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German Pages [305] Year 2009
© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525569917 — ISBN E-Book: 9783647569918
Jüdische Religion, Geschichte und Kultur Herausgegeben von Michael Brenner und Stefan Rohrbacher
Band 2
Vandenhoeck & Ruprecht
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Andrea Schatz
Sprache in der Zerstreuung Die Säkularisierung des Hebräischen im 18. Jahrhundert
Vandenhoeck & Ruprecht
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Das vorliegende Buch stellt die leicht überarbeitete Fassung der Arbeit dar, die unter dem Titel »Sprache in der Zerstreuung. Zur Säkularisierung des Hebräischen im 18. Jahrhundert« von der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf als Dissertation angenommen wurde.
D 61
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-56991-7
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Den Schätzen – meinem Vater, meinem Bruder und dem Andenken meiner Mutter
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Dank Ein Buch entsteht an vielen Orten des Schreibens und Gesprächs, und auch wenn es nur eine Autorin hat, die für sämtliche Wörter, Punkte und Akzente die Verantwortung trägt, so haben sich doch zahlreiche andere Stimmen in ihren verschiedenen Sprachen produktiv hineingemischt und an seiner Entstehung mitgewirkt. Mein Dank gilt Prof. Dr. Michael Brocke, der mich dazu ermutigte, eine Dissertation zur hebräischen Sprache im 18. Jahrhundert zu beginnen, der die wohl vollständigste Sammlung der zwischen Berlin und Königsberg gedruckten hebräischen Aufklärungsliteratur in Deutschland an das Salomon Ludwig Steinheim-Institut brachte, wo sie meinen Kollegen und mir immer wieder neue Entdeckungen ermöglichte, und der mit energischem Rat und wertvollen Hinweisen die Arbeit begleitete. Dankbar bin ich Prof. Dr. Stefan Rohrbacher, dem zweiten Betreuer der Dissertation, für aufschlussreiche Gespräche und viele weiterführende Fragen – und für die unschätzbare und tatkräftige Ungeduld, mit der er die Fertigstellung der Dissertation wie des Buches unterstützte. Ihm und Prof. Dr. Michael Brenner danke ich zudem für die Aufnahme des Buches in die Reihe »Jüdische Religion, Geschichte und Kultur« im Vandenhoeck & Ruprecht Verlag. Prof. Dr. Shmuel Feiner und Prof. Dr. David Ruderman ebneten mir den Weg in israelische und amerikanische Kontexte der Forschung und ermutigten mich auf ihre je eigene Weise, meine Überlegungen zum 18. Jahrhundert fortzuentwickeln und zu schärfen. Danken möchte ich auch den beiden akademischen Lehrerinnen, die großzügig bereit waren, ihr Wissen zu teilen, und deren strenge und subtile Analysen mir Zugänge zu Sprache und Aufklärung, Kritik und Tradition ermöglichten, die dieses Buch wesentlich prägten: Prof. Dr. Hella Tiedemann und Prof. Dr. Chava Turniansky. Für lange Gespräche über Schrift und Schreiben und für ihre Jerusalemer und Amsterdamer Gastfreundschaft danke ich Prof. Dr. Shlomo Berger, Dr. Carola Hilfrich und Prof. Dr. Irene Zwiep. Stefan Siebers sorgte mit unerschöpflicher linguistischer Expertise, scharfem Blick und Vincis Grassi dafür, dass mein Vergnügen an den Sprachen nie nachließ. Für ausgezeichnete Ratschläge und Hinweise bin ich Prof. Dr. Marion Aptroot, Dr. Resianne Fontaine, Prof. Dr. Gad Freudenthal, Prof. Dr. Gideon Freudenthal, Prof. Dr. Amnon Raz, Prof. Dr. Elchanan Reiner und Dr. E´mile Schrijver dankbar. Auf verschiedenste wissenschaftliche und freundschaftliche Weisen haben Shulamit und Arie Arnon, Inka Arroyo,
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Dank
Aubrey Pomerance, Dr. Claudia Rosenzweig, Astrid Schmetterling und Dr. Helene Schruff mich während der Arbeit unterstützt. Dem Kurator der Judaica-Sammlungen an der University of Pennsylvania, Prof. Dr. Arthur Kiron, danke ich für anregende Gespräche und für die Erlaubnis, Isaak Satanows Sefer ha-schoraschim für die Umschlagabbildung zu verwenden. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bibliothek des Center for Advanced Judaic Studies, der Jewish National and University Library in Jerusalem und der Bibliotheca Rosenthaliana an der Universiteit van Amsterdam machten es zur Freude, in ihren Lesesälen zu arbeiten. Dem Franz-Rosenzweig-Forschungszentrum an der Hebräischen Universität Jerusalem und seinem Direktor, Prof. Dr. Gabriel Motzkin, danke ich für ein Graduiertenstipendium, das es mir ermöglichte, das Projekt von Anfang an auf solide Füße zu stellen. Der Society of Fellows in the Liberal Arts, die während meiner Jahre in Princeton mein akademisches Zuhause war, ihrem Direktor, Prof. Dr. Leonard Barkan, ihrer Executive Director, Dr. Mary Harper, und meinen »fellow Fellows« danke ich für viele beflügelnde Momente. Für ihre Unterstützung und die großzügige Förderung der Drucklegung des Buchs bin ich Prof. Dr. Martha Himmelfarb, Dean Sandra K. Johnson und dem University Committee on Research in the Humanities and Social Sciences, Princeton University, zu großem Dank verbunden. Thomas Kollatz begegnete der Herausforderung, einen mehrsprachigen Text mit langen Fußnoten lesbar zu machen, mit wissenschaftlicher Genauigkeit, raffinierten Ideen und guter Laune. Danken möchte ich zudem Tina Grummel, die die Zusammenarbeit mit dem Verlag zu einer ganz und gar erfreulichen Erfahrung machte. Meine Mutter, mein Vater und mein Bruder interessierten sich lebhaft für meine Erkundungen jüdischer und deutscher Geschichte und stellten einige der besten Fragen, die mir während der Arbeit an diesem Buch begegneten. Sie reagierten auf meine Ortswechsel mit einer Gelassenheit, die auch mich beruhigte, und zögerten keinen Augenblick mit ihrer Unterstützung. Thomas Quehl erzählte mir von der Macht der Sprachen in der Gegenwart und ermunterte mich – auch transatlantisch – mit unzähligen Tassen des besten Kaffees, den ich kenne.
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Inhalt 11
Einleitung
35
I. Heilige Sprache 1. Babel: Verwirrung und Zerstreuung
37
2. Havdala: Ordnung und Unterscheidung
48
3. Verteilung und Vervielfältigung
56
Heilige und profane Sprache
56
Targum und La az
61
Geschrieben und gesprochen
64
4. Eingrenzung oder Ausbreitung sprachlichen Wissens?
73
Tora und Grammatik
75
Vermittelnde und vermittelte Sprache
98
5. Krise der Zweisprachigkeit
109 113
II. Ursprache
1. Die mangelhafte, die vorzügliche Sprache
115
Im Exil: Wege des Vergessens
115
Am Ursprung: Die Unantastbarkeit der Sprache
119
Vom Sinai: Eine einheitliche Sprache
124
2. Grammatik
133
Grenzgänge
133
Streit
140
Ein Echo?
165
3. Spracherweiterung
170
Wie Berge an einem Haar
170
Qohelet Musar: Schrift und Schreiben
176
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10
Inhalt
III. In der Zerstreuung: Sprache und Nation
1. »Lernen wir von den übrigen Nationen ...«
195 197
»Nation« und »Colonie«
197
»Sie rasteten und ruhten nicht ...«
204
Von den Nationalsprachen zur Sprache überhaupt
215
Ursprache und »allmähliger Ursprung« der Sprache
222
2. Grammatik und Übersetzen
226
Zurück zur Schrift
227
Nach dem »lebenden Alter« des Hebräischen
231
Vor der Wiederherstellung
233
Die »tiefgründige Grammatik« der heiligen Sprache
241
Die »tote Sprache« der Grammatiker
255
3. Grammatik und Spracherweiterung
259
Auf dem Marktplatz der Sprachen
260
Im Archiv der Schriften
268
4. Eine Geschichte der Sprache 3 3 3 279 3
275
Schluss: Eine Sprache wechselt den Autor
279
Literatur
284
Personenregister
302
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Einleitung Auf der Suche nach einer Sprache, in der sich die jüdische Nation über die Fragen ihrer Zeit und ihre Situation in der Diaspora würde verständigen können, wandten sich die jüdischen Aufklärer des 18. Jahrhunderts dem Hebräischen zu: »Möge der Kluge hören, sich belehren lassen und die Kenntnis unserer vorzüglichen, heiligen Sprache in Israel ausbreiten.«1 Isaak Euchel und seine Freunde, die mit diesen Worten für die erste hebräische Zeitschrift der Moderne warben, waren, wie die meisten jüdischen Aufklärer, mehrerer Sprachen mächtig. Moses Mendelssohn verfasste einige seiner wichtigsten Werke auf Deutsch, andere schrieben Englisch, Französisch, Italienisch oder Niederländisch, und gemeinsam unternahmen sie es, die Landessprachen durch Übersetzungen und Lehrbücher in jüdische Zusammenhänge zu integrieren.2 Doch zugleich wurde zwischen Prag, Amsterdam, Berlin und London über religiöse, kulturelle und politische Fragen der Zeit vor allem in hebräischen Büchern, Aufsätzen und Briefen verhandelt. Was bedeutete es, das Hebräische in eine jüdische Sprache der Moderne zu verwandeln? Zu Beginn der Frühen Neuzeit ähnelte das Hebräische in mancher Hinsicht den »sacred silent languages«, die Benedict Anderson als die Medien beschreibt, durch die sich die »global communities« der Vergangenheit ihres inneren Zusammenhalts vergewisserten. Weil sich das Hebräische als Schriftsprache und Sprache der Schrift3 durch den alltäglichen Gebrauch nicht tiefgreifend veränderte, konnte es auf verlässliche Weise die Vorstellung von einem Kollektiv nähren, das Zeiten überdauert und territoriale Grenzen überschreitet. Hinzu kam, dass das Hebräische in jüdischen wie christlichen, in philosophischen wie mystischen Texten als Zeichenordnung interpretiert wurde, die grundsätzlich
1
.[. . . ] hwudqh uninuwl tlugs tyidi larwib Ñiphl ,xql úisuiu Õkx ymwi – Euchel u. a.: Nahal ˙ ha-besor, 12. 2 Erhellende Untersuchungen zur deutschen Sprache in jüdischen Kontexten von Mendelssohn bis Freud bietet Braese: Eine europäische Sprache. Zum Englischen vgl. Ruderman: Jewish Enlightenment in an English Key, 215–268. 3 »Schrift« steht in den folgenden Kapiteln fast ausnahmslos für das hebräische Wort miqra, das die hebräische und hebräisch-aramäische Bibel bezeichnet. Wenn es hingegen »Geschriebenes« im weiteren Sinne meint, geht dies aus dem Kontext eindeutig hervor.
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12
Einleitung
durchsichtig ist auf die Ordnung der Dinge. Wie das Lateinische oder Chinesische konnte es als Archiv eines Wissens gelten, das – unabhängig von der Diversität gesprochener Sprachen – prinzipiell gültig und entzifferbar war: »in principle everyone has access to a pure world of signs.«4 Doch zugleich war das Hebräische als heilige Sprache nie ganz so »schweigsam«, wie Andersons Überlegungen es nahelegen mögen. Im Gegenteil, es ist seine Beredsamkeit, der sich dieses Buch verdankt. Das Hebräische war als rezitierte, studierte und bisweilen auch gesprochene Sprache, vor allem aber als Sprache, in der und über die unablässig geschrieben wurde, ein ausgesprochen mitteilsames Medium. In hebräischen, jiddischen und deutschen Texten, die zwischen 1500 und 1800 entstanden und Fragen des Torastudiums und des Gebets, des Übersetzens und der Grammatik, der Nation und der Diaspora aufgreifen, lässt sich verfolgen, wie die hebräische Sprache eine Fülle von Bedeutungen annahm, die sich wechselseitig formten, umstritten waren, sich wandelten und sichtbar machen, wie in der jüdischen und jüdisch-christlichen Öffentlichkeit über zentrale Aspekte des kulturellen und politischen Lebens im Übergang zur Moderne verhandelt wurde. Noch die Vorstellung von der transhistorischen und transregionalen Existenz der Sprache ist, wie sich zeigen wird, Ausdruck ihrer Verankerung in geschichtlich und räumlich genau bestimmbaren Kontexten. Am Anfang des Buches stand also die Frage, inwiefern sich das Projekt der jüdischen Aufklärer, die heilige Sprache zur modernen Sprache der jüdischen Nation in der Diaspora zu machen, als Versuch beschreiben lässt, eine schweigsame, dauerhafte und wahre Ordnung der Zeichen in eine Sprache für die vielstimmigen Auseinandersetzungen, flüchtigen Reden und fehlerhaften Konstruktionen der Gegenwart zu verwandeln – und inwiefern es sich dieser Beschreibung entzieht. Wenn es im 17. und 18. Jahrhundert eher um Verschiebungen und Veränderungen innerhalb einer Ordnung ging, die schon immer beweglich war und in der das Hebräische seine Bedeutungen stets in Beziehung zu anderen Sprachen, in Beziehung zur islamischen oder christlichen Umgebung und in Beziehung zur Gegenwart entfaltet hatte, wenn das Hebräische also nie wirklich »schweigsam« war, so warf dies neue Fragen auf. Was bedeutete es in der Frühen Neuzeit, von der »heiligen Sprache« zu sprechen und sie von den »profanen Sprachen« zu unterscheiden, und was bedeutete es im 18. Jahrhundert, diese Sprache mit der Geschichte und Gegenwart der jüdischen Nation in der Diaspora neu zu verknüpfen? Ging die Verwandlung der heiligen Sprache in eine jüdi-
4
Anderson: Imagined Communities, 13.
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Einleitung
13
sche Sprache der Moderne mit der Abkehr von religiösen Vorstellungen und Narrativen einher? Zeichnet sich hier die Entstehung säkularer Ansätze, Begriffe und Praktiken ab? Was lässt sich über »das Religiöse« und »das Säkulare« in jüdischen Kontexten des mittleren und westlichen Europa sagen, wenn sie mit Blick auf Veränderungen der sprachlichen Ordnung untersucht werden? Die letzte Frage weist auf eine Verdoppelung der Perspektive hin, die für die folgenden Kapitel relevant ist, auch wenn sie nicht immer ausdrücklich benannt wird. Das Sprachprojekt der jüdischen Aufklärer, der Maskilim, wird einerseits möglichst genau in den Kontexten der Frühen Neuzeit und des 18. Jahrhunderts verortet. Andererseits wird es gerade dadurch als Teil jüdischer Anfänge der Moderne lesbar, als ein Anfang unter den vielen Anfängen, die im Kontext gegenwärtiger Debatten über die europäische Aufklärung und die westliche Moderne neu studiert und interpretiert werden. Die Erneuerung des Hebräischen bildete in den Augen der Maskilim ein zentrales Projekt, das die Anhänger der jüdischen Aufklärung in Europa und darüber hinaus miteinander verband und es ihnen ermöglichte, sich – gegen die Kräfte der Assimilation – als gesellschaftliche und kulturelle Avantgarde zu definieren, die sich die Reform der jüdischen Nation und die Erfindung neuer Formen ihrer Repräsentation in der Diaspora zum Ziel gesetzt hatte. Doch die Maskilim stellten nur eine kleine Gruppe innerhalb der jüdischen Gesellschaft dar,5 und sie selbst beklagten bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts, dass ihr Unterfangen schon nach kurzer Zeit kaum noch ein Echo fand. Die zionistische Erneuerung der hebräischen Sprache knüpfte an manche Aspekte ihrer Arbeit an, ging aber auch mit scharfer Kritik an den jüdischen Kulturen der Diaspora, an den politischen und ästhetischen Ideen der Aufklärung und an den Intellektuellen um Mendelssohn einher. In diesem Kontext war man kaum geneigt, das Berliner Sprachprojekt als frühes Kapitel der eigenen Geschichte in Betracht zu ziehen. Schließlich waren die Maskilim von einer zweisprachigen Ordnung ausgegangen, in der das Hebräische vor allem der schriftlichen Kommunikation dienen würde, ohne sich zu einem mündlichen Idiom zu entwickeln, und in der es Zweitsprache bleiben würde, ohne die Landessprache als Erstsprache zu verdrängen. Das Befremden über diese Konstruktion mag dazu beigetragen haben, dass das Interesse am Hebräischen des 18. Jahrhunderts auch im 20. Jahrhundert nicht sehr ausgeprägt war.6 Doch die Bedeu5
Vgl. Feiner: Mahpekhat ha-ne orut, 236–239. Dies spiegelt noch Sa´enz-Badillos’ Überblick über die Geschichte des Hebräischen, in dem die Rolle der Maskilim in der modernen Geschichte der Sprache zwar grundsätzlich gewürdigt, doch nur knapp und vage bezeichnet wird (Sa´enz-Badillos: A History of the Hebrew Language, 267 f.). Vgl. auch die kurze und ausgesprochen kri6
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14
Einleitung
tung des Sprachprojekts erschließt sich nicht allein mit Blick auf die Ziele, die die Maskilim selbst programmatisch formulierten – und, wie sie selbst feststellten, in mancher Hinsicht verfehlten. In den folgenden Kapiteln geht es um das Sprachprojekt als Teil sich wandelnder Konfigurationen jüdischer Selbstbestimmung, in denen Fragen der Sprache immer auch andere Fragen berührten, religiöse und politische Fragen, Fragen der Aufklärung und der Moderne. Wenn die Maskilim sich über den Ursprung und die Geschichte des Hebräischen, über Grammatik und Übersetzungsfragen, über die Erweiterung der Sprache und ihre Grenzen verständigten, und wenn sie und ihre Gegner diese Angelegenheiten für wichtig genug hielten, um im Streit über sie zugleich nach neuen Möglichkeiten zu suchen, über Vernunft und Tradition, über Religion und Nation, über die Versprechen der Emanzipation und die Gefahren der Assimilation zu sprechen, so trugen alle Seiten, die Maskilim wie ihre Gegner, dazu bei, moderne Fragen in jüdische Kontexte und jüdische Fragen in die Moderne einzuschreiben.
Im 18. Jahrhundert Die jüdische Aufklärung, die Haskala, deren erste Äußerungen mit frühneuzeitlichen Reformen zwischen Prag und Amsterdam verknüpft waren, fand ihr Zentrum in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Berlin, ehe sie im 19. Jahrhundert in Galizien, Polen und Russland neue Bedeutung gewann. In den Jahrzehnten, in denen sich die jüdische Aufklärung im deutschsprachigen Raum entfaltete, wurden kulturelle und soziale Entwürfe erprobt und Gegenentwürfe vorgestellt, auf die sich im 19. Jahrhundert die Wissenschaft des Judentums, die Reform und die Orthodoxie beziehen konnten. Diese formative Epoche jüdischer Geschichte in Deutschland wurde meist explizit mit Blick auf die jeweilige Gegenwart interpretiert. Lange galt sie entweder als Beginn eines langwierigen, doch erfolgreichen Emanzipationsprozesses oder einer problematischen, ja verhängnisvollen Bewegung der Assimilation.7 Beiden tische Darstellung in Kutscher: A History of the Hebrew Language, 183. Benjamin Harshav gehörte zu den Ersten, die linguistische Studien zur Geschichte der hebräischen Sprache seit 1880 in einen größeren sozial- und kulturwissenschaftlichen Kontext stellten, doch auch bei ihm erscheinen frühere Anfänge nur als Vorgeschichte der Erneuerung des Hebräischen unter zionistischen Vorzeichen, und als solche können sie kaum weiter als bis zur litauischen Haskala zurückverfolgt werden (Harshav: Language in Time of Revolution, 121). In eine andere Richtung wies der von Lewis Glinert herausgegebene Band Hebrew in Ashkenaz, der auf eine zentralisierende Perspektive verzichtete und sich erstmals programmatisch der langen Geschichte des Hebräischen innerhalb der komplexen linguistischen und kulturellen Bezüge der Diaspora zuwandte (Glinert: Hebrew in Ashkenaz. Setting an Agenda; Shavit: A Duty Too Heavy To Bear). 7 Vgl. Sorkin: Emancipation and Assimilation.
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Im 18. Jahrhundert
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Ansätzen gemeinsam war es, dass ihnen »Tradition« und »Moderne« als Gegensatz erschienen und sie die jüdische Aufklärung als Moment des Traditionsbruchs analysierten. Wenn die folgenden Kapitel betonen, wie intensiv die Interventionen der Maskilim durch zahlreiche Linien des affirmativen, innovativen oder polemischen Kommentars auf die Überlieferungen früherer Generationen bezogen blieben, so verfolgen sie offensichtlich eine etwas andere Richtung.8 Jüngere Studien zeigen die Vielfalt jüdisch tradierten Wissens in der Frühen Neuzeit und die zahlreichen Anknüpfungspunkte, die es den Maskilim bot.9 David Sorkin lenkte die Aufmerksamkeit auf die Initiativen zu einer Reform des jüdischen Unterrichtswesens, die in Prag entstanden, und bezeichnete sie, zusammen mit dem Vorbild, das die sefardischen Gemeinden in Europa darstellten, als Ausgangspunkt für die kulturellen und sozialen Projekte der Haskala.10 Shmuel Feiner wies auf die nicht unbeträchtliche Zahl jüdischer Intellektueller hin, die ebenfalls schon im frühen 18. Jahrhundert nach Möglichkeiten suchten, neue philosophische Ansätze und wissenschaftliche Methoden in den Kanon jüdischen Wissens zu integrieren.11 Mendelssohns Epoche erscheint nun als Zeit der Verankerung neuer Ideen und Institutionen, der eine Phase des Aufbruchs voranging, die Sorkin und Feiner als »jüdische Frühaufklärung« bezeichnen.12 So stehen im Mittelpunkt gegenwärtiger Annäherungen an das jüdische 18. Jahrhundert nicht länger deutliche Zäsuren und die programmatische Abkehr von älteren Formationen des Wissens und Handelns, wie Jacob Katz sie beschrieb, oder vereinzelte Brüche und Neuanfänge, deren Akkumulation zu tiefgreifenden Veränderungen führte, wie Azriel Shohet argumentierte.13 An die Stelle der Auseinandersetzungen um diese beiden Positionen trat das Interesse für die lose geknüpften Netzwerke, in denen Rabbiner, eine »sekundäre Elite« von Lehrern und Kantoren sowie unabhängige Gelehrte und ihre 8
Vgl. auch Schatz: ›Peoples Pure of Speech‹. Vgl. Ruderman: The Impact of Early Modern Jewish Thought, und ders.: Why Periodization Matters, 25–31. 10 Sorkin: The Transformation of German Jewry, insbesondere 41–62; zu den sefardischen Gemeinden s. auch ders.: The Berlin Haskalah and German Religious Thought, 40 f., und die Beiträge zu Fontaine u.a.: Sepharad in Ashkenaz. Medieval Knowledge and Eighteenth-Century Jewish Enlightened Discourse, Amsterdam 2007. 11 Vgl. Feiners Rückblick auf die ältere Literatur und die Kritik des Begriffs der »Vorläufer«: Mahpekhat ha-ne orut, 46–56, und Etkes: Li-sche elat mevassere ha-haskala be-mizrah Eropa, 25–44. 12 ˙ Early Haskalah, Feiner: Ha-haskala ha-muqdemet, sowie Feiners EinSorkin: The zelstudien: Ha-darqon ha-karukh al ha-kawweret und Ben » anene ha-sikhlut« le-»or ha-muskalot«. 13 Katz: Masoret u-maschber, 284–310; Shohet: Im hillufe tequfot; eine Antwort auf Shohet formulierte Katz in: Out of the Ghetto, 34–41.˙ 9
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Einleitung
Mäzene gemeinsam das Aufkommen von Neuerungen ermöglichten und regulierten. Anders als in Interpretationen der jüdischen Aufklärung, die nahelegen, dass »Tradition« und »Moderne« als Gegensatz aufzufassen sind, rückt nun in den Blick, wie sich die Maskilim jüdisches Wissen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit neu aneigneten, wie sie Wissen der nichtjüdischen Umwelt mit jüdisch tradiertem Wissen vermittelten und wie sie schließlich versuchten, ihre neue »Bibliothek« zu legitimieren und ihre kulturellen und sozialen Projekte dauerhaft zu etablieren.14 Shmuel Feiner, der in seinem Entwurf eines Gesamtbilds der jüdischen Aufklärung im 18. Jahrhundert die Aktivitäten der Maskilim und ihre Folgen nicht mehr als Ausdruck einer Krise, sondern als Revolution innerhalb der jüdischen Gesellschaft deutet, die ausgesprochen produktiv war, sieht in ihr eine historische Bewegung, die einen, aber keineswegs den einzigen jüdischen Weg in die Moderne eröffnete.15 Zugleich wird deutlich, dass die Entwürfe, für die die jüdischen Aufklärer stritten, keineswegs unabhängig von der nichtjüdischen Umgebung entwickelt wurden – sie entstanden in Kontexten, die durch Kontakte und Konflikte, Austausch und Abgrenzung, Annäherung und Selbstbehauptung geprägt waren. Die Maskilim antworteten auf innerjüdische Herausforderungen ebenso wie auf neue Konstellationen in der christlichen Welt, und sie bezogen sich in ihren Antworten auf »Material«, auf Denkfiguren und Narrative, die selbst bereits von einer langen Geschichte jüdisch-christlicher Interaktion in der Diaspora zeugten. Dies gilt auch für ihre Hinwendung zur hebräischen Sprache.
In der Diaspora Die jüdischen Aufklärer bewegten sich zwischen drei Sprachen und keine besaß eine Geschichte, durch die sie sich selbstverständlich als jüdische Sprache der Gegenwart angeboten hätte. Jiddisch war in den Augen der Maskilim die Sprache der noch nicht emanzipierten Vorfahren und eine private Sprache, keine Sprache der Öffentlichkeit. Die Landessprache war die Sprache der christlichen Umgebung und des aufstrebenden Bürgertums, seiner Kultur und seines Selbstbewusstseins – ein Mittel der Integration, die Partizipation, aber auch Assimilation bedeutete. Und das Hebräische? 14 Zur »Bibliothek der jüdischen Aufklärer« vgl. Reiner: The Attitude of Ashkenazi Society to the New Science, Feiner: Mahpekhat ha-ne orut, 66, und Fontaine u. a.: Introduction, IX–XI. 15 Feiner: Mahpekhat ha-ne orut, 32; vgl. auch Rosman: Haskalah: A New Paradigm, 129–132, und Hundert: Jews in Poland-Lithuania, 2 f.
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In der Diaspora
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Es begegnete den Maskilim zunächst als Sprache der täglichen Segenssprüche und Gebete im Haus und als Sprache der synagogalen Liturgie, die die Lesung der Tora und ausgewählter Passagen aus den Propheten und Schriften einschließt. Den Studenten der jüdischen Überlieferung, die sich gründlichere Hebräischkenntnisse aneigneten, erschloss sich durch sie zudem Geschichte und Gegenwart jüdischer Philosophie, Wissenschaft und Literatur. Trotz seiner frühen und alltäglichen Präsenz erschien das Hebräische aber in mancher Hinsicht als Fremdsprache. Innerhalb der Ordnung jüdischer Zweisprachigkeit, wie sie sich im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Aschkenas herausgebildet hatte, war das Jiddische die Erstsprache. So unterschiedlich die Formen des Unterrichts zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten, für verschiedene Schichten, für Jungen und Mädchen aussahen, so unterschiedlich waren auch die Kenntnisse des Hebräischen, die sie vermittelten. Um 1700 konnte das Hebräische zudem als Fremdsprache erscheinen, weil sich, wie sich zeigen wird, Definitionen und Narrative herausbildeten, die das Hebräische als Sprache kennzeichneten, über die ihre Sprecher nicht verfügten, weil sie, so meinten viele, dem Gesetz einer anderen Autorität gehorcht: der Schrift und ihrem göttlichen Autor. Schließlich wurde das Hebräische auch als Fremdsprache beschrieben, weil systematische Kenntnisse der Sprache inzwischen, wie es schien, eher christlich als jüdisch tradiert wurden. Das Hebräische wurde bisweilen mit dem Lateinischen der Frühen Neuzeit verglichen.16 Beide Sprachen ermöglichten eine geographisch weit gespannte Kommunikation über religiöse Angelegenheiten, beide Sprachen waren aber zugleich den Inhabern religiöser Ämter nicht mehr ohne weiteres vertraut, und ihr Gebrauch gehorchte keinen strikten Regeln, keiner anerkannten Norm. Übersetzungen religiöser Schriften in die Landessprachen erhielten immer größere Bedeutung, während zugleich nicht nur religiöse Schriften, sondern auch wissenschaftliche, philosophische und literarische Werke immer noch oft zuerst auf Latein oder Hebräisch veröffentlicht wurden. Und ließe sich nicht hinzufügen, dass die Bemühungen der Humanisten um eine Erneuerung des klassischen Latein ihre Parallele in der Hinwendung der jüdischen Aufklärer zum Hebräischen fanden? Den Maskilim ging es um eine Transformation jüdischer Zweisprachigkeit, die das Hebräische wie Jiddische betraf. Das Jiddische sollte durch das Deutsche ersetzt werden, aber auch das rabbinische Hebrä-
16 Die folgende Skizze stützt sich, was das Lateinische betrifft, auf Burke: Heu domine, adsunt Turcae! (engl.: Burke: Languages and Communities, 43–60) und Waquet: Latin or the Empire of a Sign, insbesondere 41–70 und 78 f.
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18
Einleitung
isch mit seiner starken aramäischen Komponente sollte zurückgedrängt werden.17 Ob an seine Stelle das biblische Hebräisch in möglichst reiner Form treten sollte oder ein Hebräisch, das auch auf die Mischna und mittelalterliche Texte zurückgreift, blieb umstritten. Doch die Bemühungen um eine »klassische« Sprache sind in den Texten der Maskilim nicht zu übersehen. Mendelssohn wies ausdrücklich auf die Parallele zu den Humanisten hin:18 Die guten hebräischen Schriftsteller erlauben sich in neuern Zeiten keinen Ausdruck, keine Redensart, welche nicht in der heiligen Schrift ihre Autorität hat. Ja sie setzen eine Art von Schönheit darinn, (wie solches auch von einigen neuern lateinischen Schriftstellern geschehen ist,) ganze Sentenzen aus den Alten in ihre Reden einzuflechten, und ihnen durch die Verbindung, in welcher sie stehen, eine ganz andere Bedeutung zu geben.
Die Gefahr, die in diesem Purismus liegt, hat Michail Bachtin scharf bezeichnet, als er in seinem Rabelais-Buch über das Latein der Renaissance schrieb:19 »Klassische Reinheit und täglicher Gebrauch schlossen sich aus. Der Alltag und die gegenständliche Welt des sechzehnten Jahrhunderts ließen sich mittels des gereinigten Latein nicht ausdrücken. So lief die Wiederherstellung der klassischen Reinheit in letzter Konsequenz auf Stilisierung hinaus. Wir spüren hier die Ambivalenz der Wiedergeburt: deren Kehrseite war der Tod.« Die Gründe dafür, dass die Geschichte des Hebräischen anders verlief, als Mendelssohns und Bachtins Bemerkungen nahelegen mögen, sind vielfältig. Der Vergleich zwischen dem Lateinischen und Hebräischen zeigt auch Differenzen. Ziel des frühen Unterrichts war es, allen Kindern Anfangsgründe des hebräischen Lesens und Schreibens zu vermitteln. Auch die Mädchen lernten, sich der hebräischen Schrift, wenn auch für das Jiddische, zu bedienen. Die religiöse Praxis, insbesondere die Teilnahme an der Liturgie, die nicht nur in der Synagoge, sondern auch im Haus ihren Ort hat, verlangte von allen Grundkenntnisse der hebräischen Sprache. Hinzu kam, dass zwar auch in die Umgangssprachen der christlichen Umwelt vereinzelt lateinische Ausdrücke eingingen, das Jiddische aber das Hebräische in weit größerem Umfang vergegenwärtigte. Es legte nicht nur Einzelnen, sondern allen Sprechern und Sprecherinnen hebräische Wendungen nahe.20 Diese beiden Diffe17 Vgl. Israel Bartals grundlegenden Aufsatz zur Transformation jüdischer Zweisprachigkeit: Mi-du-leschonijut mesoratit le-had-leschonijut le umit, insbesondere 188. 18 ˙ JubA 4, 186. 19 Bachtin: Literatur und Karneval, 8. Ebenso Burke: Heu domine, adsunt Turcae!, 32. 20 Vgl. Timm: Glikls Sprache, 51–57, und Harshav: Language in Time of Revolution, 115–119.
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In der Diaspora
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renzen zum Lateinischen – die allgemeine Verbreitung des Hebräischen als Sprache des Gottesdienstes und des Studiums und die Präsenz des Hebräischen im Jiddischen – boten wichtige Voraussetzungen für eine Erneuerung der hebräischen Sprache. Doch entscheidend für ihr Gelingen, das sich im Sprachprojekt der Maskilim als Möglichkeit abzeichnet, dürfte eine dritte Differenz gewesen sein. Die Opposition gegen das Lateinische als Kirchensprache und die Hinwendung zu den Nationalsprachen fand zwar ihre Parallele in der Kritik am rabbinischen Hebräisch mit seinen aramäischen Wendungen und seiner Resistenz gegen grammatische Normierung. Sie konnte aber innerhalb der Ordnung jüdischer Zweisprachigkeit nicht als Opposition gegen das Hebräische schlechthin wiederkehren. Wenn um 1700 die Fremdheit zwischen der Sprache und ihren Sprechern hervorgehoben wurde, so gerade, weil die heilige Sprache stets auf das »Volk« ( am) oder die »Nation« (uma) im Exil bezogen war. Das Hebräische, das – im Gegensatz zum Jiddischen – nicht nur in Aschkenas, sondern überall zwischen Amsterdam und Istanbul, Fez und Bagdad, Philadelphia und Curac¸ao gelesen werden konnte, war die Sprache einer zugleich religiösen, nationalen und frühneuzeitlich globalen Sphäre der Kommunikation. Die jüdischen Aufklärer knüpften an diese Sprache an, beschrieben ihre Schwierigkeiten mit ihr und versuchten, die verschiedenen Quellen der Entfremdung zwischen der Sprache und ihren Sprechern zu beseitigen. Während sie auf die vielfachen Spuren der Fremdheit in der Sprache oft hinwiesen, bezeichneten sie allerdings das Hebräische bis weit ins 18. Jahrhundert hinein nicht als »tote Sprache«. Diese Metapher tauchte erst auf, als Theologen und Orientalisten begannen, zwischen den »lebendigen« semitischen Sprachen, insbesondere dem Arabischen, und der »ausgestorbenen« hebräischen Sprache zu unterscheiden. Moses Mendelssohn bezeichnete mit der Metapher die Unmöglichkeit, das Hebräische erneut in eine lebendige, gesprochene Sprache zu verwandeln,21 während die Herausgeber der Zeitschrift Ha-Me assef sie gebrauchten, um die Größe und Bedeutung der Aufgabe, der sie sich zuwandten, hervorzuheben.22 Für die Stellung des Hebräischen und seiner europä-
21 In Or la-netiva, der Einleitung zur Pentateuchübersetzung: JubA 14, 227, dt. JubA 9.1, 31 f. 22 Euchel u. a.: Nahal ha-besor, 13. Im Kontext seiner Übersetzung des Gebetbuchs ˙ Student der »morgenländischen Sprachen« in Königsberg, alübernimmt Euchel, der lerdings die orientalistische Metapher und bittet bei der Beurteilung seiner Übersetzung »auf die Verhältnisse zwischen einer deutschen, und einer in der längst todten hebräischen Sprache abgefaßten Schrift Rücksicht zu nehmen«; s. Euchel (Hg.): Gebete, 1786, XVI.
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ischen Geschichte in den akademischen Kontexten des 18. Jahrhunderts galt schon, was Dipesh Chakrabarty mit Blick auf andere Traditionen und das 20. Jahrhundert als Resultat europäischer Kolonialherrschaft beschreibt: »[T]he intellectual traditions once unbroken and alive in Sanskrit or Persian or Arabic are now only matters of historical research for most – perhaps all – modern social scientists in the region. They treat these traditions as truly dead, as history.«23 Indem die jüdischen Aufklärer am Hebräischen als Sprache schriftlicher Kommunikation in der Diaspora festhielten und ihr Projekt der Erneuerung der Sprache in deutlichem Kontrast zur akademischen Rede von der »toten« Sprache verfolgten, versuchten sie, die Möglichkeit offen zu halten, Traditionen aufzugreifen und weiterzuentwickeln, die sie nicht als abgeschlossene oder abzuschließende »Geschichte« betrachteten. Sie bestanden damit auf der Möglichkeit, die Gegenwart in komplexer Kontinuität zu den hebräischen Kulturen Europas zu gestalten, mit denen sie durch das Studium oder direkt in Berührung gekommen waren – in Kontinuität zur Kultur der mittelalterlichen Juden der iberischen Halbinsel, zur italienisch-jüdischen Kultur der Frühen Neuzeit und zur Kultur der zeitgenössischen sefardischen Gemeinden in Amsterdam, Hamburg oder Saloniki.24 Diese Insistenz auf Kontinuität und das Vertrauen in die Möglichkeit, das Hebräische in die neuen politischen und kulturellen Kontexte der Gegenwart einzuführen und zur Grundlage eines unverwechselbaren jüdischen Wegs in die Moderne zu machen, bewirkten allerdings – in einer durchaus dialektischen Bewegung – einige grundlegende Veränderungen. An manchen Orten in Aschkenas und in manchen Kreisen wurde das Hebräische nicht mehr vorwiegend als »heilige Sprache« interpretiert, oder, anders gesagt, es wurde nicht länger als Teil einer sprachlichen Ordnung beschrieben und fortentwickelt, die durch die Opposition von Heilig und Profan gekennzeichnet war. Zeigen sich hier Spuren der Säkularisierung? Verbindet sich hier die aufklärerische Suche nach einer jüdischen Sprache für die Moderne mit der Hinwendung zu säkularen Haltungen und Praktiken? Wie sich rasch zeigte, können diese Fragen nicht einfach bejaht werden. Der Begriff der Säkularisierung bot keineswegs einen verlässlichen Ausgangspunkt für weitere Überlegungen, sondern erwies sich selbst als Teil einer Problematik, die es näher zu untersuchen galt.25 23
Chakrabarty: Provincializing Europe, 5 f. Vgl. Schatz: Returning to Sepharad. 25 Auf die Unmöglichkeit, die Ideen und Aktivitäten der Maskilim ohne weiteres mit »Säkularisierung«, wie sie gemeinhin verstanden wird, in Verbindung zu bringen, weist auch Christoph Schulte hin, ohne allerdings den Begriff selbst und seine Bedeutungen in 24
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Das Religiöse und das Säkulare
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Das »Religiöse« und das »Säkulare« Der Encyclope´die-Artikel zu »se´cularisation«, veröffentlicht im Jahre 1765, erwähnt zwei verschiedene Wurzeln des Begriffs. Zum einen verweist er auf den rechtlichen Vorgang, durch den einem Mitglied des Klerus der Übertritt von der Ordens- zur Weltgeistlichkeit gestattet wird. Zum anderen spricht er von Prozessen der Säkularisierung während der Auseinandersetzungen zwischen kirchlichen und weltlichen Mächten im post-reformatorischen Europa: [D]ans le tems que les dogmes de Luther & des re´formateurs eurent e´te´ adopte´s par un grand nombre de princes d’Allemagne, un de leurs premiers soins fut de s’emparer des biens des e´veˆques, des abbe´s & des moines, qui e´toint situe´s dans leurs e´tats. L’empereur Charles-Quint n’ayant pu venir a` bout de re´duire les Protestans, ni de faire restituer a` l’eglise les biens qui en avoient e´te´ de´membre´s; lasse´ d’avoir fait une guerre longue & sans succe`s, il convint que chacun des princes protestans demeureroit en possession des terres ecclesiastiques dont il s’e´toit empare´, & que ces biens seroient se´cularise´s, c’est-a`-dire oˆte´s aux gens d’e´glise.
Mit Genugtuung vermerkt der Autor wenige Zeilen später, dass die Säkularisierung mit dem Westfälischen Frieden von 1648 weiter voranschritt und empfiehlt, sie auch in Zukunft als Mittel zur Entmachtung des Klerus in Betracht zu ziehen: »Il seroit a` desirer que l’ont euˆt recours a` la se´cularisation pour tirer des mains des eccle´siastiques, des biens que l’ignorance & la superstition ont fait autrefois prodiguer a` des hommes, que la puissance & la grandeur temporelles de´tournent des fonctions du ministere sacre´, auxquels ils se doivent tout entiers.«26 Diese Bemerkungen sind aus mehreren Gründen aufschlussreich. Wenn »Säkularisierung« sich schon früh auf Güter bezog, die den Bereich kirchlicher Herrschaft verließen und in weltliche Hände übergingen, ist deutlich, dass mit diesem Begriff das »Religiöse« und das »Säkulare« als antithetisches Paar gedacht und dualistische Deutungen historischer Vorgänge nahegelegt werden, denn der Gegenstand der Säkularisierung kann nie gleichzeitig der einen und anderen Ordnung angehören. Zugleich zeigt sich, dass der Begriff der Säkularisierung selbst Teil der Geschichte ist, die er zu beschreiben beansprucht. Er ist zutiefst mit der Entwicklung des europäischen Christentums verknüpft,
Forschungen zur jüdischen Geschichte näher zu thematisieren oder zu problematisieren, vgl. Schulte: Die jüdische Aufklärung, 46. 26 Anon.: Art. »Se´cularisation«, 883; vgl. auch Conze u. a.: Art. »Säkularisation, Säkularisierung«, 795–807, Marramao: Art. »Säkularisierung«, insbesondere Sp. 1133– 1136, und Casanova: Public Religions, 12 f.
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aber auch mit der europäischen Aufklärung, die sich in scharfer antiklerikaler Kritik gegen viele Aspekte der christlichen Welt wandte, in der sie sich herausgebildet hatte, und Prozesse der Säkularisierung als Zeichen historischen Fortschritts deutete. Schließlich zeigt der Artikel deutlich, dass selbst die Anfänge des Begriffs, wie sie hier in den aufklärerischen Kontexten der Encyclope´die bestimmt werden, mehr Ambivalenzen in sich tragen, als der Autor würdigen mag. Wenn ein Geistlicher das Kloster verlässt, um im weltlichen Bereich zu wirken, ist noch »Säkularisierung« ein Vorgang, der durch kanonisches Recht geregelt wird. Umgekehrt erscheint der Kaiser nicht nur als weltliche Hoheit, sondern auch als katholischer Herrscher, der jedoch wiederum die Säkularisierung kirchlicher Güter als Resultat neuer historischer Gegebenheiten und neuer Machtverhältnisse legitimiert. Diese vier Aspekte des Begriffs der Säkularisierung – die dualistischen Denkfiguren, die sich mit ihm verknüpfen, die christlichen Anfänge, die ihm eingeschrieben sind, das teleologische Narrativ, das die europäische Aufklärung ihm als ihre Hinterlassenschaft mitgab, und die historischen Ambivalenzen, die ihm zugrunde liegen, obwohl er sie eher verbirgt als aufdeckt – wurden in jüngerer Zeit Gegenstand lebhafter Debatten. Man könnte sogar sagen, dass politische und akademische Auseinandersetzungen über die Bedeutungen des »Säkularen«, der »Säkularisierung« und des »Säkularismus« zu einem der wichtigsten Felder geworden sind, auf denen heute über die Interpretation der westlichen Moderne und ihre Implikationen verhandelt wird.27 Hier seien nur wenige Elemente aus diesen Debatten herausgegriffen, die für die folgenden Kapitel von besonderer Bedeutung sind. Zu den Autoren, die darauf hinweisen, wie eng der Begriff der Säkularisierung mit der christlichen Geschichte Europas verknüpft ist, gehört Jose´ Casanova. Er skizziert die Dualismen, die das Universum prägten, innerhalb dessen sich die Gläubigen bewegten, und das komplexere Gefüge, in dem diese Dualismen aufeinander bezogen blieben:28 Spatially, there was »the other world« (heaven) and »this world« (earth). But »this world« was itself divided into the religious world (the church) and the secular world proper (saeculum). [...] Ecclesiologically, this tripartite division was expressed in the distinction between the eschatological »Invisible Church« (the Communio Sanctorum), the »Visible Church« (the Una, 27 Zur Literatur, die für die folgenden Überlegungen relevant war, gehörten außer den Werken, die auf den folgenden Seiten zitiert werden, insbesondere Bhabha: The Location of Culture, Bhargava (Hg.): Secularism and Its Critics, Chatterjee: Secularism and Toleration, ders.: Talking about Our Modernity in Two Languages, Mufti: Enlightenment in the Colony und Viswanathan: Outside the Fold. 28 Casanova: Public Religions, 14
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Das Religiöse und das Säkulare
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Sancta, Catholica, Apostolica Roman church), and secular societies. Politically, there was the transcendental City of God (Heavenly Kingdom), its sacramental representation here on earth by the Church (the Papal Kingdom), and the City of Man proper (the Holy Roman Empire and all Christian Kingdoms).
