, die als Vermittlerin von Redetechniken eine direkte Relevanz für den erkenntnistheoretischen bzw. philosophischen Diskurs besaß. Die Schöpfung einer Verbindung von Rhetorik und Philosophie zu einer »rhetorischen Philosophie« musste und muss daher von neuen anthropologischen und sprachphilosophischen Grundlagen ausgehen, deren Entwicklung nach dem Ende der »alten Rhetorik« einsetzte.
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Apel, Die Idee der Sprache, S. 139 f.
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Die Wiedergeburt des Rhetorischen 13. Die Neubesinnung auf die Sprachlichkeit
Bereits Ende des 18. Jahrhunderts setzte die Romantik einen wichtigen Akzent gegen den Wissenschaftsbegriff, den Descartes begründet hatte und der schließlich in der Aufklärung zur endgültigen Verbannung der Rhetorik aus dem philosophischen Diskurs führte. Diese Kritik sollte dann im 19. Jahrhundert zwar wesentlich von Friedrich Nietzsche (1844–1900) vorgetragen werden und zu einer von ihm angestoßenen Rehabilitierung der Rhetorik führen, die Wurzeln und die entscheidenden Weichenstellungen liegen jedoch in der Romantik des ausgehenden 18. bzw. beginnenden 19. Jahrhunderts, die eng verknüpft ist mit dem Beginn des sog. »Neuhumanismus«. Benjamin sieht in seiner Vision einer »kommenden Philosophie« mit Hamann und der Sprachwende des Humanismus das entscheidende Kriterium der Ablösung einer rein empirisch-naturalistischen Philosophie; eine Aufgabe, die auch Benjamin für seine eigene Gegenwart noch als aktuell bezeichnet hat: »Die große Umbildung und Korrektur, die an dem einseitig mathematisch-mechanisch orientieren Erkenntnisbegriff vorzunehmen ist, kann nur durch die Beziehung der Erkenntnis auf die Sprache, wie sie schon zu Kants Lebzeiten Hamann versucht hat, gewonnen werden.« 1
Romantik bzw. Neuhumanismus als Träger eines neuen Sprachverständnisses bilden keineswegs eine einheitliche Bewegung, sondern es handelt sich um eine sehr heterogene Geisteshaltung, welche die menschliche Natur neu in den Vordergrund stellen will und zugleich in der klassischen Antike den bislang größten Vertreter dieser Humanität erkennt. Das Sprachbild des Neuhumanismus ist von zwei Grundideen geprägt, die großen Einfluß auf Nietzsche und die Wiedergeburt der Rhetorik haben sollten: die Universalität des Sprach-
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Benjamin, Über das Programm der kommenden Philosophie, AW III, S. 142.
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Die Neubesinnung auf die Sprachlichkeit
lichen und die grundsätzliche Metaphorik des Sprachlichen. Eng verknüpft mit dieser humanistischen Neuausrichtung ist der Beginn einer Hermeneutik mit einem philosophischen Anspruch.
13.1 Der Neuhumanismus Wie der Begriff des »Humanismus« ist der Begriff des »Neuhumanismus« genauso diffus wie umstritten. Er kennzeichnet nicht eine irgendwie organisierte geistige Strömung, lässt sich aber – wie der Humanismus selbst – durch bestimmte Strukturen kennzeichnen. Der Neuhumanismus ist daher nicht nur als eine bildungs- oder literaturtheoretische Bewegung darzustellen, die sich in besonderer Weise dem antiken Erbe verpflichtet fühlt, sondern als eine bestimmte Deutungsmöglichkeit des Menschseins, der diesen auf seine Sprachlichkeit auslegt. Stärkster Motor des Humanismus ist die Kritik am Rationalismus, wie er von der Aufklärung postuliert wird. Diese Kritik am Rationalismus wird bei verschiedenen Autoren zwar mit einem hohen philosophischen Anspruch (und oft auch sehr polemisch), aber zumeist nicht sehr systematisch mitgeteilt, so etwa bei Jacobi oder bei Hamann. 2 Dies führte dazu, dass die genannten Autoren und auch andere Autoren, die man dem Neuhumanismus oder auch der Romantik zuschreibt, in der Philosophiegeschichte eher marginal rezipiert wurden. Wesentliches Element der neuhumanistischen Beschreibung des Menschen ist seine Sprachlichkeit. Diese wird in neuer Weise mit seinem Denken parallelisiert. Sprache und Denken »correspondieren«, so Johann Georg Hamann (1730–1788): »Die natürliche Denkungsart hat einen Einfluß in die Sprache. Sowohl die allgemeine Geschichte als die Historie einzelner Völker, Gesellschaften, Secten und Menschen, eine Vergleichung mehrerer Sprachen und einer einzigen Verbindung der Zeit, des Ortes und des Gegenstands, liefern hier ein Weltmeer von Beobachtungen, die ein gelehrter Philosoph auf einfache Grundsätze und allgemeine Klassen bringen
Vgl. Coseriu, Die Geschichte der Sprachphilosophie, Bd. 2, S. 101: »Hamanns Denken folgt keinem System, das einzige, was seine Ideen zusammenhält, ist der permanente Bezug zur Sprache. […] Hamann ist anregend durch die Fragen, die er stellt, nicht durch die Antworten, die er bietet.«
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Der Neuhumanismus
könnte. […] Die Lineamente ihrer Sprache werden also mit der Richtung ihrer Denkungsart correspondieren.« 3
Die Sprachlichkeit des Menschen, so Hamann, ist die Weise seines Weltzugangs. Insofern er denkt, tut er dies in der Gebundenheit an das Sprachliche. Die philosophisch bedeutendsten Schriften sind wohl seine Auseinandersetzungen mit der Philosophie Kants. So schreibt er in der Rezension der Kritik der reinen Vernunft: »Das Wort ist immer schon vor dem Denken anwesend. Mann kann nur in Worten denken. Das Denken kann die Worte nicht abschütteln. […] Das Wort ist früher als der Gedanke.« 4 Jede Art der Sprache enthobene Logik oder Vernunft wird von Hamann entschieden verneint. Eine »reine Vernunft«, wie sie Kant in seiner Philosophie anstrebt, ist damit nicht möglich. Entsprechend führt Hamann in seiner Metakritik über den Purismus der Vernunft aus, dass es unmöglich sei, eine Philosophie zu denken, die unabhängig von der Geschichte oder von der sinnlichen Erfahrung ist. Am schlimmsten aber, so Hamann, sei es, die Philosophie unabhängig von der Sprache zu denken, denn diese sei »das einzige erste und letzte Organon und Kriterion der Vernunft«. 5 Jedes Denken hat in der Sprache seine notwendige Voraussetzung. In dieser Erkenntnis liegt Hamanns großes Verdienst. Er setzt die Sprache als Träger der Weltdeutung in Abhängigkeit zur Welt in ihrer sozialen oder kulturellen Konstitution. Simon kommentiert dies so, dass die Sprache bei Hamann »sich in einem untrennbaren Verhältnis zu seiner geschichtlichen und gesellschaftlichen sprachlichen Möglichkeit, allgemein sein zu können, begreift«, statt – wie bisher zumeist – »sich über real bestehende Beschränkungen der Autonomie der Menschen im abstrakten Begriff einer vom Menschen abgelösten ›reinen‹ Vernunft hinzu zu setzen«. 6 Der Bezugspunkt des sprachlichen Geschehens wird nicht mehr in ein Außerhalb der reinen Vernunft oder in ein Transzendentes verlagert, sondern in seiner geschichtlichen und kulturellen Wirklichkeit in sich selbst gefunden. Hamann beschwört eine Gebundenheit der Sprache an die Materialität der sinnlichen Wahrnehmung. Diese Wahrnehmung ist nicht Wahrnehmung eines der Sprache Äußeren, sondern dessen, was sich vom Äußeren her in der Sprache selbst abbildet. Hier weist Simon in 3 4 5 6
Hamann, Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 122. Hamann, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 315. Vgl. Hamann, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 284. Vgl. Hamann, Schriften zur Sprache, S. 11.
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Die Neubesinnung auf die Sprachlichkeit
seinem Kommentar zur Sprachphilosophie Hamanns in eine Richtung, die auch für die Frage nach der Rhetorizität der Philosophie relevant sein kann: »Da nach ihm die Sprache in ihrer jeweiligen Gestalt die ›Lage‹ einer Gesellschaft und damit auch ihr Verständnisvermögen widerspigelt, kann solche Vermittlung nur innerhalb dieser selben Sprache geschehen, so dass die Produktivität eines Denkens, das sich nicht in der Abstraktion begnügt, innerhalb der jeweiligen Sprache nur als Stil sich manifestieren kann, allerdings so, daß es alle sprachlichen Möglichkeiten einbezieht.« 7
Wenn die Sprache ein Vermittlungsgeschehen darstellt, das die »Lage einer Gesellschaft widerspiegelt«, dass also der Mensch in der Sprache sein Verhältnis zur Welt erklärt und vermittelt, so bildet diese Sprache in ihrer Tätigkeit einen »Stil«, der sich herausbildet in der Produktion der Sprache. Dieser »Stil« verweist in den Bereich der Rhetorik, somit in jenen, in dem es um die Färbung, die Art der Sprache geht, die sich nicht am Absoluten orientiert, sondern an den »Umständen«, an der historischen und gesellschaften Wirklichkeit, aufbauend auf den Erfahrungen, die sich dann als relevant für den sprachlichen Vollzug erweisen. Entsprechend lehnt Hamann eine »reine Vernunft« im Sinne Kants oder andere transzendentalphilosophische Aussagen ab, da diese erfahrungsunabhängig seien. 8 Verstandeserkenntnis und sinnliche Wahrnehmung sind laut Hamann nicht zu trennen und notwendige Grundlage der Sprachlichkeit. Interessanterweise sieht sich Hamann jedoch nicht in der Lage, die Sprachlichkeit des Denkens argumentativ zu begründen. 9 Simon begründet dieses eigenartige Faktum wie folgt: »In der Sprache wird mit der eigenen Endlichkeit Unendlichkeit im Sinne von nicht zu bestimmender Unbestimmtheit erfahren.« 10 Hamann kann die Sprachgebundenheit des Denkens deshalb nicht begründen, weil das Denken den Rahmen des Sprachlichen nicht verEbd. Vgl. Hamann, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 279: »Zu den verborgenen Geheimnissen, deren Aufgabe geschweige ihre Auflösung noch in keines Philosophen Herz gekommen seyn soll, gehöret die Möglichkeit menschlicher Erkenntnis von Gegenständen der Erfahrung ohne und vor aller Erfahrung und hiernächst die Möglichkeit einer sinnlichen Anschauung vor aller Empfindung des Gegenstandes.« 9 Vgl. a. a. O., S. 284. 10 Vgl. Hamann, Schriften zur Sprache, S. 73. Vgl. auch Coseriu, Die Geschichte der Sprachphilosophie, S. 91 f. 7 8
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Der Neuhumanismus
lassen kann. Bei aller Irrationalität und mangelnden Systematik ist jedoch festzuhalten, so Cassirer in seiner Interpretation Hamanns, dass dieser »indem er alle ihre Teile immer wieder auf das eine Grundproblem der Sprache bezieht, zu einem gleichsam ungewollten immanenten System« gelangt. 11 Den Grund für diese Irrationalität sieht Cassirer in der religiösen Begründung: »Denn die Sprache ist keine Sammlung diskursiver konventioneller Zeichen für diskursive Begriffe, sondern sie ist das Symbol und Widerspiel des gleichen göttliche Lebens, das uns überall sichtbar-unsichtbar, geheimnisvoll und offenbar umgibt.« 12 Unabhängig davon, ob man die Wirklichkeit in ihrer Wucht und Ganzheit als göttliches Leben interpretiert oder nicht: Hamann deutet die Sprache als gebunden an die Wahrnehmung der gesamten Wirklichkeit, die aufgrund ihrer Fülle nicht in Gänze rationalisierbar ist. Bedeutendster und wirkmächtigster Autor des Neuhumanismus ist Johann Gottfried Herder (1744–1803), der vor allem in seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache wichtige sprachphilosophische Impulse setzte. Er erkennt – ähnlich wie Hamann – einen unauflösbaren Zusammenhang zwischen Sprache und Geist. Die Zielrichtung Herders ist eine antipsychologistische: Es geht ihm um den Nachweis, dass unabhängig von der Sprache kein menschlicher Geist existent sein kann, beide sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Zentral ist hier die Frage nach dem Ursprung der Sprache: Wenn der menschliche Geist in einem bewussten Akt die Sprache erzeugen würde bzw. die Sprache als bewusste Zuwendung des Menschen zur Wirklichkeit geschaffen wäre – wie es etwa Herders Zeitgenosse Condillac lehrte –, dann wäre der menschliche Geist etwas von der Sprache Unabhängiges und ihr Vorangehendes. Dies lehnt Herder entschieden ab, der Mensch lernte sprechen, weil die Sprache bereits da war: »Es entstanden Worte, weil Worte dawaren, ehe sie dawaren.« 13 Die Sprache ist nicht das Resultat menschlicher Weltzuwendung, sondern diese ist bereits sprachlich. Die Sprache entstand als begriffliche Fixierung dieser Weltzuwendung. Herder beschreibt das menschliche Reflexionsvermögen wie folgt: »[…] wenn er [erg. der Mensch] aus dem ganzen schwebenden Traum der Bilder, die seine 11 12 13
Vgl. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1, S. 92. Ebd. Herder, Abhandlungen über den Ursprung der Sprache, S. 18.
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Die Neubesinnung auf die Sprachlichkeit
Sinne vorbeistreichen, sich in ein Moment des Wachstums sammeln, auf einem Bilde freiwillig verweilen […]« 14 Die Sprache ist somit die Abstraktion dieser menschlichen Weltzuwendung und damit originär dem menschlichen Geist zuzuordnen: »Dies erste Merkmal der Besinnung war Wort der Seele! Mit ihm ist die menschliche Sprache erfunden!« 15 Diese sinnlichen Erfahrungen bringen etwas hervor, das Herder als das »innere Merkwort« 16 bezeichnet, es ist die sprachliche Fassung dessen, was der Mensch wahrnimmt und was die Grundlage des Sprechens darstellt. Die Sprache ist etwas, das nur dem Menschen zukommt und sein Menschsein definiert. Diese Besonderheit, so Herder, entstammt der Tatsache, dass er im Unterschied zum Tier keine Sphäre hat. Ein Tier ist von einem bestimmten Umfeld umgeben und verhält sich zu diesem Umfeld, anders der Mensch: »Die Biene sumset wie sie sauget; der Vogelt singt wie er nistet – aber wie spricht der Mensch von Natur? Gar nicht.« 17 Die Menschheit ist gerade aufgrund dieses Mangels ein sprachliches Wesen, das nicht an seine Welt gebunden ist, sondern sich seine Welt in der Sprache erschafft. Dieser Mangel ermöglicht ihm den freien Raum, den er brauchte: »Wenn der Mensch Vorstellungskräfte hat, die nicht auf den Bau einer Honigzelle oder eines Spinngewebes bezirkt sind […], so bekommen sie eben damit weitere Aussicht. Er hat kein einziges Werk, bei dem er also auch unverbesserlich handelte; aber er hat freien Raum.« 18 Dieser freie Raum ist die Grundlage seiner menschlichen Konstitution, er »ist ein freidenkendes, tätiges Wesen […], darum sei er ein Geschöpf der Sprache!« 19 Diese Sprache ist es, die den Menschen zu einem Wesen der Vernunft macht, die ihrerseits nicht ohne Sprache möglich ist: »Ohne Sprache hat der Mensch keine Vernunft und ohne Vernunft keine Sprache.« 20 Herder verknüpft die Sprache nicht nur mit der menschlichen Vernunft, sondern prinzipiell mit der menschlichen Reflexionsfähigkeit: »Der Mensch beweist Reflexion, wenn die Kraft seiner Seele so frei würket, daß sie in dem ganzen Ozean von Empfindungen, der sie durch alle Sinnen durchrauschet, eine Welle, wenn ich so sagen darf, abson14 15 16 17 18 19 20
Vgl. a. a. O., S. 32. Vgl. auch a. a. O., S. 48. A. a. O., S. 32. Vgl. a. a. O., S. 33. A. a. O., S. 24. A. a. O., S. 27. Vgl. a. a. O., S. 80. A. a. O., S. 37.
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dern, sie anhalten, die Aufmerksamkeit auf sie richten und sich bewußt sein kann, dass sie aufmerke. […] Er beweist also Reflexion, wenn er nicht bloß alle Eigenschaften lebhaft oder klar erkennen, sondern eine oder mehrere als unterscheidende Eigenschaften bei sich anerkennen kann.« 21
Der Ursprung der Sprache ist damit nicht nur ein Schöpfungs-, sondern zugleich ein Reflexionsakt, insofern er nicht nur das Wahrgenommene ausspricht, sondern innehält und in diesem aufschiebenden Innehalten seine Voraussetzung hat. Die Sprache sortiert und klassifiziert das Wahrgenommene, das somit, so Herder, nicht erkannt, sondern anerkannt wird. Ort dieses Ursprungs der Sprache ist damit nicht, so Herder weiter, ein biologisches Organ, wie etwa eine Weiterentwicklung der Sprachwerkzeuge, aber auch kein Vertrag, der zwischen den Sprechenden geschlossen wird; die Sprache ist weder Nachahmung der Natur noch vertragliche Übereinkunft; Ort des Ursprungs der Sprache ist die Seele als Ort der menschlichen Vernunft und des Geistes: »Sie war Einverständnis der Seele mit sich.« 22 Herder begründet damit etwas, das Cassirer als eine Form des »Organismus« bezeichnet. Dieser »Organismus« sei kennzeichnend für das Sprachdenken der Romantik: »Erst aus dieser systematischen Gesamtbedeutung, die die Idee des Organismus für die Philosophie der Romantik besaß, läßt sich ermessen, in welchem Sinne sie sich für die Betrachtung der Sprache fruchtbar erweisen mußte. Abermals treten hier die großen Gegensätze […] in aller Schärfe einander gegenüber: Aber zwischen ihnen, zwischen dem ›Bewußten‹ und ›Unbewußten‹, zwischen ›Subjektivität‹ und ›Objektivität‹, zwischen ›Individualität‹ und ›Allgemeinheit‹ schien nun eine neue Vermittlung aufgewiesen.« 23
Indem die Sprache als Organismus beschrieben wird, der aus der menschlichen Seele heraus erwächst und die Gegensätze von Bewusstem und Unbewusstem, Subjektivem und Objektivem auf diese Weise aufhebt und übersteigt, wird sie zur Quelle einer neuen Form von Objektivität: »Überall wird hier ein ›Allgemeines‹ gesucht: Aber dieses wird nicht als ein an sich Seiendes, als die abstrakte Einheit einer Gattung gefasst, sondern als eine Einheit, die sich nur in der Allheit der Besonderungen 21 22 23
A. a. O., S. 32. Vgl. a. a. O., S. 35. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1, S. 97.
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Die Neubesinnung auf die Sprachlichkeit
darstellt. Diese Allheit und das Gesetz, der innere Zusammenhang, der sich in ihr ausdrückt: das erscheint jetzt als das echte Allgemeine.« 24
Diese Art der Objektivität erinnert an den klassischen consensus omnium, geht aber über diesen hinaus. Sie besteht nicht nur im zusammenfassenden Konsens aller, sondern verweist auf die Abhängigkeit aller von einem gleichen (sprachlichen) Organismus, der sie aneinander bindet und in dieser Bindung das Sprechen von der Allgemeinheit erlaubt. Damit, so Herder weiter, erübrigt sich für die Sprachphilosophie das Suchen nach einem der Sprache externen Ursprung, die Sprache erwächst dem Geist aus sich heraus, die Sprache ist als Organismus der Ursprung ihrer selbst, und die Beschreibung ihrer Struktur ist die Beschreibung des Zusammenhangs all ihrer Ausformungen und Verästelungen. Das Wesen der Sprache, so Herder, besteht »nicht in der Abstraktion von den Besonderungen, sondern in der Totalität dieser Besonderungen«. 25 Cassirer sieht in dieser Beschreibung der Sprache als »Organismus« den entscheidenden Schritt einer humanistischen Sprachphilosophie. Die Sprache zu deuten als einen sich aus sich selbst heraus entwickelnden Organismus erinnert an den antiken physis-Gedanken, der ebenfalls die Gewachsenheit eines Seins aus sich selbst heraus beschrieben hatte. Fiesel charakterisiert das Sprachbild der Romantik wie folgt im Sinne der antiken physis und als Gegensatz zur metaphysischen Sprachphilosophie: »Wie aber an Stelle der metaphysischen Sprache die diesseitige tritt, so wird auch der Begriff der Sprache als Schöpfung mit Notwendigkeit ein anderer. Die Einheit der Schöpfung war für die transzendentale Romantik eine innere. Gerade durch die Verwandlung der Form bleibt jene geistige Kontinuität der Erinnerung von Ewigkeit erhalten. Nun aber glaubt man an eine Einheit, welche sich nicht durch die Verwandlung, sondern trotz der Verwandlung offenbart. Das Moment der Einheit ist gegeben durch die Kontinuität der Entwicklung, welche sich in der Sprache einer geschichtlichen Gemeinschaft offenbart. An Stelle der immer erneuten, bewußten und freien Schöpfung des Einzelnen
Ebd. Vgl. a. a. O., S. 97: »Für die Sprachphilosophie bedeutet dies, dass die auf das Bestreben, hinter der individuellen Mannigfaltigkeit und der historischen Zufälligkeit der Einzelsprachen die allgemeine Struktur einer Grund- und Ursprache zu entdecken, ein für allemal verzichten lernt, dass auch sie die wahre Allgemeinheit des ›Wesens‹ der Sprache nicht in der Abstraktion von den Besonderungen, sondern in der Totalität dieser Besonderungen sucht.«
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Der Neuhumanismus
tritt die aus dem Unbewußten hervorgehende, die organische Schöpfung.« 26
Indem Herder den menschlichen Geist sprachlich konstituiert, trifft er eine wichtige Aussage über jede Art menschlicher Kulturalität. Seine Betrachtung der menschlichen Geschichte, so etwa in Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit und in seinen Ideen zu einer Philosophie der Geschichte, ist eine Betrachtung der Entwicklung der menschlichen Kultur; diese ist getragen ausschließlich von der Bildung und Erziehung der Menschen, die wiederum nicht anders als sprachlich zu denken ist. Noch einmal fasst Herder die Sprachgebundenheit der Vernunft zusammen: »Kurz, Sprache ist der Charakter unserer Vernunft, durch welchen allein sie Gestalt gewinnt und sich fortpflanzet.« 27 Die Sprache – sei sie subjektiv diejenige des Individuums oder objektiv diejenige einer ganzen Gesellschaft – entsteht durch Verarbeitung von Eindrücken. Indem ein irgendwie entstandenes Gefühl ins Wort gebracht wird, entsteht Sprache: »Ein Volk hat keine Idee, zu der es kein Wort hat: die lebhafteste Anschauung bleibt ein dunkles Gefühl, bis die Seele ein Merkmal findet und es durchs Wort dem Gedächtnis […] einverleibet.« 28 So sind auch die angeblich jeder Art der Wahrnehmung bzw. Subjektivität enthobenen metaphysischen oder wissenschaftlichen Wahrheiten Produkte des menschlichen Verstandes. Herder stellt fest, dass man »nach einer allgemeinen Physiognomik der Völker aus ihren Sprachen […] sich die reichste Architektonik menschlicher Begriffe, die beste Logik und Metaphysik des gesunden Verstandes« konstruieren müsse. 29 Er fasst zusammen: »Keine Sprache druckt Sachen aus, sondern nur Namen: auch keine menschliche Vernunft also erkennt Sachen, sondern sie hat nur Merkmale von ihnen, die sie mit Worten bezeichnet. Eine demütigende Bemerkung, die der ganzen Geschichte unsres Verstandes enge Grenzen und eine sehr unwesenhafte Gestalt gibt. Alle unsre Metaphysik ist Metaphysik, d. i. ein abgezognes, geordnetes Namenregister hinter Beobachtungen der Erfahrung. Als Ordnung und Register kann diese Wissenschaft sehr brauchbar sein und muß gewissermaßen in allen andern unsern künstlichen Verstand leiten; für sich aber und als Natur
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Fiesel, Die Sprachphilosophie der Romantik, S. 133. Herder, Ideen, IX,2. Ebd. Vgl. ebd.
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Die Neubesinnung auf die Sprachlichkeit
der Sache betrachtet, gibt sie keinen einzigen vollständigen und wesentlichen Begriff, keine einzige innige Wahrheit.« 30
Die Sprache ist nicht vorrangig auf ihre Fähigkeit auszulegen, eine objektive Wahrheit auszudrücken, die entweder im menschlichen Geist anwesend ist oder das Verhältnis eines Wortes zur bezeichneten Sache beschreibt, sondern sie ist ein Willensakt des menschlichen Geistes, der etwas benennen will. Jede Art von Metaphysik, so Herder, ist zwar in der Lage, die Erfahrungen, die der menschliche Geist macht, zu ordnen und zu sortieren, sie ist jedoch immer in Abhängigkeit zu sehen von den Erfahrungen, denen sie sich letztlich verdankt. Indem der Mensch seine Sprache gebraucht, indem er das, was er wahrnimmt, sprachlich und damit vernünftig fasst, erreicht der Mensch seine Bestimmung, seine »Humanität«. 31 So schreibt er in seinen Briefen zur Förderung der Humanität: »Humanität ist der Schatz und die Ausbeute aller menschlichen Bemühungen, gleichsam die Kunst unseres Geschlechtes. Die Bildung zu ihr ist ein Werk, das unablässig fortgestetzt werden muss.« 32 Wie soll diese Bildung aussehen? Herder beruft sich auf die »bildenden Wissenschaften« der griechischen und römischen Antike, die »menschlichen Wissenschaften«, gemäß derer der Mensch »nicht etwa in Gesprächen nur und in der Gesellschaft, sondern auch in Geschäften, in häuslichen Sitten, in der ganzen Handlungsweise« den anderen Menschen wie einen Menschen behandelte. 33 Diese »menschlichen Wissenschaften« waren nicht identisch mit der Philosophie, diese war ihnen »Erzieherin und Gesellin, bald ihre Mutter, bald ihre Tochter«. 34 Den gegenwärtigen Zustand dieser Wissenschaften beurteilt Herder sehr skeptisch: »Daß die Wissenschaften, die man humaniora nennt, zum leeren Zeitvertreib oder zu eitlem Putz ausgeartet sind, ist ein Mißbrauch, den schon ihr Name strafet.« 35 Ebd. A. a. O., IV,6: »Ich wünschte, dass ich in das Wort Humanität alles fassen könnte, was ich bisher über des Menschen edle Bildung zur Vernunft und Freiheit, zu feinern Sinnen und Trieben, zur zartesten und stärksten Gesundheit, zur Erfüllung und Beherrschung der Erde gesagt habe; denn der Mensch hat kein edleres Wort für seine Bestimmung, als er selbst ist, in dem das Bild des Schöpfers unsrer Erde, wie es hier sichtbar werden konnte, abgedruckt lebet.« 32 Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität, 27. 33 Vgl. a. a. O., 28. 34 Vgl. ebd. 35 Herder, a. a. O., 32. 30 31
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Der Neuhumanismus
Herder hat in seinen Briefen zur Beförderung der Humanität immer wieder Rhetorik und Redekunst gestreift, sie dort aber nicht explizit behandelt. Dennoch drängt sich die Rhetorik für Herders Humanismus auf, und in anderen Schriften geht er sehr ausführlich auf diese ein, am eindrücklichsten wahrscheinlich in Vom Einfluß der schönen in die höheren Wissenschaften: »Es ergibt sich aber hieraus, was eigentlich schöne Wissenschaften sind, die diesen Namen verdienen, und hiermit komme ich auf den Anfang meiner Rede: Humaniora sinds, Wissenschaften und Übungen, die das Gefühl der Menschlichkeit in uns bilden. […] Man rechnet Sprachen und Poesie, Rhetorik und Geschichte dazu; es bleibt aber immer die Frage, wie Sprachen und Poesie, Rhetorik und Geschichte getrieben werden. […] Der Sinn der Menschheit (Sensus humanitatis) macht sie zu dem, was sie sind, oder sein sollen, und alsdenn ist die Philosophie ihnen nicht fremd oder widrig, vielmehr müssen sie alle mit einer Art Philosophie getrieben, und durch sie zur Humanität belebt werden, und die Philosophie ist sodenn gewiß doctrina humanitatis. Es ist unleugbar, daß die alten Theoristen, Aristoteles und Quintilian diesen Sinn der Mensch bei ihrem Unterricht mehr hatten, als die meisten neuern Theoristen.« 36
Die »schönen Wissenschaften« sind sprachlich. Da das Wesen des Menschen sprachlich ist, bezeichnet Herder die Wissenschaften als »schön«, welche die Sprachlichkeit des Menschen fördern. Entscheidend ist die Frage, wie diese Wissenschaften betrieben werden, in welcher Sprachlichkeit sie ihrem Auftrag folgen, den Menschen zum Menschen zu machen. Herder nennt mit Aristoteles und Quintilian zwei Lehrer der antiken Rhetorik, um die Notwendigkeit der Redekunst für die »schönen Wissenschaften« zu verdeutlichen. In der Antike sieht Herder noch etwas vereint, was er der Gegenwart abspricht: die Einheit von Erzählung und Redekunst. So heißt es in den Schulreden Herders: »In der Geschichte der Alten sind Geschichte und Redekunst verbunden: die schönsten Reden stehen in der Geschichte und können nicht ohne sie verstanden, erkannt, geschätzt werden. Der gute Erzähler hat eben die Regeln, die der Dichter hat, und wenn der Redner, der Dichter nicht bloß belustigen, sondern bessern, die Seele teilnehmend beschäftigen, sie bilden will: so hat er einerlei Zweck mit dem Geschichtsschreiber, wie mit dem Philosophen.« 37 36 37
Herder, FA 4,230. Herder, FA 9,2,457
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Jeder, der Sprache einsetzt, sei es Dichter, Historiker oder Philosoph, ist auf Kenntnisse in der Redekunst angewiesen. Dies gilt für die eigene literarische oder rhetorische Produktivität, aber auch für das Verständnis überlieferter Texte und Reden. Das Erlernen der Sprache bzw. der bewusste Einsatz der Sprache – angefangen in der Kindheit – bildet die Grundlage der Humanität und des menschlichen Zusammenlebens. 38 Habsch hat in seinem Buch Transformationen antiker und moderner Rhetorik den Zugriff Herders auf die Rhetorik analysiert und in ihr eine neue Einheit humanistischer und aufklärerischer Werte gesehen. 39 Indem Herder den Menschen in seiner individuell-epistemologischen, aber auch überindividuell sozialen Dimension auf seine Sprachlichkeit hin beschreibt, zielt er auf eine Philosophie, die notwendigerweise auf die Rhetorik angewiesen ist und sich scharf abgrenzt von der Verbannung der Rhetorik, wie sie etwas zeitgleich Kant betrieben hat. Heintel hat die Philosophie Herders wie folgt charakterisiert: »Die Sprache ist Herder in stärkerem und umfänglicherem Maße zum Gegenstand der Reflexion geworden als es jemals vor ihm bei einem Denker unserer abendländlischen Tradition der Fall gewesen ist. Sein ganzes Bild vom Menschen, seine Lehren von der Stellung dieses Wesens in der Schöpfung überhaupt […] sind von seiner Auffassung der Sprache her wesentlich mitbestimmt. Sprache ist für ihn ebenso Voraussetzung der ›Humanität‹ im Sinne der natürlichen geschöpflichen Bestimmtheit des Tieres Mensch, wie das wichtigste Mittel […] für die Erfüllung der Bestimmung dieses Geschöpfes der ›Tradition der Bildung‹ in seiner Geschichte, und zwar von der Selbstfindung und der Selbstverwirklichung des Einzelindividuums über alle Gemeinschaften, besonders auch über diejenige des Volkes, hin, bis zur ›Humanitas‹ als dem hohen Ziel der Menschheit überhaupt.« 40
Herder, FA, 9,2,585: »Alles also, was von Kindheit auf unsere Sprache ausbildet, was uns vernünftig, genau und bestimmt, was uns angenehm, leicht, überzeugend oder herzbewegend sprechen lehrt, bildet in uns den Sinn der Menschheit und das edelste Werkzeug aus, mit anderen Menschen zusammenzuleben und auf sie zu wirken.« 39 Vgl. Habsch, Transformationen antiker und moderner Rhetorik, S. 132: »Grundlegend für Herders spezifische Symbiose von Rhetorik und Philosophie ist der Humanitätsgedanke. […] Philosophie ist doctrina humanitatis. Damit schließt er die Topik von Renaissancehumanismus und Neuhumanismus mit der anthropologischen Wende der Aufklärungsphilosophie zusammen.« 40 Heintel, Herder und die Sprache, S. XV. 38
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Coseriu bemerkt zu diesen Sätzen Heintels, dass es »keine bessere und genauere Charakterisierung Herders« geben würde. 41 Die Ausrichtung der Philosophie auf die »Humanitas« war bereits bei Vico in einer ähnlichen Argumentationsweise beschrieben worden. Aufgrund der Tatsache, dass das Œuvre Vicos lange Zeit unbekannt war, ist das Werk Herders als Neuanfang der humanistischen Ausrichtung der Philosophie zu deuten. Die Brüder August Wilhelm (1767–1845) und Friedrich Schlegel (1772–1829) sowie Friedrich Schleiermacher (1768–1834), die der Romantik im engeren Sinne zuzuordnen sind, entwickeln die Ansätze Hamanns und Herders weiter. Wichtiges Kennzeichen der von der Romantik geprägten Sprachphilosophie ist die Verknüpfung des historisch-objektiven und des individuell-subjektiven Ursprungs des Denkens. So schreibt August Wilhelm Schlegel über die Entstehung der Sprache, die er auch als »Gedicht des gesamten Menschengeschlechtes« 42 bezeichnet: »Mit der Muttersprache zugleich saugen wir die Vorstellungen und Ansichten der Dinge; sie ist gleichsam die Form in welche die Thätigkeiten unsers Geistes sich fügen müssen.« 43 August Wilhelm Schlegel stellt sich den fundamentalen Vorgang des Denkens nicht als einen passiven Akt vor, sondern als einen produzierenden Umgang mit dem, was sich dem Geist darbietet. 44 Bär fasst diese Auffassung der Frühromantik dahingehend zusammen, dass die Sprache nicht nur eine »erkenntniskonstitutive Leistung«, sondern auch eine »erkenntnisfördernde Funktion« besitzt. 45 Fiese kennzeichnet die Sprachauffassung der Romantik als die Verbindung von Denken und Sprechen: »Die Sprache ist eine innere Handlung des wollenden und strebenden Geistes; sie ist, wie schon gesagt wurde, nicht ein Mittel, den Gedanken zu bezeichnen, sondern Denken und Sprechen fällt unter den Begriff dieser Handlung zusammen.« 46 In diesem AsVgl. Coseriu, Geschichte der Sprachphilosophie, Bd. 2, S. 19. Vgl. Schlegel, 1801/02, S. 388. 43 Schlegel, 1801/02, S. 417. 44 Vgl. Schlegel, 1798/99, S. 7: »Der erste Mensch bildete nicht die Gegenstände passiv nach, er artikulierte sie (gliedbildete sie), vermenschlichte sie (und verähnlichte sie sich) und unterwarf sie sich so seiner Vorstellung, bildete sie daher um. Poesie ist eine bildende Darstellung der innern Empfindungen und der äußeren Gegenstände vermittels der Sprache.« 45 Bär, Sprachreflexion der Frühromantik, S. 86. 46 Vgl. Fiese, Die Sprachphilosophie der deutschen Romantik, S. 12. 41 42
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pekt der Sprache, so Fiese, liegt die Universalität der Sprache begründet. 47 Besonders das Werk Friedrich Schlegels hat sich für den weiteren Verlauf der Sprachphilosophie als relevant erwiesen. Interessant sind hier weniger seine Äußerungen über den Ursprung der Sprache, die sich im Wesentlichen in den von Herder und seinem Bruder August Wilhelm vorgezeichneten philosophischen Bahnen bewegen, als vielmehr seine Äußerungen über das Wesen der Sprache. Schlegel verfolgt das humanistische Anliegen weiter, dass »der Mensch […] ein vollständig zur Sprache gelangtes Naturwesen« sei. 48 Durch die Beherrschung der Sprache ist der Mensch nicht nur – wie bei Herder – in einer gegenüber dem Tier hervorragenden Stellung, sondern gegenüber der ganzen Natur, die ebenfalls über ein sprachliches Wesen verfügt, dieses aber nicht zur Entfaltung bringt. 49 Schlegel führt nun gegenüber dem Idealismus eine wichtige Neuinterpretation ein, die essentielle Konsequenzen für die Deutung der Sprache hat – laut Coseriu Schlegels »wichtigster Beitrag zur Sprachphilosophie«. 50 Ein Objekt, so Schlegel, ist umgeben von einem Schein und dieser Schein ist gleichzusetzen mit der Bedeutung des Objekts. Schlegel wirft dem Idealismus Kants oder Fichtes vor, diesen Schein nicht erkannt zu haben: »Der Grund der Unvollkommenheit der idealistischen Systeme wird man finden in der Art, wie dieselben den Schein zu erklären suchen […] [S]o lang die Empfindung von dem äußern Gegenstand selbst immer noch verschieden, durch eine ungeheure Kluft von ihm getrennt ist, ganz und gar keine Ähnlichkeit mit ihm hat, [kann] der Ge-
Vgl. a. a. O., S. 8: »Damit ist aber gesagt, dass der Sprache ihrem Wesen und ihrer Bedeutung nach von der Romantik eine Universalität und Allmacht zuerkannt wird, die sich jeder einschränkenden Definition widersetzen muß: denn für die romantische Frühzeit, welche das ›Ich‹ der Fichteschen Lehre in einem individualistischen Sinne deutet, verschmilzt ja der Begriff des menschlichen Geistes mit dem absoluten, dem universell schöpferischen Geist überhaupt.« 48 Vgl. F. Schlegel, KFSA, Bd. 10, S. 339. 49 Vgl. F. Schlegel, KFSA, Bd. 9, S. 30: »Auch die Natur redet in ihrer stummen Bilderschrift eine Sprache; allein sie bedarf eines erkennenden Geistes, der den Schlüssel hat und zu brauchen weiß, der das Wort des Rätsels in dem Geheimnis der Natur zu finden versteht, und statt ihrer, das in ihr verhüllte innere Wort laut auszusprechen vermag, damit die Fülle ihrer Herrlichkeit offenbar werde.« Vgl. auch Coseriu, Geschichte der Sprachphilosophie, Bd. 2, S. 140 f. 50 Coseriu, Geschichte der Sprachphilosophie, Bd. 2, S. 132. 47
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genstand, insofern als immer der Eindruck auf ihn übertragen wird, nicht anders als Schein seyn.« 51
Der Idealismus habe den Schein als subjektiven Schein des Wahrgenommenen interpretiert und damit als Teil des subjektiven Bewusstseins gesehen. Schlegel hingegen geht davon aus, dass dieser Schein bereits untrennbar dem erkannten Objekt selbst anhängt. Entsprechend ist die Sprache nun diejenige, die diesen Schein darstellt. Damit wird zum einen die Sprache zum wesentlichen Träger von Bedeutung, sie ist diejenige, die das Objekt wahrnehmbar und aussprechbar macht. Zum anderen ist die Sprache als Bedeutungsträger etwas Objektives, nicht mit dem Bewusstsein Identifizierbares, sie ist die notwendige Mitte zwischem dem Bewussstsein und dem im Bewusstsein Erkannten und an diesem Ort diejenige, die nicht nur dem einzelnen Ding, sondern der gesamten Realität eine Bedeutung verleiht: »Die Sprache wird, als empirische Mitte zwischen Ich und Ding, zum Modell der Ich und Ding umfassenden Realität.« 52 Entsprechend wird die Erforschung der Sprache, die Philologie, zum notwendigen Fundament der weltdeutenden Philosophie: Philologie und Philosophie betreiben nicht etwas Identisches, aber sie sind beide Ausdruck des gleichen »Triebes« der sprachlichen Erfassung der Welt. 53 Die Sprachwissenschaft beurteilt die Sprache in ihrer konkreten Verfasstheit, die Philosophie auf ihren Geist hin, beide, so Nüsse Schlegel kommentierend, gehören somit untrennbar zusammen: »Da in der Sprache weder der Geist ohne Buchstaben, noch der Buchstabe ohne den Geist sein kann, kommt der Philolog nicht ohne Philosophie, der Philosoph nicht ohne Philologie aus. Geist und Buchstabe sind nicht zwei Gegenstände, die für sich ergriffen werden können, sondern ein einziger Gegenstand, nach zwei Seiten hin betrachtet.« 54
Schlegel geht einen wichtigen Schritt in Richtung einer rhetorischen Philosophie. Indem er den Sinn einer Sache aus dem Bewusstsein F. Schlegel, KFSA 12, S. 148. Nüsse, Die Sprachtheorie Friedrich Schlegels, S. 24. 53 Vgl. a. a. O., S. 99: »Schlegel benachbart den Philologen dem Dichter und Philosophen nicht deswegen, weil er objektiv Ähnliches oder im Grunde Ununterscheidbares tut, sondern weil er das Seinige aus gleichursprünglichem Trieb heraus betreibt. Philologie ist zunächst eine Anlage im Menschen, eine Richtung des Geistes, in Schlegels Lieblingswendung wiedergegeben: Sinn für etwas. Wir nehmen uns das Recht, diese Bedeutung von Philologie ›anthropologisch‹ zu nennen.« 54 Nüsse, Die Sprachtheorie Friedrich Schleges, S. 103. 51 52
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heraus in das Vermittlungsgeschehen zwischen Bewusstsein und wahrgenommener Sache bindet, erhält die Sprache als konkretes Vermittlungsgeschehen und Träger des Sinns eine neue Bedeutung. Wenn es die Sprache ist, welche eine Sache zu einer sinnbehafteten Sache macht und diese Sinnbehaftung ein Akt sprachlicher Produktion ist, dann wird ein Blick auf die Rhetorik als Beschreibung der sprachlichen Produktion unausweichlich für die Philosophie. Wilhelm v. Humboldt setzt den Weg Hamanns, Herders und der Schlegel-Brüder fort. Zentrales Element der menschlichen Bildung ist das Studium der Sprache: »Die wahre Wichtigkeit des Sprachstudiums liegt in dem Antheil der Sprache an der Bildung der Vorstellungen. Hierin ist alles enthalten, denn diese Vorstellungen sind es, deren Summe den Menschen ausmacht.« 55 Die Sprache, auch hier folgt Humboldt vor allem der Philosophie Herders, fungiert als Vermittlung zwischen dem Sinnlichen und dem menschlichen Geist: »Die Sprache stellt offenbar unsere ganze geistige Tätigkeit subjektiv (nach der Art unseres Verfahrens) dar; aber sie erzeigt auch zugleich die Gegenstände, insofern sie Objekte unseres Denkens sind. […] Die Sprache ist daher, wenn nicht überhaupt, doch wenigstens sinnlich das Mittel, durch welches der Mensch zugleich sich selbst und die Welt bildet, oder vielmehr seiner dadurch bewusst wird, daß er eine Welt von sich abscheidet.« 56
Die Sprache bildet gleichermaßen das Mittel, die Welt wahrzunehmen und auszudrücken, wie auch, sich von ihr zu distanzieren. Jede Art von Denken, so Humboldt, funktioniert nach diesem Mechanismus und ist somit sprachlich: »Die Sprache ist nichts anderes als das Komplement des Denkens, das Bestreben, die äußeren Eindrücke und die noch dunklen äußeren Eindrücke zu deutlichen Begriffen zu erheben.« 57 In dieser Sprachlichkeit wird der Mensch zum Menschen: »Der Mensch denkt, fühlt und lebt allein in der Sprache« 58 und: »Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache.« 59 Die Sprache ist nicht etwas zu einem späteren Zeitpunkt der Erkenntnis Hinzugefügtes, sondern
55 56 57 58 59
Humboldt, Schriften, Bd. 6, S. 119. Humboldt, Schriften, Bd. 2, S. 206 f. Humboldt, Über die Natur der Sprache, S. 8. Humboldt, Nationalcharakter, GS 4, S. 432. Humboldt, Vergleichendes Sprachstudium, GS 4, S. 15.
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im ersten und fundamentalen Akt der Wahrnehmung bereits vorhanden: »Die Sprache beginnt daher unmittelbar und sogleich mit dem ersten Act der Reflexion, und so wie der Mensch aus Dumpfheit der Begierde, in welcher das Subjekt das Objekt verschlingt, zum Selbstbewusstseyn erwacht, so ist auch das Wort da – gleichsam der erste Anstoß, den sich der Mensch selbst giebt, plötzlich still zu stehen, sich umzusehen und zu orientiren.« 60
Damit gibt es nach Humboldt keine objektive Weltsicht im Sinne der klassischen Metapyhsik, sondern eine individuell-subjektive Wahrnehmung: »Da aller objectiven Wahrnehmung unvermeidlich Subjektivität beigemischt ist, so kann man […] jede menschliche Individualität als einen eignen Standpunkt der Weltansicht ansehen.« 61 Das Objekt, das der Verstand bildet, ist das Zusammengehen der Wahrnehmung mit dem Geist: »Die Thätigkeit der Sinne muss sich mit der inneren Handlung des Geistes synthetisch verbinden. […] Hierzu ist aber die Sprache unentbehrlich.« 62 Indem jedes Denken ein Akt der individuellen Sprachlichkeit ist, wird ein dem Individuellen und Subjektiven enthobenes Objektives unmöglich. Die Begriffe der klassischen Metaphysik erweisen sich so als »aus der Sprache herausgelöste Verallgemeinerungen«, 63 die eine Objektivität vortäuschen, die es nicht geben kann. Trabant erkennt in diesem Vorgang den Vollzug des letzten Zieles von Sprache und Denken, »die ursprüngliche Übereinstimmung von Mensch und Welt durch die Übereinstimmung zwischen den Menschen wiederherzustellen«. 64 Der sprachlich-subjekte Akt der Weltdeutung ist eingefasst in die Objektivität der SpraHumboldt, These 7, GS 7, S. 581 f. Humboldt, Grundzüge, GS 5, S. 387. Vgl. auch Humboldt, Verschiedenheiten, GS 6, S. 179; Kawi-Einleitung, GS 7, S. 60. 62 Humboldt, Kawi-Einleitung, GS 7, S. 55. 63 Vgl. Borsche, Sprachansichten, S. 270: »Sprachunabhängige Gesetze des Denkens und eine sprachunabhängige Welt von Gegenständen erweisen sich als aus der Sprache herausgelöste Verallgemeinerungen eines individuellen, nach objektiver Allgemeinheit strebenden subjektiven Standpunkts.« 64 Vgl. Trabant, Apeliotes, S. 34: »Wenn wir, Humboldts Sprachauffassung zusammenfassend, die Sprache nicht als Ein-Bildungs-Kraft, sondern ›Ein-StimmungsKraft‹ und schließlich in ihrer vollendeten Synthese ›Über-Ein-Stimmungs-Kraft‹ nennen wollen, so verweisen wir damit nicht nur auf ihre vokale Natur, auf die Stimme, sondern auch auf das letzte Ziel von Sprechen und Denken, jene ursprüngliche Übereinstimmung von Mensch und Welt durch die Übereinstimmung zwischen den Menschen wiederherzustellen.« 60 61
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che, die sich in der allgemeinen Kommunikation vollzieht. Die Sprache verfügt als Verständigung zwischen den Menschen über eine objektive Dimension, die nicht mehr diejenige der klassischen Metaphysik sein kann, aber dennoch klar über das Subjektive hinausreicht und auch vom denkenden Menschen angestrebt wird. Damit interessiert sich Humboldt streng genommen weniger für die Sprache als solche, sondern für die Sprache in ihrer Rhetorizität, die Sprache als Rede, er sucht damit nach »einem Begriff, der die wesentliche Allgemeinheit der Sprache in Einheit mit der erscheinenden Individualität des Sprechens zu denken erlaubt.« 65 Sprache, so Humboldt, ist die Verarbeitung der sinnlichen Eindrücke. Durch die Sprache werden diese Eindrücke konkret und manifest. 66 Dieser Vorgang ist analog zu jeder künstlerischen Tätigkeit, Sprache wie Kunst sind geistige Transformationen der Wirklichkeit. Ein wichtiger Unterschied besteht allerdings darin, so Borsche, dass die Sprache sich Abgrenzung von der Kunst auch auf sich selbst bezieht, das Sprechen ist »Produktion seiner selbst«. 67 Der Neuhumanismus hat nur vordergründig die Sprache zum Mittelpunk seines Interesses erkoren, letztlich steht das Menschsein selbst im Fokus. Dies gilt sogar für den großen Sprachforscher Humboldt, über den Menze schreibt: »Humboldts Gesamtwerk ist nichts anderes als der groß angelegte Versuch, eine Wissenschaft vom Menschen zu begründen.« 68 Der Mensch ist durch seine Sprachlichkeit konstituiert und durch seine Sprachlichkeit in seinem Menschsein deutbar. Sprache und Menschen sind für Humboldt nur in gegenseitiger Abhängigkeit zu verstehen, nicht unabhängig voneinander. Entsprechend zielt die Beschäftigung mit der Sprache darauf, den Menschen zu verändern und bilden zu können. So definiert Humboldt den Geist als das, »was überall, wo es sich zeigt, zugleich den Begriff der Menschheit erweitert und den des Individuums bestimmt«. 69 Das Anliegen Humboldts ist damit kein linguistisches, sondern ein anthropologisches und damit philosophisches. Vgl. Borsche, Sprachansichten, S. 84. Vgl. Humboldt, Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues, GS 6, S. 147: »Aus der Masse des unbestimmten, gleichsam formlosen Denkens reisst ein Wort eine gewisse Anzahl von Merkmalen heraus, verbindet sie, giebt ihnen […] Gestalt und Farbe und individualisiert sie dadurch.« 67 Vgl. Borsche, Sprachansichten, S. 310. 68 Vgl. Menze, Wilhelm von Humboldts Lehre und Bild vom Menschen, S. 175. 69 Humboldt, Über den Geist der Menschheit, S. 29. 65 66
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Den Weg, den Hamann, Herder, die Schlegel-Brüder und Humboldt beschreiten, stellt eine Kritik an Kant dar. Benjamin hat diese Wende als die Einsicht beschrieben, dass die kantische Beschreibung des Bewusstseins nicht in der Lage gewesen wäre, die Erfahrungen so abzubilden, wie es in einem sprachlichen Bezug der Philosophie möglich ist. Dieser Bezug sei aber notwendig für eine »kommende« Philosophie und werde sich auch aufgrund dieser Fähigkeit »durchsetzen und »auch die Gebiete, deren wahrhafte systematische Einordnung Kant nicht gelungen ist, umfassen«. 70 Für den weiteren Verlauf einer humanistischen Sprachphilosophie besitzt das Werk von Gustav Gerber aus der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Schlüsselfunktion – gerade durch die Tatsache, dass es für Nietzsche eine wichtige Quelle seines Nachdenkens über die Sprache darstellte und ihm die Sprachphilosophie der neuhumanistischen Autoren vermittelte. Gerbers Werk Die Sprache als Kunst, das er 1871 in der 1. Auflage veröffentlichte, verrät bereits in seinem Titel den Anspruch, die Sprache nicht nur nach wissenschaftlichen Kriterien beurteilen zu wollen, sondern auf ihre Kunsthaftigkeit, die ihr immanent ist. Den Zeitgenossen wirft Gerber in seiner Einleitung vor, die Sprache nur »als Bedürfnis« zu sehen und damit das wahre Wesen der Sprache nicht wahrzunehmen. 71 Diese Sprache ist in zweierlei Hinsicht universal: zunächst, weil der Mensch sich über sie definiert. Erst durch seine Sprachlichkeit wird der Mensch zum Menschen. 72 Gerber nennt als Gewährsleute zahlreiche Autoren, unter ihnen Herder, Lessing und vor allem Wilhelm von Humboldt. Das zweite Motiv ist für die Frage der Rhetorizität der Sprache und ihrer Universalität entscheidend: Jede menschliche Erkenntnis ist sprachVgl. Benjamin, Über das Programm der kommenden Philosophie, AW III, S. 142: »Über dem Bewusstsein, dass die philosophische Erkenntnis eine absolut gewisse und apriorische sei, über dem Bewusstsein dieser der Mathematik ebenbürtigen Seiten der Philosophie ist für Kant die Tatsache, dass alle philsophische Erkenntnis ihren einzigen Ausdruck in der Sprache und nicht in Formeln und Zahlen habe, völlig zurückgetreten. Diese Tatsache aber dürfte sich letzten Endes als die entscheidende behaupten und um ihretwillen ist die systematische Suprematie der Philosophie wie über alle Wissenschaft so auch über die Mathematik letzten Endes zu behaupten. Ein in der Reflexion auf das sprachliche Wesen gewonnener Begriff von ihr wird einen korrespondierenden Erfahrungsbegriff schaffen, der auch die Gebiete, deren wahrhafte systematische Einordnung Kant nicht gelungen ist, umfassen wird.« 71 Vgl. Gerber, Die Sprache als Kunst, Bd. 1, S. IV. 72 Vgl. a. a. O., S. 116–118. 70
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lich. Auch hier bezieht sich Gerber auf die humanistischen Autoren, wenn er sagt: »Der Sprachakt ist also die Vollendung des Denkakts, und daher nicht bloß die Form für diesen, sondern er ist dieser selbst, wie er leibt und lebt.« 73 Es geht Gerber um die Wahrnehmung der inneren Ordnung der Sprache, und diese Ordnung kann mit Hilfe der »redenden Künste«, der Rhetorik, erkannt werden. 74 Hier greift Gerber auf den reichen Fundus der antiken Rhetorik zurück: »Wir haben dabei mit Sorgfalt die Traditionen verfolgt, und man wird sich dabei vielleicht wundern, daß wir auch bei vielfach schwachen und dürftigen Figuren- und Tropensammlern, Rhetoren etc. uns aufhalten. Zunächst ist darüber zu bemerken, daß im ganzen doch viel mehr Genauigkeit, Scharfsinn, Liebe in der Betrachtung der Sprache von jenen Alten bewiesen wird, als man nach den geringschätzigen Reden mancher Neueren erwarten sollte. Ferner aber ist zu bedenken, daß nur ein möglichst genauer Anschluß an die alte Überlieferung uns vor völliger Verwirrung in diesen Dingen bewahren kann.« 75
Den Anspruch, den Gerber mit seiner »Sprachkunst« verbindet, ist derjenige, die »Kritik der reinen Vernunft« Kants weiterzuführen in eine »Kritik der Unvernunft«, die eine »Kritik der Sprache« ist. 76 Gerber bestreitet die Möglichkeit eines reinen, sprachunabhängigen Denkens. Wissenschaft und Philosophie sind Produkte von Sprache; 77 entsprechend sind deren abstrakte Inhalte einer »Kritik der Sprache« zu unterziehen. Der menschliche Geist, so Gerber, »bildet« die Sprache, indem er etwas darstellen will. Diese Sprache ist insofern »Kunst«, als dass sie Bilder entwirft, diese Bilder zusammenfügt, aufeinander abstimmt, in einen Rhythmus bringt, Gleichnisse entwirft: »So ist sie durch und durch Kunst und kann auch nur Gedanken darA. a. O., S. 241. Vgl. a. a. O., S. IV.: »Man wird finden, dass durch die Einführung des Begriffs der Kunst eine bisher vermisste Ordnung und Bestimmtheit in der Theorie der Sprache und von den sogenannten redenden Künsten gebracht wird, eine Ordnung nicht bloß äußerlicher Art […].« 75 A. a. O., S. IV f. 76 Vgl. a. a. O., S. 244 und S. 260. 77 Vgl. a. a. O., S. 244: »Das reine Denken ist eben solches Hirngespinst, wie es eine reine Sprache sein würde, welche anzunehmen freilich noch niemand eingefallen ist. Das ganze rein wissenschaftliche Interesse sowohl, wie demgemäß auch die Erfolge auf dem Gebiete der Wissenschaft, wie sie vornehmlich den Völkern der indogermanischen Sprache zu eigen sind, erwuchsen an und mit ihrer flektierenden Sprache. Nur sie haben auch ein reines Denken erfinden können, nur bei ihnen hat eine Lostrennung des abstrakt Logischen in voller Schärfe sich zu vollziehen vermocht.« 73 74
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stellen, wie die Kunst es vermag: bildlich.« 78 Auch die sprachlich verfassten Konstruktionen der Wissenschaft und der Philosophie sind derartige Bilder und Mythologien. Die These einer prinzipiellen Metaphorik der Sprache ist zuerst eine Kritik an einem metaphysischen oder wissenschaftlich-positivistischen Sprachbild: Die Sprache weise eine Defizienz auf, da sie nicht in der Lage sei, eine objektive Wahrheit darzustellen. Eine der Sprache enthobene Vernunft ist nicht möglich. Gerber greift auch hier auf ein Motiv der neuhumanistischen Sprachphilosophie zurück. Herder hatte gesagt, dass »eine reine Vernunft ohne Sprache auf Erden ein utopisches Land« sei. 79 Humboldt hatte festgestellt, »dass der Mensch von der Sprache immer in ihrem Kreise gefangen gehalten wird, und keinen freien Standpunkt außer ihr gewinnen kann«. 80 Aus dieser Unmöglichkeit der Objektivität ergibt sich die Defizienz der Sprache, die somit neben dem Verstehen auch immer ein Nicht-Verstehen beinhalte: »Alles Verstehen ist daher immer zugleich ein Nicht-Verstehen. […] [A]lle Übereinstimmung in Gedanken und Gefühlen zugleich ein Auseinandergehen.« 81 Trabant spricht bei diesem Aspekt der Defizienz der Sprache von einer »Anti-Semiotik der Sprache« 82 Humboldts und meint damit, dass die Sprache eben nicht über einen semantisch-zeichenhaften Charakter verfüge, sondern »anti-semiotisch« sei, da sie letztlich aufgrund ihrer Bindung an die Subjektivität ein eigenes und selbständiges Wesen sei. Diese Kritik an der Objektivität der Sprache führte bereits in der Romantik zur Aussage, dass die Sprache letztlich eine Poesie und metaphorisch sei. Novalis und Friedrich Schlegel hatten eine Universalpoesie beschrieben, deren Aufgabe es ist, »alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen.« 83 Jean Paul schrieb 1804 in seiner Vorschule der A. a. O., S. 290. Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Bd. 1, IX,2. 80 Humboldt, Einleitung, GS 7, S. 623. 81 Humboldt, Verschiedenheiten, GS 6, S. 183. 82 Vgl. Trabant, Apeliotes, S. 69 ff. 83 Vgl. Schlegel, Kritische Ausgabe, Bd. 2, S. 182 f.: »Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisie78 79
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Die Neubesinnung auf die Sprachlichkeit
Ästhetik: »Wie im Schreiben Bilderschrift früher war als die Buschstabenschrift, so war im Sprechen die Metapher, insofern sie Verhältnisse und nicht Gegenstände bezeichnet, das frühere Wort. […] Daher ist jede Sprache in Rücksicht geistiger Beziehungen ein Wörterbuch verblasster Metaphern.« 84 Die ursprüngliche Sprache war nicht objektiv in dem Sinne, einen Gegenstand auszusagen, sondern bildlich-subjektiv-poetisch als Beschreibung eines Verhältnisses oder einer Beziehung. Damit ist die Metaphorik der Sprache eine primäre und natürliche: »Durch alles Obige ist erwiesen, dass die Onomatopöie, die Metapher samt allen Arten von Tropen, und die Personification, Redefiguren, welche die Kunst-Poesie geflissentlich sucht, in der Ursprache von selbst, ja mit unumgänglicher Nothwendigkeit einheimisch, ja im höchsten Grade herrschend sind, worin eben die im Ursprunge der Sprache angekündigte Elementarpoesie liegt.« 85
Durch die weitere Entwicklung, die als Verfall und Verblassen der Metaphern gedeutet wird, entsteht die Prosa. 86 Schlegel und die Romantik wollen diesen Schritt rückgängig machen und die Sprache wieder auf ihre ursprüngliche Metaphorik hin rekonstruieren. Das Wesen der Sprache ist metaphorisch und poetisch. 87 Indem die poetische Sprache zielgerichtet ist, ist sie rhetorisch: »Alle Poesie, die auf einen Effekt geht, ist rhetorisch.« 88 Die Rhetorik, so Schlegel, sei somit die »praktische Erkenntnis der Sprache«. 89 Damit kommt der Rhetorik in der Romantik nicht nur eine sprachproduzierende, sondern auch eine epistemologische Funktion zu. 90 ren und die Formen der Kunst mit gediegnem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen und durch die Schwingungen des Humors beseelen.« 84 Paul, Vorschule der Ästhetik, S. 179. 85 Schlegel, 1801/02, S. 403. 86 Vgl. Schlegel, 1798/99, S. 9 f.: »Wenn die Sprache einmal als umbildende Darstellung vorhanden ist, so geht sie in entgegengesetzte Richtungen auseinander, d. h. es entsteht Prosa, und zwar auf doppelte Art: als Geschäftssprache und Sprache des gemeinen Lebens. Im Ursprunge ist die Sprache poetisch, bildet sie sich um, dann wird sie nachahmend; es entsteht Prosa im negativen Sinne, als Abwesenheit des Poetischen.« 87 Vgl. Fiese, Die Sprachphilosophie der deutschen Romantik, S. 11. 88 Schlegel, 1798, S. 209. 89 Vgl. Schlegel, 1805/06, S. 187. 90 Vgl. Fiese, Die Sprachphilosophie der deutschen Romantik, S. 14: »Denn die Welt, die durch eine solche Sprache gestaltet werden soll, enthüllt den Sinn aller Erscheinungen nur dem nach dem Inneren gewandten Blick, der das Wesen des eigenen
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Der Neuhumanismus
Gerber übernimmt diese breit gefächerte neuhumanistische Kritik an einer objektiven Sprache und macht sie zum zentralen Motiv seiner eigenen Sprachlehre. Eine objektive Sprache, so Gerber, sei ebenso wenig möglich wie ein objektives Denken. Als sprachliche Wissenschaft ist die Philosophie gezwungen, die Sprache einzusetzen, die zwangsläufig bildhaft ist. 91 Die Sprachlehre Gerbers stellt damit eine Umkehrung der platonischen Anklage dar: die Philosophie wird zur Rhetorik. Zugleich knüpft er an die Sophistik an, wenn er ausdrücklich auf den traditionellen Wahrheitsbegriff verzichtet. So weist er darauf hin, »dass solches Bewusstsein, welches in einem bestimmten, einzelnen Hier und Jetzt ›Wahrheit‹ zu besitzen glaubt, ein Unding ist«. 92 Die Wahrheit ist nicht mehr etwas Bestimmtes und sprachlich Fixierbares, sondern dasjenige, das in dem ewigen Sprachspiel ausgetauscht wird. Der alte platonische Konflikt wird von Gerber zugunsten der Sophistik entschieden, da jede Sprache aus ihrem Wesen heraus rhetorisch ist und Philosophie damit auch letztlich der Rhetorik zuzurechnen ist. Diese Metaphorik der Sprache wird auch mit Blick auf die antike Philosophie begründet. Die aristotelische Differenzierung von »eigentlichen« und »uneigentlichen« Begriffen ist nicht mehr legitim: »Alle Wörter sind Lautbilder und sind in Bezug auf ihre Bedeutung an sich und von Anfang an Tropen. Wie der Ursprung des Wortes ein künstlerischer war, so verändert es auch seine Bedeutung wesentlich nur durch künstlerische Intuition. ›Eigentliche Worte‹ d. h. Prosa gibt es in der Sprache nicht.« 93
Trotz des wiederholten Hinweisens auf die Metaphorik jeder Sprache erkennt Gerber jedoch weiterhin einen Unterschied zwischen der ästhetisch-poetischen Dimension der Sprache, wie er sie in seiner Lehre der Sprachkunst anstrebt, und dem, was die Sprachlehre in ihrer Methodik anzielt. Damit wird die Rhetorik als eine methodische Lehre getrennt von der grundsätzlichen Metaphorik der Sprache. 94 Bewusstseins begreift. Die Sprache vermag nur Schöpfung zu sein, weil sie Erkenntnis ist.« 91 Vgl. Gerber, Die Sprache als Kunst, Bd. 1, S. 270: »Mit solchen Sätzen, den Ausdrücken für Urteile, arbeitet der Philosoph, mit Bildern, die einseitig entworfen, oder mit Begriffen, welche nach einer bestimmten Richtung hin entwickelt sind. Weiter nun geht der sprache Ausdruck niemals.« 92 Vgl. a. a. O., S. 284. 93 A. a. O., S. 309. 94 Vgl. a. a. O., S. 73: »So behandelt denn auch die Lehre von der elocutio in der Rhe-
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Die Neubesinnung auf die Sprachlichkeit
Die These einer Metaphorik der Sprache wird auch von verschiedenen Zeitgenossen Gerbers vertreten und hat auf diese Weise – nicht nur über Gerber – einen großen Einfluss auf Nietzsche und den weiteren Verlauf der Philosophie. Verschiedene Autoren stützen sich hierbei auf ein Zitat Quintilians: »Beinahe alles, was wir sagen, ist figürlich.« 95 Ob die Bezüge auf dieses Zitat korrekt sind, ist erst einmal zweitrangig: Es hat seine Wirkung entfaltet und wurde so gedeutet. 1893 verfasste der Philologe Alfred Biese das Werk Die Philosophie des Metaphorischen in Grundlinien dargestellt, in dem es heißt: »Die Sprache ist durch und durch metaphorisch […]. [S]ie ist ein analoges Abkürzungsbild alles Lebens, das auf einer Wechselwirkung und inniger Verschmelzung von Leib und Seele beruht.« 96 Im Metaphorischen der Sprache erkennt Biese das Prinzip des Schöpferischen, die Stiftung eines neuen Sinnes. In ähnlicher Weise äußeren sich auch andere Autoren jener Zeit, wie IJsseling herausgestellt hat. 97 Die Annahme einer prinzipiellen Metaphorik der Sprache ist im 19. Jahrhundet sehr präsent. Nietzsche jedoch ist es, der diese Annahme zur philosophischen Relevanz erheben wird. Mit dem Neuhumanismus und den verschiedenen Autoren, welche dieses Gedankengut aufgreifen, wird ein Akzent sowohl gegen den cartesianischen Wissenschaftsbegriff als auch gegen die Philosophie Kants gesetzt. Grundlage jeder möglichen Philosophie ist die Sprachlichkeit selbst, welche die wesentliche Äußerung des Menschen darstellt. Außerhalb seiner Sprachlichkeit verfügt der Mensch über keine Möglichkeit der Weltdeutung. Eine Art metaphysische Objektivität wird abgelehnt und weicht einer Objektivität, die sich aus dem Zusammen der Sprache im Sinne des klassischen consensus omnium ergibt. Die Sprache selbst ist weder ein Hinweis auf eine ihr transzendente Objektivität, noch stellt sie selbst eine dar. Hieraus ergibt sich die prinzipielle Me-
torik oder in der Stilistik nicht etwa die Sprachkunst, sondern die Angemessenheit des Redeganzen […] Die Rhetorik ist daher auch wesentlich eine Lehre; sie und die Stilistik sind Produkte grammatisch historischer Kennerschaft, abstrahieren ihre Regeln von Mustern … Die Ästhetik aber, und so speziell die in der Sprachkunst, stellt kein Regelwerk auf; sie kann nichts zur Nachahmung empfehlen, will nicht sowohl eine Belehrung bieten, als auf künstlerischen Genuß hinweisen. Sprechen schon an sich, um eben zu sprechen.« 95 Quintilian, Inst. Or. IX,3: »Paene iam quidquid loquimur figura est.« 96 Biese, Die Philosophie des Metaphorischen, S. 22. 97 Vgl. IJsseling, Rhetorik und Philosophie, S. 166 f.