Casanova betont die Komplexität, die das Resultat sich vervielfältigender Dualismen und ihrer konkreten Ausformung inmitten sozialer und politischer Spannungen ist.29 Die Grenzen zwischen kirchlicher und weltlicher Herrschaft waren porös und umstritten: »The theocratic claims of the church and spiritual rulers to possess primacy over the temporal rulers and, thus, ultimate supremacy and the right to rule over temporal affairs as well, were met with the caesaropapist claims of kings to embody sacred sovereignty by divine right and by the attempts of temporal rulers to incorporate the spiritual sphere into their temporal patrimony and vassalage.«30 Vor diesem Hintergrund beschreibt Casanova »Säkularisierung« als Umkehrung der Hierarchien, die die Konstellationen früherer Epochen prägten. Während sich im Mittelalter weltlicher Raum und weltliche Zeit, weltliche Herrschaft und weltliches Wissen innerhalb religiöser Ordnungen entfalteten, ist es nun umgekehrt – das Religiöse wird innerhalb säkularer Ordnungen des Raums, der Zeit, der Macht und des Wissens definiert.31 Mit dieser Darstellung des historischen Prozesses der »Säkularisierung« verknüpft Casanova die Kritik zweier teleologischer Elemente, die mit älteren Theorien der Säkularisierung verbunden waren: Säkularisierung wird als ein Prozess der Differenzierung aufgefasst, der keineswegs gleichbedeutend sein muss mit der Privatisierung oder dem Verschwinden des Religiösen.32 Casanovas Überlegungen verdeutlichen, wie eng die Geschichte der Säkularisierung und des europäischen Christentums miteinander verwoben sind. Sie tragen aber auch dazu bei, jenseits einheitlicher Theorien der Säkularisierung einen Raum zu öffnen für die Erforschung einer Vielfalt möglicher Konstellationen, in denen das »Säkulare« und »Säkularisierung« identifiziert werden können. Casanova selbst zeigt, wie unterschiedlich die Bedeutungen sind, die »Säkularisierung« in katholischen und protestantischen Gegenden, in Spanien und Brasilien, Polen und den Vereinigten Staaten erhält. Diese Ansätze zu historischer und theoretischer Differenzierung bedeuten schließlich auch, dass es möglich wird zu fragen, ob und in welcher Weise in Regionen, in denen
29 30 31 32
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
15. 14. 15. 19–39.
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andere als die westlichen Kirchen dominierten, überhaupt von Säkularisierung die Rede sein kann: »The European concept of secularization refers to a particular historical process of the transformation of Western Christendom and might not be directly applicable to other world religions with very different modes of structuration of the sacred and profane realms.«33 Casanova selbst geht davon aus, dass das globale »Regime« der westlichen Moderne es auch für Religionen, die außerhalb Europas entstanden, zwingend machte, auf Prozesse der Säkularisierung zu »antworten«.34 Die Ambivalenz einer Situation, in der Säkularisierung sich auf unterschiedliche Weise vollziehen kann und bisweilen auch ausbleiben mag, während sie andererseits als unabweisbare Herausforderung stets präsent ist, lässt sich jedoch schon früher, als Casanova es nahelegt, in Europa selbst beobachten. In seinen Studien zur frühneuzeitlichen Geschichte der Juden in Italien, beschreibt Robert Bonfil, wie sich die Strukturierung von Raum und Zeit in jüdischen Kontexten von christlichen Vorstellungen unterschied: »The secular ›time of the synagogue‹ was in harmony with the ›time of the merchants,‹ the bankers and all those who worked, and in contrast to the ›time of the church.‹ The ›time of the church‹ was of course in contrast to the time of the merchants [ . ..].« Doch diese unterschiedlichen Ausgangspunkte führten keineswegs zu einem eigenen, spezifisch jüdischen Prozess der Säkularisierung. Im Gegenteil, Säkularisierung fand gerade da statt, so Bonfil, wo die komplexeren jüdischen Strukturen den eher dualistischen Modellen der christlichen Umgebung angeglichen wurden: »As a result of the general secularization of thought, the Jewish perception of time naturally tended to become more uniform with that of their Christian neighbors. The result was a restructuring of the ›time of the synagogue,‹ which became less and less secular from this point on, and therefore more closely in line with ›the time of the church.‹«35 Talya Fishman hat das Problem, dass sich hier abzeichnet, noch schärfer umrissen. Sie charakterisiert Leone Modenas traditionskritische Abhandlung Kol Sakhal, im Venedig des frühen 17. Jahrhunderts verfasst, als »legal ›iconoclasm in a traditional key‹«.36 Modenas Text erscheint als Beispiel für jüdische Ansätze zu einem eigenständigen Prozess der Reform und Transformation, der unterbrochen wurde und keine Fortset33
Casanova: Secularization Revisited, 19. »But to ask how religions like Confucianism or Taoism, or any other religion for that matter, respond to the imposition of the new global worldly regime of Western modernity becomes a very relevant question.« Ebd., 20. 35 Bonfil: Jewish Life in Renaissance Italy, 225. 36 Fishman: Shaking the Pillars of Exile, 65. 34
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Das Religiöse und das Säkulare
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zung fand, weil es schließlich die dominierenden Modelle der christlichen Umgebung waren, die den Übergang zur Moderne prägten:37 Jewish culture failed to complete an ›authentic‹ process of secularization akin to that which transformed the dominant culture, that is, a process wherein Jews confronted and revalued concepts indigenous to their own tradition. Although the process itself began in the early modern period, it was prematurely halted by developments within the host society that had overwhelming intellectual, political, and social ramifications for the Jews of Europe.
Fishman liest Leone Modenas Text als »map of a road not taken«38 und schlägt vor zu entziffern, was sie »Andenken« nennt: »mementos of the internally impelled modernization of Jewish thought that was never completed.«39 Ein eindrückliches Beispiel für die Art und Weise, wie christliche religiöse und politische Praktiken frühe Ansätze zu einer jüdischen säkularen Kultur prägten, findet Amnon Raz-Krakotzkin im Werk christlicher Zensoren in Italien. In einem dialektischen Prozess des Edierens, in dem Teile eines Textes oder Textkorpus eliminiert wurden, damit andere Teile desselben Werks publiziert werden konnten, entstanden Texte, die gleichermaßen jüdisch wie christlich lesbar waren, weil es möglich wurde, sie zu studieren, ohne ihnen religiöse Autorität zuzuerkennen. Mit der Praxis christlicher Herausgeber und Zensoren, unter denen sich zahlreiche Konvertiten befanden, entstanden Ansätze zu säkularen Haltungen, die schließlich typisch wurden für die jüdischen Historiker des 19. Jahrhundert: »they continued to deal with the same literature while rejecting commitment to the halakhic values of those texts«.40 Bonfil, Fishman und Raz-Krakotzkin gehen – auf ihre je eigene Weise – davon aus, dass die jüdische »Antwort« auf Prozesse der Säkularisierung in der Adaption an diese Prozesse bestand. Sie bestätigen damit die Ambivalenz, die den Differenzierungen innewohnt, auf denen Casanova besteht. Diese Differenzierungen ermöglichen einerseits, nach Konstellationen des Religiösen und Säkularen in ganz unterschiedlichen Kontexten zu fragen; andererseits führen sie zurück zu einem recht geradlinigen historischen Narrativ, das allerdings – mit seiner kritischen Perspektive auf die Machtverhältnisse, die solcher Geradlinigkeit zugrunde liegen – keineswegs »triumphalistisch« ist. In Raz-Krakotzkins Über-
37 38 39 40
Ebd., 64. Ebd., 63. Ebd., 65. Raz-Krakotzkin: The Censor, the Editor, and the Text, 197.
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legungen kommen allerdings darüber hinaus Verwicklungen zum Vorschein, die solche Geradlinigkeit auch in Frage stellen. Er zeigt, dass säkulare Haltungen und Praktiken keineswegs immer jenseits und unabhängig von der Präsenz jüdischer Leserinnen und Leser und jüdischer Texte in Europa entstanden, sondern gerade im Kontakt, im Streit und im Austausch mit ihnen. Insofern erscheinen in seiner Studie die jüdischen Akteure nicht nur als Antwortende, sondern auch als diejenigen, die – manchmal absichtlich, manchmal unabsichtlich – inmitten der christlichen Welt mit ihren universalen Perspektiven einige Fragen aufwarfen, die ihrerseits unabweisbar nach neuen Antworten auf christlicher Seite verlangten.41 Solche Momente der Interaktion und der Interdependenz, die Unruhe und Unübersichtlichkeit erzeugen, betont Talal Asad in seinen Untersuchungen zum Religiösen und Säkularen, in denen es nicht um die Rekonstruktion historischer Linien, sondern eher um das Nachzeichnen signifikanter Brüche geht. Asad beschreibt die Oppositionen, die das Verhältnis zwischen dem Religiösen und Säkularen definieren, nicht wie Casanova als modifizierte Fortsetzung christlichen dualistischen Denkens, sondern als Reduktion mittelalterlicher Komplexitäten:42 [T]he complex medieval Christian universe, with its interlinked times (eternity and its moving image, and the irruptions of the former into the latter: Creation, Fall, Christ’s life and death, Judgment Day) and hierarchy of spaces (the heavens, the earth, purgatory, hell), is broken down by the modern doctrine of secularism into a duality: a world of self-authenticating things in which we really live as social beings and a religious world that exists only in our imagination.
Asad insistiert darauf, dass die Brüche, um die es hier geht, sich nicht innerhalb eines linearen historischen Narrativs zusammenfassen und interpretieren lassen: »In my view the secular is neither singular in origin nor stable in its historical identity, although it works through a series of particular oppositions.«43 Komplex erscheinen die Prozesse, in denen säkulare Denk- und Handlungsweisen entstehen, vor allem durch drei Umstände. Erstens bilden sich das Religiöse und das Säkulare immer schon in wechselseitiger Abhängigkeit voneinander heraus – das Religiöse wird als besonderer Raum überhaupt erst durch säkulares Denken konstituiert und definiert.44 Zweitens wird das Säkulare als epistemo41 Eine weiterführende Studie, in der der Autor den Begriff der »Säkularisierung« und zionistische Interpretationen des »Säkularen« historisch kontextualisiert und kritisch reflektiert, bietet Raz-Krakotzkin: A National Colonial Theology. 42 Asad: Formations, 194. 43 Ebd., 25. 44 Ebd., 21–26, und Asad: Responses, 207–210.
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Das Religiöse und das Säkulare
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logische Kategorie gestützt durch die Macht des Säkularismus als politischer Strategie des modernen Nationalstaats. Drittens aber führen Definitionen und Strategien der Abgrenzung nie zu stabilen Verhältnissen, weil sie auf die alltäglichen Praktiken der Gläubigen (und Ungläubigen) treffen, die sich ihnen nie ganz fügen:45 On the one hand objects, sites, practices, words, representations – even the minds and bodies of worshippers – cannot be confined within the exclusive space of what secularists name »religion.« They have their own ways of being. The historical elements of what came to be conceptualized as religion have disparate trajectories. On the other hand the nation-state requires clearly demarcated spaces that it can classify and regulate: religion, education, health, leisure, work, income, justice, and war. The space that religion may properly occupy in society has to be continually redefined by the law because the reproduction of secular life within and beyond the nation-state continually affects the discursive clarity of that space.
Zu denjenigen, die mit ihren eigensinnigen Haltungen und Praktiken dazu beitrugen, dass das Religiöse und das Säkulare in kein stabiles Verhältnis zueinander treten, sondern immer wieder neu bestimmt werden müssen, können die italienischen Juden in der Frühen Neuzeit gewiss ebenso wie die Juden nördlich der Alpen im 18. Jahrhundert gezählt werden, ob sie nun konservativ, gleichgültig, aufklärerisch, unentschlossen, moderat oder radikal waren: »They have their own ways of being.« Die Perspektive, die Asad hier akzentuiert, ermöglicht es zu fragen, was sich in dem recht langen Zeitraum zwischen Leone Modenas Kritik rabbinischer Überlieferung im frühen 17. Jahrhundert und den säkularisierenden Methoden jüdischer Historiker im 19. Jahrhundert abspielte. Inwiefern kamen innerjüdische Prozesse der Kritik und Transformation wirklich zum Stillstand, wie Fishman andeutet, und wo zeigt sich ihre Dynamik auch im 18. Jahrhundert? Wie sahen die Prozesse der Adaption, von denen Raz-Krakotzkin mit Blick auf Italien spricht, etwas später und in etwas nördlicheren Gegenden aus, und inwiefern gehörten zu ihnen auch Momente der Insistenz auf Grenzen der Adaption? Wo zeigen sich Momente der Distanzierung von jenen intellektuellen und politischen Entwicklungen in der christlichen Umgebung, die Fishman als »überwältigend« bezeichnet? Die nächsten Kapitel folgen der Richtung, die diese Fragen anzeigen, auch wenn diese weit über den Rahmen dieses Buchs hinausweisen. Sie rücken die lebhaften frühneuzeitlichen und aufklärerischen Auseinandersetzungen um das Hebräische in den Mittelpunkt, um zu erkunden, wie hier Denk- und Handlungsmöglich45
Ebd., 201.
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keiten zwischen »Authentizität« und Adaption erprobt wurden: »After all, religion consists not only of particular ideas, attitudes, and practices, but of followers. To discover how these followers instantiate, repeat, alter, adapt, argue over, and diversify them (to trace their tradition) must surely be a major task. And so too with secularism.«46 Wenn auf den nächsten Seiten einige Veränderungen verfolgt werden, die sich in der Frühen Neuzeit und im 18. Jahrhundert mit Blick auf die hebräische Sprache und ihre Bedeutungen für die jüdische Nation in der Diaspora abzeichneten, so ist dies auch ein Versuch, die Vielzahl der »Anhänger«, die über das »Heilige« und das »Profane«, über Religion, Nation und das Säkulare auf dem Feld der Sprachen verhandelten, und die bemerkenswerte Vielfalt ihrer Texte, Ideen, Argumente und praktischen Vorschläge neu sichtbar zu machen.
Brüche und neue Verknüpfungen Im Mittelpunkt des ersten Teils des Buches stehen die Begriffe des Heiligen (qodesch) und Profanen (hol), mit denen in rabbinischen, mittelalterlichen und frühneuzeitlichen˙ Texten die Vielzahl jüdischer Sprachen, die im Mittelmeerraum und nördlich der Alpen verbreitet waren, beschrieben und geordnet wurden.47 Die Trennung zwischen Heilig und Profan bildet ein Zentrum jüdischer religiöser Praxis und Reflexion. Sie wird als Teil des göttlichen Schöpfungswerks vorgestellt und in der Liturgie bekräftigt. Bedeutung erhält das Heilige in der Opposition zum Profanen und in der Art, wie diese Opposition auf verschiedene Felder bezogen wird, etwa auf die Sprachen. So betonte Jehuda ha-Levi den Aspekt der Distinktion – ihm galt das Hebräische vor allem als »ausgezeichnete« Sprache; Maimonides hingegen betonte den Aspekt der Differenz und interpretierte das Hebräische als Sprache, die es deutlich von allen anderen Sprachen zu unterscheiden gilt. Rabbinische Texte und die Sprachpraxis bestimmten die heilige Sprache bis in die Frühe Neuzeit hinein als Sprache, in der Heiliges und Profanes verhandelt werden kann, die profane Sprache hingegen als Sprache, in der nur Profanes 46
Ebd., 194. Das Buch wendet sich zunächst rabbinischen, mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Quellen zu, um das Material vorzustellen, mit dem auch noch Jahrhunderte später über das Hebräische nachgedacht wurde – erwähnt werden fast ausschließlich Texte, die im 18. Jahrhundert sichtlich präsent waren, sei es, dass sie gedruckt oder zitiert wurden. In den wichtigen Studien Moshe Pellis zur Geschichte der hebräischen Sprache im 18. Jahrhundert ist immer wieder zu beobachten, dass Denk- und Schreibweisen als neu eingeführt werden, die lange vor der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts geläufig waren. Vgl. etwa Pelli: The Age of Haskalah, Kap. 4, und ders.: Tehijjat ha˙ laschon. 47
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Brüche und neue Verknüpfungen
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verhandelt werden darf. Wenn um 1700 über die Bedeutung des Hebräischen in der Ordnung jüdischer Sprachen neu diskutiert wurde, geschah dies nicht, indem neue Grenzziehungen zwischen dem Heiligen und dem Profanen vorgeschlagen wurden. Die Verhandlungen über solche Grenzziehungen, über heilige und profane Räume, Zeiten, Sprachen oder Wissensformen, waren schon in der Antike und im Mittelalter Teil jüdischer Wirklichkeit in der Diaspora gewesen. Im Übergang zur Moderne aber trat neben die religiöse Sprache, in der »das Heilige« und »das Profane« Bedeutung annahmen, eine andere Sprache, die sich von diesen Begriffen und den mit ihnen verknüpften Haltungen und Praktiken distanzierte. Diese säkulare Sprache entfaltete sich, selbst wenn sie sich religiöser Sprache widersetzte oder zu entziehen suchte, nie völlig getrennt von ihr. Es geht hier um eine Reihe von Brüchen, die sich auf verschiedenen Ebenen – begrifflich, narrativ und praktisch – abzeichneten und als »diskursive« Brüche gedacht werden können, auch wenn sie nie absolut, sondern eher partiell und bedingt erscheinen: »words and practices were rearranged, and new discursive grammars replaced previous ones.«48 Die Unruhe, die am Anfang der frühneuzeitlichen und aufklärerischen Versuche stand, hebräische »Wörter und Praktiken« neu zu ordnen, hatte zahlreiche Gründe. Kontroversen um die richtige Tradierung jüdischen Wissens, Schwierigkeiten mit der Ordnung jüdischer Zweisprachigkeit, in der das Jiddische mit dem Hebräischen zu konkurrieren begann, und die »Entdeckung« der sefardischen Welt mit ihren mehrsprachigen Kulturen spielten ebenso eine Rolle wie die Auseinandersetzung mit christlichen Hebraisten und ihrem Interesse an den »klassischen« Texten der hebräischen Literatur oder, etwas später, die Konfrontation mit protestantischen Orientalisten und ihrer Geringschätzung europäischer jüdischer Traditionen. Die Verknüpfung nationaler mit sprachlicher Identität und die miteinander verknüpften Strategien nationaler, kolonialer und säkularer Politik mit ihrer Forderung, religiöse Identitäten zu privatisieren, verlangten ebenfalls nach neuen Antworten. In dieser Situation entstand eine neue Tendenz, das Hebräische an seinen besonderen, »ausgezeichneten« Ursprung – an seinen göttlichen Autor, an die Schrift und an die Tradition – zu binden. Die Erfahrung mit der »Rigidität« der Zeichen,49 die durch die Schrift gegeben sind, der 48 Asad: Formations, 25. In einem engeren Sinne wird auch bei Peter Burke Säkularisierung als Sprachwechsel bezeichnet: »as the process of change from the interpretation of reality in essentially supernatural, other-worldly terms to its interpretation in terms which are essentially natural and focussed on this world.« (Burke: Religion and Secularisation, 294.) Vgl. auch Charles Taylor zu »religious language«: Modern Social Imaginaries, 52. 49 Foucault: Les mots et les choses, 76.
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Einleitung
Widerstand gegen neue Ansätze zur Vereinheitlichung der Sprache, die die Vielfalt der Tradition negierten, und die Irritation durch die christliche Hebraistik wurden übersetzt in ein neues Interesse am überlieferten Narrativ vom Hebräischen als Sprache göttlichen Ursprungs, die nicht wandelbaren Regeln unterliegt, sondern einem unwandelbaren Gesetz gehorcht und menschlichem Wissen höchstens fragmentarisch zugänglich wird. Lockes »Author [of all Things]«50 war auch Autor der hebräischen Sprache – und dies, entgegen den Vorstellungen des englischen Philosophen, in einem ganz buchstäblichen Sinne.51 Doch während sich auf der einen Seite die religiöse Rede über das Hebräische als Sprache, die sich menschlichem Wissen entzieht, verfestigte, wurden auf der anderen Seite Ansätze entwickelt, die die Gebundenheit der Sprache an ihren Ursprung in Frage stellten. Die Aufgabe, das »Gesetz« zu wiederholen, wurde mit Methoden der Auslegung, Ableitung und Kritik verknüpft, die es erlauben sollten, die Sprache auf den Grundlagen der Schrift und des Verstandes vollständig zu erfassen und zugänglich zu machen. Der zweite Teil des Buches zeigt, wie sich religiöse und säkulare Idiome, in denen die Bedeutungen des Hebräischen und der Umgangssprachen diskutiert wurden, gleichzeitig und verschränkt miteinander entfalteten. Religiöse Interpretationen der Sprache, die ihren göttlichen Ursprung akzentuierten, und die Herausbildung säkularer Ansätze zu ihrer Erforschung, die ihre Verankerung in der wechselhaften Geschichte der jüdischen Nation in der Diaspora betonten, folgen nicht innerhalb einer linearen Entwicklung aufeinander, sondern treten gleichzeitig auf, streiten als verschiedene Versionen jüdischer Selbstbestimmung im Übergang zur Moderne gegeneinander und weisen sich wechselseitig Bedeutung zu.52 Um das Hebräische nicht nur studieren, sondern als Sprache der Gegenwart auch neu schreiben zu können, akzeptierten die jüdischen Aufklärer um die Mitte des 18. Jahrhunderts die Notwendigkeit, die Sprache zu erweitern. Sie bejahten sprachliche Erfindungen, die den Gesetzen des Ursprungs nur noch partiell gehorchten und bestritten die autoritative Stellung der Schrift, indem sie ihr die zahlreichen Texte, die in der Diaspora entstanden waren, mit allen Formen und Wörtern, die
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Locke: An Essay concerning Human Understanding, III.iii, 19, 419. Auf den stark ausgeprägten Literalismus im Hinblick auf das Hebräische wie Griechische auch in der protestantischen Welt des 17. Jahrhunderts weist etwa Anthony Grafton hin: What Was History?, 247. 52 Die Verschränkung säkularisierender mit resakralisierenden Denk- und Schreibfiguren um 1800 wurde in einer Forschungsgruppe zu »Figuren des ›Sakralen‹ in der Dialektik der Säkularisierung« am Zentrum für Literaturforschung, Berlin, untersucht. Ihren Mitgliedern danke ich für Anregungen und Hinweise. 51
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Brüche und neue Verknüpfungen
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aus der Umgebung übernommen wurden, zur Seite stellten. Dies bedeutete, dass es in den Augen einiger hebräischer Schriftsteller auf die Trennung zwischen »heiliger« und »profaner« Sprache nicht länger ankam und die Opposition von Heilig und Profan in der Sprache keine besondere Rolle mehr spielte. So wird im dritten Teil des Buches rekonstruiert, wie es möglich wurde, eine Geschichte der hebräischen Sprache zu schreiben, die eher an heterogenen Traditionen als an einem einzigen einheitlichen Ursprung interessiert war und in der diejenigen, die zuvor als Fremde in der Sprache galten – ihre jüdischen Sprecher, Frauen und Christen – zu ihren Autoren werden konnten. Die Brüche, die sich hier abzeichnen – die Distanzierung von Ursprungserzählungen, die Zustimmung zu grammatischen Analysen und sprachlichen Erfindungen, die durch die Schrift und die Tradition nur unzureichend legitimiert werden können, die Hinwendung zu den Verflechtungen mit der nichtjüdischen Welt und den Zufällen jüdischer Geschichte in der Diaspora, die immer neue Anfänge in der hebräischen Sprache verlangen und ermöglichen – werden in den folgenden Kapiteln als Momente beschrieben, in denen sich säkulare Haltungen herausbildeten, obwohl diese immer auch etwas anders aussahen, als der offensive, ironische, optimistische Säkularismus, der im zitierten Encyclope´die-Artikel zum Ausdruck kommt. Wenn in jüdischen Kontexten des 18. Jahrhunderts säkulare Ansätze erprobt wurden, so geschah dies in vielen Fällen nicht zuversichtlich, sondern zögernd, nicht ausdrücklich, sondern in Andeutungen und auf Umwegen, nicht triumphierend, sondern als Eingeständnis des Verlusts anderer Möglichkeiten. Vor allem aber führten diese Brüche nicht zu einer eindeutigen, klaren Ablösung von religiösen Vorstellungen. Säkulare Ansätze werden in Verhandlungen mit religiösen Begriffen, Narrativen und Praktiken entfaltet und vermittelt mit diesen propagiert. Religiöse Vorstellungen treten wohl mehr und mehr in den Hintergrund, geraten aus dem Blick, werden ignoriert, schreibend umgangen, unwirksam gemacht. Doch sie können auch immer wieder plötzlich hervortreten,53 so in Isaak Euchels eingangs zitierten Worten, wenn er sein Publikum dazu auffordert, »die Kenntnis unserer vorzüglichen, heiligen Sprache in Israel« auszubreiten. In Euchels Worten zeigt sich der vielleicht deutlichste Unterschied zum Säkularismus der christlichen Umgebung. Die Hinwendung zum 53 Dies ist es, was Gershom Scholem noch mehr als ein Jahrhundert nach Mendelssohn und Euchel beobachtete und beunruhigend fand. In seinem an Rosenzweig adressierten »Bekenntnis über unsere Sprache« mündet die Kritik an der nicht vollzogenen Säkularisierung des Hebräischen allerdings in seine Resakralisierung – die Möglichkeit der Säkularisierung wird strikt verneint. Vgl. Brocke: Franz Rosenzweig und Gerhard Gershom Scholem.
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Einleitung
Hebräischen als Sprache der jüdischen Nation erlaubte es den Maskilim, sich mit den Strategien des modernen Nationalstaats zu arrangieren, dem es um die Eingrenzung des Bereichs des Religiösen und der religiösen Differenzen geht, und der stattdessen sprachliche und kulturelle Identitäten betont, die in einem universalisierenden Sinne als ineinander übersetzbar und miteinander vermittelbar gelten. Zugleich ging es den Maskilim aber auch um Kontinuität mit den komplexen Verhältnissen der Frühen Neuzeit, in denen die Möglichkeit, Kommunikation und Kohärenz unter den verschiedenen Gemeinden der Diaspora aufrecht zu erhalten, nicht zuletzt von der hebräischen Sprache abhing, deren religiöse und säkulare, nationale und diasporische Bedeutungen bis heute miteinander verknüpft und ineinander verflochten bleiben.54 In dieser Hinsicht würde sich das Hebräische auch in Zukunft von den Nationalsprachen der christlichen Umgebung unterscheiden. Für Euchel und andere Maskilim ließ sich das Hebräische nie reduzieren auf eine Komponente »ethnisch-kultureller« Selbstdefinition, und es ging nicht auf in der Funktion als Bildungs- und Kultursprache. Moses Mendelssohn, der Sprache, Kultur und Bildung in seinem Aufsatz Über die Frage: was heißt aufklären? miteinander verknüpfte, ohne auf religiöse Begriffe zurückzugreifen,55 beschrieb in seinem Pentateuch-Werk das Hebräische wieder als heilige Sprache. Naphtali Herz Wessely, der von seinen Zeitgenossen als wichtigster Schriftsteller der hebräischen Aufklärung betrachtet wurde und das Hebräische in vieler Hinsicht in säkulare Kontexte einfügte, hielt an der Hoffnung fest, dass seine Heiligkeit eines Tages wieder hergestellt wird. Für viele Maskilim blieb das Hebräische irgendwie »heilige Sprache«. Es sind die verschiedenen Weisen, in denen dieses unbestimmte, aber auch unbeirrbare »irgendwie« sich äußert, die beides, die weitgehende Zustimmung der jüdischen Aufklärer zur Sprache und Politik der nichtjüdischen Aufklärung und einen gewissen Widerstand gegen sie ausdrücken. Das Verhältnis zwischen dem Religiösen und dem Säkularen lässt sich hier also keineswegs in Figuren der linearen Abfolge, der Überwindung und Aufhebung traditioneller Haltungen, des Fortschritts und womöglich der Revolution beschreiben. Vielmehr zeigt sich »a more complicated web of connections and recursivities«56 in Momenten, in denen die
54 Vgl. auch Adam Sutcliffes Überlegungen zur »Widerspenstigkeit« der jüdischen Aufklärung, die keineswegs die Uneindeutigkeiten beseitigt, die jüdische Identität kennzeichnen: »not-quite race, not-quite nation, not-quite religion and not-quite culture«, sondern umgekehrt selbst von diesen Uneindeutigkeiten geprägt ist (Sutcliffe: Judaism and Enlightenment, 247–261, hier: 260). 55 Mendelssohn: JubA 6.1, 115–119. 56 Asad: Responses, 210.
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Brüche und neue Verknüpfungen
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komplexe Gegenwart in der Diaspora dazu führt, dass religiöse und säkulare Denk- und Handlungsweisen in der Abgrenzung gegeneinander sich immer noch aufeinander beziehen, voneinander abhängig bleiben, auf bisweilen überraschende Weise konvergieren und sich sogar miteinander verbünden.57 Wenn hier die Herausbildung nichtreligiöser Haltungen aber mit einem etwas anderen »Stil« des Denkens einhergeht als in der aufklärerisch-christlichen Welt, sollte dann überhaupt am Begriff des Säkularen festgehalten werden? In den folgenden Kapiteln erscheint er aus zwei miteinander verknüpften Gründen produktiv. Er erlaubt es zu betonen, dass die jüdischen Aufklärer ebenso wie ihre Verbündeten und Gegner an den Entwicklungen um sie her partizipierten, dass sie mit ihrer Umgebung kommunizierten, und dass sie keineswegs losgelöst von christlich-aufklärerischen Perspektiven auf Sprache, Vernunft, Nation und Religion agierten. Die Hinwendung der Maskilim zum Hebräischen als Sprache der Gegenwart zeigt sie zudem zutiefst involviert in die Herausbildung einer Modernität, die den flüchtigen, gegenwärtigen Augenblick gegenüber allen anderen zeitlichen Dimensionen privilegierte.58 Sie waren in einem emphatischen Sinn »Zeitgenossen«, die sich dem Versuch, ihnen zu verweigern, was Johannes Fabian »Gleichzeitigkeit« oder »coevalness« nannte, widersetzen.59 Zugleich wird der Begriff des Säkularen auch beibehalten, weil es dadurch möglich wird, ihn zu öffnen und zu erproben, was er leisten könnte, wenn ihm die nur zögernde und partielle Distanzierung von religiösen Vorstellungen, die Abweichungen 57 Während sich auf diesen Seiten und in den folgenden Kapiteln immer wieder Übereinstimmungen mit Shmuel Feiners Analyse der jüdischen Aufklärung als zugleich transformativer und anti-assimilatorischer Bewegung ergeben, sei ihr hier in einem zentralen Punkt widersprochen. Feiner schreibt: »Secularization was expressed in many fields of thought and lifestyle, but in essence, one broad and diverse development took place, in the course of which the sacred and the profane were separated. In this way, two blocs of knowledge, institutions, and patterns of behavior were created, and each of them gained autonomy. They drew upon different sources of authority – one from the sanctity of divine authority, the other from [. ..] reason, experience, and human will [ .. .]« (Feiner: Mahpekhat ha-ne orut, engl., 371). Demgegenüber wird hier die Unterscheidung zwischen den begrifflichen Paaren des »Heiligen« und »Profanen« einerseits und dem »Religiösen« und »Säkularen« andererseits hervorgehoben, vor allem aber wird betont, dass im Hinblick auf das jüdische 18. Jahrhundert keineswegs von einer eindeutigen Opposition zwischen dem »Religiösen« und »Säkularen« die Rede sein kann, sondern es gerade darauf ankommt, beides, die zögernden, partiellen Brüche und die immer wieder sich zeigenden Verflechtungen zwischen religiösen und säkularen Idiomen und Strategien, zu analysieren. 58 Auf eine neue Hinwendung zum flüchtigen, gegenwärtigen Augenblick in der jiddischen Kultur des 18. Jahrhunderts hat Shlomo Berger aufmerksam gemacht, vgl. etwa Berger: Functioning Within a Diasporic Third Space, 75 f. 59 Fabian: Time and the Other, 25–35.
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Einleitung
von linearen Entwicklungen, die unvorhersehbaren Komplexitäten und Widerstände, die sich in den verschiedenen Zusammenhängen zeigen, in denen er Geltung beanspruchte, eingeschrieben werden.60 Gauri Viswanathan fragt: »How differently would secularism be understood if it was seen through a history omitted from its own narrative? What new terms of definition would arise from this occluded history?«61 Aspekte einer etwas anderen Geschichte des Säkularen, die nicht Teil des Narrativs wurden, durch das sich die Moderne selbst erklärt, werden im Kontext des 18. Jahrhunderts, der jüdischen Aufklärung und jüdischer Anfänge der Moderne sichtbar. Eine künftige Geschichte nichtreligiöser Begriffe, Haltungen und Praktiken, die keineswegs antireligiös sind, könnte hier neue Anknüpfungspunkte finden.
60 In gewisser Weise verfolgen die nächsten Kapitel eine ähnliche Richtung wie Jonathan Hess’ Studie zu Mendelssohn, Friedländer und Ascher, in der er die kritische Umformung aufklärerischer Ideen und Schreibweisen in den Werken jüdischer Autoren, die auf Deutsch schrieben, als Teil der europäischen Aufkläurng neu sichtbar macht; vgl. zusammenfassend Hess: Germans, Jews, 208 f. 61 Viswanathan: Secularism in the Framework of Heterodoxy, 476.
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I. Heilige Sprache
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1. Babel: Verwirrung und Zerstreuung Die jüdischen Aufklärer des 18. Jahrhunderts näherten sich der »heiligen Sprache« nur selten direkt. Sie teilten das relativ geringe Interesse mittelalterlicher jüdischer Autoren an einer Definition dessen, was die Heiligkeit des Hebräischen begründet, und nahmen von den wenigen Definitionsversuchen, die ihnen bekannt gewesen sein dürften, kaum Notiz.1 Nur ausnahmsweise erwähnt wurde Maimonides’ Aussage, dass das Hebräische heilig genannt werde, weil es keine unschicklichen Wörter kenne.2 Eher interessierten sich die Maskilim für Nachmanides, der meinte, Maimonides habe definiert, was ein Euphemismus sei, doch nicht, was unter der »Heiligkeit« der Sprache zu verstehen sein könnte, und der selbst die Auffassung vertrat, »heilig« sei das Hebräische, weil es die Sprache Gottes, der Tora, der Prophetie, die Sprache der Gottesnamen und des Schöpfungswerks sei.3 Nur am Rande finden sich Hinweise auf Profiat Duran, der erklärte, dass die hebräische Sprache »heilig« genannt werde, weil das Volk, das sich ihrer bedient, und das Land, in dem sie gesprochen wird, heilig seien.4 Kabbalistische Spekulationen über die Heiligkeit des Hebräischen sind zwar anzutreffen, doch ebenfalls, ohne dass sie ausführlicher besprochen würden.5 In den Texten der Maskilim tritt die Arbeit an einer Definition des Begriffs der heiligen Sprache zurück hinter die Arbeit in und an einem Narrativ. Die überlieferten Bedeutungen der hebräischen Sprache werden neu artikuliert und variiert, um die hebräische Sprache als Sprache 1 Einen Überblick über die mittelalterlichen Definitionen bietet Zwiep: Medieval Interpretations; s. auch Halkin: The Medieval Jewish Attitude to Hebrew. 2 Maimonides: More nevukhim, III, 8, ed. Kaufman, Bd. 4, 314, dt.: Maimonides: Führer der Unschlüssigen, Bd. 3, 41. Isaak Satanow verweist auf diese Stelle in seinem Kommentar zu Jehuda ha-Levis Ha-Kuzari, fol. 31a, und im Kommentar zur Stelle in seiner Ausgabe des More nevukhim, Bd. 3, fol. 9a−b. 3 Nachmanides: Perusche ha-tora, ed. Chavel, Bd. 1, 492 (zu Ex 30,13). Mendelssohn (Or la-netiva, in: JubA 14, 214) äußert sich ähnlich, ohne sich explizit auf Nachmanides zu beziehen; s.u., 244. 4 Duran: Ma ase efod, ed. Friedländer / Kohn, 178. Jehuda Neumark (Schoresch Jehuda, Haqdamat ha-mehabber, [unpaginiert]) wiederholt diesen Gedanken, ohne Profiat Duran zu nennen, in˙ seiner Grammatik; Isaak Satanow greift in seinem Kommentar zu Jehuda ha-Levis Kuzari ebenfalls darauf zurück (fol. 30b); s. u., 268. 5 Neumark bezieht sich auf Josef Gikatilla und Abraham Asulai, s. u., 135; Mendelssohn (Qohelet musar, ed. Gilon, 160) verweist auf Jehuda ha-Levis Kuzari, wo dieser das Sefer Jezira zitiert und kommentiert; s.u., 180. ˙
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Heilige Sprache
der Gegenwart mit Legitimationserzählungen zu verbinden, die in jüdischen Traditionen verankert waren, als Fortführung dieser Traditionen gelten durften, und die das, was sich im Denken und Schreiben des Hebräischen im 18. Jahrhundert veränderte, würden begründen und rechtfertigen können. Die Bedeutungen des Hebräischen als heiliger Sprache, als Ursprache und Sprache der jüdischen Nation wurden mit Hilfe narrativer Verschiebungen, Erweiterungen und Verwandlungen erörtert, die die Grundlage eines neuen Wissens über die hebräische Sprache bilden sollten. Was die Fülle mittelalterlicher Überlegungen zur Sprache überhaupt und die Reflexionen darüber, wie der Ursprung der Sprache gedacht und die Vielzahl der Sprachen erklärt werden könne, betrifft, so ließen die Maskilim sie fast ebenso unberücksichtigt wie die geringe Zahl mittelalterlicher Definitionsversuche zur »Heiligkeit« des Hebräischen. Sie bezogen sich vor allem auf zwei mittelalterliche Erzählungen über die früheste Geschichte der hebräischen Sprache, die sie zitierten, an die sie anknüpften und in die sie eingriffen, wenn sie über das Hebräische schrieben. Die eine findet sich in Jehuda ha-Levis Kuzari, die andere in Maimonides’ Mischne tora. Um von Anfang an einen Blick auf beide Texte als spärliches mittelalterliches Repertoire der Maskilim, das doch durch die Gegensätzlichkeit und Komplexität seiner Aussagen vielerlei Interpretationen zuließ, zu ermöglichen, werden hier beide Erzählungen nebeneinander vorgestellt – mit Blick auch auf ältere, biblische und rabbinische Texte zum Ursprung und zur frühesten Geschichte der Sprachen, die in beide Erzählungen eingeflossen sind und durch diese vermittelt ins 18. Jahrhundert gelangten. Die Maskilim, die von der linguistischen Literatur und der Dichtung des mittelalterlichen Sefarad nur wenig Kenntnis hatten,6 wandten ihr Interesse vor allem dessen philosophischen und exegetischen Werken zu. Bekanntlich lasen und verehrten sie insbesondere einen Autor, Maimonides (1135–1205), und genauer noch: ein Werk desselben, den More nevukhim. Dieser erschien als jüdischer Zugang zum systematischen Denken schlechthin, als Pforte zur Philosophie und zu den weltlichen 6 Ein großer Teil der linguistischen Literatur war in arabischer Sprache verfasst, nicht übersetzt und wurde im frühneuzeitlichen Aschkenas nicht tradiert; vgl. Jehuda Neumark (Schoresch Jehuda, Haqdama [unpaginiert]) und Jehuda Leib ben Ze ev (Ozar ˙ ha-schoraschim, Haza a [unpaginiert]) zu den zahlreichen sefardischen Grammatikern, ˙ die ihnen nur dem Namen nach bekannt waren. Auch die Poesie blieb – abgesehen von manchen synagogalen Dichtungen, die auch in Aschkenas Eingang in die Liturgie fanden – unbekannt. Zwar war die Sprache der sefardischen Poesie das Hebräische, doch in der aschkenasischen Welt, nördlich der Alpen, fehlten die Voraussetzungen für die Rezeption dieser Werke – die Kenntnis ihrer kulturellen Kontexte und ihrer aus der arabischen Welt übernommenen rhetorischen und poetischen Grundlagen.
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Babel: Verwirrung und Zerstreuung
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Wissenschaften. So wie sie den »Führer der Verwirrten« in ihrer eigenen Lebensgeschichte nicht selten mit dem Beginn des Wegs zur Aufklärung in eins setzten, beabsichtigten sie auch andere mit Maimonides zur Aufklärung hinzuführen. Seine Autorität sollte es ermöglichen, zwischen Aufklärung und jüdischen Überlieferungen zu vermitteln. Nach innen wie außen wurde er als Repräsentant einer religiös strengen, doch zugleich weltoffenen und weltläufigen jüdischen Kultur auf der Höhe ihrer Zeit zitiert – auch wenn dies nicht selten dazu zwang, seine Texte gegen den Strich zu lesen.7 Jehuda ha-Levi (ca. 1075 – ca. 1141) erscheint zwar nicht so prominent wie Maimonides, auch nicht so populär wie Bachja ibn Paquda, Autor des ethischen Werks Hovot ha-levavot, wurde aber doch im 18. Jahrhundert kontinuierlich˙ rezipiert. Zwei seiner Werke spielten in der Aufklärungsliteratur eine besondere Rolle – sein philosophisches Werk Sefer ha-Kuzari und eine seiner zahlreichen Dichtungen, das Klagelied über Zion, das in die Liturgie zu Tisch a be-Av Eingang gefunden hat: Zijjon ha-lo tisch ali. Der Kuzari wurde im 18. Jahrhundert zweimal ˙kommentiert, zum einen von Mendelssohns Mentor Israel Zamos´c´ und zum anderen von Isaak Satanow. Mendelssohn selbst benutzt den Kuzari an entscheidenden Stellen: er zitiert ihn in seiner ersten hebräischen Schrift Qohelet musar und bezieht sich in zentralen Partien seiner Sprachtheorie auf Jehuda ha-Levis Theorie über die biblischen Akzente.8 Jehuda ha-Levi lässt die früheste Geschichte der hebräischen Sprache mit den ersten Tagen der Schöpfung beginnen, mit Gott, Adam und Eva, er fährt fort mit der babylonischen Sprachverwirrung, mit Ever und Abraham, und endet mit Sefarad – und mit der Feststellung, dass sich nichts geändert hat; die hebräische Sprache ist nicht nur die älteste, sie bleibt auch die vornehmste unter den Sprachen:9
7 Zu den Maimonides-Lektüren der Berliner Maskilim s. Lehmann: Maimonides, Mendelssohn and the Me asfim, 87–108. Zum weiteren Kontext der Maimonides-Rezeption unter den Berliner Maskilim s. Funkenstein: Haskala, History, and the Medieval Tradition, 234–247. 8 Schon im frühneuzeitlichen Aschkenas wird der Kuzari bisweilen als autoritative Quelle genannt – Moses Isserles, Jom Tov Lipman Heller und Ephraim Luntschitz beziehen sich auf ihn, s. Shear: Judah HaLevi’s Sefer ha-Kuzari in Early Modern Ashkenaz; zur Präsenz des Kuzari unter den Aufklärern des 18. Jahrhunderts s. Shear: Judah HaLevi’s Kuzari in the Haskalah, 71–80. Zu Mendelssohns Lektüren des Kuzari vgl. Jospe: Jewish Particularity from Ha-Levi to Kaplan, 307–325; ders.: The Superiority of Oral over Written Communication, 127–156. 9 hwau hmdam Õda rzgh hz ly hrui rwak Õhinw urbd hbu huxu Õda Õy t`iwh hb rbd rwa ñuwlh aihu Õda dy xn dy rby dy rud rxa rud tlbqu hruth tudy Õy unmxnim xnu twm twu itinqm ñiqu ixm huxu wiam rbdm Õhrba hih rbku tunuwlh lublbu hglph ty hily rawnw inpm tirby tarqn urubybu rby ñuwl aihwu
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Heilige Sprache
Sie ist die Sprache, in der Gott, gelobt sei er, mit Adam und Eva und diese beiden selbst gesprochen. Das geht hervor aus der Ableitung des Wortes Adam von adama [Erde], ischa [Frau] von isch [Mann], Hawwa [Eva] von ˙ hajja [lebendig], Qajin [Kain] von qaniti [ich habe erworben], Schet [Set] ˙von schat [er gewährt] und wird außerdem durch das Zeugnis der Tora und durch die Überlieferung eines Geschlechts an das andere – Ever von Noah, dieser von Adam – bestätigt. Als Sprache des Ever [ ever] bekam sie den Namen Hebräisch [ ivrit], weil er sie zur Zeit der Teilung und Sprachverwirrung beibehielt. Und schon Abraham sprach in Ur Kasdim aramäisch, weil das Aramäische die Sprache des Kasdim war – das Hebräische war für ihn eine besondere Sprache, die heilige Sprache, und das Aramäische die profane Sprache. Ebenso verpflanzte sie Ismael nach Arabien. Daher sind nun diese drei Sprachen, die aramäische, arabische und hebräische einander verwandt und ähnlich in Wörtern, Konstruktionen und Flexionen; die hebräische nimmt aber die erste Stelle unter ihnen ein.
Die hebräische Sprache wird vorgestellt als Ursprache und geoffenbarte Sprache. Jehuda ha-Levi knüpft an den Midrasch an, der aus der hebräischen Sprache selbst ihr unvordenkliches Alter ableitet:10 Sie soll Männin (ischa) heißen, weil sie vom Mann (isch) genommen ist usf. [vgl. Gen 2,23] – daraus lässt sich schließen, dass die Tora in der heiligen Sprache gegeben wurde. R. Pinchas und R. Chilqija im Namen R. Simons: So wie sie in der heiligen Sprache gegeben wurde, wurde auch die Welt in der heiligen Sprache erschaffen. Hast du jemals gehört: gyne – gyneia, itta [aram. Frau] – itteta, antropi – antropeia, gavra [aram. Mann] – gevarta? Dagegen wurde von isch das Wort ischa gebildet. Warum? Weil das eine Wort ähnlich dem andern lautet [...].
Der Midrasch bietet hier ein scheinbar sprachimmanentes, linguistisches Argument. Die Ableitung des Wortes für »Frau« aus dem Wort für »Mann« auf der Ebene der Signifikanten, die der »Ableitung« Evas aus der Rippe Adams auf der Ebene des Signifikats entspricht, dieses mimetische Verhältnis zwischen Zeichen und Bedeutung, das nur im Hebräischen auftritt, soll beweisen, dass der Text, der dies überliefert, keine Übersetzung eines anderen Textes, keine Übersetzung aus einer anderen
ñku lux ñuwl timrahu wdqh ñuwl tdxuim ñuwl tirbyh ul htihu Õidwk ñuwl aih timrahw Õidwk ruab timrab Õhitumwb tirbyhu tibryhu timrah tumdtm tuptuwm tunuwl wlw ula uihu bryh la laymwi htua awn .[. . . ] Õhbw hluymh hdbl tirbyh ñuwl htihu Õhiwumwbu Õhitukulhtbu – Jehuda ha-Levi: Sefer
ha-Kuzari, II, 68, ed. Cassel, 167 f. Die Übersetzung folgt hier wie auch bei den folgenden Zitaten aus dem Kuzari der Übersetzung von David Cassel, die nur gelegentlich präzisiert wird. 10
Õwb hiqlx 'ru sxnip 'r ,wduqh ñuwlb hruth hntinw dml hta ñkim 'ugu hxql wiam ik hwa arqi tazl ,attia atia ,hinig inig rmua Óimim tymw ,wduqh ñuwlb Õluyh arbn Ók wduqh ñuwlb hntinw Õwk ñumis 'r :hzh ñuwlh ly lpun hzh ñuwlhw hml ,hwau wia ala ,atrbg arbg ,aiipurtna ipurtna – BerR 18,4, ed.
Theodor / Albeck, Bd. 1, 164 f; dt. nach: Der Midrasch Bereschit Rabba, 79.
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Babel: Verwirrung und Zerstreuung
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Sprache sein kann. Dieses Argument beruht natürlich seinerseits auf der Annahme, dass der Text, auf dessen sprachliche Verfasstheit es sich bezieht, wahr ist. Ohne die Voraussetzung, dass die Erzählungen des Pentateuch geoffenbarte Lehre sind, wären die Sprache Gottes oder die Namen Adams und Evas für die Frage nach dem Sprachursprung kaum relevant. So lange diese Voraussetzung ausgeblendet blieb, weil sie selbstverständlich war, erschien das scheinbar rationale, allgemeine Geltung beanspruchende Argument des Midrasch höchst attraktiv. Jehuda ha-Levi und Abraham ibn Esra (ca. 1092–1167) bringen es in einer erweiterten Fassung,11 und in ihrer Version geht es in die frühen Ansätze zu einer wissenschaftlich orientierten Geschichte der hebräischen Sprache ein: Asarja de’ Rossi (ca.1511– ca. 1577), Lehrer und Freund des berühmten Kuzari-Kommentators Jehuda Moscato, benutzt es in seinem Me or enajim12 ebenso wie Mendelssohn in seiner Einleitung zur Pentateuch-Ausgabe Netivot ha-schalom.13 Nachdem Jehuda ha-Levi das linguistische Argument für das Hebräische als Ursprache gestreift hat, wendet er sich der Geschichte der hebräischen Sprache zu. Für sie lässt sich, ebenso wie für die geoffenbarte Lehre, eine Traditionskette etablieren, die den Beweis und die Gewissheit liefert, dass sie sich unverändert und unversehrt erhalten hat: von Adam zu Noah, von Noah zu Ever und von Ever zu Abraham. Noah und sein Haus retten die Ursprache zur Zeit der Sintflut, in der alle anderen, die sie sprechen, untergehen. Ever aber bewahrt sie in einem Augenblick, der noch kritischer erscheint, denn in Babel wendet sich Gott, wenn er gegen die Sprecher interveniert, gegen die Sprache selbst: er verwirrt die Sprache, indem er sie vervielfältigt und zerstreut. Doch auch wenn viele Sprachen an die Stelle der einen Sprache treten, ersetzen sie diese nicht. Das Hebräische geht nicht verloren, sondern bleibt bei Ever, und von ihm, der die Ursprache durch die wirre Vielfalt Babels hindurch tradiert, erhält sie ihren Namen. So verweist der Name der Sprache nicht direkt auf ihren Ursprung. Er erinnert vielmehr an ihre Geschichte, die – wie jede Geschichte – die Kontinuität zum Ursprung gefährdet. Hier aber bleibt die Integrität der Sprache unangetastet. Babel ist, folgt man Jehuda ha-Levi, an der hebräischen Sprache spurlos vorübergegangen. Ist es das wirklich? 11
Abraham ibn Esra: Safa berura, ed. Lippmann, fol. 3b. Asarja de’ Rossi: Me or enajim, III, Kap. 57, fol. 172b; engl.: The Light of the Eyes, 672 f. Asarja de’ Rossi bezog sich auch zustimmend auf Nachmanides’ und Profiat Durans Überlegungen zur Heiligkeit der Sprache ( s.o., Anm. 3 u. 4), vgl. ebd., fol. 176a und The Light of the Eyes, 688. 13 Dubno: Haqdama [Fragment], fol. 7a u. JubA 15.1, 15; Mendelssohn: Or la-netiva, in: JubA 14, 214. Ferner findet sich das Argument auch bei Neumark: Schoresch Jehuda, Haqdamat ha-mehabber [unpaginiert]. ˙ 12
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Heilige Sprache
An die Bestätigung der Identität der Sprache nach Babel mit der Sprache vor Babel schließt Jehuda ha-Levi unmittelbar eine neue Bestimmung des Hebräischen an. Es ist nicht allein Ursprache, es ist auch heilige Sprache.14 Wodurch aber wird die hebräische Sprache zur heiligen Sprache? Jehuda ha-Levi gibt keine absolute Bestimmung dessen, was die Heiligkeit der Sprache ausmacht. Seine Bemerkung verweist vielmehr darauf, dass die heilige Sprache als Teil eines oppositionellen Gefüges zu verstehen ist. Heilig ist das Hebräische im Verhältnis zum Aramäischen, in der Differenz zu der anderen, der profanen Sprache. Diese Differenz setzt Babel, die Vervielfältigung der Sprachen und jüdische Mehrsprachigkeit voraus, sie kann erst auftreten, nachdem die einzige Sprache zu einer Sprache unter vielen wurde. Von den anderen Sprachen aber wiederum wird sie unterschieden: für Abraham ist das Hebräische eine »besondere Sprache«, laschon mejuhedet (in der Über˙ setzung Ibn Tibbons). Jehuda ha-Levis kurze Genealogie zeigt, dass »Heiligkeit« nicht als ursprüngliche Bestimmung der hebräischen Sprache, sondern als Effekt der Geschichte der Sprachen und der Geschichte der Juden gedacht wird. Die Beschreibung des Hebräischen als Ursprache betont seine göttlichen und transhistorischen Aspekte, während der Hinweis auf die Heiligkeit der Sprache zu historischen Aspekten hinführt – zur Geschichte jüdischer Sprachpraxis. Ob Abrahams Zweisprachigkeit sich auch nach seinem Auszug aus Ur Kasdim und seiner Wanderung nach Kanaan erhielt, wird nicht erwähnt. Deutlich wird aber, dass die hebräische Sprache durch die Zweisprachigkeit ihrer Sprecher keinen Schaden nahm. Ihr Reichtum und ihre Vollkommenheit blieben erhalten. Am Ende des oben zitierten Absatzes schreibt Jehuda ha-Levi:15 Und ihre Herrscher, Moses, Josua, David, Salomo – ist es denkbar, dass es ihnen an Ausdrücken fehlte, wenn sie deren beim Reden bedurften, wie es uns heute fehlt, weil uns die Sprache verloren ging? Betrachte einmal, wie bei der Erzählung der Tora von der Wohnung, dem Efod, dem Brustschild usw., wenn ein seltenes Wort gebraucht wird, sie es immer entsprechend zu finden wußten, und wie schön jene Erzählung geordnet ist.
14 Hier spricht Jehuda ha-Levi zum ersten Mal im Kuzari von der hebräischen Sprache als der »heiligen Sprache«. Er wird diesen Ausdruck im Kuzari nur noch ein weiteres Mal aufgreifen (IV, 25, ed. Cassel, 342; s.u., 119) und im Übrigen von »unserer Sprache« oder der »hebräischen Sprache« sprechen. 15
unl rsxt rwak rbdl hila Õikirc uihw tyb hcilm Õhl rsxiw ñktih hmlwu dudu ywuhiu hwm Õhiklmu Óaih tuirkn tumw la ukrcuhwk Õtluzu ñwxhu dupahu ñkwmh hruth rups tiarh unmm ñuwlh dbaw rubyb Õuih :[. . . ] auhh rupsh rbd han hmku Õmut dy Õtua uacm – Jehuda ha-Levi: Kuzari, II, 68, ed. Cassel,
169.
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Babel: Verwirrung und Zerstreuung
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Das Hebräische erhält sich in seiner Makellosigkeit bis zu den Tagen der Gesetzgebung am Sinai, der Landnahme und des Tempelbaus. Obgleich eine zweite, profane Sprache neben die heilige Sprache tritt, bedeutet dies keineswegs eine Begrenzung ihres Territoriums und ihrer Möglichkeiten. Die Beispiele, die Jehuda ha-Levi für den Reichtum der hebräischen Sprache, wie er in der Bibel dokumentiert ist, anführt, sind vielseitig. Er erwähnt die Lieder Davids und die Reden Jesajas ebenso wie Völkernamen und Vogelarten.16 Jehuda ha-Levi lässt Abrahams Zweisprachigkeit als Urbild der Zweisprachigkeit erscheinen, in der er selbst lebt und schreibt. Ismael war es, der die profane Sprache Abrahams nach Arabien brachte, wo sie abgewandelt wurde und aus dem Aramäischen das Arabische hervorging. Indem Jehuda ha-Levi die Zweisprachigkeit der Juden Spaniens als Fortsetzung der Zweisprachigkeit Abrahams beschreibt, deutet er sie nicht als Ausdruck zerstörter Ordnung, im Gegenteil. Die Verwirrung der Sprachen wird im Hinblick auf das Hebräische zum Ausgangspunkt einer neuen Ordnung derselben, denn sie erlaubt es, eine alte Differenzierung in das Gebiet der Sprachen neu einzuführen: die Unterscheidung zwischen Heilig und Profan, die zu jener Reihe von Unterscheidungen gehört, auf denen – nach den Rabbinen – die Schöpfungsordnung beruht.17 Maimonides kehrt einige Zeit später nach Babel zurück und bietet eine ganz andere Erzählung über die Entstehung jüdischer Mehrsprachigkeit. Diese wird nicht mit Abraham, sondern mit Esra in Verbindung gebracht. Mehrsprachigkeit entsteht, weil die babylonische Sprachverwirrung nach dem babylonischen Exil auch die hebräische Sprache erreicht und in sie eindringt:18 Als Israel zur Zeit Nebukadnezars, des Frevlers, ins Exil getrieben wurde, vermischte es sich mit Persien, Griechenland und den übrigen Nationen, und es wurden ihnen in den Ländern der Völker Söhne geboren, deren Sprache verwirrt war. Die Sprache eines jeden war ein Gemenge aus vielen Sprachen. Wer sprach, konnte seine Bedürfnisse nicht in einer einzigen Sprache ausdrücken, sondern nur in einem Gemisch, wie es heißt: »ihre
16 17
Ebd. Vgl. unten, 48.
18 Õiugh tucrab Õinb Õhl udlunu tumuah rawu ñuiu srpb ubrytn ywrh rcndkubn imib larwi ulgw ñuik rbdl luki unia rbdm hihw ñuiku hbrh tunuwlm tbruym dxau dxa lk tpw htihu Õtpw ulblbtn Õinbh ñtuau Õy ñuwlku tiduhi rbdl Õirikm Õniau 'ugu tidudwa rbdm icx Õhinbu rmanw wubiwb ala txa ñuwlb ukruc lk Óa wdqh ñuwlb auh Óurb wudqh xbw dighl ua uicpx luawl unuwl rcqt llptm ñhm dxa hihwk hz inpmu Õyu ,[. . . ] rdsh ly tukrb hrwy hnmw Õhl unqtu udmy Ók unid tibu arzy harw ñuiku ,turxa tunuwl hmy ubryiw :[. . . ] hxch ñuwlh ilyb tliptk hmilw hlpt Õiglyh ula tlpt hihtu ñtua udmliu lkh ipb tukury uihiw idk –
Maimonides: Mischne tora, Hilkhot tefilla 1,4.
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Heilige Sprache Kinder redeten zum Teil aschdodisch« usf., »aber sie verstanden nicht, jüdisch zu reden«, sondern redeten »in der Sprache eines und des anderen Volkes« [nach Neh 13,24]. Darum reichte, wenn einer von ihnen betete, seine Sprache nicht hin, um, was er sich wünschte, zu erbitten, oder um das Lob des Ewigen, gepriesen sei Er, in der heiligen Sprache zu sprechen, vielmehr mischten sie andere Sprachen hinein; als aber Esra und sein Gerichtshof dies sahen, erhoben sie sich und fügten ihnen achtzehn Segenssprüche der Reihe nach zusammen [...], damit ein jeder sie im Munde führe und lerne, und damit das Gebet der Stammler ebenso vollkommen sei wie das Gebet derer, die der reinen Sprache mächtig sind.
Die biblischen Verse, auf die Maimonides sich stützt – Nehemia 13,23– 24 – wurden zur meistzitierten biblischen Quelle in den Sprachreflexionen des 18. Jahrhunderts. Sie lauten: »Auch sah ich in selbigen Tagen Jehudim, die heimgeführt hatten Weiber von Aschdod, Ammon, Moab, [d]eren Söhne zum Teil aschdodisch redeten, oder in der Sprache eines und des anderen Volkes, aber sie verstanden nicht jehudisch zu reden.«19 Maimonides beschreibt die Vielsprachigkeit der Juden mit dem Nehemia-Vers als Sprachverlust, als Sprachverwirrung und Sprachvermischung. Der Verlust der politischen Souveränität wird als Verlust eigener Regeln der Unterscheidung und Grenzziehung im Hinblick auf die Körper und die Sprache, der durch sie vermittelten Verwandtschaftsbeziehungen und Zugehörigkeiten, geschildert. Die hebräische Sprache verschwindet, und an ihre Stelle treten Mischsprachen. Hier bedeutet Vielsprachigkeit nicht mehr, sondern weniger Sprache, sie ist nichts als ein Stammeln. Maimonides dienen die biblischen Verse als Ausgangspunkt für seine Interpretation des Hebräischen als heiliger Sprache. Für das Hebräische finden sich bei ihm zwei Wörter: jehudit, die »jüdische« Sprache des Nehemia-Verses, und leschon ha-qodesch, die »heilige Sprache«. Durch den Nehemia-Vers ist das »Jüdische« mit der gesprochenen Sprache verknüpft, mit der Alltagssprache. Die »heilige Sprache« aber ist die Sprache, der sich Esra zuwendet, um sie zu verschriftlichen, die Sprache des Kultus. Die Restitution des Hebräischen, um die sich Esra bemüht, indem er die Amida institutionalisiert, gilt der heiligen, nicht der »jüdischen« Sprache. Die mündliche hebräische Sprache verschwindet. Das Hebräische übersteht die Wirren des Exils und der post-exilischen Zeit nur durch seine Bindung an den Kultus und durch seine Verschriftlichung, die Tradierbarkeit verspricht.20 19 Hier wie im Folgenden orientiert sich die deutsche Übersetzung an der ZunzBibel: Tora Nevi im Ketuvim. Die vierundzwanzig Bücher der Heiligen Schrift, unter der Redaktion von Leopold Zunz übersetzt von Heymann Arnheim, Julius Fürst und Michael Sachs, Berlin 1838. 20 Dubno und Mendelssohn werden diese Erzählung in ihren Einleitungen zum Pentateuch aufgreifen, s.u., 255.
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Babel: Verwirrung und Zerstreuung
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Zwischen Jehuda ha-Levis und Maimonides’ Text liegen gewaltige Distanzen: vom Babel des Turmbaus zum Babel des Exils, von Abraham zu Esra, von einer Zweisprachigkeit, die mit der Urgeschichte des jüdischen Volkes zugleich beginnt, zu einer Vielsprachigkeit, die das Ende seiner Geschichte als Geschichte einer selbständigen Nation anzeigt. Während Jehuda ha-Levis Überlieferungsgeschichte zu Abraham führt, der zweier Sprachen mächtig ist, des Hebräischen und Aramäischen, stehen bei Maimonides am Ende zweierlei Sprecher: die einen, die die deutliche, unvermischte Sprache des Ursprungs beherrschen und ihre Überlieferung wieder aufnehmen, und die anderen, die Sprachunkundigen, die Stammler. Doch Jehuda ha-Levi und Maimonides liefern nicht nur zwei verschiedene Erzählungen über die Sprachen der Juden. In ihren Texten spiegeln sich auch zwei verschiedene Deutungen des Zusammenhangs zwischen diesen Sprachen und der Erfahrung des Exils. Die Überlieferungsgeschichte, die Jehuda ha-Levi skizziert, gehört zur Antwort des jüdischen Gelehrten auf die Verwunderung, mit der der Khazarenkönig die Behauptung aufnimmt, dass die hebräische die vorzüglichste unter allen Sprachen sei: hnmm hbxru hmlw rtui aih bryh ñuwl ly hlym tirbyl wih uniniyb hz ta Õiaur unxnau – »Steht denn die hebräische Sprache über der arabischen? Diese ist ja viel vollständiger und reicher als jene, wie wir doch mit eigenen Augen sehen.«21 Der jüdische Gelehrte streift daraufhin sehr flüchtig den Niedergang der Sprache, der allerdings mit keinem Wort ausdrücklich auf den Zustand des Exils bezogen wird – das Wort galut bleibt unausgesprochen: hrcu Õtuldb hldldtn hiawun acmw hm htua acm Õjuyimb – »Es ging der Sprache wie ihren Trägern. Sie verarmte, als diese verarmten und wurde beschränkt, als diese weniger wurden.«22 Und weiter unten heißt es: unmm ñuwlh dba – »die Sprache ging uns verloren«.23 Mit diesen knappen Bemerkungen sind die Schwierigkeiten mit der hebräischen Sprache in jüngerer Zeit abgetan. Was folgt, ist die Erinnerung daran, dass die hebräische Sprache schon in frühester Zeit neben einer anderen Sprache, der aramäischen, kultiviert wurde. Jüdische Zweisprachigkeit wird mit den allerersten Anfängen der Geschichte des jüdischen Volkes verknüpft, mit der Zeit vor der Entstehung jüdischer Souveränität, vor ihrem Zerfall und vor dem Exil. Am Anfang steht nicht die Vision eines einheitlichen und unbeweglichen Grundes, auf den die Geschichte des Volkes gebaut ist, sondern die Einsicht in die Heterogenität, die Zerteilung und Unruhe, aus der sie hervorging. Der
21 22 23
Jehuda ha-Levi: Kuzari, II, 67, ed. Cassel, 166. Ebd., 166 f. Ebd., 169.
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Heilige Sprache
Beginn dieser Geschichte liegt in einer Bewegung der Deterritorialisierung – kein Exil, keine Zerstreuung, aber eine Auswanderung.24 Das Wissen, dass jüdisches Leben sich seit langem in zwei Sprachen abspielt – in der heiligen und profanen, hebräischen und aramäischen, später auch hebräischen und arabischen Sprache – wird der Überlieferung von den Anfängen jüdischer Geschichte eingeschrieben. Umgekehrt erhält so die Erinnerung an Abraham Eingang in das Bild der sefardischen Gegenwart. Die Verknüpfung gegenwärtiger Zweisprachigkeit mit der Zweisprachigkeit Abrahams ermöglicht es, im Hinblick auf die Sprachen die Öffnung hin zur Kultur der nichtjüdischen Umgebung und die Aufnahme neuer kultureller Elemente selbstbewusst und positiv zu interpretieren. Die Adoption nichtjüdischer Sprachen wird in jüdische Bedeutungszusammenhänge eingefügt: Aramäisch und Arabisch werden zu Familienangehörigen der hebräischen Sprache erklärt und mit dem jüdischen Konzept der Unterscheidung zwischen Heilig und Profan verknüpft. Ganz anders Maimonides: er kennt jüdische Mehrsprachkeit nur als Ausdruck des Verlusts, des Mangels und der Gefahren des Exils. In seiner Darstellung erscheint als tiefere Bedeutung der Mehrsprachigkeit die Sprachlosigkeit. Seine kritische Darstellung sprachlicher Vermischung verweist auf die politische und kulturelle Schwäche, die Machtlosigkeit des Exils. Die Unterwerfung unter fremde Herrschaft führt dazu, dass die hebräische Sprache entgleitet, fragmentiert wird, sich auflöst – eine Beute der dominierenden Kultur, die in die hebräische Sprache eindringt und sie vergessen macht. Sprachlosigkeit droht aber nicht nur dem Einzelnen, sondern auch dem Kollektiv, das mit der Sprache die Möglichkeit verliert, sich auf unverwechselbare Weise religiös zu artikulieren und sich der Verbundenheit mit der Vergangenheit zu vergewissern. Jehuda ha-Levis Erzählung lässt die Zweisprachigkeit der Juden als Ausdruck kultureller Stärke erscheinen, als eine Unterscheidungskunst, die so alt ist wie die älteste jüdische Geschichte. Maimonides hingegen verknüpft Mehrsprachigkeit mit dem Niedergang des Hebräischen während des Exils, mit der Unfähigkeit, im Hinblick auf die Körper und die
24 Daniel und Jonathan Boyarin beziehen sich in ihrem programmatischen Aufsatz über »Diaspora: Generation and the Ground of Jewish Identity« auf Abraham nur am Rande, indem sie W. D. Davies’ The Territorial Dimension of Judaism (Minneapolis 1992) zitieren: »The father of Jewry was deterritorialized«. Gleich im Anschluss nennen sie Abraham in einem Atemzug mit Josua und David (Boyarin / Boyarin: Diaspora, 718). Doch Jehuda ha-Levis Hinweis auf Abrahams Sprachen zeigt, dass die biblische Erzählung von Abraham jüdisches Selbstbewusstsein in der Diaspora jenseits und unabhängig von Landnahme-Erzählungen begründen konnte.
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Babel: Verwirrung und Zerstreuung
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Sprache eigenen Regeln der Differenzierung zu folgen, so dass Mehrsprachigkeit bei ihm gerade lesbar wird als Verlust der Fähigkeit, sich zu unterscheiden. Ein frühes Echo findet Maimonides’ Interpretation jüdischer Mehrsprachigkeit bei David Kimchi (1160–1235), der in seiner Einleitung zum grammatischen ersten Teil des Mikhlol über die Sprache im Exil schreibt:25 Als unsere Väter vertrieben wurden in ein Land, das nicht das ihre ist, unter jene Völker, haben sie deren Sprachen erlernt und die heilige Sprache vergessen; und es kam dahin, dass ihre Kinder und Kindeskinder sich daran gewöhnten, mit fremder Zunge und in fremder Sprache zu sprechen, jeder in der Sprache seines Landes, entsprechend den Orten des Exils, in Kedar und Edom, unter jeder Nation; und nichts blieb uns außer dem, was bei uns geschrieben steht, die 24 Bücher und die wenigen Worte in der Mischna; daher müssen wir mit dem, was uns von der Sprache blieb, vorsichtig sein und sie nach ihrer Satzung gebrauchen, sie nicht verderben oder in ihr Worte benutzen, die nicht richtig sind.
Die Sprachen der Juden in der islamischen und christlichen Welt werden nachdrücklich als Sprachen der Fremde und der Selbstvergessenheit in der Fremde bezeichnet, als Sprachen, die das Hebräische verdrängt haben, feindliche Sprachen. Kimchi bezeichnet als Aufgabe seiner Grammatik, das Wissen, das von der hebräischen Sprache blieb, zu bewahren und zu gewährleisten, dass das Hebräische nach seinen Regeln und in seiner Differenz zu den anderen Sprachen überliefert wird. Jehuda ha-Levis und Maimonides’ Reflexionen über die Geschichte der hebräischen Sprache boten den Maskilim einerseits eine Begründung für ihre Hinwendung zur hebräischen Sprache und für ihre Insistenz auf der Notwendigkeit, sie neu zu entfalten. Andererseits lieferten sie auf je eigene Weise Anknüpfungspunkte für Denkfiguren, die der Erneuerung des Hebräischen als gewaltiges Hindernis entgegenstanden: Die Sprache erscheint gebunden an ein Gesetz des Ursprungs, an die Urkunden der Differenz – Tora und Gebete – und an die Regeln reiner Unterscheidung. Zwischen den mittelalterlichen Texten und der Gegenwart der Maskilim lag die Geschichte der Sprachreflexion und der Sprachpraxis im Aschkenas der Frühen Neuzeit. Diese bildete innerjüdisch den Kontext, aus dem heraus die Fragen, Bedürfnisse, Interessen und Strategien entstanden, mit denen die Maskilim sich den mittelalterlichen Texten 25 inbu Õhinb uligrh dy wduqh ñuwl uxkwiu Õnuwl udmliu ,Õhh Õiugh ñib ,Õhl al Ñrab unituba ulg Õuimu Õual lku ,Õudau rdqb ,Õtulg tumuqm ipl ,Õtucrab unuwll wia hrz hpwu hirkn ñuwl rbdl Õuih dy Õhinb ñk lyu ,hnwmh irbdb Õijuym Õilmu Õirps hybrau Õirwy ,unilca butk rawnw hm qr ,unidib acmn al ,Õualu :ñk al rwa Õirbd ub rbdlu utixwhl alwu ujpwmk ugihnhl ñuwlh ñm unidib wiw hm ly rhzhl una Õikirc –
Kimchi: Sefer Mikhlol, ed. Hechim, Haqdama, fol. 1a.
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Heilige Sprache
und der Arbeit an einer Erneuerung der hebräischen Sprache zuwandten, den Kontext, von dem sie sich aber zugleich auch distanzierten. In diesem frühneuzeitlichen Kontext ergaben sich die Bedeutungen des Hebräischen als heiliger Sprache aus seinem Verhältnis zur jiddischen als profaner Sprache. So soll hier zunächst skizziert werden, wie die Opposition von Heilig und Profan auf die jüdischen Sprachen bezogen wurde, welche Bedeutungen sie in der Entfaltung interner jüdischer Zweisprachigkeit in Aschkenas annahm, und wie sich diese Bedeutungen angesichts der Schwierigkeiten mit der alten zweisprachigen Ordnung um 1700 zu verändern begannen.
2. Havdala: Ordnung und Unterscheidung Jehuda ha-Levi kann die Unterscheidung zwischen heiliger und profaner Sprache bis zu Abraham und den Anfängen der Geschichte des jüdischen Volkes zurückdatieren, weil die Unterscheidung zwischen Heilig und Profan nach liturgischer und talmudischer Überlieferung zu einer Reihe von Grenzziehungen gehört, die vor jeder Geschichte liegen und Teil des göttlichen Schöpfungswerks sind. Am Ursprung der Differenz zwischen Heilig und Profan steht Gott, doch nicht, indem er zerteilt und verwirrt, sondern indem er unterscheidet und ordnet. In der Liturgie ist der Unterscheidung zwischen Heilig und Profan eine der vornehmsten Stellen gewidmet: die Havdala-Zeremonie am Schabbat-Ausgang. Nach den Segenssprüchen über Wein, Kräuter und Kerze wird der vierte, der Havdala-Segen gesprochen:26 Ólm unihla 'h hta Óurb imi twwl iyibwh Õui ñib ,Õimyl larwi ñib ,Ówuxl rua ñib ,luxl wduq ñib lidbmh ,Õluyh .luxl wduq ñib lidbmh ,'h hta Óurb .hwymh – Die Unterscheidung zwischen
Heilig und Profan wird der Unterscheidung zwischen Licht und Finsternis, mit der das Schöpfungswerk beginnt, und der Unterscheidung zwi26 S. Bamberger übersetzt im Sidur Sefat Emet: »Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der du unterschieden zwischen Heiligem und Unheiligem, zwischen Licht und Finsternis, zwischen Israel und den Völkern, zwischem dem siebten Tag und den sechs Tagen der Arbeit. Gelobt seist du, Ewiger, der unterschieden zwischen Heiligem und Unheiligem.« (198) David Friedländers Übersetzung in hebräischen Lettern lautet transkribiert: »Gelobt seist du, Ewiger! unser Gott! Herr der Welt! der du unterscheidest zwischen Heiligem und nicht Heiligem [ .. .]« (Gebete der Juden auf das ganze Jahr, Anhang, fol. 46b–47a). Bei Isaak Euchel heißt es: »[Du] bestimmest den Unterschied [ .. .] zwischen dem Heiligen und Unheiligen [ .. .]« (Gebete der hochdeutschen und polnischen Juden, 72, ebenso in der verbesserten zweiten Auflage, 60. Euchel bringt die Unterscheidungsformeln nur als Teil des Segens Honen da at.) ˙
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Havdala: Ordnung und Unterscheidung
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schen dem Sabbat und den sechs Werktagen, die das Schöpfungswerk beschließt, noch vorangestellt. Ihr Zusammenhang mit der Schöpfungsordnung wird in einer längeren Version des Havdala-Segens, die im babylonischen Talmud überliefert ist, explizit formuliert (bPes 104a):27 R. Jehosˇua b. Levi sagte: Die Unterscheidungsformeln, die man spricht, müssen solche sein, wie sie auch in der Tora vorkommen. Man wandte ein: Wie ist die Reihenfolge der Unterscheidungsformeln? Man spreche: Der zwischen Heilig und Profan, zwischen Licht und Finsternis, zwischen Jisrael und den weltlichen Völkern, zwischen dem siebenten Tage und den sechs Werktagen, zwischen Unrein und Rein, zwischen Meer und Festland, zwischen den oberen Gewässern und den unteren Gewässern und zwischen den Priestern und den Leviten und den Israeliten schied. Man schließe: der das Schöpfungswerk ordnete. Manche sagen: der das Schöpfungswerk bildete.
Die Unterscheidungen, die hier aufgezählt werden, beruhen allesamt auf biblischen Grundlagen, so auch die Unterscheidung zwischen Heilig und Profan, die in Leviticus 10,9–10 allerdings nicht als göttliches Werk, sondern als Aufgabe der Priester beschrieben wird: »Wein und Berauschendes sollst du nicht trinken, du und deine Söhne mit dir, wenn ihr hineingehet in das Stiftszelt, auf dass ihr nicht sterbet; eine ewige Satzung bei euern Geschlechtern. Und auf dass ihr unterscheiden könnet zwischen Heiligem und Unheiligem und zwischen Unreinem und Reinem.« Im aschkenasischen 18. Jahrhundert konzentrieren sich die Kommentare zur Havdala auf die praktischen Details der Zeremonie und auf die drei ersten Segenssprüche. Zugleich wird hervorgehoben, dass der Akt der Unterscheidung von einzigartiger Bedeutung ist. So heißt es in dem zuerst 1722 erschienenen, häufig nachgedruckten Hanhagot-Buch Qehillat Schlomo, das Schlomo Salman London, ein Schüler des Frankfurter Rabbiners Samuel Schotten, aus verschiedenen moralischen und pädagogischen Werken kompilierte, in den einleitenden Worten: ñm hucmu rwpa Õa ñiih ly lidbiw rxbumh – »Es ist eines der vornehmsten Gebote, dass man über dem Wein den Unterscheidungssegen sprechen soll, wenn möglich [. . .]«.28 Zur Begründung wird auf zwei rabbinische Dikta verwiesen, die die außerordentliche Bedeutung der Havdala-Zeremonie im Ganzen hervorheben (bPes 113a): »R. Johanan sagte: Drei gehören zu den Erben der zukünftigen Welt, und zwar: wer im Jisrae´lland wohnt,
27
Hier wie im Folgenden wird der babylonische Talmud deutsch zitiert nach: Talmud Bavli – Der babylonische Talmud, neu übertragen durch Lazarus Goldschmidt, Berlin 1929–1936. 28 London: Qehillat Schlomo, fol. 61a.
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Heilige Sprache
wer seine Kinder zum Studium der Tora erzieht und wer an den Sabbathausgängen den Unterscheidungssegen über Wein spricht.« Während in diesem Diktum die Havdala-Zeremonie mit der kommenden Welt in Verbindung gebracht wird, wendet sich das zweite Diktum, das in den Pirqe de-Rabbi Eliezer überliefert ist, ihrer grundlegenden Bedeutung für diese Welt zu:29 R. Zadok sagt: Wer am Ausgang des Schabbats den Unterscheidungssegen über dem Wein nicht spricht oder nicht hört, wie man ihn spricht, wird niemals ein Zeichen des Segens sehen. Den aber, der hört, wie man den Unterscheidungssegen spricht oder der ihn über dem Wein spricht, wird der Heilige, gelobt sei er, zum Eigentum erwerben, denn es heißt: und ich habe euch geschieden von den Völkern [Lev 20,26], so sollt ihr mir sein ein Eigentum [Ex 19,5].
Der Havdala-Segen aktualisiert die Unterscheidung, der er gewidmet ist, indem er selbst unterscheidend wirkt: Wer an diesem Segen keinen Anteil nimmt, kann überhaupt keines Segens teilhaftig werden. Wer aber das Lob dessen, der unterscheidet, spricht, wird selbst zu denen gehören, die unterschieden sind. Eine Variante zum Schluss des zitierten Ausspruchs identifiziert das Unterschiedene mit dem Heiligen, indem sie nicht den zweiten, sondern den ersten Teil von Leviticus 20,26 anführt: »Und ihr sollt mir heilig sein, denn heilig bin ich, der Ewige.«30 Die Havdala interpretiert das Schöpfungswerk als Ordnung, die auf deutlichen Unterscheidungen beruht und Zwischenräume ausschließt, und sie interpretiert umgekehrt eine solche Ordnung als Ausdruck schöpferischer Kraft schlechthin. Wie sehr die Havdala Ausdruck und Bekräftigung der Schöpfungsordnung als Negation der Konfusion ist, zeigt eine Erzählung, die dem Diktum des R. Zadoq voransteht und zu einer Reihe von Aggadot gehört, die dem Adam rischon am ersten Schabbat der Schöpfung gewidmet sind:31 In der Dämmerung des Schabbat saß Adam, dachte nach in seinem Herzen und sagte: Weh mir, vielleicht kommt die Schlange, die mich in die Irre geführt hat, am Schabbatabend und beißt mich in die Ferse. Eine Feuersäule
29 ñmis haur unia ,Õilidbmh ñm ymuw unia ua ,tutbw iacumb ñiih ly lidbm uniaw im lk ,rmua qudc ibr ,rmanw ,utlugsl utua hnuq auh-Óurb-wudqh ,ñiih ly lidbm ua Õilidbmh ñm ymuw auhw im lku .Õluyl hkrb .hlugs il Õtiihu Õimyh-ñm Õkta lidbau – Pirqe Rabbi Eli ezer, Kap. 20, 67; vgl. auch Pirke
de-Rabbi Elieser, ed. Börner-Klein, 216. 30 Pirqe de-Rabbi Eli ezer, ed. Friedlander, 147.
31 tbw bryb itua hyjhw wxnh aubi amw il iua ,rmuau ublb rhrhmu bwui Õda hih tbw lw tuwmwh ñib wah rual uidi jwpu .[. . . ] wa lw dumyl Õda har .yr lkm urmwlu ul riahl wa lw dumy ul xltwn .bqy inpuwiu rybl ñiaw ,luxh Õuim wduqh Õui ldbnw ydui ina uiwky ,Õda rma ,wahm uidi qixrhwku .wah iruam arub Órbu .luxl wduq ñib lidbmh Óurb ,rma .tbwb wa – Pirqe Rabbi Eli ezer, Kap. 20, 66; vgl. Pirke
de-Rabbi Elieser, ed. Börner-Klein, 212 f.
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Havdala: Ordnung und Unterscheidung
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wurde ihm geschickt, um ihm zu leuchten und ihn vor allem Übel zu bewahren. Adam erblickte die Feuersäule [...], und er streckte seine Hände aus zur Feuersäule und sprach den Segen: Gelobt sei der, der erschaffen die Lichter des Feuers. Und als er seine Hände vom Feuer wegnahm, sagte Adam: Jetzt weiß ich, dass der heilige Tag vom profanen Tag unterschieden ist, denn am Schabbat soll man kein Feuer anzünden. Er sprach: Gelobt sei der, der zwischen Heiligem und Profanem unterschied.
Den Zeiten, in denen klare Unterscheidungen herrschen, steht hier ein Zwischenraum oder eher eine Zwischenzeit entgegen, in der nichts unterscheidbar ist: die Dämmerung, das Zwielicht. Ben ha-schemaschot, »zwischen den Sonnen«, d. h. zwischen dem Licht der Sonne und dem der Sterne, herrschen Unklarheit und Zweifel. Dieser Zwischenraum ohne klare Begrenzungen32 ist gefährlich, ein Ort, an dem die Täuschung lauert, verkörpert durch die Schlange. Die Zeit der Ununterscheidbarkeit wird durch die Unterscheidung zwischen Licht und Finsternis, die auf die Unterscheidung zwischen Heilig und Profan zurückweist, beendet. Die Differenz zwischen Heilig und Profan wird in ihrer grundlegenden Bedeutung bekräftigt: sie schließt »Zwischenzeiten« der Konfusion aus. Die Konfusion, die fern gehalten werden muss, spiegelt die Unordnung, die durch die Unterscheidungen, auf denen die Schöpfungsordnung beruht, aufgehoben wurde. Die Gefahr der Konfusion wird gebannt durch die Unterscheidungsformeln, in denen die Unterscheidungen des Schöpfungsaktes nachvollzogen werden. Die Spiegelung des göttlichen Aktes in der Zeremonie und der performative Charakter der Formeln werden offensichtlich, wenn für den, der den Unterscheidungssegen spricht, und den, der unterschieden hat, dasselbe Wort gebraucht wird: ha-mavdil. Während Qehillat Schlomo im hebräischen Teil immerhin auf die rabbinischen Kommentare zum Havdala-Segen verweist, heißt es im parallel gedruckten jiddischen Text nur schlicht und knapp: ijwyrg aid zia wy .zia ñdnah rap Æ ñiiuu uauu ñkam hldbh ñiiuu rbia laz ñm wad hucm – »Es ist das größte Gebot, über Wein den Unterscheidungssegen zu sprechen, wo Wein vorhanden ist [ .. .].« Die hebräische wie jiddische Version lassen keinen 32
Klar ist nicht einmal, wie die Zeit der sich auflösenden Unterschiede ihrerseits unterschieden werden kann von Tag und Nacht (bSab 34b): »Die Rabbanen lehrten: Bezüglich der Dämmerung besteht ein Zweifel, ob sie zum Tage und zur Nacht, ob sie ganz zum Tage, oder ob sie ganz zur Nacht gehört; daher wird ihr die erschwerende Seite beider Tage auferlegt. – Welche [Zeit] heißt Dämmerung? – Wenn die Sonne untergeht, solange die Ostseite [des Himmels] rot ist. Ist es unten dunkel und oben nicht, so ist dies Dämmerung; ist es auch oben wie unten dunkel, so ist dies Nacht – so R. Jehuda.« Mit der Feststellung des R. Jehuda setzt eine ausgedehnte Diskussion über die Definition der Dämmerung ein (bSab 34b–35b).
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Zweifel an der besonderen Bedeutung der Unterscheidung zwischen Heilig und Profan. Doch sie wird nicht vor allem theoretisch oder exegetisch, sondern in der Praxis, der liturgischen Handlung, entfaltet und bekräftigt. Allerdings wird zu Beginn des 18. Jahrhunderts an sehr sichtbarer Stelle ein mittelalterlicher Text wieder gedruckt, der die Bedeutung der Havdala in ungewöhnlicher Ausführlichkeit reflektiert. Josef Gikatilla (1248 –ca. 1325) widmete dem Unterscheidungssegen in seinem mystischen Werk Ginnat egoz einige Seiten, die wieder abgedruckt wurden im Siddur Scha ar ha-schamajim des Jesaja Horowitz (ca. 1565–1630). Der Verfasser des berühmten und populären ethischen Werks Schne luhot ha-brit hatte dieses Gebetbuch selbst zum Druck vorbereitet, ˙ erst im Jahr 1717 wurde es in Amsterdam veröffentlicht. doch Gikatilla spricht zunächst davon, dass die Unterscheidungen des Havdala-Segens das Gleichartige gliedern, nicht aber die Differenz zwischen dem Verschiedenartigen und ohnehin Getrennten hypostasieren:33 Wisse, dass alles, von dem gesagt wird, es sei ein Unterschied, nur dann so genannt werden kann, wenn jene Sache im Ganzen von einerlei Art ist; die Unterscheidung ist nicht eine des Ortes, sondern des Grades und der Auszeichnung, was Größe und Ehre betrifft. So wisse, dass Heilig und Profan, die den Anfang der Havdala bilden, einerlei Art sind, und sie sind es, die alle anderen [Unterscheidungen], die nach ihnen kommen, enthalten [ ...]. Das, was seiner Art und Natur nach unterschieden ist, muss man nicht unterscheiden, doch zwischen zwei Dingen, die zur selben Kategorie gehören, muss ein Unterschied gemacht werden; da die profanen Tage und der Schabbat zu einer Kategorie gehören, dies alles Tage sind usf., ist ein Unterschied nötig, und so auch bei allen anderen [Unterscheidungen].
Die Unterscheidungen des Havdala-Segens lassen nicht etwa Heterogenität hervortreten, sondern führen Valenzen, Unterscheidungen des Wertes oder Ranges, ein, wo Homogenität herrscht. Die homogene Zeit wird gegliedert, indem ein Tag der Woche von den anderen unterschieden und über sie erhoben wird. Auf dieselbe Weise ist Israel von den Völkern unterschieden, weil es die Tora angenommen hat, und das Feuer des Lichts getrennt vom unangefachten Feuer der Finsternis.34
33 ldbh unia utldbhu ,arqn dxa ñimm uluk ñinyh utua tuihb itluz unia ,ldbh ub rmanh rbd lk ik ,Ól ydt ñh ulau ,Õh dxa ñim ,hldbhh tiwar ñhw luxu wduq ik Ól ydt Õnma .dbknu ludg iuliyu hlym ldbh ala ,Õuqm hnqb Õinywnh Õirbd inw Õnma ,lidbhl Óirc unia ,ybjbu ñimb ldbumh rbdh [. . . ] .Õhirxa Õiabh raw Õillukh ñku ldbh Óirc ulab acuiku ,Õimi Õluku dxa hnqb Õiluy tbwh Õuiu luxh imi tuihb ,Õhinib Óruc ldbhh dxa .rawb – Gikatilla: Ginnat egoz, 181. Vgl. Horowitz: Scha ar ha-schamajim, fol. 225a. 34 Gikatilla bezieht sich auf Hiob 20,26 und schreibt: xpun al wa ,Ówxh uhm – »was ist die
Finsternis – ein Feuer, das nicht angefacht wird«, ebd.