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Der Beginn der Hermeneutik
taphorik jeder Sprache, die dann mit Nietzsche wirkmächtig in den philosophischen Diskurs eingefügt werden wird.
13.2 Der Beginn der Hermeneutik Es ist kein Zufall, dass sich der historische Tod der Rhetorik in der Aufklärung kurz vor dem Beginn der philosophischen Hermeneutik ereignete. Offensichtlich erfüllte die Rhetorik bestimmte Funktionen, die nach deren Ende an die Hermeneutik übergingen und deren Entstehung begünstigten. Diese Funktionen werden sichtbar bei einem Blick auf die Vor- und Frühgeschichte der Hermeneutik. Der Beginn der modernen Hermeneutik wird gewöhnlich mit Friedrich Schleiermacher (1768–1834) angesetzt, ihre Wurzeln liegen allerdings früher. Dilthey hat die Frühgeschichte in seinem Werk Die Entstehung der Hermeneutik als eine unweigerlich auf die Hermeneutik hinführende Vorgeschichte dargestellt. 98 Diese Notwendigkeit und Alternativlosigkeit der Entwicklung ist nicht zu halten. Die Entwicklung einer geistigen Idee besteht aus immer neuen Ansätzen, Entscheidungen, Fragen und Antworten, deren Ende im Augenblick des Anfangs nicht absehbar sein kann. Dennoch gibt es natürlich einen roten Faden der hermeneutischen Frühgeschichte, der zur Hermeneutik hinführt. Dieser ist aber erst im Nachhinein erkennbar und vielleicht sogar erst im Nachhinein existent. Die »Hermeneutik« als Kennzeichnung eines wissenschaftlichen Anliegens und Titel eines Buches taucht erstmals bei Johann Conrad Dannhauer im 17. Jahrhundert auf, in seiner Hermeneutica sacra aus dem Jahre 1654, die im theologischen Kontext biblischer Exegese entstanden ist. Wie Hasso Jaeger Anfang der 1970er Jahre herausgearbeitet hat, findet sich der Begriff »Hermeneutik« jedoch bereits in den propädeutischen Schriften Dannhauers, die knapp drei Jahrzehnte früher entstanden sind. 99 Diese Frühwerke entstanden in dem Ansinnen, eine »allgemeine Hermeneutik«, eine hermeneutica universalis, zu schaffen. Eine derartige Hermeneutik, so schreibt Jaeger, ist nicht theologischer Natur und steht nicht in direkter Abhängigkeit der bisherigen bibel-hermeneutischen Ansätze, wie sie 98 99
Vgl. Dilthey, Die Entstehung der Hermeneutik, in: Ges. Schriften V, S. 317–338. Vgl. Jaeger, Frühgeschichte der Hermeneutik, S. 41 f.
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Die Neubesinnung auf die Sprachlichkeit
etwa Augustinus in seiner De doctrina christiana vorgelegt hat. Vielmehr ging es Dannhauer um etwas Neues, um die Erneuerung der Methodenlehre, »ein[en] modus sciendi, eine wissenschaftliche Verfahrenweise, welche den Disziplinen der drei höheren Fakultäten (Recht, Theologie, Medizin) ermöglichen sollte, schriftlich niedergelegte Aussagen sinngemäß und sachgerecht auszulegen«. 100 Die neue hermeneutica universalis oder hermeneutica generalis diente dem Verstehen; in der Schrift Idea boni interpretis definiert Dannhauer den wahren Interpreten als denjenigen, der in den dunklen Stellen einer Schrift Wahres vom Falschen unterscheiden und erklären könne. 101 Jaeger weist darauf hin, dass dieses Verstehen im Sinne der frühen Hermeneutik kein konstruktiver Deutungsakt ist, sondern Nachvollzug des bereits Gedachten: »Daher hat die hermeneutica mit Deutung oder Verstehenskunst nichts zu tun. Sie ist auch kein ›Vorgang‹, denn sie interessiert sich nicht für einen Denkakt, etwa in denkpsychologischer Perspektive, sondern nur für den gedachten Sinn. Deshalb liegt ihr ebenfalls alle ›Sinngebung‹ fern.« 102
Die Perspektive der frühen Hermeneutik ist eine reflexive. Sie untersucht das Gesagte auf seine logische Konsistenz hin und kann so den wahren vom falschen Sinn des Gedachten unterscheiden. Diese Perspektive teilt sie auch mit den antiken Vorläufern der Hermeneutik, der Exegese bzw. Allegorese, die ebenfalls nicht konstruktiv, sondern reflexiv zu verstehen sind. 103 Der Anspruch dieser reflexiven Handlung ist allerdings ein absoluter. Dannhauer will eine universale Hermeneutik schaffen, die über die bisherigen auf die Bibel zu beziehenA. a. O., S. 50. Vgl. Dannhauer, Idea boni interpretis, S. 29: »Interpres enim est analyticus orationum omnium quatenus sunt obscurae, sed exponibiles, ad discernendum verum sensum a falso.« 102 Jaeger, Frühgeschichte der Hermeneutik, S. 57. 103 Vgl. a. a. O. S. 57, Anm. 67: »Die mit der Analysis verbundene hermeneutica kannte nicht und konnte nicht eine ›konstruktive‹ Interpretation im Sinne der husserlschen konstruktiven Sinngebung, der ›Konstitution der natürlichen Welt im absoluten Bewusstsein‹ kennen. Die in der Erbfolge von Dilthey, Husserl und Heidegger immer wiederholten Behauptungen, dass die von der Antike her bekannten klassischen Exegese-Prinzipien ›konstruktiv‹ gewesen seien, wie zum Beispiel die allegorischen Traditionen, die stoischen und neuplatonischen Homerinterpretationen, […] sind ideengeschichtliche Fehlschläge, die zur Ausscheidung der Philosophie- und philosophischen Begriffsgeschichte zu Gunsten einer dogmatischen Betrachtungsweise führen.« 100 101
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Der Beginn der Hermeneutik
den Exegesen hinausgeht – methodisch wie inhaltlich. Trotz dieses Ansinnens ist den Universalhermeneutiken des 17. Jahrhunderts keine Zukunft beschieden. Die Ursache dafür erkennt Jaeger in ihrem reflexiven Wesen: »Weil die Mitteilung des Denkens, das die Quellen aussagten, eine ›interpretatio‹ von Gedanken und Sinnzusammenhängen darstellte, die ihrerseits selbst nur Erkenntnismittel einer Lichtquelle waren, nämlich der von dem höchsten Prinzip durchstrahlten intelligiblen Welt, war die einmal in Bewegung gesetzte Strebung von Quellenerschließung und gleichzeitigem Aufstieg zu den letzten Denk- und Seinsprinzipien nicht mehr aufzuhalten. Am Konvergenzpunkt von Quellen- und Prinzipienrückgang stand die hermeneutica analytica. Sie verlosch mit der scheidenden Analyse und der Prinzipienlehre, der sie ihr Dasein verdankte.« 104
Die Universalhermeutiken sind aufgrund ihrer ausschließlichen Reflexivität nicht in der Lage, auf das zu blicken, was hinter den Quellen liegt, die »Denk- und Seinsprinzipien«. Indem die Universalhermeneutiken sich auf die Analyse der Quellen beschränkten, waren sie methodisch gefangen, verblieben damit als letztlich exegetische Disziplinen und waren nicht in der Lage, eine produktiv-schöpferische Dimension zu entwickeln. Damit, so Jaeger, sind diese Universalhermeneutiken etwas grundsätzlich Verschiedenes von einer modernen philosophischen Hermeneutik: »In ideengeschichtlicher Sicht ist die heute proklamierte Hermeneutik ein absolutes Novum, ohne Wurzeln in der vorkantischen Philosophie und der von Kant ›überwundenen‹ klassischen Überlieferung abendländischen Denkens. Sie hat daher keine Ahnen: Die Hermeneutik ist traditionslos.« 105
Indem Jaeger den Beginn der modernen Hermeneutik in der nachkantianischen Zeit verankert, liefert er die chronologische Grundlage für die These einer Verbindung zwischen dem Ende der Rhetorik zur Zeit der Aufklärung und dem Anfang der Hermeneutik, die eben nicht im 17. Jahrhundert, sondern im beginnenden 19. Jahrhundert entstand, im Gefolge der Aufklärung und Kants. Kant steht an der Schnittstelle eines epochalen Wandels. Peter Szondi vermerkt, dass »das halbe Jahrhundert, das zwischen Meier und 104 105
A. a. O., S. 83. A. a. O., S. 84.
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Die Neubesinnung auf die Sprachlichkeit
Schleiermacher liegt, eine der markantesten geistesgeschichtlichen Zäsuren darstellt«. 106 Dieser Wandel beinhaltet nicht nur die Vollendung der Auslöschung der Rhetorik, sondern auch einen anderen Umgang mit der Rationalität, der schließlich für den Beginn der Hermeneutik entscheidend wird. Kant distanziert sich von einem Rationalismus, wie er im 17. und 18. Jahrhundert von verschiedenen Autoren vertreten worden war – gerade auch von den Autoren, welche dem Einfluss der Rhetorik zutiefst kritisch gegenüberstanden, sowie von den Erstellern der Universalhermeneutiken. Der Rationalismus ging davon aus, dass die menschliche Vernunft durch die Logik und durch ihr Erkenntnisvermögen in der Lage ist, die Gesetze der Welt zu erfassen und zu formulieren. In seiner Kritik der reinen Vernunft führt Kant aus, dass diese Gesetze nicht für sich existieren und dann erkannt werden, sondern im menschlichen Geist gewonnen werden und zwar durch die »Anschauung«. Diese, so Kant in den ersten Zeilen des Kapitels über die transzendentale Elementarlehre, sei »nur dadurch möglich, dass sie das Gemüt in gewisser Weise affiziere.« 107 Die Bildung von Begriffen ist damit gebunden an die Fähigkeit des menschlichen Geistes, affiziert zu werden und diese Affekte zu verarbeiten. 108 Diese Anschauungen, von denen Kant spricht, beruhen auf den beiden Prinzipien apriorischer Erkenntnis, nämlich Raum und Zeit. 109 Kant setzt sich vom Rationalismus ab, indem er dessen Grundannahme einer losgelöst von menschlicher Subjektivität existierenden Logik eine Absage erteilt. Damit führt er eine wichtige Differenzierung ein, nämlich die zwischen dem Ding an sich und dem, was dem Menschen erscheint. Hier erkennt Grondin den entscheidenden Schritt zur Hermeneutik: »In dieser Untscheidung von Phänomen und Ding an sich liegt eine der geheimen Wurzeln der Romantik und des Aufschwungs, der der Hermeneutik seitdem widerfahren ist.« 110 Indem Kant die Abhängigkeit der menschlichen Erkenntnis von »Raum und Zeit« feststellt und auf diese Weise phänoVgl. Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik, S. 136. Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft B, S. 33. 108 Vgl. ebd.: »Die Fähigkeit (Rezeptivität), Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegenständen affiziert werden, zu bekommen, heißt Sinnlichkeit. Vermittelst der Sinnlichkeit also werden uns Gegenstände gegeben, und sie allein liefert uns Anschauungen; durch den Verstand aber werden sie gedacht, und von ihm entspringen Begriffe.« 109 Vgl. a. a. O., S. 36. 110 Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, S. 100. 106 107
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menologisch neu in der menschlichen Subjektivität verankert, schafft er den Bedarf, diese menschliche Subjektivität methodisch neu zu erfassen und zur Grundlage der Philosophie zu machen. Indem nicht mehr die Logik den Geist definiert, sondern der Geist die Logik, wird dieser auf neue Weise zum Objekt der Philosophie, und zwar in seiner historischen und kulturellen Gebundenheit an Raum und Zeit. Was Kant beschnitt, war letztlich nicht die Autarkie der Logik, der Wissenschaft oder eines metaphysischen Systems, sondern die Autarkie der menschlichen Vernunft, die eben in Abhängigkeit zu externen Faktoren steht, welche sie als Anschauung wahrnehmen und verarbeiten muss. Genau an dieser Schnittstelle setzte die neue Hermeneutik an. So entwickelte Friedrich Schlegel als Konsequenz der kantianischen Kritik am Rationalismus eine historisch-relativierend ausgerichtete Philosophie, die zwar noch nicht als Hermeneutik zu verstehen ist, aber wichtige Perspektiven aufzeigte, die in der Hermeneutik dann weiterentwickelt wurden. Inbesondere die lange unbekannten (Schleiermacher aber wohl bekannten 111), erst im 20. Jahrhundert veröffentlichten Hefte zur Philologie von Schlegel sind in der Frage der Entstehung der Hermeneutik von großem Interesse. In ihnen will Schegel die Philosophie durch die Philologie erneuern, ausgehend vom Fundament der Grammatik. Verstehen ist als sprachliches Verstehen nicht denkbar ohne die Philologie. Das Projekt Kants einer Theorie des Verstehens wird verwiesen auf die Sprache, und von ihr auf die Antike, die das gültige Modell des Umgangs mit Sprache geboten hat. 112 Ähnlich wie Schlegel hat sich auch Friedrich Schleiermacher in seinen Veröffentlichungen nur wenig in direkter Weise zur Hermeneutik geäußert, auch wenn er sich jahrzehntelang mit dieser Thematik beschäftigt hat und eine Veröffentlichung fest in seinen Planungen verankert war. Nach seinem Tod wurde von einem Schüler das Werk Hermeneutik und Kritik aus dem handschriftlichen Nachlaß und aus Vorlesungsmitschriften zusammengestellt. Schleiermacher setzt den Weg fort, das hermeneutische Verstehen aus der Sprache heraus zu entwickeln. Entsprechend lautet das wohl bekannteste Diktum Schleiermachers, das zu einem der Grundsätze der Hermeneutik wur111 112
Vgl. a. a. O., S. 102. Vgl. Schlegel, Kritische Ausgabe, Bd. 16, S. 37.
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Die Neubesinnung auf die Sprachlichkeit
de: »Alles Vorauszusetzende in der Hermeneutik ist nur Sprache.« 113 Sprache und Denken sind für Schleiermacher eins, das Denken kann nur konkret werden als Sprache, es ist nichts anderes als der Vollzug der Sprache: »Die Sprache ist die Art und Weise des Gedankens, wirklich zu sein. Denn es gibt keinen Gedanken ohne Rede.« 114 Das Denken vollzieht sich in den Bahnen, welche die Sprache gesetzt hat; das impliziert zugleich – gemäß dem neuhumanistischen Kanon –, dass es nicht möglich ist, etwas zu denken, was sich der Sprache und ihren Begriffen entzieht. 115 Hieraus ergibt sich, dass die sich auf der sprachlichen Basis vollziehende Weiterentwicklung des Denkens in dem Raum geschieht, den die Sprache offenlässt: in den Relationen, welche die sprachlichen Einheiten zueinander haben, in dem wechselvollen, sich ständig ändernden Geflecht der Begriffe und Worte. Dieser Abhängigkeit von der Sprache kann sich das Denken auch deshalb nicht entziehen, weil es als Sprachliches immer abhängig von Sprache ist: »Jede Rede setzt voraus eine gegebene Sprache.« 116 Der menschliche Geist erfindet nicht die Sprache, er findet sie bereits vor und stellt sein Denken in ihren Rahmen, den er nicht verlassen kann. Aufgrund der Sprachlichkeit des Verstehens sieht Schleiermacher die Rhetorik eng verbunden mit der Hermeneutik, da das Reden die Umkehrung des Verstehens darstellt: »Die Zusammengehörigkeit der Hermeneutik und Rhetorik besteht darin, dass jeder Akt des Verstehens die Umkehrung eines Aktes des Redens ist, indem in das Bewusstsein kommen muss, welches Denken der Rede zum Grunde gelegen.« 117
Reden und Verstehen sind die beiden komplementären Seiten des Sprachgeschehens. Schleiermacher begreift die Hermeneutik nicht nur als reflexive Betrachtung der konkreten sprachlichen Einheit, sondern als Umkehrung dessen, worauf sie sich bezieht. Indem Reden Schleichermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 38 A. a. O., S. 77. 115 Vgl. a. a. O., S. 78: »Der Einzelne ist in seinem Denken durch die (gemeinsame) Sprache bedingt und kann nur die Gedanken denken, welche in seiner Sprache schon ihre Bezeichnung haben. Ein anderer neuer Gedanke könnte nicht mitgeteilt werden, wenn nicht auf schon in der Sprache bestehende Beziehungen (Bezeichnungen?) bezogen. Dies beruht darauf, dass das Denken inneres Sprechen ist. Daraus erhellt sich aber auch positiv, dass die Sprache das Fortschreiten des Einzelnen im Denken bedingt.« 116 A. a. O., S. 77. 117 A. a. O., S. 76. 113 114
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und Verstehen die beiden Aspekte der Sprachlichkeit darstellen, lässt sich aus ihnen auch eine rhetorische Dimension folgern (der Sprache »ad extra«) und eine hermeneutische (der Sprache »ad intra«): »Es empfiehlt sich also, zwischen einer rhetorischen und einer ausgesprochen hermeneutischen Sinnvermittlung zu unterscheiden: Während die erste ad extra geht, verläuft die andere umgekehrt vom Ausdruck auf seinen »inneren« Gehalt hin oder – um psychologistische Verengung zu vermeiden – auf das, was ein Ausdruck zu sagen hat (Gehaltssinn). So verstand die gesamte Tradition das Interpretieren als die Umkehrung des Aktes des Redens, bis hin zu Schleiermacher.« 118
Das hermeneutische »ad intra« ist, wie Grondin schreibt, nicht vorrangig psychologisch zu verstehen, sondern auf den Gehaltssinn zu beziehen. Wenn ein Begriff gebraucht wird, dann ist es eine rhetorische Frage, wie und auf welche Weise er vorgebracht wird. Die hermeneutische Frage ist jene nach dem Bezug des Begriffs. Das neue Verfahren, das Schleiermacher begründen will, soll beide Dimensionen aufnehmen und vereinen. Diese neue Einheit, so stellt Gadamer kommentierend fest, ist nicht mehr diejenige der Überlieferung, auf welche die Hermeneutik zugreift, sondern die des Verfahrens, das in seiner Sprachlichkeit die Hermeneutik bildet. 119 Schleiermacher führt eine Unterscheidung ein, die wesentlich für die Hermeneutik sein wird und die auch für die Einbeziehung der Rhetorik essentiell ist: Er differenziert zwischen dem grammatischen und psychologischen Aspekt der Interpretation. 120 Mit der grammatischen Funktion der Sprache bezeichnet Schleiermacher das Überindividuelle und Grammatisch-Syntaktische, das sich dem Sprecher als Sprache durch die Gemeinschaft darbietet. Dem steht das Psychologische der Sprache gegenüber, das Subjektiv-Individuelle. Die Menschen gebrauchen zwar innerhalb einer Sprache die gleichen Worte, verbinden mit diesen Worten aber unterschiedliche Bedeutungen. Wäre dem nicht so, dann gäbe es nur die grammatische Dimension der Sprache, Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, S. 37. Vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 182: »Schleiermacher dagegen sucht die Einheit der Hermeneutik nicht mehr in der inhaltlichen Einheit der Überlieferung, auf die das Verstehen angewendet werden soll, sondern abgelöst von aller inhaltlichen Besonderung in der Einheit eines Verfahrens, das nicht einmal durch die Art, wie die Gedanken überliefert sind, ob schriftlich oder mündlich, in fremder oder in der eigenen gleichzeitigen Sprache, differenziert wird.« 120 Vgl. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 79 f. 118 119
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sie wäre ein starres, unveränderliches System. Durch die Psyche bringt Schleiermacher die individuelle Dimension in das Sprachgeschehen hinein, die er als Ausdruck des menschlichen Geistes sieht. Nur unter Berücksichtigung der grammatisch-objektiven und der psychisch-subjektiven Dimension ist Verstehen möglich: »Sie [erg. die Rede] ist auch als Modifikation der Sprache nicht verstanden, wenn sie nicht als Tatsache des Geistes verstanden ist, weil in diesem der Grund von allem Einflusse des Einzelnen auf die Sprache liegt, welche selbst durch das Reden wird.« 121
Verstehen und Sprache sind untrennbar miteinander verbunden. Hieraus ergibt sich für Schleiermacher die Tatsache, dass die Hermeneutik als die Kunst des Verstehens nicht – wie traditionellerweise üblich – nur das aufdecken soll, was unverständlich und dunkel ist, sondern Teil des normalen Gesprächs ist, da »sich das Missverstehen von selbst ergibt« 122 und somit nicht die zu eleminierende Ausnahme, sondern die Regel ist. Überall da, wo gesprochen wird und verstanden werden will, setzt die Hermeneutik an, welche das Verstehen zur Kunstform macht und methodisch erhöht. Ziel der Hermeneutik, so Schleiermacher immer wieder, sei es, »die Rede ebenso gut und dann besser zu verstehen als ihr Urheber«, eine Aufgabe, die eine unendliche ist, »weil es Unendliches der Vergangenheit und Zukunft ist«. 123 Mit der These einer psychologischen Funktion der Sprache schafft Schleiermacher den systematischen Raum, den die Rhetorik braucht. Sie ist diejenige, die von ihrem Selbstverständnis her nicht das Wahre, sondern das Wahrscheinliche darstellt, sie arbeitet seit Aristoteles auf die Psyche des Menschen hin und sucht nach Mitteln der Überzeugung. Bleibt Schleiermacher in Hermeneutik und Kritik in Bezug auf die Rhetorik begrifflich vage, so steht die Rolle der antiken Bildung und der Rhetorik im Zentrum der Schrift Über den Begriff der Hermeneutik. Diese ist eine Fortsetzung, aber auch Kritik entsprechender Schriften der beiden Philologen Friedrich August Wolf (1759–1824) und Friedrich Ast (1778–1841). Anhand dieser beiden Autoren analysiert Schleiermacher die Bedeutung der antiken Bildung – gerade der sprachlichen Bildung in Bezug auf Poetik, Stilfiguren, Grammatik 121 122 123
A. a. O., S. 79. Vgl. a. a. O., S. 92. Vgl. a. a. O., S. 94 und S. 104 u. a.
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und Rhetorik. Schleiermacher unterteilt die Literatur bzw. ihre Sprachformen in zwei verschiedene Perioden, deren Verständnis für eine hermeneutische Beurteilung unabdingbar ist: »Die Sache ist aber wesentlich diese. Wenn wir die verschiedenen Formen der schönen Redekünste und die verschiedenen Typen des Stils auch für wissenschaftliche und geschäftliche Abfassungen, die sich in einer Sprache ausgebildet haben, vor uns sehen: so zerfällt offenbar die ganze Geschichte der Literatur in zwei einander entgegenstehenden Perioden, deren Charaktere aber hernach, nur in untergeordnetem Maßstab, auch gleichzeitig wiederkehren. Die erste ist die, in welcher sich diese Formen allmählich bildeten, die andere ist die, in welcher sie herrschten, und wenn die Aufgabe der Hermeneutik darin besteht, den ganzen inneren Verlauf der komponierenden Tätigkeit des Schriftstellers auf das vollkommenste nachzubilden: so ist auch höchst notwendig zu wissen, welcher von beiden Perioden er angehört. Denn gehört er zu der ersten: so war er in dieser ganzen Tätigkeit rein er selbst, und es ist nun auf die Intensität seiner Produktion und seiner Gewalt in der Sprache daraus zu schließen, daß er nicht nur einzelne Werke hervorbrachte, sondern daß ein in der Sprache feststehender Typus zum Teil mit ihm und durch ihn beginnt. Dasselbe gilt, nur untergeordnet, von allen denen, welche diese Formen wenigstens besonders modifizierten, neue Elemente hineinbrachten oder einen anderen Stil in ihnen gründeten. Je mehr hingegen ein Schriftsteller der zweiten Periode angehört, nicht die Form mit hervorbringt, sondern in dieser oder jener Form dichtet und arbeitet, desto genauer muss man diese kennen, um ihn in seiner Tätigkeit ganz zu verstehen.« 124
In diesem längeren Abschnitt aus Über den Begriff der Hermeneutik begründet Schleiermacher die Wichtigkeit der antiken Rhetorik mit der Entwicklung, welche die einzelnen Begriffe in einer Sprache nehmen. In der chronologisch ersten Phase werden die Begriffe eingeführt, und sie stehen vollständig für das, was sie ausdrücken: Sie sind identisch mit ihrem Aussagegehalt, weil ihr Sprecher oder der Schriftsteller sich in diesen Begriffen vollständig ausdrückt. Wenn diese Begriffe weiterverwendet werden, tritt die zweite Phase ein: Der Autor bringt die Begriffe nicht hervor, sondern benutzt bereits vorhandene und eingeschliffene Begriffe, die somit nicht mehr unmittelbarer, sondern nur noch mittelbarer Ausdruck seiner selbst sind. Die Hermeneutik, deren Aufgabe es ist, die Tätigkeit des Schriftstellers »auf das vollkommenste nachzubilden«, muss genau 124
Schleiermacher, Über den Begriff der Hermeneutik, S. 321 f.
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auf die Urformen der Sprache schauen, gerade dann, wenn diese nicht mehr unmittelbar erkennbar sind. Die Rhetorik zeichnet das maßgebliche Bild der Entstehung der konkreten Sprache in ihren Bildern, Figuren und Strukturen und ist damit unverzichtbar zur Rekonstruktion der sprachlichen Konstruktion. Die Rhetorik beschreibt nach Schleiermacher den Weg »ad extra« und ist somit notwendiger Teil der Hermeneutik, um das »ad intra« der Sprache, ihren Gehaltssinn, zu verstehen. Mit Hilfe der Rhetorik kann der Weg der Sprache zur konkreten schriftlichen oder mündlichen Äußerung nachvollzogen und beschrieben werden. Gerade in der Beschreibung der Bedeutung der Rhetorik wird deutlich, warum die Hermeneutik im modernen Sinne erst nach dem Ende der kulturellen Dominanz des Rhetorischen entstehen konnte. 125 Die Hermeneutik war eine Konsequenz der Aufklärung, deren Rationalismus die Rhetorik aus dem wissenschaftlichen Diskurs verbannt hatte. Indem aber Kant den Rationalismus im menschlichen Bewusstsein verankerte, somit in der von Zeit und Raum abhängigen Subjektivität, schuf er den Raum, in den die Hermeneutik stoßen konnte: das Verstehen in Abhängigkeit des von Historie, Kultur und Sprache abhängigen Individuums zu entwerfen. Das Verstehen wird zur Rekonstruktion der sprachlichen Konstruktion, deren Analyse nicht ohne die Rhetorik denkbar ist. Die Rhetorik wird durch Schleiermacher zwar zum Partner der Hermeneutik, gewinnt aber ihre frühere, bedeutende Stellung nicht zurück: Sie verbleibt als Hilfsmittel hermeneutischer Analyse, als Instrument der Auflösung sprachlicher Figuren. Damit ist ihre Bedeutung für die Hermeneutik eine eher historische als systematische, aus eigener Kraft besitzt sie auch weiterhin keine Relevanz für den philosophischen Diskurs. Gadamer kritisierte an Schleiermachers Hermeneutik, dass diese »die Texte unabhängig von ihrem Wahrheitsanspruch als reine Ausdrucksphänomene ansieht«. 126 Der Hinweis auf die psychologische Dimension der Hermeneutik Schleiermachers sowie auf das Ansin125 Vgl. Grondin, Hermeneutik, Sp. 1352: »Erst aus der jüngsten Hochkonjunktur der universalisierten Hermeneutik heraus ließen sich in jüngster Zeit für das allgemeine Bewusstsein das vergessene, von der neuzeitlichen Rationalität unterdrückte Gedankengut und die Aktualität der Rhetorik wieder entdecken, als ob die Hermeneutik auf diese Weise gleichsam ihre Schuld der Rhetorik gegenüber beglichen hätte.« 126 Vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 200.
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Der Beginn der Hermeneutik
nen, den Produktionsakt des Autors »auf das vollkommenste nachzubilden«, entkräftet die Kritik Gadamers. Schleiermacher bezieht sich auf den von Ast formulierten »Hermeneutischen Zirkel«, gemäß dem das Einzelne aus dem Ganzen und das Ganze aus dem Einzelnen heraus zu deuten ist, wenn er einerseits der grammatischen Objektivität die psychologische Subjektivität gegenüberstellt, aber auch darauf hinweist, dass die einzelne Lebensäußerung – was die Sprache ja ist – dem Ganzen des Lebens eingefügt ist. 127 Indem Schleiermacher die Hermeneutik zur Kunst des menschlichen Verstehens macht, zur kunstvollen Weiterführung des normalen Verstehensprozesses, und diese verknüpft mit der menschlichen Existentialität und Sprachlichkeit, schafft er die Grundlage für einen hermeneutischen Universalismus. Die Allgemeingültigkeit der Sprache und des von ihr abhängigen Verstehens ist die Universalität der Hermeneutik wie auch gleichzeitig die Ubiquität der Rhetorik.
127 Vgl. Schleiermacher, Über den Begriff der Hermeneutik, S. 335: »Jedes ist einzelnes in dem Gebiet der Literatur, dem es angehört, und bildet mit andern gleichen Gehaltes zusammen ein Ganzes, aus dem es also zu verstehen ist in der einen Beziehung, nämlich der sprachlichen. Jedes ist aber auch ein Einzelnes als Tat seines Urhebers und bildet mit seinen anderen Taten zusammen das Ganze seines Lebens und ist also nur aus der Gesamtheit der Taten […] zu verstehen.«
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14. Nietzsche
14.1 Sprache ist Rhetorik Mit Friedrich Nietzsche (1844–1900) gelangt die Philosophie an einen historischen Wendepunkt – zumindest aus sprachphilosophischer Perspektive. Aus seinem Unwillen, ein philosophisches System zu schaffen und sich auf diese Weise auf die diskursive Ebene mit der Philosophie zu begeben, setzt er in seinen Werken auf eine betont bildhafte Sprache, die nicht nur oft widersprüchlich ist, sondern diese Widersprüchlichkeit sogar zu einem Prinzip zu machen scheint. 1 Das Gesamtwerk Nietzsches atmet den Geist der Rhetorik sowohl in der konzentrierten Orientierung an der Wirkung von Sprache als auch in dem bewussten Einsatz rhetorischer und poetischer Mittel. Entsprechend stellte Blumenberg fest: »Rhetorik ist das Wesen der Philosophie Nietzsches.« 2 Erstaunlicherweise blieb die Erforschung des Verhältnisses Nietzsches zur Rhetorik lange Zeit ein Desiderat; erst Anfang der 1970er Jahre gab es erste größere Veröffentlichungen: Nietzsche und die Rhetorik von J. Goth aus dem Jahre 1970 3 und die Übertragung und Kommentierung einiger Rhetorik-Vorlesungen Nietzsches ins Französische durch P. Lacoue-Labarthe und J.-L. Nancy, die 1971 in der Zeitschrift Poétique erschien. 4 Im Mittelpunkt der Rhetorik-Forschung stehen seitdem die Philologie-Vorlesungen Nietzsches, die er in den Jahren 1872 bis 1876 in Basel gehalten hat: Die Geschichte der Griechischen Beredsamkeit (1872–1873), RhetoVgl. Jaspers, Nietzsche, S. 17: »Das Sichwidersprechen ist der Grundzug Nietzscheschen Denkens. Man kann bei Nietzsche fast immer zu einem Urteil auch das Gegenteil finden. Der Schein ist, er habe über alles zwei Meinungen.« 2 Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 272. 3 Vgl. J. Goth, Nietzsche und die Rhetorik, Tübingen 1970. 4 Vgl. P. Lacoue-Labarthe/J.-L. Nancy, Friedrich Nietzsche. Rhétorique et langage – Textes traduits, présentés et annotés, in: Poétique. Revue de théorie et d’analyse littéraires 5 (1971), S. 99–142. 1
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Sprache ist Rhetorik
rik (1874) und Die Geschichte der Griechischen Literatur (1874– 1876). Das Jahrzehnt seiner akademischen Lehrtätigkeit in Basel von 1869 bis 1879 ist geprägt von einer sehr intensiven Beschäftigung mit der antiken Rhetorik. Hierbei erweist sich Nietzsche durchaus auf der Höhe des damaligen Forschungsstandes. Sowohl die altphilologische (Westermann, Spengel, Volkmann) als auch die humanistischsprachphilosophische Tradition (Gerber) war ihm bestens bekannt. 5 Daneben hat auch die Geschichte des Materialismus von Friedrich Alber Lange einen großen Einfluss auf Nietzsche ausgeübt. 6 Indem Nietzsche in seinen Vorlesungen die Kenntnisse der Philologie auf die neuen Erkenntnisse der durch Gerber vermittelten humanistischen Sprachphilosophie hin auslegt, schafft er eine Neuinterpretation des Verhältnisses von Rhetorik und Philosophie. Nietzsche folgt Gerber und der von ihm weitergeführten neuhumanistischen Tradition in seiner Einschätzung der Metaphorik der Sprache und will diese bereits in der antiken Sprachpraxis verankert wissen. Die antike Bildung, so Nietzsche, zielt auf die Rhetorik, was logisch erscheint in einer Kultur, die vollständig von der Beredsamkeit geprägt ist. 7 Die Rhetorik stellt die systematische und methodische Fortsetzung dieser natürlichen Kunst der Sprache dar. Entsprechend definiert Nietzsche: »Rhetorik ist eine Fortbildung der in der Sprache gelegenen Kunstmittel, am hellen Licht des Verstandes. […] Die Sprache selbst ist das Resultat von lauter rhetorischen Künsten. Die Kraft, welche Aristoteles Rhetorik nennt, an jedem Dinge das heraus zu finden und geltend zu machen, was wirkt und Eindruck macht, ist zugleich das Wesen der Sprache.« 8
Das Wesen der Sprache, so führt Nietzsche aus, ist rhetorisch und anders gar nicht denkbar: »Alle Wörter aber sind an sich und von Anfang an, in Bezug auf ihre Bedeutung, Tropen.« 9 Entsprechend ist
Vgl. Most/Fries, Die Quellen von Nietzsches Rhetorik-Vorlesung, S. 22 f. Vgl. Crawford, The Beginnings of Nietzsche’s Theory of Language, S. 119 ff. 7 Vgl. Nietzsche, Die Geschichte der griechischen Beredsamkeit, S. 3: »Um nichts haben sich die Griechen eine solche unablässige Mühe gegeben wie um Beredsamkeit.« Vgl. auch Nietzsche, Rhetorik, S. 287 f.: »Die Bildung des antiken Menschen kulminiert gewöhnlich in der Rhetorik.« 8 Nietzsche, Rhetorik, S. 298. 9 A. a. O., S. 299. 5 6
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Nietzsche
eine Differenzierung natürlicher und künstlicher Tropen illegitim. 10 Wenn jedes Wort notwendigerweise tropisch ist, dann entfällt auch die alte aristotelische Definition der tropischen Verschiebung der »eigentlichen« zur »uneigentlichen« Bedeutung eines Wortes: »Die Tropen treten nicht dann und wann an die Wörter heran, sondern sind deren eigenste Natur. Von einer ›eigentlichen Bedeutung‹, die nur in speziellen Fällen übertragen würde, kann gar nicht die Rede sein. Ebensowenig wie zwischen eigentlichen Wörtern und den Tropen ein Unterschied ist, gibt es einen zwischen der regelrechten Rede und den sogenannten rhetorischen Figuren. Eigentlich ist alles Figuration, was man gewöhnlich Rede nennt.« 11
Die Rhetorizität und Tropizität der Sprache ist für Nietzsche eine absolute, bereits sichtbar in der Vielheit der Sprachen und in der Unfähigkeit der Sprache, die eigenen Gefühle auszudrücken. 12 Damit trifft Nietzsche auch eine für die Philosophie relevante Aussage. Während die Philosophie, so Nietzsche, allgemeine und zugleich unkonkrete Aussagen macht, drückt die Rhetorik das Spezielle und Konkrete aus. 13 Damit verzichtet die Rhetorik darauf, eine wissenschaftliche Wahrheit zu verkünden und zielt stattdessen auf das Scheinbare und Wahrscheinliche, aber genau das macht die Rhetorik zur Rhetorik. Da die Sprache ebenfalls keine Wahrheit ausdrückt, sondern das doxastische Wahrscheinliche, den Schein der Wahrheit, ist sie selbst in vollem Sinne rhetorisch: »Die Sprache ist Rhetorik, denn sie will nur eine δόξα, keine ἐπιστήμη übertragen.« 14 Nietzsche begründet die Rhetorizität und Metaphorik der Sprache epistemologisch: Indem der Mensch etwas wahrnimmt, erschafft er in einem Akt primärer Metaphorik in seinem Geist ein Bild; dadurch dass er dieses ausspricht, entsteht im Laut das zweite Bild, die zweite Vgl. a. a. O., S. 316. A. a. O., S. 300. 12 Vgl. Nietzsche, KSA 7, S. 360: »In der Vielheit der Sprachen gibt sich sofort die Tatsache kund, dass Wort und Drang sich nicht vollständig und nicht notwendig decken, sondern dass das Wort ein Symbol ist. Was symbolisiert aber das Wort? Doch gewiß nur Vorstellungen, seien dies nun bewusste oder, der Mehrzahl nach unbewusste: denn wie sollte ein Wort-Symbol jenem innersten Wesen, dessen Abbilder wir selbst, samt der Welt, sind, entsprechen?« 13 Vgl. Nietzsche, Rhetorik, S. 295: »Die Philosophen haben eingeteilt in θέσις und ὑπόθεσις. Erstere betracht die Sache an sich und ganz allgemein, letztere wie sie unter gegebenen Umständen in die Erscheinung tritt. Das Allgemeine zu bestimmen ist Sache der Philosophie, das Spezielle fällt der Rhetorik anheim.« 14 A. a. O., S. 298. 10 11
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Sprache ist Rhetorik
Metapher. 15 Dieser epistemische Formungsprozess der Metapher wird näher beleuchtet in verschiedenen Fragmenten, die in den Jahren 1872/73 entstanden sind. In diesen zeichnet Nietzsche die Entstehung der Philosophie nach. Die ionischen Naturphilosophen, so Nietzsche, hätten metonymisch gedacht: Wenn sie davon ausgingen, dass die ganze Welt feucht sei, so hätten sie metonymisch (und falsch) geschlossen, dass Feuchtsein die ganze Welt sei. Trotz dieses Fehlschlusses sei gerade hier der Beginn der Vernunft erkennbar: Indem versucht wird, die Welt in ihrer Verschiedenheit zu deuten und zu simplifzieren, geschehen zwar Fehlschlüsse, aber diese seien notwendige erste Gehversuche auf dem Weg der Vernunft. 16 Unter dem metonymischen Denken versteht Nietzsche die Vertauschung zweier Begriffe und damit – insofern die Begriffe eine Ursache und eine Wirkung ausdrücken – das Austauschen von Ursache und Wirkung. 17 Das Metonymische abstrahiert bzw. jede Abstraktion ist metonymisch, da sie – um einen Begriff zu schaffen – Ursache und Wirkung vertauschen muss. Damit erschafft sie zugleich eine Täuschung, wie sie auch den Beginn einer rationalen Beurteilung darstellt. Die Wurzel der (metonymischen) Abstraktion ist das Erkennen von Ähnlichkeiten und dieses ist die tropische Verarbeitung von Sinneswahrnehmungen: »Tropen sind’s, nicht unbewusste Schlüsse, auf denen unsere Sinneswahrnehmungen beruhn. Ähnliches mit Ähnlichem identificieren – irgend welche Ähnlichkeit an einem und einem andern Ding ausfindig machen ist der Urprozeß.« 18
Das tropische Geschehen vollzieht sich in dem Erkennen und nachahmend-tropischen Aussprechen von Ähnlichkeiten. Damit ist jede Erkenntnis metaphorisch: »Das Erkennen ist nur ein Arbeiten in den Vgl. Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge, KSA 1, S. 879: »Ein Nervenreiz zuerst übertragen in ein Bild! erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einem Laut! Zweite Metapher.« 16 Vgl. Nietzsche, KSA 7, S. 486: »Das logische Denken wenig geübt bei den Ioniern, entwickelt sich langsam. Die falschen Schlüsse werden wir aber richtiger als Metonymien d. h. rhetorisch poetisch fassen. Alle rhetorischen Figuren (d. h. das Wesen der Sprache) sind logische Fehlschlüsse. Damit fängt die Vernunft an!« 17 Vgl. Nietzsche, KSA 7, S. 481 f.: »Die Abstraktionen sind Metonymien d. h. Vertauschungen von Ursache und Wirkung. Nun aber ist jeder Begriff eine Metonymie und in Begriffen geht das Erkennen vor sich. ›Wahrheit‹ wird zu einer Macht, wenn wir sie erst als Abstraktion losgelöst haben.« 18 A. a. O., S. 487. 15
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Nietzsche
beliebtesten Metaphern.« 19 Der tropisch-metaphorische Begriff fügt epistemologisch etwas zusammen, was getrennt ist: »Metapher heißt etwas als gleich zu behandeln, was man in einem Punkte als ähnlich erkannt hat.« 20 Die Metapher ahmt dasjenige nach, was sie als ähnlich erkannt hat, und legt in diesem vergleichenden Nachahmen die Wurzeln jeder Vernunft und jeder Kultur. 21 Die Metaphern, welche die Elemente dieser Nachahmung sind, haben damit Macht über die Erkenntnis, wie Nietzsche stichpunktartig in seinen Fragmenten notiert: »Welche Macht zwingt zur Nachahmung? Die Aneignung eines fremden Eindrucks durch Metaphern. Reiz – Erinnerungsbild durch Metapher (Analogieschluß) verbunden. Resultat: es werden Ähnlichkeiten entdeckt und neu belebt.« 22
Nietzsche denkt den Akt des Erkennens als einen Prozess des Nachahmens, der wesentlich und notwendigerweise von den Metaphern geprägt wird, die in dieser Nachahmung entstehen. Damit ist jedoch auch ausgesagt, dass dieser dauernde Prozess der Erkenntnis nicht die Erkenntnis selbst ist: »Das Nachahmen ist darin der Gegensatz des Erkennens, daß das Erkennen eben keine Übertragung gelten lassen will, sondern ohne Metapher den Eindruck festhalten will und ohne Consequenzen.« 23 Indem der Prozess der nachahmenden Erkenntnisgewinnung an sein Ende gekommen ist und einer vermeintlich sicheren Erkenntnis weicht, verliert auch das Tropische als Tropenlehre seinen Einfluss – sei es in der metonymischen Abstraktion oder in der metaphorisch-nachahmenden Produktion der Begriffe. Der Verlust des Tropischen impliziert jedoch eine Verfestigung der Täuschung, die jeder Begrifflichkeit immanent ist. Die Täuschung beruht auf der mangelnden Fähigkeit des Begriffs, mit dem von ihm Dargestellten identisch zu sein oder auch nur in einer eindeutigen Relation zu stehen: A. a. O., S. 491. A. a. O., S. 498. 21 Vgl. a. a. O., S. 489 f.: »Das Nachahmen ist das Mittel aller Kultur, dadurch wird allmählich der Instinkt erzeugt. Alles Vergleichen (Urdenken) ist ein Nachahmen. […] Unsere Sinne ahmen die Natur nach, indem sie immer mehr dieselbe abkonterfeien. Das Nachahmen setzt voraus ein Aufnehmen und dann ein fortgesetztes Übertragen des aufgenommenen Bildes in tausend Metaphern, alles wirkend.« 22 A. a. O., S. 490. 23 A. a. O., S. 490 f. 19 20
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Sprache ist Rhetorik
»Denn zwischen zwei absolut verschiedenen Sphären wie zwischen Subjekt und Objekt gibt es keine Kausalität, keine Richtigkeit, keinen Ausdruck, sondern höchstens ein ästhetisches Verhalten, ich meine eine andeutende Übertragung, eine nachstammelnde Übersetzung in eine ganz fremde Sprache. Wozu es aber jedenfalls einer frei dichtenden und frei erfindenden Mittel-Sphäre und Mittelkraft bedarf.« 24
Da die Relation zwischen Bezeichung und dem Bezeichneten niemals eindeutig sein kann bzw. es keine eindeutige Verbindung geben kann, ist jeder Versuch einer solchen Verbindung »eine andeutende Übertragung«, und diese soll möglichst kunstvoll sein. An die Stelle einer Metaphysik und ihrem Anspruch begrifflicher Definitionsvollmacht tritt nun die Kunst als das Mittel einer ästhetischen Vermittlung dessen, was anders nicht zu vermitteln ist. 25 Nicht mehr die Kunst wird von der Sprache her gedacht, sondern die Sprache von der Kunst. 26 Platon hatte die Sphäre der Wahrheit von dieser Ästhetik des Scheins scharf zu trennen versucht. Nietzsche geht es nicht nur um eine Umkehrung der von Platon begründeten Dichotomie von wahrer und scheinbarer Welt, sondern um ihre Auflösung. 27 Die platonische Trennung von Wahrheit und Schein weicht der Aussage Nietzsches, dass diese vermeintliche Wahrheit für sich genommen nicht existent sei und der doxastische Schein die einzige Realität darstellt, die es sprachlich zu fassen gilt. Diese sprachliche Erfassung ist unabdingbar rhetorisch und so ist auch jede Wahrheit eine rhetorische. Da die Sprache bereits in ihrer Entstehung nicht logischen Regeln folgt, so Nietzsche, ist das ganze sprachliche Material, mit dem ein Philosoph oder Wissenschaftler arbeitet, nicht in der Lage, das »Wesen der Din-
Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, KSA 1, S. 884. Gerhardt, Nietzsches ästhetische Revolution, S. 20: »An die Stelle von Erkenntnis, Bewusstsein, Philosophie und Wahrheit im metaphysischen Verständnis hat nun die Kunst zu treten. Nicht der Realitätssinn, sondern die Kunst ermöglicht das Leben.« 26 Vgl. Lacoue-Labarth, S. 99: »Die Einführung der Rhetorik, weil sie die Frage der Sprache aufwirft, nötigt dazu, die Kunst von der Sprache her zu denken, und nicht umgekehrt – eine Bewegung, in der sowohl die Kunst als auch die Sprache sich verändern, in der beide, was sie waren, nicht bleiben können. Je mehr die Überlegung einer ursprünglichen Übertragung an Gewicht gewinnt, desto mehr bestärkt sich die Auffassung, dass das Wesen der Kunst in der Übertragung liege, und dass die Sprache als deren Modell zu gelten habe, – und desto mehr verblasst die Zweideutigkeit der Präsenz.« 27 Vgl. Tebartz-van Elst, Ästhetischer Weltbezug, S. 110 f. 24 25
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Nietzsche
ge« zu erfassen oder etwas darüber auszusagen. 28 Nietzsche stellt dem modernen Wissenschaftsbegriff die Macht der »Phantasie« entgegen: »Das philosophische Denken ist mitten in allem wissenschaftlichen Denken zu spüren. […] Es ist Flügelschlag der Phantasie, d. h. ein Weiterspringen von Möglichkeit zu Möglichkeit, die einstweilen als Sicherheiten genommen werden. Hier und da von Möglichkeit zu einer Sicherheit und wieder zu einer Möglichkeit. – Was aber ist eine ›Möglichkeit‹ ? Ein Einfall […] Aber wie kommt der Einfall? Mitunter zufällig äußerlich: ein Vergleichen, das Endecken irgend einer Analogie findet statt. Nun tritt eine Erweiterung ein. Die Phantasie besteht im schnellen Ähnlichkeitenschauen. Die Reflexion mißt nachher Begriff an Begriff und prüft. Die Ähnlichkeit soll ersetzt werden durch die Causalität.« 29
Der von Nietzsche wiederholt geschilderte Prozess ist ein immer neues Abwägen, der Sinneswahrnehmungen, die in der Phantasie zu Metaphern werden. Jede Art von Kunst – auch die sprachliche – ist metaphorisch, gebunden an den Charakter der metaphorischen Bewegung bzw. Übertragung: »Alle Kunstgesetze beziehen sich auf Übertragungen.« 30 Die Metaphern können sowohl Möglichkeiten darstellen als auch Sicherheiten – je nach Festigkeit und Bedeutung der Metapher für das eigene Denken. Indem die Metaphern zu Sicherheiten werden und sich im Laufe der Reflexion verfestigen, können sie zwar zum Objekt des wissenschaftlichen Denkens werden, verraten aber ihren eigenen, grundsätzlich nichtwissenschaftlichen Charakter. Der metaphorische Charakter der Erkenntnis wird dahingehend missachtet, dass die Fluidität einem »Hart- und Starr-Werden« 31
Vgl. Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge, KSA 1, S. 879: »Logisch geht es jedenfalls nicht bei der Entstehung der Sprache zu, und das ganze Material worin und womit später der Mensch der Wahrheit, der Forscher, der Philosoph arbeitet und baut, stammt, wenn nicht aus Wolkenkukuksheim, so doch jedenfalls nicht aus dem Wesen der Dinge.« 29 Nietzsche, KSA 7,19, S. 443 f. 30 Nietzsche, Geburt der Tragödie, KSA 7,395. 31 Vgl. Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, KSA 1, S. 883 f.: »Er vergißt also die originalen Anschauungsmetaphern als Metaphern und nimmt sie als Dinge selbst. Nur durch das Vergessen jener primitiven Metapherwelt, nur durch das Hart- und Starr-Werden einer ursprünglich in hitziger Flüssigkeit aus dem Urvermögen menschlicher Phantasie hervorströmenden Bildermasse, nur durch den unbesiegbaren Glauben, diese Sonne, diese Fenster, dieser Tisch sei eine Wahrheit an sich, kurz nur dadurch, dass der Mensch sich als Subjekt und zwar als künstlerisch schaffendes Subjekt vergisst, lebt er mit einiger Ruhe, Sicherheit und Konsequenz; 28
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Sprache ist Rhetorik
weicht und somit die Rhetorizität und Künstlichkeit der Sprache nicht zur Geltung kommt. Ohnehin ist der Anspruch der Wissenschaft und der Philosophie, eine nichtrhetorische Sprache zu gebrauchen, faktisch nicht durchführbar, wie Nietzsche in seinem Spätwerk Jenseits von Gut und Böse feststellt: »Das meiste bewusste Denken eines Philosophen ist durch seine Instinkte heimlich geführt und in bestimmte Bahnen gezwungen. Auch hinter aller Logik und ihrer anscheinenden Selbstherrlichkeit der Bewegung stehen Wertschätzungen.« 32 Und schließlich: »Sie sind allesammt Advokaten, welche es nicht heißen wollen.« 33 Jede Sprache ist Rhetorik und wenn die Philosophie seit Platon mit dem Anspruch auftritt, nicht rhetorisch zu sein, dann ist dieser, so Nietzsche, nicht erfüllbar. Die metaphysische Philosophie begeht den Fehler, die Metaphorik und Rhetorizität der Sprache zu vergessen: »Unter ›wahr‹ wird zuerst nur verstanden das, was usuell die gewohnte Metapher ist – also nur eine Illusion, die durch häufigen Gebrauch gewohnt worden ist und nicht mehr als Illusion empfunden wird: vergessene Metapher, d. h. eine Metapher, bei der vergessen wird, daß sie eine ist.« 34
Aus einer Metapher wird durch Gewöhnung eine metaphysische Wahrheit und somit aus dem Begriff etwas, das ihm nicht zukommt, da er für sich genommen nicht wahrheitsfähig ist. Der Metaphorik der Sprache kann der Mensch schon deshalb nicht entkommen, weil die Bildung von Metaphern einem menschlichen Trieb entspricht. Selbst der Wunsch des Menschen, in der Wissenschaft eine reine und metaphernlose Sprache einzusetzen, muss an diesem Trieb zur Metaphernbildung scheitern und damit auch der Wunsch des Menschen, der Rhetorizität der Sprache zu entkommen: »Jener Trieb zur Metaphernbildung, jener Fundamentaltrieb des Menschen […] ist dadurch, dass aus seinen verflüchtigten Erzeugnissen, den Begriffen, eine reguläre und starre neue Welt als eine Zwingburg für ihn gebaut wird, in Wahrheit nicht bezwungen und nicht gebändigt. Er sucht sich ein neues Bereich seines Wirkens und ein anderes Flussbette und findet es im Mythus und überhaupt in der Kunst. Fortwenn er einen Augenblick nur aus den Gefängniswänden dieses Glaubens heraus könnte, so wäre es sofort mit seinem ›Selbstbewusstsein‹ vorbei.« 32 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 16. 33 A. a. O., KSA 5, S. 19. 34 Nietzsche, KSA 7, S. 492.
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Nietzsche
während verwirrt er die Rubriken und Zellen der Begriffe dadurch dass er neue Uebertragungen, Metaphern, Metonymien hinstellt.« 35
Indem die in der Sprache natürlicherseits gebildeten Metaphern nicht mehr im Bewusstsein ihrer Metaphorizität eingesetzt werden oder diese sogar negiert wird, wird eine Sprache begrifflicher Fixierungen geschaffen, die in der Kunst und im Mythos Auswege sucht, um ihrer eigentlichen Metaphorizität gerecht zu werden. Ellrich weist auf einen Schwachpunkt in der Argumentation Nietzsches hin, der erst später in der Dekonstruktion bearbeitet werden wird: Wenn die Sprache ihrem Wesen nach metaphorisch ist, diesem auch nicht entkommen kann und gewollt oder ungewollt in derartigen Strukturen des Unbewussten verharrt, wird der Schritt zum bewussten Einsatz der Sprache nicht mehr oder nur noch schwer darstellbar. 36 Nietzsche selbst spricht bei der bewussten Rhetorik von einer Fortführung der unbewussten Rhetorizität der Sprache, kann damit aber auch nicht alle Aporien auflösen. 37 Ab 1875 taucht der Begriff »Rhetorik« erstaunlicherweise nicht mehr in Nietzsches Werken auf. Lacoue-Labarth deutet diesen Verlust als einen Verlust dessen, was sowieso nur vorübergehend im Denken Nietzsches eine Rolle gespielt hätte und spricht von einer »Preisgabe«, einem vorübergehenden Umweg, den Nietzsche mit der Rhetorik gegangen ist. 38 Das rhetorische Anliegen Nietzsches, so LacoueLabarth, habe sich auflösen müssen, da es in einem derartigen Ausmaß universalisiert worden wäre, dass es nicht mehr greifbar sei: »In diesem Abenteuer hat sich der ›Begriff der Rhetorik‹, kurz gesagt, verloren. Oder er hat, was auf dasselbe hinausläuft, alles angesteckt, Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, KSA 1, S. 887. Vgl. Ellrich, Der Ernst des Spiels, S. 198: »Nietzsche gelingt es nicht, einen plausiblen Übergang von den unbewussten rhetorischen Strukturen zu den bewusst und strategisch eingesetzten Kunstmitteln herzustellen. Er gelangt nicht zu der nahegeliegenden (später von den Dekonstruktivisten vertretenen) These, dass sich der bewusste und vermeintlich beherrschbare Einsatz rhetorischer Mittel im Blick auf die rhetorischen Tiefenstrukturen der Sprache als unkontrollierbarer Vorgang erweist.« 37 Vgl. Nietzsche, Werke (Kröner), Bd. 18, S. 248 f.: »Es ist aber nicht schwer zu beweisen, dass was man als Mittel bewusster Kunst ›Rhetorik‹ nennt, als Mittel unbewusster Kunst in der Sprache und deren Werden tätig waren, ja, dass die Rhetorik eine Fortbildung der in der Sprache gelegenen Kunstmittel ist, am hellen Lichte des Verstandes. Es gibt gar keine unrhetorische ›Natürlichkeit‹ der Sprache, an die man appellieren könnte: die Sprache selbst ist das Resultat von lauter rhetorischen Künsten.« 38 Vgl. Lacoue-Labarth, Der Umweg, S. 78. 35 36
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Alles ist Interpretation
er ist verschwunden, indem er sich mit allem vermischt, indem er sich ›verallgemeinert‹ hat.« 39 Das Verschwinden des Begriffs »Rhetorik« in den Jahren nach 1875 läßt sich aber auch anders erklären. So spricht etwa Bolz davon, dass die Rhetorizität der Sprache Nietzsche derart selbstverständlich und universal war, dass sie als eigener Begriff nicht mehr thematisiert werden musste, der »Begriff von Rhetorik« wich »der Rhetorik des Begriffs«. 40 Die entscheidende Frage in der Beurteilung dieses Sachverhalts ist diejenige, ob Nietzsches Verständnis von Sprache sich mit dem Verlust des Rhetorik-Begriffs verändert hat. Dies ist jedoch nicht der Fall, Nietzsche diskutiert nicht mehr die Rhetorizität der Sprache, aber er setzt sie weiterhin ein. Insofern handelt es sich bei der Entwicklung dieser Rhetorizität nicht um einen vorübergehenden Umweg im Denken Nietzsches, sondern um die Herausarbeitung eines wichtigen Fundaments, das als solches in den Jahren nach 1875 nicht mehr thematisiert werden muss und als Basis der weiteren Philosophie Nietzsches gelten kann.
14.2 Alles ist Interpretation Nietzsche beginnt sein Werk Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne mit einer Fabel. In ihr erzählt er von klugen Tieren, die auf einem abgelegenen Planeten »das Erkennen erfanden«, eine Handlung, die Nietzsche als »hochmüthigste und verlogenste Minute der Weltgeschichte« bezeichnet. 41 Diese Verlogenheit besteht in dem Versuch, mit seinem Intellekt das Weltall durchdringen zu können. Es ist ein Trieb zur Wahrheit, der, so Nietzsche, zum Selbstbetrug führen muss. In diesem Selbstbetrug erschaffen diese Tiere – gemeint sind natürlich die Menschen – die metaphorische Sprache, die dennoch nicht die Welt fassen kann, weil sie Verschiedenheit in eine nichtexistente Einheit setzen will: »Das Uebersehen des Individuellen und Wirklichen giebt uns den Begriff, wie es uns auch die
A. a. O., S. 87. Bolz, Eine kurze Geschichte des Scheins, S. 59: »Doch ist es gerade die Universalisierung der Rhetorik in Nietzsches Denken, die ihren Begriff verdrängt. Es geht ihm nämlich nicht um einen neuen Begriff von Rhetorik, sondern um die vergessene Rhetorik des Begriffs.« 41 Vgl. Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, KSA 1, S. 875. 39 40
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Nietzsche
Form gibt, wohingegen die Natur keine Formen und Begriffe, also auch keine Gattungen kennt.« 42 Damit wendet sich Nietzsche gegen eine metaphysische Philosophie, die eben genau auf diese Formen und Begriffe beharren muss. Wenn die Philosophie jedoch, so Nietzsche, notwendigerweise sprachlich verfasst ist und die Sprache ihrerseits aufgrund ihrer Metaphorik nicht in der Lage ist, eine »eigentliche Bedeutung« zu besitzen, dann bedeutet dies für die Philosophie einen Verzicht auf die Formulierung einer absoluten Wahrheit. In einem Fragment Nietzsches, das aus den Jahren 1886/87 stammt, heißt es: »Grundlösung: wir glauben an die Vernunft: diese aber ist die Philosophie der grauen Begriffe, die Sprache ist auf die aller naivsten Vorurteile hin gebaut nun lesen wir Disharmonien und Probleme in die Dinge hinein, weil wir nur in der sprachlichen Form denken – somit die ›ewige Wahrheit‹ der ›Vernunft‹ glauben (z. B. Subjekt Prädikat usw.) wir hören auf zu denken, wenn wir es nicht in dem sprachlichen Zwange tun wollen, wir langen gerade noch bei dem Zweifel an, hier eine Grenze als Grenze zu sehen. Das vernünftige Denken ist ein Interpretieren nach einem Schema, welches wir nicht abwerfen können.« 43
Die Wahrheit der Philosophie im klassisch-metaphysischen Sinne ist auf »grauen Begriffen« aufgebaut, die zwar eine »Ewigkeit« simulieren können, aber nicht besitzen. Philosophie muss mit Begriffen arbeiten, da sie zwangsläufig sprachlich verfasst ist: »Der Philosoph ist in den Netzen der Sprache eingefangen.« 44 Die Philosophie kann diese Schablone der Sprachlichkeit nicht hinter sich lassen, aber sie darf die Produkte dieser Sprachlichkeit nicht für die Wahrheit selbst halten, wie sie es allerdings aus purer Gewohnheit tut. Wenn Nietzsche schreibt, dass das vernünftige Denken »ein Interpretieren nach einem Schema« sei, dann verortet er die Arbeit der Philosophie als interpretierenden Umgang innerhalb des Sprachlich-Begrifflichen. Wenn das Erkennen selbst das Operieren mit Metaphern ist, dann muss auch die philosophische Erkenntnis ein solcher sprachlich-begrifflicher Umgang sein. Hieraus ergibt sich ein grundsätzlich interpreta-
42 43 44
A. a. O., S. 880. Nietzsche, KSA 12, S. 193 f. Nietzsche, KSA 7, S. 463.
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Alles ist Interpretation
tiver Charakter der Philosophie, wie Nietzsche in einem Fragment aus den Jahren 1885/86 vermerkt: »Der interpretative Charakter alles Geschehens. Es giebt kein Ereigniß an sich. Was geschieht, ist eine Gruppe von Erscheinungen ausgelesen und zusammengefaßt von einem interpretirenden Wesen.« 45 Und weiter: »Derselbe Text erlaubt unzählige Auslegungen: es gibt keine ›richtige‹ Auslegung.« 46 Damit, so Nietzsche in einem Fragment aus den Jahren 1886/87, ist alles Interpretation: »Thatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen.« 47 Nietzsche selbst schlägt damit nur eine mögliche Interpretation vor; es geht ihm nicht darum, eine neue Methode der Interpretation zu schaffen, so Jaspers kommentierend, sondern eine neue Haltung, mit der die Interpretation betrieben wird: »Nicht die Methode, sondern die methodische Haltung ist sein Thema.« 48 Jede Weltdeutung ist insofern Interpretation, als dass sie nicht die Wirklichkeit darstellt, sondern das subjektive Abbild dieser Wirklichkeit im Menschen: »Der Forscher nach solchen Wahrheiten sucht im Grunde nur die Metamorphose der Welt in den Menschen; er ringt nach einem Verstehen der Welt als eines menschenartigen Dings und erkämpft sich besten Falls das Gefühl einer Assimilation.« 49 Dies gilt auch für anscheinend objektive Prozesse der Natur: »Alle Gesetzmässigkeit, die uns im Sternenlauf und im chemischen Process so imponirt, fällt im Grunde mit jenen Eigenschaften zusammen, die wir selbst an die Dinge heranbringen, so dass wir damit uns selber imponiren.« 50 Nietzsche negiert in sehr radikaler Weise die Möglichkeit des Menschen, Objektives zu erkennen und Ojektivität darzustellen. Bereits die Existenz verschiedener Sprachen deutet auf die Unmöglichkeit einer objektiven Wahrheit hin. 51 Die philosophische Wahrheit ist nicht eine in der Metaphysik oder in der Wissenschaft fixierte, sondern die »Summe von menschlichen Relationen«, wie sie sich in der Metaphorik äußert: Nietzsche, KSA 12, S. 38. A. a. O., S. 39. 47 A. a. O., S. 315. 48 Jaspers, Nietzsche, S. 171. 49 Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, KSA 1, S. 883. 50 A. a. O., S. 886. 51 Vgl. a. a. O., S. 879: »Die verschiedenen Sprachen neben einander gestellt zeigen, dass es bei den Worten nie auf die Wahrheit, nie auf einen adäquaten Ausdruck ankommt: denn sonst gäbe es nicht so viele Sprachen. Das ›Ding an sich‹ (das würde eben die reine folgenlose Wahrheit sein) ist auch dem Sprachbildner ganz unfasslich und gar und gar nicht erstrebenswert. Er bezeichnet nur die Relationen der Dinge zu den Menschen und nimmt zu deren Ausdruck die kühnsten Metaphern zu Hilfe.« 45 46
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Nietzsche
»Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheit sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind.« 52
Die Verankerung in der menschlichen Subjektivität ist eine interessengeleitete; die Metaphern sind Ausdruck einer Sinneswahrnehmung, die nicht anders als durch das subjektive Interesse bestimmt sein kann: »Nicht die Dinge treten ins Bewusstsein, sondern die Art, wie wir zu ihnen stehen, das pithanon.« 53 Nietzsche bringt hier ein wörtliches Zitat von Gerber, 54 ergänzt dieses aber durch das wichtige Wort »pithanon«. Kopperschmidt kommentiert: »Diese kleine Ergänzung fungiert gleichsam als Operator, der dem Gerber-Zitat eine ganz bestimmt Deutungsrichtung gibt, indem er ihren Aussagegehalt mit der […] Rhetorikdefinition des Aristoteles und ihrem Zentralbegriff ›pithanon‹ in direkte Beziehung setzt.« 55 Rhetorik, so lehrte Aristoteles, ist ausgerichtet auf das pithanon, sie sucht zu überzeugen. Nietzsche überträgt diese Eigenschaft auf die Sprache selbst, die ebenso zu überzeugen sucht und ebenso wenig interessenlos sein kann wie die Rhetorik selbst. Analog zur Rhetorik ist die Sprache immer von der Ambition geleitet, eine Wirkung zu erzielen, auf das Umfeld, auf den Zuhörer. Diese Interessengeleitetheit ist aber nicht nur eine der Produktivität der Sprache, sondern auch der Reflexivität der Wahrnehmung, somit nicht nur aktiv, sondern auch passiv. Kopperschmidt fasst dies wie folgt zusammen: »Denn allein dieses Interesse und nicht irgendein ›Wissen über die Dinge‹ ist es, was darüber entscheidet, welche ›Merkmale‹ an den Dingen wir als für uns selektiv ausdifferenzieren (Synekdoche), welche Eigenschaften wir den Dingen aufgrund unseres ›Urteils‹ beilegen (Metonymie), über welche ›Umdeutungen‹ wir die Dinge uns vertraut machen. In den Dingen begegnen wir m. a. W. immer nur den Produkten unserer eigenen Projektionsleistungen.« 56 A. a. O., S. 881. Nietzsche, GA XVIII, S. 249. 54 Vgl. Gerber, Sprache als Kunst, Bd. 1, S. 158: »Nicht die Dinge treten ins Bewusstsein, sondern die Art, wie wir zu ihnen stehen.« 55 Kopperschmidt, Nietzsches Entdeckung der Rhetorik, S. 49. 56 A. a. O., S. 54, 52 53
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Alles ist Interpretation
Jaspers erkennt in diesem aktiv-passiven Geschehen einen epistemologischen Zirkel: »Dasein ist auslegendes Dasein und ist ausgelegtes Dasein; es wird in einem Zirkel gedacht, der sich aufzuheben scheint und doch von neuem hervortreibt.« 57 Dieses ausgelegte Dasein ist die kunstvolle Interpretation einer Welt, die nur als wahrgenommene Welt, als »Schein«, dem Betrachter offenbar wird. Die Kunst wird damit zum notwendigen Bestandteil der primären menschlichen Weltrezeption; das Leben selbst, so fasst Gerhardt zusammen, wird zum »Analogon der Kunst«. 58 Der kunstvoll-interpretative Weltzugang ist der dem Menschen einzig mögliche Weltzugang. Wie für den Menschen »alles Interpretation« ist und diese Interpretation sowohl in ihrer sprachlichen als auch nichtsprachlichen Dimension kunstvoll-metaphorisch ausgestaltet ist, sind Kunst bzw. Rhetorik als Kunst der Sprache universale Elemente der menschlichen Existenz. Nietzsches Denken stellt eine Fumdamentalkritik an der Philosophie dar, und ist deshalb selbst Philosophie. Diese Kritik betreibt er aus der Perspektive einer radikal verstandenen Sprachlichkeit des Menschen, die er rhetorisch-metaphorisch deutet. Hierbei öffnet er der Rhetorik wichtige Türen in den philosophischen Diskurs hinein, macht die Rhetorik bzw. einen durch die rhetorische Sprache verkündeten Wahrheitsanspruch aber aus philosophischer Perspektive angreifbar. Die von Nietzsche postulierte Einheit der Rhetorik mit der Philosophie führt dann zur Auflösung der Philosophie, wenn jeder philosophische Wahrheitsanspruch aufgehoben ist im Spiel der Sprache bzw. die Sprache nicht nur einzig mögliche Äußerung der Wahrheit ist, sondern die Wahrheit selbst. Gerber hatte die verschiedenen Ansätze neuhumanistischer Autoren in seinem Werk vereint. Über ihn kann Nietzsche diese Ansätze fortführen und zuspitzen. Diese Zuspitzung ist die Konzentration der Frage, welche philosophische Relevanz der Humanismus besitzen kann, der seit der Sophistik und der antiken Rhetorik die offizielle Philosophie – um mit Apel zu sprechen – als »Sprachideologie« begleitet. Indem Nietzsche die platonische Perspektive umkehrt und den Wahrheitsanspruch einer nichtrhetoriJaspers, Nietzsche, S. 294. Vgl. Gerhardt, Pathos und Distanz, S. 25: »Nur als Analogon der Kunst ist das Leben noch sinnvoll mit den historisch inzwischen unumgänglich gewordenen Erfahrungen zu verbinden. Folglich wird der Terminus der Kunst nicht diffus auf alle vitalen Prozesse angewandt, sondern die Lebensphänomene werden umgekehrt auf den Begriff der Kunst zugespitzt.«
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Nietzsche
schen Philosophie nicht nur kritisiert, sondern der Rhetorik selbst diesen Anspruch zuspricht und damit das humanistische Welt- und Menschenbild auf seine philosophische Problematik hin radikalisiert, ermöglicht er ein neues Nachdenken über die Einheit von Rhetorik und Philosophie, die auf eine gemeinsame Frage hin deutbar geworden sind, aus der sich die Notwendigkeit einer rhetorischen Philosophie ergibt.
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Grundlagen einer rhetorischen Philosophie
Es ist ein schwieriges Unterfangen, eine philosophische Wirkungsgeschichte der Rhetorik zu schreiben, weil es die Wirkungsgeschichte der Rhetorik nicht gibt, »sondern nur Wirkungsgeschichten von sehr verschiedenen Rhetorikkonzeptionen«, die danach zu beurteilen sind, so Kopperschmidt, »welche Anthropologie ihnen jeweils philosophisch zugrunde liegt«. 1 Blumenberg hat die Rhetorik nach folgenden beiden Haltungen differenziert: »Rhetorik hat es zu tun mit den Folgen aus dem Besitz von Wahrheit oder mit den Verlegenheiten, die sich aus der Unmöglichkeit ergeben, Wahrheit zu erreichen.« 2 In diese Richtung, die Geschichte der Rhetorik zu verstehen als das Ringen um den Besitz von Wahrheit und der Kritik an diesem Besitz, lässt sich auch Husserls Interpretation dieser Geschichte deuten. Husserl hat in seiner Krisis eine Version dieser Geschichte als die Geschichte moderner Wissenschaftlichkeit und des Menschen dargestellt, der sich dieser objektivierenden Deutung widersetzt. Diese Geschichte, die Husserl gesehen hat, ist die Geschichte von Rhetorik und Philosophie. Sie ist untrennbar verbunden mit der Geschichte bestimmter Geisteshaltungen und philosophischer Grundeinstellungen, die den Diskurs bestimmt haben und auch noch heute bestimmen. Die Rückführung der Geschichte auf die sie bewegenden Strukturen soll helfen, das Verhältnis von Rhetorik und Philosophie zu durchleuchten und systematisch auf die Rolle der Rhetorik für die Philosophie hin auszuarbeiten. Aus der Perspektive der Geschichte von Rhetorik und Philosophie sollen die Grundlagen einer rhetorischen Philosophie aufgezeigt werden; der Boden, auf dem eine rhetorische Philosophie möglich ist. Dabei werden Themen der Einführung dieser Untersuchung – Humanismus, Sprache – wieder aufgegriffen, aber unter veränderter 1 2
Vgl. Kopperschmidt, Das Ende der Verleumdung, S. 21. Blumenberg, Anthropologische Annäherung an die Rhetorik, S. 104.
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Grundlagen einer rhetorischen Philosophie
Fragestellung: Ging es in der Einführung um die Frage, inwiefern z. B. der Humanismus eine legitime Perspektive der Darstellung einer Geschichte von Rhetorik und Philosophie darstellt bzw. ob aufgrund des Humanismus die Rhetorik in einen philosophischen Kontext eingeordnet werden kann, geht es nun zu Beginn dieses systematischen Teils um die Frage, welche Elemente des Humanismus Grundlage einer rhetorischen Philosophie sein können bzw. über welches humanistisches oder sprachphilosophisches Fundament eine rhetorische Philosophie verfügen muss. Über diese Grundlagen muss sich eine rhetorische Philosophie verständigen und dies kann sie aus der Perspektive der gemeinsamen Geschichte und Gegenwart von Rhetorik und Philosophie.
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15. Die Geschichte von Rhetorik und Philosophie
15.1 Die Mechanismen von Separation und Zusammenführung Die lange Geschichte von Rhetorik und Philosophie ist eine Geschichte immer wiederkehrender Annäherungen und Abgrenzungen – wohlwissend, dass gerade die Abgrenzungen der Philosophie gewollt oder ungewollt rhetorischer waren, als zugegeben wurde. 1 Diese Annäherungen und Abgrenzungen funktionieren nach bestimmten Mechanismen, die in der Betrachtung der gemeinsamen Geschichte von Rhetorik und Philosophie zutage treten. Eine Analyse dieser Mechanismen ist notwendig zur Bestimmung sowohl der Beziehung dieser beiden als auch ihrer jeweiligen Identität. Am Anfang dieser Geschichte steht der Mythos und in ihm ein bestimmtes Bild der Sprache, das in der Sprache die direkte Entsprechung der wahrgenommenen Wirklichkeit erkennt und ihr somit eine ihr immanente Objektivität zuspricht. Ermöglicht oder sogar erzwungen durch die Literalisierung entstehen Rhetorik und Philosophie als Abgrenzung bzw. Weiterführung des mythischen Sprachbildes. Trotz dieses gemeinsamen Entstehensgrundes haben Rhetorik und Philosophie unterschiedliche Intentionen: Ging es der Rhetorik darum, den Menschen auf die Sprache hin zu bilden (und dies im doppelten Sinne), so suchte die Philosophie zuerst den Kosmos und dann den Menschen einer rationalen Weltdeutung zu unterziehen und auf eine neue Objektvität der Vernunft auszurichten. Indem sich die Philosophie mit Sokrates und Platon immer stärker anthropologisch ausrichtete und mit den Kriterien der Vernunft das Dasein des Menschen nicht nur ontologisch, sondern auch ethisch neu begründen wollte, musste sie in Konflikt mit der Rhetorik geraten, die 1
Vgl. Kopperschmidt, Zur Anthropologie des forensischen Menschen, S. 206 f.
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Die Geschichte von Rhetorik und Philosophie
als das zentrale Element der Bildung ebenfalls einen anthropologischphilosophischen Anspruch verkörperte. Wenn es die Aufgabe der Philosophie war, den Menschen selbst zu verstehen sowie die Welt, insofern sie auf den Menschen bezogen ist, so war die rhetorische Bildung jener Zeit aktive Philosophie, da sie den Menschen als sprachliches Wesen definierte und auf diese Sprache hin deutete und konstruierte. Diese Haltung machte die antike Rhetorik zur Begründerin des Humanismus. Dieser Humanismus stellte an sich keinen Gegensatz zur Philosophie dar, sondern war eine bestimmte Form der Philosophie, die den Menschen und seine Sprachlichkeit in den Fokus rückte und die Absolutheit einer rationalen Objektivität in Frage stellte. Entsprechend galt das, was Gorgias oder Isokrates vertraten, als »Philosophie«, als Lehre der für das menschliche Glück notwendigen Weisheit, und das, was Sokrates und Platon betrieben, indem sie die rationalen Kriterien der Deutung des Kosmos auf den Menschen anwandten, war Kritik an der bis dahin üblichen Philosophie, den Menschen unabhängig von jeder Objektivität zu deuten. Diese metaphysische Kritik erkannte in der veränderlichen Sprache nicht die Grundlage möglicher rationaler Kriterien, die völlig unabhängig von jeder menschlichen Subjektivität oder gesellschaftlichkulturellen Bedingungen Gültigkeit besitzen mussten. Das Anliegen der frühen Philosophen, hinter dem äußeren Schein der Doxa die Aletheia des Kosmos wahrzunehmen, wurde mit Sokrates und Platon auf den Menschen und seine sprachliche Doxa bezogen. Auf der einen Seite stand die Rhetorik bzw. die rhetorisch-sprachliche Philosophie eines Isokrates, der die Aletheia nicht losgelöst von der Doxa erkennen wollte, sondern diese als ein Geschehen innerhalb der Doxa sah. Alles jenseits der Doxa war für ihn Hirngespinst. Auf der anderen Seite stand Platon, der Isokrates und den Sophisten vorwarf, eine derart veränderliche und manipulativ einsetzbare Sache wie die Sprache zur Grundlage der Weltdeutung machen zu wollen und diese damit nach ausschließlich subjektiven und somit nach Platon ungültigen Kriterien auszurichten. Der Konflikt zwischen Rhetorik und Philosophie bzw. zwischen rhetorischer und metaphysischer Philosophie ist von einem unterschiedlichen Wahrheitsverständnis getragen: einerseits das Verständnis einer Wahrheit, die sich im intersubjektiv-relativen Raum entwickelt und die nur in dem Sinne objektiv ist, als dass keine andere Wahrheit neben ihr stehen kann, da sie einen gesellschaftlichen Konsens ausdrückt; andererseits eine Wahrheit, die in absolutem Sinne objektiv ist, jeder Subjektivität und Veränderlichkeit 364 https://doi.org/10.5771/9783495817773 .
Die Mechanismen von Separation und Zusammenführung
enthoben ist und einen Absolutheitsanspruch verkörpert, der jede Relativität ausschließt. Die Separation von Rhetorik und Philosophie ging von einer metaphysisch orientierten Philosophie aus, die in ihrem Absolutheitsanspruch eine rhetorische Ausrichtung auf eine sprachliche Relativität nicht tolerieren konnte. Platon hat mit seinem metaphysischen Wahrheitsanspruch ein Ideal formuliert, »ohne dessen bald hochgemute, bald verzweifelte Verfolgung die europäische Tradition nicht gedacht werden kann«, so Blumenberg, der aber einschränkend fortfährt: »Aber ebenso gilt, dass er eine Überforderung konstituierte, der die Resignationen auf dem Fuße folgten.« 2 In der römischen Philosophie – namentlich getragen durch die stoische Sprachlehre – kommt es zum Versuch, die beiden getrennten Disziplinen wieder zu vereinen; die Philosophie wird als sprachliche Disziplin aufgefasst und rhetorisiert. Diese Vereinigung wurde aus Sicht der Philosophie durch das Verschwinden der Metaphysik möglich. Die hellenistische Philosophie, sei sie epikureisch, stoisch oder skeptisch, hat sich von einem metaphysischen Denken im Sinne des Platon oder Aristoteles abgewandt. In dieser Abwendung von der Metaphysik bzw. in dem Erlöschen eines von der Metaphysik vertretenen Absolutheitsanspruchs gewinnt die Sprache als Träger der Philosophie eine neue Bedeutung und mit ihr auch die Rhetorik. Die Philosophie des Hellenismus stellt nicht mehr eine abstrakte Ontologie, sondern den Menschen und die Ethik in den Fokus. Dieser Mensch ist sprachlich verfasst und notwendigerweise ist auch das Denken über ihn sprachlich und erfordert eine tiefere Durchdringung der Sprache, ihrer Etymologie, ihrer Grammatik und ihrer Rhetorik. Die Philosophie wird rhetorisch, weil sie nur insofern relevant sein kann, als dass sie sprachlich vermittelt wird und Einfluss nehmen kann auf den consensus omnium, der eine Objektivität herstellt, die nichts mehr mit der metaphyischen Objektivität zu tun hat, sondern inhaltlich diejenige der sophistischen Doxa ist. Die Philosophie hat sich mit Platon und Aristoteles von der Rhetorik getrennt durch das Abheben auf eine Form der Objektivität, die durch die Rhetorik und ihre Bindung an die Sprache gefährdet ist. Die Wiederannäherung an die Rhetorik im Hellenismus konnte nur durch die Überzeugung geschehen, dass die von der Metaphysik angezielte Objektivität der Philosophie nicht möglich oder für den Menschen nicht relevant ist. Dieses Schema sollte sich dann im Laufe der 2
Vgl. Blumenberg, Anthropologische Annäherung an die Rhetorik, S. 106 f.
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Die Geschichte von Rhetorik und Philosophie
Geschichte fortsetzen. Die Rhetorik blieb zwar im Christentum zentraler Bestandteil des Bildungskanons, aber sie verlor im Laufe der Zeit jede Art von epistemologischer und philosophischer Bedeutung. Der Grund lag darin, dass die christliche Theologie ein metaphysisches System darstellte, für das die Rhetorik zwar sprachliche Hilfestellungen leisten konnte, aber nicht an einen Absolutheitsanspruch kratzen durfte, der die Theologie selbst konstituierte. Der Anspruch einer absoluten Objektivität war nicht mit einem Denken vereinbar, das in einer veränderlichen Sprache einen jeweils relativ-intersubjektiven Konsens anstrebte. Es ging um ewige Wahrheiten, nicht um vorübergehende Meinungen – insofern stellt das Christentum in Bezug auf die Rhetorik eine Weiterfühung oder Wiederaufnahme des Platonismus dar. 3 Es kam zu einer inhaltlichen Wiederannäherung, als die metaphysischen Wahrheiten ins Wanken gerieten. Im mittelalterlichen Universalienstreit tauchte erstmals die Frage auf, ob die Sprache wirklich in der Lage ist, die ewigen Wahrheiten auszudrücken oder ob nicht die menschliche Sprache und das Denken an das ZeitlichVeränderliche gebunden sind. Apel hat hierin die entscheidende Weichenstellung gefunden, welche bis heute grundlegend für die moderne Sprachphilosophie bzw. für die Aufspaltung der modernen Sprachphilosophie ist. 4 Die darauf folgende bzw. sich daraus ergebende Renaissance, welche eine Wiedergeburt des antiken Humanismus war und der antiken Rhetorik und Sprachlehre zu einem neuen Leben verholfen hat, war getragen von dem Gedanken, dass die alten metaphysischen Wahrheiten des Christentums verblasst sind und an ihre Stelle ein humanistisches Ideal tritt, wie es die rhetorische Antike das letzte Mal in dieser Vehemenz vertreten hat. Auch hier – wie im Hellenismus – wird das Wiedereintreten der Rhetorik in den philosophischen Diskurs durch die Schwäche des metaphysischen Systems ermöglicht. Diese Schwäche ist aber nur eine vorübergehende und so gehört auch die philosophische Relevanz der Rhetorik schnell der VerganVgl. Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, S. 9: »Die platonische Unterwerfung der Rhetorik, besiegelt durch die christliche Patristik […].« 4 Vgl. Apel, Die Idee der Sprache, S. 68: »So weist m. E. die grundlegende Spaltung alles modernen Denkens gemäß den Polen der technisch-szientifischen Exaktheit und der transzendental-hermeneutischen Tiefe der Besinnung letztlich auf eine im Ausgang des Mittelalters eingetretene Differenzierung im Verhältnis des abendländischen Menschen zum Sprachlogos zurück.« 3
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Die Mechanismen von Separation und Zusammenführung
genheit an. Schnell treten zwei neue Denksysteme in Erscheinung, die zwar im strengen Sinne nicht metaphysisch sind, aber eben auf je ihre Weise auf eine Objektivität abheben, welche der Rhetorik und der Sprachlichkeit im Diskurs keinen Raum lässt. Das eine System ist die Reformation und ihre Objektivierung der Heiligen Schrift. Die Rhetorik bekommt in der reformatorischen Theologie eine große Bedeutung zugewiesen, allerdings nicht aufgrund eines möglichen eigenen Beitrags für den theologischen Diskurs, sondern im Zusammenhang der hermeneutischen Auflösung der Heiligen Schrift. Die Bedeutung der Rhetorik in der reformatorischen Theologie ist somit eine rein funktional-dienende – wie sie das auch im Mittelalter gewesen ist. Das andere zeitgenössische System, das die Rhetorik in ihrer philosophischen Relevanz ablehnt, ist der neue Wissenschaftsbegriff, wie ihn Descartes und andere beschreiben. Auch hier wird eine Objektivität vorausgesetzt, die keinen Zugriff einer auf der schwankenden Sprachlichkeit basierenden Rhetorik erlaubt. Entsprechend führt die humanistische Kritik an dem neuen Wissenschaftsbegriff zu einer neuen Wert- und Hochschätzung der Rhetorik, die aber anfangs noch nicht in größerem Ausmaß philosophisch relevant wird. Seien es Vico im 17. Jahrhundert 5 oder die verschiedenen Autoren der Romantik oder des Neuhumanismus Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts: Immer geht es um eine fundamentale Kritik an der von der Wissenschaft postulierten Objektivitität, die schließlich in Nietzsche ihren Höhepunkt findet, indem er den Wahrheitsanspruch einer die Objektivität darstellenden Philosophie nicht nur bestreitet, sondern ihn in radikaler Form in der sprachlichen Subjektivität verankert und auf diese Weise die klassischen Verhältnisse der Philosophie, wie sie mit Platon im Streit gegen die Sophisten begonnen haben, in ihr Gegenteil verkehrt. Der in der Geschichte das Verhältnis von Rhetorik und Philosophie prägende Mechanismus wird vom Wahrheitsbegriff und von der Frage geleitet, wie und ob eine Objektivität in der Welt- und Menschendeutung möglich ist. Diejenigen Denksysteme, die auf einer
Vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 25: »Offenbar ist diese Tradition auch für das Selbstverständnis der Geisteswissenschaften von Bedeutung und im besonderen die positive Doppeldeutigkeit des rhetorischen Ideals, das nicht nur unter dem Verdikt Platons, sondern ebenso unter dem Verdikt des antirhetorischen Methodologismus der Neuzeit steht.«
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Die Geschichte von Rhetorik und Philosophie
philosophischen, theologischen oder allgemein wissenschaftlichen Objektivität aufbauen, müssen eine Rhetorik aus ihrem Diskurs ausschließen, die nicht nur auf der Basis einer veränderlichen Sprache beruht, sondern auch methodisch lehrt, diese manipulativ und damit gegen ihre eigentliche Intention einzusetzen. Der rhetorische bzw. humanistische Wahrheitsgedanke gründet in einer Objektivität, die sich in einem sich ständig verändernden intersubjektiven Kommunikationsgeschehen vollzieht, in dem, was die Antike den consensus omnium( genannt hat. In den Phasen der Geistesgeschichte, in denen die auf der absoluten, von jeder Subjektivität befreiten Objektivität aufbauenden Denksysteme geschwächt oder zumindest kritisiert wurden, wurde die Rhetorik wieder in den philosophischen Diskurs mit einer eigenständigen epistemologischen Relevanz einbezogen. Blumenberg kommentiert dieses Geschehen wie folgt: »Der philosophische Vorzug des semantischen Sachverhältnisses der Sprache hatte eine ständige Empfindlichkeit gegen die pragmatische Sprachauffassung der Rhetorik zur Folge, die nur episodisch zugunsten der Rhetorik umschlug, wenn die Begriffssprache in Formen der Scholastik ihren Sachbezug unglaubwürdig werden ließ.« 6
Eine jede philosophische Sprache, die mit einem metaphysischen Anspruch eine Wahrheit formuliert, wird im Laufe der Zeit zur Scholastik; sie erstarrt in einem Diskurs, der um sich selbst kreist, und der im Festhalten an dem gefundenen Begriff die Fähigkeit verliert, eine neue Sprache zu entwerfen. In den Phasen, in denen sich die Sprache der Philosophie nicht mehr als deckungsgleich mit der in ihr postulierten Objektivität erweist, kommt es zur Kritik eines Humanismus, der der Philosophie die Ungültigkeit der nachgewiesenen Objektivität aufzeigt und dieser Objektivität den Menschen selbst entgegenstellt. Dieser Mechanismus lässt sich in der gesamten gemeinsamen Geschichte von Rhetorik und Philosophie beobachten, auch in der Gegenwart; Scholtz spricht von einem Scheitern eines einseitigen Rationalismus, 7 Pöggeler vom Scheitern des »Programm[s], alle Wissenschaften ›methodisch‹ und Philosophie zur Wissenschaft der WisBlumenberg, Anthropologische Annäherung an die Rhetorik, S. 106. Vgl. Scholtz, Kritizismus, Hermeneutik und Wissenschaft, S. 23: »Sie gewinnen erstens an Zustimmung, weil sich der kritische Rationalismus in der Tat einseitig und in vielen Fällen als unangemessen zeigt; zweitens aber auch, weil sich allgemein in der Kultur eine Kritik an den Wissenschaften und am Rationalitätsideal bemerkbar macht.«
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Die Mechanismen von Separation und Zusammenführung
senschaften auszubilden«, 8 das zu einem Neuanfang einer rhetorischhumanistischen Orientierung der Philosophie führen würde. Dass die Rhetorik in ihrer Geschichte auch in Phasen der objektiv-wissenschaftlichen oder metaphysischen Systeme ein wichtiger und bedeutender Bestandteil der Bildung war, ist kein Widerspruch, sondern es ist zu beachten, welche Funktion die Rhetorik in diesen Phasen besessen hat, nämlich die einer Hilfsdisziplin, die dem Zwecke diente, die rhetorische Kernaufgabe der Wissensvermittlung zu erfüllen oder eine hermeneutisch-exegetische Hilfestellung zu leisten. Eine epistemologische oder weitergehend philosophische Relevanz konnte die Rhetorik in diesen Phasen nicht gewinnen. Damit erweist sich die Geschichte von Rhetorik und Philosophie nicht als eine Auseinandersetzung um die Bedeutung von Stilfragen für den philosophischen Diskurs, sondern als Auseinandersetzung um ein unterschiedliches Menschenbild. So schreibt Kopperschmidt, dass die derzeitige Rehabilitation der Rhetorik »endlich den substantiellen Gehalt wieder kenntlich [erg. macht], um den es im Dauerstreit zwischen Philosophie und Rhetorik von Anfang an ging; und welcher nicht ›bloße Stilistik und Darstellungskunst‹, sondern der Streit zwischen zwei radikal differenten Selbstbeschreibungen des Menschen« gewesen ist. 9 Diese Selbstbeschreibungen sind zu kennzeichnen einerseits als die eines Menschen, der auf eine ihm transzendente Objektivität hin gedeutet wird – sei sie religiös oder wissenschaftlich –, und anderseits als die eines Menschen, auf den hin die Wirklichkeit gedeutet wird, und der beschrieben wurde in den verschiedenen Ausformungen des Humanismus. Diese unterschiedlichen Akzente schließen sich nicht aus und bleiben sogar aufeinander verwiesen – weder konnte eine metaphysische Philosophie am Menschen vorbei entworfen werden noch konnte eine humanistische Philosophie auf einen metaphysischen Wahrheitsanspruch völlig verzichten –, dennoch sind sie als unterschiedliche Perspektiven wahrzunehmen, aus denen heraus und auf die hin Philosophie gestaltet wurde.
Vgl. Pöggeler, Dialektik und Topik, S. 305: »Dass das Programm, alle Wissenschaften ›methodisch‹ und Philosophie zur Wissenschaft der Wissenschaften auszubilden, gescheitert sei, das ist offenbar die Voraussetzung, die zur Aktualisierung des topischdialektischen Verfahrens geführt hat.« Vgl. auch Ptassek, Rhetorische Rationalität, S. 16. 9 Vgl. Kopperschmidt, Anthropologie, Sp. 1069. 8
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Die Geschichte von Rhetorik und Philosophie
15.2 Die Frage des Humanismus Die Rhetorik entstand in der Antike als die Kunst der Redegestaltung. Dennoch war sie nicht auf diese Rolle beschränkt, denn sonst hätte sie nicht diesen großen Einfluss auf das Geistesleben haben können, den sie besessen hat. Bereits der Konflikt Platons mit Isokrates und den Sophisten verweist auf die philosophische Relevanz, welche die Rhetorik besessen hat. Dieser Konflikt war keiner, der zwischen der Philosophie und einer der Philosophie externen Redekunst stattfand, sondern er war ein innerphilosophischer Konflikt, in dem es um ein bestimmtes Menschen- und Weltbild ging. Platon stieß sich an einer bestimmten geistigen Kultur, welche die Sprachlichkeit des Menschen und mit ihr den Menschen als sprachliches Wesen in den Mittelpunkt stellte – unabhängig von jeder metaphysischen Voreinstellung. Diese Kultur räumte der Rhetorik eine überragende Stellung ein, da sie mit der Bildung der Sprachlichkeit auch die Bildung des Menschen selbst zur Kunstform erhob. Die Ausrichtung auf die Sprachlichkeit des Menschen ist ein Kennzeichen des Humanismus. Ernesto Grassi hat seine Einführung in die humanistische Philosophie 10 nicht ohne Zufall untertitelt mit der Zeile »Vorrang des Wortes«. In seiner Grundlage geht der Humanismus von einem bestimmten Menschenbild aus, um das es im Folgenden gehen soll: der Mensch als sprachliches Wesen. Der Humanismus hat sich im Laufe der Geschichte auf vielfältige Weise gezeigt; entsprechend vielfältig sind – wie bereits erwähnt – die Deutungsmöglichkeiten dessen, was eigentlich der Humanismus ist. Er scheint keine eigene, greifbare philosophische Richtung darzustellen; aus sich heraus hat er keine wirkmächtige, philosophische Innovation hervorgebracht, sondern hat sich merkwürdig passiv und rezeptiv verhalten. Entsprechend schwierig ist es, den Humanismus als eigenständige, geistige Bewegung zu fassen. Das humanistische Welt- und Menschenbild, wie es historisch immer wieder zum Vorschein trat, steht nicht in der Tradition einer klassischen Philosophie, wie sie sich in ihren Anfängen in der ionischen Naturphilosophie und schließlich in den vorsokratisch-sokratischen Zugängen äußerte, die schließlich in eine metaphysische Philosophie mündeten, sondern in der Tradition der alten Weisheitslehre, wie sie etwa von den sog. »Sieben Weisen« Griechenlands vor10
Grassi, Einführung in die humanistische Philosophie, Darmstadt 1991 (2. Aufl.).
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Die Frage des Humanismus
getragen worden war. Diese Weisheitslehre hatte den Menschen im Fokus und erkannte ihr Interesse darin, das Leben des Menschen zu verbessern – sei es durch Hilfen für sein persönliches Leben, sei es durch das Aufzeigen der politisch-öffentlichen Dimension seines Daseins. In dieser Tradition suchte die Rhetorik den Menschen als sprachliches Wesen zu einem besseren Wesen zu machen, seine Existenz durch eine Verfeinerung seiner Sprachlichkeit zu verbessern. Aus dieser weisheitlich-rhetorischen Grundhaltung heraus erwies sich der Humanismus als sehr kritisch gegenüber einer Philosophie, die sich oft in Spitzfindigkeiten zu verlieren schien. Die Perspektive des Humanismus ist die konkrete Wahrheit des Menschen, nicht eine dem Menschen irgendwie übergeordnete oder externe Wahrheit. 11 Zwischen diesen beiden Wahrheitsansprüchen – dem humanistischen und dem naturalistischen – ist streng genommen keine Vermittlung möglich, da beide sowohl in ihrer Grundhaltung und ihrem ideologischen Fundament als auch in ihrer Zielrichtung divergent sind. 12 Die argumentativ auffällig defensive Haltung der humanistischen Tradition gegenüber einer metaphysischen Philosophie oder einer naturalistisch-methodischen Philosophie ist darin begründet, dass dasjenige, was der Humanismus verteidigen will, jeder Art von Argumentation enthoben ist: es ist der Mensch selbst. 13 An dieser Stelle wird auch deutlich, warum Husserls Anthropologie letztlich nicht anthropologisch ist, worauf Blumenberg hinwies: »Der Mensch ist nicht das Thema. Aber er ist die alleinige Fundstelle des Themas.« 14 Eine Philosophie ist nicht humanistisch, wenn sie zwar den Menschen zum Objekt, nicht aber zum Subjekt ihrer Erklärungen macht:
Vgl. Apel, Sprache und Wahrheit, S. 154: »Aber die ganze Geistesbewegung des sogenannten Humanismus wird in ihrem philosophischen Anliegen nur verständlich, wenn man darin das Rhetoreninteresse sieht, welches die ›Wahrheit‹ im Sinne der ›Weisheit‹ (›sapientia‹) nicht den Logikern überlassen will. Daher ihr jahrhundertelanger Kampf gegen die Spitzfindigkeiten der Dialektik […].« 12 Vgl. Nida-Rümelin, Naturalismus und Humanismus, S. 5: »Entweder ist man Naturalist oder Humanist – eine Zwischenposition gibt es nicht, ebenso wenig eine Position der Neutralität.« 13 Vgl. Schweidler, Das Uneinholbare, S. 364: »Weil das, was den Menschen zum Menschen macht, allen anderen seinesgleichen unfassbar ist, kann sich die den Menschen von allen anderen natürlichen Wesen unterscheidende Wendung seiner Verhältnisse nicht in Form von Definition und Beweis, sondern nur negativ, als Ordnung des Respekts vor der Unantastbarkeit der menschlichen Person ausdrücken.« 14 Blumenberg, Beschreibung des Menschen, S. 11. 11
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Die Geschichte von Rhetorik und Philosophie
»Im Maße des Erfolgs, den die theoretische Einstellung erzielt, macht sie ihrerseits den Menschen zum Funktionär des Ziels, das er sich gesetzt hat. Diese Funktionalisierung heißt wissenschaftliche Arbeit, heißt Forschung. In ihr verschwindet das Subjekt als individuelles, um als generelles wiederaufzutauchen. Nur die Gattung kann und soll Nutznießer der Wahrheit sein.« 15
Die wissenschaftliche Objektivierung des Menschen impliziert gleichermaßen seine Funktionalisierung wie auch die damit verbundene Auflösung als Individuum. Eine humanistische Philosophie erkennt hingegen im Menschen als einzelnen einen Wert, der nicht objektiver werden kann als der einzelne Mensch selbst. Wie eine humanistische Sprachphilosophie die Sprache auf ihre Wertigkeit und auf ihren Gehalt hin auslegt (nicht auf ihre Funktionalität oder Kausalität), wird auch das Sein des Menschen auf seine Werte hin ausgelegt – in Fortführung der antiken Weisheitslehre. Damit verfügt der Humanismus trotz aller Kritik an der Metaphysik über eine metaphysische Dimension, weiß er sich doch letztlich daran gebunden, im Menschen selbst einen »metaphysischen« Wert zu besitzen, aus dessen Auslegung der Humanismus sich selbst begreift. Diese Bindung des Humanismus an die Metaphysik greift Heidegger 1946 in seinem Brief über den »Humanismus« an. Jeder Humanismus, so Heidegger, ist metaphysisch: »Jeder Humanismus gründet entweder in einer Metaphysik oder er macht sich selbst zum Grund einer solchen.« 16 Durch diese Bindung an die Metaphysik, so Heidegger, begeht der Humanismus jedoch den gleichen Fehler wie die Metaphysik selbst, das Sein als solches nicht zu beachten. Dies gilt für den Humanismus in all seinen historischen Spielarten: »Der erste Humanismus, nämlich der römische, und alle Arten des Humanismus, die seitdem bis in die Gegenwart aufgekommen sind, setzten das allgemeinste ›Wesen‹ des Menschen als selbstverständlich voraus. Der Mensch gilt als das animal rationale. Diese Bestimmung ist nicht nur die lateinische Übersetzung des griechischen ζῷον λόγον ἔχον, sondern eine metaphysische Auslegung. Diese Wesensbestimmung des Menschen ist nicht falsch. Aber sie ist durch die Metaphysik bedingt.« 17
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A. a. O., S. 13. Heidegger, Brief über den »Humanismus«, S. 321. A. a. O., S. 322.
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Die Frage des Humanismus
Woran sich Heidegger stößt, ist das »-ismus« am »Humanismus«: »Diese Frage kommt aus der Absicht, das Wort ›Humanismus‹ festzuhalten. Ich frage mich, ob das nötig sei. Oder ist das Unheil, das alle Titel dieser Art anrichten, noch nicht offenkundig genug?« 18 In diesem »-smus« liegt die Metaphysik, die Heidegger anklagt, das Wesen des Seins und des Denkens des Seins zu beeinträchtigen. Was ist für Heidegger der wahre Humanismus? »Sinnen und Sorgen, daß der Mensch menschlich sei und nicht un-menschlich. […] Doch worin besteht die Menschlichkeit des Menschen? Sie ruht in seinem Wesen.« 19 Die Schwierigkeit tritt nun dann auf, wenn es darum geht, dieses Wesen zu bestimmen – in dieser Bestimmung wird das Humane zum metaphysischen Human-ismus. Die Bestimmung des Menschen ist abhängig von metaphysischen Aussagen. Wenn etwa der Mensch über seine Freiheit definiert wird, so führt Heidegger aus, ist diese Definition des Menschen abhängig von der Bestimmung der Begriffe »Freiheit« und »Natur«. 20 Entsprechend ist der Humanismus auf eine Metaphysik angewiesen, die dem menschlichen Sein selbst – begriffen als Ek-sistenz – entgegensteht. Damit wendet sich Heidegger ausdrücklich nicht gegen den Humanismus im Sinne des Inhumanen: »Gegen den Humanismus wird gedacht, weil er die Humanitas des Menschen nicht hoch genug ansetzt.« 21 Heidegger hält an der Sprachlichkeit des Menschen fest, diese ist sein »Haus des Seins«. Die Sprache ist »vom Sein ereignet« und als solche »Entsprechung« des Seins wahrzunehmen. 22 Damit erhält der Mensch laut Heidegger einen Auftrag, welcher der Auftrag des Humanismus ist: den Menschen auf seine Menschlichkeit hin wahrzunehmen, die sprachlich ist. Heidegger hat darin Recht, dass jede Art von Humanismus – wie jeder »-ismus«, ja wie jede Aussage – letztlich metaphysisch ist. Ein A. a. O., S. 315. A. a. O., S. 319. 20 Vgl. a. a. O., S. 321. 21 A. a. O., S. 330. 22 Vgl. a. a. O., S. 333: »Wir denken die Sprache gewöhnlich aus der Entsprechung zum Wesen des Menschen, insofern dieses als animal rationale, das heißt als die Einheit von Leib-Seele-Geist vorgestellt wird. Doch wie in der Humanitas des homo animalis die Ek-sistenz und durch diese der Bezug der Wahrheit des Seins zum Menschen verhüllt bleibt, so verdeckt die metaphysisch-animalische Auslegung der Sprache deren seinsgeschichtliches Wesen. Diesem gemäß ist die Sprache das vom Sein ereignete und aus ihm durchgefügte Haus des Seins. Daher gilt es, das Wesen der Sprache aus der Entsprechung zum Sein, und zwar als diese Entsprechung, das ist als Behausung des Menschenwesens zu denken.« 18 19
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Die Geschichte von Rhetorik und Philosophie
Humanismus bzw. eine humanistische Philosophie kann auf die Metaphysik gar nicht verzichten, da jede philosophische Aussage letztlich auf einen »-ismus« hinausläuft. Heidegger hat Recht in seiner Wahrnehmung und seiner Kritik am metaphysischen Wesen des Humanismus, vergisst allerdings, dass es bei dem Sprechen von Werten der Humanitas nicht nur darum geht, diese Werte auf ihre mit der Metaphysizität zusammenhängenden Unzulänglichkeiten gegenüber dem Sein der Humanitas selbst zu verweisen, sondern auch darum, überhaupt Werte zu beschreiben und die Humanitas so auf neue sprachliche Weise konkret zu machen.