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Havdala: Ordnung und Unterscheidung
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Aber liegt dieselbe Art der Unterscheidung auch der Differenz von Heilig und Profan zugrunde? Einerseits betont Gikatilla, dass Heilig und Profan »von einerlei Art« seien, andererseits hebt er dieses Begriffspaar heraus und beschreibt es etwas anders als die übrigen Differenzen – die Differenz zwischen Heilig und Profan enthält alle anderen Differenzen:35 Die erste Unterscheidung, nämlich »der unterscheidet zwischen Heilig und Profan«, enthält die gesamte Wirklichkeit, einerseits die Dinge des Intellekts, die heilig genannt werden, andererseits die materiellen Dinge, die profan genannt werden; in diese beiden Räume ist die ganze Welt unterteilt durch alle möglichen Arten der Unterscheidung zwischen Heilig und Profan.
Die gesamte Wirklichkeit ist der Differenz von Heilig und Profan unterworfen, die sich in keiner anderen, umfassenderen Einheit auflösen lässt, sondern irreduzibel erscheint. Hier tritt die Absolutheit hervor, die Gikatillas Text aus den Vorstellungen, die sich an die Differenz zwischen Heilig und Profan knüpfen, zunächst mit Nachdruck zu verbannen suchte. Der Text begann mit der Aufforderung, die Unterscheidungen des Havdala-Segens ohne Rückgriff auf Dichotomien zu denken, doch am Ende zeigt der Text doch Spuren absoluter Heterogenität. Es ist bezeichnend, dass der Text gerade an dieser Stelle in einer raschen und unvorbereiteten Wendung zu Aristoteles die Unterscheidung zwischen Heilig und Profan mit Geist und Materie verbindet. Ein Denken, das sich dem Dasein in dualistischen Begriffen nähert, lässt sich in die Sprache der jüdischen Liturgie übersetzen, wo diese zwei Begriffe anbietet, die ebenfalls auf unbedingt Heterogenes hinweisen, das Heilige und das Profane. Dem Versuch, das Auftreten einer dichotomischen Figur zu vermeiden, entspricht im Text der andere Versuch, sie, wenn sie doch erscheint, wieder einzuschränken. Sie wird gewissermaßen gebändigt, indem ihre Wirkungen strikt an das gebunden werden, was von einerlei Art ist, und ihr Ursprung an den, der allmächtig ist:36 iwia lkb dxa ñia ik yiduhl hz lku .dxab auhu hntwm uniaw ñumdqh dxah itluz Õluyh – »[ .. .] dies alles aber, um kund zu tun, dass es niemanden auf der Welt gibt, der einer ist, außer dem Einen, dem Ersten, der sich nicht ändert und in Einem ist.« Die Differenz zwischen Heilig und Profan bedeutet wohl, dass sich die Welt an vielerlei Orten in zwei Bezirke teilt, doch wird dadurch
35
'iarqnu Õiilkwh Õirbdh ñib tuaicmh lk ta llukh uhz luxl wduq ñib lidbmh aihw 'nuwarh 'ldbhhu luxl wduq ñib tuldbh inim lkl qlxn uluk Õluyh lk Õikrdh inw ulalu lux Õiarqnu Õiirmxh Õirbdh ñibu wduq
– Horowitz: Scha ar ha-schamajim, fol. 226a; vgl. Gikatilla: Ginnat egoz, 183 f. 36 Horowitz: Scha ar ha-schamajim, 226a; vgl. Gikatilla: Ginnat egoz, 185.
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keineswegs ein Raum konstituiert, der sich jenseits der göttlichen Ordnung erstreckt. Weil Gott selbst es ist, der zwischen Heilig und Profan unterscheidet, stellt die Grenze zwischen beiden, die eine Begrenzung des Heiligen bedeutet, durchaus keinen Bruch mit der göttlichen Ordnung dar. Das Profane ist ebenso wie das Heilige Teil dieser Ordnung und unterliegt ihren Gesetzen. Gikatillas Versuch, die Unterscheidung zwischen Heilig und Profan zu erklären, kommt zu keinem eindeutigen Schluss. Einerseits insistiert er darauf, dass alle Unterscheidungen des Havdala-Segens nur Stufen des Wertes und Ranges betreffen. Diese Art der Unterscheidung wäre gegründet in dem, was im Predigerbuch mit dem Wort jitron (»Vorzug«) bezeichnet wird, das auch Gikatilla zitiert: »Und ich sah, dass die Weisheit einen Vorzug hat vor der Torheit, wie das Licht einen Vorzug hat vor der Finsternis« (Pr 2,13).37 Sie bedeutet eine Auszeichnung, eine Distinktion. Andererseits versetzt Gikatilla die Unterscheidung zwischen Heilig und Profan an den Ursprung aller anderen Unterscheidungen, so dass hinter den Distinktionen eine Differenz sichtbar wird, die sich eher als Trennung darstellt,38 durch die die Welt nur darum nicht dualistisch zerfällt, weil Gikatilla darauf besteht, dass sie nur in Beziehung zur Einheit des Schöpfungswerks wirksam wird.39
37
Horowitz: Scha ar ha-schamajim, fol. 225a; vgl. Gikatilla: Ginnat egoz, 181. Den Unterschied zwischen Auszeichnung und Trennung erörtert Henri Bacry (La »havdalah«. Er tritt für die Deutung der Unterscheidung zwischen Heilig und Profan als Distinktion ein, als Zuweisung eines Vorzugs (jitron), und schlägt darum vor, havdala nicht mit »se´paration«, sondern mit »distinction« zu übersetzen. 39 Im 20. Jahrhundert wurde die Erörterung der Frage, ob es sich bei der Differenz zwischen Heilig und Profan um eine absolute oder eher um eine graduelle und flexible Unterscheidung handelt, in der Religionssoziologie neu aufgenommen. Die Tendenz, die Differenz zwischen Heilig und Profan absolut zu fassen und Konfusionen zwischen den beiden Sphären strikt auszuschließen, die sich in jüdischen Quellen zu Heilig und Profan beobachten lässt, kehrt wieder in E´mile Durkheims Les formes e´le´mentaires de la vie religieuse (Paris 1912). Durkheims Kritiker haben von Anfang an betont, dass seine Definition des Heiligen und Profanen für den australischen Totemismus, dem das Buch gewidmet ist, ebenso wie für die meisten anderen Religionen keine Geltung beanspruchen kann. (Lukes: E´mile Durkheim, 26–28.) Es ist aber auch darauf hingewiesen worden, dass Durkheim durch die Art und Weise, in der er die Differenz zwischen Heilig und Profan verschränkt mit der Differenz zwischen Rein und Unrein denkt, sehr genau nachvollzieht, was die biblischen Texte zur priesterlichen Unterscheidung zwischen Heilig und Profan aussagen (Bloom: The Legacy of »Sacred« and »Profane« in Ancient Israel.) Durkheim zögert nicht, die Differenz zwischen Heilig und Profan in scharfen Formulierungen als Dichotomie vorzustellen: die Opposition von Heilig und Profan bezeichnet Heterogenes, und sie ist einzigartig darin, dass sie absolut Heterogenes bezeichnet: »[ .. .] il ne reste plus pour de´finir le sacre´ par rapport au profane que leur he´te´roge´ne´ite´. Seulement, ce qui fait que cette he´te´roge´ne´ite´ suffit a` caracte´riser cette classification des choses et a` la distinguer de toute autre, c’est qu’elle 38
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Die hier kurz vorgestellten, noch im 18. Jahrhundert überlieferten rabbinischen und mittelalterlichen Reflexionen zur Unterscheidung zwischen Heilig und Profan bieten die Möglichkeit, die Lektüre der Narrative, in denen Jehuda ha-Levi und Maimonides die Geschichte der hebräischen Sprache kommentieren, noch zu präzisieren. Sie verdeutlichen vor allem, dass die Unterscheidung zwischen qodesch und hol, Heilig und Profan, und die Grenzziehung, die dem ˙ Heiligen einen bestimmten Ort zuweist, einen Bezirk, neben dem noch ein anderer Bezirk, der des Profanen, sich erstreckt, keineswegs bereits als Akt der Säkularisierung gelten können. Im Gegenteil: im Havdala-Segen wird bekräftigt, dass Gott selbst die Grenze hervorbringt, die die beiden Bezirke des Heiligen und des Profanen konstituiert. Die Trennung zwischen Heilig und Profan wird durch den göttlichen Ursprung, in den sie zurückverlegt wird, legitimiert. Zugleich wird versichert, dass der Bezirk des Profanen nicht außerhalb, sondern innerhalb der göttlichen Schöpfungsordnung liegt, dass kein Ort außerhalb dieser Ordnung existiert. Auch das Profane gehorcht Regeln göttlichen Ursprungs. Und es wird nicht anders als in religiösen Sprech- und Denkweisen darstellbar. Die Unterscheidung zwischen heiliger und profaner Sphäre wird auf verschiedenen Gebieten wirksam und findet unter anderem auf dem Territorium der jüdischen Sprachen ihre Entsprechung, wird dort konkretisiert und aktualisiert. Der Unterschied zwischen Jehuda ha-Levis und Maimonides’ Reflexionen lässt sich nun auch mit ihren verschiedenen Akzentuierungen in der Deutung von Heilig und Profan in Verbindung bringen. Jehuda ha-Levi führt die Unterscheidung zwischen heiliger und profaner Sprache in einem Kontext ein, in dem es um Distinktionen geht. Die hebräische Sprache wird als ausgezeichnete, vorzügliche Sprache vorgestellt, ha-haschuva sche-ba-leschonot oder ha-me ula40. Maimonides ˙ est tre`s particulie`re: elle est absolue.« (Durkheim: Les formes e´le´mentaires de la vie religieuse, 53). Durkheim bewegt sich mit seiner Deutung der Differenz von Heilig und Profan fern von den zitierten Texten der jüdischen Tradition, insofern er diese Differenz herauslöst aus dem Zusammenhang, in dem ihr Dualismus modifiziert erschien durch die Bindung an einen einheitlichen Ursprung. Er kommt denselben Texten aber sehr nahe, wenn er darstellt, wodurch diese Differenz sich als absolut erweist – durch den Ausschluss aller Zwischenräume, durch »eine Art logische Leere« zwischen dem, was Heilig genannt wird, und dem, was Profan genannt wird: »Parce que la notion du sacre´ est, dans la pense´e des hommes, toujours et partout se´pare´e de la notion du profane, parce que nous concevons entre elles une sorte de vide logique, l’esprit re´pugne invinciblement a` ce que les choses correspondantes soient confondues ou simplement mises en contact [. . .].« (Ebd., 55.) Durkheim erhebt hier zu einem allgemeinen Merkmal religiösen Denkens, was die Havdala-Zeremonie stets von neuem anzuerkennen und nachzuvollziehen gebietet: die absolute Negation jeder Vermischung zwischen Heilig und Profan. 40 Jehuda ha-Levi: Kuzari, II, 68, 167, 169.
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Heilige Sprache
hingegen betont das Moment der Trennung. »Heilig« ist die unvermischte Sprache, die zurückverweist auf die vorexilische Zeit und die gebunden ist an die Schriften, die im Exil und gegen die Vermischungen des Exils die Integrität des Gottesdienstes, der Überlieferung und des Generationenzusammenhangs sichern sollen. Jehuda ha-Levi lässt Zweisprachigkeit als Teil einer Ordnung sichtbar werden, die auf Unterscheidungen beruht, auf Distinktionen, die sich als produktiv erweisen. Maimonides hingegen beschreibt Mehrsprachigkeit als Aufhebung einer Ordnung, die Trennung verlangt, als zerstörerischen Einbruch des Ungeordneten und Ununterschiedenen, und er besteht auf der heiligen Sprache als unvermischter Sprache, als Negation der Konfusion.
3. Verteilung und Vervielfältigung Heilige und profane Sprache Die Differenz zwischen Heilig und Profan wird zuerst im Talmud auf die verschiedenen Sprachen der Juden bezogen. Weder Targum noch Mischna kennen die Opposition von »heiliger« und »profaner« Sprache. Der palästinische Targum spricht von lischan bet-qudscha, der »Sprache des Heiligtums« und bezeichnet so unter anderem die Sprache, in der die Welt erschaffen wurde.41 Auch Mischna und Gemara diskutieren das Hebräische vor allem im Hinblick auf den Gottesdienst, d. h. auf die Elemente des Gottesdienstes nach der Zerstörung des Tempels. Zu diesem Zeitpunkt war das Hebräische schon längst nicht mehr eine Sprache alltäglicher Kommunikation. Bereits in hellenistischer Zeit war es durch das Aramäische weitgehend verdrängt worden. Als Sprache des Tempels, der Tora und der Priesterschaft behielt es jedoch erhebliche politische und symbolische Bedeutung. Mit der Zerstörung des zweiten Tempels ging auch dieser Kontext verloren, doch die Rabbinen hielten an der Sprache fest und stellten in ihr die Mischna zusammen – »an assertion of rabbinic control over what was symbolically central in Judaism«.42 41
Shinan: The Aramaic Targum, 248 f. Schwartz: Language, Power and Identity, 34. Die knappe Zusammenfassung folgt Schwartz’ Revision älterer Thesen zur Geschichte des Hebräischen. Zur jüdischen Mehrsprachigkeit im antiken Palästina vgl. auch – teilweise abweichend von Schwartz – Fraade: Rabbinic Views on the Practice of Targum. 42
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In der Mischna wird unterschieden zwischen dem, was nur in der heiligen Sprache gesprochen werden darf, und dem, was in »jeder Sprache« gesprochen werden kann. Wo die Grenze verläuft, lässt sich auf keine allgemeine Regel zurückführen, sondern nur mit Hilfe einer genauen Aufzählung bestimmen (Sot 7,1–2):43 Folgendes darf in jeder Sprache gesprochen werden: der Abschnitt von der Ehebruchsverdächtigten, das Bekenntnis des Zehnten, das Sˇema, das tägliche Gebet, der Tischsegen, der Zeugniseid und der Depositeneid. Folgendes muß in der heiligen Sprache gesprochen werden: der Abschnitt von den Erstlingen, die Halic¸a, die Segen und die Flüche, der Priestersegen, der ˙ Segen des Hochpriesters [...].
Welche Regel erklärt, warum das Bekenntnis des Zehnten in jeder Sprache gesprochen werden darf, der Abschnitt von den Erstlingen aber nur in der heiligen Sprache? Es sind Wortanalogien, gezerot schawot, die angeführt werden, um den Unterschied zwischen dem Bekenntnis des Zehnten und dem Abschnitt von den Erstlingen zu begründen, also textuelle Beweise – und keineswegs grundsätzlichen Überlegungen zur Unterscheidung zwischen Heilig und Profan. Diese erscheint für die Verteilung der Sprachen noch ohne Bedeutung. Zwischen Texten, die nur in einer Sprache gelesen werden sollen, und anderen, die in mehreren Sprachen zugänglich werden, wird noch nicht strikt getrennt. Die Regeln der Zuordnung sind unklar und umstritten.44 In der Gemara, die an die zitierte Mischna anschließt, finden sich folgende Einwände gegen sie (bSot 33a): Darf das Gebet denn in jeder Sprache verrichtet werden, R. Jehuda sagte ja, dass man seine Wünsche nicht in aramäischer Sprache vortrage, denn R. Johanan sagte, dass, wenn man seine Wünsche in aramäischer Sprache vor˙ die Dienstengel ihm nicht zur Verfügung stehen, weil die Dienstengel trägt, die aramäische Sprache nicht verstehen!? – Das ist kein Einwand; das eine gilt von einem einzelnen und das andere von einer Gemeinschaft.
R. Jochanans Diktum über die Dienstengel, die das Aramäische nicht verstehen, so dass Gebete in aramäischer Sprache ungehört bleiben, wird bis ins 18. Jahrhundert hinein als wichtiges Argument gegen die Rezitation der Gebete in profaner Sprache angeführt.45 Doch in der
43 Für den hebräischen Text der Mischna wurden die Schischa sidre mischna, ed. Albeck, herangezogen; die deutsche Übersetzung folgt Goldschmidts Talmudübersetzung, hier (leicht modifiziert): bSot 32a. 44 Vgl. etwa bBer 13a, wo erörtert wird, ob das Schma -Gebet nur in der Sprache, in der es geschrieben wurde oder in jeder Sprache rezitiert werden darf. 45 Schärfster Kritiker dieses Arguments wurde Jechiel Michel Epstein, vgl. seine Schrift Derekh ha-jaschar la- olam ha-ba, fol. 95b; zu Epstein s. u., 105. Noch im 20.
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Gemara wird der Einwand R. Jehudas, der sich auf R. Jochanans Diktum stützt, zurückgewiesen – jedenfalls für das Gebet des Einzelnen und die aramäische Sprache. Die Regel, die schließlich die Ordnung der Sprachen auf die Differenz von Heilig und Profan gründen will, wird Abajje zugeschrieben und lautet (bAZ 44b): »So sagte ja Abajje, man dürfe profane Dinge in der Heiligensprache sprechen, jedoch keine heiligen Dinge in einer profanen Sprache«. Die schwache Differenz zwischen der »heiligen« und »jeder Sprache« wird in die starke, an die deutliche Unterscheidung von Heilig und Profan anknüpfende Differenz zwischen »heiliger« und »profaner« Sprache verwandelt. Indem im Talmud das Hebräische und Aramäische in Beziehung zu »heiligen« und »profanen Dingen« gesetzt werden, wird sprachliche Vielfalt nicht als diffuse, nur flüchtig geregelte Vervielfachung der Wörter gezeigt, sondern als sprachliche Ordnung, die durch dieselbe Sicherheit der Unterscheidung begründet ist wie die Schöpfungsordnung. Allerdings fällt auf, wie beiläufig die Regel Abajjes auftaucht. Sie wird nicht im Zusammenhang mit Entscheidungen zur Ordnung der Sprachen eingeführt, sondern als Teil eines Arguments, das um die Unzulässigkeit halachischer Reflexion im Badehaus kreist. So bleibt zunächst offen, welches Gewicht ihr zukam. Es wird sich aber zeigen, dass die Verteilung der Sprachen ihr – auf bisweilen überraschende Weise – jahrhundertelang genau entsprach, dass diese Regel die Ordnung jüdischer Zweisprachigkeit zuverlässig regierte. Das Aramäische fand Eingang nicht nur in das Gebet, sondern auch in die Toralesung. Schon in der Mischna ist vom Übersetzen der Tora die Rede (Meg 4,4): »Man lese dem Dolmetsch nicht mehr als einen Vers vor, aus den Propheten auch drei; wenn die drei aber einzelne Absätze bilden, so lese man sie einzeln.« Die aramäische Übersetzung, der Targum, wird als mündlicher Vortrag eingeführt, adressiert an diejenigen, denen das Hebräische nicht mehr selbstverständlich zugänglich war. Die Aufgabe des Targum war, dies scheint zunächst offensichtlich, die Vermittlung. Diese Ansicht wird in der rabbinischen und mittelalterlichen Literatur selbst tradiert. Die Etablierung des Targum wird ebenso wie
Jahrhundert fanden Aussprüche wie die des R. Jehuda und des R. Jochanan ein Echo in aktuellen Debatten zum Hebräischen und Jiddischen. Zinberg erblickte in ihnen ein Anzeichen dafür, dass schon in der rabbinischen Epoche ein »Sprachenstreit« im Gange war, in dem »Puristen«, die im Bezirk des Heiligen nur das Hebräische gelten lassen wollten, gegen Anhänger der Sprache des Volkes standen, die das Aramäische verteidigten, s. Zinberg: Der kamf far yidish, Sp. 72. Die oben verwendeten Anführungszeichen stammen allerdings von Zinberg selbst und verweisen deutlich auf den bewusst strategischen Charakter seiner Interpretation.
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die Einsetzung der Amida auf Esras Reform der sprachlichen Ordnung nach dem babylonischen Exil zurückgeführt (bMeg 3a): R. Iqa b. Abin sagte ja im Namen R. Hananels im Namen Rabhs: Es heißt ˙ [Neh 8,8]: »und sie lasen in dem Buche der Lehre Gottes, deutlich mit Angabe des Sinnes, sodass sie das Gelesene verstanden«. »Sie lasen in dem Buche der Lehre Gottes«, das ist die Schrift; »deutlich«, das ist die Übersetzung [...].
Anders als in den rabbinischen Passagen zur Sprache des Gebets geht es hier nicht darum, dass die heilige durch eine profane Sprache ersetzt werden könnte. Die Unantastbarkeit des Hebräischen als Sprache der Toralesung wird vorausgesetzt. Erörtert wird allein, ob und in welcher Weise neben die Sprache der Tora eine zweite Sprache treten darf. Die rabbinischen Erklärungen für die Einsetzung des Targum bleiben auch für die Diskussionen über die Regeln jüdischer mehrsprachiger Praxis in der Frühen Neuzeit relevant. Doch soll nicht unerwähnt bleiben, dass jüngere Forschungen noch etwas andere Gründe für die Etablierung aramäischer Übersetzungen nennen als die Rabbinen. Die Targumim entstanden womöglich vor allem, um die Bedeutungen des Textes zu fixieren und zu verhindern, dass er spezifischen Lesarten angepasst wird.46 Durch die sprachliche Differenz war zugleich die Gefahr der Verwechslung zwischen Text und Erläuterung gebannt. Die Targumim sollten die Unveränderlichkeit der Schrift und die Einheitlichkeit der Überlieferung sichern. Für diese Deutung spricht einer der wenigen ausführlichen – und recht bekannt gewordenen – Kommentare zu den aramäischen Übersetzungen der Schrift im Talmud (bMeg 3a): Die (aramäische) Übersetzung der Propheten verfaßte Jonathan, der Sohn Uziels nach der Unterweisung Haggajs, Zekharjas und Maleakhis. Das Jis˙ raelland erbebte dann vierhundert zu vierhundert Parasangen, und eine Hallstimme ertönte und sprach: Wer ist es, der meine Geheimnisse den Menschenkindern verraten hat? Da stellte sich Jonathan, der Sohn Uziels (auf seine Füße) hin und sprach: Ich bin es, der deine Geheimnisse den Menschenkindern verraten hat; offen und bewußt ist es dir, dass ich es nicht mir zu Ehren, noch zu Ehren meines väterlichen Hauses getan habe, vielmehr habe ich es dir zu Ehren getan, damit keine Streitigkeiten in Jisrael sich mehren. Er wollte auch die Übersetzung der Hagiographen veröffentlichen, da ertönte eine Hallstimme und sprach: Begnüge dich.
Die Übersetzung wird hier nicht als Abweichung von der Schrift, sondern als Verhinderung von Abweichungen beschrieben. Sie verstellt nicht, sondern enthüllt. Problematisch erscheint sie, weil sie zu viel,
46
Tal: Is there a raison d’eˆtre for an Aramaic Targum in a Hebrew-Speaking Society?
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nicht weil sie zu wenig vom Original verrät.47 Die Kritik an den Targumim impliziert also keineswegs, dass die heilige Sprache unzugänglich oder unübersetzbar wäre. Im Gegenteil: Die Sprache der Schrift soll nicht – oder jedenfalls nicht allein in Übersetzungen zugänglich werden, weil sie nur zu gut übersetzbar wäre. In der Übersetzung bedürfte sie keines Studiums mehr; an die Übersetzung ließe sich kein Kommentar mehr knüpfen. So zeichnet sich das Hebräische als heilige Sprache allein dadurch aus, dass es als Sprache der Gebete und der Toralesung im Gottesdienst nicht ersetzt werden kann. Die heilige Sprache ist allgemeine Sprache, insofern sie für »heilige« wie »profane Dinge« gebraucht werden darf, und ausgezeichnete Sprache, insofern sie exklusiv ist: für »heilige Dinge« darf eine Sprache der Vermittlung neben sie, doch keine an ihre Stelle treten. Ihre ausgezeichnete Stellung wird betont durch die Anordnung der Lesungen (bBer 8a): »R. Hona b. Jehuda sagte im Namen R. Amis: Stets beende man seinen Wochenabschnitt zusammen mit der Gemeinde, zweimal den Text und einmal den Targum«. Dieser Ausspruch, »zweimal Text und einmal Targum« (schnajim miqra we-ehad targum), wurde – häufig verkürzt zum Akrostichon schemot – bis ˙ins 18. Jahrhundert als einfache und populäre Anweisung zur Verteilung der Sprachen beim Studium der Tora tradiert. Das Aramäische, das sich in Jehuda ha-Levis mittelalterlicher Erzählung so beiläufig und selbstverständlich der Unterscheidung zwischen heiliger und profaner Sprache fügt, erscheint in der rabbinischen Literatur als Sprache, die mit dieser Unterscheidung nur schwer zu fassen ist und Unruhe erzeugt. In Mischna und Talmud wird es unter »jede Sprache« subsumiert und steht im Gegensatz zur heiligen Sprache, kann aber neben dieser als Sprache der Gebete fungieren, ja es findet später als Gebetssprache seinen festen Ort in der Liturgie, insbesondere im Kaddisch-Gebet und in den Pijjutim. Als Sprache, in der die autoritative Übersetzung der Bibel verfasst ist, die Eingang in die gottesdienstliche Lesung gefunden hat, wird das Aramäische metonymisch als targum bezeichnet. Als Sprache, in der Teile der Bibel verfasst sind, ist es gar Bestandteil von leschon ha-qodesch, der heiligen Sprache selbst – dann nämlich, wenn dieser Ausdruck, ebenfalls metonymisch, die Sprache(n) der Schrift bezeichnet. Schließlich ist das Aramäische als Sprache der Gemara auch Sprache der mündlichen Tora.
47 Die recht bekannt gewordenen talmudischen Passagen, in denen das Übersetzen der Tora als katastrophale Entwicklung bezeichnet wird, beziehen sich fast ausschließlich auf ihre Übersetzung ins Griechische.
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Heißt dies, dass in Übereinstimmung mit der Mischna und manchen Meinungen der Gemara eine profane Sprache mit »heiligen Dingen« verknüpft werden konnte, so dass die »heiligen Dinge« entweder sprachlich nicht strikt geordnet waren oder immer wieder neu bestimmt werden mussten? Oder heißt dies vielmehr, dass mit dem Aramäischen der einzigartige Fall gegeben war, dass eine Sprache allmählich den Status einer heiligen Sprache annahm, so dass im Grunde die Regel Abajjes doch als bestätigt gelten konnte? Der Versuch rabbinischer und mittelalterlicher Gelehrter, klare Regeln für die Verteilung der Sprachen zu formulieren, gelang nicht völlig, weil die vieldeutige Position des Aramäischen sich nicht eindeutig auflösen ließ. Nicht einmal Jehuda ha-Levis genauen Worte über die heilige und die profane Sprache waren sicher vor ungenauen Lesarten. Zu Beginn der Frühen Neuzeit schrieb Moses Isserles (ca. 1525–1572) in einem Responsum zur Frage, in welcher Sprache eine Scheidungsurkunde abgefasst werden soll: »Auch die aramäische Sprache gilt als heilige Sprache, wenngleich sie eine verdrehte Sprache ist. Ich erinnere mich, dass dies die Worte des Kuzari sind, auch wenn dort die Intention eine andere ist.«48 Das Aramäische stiftet von Anfang an in der Ordnung der Sprachen Unordnung – Spielräume des Zweifels und der Interpretation.
Targum und La az Im Mittelalter drückt sich der Zweifel über die Verteilung der Sprachen in der Frage aus, ob der Targum der Juden in der Antike dem La az der Juden der Gegenwart vergleichbar sei, ob also die jüdischen Umgangssprachen der Gegenwart denselben Status wie das Aramäische beanspruchen dürfen, und ob es gestattet sei, die Bibel in diese Sprachen zu übersetzen. Zu denen, die diese Frage verneinten, gehörte Nachmanides (ca. 1195 – ca. 1270):49 »Zwar haben sie die Lehren gebrochen und schreiben alles, doch ein heiliges Buch darf nur in der heiligen Sprache geschrieben werden, nicht in stammelnder Sprache oder in einer anderen Sprache.« Dieser Ausspruch aus Milhamot ha-schem, Nachmanides’ Kommentar zu Alfasi, wurde jedoch ˙ durchaus kritisch kommentiert und tradiert. So zitiert Josef Karo (1488–1575) ihn zunächst, überlässt das letzte Wort aber Nissim Gerondi:50 »Ein Rechtssatz ist dies – wenn 48 Isserles: Sche elot u-teschuvot ha-Rema, Nr. 127, 497. Den Hinweis auf Isserles’ Bemerkung verdanke ich Shear: Judah HaLevi’s Sefer ha-Kuzari, 75. Shear weist zu Recht darauf hin, dass Isserles wohl Ha-Levis Worte über die enge Verwandtschaft zwischen dem Hebräischen, Aramäischen und Arabischen im Sinne hatte. 49
hpw igylb al lba wduqh ñuwlb ala wduqh rps butkl urith al lkh butkl turut urphw ip ly úa .trxa ñuwlbu – Zit. nach: Karo: Bet Josef, Orah hajjim, § 334, 12,1. 50 :Õtua ñilicmu auh btkil ñtin hihiw ñuwl hzia ub˙ Õi˙aiqb Õyh utuaw ñuwlb Õibutk uih Õa ñidh auh –
Ebd.
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Heilige Sprache
[Bücher] in der Sprache geschrieben sind, derer das Volk kundig ist, welche Sprache es auch sei, [so gilt, dass] erlaubt ist, sie zu schreiben, und man rettet sie [aus dem Feuer].« Auch andere bestanden darauf, dass das Aramäische das La az der Antike gewesen sei, und dass die Aufgaben und Funktionen des Aramäischen darum von den Umgangssprachen der Gegenwart übernommen werden könnten. In dem bis heute weit verbreiteten Moralbuch Sefer ha-jir a des Jona Gerondi (ca.1200–1263) heißt es:51 Er soll jede Woche seine Abschnitte vollständig und in der Öffentlichkeit lesen, zweimal Text und einmal Targum. Wenn er keinen Targum besitzt, soll er zweimal Text und einmal La az lesen – dies ist besser als dreimal Text zu lernen, denn der Targum diente dazu, die Schrift dem Unkundigen verständlich zu machen, desgleichen das La az, d.h. die Sprache der Fremdsprachigen [vgl. Meg 2,1].
Gerondi bestätigt, dass die Einsetzung des Aramäischen als Übersetzungssprache – unabhängig von der Sprachsituation, in der die Targumim tatsächlich entstanden sein mögen – als Akt der Vermittlung gedeutet wurde. Wo die heilige Sprache aufgehört hat, allgemein und unmittelbar zugänglich zu sein, kann nur noch die profane Sprache ein (begrenztes) Wissen von der heiligen Schrift vermitteln. Mit dem Targum wurde aber, so Gerondi, nicht etwa eine bestimmte Übersetzung sanktioniert und kanonisiert, sondern das Übersetzen schlechthin institutionalisiert. Der Targum ist das ehrwürdige Vorbild, das zwar jeder Nachahmung vorzuziehen ist, doch gleichzeitig zur Nachahmung und Übertragung ermuntert. Gerondi schließt vom Aramäischen auf die Sprache der Juden in Spanien, und der Übersetzer, der Gerondi ins Jiddische brachte, schließt auf die Sprache in Aschkenas:52 »Sie haben alle [ . . .] Targum als ihre gemeine Sprache gesprochen, so wie wir hierzulande alle gemeinhin deutsch sprechen.« Ist der Targum ein Supplement der heiligen Schrift, das die Möglichkeit der Supplementierung ein für alle Mal erschöpft? Oder eröffnet er eine Reihe der Supplemente, die stets fortgesetzt werden kann? Zedekia ben Abraham ha-Rofe (13. Jh.) stimmt mit Gerondi darin überein, dass »ihr Targum« dasselbe war wie das La az seiner Zeit. Er zitiert zunächst die Meinung seines Lehrers und eine Gegenmeinung:53 51
dxau arqm Õiinw arqi ,Õugrt ul ñia Õau .Õugrt dxau arqm Õiinw ,yubw lkb rubich Õy uituwrp Õilwiu aihw wurp zyl ñkw-lk ,iqb uniaw iml arqmh ñibhl hih Õugrth ik ,arqmh Õimyp wulw dumlm rtui buju ,zyl .tuzyulh ñuwl – Gerondi: Sefer ha-jir a, 183. 52 ila dnal uc aih riuu zla Óiilg Óarpw ñniimig rria ñia jyrig ñkilniimig ila Õugrt ñyd [. . . ] ñbah aiz .ñdir wjiiuj Óilqiniimig – Gerondi: Seyfer ha-yire, Zürich 1546, fol. 25a (zit. nach Weinreich:
Geshikhte fun der yidisher shprakh, Bd. 1, 253). Die jiddische Übersetzung erfuhr zahlreiche Nachdrucke, u.a. in Frankfurt a.M., s. Turniansky: Yiddish Literature in Frankfurt am Main, 274. 53
ñhlw zylh hih auh imra Õugrthw ñhlw Õugrt Õuqmb auh unlw zylhw u`rn inw ixa hduhi 'r iruml harnu
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Verteilung und Vervielfältigung
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Meinem Lehrer R. Jehuda, meinem Cousin, der Barmherzige möge ihn behüten und erlösen, schien es, dass unser La az an die Stelle ihres Targum trat, denn der aramäische Targum war ihr La az. – Im Namen des Rav Natronai, des Meisters, sein Andenken zum Segen, fand ich: Jene, die nicht übersetzen und sagen, wir brauchen den Targum der Rabbanan nicht, [wir brauchen] vielmehr [eine Übersetzung] in unserer Sprache, La az, die die Gemeinde versteht – jene haben ihrer Pflicht nicht genügt. [...] Wenn es aber einen Ort gibt, wo man ihnen [die Schrift] erklären will, so soll jemand zusätzlich zum Dolmetscher aufstehen und [sie] ihnen in ihrer Sprache erklären.
Anders als Rav Natronai, der zwar die Sprachpraxis seiner Zeit berücksichtigt, doch der Meinung ist, dass sie für die Stellung des Targum nicht relevant sei, meint Zedekia, dass die konkreten Sprachverhältnisse für die Bestimmung des Verhältnisses zwischen heiliger und allgemeiner Sprache entscheidend sind:54 Meine Meinung ist eher die meines Lehrers und Meisters Jehuda, meines Cousins, der Barmherzige möge ihn behüten und erlösen: Der ganze Sinn des Targum besteht gerade darin, die Worte der Tora den Frauen und Ungebildeten zu erklären, die sie nicht in der heiligen Sprache verstehen. Und wisse, so ist es, denn einige Wochenabschnitte werden nicht übersetzt [...], damit die Frauen und Ungebildeten sie nicht verstehen, denn es gibt darin Dinge, die sie nicht begreifen würden [...]. Dass sie aber sagten: »und sie lasen in dem Buche der Lehre Gottes, ausdrücklich« [bedeutet], dass sie die Tora auf Hebräisch lasen und sie auf Aramäisch erklärten, denn dies war ihr La az, so dass sie verstanden würde von den Frauen und Ungebildeten, denen die heilige Sprache unverständlich war, denn es heißt: und ihre Kinder sprachen halb aschdodisch und verstanden nicht jehudisch zu reden usf.
Gerondi und Zedekia ben Abraham konnten Targum und La az in eins setzen, weil sie davon ausgingen, dass die sprachlichen Verhältnisse der talmudischen Zeit sich von denen ihrer Gegenwart nicht unterschieden. Die heilige Sprache war keine Sprache, die von der Mehrheit der Bevölkerung verstanden wurde, sie war nur wenigen zugänglich und auch diesen nur vermittelt durch Unterricht. Das Hebräische wird hier als
unlw ñuwlb ala ñnbrd Õugrt Õgrtl ñikirc una ñia Õirmuau ñimgrtm ñiaw ula itacm l`z ñuag ianurjn br Õwbu wrpiu Õgrtmhm Ñux dxa dumyi Õhl wrpl ñicurw Õuqm wi Õau [. . . ] ñtbux idi ñiacui ñia ub ñinibm rubchw zylb [.] Õnuwlk Õhl – Zedekia ben Abraham ha-Rofe: Schibbole ha-leqet, Injan Schabbat 78,
fol. 29a.
˙
54
imylu Õiwnl hrut irbd wrpl ala unia Õugrt lw urqy lkw u`rn inw ixa hduhi rm irbd rxa hjun itydu hzu [. . . ] Õwurip unibi al Õirbd ñhb wiw ipl Ñrah imyu Õiwn unibi alw idk [. . . ] wdqh ñuwlb ñinibm ñniaw Ñrah tirby ñuwlb hrutb arqw rxaw Õugrt hz wrupm arqm hz uarqiu wrupm Õihlah trut rpsb uarqiu urmaw Õhinbu bitkdk wduqh ñuwlb ñinibm uih alw Ñrah imylu Õiwnl ñibhl ñhlw zylh hih auhw timra ñuwlb uwrip [.] 'ugu tiduhi rbdl ñirikm ñniau tidudwa rbdm icx – Ebd.
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Heilige Sprache
Sprache vorgestellt, die aus dem Kreis der Familie heraus verlegt ist. Die Tradierung der Sprache spielt sich in öffentlichen Räumen ab und wird zu einer Angelegenheit der Institutionen – tangiert von den sozialen Verhältnissen und Hierarchien, die in der Öffentlichkeit wirksam sind. Weil nicht alle gleichermaßen Unterricht in der heiligen Sprache erhalten, wird das Wissen von ihr zum besonderen Wissen. Mag das Hebräische auch nach wie vor eine Sprache sein, die keinen Gegenstand ausschließt aus dem Kreis dessen, was in ihr verhandelt werden kann, so ist es doch zu einer Sprache geworden, die viele ausschließt aus dem Kreis derer, die in ihr verhandeln oder der Verhandlung folgen können. Das Übersetzen in die profane Sprache wird darum zu einer zentralen Praxis der Vermittlung, die doch zugleich – daran lassen weder Gerondi noch Zedekia ben Abraham Zweifel – marginal bleibt, was den ihr zugeschriebenen Status betrifft. Übersetzungen sind Weisen des Tradierens für Ungebildete. Sie sind stets an den Vortrag des Originals gebunden, werden einfach – nicht doppelt wie das Original – vorgetragen und können auch wegfallen. Nicht alle hebräischen Texte werden durch sie zugänglich, nicht jeder heilige Text hörbar. Übersetzungen bleiben nachgeordnete Weisen der Überlieferung, sekundäre Traditionen. Vielleicht hat Gerondis und Zedekia ben Abrahams Konstruktionen während des Mittelalters an manchen Orten und zu manchen Zeiten eine Realität entsprochen, in der Hebräisch und die jüdischen Umgangssprachen einigermaßen konfliktfrei nebeneinander bestehen konnten. Doch in der Frühen Neuzeit erschien die sprachliche Ordnung, die beide Autoren reflektieren, im aschkenasischen Raum in Frage gestellt. Hier ist der Ort, um kurz zu skizzieren, wie sich die Verteilung der Sprachen um 1700 ausnahm, um dann zu verfolgen, wie die Diskrepanz zwischen der symbolischen und sozialen Bedeutung der beiden jüdischen Sprachen in Aschkenas zunehmend als Problem interpretiert wurde.
Geschrieben und gesprochen In seiner Geschichte der jiddischen Sprache schreibt Max Weinreich: »Traditional Ashkenaz had no total language dogma [ . . .].«55 Demnach wäre der Versuch, eine Regel für die Verteilung der Sprachen aufzustellen, indem die Unterscheidung zwischen Heilig und Profan auf sie angewandt wird, in der Praxis nicht oder nur begrenzt wirksam geworden. Über die Trennung zwischen heiliger und profaner Sprache schreibt Weinreich: »They are not absolutely separate areas, but rather like a polarity – black and white – with transitions, with various nuances of
55
Weinreich: History of the Yiddish Language, 253.
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Verteilung und Vervielfältigung
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gray in between.«56 Der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Sprachen der Juden in Aschkenas, Hebräisch und Jiddisch,57 lässt sich, so Weinreich, weder durch die religiöse Trennung zwischen Heilig und Profan ausdrücken noch auf soziale Konstruktionen des Geschlechts – gebildete Männer, ungebildete Frauen – zurückführen. Vielmehr gründet er in der unterschiedlichen Funktion der beiden Sprachen: »Yiddish and Loshn-koydesh are both, in a certain proportion, for sacred use and for profane use, and both languages are for the entire community. Only the functions are different. Yiddish is the oral language [. . .]. Loshn-koydesh is basically the written language.«58 Die Gegenüberstellung von geschriebenem Hebräisch und gesprochenem Jiddisch wird allerdings relativiert. Auch Jiddisch wurde geschrieben, und in seltenen Fällen wurde wohl auch Hebräisch gesprochen. Die Grenzen zwischen heiliger und profaner, geschriebener und gesprochener, hebräischer und jiddischer Sprache überschneiden sich und bringen die zahlreichen sprachlichen Varianten hervor, in denen sich Juden und Jüdinnen in Aschkenas verständigten.59 Betrachtet man die Literatur, die in der Frühen Neuzeit auf Hebräisch und Jiddisch verfasst wurde, so zeigen sich deutlich die Schattierungen und Abstufungen, von denen Weinreich sprach. Doch zugleich zeichnen sich Schwellen ab, die beide Sprachen nicht wirklich überquerten. Die beiden geläufigsten Varianten waren das Jiddische als mündliche Sprache des Alltags, als Umgangssprache, und das Hebräische als schriftliche Sprache der Toralesung und Liturgie sowie der halachischen, exegetischen und ethischen Literatur. Der mündliche Gebrauch des Jiddischen fand seine schriftliche Fortsetzung in Privat- und Geschäfts-
56
Ebd. Loshn koydesh, »heilige Sprache«, meint nicht nur das Hebräische, sondern auch das Aramäische, das in Bibel, Talmud und die Liturgie Eingang fand und auch in der Literatur des Mittelalters und in der Frühen Neuzeit – meist als Einsprengsel ins Hebräische – verbreitet war. So müssten im Folgenden stets loshn koydesh und Jiddisch einander gegenübergestellt werden – wenn nicht loshn koydesh bereits ein interpretierender Ausdruck wäre, der sich gerade in den hier erörterten Zusammenhängen nicht als deskriptiver Terminus eignet. Darum wird auch im Folgenden meist – in einem inklusiven Sinne – vom »Hebräischen« die Rede sein. 58 Weinreich: History of the Yiddish Language, 256 (Hervorhebungen vom Verfasser). 59 Einen Überblick, auf den sich auch die folgende Darstellung stützt, bietet Turniansky: Du-leschonijut ba-hevra ha-jehudit. Zu den Anfängen der jiddischen Literatur, ihrer Entwicklung bis zum˙ 18. Jahrhundert und ihrem Verhältnis zum Hebräischen s. Shmeruk: Sifrut jidisch, 9–146. Einen schönen Eindruck von der Vielfalt jiddischer Genres vermitteln Turniansky / Timm / Rosenzweig: Yiddish in Italia, ein Katalog italienischer Manuskripte und Drucke, und Timm: Yiddish Literature in a Franconian Genizah. 57
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Heilige Sprache
briefen, die auf Jiddisch verfasst wurden und nicht zum Druck bestimmt waren.60 Unter den gedruckten Werken finden sich Lieder, Gedichte und Erzählungen, die zur Unterhaltung und zum Zeitvertreib dienten und hier und da auch religiöse Motive enthielten, ohne dass diese Komponente im Vordergrund stand. Dies trifft etwa auf Hochzeitslieder zu,61 auf manche Beispiele der zweisprachig – hebräisch und jiddisch – verfassten Wettstreit-Dichtungen62 oder auf Dichtungen und Erzählungen, die aus der nichtjüdischen Umwelt übernommen und – oft auf dem Umweg über das Hebräische – ins Jiddische übersetzt wurden, so etwa die Sindbad-Geschichten unter dem Titel Zibn vayzn maynster.63 Die in Italien entstandenen jiddischen Bearbeitungen christlicher Stanzenromane, Elia Levitas Bovo-bukh und Paris un’ Wiene, zählen zu den interessantesten Werken der jiddischen Literatur und erfreuten sich großer Beliebtheit.64 In anderen Werken, die ebenfalls unterhalten und mit Neuigkeiten aufwarten sollten, stehen die religiösen Motive stärker im Vordergrund, so im weitverbreiteten Maisebuch65, in den auch mündlich vorgetragenen Historienliedern66 oder in der jiddischen Version des Historienbuchs Schevet Jehuda67, in Jehuda Leib ben Osers Beschreibung der messianischen Bewegung des Schabbetai Zwi68 oder in den Memoiren der Glikl von Hameln.69 60 Eine knappe Übersicht über die überlieferten Schreiben findet sich in Timm: Zwei neuaufgefundene jiddische Briefe, 449–451. Aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts haben sich in der Kairoer Geniza die Briefe der Rachel bat Avraham aus Prag erhalten, die sie aus Jerusalem an ihren Sohn nach Kairo schrieb; sie sind veröffentlicht in Turniansky (Hg.): Zeror iggerot be-jidisch. Ein Bündel von etwa 50 Briefen, die im November 1619 ˙ nach Wien gesandt und unterwegs abgefangen wurden, ist publiziert in Landau, von Prag Alfred / Wachstein, Bernhard (Hg.): Jüdische Privatbriefe aus dem Jahre 1619; s. u., S. 69. Aus dem 18. Jahrhundert kennen wir schließlich unter anderem die jiddischen Briefe Moses Mendelssohns an Fromet und an andere Mitglieder seiner Familie. 61 So finden sich kale-lider am Ende des Mizwot ha-nashim / Frauen-bikhlen, Venedig 1588, und des Minhagim-Buches, Venedig 1593, s. Turniansky/Timm/Rosenzweig: Yiddish in Italia, 122 f. 62 Siehe Turniansky: The Evolution of the Poetical Contest in Ashkenaz. 63 Eine Ausgabe erschien 1707 in Berlin. Zur jiddischen Erzählliteratur vgl. Sarah Zfatmans Bibliographie: Ha-sipporet be-jidisch. 64 Vgl. Elia Bachur: Bovo d’Antona, ed. Rosenzweig, und Paris un Wiene, ed. Timm. 65 Gedruckt u.a. in Amsterdam 1701 und in Frankfurt a. M. 1703; s. auch Timm: Zur Frühgeschichte der jiddischen Erzählprosa. 66 Zu dieser Gattung, die sich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts hielt, s. Turniansky: The Events in Frankfurt am Main. Auch die Wulffsche Presse bediente das Genre. Nach Freudenthal publizierte sie: Ein nei Klaglied vun der großen Serefoh zu Frankfurt, Frankfurt 1711, 2. Aufl. Halle s.a. [1712], Ein nei Lied vun der großen Serefoh zu Altona, Halle 1712; s. Freudenthal: Aus der Heimat Mendelssohns, 246 f. 67 Die Unterschiede zwischen den hebräischen Versionen und der jiddischen Fassung analysiert Stanislawski: The Yiddish Shevet Yehudah. 68 Jehuda Leib ben Oser: Sippur ma ase Schabbetai Zvi / Beshraybung fun Shabtai Tsvi. 69 Glikl: Zikhronot 1691–1719, dt.: Die Memoiren˙ der Glückel von Hameln, übers. von Bertha Pappenheim.
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Verteilung und Vervielfältigung
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Das Jiddische war aber auch eine Sprache, die nicht wegzudenken war aus der Synagoge und der Jeschiva. Im Synagogen-Gottesdienst, in dessen hebräische und aramäische Liturgie kein jiddisches Wort Einlass fand, wurde auf Jiddisch gepredigt.70 In der Jeschiva wurden hebräische und aramäische Texte studiert, über ihre Auslegung aber wurde auf Jiddisch diskutiert. Als Sprache der Purimspiele war das Jiddische schließlich Teil des religiösen Festbrauchs.71 Aber auch als geschriebene Sprache erlangte das Jiddische in den Zusammenhängen der Lehre und Tradierung, des Gottesdienstes und Gebets Bedeutung. Die meisten Frauen waren auf die jiddische Sprache angewiesen, wollten sie daran teilhaben. Auch ihre Männer und Söhne nahmen jiddische Texte zur Hand, sei es, weil sie häufig des Hebräischen nicht (oder noch nicht) ausreichend mächtig waren, sei es, weil sie an den jiddischen Versionen und Bearbeitungen hebräischer Schriften Gefallen fanden. Vor allem die Bibelausgabe Zene rene, die den Bibeltext, Raschi-Kommentare und Auslegungen ˙zu einem neuen Ganzen verband, erfreute sich großer Beliebtheit. Sie gehörte wie die Tkhines – jiddische Bittgebete für Frauen und teilweise von Frauen verfasst – und die jiddische Musar-Literatur in der Frühen Neuzeit zu den meistgelesenen Werken. Ungeachtet ihrer Verbreitung wurde diese Literatur jedoch meist nur als Ersatz und Hilfsmittel für »Ungebildete«, Frauen und Kinder bezeichnet. Jiddisch, auch das geschriebene Jiddisch, blieb genau unterschieden von loshn koydesh, der heiligen Sprache.72 Hebräische profane Dichtung erlebte ihre Blüte im mittelalterlichen Spanien und in Italien. Sie war stark beeinflusst von arabischen, italienischen und klassischen Vorbildern.73 Die Weisheitsdichtung und die Trinklieder, die Dichtungen über den Krieg und die Liebesdichtung, die – neben vielen anderen – Samuel ha-Nagid, Salomon ibn Gabirol, Moses ibn Esra oder Jehuda ha-Levi in Spanien und Immanuel ha-Romi, Josef Zarfati oder Jacob Frances in Italien verfassten, wurden zwar in Italien und Holland, doch kaum in Deutschland und Polen tradiert. Profane hebräische Literatur im deutschen Sprachraum war fast stets Erzählliteratur, die aus der christlichen Umgebung übernommen, ins Hebräi-
70
Turniansky: Du-leschonijut ba-hevra ha-jehudit, 81. ˙ Timm: Formen der Bibelvermittlung, 321–324. 72 Zur biblisch inspirierten Literatur ebd., 315–321. Einen Überblick über die Tkhines-Literatur und eine nuancierte Beschreibung der Religiosität jüdischer Frauen in der Frühen Neuzeit bietet Weissler: Voices of the Matriarchs. Zu neuen Konzeptionalisierungen des Jiddischen als Sprache der Vermittlung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts s.u., S. 98. 73 Vgl. Pagis: Schirat ha-hol we-torat ha-schir und ders.: Hebrew Poetry of the Mid˙ dle Ages and the Renaissance. 71
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Heilige Sprache
sche übertragen und bearbeitet worden war. Dies gilt etwa für die Mischle schu alim des Berachja ha-Naqdan, die zu einem großen Teil auf Marie de France’ Ysopet beruhen und 1557 auf Hebräisch, 1583 auf Jiddisch und 1756 in Berlin wiederum auf Hebräisch herausgegeben wurden,74 oder für das Fabelbuch Iggeret ba ale hajjim des Kalonymos ben Kalonymos, 1557 auf Hebräisch und 1718 ˙auf Jiddisch gedruckt, und von dem frühen Aufklärer Jehuda Leib Minden in Berlin im Jahre 1762 noch einmal auf Hebräisch publiziert. Auch als Sprache wissenschaftlicher Abhandlungen wurde das Hebräische profan gebraucht. Zwar wurden astronomische oder mathematische Abhandlungen von ihren Autoren häufig als Studien zum besseren Verständnis der Tora dargestellt, doch gewannen sie ungeachtet dessen durchaus eigenständige Bedeutung.75 Der Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse dienten zudem die medizinischen Kompendien des 17. und frühen 18. Jahrhunderts. In jiddischer Sprache sollten sie breite Schichten erreichen und die Bräuche im Umgang mit dem Körper und seinen Krankheiten verändern. In hebräischer Sprache aber zielten sie ausdrücklich auf die Ausbreitung zeitgenössischen Wissens und auf ein darauf gegründetes neues jüdisches Selbstbewusstsein. Besonders erfolgreich war Tobias Cohens Ma ase Tovija, das zuerst 1707 in Ve˙ Auflagen erfuhr und zudem nedig erschien, dort bis 1768 drei weitere 76 1721 in Jessnitz publiziert wurde. Die lebhafte Produktion hebräischer Werke im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit bestätigt, dass das Hebräische nie eine tote Sprache war. Als Schriftsprache war es stets präsent – und keineswegs als erstarrte Formation, sondern als Sprache, die durch rabbinische, literarische und wissenschaftliche Schreibpraktiken und die damit verbundenen Innovationen immer wieder neu in Bewegung versetzt und verändert wurde. Auf besonders interessante Weise zeigt sich die Flexibilität der Sprache in den Sammlungen rabbinischer Rechtsgutachten, der Responsenliteratur. Hier dient das Hebräische der Beschreibung alltäglicher Orte, Gegenstände und Situationen und bisweilen auch der Para74 Mendelssohn rezensiert diese Berliner Ausgabe in Nicolais Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste (JubA 4, 185–188) und kommt auf die Fabeln noch einmal im 30. der Briefe, die neueste Litteratur betreffend zu sprechen (JubA 5.1, 36–41); an beiden Orten bietet er zudem Übersetzungen einzelner Fabeln. Sechs seiner Übersetzungen wurden nachgedruckt in Friedländer: Lesebuch für jüdische Kinder, 16–22. 75 Zu den astronomischen Kapiteln in Moses Isserles’ Torat ha- ola und zu der selbständigen astronomischen Abhandlung Nehmad we-na im seines Schülers David ˙ Gans, 1743 in Jessnitz gedruckt, s. Ruderman: Jewish Thought and Scientific Discovery, 68–87. 76 Ebd., 229–255.
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Verteilung und Vervielfältigung
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phrasierung jiddischer Aussagen, zugleich aber der halachischen Erörterung und Entscheidungsfindung – Tradierung und Aktualisierung der Sprache erscheinen eng miteinander verknüpft.77 Präsent war das Hebräische auch als Sprache privater, geschäftlicher oder anderer offizieller Korrespondenz. Briefsteller boten Muster des stilvollen Umgangs miteinander, der sprachlich und moralisch korrekten Kommunikation.78 Der Gebrauch biblischer Wendungen zur Einleitung eines Briefes mit dem Lob des Adressaten und zum Abschluss des Schreibens war Bestandteil des Unterrichts für Knaben. Ein hübsches Beispiel bieten die Prager Privatbriefe aus dem Jahr 1619. Jesaia, der offenbar noch kindliche Schreiber, Sohn des Chanoch und Enkel des Prager Gemeindevorstehers Israel Hamerschlag, beginnt mit einer langen hebräischen Einleitung. Sie macht die Hälfte des Schreibens – und dessen Glanzstück und hauptsächlichen Inhalt – aus:79 Mit Gottes Hilfe! [An den,] an dessen Seele meine Seele geknüpft ist, eine Krone Gottes auf sein Haupt, prächtig und schön sein Gewand, in Ewigkeit erlösche nicht sein Feuer und gehe seine Sonne nicht unter, mein geliebter Bruder, mein Freund, mein Liebling, die Krone meines Hauptes, würdig und herrlich in jeder Art von Herrlichkeit und Gestalt, gottesfürchtig, weise und verständig, den würdigen Herrn Ahron, es behüte ihn sein Fels und Erlöser, und an deine Frau, die züchtige und würdige gleich unserer Mutter Sara, ein Biederweib wie Esther und Abigail, Frau Frumet soll leben. Vor allen Dingen meine Gesundheit, möge sie euch niemals mangeln.
In den noch folgenden jiddischen Zeilen weiß Jesaia kaum mehr etwas zu berichten. Dies trifft auf die älteren Schreibenden nicht zu, doch das Muster, dem Jesaia folgt, ist auch bei ihnen zu beobachten: auf die hebräische Einleitung folgt, sobald es um den Zweck des Schreibens geht, der Wechsel ins Jiddische. Dieser wird manchmal sogar ausdrück-
77 Dies zeigt sich schon im frühen Mittelalter, vgl. etwa Mattes: Jüdisches Alltagsleben, 205, Anm. 335 u. 337, zur Einführung hebräischer Begriffe für die Dachrinne und Rinntraufe. Zum Einfluss des Jiddischen auf die Syntax und Idiomatik der Responsensprache s. Betzer: Al zerufim bi-leschon ha-schu″t. 78 Das erste hebräische Beispiel des Genres ist der anonym erschienene Briefsteller Iggerot schlomim, Augsburg 1534. Noch 150 Jahre später besaßen viele Vorschläge dieses Büchleins offenbar Gültigkeit, denn für den ebenfalls anonym erschienenen Briefsteller Leschon arummim, Frankfurt / Oder 1691, wurden nicht nur die meisten Themen übernommen, sondern auch das Kapitel über die Einleitungsformeln. 79 alh uwmw abi alu uwa hbki al Õluyl uwubl rudhu duh uwar ly 'iqla rzn uwpnb hruwq iwpn rwa h`b r`rhk ñubnu Õkxu Õiqla ari wia rautu rap inim lkb raupmhu rqih iwar trjy ibibx ididi ixa 'uha auh aht ituairb d`r 'itw jmurp trm ligibaku rtsak lix twa hrw unmiak hrqihu hyunch Ótwalu uci ñrha [.] rsuxmu yinm ahi lb Õkl – Landau / Wachstein (Hg.): Jüdische Privatbriefe, Nr. 4; zu
diesem Brief vgl. auch die Einleitung, ebd., XXI. (Die Übersetzung wurde geringfügig modifiziert.)
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Heilige Sprache
lich vermerkt, so in einem Brief des Chanoch ben Isak an seinen Oheim: »Ferner sei euch kund in geläufiger Sprache [ . . .]«.80 Die Verteilung der Sprachen, des Hebräischen und Jiddischen, im Hinblick auf die Schreibenden und die Gegenstände des Schreibens zeigt sich in den Prager Briefen besonders nuanciert. Nur wenige sind ganz in hebräischer Sprache verfasst. In einem zweiten Brief richtet Chanoch ben Isak an seinen künftigen Schwiegervater die dringende Bitte, ihm doch mitzuteilen, wo er sich aufhalte, ob in Nikolsburg oder Wien, damit die Hochzeit bald stattfinden könne. Das formale Verhältnis zwischen Verfasser und Adressat, die ernste Situation und das Feierliche der Angelegenheit, um die es ging, dürften die Wahl des Hebräischen als Sprache, die der Würde der Personen und des Augenblicks angemessen war, nahegelegt haben.81 In dem Brief Schlomos, des Sohnes des Nikolsburger Oberrabbiners Chajim und der Malka, Nichte des Moses Isserles, an seine Eltern erscheint das Hebräische hingegen vor allem als Bestätigung eines Bildungsideals, das Eltern und Sohn verbindet. Ein kurzes getrenntes Schreiben an die Mutter ist auf Jiddisch verfasst.82 Auch der Brief Jakob Pribrams an seinen Sohn Mordechai, einen Gelehrten und Dichter, kann als Ausdruck des geteilten sprachlichen und kulturellen Wissens gelten.83 Wie sehr das Hebräische selbst unter denen, die es beruflich gebrauchten, eine Sprache blieb, die besondere Anstrengung verlangte, zeigen zwei Briefe des Prager Gemeindeschreibers Moses ben Isak. Ein hebräischer Brief ist im Namen der Prager Gemeinde an Abraham Flesch gerichtet und betrifft das Lösegeld für ein in Gefangenschaft geratenes Gemeindemitglied. Der offizielle Charakter des Schreibens und der Wunsch, den Inhalt vor den Augen Unbefugter möglichst zu schützen, dürften hier die Wahl des Hebräischen begründet haben. In dem Begleitbrief an Löb Ippen, der sich mit der Bitte um Lösegeld an die Prager Gemeinde gewandt hatte, schreibt Moses ben Isak hingegen nach den hebräischen Eingangsformeln ein Jiddisch mit starker hebräischer Komponente, und der flüssige Stil deutet darauf hin, dass ihm dies bedeutend leichter fiel.84 Die Prager Briefe zeigen, dass das Hebräische auch jenseits rabbinischer, wissenschaftlicher oder literarischer Texte einen festen Ort hatte, dass es in der privaten schriftlichen Kommunikation gebräuchlich war – zumindest zu Beginn des 17. Jahrhunderts und in der urbanen Umge80 81 82 83 84
.[. . . ] hlilq ñuwlb Õkl yudi buw – Ebd., Nr. 15.
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
Nr. Nr. Nr. Nr.
16. 17. 22. 43 u. 44.
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Verteilung und Vervielfältigung
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bung der Verfasser der Briefe. Doch andererseits war der Raum, den es einnahm, deutlich begrenzt. Nur wenige und besondere Gegenstände wurden hebräisch verhandelt; nur wenige Personen verfügten über genügend Sprachkenntnisse, um einen Brief vollständig auf Hebräisch schreiben zu können; meist findet sich das Hebräische nur in den Einleitungs- und Schlussformeln; und die Frauen schrieben untereinander oder an männliche Familienangehörige ebenso wie die Männer, wenn sie an Frauen schrieben, in jiddischer Sprache. Als Schriftsprache blieb das Hebräische vornehmlich die Angelegenheit einer kleinen, aber kreativen Gruppe von Schriftstellern – von Rabbinern, Dichtern und Gelehrten der weltlichen Wissenschaften. War das Hebräische auch eine gesprochene Sprache? Es gibt kaum Anhaltspunkte dafür. Selbst in der Jeschiva war die Sprache der mündlichen Diskussionen das Jiddische, und selbst im Gottesdienst wurde von loshn koydesh ins Jiddische gewechselt, sobald die improvisierende mündliche Rede begann. Nur eine Predigt in der Umgangssprache war allen Hörenden verständlich, und nur in dieser Sprache dürfte der Vortragende imstande gewesen sein, sich durch gewandte und ausdrucksstarke Rede ihrer Aufmerksamkeit zu versichern. Vermutlich konnte das Hebräische aber als Lingua franca dienen, wo Sprecher des Jiddischen auf solche trafen, die der jiddischen Sprache nicht mächtig waren: wandernde Jeschiva-Studenten oder Kaufleute dürften sich hin und wieder auf Hebräisch verständigt haben. Was die Kaufleute betrifft, so erscheint ein mehrsprachiges Wörterbuch aus dem 17. Jahrhundert interessant. Nathan Neta Hannover, berühmt geworden durch Jewen mezula, seine Chronik der Pogrome während Chmielnickis Kosaken-Aufstand (1648–1649), ist der Verfasser des Büchleins Safa berura, das 1660 in Prag erschien. Es ist in vier Kolumnen unterteilt: neben leschon ha-qodesch stehen die Entsprechungen in leschon Aschkenaz, leschon Itali a und leschon Latina.85 Das Wörterbuch setzt ˙ das dem Himmel˙ gewidmet ist – Scha ar hamit einem Kapitel ein, schamajim we-khol ascher al ha-schamajim we-ha-jored mimmennu – und mit el (»Gott«) beginnt, doch bringt es anschließend vor allem die Bezeichnungen für verschiedene Erscheinungen der Natur. Der Wortschatz, dem sich das zweite Kapitel zuwendet – Scha ar tora we-khol ha-schajjakhim el ha-tora – bezieht sich vor allem auf das religiöse Schrifttum. Die weiteren Kapitel – Pflanzen, Früchte, Tiere, der menschliche Körper, Kleidung, Edelsteine, Waffen und Handwerk, die Völker und ihre Herrscher – zeigen aber deutlich, dass das Wörterbuch
85 Der Ausgabe Amsterdam 1701 wurde von Jakob ben Ze ev das Französische hinzugefügt (s. Steinschneider: Bibliographisches Handbuch, Nr. 801).
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Heilige Sprache
vor allem für die profane Kommunikation geschaffen wurde. Das 16. Kapitel ist ausdrücklich dem Handel und dem Reisen gewidmet und bietet nicht nur einzelne Vokabeln, sondern kurze, sehr interessante Dialoge. Dort finden sich als aufeinander folgende Einträge diese Sätze:86 yn sics aiuuqal Õuugnil Õjqnsrqs qnh aicsyn aics agy
auj aiis yralrpa ajns auugnyl as ñun aia as aia ais
ujwnyq wad ñdir Óarpw giliih jin ñyq Óia wiuu Óia aui
ydui hta rbdl wduqh ñuwl ydui inia ydui ina ñk
Was lässt sich aus diesem kleinen Dialog mit zwei Antworten auf eine Frage schließen? Da die meisten Einträge des Kapitels stark situationsbezogen wirken, ist nicht auszuschließen, dass Frage und Antwort auf reale Gesprächssituationen hinweisen. Womöglich gab es Momente, in denen es sinnvoll schien, sich darüber zu verständigen, ob die heilige Sprache als Lingua franca herangezogen werden könnte. Die erste Antwort allerdings verneint, so dass der Eindruck entsteht, dass ein negativer eher als ein positiver Bescheid typisch war. Die positive Antwort aber deutet darauf hin, dass es nicht völlig ausgeschlossen war, auf einer Messe zwei Kaufleuten zu begegnen, deren Gespräch auf Hebräisch vonstatten ging. Von dieser nur schwer zu belegenden Szene abgesehen, ist Weinreichs Bestimmung des Hebräischen als Sprache, die sich vom Jiddischen vor allem dadurch unterscheidet, dass sie allein schriftlich existiert, leicht nachzuvollziehen. Das Hebräische überschritt wirklich kaum je die Schwelle zur gesprochenen Sprache. Seine Funktion als Sprache der Schrift und des Schreibens entschied darüber, wem die Sprache zugänglich war, wer in ihr adressiert werden konnte und was in ihr mitgeteilt wurde. Doch lässt sich vom Jiddischen nicht ohne weiteres behaupten, dass es sich mit ihm umgekehrt und komplementär verhielt. Das Jiddische war durchaus nicht auf dieselbe Weise durch die mündliche Rede geprägt wie das Hebräische durch die Schrift. Die umfangreiche jiddische Schriftliteratur war keineswegs nur ein sekundäres Feld der Sprache und eine aus der mündlichen Rede abgeleitete Form, sondern ein zweiter Modus, in dem sich die Sprache entfaltete.87 86 »Kannst du die heilige Sprache sprechen? – Nein, das kann ich nicht. – Ja, das kann ich.« Hannover: Safa berura, Kap. 16 [unpaginiert]. 87 Das schriftliche gehorchte nicht denselben Regeln wie das mündliche Jiddisch. Vor allem unterschied es sich durch eine gewisse Standardisierung. Während in die mündliche Rede durchaus Wörter aus den nichtjüdischen Landessprachen einflossen, fanden sie in die Schriftsprache keinen Eingang. Das schriftliche Jiddisch sollte von Amsterdam bis Krakau, von Venedig bis Wilna verständlich sein. Dies änderte sich um 1800. Als im westaschkenasischen Raum die Landessprachen das Westjiddische verdrängten und
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Eingrenzung oder Ausbreitung sprachlichen Wissens?
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Während das Hebräische also ohne Schwierigkeiten die Grenzen zwischen Heilig und Profan überquerte, doch kaum je die Schwelle zum Mündlichen überschritt, entfaltete sich das Jiddische um 1700 durchaus mündlich wie schriftlich, überquerte aber eine andere Schwelle nicht – die zur »heiligen Sprache«. Als Sprache der Vermittlung und Übersetzungssprache erhielt es kaum zu überschätzende Bedeutung, doch es konnte das Hebräische als heilige Sprache nicht verdrängen. Insofern ist Weinreich zu widersprechen: Für die Funktion, Dynamik der Ausbreitung und Deutung des Jiddischen blieb seine Bestimmung als profane Sprache signifikant. Während es nichts gab, das von vornherein ausgeschlossen gewesen wäre aus der Welt der Dinge, die in hebräischer Sprache artikuliert werden konnten, gab es doch »Dinge«, die sich der jiddischen Sprache entzogen: Tora und öffentliches Gebet. Auf erstaunliche Weise behauptet sich die Regel, die Abajje formulierte, über Jahrhunderte hinweg: »man dürfe profane Dinge in der Heiligensprache sprechen, jedoch keine heiligen Dinge in einer profanen Sprache«.
4. Eingrenzung oder Ausbreitung sprachlichen Wissens? Das Bild unbeschwerter Produktivität in verschiedenen Sprachen und selbstbewusster Zweisprachigkeit, das sich demjenigen bietet, der den Blick über die Vielfalt jüdischer Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit schweifen lässt, verändert sich, sobald einige Texte aus dem ausgehenden 16. Jahrhundert, dem 17. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zur Sprachsituation in Aschkenas ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Neben Überlegungen zur Notwendigkeit, Texte der Tradition, die in der heiligen Sprache verfasst sind, in profaner Sprache zu vermitteln, tritt die Reflexion über die Unzulänglichkeiten der Vermittlung, über ihr Misslingen, über die Vermittlung, die gar nicht erst stattfindet, und die Folgen – die Gefahr des Traditionszerfalls. Die Gründe dafür, dass sich die Sicht auf die aschkenasischen Sprachverhältnisse wandelte, sind vielfältig. Veränderungen zeigten sich sicher in der Sprachpraxis selbst. Doch in Anbetracht dessen, dass auf der einen Seite elementare Kenntnisse des Hebräischen noch immer weit verbreitet gewesen sein dürften – vermittelt durch Unterricht, die litur-
neue Zentren des Buchdrucks in Ostaschkenas entstanden, wurde die Schriftsprache dem gesprochenen Ostjiddisch grammatisch, syntaktisch und lexikalisch angeglichen, s. Shmeruk: Sifrut jidisch, 72 f. und 175–187.
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Heilige Sprache
gische Praxis und die hebräische Komponente des Jiddischen, und auf der anderen Seite die Tendenz zur Einsprachigkeit nicht neu war, stellt sich die Frage, warum diese Verhältnisse zunehmend problematisch erschienen. Eine erste Antwort ergibt sich aus der frühneuzeitlichen Umgestaltung rabbinischen Wissens. Die Einführung des Buchdrucks brachte zwei folgenreiche Entwicklungen mit sich: Josef Karos Schulhan arukh (Venedig 1565), ein sefardisches halachisches Kompendium, ˙fand Verbreitung in Aschkenas, veränderte Studium und Lehre und provozierte eine Kontroverse, die auch den Nutzen hebräischer Sprachkenntnisse betraf; zugleich gewannen jiddische Texte zur Traditionsvermittlung immer größere Bedeutung. Eine zweite Antwort führt nach Amsterdam, Hamburg und London, wo seit dem frühen 17. Jahrhundert sefardische und aschkenasische Gemeinden nebeneinander existierten und aschkenasische Gelehrte neue Modelle jüdischer Zweisprachigkeit, des Unterrichts und der Traditionsvermittlung entdeckten. Die sefardischen Gemeinden kultivierten das Hebräische ebenso wie die iberischen Sprachen, Portugiesisch und Spanisch. Die Amsterdamer Gemeinde unterhielt eine wohlgeordnete Schule, die Unterricht in sechs Klassen anbot, ihren Lehrern ein festes Gehalt gewährte und über eine umfangreiche Bibliothek verfügte. Schließlich entstanden in Amsterdam spanische Übersetzungen der Schrift und des Gebetbuches sowie neue hebräische Grammatiken.88 So wurde die Präsenz sefardischer Traditionen in Aschkenas zum Kristallisationspunkt eines Problems und zugleich zum Ausgangspunkt für einige Ansätze zu seiner Lösung.89 Eine dritte Antwort lässt sich in den Entwicklungen der Reformationszeit erkennen. Die protestantische Betonung des Bibelstudiums, der Alltagssprache, laizistischen Wissens und individueller Frömmigkeit war Herausforderung und Anregung zugleich.90 Die hier angedeuteten Entwicklungen sind zweifellos miteinander verflochten, doch rückt im Folgenden der erste der drei skizzierten Aspekte in den Vordergrund, da sich ausgehend von Veränderungen hinsichtlich der Methoden und Institutionen der Überlieferung am genauesten verfolgen lässt, wie aufklärerische Überlegungen zu den Sprachen in Aschkenas auf frühneuzeitliche Entwicklungen antworteten.
88 Vgl. Bass: Sifte jeschenim, Haqdamat ha-mehabber, fol. 8a-b; Bodian: Hebrews of ˙ the Portuguese Nation, 103–110, und zum 18. Jahrhundert Zwiep: Jewish Enlightenment Reconsidered. 89 Vgl. Schatz: Returning to Sepharad, 265–267. 90 Detaillierte und aufschlussreiche Untersuchungen bieten Ben-Sasson: The Reformation in Contemporary Jewish Eyes, 295–316, Kleinberger: Ha-mahschava ha-ped˙ agogit und Kulka: Ha-reqa ha-histori. ˙
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Eingrenzung oder Ausbreitung sprachlichen Wissens?
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Kritik an den sprachlichen Verhältnissen findet sich in zwei ganz unterschiedlichen Textsorten: in hebräischen Texten zur Reform des Unterrichts und in überwiegend jiddischen Texten, die Übersetzungen aus dem Hebräischen ins Jiddische einleiten und legitimieren. Die hebräischen Schriften konzentrieren sich auf das Problem, das entsteht, wenn in Elementarschulen und Jeschivot die hebräische Sprache und die in ihr verfassten Grundtexte, Pentateuch und Mischna, nicht mehr studiert werden. Sie wenden sich den religiösen und sozialen Folgen solcher Entwicklungen zu und richten sich zunächst vor allem an die Gelehrten. Dagegen sind die jiddischen Texte an eine breite Leserschaft, an »Ungelehrte«, Männer wie Frauen, adressiert. Sie stellen dar, wie sich der Verlust sprachlichen und religiösen Wissens unter ihnen auswirkt, und befassen sich mit dem Jiddischen als möglicher Sprache der Traditionsvermittlung.
Tora und Grammatik Die blühende rabbinische und allgemeine Gelehrsamkeit im östlichen und mittleren Aschkenas zwischen 1550 und 1620, zu deren wichtigsten Repräsentanten Salomon Luria, Moses Isserles, Jehuda Löw ben Bezalel, David Gans, Ephraim Luntschitz, Mordechai Jaffe und Jomtov Lipman Heller zählten, zeigte sich auf ganz unterschiedlichen Gebieten, vor allem aber in halachischen, homiletischen, historiographischen und astronomischen Texten.91 In etlichen Werken zeichnete sich zudem ein eigener Zweig rabbinischer Polemik ab. Sie entzündete sich an der Art und Weise, in der zunächst an den Jeschivot in Polen, dann aber auch im mittleren und westlichen Aschkenas der Pilpul gepflegt wurde, stellte davon ausgehend das gesamte Unterrichtswesen der Zeit, die Institutionen und Methoden der Traditionsbildung und -vermittlung, in Frage und mündete schließlich in Vorschläge zu ihrer Reform. Schwierigkeiten mit der Ordnung jüdischer Zweisprachigkeit wurden vor allem in diesem polemischen Zusammenhang artikuliert.92 91 Zur Debatte um die Frage, ob diese Epoche im größeren Zusammenhang aschkenasischer Geschichte und jüdischer transregionaler Kontakte eher die Wiederkehr einer typischen rationalistischen Orientierung oder eine atypische Erscheinung darstellt, s. Ruderman: Jewish Thought and Scientific Discovery, 55–68. 92 Bereits im 15. Jahrhundert, aber in einem anderen, stark durch die christlich-jüdische Polemik geprägten Kontext, kritisierten die provenzalischen Gelehrten Isaak Natan und Profiat Duran die Vernachlässigung des Studiums der Schrift. Sie beklagten die geringen Hebräisch- und Bibelkenntnisse unter Juden wie Christen und wiesen auf die zahlreichen Irrtümer der Vulgata hin. Isaak Natan gab die erste hebräische Konkordanz zum Tanakh heraus, Me ir netiv, die sowohl als Hilfsmittel im Disput mit Christen gedacht war, als auch zur Beförderung des Studiums der Schrift dienen sollte.
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Eine neue Ordnung des Lernens Seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts verbreitete sich der Pilpul, der als Methode zur Auslegung des Talmud und zur halachischen Entscheidungsfindung im sefardischen Judentum entwickelt worden war, auch in Aschkenas. Die auf feinen Unterscheidungen und scharfsinniger Kombinatorik beruhende Analyse halachischer Texte sollte es ermöglichen, Entscheidungen nach den Erfordernissen der Gegenwart zu treffen und sie mit der Tradition in Einklang zu bringen. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts bildete sich in den aschkenasischen Jeschivot zudem ein neuer fester Bestandteil des Unterrichts heraus, der mit dem Pilpul als Methode in Verbindung stand, doch nicht mit ihm identisch war: der Jeschiva-Pilpul (pilpul ha-jeschiva).93 Es handelte sich um den vornehmsten Teil des Unterrichts, eine zeitlich begrenzte Phase, in der unter dem Vorsitz des Jeschiva-Hauptes ausgehend von einem Talmudabschnitt halachische Schwierigkeiten (quschjot) und mögliche Antworten (teruzim) unter den Studenten erörtert wurden, ohne dass diese selbst ein˙ Buch zur Hand genommen hätten. Abschließend trug der Rabbiner die Halacha vor. Der Jeschiva-Pilpul diente im Allgemeinen nicht dem Erlernen des Textes und der halachischen Entscheidungsfindung, sondern allein der Entwicklung der analytischen Fertigkeiten der Studierenden. Das Studium der aschkenasischen halachischen Überlieferung und des Brauchtums war anderen Phasen des Unterrichts vorbehalten. Im 16. Jahrhundert aber kam es in den aschkenasischen Jeschivot zu einer grundlegenden Umgestaltung – an die Stelle des pilpul ha-jeschiva trat der pilpul ha-hilluqim. Dieser bildete nicht allein den vornehmsten ˙ Vgl. Ben-Shalom: Qonqordanzjot la-miqra. – Ebenfalls schon im 15. Jahrhundert ent˙ stand, anonym verfasst, das Moralbuch Orhot zaddiqim, das eine scharfe Kritik des ˙ ˙der die Unterrichtsformen an den JePilpul enthält und einem französischen Autor, schivot Italiens befremdet zur Kenntnis nimmt, zugeschrieben wird, s. Reiner: Temurot, 10, Anm. 2. Dafür, dass das Buch schon im 16. Jahrhundert im Kontext der sich herausbildenden Polemik gegen den Pilpul rezipiert wurde, spricht, dass Salomon Lurias Kritik des Pilpul von einem seiner Anhänger aus einem Manuskript in ein Exemplar des Orhot zaddiqim kopiert wurde; s. Reiner: Temurot, 69. Das Werk wurde zum ersten Mal˙ in ˙Frankfurt a. M. im Jahr 1687 gedruckt, die Wulffsche Presse brachte eine weitere hebräische Ausgabe 1718 in Köthen heraus. In seiner jiddischen Version wurde das Buch zu einem der populärsten Moralbücher des 17. und 18. Jahrhunderts, genannt »Sefer middes« oder »Sittenbuch«, vgl. Turniansky: Yiddish Literature in Frankfurt am Main, 274. 93 Zum Kontext und der Herausbildung des Streits um den Pilpul s. Dimitrovsky: Al derekh ha-pilpul und Reiner: Temurot. Die folgende kurze Darstellung des pilpul hajeschiva, des pilpul ha-hilluqim und der Motive für die Polemik gegen den Pilpul stützt ˙ sich auf diese beiden grundlegenden Studien.
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Eingrenzung oder Ausbreitung sprachlichen Wissens?
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Teil des Unterrichts, sondern nahm auch die meiste Zeit desselben in Anspruch. Während der pilpul ha-jeschiva eine mündliche Phase darstellte, rein analytisch ausgerichtet war und auf keine neue halachische Entscheidung zielte, ging es beim pilpul ha-hilluqim um eine textorientierte exegetische Diskussion. Die Elemente˙ des Pilpul, quschjot und teruzim, wurden nun so verkettet, dass eine neue Synthese entstand, ein ˙ Prozess, der als hilluq bezeichnet wurde und auf eine halachische Ent˙ scheidung hinauslief, auf einen neuen kohärenten und autoritativen Text, den hiddusch. ˙ Die Stärkung des pilpul ha-hilluqim in den Jeschivot lässt sich auf ˙ zwei einschneidende Veränderungen zurückführen. Im 16. Jahrhundert verbreitete sich, vor allem vermittelt durch die italienischen Druckhäuser, die sefardische halachische Literatur auch nördlich der Alpen. Besonders wirksam wurde Josef Karos Schulhan arukh, der zusammen ˙ mit den Glossen des Moses Isserles, Ha-mappa, zuerst gedruckt in Krakau im Jahr 1571, zum halachischen Standardwerk auch in Aschkenas avancierte. Die Kenntnis der mittelalterlichen aschkenasischen Überlieferungen war nun nicht mehr erforderlich: Karo und Isserles machten das einschlägige Wissen zugänglich.94 Um sich in der halachischen Diskussion auszuzeichnen, bedurfte es neuer Fähigkeiten. An die Stelle des genauen und umfassenden Wissens von den Texten trat nun der pilpul ha-hilluqim. Hinzu kam, dass die Stellung des Rabbiners sich ˙ veränderte. Während er bis zum Ausgang des Mittelalters institutionell und finanziell selbständig agiert und eigenständig eine Jeschiva geleitet hatte, wurde er seit Beginn der Frühen Neuzeit immer häufiger zum Angestellten der Gemeinde. Da aber viele kleinere Gemeinden keine Jeschiva unterhielten, musste nicht mehr jeder Rabbiner über das halachische Wissen verfügen, das erforderlich war, um selbst zum Rabbinat auszubilden. Das Lernen der Halacha mit Hilfe des Schulhan arukh, die ˙ zentrale Bedeutung, die infolgedessen die von der Kenntnis primärer Texte unabhängige und nicht mehr am einfachen Wortsinn orientierte Auslegung des Talmud, der pilpul ha-hilluqim, im Curriculum der Je˙ schiva erhalten konnte, und die veränderten Anforderungen an die Rabbiner in den Gemeinden lösten einen Konflikt aus, der sich als »Streit um den Pilpul« bis ins 18. Jahrhundert hinein fortsetzte. Salomon Luria (1510–1573), herausragender Rabbiner des 16. Jahrhunderts, ab 1555 in Lublin amtierend, war der erste, dessen scharfe Kritik an den hier skizzierten Veränderungen überliefert wurde.95 In 94
Vgl. Zimmels: Ashkenazim and Sephardim, 48–58; Davis: The Reception of the Shulhan arukh; Reiner: The Attitude of Ashkenazi Society to the New Science, 599– 601; ˙ders.: The Ashkenazi E´lite, 89–98. 95 Reiner: Temurot, 68–76.
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seinem Kommentar zum Talmudtraktat Bava qamma weist er in anschaulicher Weise auf die Gefahren für die Integrität der Gemeinden und die Kontinuität der Überlieferung hin, die sich in seinen Augen aus der Verbindung zwischen Pilpul, religiöser Autorität und materieller Absicherung ergaben. Über die Rabbiner seiner Zeit schreibt er:96 Obgleich sie keine Weisheit erworben haben, herrschen sie über die Öffentlichkeit und die Gelehrten. Sie legen in Bann, erteilen Erlaubnis und ordinieren Schüler, die nicht bei ihnen gelernt haben – [wenn] sie nur Bezahlung und Entgelt erhalten, und um ihrer Annehmlichkeiten willen predigen sie alle Tage. Weh uns wegen dieser Schande, denn die Verlässlichen und Verständigen sind nicht mehr auffindbar. Selbst wenn sich bisweilen ein Mann von großem Scharfsinn und von Gelehrsamkeit findet, sind doch jedenfalls seine Taten verdorben, und er predigt nicht um der Sache und um der Erfüllung der Gebote willen, sondern nur, um den Pilpul zu verlängern und seinen Ruf zu mehren.
Hier entsteht das Bild des Pilpul als willkürlicher und interessegeleiteter Auslegungsmethode, die größeres Ansehen genießt als die Kenntnis der halachischen Überlieferung und ein moralisch integrer Lebenswandel. Als Folge des Pilpul bezeichnet Luria den Zerfall der Tradition, ihrer Institutionen und ihrer Autorität. Da die neuen Rabbiner dem Band zwischen Lehrern und Schülern keine Bedeutung mehr beimessen, reißt die Kette zwischen den Generationen, und da sie nicht auf die Einheit von Lehre und Handeln achten, verlieren sie ihre Glaubwürdigkeit. Luria interessiert sich nicht für die materiellen Gründe der Entwicklungen, die er solchermaßen beschreibt. Gewiss entsprang der Wunsch, sich öffentlich auszuzeichnen, auch der Notwendigkeit, den eigenen Unterhalt zu sichern. Wo die Gemeinden ihren Rabbinern, Assessoren und Lehrern nur geringe Gehälter zahlen konnten, ergab sich die Notwendigkeit, Rechtsgutachten und -entscheide honorieren zu lassen.97 Dies wiederum konnte den Verdacht nähren, dass halachische Entscheidungen käuflich seien.98 Wie problematisch die Honorarpraxis tatsächlich bisweilen erschien, zeigt eine Passage aus Glikls Memoiren.99 Glikl 96 alw Õidimltl 'ikimsmu 'ritmu Õimirxmu .Õidmulh lyu rubich ly Õirrutwmh Õh k`g hmkx tiinq albu iydui hnuma iwnaw .hwub htual unl iua .Õimih lk 'iwrud ñtanhlu Õilumgu Õimulwt Õilbqm qr .Õhinpl udml qr .tucmh Õiiqlu hmwl wrud uniau Õilqluqm uiwym m`m .ñdmlu ludg úirx Õimypl acmn Õa ulipau .udban tyd .Õwh ldglu luplph Óirahl – Luria: Jam schel Schlomo, fol. 116a (Bava qamma 8,58). Das
Werk wurde 1723 in Jessnitz wieder gedruckt (s. Freudenthal: Aus der Heimat Mendelssohns, 256). Vgl. auch Güdemann: Quellenschriften, 50; Güdemanns Anthologie bietet bis heute – ungeachtet der etwas freien Übersetzungen – eine ausgezeichnete Einführung in die voraufklärerische Literatur zur Reform des jüdischen Unterrichts. 97 Vgl. dazu Sorkin: The Transformation of German Jewry, 48 f. 98 Glikl: Zikhronot, 122, dt.: Memoiren, 58. 99 Glikls Geschichte wird im selben Zusammenhang auch von Sorkin zitiert: The Transformation of German Jewry, 49.
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schildert darin einen Rechtsstreit, in den ihr Schwiegervater verwickelt war. Dieser hatte seine Tochter Jente mit Salman Gans verheiratet und geriet mit dessen Stiefvater in einen Streit über entwendete Wertpapiere. Beiden Gegnern gelang es während der jahrelangen Auseinandersetzung, einander wechselseitig ins Gefängnis zu bringen. Glikl kommentiert den Abschluss der Geschichte mit beißendem Spott: Endlich haben sich Leute dazwischen gelegt und haben Rabbiner und Richter von Frankfurt kommen lassen, die sollten die Sache ausmachen. Nun, die sind gekommen und haben lange Zeit da zugebracht, haben aber doch nichts ausgerichtet, sondern nur viel Geld davongetragen. Einer von den Richtern ist einer von den Gelnhäusern gewesen; der hat sich von dem Geld, das er davon mitgebracht hat, ein schönes Zimmer machen lassen und darin eine Gans malen. Und bei der Gans sind wohl drei oder vier Rabbiner mit Harzkappen gestanden und ein jeder hat der Gans eine Feder ausgerissen.
Mag sein, dass Glikls böser Einfall mit der gerupften Gans sich nicht nur der Situation selbst verdankt, sondern auch durch die polemischen Darstellungen, die sie lesen oder hören konnte, motiviert und legitimiert war. Er zeigt aber immerhin, dass die Verhältnisse wirklich zu erheblicher Respektlosigkeit und einiger Erbitterung Anlass geben konnten. Lurias Kritik des Pilpul kursierte zunächst nur in Abschriften.100 Sein Kommentar zu Bava qamma wurde erst 1616 in Prag gedruckt, nachdem dort der Widerstand gegen den Pilpul in Jehuda Löw ben Bezalel (1525–1609) seinen mächtigsten Repräsentanten gefunden hatte. Als erster verknüpfte Jehuda Löw die Polemik gegen den Pilpul mit einer grundlegenden Kritik der Unterrichtsordnung in Aschkenas und Vorschlägen zu ihrer Reform. Gegen den Pilpul, der auch in seinen Augen den Zerfall der Lehre und die Abkehr von einer ihr gemäßen Praxis mit sich brachte, setzte er das Bild der Einheit der Tora. Sie wird als ein Gebäude vorgestellt, das im Unterricht immer wieder – Stein um Stein – errichtet werden muss.101 So forderte Jehuda Löw eine Ordnung des Studiums, die das Alter der Knaben berücksichtigt, es ihnen ermöglicht, ihr Wissen stufenweise zu erweitern,102 und zum Talmud erst hinführt,
100
Siehe Reiner: Temurot, 65 f. und 68–74. Jehuda Löw ben Bezalel: Gur arje ha-schalem, Bd. 8, 123. 102 Jehuda Löws Vorschläge für eine neue Ordnung des Unterrichts sind sicher nicht unabhängig von den pädagogischen Initiativen der Böhmischen Brüder entstanden. Otto Dov Kulka wies darauf hin, dass es direkte Kontakte zwischen Jehuda Löw und Jan Blahoslav (1523–1571) gegeben haben könnte, als ersterer Rabbiner in Nikolsburg war (1553–1573) und letzterer gleichzeitig im nahen Eybenschütz wirkte, wo er 1558 eine Schule gründete, die Berühmtheit erlangte, und eine Bibelübersetzung vorbereitete. Kulka: Ha-reqa ha-histori, 299–306. Von einer gewissen gedanklichen Nähe zeugt u. a. ˙ 101
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nachdem die Schüler gründliche Kenntnisse des Pentateuch und der Mischna erworben haben:103 In den früheren Generationen war es so, dass Grenzen und Zeiten festgesetzt wurden, um den Knaben seinem Alter entsprechend zu unterrichten: mit fünf Jahren zur Schrift, mit zehn zur Mischna, mit fünfzehn zum Talmud [Avot 5,21], und dies alles, um dem Knaben [nur] die Last aufzuerlegen, die er seiner Natur nach tragen kann. Denn was seiner Natur entspricht, nimmt der Knabe auf [ ...]. Wenn er sich danach aufmacht, um sich den Verhandlungen im [gelehrten] Streit um die Tora zuzuwenden, ist seine Hand gestärkt, er besitzt jedes Werkzeug des Streites um die Tora [ ...].