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16. Der Humanismus
Aus der Betrachtung der Mechanismen, welche die Geschichte von Rhetorik und Philosophie bestimmt haben, ergibt sich eine innere Struktur des Humanismus, die auf zwei Fragestellungen hin zu betrachten ist: zum einen auf die Frage hin, worin sich diese Struktur von derjenigen Struktur unterscheidet, die ihr im Laufe der Geschichte immer wieder entgegengetreten ist und die in den aktuellen Debatten als »Naturalismus« gefasst wird. Der Naturalismus wird als historischer und vor allem systematischer Gegenspieler des Humanismus begriffen. Wie der Humanismus ein konstruierter Begriff ist, der sehr heterogene Elemente in sich birgt, ist auch der Naturalismus eine begriffliche Zusammenführung sehr verschiedener Denkrichtungen, denen es um die Suche nach Objektivität, um metaphysische Setzungen und um die Beschreibung einer Methodologie geht. Zum anderen ist zu untersuchen, inwiefern die Hermeneutik als im engeren Sinne philosophische Weiterführung des Humanismus eine bestimmte Art des Verstehens für ihre eigene Arbeit voraussetzt. Sowohl die innere Struktur des Humanismus, wie sie sich in der Geschichte gezeigt hat, als auch die in der Hermeneutik formulierte Art des Verstehens, das dem Humanismus zugrunde liegt, bildet das Fundament einer rhetorischen Philosophie.
16.1 Humanismus – Naturalismus Der Humanismus wurde im Laufe der Geschichte immer wieder sichtbar als Kritik an einer bestimmten Geisteshaltung, welche die Erkenntnis an den nichtveränderlichen Gesetzen der Natur und der Logik festmachen wollte. Dieser »Naturalismus« ist genauso wenig einheitlich wie der Humanismus; wie dieser wird er definierbar durch eine bestimmte Geisteshaltung, die sich in verschiedenen Ausfor-
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Der Humanismus
mungen manifestiert hat. 1 Sellars definierte den Naturalismus wie folgt: »Wenn es um die Beschreibung und Erklärung der Welt geht, sind die Naturwissenschaften das Maß aller Dinge.« 2 Die Parallele zu Protagoras und seiner Aussage »Der Mensch ist das Maß aller Dinge« ist sicherlich nicht zufällig und signifikant für den Unterschied zwischen Naturalismus und Humanismus. Die in diesen Zitaten formulierte Gegenüberstellung ist in dieser Ausschließlichkeit nicht existent: Weder verzichtet der Humanismus auf jede Logik noch kann der Naturalismus den Menschen missachten. Der Unterschied ist ein perspektivischer: Der Humanismus schaut vom Menschen aus auf die Natur, der Naturalismus von der Natur aus auf den Menschen. Beide Perspektiven sind philosophisch legitim, aber es sind eben unterschiedliche Perspektiven. Aus diesen unterschiedlichen Blickwinkeln heraus ergeben sich auch unterschiedliche Argumentationsweisen bzw. unterschiedliche Weisen der Verdeutlichung der eigenen Anliegen. Der Naturalismus zielt auf die methodisch begründbare Erkenntnis der Welt, dem Humanismus hingegen geht es um eine nachträgliche Begründung dessen, was bereits vorhanden ist: der besonderen Rolle des Menschen, die sich in seiner Sprache und seiner Kultur äußert. Scholtz hat den Unterschied beschrieben als denjenigen, »wissenschaftlich etwas von der Kultur zu wissen« oder »Kultur zu haben«, und definiert den Konflikt der »Humanisten« mit den »Szientisten« des 16. Jahrhunderts wie folgt: »Diese kämpften für die modernen Naturwissenschaften, die anderen verteidigten die Studia humanitatis.« 3 Hieraus ergibt sich der vielbeobachtete Unterschied, dass eine naturalistisch-methodisch orientierte Philosophie im Laufe der historischen Auseinandersetzungen innovativer erschien als die humanistischen Denker, denen es nicht um Innovation, sondern um die Verteidigung eines bestimmten Wertekanons ging und die daher im direkten Vergleich merkwürdig blaß und konservativ wirkten. Es ging dem Humanismus nicht um die Entdeckung des Neuen, sondern um die Durchdringung des bereits kulturell Existenten, des Menschen, wie er ist. Kurthen illustriert die Differenz von Humanismus und Naturalismus anhand des antiken Begriffspaares physis und techne.( Die Vgl. Sukopp/Vollmer (Hg.), Naturalismus: Positionen, Perspektiven, Probleme. Sellars, Science, Perception and Reality, S. 173. Vgl. auch Holderegger u. a., Humanismus, S. 12. 3 Scholtz, Kritizismus, Hermeneutik und die Wissenschaften der Kultur, S. 24. 1 2
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Humanismus – Naturalismus
physis, so Kurthen, ist dasjenige, »was etwas seiner eigenen Tendenz nach ›von sich aus‹ (geworden) ist«, demgegenüber die techne dasjenige ist, was »durch äußere (menschliche) Intervention in der Form, in der es nun ›ist‹ hervorgebracht wurde«. 4 Der Naturalismus strebt nach Erkenntnis, nach der Durchdringung der physis; demgegenüber strebt der Humanismus danach, das, was der Mensch an Kultur hervorgebracht hat, zu durchdringen und weiterzugeben. Kurthen weist hier auf einen wichtigen Unterschied der techne zur physis hin, der Konsequenzen für die humanistische Durchdringung der techne hat: »Was aber das Künstliche eigentlich ausmacht, ist nicht der Akt der ›Verfertigung‹, sondern vielmehr dieser Bruch mit den glatten, rein faktualen und insofern ›natürlichen‹ Abläufen, ein Bruch oder Riss, eine Spaltung oder Dehiszenz, deren Herbeiführung ein spezifisch unnatürlicher Akt ist.« 5
Die humanistische Argumentation kann nicht wie der Naturalismus einer strengen Methodik folgen, weil ihr Objekt nicht das Resultat eines natürlich erklärbaren Vorgangs ist und daher methodisch-rational nicht vollständig aufgelöst werden kann. Hieraus ergibt sich das Desinteresse oder sogar die klare Kritik des Humanismus an einer Methodik, die sie zu einem aus der Perspektive des Naturalismus gleichberechtigen Diskussionspartner machen würde. 6 Den Prozess der Entwicklung einer (Geistes-)Wissenschaft aus dem Humanismus heraus beschreibt Scholtz anhand des techne-Begriffs in drei Schritten, die er als »Reflexion anthropologisch veränderter kultureller Tätigkeiten des Menschen« bezeichnet. Diese drei Schritte bestehen in einer bestimmten lebensweltlichen Praxis, die dann zur Kunstlehre, techne,( kultiviert wird und schließlich wiederum als Kunstlehre sich von der Praxis absondert und diese epistemologisch zu durchdringen sucht. 7 Die humanistischen Wissenschaften erwachsen aus der kulturellen Praxis und wirken auf diese zurück. Auch hier ist ihnen ein Vgl. Kurthen, Naturalistischer Humanismus?, S. 73. A. a. O., S. 73 f. 6 Vgl. Grondin, Hermeneutik, Sp. 1351 f.: »Ferner hatten Rhetorik und Hermeneutik denselben Kampf gegen einen einseitigen, methodenorientierten Wissenschaftsbegriff zu bestreiten, wenn auch aus verschiedenen Gründen.« 7 Vgl. Scholtz, Zwischen Wissenschaftsanspruch und Orientierungsbedürfnis, S. 32 f. Vgl. auch Scholtz, Kritizismus, Hermeneutik und die Wissenschaften der Kultur, S. 34 f.: »Auf der Basis des durch Sitte und Gewohnheit eingeübten Verhaltens bilden sich zuerst ›Kunstlehren‹ heraus, die praktische Schwierigkeiten bewältigen helfen und die lebensweltliche Praxis zur techne, ars, zur ›Kunst‹ umgestalten. Sodann aber 4 5
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Der Humanismus
reflexiver Grundzug zu eigen, der sie – im Vergleich zu den Naturwissenschaften – in ihrer Argumentation defensiv erscheinen lässt. In dem Augenblick, in dem der Humanismus die Methoden der Naturwissenschaften auf ihre Inhalte bezieht, ist er nicht mehr humanistisch: Er löst sich von der kulturellen Praxis und nimmt eine Theoretisierung vor, die auch nicht mehr in direkter Weise auf die Praxis zurückwirken kann. Der Umgang mit der Sprache wird zur Sprachtheorie, Rhetorik und Dichtung als die Praxis der Sprache verschwinden aus dem wissenschaftlichen Kanon. 8 Der antike physis-Gedanke lässt sich aber noch in anderer und tiefgehenderer Weise als von Kurthen geschildet zur Erläuterung des Humanismus heranziehen, und zwar nicht über den Gegensatz physis-techne, sondern über den Gegensatz physis–nomos. Im Unterschied zu Kurthen geht es hier weniger um den Gegensatz von Natur und Kunst, sondern um die Betrachtung der Natur selbst bzw. die Auslegung des Seinsbegriffs auf seine Natürlichkeit hin. Schadewaldt hat den physis-Gedanken »die wohl genialste griechische Seinsvision« 9 genannt und wie folgt beschrieben: »Es ist die Konzeption, dass alles, was an Erscheinungen um uns herum sich andrängt, verstanden werden kann als eine einzige, zusammenhängende, große, lebendige Form des Waltens.« 10 Wenn das Sein nicht auf eine metaphysische Setzung (»nomos«) hin ausgelegt wird, sondern auf seine Gewachsenheit, auf seine Entwicklung und auf seine Lebendigkeit, dann besitzt dieses Sein – auf seine Sprachlichkeit hin gedeutet – etwas, das sich sowohl dem methodischen Zugriff als auch einer allgemeingültigen Definition widersetzt. Die Vorsokratiker haben diese Struktur des Waltens als die grundlegende Struktur des Seins zu erkennen gesucht (Heraklit: »Die Natur liebt es, sich zu verbergen«, DK 123), Nietzsche und Heidegger haben diesen Gedanken in ihrer Metaphysikkritik aufgegriffen und in dieser physis das Sein ausgemacht, das es gegenüber der von Platon dominierten Philosophiegeschichte zu behaupten gilt. 11 Wo Metaphysik und Naturalismus den nomos des Seins erkennen und festsetzen wollen, erkennt der Humanismus in der physis das Sein als etwas in seiner Gewachsenheit Vorhandenes kann sich die Reflexion auch von bestimmten Handlungszielen abkoppeln und die Bereiche der Kultur in vielfältiger Weise zum Gegenstand des Wissens machen.« 8 Vgl. Nate, Rhetorik und der Diskurs der Naturwissenschaften, S. 110 f. 9 Vgl. Schadewaldt, Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen, S. 201. 10 A. a. O., S. 203. 11 Vgl. Angehrn, Der Weg zur Metaphysik, S. 122.
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Humanismus – Naturalismus
an, das sich der methodischen Auflösung entzieht. Entsprechende Anklänge finden sich immer wieder in der Geschichte des Humanismus, man denke nur an Herders Beschreibung der Sprache als Organismus oder an Gadamers Sprechen davon, dass das Erkennen keine Methode, sondern ein Geschehen sei. Das »Rhizom«-Modell von Deleuze und Guattari bietet die moderne Fortsetzung des alten physisGedankens. Ein Rhizom (gr. ῥίζωμα, »Wurzel«) verweist auf die Gewachsenheit und Verflochtenheit des Seins, das der Logik als »Baum des Wissens« entgegengestellt wird. 12 Der Humanismus fußt auf einem Welt- und Menschenbild, das sich nicht bestimmten wissenschaftlichen Theorien verdankt, sondern im Gegenteil darum weiß, dass die Theorien einem bestimmten Weltund Menschenbild entspringen. 13 Auf diese Weise ist der Humanismus in seinem Abheben auf den Menschen als das »Maß aller Dinge« verankert in der faktischen Existenz des Menschen. Grassi fasst diesen Vorgang wie folgt zusammen: »Die menschliche Welt entsteht für die Humanisten nicht aus philosophischen Theorien, die auf Grund einer rationalen Ableitung aus ersten Prinzipien und Gründen entstehen, sondern aus einem sich verwirklichenden, ingeniösen Akt, der immer mit der konkreten Situation konfrontiert wird: Ablehnung also des Vorranges einer abstrakten Philosophie und des traditionellen Begriffs wissenschaftlichen Denkens.« 14
Die Philosophie als Reflexion einer Weltdeutung folgt auf eine bereits vorhandene, nichtreflektierte Weltdeutung – die auch als nichtreflektierte Erfahrung eine erkenntnistheoretische Position darstellt. 15 Während der Naturalismus die Lücken und Missverständnisse der nichtreflektierten Weltdeutung offenlegen will, weiß der Humanismus um die bleibende Abhängigkeit der Reflexion vom Reflektierten, die nicht völlig aufzulösen ist. Apel erkennt in diesem Wissen um die »präreflexive Welttopik« den Kern des Humanismus: »Die (präreflexive) Welttopik der Umgangssprache ist früher als die (reflexive) Kritik der Sprache durch die rein logische Semantik. Genau dies war die Kernthese der geheimen Philosophie des Humanismus.« 16 12 13 14 15 16
Vgl. Deleuze/Guattari, Rhizom, Berlin 1977. Vgl. Gross, The Rhetoric of Science, S. 203. Grassi, Die Macht der Phantasie, S. XVIII. Vgl. Wendel, Die Grenzen des Naturalismus, S. 76 f. Apel, Sprache und Wahrheit, S. 156.
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Der Humanismus
Die Erkenntnisse, welche Naturalismus und Humanismus anzielen, sind unterschiedlicher Natur. Frege hat sein sprachphilosophisches Anliegen wie folgt definiert: »Ich verstehe unter dem Wahrheitswerte eines Satzes den Umstand, daß er wahr oder falsch ist.« 17 Ähnlich Carnap, ebenfalls ein Wegbereiter der analytischen Philosophie: »Ein Satz besagt nur das, was an ihm verifizierbar ist. Daher kann ein Satz, wenn er überhaupt etwas besagt, nur eine empirische Tatsache besagen.« 18 Der Naturalismus zielt auf die Richtigkeit einer Aussage und sucht methodisch das offenzulegen, was der Folgerichtigkeit einer Aussage widerspricht oder für sie nicht relevant ist – wie etwa die Dichtung. 19 Die Anlehnung an eine naturwissenschaftliche Methodik führt schließlich folgerichtig dazu, Inhalte des Geistigen erklärbar machen zu müssen, auf seine neurophysiologischen Zustände hin zu analysieren und auf diese Weise in einem absoluten Sinne objektiv erklären zu wollen. 20 Der Gehalt, um den es dem Naturalismus in seiner Analyse der Sprache geht, ist ein anderer als im Humanismus. Frege stellte fest: »Ob ich das Wort ›Pferd‹ oder ›Roß‹ oder ›Mähre‹ gebrauche, macht keinen Unterschied im Gedanken. Die behauptende Kraft erstreckt sich auf das, wodurch sich diese Wörter unterscheiden. Was man Stimmung, Luft, Beleuchtung in einer Dichtung nennen kann, was durch Tonfall und Rhythmus gemalt wird, gehört nicht zum Gedanken.« 21
Frege kann behaupten, dass durch die Ausdrücke »Pferd« oder »Mähre« ein identisches Tier gemeint ist. Die Differenziertheit des sprachlichen Ausdrucks ist für ihn gleichgültig und für den Gehalt des Gedankens nicht relevant. Dies wird aus humanistisch-hermeneutischer Perspektive bezweifelt, denn auch wenn sich die verschiedenen Ausdrücke auf einen identischen Gegenstand beziehen, drücken sie sehr Frege, Über Sinn und Bedeutung, S. 30. Carnap, Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache, S. 236. 19 Vgl. Frege, Der Gedanke, S. 63. »Was man Geisteswissenschaften nennt, steht der Dichtung näher, ist darum auch weniger wissenschaftlich als die strengen Wissenschaften, die umso trockener sind, je strenger sie sind; denn die strenge Wissenschaft ist auf die Wahrheit gerichtet und nur auf Wahrheit. Alle Bestandteile des Satzes also, auf die sich auf die behauptende Kraft nicht erstreckt, gehören nicht zur wissenschaftlichen Darstellung.« 20 Vgl. Bieri, Analytische Philosophie des Geistes, S. 38: »Mentale Zustände und Ereignisse sind Zustände und Ereignisse, wie die Neurophysiologie sie zum Gegenstand hat.« 21 Frege, Der Gedanke, S. 63. 17 18
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Humanismus – Naturalismus
wohl etwas Unterschiedliches aus und sind auch in dieser Differenziertheit Teil des Gedankens. Eine humanistisch-hermeneutische Philosophie verneint die Möglichkeit, dass es einen Gedanken ohne die von Frege abgelehnte Färbung geben könnte. Gleichermaßen weiß eine humanistisch-hermeneutische Philosophie darum, dass eine Äußerung nie auf sich selbst zu reduzieren ist, wie insbesondere Judith Butler herausgestellt hat: »Der Sprechakt sagt immer mehr oder sagt es in anderer Weise, als er sagen will.« 22 Eine Äußerung, so Butler weiter, ist nicht nur Produkt des Subjekts, da diese sich »zugleich von etwas anderem herleitet«. 23 Damit kann das Subjekt nicht vollständig im Besitz seiner eigenen Äußerung sein. 24 In eine ähnliche Richtung geht auch Bertram mit seinem Projekt einer »antireduktionistischen Sprachphilosophie«, die er mit dem Anliegen anfertigt, im Gefolge der Postanalytik und der Dekonstruktion gegen die Versuche einen Gegenakzent zu setzen, die Sprache auf eine bestimmte Methode oder einen bestimmten Zugang »reduzieren«. 25 Angehrn verweist darauf, dass nur ein Teilbereich des geistigen Lebens des Menschen ausgedrückt werden kann: »Wir können in einer noch so genauen Untersuchung des Gehirns nicht sehen, was das Subjekt sieht.« 26 Angehrn weist auf eine Differenzierung hin, die für eine naturalistischanalytische Philosophie nicht relevant ist: Auf der einen Seite steht der Mensch in seiner Abhängigkeit von der Natur, philosophisch beschreibbar in einer Methodik, die den Menschen in dieser Abhängigkeit auslegt; auf der anderen Seite hat sich der Mensch von dieser Abhängigkeit gelöst, ist vielleicht erst Mensch durch diese Herauslösung aus der Abhängigkeit. Entsprechend blickt die humanistische Philosophie auf diesen Aspekt des Menschseins, der sich der totalen Verfügbarkeit eines methodischen Naturalismus widersetzt. 27 Im Gegenteil gewinnt eine humanistische Philosophie ihre Dynamik erst Butler, Haß spricht, S. 22. Vgl. a. a. O., S. 29. 24 Vgl. a. a. O., S. 55: »Obgleich das Subjekt zweifellos spricht und es kein Sprechen ohne Subjekt gibt, übt das Subjekt nicht die souveräne Macht über das aus, was es sagt.« 25 Vgl. Bertram, Die Sprache und das Ganze, S. 19 f. 26 Angehrn, Das Bild des Menschen zwischen Hermeneutik und Naturalismus, S. 24. 27 Vgl. Angehrn, Das Bild des Menschen zwischen Hermeneutik und Naturalismus, S. 21: »Die Frage ist nicht, wieweit wir den Menschen in Kategorien des Natürlichen oder Materiellen beschreiben sollen, sondern wieweit es dem Menschen in der Tat gelungen ist, sich aus der Natur zu befreien. […] Dass sich menschliche Verhältnisse reibungslos mit Methoden objektivierender Naturwissenschaften vermessen und re22 23
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Der Humanismus
durch den Gegensatz zu einer naturalistischen oder auch metaphyischen Vereinnahmung des Menschseins. Diese Dynamik, so führt Grassi aus, entspringt der Erfahrung des konkreten Lebens, die letztlich die Erfahrung der menschlichen Sprachlichkeit ist. 28 Hetzel verweist darauf, dass eine naturalistisch-sprachpragmatische Analyse der Sprache gerade die »pragmatischen« Dinge entziehen würde, indem diese auf »außersprachliche, mentale soziale und logische Gründe reduziert« würde. 29 Wie der Naturalismus beim Verstandenen oder zu Verstehenden ansetzt, so setzt der Humanismus bei dem faktisch Vorhandenen an, dem Menschsein, wie es sich kulturell darbietet, und damit auch bei dem Nichtverstandenen und Nichtverständlichen. Die Hermeneutik hat genau in dieser humanistischen Perspektive ihren Ausgangspunkt. Damit ist es nicht Aufgabe und auch nicht Wille des Humanismus, die Erkenntnisse der Wissenschaften in Zweifel zu ziehen. Blumenberg formulierte es sehr prägnant: »Wer den Positivismus bevorzugt, lebt ärmlich, wer sich von ihm entfernt, gefährlich.« 30 Eine humanistische Philosophie erkennt ihre Aufgabe nicht in der Ablehnung von Wissen oder metaphyischen Ansprüchen, sondern im Umgang mit ihnen. Der Humanismus betrachtet die Sprachlichkeit des Menschen als den Akt, der den Menschen als solchen konstituiert. Damit besitzt die Sprachlichkeit einen ihr immanenten Wert, weil sie der Ausdruck des Menschseins schlechthin ist. Demgegenüber analysiert der Naturalismus die Sprache auf ihre Fähigkeit hin, einen bestimmten Inhalt vermitteln zu können. Benjamin beschreibt diesen unterschiedlichen Zugang zur Sprache wie folgt: »Es ist fundamental zu wissen, dass dieses geistige Wesen sich in der Sprache mitteilt und nicht durch die Sprache. […] Das geistige Wesen ist mit dem sprachlichen identisch, nur insofern es mitteilbar ist.
gulieren lassen, kann auch Symptom für das Maß sein, in dem sie noch Natur sind, in dem die Entwicklung zur Mündigkeit nicht zu ihrem Ende gekommen ist.« 28 Vgl. Grassi, Rhetorischer Humanismus, S. 160. 29 Vgl. Hetzel, Wirksamkeit der Rede, S. 68. 30 Blumenberg, Beschreibung des Menschen, S. 481. Vgl. ebd.: »Die Philosophie kann die Erkenntnissituation nicht ändern. […] Sie ist in gewisser Weise das, was man bilanztechnisch einen Erinnerungsposten nennt. Sie hält Fragen aufrecht, die weder in einer Disziplin der institutionalisierten Wissenschaft noch in der vermeintlich interdisziplinären Kommunikation gestellt werden.«
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Humanismus – Naturalismus
Was an einem geistigen Wesen mitteilbar ist, das ist sein sprachliches Wesen.« 31
Der Humanismus nimmt das »geistige Wesen« des Menschen als Bezugspunkt seines Denkens. Dieses geistige Wesen ist nicht dasjenige, das durch die Sprache mitgeteilt wird und die Sprache als ihr Werkzeug benutzt, sondern dasjenige, das sich in der Sprache mitteilt. Die naturalistische Deutung der Sprache als Mittel oder Werkzeug stellt die Frage, ob die Sprache eine bestimmte Sache einem bestimmten Adressaten angemessen vermittelt hat. Diese Frage ist für den Humanismus zweitrangig, die Sprache ist primär Äußerung seines Wesens und damit, so Benjamin weiter, prinzipiell unabhängig vom Adressaten. 32 Liebrucks kommentiert Cassirer dahingehend, dass das Sprechen von der grundsätzlichen Sprachlichkeit des Menschen durchaus deutbar sei als Einführung eines metaphysischen Prinzips. An diese Deutung schließt er eine Charakterisierung der naturalistischen Sprachphilosophie an: »Es handelt sich hier um den Versuch der Einführung jenes überalterten metaphysischen Prinzips, das noch von jeher die Einheit vor der Mannigfaltigkeit sah. Augenblicklich, so entgegnen wir, treibt dieses Prinzip seine höchsten Blüten in den Naturwissenschaften hervor. Dort wird nur dasjenige als Gegenstand anerkannt, was sich in einer systematischen Einheit von Sätzen, Formeln, also von durch Modellvorstellungen und Experimenten hindurch gewonnenen Zeichen fügt. Die Struktur der Sprachlichkeit ist dagegen die Bedingung der Gesellschaftlichkeit und Geschichtlichkeit des Menschen anzusehen. Wird das auch nur in Ansätzen eingesehen, so ist darin schon gezeigt, dass es sich hier nicht um die Einheit eines Prinzips handeln kann, da Sprachlichkeit übergeschichtlich-geschichtlich ist.« 33
Die von der Sprachanalytik erkannten Strukturen, so Liebrucks, sind nicht geeignet, die Sprache zu erklären, weil diese Strukturen selbst Benjamin, Über Sprache überhaupt, AW 3, S. 116. Vgl. a. a. O., S. 118 f.: »Wer da glaubt, der Mensch teile sein geistiges Wesen durch die Namen mit, der kann wiederum nicht annehmen, dass es sein geistiges Wesen sei, das er mitteile. […] Und er kann wiederum nur annehmen, er teile eine Sache anderen Menschen mit, denn das geschieht durch das Wort, durch das ich ein Ding bezeichne. Diese Ansicht ist die bürgerliche Auffassung der Sprache. […] Sie besagt: Das Mittel der Mitteilung ist das Wort, ihr Gegenstand die Sache, ihr Adressat ein Mensch. Dagegen kennt die andere kein Mittel, keinen Gegenstand und keinen Adressaten der Mitteilung.« 33 Liebrucks, Sprache und Bewusstsein, Bd. 1, S. 396. 31 32
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Der Humanismus
sprachlich sind. Sie sind nicht im postulierten Sinne objektiv, da sie Produkte der Geschichte sind. Jede Deutung der Sprache ist damit selbst geschichtlich und so nicht in der Lage, die Sprache auf einen letztgültigen theoretischen Gehalt hin zu interpretieren. Ähnlich äußert sich auch Cassirer in seiner Charakterisierung der naturalistischen Sprachbetrachtung: »Sie betrachten die Sprache wesentlich nach ihrem theoretischen Gehalt: nach ihrer Stellung im Ganzen der Erkenntnis und nach dem, was sie für den Aufbau der Erkenntnis leistet.« 34 Demgegenüber erkennt der Humanismus die Sprache nicht auf ihre Vermittlungsfähigkeit hin, sondern als Ausdruck eines Wesens oder einer bestimmten Emotionalität: »Je mehr indessen der Begriff der ›Subjektivität‹ […] sich weitet und vertieft – je deutlicher aus ihm eine neue, wahrhaft universelle Auffassung der Spontaneität des Geistes erwächst […], um so entschiedener muss jetzt auch in der Leistung der Sprache ein anderes Moment hervorgehoben werden. Die Sprache scheint gerade […] nicht lediglich repräsentatives Zeichen der Vorstellung, sondern emotionales Zeichen des Affekts und des sinnlichen Triebes zu sein.« 35
Während der Naturalismus die Sprache auf ihre kommunikative Fähigkeit bzw. Unfähigkeit hin betrachtet und den Wert des sprachlichen Ausdrucks danach bemisst, ob er in der Lage ist, den gewünschten Gehalt dem Adressaten zu vermitteln, deutet der Humanismus die Sprache vorrangig als Äußerung, d. h., unabhängig von der Logik oder Schlüssigkeit ist die Sprache Äußerung eines Menschen, der in dieser Äußerung etwas von seinem Wesen oder seiner Emotionalität mitteilt – bewusst wie unbewusst. Der Naturalismus sieht in der Sprache das Kommunikationsmittel, der Humanismus die Kommunikation selbst. Beide Deutungsmöglichkeiten der Sprache sind legitim; die Frage, die sich jedoch mit Blick auf die naturalistische Deutung der Sprache stellt, ist diejenige, wie sie deutlich machen kann, sich nicht auf eine argumentationstheoretische oder linguistische Fragestellung zu beschränken. Der Umgang mit der Sprache entscheidet darüber, was eigentlich »Philosophie« ist und eine naturalistische Sprachanalyse muss deutlich machen, worin ihr philosophisches »Mehr« besteht, das über die linguistische Analyse hinausgeht.
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Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1, S. 88. Ebd.
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Hermeneutik
16.2 Hermeneutik Verstehen als Geschehen In seiner Einleitung zu Wahrheit und Methode schreibt Gadamer: »Verstehen und Auslegen von Texten ist nicht nur ein Anliegen der Wissenschaft, sondern gehört zur menschlichen Welterfahrung insgesamt. Das hermeneutische Phänomen ist ursprünglich überhaupt kein Methodenproblem.« 36 In diesen Zeilen deutet Gadamer zwei Grundlagen hermeneutischen Verstehens an: Zum einen ist die Hermeneutik eine Weiterführung verstehender alltäglicher Welterfahrung; zum anderen ist sie zwar nicht methodenfeindlich, aber in ihrer Entstehung zumindest methodenunabhängig, als dass ihr Entstehensgrund nicht das Streben nach einer methodischen Erkenntnis war. Gadamer war nie glücklich über den Titel seines Hauptwerkes Wahrheit und Methode, da es ihm in seiner Hermeneutik nicht um eine Methode der Wahrheitsfindung ging, sondern um das nachvollziehende Verstehen der menschlichen Welterfahrung. Er stellte sein Werk sehr bewusst in den Kontext der Geisteswissenschaften und der humanistischen Tradition. In den Jahren 1936 bis 1959 hielt er immerhin siebenmal eine Vorlesung über die Einleitung in die Geisteswissenschaften, deren Inhalt schließlich die Basis für Wahrheit und Methode darstellte. 37 Gadamer stellt klar, dass die Hermeneutik keine der Naturwissenschaft entgegenstehende, eigene Methodik entwerfen will (»Es gibt keine eigene Methode der Geisteswissenschaften« 38), wie es noch Dilthey und anderen vorschwebte, sondern es geht um ein Verstehen, das sich eng anlehnt an das, was die humanistische Tradition vermittelte und sich damit als Weiterführung des klassischen Bildungsbegriffs verstehen lässt: »Was die Geisteswissenschaften zu Wissenschaften macht, lässt sich eher aus der Tradition des Bildungsbegriffes verstehen als aus der Methodenidee der modernen Wissenschaft. Es ist die humanistische Tradition, auf die wir zurückverwiesen werden. Sie gewinnt im Widerstand gegen die Ansprüche der modernen Wissenschaft eine neue Bedeutung.« 39
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Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 1. Vgl. Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, S. 153. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 13. A. a. O., S. 23.
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Der Humanismus
Gadamer will in seiner Hermeneutik etwas wiedergewinnen, was er verloren sieht. Die humanistische Tradition, so stellt er fest, sei verkümmert. 40 Um den hermeneutischen Neuanfang Gadamers zu verstehen, muss man verstehen, warum diese Tradition verkümmert ist und wie er diesen Schritt rückgängig machen will. Gadamer identifiziert den Sieg der naturwissenschaftlichen Methodik über die Geisteswissenschaften mit Kant und seiner ästhetischen Kritik. Gadamer nimmt sich die verschiedenen humanistischen Kulturgüter vor und weist nach, dass diese ihre wichtige erkenntnistheoretische Funktion verloren hätten, da sie zur bloßen Ästhetik verkommen wären: »Was Kant seinerseits durch seine Kritik der ästhetischen Urteilskraft legitimierte und legitimieren wollte, war die subjektive Allgemeinheit des ästhetischen Geschmacks, in der keine Erkenntnis des Gegenstandes mehr liegt.« 41 Womit begründet Gadamer die vergangene erkenntnistheoretische Funktion der humanistischen Bildungsgüter? Er geht dies u. a. am Beispiel des »Geschmacks« durch. Dieser vermittelt eine Erkenntnis, insofern er ein »geistiges Unterscheidungsvermögen« 42 darstellt, das Dinge wahrnimmt und einordnet: »Es folgt daraus, daß der Geschmack etwas erkennt – freilich auf eine Weise, die sich nicht vom konkreten Anblick, an dem er sich vollzieht, ablösen, auf Regeln und Begriffe bringen lässt. Genau das ist es offenbar, was die ursprüngliche Weite des Begriffs des Geschmacks ausmacht, daß durch ihn eine eigene Erkenntnisweise bezeichnet wird. Er gehört in den Bereich dessen, was in der Weise der reflektierenden Urteilskraft am Einzelnen das Allgemeine, dem es zu subsumieren ist, erfasst. Geschmack wie Urteilskraft sind Beurteilungen des Einzelnen im Hinblick auf ein Ganzes.« 43
Indem der Geschmack ein Wissen vermittelt, welches das Eine in den Zusammenhang des Ganzen stellt, ist er Träger von Erkenntnis. Dies gilt für sämtliche humanistischen Bildungsgüter: »Kunst ist Erkenntnis und die Erfahrung des Kunstwerks macht dieser Erkenntnis teil-
Vgl. a. a. O., S. 29. Vgl. a. a. O., S. 47. Vgl. ebd.: »Die radikale Subjektivierung, die Kants Neubegründung der Ästhetik einschloß, hat so wahrhaft Epoche gemacht. Indem sie jede andere theoretische Erkenntnis als die der Naturwissenschaft diskreditiere, hat sie die Selbstbesinnung der Geisteswissenschaften in die Anlehnung an die Methodenlehre der Naturwissenschaften gedrängt.« 42 Vgl. a. a. O., S. 43. 43 Ebd. 40 41
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Hermeneutik
haftig.« 44 Die Aufgabe der Hermeneutik ist es nun, diese Erfahrung zu vermitteln und damit eine Dimension des Erkennens wiederzuerwecken, die durch die Fixierung auf den Naturalismus zu verkümmern droht. Diese Art des Erkennens setzt sich vom Naturalismus dadurch ab, dass sie keine Methode, sondern ein Geschehen ist: »Wir hatten gezeigt, daß das Verstehen nicht so sehr eine Methode ist, durch die sich das erkennende Bewusstsein einem von ihm gewählten Gegenstande zuwendet und ihn zu objektiver Erkenntnis bringt, als vielmehr das Darinstehen in einem Überlieferungsgeschehen zur Voraussetzung hat. Verstehen erwies sich selbst als ein Geschehen, und die Aufgabe der Hermeneutik besteht, philosophisch gesehen, darin zu fragen, was das für ein Verstehen was für einer Wissenschaft ist, das in sich selbst vom geschichtlichen Wandel fortbewegt wird.« 45
Das Verstehen ist kein objektiver Akt des Subjekts, sondern ist ein Geschehen an ihm. Diese Aussage bildet für Gadamer den Kern dessen, worum es ihm in seiner Hermeneutik geht. Entsprechend sollte sein Hauptwerk Wahrheit und Methode eigentlich den Titel »Verstehen und Geschehen« tragen. 46 Das Verstehen ist weder eine Objektivität, die sich in autarker Unveränderlichkeit vollzieht noch eine Leistung des Subjektiven, sondern ein Geschehen, das sich am Subjektiven vollzieht und in diesem Geschehen selbst eine Wahrheit hervorbringt. Gadamer entzieht das Verstehen der Aufsicht des Methodischen und ordnet es ein als ein sich ständig veränderndes Teilnehmen am Gespräch mit dem bereits Verstandenen und der Fortführung dieses Gespräches als erfahrende Teilhabe. Dieses Geschehen ist nicht völlig regellos, sondern orientiert sich ständig an der bereits gefundenen und erfahrenen Wahrheit. Das Schlagwort »Verstehen A. a. O., S. 103. A. a. O., S. 314. Vgl. auch a. a. O., S. 104 f.: »Es kommt also darauf an, die Erfahrung der Kunst so zu sehen, dass sie als Erfahrung verstanden wird. Die Erfahrung der Kunst soll nicht in ein Besitzstück ästhetischer Bildung umgefälscht und damit in ihrem eigenen Anspruch neutralisiert werden. Wir werden sehen, dass darin eine weitreichende hermeneutische Konsequenz liegt, sofern alle Begegnung mit der Sprache der Kunst Begegnung mit einem unabgeschlossenen Geschehen und selbst ein Teil des Geschehens ist.« 46 Vgl. Gadamer, Die Kehre des Weges, S. 75: »So komme ich selber immer wieder auf meine eigene Orientierung zurück, die bis in die Konzeption meines eigenen Buches zu spüren ist, das ich ehedem statt mit dem Titel ›Wahrheit und Methode‹ anfänglich mit dem Titel ›Verstehen und Geschehen‹ zu exponieren geplant hatte. Es ist eben nicht unser Tun so sehr, als das, was mit uns geschieht, wenn uns das Denken den Weg des Denkens führt.« 44 45
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Der Humanismus
und Geschehen« kennzeichnet den Verstehensprozess als ein ständiges Sich-neu-Einfügen und Sich-neu-Verhalten und relativiert auf diese Weise den Anspruch der Naturwissenschaften, die diese Fluidität der Erkenntnis gerade zu überwinden suchen. Gadamer betonte immer wieder, dass es nicht darum ging, eine Hermeneutik als eine Methode zu entwerfen. Die Dekonstruktion setzt diesen Weg der Hermeneutik mit einem ähnlichen Selbstverständnis fort. Gadamer selbst hat diese Parallelität von Hermeneutik und Dekonstruktion erkannt. 47 Beide verstehen sich als ein Geschehen am Text, als eine bestimmte Art des Umgangs mit der Tradition. Derrida schrieb davon, in seiner Dekonstruktion »kein System« geschaffen zu haben, »sondern eine Art offenes strategisches Dispositiv«. 48 Damit folgt auch Derrida der humanistischen Grundeinstellung, die sich auch in der Hermeneutik ausgedrückt hat: nicht aus einer Methode heraus auf die Humanität zu blicken, sondern auf die Humanität selbst zu blicken und von ihr aus die Bedingungen der Methodik zu hinterfragen.
Reflexivität Das hermeneutische Verstehen lässt sich als ein Gespräch fassen. Dies drückt nicht nur die Fluidität des Verstandenen aus, sondern auch die Notwendigkeit des Gesprächspartners. Die Hermeneutik vollzieht sich als den verstehenden Rückbezug dessen, was von jemandem wahrgenommen wird. Gadamer nennt das Verstehen dieses Rückbezugs seinen philosophischen Anspruch: »Nicht, was wir tun, nicht, was wir tun sollten, sondern was über unser Wollen und Tun hinaus mit uns geschieht, steht in Frage.« 49 Die Frage der Hermeneutik ist nicht die Aufklärung dessen, was getan wird, sondern dessen, was Vgl. Gadamer, Hermeneutik auf der Spur, S. 148: »Das Thema der Dekonstruktion fällt gewiß in den Bereich der Hermeneutik. Man darf sich unter Hermeneutik nur keine bestimmte Methode vorstellen […]. Hermeneutik beschreibt vielmehr den gesamten Bereich zwischenmenschlicher Verständigung. Bei meinen eigenen Arbeiten ist wahrlich nicht von Wissenschaften die Rede. Das gleiche dürfte wohl Derrida von Dekonstruktion sagen, dass er die Einengung durch die Methode gerade überwinden will. Das verbindet uns.« 48 Vgl. Derrida, Punktierungen, S. 26 f. 49 Gadamer, Vorwort zur 2. Aufl., S. 438. 47
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Hermeneutik
einem geschieht. Damit ist die Hermeneutik von ihrem Grund her passiv-reflexiv, sie ist die verstehende Anwendung dessen, was sich darbietet und damit gebunden an das, was sich darbietet: »Verstehen ist immer Auslegung, und Auslegung ist daher explizite Form des Verstehens.« 50 Während der Naturalismus das Verstehen als aktivprogressiven Erkenntnisakt des Subjekts anhand objektiver Kriterien begreift, ist das humanistisch-hermeneutische Verstehen das passive Verstehen dessen, was sich dem Subjekt darbietet: »Die Grundlage unseres Verstehens und Beschreibens der Welt liegt nicht im subjektiven Erkenntnis- und Darstellungsvermögen, sondern in der Erkennbarkeit der Sache selbst.« 51 Diese Passivität, so führt Ricœur aus, konstituiert sogar das Subjekt, das erst im Augenblick des Erkennens zu sich selbst findet. Ricœur hat diesen Gedanken in seiner »Hermeneutik des Selbst« entfaltet: Nicht die pure Selbstpräsenz des Subjekts, das ich (»je«), sondern das reflexive mich (»moi«) erschafft die Subjektivität. 52 Die Hermeneutik blickt zum einen auf dieses sinnstiftende Geschehen der Subjektivität, aber auch auf das Gespräch mit dem Gegenüber, auf das Sprechen und Gehörtwerden, das Erkenntnis und Verständigung schafft. Während die Hermeneutik im Feld der Personalpronomina auf die ersten beiden Personen blickt, ist die Perspektive des Naturalismus bzw. der Naturwissenschaft diejenige der 3. Person: die neutrale Beobachterperspektive, die sich nicht in das Gespräch hineinbegibt. Auf diese Weise erfüllt diese Perspektive eine wichtige korrigierende Funktion für die Hermeneutik, darf jedoch auch nicht verabsolutiert werden, da ihr Blickwinkel trotzdem ein anderer bleibt. Der Grundzug der Hermeneutik ist passiv-rezeptiv; er kennzeichnet das Verstehen als den nachträglichen Vollzug dessen, was wahrgenommen wird. Die grundsätzliche Reflexivität der Hermeneutik ist jedoch nicht in dem bloßen Nach-Denken des Wahrgenommenen begründet, sondern in der »unaufhebbaren Differenz«, welche die Hermeneutik immer zu überwinden sucht, aber nicht überwinden kann. 53 Dennoch lässt sich die Hermeneutik nicht auf Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 312. Angehrn, Das sprechende Wesen, S. 393. 52 Vgl. Ricœur, Das Selbst als ein Anderer. 53 Vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 301: Dass das nachkommende Verstehen der ursprünglichen Produktion gegenüber eine prinzipielle Überlegenheit besitzt […], beruht nicht so sehr auf der nachkommenden Bewusstmachung, die zur Gleichstellung mit dem Urheber führt (wie Schleiermacher meinte), sondern be50 51
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Der Humanismus
ihre Reflexivität und Reproduktivität reduzieren: Indem sie das Aufgenommene versteht und re-kontstruiert, ist ihr auch eine Produktivität zu eigen: »Daher ist Verstehen kein nur reproduktives, sondern stets auch ein produktives Verhalten.« 54 Autoren wie Abel und Lenk haben diesen hermeneutischen Akzent der Rückbezüglichkeit und Reproduktivität zugunsten einer stärkeren Betonung der Interpretation im Verstehensprozess kritisiert. 55 Verstehen, so Abel und Lenk, ist vorrangig Konstruktion und Interpretation. Die Dekonstruktion setzt den konträren Akzent, indem sie die Nachgängigkeit des Verstehens betont: Nicht die Konstruktion und die Produktion, sondern das Arbeiten am bereits Konstruierten ist der Kern dekonstruktiven Verstehens. 56 Damit verschärft und radikalisiert die Dekonstruktion den hermeneutischen Akzent des auflösend-reflexiven Zugangs zur Wirklichkeit und ordnet ihm die produzierend-konstruierende Dimension des Verstehens unter. Die Praxis der Dekonstruktion – wie sie Derrida betrieben hat – ist ein Sich-Anlehnen an die Literatur, eine opération textuelle, die in der Lektüre den philosophischen Vollzug erkennt. Trotz dieses »parasitären« Grundzugs der Dekonstruktion löst sie sich nicht in der Leküre auf, sondern will sich in den bereits bestehenden Diskurs »einschreiben« und ihn fortsetzen. Hermeneutik und Dekonstruktion verstehen sich nicht als Methode, sondern als verstehenden Umgang mit dem, was sich dem Erkennenden darbietet, und sind damit in ihrer Grundstruktur aufnehmend-reflektiv; erst im zweiten Schritt entfalten sie ihre Produktivität – immer unter der Prämisse der Nachträglichkeit. 57 Die hisschreibt im Gegenteil eine unaufhebbare Differenz zwischen dem Interpreten und dem Urheber, die durch den geschichtlichen Abstand gegeben ist.« 54 Ebd. 55 Vgl. Abel, Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus; Sprache, Zeichen, Interpretation. Vgl. auch Lenk, Interpretationskonstrukte. 56 Vgl. Angehrn, Interpretation und Dekonstruktion, S. 135 f.: »Dekonstruktion ist nicht erstes Anfangen, sondern Zurückkommen, auflösend-neubildendes Anschließen an schon vollzogene Konstruktionen. Nicht das Schreiben, sondern die Lektüre ist hier unser originärer Umgang mit Sinn. […] Insofern setzt Dekonstruktion immer schon auf zweiter Stufe an, als ein reflexives, re-interpretierendes Verstehen, das eine vorgängige Auslegung revidieren, eine vorgängige Sinnbildung neu konstellieren will.« 57 Vgl. Schulz, Anmerkungen zur Hermeneutik Gadamers, S. 311: »Geschichte, Sprache, Gespräch und Spiel: all dies sind – das ist das Entscheidende – vertauschbare Größen. Zwischen ihnen gibt es keinen Bedingungszusammenhang mehr. Ihr gemeinsames formales Merkmal ist nichts anderes als ›rückbezügliche Bewegtheit‹.«
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Hermeneutik
torische Beobachtung einer merkwürdigen Passivität des Humanismus hat in dieser Grundstruktur ihre Wurzel bzw. die Grundstruktur der Hermeneutik und der Dekonstruktion ist die Weiterführung der humanistischen Passivität. Ging es dem Humanismus um die Weitergabe und Durchdringung der kulturellen Tradition, so verfolgen auch Hermeneutik und Dekonstruktion das Anliegen, in der Durchdringung die Basis des Verstehens der kulturellen Tradition zu schaffen.
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17. Die Metaphorik
Die Metaphorik war spätestens mit Aristoteles zentraler Bestandteil der rhetorischen Lehre. Mittlerweile ist die Metaphorik zu einem der ganz großen Themen der modernen Philosophie geworden, das kaum noch überschaubar zu sein scheint. Eine Philosophie, die den Anspruch hat, eine rhetorische zu sein, muss zu ihrer eigenen Grundlegung klären, welche Funktion die Metaphorik in ihr besitzt, und auf diese Weise einen eigenen Rahmen definieren, in dem sich das weitere Gespräch über die Metaphorik bewegt bzw. in dem sich eine rhetorische Philosophie in die aktuelle Diskussion einbringen kann.
17.1 Die metaphorische Bewegung Die von Nietzsche betriebene Renaissance der Rhetorik in der Philosophie ist abhängig von seinem Sprachverständnis. Indem er der Sprache einen grundsätzlichen metaphorischen Charakter zuspricht, macht er die Rhetorik zur treibenden Kraft der Philosophie. Die philosophische Relevanz der Metapher ist bis heute umstritten. IJsseling unterscheidet drei verschiedene Standpunkte, die in dieser Diskussion vertreten werden: 1 zum einen die radikale Trennung metaphorischfigürlichen und exakt-wörtlichen Gebrauchs der Sprache, welche jede Art sprachlicher Übertragung für den wissenschaftlich-philosophischen Diskurs ablehnt. Dann – in Anlehnung an Novalis oder Hölderlin – die Hochschätzung der metaphorisch-poetischen Sprache, die über jede Art wissenschaftlichen Gebrauchs der Sprache hinausgeht, da sie in der Lage ist, das den Menschen Bewegende auszudrücken. Schließlich die Autoren (Gerber, Nietzsche), welche der Sprache einen grundsätzlich metaphorischen Charakter zusprechen und für die eine Unterscheidung von eigentlicher und uneigentlicher Sprache 1
Vgl. IJsseling, Rhetorik und Philosophie, S. 167 f.
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Die metaphorische Bewegung
nicht sinnvoll ist. Das eine Extrem besteht in der völligen Ablehnung metaphorischer Sprache und dem ausschließlichen Bezug auf die »eigentliche« Sprache; das andere Extrem im Hinweis, dass es diese eigentliche Sprache nicht gebe, sondern jede Sprache metaphorisch sei. Beide Extreme haben sich philosophisch als nicht haltbar erwiesen. So sucht beispielsweise Frege jede Art des Metaphorischen als »Verfärbung« 2 zu verbannen, da sie keinen Beitrag zum Inhalt einer Erkenntnis liefern würde, muss aber eingestehen, dass das Metaphorische in seiner Vermittlungsfunktion unverzichtbar ist – nicht nur im Sinne einer Erleichterung, sondern sogar einer Ermöglichung der Erkenntnis. 3 Zum anderen ist zu fragen, ob die Annahme einer prinzipiellen Metaphorik der Sprache nicht den Begriff des Metaphorischen auflöst. Wenn nach Aristoteles das Metaphorische zu definieren ist als eine semantische Verschiebung vom Eigentlichen zum Uneigentlichen, so ist diese Bewegung in der beschriebenen Weise nur durch die Existenz des Eigentlichen möglich. Heidegger schreibt in Der Satz vom Grund: »Die Vorstellung von ›übertragen‹ und von der Metapher beruht auf der Unterscheidung, wenn nicht gar Trennung des Sinnlichen und Nichtsinnlichen als zweier für sich stehender Bereiche. Die Aufstellung dieser Scheidung des Sinnlichen und Nichtsinnlichen, des Physischen und Nichtphysischen ist ein Grundzug dessen, was Metaphysik heißt. […] Das Metaphorische gibt es nur innerhalb der Metaphysik.« 4
Die Metapher, so Heidegger, ist nur denkbar zusammen mit der Metaphysik; sie entsteht dort, wo sie sich gegenüber der eigentlichen Bedeutung eines Wortes abgrenzt. Heidegger deutet die Überschreitung der Metaphysik und der Metaphorik als eine identische Übertragung: Die Schaffung des Übersinnlichen in der Metaphysik ist der gleiche Vorgang wie die Schaffung des Bildlichen in der Metaphorik. Ricœur bezweifelt diese Gleichsetzung 5 und will das Verhältnis »Eigentlich«-»Uneigentlich« neu bedenken und damit auch das, was eigentlich eine Metapher ist. Er wirft Heidegger vor, mit seiner Metaphorik an einem metaphysischen System festzuhalten, indem er Vgl. Frege, Sinn und Bedeutung, S. 31: »Diese Färbungen und Beleuchtungen sind nicht objektiv, sondern jeder Hörer und Leser muss sie selbst nach den Winken des Dichters oder Redners hinzuschaffen.« 3 Vgl. Frege, Der Gedanke, S. 63. Vgl. Keil, Kritik des Naturalismus, S. 252 f. 4 Heidegger, Der Satz vom Grund, S. 88 f. 5 Vgl. Ricœur, Die lebendige Metapher, S. 257 f. 2
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Die Metaphorik
zwischen dem wörtlichen und dem bildlichen Sinn unterscheide. Dabei, so Ricœur, handelt es sich jedoch um die »Illusion, derzufolge die Worte an sich selbst einen eigentlichen, also ursprünglichen, natürlichen, originären (etymon) Sinn haben«. 6 Diese Illusion wird von beiden Seiten genährt, derjenigen, die auf das Wörtlich-Eigentliche abhebt und derjenigen, welche das Metaphorische als Verschiebung von diesem Eigentlichen definiert. Beides sind bloße Interpretationen: »Die Unterscheidung zwischen dem Wörtlichen und dem Metaphorischen existiert nur aufgrund des Konfliktes zwischen zwei Interpretationen: die eine, die nur Werte verwendet, die schon lexikalisch erfasst sind, scheitert an der semantischen Impertinenz; die andere, die eine neue semantische Pertinenz setzt, fordert von dem Wort eine Drehung, die seinen Sinn verschiebt. So genügt eine bessere semantische Analyse des metaphorischen Prozesses, um die Mystik des ›Eigentlichen‹ zu zerstreuen, ohne dass damit zugleich auch das Metaphorische verschwände.« 7
Wie kann jedoch die »Mystik des Eigentlichen« zerstreut werden, ohne dass das Metaphorische sich auflöst, das ja als Verschiebung von diesem Eigentlichen definiert ist? Ricœur nennt Derrida, einen Auszug aus dessen »weißer Mythologie«: Dort schreibt dieser, es sei die Grundlage jeder Philosophie, »die alleinige These der Philosophie«, »[…] dass der durch diese Figuren angestrebte Sinn bezüglich dessen, was er transportiert, ein auf rigorose Weise unabhängiges Wesen sei«. 8 Das, worauf es den Metaphern ankommt, ihr Sinn, ist etwas, das von diesen »auf rigorose Weise« unabhängig ist. Es gibt damit etwas, worauf sich die Metaphorik in ihrer Begriffsbildung bezieht, sie hängt nicht im luftleeren Raum, sondern die bei Aristoteles beschriebene Bewegung, die epiphora, ist jeder Metapher inhärent: »Metaphorisch von der Metapher zu sprechen, ist keineswegs zirkulär, wenn die Begriffssetzung dialektisch aus der Metapher selbst hervorgeht. Indem daher Aristoteles die Metapher durch die Epiphora des Wortes definiert, wird der Ausdruck Epiphora begrifflich durch seine Einfügung in ein Bedeutungsnetz gekennzeichnet. […] Die Epiphora wird somit ihrer Metaphorizität entrissen und zum eigentlichen Sinn konstituiert.« 9
6 7 8 9
Vgl. a. a. O., S. 267. A. a. O., S. 268. Derrida, Die weiße Mythologie, S. 248. Ricœur, Die lebendige Metapher, S. 271.