Jehuda Löw fordert – gegen die Orientierung am Schulhan arukh – die Rückkehr zu den Grundtexten der Halacha und zählt˙ zu diesen auch den Pentateuch. Knapp und anschaulich schildert er, wie das Studium der Schrift gewöhnlich vonstattenging:104 [S]ie unterrichten den Knaben in der Schrift, [lehren ihn aber nur] wenig von jedem Wochenabschnitt, unterbrechen und beginnen in der folgenden Woche mit dem nächsten Wochenabschnitt, [lehren auch] davon ein wenig, und wenn das Jahr um ist, weiß der Knabe nichts, denn er hat das Frühere vergessen, und so wiederholt es sich im zweiten Jahr. Weil aber der Verstand des Knaben gewachsen ist – lehrt er ihn mehr als im Jahr zuvor, und so im dritten, vierten und in weiteren Jahren, doch wenn [der Knabe] aus der Schrift übersetzt, gelingt es ihm nicht, und wie er kam, so geht er wieder.
Als Gegenmittel beschreibt Jehuda Löw die Einführung ständiger Wiederholung: »Was aber Grundlage und Ziel von allem ist, und wovon alles abhängt, ist die Wiederholung des Gelernten, bis sie das, was sie gelernt haben, ganz beherrschen [ .. .], dann wird die Lehre wiederhergestellt, wie sie in Israel zuvor bestand, vor gar nicht langer Zeit.«105 Der
ein Detail aus Blahoslavs Vorrede zu seiner Grammatik, das hier nicht unerwähnt bleiben soll: Blahoslav erörtert den Zusammenhang zwischen Sprache und Nation, indem er auf Nehemia 13,24 verweist und die Sprachsituation der Tschechen mit der der Juden, wie sie Nehemia beklagt, vergleicht. Siehe ebd., 293, Anm. 56.
103 ñb hnwml rwy ñb arqml wmx ñb ,ukrd ip ly ryn Ónxl Õityu tulubg untn Õinuwarh turudb hih rwak brql udi brqi Õa Ók rxau .[. . . ] uybj ipl taw lkui rwak awm rynl ttl idk lkhu ,(ak,h tuba) dumltl u`j .[. . . ] hrut lw htmxlm ilk lkm alm ,ul br uidi za ,hrut lw htmxlmb ñtilu awil – Jehuda Löw ben
Bezalel: Gur arje ha-schalem, Bd. 8, 123 f. (zu Dtn 6,7); vgl. Güdemann: Quellenschriften, 59. 104 ,hwrph ñm tcq hinw hwrp trxa yubwb ñilixtmu ,ñiqispmu ,hwrph ñm jym arqm rynh Õy Õidmlm umy dmlm ± rtui rynh lkww inpmu .hinwh hnwb ruzxi zau ,Õinuwarh unmm xkwn ik ,rynh ydi al hnwh tulkbu utaici ,udib awi al hmuam ,arqmh ñm qtyn rwaku ,Õinw hmku tiyibru tiwilw ñku ,dqtwa dmlw hmm rtui .utaibk – Jehuda Löw ben Bezalel: Gur arje ha-schalem, Bd. 8, 125, ebenso in ders.:
Derusch al ha-tora, fol. 30a; vgl. Güdemann: Quellenschriften, 59.
105 hnwuil hrut ruzxt izau [. . . ] Õdib Õdumlt hihiw dy dumlh trzx auh ub iult lkhu lkh tilktu dusi auh .Óura ñmzm alu larwib Õinpl rwak – Jehuda Löw ben Bezalel: Derusch al ha-tora, fol. 30b.
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altersgemäße Unterricht und die stete Wiederholung sollten zu den Grundlagen einer neuen Ordnung des Studiums werden. Legitimiert wurde sie, indem der pilpul ha-hilluqim als polnische Neuerung in den ˙ 106 aschkenasischen Jeschivot beschrieben und die Reform des Unterrichts als Rückkehr zur richtigen Ordnung früherer Generationen propagiert wurde. Von Prag aus trugen Schüler und Anhänger des Salomon Luria und des Jehuda Löw ben Bezalel die Polemik gegen den Pilpul über Generationen hinweg bis ins 18. Jahrhundert. Mit der Verbreitung der hebräischen und jiddischen ethischen Literatur (Musarliteratur) gewann die Kritik des Pilpul ein immer weiteres Echo, und die Gleichsetzung polnischer rabbinischer Gelehrsamkeit mit dem Pilpul wurde zum Gemeinplatz. Simcha Assaf sprach von einer »Reformbewegung« des »Maharal und seiner Anhänger« im Hinblick auf den Elementarunterricht107 und verwies auf die Vielzahl der pädagogischen Schriften, die zwischen 1580 und 1680 verfasst, neu herausgegeben oder approbiert wurden. Als Erfolg des Jehuda Löw bezeichnete er die Vereine zum Studium der Mischna, die an etlichen Orten gegründet wurden.108 Elchanan Reiner ist vorsichtiger. Er zieht es vor, von einem »Prager Kreis« (hug Prag) zu sprechen und weist darauf hin, dass der Pilpul sich ˙ der Prager Kritik in Polen entfaltete und die Angriffe gegen ungeachtet ihn dort kaum ein Echo fanden.109 David Sorkin unterstreicht schließlich die Bedeutung der »Prager Schule« für die Herausbildung der jüdischen Aufklärung – sie vermochte Veränderungen von innen heraus zu legitimieren.110 Tatsächlich greifen die Maskilim des 18. Jahrhunderts die Forderung, den Unterricht neu zu gestalten, auf und präsentieren sie in neuen Kontexten und mit neuen Zielen. So umfasst Sefat emet, der knappe Aufruf zur Reform des Unterrichts, den Isaak Euchel 1782 den Königsberger Gemeindeältesten vorlegte, zwölf Seiten – und besteht zu einem Drittel aus Mahnungen und Anweisungen, die Jehuda Löw ben Bezalels und Jesaja Horowitz’ Schriften entnommen sind.111 Dagegen tendierte Naphtali Herz Wessely dazu, die Forderung nach einer neuen, dem Alter der Knaben angepassten Unterrichtsordnung als aufklärerische Erfindung darzustellen, obgleich auch in seinen Überlegungen die
106
So etwa bei David Gans und Jehuda Löw, s. Reiner: Temurot, 47–53 und 61 f. Assaf: Meqorot, Bd. 1, X. 108 Ebd., XXVI. 109 Reiner: Temurot, 64 f. Auch Mordechai Breuer verweist auf den Erfolg des Pilpul ungeachtet der Prager Kritik, s. Breuer: Kreativität und Traditionsgebundenheit. 110 Sorkin: The Berlin Haskalah, 40. 111 Darunter finden sich auch etliche der hier zitierten Auszüge, s. Euchel: Sefat emet, 4–9, dt.: Sefat emet – Plan, 159–161. 107
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Prager Vorschläge deutlich wiederzuerkennen sind.112 Sorkins Hinweis auf die »Prager Schule« ist daher zu modifizieren: Nicht alle Maskilim waren an der Konstruktion einer alternativen innerjüdischen Tradition interessiert – für manche von ihnen war eine Rhetorik der Zäsur und des Neuanfangs wichtiger als eine Rhetorik der Kontinuität. Wie aber stand es mit dem Studium des Hebräischen? Was bedeuteten die Aufforderung zum Lernen des Pentateuch und der Mischna und die Empfehlung ständiger Wiederholung für die Kenntnis der hebräischen Sprache? Das Studium des Hebräischen Die symbolische Bedeutung des Hebräischen konnte auf verschiedene Weisen anerkannt und bekräftigt werden. So fand Raschis Hinweis darauf, dass die Väter von den Rabbinen aufgefordert werden, ihre Söhne, sobald sie zu sprechen beginnen, einen Vers der Tora und einen Vers des Schma zu lehren und mit ihnen Hebräisch zu sprechen, ein bemerkenswertes Echo, und die erste Berührung der kleinen Jungen mit dem hebräischen Alphabet vollzog sich als feierliches Ritual.113 In den Schriften Jehuda Löws zeichnet sich jedoch schon ab, was auch später für die Musarliteratur typisch ist – an systematischem Sprachunterricht und gründlichen grammatischen Kenntnissen des Hebräischen bestand wenig Interesse. Selbst wenn der Unterricht in Pentateuch und Mischna ausdrücklich befürwortet wurde, ergab sich daraus nicht zwingend die Aufforderung zu einem intensiveren Studium des Hebräischen.114 Ein gutes Beispiel für die Wertung hebräischer Sprachkenntnisse bietet Ephraim Luntschitz (1550–1619), ein Schüler des Salomon Luria. Auch er befürwortet den geordneten Unterricht, der den Knaben zu112
Eliav: Ha-hinnukh ha-jehudi, 50. ˙ Raschi zu Dtn 11,19; bSuk 42a; Sifre al Sefer Devarim, ed. Finkelstein, Eqev 11, § 46, 104; Karo: Shulhan arukh, Jore de a, § 245, 5 und Isserles zu § 245, 8; Jehuda Löw ˙ ha-schalem, Bd. 2, 303 (zu Gen 42,23). Vgl auch das hebräischben Bezalel: Gur arje jiddisch-italienische Glossar Sefer Dibber tov (Krakau 1590), dessen Autor in der Einleitung betont, das Kind solle, sobald es zu sprechen beginnt, »beide Sprachen« lernen, die »heilige Sprache« und Jiddisch, und »daneben« womöglich auch noch »Welsch«, s. Turniansky / Timm / Rosenzweig: Yiddish in Italia, 154. Zu den Bräuchen, die den allerersten Unterricht im Hebräischen begleiteten, s. Marcus: Rituals of Childhood, 18–46. 114 Zum ambivalenten Verhältnis der Rabbiner des 17. Jahrhunderts gegenüber grammatischem Wissen vgl. Elbaums nuancierte Eröterung: Petihut we-histaggerut, 260–273. ˙ Fishman wies bereits auf Vorbehalte gegenüber grammatischen Studien unter den reformorientierten Rabbinern hin, während Kleinberger das Interesse am Hebräischen betonte, jedoch zwischen allgemeinen Äußerungen zur Bedeutung der Sprache und konkreten Überlegungen zum Unterricht nicht differenzierte, s. Fishman: The History of Jewish Education, 109–111, und Kleinberger: Ha-mahschava ha-pedagogit, 145–148. ˙ 113
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nächst den Pentateuch vermittelt, und zwar so, dass sie den hibbur, den ˙ Zusammenhang der Verse verstehen, ehe sie zu Mischna und Talmud übergehen. Dort aber, wo er den herkömmlichen Unterricht kritisiert, bei dem die Knaben stets nur wenige Verse des jeweiligen Wochenabschnitts lernen und nach einer Woche zum nächsten Wochenabschnitt springen, heißt es:115 Auch wenn der Knabe in der Schrift unterrichtet wurde, so bestand doch der Toraunterricht nur in Sprachunterricht. Sie lernten nur, die heilige Sprache zu sprechen, denn er wird nichts erinnern als die Bedeutung der Worte, dann aber hätten sie mit ihm die heilige Sprache auch ohne irgendein Buch lernen können, so wie man jede andere fremde Sprache lehrt. Ich wundere mich, wie man den Unterricht in der Sprache allein als Unterricht in der Tora bezeichnen kann, ist denn dies Tora?
Deutlicher lässt es sich kaum zum Ausdruck bringen: Hebräischkenntnisse sind für sich genommen nicht wertvoller als Kenntnisse irgendeiner anderen »fremden Sprache« (leschon lo ez). Das Hebräische verwandelt sich, wenn es nicht dem Verständnis der Tora gilt, in eine Fremdsprache. Sprachunterricht und Toraunterricht stehen in einem spannungsreichen Verhältnis. Das Studium der Sprache hält vom Studium der Tora ab, schiebt es auf, kann es verhindern. Sprachunterricht erscheint nur legitim, wenn er im Toraunterricht aufgeht, wenn also die Lektüre der Tora zur Lektüre der Sprache wird und die Sprache sich durch die Tora erschließt – nicht umgekehrt. Da Luntschitz solche Überlegungen andeutet, obwohl er nur das Erlernen einzelner hebräischer Wörter im Auge hat, liegt der Schluss nahe, dass grammatische Studien womöglich erst recht problematisch schienen. Und wirklich gibt es im 17. Jahrhundert nur wenige und meist knappe Äußerungen, die den Grammatikunterricht befürworten. Jesaja Horowitz, auch er ein Schüler des Salomon Luria und einige Jahre lang Rabbiner in Frankfurt am Main, das neben Prag und Posen zu einem Zentrum der Reformer wurde, forderte in seinem weithin gelesenen und verehrten Werk Schne luhot ha-brit zum Erlernen der Grammatik auf. Im Zusam˙ Erklärung des richtigen Unterrichts im Pentateuch menhang seiner schreibt er über den Schüler: »[ . ..] auch ist es gut, wenn er noch als Knabe einen großen Teil der Grammatik lernt, denn dann sind [ihre Regeln] eingeschrieben auf der Tafel seines Herzens und er wird sie für immer im Gedächtnis behalten.«116 Schabbetai Scheftel Horowitz (ca. 1590–1660), 115 ñuwlb rbdl udmlw dbl ñuwlh dumil ala hrut lw dumil Õuw auhh dumilb ñia arqm dmlw hm lku Õdal ñidmlmw Órdk rps Õuw alb wduqh ñuwlh umy 'umll luki hihu tulmh wurip Õa ik rukzi al ik wduqh .hrut uz iku hrut lw dumil dbl ñuwlh dumill arqi Óia ina 'mtu zyul ñuwl raw – Luntschitz: Amude
schesch, fol. 6b ( Amud ha-tora); vgl. Güdemann: Quellenschriften, 79.
116 .dimt ñurkzl Õhu ,ubl xul ly Õibutk Õh zaw ,ryn uduyb dumll buj qudqdh tmkxm ludg qlx Õgu – Horowitz: Schne luhot ha-brit, Massekhet Schavu ot, zit. nach Assaf: Meqorot, Bd. 1, 65. ˙
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Heilige Sprache
sein Sohn, äußert sich ähnlich in seinem »Testament«: »Lernt mit ihnen auch Grammatik, so dass sie die Personen, Einzahl und Mehrzahl, männliches und weibliches Geschlecht kennen.«117 Selbst diese Bemerkungen sind jedoch nicht unbedingt als Ermunterung zu vertieften grammatischen Studien zu verstehen. Bekannt wurde der Kommentar des Jair Chajjim Bacharach (1638–1702) zur »Wissenschaft von der Grammatik«: [E]in Weniges ist schön und notwendig für jeden, der Verstand besitzt [ ...], doch alle Tage mit den verschiedenen Wortstämmen zu verbringen, die die Grammatiker erwähnen, ist unnötig. [ ...] Niemand sollte seine Zeit damit vergeuden, alle Zweige und Verzweigungen der Zweige und Ausnahmen von den Regeln zu lernen, denn deren Kenntnis bringt viel Verwirrung und wenig Nutzen.118
Bacharachs Zurückhaltung und seine leicht resignierte Reaktion auf die unüberschaubare Zahl grammatischer Regeln (und Ausnahmen) dürften weit verbreitet gewesen sein.119 Im Jahr 1627 schrieb der Prager Rabbiner Jomtov Lipmann Heller (1579–1654) eine kurze Haskama für die Grammatik Siah Jizhaq des ˙ er˙ ˙die VerIsaak ben Samuel ha-Levi aus Posen (1580 – ca. 1646), in der nachlässigung der Wissenschaft von der Grammatik bedauert und das Verdienst des Buches um diejenigen, die »im Finstern der Sprache wandeln«, hervorhebt:120 117 .[. . . ] tubqnlu Õirkzl Õibru dixi rtsn xkun unibiu uydiw qudqd Õhmy udmlt Õg – Horowitz: Zawwa at Rabbi Scheftel, § 27, 314; vgl. Güdemann: Quellenschriften, 126. 118
[. . . ] .Órucl alw uluk 'iqdqdmh urkzw Õinuw 'iniinbb uimi tulbl lba [. . . ] tyd rb lkl xrkumu hpi tuyim jymu hkubmh tubr Õtyidi ik Õhb ñmzh tulbl ñia Õillkh ñm Õiacuihu Õipiys ipiysu Õipiys lk ydil .tlyuth – Bacharach: Hawwot Ja ir, Haschmatot zu fol. 116b.
119 ˙ zuzustimmen, wenn er den meisten Reformern eine ähnliche Jacob Elbaum ist Haltung zuschreibt: Petihut we-histaggerut, 265, Anm. 61. Interessant ist hier auch ˙ Isserles’ Briefwechsel über grammatische Korrektheit beim Salomon Lurias und Moses Schreiben. Während Luria seinen Adressaten auffordert, Grammatik statt Philosophie zu studieren und sich um richtiges Hebräisch zu bemühen, verweist Isserles gelassen darauf, dass er nie Grammatik gelernt habe, beim Schreiben auf den Sinn und nicht die Buchstaben der Worte achte, zudem keinen Schreiber beschäftige und überdies in Lurias eigenem Brief ebenfalls Fehler gefunden habe, s. Isserles: Sche elot u-teschuvot, 26 f. und 34 f. Der Schriftwechsel zeigt nicht nur eine gewisse Unbekümmertheit im Umgang mit der Grammatik, sondern auch, dass Aussagen zur Bedeutung grammatischer Studien nicht unbedingt Rückschlüsse auf die tatsächlich vorhandenen Kenntnisse und Interessen zulassen: Isserles hatte grammatische Werke gelesen, und Luntschitz wurde von einem sefardischen Autor wegen seines »reinen« Stils gelobt, während Luria und Jaffe wegen ihrer Nachlässigkeiten getadelt werden konnten. Vgl. ebd., 34, Anm. 31, und 35; Elbaum: Petihut we-histaggerut, 265, Anm. 62, und 266; Reif: Shabbethai Sofer, 48. 120 aih hnluk˙ ly tinmz hmudq dcm aihw úa .hbuzyu hwujr wudqh uninuwl qudqd tmkx hmkxh ik tuihl
rrh`mk úulah urbx umw (qxci xiw) rpsh hz ituarb ñkbu .hbuly himx tibb rwa hlkk aih alh z`ky .hbuwx .tuwyl ty itrma .unuwl Ówxb Ólht rwal tyd tualml .[. . . ] iulh laumw rr`hmkb qxci – Isaak ben
Samuel ha-Levi: Siah Jizhaq, Haskama. Heller selbst verfasste unter dem Titel Leqet ˙ ˙˙ ˙
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Die Wissenschaft, die Wissenschaft von der Grammatik unserer heiligen Sprache, ist zerstört und verlassen; obgleich sie älter und bedeutender als alle anderen ist, gleicht sie einer Braut, die im Haus ihrer Schwiegereltern elend ist. Als ich daher das Buch Siah Jizhaq sah, das der Vornehme, unser ˙ ˙ unseres geehrten Lehrers und geehrter Lehrer und Meister Isaak,˙ Sohn Meisters Samuel ha-Levi verfasste [ ...], um mit Wissen zu erfüllen den, der im Finstern der Sprache wandelt, sagte ich, Zeit ist’s zu handeln.
Der Autor der Grammatik selbst begnügt sich nicht – wie Jomtov Lipman Heller – mit Worten der Klage, sondern übt entschiedene Kritik am sorglosen Umgang mit der Grammatik bei Gelehrten wie Ungelehrten:121 Da wir wegen unserer Sünden unter die Völker zerstreut wurden, gibt es nicht viele, die, wenn sie die heilige Sprache sprechen oder lesen, klug genug sind, auf die Grammatik zu achten, sei es auf die Buchstaben und Punkte, sei es auf die Anordnung und Korrektheit der Sprache. Viele aus dem Volk ignorieren die Unterschiede zwischen den Personen, Einzahl und Mehrzahl, männlich und weiblich, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Selbst unter den Gelehrten finden sich solche, die unsicher sind und über die Grammatik mancher Wörter – ihren Stamm und ihre Bedeutung – nicht Bescheid wissen, und die Bücher, die über diese Wissenschaft verfasst wurden, liegen in einem Winkel.
Isaak ben Samuel beklagt zudem, dass grammatisches Wissen nicht viel gilt und nicht dazu taugt, sich Ansehen zu verschaffen. Der Erwerb grammatischer Kenntnisse erscheint als mühselige und keineswegs lohnenswerte Angelegenheit.122 Zugleich zeigt sich in seinem Werk eine Haltung zur grammatischen Überlieferung, die eine gewisse Verwandtschaft zeigt mit Schabbetai Sofers zeitgenössischen Ansätzen und Schlomo Salman Hanaus frühaufklärerischer Grammatikschreibung, wenngleich sie – im Gegensatz zu diesen – methodisch noch nicht explizit reflektiert, erklärt und begründet wird.123 Der Autor des Siah Jizhaq hat die ihm zugänglichen Texte ˙ ˙ ˙ und stellenweise ist er von ihnen gesichtet, geprüft, bisweilen ergänzt, abgewichen, um dem Urteil seines Verstandes zu folgen, das sich auf »klare Beweise« stützt:124 schoschanim eine (ungedruckte) Abhandlung über Samuel Archevoltis sprach- und stilkundliches Werk Arugat ha-bosem; vgl. auch Davis: Yom-Tov Lipmann Heller, 120 f. 121 tuituab ñh wdqh ñuwlb Õtairqu Õrubdb qdqdl umkxi Õibr al Õimyh ñib unrzptn unitunuyb ik ñyiu tubru hdixi Õibru dixi rtsnu xkn ñib lidbhl Õbl ly umiwi al ñumhh ñm Õibru unuqtu ñuwlh rudsb ñh tuduqnu hmh ñinyu ñinb hziam Õqudqd ydil tubit tcqb 'iaiqb Õniau Õiqpusm wi Õidmulh ñm Õgu dity huh rby .tiuz ñrqb Õixnum uz hmkxb uidxi urbx rwa Õirpshu – Ebd., fol. 5a.
122 Eine Feststellung, die auch in anderen grammatischen Einleitungen auftaucht, so noch Ende des 17. Jahrhunderts bei Jehuda Neumark, s. u., 138. 123 Vgl. unten, 152.
124 irubx rbxl itab .rwpah ipk rucqbu tumlwb qudqdh tydl Õiuatmh Õidimlth ñucr qiphl idk hnhu umk inpl itiar rwa Õinurxau Õinumdq 'irpsb Õiacmnh qudqdh ijrpu illk irqy lk ub lulklu hzlh ñjqh 'himudu ruxb 'ila 'r irpsu qm`rl Ólhm rpsu Õiduml ñuwl rpsu Õiwrwhu lulkmb qd`rh irpsu y`barh irps
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Heilige Sprache Um nun aber den Schülern zu Gefallen zu sein, die mit der Grammatik so vollständig und so kurz wie möglich bekannt werden möchten, habe ich dieses kleine Werk verfasst. Es umfasst alle Grundsätze, Regeln und Einzelheiten der Grammatik, wie sie sich in den Büchern der Früheren und Späteren finden, die ich sah, so in den Büchern Abraham ibn Esras und in den Büchern David Kimchis, im Mikhlol und im Sefer ha-schoraschim, im Sefer Leschon limmudim und im Sefer Mahalakh des Moses Kimchi, in den Büchern des Elia Bachur und ihresgleichen; ich habe ihre Bücher eingesehen und auf ihren Worten das Fundament für dieses kleine Werk errichtet, und ich habe sie ergänzt, indem ich den Grund für jede Sache angegeben habe, wo er in ihren Büchern nicht erklärt war, und an manchen Stellen habe ich Einwände gegen einige der Verfasser vorgebracht, und ich schrieb, wie es meiner bescheidenen Meinung nach sich verhält, klar und wahrhaftig, auf der Grundlage klarer Beweise [...].
Isaak ben Samuels Verhältnis zur grammatischen Tradierung verbindet Respekt mit Kritik, die sich auf die Klarheit und Wahrheit des eigenen Urteils beruft und ihm mehr zutraut als der autorisierten Überlieferung. Diese Haltung dürfte der Grammatik den Ruf eingetragen haben, die »erste rationelle Grammatik der Neuzeit« zu sein.125 Jiddische Einführungen in die hebräische Grammatik Den spärlichen Bemerkungen, die als Ermunterung zur Vermittlung hebräischer Grammatik gelten durften, entsprach die Situation auf dem Buchmarkt. Grammatiken, zumal für Unterrichtszwecke, waren rar. Erste kurze grammatische Erläuterungen für den Unterricht finden sich in der hebräisch-jiddischen Konkordanz Mirkevet ha-mischne, zuerst 1534 in Krakau erschienen und dort 1584 nachgedruckt. Im Anhang zur Vorrede werden die grammatischen Funktionen der elf Servilbuchstaben, der otijot meschartim, erläutert, und in der Vorrede selbst bringt der Autor seine Sorge um die Grammatikkenntnisse der Knaben zum Ausdruck:126 rabtn al rwa rbd lkl hbsu Õyj ttl Õhily itpsuhu hzh ñjq rubx dusi Õhirbd ly itinbu Õhirpsb itunibu .[. . . ] 'ururb tuiar xkm tmau rurb d`ylnh ipk itbtku Õirbxmhm tcq ly itgwh tumuqm tcqbu Õhirpsb umyj
– Isaak ben Samuel: Siah Jizhaq, fol. 5a. 125 ˙˙ So Steinschneider: ˙Bibliographisches Handbuch, Nr. 979, 69 mit Verweis auf Luzzatto: Prolegomeni ad una grammatica ragionata della lingua ebraica, 60.
126 sd ñua Óphl ñua Õibr uc dixi ñua Óphl ñua rtsn uc xkun ñua Óp Æ hl ñua hb Æqn uc rkz ñiia ñkm ñgiblyz id rdua zia wruw sauu juh jgiicig ña jin ñua tuluyp ñniiq uc juh jniuuig jin jngui ria ñia ñignui id ñm zd sla jmuq ñua rkz ñua dity ñua rby ñikm ad id tuitua ila wjiud úiua jgiicig ña Óia bh Õurad wumw rdua ñiz tuluyp ry zib ñplyhib ñam rniimig rjnrylig ñua ñiia Óiz gam jim ad [. . . ] Õibr ñua dixi ñua rtsn ñua xkun ñua hb Æqn .[. . . ] jnryl qudqd rp Æ s jkyr ñiia – Mirkevet ha-mischne, Haqdama [unpaginiert]. Erklärt
werden die elf Buchstaben Alef, Nun, Schin, Jud, Lamed, He, Kaf, Waw, Taw, Bet, Mem. Die Buchstaben ergeben in dieser Reihenfolge die Worte ANSCHEL ha-kotev
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Diese machen männlich zu weiblich und umgekehrt, zweite zu dritter Person und umgekehrt, Einzahl zu Mehrzahl und umgekehrt, und dies alles, weil man die Kinder nicht in ihrer Jugend schon daran gewöhnt hat, die [Servil-]Buchstaben zu kennen, und ihnen nicht gezeigt hat, was die Wurzel und was Konjugation oder Präposition ist. Darum habe ich auf Deutsch alle Buchstaben erklärt, mit denen Vergangenheit und Gegenwart, männlich und weiblich, zweite und dritte Person, Einzahl und Mehrzahl gebildet werden [...]; damit kann sich der ungelehrte, gemeine Mann behelfen, bis er aus einem richtigen Grammatikbuch lernen kann [...].
Der Verfasser der Mirkevet ha-mischne lässt keinen Zweifel daran, dass die Lektüre eines »richtigen« Grammatikbuchs selbstverständlich und unumgänglich ist. Schon die Benutzung der Konkordanz erfordert ja eine gewisse Einsicht in die Formenlehre der hebräischen Sprache. Deutlicher noch fällt die Kritik an der Vernachlässigung grammatischer Kenntnisse in der Vorrede zum Lehrbuch Be er Mosche des Moses Saertels aus, einem ausführlichen Glossar zum Pentateuch, das 1604 /05 in Prag erschien und in den folgenden Jahrzehnten zahlreiche Nachdrucke erfuhr.127 In der Vorrede heißt es: »Ich und meinesgleichen sind in den Grammatikbüchern nicht bewandert. Dies ist, wegen unserer Sünden, eine schwere Pein. Wir schaffen kein richtiges Fundament. Jeder Vater sollte sein Kind aus einem Grammatikbuch lernen lassen [ . . .].«128 Saertels’ Worten folgten Taten. In der zweiten Auflage des Be er Mosche findet sich der grammatische Anhang aus Mirkevet hamischne, sprachlich leicht bearbeitet, ebenfalls als Anhang zur Vorrede.129 Im Jahre 1597 wurde in Prag die erste hebräische Grammatik gedruckt, die nicht als wissenschaftliches Werk, sondern als kleines Lehrbuch angelegt war, das Büchlein Em ha-jeled, »Mutter des Kindes«, des Posener Lehrers Josef ben Elchanan Heilbronn. Da Siah Jizhaq dreißig ˙ ˙ ˙ bis zum Jahre später nicht für Kinder konzipiert war, blieb Em ha-jeled Ende des 17. Jahrhunderts in der aschkenasischen Welt das einzige
M[irkevet ha-mischne] (»Anschel, der Mirkevet ha-mischne schreibt«] und dürften dazu geführt haben, dass das Buch seit dem Krakauer Nachdruck von 1584 auch als Sefer schel Rabbi Anschel tradiert wurde. 127 Chava Turniansky zählt bis 1725 mehr als 25 Gesamt- und Teilausgaben des Werks, s. Turniansky: Al sifrut didaqtit, 170. Dem Be er Mosche ließ Saertels ein nicht weniger erfolgreiches Glossar, Leqah ˙tov, zu Propheten und Hagiographen folgen. 128 jk Æyr jin rim zd .ñiip iryuuw ñiia t Æ un˙uy˙b zia wad .ñiiz qudqdh irp Æ sb iqb jin ñk Æiilg wniim 'nua Óia .[. . . ] jniq ñiiz qudqdh rp Æ s ñnryl ñsul jlaz rijau rk Æiljia ñiia .jnurg ñyd ñilyjw – Saertel[s]: Be er
Mosche, Haqdama [unpaginiert]. 129 Saertel[s]: Be er Mosche (21622). Auf die beiden grammatischen Anhänge macht Turniansky aufmerksam, ohne allerdings zu erwähnen, dass sie nahezu identisch sind, s. Turniansky: Al sifrut didaqtit, 167, Anm. 12. ˙
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grammatische Lehrbuch für den Elementarunterricht. Im Jahr 1702 wurde es noch einmal nachgedruckt.130 Zeit und Ort des Erscheinens von Em ha-jeled verweisen nicht von ungefähr auf Jehuda Löw ben Bezalels publizistische Aktivität zur Verbesserung des Unterrichts. Wirklich wird auf dem Titelblatt erwähnt, dass dieses kleine Werk, das »siebenjährige Jungen« darin unterweisen soll, »deutlich zu sprechen und die heilige Sprache nach der Grammatik der Sprache zu schreiben«, auf das Drängen des Jehuda Löw und des Mordechai Jaffe (ca. 1530–1612) hin zum Druck befördert wurde. Von Jehuda Löw liegt allerdings keine formale Approbation vor, stattdessen ist ein Ausspruch von ihm der Grammatik gewissermaßen als Motto vorangestellt: »Wahr ist es und gewiss: es ist ein großes Gebot, dass ein jeder seinen Sohn die heilige Sprache lehren und in der Grammatik der Sprache unterrichten soll, wie es unsere Vorfahren, ihr Andenken zum Segen, taten.«131 Es folgt die Haskama Mordechai Jaffes, die ihn bereits als Rabbiner in Posen ausweist, d. h. als Nachfolger Jehuda Löws, der im selben Jahr nach Prag zurückgekehrt war. Jaffe betont, dass es ein neues und kluges Unterfangen sei, schon die Knaben durch ein solches Büchlein mit der Grammatik der Sprache vertraut zu machen. Der Autor selbst beschreibt sein Lehrbuch in einem kurzen Vorwort zurückhaltend als Hilfsmittel zum Erlernen der korrekten Wortformen. Er rechtfertigt es, indem er darauf hinweist, dass die unverständigen und unschuldigen Worte im Mund eines Kindes zunächst richtig geformt werden müssen, ehe es mit wachsendem Verstand ihre Erklärung aufnehmen kann. Einmal deutet Heilbronn auch an, dass grammatische Kenntnisse keine besondere Wertschätzung genießen: Der Knabe soll die grammatischen Lektionen ebenso wiederholen wie das übrige Pensum, selbst wenn es angemessener erscheinen mag, sich anderem, also dem Studium der Tora selbst, zuzuwenden. Ein Zeichen dafür, dass die Ansprüche an den Grammatikunterricht im Verlauf des 17. Jahrhunderts stiegen, ist die Entscheidung, die knappe grammatische Einführung, die mit der zweiten Auflage des Be er Mosche gedruckt wurde, in der Prager Ausgabe des Jahres 1669 durch eine ausführlichere Version zu ersetzen. Die neue grammatische »Einleitung«, verfasst von Schabbetai Bass (1641–1718), der einige Jahre später durch seine hebräische Bibliographie Sifte jeschenim und eine genaue 130 Isaak Usiels grammatisches Kompendium Ma ane laschon, das in Amsterdam 1627 und 1710 gedruckt wurde, gehört in den sefardischen Kontext, wovon auch das angehängte hebräisch-spanische Glossar zeugt. Im sefardischen und italienischen Raum wurden im 17. Jahrhundert noch einige weitere Grammatiken publiziert. 131 uninumdq uwyw umk ñuwlh qudqdbu wdqh ñuwl udmll unb ta Õdah ligriw aih hludg hucm ik hnumau tma .l`z – Heilbronn: Em ha-jeled.
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Schilderung des vorbildlichen sefardischen Schulwesens in Amsterdam bekannt wurde, erklärt immer noch vieles auf Jiddisch, enthält aber auch etliche hebräische Passagen. Vorangestellt sind eine hebräische und eine jiddische Vorbemerkung – letztere sei hier fast vollständig zitiert, da sie den vermittelnden, inklusiven und popularisierenden Charakter der Reformbemühungen der »Prager« besonders gut zeigt:132 Hört, was ich sage, ihr werdet mir danken alle Tage. Nehmt dieses wichtige Buch zur Hand, macht euch mit der Vorrede wohlbekannt. Es gibt viele Gelehrte, die die Gemara gut kennen, doch mit der Grammatik nichts anfangen können. Vor allem übersetzen manche Lehrer für die Jungen, was ihnen gerade liegt auf den Zungen. Viele haben mich sehr gebeten: ein Be er Mosche ist vonnöten. So ließ ich [das Buch] wieder drucken – jeder soll eins nehmen! – mit schönen Buchstaben und punktiert mit Fleiß, die Tinte ist gut und das Papier schneeweiß. Auch schöne Regeln sind hinzugekommen, die habe ich zahlreichen Grammatiken entnommen.
Die strengen, doch auch humorvollen Worte der Zurechtweisung und die einladenden sprachlichen Gesten, die andeuten, dass die Lehrer, auch wenn sie nicht immer gut vorbereitet waren, doch als Verbündete galten,133 wichen im 18. Jahrhundert scharfen Worten der Distanzierung und Kritik. Die jiddischen Lehrwerke des 17. und frühen 18. Jahrhunderts und die Lehrer, die sich ihrer noch bedienten, wurden nun als Gegner charakterisiert, die keinen Ort in der Geschichte des allgemeinen Fortschritts des Wissens beanspruchen können. In Jehuda Leib Mindens Vorrede zu seinem Wörterbuch Millim l-eloa heißt es: Sie stützen sich auf den Stab des Verfassers des Melammed siah, des Be er ˙ dass jene Mosche und der anderen Übersetzer. Doch wer wüsste nicht, Autoren an vielen Stellen von dem, was geschrieben steht, abweichen. Auch haben sie die lieblichen Worte unserer Tora zerstört durch ihre stammelnde Rede, die weit entfernt ist von der Sprache der Völker, die wir sprechen, nachdem wir aus unserem Land vertrieben wurden.134 132 Óiia jkm .jnh ryd ñia rps buwx wad ria jmyn .gaj ryiia ly ñqnd rim jryuu ria .gaz iniim uc jryh jrpbu .ñnyz jnqib jin qudqid ñia 'nua .ñnyq luauu turmg wd Õidmul lip ñniiz wy .jnqib luauu hmdqh ryd ñia rab ñiia .ñijyb ryz Óim ñnuj jiil lip liiuu ñun .ñgnuc ryd úiua jmuq aiz wauu :ñgnui aid ñwjiij rp Õidmlm liija 'nua tuitua iniw jim .ñquc qyuua sniia laz rkiljia .ñiqurd ñzal rdiuu sia Óia bah .ñjin ñup sia juj hwm wiua Óia bah id .ñmuqg uc rd ñniiz Õillk iniw Óiua .wiiuu inw ripp wad 'nua jnij ijug Óa .siilp jim jiljnipg .ñmung qudqd irps lip – Saertel[s]: Be er Mosche, zitiert nach der Prager Ausgabe von 1682
[unpaginiert]. (Da sich beim Übersetzen die Reime kaum vermeiden ließen, wurden sie hier ansatzweise nachgebildet.) 133 Vgl. auch Eljakim ben Jakob Melammed Schatz: Melammed siah, Haqdama [un˙ paginiert]. 134
inm uyt Õirbxmh ula ik ydi al imu ,Õimgrtmh rawu hwm rabu xiw dmlm lyb hnq tnywm ly unywiu una rwa Õimyh tpwm Õg hquxrh Õigly ñuwlb Õimiynh unitrut irbd ta utxw Õg ,butkhm hbrh tumuqmb Órd .unicram unilg rwa irxa ,Õirbdm – Minden: Millim l-eloa, Haqdamat ha-mehabber [unpagi-
˙
niert].
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Heilige Sprache
Solche Kritik darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die ersten Ansätze zur Einführung der hebräischen Grammatik in den Unterricht im Zuge der Reformbemühungen der »Prager Schule« gerade den zurückgewiesenen jiddischen Werken zu verdanken waren. Diese bestätigen außerdem, dass die Anregungen der »Prager« nicht nur in ihren eigenen Zirkeln und an den Jeschivot weitergegeben, sondern – etwa durch Lehrer wie Josef ben Elchanan Heilbronn – auch in weitere Kreise hineingetragen wurden.135 Eine christliche Wissenschaft? Noch eine andere Grammatik ist im Umfeld Jehuda Löws entstanden: das handschriftlich überlieferte Werk seines Bruders Chajjim ben Bezalel Friedberg (ca. 1520–1588),136 der Mosche Saertels als Hauslehrer beschäftigt und die Erstellung eines biblischen Glossars angeregt hatte.137 In der Einleitung zu seiner Grammatik fordert Chajjim ben Bezalel mit weit energischeren Worten als Heilbronn zum Hebräischstudium auf. Da er zugleich interessante Auskünfte über die Stellung der hebräischen Grammatik zwischen Juden und Christen gibt, sei er hier recht ausführlich zitiert:138 Denn ich hörte die schreckliche Lästerung ringsum, der Sohn der geschmähten Magd schmäht den Sohn der Herrin, indem er sagt: Diese unglücklichen Juden waren das Volk der einen Sprache von jeher; ihre Sprache, die heilige Sprache, ist ihnen Erbe der Väter; doch nun ist sie bei ihnen und ihren Nachkommen ganz in Vergessenheit geraten. [...] Dieses Volk ist
135 Elchanan Reiner kommt zu dem Ergebnis, dass die Kritik des Pilpul von Lehrern, Kantoren und Predigern aufgegriffen wurde, die außerhalb des institutionellen Rahmens der Jeschiva wirkten, sich mit ihrer Kritik gegen diesen wandten und zusammen mit Grammatikern und Toraschreibern eine »alternative« oder »sekundäre Elite« bildeten, s. Reiner: Temurot, 80, und ders.: A Biography of an Agent of Culture, 243. Für die Grammatiker lässt sich eine solche Opposition allerdings nicht belegen – zu oft finden sich Vertreter der rabbinischen Elite unter ihnen oder auf ihrer Seite. 136 Neben dieser Grammatik verfasste Chajjim ben Bezalel einen Superkommentar zu Raschis Pentateuchkommentar, Be er majim hajjim, der sich ebenfalls grammatischen ˙ gedacht war, doch ungedruckt blieb, s. Fragen widmet und als Handreichung für Lehrer Sherwin: In the Shadows of Greatness, 42 f., und Elbaum: Petihut we-histaggerut, 385. 137 ˙ Saertel[s]: Be er Mosche, Haqdama [unpaginiert].
138 ñh ulah Õillmuah Õiduhih rmal hribgh ñb ta tprxm [. . . ] hpirxh hxpwh ñb bibsm rugm tbd itymw ,irmgl Õyrz ipmu Õhipm xkwn htyu tuba tulxn Õhl hih wudqh ñuwl Õnuwlu Õluy tumim txa hpw Õy uih ñh iryn dumll alw halhu Õuih ñm jpwmu qux taz uwy x`tph ta aucml ualn Õirunsb ukh hcqm hzh Õyh lk [. . . ] úrxm biuah ta iymwku [. . . ] Õhlw dumlth jpwm bcm ta sruhw uydiw ipl wduqh ñuwl qudqd larwi inb auhhd amupb arpy rmal rbd iprux ta Õbiwau uniywpb lluxmh utrut dubk lyu inuq dubk ly itsx údgmu .[. . . ] Õinumdqh Õiirbyh irpsm Õtbngw hm qr uz hmkxm Õkl ñia alh biua – Chajjim ben Bezalel: Ez
hajjim, Haqdama, zit. nach Neubauer, 293; vgl. Güdemann: Quellenschriften, 75. ˙
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ganz mit Blindheit geschlagen; sie wurden es müde, die Öffnung zu suchen, und machten es zu Gesetz und Recht, von nun an die Jünglinge Israels nicht mehr in der Grammatik der heiligen Sprache zu unterrichten, denn sie haben erkannt, dass diese den Bestand ihres talmudischen Rechts angreift [...]. Als ich den Feind so schimpfen und schmähen hörte, war es mir um die Ehre meines Schöpfers und seiner Lehre, die durch unsere Vergehen entheiligt wird, zu tun, und ich erwiderte den Lästerern: Voll Staub ist der Mund jenes Feindes, kennt ihr doch von dieser Wissenschaft nur das, was ihr aus den Büchern der alten Hebräer gestohlen habt [...].
Chajjim ben Bezalel betont, dass Aschkenas eine eigene Tradition des Studiums der hebräischen Grammatik kannte, auch wenn sie nie sehr stark entwickelt war, und legitimiert wie die anderen »Prager« sein Werk als Reaktion auf eine Zeit des Verfalls und als Rückkehr zu einer älteren Linie der Überlieferung.139 Doch diese Erzählung wird begleitet und unterbrochen von einem anderen Motiv: der christlichen Präsenz und ihrer Arroganz. Zu den Gründen, die für die Beschäftigung mit der hebräischen Grammatik sprechen, aber auch den Hindernissen, die ihr entgegenstanden, bemerkt Chajjim ben Bezalel:140 Nach jener langen Zeit aber kam diese dürftige Generation, Waisen von Waisen, und jene Wissenschaft geriet, besonders in Aschkenas, ganz in Vergessenheit [...], so dass wir bei den Fürsten und Völkern Zorn und Verachtung ernten [...]. Ich sprach, Zeit ist’s zu handeln für den Ewigen, und nahm ein wenig von der Zeit meines Studiums, um mich in die Bücher, die die Früheren und auch die Späteren verfasst haben, zu vertiefen; auch wachte ich an den Türen der Völker [...], zog die Speise aus dem Abfall und warf die Schale weg [ ...]. Ich habe mich aufgemacht, [ ...] die Hauptsache dieser Wissenschaft niederzuschreiben im Stil, in dem man verhandelt, und in einer Sprache, die den Knaben Israels geläufig ist. So können sie die Grundsätze dieser Wissenschaft entdecken, denn es ist nicht gut, ihrer ledig zu sein, wegen des Spotts der Völker, wie schon erwähnt, doch auch, weil sie eine wichtige Grundlage und eine Hinführung zur Grundlage der Tora ist [...]. Es wäre aber keineswegs richtig, beim Lernen dieser Wissenschaft lange zu verweilen [...], denn wie der Baum der Frucht vorausgehen muss, so muss diese Wissenschaft der Wissenschaft des Talmud vorausgehen, und wie die Frucht die Hauptsache ist, so ist die Hauptsache in dieser Wissenschaft der Talmud. 139 140
Ebd., 293.
znkwa tnidmb jrpbu irmgl uz hmkx xktwn imtid imti hzh lpwh rudh Õq hlah Õibrh Õimih rxau hzh rbdhu ñ`inb t`unbl ua h`luyp l`uypl l`amwhl ua ñ`imihl yduih unmy ñiau Õimutxk ulah Õirpsh irbdu Õirpsh ipm ñnubthlu idumlm ñmz jym rphlu 'hl tuwyl ty itrma [. . . ] .Õimyhu Õirwh dgn ñuizbu úcq idk ta itqrzu tlusph Óutm lkuah itjqlu Õmcy Õiprxmh Õiugh itld ly itdqw Õg Õinurxah Õgu Õinuwarh urbxw Õhmyu larwi iryn ub ulgruhw ñuwlbu ñtmu awm Órdb uzh hmkxh llk qr butkl [. . . ] itmq innhu .[. . . ] hpilqh ludg dusi auh Õg ik 'ipdk tumuah gyl inpm uzh hmkxm iriry Õda tuih buj al ik uzh hmkxh irqiy ulgi xrkhb irpl Õduq ñliahw umk ik [. . . ] llk ñukn ñia uzh hmkxh dumil ly dimthl ñka .[. . . ] hruth dusil hmdqhu .[. . . ] uz hmkx ñm rqiy dumlth Ók rqiy irphw umku xrkhb dumlth tmkxl tmduq uz hmkx ñk – Ebd., 293 f.