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Die metaphorische Bewegung
Der metaphorische Begriff stellt – wie bereits bei Aristoteles definiert – in seiner Entstehung eine Verschiebung dar. In dieser Verschiebung gibt es auch das, was traditionell als das »Eigentliche« bezeichnet wird und das Aristoteles das »Übliche« genannt hat. Dieses Eigentliche ist jedoch keine feste Verbindung eines Wortes mit seinem Sinngehalt oder ein festes metaphysisches System, sondern nur existent durch das Vorhandensein einer Metapher. Der Sinn haftet einem Wort nicht fest an, sondern entsteht jeweils in seinem metaphorischen Gebrauch, der eine Abweichung von einem Eigentlichen ist, das es nur in der metaphorischen Schöpfung gibt. Ricœur spricht von einem »Bedeutungsnetz«: Die Metapher ist Metapher nicht durch eine Verschiebung von einem unabhängig von ihr existierenden »Eigentlichen«, sondern von einem »Eigentlichen«, das abhängig von ihr ist und um diese ein »Bedeutungsnetz« bildet, dem es paradoxerweise seinen Ursprung verdankt. Derrida erläutert dieses Netz wie folgt: »Jedesmal, wenn eine Rhetorik eine Metapher definiert, schließt diese nicht nur eine Philosophie, sondern ein begriffliches Netz mit ein, innerhalb dessen die Philosophie sich konstituiert. Überdies bildet jeder Faden in diesem Netz eine Wendung (tour), eine Metapher, könnte man meinen, wenn dieser Begriff hier nicht zu weit hergeholt wäre. Das Definierte ist also im Definierten der Definition mit eingeschlossen.« 10
Jede Metapher ist von einem Netz von Deutungen umgeben. Die Philosophie, so Derrida, existiert nur in diesem Netz, das aus den Fäden der einzelnen Metaphern geknüpft ist. Indem sie das Deutungsgeschehen vorantreibt, erzeugt sie neue Metaphern, ohne allerdings die bisherigen Metaphern einer endgültigen Deutung unterziehen zu können: »Eine allgemeine Taxonomie der Metaphern – der philosophisch genannten Metaphern im besonderen – würde also voraussetzen, daß die wichtigen Probleme, zuallererst jene, die das Gerüst der gesamten Philosophie in ihrer Geschichte bilden, gelöst seien.« 11
Derrida, Die weiße Mythologie, S. 249. A. a. O., S. 247. Vgl. auch a. a. O., S. 247 f.: »Einerseits ist es unmöglich, die philosophische Metaphorik als solche von außen in den Griff zu bekommen, indem man sich eines Metaphernbegriffs bedient, der ein philosophisches Produkt bleiben wird. […] Andererseits aber, aus dem gleichen Grund, bringt sich die Philosophie um das, was sie sich gibt. Indem ihre Werkzeuge ihrem Bereich angehören, ist sie außerstanden, ihre allgemeine Tropologie und Metaphorik zu beherrschen.« Vgl. auch Derrida, Die Schrift und die Differenz, S. 29. 10 11
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Die Metaphorik
Die von Ricœur und Derrida beschriebene Bewegung des Metaphorischen löst den bisherigen scharfen Gegensatz des metaphorisch Uneigentlichen zum metaphysisch Eigentlichen auf zugunsten einer sich im Metaphorischen selbst vollziehenden Bewegung. Die Metapher ist nicht eine Verschiebung des Eigentlichen, sondern, so Richards in seiner Philosophy of Rhetoric, das »allmächtige Prinzip der Sprache«. 12 Die Grenze des Uneigentlichen zum Eigentlichen wird in die Metapher selbst hineinverlegt. Damit werden die Metaphysik als das Eigentliche und die Metapher als die Bewegung zum Uneigentlichen immer wieder neu in gegenseitiger Abhängigkeit konstituiert. Metaphysik und Metaphorik werden somit zu zwei Polen einer fortwährend sich neu vollziehenden Bewegung der Sprache, für die beide gleichermaßen unverzichtbar sind. Das Ziel der Philosophie in diesem Netz der Metaphern ist nicht die Metaphorik selbst – das unterscheidet sie von der Poesie –, aber indem sie sich ausdrückt und auf etwas Eigentliches zielt, spricht sie uneigentlich und metaphorisch. In der Frage, ob und inwiefern die Sprache grundsätzlich metaphorisch ist, wird eine wichtige Grundsatzentscheidung über die Philosophie getroffen: Ist die Sprache metaphorisch bzw. ist eine nichtmetaphorische Sprache unmöglich, so wird auch die Philosophie selbst in ihrer Sprache als rhetorisch-metaphorisch wahrgenommen; wird die Metaphorik der Sprache bezweifelt, so zielt die Philosophie einen Ausdruck an, der jede Art von Metaphorik hinter sich lässt bzw. es wird versucht, jede Metaphorik der sprachlich-philosophischen Tradition aufzulösen. 13 Dieses Geschehen einer humanistischen Sprachphilosophie, die Sprache auf ihre Metaphorik hin zu deuten, ist deshalb kein endloser Regress, weil es für die philosophische Deutung einen festen Bezugspunkt gibt: die Metapher selbst, der konkrete metaphorische Begriff, der mit anderen Metaphern zusammen das Geflecht bildet, in dem sich die Philosophie bewegt. Diese Metapher ist nur Metapher durch den Bezug zu dem, was in ihr übertragen wird. Vor diesem HinterVgl. Richards, The Philosophy of Rhetoric, S. 92. Vgl. IJsseling, Rhetorik und Philosophie, S. 180: »Die Philosophen, die eine rhetorische Komponente ihrer besonderen Sprechweise überhaupt in Abrede stellen, werden auch die Metapher ablehnen und die Möglichkeit einer nicht-metaphorischen Philosophie behaupten. Diejenigen dagegen, die erkennen, dass jedes philosophische Sprechen von zahlreichen rhetorischen Elementen durchzogen ist, werden geltend machen, dass man der Metaphorik niemals vollständig entraten kann.«
12 13
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Die metaphorische Bewegung
grund ist auch die Differenzierung des Eigentlichen vom Uneigentlichen zu sehen. Das Uneigentliche der Metapher bleibt auf das Eigentliche bezogen. So schreibt Jaspers: »Aber schon im Metaphorischen ist der Mensch doch auf Eigentliches gerichtet. Zu jedem Gleichnis gehört auch ein Wesen.« 14 Die Unterscheidung von Eigentlich-Uneigentlich ist damit eine, die in dem jeweiligen schöpferischen Sprachvorgang relativ zu ihrem Ursprung bzw. zum Gemeinten ist: »Diese Unterscheidung aber ist nur eine relative. Worte mit eigentlicher Bedeutung sind solche, bei deren Gebrauch das Bewusstsein ihres metaphorischen Charakters verlorengegangen ist.« 15 Dieser Verlust kennzeichnet auch das Geschehen, das nach Blumenberg zur Metaphysik und dann wieder zur Metaphorik führte: »Metaphysik erwies sich uns oft als beim Wort genommene Metaphorik; der Schwund der Metaphysik ruft die Metaphorik wieder an ihren Platz.« 16 Die bildhaft-metaphorische Sprache wird da zur Metaphysik, wo die einzelnen Bilder nicht mehr als Bilder erkannt werden, sondern zu einem neuen »Eigentlichen« werden, das zum Bezugspunkt der Auslegung wird. Indem aber diese verfestigen Bilder – die Begriffe der Metaphysik – ihre Festigkeit verlieren, indem sie durch die weitere sprachlich-historische Entwicklung immer angreifbarer werden, erwacht in der Sprache eine neue Metaphorik bzw. drängt die Philosophie zu einem neuen Bewusstsein der ihrer eigenen Sprache innewohnenden Metaphorik. Die Metaphorik der Sprache macht die Rhetorik, die Schöpferin von Metaphern, »zur Königin aller Dinge«. Aber diese »Herrschaft«, so führt Kopperschmidt aus, ist selbst nur metaphorisch: »So führt denn die Dialektik der Sprache über die rhetorische Reflexion zurück auf jenen Punkt, auf den die römische Rhetorik hinzielte, nämlich die Rede als die Königin aller Dinge zu etablieren. Aber sie ist ›nur‹ metaphorisch Königin. Also ist sie auch nicht omnipotent, sondern sie regiert, wie die Sprache auch, stets unter dem Schutz der Figürlichkeit und beherrscht ihrerseits die Form, um auf diesen, dem einzigen Weg der stets drohenden Gewalt zu wehren.« 17
14 15 16 17
Jaspers, Von der Wahrheit, S. 399. A. a. O., S. 398. Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, S. 193. Mainberger, Rhetorica II, S. 297.
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Die Metaphorik
Wie die Metaphorik der Sprache eine relative ist, die konstituiert wird durch die bleibende Verwiesenheit des Uneigentlichen auf das Eigentliche bzw. der Übertragung vom Übertragenen, so ist auch eine humanistische Philosophie, die sich ihrer hermeneutischen und rhetorischen Dimension bewusst ist, eine relative, die um ihre bleibende Bezogenheit auf einen metaphysischen Grund verweist, der sich allerdings – so betont die Dekonstruktion – dem definitiven und »eigentlichen« Zugriff ständig neu entzieht.
17.2 Logik und Analogik Der historische Konflikt zwischen Philosophie und Rhetorik, damit der Konflikt um die epistemologische Einordnung der Rhetorik, war abhängig von der Einschätzung der Sprache, der »Idee«, die man von der Sprache hatte: Ist die Sprache eine technisch-szientifische Größe im Sinne der Logik oder eine historisch-humanistische Größe im Sinne der Analogik? 18 Die humanistische Kritik an einem logischen Sprachverständnis tritt, so Gottfried Gabriel, »in zwei Formen auf, als skeptischer Zweifel an der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt oder als Zweifel an dem Erkenntniswert des logischen Denkens«. 19 Dahinter, so führt Gabriel weiter aus, steht jedoch »ein größerer Rahmen«: »Es ist nicht der propositionale Wahrheitsbegriff allein, der die Rhetorik gegen die Logik aufbringt, sondern die Tendenz, Erkenntnis mit der
Vgl. Apel, Die Idee der Sprache, S. 14: »Aus heutiger Sicht könnte man von dem Gegensatz des technisch-szientifischen Arbeitsbegriffs und des humanistischen Bildungsbegriffs der Sprache reden – ein Gegensatz, der sich bei genauerem Zusehen auch als Wurzelgrund der erkenntnistheoretischen Spannung zwischen exakter (mathematischer) Naturwissenschaft und hermeneutischer (an die geschichtliche Umgangssprache gebundener) Geisteswissenschaft erweist.« 19 Vgl. Gabriel, Logik und Rhetorik der Erkenntnis, S. 19: »Das Aufbegehren der Rhetorik gegen die Logik äußert sich auf allen diesen Ebenen. Es tritt dabei in zwei Formen auf, als skeptischer Zweifel an der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt oder als Zweifel an dem Erkenntniswert des logischen Denkens. Bezweifelt wird im ersten Fall, dass formale Schlüsse allgemeingültig, Urteile wahr und Begriffe bestimmt sein können. Behauptet wird im zweiten Fall, dass formale Schlüsse unergiebig seien, urteilendes Denken zu beschränkt sei und abstrakte Begriffsbildungen der Wirklichkeit nicht gerecht zu werden vermögen.« 18
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Logik und Analogik
Wahrheit von Aussagen gleichzusetzen; denn damit ist Erkenntnis auf die Form der Propositionalität festgelegt.« 20
Während das logisch-rationale Sprachverständnis, das von einem propositionalen Wahrheitsbegriff ausgeht, all das als epistemologisch wertlos zu verbannen sucht, was dieser Propositionalität nicht entspricht, beharrt die Kritik an diesem Sprachverständnis darauf, dass diese beanspruchte Propositionalität überhaupt nicht möglich ist. Im Brennpunkt steht die Möglichkeit der Integration der Sinnlichkeit: In welchem Verhältnis steht die Wahrnehmung der Sinnlichkeit zu den Begriffen des Verstandes bzw. inwiefern kann diese Teil eines logischrationalen Sprachverständnisses sein? Frege sucht diese Sinnlichkeit aus dem Denken zu verbannen, bezeichnet sie als »Verunreinigungen« oder »Verfärbungen«: »Diese Färbungen und Beleuchtungen sind nicht objektiv, sondern jeder Hörer und Leser muss sie sich selbst nach den Winken des Dichters oder Redners hinzuschaffen.« 21 Diese Verfärbungen sind die Metaphern, die das Eigentliche des Begriffs »färben«. Damit, so Frege, nehmen sie illegitimerweise Einfluss auf »mögliche Folgerungen« 22 und zerstören die angezielte Objektivität der Logik. Die Frage, die sich hieraus ergibt: Ist diese angezielte Logik überhaupt in der Sprache möglich? Kann die Sprache auf diese »Färbungen« verzichten? Spätestens mit Wittgenstein wird die Sprachanalytik diese Fragen nicht mehr eindeutig positiv beantworten. Wittgenstein geht von einzelnen Sprachspielen aus, die sich zwar untereinander unterscheiden, aber durch eine »Familienähnlichkeit« vergleichbar und damit rationalisierbar sind. Auf diese können differente Gegenstände auf Ähnlichkeiten bezogen und eine »übersichtliche Darstellung« geschaffen werden. Dieser Begriff der »übersichtlichen Darstellung«, so Wittgenstein, »ist für uns von grundlegender Bedeutung. Er bezeichnet unsere Darstellungsform, die Art, wie wir die Dinge sehen. (Ist dies eine ›Weltanschauung‹ ?)«. 23 Gabriel deutet diese »Weltanschauung« als eine »analogische Weltauffassung«. 24 Das analogische Denken unterscheidet Gabriel wie folgt vom logischen Denken: »Logisches Denken drängt auf Unterscheidung des Ähnlichen, analogisches Denken sucht Ähnlichkeiten im Verschie20 21 22 23 24
A. a. O., S. 20. Frege, Sinn und Bedeutung, S. 31. Vgl. Frege, Begriffsschrift, S. 3. Vgl. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 122. Vgl. Gabriel, Logik und Rhetorik der Erkenntnis, S. 44.
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Die Metaphorik
denen.« 25 Aristoteles hatte die Konstruktion von Metaphern beschrieben als das »Erkennen von Ähnlichkeiten«. Gabriel benennt diesen Vorgang als »analoges Denken« und stellt es dem logischen Denken entgegen. Wie ist das Verhältnis des Metaphorisch-Analogischen zum Logischen zu denken? Grassi behauptet einen Vorrang des Analogischen sowohl in historisch-diachroner als auch in systematisch-synchroner Hinsicht. Historisch verweist er auf den Gegensatz von Mythos und Logos: Das Mythisch-Analogische stellt die früheste Form der gültigen Rede und begründet auf diese Weise den auf ihn folgenden Logos. 26 Ähnlich ist auch die sprachliche Logik eingebettet und in bleibender Verwiesenheit vom Analogischen zu verstehen. Das Analogisch-Metaphorische entzieht sich der logisch-rationalen Erfassung; dieses ist das Gebiet der Rhetorik und stellt ihren Motor dar, das sie bewegende Prinzip, so Dockhorn: »Denn für die Rhetorik steht das Irrationale nicht als Problem neben anderen Problemen, sondern ist ihr bewegendes Prinzip.« 27 Dies impliziert nicht eine Ablehnung der Rationalität oder eine ausdrückliche Hochschätzung des Irrationalen, sondern das Wissen darum, dass das rein Rationale nicht vom Irrationalen zu lösen ist und von ihm bewegt wird. Die Rhetorik ist entsprechend vorgängig jeder Rationalität. 28 Die rationale Verantwortbarkeit der Philosophie bedeutet nicht ihre Auflösung in die Rationalität, die weder identisch mit der Philosophie noch mit der Rhetorik sein kann, wie Mainberger anmerkt: »In der Geometrie hat die Rhetorik nichts zu suchen. Für Unabänderliches braucht es keine Philosophie, geschweige denn Rhetorik. Dafür haben wir die Wissenschaften.« 29 Die wissenschaftliche Methodik ist notwendiger Teil einer Philosophie mit wissenschaftlichem Anspruch, aber die Philosophie darf nicht in ihr aufgehen, wenn sie Philosophie bleiben will. Die Philosophie zielt auf bestimmte Werte, die sich letztlich der wissenschaftlichen Methodik widersetzen, 30 wie auch die Methodik nicht A. a. O., S. 25. Vgl. Grassi, Macht des Bildes, S. 66. 27 Dockhorn, Macht und Wirkung der Rhetorik, S. 49. 28 Vgl. Grassi, Rhetoric as Philosophy, S. 20: »›Rhetoric‹ is not, nor can it be the art, the technique of an exterior persuasion; it is rather the speech which is basis of the rational thought. This original speech, because of its ›archaic‹ character, sketches the framework for every rational consideration, and for this reason we are obliged to say that rhetorical speech ›comes before‹ every rational speech.« 29 Mainberger, Die Rhetorik in der Philosophie, S. 334. 30 Derrida, Die weiße Mythologie, S. 244: »Es sind die Werte Begriff, Gründung, 25 26
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Metaphorologie
zum Deutungsprinzip des Menschen werden darf, da diese sich dem Menschen verdankt. Liebrucks spricht von der Logik als einem neuen Namen »für einen neuen Gott«, der aber nicht mehr als ein Instrument sei und so das fortsetze – in der Sprache und in der Methodik des Vollzugs –, was in der Metaphysik begonnen worden sei. 31 Indem die Philosophie den Menschen und die den Menschen umgebende Welt einer Deutung unterzieht und in ein Wertesystem einordnet, verlässt sie notwendigerweise den Bereich der reinen Rationalität und dies muss sie tun, um Philosophie zu bleiben. Hierbei stellt sich die Philosophie als ein zwischen Logik und Analogik oszillierendes Geschehen dar und in diesem Hin- und Herspringen zwischen Logik und Analogik, Rationalität und Irrationalität, Eigentlichem und Uneigentlichem, Metaphysik und Metaphorik leistet die Rhetorik wichtige Dienste, indem sie die Elemente der Beschreibung dieses Weges liefert und diesen damit erst wahrnehmbar macht.
17.3 Metaphorologie Das Projekt einer Metaphorologie ist wesentlich mit dem Namen Hans Blumenberg verknüpft. Die Metaphorologie stellt die Philosophiegeschichte anhand von Metaphern dar, die als solche unverzichtbar und nicht auflösbar sind und daher von Blumenberg als »absolute Metaphern« bezeichnet werden. Diese Metaphorologie versteht sich als Gegenpol zu einer Philosophie, wie sie von Descartes begründet worden ist, und in der sich »alle Formen und Elemente übertragener Redeweise […] als vorläufig und logisch überholbar« erwiesen hätten. 32 Dem stellt Blumenberg die Metaphern als »Grundbestände der philosophischen Sprache« gegenüber, die sich nicht »ins Eigentliche, in die Logizität zurückholen lassen«. 33 Sein Anspruch ist ein historiTheorie, die metaphorisch aufgeladen sind und sich jeder Meta-Metaphorik widersetzen.« 31 Vgl. Liebrucks, Sprache und Bewusstsein, Bd. 7, S. 81: »Dabei ist die formale Logik nur ein neuer Name für einen neuen Gott. Sie ist nämlich das, was aus sich selbst ist und von sich selbst her verstanden wird. Ihre Stationierung auf der nominalistischen oder realistischen Seite ist dabei irrelevant, da es immer noch derselbe Denkduktus ist, der aus dem Mythos herausgeführt haben soll. Dieser Gott aber hat sich inzwischen als Instrument entpuppt.« 32 Vgl. Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, S. 7. 33 Vgl. a. a. O., S. 10.
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Die Metaphorik
scher, er versteht die Metaphorologie als einen »historischen Gegenstand«, 34 in einem Verhältnis der »Dienstbarkeit« zur Begriffsgeschichte, indem diese versucht, »an die Substruktur des Denkens heranzukommen, an den Untergrund, die Nährlösung der systematischen Kristallistationen«. 35 Der systematisch-philosophische Anspruch ergibt sich aus dieser Beschäftigung mit der Historie. Blumenberg erklärt, »daß eine Metaphorologie – als Teilaufgabe der Begriffshistorie und wie diese selbst als Ganzes – immer eine Hilfsdisziplin der aus ihrer Geschichte sich selbst verstehenden und ihre Gegenwärtigkeit erfüllenden Philosophie zu sein hat. Dementsprechend ist die Typologie von Metapherngeschichten darauf aus, Aspekte – vielleicht neue Aspekte – des geschichtlichen Sich-verstehens der Philosophie zu gewinnen und zu differenzieren«. 36
Blumenbergs Arbeitsweise bestand darin, historische »Paradigmen« dieser Metaphorologie zu finden; eine theoretische Begründung der Metaphorologie findet sich hingegen bei ihm nicht. 37 Blumenberg selbst liefert hierzu die Begründung: Die Wahrheit der Metaphern sei »in einem sehr weiten Verstande, pragmatisch«. 38 Die Frage nach dem Sinn ist eine Frage, so Blumenberg, die theoretisch selbst nicht einholbar ist, aber als Ausgang eines »Wissensbedürfnisses« dessen letzte Grundlage sein kann. 39 Sie äußert sich in Metaphern und bildet in diesen den Untergrund einer jeden theoretisierenden Handlung, ein »regulierendes Vorfeld« der Begriffsbildung, so Menke kommentierend. 40 Menke fasst das Anliegen der Metaphorologie BlumenVgl. a. a. O., S. 24. Vgl. a. a. O., S. 13. 36 A. a. O., S. 111. 37 Vgl. Gabriel, Kategoriale Unterscheidungen und ›absolute Metaphern‹, S. 69 f.; Menke, Technisierungsgeschichten, S. 85 f. 38 Vgl. Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, S. 25. 39 Vgl. a. a. O., S. 25: »Dieser Form der ›Wahrheitsfrage‹, wie sie der Pragmatismus entworfen hat, ist hier, in einem allerdings ganz und gar biologiefreien Sinne, in Geltung. Eine Frage wie ›Was ist die Welt?‹ ist ja in ihrem ebenso ungenauen wie hypertrophen Anspruch kein Ausgang für einen theoretischen Diskurs; wohl aber kommt hier ein implikatives Wissensbedürfnis zum Vorschein, das sie im Wie des Verhaltens auf das Was eines umfassenden und tragenden Ganzen angewiesen weiß und sein Sich-einrichten zu orientieren sucht. Dieses implikative Verhalten hat sich immer wieder in Metaphern ›ausgelebt‹ und aus Metaphern Stile von Weltverhalten induziert.« 40 Vgl. Menke, Technisierungsgeschichten, S. 92. 34 35
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Metaphorologie
bergs wie folgt zusammen: Es geht ihm »um die Voraussetzung, auch um das Verständnis der Genesis insbesondere systematischen Sprechens aus einem historischen Vorfeld«. 41 Die Metaphorik als Vorbegrifflichkeit wird dann von Blumenberg in die »Theorie der Unbegrifflichkeit« weitergeführt, die eine Kritik an der Begrifflichkeit ist: »Der Begriff vermag nicht alles, was die Vernunft verlangt« 42 und damit ist er, so Blumenberg, nicht Maßstab philosophischen Denkens, sondern nur dessen Durchgang. 43 Blumenberg bemüht sich um eine anthropologische Herleitung des Begriffs, der aus den klaren Bedürfnissen der Menschen entstanden sei, »die Jäger und Nomaden« sind, damit der Menschen, die bezogen sind auf klare Gegenstände und auf praktische Fertigkeiten. 44 Dem stellt Blumenberg die Metapher gegenüber, erwachsen aus der menschlichen Fähigkeit, Symbole und Ideen zu schaffen. 45 Die Metapher geht über die bloße Begrifflichkeit hinaus und füllt die Leerstellen, die diese hinterlässt. Damit besitzt sie philosophische Relevanz, da sie an die Stelle der (metaphysischen) Philosophie tritt, die sich am Begriff orientiert. So lauten die letzten Sätze der Paradigmen zu einer Metaphorologie: »Die absolute Metapher, so sahen wir, springt in eine Leere ein, entwirft sich in der tabula rasa des theoretisch Unerfüllbaren; hier hat sie die Stelle des nicht mehr lebendigen absoluten Willens eingenommen. Metaphysik erwies sich uns oft als beim Wort genommene Metaphorik; der Schwund der Metaphysik ruft die Metaphorik wieder an ihren Platz.« 46
Hier wird die Metaphorologie zu einer rhetorischen bzw. »(meta-) rhetorischen« Methode. 47 Die Metaphorik ist untrennbar mit der Rhetorik verbunden. Die Geschichte der Metaphysik, die mit Sokrates bzw. Platon begonnen hatte, und welche auch die Geschichte des
Vgl. a. a. O., S. 96. Blumenberg, Theorie der Unbegrifflichkeit, S. 11. 43 Vgl. a. a. O., S. 10: »Der Begriff ist zwar kein Surrogat, aber er ist zur Enttäuschung der auf ihn gesetzten philosophischen Erwartungen nicht die Erfüllung der Intentionen der Vernunft, sondern nur deren Durchgang, deren Richtungsnahme.« 44 Vgl. a. a. O., S. 10. 45 Vgl. a. a. O., S. 58 f. 46 A. a. O., S. 193. 47 Vgl. Haverkamp, Metapher. Die Ästhetik in der Rhetorik, S. 161 »[…] eine (meta-) rhetorische Methode, die den Begriff der Metapher philosophisch – epistemologisch, ästhetisch, theoretisch – in Anwendung bringt.« 41 42
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Die Metaphorik
»Begriffs« ist, hat spätestens mit Nietzsche zugunsten der Rhetorik ihre Niederlage eingestehen müssen: »Niemand wird bestreiten, daß er [erg. Sokr.] damit ein Ideal formulierte, ohne dessen bald hochgemute, bald verzweifelte Verfolgung europäische Tradition nicht gedacht werden kann. Aber ebenso gilt, daß er eine Überforderung konstituierte, der die Resignationen auf dem Fuß folgen – angefangen bei dem katastrophalen Rückschlag, den die Ideenlehre in Platons eigener Schule durch den Anbruch des akademischen Skeptizismus kaum ein Jahrhundert nach dem Tode ihres Begründers erfuhr, und endend bei dem, was Nietzsche als Nihilismus bezeichnet hat.« 48
Die Rhetorik ist die Methode der Metaphorik. Diese stößt in die begrifflichen Leerstellen und ist daher der Metaphysik konträr entgegengesetzt: »Der Hauptsatz aller Rhetorik ist das Prinzip des unzureichenden Grundes« 49, schreibt Blumenberg und weist damit der Rhetorik bzw. Metaphorik den Weg zu einer rhetorischen Philosophie.
17.4 Logik der Phantasie Giambattista Vico war wohl der erste, der die produktive Kraft der Metapher gesehen hat. 50 Dieser hatte der rationalen Metaphysik – der reinen Begrifflichkeit – eine »Metaphysik der Phantasie« oder eine »Logik der Phantasie« entgegengesetzt. Durch das Nicht-Verstehen, das Suchen des Begriffs, der zur Metapher führt, entwickelt sich der menschliche Geist weiter und entfaltet seine produktive Kraft. 51 Bereits Aristoteles hatte die Bildung von Metaphern definiert als das Erkennen von Ähnlichkeiten. 52 In diesem Zusammenfügen von Ähnlichkeiten passiert jedoch etwas, was für Richards das Fundament seiner Philosophy of Rhetoric war: In diesen Verknüpfungen entsteht neues Wissen. 53 Black verschärft die Aussage des Aristoteles, wenn er feststellt, »es wäre […] aufschlussreicher zu sagen, die Metapher Blumenberg, Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik, S. 107. 49 A. a. O., S. 124. 50 Vgl. Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, S. 8. 51 Vgl. Vico, Scienza nouva II 2,405. 52 Vgl. Aristoteles, Poetik 22 (1459a). 53 Vgl. Richards, The Philosophy of Rhetoric, S. 125: »The mind is a connecting or48
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Logik der Phantasie
schafft Ähnlichkeit, statt zu sagen, sie formuliert eine bereits vorher existierende Ähnlichkeit«. 54 Ähnlich äußert sich auch Weinrich in seinem Werk Sprache in Texten; auch er verschärft die aristotelische Metaphorik, indem er sagt, »daß unsere Metaphern gar nicht, wie die alte Metaphorik wahrhaben wollte, reale oder vorgedachte Gemeinsamkeiten abbilden, sondern daß sie ihre Analogien erst stiften, ihre Korrespondenzen erst schaffen und somit demiurgische Werkzeuge sind«. 55 Dieses Neuschaffen – so legt Strub dar – ist nur möglich durch ontologische Voraussetzungen, die den modernen Metaphernbegriff vom antiken unterscheiden: In der antiken Ontologie und auch in ihrer sprachlich-metaphorischen Deutung war eine reale Neuschöpfung nicht möglich, 56 durch einen veränderten Metaphernbegriff wurde diese jedoch »nicht irgendein, sondern das einzig kreative Sprachverfahren, das uns zur Verfügung steht«. 57 Ernesto Grassi versucht in Die Macht der Phantasie, die abendländische Geistesgeschichte vor dem Hintergrund der Frage des Metaphorischen und seiner produktiven Kraft zu beschreiben. Er erkennt auf der einen Seite die präzise Sprache der Wissenschaft, die in Descartes ihren Ursprung hat. Diese Sprache in ihrer formalen Stringenz, so stellt Grassi bereits in seiner Einleitung klar, habe nicht die Fähigkeit, die »Beziehung von Denken und Erlebnisfähigkeit« herzustellen. 58 Dem stellt er auf der anderen Seite die metaphorische Sprache gegenüber. Die in ihr liegende produktive Kraft begründet er gerade in der Absetzung von einer rationalen Sprache, die glaubt, auf die Kraft der Bilder verzichten zu können. Grassi beschreibt diesen Vorgang wie folgt: »Mit dem Wort (lógos), mit der Namensgebung wird das Ding isoliert, es tritt als ein abstrakt Bestehendes auf und zeigt sich als ein ›Bestehengan, it works only by connecting and it can connect any two things in an indefinitely large number of different ways.« 54 Vgl. Black, Die Metapher, S. 68. Vgl. auch Black, Mehr über die Metapher, S. 405: »Tatsächlich habe ich vor, die unwahrscheinliche Behauptung zu verteidigen, nach der eine metaphorische Aussage manchmal neues Wissen und neue Erkenntnis hervorbringen kann, indem sie Beziehungen zwischen den bezeichneten Dingen […] verändert.« 55 Weinrich, Sprache in Texten, S. 309. 56 Vgl. auch Blumenberg, Nachahmung der Natur, S. 70: »Durch das Menschenwerk kann das Seiende nicht ›bereichert‹ werden, oder anders ausgedrückt: im Werk des Menschen geschieht essentiell nichts.« 57 Vgl. Strub, Abbilden und Schaffen von Ähnlichkeiten, S. 125. 58 Vgl. Grassi, Die Macht der Phantasie, S. XVII.
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Die Metaphorik
des‹, das auf organischer Ebene nicht vorhanden ist: diese namenhafte Isolierung des Dings geschieht durch seine ›Distanzierung‹ (Objektivierung) gegenüber dem Subjekt. Die Phantasie als Tätigkeit, Bedeutungen zu übertragen, wird nun dem Einzelnen überlassen: erst aufgrund dieser Aufgabe tritt der Mensch als Individuum auf. Dem einzelnen Menschen […] kommt es zu, die eigene Umwelt zu deuten und aufzubauen.« 59
Die Metaphorik bzw. die Logik der Phantasie vollzieht sich zwar in Absetzung vom Wort in seiner eigentlichen Bedeutung, bleibt aber an diese gebunden. Indem es sich vom »Eigentlichen« des Wortes löst, erschafft die Phantasie einen Mehrwert, sie ermöglicht dem Menschen eine individuelle Weltdeutung. Diese Weltdeutung, die durch die Metaphorik geschieht, beruht nicht auf der Wahrnehmung der sinnlichen Erfahrung, sondern auf ihrer kreativen Verarbeitung. Ricœur weist darauf hin, dass diese Verarbeitung sprachlich ist und damit die Phantasie eine sprachliche Kraft ist, welche die Weltdeutung metaphorisch hervorbringt. 60 Wie die Phantasie im Anschauen der Ähnlichkeiten und ihrer metaphorischen Verarbeitung entsteht – einen Vorgang, den die Rhetorik beschreibt –, dann geht die Philosophie als Reflexion dieses Geschehens einen Schritt weiter. Mainberger beschreibt diesen Schritt wie folgt: »Phantasie besteht im schnellen Ähnlichkeitsschauen. Die Reflexion misst nachher Begriff an Begriff und prüft. Die Ähnlichkeit soll ersetzt werden durch Causalität.« 61 Während die rhetorische Phantasie Ähnlichkeiten der Begriffe kreativ verarbeitet, vergleicht die philosophische Reflexion und sucht nicht nach Ähnlichkeiten, sondern nach Wirkungen zwischen den einzelnen erkannten Elementen bzw. Begriffen. Phantasie (Rhetorik) und Reflexion (Philosophie) stehen in einem Verhältnis, das Mainberger als ein »Innen« und »Außen« beschreibt: Die rhetorische Phantasie steht an der Innenseite der philosophischen Reflexion, insofern diese auf das in der Phantasie A. a. O., S. 256 f. Vgl. Ricœur, Die Metapher und das Hauptproblem der Hermeneutik, S. 375: »Jetzt sind wir so weit, die Einbildungskraft nicht mehr als die Fähigkeit anzusehen, ›Bilder‹ aus unserer sinnlichen Erfahrung zu gewinnen, sondern als Vermögen, unser Selbstverständnis durch neue Welten formen zu lassen. Diese Kraft würde nicht durch auftauchende Bilder, sondern durch neu entstehende Bedeutungen unserer Sprache vermittelt. Daher sollte man die Einbildungskraft als eine sprachliche Dimension behandeln. Auf diese Weise würde ein neues Bindeglied zwischen Einbildungskraft und Metapher sichtbar.« 61 Vgl. Mainberger, Rhetorica II, S. 317. 59 60
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Das Mythische
präsente produktive Denken angewiesen ist, das »wilde Denken«, welche das hervorbringt, was Objekt der Philosophie ist. 62
17.5 Das Mythische Der Mythos bzw. »das Mythische« als das dem ausformulierten Mythos zugrunde liegende Denken steht am Anfang der Weltdeutung. Der Mythos geht dem Logos voraus, der als dessen rationale Kritik in das Licht der Geistesgeschichte tritt. Das Mythische, so haben es insbesondere Autoren wie Roland Barthes oder Claude Lévi-Strauss herausgestellt, ist jedoch keine historisch überholte Größe, sondern bleibt als Denkform wirkmächtig. Als solche Denkform besitzt das Mythische strukturelle Parallelen zur Rhetorik, und ein Vergleich dieser beiden Denkformen, so Mainberger, »bringt ein verschollenes Kapitel der Denkgeschichte an den Tag«. 63 Dieses hat bereits Nietzsche in seiner Rhetorik-Vorlesung mit einem Blick auf die von Platon erzählten Mythen festgestellt. 64 Damit ist nicht nur gemeint, dass die mythischen Elemente einer Rede rhetorisch sind, die Verwandtschaft von Mythos und Rhetorik geht tiefer. Der Mythos ist die primäre Form der Weltdeutung, er ist Schilderung eines Eindrucks der Wirklichkeit, die als absolut empfunden wird. Mainberger sprach davon, dass der Mythos »Rhetorik ohne Redner« sei: »Das rhetorische Moment des Mythos liegt im Vollzug: der Mythos zerlegt die ereignishafte Totalität und setzt sie (neu) zusammen. So stellen sich, innerhalb der mythischen Welt, die Ereignisse als die unzerstörbaren Bausteine für strukturale Arrangements dar. Die rhetorische Produktivität des Mythos hat Strukturen zu ihrem Resultat.« 65 Vgl. a. a. O., S. 317 f.: »So wie das philosophische Denken inmitten der Episteme präsent ist, so hält sich auch die Rhetorik an der Innenseite der Philosophie auf. Denn das, was das philosophische Denken rasch vorankommen lässt, was die gewonnenen Gewissheiten unversehens wieder dekonstruiert … und was, dank bewährter Bastlermethoden, aus den Überbleibseln auf anderer Ebene ein sinnvolles Ensemble rekonstruiert, das verdankt die Philosophie dem an ihrer Innenseite tätigen, ›wilden Denken‹, dem hellsichtigen, geistesgegenwärtigen, die Unterschiede und Singularitäten erfassenden Mutmaßen.« 63 Vgl. Mainberger, Rhetorische Vernunft, S. 181. 64 Vgl. Nietzsche, Rhetorik, S. 290: »Der mythische Bestandteil der Dialoge ist der rhetorische: der Mythus hat das Wahrscheinliche zum Inhalt: also nicht den Zweck, zu belehren, sondern eine δόξα bei den Zuhörern zu erregen, also zu πείθειν.« 65 Vgl. Mainberger, Rhetorica II, S. 238 f. 62
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Die Metaphorik
Der Mythos, so führt Lévi-Strauss aus, ist eine sprachliche Struktur, er ist »Bestandteil der Sprache; durch die Sprache ist er uns bekannt, er hängt mit der Rede zusammen«. 66 Es ist ein Irrtum, den Mythos »an einen bestimmten Inhalt« zu knüpfen, er ist eine »Methode«, eine Transformation: »Es sind Codices, die geeignet sind, Nachrichten, die in die Begriffe anderer Codices übertragen werden können, zu übermitteln und jene Nachrichten, die durch die Vermittlung andersartiger Codices empfangen wurden, in ihrem eigenen System auszudrücken.« 67 Die Mythen sind Klassifizierungen von Benennungen der Wirklichkeit 68 und damit primäre Ausdrücke der menschlichen Sprachlichkeit, getragen von einem »verzehrenden Ehrgeiz nach Symbolisierung, wie ihn die Menschheit niemals mehr verspürt hat«. 69 Diese Transformation der Wirklichkeit, die hier geschieht, ist, so Lévi-Strauss, »rhetorischer Natur«. 70 Rhetorisch ist der Vorgang, die sinnlich erfahrene Wirklichkeit in ein abstrakes System von Begriffen zu bringen und zur Grundlage der Kommunikation zu machen. Damit verfügt der Mythos nicht nur über rhetorische Elemente, er ist rhetorisch und die Rhetorik ist mythisch. 71 Mainberger stellt mit Blick auf Lévi-Strauss fest, dass sowohl Mythos als auch Rhetorik in ihrer Produktivität durch drei Momente konstituiert werden: den Zufall (τυχή, casus), die Natur (φύσις, natura) und das Herstellen (τέχνη, ars): »Die klassische Rhetorik wie die moderne Mythologik betrachten es als ihre epistemologische Aufgabe, das Verhältnis der drei Momente untereinander zu klären«. 72 Gerade die Einbeziehung des Zufalls macht Rhetorik und Mythologik vergleichbar, indem beiVgl. Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie I, S. 229. Vgl. auch a. a. O., S. 231: »Erstens, der Mythos besteht wie jedes Sprachgebilde aus konstitutiven Einheiten; zweitens, diese Teileinheiten setzen das Vorhandensein solcher Einheiten voraus, die normalerweise in der Struktur der Sprache vorhanden sind, wie Phoneme, Morpheme und Semanteme.« 67 Lévi-Strauss, Das wilde Denken, S. 92. 68 Vgl. a. a. O., S. 249 f. 69 Vgl. a. a. O., S. 254. 70 Vgl. Lévi-Strauss. Mythologica III, S. 12. 71 Vgl. Mainberger, Rhetorica II, S. 118 f.: »Die Umsetzung von Konkret-Sensiblem ins Abstrakt-Relationelle, vom Bedeutungsträger zur Bedeutung, ist rhetorisch geregelt. Das Rhetorische an diesem Vorgang ist zugleich das Mythologische. […] Mit anderen Worten, die Technizität der technē rhētorikē – eben Wiederholbarkeit und Stereotypie – wird im Mythos unmittelbar offenkundig. […] Das epistemologische Statut der Rhetorik ist dabei mehr als nur ein Instrument bei diesem Verfahren.« 72 Vgl. Mainberger, Rhetorische Vernunft, S. 192 f. 66
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Das Mythische
de sich nicht als vollständige rationale Auflösung des Seins verstehen, sondern als Umgang mit einem Sein, dessen epistemologische Leerstellen und Lücken bestehen bleiben. Beide sind poietisch-»herstellender« Umgang mit der Natur, der um die Kontingenz und Zufälligkeit der eigenen Wahrnehmung der Natur weiß und diese ins Wort bringt. Die Analyse des Mythos ist für Lévi-Strauss die Analyse dieses Systems in seiner Sprachlichkeit und damit in seiner Rhetorizität. Die sprachliche Transformation, die den Mythos hervorbringt, ist die in der Rhetorik beschriebene metaphorische Bewegung. Nicht ohne Zufall hat Lévi-Strauss die Arbeit am Mythos mit einer rhetorischen Figur bezeichnet: der Anaklastik. 73 Mythos wie Rhetorik stellen die Systeme sprachlicher Transformationen dar, die Kennzeichen des Metaphorischen sind.
Vgl. Lévi-Strauss, Mythologica I, S. 17. Vgl. dazu Mainberger, Rhetorische Vernunft, S. 197–199.
73
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18. Sprache
Die treibende Kraft der wechselvollen Geschichte von Rhetorik und Philosophie war das Verständnis von Sprache. Eine bestimmte Auffassung von Sprache bedingt erst die Möglichkeit einer Integration der Rhetorik in die Philosophie bzw. die Wahrnehmung eines rhetorischen Charakters der Philosophie selbst. Dieses Verständnis muss eine rhetorische Philosophie als ihre Grundlage beschreiben und auf diese Weise ihre eigene Rhetorizität begründen.
18.1 Langue – Parole De Saussure hat in seinen Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft die Sprache unterschieden in »langue« und »parole«. Die langue stellt die Sprache als das grundlegende System dar, in dessen Rahmen gesprochen wird. Die parole ist die konkret gesprochene Sprache, die Konkretisierung der langue. 1 Hieraus ergibt sich eine Zweiteilung der Sprachwissenschaft: »Der eine, wesentliche, hat als Objekt die Sprache, die ihrer Wesenheit nach sozial und unabhängig vom Individuum ist; diese Untersuchung ist ausschließlich psychisch; der andere Teil, der erst in zweiter Linie in Betracht kommt, hat zum Objekt den individuellen Teil der menschlichen Rede, nämlich das Sprechen einschließlich der Lautgebung; er ist psychophysisch.« 2
Auf der einen Seite steht die Sprache als langue. Ihre wesentliche Eigenschaft ist das Überindividuelle; sie ist das allen Gemeinsame
Vgl. de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 11: »Man muss sich von Anfang an auf das Gebiet der Sprache (langue) begegeben und sie als Norm aller anderen Äußerungen der menschlichen Rede (parole) gelten lassen.« 2 A. a. O., S. 22. 1
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Langue – Parole
und zugleich von allen Unabhängige. 3 Dem steht die individuelle und konkret realisierte parole gegenüber. 4 Beide Felder der Sprachwissenschaft, so de Saussure, gehören zwar zusammen und bedingen sich, dennoch gilt: »Sie müssen getrennt verfolgt werden.« 5 Diese Unterscheidung zwischen der Sprache als einem im Sprecher zwar präsenten, aber zugleich vom Sprecher unabhängigen System auf der einen Seite und der Sprache als dem konkreten Vollzug auf der anderen Seite kann helfen, die unterschiedlichen Arbeitsweisen einer naturalistisch-sprachanalytischen und einer humanistisch-hermeneutischen Philosophie wahrzunehmen und damit auch die philosophische Arbeitsweise zu beschreiben, die für eine rhetorische Philosophie notwendig ist. Die sprachanalytische Philosophie untersucht die Sprache als langue; wenn sie die parole einbezieht, dann in Bezug auf die langue, auf das System, das zwar jedem sprachlichen Vollzug immanent ist, aber trotzdem unabhängig von ihm zu sehen ist. De Saussure hat die langue als die pure und reine Form klassifiziert und die Beschreibung dieser Form, der »idealen Sprache«, ist ein Ziel einer bestimmten Ausformung der sprachanalytischen Philosophie. Wenn Frege in den Grundlagen der Arithmetik eine Objektivität anzielt, die unabhängig von »unserem Empfinden, Anschauen und Vorstellen« ist, 6 dann ist dies die »Form« der langue, die bei de Saussure keine konkrete »Substanz« hat. 7 Wittgensteins Philosophische Untersuchungen stehen analog zu Autoren wie Ryle, Austin oder Strawson für eine Betrachtung der Alltagssprache, somit auf den ersten Blick für eine Betrachtung der parole. Diese Alltagssprache wird – anders als bei Frege – zwar nicht auf eine Idealsprache hin ausgelegt, da die Sprache in verschiedene Sprachspiele zerfällt, die untereinander maximal Ähnlichkeiten hervorbringen. Dennoch verbleibt der systematische Grundzug, welcher der langue entsprechend ist; dieser wird auf das Spiel der verschiedenen Alltagssprachen hin erweitert, das Wort Vgl. a. a. O., S. 23: »[…] ungefähr wie ein Wörterbuch, von dem alle Exemplare, unter sich völlig gleich, unter den Individuen verteilt wären. Sie ist also etwas, das in jedem einzelnen von ihnen vorhanden, zugleich aber auch allen gemeinsam ist und abhängig von dem Willen der Aufbewahrer.« 4 Vgl. ebd.: »Also ist beim Sprechen nichts kollektiv; die Auswirkungen sind individuell und momentan.« 5 Ebd. 6 Vgl. Frege, Grundlagen der Arithmetik, S. 59. 7 Vgl. de Saussure, Grundfragen der Sprachwissenschaft, S. 146: »Die Sprache ist eine Form und nicht eine Substanz.« 3
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Sprache
behält seinen funktionalistischen Charakter: »Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.« 8 Die Alltagssprache wird zwar nicht auf ein System hin ausgelegt, das ihr extern ist, aber sie selbst bildet für sich ein System und wird auf diese Systematik hin interpretiert. Während die analytische Philosophie – grob gesagt – in der Anwendung einer objektiven Methode die Sprache als langue untersucht, betrachtet die Hermeneutik die parole in anderer Weise. Dies tut sie nicht, um von ihr auf das der konkreten Sprache zugrunde liegende System der langue zu schließen oder in ihr selbst eine Systematik zu erkennen, sondern sie will auf das historische, soziale oder auch geistige Geschehen blicken, das die jeweilige Äußerung hervorgebracht hat – gerade diese Dimension kommt in der analytischen Betrachtung auch der Alltagssprache zu kurz. Die Sprache wird aus hermeneutischer Perspektive auf ihre humanistische bzw. weltanschauliche Dimension hin ausgelegt, eine sprachliche Systematik jenseits der konkreten Sprache oder eine Systematik nur innerhalb der konkreten Sprache ist nicht existent oder nicht von Interesse. 9 De Saussure selbst hat noch wichtige Unterschiede dieser Zugänge benannt, und zwar in seiner Unterscheidung von synchroner und diachroner Sprachwissenschaft. Diese Abgrenzung ist bezüglich der Differenz von lange und parole nicht gänzlich präzise, da beide der langue zugeordnet sind, 10 dennoch bietet sie interessante Aspekte, welche die unterschiedliche Arbeitsweise von analytischer und hermeneutischer Philosophie sprachwissenschaftlich beleuchten. De Saussure erkennt eine grundsätzliche »Doppelheit aller Wissenschaften, die es mit Werten zu tun haben«: »1. Die Achse der Gleichzeitigkeit, welche Beziehungen nachweist, die zwischen gleichzeitig bestehenden Dingen obwalten und bei denen jede Einwirkung der Zeit ausgeschlossen ist, und 2. die Achse der Aufeinanderfolge, auf welche man stets nur eine Sache für sich allein betrachten kann, auf der jedoch alle die Dinge der ersten Achse mit ihren Veränderungen gelagert sind.« 11 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 43. Vgl. Gadamer, Natur und Welt, S. 434: »Genau das begründet den Universalitätsanspruch der Hermeneutik, dass sich die letzte Metasprache, die Sprache, die in der Lebenswelt jeweils gesprochen wird, nie ganz ausschalten lässt.« 10 Vgl. de Saussure, Grundfragen der Sprachwissenschaft, S. 117. 11 A. a. O., S. 96. 8 9
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Langue – Parole
Diese beiden Aspekte der Sprachwissenschaft nennt er dann »statisch« und »evolutiv« bzw. »synchron« und »diachron«. Die synchrone Sprachwissenschaft sammelt die Fakten der konkret gesprochenen Sprache und fügt diese zu einem zeit- und kulturunabhängigen System zusammen. Demgegenüber untersucht die diachrone Sprachwissenschaft die historischen Entwicklungen der Sprache. Dabei jedoch kann der diachron arbeitende Sprachwissenschaftler, so merkt de Saussure kritisch an, »[…] nicht mehr die Sprache selbst wahrnehmen, sondern nur eine Reihe von Ereignissen, welche sie umgestalten«. 12 Die Analyse der diachronen Dimension der Sprache kann und muss vollständig auf die Wahrnehmung der langue verzichten. Sie erkennt kein der konkreten Sprache übergeordnetes System, weil sich dieses System historisch nicht gezeigt hat. Die Perspektive der Diachronie ist aber nicht nur die historisch-vergangene, sondern auch die zukünftige: »Die synchrone Sprachwissenschaft kennt nur eine Betrachtungsweise, nämlich die aus dem Gesichtspunkt des Sprechenden selber, und hat deshalb auch nur eine Methode. Die diachronische Sprachwissenschaft dagegen blickt sowohl nach vorn in gleicher Richtung wie der Ablauf der Zeit, als auch rückwärts, dem Zeitverlauf entgegen in die Vergangenheit.« 13
De Saussure unterscheidet zwischen der systematischen und der historischen Dimension der Sprache bzw. zwischen der Sprache als System – der langue – und der Sprache als Äußerung – der parole. Die Darstellung dieser Dimensionen der Sprache und ihrer unterschiedlichen Bearbeitung verweist auf die Unterschiede des sprachanalytischen und des hermeneutischen Zugriffs auf die Sprache. Während die Sprachanalytik – um mit de Saussure zu sprechen – auf einer Achse der Gleichzeitigkeit »Beziehungen nachweist, die zwischen gleichzeitig bestehenden Dingen obwalten und bei denen jede Einwirkung der Zeit ausgeschlossen ist«, betrachtet die Hermeneutik die zeitlichen Veränderungen der zu untersuchenden Sprache. Die Sprachanalytik zielt auf die langue und will das zeitlose System beschreiben, das die Sprache hervorbringt und in dem die Sprache funktioniert. Sie hat, so de Saussure, »eine Methode«, während die Hermeneutik deren zwei hat, die sich aus ihrer Abhängigkeit von der Zeitlichkeit ergeben. Die Hermeneutik schaut auf die Sprache, nicht 12 13
Vgl. a. a. O., S. 107. A. a. O., S. 255.
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Sprache
wie sie geschieht, sondern wie sie historisch faktisch geschehen ist, und konstruiert daraus einen entsprechenden Kontext, eine »Weltanschauung«, die sich in dieser Sprache jeweils ausgedrückt hat.
18.2 Schrift Für de Saussure stellt die Schrift etwas Abkünftiges gegenüber der Sprache dar, besteht sie doch nur zu dem Zweck, die Sprache darzustellen. 14 Derrida will mit seiner Grammatologie, der »Wissenschaft der Schrift«, die Schrift gegenüber der Sprache rehabilitieren. Indem de Saussure – wie auch die mit Platon beginnende philosophische Tradition – die Schrift als Manifestation des Mündlichen gegenüber der Sprache selbst abwertet, begeht er, so Derrida, den Fehler, die Sprache auf ihre Präsenz zu reduzieren und nicht auf ihre Abkünftigkeit hin zu bedenken. Die Absonderung und Trennung des schriftlichen »Äußeren« der Sprache von ihrem Inneren soll in der Grammatologie überwunden werden, die Ursprünglichkeit der Sprache gegenüber der Schrift soll in ihr Gegenteil gewendet werden: »Im Saussureschen Diskurs schreibt sich etwas, das nie gesagt wurde: nichts anderes nämlich als die Schrift selbst als Ursprung der Sprache.« 15 Die Schrift ist es, so Derrida, die den Charakter der Sprache bestimmt. Bereits de Saussure hatte der Schrift eine große Autorität über die Sprache zugesprochen, insofern sie »ein beständiges und festes Objekt« bildet, eine Verfestigung der Sprache, die der gesprochenen Sprache eine Orientierung ist. 16 Derrida erkennt diesen Ansatz an, geht aber deutlich über diesen hinaus, indem er in dieser Verfestigung nicht nur eine Orientierung, sondern den Ursprung des sprachlichen Vollzugs erkennt. Eine reine Sprache ohne Schrift hat nie existiert. 17 Die Kennzeichen, die allgemein der Schrift zugeschrieben werden, sind diejenigen der Sprache selbst, der eine »allgemeine grapheVgl. a. a. O., S. 28. Derrida, Grammatologie, S. 77. 16 Vgl. de Saussure, Grundfragen der Sprachwissenschaft, S. 30. 17 Vgl. Derrida, Die Schrift und die Differenz, S. 98 f.: »Wir wollen vielmehr zu bedenken geben, dass die vorgebliche Derivation der Schrift, so reell und massiv sie auch sei, nur unter der Bedingung möglich war, dass die ›ursprüngliche‹, ›natürliche‹ usw. Sprache nie existiert hat, dass sie nie unversehrt, nie unberührt von der Schrift war, dass sie selbst schon immer eine Schrift gewesen ist.« 14 15
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Schrift
matische Struktur« 18 zugrunde liegt. Diese graphematische Struktur ist primär charakterisiert durch die Ablösung: die von ihrem Urheber, aber auch die von anderen sprachlichen Zeichen, ja sogar vom Adressaten. Erst diese Ablösung macht die Schrift zu einem erkennbaren Zeichen, das wiederholbar ist. Ein Zeichen ist kein lesbares Zeichen und damit keine Schrift, wenn sie an Urheber und Adressaten gebunden ist. In Signatur Ereignis Kontext stellt Derrida fest: »Eine Schrift, die nicht über den Tod des Empfängers hinaus aus strukturell lesbar – iterierbar – ist, wäre keine Schrift.« 19 Hieraus ergibt sich das, was Derrida »wesentliche Führungslosigkeit« nennt, »die der Schrift als iterativer Strktur anhaftet, da sie von jeder absoluten Verantwortung […] abgeschnitten ist«. 20 In Limited Inc. nennt Derrida Eigenschaften wie die »Iterabilität«, die »Zitathaftigkeit« oder den »Parasitismus«, 21 die nicht nur Kennzeichen der Schrift, sondern der Sprache überhaupt sind. Derrida strebt eine Grammatologie an, die »eine Wissenschaft von der Arbitrarität des Zeichens«, eine »Wissenschaft von der Unmotiviertheit der Spur« sowie eine »Wissenschaft von der Schrift (vor der Rede und in der Rede)« ist, in der die Linguistik einen Teilbereich abdeckt. 22 De Saussure – auf den sich Derrida hier inhaltlich beruft – hat diese Wissenschaft »Semeologie« genannt und beschrieben als eine »Wissenschaft, welche das Leben der Zeichen im Rahmen des sozialen Lebens untersucht«. 23 Derrida sieht diese von de Saussure angestrebte Wissenschaft in seiner Grammatologie verwirklicht. Diese Wissenschaft der Schrift ist die Wissenschaft der Sprache in ihrer Zeichenhaftigkeit. Die Sprache als Schrift wird zu einem ZeiVgl. Derrida, Signatur Ereignis Kontext, S. 347. Vgl. a. a. O., S. 333. 20 Vgl. a. a. O., S. 334. 21 Vgl. Derrida, Limited Inc., S. 158. 22 Vgl. Derrida, Grammatologie, S. 88. 23 Vgl. de Saussure, Grundfragen der Sprachwissenschaft, S. 19: »Man kann sich also vorstellen eine Wissenschaft, welche das Leben der Zeichen im Rahmen des sozialen Lebens untersucht; diese würde einen Teil der Sozialpsychologie bilden und infolgedessen einen Teil der allgemeinen Psychologie; wir werden sie Semeologie nennen. Sie würde uns lehren, worin die Zeichen bestehen und welche Gesetze sie regieren. Da sie noch nicht existiert, kann man nicht sagen, was sie sein wird. Aber sie hat Anspruch darauf, zu bestehen; ihre Stellung ist von vornherhein bestimmt. Die Sprachwissenschaft ist nur ein Teil dieser allgemeinen Wissenschaft, die Gesetze, welche die Semeologie entdecken wird, werden auf die Sprachwissenschaft anwendbar sein, und diese letztere wird auf diese Weise zu einem ganz bestimmten Gebiet in der Gesamtheit der menschlichen Verhältnisse gehören.« 18 19
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Sprache
chen, indem sie sich zum einen von der Intention des Sprechers löst, vom Adressaten, von anderen Zeichen, vom Horizont ihrer Entstehung und zum anderen verfestigt und damit wiederholbar, zitierbar und lesbar wird. Dieses Zeichen, so stellt Derrida in seiner Grammatologie klar, ist der einzig mögliche Zugang zur Wirklichkeit: »Einer Wissenschaft, die, in unserem Fall, dem klassischen Begriff der episteme deshalb nicht mehr entsprechen kann, weil die Originalität ihres Bereiches […] darin besteht, daß das in ihm eröffnete ›Abbild‹ als Bedingung der ›Wirklichkeit‹ erscheint: ein Verhältnis, das also nicht mehr in der einfachen Differenz von ›Abbild‹ und ›Wirklichkeit‹, ›Draußen‹ und ›Drinnen‹, ›Erscheinung‹ und ›Wesen‹ im Verein mit dem ganzen System notwendigerweise daran sich knüpfender Gegensätze gedacht werden kann.« 24
Derrida kehrt die traditionelle Hierarchie um, indem das Zeichen bzw. die Sprache als Schrift nicht mehr Derivat der Wirklichkeit ist, sondern ihre Bedingung. In mehrfacher Perspektive setzt Derrida Akzente gegen die Sprechakttheorie, die für eine Beurteilung der Rhetorizität der Philosophie von Relevanz sind. Indem die Sprache – verstanden als Schrift – sich aus dem Kontext löst, der sie hervorgebracht hat, und als Zeichen unabhängig von diesem zu verstehen ist, kann sie weder begriffen werden als Resultat einer Intention, die sich vollständig im Gesagten ausdrückt noch lässt sich der Kontext dieses Gesagten restlos bestimmen. Die Sprechhandlung ist unabhängig von der Intention des Sprechers und bewegt sich in einem sich ständig verändernden Netz von Bedingungen und Bedeutungen. 25 Bertram beschreibt daher die Schrift als »eine Gegenmacht zu den Anstrengungen des Logos, sich in sich selbst zu begründen«. 26 Gegen diese Selbstbegründung des Logos, wie sie klassisch in der Metaphysik, aber auch in der Sprachanalytik angestrebt wird, setzt Derrida die Schrift als dasjenige, das zum Bezugspunkt des sprachlichen Vollzugs und seines Sinngehaltes wird, das sich weder einem übergeordneten Wahrheitsgehalt verdankt noch dem sprachlichen Ausdruck immanent, sondern dem Spiel des klassischen consensus omnium(. Hier wendet sich der Schrift-Begriff Derridas der Rhetorik zu, die eben-
24 25 26
Derrida, Grammatologie, S. 59 f. Vgl. Angehrn, Interpretation und Dekonstruktion, S. 303. Vgl. Bertram, Hermeneutik und Dekonstruktion, S. 112.
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Textualität
falls einem philosophischen Diskurs widerspricht, der auf die Logik und auf eine absolute Wahrheit abhebt. 27 Die Geschichte der Philosophie – von Derrida verstanden als Metaphysik – wird damit zu einer Geschichte der metaphorischen Sprache, die um ein Zentrum kreist, das sich dem Zugriff immer wieder entzieht. So schreibt Derrida in Die Schrift und die Differenz: »Das Zentrum erhält nacheinander und in geregelter Abfolge verschiedene Formen oder Namen. Die Geschichte der Metaphysik wie die Geschichte des Abendlandes wäre die Geschichte dieser Metaphern und Metonymien.« 28 Sieht die aristotelische Metaphysik in der Metaphorik die Verschiebung einer Präsenz, so verneint Derrida die Möglichkeit eines unmittelbaren Zugriffs auf diese Präsenz. Indem er in seiner Dekonstruktion – gemäß der Rhetorik – auf die metaphorische Beschreibung dieses Zentrums zugreift, weiß er dennoch, dass er auf die Präsenz der Metaphysik und ihre Setzungen nicht verzichten kann. 29
18.3 Textualität Indem die Sprache in ihrem konkreten Vollzug als parole auf ihren Schriftcharakter hin gedeutet wird, ist auch ihre Textualität einzubeziehen, die von der Schriftlichkeit nicht zu trennen ist. Die Textualität der Sprache verweist darauf, dass ihr Schriftcharakter in ein Gefüge von Schriften eingebettet ist. Beschreibt die Schrift die Sprache in ihrer Verfestigung, ihrer Iterabilität, ihrer Materialität und betrachtet hierbei den singulären Vorgang des Sprechens, so wird in der Textualität das Gesprochensein wahrgenommen, das Sprechen, das im Rückblick zu einem Ganzen wird. Knape definiert diese Textualität der Sprache »reflexiv-memorativ«, indem er sie als die Struktur kennzeichnet, die im Gedächtnis haften bleibt, »eine im Bewusstsein Culler, Dekonstruktion, S. 101: »Der philosophische Diskurs definiert sich als Gegensatz zur Schrift, um versichern zu können, dass seine Aussagen durch Logik, Vernunft und Wahrheit und nicht durch die Rhetorik der Sprache, in der sie ausgedrückt werden, strukturiert werden.« 28 Derrida, Die Schrift und die Differenz, S. 423. 29 Vgl. a. a. O., S. 425: »Es ist sinnlos, auf die Begriffe der Metaphysik zu verzichten, wenn man die Metaphysik erschüttern will. […] Wir können keinen einzigen destruktiven Satz bilden, der nicht schon der Form, der Logik, den impliziten Erfordernissen dessen sich gefügt hätte, was er gerade in Frage stellen wollte.« 27
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Sprache
schwach haftende Vorstellung, ein im Gedächtnis verbliebener Abdruck oder gar nur eine Spur eines mündlichen Aktes«. 30 Die Sprache wird als Text wahrgenommen. 31 Ein wichtiges Kennzeichen dieses Textes ist seine Konstruiertheit. 32 Diese verdankt sich einem dynamischen Geschehen, die Barthes als »signifikante Praxis« beschrieben hat, die keine »Struktur, sondern eine Strukturierung« ist, ein »Volumen sich verschiebender Spuren«. 33 Barthes lenkt den Blick auf das Geschehen, das sich im Text äußert und dieses Geschehen ist rhetorisch. Derjenige, der spricht, tut dies in einer bestimmten Intention. Sprechend verfasst er einen »Text«, eine sprachliche Norm, durch die sein Anliegen wahrnehmbar wird. Der Text, so Barthes in Vom Werk zum Text, ist als sprachliches Geschehen zu unterscheiden vom dem rein literarischen und sprachlich fixierten Werk. Im Unterschied zum räumlichen »Werk« ist der Text »das methodologische Feld«, 34 das sich auch, aber nicht ausschließlich im Werk ausdrückt. Barthes nennt das literarische Werk, das Buch usw., dasjenige, das sichtbar ist und sich zeigt; der Text hingegen ist das, was in der Sprache gezeigt wird: »Die ›Realität‹ zeigt sich, das ›Reale‹ wird aufgezeigt; so wie das Werk gesehen wird, […] so wird der Text aufgezeigt, nach gewissen Regeln […] gesprochen; das Werk ruht in der Hand, der Text ruht in der Sprache.« 35 Hieraus, so Barthes, ergibt sich die Tatsache, dass der Text der Sprache die Konstruktion der Sprache ist und dass diese Konstruktion des Textes nicht an ein Ende kommt: »Der ›Text‹ erweist sich nur in einer Arbeit, einer Produktion. Daraus folgt, dass der ›Text‹ nicht enden kann […]; seine konstitutive Bewegung ist
Vgl. Knape, Was ist Rhetorik?, S. 131 f.: »Wir sind inzwischen durch den Druck der menschheitsgeschichtlich noch äußerst jungen Schriftkultur so konditioniert, dass wir ›Text‹ immer sofort mit Schrifttext identifizieren, d. h. Text für einen optisch aggegrierten Zustand halten. Kommunikationstechnisch aber ist der Text oft performativ akustisch ephemer, gesprochen flüchtig, mitsamt seinem Bedeutungspotential eine im Bewusstsein schwach haftende Vorstellung, ein im Gedächtnis verbliebener Abdruck oder gar nur eine Spur eines mündlichen Aktes.« 31 Vgl. Hartmann, Zum Begriff des sprachlichen Zeichens, S. 213: »Das primäre sprachliche Zeichen ist der Text.« 32 Vgl. Knape, Was ist Rhetorik?, S. 109: »Dabei wird der Text als äußerlich gewordener Aggegratzustand vorangegangener innerer kognitiver Prozesse beim Autor bzw. Orator verstanden.« 33 Vgl. Barthes, Das semiologische Abenteuer, S. 11. 34 Vgl. Barthes, Vom Werk zum Text, S. 42. 35 Ebd. 30
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Textualität
die Durchquerung.« 36 Barthes, wie auch Derrida, Kristeva oder andere Autoren des Poststrukturalismus, suchen jede strukturalistische Textdeutung zu überwinden, indem sie den Text nicht als den sprachlichen Bedeutungsträger begreifen, sondern als dasjenige, das immer neu aus der Bedeutung heraus nachträglich entwickelt wird, ein immer neues Geschehen der sprachlichen Bedeutungsfindung. 37 Die Sprache drängt zum Text – diesen Prozess begleitet die Rhetorik –, aber auch der einmal entstandende Text kann sich diesem Prozess nicht entziehen. Deutung und Interpretation des Textes sind nichts anderes als die Erschaffung eines neuen Textes. Dies, so Barthes, macht es unmöglich, eine definitive Interpretation zu erschaffen oder eine Ideal- oder Metasprache zu erkennen: »Die Zerstörung der Metasprache, oder wenigstens […] deren Inverdachtziehung, ist Teil der Theorie selbst: Der Diskurs über den ›Text‹ sollte selbst wieder nur Text, Suche, Textarbeit sein, da der ›Text‹ jener gesellschaftliche Raum ist, der keine Sprache unangetastet […] belässt.« 38
Louis Hay erkennt hier eine Umkehrung »des ursprünglichen Kanons«: »Nicht nur die Grenzen zwischen ›avant-texte‹, Text und ›après-texte‹ werden aufgelöst, sondern auch die zwischen literarischem Text (écriture) und Literaturwissenschaft (critique): beide sind gefangen im Räderwerk unendlicher Signifikation.« 39 Die Textualität der Sprache ist in zweierlei Hinsicht für eine rhetorische Philosophie relevant: zum einen im Bewusstsein der Entstehung der Sprache, auf die sie sich bezieht, zum anderen im Bewusstsein des eigenen sprachlichen Schöpfungsaktes. Die Philosophie bezieht sich wesentlich auf Texte, so hat es bereits Husserl in seiner Krisis-Schrift festgestellt. 40 Adorno schreibt dazu: Ebd. Vgl. a. a. O., S. 44: »Der ›Text‹ hingegen praktiziert das endlose Zurückweichen des Signifikats, der ›Text‹ schiebt hinaus; sein Feld ist das des Signifikanten; der Signifikant darf nicht als ›erster Teil der Bedeutung‹ aufgefasst werden, sondern, ganz im Gegenteil, als ihre Nachträglichkeit. […] Die Hervorbringung des immerwährenden Signifikanten […] im Feld des Textes […] erfolgt nicht auf dem organischen Weg einer Reifung oder auf dem hermeneutischen Weg einer Vertiefung, sondern eher in einer seriellen Bewegung von Versetzungen, Überlappungen und Variationen.« 38 A. a. O., S. 51. 39 Hay, »Den Text gibt es nicht«, S. 80. 40 Vgl. Husserl, Krisis, Husserliana VI, S. 511: »Die Sachlage ist kompliziert. Jeder 36 37
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Sprache
»Durch die sei’s offenbare, sei’s latente Gebundenheit an Texte gesteht die Philosophie ein, was sie unterm Ideal der Methode vergebens ableugnet, ihr sprachliches Wesen. In ihrer neueren Geschichte ist es, analog der Tradition, verfemt worden als Rhetorik. Abgesprengt und zum Mittel der Wirkung degradiert, war es Träger der Lüge in der Philosophie.« 41
Die Anerkennung der Textualität der Sprache und der Gebundenheit der Philosophie an diese Textualität ist gleichzeitig die Anerkennung der Sprachlichkeit der Philosophie selbst und ihrer Metaphorik. 42 Dies impliziert die Anerkennung der Relevanz der Rhetorik für die Philosophie, die das sprachliche Wesen der Philosophie selbst produziert. Derrida hat diese Textualität der Philosophie sehr prägnant in einem Satz zusammengefasst: »Ein Text-Äußeres gibt es nicht.« 43 Philosophie bezieht sich, so Derrida, ausschließlich auf den Text – sei es den Text, den die Sprache als solche herausbildet, um Sprache zu sein, sei es den Text, den die Philosophie in ihrer bisherigen Geschichte hinterlassen hat. In diesem Bezug auf den Text ergibt sich die Relevanz der Rhetorik, denn der Text ist ein Produkt der Rhetorik, so IJsseling: »Die Herstellung von Texten ist auch niemals eine creatio ex nihilo. Ein Werk ist eine Art Bau – compositio –, bei dem auf schon vorhandenes Material und vorgegebene Strukturen zurückgegriffen wird, oder ein Gewebe – textura –, das jeweils aus einem vorliegenden Stoff und nach vorgegeben Mustern gewoben ist.« 44
Was IJsseling hier beschreibt, sind die klassischen Verfahrensweisen der Rhetorik. Nicht nur die Textualität der philosophischen ÄußePhilosoph ›entnimmt aus der Geschichte‹ vergangener Philosophen, aus vergangenem philosophischen Schrifttum – so wie er aus der gegenwärtigen philosophischen Umwelt die ihr zugerechneten jüngst in Umlauf gesetzten Werke in seinem Verfügungsbereich hat, die neuerscheinenden hinzunimmt und, was hier allein möglich ist, von der Möglichkeit mehr oder minder Gebrauch macht, mit den noch lebenden Mit-Philosophen in persönlichen Gedankenaustausch zu treten.« 41 Adorno, Negative Dialektik, S. 65. 42 Vgl. IJsseling, Rhetorik und Philosophie, S. 180: »Hinzu kommt, dass diejenigen Philosophen, die glauben, der Metaphorik entkommen zu können, häufig und unbemerkt eine eigentliche Bedeutung, die unabhängig vom Zeichensystem Sprache bestehen soll, behaupten. Für sie ist die Sprache letzten Endes ein Zusatz, und es entgeht ihnen, dass die Philosophie grundsätzlich aus Texten besteht.« Vgl. auch IJsseling, Philosophie und Textualität, S. 58 f. 43 Vgl. Derrida, Grammatologie, S. 274. 44 IJsseling, Philosophie und Textualität, S. 63.
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Textualität
rungen, sondern die grundlegende Textualität der Sprache weist auf ihre Rhetorizität hin. Aus dieser Neueinschätzung der Sprachlichkeit und Rhetorizität der Philosophie ergibt sich auch eine neue Aufgabe im Rückblick auf ihre eigene Geschichte und in der Reflexion auf ihr eigenes Wirken, die Oesterreich wie folgt beschreibt: »Da die Texte selbst der philosophischen Klassiker in ihrer rhetorischen Struktur eine terra incognita darstellen, ergibt sich für die rhetorische Metakritik der Philosophie gerade heute eine – durch den einzelnen Forscher gar nicht zu bewältigende – Aufgabe einer Revision der gesamten philosophischen Texttradition.« 45
Das Ergebnis dieser Revision sei, so Oesterreich weiter, »eine Typologie philosophischer Rede, die als Topologie philosophischer Vernunft interpretiert werden könnte«. 46 Diese sieht Oesterreich in zwei verschiedene Richtungen, die mit der passiven Rezeption der Textualität, aber auch mit der eigenen textualen Produktivität übereinstimmen. Er spricht von der Topizität auf der einen Seite und der »persuasiven Intentionalität« auf der anderen Seite. 47 Letzterer Aspekt wurde von der bisherigen Hermeutik vernachlässigt. An Gadamer kritisiert Cahn, dass dieser nur »eine Richtung« des Verhältnisses von Rhetorik und Hermeneutik betrachtet habe, »[…] jede, in der die Rhetorik in Hermeneutik aufgehoben wird. Die andere Richtung des Verhältnisses, gemäß der die Rhetorik eine andere Lesepraxis inspiriert, eine, die jenseits der hermeneutischen Ökonomie des Sinnes liegt, war ihm verschlossen«. 48 Cahn schließt daraus für eine rhetorische Philosophie: »Im Kontext einer Theorie des Wissens, in deren Oesterreich, Verborgene persuasive Strategien, S. 301. Vgl. ebd. 47 Vgl. a. a. O., S. 300: »Tatsächlich stellt die klassische Rhetorik ein reichhaltiges Arsenal von Kategorien zur Verfügung, durch das sich z. B. sowohl die sachlogische Topik, als auch die Topizität und die persuasive Intentionalität darstellen lassen.« 48 Cahn, Paralipse und Homöopathie, S. 276. Vgl. auch a. a. O., S. 278: »Diese Vorstellung einer Symmetrie von Rhetorik und Hermeneutik ist von den Popularisierern der Rezeptionsästhetik oft perpetuiert worden. Sie ist sprachphilosophisch naiv und nicht viel aufregender als Gadamers doppelte Verankerung von Rhetorik und Hermeneutik in ihrer vorgängigen Praxis. Die Begrenztheit der starren Zerlegung des Zeichenhandelns in Produktion und Rezeption ist in der Tat durch die Intertextualitätstheorie, aber auch durch die Rezeptionstheorie selbst längst deutlich geworden. Die Produktivität der Lektüre und die Rolle der Leseerfahrung für das Schreiben, der die Intertextualitätstheorie nachgeht, haben schließlich dazu geführt, dass auch Rhetorik und Hermeneutik als untrennbare Aspekte eines übergeordneten semiotischen Prozesses erkannt wurden.« 45 46
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Sprache
Ausläufer diese rhetorische Hermeneutik vorgestoßen ist, geht es nicht darum, wie man Texte verstehen soll oder kann, sondern um die Begriffe, mit denen wir über das Verstehen von Texten reden.« 49 Die Textualität ist nicht nur als Verfestigung der Sprache wahrzunehmen, die im Rückblick Aufschlüsse über das Entstehen der eigenen Sprache oder Tradition gibt, sondern auch auf die eigene Sprachlichkeit hin, die zur Textualität strebt und sich gleichzeitig in diesem Streben der bisherigen Textualität bedient. Aufgrund dieses Vorgangs beschreibt Barthes die Textualität als »para-dox«: Klassisch gesprochen steht der Text an der Grenze von Aletheia und Doxa, er ist die Grundlage, auf der die Aletheia entstehen kann, ist aber gleichzeitig gebunden an die Doxa, die er begleitet und insofern »para-dox« ist. 50 Aus beiden Richtungen ist die Textualität der Sprache wahrzunehmen und erst in der Wahrnehmung dieser Textualität erlangt die Rhetorik eine Relevanz für die Philosophie.
18.4 Funktionalität Die philosophische Bewertung der Rhetorik ist abhängig von ihrem Sprachbild, damit auch von ihrer Einschätzung der Funktionalität der Sprache. Wenn die Sprache als Darstellungsform betrachtet wird, in ihrer Funktion, bestimmte Inhalte zu präsentieren, dann muss eine Philosophie, die eine solche Sprache zu ihrer Basis erklärt, die Rhetorik entweder verbannen oder zu einer bloßen Argumentationstheorie verformen. Wird die Sprache jedoch auf ihren kommunikativen Grundcharakter hin betrachtet, die – erst einmal unabhängig vom bloßen Inhalt – die Verständigung mit ihrem Gegenüber sucht, dann gewinnt die Rhetorik eine große Relevanz, da sie die Mittel dieser Verständigung bedacht hat. Wenn Wittgenstein in seinem Tractatus die Frage der Philosophie auf die Sprachlogik und auf das Verstehen der Sprache hin be-
A. a. O., S. 293. Barthes, Vom Werk zum Text, S. 43: »Der Text ist das, was sich an die Grenzen der Äußerungsregeln (der Rationalität, der Lesbarkeit usw.) begibt. Diese Idee ist nicht rhetorisch, sie wird nicht eingesetzt, um ›heroisch‹ zu wirken: Der ›Text‹ versucht, sich sehr genau hinter der Grenze der doxa anzusiedeln. […] das Wort wörtlich nehmend, könnte man sagen, der ›Text‹ sei paradox.«
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Funktionalität
zieht, 51 dann muss er aus dieser philosophischen Perspektive die Rhetorik verbannen. Wittgenstein bewegt sich folglich in dem Sprachbild, das Kopperschmidt in Bezug auf die Antike als ein »Repräsentations- und Mitteilungsinstrument sprachunabhängig existierender Sachverhalte« beschrieben hat. 52 Das Ringen um die »Ideale Sprache«, das Frege initiiert hat, kann nur ohne die Rhetorik stattfinden. Wenn das philosophische Verstehen auf die Übereinstimmung der Sprache mit dem von ihr Bezeichneten bzw. auf die gelungene Repräsentation der Sprache abzielt, dann schließt sie zwangsläufig dasjenige aus, was diese Repräsentation behindert oder sie nicht fördert. Dem steht ein Sprachverständnis gegenüber, das sich als humanistisch bezeichnen lässt, und auf den Akt der Kommunikation selbst abhebt. Gadamer hat festgestellt, dass die Sprache »ihrem Wesen nach die Sprache des Gesprächs« ist. 53 In Sprache und Verstehen schreibt Gadamer, dass es kein isoliertes und kein erstes Wort gäbe. Ein Wort wird erst zum Wort durch den gegenseitigen Austausch: »Erst dann ist es ein Wort geworden, wenn es in kommunikativen Gebrauch übergetreten ist.« 54 Das Wort für sich als »ideale Einheit der Wortbedeutung« ist hier nicht relevant, so Gadamer. Er erkennt die große philosophische Leistung an, die Bedeutung der Sprache aus einem rein psychischen Kontext gelöst zu haben, merkt aber Folgendes an: »So grundlegend die Einsicht war, daß die Bedeutung eines Wortes nicht einfach psychischer Natur ist, so ungenügend ist es doch andererseits, von der idealen Einheit einer Wortbedeutung zu sprechen. Sprache beruht offenbar darauf, daß Worte ihrer bestimmten Bedeutung zum Trotz keine Eindeutigkeit haben, sondern eine schwankende Bedeutungsbreite besitzen, und gerade dieses Schwanken macht die eigentümliche Waghalsigkeit des Sprechens aus. Erst im Vollzug des Sprechens, im Weitersprechen, im Aufbau des sprachlichen Kontextes fixieren sich die bedeutungstragenden Momente der Rede, indem sie sich gleichsam gegenseitig zurechtrücken.« 55
Vgl. Wittgenstein, Tractatus 4.003: »Die meisten Fragen und Sätze der Philosophen beruhen darauf, dass wir unsere Sprachlogik nicht verstehen.« Vgl. a. a. O. 4.024: »Einen Satz verstehen, heißt, wissen, was der Fall ist, wenn er wahr ist.« 52 Vgl. Kopperschmidt, Rhetorik nach der Rhetorik, S. 13. 53 Vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 450. 54 Gadamer, Sprache und Verstehen, S. 196. 55 A. a. O., S. 197. 51
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Sprache
Aus dieser Perspektive drängt die Philosophie zur Rhetorik, weil diese den Prozess des gegenseitigen Zurechtrückens betrachtet, das Erringen eines Konsenses, der Sprache und ihre Bedeutung hervorbringt. Um diesen Gedanken der Gegenseitigkeit und des Miteinanders zu betonen, spricht Gadamer von der Sprache als einem »Spiel«. Der »ursprünglichste Sinn« des Spiels ist die Medialität. Subjekt der Sprache ist damit nicht die Subjektivität des Spielenden bzw. Sprechenden, auch nicht der Inhalt des Spiels, sondern das Spiel selbst. 56 In dem consensus, der im Spiel hergestellt wird, sieht Blumenberg die Basis dessen, »was ›wirklich‹ ist«: »Unter diesem Aspekt ist Sprache nicht mehr ein Instrumentarium zur Mitteilung von Kenntnissen oder Wahrheiten, sondern primär der Herstellung der Verständigung, Zustimmung oder Duldung, auf die der Handelnde angewiesen ist. Hier wurzelt der consensus als Basis für den Begriff von dem, was ›wirklich‹ ist.« 57
Indem dasjenige, »was ›wirklich‹ ist«, das Produkt eines Sprachspiels ist, indem, klassisch gesprochen, die Aletheia sich als ein Geschehen innerhalb der Doxa zeigt, wird jede Art von Metaphysik, aber auch von rationaler Methodik relativiert. Die Funktion der Sprache ist nicht das System, in dem sich die Sprache vollzieht, sondern ist die Kommunikation, wozu sie geschaffen wird, sonst wäre sie identisch mit ihrer Grammatik. Eine Philosophie, die auf eine derartige Funktionalität der Sprache abhebt, ist notwendigerweise eine rhetorische. Michel Foucault hat sich in seiner Ordnung der Dinge um eine neue Begründung der Humanwissenschaften bemüht. Mit einem Blick auf die bisherige Wissenschaftsgeschichte stellt er fest, dass diese weniger eine »Theorie des wissenden Subjekts sei« als vielmehr eine »Theorie diskursiver Praxis«. 58 Diese diskursiv-rhetorische Praxis bildet den Rahmen, in dem sich Wissen vollzieht, in dem die menschliche Gesellschaft funktioniert. Foucault spricht von »fundamentalen Codes der Kultur«, die die Kultur in all ihren Ausformungen bestimmen. 59 Diese Codes sind sprachlicher Natur, und die Vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 109 f. Blumenberg, Anthropologische Annäherung an die Rhetorik, S. 108. 58 Vgl. Foucault, Ordnung der Dinge, S. 15. 59 Vgl. a. a. O., S. 22: »Die fundamentalen Codes der Kultur, die ihre Sprache, ihre Wahrnehmungsschemata, ihren Austausch, ihre Techniken, ihre Werte, die Hierarchie ihrer Praktiken beherrschen, fixieren gleich zu Anfang für jeden Menschen die empirischen Ordnungen, mit denen er zu tun haben und in denen er sich wiederfinden wird.« 56 57
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Funktionalität
Sprache wird damit nicht wahrgenommen als Träger von Botschaften oder Inhalten, sondern als konstituierendes Element der Gesellschaft, als die Basis, auf der sich ein consensus omnium formuliert. Diese Struktur, welche die Ordnung der Gesellschaft garantiert, ist sprachlich und damit rhetorisch.
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19. Rhetorik
Die historische philosophische Kritik an der Rhetorik wirft dieser vor, die Sprache auf die Emotionalität des Hörers abzustimmen, somit nicht nach den Kriterien der Rationalität, sondern nach dem jeweiligen Nutzen zu verfahren. Dies ist für eine Philosophie nicht akzeptabel, die ausschließlich in der Deduktivität des Rationalen und in einer jeder Form des consensus omnium enthobenen Objektivität verortet sein will. 1 Die strukturelle Angewiesenheit der Hermeneutik und Dekonstruktion auf das ihnen Vorausliegende und das zu Deutende macht die Rhetorik zu ihrem natürlichen Partner. Das Bemühen, die kulturelle Tradition in ihre Bestandteile zu zerlegen und Verdeckungen aufzulösen, führt zwangsläufig zu einer Rhetorik, die das sprachlich hervorgebracht hat, was es aufzudecken gilt. Der Versuch, die Wirklichkeit von ihrer Entstehung her zu deuten, das Produzierte im Licht der Produktion zu sehen, lenkt zur Wahrnehmung der Produktion selbst. Damit ist jedoch auch offensichtlich, dass die Perspektiven der Hermeneutik und der Rhetorik verschiedene sind. Grondin spricht bei der rhetorischen Perspektive von einer Perspektive »ad extra«, die nach außen gerichtet ist, während die Hermeneutik sich »ad intra«, nach innen, richtet und »vom Ausdruck auf den inneren Gehalt« hin schaut. 2 Die Rhetorik steht in der Mitte der humanistischen Tradition. Scholtz ordnet ihre Entstehung als humanistische Wissenschaft bzw. Geisteswissenschaft als die künstlerische Fortsetzung der natürlichen Grassi, Einführung in die humanistische Philosophie, S. 14: »So wird der Rhetorik – einer für die Humanisten so bedeutenden Wissenschaft – vorgeworfen, dass sie mit ihrer Wirkung auf die Leidenschaften der Leser oder Hörer die Strenge des rationalen, deduktiven Denkens vereitle; abgelehnt wird auch das Philosophieren, das auf der Gültigkeit einer Instanz, wie etwa des allgemeinen Menschenverstandes (sensus communis) beruht, denn allein die Strenge des rationalen Prozesses vermag Philosophie zu bewahrheiten.« 2 Vgl. Grondin, Hermeneutik, Sp. 1351. 1
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Rhetorik
Sprachbildung ein, die dann schließlich zur Reflexion der Sprachbildung wird bzw. sogar zur Sprachphilosophie. 3 Auf diese Weise ist die Rhetorik selbst Trägerin von Erkenntnis, mit Gadamer gesprochen »geistiges Unterscheidungsvermögen«. 4 Was meint Gadamer damit? Er spricht hier von »Beurteilungen des Einzelnen im Hinblick auf ein Ganzes«. 5 Die Rhetorik, so lässt sich hieraus folgern, ist seit jeher aktiv in das Geschehen eingebunden, das Einzelne in das Verhältnis zum Ganzen zu setzen. Wenn die Sprache die notwendige Aussonderung vom Ganzen der Wahrnehmung darstellt, die sprachlich vollzogene Vereinzelung aus der Wucht des Allgemeinen, das sich dem Betrachter darbietet, dann ist die Rhetorik als Träger dieses Prozesses gleichzeitig Träger von Erkenntnis und die Rezeption der Rhetorik deren Anerkennung als »geistiges Unterscheidungsvermögen«. Ähnlich äußerte sich Gabriel, der feststellte, »[…] dass bestimmte Darstellungsformen Erkenntnisformen sind, und zwar nicht nur im Sinne der Vermittlung, sondern der Konstitution von Erkenntnis«. 6 Derrida hat im Rückblick auf seine philosophische Arbeit die Einbeziehung der Rhetorik als besonderes Kennzeichen hervorgehoben, durch das er sich vom klassischen universitären Diskurs abgesetzt hätte. 7 Wenn Apel davon spricht, dass mit dem Sprachhumanismus wichtige philosophisch relevante Aspekte der Geistesgeschichte in der Philosophie nicht beachtet worden wären, 8 dann legt er ebenfalls den Finger in die Wunde der philosophischen Nichtbeachtung der Rhetorik und der Nichtanerkennung ihrer epistemologischen Bedeutung. Apel stützt sich in Die Idee der Sprache sprachphilosophisch auf das Vgl. Scholtz, Kritizismus, Hermeneutik und die Wissenschaften der Kultur, S. 35. Vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 43. 5 Vgl. ebd. 6 Vgl. Gabriel, Logik und Rhetorik der Erkenntnis, S. 9 f. 7 Vgl. Derrida, Punktierungen, S. 29: »Es stand für mich fest, daß der Gang meiner Untersuchungen sich nicht mehr den klassischen Normen der thèse würde unterwerfen können. Diese ›Untersuchungen‹ verlangten nicht nur nach einer davon verschiedenen Schreibweise, sondern auch nach einer Transformationsarbeit, was die Rhetorik, die Inszenierung und die besonderen, geschichtlich genau bestimmten diskursiven Prozeduren betrifft, die das universitäre Sprechen und namentlich jenen Typus Text betrifft, den man ›thèse‹ nennt.« 8 Vgl. Apel, Die Idee der Sprache, S. 7: »Die Beschäftigung mit der Logosmystik und dem Sprach-Humanismus als Traditionsvoraussetzungen der transzendentalhermeneutischen Sprachauffassung führt nun aber in Bereiche der Geistes- und Sozialgeschichte, die normalerweise von der zünftigen Philosophiegeschichte kaum, von den empirischen Geisteswissenschaftlern aber selten in philosophischer Absicht untersucht werden.« 3 4
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Rhetorik
Werk von Johannes Lohmann. Dessen zentrale These in Das Verhältnis des abendländischen Menschen zur Sprache lautet, nach Apel, dass in den geistesgeschichtlich wesentlichen Entdeckungen der Sprache nicht nur verschiedene Seiten der Sprache ins Bewusstsein getreten sind, sondern ein geschichtlicher Wandel im »Seinsverhältnis des Menschen zur Sprache« stattfand. 9 Die Sprache, so Lohmann, ändert nicht nur die Weltdeutung des Menschen, sondern dessen Änderungen implizieren auch ein immer neues Verständnis der Sprache selbst. Lohmann interpretiert die moderne Sprachphilosophie vor dem Hintergrund eines »radikalen Subjektivismus«. Diesem stünde der antike Logos gegenüber, der »als objektive Norm mit der Sache (dem was ist) als der objektiven Wahrheit zusammenfällt«. Zwischen diesen beiden Extremen, so Lohmann weiter, befinde sich eine weitere »Existenzform«, »in der die Form der Sprache zu einer Weise des menschlichen Verhaltens wird«: die Rhetorik. 10 Unabhängig davon, dass Lohmanns Charakterisierung der modernen und der antiken Sprachphilosophie tendenziös und in dieser Schärfe und Eindeutigkeit nicht auf die Dualität von Subjektivismus und Objektivismus auszulegen ist, ist anzuerkennen, dass er der Rhetorik eine wichtige Vermittlungsfunktion zwischen Objektivität und Subjektivität zuspricht, zwischen dem Gehalt dessen, was gesagt oder geschrieben wird, und dem, was der Intention des Sprechers und Autors entspricht. Einerseits ist die Rhetorik diejenige, die das zu Äußernde konkret macht und ihr Gestalt verleiht, andererseits ist sie diejenige, die das zu Äußernde aber auch verändert, verfälscht, verschärft oder auch erst klärt. So oder so besitzt die Rhetorik in jedem sprachlichen Akt eine Schlüsselfunktion.
Vgl. a. a. O., S. 62 f. Lohmann, Das Verhältnis des abendländischen Menschen zur Sprache, S. 30: »Zwischen dem radikalen Subjektivismus der Neuzeit, der eingesetzt hat mit einer Vernichtung der im Sprachlaut verkörperten gedanklichen Formen als solcher und einer Usurpation der intersubjektiv wirkenden Kraft dieser Formen durch das ›Subjekt‹ selbst, und der ursprünglich-griechischen Denkform, in der der λόγος als objektive Norm mit der Sache (dem was ist) als der objektiven Wahrheit zusammenfällt, steht eine Existenzform, in der die Form der Sprache zu einer Weise des menschlichen Verhaltens wird, einer ›Umgangsform‹ – der Weise, in der die Menschen vorzüglich miteinander, als Menschen, verkehren. Dies geschieht faktisch in der ›Rhetorik‹, die ja die eigentlich praktische Gestalt ist, in der die Sprache in der ganzen antiken Kultur und dann von da aus, als ›formale‹ Bildung, bis in die Neuzeit hinein, in dem von der griechisch-römischen Antike beeinflussten Kulturkreise zunächst wirksam geworden ist.«
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Rhetorik
Die Bedeutung der rhetorischen Fragestellung hebt auch Peirce mit seiner »spekulativen Rhetorik« hervor. Diese bildet neben der »spekulativen« Grammatik und der Dialektik den dritten Zweig seiner Semiotik. In diesem Trivium ordnet Peirce die Logik der Zeichenund Bedeutungslehre unter und stellt die Rhetorik als notwendigen Bestandteil dieser Lehre heraus. Diese habe »die Gesetze der Entwicklung des Denkens« zu beschreiben, »die übereinstimmen mit dem Studium notwendiger Bedingungen der Bedeutungsübertragung mittels Zeichen von Geist zu Geist, und von einem Geisteszustand zum anderen mittels Begriffen«. 11 Die Rhetorik, so Peirce, sei »die Lehre der allgemeinen Bedingungen des Bezugs von Symbolen und anderen Zeichen zu seinem Interpretanten, den sie zu bestimmen suchen«. 12 Denken ist laut Peirce das Denken von Zeichen, deren Bedeutung damit universal für die menschliche Erkenntnis wird. Notwendiger Teil dieses Erkenntnisvorgangs ist die Rhetorik als Lehre der Entstehung der Zeichen. Peirce setzt der klassischen metaphysischen Präsenz die Relation des Zeichens entgegen, und die Entstehung dieser Relation ist rhetorisch. Die Zeichen bilden ein System, das durch die Bewegung vom Zeichen zum Zeichen konstituiert wird. Derrida erkennt diesen Gedanken als in der Nähe zu seiner eigenen Dekonstruktion stehend an. 13 Die Frage der epistemologischen Bedeutung der Rhetorik und damit ihrer philosophischen Relevanz ist von der Einschätzung des Stellenwerts der Sprache für die Philosophie abhängig. Wenn die in der Philosophie angezielte Objektivität innerhalb des sprachlichen Diskurses ist und jenseits der Sprachlichkeit keine metaphysisch verankerte Objektivität postuliert wird, kann die Philosophie die Rhetorik aufgrund der nicht zu leugnenden Bedeutung für den konkreten Sprachvollzug nicht missachten. Vgl. Peirce, Collected Papers 1,444: »It is the science of the necesssary laws of thought, or, still better […], it is general semiotic, treating not merely of truth, but also of the general conditions of sings being sings (which Duns Scotus calles grammatica speculativa), also of the laws of the evolution of thought, which since it coincides with the study of the necessary conditions of the transmission of meaning by signs from mind to mind, and from one state of mind to another, of terms, be called rhetorica speculativa.« Vgl. auch Peirce, Collected Papers 1,559 und 3,454. 12 Vgl. Peirce, Collected Papers 2,93: »Transuasional logic, which I term Speculative Rhetoric, is substantially what goes by the name of methodology, or better, of methodeutic. It is the doctrine of the general conditions of the reference of Symbols and other Signs to the Interpretans which they aim to determine.« 13 Vgl. Derrida, Grammatologie, S. 83–87. 11
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Inhalt einer rhetorischen Philosophie
Die Notwendigkeit einer rhetorischen Philosophie ergibt sich aus einer bestimmten Deutung der Sprache, aus ihrer Metaphorik, aus ihrer Textualität. Wenn man voraussetzt, dass die Sprache über die oben bestimmten Eigenschaften verfügt, muss eine auf der Sprache aufbauende Philosophie notwendigerweise rhetorisch sein. Eine rhetorische Philosophie ihrerseits ist in der Lage, bestimmte Faktoren des philosophischen Diskurses zu stärken oder zuminderst anzusprechen, welche sonst nicht eine derartige Relevanz besäßen. Auf diese Weise führt die rhetorische Philosophie zur Beschreibung eines bestimmten Bildes des Menschen, das letztlich aus seiner Sprachlichkeit heraus entwickelt ist. Erst mit der Beschreibung dieses Bildes des Menschen gewinnt die Rhetorik eine wirkliche Relevanz für die Philosophie, die über eine bloße Hilfestellung bei der Durchdringung sprachlicher Traditionen hinausgeht.
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20. Philosophie und Literatur
Das Verhältnis von Rhetorik und Philosophie wird wesentlich durch die Frage bestimmt, auf welche Sprache sich beide beziehen, und damit in besonderer Weise durch die Frage, wie und ob sich Unterschiede von Philosophie und Literatur begründen lassen. Habermas hat Derrida und den Autoren der Dekonstruktion vorgeworfen, die Philosophie in die Literatur hinein aufzulösen. Derridas Bemühen, so Habermas, gehe dahin, den »von Aristoteles kanonisierten Vorrang der Logik vor der Rhetorik auf den Kopf zu stellen«. 1 Habermas ordnet Derrida in die Tradition der humanistischen Autoren ein – er nennt Dante, Vico, Humboldt, Gadamer und andere – und erkennt in Derrida eine zusätzliche Verschärfung, da er nicht nur wie jene Autoren gegen den klassischen Vorrang des Logischen vor dem Rhetorischen protestieren würde, sondern sogar »die Souveränität der Rhetorik über das Gebiet der Logik ausdehnen« will. 2 Indem die Dekonstruktion den Text auf seine Metaphorik und Rhetorizität hin auslegt und den philosophischen Text wie einen literarischen behandelt, so Habermas, ist es nicht mehr möglich, in der Philosophie mehr zu erkennen als eine bloße Literaturwissenschaft: »An jedem Fall erweist sich von neuem die Unmöglichkeit, die Sprachen der Philosophie und Wissenschaft so auf kognitive Zwecke zu spezialisieren, daß sie von allem Metaphorischen und bloß Rhetorischen gereinigt, von literarischen Beimischungen freigehalten würden. In der dekonstruktiven Praxis erweist sich die Hinfälligkeit des Gattungsunterschiedes zwischen Philosophie und Literatur; am Ende gehen alle Gattungsunterschiede in einem umfassenden, alles einbegreifenden Textzusammenhang unter.« 3
Vgl. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 221. Vgl. ebd. 3 Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 224. Vgl. auch Habermas, Philosophie und Wissenschaft als Literatur?, S. 242 f. 1 2
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Philosophie und Literatur
Die dekonstruktive Betonung der prinzipiellen Rhetorizität bzw. Metaphorik eines Textes führt unweigerlich zur Frage, ob Unterschiede zwischen philosophischen bzw. wissenschaftlichen Texten vorhanden sind und wie diese – sofern vorhanden – begründbar sind. Im Fokus steht die Wahrheitsfrage: Inwiefern kann ein in notwendigerweise metaphorischer bzw. rhetorischer Sprache geschriebener Text einen philosophischen Wahrheitsanspruch verkörpern? Wo liegen in einem Text die Grenzen zwischen Fiktion und Realitätsbezogenheit? Inwiefern kann ein Text überhaupt den Anspruch eines nichtfiktionalen Realitätsbezugs verkörpern? Pöggeler hat in diesen Fragen zu Recht eine Kernfrage des Verhältnisses von Philosophie und Rhetorik erkannt: »Wenn das Verhältnis zwischen philosophischer Hermeneutik und rhetorischer Tradition erörtert werden soll, dann muss zuerst einmal klargestellt werden, in welcher Weise heute überhaupt gesprochen und geschrieben wird. Können wir noch – und wenn ja: in welcher neuen Weise? – Unterschiede wie die zwischen Philosophie und Literatur oder Dichtung und Rhetorik oder Poesie und Prosa festhalten? Ohne eine Klärung dieser Grundfragen kann auch nichts darüber ausgemacht werden, wie wir uns heute zu dem frühen Streit zwischen Philosophie und Rhetorik stellen müssen.« 4
Als exponiertester – und auch am meisten kritisierter – Autor eines dekonstruktiven Lektüreverständnisses, das die Grenzen von Literatur und Philosophie nivelliert, gilt Paul de Man. Ein Text, so de Man, ist von Widersprüchen geprägt. Diese »heben einander jedoch weder auf, noch treten sie zueinander in ein synthetisierendes dialektisches Verhältnis«. 5 Verstehen des Textes und Nichtsehen der Widersprüche des Textes führen zur Oszillation von Einsicht und Blindheit. Diese Blindheit ist für de Man zentral, denn sie macht aus dem Text bzw. der Sprache eine »Rhetorik der Blindheit«. Diese Blindheit führt zu einem nicht zu vermeidenden epistemologischen Defizit einer jeden Interpretation: »Die Semantik der Interpretation besitzt keine erkenntnistheoretische Konsistenz und kann nicht wissenschaftlich sein.« 6 Diese jedem Text und jedem Interpreten inhärente Blindheit nivelliert die Unterschiede zwischen philosophischer und nichtphilosophischer Natur: 4 5 6
Pöggeler, Gadamers philosophische Hermeneutik und die Rhetorik, S. 216. Vgl. de Man, Die Rhetorik der Blindheit, S. 185. A. a. O., S. 192.
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»Da sie nicht wissenschaftlicher Natur sind, müssen literaturkritische Texte mit demselben Ambivalenzbewusstsein gelesen werden wie literarische Texte, und da die Rhetorik ihrer Diskursform auf kategorische Aussagen angewiesen ist, ist die Diskrepanz zwischen Bedeutung und behaupteter Aussage ein konstitutiver Bestandteil ihrer Logik.« 7
Die Rhetorik oszilliert zwischen der Bedeutung und der Aussage des jeweiligen Textes. Insofern jeder Text rhetorisch ist, ist auch seine Logik eine rhetorische, wie de Man in den Allegorien des Lesens feststellt: »Rhetorik ist die radikale Suspendierung der Logik.« 8 Eine Logik jenseits der Rhetorik ist für de Man nicht möglich. De Mans dekonstruktive Lektüre des Textes versucht erst gar nicht, in Behauptungen eine Logik gegen die Logik zu proklamieren; sie entzieht sich dem Diskurs und blickt von außen, metasprachlich, auf ihn herab: »Überdies findet die Dekonstruktion nicht in Behauptungen statt, wie in einer logischen Erwiderung oder in einer Dialektik, sondern vollzieht sich statt dessen zwischen metasprachlichen Aussagen über die rhetorische Natur der Sprache einerseits und einer rhetorischen Praxis andererseits, die diese Ausagen in Zweifel zieht.« 9
Die rhetorische Struktur der Sprache ist absolut, die Sprache kann ihrer Rhetorizität nicht entkommen. Diese Rhetorizität wird sogar auf die Rhetorik selbst gewendet, wenn ihre Figuren letztlich nicht unterscheidbar sind: Die Unterschiede zwischen Metonymie und Metapher als den Figuren relationaler Bedeutungsverschiebung verschwimmen. 10 Die Rhetorizität der Sprache suspendiert die Rhetorik: Indem das Eigentliche negiert wird, kann es auch keine Verschiebung mehr zum Uneigentlich-Figurativen geben. Indem jeder Text und jede sprachliche Äußerung in ihrer prinzipiellen Rhetorizität nicht mehr zwischen Innen – dem Gehalt – und Außen – der Äußerung – A. a. O., S. 193. Vgl. auch Paul de Man, Blindness and Insight, S. 106: »A penetrating but difficult insight into the nature of literary language ensues. It seems, however, that this insight could only be gained because the critics were in the grip of this peculiar blindness: their language could grope toward a certain degree of insight because their method remained oblivious to the perception of insight. The insight exists only for a reader in the privileged position of being able to observe the blindness as a phenomenon in its own right – the question of his own blindness being one which he is by definition incompetent to ask – and so being able to distinguish between statement and meaning.« 8 De Man, Allegorien des Lesens, S. 40. 9 A. a. O., S. 140. 10 Vgl. a. a. O., S. 44 f. 7
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Philosophie und Literatur
unterschieden werden kann, wird der Gehalt des Textes genauso bedeutungslos wie eine mögliche Klassifizierung als philosophischer Text: Philosophie und Literatur werden unter dem Dach einer Rhetorizität zu einer Einheit, die derart absolut ist, dass sie sich selbst als rhetorisch-figuratives Geschehen aufhebt. Eine rhetorische Philosophie muss zwischen der Rhetorizität des Textes, den sie interpretiert, und dem Text, den sie selbst erstellt, notwendig differenzieren. Ebenso wie jede Sprache zu unterscheiden ist zwischen dem passiven Verstehen von Sprache und der aktiven Produktion von Sprache. Der Sprechakt ist immer ein rhetorischer, aber diese Rhetorizität ist Verkleidung dessen, was gesagt werden soll, der Intention. Die rhetorische Tradition betrachtet ihre Figurativität als Verschiebung des Eigentlichen zum Uneigentlichen. Diese Bewegung konstituiert die rhetorische Figur, nicht das Eigentliche selbst, auch nicht der Begriff der rhetorischen Figur. Die rhetorische Figur ist in ihrer Bewegtheit wahrzunehmen, sonst wird sie zur toten Figur. De Mans Textanalyse negiert die Möglichkeit, das Eigentliche des Textes bzw. einer rhetorischen Figur zu kennen, und verknüpft dies mit der Aussage der »Uneigentlichkeit« bzw. Rhetorizität des gesamten Textes. Dabei vergisst er den Zusammenhang zwischen dem Eigentlichen und dem Uneigentlichen: Das Eigentliche mag vielleicht sogar nicht erkannt werden, dennoch ist es da und konstituiert in seiner Ursprünglichkeit den rhetorischen Text, der nur in seiner Abhängigkeit und Verwiesenheit zu lesen ist. Die Aussage des prinzipiellen NichtVerstehens des Eigentlichen ist eben nicht die Negierung seiner Existenz, die zwingend vorausgesetzt werden muss, damit der Text überhaupt einen Sinn hat. De Man ist sich dieses Charakters der Metaphorik durchaus bewusst und sagt über die Metapher: »Sie setzt eine Welt voraus, in der inner- und außertextliche Erzeugnisse, wörtliche und figurale Sprachformen unterschieden werden können, eine Welt, in der das Wörtliche und das Figurale isolierbare Eigenschaften sind, die daher auch untereinander ausgetauscht und füreinander eingesetzt werden können. Dies ist ein Irrtum, obwohl man sagen kann, daß ohne diesen Irrtum keine Sprache möglich wäre.« 11
Die Frage, die man de Man stellen muss, ist diejenige, ob man den die Metapher bzw. die Sprache konstituierenden Moment als Irrtum be11
Vgl. de Man, Metapher, S. 249.
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zeichnen kann. Der Irrtum ist Teil der Verschiebung, welche die Metapher erzeugt, ebenso wie er jeder sprachlichen Handlung immanent ist. Aber er ist das tragende Motiv, das die Sprechhandlung hervorbringt. Wenn de Man sagt: »Die Sprache verspricht (sich)« 12, dann hat er insofern recht, dass das Sich-Versprechen Teil des Sprechens ist und Sprache ohne Versprechen nicht existiert. Aber er vergisst, dass das »Ver«-Sprechen nicht für sich steht und für sich auch nicht existieren kann, sondern immer eine Entstellung des Sprechens darstellt. Nicht nur ist das Sprechen immer ein Ver-Sprechen, auch jedes Ver-Sprechen bleibt umgekehrt ein Sprechen. De Man spricht davon, dass Zeichen und Bedeutung nie übereinstimmen, 13 vergisst aber dabei, dass das Zeichen damit nicht bedeutungslos ist. Literatur ist eben nicht nur Ausdruck der Erfahrung, dass der Mensch »die Leere in sich erfahren hat«, 14 sondern Ausdruck eines Gehaltes. Zur Entschuldigung de Mans sei angeführt, dass es ihm vorrangig um die Beschäftigung mit literarischen Texten ging. In ihnen wollte er Brüche und Risse wahrnehmen und so einer angemessenen Kritik unterziehen. Seine Aüßerungen zur Textualität der Sprache gehen jedoch über eine bloße Literaturkritik hinaus und treffen Aussagen mit einem philosophischen Anspruch, die mit diesem Anspruch abzulehnen sind. Wenn die Textualität bzw. die Metaphorik der Sprache die Nichtübereinstimmung des Gesagten mit dem zu Sagenden betont, dann ist es eine Überzeichnung, diese Nichtübereinstimmung als Entgegensetzung zu betonen. 15 Wenn die Metapher bzw. die grundsätzliche Metaphorik der Sprache in der Tat immer das Gegenteil der eigentlichen Aussage ausdrücken würde, dann wären keine sinnvolle Aussage und kein sinnvolles Gespräch mehr möglich. De Man verzerrt in seiner Literaturkritik den metaphorischen Charakter der Sprache. Die von Derrida beschriebene différance ist eine Wirkung der Sprache, nicht ihr Ziel. Es gibt Hinweise im Werk de Mans, in denen er die Notwendigkeit eines positiven Gehalts der DekonstrukVgl. de Man, Promises (Social contract), S. 277. Vgl. de Man, Blindness and Insight, S. 17. 14 Vgl. a. a. O., S. 19: »The ›virtual focus‹ is, strictly speaking, a nothing, but its nothingness concerns us very little, since a mere act of reason suffices to give it a mode of being that leaves the rational order unchallenged. The same is not true of the imaginary source of fiction. Here the human self has experienced the void within itself and the invented fiction, far from filling the void, asserts itself as pure nothingness, our nothingness stated and restated by a subject that is the agent of its own instability.« 15 Vgl. a. a. O., S. 17. 12 13
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Philosophie und Literatur
tion andeutet und feststellt, dass das Ergebnis nicht eine »bloße Negation« sein könne. Wenn er jedoch im gleichen Gedanken erwähnt, dass die Dekonstruktion sich zwischen der rhetorischen Sprache und der rhetorischen Praxis vollzieht, die durch den »Zweifel« der Aussage gekennzeichnet ist, dann verkennt er auch hier den Charakter der rhetorischen Praxis und ihres Zusammenhangs zur Sprache. 16 Die faktisch vollzogene Rhetorik der Sprache bzw. die rhetorische Praxis stellt eine Verschiebung der Sprache dar, nicht ihre Verkehrung oder ihren Zweifel. De Man führt einen wichtigen Ansatz des dekonstruktiven Sprachverständnisses Derridas weiter, verzerrt ihn aber. Derrida will die von de Saussure beschriebene Differenz von Signifikat und Signifikant aufheben, bezeichnet sie als »Totalität jener großen, von der Geschichte der Metaphysik eingenommenen Epoche«. 17 Differenz bringt die Sprache als ein Zeichensystem hervor, als solches ist es jedoch nicht hintergehbar. 18 Es geht Derrida jedoch nicht darum, von einer äußeren Perspektive die Metaphorik oder Zeichenhaftigkeit zu negieren oder aus ihrem Kontext – der immer metaphysisch ist – zu lösen, sondern darum, sich in das Geschehen hineinzubegeben, das das Zeichen hervorgebracht hat. 19 Die Wahrnehmung der Relativität der Zeichen, der Verschiebungen des Zeichencharakters, des Spiels zwischen den Zeichen bedeutet nicht die Auflösung der Zeichen. Wenn Derrida feststellt, dass sich Innen und Außen der Metaphorik Vgl. de Man, Allegorien des Lesens, S. 140: »Überdies findet die Dekonstruktion nicht zwischen Behauptungen statt, wie in einer logischen Erwiderung oder in einer Dialektik, sondern vollzieht sich statt dessen zwischen metasprachlichen Aussagen über die rhetorische Natur der Sprache einerseits und einer rhetorischen Praxis andererseits, die diese Aussagen in Zweifel zieht. Das Ergebnis dieses Wechselspiels ist nicht bloße Negation.« 17 Vgl. Derrida, Grammatologie, S. 27. 18 Vgl. de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 171: »Was die Elemente der Sprache auszeichnet, ist nicht, wie man glauben könnte, ihre positive Eigenqualität, sondern einfach dies, dass sie nicht zusammenfallen – in der Sprache gibt es nur Unterscheidungen ohne positiven Inhalt.« 19 Vgl. Derrida, Grammatologie, S. 29: »Dem Zeichenbegriff kommt hier exemplarische Bedeutung zu. Wir haben seine Zugehörigkeit zur Metaphysik herausgestellt. […] Unser bereits angedeutetes Misstrauen gegenüber der Differenz zwischen Signifikat und Signifikant oder gegenüber der Idee des Zeichens im allgemeinen zwingt uns sogleich zu einer Präzisierung: wir misstrauen ihm nicht von einer Instanz der anwesendem, dem Zeichen vorgängigen, äußerlichen oder übergeordneten Wahrheit, nicht von dem Ort aus, an dem es die Differenz nicht mehr gibt. Ganz im Gegenteil.« 16
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umkehren können, dass das Zeichen zum Gehalt werden kann wie auch der Gehalt immer wieder zum Zeichen wird, so ist dieses Spiel nur möglich in der Differenz einer Bipolarität, die als solche nicht aufgelöst werden darf und die durch ihre Verwiesenheit auf einen Grund konstituiert ist, der metaphysisch zu nennen ist. Auf diesen Grund und auch auf die sprachliche Formulierung dieses Grundes kann die Philosophie nicht verzichten, wenn sie sinnvoll sprechen will: »Es ist sinnlos, auf die Begriffe der Metaphysik zu verzichten, wenn man die Metaphysik erschüttern will. Wir verfügen über keine Sprache – über keine Syntax und keine Lexik –, die nicht an dieser Geschichte beteiligt wäre. Wir können keinen einzigen destruktiven Satz bilden, der nicht schon der Form, der Logik, den impliziten Erfordernissen dessen sich gefügt hätte, was er gerade in Frage stellen wollte.« 20
Der völlige Verzicht auf die Metaphysik führt letztlich zu einem Verzicht auf jedwege Begrifflichkeit. Wenn die Sprache über einen Zeichencharakter verfügt, kann dies nicht die Aufhebung dessen bedeuten, worauf die Sprache verweist. Ein Zeichen, so Derrida, ist immer ein »Zeichen-von« und die Aufhebung der Differenz von Signifikant und Signifikat führt laut Derrida letztlich in die Sprachlosigkeit. 21 De Man schließt von der unausweichlichen Rhetorizität und Metaphorik der Sprache auf eine textliche Struktur, die es letztlich unmöglich macht, verschiedene literarische Gattungen zu differenzieren. Wenn sich die Sprache immer metaphorisch vom dem wegbewegt, was sie eigentlich aussagen will, dann, so de Man, ist jeder sprachliche Akt Fiktion, und jede kritische Beurteilung dieser Sprache kann diesem fiktionalen Charakter nicht entkommen. Diese Fiktionalität gilt, so de Man, unabhängig von der Intention des Textes. Genau an dieDerrida, Die Schrift und die Differenz, S. 425. Vgl. ebd.: »Mit Hilfe des Begriffs des Zeichens erschüttert man die Metaphysik der Präsenz. Von dem Augenblick jedoch, wo man damit, wie ich es nahegelegt habe, beweisen will, dass es kein transzendentales oder priviligiertes Signifikat gibt und dass das Feld oder das Spiel des Bezeichnens von nun an keine Grenzen mehr hat, müßte man sogar den Begriff und das Wort des Zeichens zurückweisen. Gerade dazu aber ist man nicht in der Lage. Denn der Ausdruck ›Zeichen‹ wurde seinem Sinn nach stets als Zeichen-von, als auf ein Signifikat hinweisender Signifikant, als von seinem Signifikat unterschiedener Signifikant begriffen und bestimmt. Tilgte man die radikale Differenz zwischen Signifikant und Signifikat, müsste man das Wort für den Signifikanten selbst als einen metaphysischen Begriff aufgeben.«
20 21
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Philosophie und Literatur
sem Punkt jedoch übersieht de Man die bleibende Gebundenheit des Textes an seinen Entstehensgrund. Jeder Text kann und muss von diesem Entstehensgrund losgelöst betrachtet werden, dennoch muss die Existenz dieses Grundes vorausgesetzt und beachtet werden. Wie die Metapher eine Verschiebung des Eigentlichen darstellt und damit an das Eigentliche gebunden bleibt, bleibt die Metaphorik gebunden an einen metaphysischen Grund, da sie sich sonst selbst aufhebt. In dieser Gebundenheit an den metaphysischen Grund werden auch die literarischen Gattungen in ihrer Unterschiedenheit sichtbar. Die philosophische Beschäftigung mit der Sprache ist nicht nur eine Sprachkritik, nicht nur Nachweis ihrer Brüche und Risse, sondern ist auch das Ansinnen, daraus einen positiven Ertrag zu erzielen und gleichzeitig in der Beschäftigung mit den sprachlichen Zeugnissen darum zu wissen, dass auch diese einen positiven Ertrag erzielen wollten und eine Geltung beanspruchen. 22 Sprache ist nicht nur – gelungene oder misslungene – Reflexion, sondern auch Produktion. Gerade hier kann eine rhetorische Philosophie einen Akzent gegenüber einer rein hermeneutisch-reflexiven Philosophie setzen, da sie um den produktiven Akt der Spracherstellung weiß und diesen sowohl im Text erkennen als auch selbst zur Texterstellung nutzen kann. Die Metaphorik eines Textes, seine Nichtübereinstimmung mit Aussagegehalt und -absicht, impliziert nicht die prinzipielle Gleichheit aller Texte, da sich deren Bedeutung in der Metaphorik nicht auflöst, sondern verschiebt. Ein philosophischer Text ist sich dieser rhetorischen Nichtübereinstimmung bewusst, aber er strebt sie nicht an, und muss gleichzeitig in der Beurteilung der philosophischen Texte der Tradition davon ausgehen, dass auch diese die metaphorische Nichtübereinstimmung in sich tragen und vielleicht sogar um sie wissen, sie aber nicht anstreben, sondern auf etwas verweisen wollen. Diese Art des Verweisungscharakters des Textes entscheidet darüber, ob es sich um einen philosophischen oder literarisch-fiktionalen Text handelt.