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Heilige Sprache
Im Grunde handelt Chajjim ben Bezalels Einleitung von der Frage, ob die Grammatik der hebräischen Sprache eine christliche oder eine jüdische Wissenschaft sei. Die Frage lag nahe, denn das Studium der Grammatik des Hebräischen war seit der Renaissance vor allem eine Angelegenheit christlicher Hebraisten. Die Überzeugung, dass die hebräischen Bücher der Bibel eine Wahrheit bergen, die auch für Christen gültig ist, die aber durch den Überlieferungsprozess, durch Übersetzung und Kommentare nicht deutlicher hervortritt, sondern verdeckt und verfälscht wird, bewirkte neben anderen, auch missionarischen Motiven, dass christliche Gelehrte die hebräische Sprache lernten und studierten. Unter den jüdischen Lehrern der christlichen Hebraisten wurde neben Elia Delmedigo, dem Lehrer Pico della Mirandolas, und Ovadia Sforno, Lehrer Johannes Reuchlins, vor allem Elia Bachur (Levita) berühmt. Eines seiner bekanntesten Werke war seine Grammatik Sefer ha-bahur. Das Buch ist dem römischen ˙ an dessen Hof Elia Bachur lebte Kardinal Egidio da Viterbo gewidmet, und den er im Hebräischen unterwies. Es wurde zunächst im Jahr 1518 in Rom gedruckt, Sebastian Münster übersetzte es ins Lateinische, eine zweisprachige Ausgabe erschien 1525 in Basel, weitere hebräische und lateinische Ausgaben folgten bis zum Ende des 16. Jahrhunderts, doch danach lässt sich erneut beobachten, dass das Interesse an grammatischem Wissen im 17. Jahrhundert wenig ausgeprägt war – die nächsten Ausgaben erschienen 1767 in Berlin, besorgt von Mordechai Drießen, und 1789 in Prag. In seiner Vorrede erklärt Elia Bachur, dass sich das Werk dem Wunsch des Kardinals verdanke, hebräische Bücher zu lesen:141 Im Jahr 5277 [1516 /17] weckte der Ewige den Geist des gebildeten Mannes, der sich auf jede Wissenschaft versteht [...], des Kardinals Egidio, erhoben sei sein Ruhm, der begehrte, in den Büchern unserer heiligen Sprache Wertvolles zu finden, was aufgezeichnet wird mit Recht. Und mich, seinen Knecht, den Jüngsten unter den Grammatikern, Elia ha-Levi ha-Aschkenasi rief er, und er sprach zu mir [...], verkünde uns die Geheimnisse der Wissenschaft, was die Grammatik der Sprache betrifft, die Dinge, die nicht niedergeschrieben wurden [ ...], es möge den Völkern ein Zeichen sein, die Gojim mögen danach verlangen und darin Ruhe für ihre Seele finden. Als ich seine angenehmen Worte hörte, machte ich mich auf [...] und verfertigte dieses Buch [...] für jeden, der die Wege der heiligen Sprache lernen möchte. 141 ñmwx [. . . ] ydm lkb ñibmu likwm wia xur ta i`i riyh hricil hybwu Õiybwu Õitamu Õipla twmx tnwb uhila Õiqdqdmh riyc udby ina ilu hwudqh unnuwl irpsb rwui butku Ñpx irbd acml wqb rwa h`ri uaidiga btkhl Õiiuaru ubtkn al rwa Õirbdb ñuwlh qudqdb hmkx tumulyt unl an dgh [. . . ] il rmau arq iznkwah iulh uirbd iymwb ihiu .Õwpnl yugrm uacmiu uwrdi Õiug uilau Õimyh snl dumyi Õibrh ub ukzi ñyml rps Õhm rbxu .wdqh ñuwl ikrd dumll abiw im lkl [. . . ] hzh rpsh tuwyl itlauhu [. . . ] itmq umyn ik – Elia Bachur:
Sefer ha-bahur, Haqdamat ha-mehabber [unpaginiert]. ˙ ˙
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Der Zusammenhang zwischen Grammatik und Torastudium spielt hier keine Rolle, von der Schrift ist nicht die Rede. Stattdessen erscheint die Grammatik als Wissenschaft, die jedem den Zugang zur hebräischen Sprache und Literatur eröffnet. Ein neuer wissenschaftlicher Zusammenhang zeichnet sich ab, in dem die hebräische Sprache und die hebräische Literatur unabhängig von religiösen Überlieferungszusammenhängen aufeinander bezogen erscheinen. Während die frühen Hebraisten jüdische Lehrer hatten, führte die Institutionalisierung des Studiums der semitischen oder orientalischen Sprachen an den Universitäten – etwa in Bologna, Paris und Basel – dazu, dass der Kontakt zwischen christlichen Hebraisten und Juden seltener wurde. Der Protestantismus bewirkte eine breite Entfaltung christlicher Hebraistik in Westeuropa, trug aber auch dazu bei, dass das Interesse am Judentum nicht selten mit Gleichgültigkeit oder Feindseligkeit gegenüber Juden einherging.142 Die Arroganz der Christen und die Verlegenheit der Juden, wenn es um die hebräische Sprache ging, wurden zum Topos, der in den Texten früher jüdischer Aufklärer immer wieder auftaucht.143 Doch der Verweis auf die Christen ist älter.144 Chajjim ben Bezalel zitiert ihren Spott und hält ihnen entgegen, dass ihr Wissen von der hebräischen Sprache in Wirklichkeit auf den Forschungen der jüdischen Grammatiker der mitˇ anah, telalterlichen sefardischen Tradition beruhe, auf Hajjugˇ, Ibn G ˙ ˙ Abraham ibn Esra, Kimchi und Profiat Duran. Die Juden weist er hingegen darauf hin, dass grammatische Studien eine Art Propädeutikum für das Studium des Talmud darstellen, und dass sie als solches von den Rabbinen, die den Talmud überlieferten, mit diesem zugleich autorisiert wurden. So heißt es von den früheren Grammatikern:145
142 Zur christlichen und jüdischen Hebraistik der Frühen Neuzeit vgl. insbesondere die Beiträge zu Coudert / Shoulson: Hebraica Veritas?, Burnett: From Christian Hebraism to Jewish Studies, Raz-Krakotzkin: Ha-hebra izm ha-nozri, Zimmer: Jewish and Christian Hebraist Collaboration und Geiger: Das Studium der˙ Hebräischen Sprache. 143 So ausführlich in den Einleitungen zu den Bibelübersetzungen von Blitz und Witzenhausen, s. u. 102, später auch bei Jehuda Neumark und Mordechai Gumpel Schnaber, s. u. 136 und 270. 144 Positiv bezieht sich Mordechai Jaffe in seiner bereits zitierten Haskama zu Em ha-jeled auf das christliche Beispiel: zlh rubixb Õircnh tlyut br itiar – »ich sah den großen Nutzen, den die Christen aus diesem Werk ziehen« – für Jaffe ein Grund, das Buch zu empfehlen, vielleicht aber auch Anlass, zu betonen, dass die Worte des Verfassers »zutreffend« und »wahr« sind. 145
wia wudqh brh ik urmaw dy wudqh ñuwl qudqd jpwm zp inda ly dsuim auhw dumlth twudq uydi Õhu duqnh tmkx ip ly dxa rps duy umy umtx wudqh Õtuxb dumlth ta umtx rwak utbiwi inbu iwa anbr ihla .unmm Õiacuih tudushu wudqh ñuwl qudqdhu – Chajjim ben Bezalel: Ez hajjim, Haqdama, 293; vgl.
Güdemann: Quellenschriften, 75.
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Heilige Sprache Sie wussten von der Heiligkeit des Talmud, und es war ihnen bekannt, dass er auf goldene Fundamente gegründet ist, auf die [Rechts-]Sätze der Grammatik der heiligen Sprache, ja sie sagten, dass der heilige Meister, der Mann Gottes, Rav Aschi und seine Schule damals, als sie den Talmud abschlossen und mit einem heiligen Siegel versahen, auch noch ein Buch abschlossen, das auf der Punktation und Grammatik der heiligen Sprache und den Geheimnissen, die sich daraus ergeben, beruht.
Der Hinweis auf die Geheimnisse, die mit der Grammatik der hebräischen Sprache verknüpft sind, und auf die enge Verbindung zwischen grammatischem und talmudischem Studium ermöglicht es Chajjim ben Bezalel, gegenüber Christen wie Juden darauf zu bestehen, dass die Grammatik des Hebräischen eine Angelegenheit der jüdischen Überlieferung ist.146 Sie bleibt abhängig von der mündlichen Lehre, aufs engste auf sie bezogen und kann darum nie wirklich zu einer christlichen Wissenschaft werden.147 Gerade weil in Chajjim ben Bezalels Einleitung die an Christen und Juden adressierten Argumente dicht nebeneinander stehen, wird deutlich, dass hier zwei Seiten desselben Problems verhandelt werden. Im Hinblick auf die christliche Hebraistik wie das Torastudium geht es um das Verhältnis zwischen einer grammatischen und einer durch die exegetische Tradition vermittelten Erschließung des Textes. Chajjim ben Bezalel reagiert auf eine Situation, in der christliche wie jüdische Gelehrte meinten, dass der grammatische Zugang zur Tora das Studium der Tradition nicht nur aufschieben, sondern auch außer Kraft setzen kann – in den Augen mancher Christen ein Weg zur gereinigten Lehre, in den Augen mancher Juden ein Irrweg, der von der Überlieferung, die die Lektüre des Textes leitet und diszipliniert, wegführt, hin zu unkontrollierter Spekulation.
146 Für die meisten jüdischen Grammatiker des 16. und 17. Jahrhunderts zwischen Lublin, Prag, Posen und Frankfurt – von Chajjim ben Bezalel bis Jehuda Neumark – waren mystische Traditionen integraler Bestandteil dieser Überlieferung. Die Rolle mystischer Texte in ihren grammatischen Erörterungen und die Bedeutung, die sie umgekehrt grammatischem Wissen als Teil kabbalistischer Studien zuschrieben, bedarf weiterer Forschung. Hinweise finden sich u. a. bei Elbaum: Petihut we-histaggerut, ˙ 271 f., und Reif: Shabbethai Sofer, 50–52. 147 Wenn Elia Bachur in der Vorrede zu seiner Grammatik davon spricht, dass Egidio da Viterbo ihn aufgefordert habe, die »Geheimnisse der Wissenschaft« von der Grammatik niederzuschreiben, und er ein Buch verfasst habe, das sie »für jeden« zugänglich macht, mag er nur eine allgemeine Redewendung gebrauchen, doch ist nicht auszuschließen, dass der Kardinal die Verknüpfung grammatischen Wissens mit der jüdischen Überlieferung implizit anerkannte – und Elia Bachur sich geneigt zeigte, die Grammatik aus jüdischen in allgemeine Kontexte des Wissens zu überführen.
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Bezeichnend ist die Art und Weise, in der die Begriffe jesod (»Grundlage«) und iqqar (»Hauptsache«) in der häufig zitierten Kontroverse zwischen Meir Lublin (1558–1616) und Schabbetai Sofer (ca. 1565 – ca. 1635) verwendet wurden. Wenn Chajjim ben Bezalel und andere betonen, dass grammatisches Wissen die »Grundlage« der Toralektüre bildet, ist es einerseits auf eine dienende Rolle festgelegt. Andererseits erscheint der Schluss nicht unzulässig, dass also der Grammatik für die Erschließung des Textes entscheidende Bedeutung zukommt. Gegen diese Annahme wendet sich Meir Lublin in seiner Erörterung der Punktation des Wortes inda (adonai für den Gottesnamen) – er betont, dass er die Mühe, auf Schabbetai Sofers Anfrage zu antworten, nur auf sich nimmt, »um diesen Anstoß aus unserem Volk zu entfernen und kund zu tun, dass die Wissenschaft von der Grammatik in diesen Dingen nicht die Hauptsache ist.«148 Schabbetai Sofer antwortete ihm: »Sehr verwunderlich ist, was er, hochgeehrt seine Lehre, über die Wissenschaft von der Grammatik schreibt, dass sie nämlich nicht die Hauptsache sei. Denn es ist bekannt, dass die Wissenschaft von der Grammatik die Grundlage der ganzen Tora ist [ . . .].«149 Hier wird ausgesprochen, dass sich mit der Bezeichnung der Grammatik als jesod kol ha-tora im Hinblick auf die Instanzen, die über den richtigen Zugang zum Text entscheiden, eine Verschiebung vollzieht. Nach Schabbetai Sofer sind nur noch Deutungen gültig, die sich mit der Grammatik vereinbaren lassen, und sie können Deutungen, die nur der Überlieferung, nicht aber der Grammatik entsprechen, verdrängen. So konnte die Aufforderung, dem Pilpul mit Hilfe genauer Grammatikkenntnisse und eines verbesserten Sprachunterrichts entgegen zu treten, als Versuch erscheinen, ein Übel durch ein anderes zu beseitigen. Während der Pilpul es in den Augen seiner Kritiker erlaubte, die Tradition zu manipulieren, konnte grammatisches Wissen dazu ermutigen, sie zu ignorieren. Die Selbständigkeit im Umgang mit Pentateuch und Mischna, zu der Jehuda Löws Schriften ermahnten, war nicht die gleiche Selbständigkeit, zu der das Studium der Grammatik befähigte. In Jehuda Löws Werk ging es um das Lernen des Textes, indem das Netz der Bezüge zwischen Text und Tradition erschlossen wird. Dazu bedurfte es des Wissens um den Wortlaut. Die Auslegung des Textes aber blieb durch die Überlieferung geregelt. Darauf deutete auch die Methode des Studiums hin, die Jehuda Löw empfahl, denn Lernen durch Wiederholung lief tatsächlich auf das Auswendiglernen der Bedeutungen des Pentateuchtextes hinaus – so wie sie mündlich oder in den schriftlichen 148
.[. . . ] ulak 'iniinyb rqiy qudqdh tmkx ñiaw yiduhlu unimym tazh hlwkmh rishl idk – Lublin:
Sche elot u-teschuvot, § 83.
149 aih qudqdh tmkxw yudi ik dam dy ailphl wi hz ly ,'uku rqiy qudqdh tmkx ñiaw yiduhl t`km w`mu .[. . . ] hruth lk dusi – Schabbetai Sofer: Siddur, Bd. 1, 99 (Haqdama ha-peratit).
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jiddischen Glossaren vermittelt wurden. Diese Glossare hießen nicht selten perusch, »Erklärung«, womit ihre Nähe zur Auslegungsliteratur unterstrichen wurde, und sie beruhten vor allem auf Raschis Kommentar. Um also Tora und Mischna zu lernen, bedurfte es nach Meinung der Reformer wohl der Fähigkeit, den Text zu lesen, und eines gewissen Wortschatzes, vielleicht auch elementarer grammatischer Kenntnisse, aber doch keinesfalls eines sprachlichen Wissens, das es gestattete, Bedeutungen des Textes unabhängig von der Tradition – oder gar gegen sie – zu erschließen. Iris Parush hat die Begrenzung sprachlichen und grammatischen Wissens im orthodoxen Bildungssystem für das ausgehende 18. und das 19. Jahrhundert untersucht. Sie betont, dass die Vernachlässigung der Grammatik nicht daher rührte, dass man ihr nur geringe Bedeutung beimaß, sondern im Gegenteil damit zusammenhing, dass man ihr die Macht zuschrieb, die Tradition außer Kraft zu setzen und die Autorität der Tradenten in Frage zu stellen.150 Was Parush für das 19. Jahrhundert beschreibt – die negative Haltung gegenüber grammatischem Unterricht und die systematische Begrenzung des Sprachwissens – hat, wie sie selbst sagt, weit zurückreichende Wurzeln. Doch der Zusammenhang zwischen sprachlichem Wissen und Macht, den sie bezeichnet, kann nicht unbesehen auf die Verhältnisse des 17. und frühen 18. Jahrhunderts übertragen werden. So zeigt etwa das weit verbreitete Lehrbuch Be er Mosche mit seinen Vorreden und wechselnden grammatischen Anhängen, dass das Interesse an der Vermittlung der tradierten Deutungen des Textes sich durchaus mit der Sorge um grammatische Kenntnisse verbinden konnte. Zudem bestand ein wichtiger Unterschied gegenüber den späteren Verhältnissen in der skizzierten Präsenz der christlichen Hebraistik im frühneuzeitlichen Aschkenas. Die Hebräischkenntnisse christlicher Theologen und ihre sprachkundlichen Werke waren ein sichtbares Zeichen dafür, dass grammatisches Wissen es erlaubt, jüdische Auslegungstraditionen zu umgehen oder sich gegen sie zu wenden. Die Verbindung zwischen Grammatik und minut, Gegentraditionen und Häresie, war also nicht stets nur ideologische Konstruktion. Mag sein, dass ihr konkreter historischer Gehalt im 19. Jahrhundert in Osteuropa in Vergessenheit geraten war, doch im 17. und 18. Jahrhunderts bot die christliche Hebraistik ein lebhaftes Beispiel für die Unzuverlässigkeit der hebräischen Grammatik, wenn es um die Wahrung jüdischer Überlieferungen ging.
150
Parush: Mabbat aher, 84, engl.: 186. ˙
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Zwei Strategien Viele Gelehrte des 16. und 17. Jahrhunderts plädierten dafür, den Veränderungen im Traditionsprozess, die mit der Ausbreitung des pilpul ha-hilluqim in Verbindung gebracht wurden, und den daraus resultie˙ renden Gefahren für die moralische und soziale Integrität der Gemeinden durch eine Reform des Erziehungswesens zu begegnen. Die Schüler sollten wieder in den Stand versetzt werden, die Texte der Lehre zu lesen und ihre Bedeutung im Kontext der Überlieferung zu erschließen. Dies hieß aber keineswegs, dass der Zusammenhang zwischen Sprache und Moral eindeutig bestimmt worden wäre. Unkenntnis der hebräischen Sprache und der hebräischen Texte der Lehre wurde als Bedrohung für den Überlieferungsprozess und die Moral gekennzeichnet, doch umgekehrt konnte auch sprachliches Wissen die Tradition gefährden. So kristallisierten sich zwei unterschiedliche Strategien als Antwort auf eine Situation heraus, die weitgehend identisch beschrieben wurde. Das Erlernen der Texte und das Erlernen des Hebräischen waren nicht dasselbe, das Studium der Schrift war nicht gleichbedeutend mit dem Studium der Sprache. Während die Wiederholung und die Übersetzung als Methoden der Annäherung an die Tradition unumstritten waren, blieb das Erlernen der hebräischen Grammatik ein Unterfangen, dem viele mit Vorsicht und einigen Vorbehalten begegneten. Zugleich findet sich in den Kreisen der »Prager« ein erster Hinweis darauf, dass sich die Bedeutung grammatischer Kenntnisse nicht unbedingt in ihrem Nutzen für das Studium der Tora erschöpft. Isaak ben Samuel, Autor des Siah Jizhaq, beschreibt die Grammatik nicht allein als Aspekt der Sprache˙ der˙ ˙Tora und als »Grundlage« jeder Auslegung. Sie ist auch Teil der Sprache der Gegenwart, Voraussetzung klaren Denkens und klarer Rede: »Sie ist das Handwerk und die Kunst, zu Gedanken und Wissen in jeder Wissenschaft zu gelangen, denn sie ist die erste unter allem, was zum Heiligen gehört, keiner hebt ohne sie die Hand, um in der heiligen Sprache richtig zu schreiben, oder öffnet den Mund, um in ihr richtig zu sprechen.«151 Die Verbindung zwischen Grammatik und Logik, die durch Mendelssohns Schriften zum festen Bestandteil der Legitimation des Sprachstudiums werden wird, ist hier schon angedeutet.
151 al hdylbu hwudqbw rbd lkl hnuwar aih ik hmkx lkb tydl buwxl wrux hwym tbwxm tkalm aih .[. . . ] ñukn la wdqh ñuwlb rbdl uip xtpi alu butkl udi ta wia Õiri – Isaak ben Samuel: Siah Jizhaq,
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fol. 5a.
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Vermittelnde und vermittelte Sprache Im 17. und frühen 18. Jahrhundert intensivierten auch die Autoren ihre Bemühungen, die, ähnlich wie Jehuda Löw ben Bezalel, statt des Erlernens der hebräischen Sprache eher das Erlernen der Texte der Tradition durch vermittelnde Übersetzungen befürworteten und dem Jiddischen größere Bedeutung und einen vornehmeren Platz im Traditionsprozess zuweisen wollten. Mirkevet ha-mischne, Em ha-jeled und Be er Mosche waren Lehrbücher, die zum hebräischen Original hinführen, doch nicht getrennt von ihm studiert werden konnten. Daneben entstanden Werke, die einen neuen zusammenhängenden Text boten und unabhängig vom hebräischen Original lesbar waren – jiddische Rezensionen der Schrift, die sich großer Beliebtheit erfreuten.152 Berühmtestes Beispiel ist Jakob ben Isaak Janows Anfang des 17. Jahrhunderts erschienene Zene rene, eine ˙ Sammlung von Kommentaren und Auslegungen zum Pentateuch, die den Wochenabschnitten folgen, doch nur lose an einzelne Verse anknüpfen. In der Fortsetzung zu den Propheten und Hagiographen, dem Sefer ha-maggid, bietet Janow zwar eine freie Übertragung des Originals, integriert aber ebenfalls zahlreiche Deutungen und Erzählungen der Kommentar- und Auslegungsliteratur. Um 1625 erschien ein Werk, das den Ansatz des Sefer ha-maggid aufgriff, Chajjim ben Natans Taitsch esrim we-arba . Allerdings bringt es nur die Geschichtsbücher der Bibel – Josua, Samuel, Könige, Chronik, Daniel, Esra und Nehemia –, ergänzt durch erzählende Passagen der Propheten, Hagiographen und Apokryphen, wobei um der Chronologie willen Umstellungen vorgenommen wurden. In einer kurzen Nachbemerkung schreibt der Verfasser:153 Keiner braucht sich zu schämen, wenn er in diesen Büchern liest, denn es ist keine Schande, taitsch zu lesen; vor Zeiten haben unsere Weisen die Gemara und Mischna übersetzt [fer taitscht], damit man sie verstehen kann, denn [nur] wenn einer nichts weiß, dann ist dies eine Schande. [...] Es gilt also
152 Turniansky: Le-toldot ha-»taitsch-hummasch«; zur Vielfalt früher jiddischer Tra˙ s. Timm: Formen der Bibelvermittlung; zur dierungen der Bibel und ihren Kontexten Sprache der Bibelübersetzungen und ihrer Auswirkung auf die Entwicklung des Jiddischen s. Timm: Historische jiddische Semantik, insbesondere 41–76.
153 ñuw ry ñyuu dnaw ñiiq zia wy ñyd ñniaiil uc Õirp Æ s izid ñia ñimyw uc ñam ñiiq ulip Æ a Óiz úrad wy ñyd rp Æ ñnyq jah aiz ñm wd úiua tuinwm 'nua armg aid jwjiij rp Æ Õimk Æx irznua ñibah ñjiic ryp Æ ñyd jnaiil wjiij rdua wduqh ñuwl úiua wy jnryl ry Óiilg ñun jlig wy ]. . . [ .dnw ñiia wy zia ñyd wla ñaq wqin ry ñyuu ñyd ñijw .jim ryd wjiij Óiua aui ñm jyr ad jnryl hk Ælh ñiia aui ñm ñyuu ñyd wjiij úiua – Chajjim ben Natan:
Dos taitsch esrim we-arba , unpaginiert [letzte Seite]. Zu diesem Werk s. Turniansky: Le-toldot ha-»taitsch-hummasch«, 36 f. ˙
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gleich viel, ob man in der heiligen Sprache oder auf taitsch lernt, denn wenn man eine Halacha lernt, redet man dabei ja auch taitsch.
Chajjim ben Natan begnügt sich nicht damit, das Jiddische als Hilfsmittel für die Ungebildeten darzustellen. Seine Rechtfertigung fällt recht selbstbewusst aus: Jiddisch wird dem Hebräischen als Sprache des Lernens gleichgestellt. Zwei Argumentationsweisen lassen sich in der kurzen Passage unterscheiden. Die eine verweist auf die Verhältnisse der Gegenwart des Autors. Das Jiddische ist bereits Sprache des Lernens, wo das Lernen den mündlichen Austausch voraussetzt – in den Jeschivot. Warum sollte es also nicht auch in den Büchern zur Sprache des Lernens werden? Das zweite Argument deutet Chajjim ben Natan nur an, indem er auf die Rabbinen, auf Mischna und Gemara verweist – vermutlich möchte er an das Aramäische als Vermittlungssprache erinnern. Beide Argumentationsweisen wurden in den folgenden Jahrzehnten weiterentwickelt. Sie gewannen Gewicht nicht zuletzt durch das dichte Geflecht zahlreicher ähnlich gerichteter Äußerungen, das sich in den folgenden Zitaten abzeichnet. Deutlicher als Chajjim ben Natan äußert sich – fast ein Jahrhundert später – Zvi Hirsch Chotsch in seiner jiddischen Version des Sohar, Nahalat Zvi. In der Vorrede heißt es:154 ˙ ˙ Auch die heilige Tora hat Moses, unser Meister, ausgelegt in siebzig Sprachen. Und jedes Wort, das der Heilige, gelobt sei er, gesprochen hat, teilte sich in siebzig Sprachen. Insbesondere aber war in jenem Land, in dem man Aramäisch sprach, der Sohar für jedermann, sogar für die Menge [verständlich], so wie unsere aschkenasische Sprache in unserem Land für jeden [verständlich] ist. Darum soll kein Kundiger meinen, es wäre eine Schande, deutsche Bücher zu lesen, war doch dort die Sprache des Sohar ihr Deutsch.
Die Überlegungen Gerondis und anderer finden hier ihr bestätigendes Echo: »denn der aramäische Targum war ihr La az«. Der Begriff des Targum bezeichnet in den Augen dieser jiddischen Autoren nicht eine bestimmte Sprache, sondern eine sprachliche Funktion, die in der Gegenwart das Jiddische erfüllt: als mündliche wie schriftliche Sprache der Vermittlung. Anders aber als Gerondi bestehen die Autoren, die dem Jiddischen durch den Vergleich mit dem Aramäischen neue Autorität zuschreiben wollen, darauf, dass es keineswegs nur Sprache der Unkundigen sei. Im Gegensatz etwa zu Elchanan Kirchhan, der in der Einlei154 jah h`bqh zd rubid wk Æljia 'nua .ñuwl Õiyb Æwb ñizyuuig wrup Æ m Óa unibr hwm jah hwudqh hrut aid ñyd rhuzh rp Æ s wad zia Õugrt ñuwl jyr ñym uauu hnidm rnyi ñia jrp Æ bu .t Æ unuwl Õiyb Æw uc jliij uc Óiz jah jyrig laz rp Æ s ydui rk Ænym zd .Õda wp Æ n lkl huw znkwa ñuwl rznua zia unt Æ nidmb aiuu .Õy iinumh rp Æ ulip Æ a Õk Æljia rp Æ wjiid ria rhuzh ñuwl wyd uza Óa ñijrad Óad zia .Õirp Æ s iwjiid ñnaiil uc hprx ñiia Õia ryuu wy ñiniim jin .ñuwl – Chotsch: Nahalat Zvi, Haqdama [unpaginiert].
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tung zu seiner ethischen Schrift Simhat ha-nefesch darauf verzichtet, das ˙ und betont, dass sich sein Werk Aramäische als Vorbild zu erwähnen, nur an die richtet, die weder gelehrt sind, noch bei Gelehrten Rat suchen können,155 weist Zvi Hirsch Chotsch darauf hin, dass es auch Gelehrten nicht schade, jiddische Bücher zu lesen. Noch etwas ausführlicher als Chotsch entwickelt Moses Frankfurt den Vergleich des Jiddischen mit dem Aramäischen in der Einleitung zu seiner Übersetzung von Isaak Aboabs Menorat ha-ma or:156 Der Jerusalemer Talmud wurde in der Sprache verfasst, die Männer, Frauen und Kinder im Land Israel sprachen, und nicht in der heiligen Sprache. Auch in unserer Gemara, die Babylonischer Talmud heißt, steht vieles nicht in der heiligen Sprache. Im Midrasch rabba steht sehr viel nicht in der heiligen Sprache, sondern in der Sprache, die der einfache Mann in den Ländern gesprochen hat, in denen das Buch verfasst wurde. Targum Jonathan und Targum Jeruschalmi, in denen sich viele Geheimnisse finden, sind in einer einfachen Sprache geschrieben, die jeder verstehen soll. Der Sohar ist ein sehr heiliges und Ehrfurcht gebietendes Werk, das aus lauter Geheimnissen der Tora besteht, und es ist nicht in der heiligen Sprache verfasst, sondern in der Sprache, die man in Babylonien gesprochen hat.
Zur Legitimation des Jiddischen als Sprache der Vermittlung zieht Frankfurt grundlegende Werke der jüdischen Überlieferung heran. Doch er verweist vor allem auf Texte ohne hebräisches Original, auf Werke, die von vornherein auf aramäisch verfasst wurden, auf Diskussionen, Auslegungen und Kommentare, die nicht als sekundäre, sondern als primäre Überlieferung galten: Talmud, Midraschim und Sohar. Ähnlich wie Chotsch äußert sich Isaak Wetzlar (ca. 1685 /90–1751) in seiner ungedruckten, doch unter seinen Zeitgenossen als Manuskript kursierenden ethischen Schrift Libes briv.157 Statt aramäischer Beispiele zählt er aber die arabischen Werke des Mittelalters auf, die – im Anschluss an die oben zitierte Passage – auch schon Moses Frankfurt nannte. Dies deutet auf Wetzlars Distanz zur aschkenasischen rabbinischen Kultur und auf seine Sympathien für die sefardische Welt hin. Zu 155
Kirchhan: Simhat ha-nefesch, Haqdama [unpaginiert].
˙ rwi Ñra ñia rdniq rbiiuu ñinam wauu ñuwl wd ñiy jkÆamg zia (imlwuri [!] dimlt) ryd 'nua .ñbah jyrig la ñuwl) ñiiq wauu ñnird lip Æ rag zia (ilb Æb [!] dimlt) jryuu ñwiihg ik Ælyuu armg rznua Óa .(wduqh ñuwl) ñia jin ñia ñam rniimg ryd aiuu ñuwl wd ñia jraiin .zia wduqh ñuwl ñiiq wd ñip Æ ryg zia (t Æ ubr wrdm) ryd .zia (wduqh zia .ñijw ñnird t Æ udus lip Æ uauu (imlwuri) 'nua (ñt Æ nui Õugrt) ryd .zia jk Æamg rp Æ s wd uauu jah jyrig rdnyl aid ljiia wk Ælyuu (duam arunu wudq rp Æ s) ñiia zia (rhuz) ryd .ñijw rp Æ ñinyq laz rk Æiljia wd ñuwl ñiimg ñia jk Æamg .jah jyrig lb Æb ñup Æ dnal wad ñia ñm wauu ñuwl ñyd ñia jraiin .wduqh ñuwl ñia jin jk Æamg zia .zia hruth tudus 156
– Aboab: Menorat ha-ma or, Haqdamat ha-ma atiq, fol. 1b. Zu Frankfurts Vorrede und ihrer Bedeutung als »Paratext« s. auch Berger: An Invitation to Buy and Read, 47–52. 157 Zu Isaak Wetzlar, seiner Schrift und ihren sozialen und kulturellen Kontexten s. Rohrbacher: Isaak Wetzlar in Celle.
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Beginn seiner Schrift erklärt er, wie sie gedacht sei, und bittet seine Leserinnen und Leser,158 ein Beispiel zu nehmen an gar großen Meistern Israels, so an dem Buch Emunot we-de ot unseres Meisters Saadia Gaon, an dem Buch More nevukhim unseres Meisters Moses ben Maimon und an anderen heiligen Büchern, die auf Arabisch geschrieben wurden, damit alle einfachen Leute sie lesen und für sich und ihre Seele Nutzen daraus ziehen können; erst danach wurden diese heiligen Bücher von Jehuda und seinem Sohn Samuel ibn Tibbon in die heilige Sprache übersetzt. So habe ich diesen meinen Liebesbrief als einfacher Mann, der sich, der Himmel behüte, nicht für einen Gelehrten ausgibt, an meinesgleichen, die einfachen Leute, auf Deutsch geschrieben, und doch so verfasst, dass auch ein Gelehrter, der ihn liest, vielleicht mehr Vorteil als Schaden davon hat [...].
Mit dem Hinweis auf zentrale Texte der Tradition, die nicht in hebräischer, sondern in einer der Umgangssprachen der Juden verfasst wurden, legitimierten Frankfurt und Wetzlar das Jiddische neben dem Hebräischen und Aramäischen bzw. Arabischen als Sprache, in der die Tradition nicht nur vermittelt, sondern auch fortgeschrieben werden kann. Das Hebräische wäre dann nicht mehr unbedingt gebunden an Schreiben und Schrift, sondern zunehmend an die Schrift allein, an Schrift als vorgängigen Text, als datum oder Archiv. Die Frage, inwiefern es legitim sei, diese Schrift selbst vermittelt durch das Jiddische zu studieren, wurde mit dem Verweis auf aramäische oder arabische Primärtexte allerdings eher umgangen. Antworten wurden nicht in Prag oder Frankfurt erprobt, sondern in einem dritten Zentrum reformorientierter Initiativen, in Amsterdam. Das Beispiel der sefardischen Gemeinde – das wohlgeordnete und von der Gemeinde finanzierte Unterrichtswesen, die Pflege des Hebräischen wie des Spanischen, der Sinn für Ästhetik und Poesie – wurde als Herausforderung und Anregung, aber auch als Möglichkeit, die eigenen Bestrebungen zu rechtfertigen, wahrgenommen.159 158 tunumah rps ñiiz ñuagh 'idys unibr rjnua ruauu larwi inuag hwiurg rag ñup ñmyn uc lpmysqy ñiia ñuagh Óiua aiuu ,ñbirwg wibaÅry ñia ,wduqh irps rhym 'nua Õikubn hrum rps ñiiz ñumiim hwm unibr 'nua ,tuydhu Óiz dnua ,ñnaiil ñam rniimg rdyi ñiia wy jimrd ñbirwg wibary ñia tubblh tbux wduqh rps ñiiz iixb unibr 'r ñhuz ñiiz dnua hduhi 'r Órud jwry wduq irps hzid rba aryh Óan ,ñaq ñipaw wiurd ñicun hmwn rniiz dnua Óiz ryd ñam rniimg ñiia wla birb sbil ñniim ñzid Óia ibh auzla ,jcyz rbia wduqh ñuwl ñia [!] ñbat ñba laumw uc ñdml Õniia ñipawb auz Óud dnua ,ñbirwg wjiij ñia jiil hniimg ñkiilg sniim ña ,jbig wiua ñdml ñiiq rp u`x .[. . . ] jryuu ñcyz uc ñidaw zla liijrup rhym jkiilip ,ñnaiil – Wetzlar: Libes briv, 1 (fol. 2a-b).
159 Häufig wird in diesem Zusammenhang auf das Lob des Unterrichts in der Amsterdamer sefardischen Gemeinde verwiesen, das Schabbetai Bass in der Einleitung zu seinem bibliographischen Werk Sifte jeschenim (Prag 1680) verkündete. Ebenfalls auf Amsterdam hatte schon früher Schabbetai Scheftel Horwitz in seinem ethischen Werk Wawe ha- amudim (Amsterdam 1649) aufmerksam gemacht. Wie früh das sefardische Vorbild bereits gewirkt haben dürfte, zeigt die Tatsache, dass Chajjim ben Bezalel Friedberg von einem sefardischen Lehrer unterrichtet wurde, s. Chajjim ben Bezalel:
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Als gegen Ende des 17. Jahrhunderts in Amsterdam die Bibelübersetzungen von Jekutiel Blitz und Josel Witzenhausen erschienen, enthielten die Einleitungen zu beiden Ausgaben ein ausführliches Lob der sefardischen Bibelübersetzungen.160 Zwei Neuerungen ließen sich mit dem Verweis auf diese rechtfertigen. Gegen Zene rene, die Blitz ausdrücklich als Beispiel für Werke erwähnt, die ˙das Hebräische nicht zugänglich machen, sondern verstellen, da die Übertragung, in die sich Kommentar und Auslegung mischen, unverständlich wird, geht es um die Wiedergabe des einfachen Wortsinns, des peschat. Die Übersetzung, ˙ als Hinführung die sich dem peschat verpflichtete, konnte einerseits ˙ zum hebräischen Text betrachtet werden, doch andererseits konnte die Lektüre des hebräischen Originals in dem Maße zurückgestellt werden, in dem die Übersetzung als verlässliche Wiedergabe seiner relevanten Bedeutungen gelten durfte. Zugleich wurde dem Jiddischen als leschon Aschkenaz, »aschkenasischer Sprache«, derselbe Status wie den iberischen Sprachen der Sefardim zuerkannt. Es erscheint als Sprache, die nach eigenen Regeln geordnet ist und in der sich rein und schön schreiben lässt.161 Als geregelte, klare und deutliche Sprache wird das Jiddische transparent auf das Hebräische. Mit der Orientierung am peschat und der Einreihung der ˙ »aschkenasischen Sprache« unter die normierbaren und kultivierbaren Übersetzungssprachen scheint die Möglichkeit gelingender Vermittlung auf. Wo sie verwirklicht würde, könnte die Übersetzung eigenständig neben die hebräische Schrift treten, ja mehr noch, könnte das Original unsichtbar werden. Tatsächlich wurden die Übersetzungen von Blitz und Witzenhausen ohne den hebräischen Text gedruckt – einerseits eine Fortsetzung der Tradition des Taitsch-hummasch, andererseits im neuen ˙ Kontext, den die Einleitungen entwerfen, ein Zeichen für das Zurücktreten der hebräischen Schrift hinter die Sprache der Vermittlung. Die neue Methode des Übersetzens, für die Blitz und Witzenhausen eintraten, konnte sich allerdings nicht durchsetzen.162 Die Schrift wurde
Iggeret ha-tijjul, Haqdama, 13; vgl. auch Elbaum: Petihut we-histaggerut, 56 ff., Sorkin: ˙ The Berlin Haskalah, 40 f., und oben, Anm. 89 und 90. 160 Tora nevi im u-khtuvim, übers. von Jekutiel Blitz von Witmund, Haqdamat ba al ha-ma atiq we-ha-mehabber, fol. 3a; Tora nevi im u-khtuvim, übers. von Josel Witzen˙ atiq [unpaginiert]. Zu beiden Übersetzungen s. Timm: Blitz hausen, Hitnazlut ha-ma ˙ und Witzenhausen, sowie Aptroot: »In galkhes they do not say so«. 161 Blitz wie Witzenhausen betonen, dass die vom Hebräischen abweichenden syntaktischen Regeln des Jiddischen vom Übersetzer verlangen, um der Wiedergabe des Wortsinns willen von einer Wort-für-Wort-Übersetzung Abstand zu nehmen. Zu Blitz’ und Witzenhausens Beschreibung des Jiddischen als reiner und deutlicher Sprache, als laschon zah, s. Schatz: Entfernte Wörter, 250 ff. 162 ˙ Sie˙ blieb aber offenbar auch nicht ganz ohne Echo. Isaak Wetzlar empfiehlt die
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weiterhin unterrichtet, indem Lehrbücher wie das Glossar Melammed siah des Eljakim ben Jakob Melammed Schatz (Amsterdam 1710) heran˙ gezogen wurden, und sie wurde vermittelt durch Zene rene und Sefer ˙ der Übersetzer des ha-maggid. Hinzu trat ein Werk, das Moses Frankfurt, Menorat ha-ma or, in den Jahren 1725 bis 1729 in seiner Amsterdamer Druckerei herausbrachte: die Pentateuch-Ausgabe seiner Schwiegersöhne Menachem Mann Amelander und Elieser Susman Rödelsheim.163 Sie folgte dem Vorbild des Sefer ha-maggid, erlaubte aber mit Hilfe typographischer Mittel, den peschat genauer von Kommentar und Auslegung zu unterscheiden. Zusammen˙ mit dem Sefer ha-maggid als Meggische minha gedruckt, erlebte sie in den nächsten hundert Jahren mindestens ˙ 164 17 Auflagen. Rödelsheim war auch der Verfasser des Miqra meforasch, eines Lehrbuchs über den Pentateuch, das als Dialog zwischen Lehrer und Schüler gestaltet war, als eine Art Katechismus.165 In der hebräischen wie der jiddischen Einleitung rekurriert Rödelsheim, um den Titel des Werks zu erklären, auf Nehemia 8 und 13, sowie auf Maimonides’ Geschichte des Vergessens der hebräischen Sprache. Er verbindet diese Überlieferungen mit einer Polemik gegen die Unwissenheit seiner Zeitgenossen, was die Tora, das Hebräische und die Grammatik betrifft, die deutlich in der Tradition der Prager Reformer steht. Dies führt dazu, dass nun, anders als bei Maimonides, nicht vor allem die Verhältnisse des Exils für die Missstände der Gegenwart verantwortlich scheinen, sondern eher die Nachlässigkeit und Trägheit der Einzelnen, die verkehrten Unterrichtsverhältnisse und insbesondere die große Bedeutung, die dem Pilpul beigemessen wird. Das Jiddische wird als Sprache eingeführt, die zugänglicher ist als das Hebräische und darum der Unwissenheit entgegenwirkt: »Ich weiß sehr gut, dass die heilige Sprache vorzüglicher ist als Perlen, doch nicht jeder ist vermögend genug, sie zu erwerben, sie ist von sehr hohem Wert, darum wendet man sich von ihr ab und geht in die Kurzwaren-Läden, um dort etwas zu bekommen.«166 In seiner jiddischen Vorrede betont Rödelsheim zudem ähnlich wie Blitz und Witzenhausen, dass das Jiddische nicht nur Ausdruck der Verlegenheit und problematisches HilfsÜbersetzung des Blitz in seinem Libes briv (fol. 51b, 50) und zitiert auch nach ihr (ebd., fol. 8b, 7, wo allerdings das Druckjahr irrtümlich mit w`lt statt mit j`lt wiedergegeben ist). 163 Biographische Angaben und Aufschlussreiches zu Rödelsheim als Brief- und Gesprächspartner christlicher Theologen bietet Wesselius: Eleazar Soesman. 164 Zu Meggische mincha und seinen Autoren s. Turniansky: Al sifrut didaqtit, 173 f. 165 ˙ Ebd., 175 ff. und Turniansky: »Miqra meforasch«. 166 hkry rqi duamu .Õinuqh ñm tuihl tgwm Õda lk di ñia lba .Õininpm rxbn wduqh ñuwlw itydi Õg itydi .Õinux hmwu tuiqds inim tuiunxb Ólil .Õinup hnmm hzlu – Rödelsheim: Miqra meforasch, Haqdama
[unpaginiert].
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mittel ist, sondern durchaus zur Sprache gelingender Vermittlung werden kann. Der hebräische Text wird auf Jiddisch verständlich, wenn sich der Autor einerseits an der hebräischen Grammatik und dem einfachen Wortsinn orientiert und andererseits in der Übersetzungssprache »gut« und »klar« schreibt:167 Darum habe ich es auch für gut befunden, das Buch auf deutsch zu schreiben, so kann jeder Ungelehrte den Inhalt unserer heiligen Tora richtig verstehen [und sehen], wie der Vers nach dem einfachen Wortsinn übersetzt und gelernt werden muss. Außerdem habe ich die Wörter in gutes Deutsch gebracht, so dass die Kinder sie richtig verstehen lernen, alles folgt der Grammatik und ist klar. Auch ein Gelehrter braucht sich nicht zu schämen, davon Gebrauch zu machen, denn er wird hier Dinge finden, die er nie zuvor gehört hat – entweder, weil niemand alle Bücher zur Hand hat, oder weil der, der Bücher hat, nicht in allen nachsehen kann, denn er muss sich um den Lebensunterhalt mühen.