Vgl. Angehrn, Interpretation und Dekonstruktion, S. 265: »Nie geht es hier um Wahrheit im Sinne der einfachen Übereinstimmung mit den Fakten (beziehungsweise mit einer subjektiven Intention oder einer objektiven Bedeutung); doch tritt nicht Beliebigkeit an die Stelle, sondern eine Geltung, die je konkret nach mehreren Parametern zugleich zu konstruieren ist.«
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Die Frage der Möglichkeit einer Differenzierung zwischen einem philosophischen und einem literarischen Text verweist auf die Frage der Metaphysik. In dem Augenblick, in dem sich eine rhetorische Philosophie nicht nur als Kritik an der Metaphysik begreift, sondern glaubt, sie ersetzen bzw. vernichten zu können, verliert sie ihren eigenen philosophischen Anspruch. Derrida ist sich der Tatsache bewusst, dass es keine Möglichkeit gibt, eine Aussage zu treffen, ohne metaphysisch zu sein. Ähnlich äußert sich auch der andere große Kritiker der Metaphysik, Heidegger: »Diese ›Überwindung‹ der Metaphysik beseitigt die Metaphysik nicht. Solange der Mensch das animal rationale bleibt, ist er das animal metaphysicum.« 23 Die Rationalität ist an die Metaphysik gebunden und insofern die Philosophie – auch eine rhetorische – mit dem Anspruch auftritt, eine rationale Aussage zu treffen, bleibt sie auch als mögliche Kritikerin der Metaphysik auf diese verwiesen.
Heidegger, Einleitung zu: Was ist Metaphysik?, S. 367. Vgl. ebd.: »Die Metaphysik denkt, insofern sie stets nur das Seiende als das Seiende vorstellt, nicht an das Sein selbst. Die Philosophie versammelt sich nicht auf ihrem Grund. Sie verlässt ihn stets, und zwar durch die Metaphysik. Aber sie entgeht ihm gleichwohl nie.«
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21. Rhetorische Anthropologie
Die Anthropologie als solche ist eine recht junge Disziplin der Philosophie. Das bedeutet jedoch nicht, dass ihre Anliegen nicht bereits in der Philosophie präsent gewesen wären. Niehues-Pröbsting hat herausgestellt, dass die Philosophie die Anthropologie »nicht brauchte, sie hatte nämlich die Rhetorik«. 1 Er deutet die Rhetorik als philosophische Anthropologie; erst das Verschwinden der Rhetorik, so Niehues-Pröbsting, habe die Entstehung der Geisteswissenschaften bzw. verschiedener philosophischer Disziplinen (Hermeneutik, Ästhetik) nötig gemacht, wie sie heute bekannt sind. 2 Mainberger kann entsprechend darauf hinweisen, dass die Rhetorik der Moderne sich in die verschiedenen Disziplinen hinein »bis zur Selbstauflösung ausgeborgt« hat. 3 Blumenberg hat in seinem Werk Höhlenausgänge für die Philosophie eine »Verschiebung des Schwerpunkts von der Metaphysik oder Ontologie zur Anthropologie« eingefordert. 4 Was er damit meint, erläutert er näher in seiner Anthropologischen Annäherung an die Rhetorik. Die »in der Rhetorik angelegte und aufgegangene ›Anthropologie‹« sei eine »Theorie des Menschen außerhalb der Idealität, verlassen von der Evidenz, […] die letzte und verspätete Disziplin der Philosophie«. 5 Kopperschmidt deutet das große philosophische Interesse an der Rhetorik mit dem Interesse an
Vgl. Niehues-Pröbsting, Das Ende der Rhetorik, S. 31. Vgl. Kopperschmidt, Anthropologie, Sp. 1068: »Die Anthropologie der Rhetorik war unbekannt, weil sie eine implizite Rhetorik war, und die rhetorische Anthropologie musste implizit bleiben, weil Rhetorik nur so praktisch erfolgreich sein konnte.« 2 Vgl. Niehues-Pröbsting, Das Ende der Rhetorik, S. 26 f. 3 Vgl. Mainberger, Rhetorica II, S. 67 f.: »Die Rhetorik fristet in der Wissenswelt der Gegenwart ein von dieser absorbiertes Dasein. Sie lebt parasitär; das meiste von dem, was sie einst war, findet sich anderswo verwendet, aber als Diebesgut unkenntlich gemacht. Die Rhetorik hat sich bis zur Selbstauflösung ausgeborgt.« 4 Vgl. Blumenberg, Höhlenausgänge, S. 812. 5 Vgl. Blumenberg, Anthropologische Annäherung an die Rhetorik, S. 107. 1
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Rhetorische Anthropologie
ihrer Anthropologie. 6 Entsprechend gilt es, die anthropologische Dimension der Rhetorik zu einer rhetorischen Philosophie zu machen, die durch diese anthropologisch wird.
21.1 Animal symbolicum Das Sprechen vom Menschen als animal symbolicum ist eng verbunden mit Ernst Cassirer, der diesen Begriff in seinem Werk Versuch über den Menschen geprägt hatte. Der Mensch, so stellt er dort fest, ist nicht nur auf das physikalische Universum zu beziehen, sondern auf ein symbolisches, das aus Sprache, Mythos, Kunst und Religion besteht. 7 Entsprechend ist der Mensch auch nicht auf die Vernunft, sondern auf seine Symbolizität hin zu definieren: »Der Begriff der Vernunft ist höchst ungeeignet, die Formen der Kultur in ihrer Fülle und Mannigfaltigkeit zu erfassen. Alle diese Formen sind symbolische Formen. Deshalb sollten wir den Menschen nicht als animal rationale, sondern als animal symbolicum definieren.« 8
Diese Symbolizität, so Cassirer, entspricht einem menschlichen Grundbedürfnis: »Statt vom Menschen zu sagen, er besitze einen ›der Bilder bedürftigen Verstand‹ (Kant), sollten wir eher sagen, sein Verstand bedürfe der Symbole.« 9 Diese Differenzierung, so führt Cassirer in seiner Philosophie der symbolischen Formen aus, ist auch eine sprachliche. Die Sprache ist nicht denkbar ohne diese symbolischmetaphorische Dimension und diese macht aus einer »Kritik der Vernunft« eine »Kritik der Kultur«. 10 Die Sprache, die in diesem Akt der Vgl. Kopperschmidt, Was weiß die Rhetorik vom Menschen?, S. 13. Vgl. auch Kopperschmidt, Zur Anthropologie des forensischen Menschen, S. 207: »Es ist in der Tat die rhetorische Anthropologie, die es nach über zweieinhalbtausendjähriger Exilierung aus dem Reich philosophischer Reflexionsenklaven heute wiederzuentdecken gilt, und zwar sowohl als attraktiver Beschreibungsversuch der psychischen und sozialen Konstitutionsbedingungen menschlicher Existenz wie als entsprechend attraktives Anschlusstheorem für einschlägige moderne Theorieinteressen.« 7 Vgl. Cassirer, Versuch über den Menschen, S. 50. 8 A. a. O., S. 51. 9 A. a. O., S. 93. 10 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1, S. 9: »Neben der reinen Erkenntnisfunktion gilt es, die Funktion des sprachlichen Denkens, die Funktion des mythisch-religiösen Denkens und die Funktion der künstlerischen Anschauung derart zu begreifen, dass daraus ersichtlich wird, wie in ihnen allen eine ganz bestimmte 6
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Symbolisierung geschaffen wird, ist, so Cassirer, selbst notwendigerweise symbolisch-metaphorisch. Es ist keine »reine« Sprache möglich, die unabhängig vom Sinnlichen und völlig abstrakt ist. Die metaphorische Sprache wandelt ein bestimmtes Material zu einer bestimmten Gestalt und erschafft auf diese Weise das sprachliche Symbol. 11 In seinem Werk Weisen der Welterzeugung legt N. Goodman zustimmend dar, dass der Inhalt dieser sprachlichen Produktion, wie sie Cassirer beschreibt, von seiner Darstellung nicht zu trennen ist, dem »Stil«. 12 Das nach Cassirer »gewandelte Material« ist ungewandelt überhaupt nicht verfügbar und der Prozeß, den Cassirer in der Symbolisierung des Menschen beschreibt, ist nicht ein dem Menschen zufällig Hinzugefügtes, sondern das Netz, in dem er sich zwangsläufig bewegt. Der Mensch reagiert nicht – wie etwa ein Tier – unmittelbar auf die äußeren Reize der Umwelt, sondern er »schiebt die Antwort auf«, verzögert sie durch einen »langsamen, komplexen Denkprozeß« und erschafft so eine neue Dimension der Wirklichkeit, die symbolisch ist. Diese stellt ein »Symbolnetz« oder ein »Symbolsystem« dar, in dem der Mensch agiert. 13 Grassi spricht hier treffend von einem »›Spiegel‹ seiner eigenen Urbilder«, in dem die Sprache in ihrer Metaphorik sichtbar wird. 14 Cassirer erklärt mit dieser Metaphorik bzw. Symbolizität des Menschen nicht eine metaphysische Substanz oder ein bestimmtes Sein zu dessen Wesensgrund, sondern
Gestaltung nicht sowohl der Welt als vielmehr eine Gestaltung zur Welt, zu einem objektiven Sinnzusammenhang und einem objektiven Anschauungsganzen sich vollzieht. Die Kritik der Vernunft wird damit zur Kritik der Kultur.« 11 Vgl. a. a. O., S. 41: »Diese Wandlung zur Gestalt vollzieht sich in der Wissenschaft und in der Sprache, in der Kunst und im Mythos in verschiedener Weise und nach verschiedenen Bildungsprinzipien: Aber sie alle stimmen darin überein, dass dasjenige, was schließlich als Produkt ihres Tuns vor uns hintritt, in keinem Zuge mehr dem bloßen Material gleicht, von dem sie anfänglich ausgegangen waren.« 12 Vgl. Goodmann, Weisen der Welterzeung, S. 32: »Die Wahrheit ist alles andere als eine erhabene und gestrenge Herrin; sie ist eine gefügige und gehorsame Dienerin. Der Wissenschaftler, der annimmt, er widme sich ausschließlich der Suche nach Wahrheit, täuscht sich selbst.« 13 Vgl. Cassirer, Versuch über den Menschen, S. 49. 14 Grassi, Macht des Bildes, S. 174: »Die ›Umwelt‹ eines jeden Lebewesens stellt den ›Spiegel‹ seiner eigenen Urbilder dar. Die Realität tritt damit in ihrem tiefsten Wesen immer nur als Spiegelbild, als Metapher zutage. Dies ist der Grund, warum das Mittelalter die Natur, die Umwelt der Tiere und der Menschen metaphorisch als ein Buch, als eine Transposition des Absoluten sah.«
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seine Faktizität, sein Wirken und Handeln. 15 In diesem symbolschaffenden Handeln des Menschen entstehen Mythos, Religion, Kunst, Wissenschaft und Geschichte. Die Philosophie, so Cassirer, hat nun die Aufgabe, diese Felder des animal symbolicum zu betrachten und auf ein Ganzes zurückzuführen: »Eine ›Philosophie des Menschen‹ wäre daher eine Philosophie, die uns Einblick in die Grundstruktur jeder dieser verschiedenen Tätigkeiten gibt und uns zugleich in die Lage versetzt, sie als ein organisches Ganzes zu verstehen.« 16
Blumenberg stimmt prinzipiell mit der Beschreibung des animal symbolicum überein, fragt jedoch, »weshalb die ›symbolischen Formen‹ gesetzt werden«. 17 Seine Antwort verschärft den Ansatz von Cassirer. Blumenberg bezweifelt eine gesicherte, biologische Existenz des Menschen, die unabhängig von seiner Kultur bzw. Symbolizität ist. Die Kultur ist nicht eine zusätzliche Dimension der Biologie des Menschen, sondern stellt seine Existenz dar. Auf die Frage, wie das menschliche Wesen angesichts seiner »biologischen Indisposition« in der für ihn feindlichen Wirklichkeit zu überleben vermag, antwortet Blumenberg: »indem es sich nicht unmittelbar mit dieser Wirklichkeit einlässt«, und fährt erklärend fort: »Der menschliche Wirklichkeitsbezug ist indirekt, umständlich, verzögert, selektiv und vor allem ›metaphorisch‹«. 18 Dieser metaphorische Umweg, die Symbolizität des Menschen, so Blumenberg, hat sich in seiner Geschichte als überlebenswichtig erwiesen und damit nicht nur als sprachphilosophisch interessant, sondern existentiell. Die Metaphorik der Sprache bzw. die metaphorische Weltdeutung ist Behebung eines Defizits. Ein Wort bzw. ein Satz entsteht und er wandelt das Unaussagbare in eine Aussage. Daraus ergibt sich jedoch auch eine reale Handlung, die ebenfalls als metaphorisch zu beschreiben ist: »Es wäre einseitig und unvollständig, die Rhetorik nur als die ›Notlösung‹ angesichts des Mangels an Evidenz in Situationen des Handlungszwanges darzustellen. Sie ersetzt nicht nur die theoretische Orientierung für die Handlung; bedeutender ist, dass sie die Handlung Vgl. Cassirer, Versuch über den Menschen, S. 110.: »Das Eigentümliche des Mensche […] ist nicht seine metaphysische oder physische Natur, sondern sein Wirken.« 16 A. a. O., S. 110. 17 Vgl. Blumenberg, Anthropologische Annäherung an die Rhetorik, S. 114. 18 Vgl. a. a. O., S. 115. Vgl. auch a. a. O., S. 134 f.: »Nicht erst seine Situation, sondern schon seine Konstitution ist potentiell metaphorisch.« 15
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selbst zu ersetzen vermag. Der Mensch kann nicht nur das eine anstelle des anderen vorstellen, sondern auch das eine anstelle des anderen tun. Wenn die Geschichte überhaupt etwas lehrt, so dies, daß ohne diese Fähigkeiten, Handlungen zu ersetzen, von der Menschheit nicht viel übrig geblieben wäre.« 19
Blumenberg nennt als frühes historisches Beispiel die Ersetzung des Menschenopfers durch das Tieropfer. In dieser Ersetzung passiert etwas Metaphorisch-Rhetorisches, entstanden aus einem bestimmten Mangel: »Evidenzmangel und Handlungszwang sind die Voraussetzungen der rhetorischen Situation.« 20 Die konkrete Bedeutung dieses Verfahrens, so Blumenberg, liegt in der neuen Rolle, die dem Handelnden zugeschrieben wird, ein Verfahren, das sich nicht auf die Liturgie beschränkt, sondern ohne das eine funktionierende Gesellschaft nicht möglich ist. Aus diesem Mangel und diesen Zwängen ergibt sich jedoch für Blumenberg keine Opposition gegenüber einem wissenschaftsorientierten bzw. die menschlichen Fähigkeiten optimistischer einschätzenden Weltbild, so Bolz: »Vielmehr geht es ihm darum, mit den Mitteln der Wissenschaft Aufmerksamkeit für das zu erzeugen, was nicht Thema der Wissenschaft ist.« 21 Im Gegenteil beweist gerade die metaphorische Konstitution des Menschen nicht seine Schwäche, sondern seine Entwicklungskraft und seine Stärke: »Es war also ein Selbstmissverständnis der Aufklärung, das Rhetorische als Feind des Vernünftigen zu stigmatisieren. Vielmehr gilt: Metaphern pflastern den Weg der Vernunft – nicht wie Leichen […], sondern wie Markierungen für Geländegewinne. Mit anderen Worten: Nicht Metaphern stehen der Vernunft der Analyse der Welt im Weg, sondern Vernunft liefert Metaphern für die Beschreibung der Welt.« 22
Der Mensch als animal symbolicum existiert nur, insofern er sich die Welt deutet und sich selbst in der Welt deutet. Diese Deutungsvorgänge sind rhetorischer Natur und der Mensch ist in einer Anthroplogie auf diese rhetorische Natur hin darzustellen. Eine solche rhetorische Anthropologie beschreibt den Menschen »von dem und nur von dem, worin der Mensch einzig ist« 23, und setzt auf diese A. a. O., S. 116 f. A. a. O., S. 117. 21 Vgl. Bolz, Das Gesicht der Welt, S. 93. 22 A. a. O., S. 93. 23 Vgl. Blumenberg, Anthropologische Annäherung an die Rhetorik, S. 108: »Kurz: über den als einzigartig behaupteten Menschen hat die metaphysische Tradition im 19 20
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Rhetorische Anthropologie
Weise einen Gegenakzent gegenüber einer metaphysischen Zuschreibung, aber auch gegenüber dem Versuch, im Rahmen einer naturwissenschaftlichen Methodik das Wesen des Menschen definieren zu können. Blumenberg lenkt in seinem Aufsatz Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik den Blick auf die prinzipielle Frage, was der Mensch eigentlich ist: ein Wesen, das sich durch seine Fähigkeit oder aber durch seine Unfähigkeit definiert. Diese Differenzierung führt er weiter zur Rhetorik: »Rhetorik hat es zu tun mit den Folgen aus dem Besitz von Wahrheit oder mit den Verlegenheiten, die sich aus der Unmöglichkeit ergeben, Wahrheit zu erreichen.« 24 Der Mensch ist als Mängelwesen nicht in der Lage, adäquat eine Wahrheit auszudrücken und darauf verwiesen, sich der Rhetorik zu bedienen, um diesen Mangel zu verschleiern. Insofern der Mensch jedoch in seiner Fähigkeit gesehen wird, sich auszudrücken, und dieser Ausdruck Träger der für ihn relevanten Wahrheit ist, setzt er die Rhetorik als Stärkung und Weiterführung seiner natürlichen Begabung ein. 25 Die Frage der Einschätzung der philosophischen Relevanz der Rhetorik ist nicht nur die Frage der Einschätzung der menschlichen Sprache, sondern des Menschen selbst, der auf seine symbolschaffende Konstitution hin gedeutet wird. Damit wird der Mensch nicht auf seine Fakten hin oder auf eine metaphyische Essenz hin gesehen, sondern auf seine Handlungen hin, und die sind rhetorisch: »Rhetorik hat es nicht mit Fakten zu tun, sondern mit Erwartungen.« 26 Indem der Mensch die Wirklichkeit deutet, ist er rhetorisch. Blumenberg hat von hier aus auch eine mögliche Ursache des Verschwindens der Rhetorik am Beginn der Moderne ausgemacht: »Die modernen Schwierigkeiten der Rhetorik mit der Wirklichkeit bestehen zum guten Teil darin, daß diese Wirklichkeit keinen Appellationswert mehr hat, weil sie ihrerseits Resultat künstlicher Prozesse ist.« 27 Wenn die Grund nichts besonderes zu sagen gewusst. Das ist erstaunlich, aber es hängt eng mit der philosophischen Verbannung der Rhetorik zusammen. Denn die Rhetorik geht aus von dem und nur von dem, worin der Mensch einzig ist.« 24 A. a. O., S. 104. 25 Vgl. a. a. O., S. 105: »Der Mensch als das reiche Wesen verfügt über seinen Besitz an Wahrheit mit den Wirkungsmitteln des rhetorischen ornatus. Der Mensch als das arme Wesen bedarf der Rhetorik als der Kunst des Scheins, die ihn mit seinem Mangel an Wahrheit fertig werden lässt.« 26 A. a. O., S. 128 f. 27 A. a. O., S. 133.
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Rhetorik Teil des Deutungsgeschehens ist, mit dem der Mensch sich die Wirklichkeit zu eigen macht, dann gerät sie in dem Augenblick in Schwierigkeiten, so Blumenberg, in denen der Mensch diese Wirklichkeit nicht mehr unmittelbar, sondern bereits vermittelt erfährt, als Produkt menschlichen Gestaltungswillens. In seinem Werk Beschreibung des Menschen macht Blumenberg die Krise der Philosophie in der menschlichen Wahrnehmung fest, sich und die eigene Existenz nicht in vollständiger Weise deuten zu können: »Die Krise steckt in der Unzulänglichkeit des Subjekts für sich selbst, in der überraschenden Wahrnehmung seiner Undurchsichtigkeit.« 28 In der Wahrnehmung der Unfähigkeit, sich selbst zu deuten, liegt die Notwendigkeit symbolischen und rhetorischen Handels, die gerade darin begründet ist, das, was ist und was erkannt wird, zu verbinden mit dem, was sich dieser Erkenntnis entzieht – der Weg des Eigentlichen zum Uneigentlichen der Metaphorik. Auf einen interessanten, vertiefenden Aspekt des animal symbolicum weist Huizinga in seinem Homo Ludens hin. Dort beschreibt er den Menschen als spielendes Wesen, im Spiel kommt der Mensch als kulturschaffendes Wesen zu sich. In der Beschreibung dieses grundsätzlichen Spiels besitzt die Sprache eine grundlegende Funktion und dieses Spiel der Sprache, so Huizinga, ist die Metapher, das gedankliche Hin- und Herspringen des Geistes, das immer neu die Sprache als metaphorisches Geschehen hervorbringt. 29 Indem Huizinga das Spiel zur bestimmenden Wesenseigenschaft des Menschen erklärt und die Sprache auf dieses Spiel hin auslegt, setzt er – wie vor dem Hintergrund der bisherigen Untersuchungen zu ergänzen ist – den homo ludens mit dem animal symbolicum in eins, das gleichzeitig ein animal metaphoricum bzw. ein animal rhetoricum ist.
Blumenberg, Beschreibung des Menschen, S. 895. Vgl. Huizinga, Homo Ludens, S. 12 f.: »Die großen ursprünglichen Betätigungen des menschlichen Zusammenlebens sind alle bereits vom Spiel durchwoben. Man nehme die Sprache, dieses erste und höchste Werkzeug, das der Mensch sich formt, um mitteilen, lehren, gebieten zu können, die Sprache, mit der er unterscheidet, bestimmt, feststellt, kurzum nennt, d. h. die Dinge in das Gebiet des Geistes hervorhebt. Spielend springt der sprachschöpfende Geist immer wieder vom Stofflichen zum Gedachten hinüber. Hinter einem jeden Ausdruck für etwas Abstraktes steckt eine Metapher, und in jeder Metapher steckt ein Wortspiel. So schafft sich die Menschheit immer wieder ihren Ausdruck für das Dasein, eine zweite erdichtete Welt neben der Welt der Natur.«
28 29
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Der Mensch als animal symbolicum ist ein animal rhetoricum. Seine notwendige symbolische Produktivität macht ihn zu einem rhetorischen Wesen. Eine Philosophie, die den Menschen in dieser Konstitution ernst nimmt, muss daher selbst rhetorisch sein, so Mainberger: »Die anthropologische Seite der Philosophie ist in letzter Instanz ihre rhetorische Seite.« 30 Diese anthropologisch-rhetorische Philosophie begründet Mainberger wie folgt: »Denn eine Philosophie ist in dem Maße menschlich zu nennen, wie sie das am Menschen und für Menschen erarbeitet, was sie zu dem macht, was sie sind, keine Alleskönner, sondern Könner, die immer auch anders sein können.« 31
Die Rhetorizität am Menschen ist dasjenige, was ihn als menschliches Wesen ausmacht: die Fähigkeit, sich und seine Welt zu entwerfen, aber eben auch die Unfähigkeit, sich und die Welt einer endgültigen Definition zu unterwerfen. Der Mensch als animal rhetoricum ist der Mensch, den Vico mit der berühmten Verum-factum-Formel beschrieben hat. Vico ist, so Mainberger, Schöpfer einer Philosophie, die den Menschen als ein Subjekt erkennt, »das sich im Akt der Vergegenwärtigung selbst zum Objekt macht und sich, von äußerer, fremder Objektivierung losgelöst, in Selbstreflexion als wahr und vergewissert darstellt«. 32 Die Symbolizität des animal symbolicum, somit seine Rhetorizität, ist nicht nur eine nach außen gewandte, sondern auch eine sich nach innen wendende, die den Menschen als Menschen konstituiert und ihn in ein Verhältnis zur Außenwelt setzt. 33 Die Beschreibung dieser Konstituierung ist in der Rhetorik vollzogen; ihre Anthropologie ist die Grundlage der Rhetorik. Auf diese Weise hat das Interesse an einer bestimmten Anthropologie zu einem wiedererweckten Interesse an der Rhetorik geführt und bietet die Chance, die Rhetorik als philosophisch relevante, gelebte Praxis hinter ihrer bloßen Theoriebildung freizulegen und ihr somit auch einen positiven Wert zuzubilligen. 34 Die Wahrnehmung des Menschen als animal rhetoricum, damit die Feststellung eines spezifisch rhetorischen Welt- und Menschenbildes, wurde in moderner Zeit insbesondere von Dockhorn in der 30 31 32 33 34
Mainberger, Rhetorica II. Spiegelungen des Geistes, S. 297. Ebd. Vgl. a. a. O., S. 86 f. Vgl. Broekman, Darstellung und Diskurs, S. 77. Vgl. Kopperschmidt, Zur Anthropologie des forensischen Menschen, S. 205 f.
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Geistesgeschichte nachgewiesen. So schreibt er in Rhetorica movet, dass die Rhetorik »eine Weltanschauung im vollsten Sinne des Wortes ist, eine Weltanschauung mit eigener Erkenntnistheorie, eigener Moral und vor allem eigener Anthropologie«. 35 Was genau Dockhorn unter dieser rhetorischen Anthropologie versteht, wird in seiner Beschreibung der reformatorischen Weltanschauung deutlicher, die er als rhetorisch deklariert und wie folgt charakterisiert: »Die Rhetorik mit ihrer Lehre vom Wissen des Wahrscheinlichen, von der Unterworfenheit des Willens und des Intellekts unter die Affekte […].« 36 Unabhängig davon, dass Dockhorn sich hier um eine enge Nähe zum Protestantismus bemüht, stellt er als Kennzeichen des rhetorischen Weltbildes zum einen eine erkenntnistheoretische Skepsis fest, zum anderen eine Beachtung der menschlichen Gefühlswelt und Emotionalität. Zentrales Element der rhetorischen Aktion ist für Dockhorn das »movere«, das Bewegen, das dem bloßen Wissen des »docere« gegenübersteht. Entsprechend definiert sich die Rhetorik für Dockhorn damit letztlich über die Irrationalität. So schreibt er in Die Rhetorik als Quelle des vorromantischen Irrationalismus: »Denn für die Rhetorik steht das Irrationale nicht als Problem neben anderen Problemen, sondern ist ihr bewegendes Prinzip. Das kann nicht anders sein.« 37 Dockhorn hat den Einfluß der Rhetorik in der europäischen Geistesgeschichte als sehr hoch eingeschätzt und Gadamer zu Recht darauf hingewiesen, dass in seiner Wahrnehmung des Humanismus die Rhetorik nicht angemessen berücksichtigt würde. Was Dockhorn jedoch nicht richtig einschätzt, ist nicht die Rolle, sondern das Wesen einer Rhetorik, die innerhalb des Humanismus verortet wird. Die Rhetorik verfügt nicht über ein eigenständiges Menschenbild, sondern ist Ausdruck, vielleicht sogar Zuspitzung eines bestimmten Menschenbildes. Der Irrationalismus, die Antiphilosophie der Rhetorik, ist nicht ein Kennzeichen der Rhetorik, sondern ein Kennzeichen einer philosophisch zu interpretierenden Deutung des Menschen, die kritisch auf jede Art metaphysischer oder allgemein logischer Philosophie blickt und daher in der Konsequenz nicht antiphilosophisch ist, aber gegen das verstieß, was als Philosophie verstanden wurde. Die Rhetorik ist herausgehobener Teil der symbolschaffenden Kraft des Menschen. Insofern ist der Mensch, den die rhetorische Anthro35 36 37
Vgl. a. a. O., S. 17. Dockhorn, Rhetorica movet, S. 42. Dockhorn, Die Rhetorik als Quelle des vorromantischen Irrationalimus, S. 49.
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Rhetorische Anthropologie
pologie als animal rhetoricum beschreibt, eine – wenn auch notwendige – Zuspitzung des animal symbolicum.
21.2 Das Unbewusste Sigmund Freud gilt als Entdecker des Unbewussten. Dem Bewussten, der Rationalität, der Reflexion stellt er ein Unbewusstes gegenüber, das sich dieser Reflexion entzieht bzw. ihr vorausgeht, und verweist auf Strukturen, die unterhalb des menschlichen Bewusstseins liegen. Die Relevanz für die Sprachphilosophie ergibt sich nicht nur aus der Tatsache, dass sich die Psychoanalyse Freuds als ein sprachliches Geschehen versteht, 38 sondern vielmehr daraus, dass sie in der Lage ist, die Metaphorik der Sprache aufzugreifen und anthropologisch – und damit philosophisch relevant – weiterzuführen. Bolz begreift Rhetorik und Psychoanalyse als »komplementäre Deutungen«: »Die Psychoanalyse klärt mit Hilfe der Rhetorik die sprachliche Verfaßtheit des Unbewußten auf – Gerber und (ihm meist wörtlich folgend) Nietzsche begreifen die Rhetorik als Elaboration einer unbewußten Sprach-Kunst.« 39 Ähnlich äußert sich Mainberger, der den Freud’schen Versprecher als rhetorische Figur einordnet, die in der Psychoanalyse aufgeschlüsselt wird. 40 Nietzsche selbst hat in seiner Rhetorik diese beschrieben als »als Mittel unbewusster Kunst in der Psyche und deren Werden«. 41 Die Rhetorik – in ihrem Rückgriff auf die metaphorische Sprache – verweist auf die »Uneigentlichkeit« der Sprache, ihre Unfähigkeit, eine Idealsprache zu bilden, und macht aus dieser linguistischen Defizienz einen Gewinn. Dieses linguistische Defizit ist letztlich ein Defizit des Subjekts. Indem das Subjekt in der Philosophie durch das Unbewusste in Frage gestellt wurde, öffnete sich erst der Raum für die Wiedergeburt der Rhetorik, so Meyer: Vgl. Freud, Die Fehlleistungen, S. 43. Bolz, Eine kurze Geschiche des Scheins, S. 53. 40 Vgl. Mainberger, Die Rhetorik in der Philosophie, S. 331: »Sie lehrt uns, den Versprecher als psychisches Phänomen zu verstehen. Maßgeblich ist dabei das sprachlichrhetorische Paradigma. Es besagt, rhetorische Kunst sei bewusst, habe als unbewusste Kehrseite die in der Sprache liegenden Kunstmittel. Die Rhetorik ist deren Fortbildung; in genauer Parallele dazu ist die Psychoanalyse die kunstvolle Fortbildung der im Menschen unbewusst schlummernden und in der Seele angelegten Mittel seiner Wunschrealisierung.« 41 Vgl. Nietzsche, Rhetorik, § 3. 38 39
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Das Unbewusste
»Die Wiedergeburt der Rhetorik im 20. Jh. hat keinen anderen Ursprung als die Krise des Subjekts. Die Psychoanalyse war die Avantgarde dieser Wiedergeburt.« 42 Der französische Psychoanalytiker J. Lacan hat den wirkmächtigen Versuch unternommen, mit Hilfe der Linguistik de Saussures das Unbewusste Freuds in seinen sprachlichen Strukturen zu beschreiben und auf diese Weise die beiden getrennt laufenden Diskurse zusammenzufügen. Wie bereits die hermeneutischen Frühversuche in der Antike und im Mittelalter, die zum Studium der Rhetorik anregten, um im Nachvollzug der Konstruktion die Texte selbst verstehen zu können, regt auch Lacan an, für die Psychoanalyse Rhetorik, Dialektik, Grammatik und Poetik zu studieren, da diese als Teil der Artes liberales( der Ursprung der Psychologie seien. 43 Freud hatte in seiner Traumdeutung differenziert zwischen den Traumgedanken und dem Trauminhalt. Letzter, so Freud, »erscheint uns als eine Übertragung der Traumgedanken in eine andere Ausdrucksweise. […] Die Traumgedanken sind uns ohne weiteres verständlich, sobald wir sie erfahren haben. Der Trauminhalt ist gleichsam in einer Bilderschrift gegeben, deren Zeichen einzeln in der Sprache der Traumgedanken übertragen sind.« 44
Dieser Akt der Traumproduktion, die »Traumarbeit«, wird nach Freud wesentlich durch zwei verschiedene Mechanismen vollzogen: die Verdichtung 45 und die Verschiebung, 46 die Freud bereits als allgemein sprachliche Phänoneme deutete. 47 Lacan verbindet diese beiden Mechanismen mit der Linguistik de Saussures. Dieser hatte die Beziehungen zwischen sprachlichen Gliedern auf zwei Sphären hin
Meyer, Plädoyer für eine Anthropologie der Rhetorik, S. 325. Vgl. Lacan, Schriften, Bd. 1, S. 130: »Wir würden von uns aus gern noch die folgenden Gebiete hinzufügen: die Rhetorik, die Dialektik, und zwar in dem technischen Sinne, den dieser Begriff in der Topik des Aristoteles besitzt, die Grammatik und – als Gipfel einer Ästhetik der Sprache – die Poetik. […] Wenn diese Fächer gewissen Leuten etwas altmodisch erscheinen sollten, nehmen wir diesen Vorwurf auf uns, weil es sich bei ihnen um eine Rückkehre zu den Ursprüngen unserer Disziplin handelt. Denn in ihrer frühen Entwicklung hatte Psychoanalyse, die gebunden ist an die Entdeckung und Untersuchung von Symbolen, teil an der Struktur dessen, was das Mittelalter unter dem Namen der ›artes liberales‹ kannte.« 44 Freud, Die Traumdeutung, S. 280. 45 Vgl. a. a. O., S. 282. 46 Vgl. a. a. O., S. 305. 47 Vgl. a. a. O., S. 185 ff. 42 43
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Rhetorische Anthropologie
beschrieben: eine »syntagmatische«, und eine »assoziative«. 48 Die Syntagmatik beschreibt die Sprache als lineares Geschehen, in dem die einzelnen sprachlichen Elemente aneinandergereiht werden (Beziehung »in praesentia«), die Assoziation bezeichnet die Auswahl eines sprachlichen Elements aus der Masse nichtgesagter sprachlicher Elemente, die im menschlichen Geist existieren (Beziehung »in absentia«). Lacan erkennt in diesen beiden sprachlichen Sphären den Bezug zu den bei Freud beschriebenen Verdichtungen und Verschiebungen der Sprache und fasst diese mit den rhetorisch-tropischen Kategorien zusammen, die im Lesen der rhetorischen Struktur des Textes des Unbewussten begründet sind: »[…] Doch bei diesen geht es nur um die Dechifrierung eines Mittels, während erst mit einer Übersetzung des Textes die Hauptsache beginnt. Von ihr sagt Freud, sie sei in der Ausarbeitung seines Traumes, das heißt in seiner Rhetorik gegeben. Ellipse und Pleonasmus, Hyperbaton und Syllepsis, Rückgriff, Wiederholung und Apposition sind syntaktische Verschiebungen, Metapher, Katachrese, Antonomasie, Allegorie, Metonymie und Synekdoche sind semantische Verdichtungen, in denen Freud uns die […] zurückweisenden und verführerischen Intentionen lesen lehrt, mit denen das Subjekt seine Traumrede schmückt.« 49
Metapher (als Verdichtung) und Metonymie (als Verschiebung) sind damit als Mechanismen des Unbewussten auch Prinzipien der Sprache. 50 Ähnlich äußerte sich auch Jakobson, der von den Prinzipien der Kontiguität (Metonymie) und Similarität (Metapher) als den »zwei Seiten der Sprache« spricht. 51 Diese beiden Seiten der Sprache sind bei der Beurteilung eines jeden sprachlichen Zeugnisses zu berücksichtigen. Eine rhetorische Philosophie bemüht sich, die Rhetorik des Unbewussten in der Sprache wahrzunehmen und die Sprache – mit Hilfe der Rhetorik – als Darstellung bewusster und unbewusster Prozesse zu deuten. 52 Hierbei geht es nicht um ein hermeneutisches Vgl. de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 147 ff. Lacan, Schriften, Bd. 1, S. 107. 50 Vgl. Lang, Die Sprache und das Unbewusste, S. 234 ff. 51 Vgl. Jakobson, Zwei Seiten der Sprache und zwei Typen aphatischer Störungen. 52 Vgl. IJsseling, Rhetorik und Philosophie, S. 147 f.: »Es ist daher besonders wichtig, den verschiedenen im Text wirksamen Mechanismen Aufmerksamkeit zu schenken, namentlich der Verdichtung und der Verschiebung. Mit anderen Worten: Man muss einen philosophischen Vortrag mit großer Offenheit für seine metaphorische und metonymische Struktur lesen.« Vgl. auch Grassi, Rhetoric as Philosophy, S. 19 f. 48 49
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Das Unbewusste
Anliegen, mit dem auf den philosophischen Text zugegriffen werden soll, nicht nur um eine Interpretation des Textes in seiner äußeren Gestalt, sondern auch um das Unbewusste, das hinter bzw. zwischen dem Text steht, das Nicht-Geäußerte, das aber dennoch für die Äußerung relevant ist. IJsseling hat aufgrund der Verbindung von Psychoanalyse und Rhetorik in dem Konflikt zwischen Psychoanalyse und Philosophie eine Fortsetzung des antiken Konflikts erkannt; dieser Konflikt, so IJsseling, sei »ein Aspekt des umfassenderen Problems der Spannung zwischen Rhetorik und Philosophie«. 53 Julia Kristeva hat diesen Konflikt – der das Prinzip der Sinngebung beinhaltet – mit den beiden Dimension des »Genotextes« und »Phänotextes« beschrieben und damit die Dualität von Unbewusstem und Bewusstem zum Teil der Linguistik gemacht. Der Phänotext ist die Sprache als Akt der Kommunikation, der eine Aussage von einem Sprecher zum Adressaten weitertragen will. Dieser konkrete Sprachakt baut auf dem Genotext auf, der das Triebhafte darstellt. Der Genotext ist es, der den Phänotext erzeugt, und in diesem Erzeugen kommt es zur Bildung von Symbolen, aber auch des Subjekts selbst. 54 Dieses Wechselspiel zwischen Geno- und Phänotext ist es, das den Sinn erzeugt: »Der Prozess der Sinngebung umfasst demnach den Genotext wie den Phänotext, denn nur in der Sprache kann sich eine signifikante Funktionsweise verwirklichen (selbst wenn diese Verwirklichung nicht das Material der Sprache benutzt), und allein von der Sprache aus kann der theoretische Versuch unternommen werden, in ihn einzudringen.« 55
Unbewusstes und Bewusstes sind auch in ihrer sprachlichen Dimension in einer gegenseitigen Abhängigkeit zu sehen. Die Durchdringung des Unbewussten ist unabdingbar sprachlich, dieses selbst hingegen nicht. Auf die konkrete Sprache gewendet bedeutet dies, dass eine philosophische Beurteilung der Sprache bzw. der Versuch, die Vgl. a. a. O., S. 140. Vgl. Kristeva, Die Revolution der poetischen Sprache, S. 95: »Demnäch wäre der Genotext lediglich das Transportmittel für Triebenergien, die einen Raum organisieren, in dem das Subjekt noch keine gespaltene Einheit ist, die sich verwischt, damit das Symbolische sich einstellen kann, worin sich das Subjekt vielmehr als solches erst erzeugt in einem Prozess von Bahnungen und Markierungen unter der Einwirkung der biologischen und gesellschaftlichen Strukturen. Das heißt, dass der Genotext sich zwar in der Sprache zu erkennen gibt, das er aber nicht sprachlich ist (im Sinne der strukturalistischen oder generativen Linguistik).« 55 A. a. O., S. 96. 53 54
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Rhetorische Anthropologie
Sprache auf ihre Sinnhaftigkeit hin auszulegen, um die Abhängigkeit der Sprache von etwas weiß, das sich dem sprachlichen Zugriff zwar entzieht, die Sprache aber auf dieses verweist bzw. dessen Verweisung darstellt. Der rote Faden der Geistesgeschichte, der im Konflikt zwischen Rhetorik und Philosophie bzw. Psychoanalyse und Philosophie zutage tritt, lenkt den Blick zurück auf ein anderes antikes Spannungsfeld: das zwischen Mythos und Logos. Wenn der Mythos als vorrationale Weltdeutung zu begreifen ist, in der sich die verschiedenen Naturkräfte, aber auch menschlichen Triebe ausdrücken, und der Logos die rationale Kritik bzw. Überwindung des Mythos darstellt, dann ist der Mythos durchaus als Vorgänger des Freud’schen Sprechens vom Unbewussten zu sehen und der Konflikt von Mythos und Logos als derjenige zwischen einer bewusst-rationalen Weltdeutung und einer unbewusst-vorrationalen Welterzählung. 56 Wenn der philosophische Logos der Antike die die Aletheia verhüllende Doxa überwinden wollte, so zielte er genauso auf den Mythos wie auf die Rhetorik, welche beide – aus der Perspektive der Philosophie – die Doxa ausmachten. Insofern der Mythos der unmittelbare Ausdruck des Unbewussten ist, die Rhetorik dieses Unbewusste in der Sprache zum Thema macht und die Psychoanalyse Freuds eine Mythologie des Unbewussten entwirft und eine Rhetorik des Unbewussten erkennt, scheint hier eine Struktur auf, die der Philosophie als Ausdruck bewusster und rationaler Weltdeutung entgegentritt. Eine rhetorische Philosophie besitzt den Anspruch, diese Gegenstruktur integrieren zu können bzw. auf ihr aufzubauen. 57 Blumenberg entwarf seine Metaphorologie mit dem Anspruch, dass diese an die »Substruktur des Denkens […], an den Untergrund, die Nährlösung der systematischen Kristallisationen« führen könnte. 58 Dieser Anspruch ist der Anspruch einer Philosophie, welche sich das rhetorisch-metaphorische Sprachverständnis zu eigen gemacht hat und in der Lage ist, in der Sprache das Nebeneinander von bewusster und unbewusster ÄuVgl. Angehrn, Die Überwindung des Chaos, S. 187 ff. Vgl. Grassi, Rhetoric as Philosophy, S. 20: »›Rhetoric‹ is not, not can it be the art, the technique of an exterior persuasion; it is rather the speech which is basis of the rational thought. This original speech, because of its ›archaic‹ character, sketches the framework for every rational consideration, and for this reason we are obliged to say that rhetorical speech ›comes before‹ every rational speech.« 58 Vgl. Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, S. 13. 56 57
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Das Unbewusste
ßerung zu erkennen. Auf diese Weise vermag die Philosophie, das Unbewusste und Nichtrationale bestehen zu lassen und so als ihren Grund in den philosophischen Diskurs einzufügen, ohne es aufzulösen. 59 Die alte Anklage an die Metaphysik, dasjenige zu verdrängen, was sich nicht in das metaphysische System integrieren lässt, ist auch an jedwede Philosophie zu erheben, welche dasjenige ausklammert, was rational nicht auflösbar ist. 60 Schweidler spricht aus genau diesem Grund von einer »indirekten Metaphysik« als einer »Konstellation des leitenden und doch uneinholbaren«, des »›abgelenkten‹ Selbstbezugs im Weltzugang«. 61 Das Unbewusste ist dasjenige, welches das philosophische Sprechen »ablenkt«, ihm den direkten Zugriff auf das zu Besprechende verwehrt und sich eben nicht in die Rationalität vollständig auflösen lässt, aber dennoch von der Rationalität geleitet ist. Gadamer hat in seinem Artikel Destruktion und Dekonstruktion Derrida vorgeworfen, den Sinn an die écriture zu binden und damit nicht auf ein »essentielles Sein« zu verweisen, sondern auf »die Linie, die zeigende Spur«: »Damit richtet er sich gegen einen metaphysischen Begriff von Logos und spricht von dem Logozentrismus, der selbst noch Heideggers Seinsfrage als Frage nach dem Sinn von Sein eingeschrieben sei.« 62 Gadamer kreidet Derrida an, die Rede auf »Urteilsaussagen« zu reduzieren. Pöggeler kommentiert, dass Gadamer hierbei übersehen habe, dass Derridas Konzeption der Spur nicht von Heideggers Seinsfrage abhängig ist, sondern von Lévinas und Freud. 63 Derrida betont gegenüber Gadamer die Notwendigkeit eines »Bruchs« bzw. einer »allgemeinen Neustrukturierung des Kontextes« und hält Gadamer vor, diesen Bruch nicht anzuerkennen, wenn ihm »eine einfach Ausweitung des interpretatorischen Zusammenhangs« genügen würde. 64 Von welchem Bruch spricht Derrida? Es ist der Vgl. Mainberger, Rhetorica II, S. 315: »Der rhetorisch gekonnte Umgang mit dem Unbegriffenen löst dieses nicht auf, sondern löst den Anspruch ein, allem Rechnung zu tragen, was jenseits der reinen Argumentation der Fall sein mag und der Glaublichkeitszuschüsse bedarf. Das rhetorische Verfahren ist, im Gegensatz zum rein epistemischen, von Überschüssen und nicht verarbeiteten Resten begleitet.« 60 Vgl. Grassi, Die Macht der Phantasie, S. 40: »Es ist bezeichnend, dass in der ganzen abendländischen Tradition immer dort, wo der Rationalismus sich behauptete, das Problem des Bezugs zwischen Logos und Pathos ungelöst blieb.« 61 Vgl. Schweidler, Das Uneinholbare, S. 11. 62 Vgl. Gadamer, Destruktion und Dekonstruktion, S. 371. 63 Vgl. Pöggeler, Gadamers philosophische Hermeneutik und die Rhetorik, S. 212. 64 Vgl. Derrida, Guter Wille zur Macht (I), S. 57. 59
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Rhetorische Anthropologie
Bruch, den die Psychoanalyse am Unbewussten festmacht. Indem die Hermeneutik dieses Unbewusste nicht als das Andere des Bewussten gelten lässt – den »Bruch« bestehen lässt –, sondern vom Bewusstsein her aufschlüsseln will, erweitert sie illegitimerweise den eigenen interpretatorischen Rahmen in einen Bereich, den sie nicht mehr erfassen kann: »Immer muss man sich fragen, ob die Bedingung des Verstehens […] nicht doch ein Bruch des Bezuges ist, der Bruch als Bezug gewissermaßen, eine Aufhebung aller Vermittlung?« 65 Hier liegt wohl die Ursache dafür, dass eine rhetorische Philosophie in der Dekonstruktion Derridas einen wichtigen Ansprechpartner findet. Im Unterschied zur Hermeneutik Gadamers hat diese ihren Ausgangspunkt im Nicht-Verstehen, in der Differenz und Unterschiedenheit zum zu verstehenden Objekt. Derrida weist darauf hin, dass der Text eines Autors »immer mehr, weniger oder etwas anderes aussage, als er aussagen möchte«. 66 Angehrn fasst die Arbeit der Dekonstruktion wie folgt zusammen: »Aufzulösen ist die Einheitlichkeit und Geschlossenheit des Sinns. Was ein Text sagt, ist nicht im Wort fixiert, was ein Sprecher meint, nicht im Gesagten festgelegt.« 67 An diesem Punkt ist die Dekonstruktion ein offenes Verfahren gegenüber dem, was Freud das Unbewusste genannt hat. Statt sich des Bewussten zu vergewissern, schaut sie auf das Unbewusste und lässt es als solches gelten. Insofern eine rhetorische Philosophie, die auf der Metaphorik der Sprache aufbaut, um die Präsenz des Unbewussten in der Sprache und im Ausdruck weiß, gelingt es ihr – ähnlich wie der Dekonstruktion – dasjenige in den eigenen Diskurs zu integrieren, was rational nicht auflösbar ist: das Nichtrationale, das Unbewusste. Oesterreich hat mit Blick auf den Konflikt zwischen Platon und der Sophistik davon gesprochen, dass diese eine »›schwache‹ Anthropologie« vertreten würde – im Unterschied zu einer »starken Anthropologie« der entstehenden Metaphysik. 68 Oesterreich deutet damit zu Recht eine Tendenz der Sophistik an, die sich namentlich in der DeA. a. O., S. 58. Vgl. Derrida, Grammatologie, S. 273. 67 Angehrn, Interpretation und Dekonstruktion, S. 247 f. 68 Vgl. Oesterreich, Die Rhetorik der Metaphysik im Zeitalter neuer Sophistik, S. 83 f.: »Im Unterschied zur ›starken‹ Anthropologie, die den Menschen als einsichtiges Vernunftwesen entdeckt, vertritt die Sophistik eine ›schwache‹ Anthropologie, die den Menschen als kurzsichtiges Meinungswesen, das situative Ansichten der gewöhnlichen Lebenswelt gerade nicht zu übersteigen vermag, bestimmt.« 65 66
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Fundamentalrhetorische Anthropologie
konstruktion fortsetzt: nicht beim Verstehen, sondern beim NichtVerstehen anzusetzen. Die Frage, die sich jedoch ergibt, ist einerseits diejenige, ob diese Haltung notwendig zu einer »schwachen« Anthropologie führen muss: Ist die kritische Hinterfragung des Wissens in der Dekonstruktion Kennzeichen einer »schwachen« Anthropologie? Ist andererseits das in der Metaphysik erzeugte Wissen Kennzeichen einer »starken« Anthropologie? Das Unbewusste Freuds und die Möglichkeit der Aufnahme dieses Unbewussten in den philosophischen Diskurs durch eine rhetorische Anthropologie erinnert an die Tatsache, dass sich das Menschsein nicht in völliger Weise rational beschreiben und auf das Bewusstsein reduzieren lässt. Unabhängig davon, ob es sich dabei um eine »Schwäche« handelt, darf diese Dimension des Menschseins in seiner Beschreibung nicht übersehen werden und ist zumindest gleichermaßen zentral für die Philosophie oder sogar vielleicht eher der Kern philosophischen Denkens als die Philosophie selbst. 69
21.3 Fundamentalrhetorische Anthropologie 1990 legte Peter Oesterreich seine Fundamentalrhetorik vor, die Kopperschmidt wie folgt kennzeichnete: Diese sei der »Versuch einer ›fundamentalrhetorischen Anthropologie‹ […] mit den originären Mitteln der Rhetorik selbst«. 70 Diese Fundamentalrhetorik beruft sich inhaltlich in vielen Punkten auf die Phänomenologie, namentlich auf die daseinshermeneutische »existentialontologischen Wendung der Rhetorik in M. Heiddeggers Sein und Zeit«. 71 Osterreich definiert seine Fundamentalrhetorik als »die deskriptive Theorie, die das Phänomen des Rhetorischen begrifflich definiert und in seiner anthropologischen bzw. ontologischen Bedeutung expliziert«. 72 Die Fundamentalrhetorik Oesterreichs beinhaltet eine Kritik am Rhetorikverständnis Heideggers oder Gadamers, denen er einerseits vorVgl. Deleuze, Was ist Philosophie?, S. 49. »Vorphilosophisch meint nichts Präexistentes, sondern etwas, das nicht außerhalb der Philosophie existiert, wenngleich es von dieser vorausgesetzt wird. Es sind dies ihre inneren Bedingungen. Das NichtPhilosophische ist vielleicht tiefer im Zentrum der Philosophie als die Philosophie selbst.« 70 Kopperschmidt, Was weiß die Rhetorik vom Menschen?, S. 20 f. 71 Vgl. Oesterreich, Fundamentalrhetorik, S. 9 ff. 72 Vgl. a. a. O., S. 9. 69
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Rhetorische Anthropologie
wirft, den Rhetorikbegriff zu entgrenzen und in eine Beliebigkeit hin aufzulösen, andererseits aber »bei aller Wertschätzung in sinnkonstitutiver Hinsicht« den ursprünglich produktiven Charakter der Rhetorik zu missachten. 73 In diesem Rahmen entwirft er die Anthropologie eines »homo rhetoricus«, eines Menschen, der durch eine rhetorisch zu definierende Sprachlichkeit in der Tradition des klassischen ζῷον λόγον ἔχον des Aristoteles geprägt ist. Oesterreich überträgt hierzu bestimmte Kennzeichen des Rhetorischen und hält diese als grundlegende menschliche Eigenschaften fest, so z. B. die Inventionskunst (Topik), das Ordnenkönnen, das elokutionäre Gestaltenkönnen, das Erinnernkönnen usw. Die von Oesterreich vorgeschlagene rhetorische Anthropologie birgt viele gute Ansätze und es gelingt ihr überzeugend, eine wichtige Brücke zwischen Rhetorik und Philosophie zu schlagen. Oesterreich erkennt jedoch in verschiedenen modernen Ansätzen einer rhetorischen Philosophie einen »Rückfall in die sophistische Mentalität«, den es genauer zu betrachten gilt und den er besonders bei Blumenberg festmacht, dem er eine »neosophistische Kompensationstheorie der Rhetorik« vorwirft. 74 Indem Blumenberg die Rhetorik als eine »kompensatorische Bewältigung« der menschlichen Defizienz deutet, so Oesterreich, stellt er die Rhetorik in eine fundamentale Opposition zur Metaphysik. Indem er die Rhetorik als Kritik an der »arhetorischen Metaphysik« definiert, würde sie allerdings auch selbst zum Opfer ihrer eigenen Kritik werden, so Oesterreich: »Nicht nur die vermeintliche Evidenz der Metaphysik, sondern auch die neosophistische Evidenz der Nicht-Evidenz verfällt deshalb – konsequent gedacht – der rhetorischen Metakritik.« 75 Oesterreich fordert daher: »[D]ie rhetorische Aufklärung muss nicht notwendig […] in der skeptischen ›Entlarvung‹ oder bloßen ›Dekonstruktion‹ aller Metaphysik enden, sondern enthält auch die Chance zu einem neuen und rhetorisch aufgeklärten (Selbst-)Verständnis. Der Sinn einer rechtverstandenen rhetorischen Metakritik ist nicht die undifferenzierte Negation
Vgl. a. a. O., S. 33. Vgl. Oesterreich, Homo rhetoricus, S. 367. Vgl. auch Oesterreich, Die Rhetorik der Metaphysik im Zeitalter neuer Sophistik, S. 77: »Wieder scheint sich zu bestätigen, dass die Rhetorik per se antimetaphysisch und die Metaphysik antirhetorisch ist. Die durch den Sieg Platons über die Sophistik begründete Vorherrschaft der Metaphysik endet heute scheinbar in der Dekonstruktion ihrer Texte.« 75 Oesterreich, Homo rhetoricus, S. 367 f. 73 74
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Fundamentalrhetorische Anthropologie
aller Metaphysik überhaupt, sondern die bestimmte ihres falschen orthodoxen und rethorikrepugnanten Selbst(miß)verständnisses.« 76
Oesterreich verkennt hier jedoch den Charakter der rhetorischen Kritik an der Metaphysik. Die rhetorische Kritik an der Metaphysik bzw. eine rhetorische Philosophie ist nicht deckungsgleich mit der Dekonstruktion, dennoch sei erst einmal auf diese verwiesen, da bestimmte Mechanismen durchaus identisch sind. Derrida hat seine dekonstruktive Kritik an der Metaphysik bzw. an der philosophischen Tradition – wie bereits gesagt – nie als deren Auslöschung begriffen. Es ging ihm nicht um die Aufhebung der Philosophie oder der Metaphysik, sondern um einen bestimmten, kritischen Umgang mit ihr. So schreibt er bereits in Die Schrift und die Differenz: »Ich will nur hervorheben, daß über die Philosophie hinauszugehen nicht heißen kann, ihr den Rücken zuzukehren (was meistens schlechte Philosophie zur Folge hat), sondern, die Philosophen auf eine bestimmte Art und Weise zu lesen.« 77 Im Gegenteil, so Derrida, geht es letztlich sogar um die Bestätigung des Diskurses: »Diese Transgression des Diskurses […] muß, wie jede Transgression, in irgendeiner Weise das, was sie übersteigt, bewahren und bestätigen.« 78 Entsprechend kommentierte auch Rorty die Dekonstruktion, »daß das Entrinnen aus der philosophischen Tradition nicht das Ziel ist, welches Derrida vorschwebt«. 79 Die dekonstruktive Kritik war sich immer der Tatsache bewusst, die Philosophie auch in ihrem metaphysischen Anspruch nie sinnvoll überwinden zu können, sondern wußte darum, als Kritik an das Kritisierte gebunden zu bleiben. Derrida sieht die Dekonstruktion an der Grenze des philosophischen Diskurses, wie er in den Positionen beschreibt: »Ich versuche, mich an der Grenze des philosophischen Diskurses aufzuhalten. Ich sage Grenze und nicht Tod, weil ich an das, was man heutzutage den Tod der Metaphysik zu nennen pflegt, nicht glaube. […] Eine Grenze also, von der aus die Philosophie erst möglich geworden ist und sich als episteme definiert hat.« 80 A. a. O., S. 368. Derrida, Schrift und Differenz, S. 435. 78 A. a. O., S. 417. 79 Rorty, Wahrheit und Fortschritt, S. 479. Vgl. auch Angehrn, Interpretation und Dekonstruktion, S. 326. 80 Derrida, Positionen, S. 37 f. Vgl. a. a. O., S. 38: »Die Philosophie ›dekonstruieren‹ bestünde demnach darin, die strukturierte Genealogie ihrer Begriffe zwar in der getreuest möglichen Weise und von einem ganz Inneren her zu denken, aber gleich76 77
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Rhetorische Anthropologie
Derrida sieht seine Philosophie an der Grenze des philosophischen Diskurses und will diesen nicht verlassen, weder indem er sich von ihm völlig vereinnahmen lässt, noch indem er ihn hinter sich lässt. Auf diese Weise will er dem nachspüren, was im philosophischen Diskurs verborgen und unterdrückt wurde bzw. sich nicht als völlig rationalisierbar erwiesen hat. Damit setzt er gegen die Metaphysik keinen anderen metaphysischen Anspruch, sondern er befragt den Anspruch der Metaphysik in bestimmten Kontexten auf seine Gültigkeit. Hier ist es wichtig, dass er dies auf bestimmte Kontexte hin tut, denn nur auf diese hin ist ein metaphysischer Anspruch überprüfbar. Die Rhetorik, wie sie in ihrer metaphysikkritischen Funktion bei Blumenberg beschrieben wird, erfüllt eine ganz ähnliche Rolle wie die von Derrida elaborierte Dekonstruktion. Es geht einer solchen Rhetorik nicht darum, einen metaphysischen Anspruch der Philosophie gänzlich aufzulösen oder ihre Existenz zu negieren, sondern darum, in den Mechanismen der Sprache, wie sie von der Rhetorik beschrieben wurden, die Mechanismen der Gestaltung einer metaphysischen Philosophie offenzulegen. Eine rhetorische Anthropologie zielt entsprechend nicht darauf, jede Art eines metaphysischen Anspruchs zu verbannen. Bereits die Beschreibung des Menschen als symbolschaffendes Wesen erkennt ja im produktiven Akt der Symbolschaffung selbst notwendigerweise einen metaphysischen Anspruch. Aber indem der Mensch in seiner grundsätzlichen Metaphorik und seiner Symbolproduktion eine metaphysische Idee verfolgt, ist er zwangsläufig rhetorisch. Diese Rhetorizität ist nicht das Gegenteil der Metaphysik, sondern die Bedingung ihrer Gestaltung. Eine rhetorische Philosophie will diese Gestaltung untersuchen und dabei offenlegen, wo der metaphysische Anspruch, mit dem die Gestaltung vollzogen wurde, in dieser nicht eingeholt werden konnte. Die zu überwindende Metaphysik beschreibt Blumenberg als die »Philosophie der absoluten Ziele« und setzt ihr eine Philosophie entgegen, die von dem ausgeht, »worin der Mensch einzig ist«. 81 Blumenberg will nicht eine Negierung der Zielhaftigkeit der Philosophie, sondern mit der Rhetorik zusammen das Fundament der Philosophie befragen: zeitig von einem gewissen, für sie selbst unbestimmbaren, nicht benennbaren Draußen her festzulegen, was diese Geschichte verbergen oder verbieten konnte, indem sie sich durch irgendwie eigennützige Repression zur Geschichte machte.« 81 Vgl. Blumenberg, Anthropologische Annäherung an die Rhetorik, S. 107 f.
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Richtet sich die Philosophie auf absolute Ziele aus – wohl wissend, dass sie diese Ziele nicht absolut formulieren kann – oder richtet sie sich am Menschen selbst und an seinem gestalterischen Willen aus, diese absoluten Ziele zu formulieren. Es geht nicht um die Vernichtung des absoluten Anspruchs an und für sich, sondern um die Frage, welche Gültigkeit die jeweilige Formulierung dieses Anspruchs gegenüber der Humanität besitzen kann. Oesterreich will in seiner Fundamentalrhetorik eine Metaphysik erhalten und gleichzeitig die ihr innewohnende Rhetorizität offenlegen. Er missversteht Blumenberg, wenn er glaubt, dass Blumenberg dieses Anliegen nicht besessen habe oder eine mit Blumenberg arbeitende rhetorische Philosophie dieses Anliegen nicht verwirklichen könnte. Das Grundanliegen der Fundamentalrhetorik muss auch das Anliegen einer rhetorisch-dekonstruktiven Philosophie sein: »So ist schließlich auf dem Boden der Fundamentalrhetorik auch die Metaphysik als eine eigene und positive Möglichkeit des homo rhetoricus neu zu entdecken.« 82
82
Oesterreich, Homo rhetoricus, S. 369.
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22. Topik
Seit ihren Anfängen verfügte die Rhetorik über eine topische Struktur. Sie verwies auf Orte des Sprechens und des Gesprochenen. Der Umgang mit der Topik – so ist in der Geschichte der Rhetorik ablesbar – entschied immer wieder über das Schicksal der Rhetorik selbst, die sich in verschiedenen Phasen ihrer Geschichte in die Topik hinein auflöste und sich damit begnügte, endlose Kataloge von Gemeinplätzen und argumentativen Hilfen jeder Art zu erstellen. Eine philosophische Betonung der Vernunft musste daher auch die topische Struktur der Rhetorik in direkter Weise angreifen. 1 Eine rhetorische Philosophie muss angesichts dieser zumeist berechtigten Kritik über ihre eigene topische Struktur nachdenken und darüber, was Topik eigentlich ist oder sein soll. Eine nichttopische rhetorische Philosophie ist nicht möglich, dennoch ist herauszustellen, dass eine rhetorische Philosophie als Philosophie der Gefahr widerstehen muss, den historischen Fehler zu wiederholen, von ihrer eigenen Topik nicht mehr unterscheidbar zu sein. Mitte des 20. Jahrhunderts geriet die lange verloren geglaubte Topik wieder in den Fokus der Forschung. Bahnbrechend für diese Entwicklung war das Werk Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter von Ernst Robert Curtius aus dem Jahr 1948. Curtius beschreibt den Einfluss, den die antike Topik auf die europäische mittelalterliche Literatur hatte, wie antike Denkfiguren oder Argumentationsstrukturen ihre Wirkmacht auch Jahrhunderte später behalten haben und so eine kulturelle europäische Identität prägen konnten. Curtius sieht in der Betrachtung der Topik die Möglichkeit, nicht den genauen Inhalt, Vgl. Pöggeler, Dichtungstheorie und Toposforschung, S. 159: »Das strenge, kritische Denken der Neuzeit, das sich an der Mathematik orientierte, musste den Zugang zur Topik versperren, da diese die Systematisierung unterläuft und ihre Gesichtspunkte aus der Geschichte nimmt, aber ihnen immer wieder einen neuen Sinn gibt.«
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Topik
aber eben das Gerüst der europäischen Gedankenwelt darstellen zu können. Hierbei beweist Curtius ein sehr technisches Verständnis der Topik, das Pöggeler kritisiert: »In der eigentlichen Topik bleiben die Topoi Anweisungen zum Finden von Argumenten, werden aber nicht zu den Argumenten selbst. Als Ernst Robert Curtius in den Topoi Klischees der Tradition gesehen hatte, ging diese ursprüngliche Sicht der Dinge verloren.« 2
Indem Curtius die Topoi auf ihre technische Rolle reduziert, verstümmelt er die antike Topik. Die Topoi sind nicht nur Versatzstücke der Tradition oder intellektuelle Klischees, bei denen sich der Redner oder Autor bedient, sondern die Topik beschreibt als Heuristik den Weg, um das Gerüst der eigenen Argumentation zu bauen. Die Topik ist nicht nur ein Produkt oder ein Element der Literaturtheorie, so Pöggeler, »Topoi […] gibt es nicht nur in der Dichtungstheorie, sondern auf allen Gebieten des Geistes«. 3 Bornscheuer schreibt in seiner Topik: »Topik ist nicht lediglich ein sekundärer Apparat, ein Überbauphänomen […], sondern der Ort der inventio selbst, die allererst die Bedingungen der gesellschaftlichen Einbildungskraft, der Problemformulierung, der Kommunikationsfähigkeit konstituiert, also eine Art ›generativer Grammatik‹ der Bewusstseinsformen und Handlungsmuster.« 4
Mit Blick auf Curtius und andere Autoren spricht Bornscheuer von einem »Auseinanderdriften der Struktur- und Funktionsmomente des topischen Instrumentariums«. 5 Die Ursache hierfür liegt in der mangelnden Festlegung der Topik selbst, die bereits bei Aristoteles grundgelegt ist: »Was die ›Topik‹ als solche und was ein ›Topos‹ ist, hat Aristoteles an keiner Stelle der (Topik-)Schrift gesagt.« 6 Was meint Bornscheuer mit den »Struktur- und Funktionselementen« der Topik, die auseinandergedriftet wären? Bornscheuer nennt als zentrales Strukturelement der Topik die Habitualität, sie erschafft einen »Habitus«. 7 Die Wirkkraft des Topos, so Bornscheuer, erweist sich in seinen drei verschiedenen »Funktionsmomenten«: »[…] seine vielsinnige Interpretierbarkeit (Potentialität), seine situationsbezogene 2 3 4 5 6 7
Pöggeler, Gadamers philosophische Hermeneutik und die Rhetorik, S. 206 f. Pöggeler, Dichtungstheorie und Toposforschung, S. 155. Bornscheuer, Topik, S. 59. Vgl. Bornscheuer, Topik, S. 94. A. a. O., S. 54. Vgl. a. a. O., S. 96 f.
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Topik
Überzeugungskraft (Intentionalität) und seine Ausdrucks- und Vermittlungsfähigkeit. Erst wenn diese drei letzten Funktionen aussetzen, ist ein Topos zum leeren Klischee degeneriert.« 8 Der Topos drückt einen habitualisierten Standard aus, erweist sich aber zugleich als durch die jeweilige Situation bzw. den Kontext interpretationsbedürftig, in den er gestellt wird. Der Topos oszilliert zwischen dem Habitus, der Feststellung eines objektiven Normensystems, auf der einen Seite und seiner jeweiligen Auslegung und Interpretation auf der anderen Seite, die neue, kreative Kräfte freisetzt. 9 Dieses Oszilieren beschreibt Bornschauer wie folgt: »Er ist das tragende Bauelement jedes sprachlich-sozialen Kommunikationsgefüges, Umschlagplatz zwischen Kollektiv und Individuum, Bewusstsein und Unbewusstsem, Konvention und Spontaneität, Tradition und Innovation, Erinnerung und Imagination.« 10
Diese oszillierende Kreativität beruht auf dem interpretorischen Freiraum, den der Topos lässt: »Die Interpretationsbedürftigkeit eines Topos fordert heraus, er inspiriert, er setzt Denken in Bewegung.« 11 Genau diese Bewegung hat Curtius nicht gesehen. Wenn Curtius in der Topik das Grundgerüst der europäischen Literatur erkennt, so gebührt ihm sicherlich das große Verdienst, wichtige Traditionsstränge offengelegt zu haben. Zugleich missachtet Curtius jedoch den lebendigen und kreativitätsfördernden Charakter eines Topos. Bornscheuer wirft ihm zu Recht vor, in dieser Missachtung den Topos zu einem toten Klischee degeneriert zu haben. Wenn Bornscheuer den Topos das »tragende Bauelement jedes sprachlich-sozialen Kommunikationsgefüges« nennt, lenkt er den Blick auf die parallelen Mechanismen der Topik und der allgemeinen Sprachlichkeit. Die Topik wird zur Bezeichnung eines wichtigen Elements der Sprache. Wenn die Sprache über eine Dimension verfügt, die als Schriftlichkeit oder Textualität eine ihr immanente Verfestigung beA. a. O., S. 107. Vgl. a. a. O., S. 101: »Aus der wechselseitigen Konstitution zwischen objektiv-gesellschaftlicher Vorausgeltung und ockasionell-disputatorischer Auslegung erwächst als Resultante die jeweils dialogisch-dialektisch gewonnene Problemlösung. Topoi haben also die doppelte Funktion, einerseits Problemlösungen im Rahmen des gesellschaftlichen Normensystems zu halten, andererseits die interpretatorische Reflexionskraft immer neu voranzutreiben.« 10 Vgl. a. a. O., S. 105. Vgl. auch Braungart, Topik und Phantasie. 11 Vgl. Bornscheuer, Topik, S. 98 f. 8 9
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Topik
nennt, dann ist die Topik die traditionelle Lehre, diese Verfestigung zu reflektieren. Die Konstante der Sprache ist nicht nur das Sprachsystem, von dem die Sprache in ihrem konkreten Vollzug abhängt und das de Saussure als langue beschrieben hat, sondern sie besteht auch im konkreten Vollzug selbst – in der parole. Auch hier verfügt die Sprache über eine Dimension, die ihr Festigkeit verleiht und sie nicht in eine absolute Variabilität abgleiten lässt. Indem sich Sprache auf Sprache bezieht, nimmt sie die Sprache als einen »Text« wahr, der »gelesen« wird, und bildet auf diese Weise eine »Bibliothek« von Texten heraus, die durch Gewohnheit und Praxis zu Bezugspunkten werden – zu Topoi. De Saussure hat in der Sprache zwei Mechanismen unterschieden: den syntagmatischen und den paradigmatischen. Die Syntax bzw. die syntagmatische Beziehung beschreibt die sprachliche Beziehungsebene als eine Aneinanderreihung von Elementen, stellt also die Sprache in ihrer Linearität dar. Es handelt sich um Worte, so de Saussure, die »infolge ihrer Verkettung beim Ablauf irgendwelcher Aussagen Beziehungen« unter sich eingehen. 12 Die anderen Beziehungen nennt de Saussure »paradigmatisch« oder »assoziativ«: »[S]ie sind nicht von der Zeiterstreckung getragen; ihr Sitz ist im Gehirn; sie sind Teile jenes inneren Schatzes, der bei jedem Individuum die Sprache bildet.« 13 Knape hat diese syntagmatisch-paradigmatische Struktur in der Topik wiedererkannt. Grundlage hierfür ist die Textualität der Sprache: »Die syntagmatische Achse ist die Achse des Textverlaufs, in die der Autor die aus den topischen Paradigmen abgerufenen Einheiten implementiert.« 14 Die Topik bedenkt die Sprache in ihrer textuell-schriftlichen Abhängigkeit. Die Textualität bzw. Schriftlichkeit macht die Sprache zu einem Ort, auf den sie sich beziehen kann und in diesem Bezug ihre Kreativität entfalten kann. Die Topik als Topik betont die Materialität des sprachlichen Geschehens, die jedoch nie isoliert betrachtet werden darf, sondern immer im Kontext ihrer Syntagmatik steht. Diese topische Materialität ist schon deshalb nötig, um der Sprache und damit auch der Philosophie ein Gedächtnis zu geben, das, so Mainberger, »ein sie selbst konstituierendes Moment« ist. 15
Vgl. de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 147. De Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 147 f. 14 Knape, Die zwei texttheoretischen Betrachtungsweisen der Topik, S. 765. 15 Vgl. Mainberger, Rhetorica II, S. 64: »Mit steigendem Anteil an Wissenschaftlichkeit wird die Sprachwissenschaft selbst, symmetrisch zu ihrer Verwissenschaftli12 13
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Topik
Indem die Topik diesen Verfestigungen und Materialisierung nachspürt, ist sie notwendigerweise Teil einer rhetorischen Philosophie, welche die Sprache als Zusammenspiel topischer Materialisierungen betrachtet. Ihr geht es nicht um ein Sammeln des Materialisierten – wie es Curtius getan hat –, sondern darum, den Prozess der Materialisierung auf seine Entstehensgründe hin zu befragen und auf seine Gültigkeit hin auszulegen. Apel hat in seinem Werk Die Idee der Sprache eine solche topische Philosophie beschrieben. Prinzipiell geht es Apel in diesem Werk darum, den »humanistischen Bildungsbegriff der Sprache« zu entfalten. 16 Dieser stellt – im Gegensatz zum technisch-szientistischen oder zum biblisch-christlichen Sprachbegriff – einen Zugang zum Sprachgeschehen dar, der von der Annahme einer Einheit von Sprache und Vernunft- bzw. Kulturfähigkeit des Menschen geprägt ist. Diese Einheit beschreibt Apel als eine »topische«, sie umfasst »alle jene ›Topoi‹ des Sprachdenkens überhaupt«, sie stellt so eine »›geheime Philosophie‹ der Sprache und Kultur« dar, die sich verbirgt »in enthusiastischen Vorworten und polemischen Bemerkungen, in der Art, wie altbekannte Topoi mit einer bestimmten Tendenz vorgetragen werden«. 17 Diese humanistische Sprachidee nennt Apel die »Hausideologie« 18 der Rhetorik. Die Funktionsweise dieser Ideologie – und damit die Wirkung der Rhetorik – vollzieht sich in »unbewussten Motiven«, die immer wieder zum Vorschein kommen und in der Lage sind, »in späteren Zeiten wieder zum Kristallisationspunkt echter Welterfahrung« zu werden. 19 Diese Motive werden in der rhetorischen Topik beschrieben. Sie drücken eine Wahrheit aus, die an die »feststehende Pragmatik menschlicher Bedürfnisse« gebunden ist: »Rhetorische Sprache besitzt ihre Wahrheit in der richtigen (d. h. zweckgemäßen) Beschwörung einer praktisch-relevanten Bedeutsamkeits-(Wert-)Situation im Rahmen einer allgemein anerkannten sprachlichen Welt-›Topik‹. In der ›Topik‹ als dem zentralen Begriff der rhetorischen Sprachorientierung begrenzt sich der Sinnhorizont des Redners in der Rückbezogenheit auf eine feststehende Pragmatik menschlicher Bedürfnisse und Zwecke überhaupt. Dichtung (und chung, geschichtsvergessen und traditionslos. Sie verliert ein sie selbst konstituierendes Moment, nämlich das Gedächtnis.« 16 Vgl. Apel, Die Idee der Sprache, S. 14. 17 Vgl. a. a. O., S. 84 f. 18 Vgl. a. a. O., S. 31. 19 Vgl. a. a. O., S. 85.
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Topik
ebenso Philosophie und Religion sowie der ihnen vorausgehende Mythos) eröffnet und begründet sprachlich allererst die öffentliche Ausgelegtheit von Mensch und Welt, an der die rhetorische Topik und die zugehörige politische Zweckpragmatik einer geschichtlichen Epoche ihre ›Richtigkeit‹ bemisst.« 20
Indem die rhetorische Topik an die primären sprachlichen Weltdeutungen in Dichtung, Philosophie, Religion oder Mythos anknüpft, die ihr vorausliegen, ist sie selbst nur sekundäres Sprachgeschehen und besitzt keinen Anteil an dem Wahrheitsanspruch, der den primären Äußerungen zu eigen ist. Die Topik drückt damit eine materialisierte »erstarrte Form« jener Wahrheit aus, die in jenen primären Sprachgeschehen formuliert wird. 21 Hieraus ergibt sich für Apel ein gegenüber Gadamer anderes Verständnis von Hermeneutik, die als atopischer Kontrapunkt der topischen Rhetorik gesehen wird. Indem die Rhetorik in ihrer topischen Gestalt keinen Wahrheitsanspruch erheben kann und Ausdruck eines rein pragmatischen Diskurses ist, verliert sie ihre Geltung und Relevanz für den sich am Wahrheitsanspruch abarbeitenden Diskurs von Dichtung oder Philosophie: »Diese im modernen Sinn ›pragmatische‹ Orientierung […] scheint nun doch die Tragweite der oben hervorgehobenen geheimen Philosophie des rhetorischen Humanismus einzuschränken.« 22 Damit, so Apel, darf auch eine hermeneutische Philosophie nicht auf die topischen Strukturen der Vergangenheit schauen, sondern muss sich in das Gespräch einbringen, aus der die Topik erwachsen ist. 23 Eine philosophische Hermeneutik, so Apel, darf sich nicht auf die Topik beschränken – somit nicht auf die Rhetorik –, sondern muss die topische Verfestigung der Sprache auf das hin auslegen, was sich in ihr verfestigt hat und das einer formal verstandenen Hermeneutik voraus-
A. a. O., S. 37. A. a. O., S. 152: »In der Topik des Redners wird in erstarrter Form jene Wahrheit verfügbar gehalten, welche aus menschlichen Lebensbezügen her in die Geschichte einer lebenden Sprache als das Sein der Dinge in der Welt (einschließlich des Menschen selbst) sich erschlossen hat.« 22 A. a. O., S. 150. 23 Vgl. a. a. O., S. 48: »[…] kann und muss die Philosophie nicht vielleicht in anderer Weise Hermeneutik sein: nicht, sofern sie auf die Leistungen der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik formal reflektiert, sondern, sofern sie sich selbst in das seit den Griechen im Abendland bestehende Gespräch der Philosophen hineinzustellen hat und dieses abendländische Gespräch der Philosophie in die heutige Begegnung der großen Weltkulturen.« 20 21
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Topik
liegt bzw. von ihr nicht erreicht werden kann. Hier liegt nach Apel die Zukunft einer philosophischen Reflexion der Topik: »Nur als bewusste ›Wiederholung‹ der präreflexiven Aufschließung einer Weltsituation aus menschlichen Gesichtspunkten, wie die Sprache sie immer schon für den Menschen geleistet hat, kann angesichts jeder rhetorisch-dialektisch zu bewältigenden Problemlage eine Besinnung auf die möglichen Weisen und Richtungen ihrer Artikulation in der Rede stattfinden. Genau dies, zum Gegenstande genereller Reflexion erhoben, läßt sich als Anliegen der ›Topik‹ aus heutiger Sicht begreifen.« 24
Gegenüber einer hermeneutischen Philosophie im Sinne Gadamers muss eine derart rhetorische Philosophie darauf hinweisen, dass nicht nur die Antwort, sondern auch die Frage die Art des Diskurses bestimmt. 25 Die Topik kann auf diese Weise eine wichtige Brücke zu dem darstellen, was (noch) nicht Teil des philosophischen Diskurses ist und auf diese Weise, so Pöggeler, Philosophie und »Nichtphilosophie« 26 verbinden.
A. a. O., S. 143. Vgl. Pöggeler, Gadamers philosophische Hermeneutik und die Rhetorik, S. 206 f.: »In der eigentlichen Topik bleiben die Topoi Anweisungen zum Finden von Argumenten, werden aber nicht zu den Argumenten selbst. Als Ernst Robert Curtius in den Topoi Klischees der Tradition gesehen hatte, ging diese ursprüngliche rhetorische Sicht verloren.« 26 Pöggeler, Dialektik und Topik, S: 281: »Vielmehr scheint es mir durchaus eine Aufgabe der Philosophie zu sein, eigens zu zeigen, wie Philosophie bezogen bleibt auf ›Nicht-Philosophie‹ oder aus dieser heraustritt, bezogen ist auf das, was sich der methodischen Verfügung entzieht. Besteht aber diese Aufgabe, dann gilt es auch zu bedenken, in welchem Verhältnis Philosophie zu Rhetorik, Humanismus, Hermeneutik, Ideologiekritik, natürlicher Sprache steht.« Vgl. auch Grassi, Rhetoric as Philosophy, S. 19 ff. 24 25
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23. Die Rhetorizität der Philosophie
»Aber die Rhetorik ist doch keine philosophische Methode, oder?« »Das weiß ich nicht. Vielleicht ist sie tatsächlich die einzige!« 1 Diese Antwort Gadamers benennt gleichzeitig sowohl die Größe als auch die Kleinheit der Rhetorik. Sie ist groß und wirkmächtig, weil sie die Sprache in ihrer produktiven Macht beschreibt und weil die Philosophie von dieser Macht abhängig ist. Die Rhetorik ist klein, weil ihre Größe sich nicht in direkter Weise aufdrängt und philosophisch nicht greifbar scheint. Einerseits ist jede Art philosophischer Äußerung auf die Rhetorik angewiesen und von ihr abhängig. Andererseits kann die Rhetorik verzerren und manipulieren; sie kann nicht nur zum Ausdruck einer philosophischen Wahrheit werden, sondern auch ihres Gegenteils. Die Geschichte von Rhetorik und Philosophie ist geprägt von dieser Zwiespältigkeit der Rhetorik, bei der es sich aus philosophischer Perspektive zwar um einen notwendigen, aber mit Vorsicht zu behandelnden Partner handelt, von dem sie sich nicht lösen kann: »Philosophieren ist der anhaltende Versuch, der Rhetorik zu entkommen, ohne übrigens je darin völlig siegreich sein zu können.« 2 Die Frage, die sich aus dieser philosophischen Geschichte der Rhetorik heraus ergibt, ist diejenige, ob eine Rhetorik ohne diese Zwiespältigkeit möglich ist, also eine Durchdringung der Sprache, die in ihrer Reinheit und Eindeutigkeit Darstellung der Wahrheit ist. Diese Möglichkeit muss verneint werden und die Geschichte des Humanismus – welche die Rhetorik als ihren Teil betrachtet hat – ist auch die Geschichte dieser Verneinung gegenüber einer immer wieder präsenten Tendenz der Philosophie, die Wahrheit in etwas zu erkennen, das dieser Defizienz der Sprache enthoben ist. Derrida hat diesen Konflikt der Interpretationen wie folgt beschrieben:
1 2
Der Spiegel 8 (2000), S. 305 ff. IJsseling, Philosophie und Textualität, S. 76.
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»Es gibt somit zwei Interpretationen der Interpretation, der Struktur, des Zeichens und des Spiels. Die eine träumt davon, eine Wahrheit und einen Ursprung zu entziffern, die dem Spiel und der Ordnung des Zeichens entzogen sind, und erlebt die Notwendigkeit der Interpretation gleich einem Exil. Die andere, die dem Ursprung nicht länger zugewandt bleibt, bejaht das Spiel und will über den Menschen und den Humanismus hinausgelangen, weil Mensch der Name des Wesens ist, das die Geschichte der Metaphysik und der Onto-theologie hindurch, das heißt im Ganzen seiner Geschichte, die volle Präsenz, den versichernden Grund, den Ursprung und das Ende des Spiels geträumt hat.« 3
Derrida nennt hier den Begriff »Spiel«. Vielleicht hat er hier den homo ludens im Hinterkopf, den Menschen als spielendes Wesen, der erst in dieser Verspieltheit, im Besitz der Freiheit und der sich daraus ergebenden Möglichkeit des Spiels zu einem kulturschaffenden Wesen geworden ist. 4 Sicherlich deutet Derrida hier aber das Wesen der Sprache und der damit verbundenden Philosophie als ein Spiel an – Spiel nicht verstanden im Sinne einer fehlenden Ernsthaftigkeit, sondern im Sinne einer prinzipiellen Offenheit, eines nicht festgelegten Ablaufs und Endes, im Sinne einer Philosophie, die darum weiß, ihr eigene philosophische Handlung nicht völlig rational auflösen und an die immer gleichen Gesetze der Logik anpassen zu können. Dem steht eine Form der Philosophie gegenüber, die in diesem Spiel etwas Vorläufiges und zu Überwindendes erkennt und sich, solange dies noch nicht geschehen ist, wie in einem »Exil« fühlt. Beide Formen der Philosophie, das Verbleiben im Spiel und die Überwindung des Spiels, sind unversöhnbar und doch aufeinander verwiesen, wie auch die Geschichte von Rhetorik und Philosophie belegt. Derrida stuft diese beiden Interpretationen zwar als unversöhnlich ein, sieht aber die Aufgabe einer künftigen Philosophie darin, den gemeinsamen Grund dieser beiden Interpretationen zu untersuchen. Er schreibt, dass »[…] man versuchen muß, den gemeinsamen Boden und die ›différance‹ dieser unreduzierbaren Differenz zu denken[,] […] weil es sich hier um einen Typus, sagen wir es noch einmal, historischen Fragens handelt, dessen Konzeption, Bildung, Austragung und Arbeit wir heute nur abzuschätzen vermögen.« 5
3 4 5
Derrida, Die Schrift und die Differenz, S. 441. Vgl. Huizinga, Homo ludens. Vgl. Derrida, Die Schrift und die Differenz, S. 442.
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Die Rhetorizität der Philosophie
Die künftige Philosophie, die Derrida hier in den letzten Zeilen von Die Schrift und die Differenz beschreibt, ist eine Philosophie, die sich weder der metaphysischen Ausrichtung auf die Durchdringung und Beschreibung des Seins zuordnen lässt noch dem metaphysikkritischen Wissen darum, dass das Sein ein Spiel ist, sondern sie beinhaltet beide, insofern sie darum weiß, dass jeder Versuch, die Regeln des Spiels des Seins zu durchdringen, zwar voraussetzt, dieses Spiel von einer äußeren Perspektive aus zu beleuchten, man dieses Spiel aber dennoch nicht verlassen kann. Die Unversöhnlichkeit beider Interpretationen besteht zum einen darin, dass sie sich auf unterschiedlichen Ebenen bewegen: die Wahrheit, um die es dem Naturalismus oder der Metaphysik geht, ist das Richtige, das sich vom Falschen abgrenzt. Die Wahrheit, um die es dem Humanismus geht, ist das Gültige, das, was da ist und sich als gültig erwiesen hat. Die Unversöhnlichkeit beider Interpretationen besteht zudem darin, dass sie ihre ureigenste Legitimation aus etwas beziehen, das sie nicht erreichen können: Der metaphysische Versuch einer Ergründung des Seins muss von der Ergründbarkeit des Seins ausgehen, ebenso wie eine metaphysikkritische, etwa dekonstruktive Philosophie, die das Sein als unergründliches Spiel betrachtet, metaphysische Setzungen vornehmen muss, sobald sie dieses Spiel beschreiben will. Beide Interpretationen treten mit einem gegenteiligen Anspruch an, den sie aber beide in ihrem konkreten Handeln nicht einholen können. Trotz oder vielleicht sogar wegen dieser Unversöhnlichkeit bleiben beide Interpretationen aufeinander verwiesen, indem sie beide Auslegungen eines gemeinsamen Grundes sind, auf dem sie oszillieren zwischen einem metaphysischen Wahrheitsanspruch und einer humanistischen Wahrheitskritik. Was ist der gemeinsame Grund dieser beiden Interpretationen? Es ist das Menschsein selbst. Was ist das Menschsein? Das ist die fundamentale Frage der Philosophie und diese Frage wird entschieden auf dem Boden dessen, was der Mensch von sich denkt, wie er sich in der Welt verortet und welches Bild er von sich selbst entwirft. Dem geht die Philosophie nach, und dies kann sie nur, indem sie sich diese Selbstentwürfe des Menschen ansieht, die historischen und die gegenwärtigen, die ohne die historischen wiederum nicht erklärbar sind. Das Menschsein selbst, das ist der Boden, den der Humanismus beackert. Nicht in der Form direkter philosophischer Reflexion, sondern in der Form der Kultivation des Ausdrucks des Menschseins, wie er sich in besonderer Weise im Sprechen vom Menschen als animal symbolicum manifestiert. Während der Humanis471 https://doi.org/10.5771/9783495817773 .
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mus dieses symbolschaffende Handeln des Menschen sowohl historisch betrachtet, aber auch fortführt und das »Spiel« des Menschseins auf diese Weise am Laufen hält, ist die Philosophie darum bemüht, dieses Spiel zu deuten, um Aussagen über den Menschen treffen zu können und ihn selbst einer gültigen Deutung zu unterziehen. Die Philosophie betrachtet den Inhalt des Humanismus, das animal symbolicum, in seiner ganzen Weite, und indem sie ihn deutet, spricht sie ihn neu aus. Damit ist die Philosophie diejenige, die den Humanismus nicht zu einer bloßen Form erstarren lässt, welche auf alte Traditionen blickt und sie fortschreibt, sondern die kulturschaffende Kraft des Menschen immer wieder hinterfragt, sie neu ausrichtet und in vollem Sinne weiterentwickelt. Die Philosophie blickt auf den Menschen in seiner Kulturalität, als Produkt seiner Geschichte, als sprachliches Wesen, zugespitzt im Sprechen von animal rhetoricum, und unterzieht diese Kulturalität einer Deutung auf das hin, was der Mensch in seinem Wesen ist. In dieser Deutung schafft sie etwas Neues, das über die bloße Betrachtung der humanistischen Güter hinausgeht, letztlich schafft sie eine neue Sprache, eine neue Begrifflichkeit über das, was der Mensch ist. Deleuze und Guattari haben in ihrem Werk Was ist Philosophie? geschrieben: »Im strengeren Sinn ist die Philosophie die Disziplin, die in der Erschaffung der Begriffe besteht.« 6 Ähnlich hat sich auch Nietzsche geäußert, der feststellte, die Philosophen »müssen sich die Begriffe nicht nur schenken lassen, sie nicht nur reinigen und aufhellen, sondern sie allererst machen, schaffen, hinstellen und zu ihnen überreden.« 7 Nietzsche beschreibt hier die Aufgabe des Philosophen und diese Aufgabe ist eine zutiefst rhetorische, die in der Schöpfung neuer Begriffe, in ihrer Präsentation und im Überreden zu ihnen besteht. Die Wichtigkeit der Rhetorik für die Philosophie besteht nicht nur darin, dass sie als Teil der humanistischen Tradition unverzichtbarer Bestandteil der philosophischen Analyse der Geistesgeschichte ist, wie es Heidegger und Gadamer in ihrer Hermeneutik postuliert haben. Sie ist aber auch nicht nur darin begründet, dass die Philosophie, wenn sie eine Wirkung erzielen und überzeugen will, unabdingbar rhetorisch sein muss. Diese Begründungen sind sicherlich gültig, aber sie begreifen die Rhetorizität der Philosophie nicht in der not6 7
Deleuze/Guattari, Was ist Philosophie?, S. 9. Vgl. Nietzsche, Nachlaß der Achtziger Jahre, Werke, Bd. 1, S. 344.
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wendigen Tiefe. Diese besteht darin, dass es die größte und vornehmste Aufgabe der Philosophie ist, einen »neuen Begriff« zu erschaffen. Die Philosophie ist nicht auf die Rhetorik angewiesen, etwa weil die Rhetorik eine historisch bedeutende Disziplin wäre, da die Philosophie nicht nur auf die Historie ausgerichtet sein darf. Die Philosophie ist auch nicht auf die Rhetorik angewiesen, etwa weil diese die Wissenschaft der Persuasion ist, da Philosophie nicht mit dem Akt des Überzeugens identisch ist. Die Rhetorizität beschreibt insofern ein grundsätzliches Merkmal der Philosophie, als die Philosophie in ihrer den Menschen deutenden Funktion einen neuen sprachlichen Ausdruck entwirft, ebenjene Handlung, die den Menschen zum animal rhetoricum macht. Diese entwerfende Handlung des Menschen und in besonderer Weise des Philosophen ist erst einmal unabhängig von jeder Persuasion zu sehen, sie ist der Versuch, etwas zu verstehen, und in diesem Verstehen vollzieht sich die Schöpfung eines neuen Begriffs, einer neuen Sprache. Derrida hat von zwei Interpretationen gesprochen, die sich unversöhnlich im Widerstreit befinden. Die Geschichte von Rhetorik und Philosophie, die Geschichte der Entstehung, sowie der sich immer wieder vollziehenden Trennungen und Annäherungen, ist die Geschichte dieser beiden Interpretationen, die zwar aufeinander verwiesen, aber getrennt zu betrachten sind, um die Philosophie als zwischen ihnen oszillierendes Geschehen darstellen zu können. Die Philosophie ist nicht Philosophie, wenn sie auf ihren metaphysischen Wahrheitsanspruch verzichtet. Aber sie bleibt auch nicht Philosophie, wenn sie in diesem Wahrheitsanspruch erstarrt und nicht immer wieder neu ihre eigene Kritik berücksichtigt. Die Geschichte von Philosophie und Rhetorik ist die Geschichte dieses Ozsillierens zwischen dem Aussprechen und der Kritik der Wahrheit. Husserl hat diese Geschichte als den Konflikt einer den Menschen vereinnahmenden Objektivität mit dem Menschen selbst beschrieben und aus dieser Geschichte heraus die Notwendigkeit einer Bindung der Philosophie an die Lebenswelt formuliert. Diese Geschichte wird als die Geschichte von Humanismus und Naturalismus, von Metaphysikkritik und Metaphysik greifbar. In ihr hat die Rhetorik eine historische, aber auch systematische Schlüsselfunktion. An der Rhetorik, an der Art und Weise, wie Rhetorik betrieben wird, und welchen Rang sie im Bildungssystem der jeweiligen Zeit hat, wird der sonst abstrakte Konflikt zweier unterschiedlicher Geisteshaltungen sichtbar. Die Rheto473 https://doi.org/10.5771/9783495817773 .
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rik ist nicht nur aus historisch-hermeneutischer Perspektive wichtig, sondern sie beschreibt einen Wesenszug der Philosophie selbst. Und wenn Nietzsche schreibt, dass die Philosophie nicht nur die Besprechung oder auch Erneuerung der alten philosophischen wie nichtphilosophischen Denkweisen und Traditionen ist, sondern die Philosophen »allererst machen, schaffen, hinstellen und zu ihnen überreden« sollen, dann spricht er der Philosophie eine Rhetorizität zu, der sie sich in diesem Ausmaß noch bewusst werden muss. Schließlich soll noch einmal Claude Lévi-Strauss zu Wort kommen. Sein Werk Traurige Tropen zählt zu den wichtigsten Büchern des 20. Jahrhunderts und schildert die Forschungsreise des Ethnographen in Brasilien. Am Schluß dieses Werkes schreibt er über den Untergang des Mythischen und den Beginn einer neuen Rationalität; Worte, die zugleich ein Resümee seiner Reise darstellen: »Jedes Bemühen um Verständnis zerstört den Gegenstand, mit dem wir uns befassen, zugunsten eines anderen Bemühens, das ihn wiederum vernichtet zugunsten eines dritten und so weiter, bis wir Zugang finden zu der einzigen dauerhaften Gegenwart, derjenigen, bei der sich der Unterschied zwischen dem Sinn und dem Fehlen von Sinn verflüchtigt, jener, von der wir ausgegangen waren. Zweitausendfünfhundert Jahre sind vergangen, seitdem die Menschen diese Wahrheit entdeckt haben.« 8
Dieses Zitat wurde zu Beginn der vorliegenden Untersuchung im Zusammenhang mit der Zerstörung der mythischen Einheit des Sprachlichen genannt. 9 Der Kontext dieses Zitats ist aber ein größerer – wie auch die Zerstörung des Mythischen einen größeren Kontext erfordert. Lévi-Strauss blickt nach seiner Reise zu den Ureinwohnern am Amazonas mit Wehmut und Traurigkeit auf eine Welt zurück, die verloren ist. Die Welt des Mythischen wurde zerstört durch den Hunger nach Wissen. Lévi-Strauss stellt fest, dass in dieser Suche nach Erkenntnis, in der die Antriebskraft unserer Kultur liegt, der Verlust von Sinn immanent ist. Ein Sinngefüge wird zerstört durch seine Durchdringung, und der Weg der europäischen Philosophie, so LéviStrauss, ist der Weg dieser Durchdringung: »Denn wenn jenes letzte Moment der Dialektik, das zur Erleuchtung führt, legitim ist, dann sind auch alle anderen legitim, die ihm voraus8 9
Lévi-Strauss, Traurige Tropen, S. 408. Vgl. S. 136 dieser Arbeit.
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gegangen sind und ihm gleichen. Die absolute Verweigerung des Sinns ist das Ende einer Reihe von Etappen, von denen jede von einem geringeren zu einem größeren Sinn führt. Der letzte Schritt, der aller anderen bedarf, um vollzogen zu werden, verleiht ihnen alle Gültigkeit. Auf seine Weise und auf seiner Ebene entspricht jeder einer Wahrheit.« 10
Der Konflikt, den Lévi-Strauss beschreibt, wird sichtbar im europäischen Konflikt von Humanismus und Naturalismus, in dem Ringen zwischen dem Bewahren eines kulturellen Gutes und des Menschen, der dieses Gut geschaffen hat, auf der einen Seite und der immer größeren epistemologischen Durchdringung des Kosmos auf der anderen Seite, die aber auch den Verlust von Sinn beinhaltet. Die Philosophie darf sich nicht auf eine Seite beschränken, es geht ihr um ein wachsendes Verständnis des Menschen und der Welt, in der er lebt, aber sie darf dabei den Sinn, das bereits vorhandene Deutungsgeflecht des Menschen, nicht aus den Augen verlieren – im Gegenteil hat sie als Philosophie die Aufgabe, diese Deutungs- und Sinngeschichte des Menschen sprachlich fortzuschreiben und ist in dieser Fortschreibung nur denkbar als eine rhetorische Philosophie.
10
Lévi-Strauss, Traurige Tropen, S. 409.
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Register
Personenregister Angehrn, Emil 90, 308, 314, 366, 368 Apel, Karl-Otto 36–37, 45, 83–85, 87, 106, 113, 184, 211, 249, 291, 296, 307, 322, 345, 376–378 Aristoteles 14, 46, 116, 122, 143–158, 164–165, 169, 174, 177, 180–183, 213, 236, 259, 290, 295, 319, 323, 327, 348 Augustinus 169, 194–201, 271 Austin, John L. 31–33, 332 Barthes, Roland 94, 120, 247, 337– 338, 341 Baumgarten, Alexander Gottlieb 237–241 Benjamin, Walter 102–104, 251, 265, 309 Blumenberg, Hans 74–75, 96, 101, 201, 280, 292, 294, 297, 300, 309, 321, 324–326, 342, 356, 358–361, 367, 370, 372 Cassirer, Ernst 84, 98, 100–101, 106, 229, 254, 309–310, 357–358 Cicero 109, 130, 135, 162–166, 170, 173, 175, 177, 183–184, 190, 195, 198, 203, 212, 215, 218, 221, 236, 245 Curtius, Ernst Robert 84, 95, 179, 186, 373–375 Derrida, Jacques 37, 40–41, 71–72, 315, 318–320, 334–339, 345, 348– 355, 367–370, 379–380, 382
Descartes, Rene 59, 224–227, 235, 247–248, 251, 324 Dockhorn, Klaus 24–25, 28, 323, 362–363 Frege, Gottlob 28–31, 307, 317, 322, 332, 341 Freud, Sigmund 363–369 Gadamer, Hans-Georg 12, 21–28, 33– 34, 36–40, 43–45, 47, 65–67, 80– 82, 86–88, 94, 109, 134, 195, 220, 278, 311–315, 340–342, 344, 348, 362, 367, 369, 377–379, 382 Gerber, Gustav 266–269, 281, 317 Gorgias 117–121, 177 Gottsched, Christoph 235–237 Grassi, Ernesto 210–211, 213–214, 217, 299, 306, 308, 323, 327–328, 358 Grondin, Jean 23, 273, 305 Gustav, Gerber 280 Habermas, Jürgen 32–39, 41–42, 348 Hamann, Johann Georg 251–254, 261, 263, 265 Heidegger, Martin 12, 14–22, 27, 34, 37, 45–47, 76–77, 80, 94, 132, 195, 301–302, 306, 318, 355, 367, 369, 382 Herder, Johann Gottfried 254–261, 263, 265–267, 306 Humboldt, Wilhelm von 87, 263– 267, 348
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Register Husserl, Edmund 48–81, 225, 292, 300, 339, 382 IJsseling, Samuel 270, 317, 339, 365, 379 Isokrates 138–143, 177–178, 189, 294, 299 Jakobson, Roman 365 Kant, Immanuel 241–246, 248, 252, 265, 270, 272–274, 278, 357 Knape, Joachim 20, 337, 375 Kopperschmidt, Josef 20, 95, 118, 289, 292, 298, 321, 356, 362, 369
Parmenides 110–111, 115–116, 127– 129, 167 Perelman, Chaim 42–43, 45, 88 Pindar 106, 108–109 Platon 95, 114, 116, 122, 129–138, 141–144, 152, 157, 165, 178–179, 187, 207, 212, 269, 294–295, 297, 299, 326, 334, 368 Pöggeler, Otto 40, 298, 349, 367, 373– 374, 378 Protagoras 114–116, 121–123, 132, 167, 177, 303 Quintilian 166, 170–171, 173–174, 184–186, 203, 212, 221, 236, 259, 269
Lacan, Jacques 39, 364 Lausberg, Heinrich 95, 177 Lévi-Strauss, Claude 101, 104, 329– 330, 383–384 Luhmann, Niklas 105
Ricœur, Paul 37, 40, 147, 151, 238, 248, 314–315, 318–320, 328 Rorty, Richard 28, 371
Mainberger, Gonsalv 151, 201, 324, 328–330, 356, 361, 363, 376 Man, Paul de 37, 348–355 Melanchthon, Philipp 218–222
Saussure, Ferdinand de 331–335, 353, 364, 375 Schlegel, Friedrich 260–263, 265, 267, 274 Schleiermacher, Friedrich 21, 260, 270, 272, 274–279
Niehues-Pröbsting, Heinrich 68, 76– 77, 356 Nietzsche, Friedrich 251, 266, 269, 280–291, 297, 306, 317, 326, 329, 363, 381
Vico, Giambattista 85, 87, 226–234, 260, 297, 327, 348, 361 Wittgenstein, Ludwig 29–31, 41, 323, 332, 341
Oesterreich, Peter L. 14, 45–46, 88, 340, 368–372
504 https://doi.org/10.5771/9783495817773 .
Sachregister Sachregister Affekte 16, 48, 230–231, 239, 284, 381 Aletheia Siehe Wahrheit Allegorie 178–184 Alltagssprache 31, 346 Argumentationstheorie 43–44, 48, 150–153, 164, 188, 192, 212, 214, 356, 389 Artes liberales 173–174, 211–214, 220, 379 Ästhetik 244–248, 253, 324 Auslegung 18, 23, 26, 43, 81, 139, 179–184, 199–204, 226, 229–230, 282, 300, 323, 327 Bewusstsein 23, 60–62, 65, 75, 77, 82, 91, 126, 146, 225, 272, 276, 289, 323, 352–353, 383 Bildung 25, 45, 85–86, 128–129, 144– 147, 149, 164, 170, 179, 194–197, 205, 207–208, 211–214, 219, 227, 234, 236, 242, 256, 269, 273, 287, 292, 304, 306, 310, 324, 392, 399 consensus omnium Siehe Konsens Dekonstruktion 38, 41–42, 74–75, 297, 320, 326, 328, 348–353, 359, 362–370, 383–387, 396–397 Dialektik 44, 139, 150–154, 158–164, 173, 189–190, 203, 211–213, 216, 220, 225, 232, 248, 251, 361, 379 Dichtung 47, 103–105, 110–119, 127–128, 131, 184, 195, 234, 239, 241, 249, 251, 278, 319, 335, 379 Doxa 15–18, 47, 66–68, 71, 102–119, 123, 126, 131–141, 145, 148–149, 153, 155, 160, 162–164, 166, 168, 172, 186–187, 217, 221, 232, 293, 295, 305–306, 355, 357 Emotionalität 157–158 Epistemologie Siehe Erkenntnis Erkenntnis 43–46, 53, 98–99, 108, 111, 116, 134, 137, 139–140, 142–
143, 146, 156, 159, 161–164, 183, 206, 212, 216, 224, 236, 253, 271, 294, 296, 301, 309, 317, 323–324, 334, 343, 359, 362, 400 Etymologie 175–177, 179, 183, 306 Exegese Siehe Auslegung Fundamentalrhetorik 46–47, 93, 385–388 Funktion 14, 21, 31, 82, 246, 309, 324 Funktionalität 307, 346, 355 Geisteswissenschaft 43–46, 56–57, 59, 76–78, 84–86, 239, 317, 324, 359 Grammatik 53, 73, 173–177, 195, 199, 211, 284, 286–287, 306, 361, 379 Hermeneutik 12–28, 33–49, 58, 80, 84–87, 90–97, 99, 139, 202, 204, 228–230, 239, 281–290, 320, 323– 328, 346–347, 355–356, 359, 364, 369, 383, 393, 399 Humanismus 25, 44–46, 54, 58, 84– 97, 102–130, 144–148, 164, 169– 170, 195, 197, 205, 207, 232, 234– 244, 254, 262–281, 268, 285, 292, 302–303, 305, 307–324, 327–328, 333, 346, 356, 359–360, 363, 392, 395–397, 399–400 Ideale Sprache 29–31, 52, 109, 356 Ideologie 35 Intersubjektivität 70–72, 80, 82 Irrationalität 182, 336–337, 378, 382 Katachrese 178 Konsens 25, 27, 35, 65, 69, 86, 124, 172, 221–222, 232, 236–237, 246, 250, 254, 267, 280, 306, 308, 351, 357–359
505 https://doi.org/10.5771/9783495817773 .
Register Konstruktion 14, 18, 25, 36, 42, 45, 48, 113, 118, 128–129, 141, 154, 181, 186, 190, 199, 289 Kunst 128, 301, 359, 372–373, 379 Kunstlehre 14, 17, 21, 26, 36, 46, 211, 213, 310, 316, 317, 379
Naturalismus 62, 82, 95, 311, 315– 323, 325, 327, 346, 396, 399–400 Naturwissenschaft 43–46, 55–59, 62, 65, 76, 84, 95, 317, 319, 324, 327 Neue Rhetorik 43–44, 46, 93 Neuhumanismus Siehe Humanismus
Lebenswelt 50, 55, 57, 59–70, 77, 82 Leiblichkeit 71, 75–76 Literalität 102–119, 304 Literatur 41, 328, 353, 363–370 loci communes Siehe Topik Logik 18–19, 28, 30, 41, 44–46, 50, 53, 55, 58, 67, 72, 77, 79, 146, 153, 161, 175, 189, 215, 220, 223, 228, 232, 238, 244–248, 250, 257, 268, 284, 334–337, 340–342, 351, 361, 363, 365 Logos 12, 18–19, 87, 95, 119, 124, 137, 144, 175, 179, 335, 341–342, 350, 360, 382–383
Objektivismus 56 Objektivität 29, 35–36, 38, 50, 54–55, 57–58, 62–64, 66–68, 70, 73, 78, 85–86, 91, 116, 121, 131, 140, 154, 164, 167, 173, 222, 235, 246, 249, 254, 267, 272, 274–275, 279, 300, 304–306, 308–310, 312, 325, 346, 361 Ontologie 15, 33, 34, 80, 137, 140, 148, 149, 174, 216, 220, 223, 306, 340 Oralität 102–110
Metapher 155–156, 176, 178, 180, 183, 191, 240, 293–294, 296, 299, 330–332, 335, 337–338, 340, 365– 366, 380 Metaphorik 277, 292–297, 299–300, 302, 329–334, 337–340, 344, 351, 364, 366, 368–369, 372, 374, 387 Metaphorologie 337–339, 382 Metaphysik 20, 50, 55, 61, 65, 73, 84, 94–97, 131–166, 197, 208, 210, 223–224, 238, 240, 268, 274, 295, 297, 299, 304–308, 310–314, 330, 333, 336–337, 339–340, 350–351, 357, 368, 370, 382, 386, 388, 396, 399 Methode 12, 21, 27, 37, 44–45, 54– 55, 67, 86, 138, 148, 158–159, 207, 232, 234–235, 238, 254, 300, 308, 316–317, 320, 323–326, 328, 336, 339, 343, 346, 348, 352 Metonymie 178, 293–294, 300, 365, 380 Mythos 87, 102–119, 131, 144, 179, 181, 183, 239, 304, 335, 342–344, 372–373, 382, 393, 399–400
Paideia Siehe Bildung Pathos Siehe Affekte Performativität 32, 46 Persuasivität 19, 46–49, 93, 146, 153– 154, 190, 213, 252, 254–255, 301, 398 Phänomenologie 15, 19, 50–82, 91, 353 Phantasie 131, 240, 250, 295, 340 Philologie 12, 89, 102, 211, 219–221, 226–227, 230, 237, 273, 284–285, 287, 291–292 Physis 85, 118, 133, 164, 197, 249, 267, 316–318, 343 Poetik Siehe Dichtung Psychoanalyse 35, 378–385 Psychologie 44–45, 231, 245, 264, 286–287, 289, 379 Rationalität 43–44, 48, 53, 95, 183, 233, 240–241, 244, 255, 262, 305, 336–337, 359, 370, 378, 382, 399 Relativität 63–64, 67, 114 Schrift 22, 102, 111, 348–351, 392 Sinn 22–23, 29, 32, 34–37, 40–42, 53, 55–56, 59, 67, 69, 82, 93, 338, 400
506 https://doi.org/10.5771/9783495817773 .
Sachregister Sophismus 63 Sophistik 21, 57, 63, 88, 91, 93, 101, 120–130, 135–139, 141–147, 164, 185, 188, 212, 226, 279, 308, 310, 384–385 Sprachanalytik 28–38, 42, 52, 92, 223, 319–320, 322, 335, 346–348, 350, 356, 361–362 Sprachpragmatik 13, 33–42, 321 Sprachspiel 31, 42, 251 Sprechakttheorie 32–33, 350 Strukturalismus 345–349, 351–353, 380, 391 Subjektivität 29, 55–56, 62, 64, 66– 67, 70, 73, 113–114, 120, 122, 137, 140, 164, 167, 224, 249, 251, 253, 268, 274, 287, 289, 301, 305, 325, 327, 360 Symbol 200, 243, 264, 338, 361, 372, 387, 397 Synekdoche 178 Techne Siehe Kunstlehre Text 351–355, 367, 391–392 Theologie 198–210, 306 Topik 27, 154, 157, 160–161, 184– 194, 212, 214, 227–231, 241–243, 245, 249, 257–258, 389–394 Transzendentalität 56, 58, 65, 67, 69, 71, 85, 91 Transzendenz 67, 139, 145, 148–149, 162, 197, 208, 310 Trieb Siehe Affekte
Tropenlehre 155–156, 176–181, 183, 204, 225, 239, 247, 292 Unbewusstes 41, 323, 383, 393 Wahrheit 28, 30, 33, 36, 38, 43, 55, 59, 68, 79, 90, 102–120, 122–123, 127, 131–135, 138–140, 143–145, 148–149, 151, 153, 162–164, 196, 201, 207, 213–214, 220, 225, 227, 231, 234–236, 238, 245, 258, 268, 277, 279, 293, 295, 297, 299–300, 302–303, 305, 307–309, 311, 319, 324, 334, 338, 351, 355, 357, 364, 375, 393, 395–396 Wahrscheinlichkeit 36, 43–44, 115, 139, 142, 152, 155, 236–237, 245, 257–258, 293 Weisheit 305, 311 Weisheitslehre 89, 135, 173, 311–312 Wirkungsgeschichte 24, 33, 40, 198, 212, 303 Wissenschaft 19, 28, 43, 54–59, 65– 66, 68–70, 73, 76, 84–85, 90, 125, 150–153, 157–162, 173, 188, 203, 225, 232–239, 241, 253, 257–258, 260, 268–269, 296, 308–309, 312, 318, 336, 341, 347, 349–350, 357, 373 Zeichen 72, 82, 206, 209, 224, 238, 349–350, 361, 368, 395 Zeitlichkeit 62–65, 73–74, 76
507 https://doi.org/10.5771/9783495817773 .
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