Der jiddische Katechismus wird zu einem Kompendium des überlieferten Wissens von der hebräischen Schrift, das selbst für Gelehrte instruktiv ist. Während in den Augen der Reformer die Arroganz der Gelehrten und die Ignoranz der Ungelehrten zum Verfall und zur Zersplitterung der Gemeinden beitrugen, versammelte das jiddische Buch nicht nur zerstreute Kenntnisse, sondern auch eine zerstreute Leserschaft. Es konstituierte, nach Rödelsheim, eine neue Gemeinschaft der Lernenden, zu der Kinder ebenso wie Gelehrte zählten. Die zahlreichen Auflagen der Werke, die auf die Vermittlung des »Inhalts« der Schrift zielten, doch zum Erlernen ihrer Sprache nicht beitrugen, zeigen, dass der Wunsch, sich mit der Bibel vertraut zu machen, die Hinwendung zu ihrer Sprache keineswegs einschloss. Das Interesse galt gerade nicht der Möglichkeit, die Schrift aus dem Netz der überlieferten Bedeutungen zu lösen und neu zu lesen. Vielmehr ging es um das Wissen von den vorangegangenen Lektüren, den Traditionen, die den Inhalt der Schrift erst konstituierten und in allen Sprachen, »die man versteht«, mitteilbar waren. Während die jiddischen Paraphrasen und Kompendien der Schrift große Verbreitung fanden, blieben das Hebräische und seine Grammatik eine Angelegenheit relativ weniger gelehrter und neugieriger Experten.
167 ñjk Æyr ñyd .ñam rniimg rk Æiljia ñiia zd .ñbiirw uc wjiij ñia (rp Æ s) zd Õua .ñdnup Æ b jug Óa Óia bah Õurd jnrylg 'nua jwjiij rp Æ zum (hjuwp) ñia (qusp) rd aiuu .ñijw rp Æ jk Æyr laz (hrut) igiliih irznua ñup Æ jlah ñia ñyd Óan wla 'nua .ñp Æ iirgb laz jk Æyr dniq ñiia zy zd .jlyjwg wjiij jug ñia rjryuu aid Óia bah Óa .ñryuu ñdnip Æ ñia rih jryuu ry ñyd .ñk Æam uc Óiurbg ñup Æ rih ñmyw uc jin Óa Óiz Óiurb (ñydi) ñiia .ralq ryz (qudqd) 'nua .jah dnah aiib jin (Õirp Æ s) ila rk Æiljia ñiia zd Õua wniia .jah jryhg slam ain rap Æ uc ry aid ñk Æaz .zia (uit Æ unuzmb durj) ñm zd Õua .ñhyz Óan ila jin ñyq .jah (Õirp Æ s) jniuw ryuu – Ebd.
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Rödelsheim bekräftigt in seinen Vorreden auf überraschende Weise Maimonides’ Geschichte der hebräischen Sprache. Er lässt keinen Zweifel daran, dass das Hebräische in tiefe Vergessenheit geriet, doch zeigt er sich davon kaum beunruhigt. Was dem Vergessen entrissen werden soll, was zugänglich gemacht werden muss, ist der »Inhalt« der Schrift, nicht ihre Sprache. Das jiddische Lernen, das Rödelsheim als Mittel gegen das Vergessen der Schrift empfiehlt, war kein Mittel gegen das Vergessen der hebräischen Sprache. Doch als Ergebnis mangelhafter Hebräischkenntnisse droht hier weder Sprachvermischung noch Sprachlosigkeit. Im Gegenteil, die Etablierung des Jiddischen als Sprache der Vermittlung bedeutet, auf neue Weise sprachmächtig zu werden. Als heilige Sprache, als ausgezeichnete Sprache, die zwar übersetzt, doch nicht ersetzt werden kann, behauptete sich das Hebräische jedoch neben dem Jiddischen – es blieb die Sprache des Gottesdienstes, der Toralesung und des Gebets. Zugleich entstanden zahlreiche Übersetzungen der hebräischen und aramäischen Liturgie, die meist zusammen mit dem Original, bisweilen aber auch selbständig gedruckt wurden. Die traditionelle Begründung für diese Übersetzungen bezog sich auf das Konzept der kawwana. Das Gebet bedarf der Intention, der »Andacht«, diese aber wird schwerlich anzutreffen sein, wo die Worte des Gebets unverständlich sind.168 Dieses Argument wurde um 1700 erweitert und in komplexere Zusammenhänge eingeführt, indem man es mit sozialen und moralischen Fragen verknüpfte. Besonders aufschlußreich sind Beobachtungen und Ermahnungen, die Jechiel Michel Epstein (gest. 1706) in die Vorrede zu seinem verbreiteten Gebetbuch Seder tefilla derekh jeschara (Frankfurt a. M. 1697) und in sein jiddisches ethisches Werk Derekh ha-jaschar la- olam ha-ba (Frankfurt a. M. 1713) aufnahm. Epsteins Vorrede zu seiner Ausgabe des Siddur ist an Männer adressiert, die in einer Tradition der Unwissenheit stehen. Ihre religiöse Praxis ist voller Fehler, Irrtümer und Nachlässigkeiten, doch nicht, weil sie nicht fromm wären, sondern weil schon ihre Eltern und ihre Umgebung sie nicht besser zu instruieren wussten. Epsteins eindrücklichstes Beispiel ist der Mann, der Tefillin anlegt und damit den Viehstall betritt – nicht etwa in blasphemischer Missachtung des Gebotenen, sondern aus Unachtsamkeit, die der Unwissenheit entspringt. Die Verbindung zu den Vorschriften der Tradition ist gerissen. Die »gemeinen Leute« wissen nicht, was im Schulhan arukh steht, und sie haben keine Gelehrten unter sich, die es ˙ 168 Vgl. zum Beispiel das Vorwort zur ersten Ausgabe des Qerovez, des Machsor zum Neujahrsfest und zum Versöhnungstag, Krakau 1571, abgedruckt ˙in: Shmeruk: Sifrut jidisch be-Polin, 80 f.
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Heilige Sprache
ihnen erklären könnten. Die sozialen Verhältnisse, in denen es an Institutionen und Personen mangelt, die das Wissen der Gelehrten an die Ungelehrten weitergeben, erscheinen jedoch nur als eine Seite des Problems. Die andere Seite betrifft die moralischen Verhältnisse. Die einzigen Hilfsmittel, die vermittelnden jiddischen Moralschriften und Sittenbücher, werden zurückgewiesen, weil viele Leute die Unwissenheit dem Wissen vorziehen. Schließlich impliziert das Wissen Verantwortung für die religiöse Praxis, also auch für jede Übertretung. Ein Grund für die Scheu vor solcher Verantwortung liegt, so Epstein, darin, dass es den einfachen Leuten unmöglich scheint, alle Gebote zu halten. Dagegen möchte Epstein mit seiner Übersetzung des Gebetbuchs erreichen, dass alle lernen, was die Worte der Gebete bedeuten, so dass sie sie mit Andacht rezitieren können: »So hoffe ich auf den Ewigen, gelobt sei er, dass das Gebet mit dieser Übersetzung [perusch] für einfache Leute gelernt werden wird, und dass man ihnen das Gebet verständlich machen wird. Wenn sie schon nicht die Übersetzung eines jeden Wortes behalten können, so behalten sie doch einen Teil.«169 Die Übersetzung, die die hebräischen Gebete zugänglich macht, will diese keineswegs ersetzen. In seinem Derekh ha-jaschar la- olam ha-ba führt Epstein jedoch eine Ausnahme ein. Da die Frauen mit besonders großer und wirksamer Andacht beten, soll ihnen gestattet werden, manche Gebete auch in der Synagoge auf Jiddisch zu rezitieren:170 An den hohen Feiertagen ist es viel besser, die Frauen sagen alle Jozrot und Selichot auf taitsch; [...] wenn die Frauen weinen am Neujahrsfest und am Versöhnungstag, dann öffnen sie mit ihren Tränen alle Tore des Erbarmens, so dass ihr Gebet auch als das eure angenommen wird.
Es wird denkbar, dass die Frauen einige Gebete, Jozrot und Selichot, während des Gottesdienstes nicht in der heiligen, sondern in der profanen Sprache sprechen. Die heilige Sprache, die nur im Gottesdienst noch unersetzbar schien, könnte, meint Epstein, von den Frauen auch dort durch die profane Sprache ersetzt werden. Allerdings gilt dies nur für einen Teil der Gemeinde – für diejenigen, die nicht zum Minjan, dem gottesdienstlichen Quorum, zählen, und nur für einen Teil der Liturgie, für einige Pijjutim, die nicht zum festen Bestand der Gebetsordnung gehören. Für das Gebet der Männer und die anderen Teile der Liturgie bleibt die heilige Sprache unverzichtbar. 169 (jiiliniimg rap (wurip) Õzid jim ñryuu jnrylg jryuu (hlpt) aid wad (t`iwh) uc Óia úah rap (ñk ly ñkiljia ñiia úiua wjiij wad ñjlahib wila jin ñuw aiz ñyuu ñibyg ñijw rap jriuu (hlpt) aid ñnia um wad .liij ñiia Óad aiz ñjlahib jrauu – Epstein: Seder tefilla derekh jeschara, Haqdama, fol. 3b. 170 ñniiuu rbiiuu aid ñyuu [. . . ] wjiij úiua tuxils 'nua turcui ila ñgaz rbiiuu id rwyb lip Æ zia Õiarun Õimi ña ña ryia ryd zla Óa hlip Æ t iria zd Õimxr iryw aid ila ñryrj iria jim aiz ñinp Æ y ad rupik Õui hnwh war ña .jryuu ñmung – Epstein: Derekh ha-jaschar la- olam ha-ba, fol. 95b.
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Eingrenzung oder Ausbreitung sprachlichen Wissens?
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Epsteins Äußerungen sind bemerkenswert, weil hier einer der prominentesten Befürworter jiddischen Lernens die widersprüchliche Haltung zum Jiddischen im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert prägnant zum Ausdruck bringt. Als Sprache der Vermittlung kam ihm größte Bedeutung zu, ja es konnte bis in den öffentlichen Gottesdienst vordringen, doch zugleich blieb das Hebräische unersetzlich.171 Die überlieferte Grenzziehung zwischen heiliger und profaner Sprache wurde trotz mancher Verschiebungen nicht wirklich angetastet. Keiner der zitierten Autoren stellte mit seinen Bemühungen um das Jiddische als Sprache der Vermittlung die traditionelle Zweisprachigkeit der jüdischen Gesellschaft überhaupt in Frage. Doch Schwierigkeiten waren unverkennbar. Im Hinblick auf das Studium der Texte der Tradition erhielten die vermittelnden Bearbeitungen und Übersetzungen gegenüber dem Erlernen der hebräischen Sprache den Vorzug. Dies war gewiss nicht nur dem Interesse der Rabbiner an einer Regulierung des sprachlichen und textuellen Wissens geschuldet. Denn zum einen fanden sich, wie erwähnt, unter den Angehörigen der rabbinischen Elite des 17. und frühen 18. Jahrhunderts Befürworter wie auch Gegner eines eingehenden Grammatikstudiums. Zum anderen waren jiddische Tradierungen der Schrift sehr populär. Schließlich waren sie nicht nur sprachlich und inhaltlich leichter zugänglich – ihr oft erzählender Charakter machte sie auch unterhaltsamer als die hebräischen Texte und gewiss vergnüglicher als Grammatiken. Vor allem aber konstituierte das Narrative dieser Texte einen weiten Raum kollektiver Selbstverständigung. Jean Baumgarten hat gezeigt, wie die Autoren jiddischer Tradierungen selbst das Narrative ihrer Werke legitimierten, indem sie an die Bedeutung des Aggadischen in der rabbinischen Literatur anknüpften. Er bringt einen längeren Abschnitt aus Tiqqune ha-mo adim, einer Schrift über Gebete und Bräuche, der hier auch darum wiedergegeben sei, weil er zeigt, wie diese Erzählungen ein Wissen hervorbrachten, auf das Autoren und Leser über lange Zeiträume hinweg zurückgreifen konnten:172 171 Dies zeigt selbst das in einem ganz anderen Kontext entstandene, recht eigenwillige Gebetbuch Liblikhe tefille (Fürth 1709), verfasst von Aron ben Samuel Hergershausen, »the first and perhaps the only ›Jewish pietist‹, of whom we have literary evidence«, so Siegfried Stein in: Liebliche Tefilloh, 70. In seiner Einleitung empfiehlt Hergershausen zwar, den Kindern die Gebete zunächst in jiddischer Sprache beizubringen, doch nicht ohne zu betonen, dass jene danach um so besser die heilige Sprache erlernen werden und bald sowohl hebräische Bücher als auch die hebräischen Gebete richtig werden lesen können, wie das Beispiel des sefardischen und italienischen Unterrichts zeige (Haqdama [unpaginiert]).
172 ñbah 'nua t Æ ulhq aid ñia jziirg rdnna jim ñniiz aid [(]uhuba ibr [']nua aiix ibr) uza jgyz [. . . ] armg aid 'nua t Æ up Æ sut hk Ælh [']nua armg ljiia (twrdig) jah ñizyuuig (úirx) rzurg ñiia rag zia (aiix ibr) .jrip Æ ig (t Æ uwrd)
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Heilige Sprache
Die Gemara sagt so: Rabbi Chijja und Rabbi Abuhu reisten miteinander in die Gemeinden und predigten. Rabbi Chijja war ein großer, scharfsinniger Gelehrter und predigte nur Gemara, Halacha und Tosafot. Rabbi Abuhu aber predigte kleine Sachen, aus den »Begebenheiten« und dem En Ja akov. Da liefen alle Leute von Rabbi Chijja weg und hin zur Predigt des Rabbi Abuhu. Rabbi Chijja grämte sich deswegen gar sehr, war er doch ein so scharfsinniger Gelehrter, und dennoch blieben die Leute nicht bei seiner Predigt. Rabbi Abuhu aber sagte zu Rabbi Chijja: »Gräme dich nicht. Es gibt da eine Geschichte von zwei Kaufleuten, die an einen Ort kommen. Der eine verkauft Kurzwaren, die man bei ihm für nur einen Pfennig kaufen kann, zum Beispiel Stecknadeln, der andere verkauft Edelsteine, von denen selbst der kleinste hundert Gulden kostet. Nun, zu welchem Kaufmann laufen mehr Leute, um einzukaufen? Doch sicher zu dem Kaufmann, wo man für nur einen Pfennig kaufen kann. So ist es auch mit dir, Rabbi Chijja, du bist ein scharfsinniger Gelehrter, und was du lehrst, kann nicht jeder lernen. Doch an dem, was ich, Rabbi Abuhu, predige, hat jeder sein Vergnügen.«
Wenn Rödelsheim mit selbstbewusster Zurückhaltung die jiddischen Autoren mit Kurzwarenhändlern vergleicht, deutet er auf einen narrativen Zusammenhang jüdischer und jiddischer Selbstverständigung hin, von dem er annehmen durfte, dass er vielen Lesern präsent war. Die weitreichenden Implikationen der Kultivierung dieses Erzählraums beschreibt Jean Baumgarten:173 C’est a` l’aide de cette tradition aggadique, de ce de´poˆt vivant de re´cits, d’expe´riences puise´s dans la litte´rature sainte et par le biais de la narration moralisante que la litte´rature populaire yiddish ve´hicule les secrets de la Torah et cherche les correspondances entre acte moral et re´demption du monde. [...] La narration est investie d’une fonction re´paratrice visant a` ressouder les membres disloque´s du peuple juif: elle posse`de une puissance d’ordre dont de´pend la transformation des hommes et du monde. En cre´ant un cadre de re´fe´rences, de re´miniscences communes, elle fonde a` nouveau une unite´, jusque-la` brise´e, propice a` la communication avec autrui et a` la communion avec le divin.
ñup Æ qyuua ñp Æ alig jiil aid ila ñniiz .bqyi ñiy 'nua Õiwym aid ziua ñik Æaz hgnirg ljiia twrdig jah (uhuba ibr) ry zd ñzyuug rycm qrajw rag úiura ad Óiz jah aiix ibr .hwrd rniiz uhuba ibr uc ñp Æ alig ñniiz 'nua aiix ibr ibr uc jyazig uhuba ibr) rbn jah .hwrd rniiz aiib ñbiilb jin Óad ñlaz jiil aid 'nua .jzia úirx rk Ælyz ñiia iniilq jp Æ iuq rp Æ rniia Õuqm ñiia ñia ñmuq aid (Õirxus) aiiuuc lwm ñiia zia zy (rycm) wqin Óid aiiz (aiix (t Æ ub Æuj Õinb Æa) jp Æ iuq rp Æ rniia 'nua .ñildan qyjw lwml Õia aiib ñp Æ iuq Óa giny(p Æ )p ñiia Õua ñaq ñm uauu hruxs ñyd uc iadub ñp Æ iuq ñiia Õuc riqryjw jiil aid ñp Æ iul rxus yk Ælyuu uc aun ñdlig jrdnuh jwaq ijwnylq ryd zd aud zauu ñinryl ñiid 'nua úirx ñiia jzib aud aiix ibr aud Óa uza .ñp Æ iuq Óa ginyp Æ p ñiia Õua ñaq ñm uauu rxus .ñup Æ rd hanh rk Æiljia jah ad ñiwrd uhuba ibr Óia zauu riba .ñnryl rk Æiljia jin ñaq jwnryl – Tiqqune
ha-mo adim, fol. 10b–11a. 173 Baumgarten: Introduction a` la litte´rature yiddish ancienne, 301.
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Krise der Zweisprachigkeit
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Das Narrative erscheint als Modus der Vermittlung schlechthin. In religiöser, ethischer und sozialer Hinsicht vermag es, Verbundenheit zu stiften, das Zerstreute zu sammeln und Differenzen in eine neue Ordnung zu integrieren. Die Sprache der Vermittlung aber ist nicht das Hebräische, durch das soziale Unterschiede eher betont werden, sondern das Jiddische. Jenseits der sehr produktiven Gruppe der Autoren, Schreiber und Drucker, die das Hebräische als geschriebene Sprache der Religion, der Wissenschaft und der Dichtung kultivierten, war die Sprache um 1700 im westlichen Aschkenas zu einer fremden Sprache geworden. Für die meisten war sie durch ihre vorgängige Schriftlichkeit bestimmt – nicht so sehr aktives Vermögen als vielmehr passiver Text, keine gelesene, sondern rezitierte und übersetzte Sprache, Gegenstand der Wiederholung, sei es der möglichst unveränderten der Rezitation, sei es der vermittelnden der Übersetzung. Innerhalb der Ordnung jüdischer Zweisprachigkeit blieb die »heilige Sprache« eine Sprache der Gegenwart, und als Sprache der Gelehrten war sie der Ort halachischer, exegetischer, wissenschaftlicher und philosophischer Beweglichkeit und Innovation. Doch für die meisten fand die Selbstverständigung über das Wissen, die Vorstellungen und Praktiken des religiösen Alltags auf Jiddisch statt. Zugleich erhielt die »heilige Sprache« neue Bedeutungen, in denen das Kritische der sprachlichen Situation zwar Spuren hinterließ, doch noch nicht unbedingt negativ reflektiert wurde.
5. Krise der Zweisprachigkeit Jehuda ha-Levi bemerkte in den eingangs zitierten Sätzen über Abrahams Zweisprachigkeit zum Verhältnis zwischen heiliger und profaner Sprache nichts weiter, als dass die heilige Sprache für Abraham eine ausgezeichnete Sprache war: »Und schon Abraham sprach in Ur Kasdim aramäisch, weil das Aramäische die Sprache des Kasdim war – das Hebräische war für ihn eine besondere Sprache, die heilige Sprache, und das Aramäische die profane Sprache.«174 Jahrhunderte später und in einer ganz anderen Umgebung ist diese Passage aus dem Kuzari Anlass für einige Bemerkungen, die durchscheinen lassen, dass die Verteilung der Sprachen problematisch geworden ist. Israel Zamos´c´ (ca. 1700–1772), Philosoph, Mathematiker,
174 tdxuim ñuwl tirbyh ul htihu Õidwk ñuwl aih timrahw Õidwk ruab timrab rbdm Õhrba hih rbku .[. . . ] lux ñuwl timrahu wdqh ñuwl – Jehuda ha-Levi: Kuzari, II, 68, ed. Cassel, 168.
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Heilige Sprache
Astronom und Mentor des jungen Mendelssohn in Berlin, schreibt in seinem Kommentar zur Stelle:175 Die Sprache des Kasdim war bei ihm [Abraham] vom Tag seiner Geburt an, die heilige Sprache aber lernte er von Ever, seinem Großvater, und er gebrauchte sie für das Heilige, das Aramäische aber war für ihn die profane Sprache. Denn gewiss kann eine Sprache, deren Grammatik, Buchstaben, Worte und Punkte mit allen Regeln der Flexion gehütet werden, nicht für weltliche Reden und profane Dinge benutzt werden, nicht, wenn ein Mensch mit dem anderen spricht, wo man doch auf eine leichte und allen verständliche Sprache zurückgreift [...].
Dieser Kommentar stellt nirgends explizit einen Zusammenhang zwischen Abrahams Sprachen in Ur Kasdim und den Sprachen der Juden in Aschkenas her. Doch die neuen Züge, die Zamos´c´ in das alte Bild einträgt, machen dieses durchsichtig auf seine Gegenwart. Zamos´c´ fügt in Jehuda ha-Levis Darstellung ein Element ein, das an Maimonides’ Narrativ von der Geschichte der hebräischen Sprache erinnert. Dort ist die »jüdische« Sprache, jehudit, die gesprochene Sprache, die im Exil verloren geht. An ihre Stelle tritt die heilige Sprache, die Sprache des Gebets, die Esra schriftlich festhält und institutionalisiert. Das mündliche Hebräisch verschwindet hinter der Schriftsprache, die Tradierbarkeit verspricht. Diese Bewegung, die Maimonides in seiner Erzählung bezeichnet, hat ihre Spur auch in Zamos´c´s Text hinterlassen. Die Schriftlichkeit bleibt der heiligen Sprache nicht äußerlich, sondern verändert sie: ihre Regeln werden besonders »gehütet«, so dass sie nicht länger für den Alltag geeignet erscheint. Zamos´c´ kann dies in dem Augenblick artikulieren, in dem die Grammatik des Hebräischen – angesichts ihrer problematischen Tradierung – als Ansammlung von Regeln wahrgenommen wird, die das Sprechen nicht überhaupt erst ermöglichen, sondern im Gegenteil erschweren oder sogar verhindern. In der Einleitung zu Isaak Wetzlars Libes briv findet sich eine Bemerkung, die Zamos´c´s Worte bestätigt und weiterführt – in der Sprache, deren Regeln »gehütet« werden, fällt es nicht nur schwer zu sprechen, sondern auch zu schreiben:176
175 htih timrahu ,hwudql hb wmtwhu uiba iba rbym wduqh ñuwl dml lba udluh Õuim Õidwk ñuwl ul 'ih ñkti al hituluyp tukilh ipl uituduqnbu tulmbu tubitb qudqdb rumwh ñuwlhw iadu ik ,lux ñuwl ulca .[. . . ] lkl raubmu lq ñuwl Õiwputw uhyrl wia rbdb lux irbdb amlyd ilimb hb wmtwhl – Zamos´c´: Ozar
˙ nehmad, II, 68, fol. 66b. 176˙ ñiiq rhyuu dnua ,jrdrupry [!] qdqdh tmkx dnua ,jzia ñuwl Óiuh ñiia rp wduqh ñuwl rznua wauu siiuu Óia lip ñia rblyz Óia Óiilg ,ñaq ñbiirw rlhip rdua ñsiirg inha wduqh ñuwl Óilgium inha ,jzia qdqdm rwiurg ñbiirw wduqh ñuwl ñiiq Óia ibh uzla ,ñiiz ñbirwg Õidmul hjnang auz ñup aid ,ñdnupg ñbirb dnua Õirps haiin .[. . . ] ñigym – Wetzlar: Libes briv, fol. 2a, 1.
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Krise der Zweisprachigkeit
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Ich weiß, was für eine hohe Sprache unsere heilige Sprache ist, und dass sie [das Studium der] Wissenschaft von der Grammatik erfordert. Wer kein großer Grammatiker ist, kann in der heiligen Sprache unmöglich ohne Irrtümer oder Fehler schreiben, wie ich selbst in vielen neuen Büchern und Briefen sah, die von sogenannten Gelehrten geschrieben wurden. So wollte ich nicht in der heiligen Sprache schreiben [ ...].
Die Regeln der heiligen Sprache werden einerseits durch die Gebundenheit der Sprache an die Schrift »gehütet«, andererseits sind sie wegen ihrer mangelhaften Tradierung dem Wissen der meisten entzogen. Zamos´c´ entschuldigt dies aber – gewiss kann eine genau geregelte Sprache keine Sprache für den Alltag sein, da dieser ein einfaches und bewegliches Idiom verlangt. Die Wertung in dieser Gegenüberstellung ist offensichtlich – der Regelhaftigkeit und Komplexität der Schriftsprache gebührt der Vorzug gegenüber der Flüchtigkeit der Regeln und ihrer Modifikation im Augenblick des Sprechens. Zamos´c´ unterstreicht dies, indem er den Verdacht äußert, dass der alltägliche Gebrauch zur Korrumpierung der vornehmen, der heiligen Sprache führte. Im Anschluss an die zitierte Stelle fährt er fort: »Vielleicht meinte er [Jehuda ha-Levi], dass die aramäische Sprache aus der heiligen Sprache hervorgegangen ist, da diese häufig als profane Sprache gebraucht wurde, so dass vieles durcheinander geriet. Dasselbe gilt für die arabische Sprache [ . . .].«177 So wird der hebräischen Sprache das, was als ihr Mangel angesehen werden könnte – ihre Entfernung von den breiten Schichten, dem Alltag und der mündlichen Kommunikation – zum Vorteil ausgelegt. Die Gebundenheit der heiligen Sprache an die Schrift und die Schwierigkeiten mit der Vermittlung der Sprache führen dazu, dass die heilige Sprache keineswegs mehr als »Sprache für alles« gilt. Innerhalb der Ordnung jüdischer Zweisprachigkeit ist das Jiddische schon fast zu einer Sprache »für alles« geworden, das Hebräische hingegen ist – sofern es nicht als Teil des Jiddischen auftaucht – ausgeschlossen von der alltäglichen, profanen, mündlichen Kommunikation, und viele Juden sind ausgeschlossen von der heiligen Sprache. Das Kritische dieser Situation springt ins Auge, aber Zamos´c´ enthält sich jeder Kritik. Im Gegenteil, man könnte seinen Kommentar so lesen, als versuchte er die Situation zu rechtfertigen, indem er sie Jehuda ha-Levis Skizze einer Urszene der jüdischen Geschichte unterschiebt. Vor Zamos´c´ und zur gleichen Zeit, zu der er schrieb, machten sich andere Autoren daran, den prekären Zustand, den Zamos´c´ genau erfasste und geschickt legitimierte, in Frage zu stellen und Mittel der Verän-
177 rdq ñuwl ñku ,hbrh wbtwn lux ñuwlb ub wumwh bur iplw wduqh ñuwlm hdlut timra ñuwl utydl iluau .[. . . ] bryu – Zamos´c´: Ozar nehmad, II, 68, fol. 66b.
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Heilige Sprache
derung zu ersinnen. Im Streit zwischen ihnen und ihren Gegnern wurden die Bedeutungen des Hebräischen als heiliger Sprache neu bestimmt. Die heilige Sprache – die besondere und von den profanen Sprachen unterschiedene Sprache – wurde als Sprache der Schrift in neuen Zusammenhängen interpretiert. Oder genauer: Ältere Vorstellungen von der heiligen Sprache als Ursprache wurden aufgegriffen und aktualisiert. Die Schriftlichkeit der Sprache wurde nicht nur als Zeichen ihrer Vorzüglichkeit, sondern auch als Zeugnis ihrer Unveränderlichkeit durch alle geschichtlichen Wechselfälle hindurch und als Ausdruck ihrer Unantastbarkeit betrachtet. Während auf der einen Seite Vorschläge zum Umgang mit dem Hebräischen in der Gegenwart unterbreitet wurden, die die Verbindung zwischen Sprache, Schrift und göttlichem Ursprung zugleich nutzten, hinterfragten und auflösten, verfestigte sich auf der anderen Seite die Rede von der Unantastbarkeit und Unzugänglichkeit der Sprache. Erste Schritte zur Säkularisierung der sprachlichen Ordnung in Aschkenas provozierten neue Strategien der Sakralisierung – und umgekehrt. Die säkularisierende Rede von der heiligen Sprache und die neue und verdichtete sakralisierende Rede werden als Teil ein und derselben Verschiebung im Sprechen über die Sprache lesbar und weisen sich gegenseitig Bedeutung zu.
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II. Ursprache
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1. Die mangelhafte, die vorzügliche Sprache Im Exil: Wege des Vergessens Überlegungen zur Unterscheidung zwischen heiliger und profaner Sprache und zur Geschichte der jüdischen Zweisprachigkeit werden im Kuzari auf nicht ausdrücklich vermerkte, aber doch klar erkennbare Weise entfaltet in der Reflexion über den göttlichen Ursprung des Hebräischen und seine vorzüglichen Eigenschaften, die von der Geschichte des Niedergangs der Sprache unberührt blieben. Hinweise auf die Armut der ihnen überlieferten hebräischen Sprache finden sich bei vielen Schriftstellern des sefardischen Mittelalters, so bei Saadia, Moses ibn Esra, bei Jehuda al-Harizi, Maimonides und bei den Übersetzern Jehuda und Samuel ibn˙ Tibbon.1 Jehuda ibn Tibbon (1120 – nach 1190) schildert in der Vorrede zu seiner Übersetzung der Hovot ha-levavot des Bachja ibn Paquda knapp und nüchtern die Un˙ zulänglichkeit des Hebräischen, nachdem er zunächst die Vorzüge der arabischen Sprache betont hat:2 [E]s ist eine Sprache, der Reichtum und Fülle eignet, mit Blick auf jeden Gegenstand und jedes Bedürfnis eines jeden Sprechers und eines jeden, der sie schreibt; ihre Redewendungen sind gerade, klar und treffen jede Sache besser, als die hebräische Sprache es kann, denn von der hebräischen Sprache besitzen wir nichts als das, was wir in den Büchern der Schrift finden, und sie genügt den Bedürfnissen des Sprechenden nicht.
Das Wissen von der hebräischen Sprache ist gebunden an die Bücher der Schrift. Doch diese überliefern nur einen geringen Teil der Sprache. So ist diese ihrer Extension und Intensität nach dem Arabischen nicht gewachsen. Mehr noch, ihren eigenen Sprechern – oder eher denen, die in ihr schreiben – genügt sie nicht. Das sprachliche Wissen, das vom Hebräischen überliefert wurde, erscheint der Gegenwart nicht angemessen.
1 2
Vgl. Zwiep: Mother of Reason and Revelation, 62–76.
tygmu trabmu trwim hb hcilmh .rbxmu rbdm lkl Órch lk ipku ñiny lkb halmmu hbxr ñuwl aih unacmw hm Õa ik unidib acmn hnmm ñia tirbyh ñuwlw inpm tirbyh ñuwlb ñktiw hmm rtui ñiny lk tilktl .rbdmh Órc lkl qipsm uniau arqmh irpsb – Bachja ibn Paquda: Hovot ha-levavot, ed. Zifroni,
Petihat ha-metargem, 57. ˙
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Ursprache
Auch Jehuda ha-Levi streift im Kuzari kurz die Armut der hebräischen Sprache. Es mangelt ihr an Wörtern und an Sprechern: »Es ging der Sprache wie ihren Trägern. Sie verarmte, als diese verarmten, und wurde beschränkt, als diese weniger wurden [ .. .].«3 Der Niedergang der hebräischen Sprache wird als Spiegel der Geschichte ihrer Sprecher beschrieben. Doch es bleibt offen, ob das Exil zum Verfall der Sprache führen musste oder ob bestimmte, im Exil durchaus veränderbare Bedingungen und Handlungsweisen ihn herbeiführten. Die Kommentatoren des Kuzari wurden hier deutlicher. Jehuda Moscato (1532–1590), Rabbiner in Mantua, Kabbalist und Philosoph,4 dessen Qol Jehuda bis heute zusammen mit Israel Zamos´c´s Ozar nehmad ˙ der˙ sich nachgedruckt wird, zitiert Profiat Duran (ca.1350– ca. 1415), zwar auf Jehuda ha-Levi bezieht, doch mit seiner Kritik der Sprachpraxis weit über ihn hinausgeht:5 [N]achdem ihre Sprecher vertrieben und hierhin und dahin unter die Völker zerstreut worden waren, begnügten sie sich mit den Sprachen der Völker. Sie ließen ab von ihrer erwählten Sprache und vergaßen sie, wie es heißt: »Und sie mischten sich unter die Völker und lernten ihr Tun« [Ps 106,35]. In den siebzig Jahren des babylonischen Exils vergaß nahezu die Hälfte des Volkes seine Sprache, wie es heißt: »und ihre Söhne sprachen zum Teil aschdodisch oder in der Sprache eines und des anderen Volkes, aber sie verstanden nicht jehudisch zu reden« [Neh 13,24]. Wenn dies ihnen in so kurzer Zeit widerfahren konnte, dann erst recht uns in diesem langen Exil, in dem wir unsere Bücher und Schriften verloren haben [ ...] und uns die zahlreichen Wissenschaften, die in unserer Nation [zuhause] waren, abhanden kamen.
Profiat Duran spricht von einem fait accompli – die hebräische Sprache ist vergessen, ihre Sprecher haben sie nicht bewahrt, sie wurde verdrängt von den Sprachen der anderen Völker, und die Zeugnisse ihres Reichtums sind verloren. Profiat Duran greift auf Nehemia zurück und macht für den Niedergang der Sprache die Bereitschaft ihrer Sprecher zur Akkulturation verantwortlich. In seiner Kritik sprachlicher Angleichung geht er so weit, den Zusammenhang zwischen dem Exil und dem Niedergang der Sprache umzukehren: die Hinwendung zu anderen Kulturen könnte ein Grund für die Zerstreuung gewesen sein.6
3 .[. . . ] Õjuyimb hrcu Õtuldb hldldtn hiawun acmw hm htua acm – Jehuda ha-Levi: Kuzari, II, 68, ed. Cassel, 166 f. Vgl. oben, 45. 4 Sein intellektuelles Portrait als »uomo universale« zeichnet Barzilay: Between Reason and Faith, 169–191; eine nuancierte Analyse seines »jüdischen Humanismus« bietet Shear: Judah Moscato’s Scholarly Self-Image. 5 Profiat Duran: Ma ase efod, 39; vgl. Moscato: Qol Jehuda, II, 68, fol. 77a. 6
uhxkwiu rxbnh Õnuwl uxinhu Õhh Õiugh tunuwlb uqptsh tucrah iiug ñib hnau hna ucupnu hiwna ulgw rxa
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Die mangelhafte, die vorzügliche Sprache
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Im 18. Jahrhundert hat sich das Bild, das mit Jehuda ha-Levis Bemerkungen verknüpft wird, noch einmal erheblich gewandelt. Anders als Profiat Duran ist Zamos´c´ der Meinung, dass die Machtverhältnisse sich ganz direkt auf die Sprachverhältnisse auswirken. Das Hebräische und die Sprachen der Völker stehen nicht einfach nebeneinander, so dass es nur darum ginge, sich nicht mit einer Sprache »zu begnügen«. Bei Zamos´c´ stehen sie gegeneinander. Er spricht von der Sprache der Herrschenden, die die hebräische Sprache verdrängt hat, und vom Zwang zur sprachlichen Angleichung:7 »Als diese verarmten.« Als die Hebräer verarmten. Dies antwortete er hinsichtlich der Behauptung, die Sprache sei vollkommen, denn die Sprache wurde reduziert im Exil, da [die Hebräer] die Sprache ihrer Herren und des Landes, in das sie kamen, sprechen mussten, bis sie ihre Sprache vergessen hatten. »Und wurde beschränkt, als diese weniger wurden.« Dies antwortete er hinsichtlich des Reichtums ihrer Rede, denn sie ist nun beschränkt, weil das Volk, das spricht, gering an Zahl ist; darum wurde sie verlassen und vergessen.
Die hebräische Sprache geriet auf zwei Wegen in Vergessenheit: zum einen, weil sich die Hebräer der Sprache der Herrschenden zuwandten und ihre eigene nicht bewahrten, zum anderen aber, weil sie im Exil ihrer Sprache nicht jenen Reichtum des Ausdrucks erhalten konnten, der den Sprachen der – auch zahlenmäßig – mächtigen Völker eignet. Doch Zamos´c´ erklärt nicht nur, dass die Sprache verarmen musste, wo es ihr an Sprechern mangelte, sondern er behauptet zudem, dass ihre Armut ein Grund dafür war, dass sie keine Sprecher mehr fand. Der Verfall der Sprache endet in einer Kreisbewegung – ihre Unzulänglichkeit ist zugleich Folge und Grund des Vergessens. Das Vergessen hat sich im Bild, das Zamos´c´ entwirft, gewissermassen verdichtet. Zamos´c´ verleiht dem Thema der vergessenen Sprache aber nicht nur durch seine Beschreibung verschiedener Wege des Vergessens und des Zirkels, in den sie münden, Nachdruck, sondern auch durch konkrete
umk Õnuwl Õyh icxl burq uxkw lbb tulg lw hnw Õiybwb hnhu .Õhiwymm udmliu Õiugb ubrytiu rmaw umku rbdm Õhinib icxu butkh ruyiw .Õyu Õy ñuwlku tiduhi rbdl Õirikm Õniau tidudwa rbdm icx Õhinbu rmaw Óurah tulgb hty Õg hm hz Õhl hrq rcqh auhh ñmzb Õau tiduhi rbdl Õirikm Õniau Õyu Õy ñuwlku tidudwa .[. . . ] untmuab uih rwa tubrh tumkxh udbau [. . . ] unirubxu unirps udba rwa hzh – Profiat Duran: Ma ase
efod, 40. Zum Kontext, in dem Profiat Duran schreibt, vgl. Zwiep: Mother of Reason and Revelation, 232–236 und 253: »In all probability this critical observation was inspired by the numerous Jews who, in his days, were attracted by the Roman Catholic Church.«
7 rbdl ukrcuhw ,tulgb ñuwlh jymtn ik ñuwlh tumlwm ñyjw hm iplk biwh hzu .Õirbyh tuldb .Õtuldb aih htyw hcilmh tbxrh dgnk biwh hz .Õjuyimb hrcu :Õnuwl uxkww dy hmw uab rwa Ñrahu Õhibuw ñuwlb :hxkwnu hbzyn ñk inpmu ,hb Õirbdmh Õyh juymb hrc – Zamos´c´: Ozar nehmad, II, 67, fol. 66a.
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Ursprache
Schilderungen der Schwierigkeiten, in der Sprache, von der nur Reste erhalten sind, zu schreiben. So vergleicht er die arabische und die hebräische Sprache miteinander und gleitet dabei unversehens, über sechshundert Jahre hinweg, hinüber in die Gegenwart:8 Die arabische Sprache ist, was Substantive, Verben und Partikel betrifft, vollkommen und bietet, was immer benötigt wird, um die Gegenstände in der Welt zu bezeichnen. Dies ist nicht der Fall in der heiligen Sprache, von der wir nur besitzen, was im Tanakh gesagt ist, die Substantive aber, die im Tanakh – entsprechend seiner Gegenstände – nicht benötigt wurden, kennen wir nicht, und ebenso fehlen uns viele Verben und Partikel.
Im nächsten Paragraphen bietet sich ihm eine weitere Gelegenheit, den Mangel an Wörtern im Hebräischen hervorzuheben. Jehuda ha-Levi weist darauf hin, dass in den Büchern der Schrift keine Verlegenheit zu bemerken ist, wenn es darum geht, die richtige Bezeichnung für seltene und entlegene Gegenstände – etwa im Tempel – zu finden, sondern alles aufs genaueste beschrieben wird. Zamos´c´ nennt als Beispiel die Namen der Edelsteine in der Tora und kommentiert: »Wenn man sie nicht in der Tora gebraucht hätte, so wüssten wir heute sicher keinen der Namen dafür, wie wir auch die Namen für die übrigen Arten der Steine, Pflanzen und Geräte in der heiligen Sprache nicht kennen.«9 Im selben Zusammenhang heißt es:10 Wie sollte es sein können, dass eine weise und einsichtige Nation, dieses große Volk, mit seinen Königen an der Spitze, den Besten unter ihnen, sich einer Sprache bedient hat, die so unzureichend war wie die unsrige heute, so mangelhaft, dass sie in ihr nicht alles hätten sagen können, was gerade notwendig war, wie es heute ist, da es schwer wird, in der heiligen Sprache die Rede über die Dinge zu ordnen, wie es sich gerade ergibt, ohne irgendein Wort aus den übrigen Sprachen hineinzumischen.
Dies ist ein neuer Aspekt der Zweisprachigkeit: Das Hebräische wurde durch die Sprachen der anderen Völker nicht nur verdrängt – es kann gar nicht mehr ohne diese existieren. Das Vergessen hat die Sprache fragmentiert, und die Reste, die tradiert werden, ergeben keine vollständige, geschweige denn eine vollkommene Sprache mehr. Das Hebräi-
8 qr unl ñiaw wduqh ñuwl k`awm ,Õluyb Õiacmnh la Óruch lkk tulmu Õilypu tumwb hmlw bryh ñuwl :tulmu tuluyp hbrh Õirsx ñku ,Õtua Õiydui una ñia Õniny ipl Ó`ntb ukrcuh alw tumwh Õtuau Ó`ntb rmanh –
Ebd.
9 raw tumw Õiydui una ñiaw umk Õhm dxa Õw Õuw Õiydui uniih al hrutb Õhl ñikirc uih al ulia iadubu :q`hlb Õilkhu Õixmchu Õinbah inim – Ebd., II, 68, fol. 67a. 10 unumk rsx ñuwlb Õhmy Õdah tlugs Õhiwarb Õhiklmu hzh ludgh iugh ñubnu Õkx Õy uwmtwnw rwpa Óia ipk Õininy rups rdsl hwqw Õuih auhw umk ,Óruch ipl Õhl ñmdziw hm lk hb rbdl Õiluki uih alw dy ,Õuih :tunuwl rawm tulm hzia bury ilbm wduqh ñuwlb ñmdziw – Ebd., II, 68, fol. 66b–67a.
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sche erscheint als Sprache der Leerstellen, durchzogen von anderen Sprachen und angewiesen auf sie, eine Sprache, die ihre Selbständigkeit verloren hat.
Am Ursprung: Die Unantastbarkeit der Sprache In anderer Hinsicht hatte die hebräische Sprache nie als selbständig gegolten. Sie erschien stets gebunden an ihren göttlichen Ursprung. Dieser wird von Jehuda ha-Levi und seinen Kommentatoren eingeführt als Begründung dafür, dass das Hebräische ungeachtet seiner Mängel allen anderen Sprachen überlegen bleibt. Jehuda ha-Levis Theorie vom Ursprung der Sprachen steht Platons Auffassungen nahe. Sie widerspricht der Meinung des Aristoteles, nach der die Sprache auf Konvention beruht und ihre Zeichen arbiträr sind. Sie richtet sich aber auch gegen die Ansicht Epikurs, nach der die Sprachen auf den Lauten beruhen, mit denen der Mensch, seiner Natur entsprechend, auf die Dinge, die ihm begegnen, reagiert.11 Nach Platon entsprechen die Namen der Natur der Dinge, wenn auch nicht alle Benennungen eines Dinges seinem Wesen in gleichem Maße angemessen und ähnlich sind. Wegen der unvollkommenen Ähnlichkeit zwischen den Namen und den Dingen beruht die Richtigkeit der Zuordnungen und ihre Tauglichkeit für die Verständigung außerdem auf gewissen Konventionen, auf »Gewohnheit und Verabredung«. Die Namen sind zwar nicht willkürlich, da sie ihren Grund in der Natur der Dinge haben, unterliegen aber, insofern sie stets auch von ihr abweichen, zugleich der Konvention.12 Jehuda ha-Levi begründet nun die Vollkommenheit der hebräischen Sprache damit, dass Gott sie erschaffen und in ihr mit Adam und Eva gesprochen hat, und dass in ihr die Namen den Dingen genauer als in jeder anderen Sprache entsprechen:13 Nun stufen sich Sprach- und Schriftarten je nach ihrer Vollendung ab; bei einigen ist der Name dem Benannten sehr angemessen, was bei andern weit weniger der Fall ist. Die göttliche, (von Gott) geschaffene Sprache, die Gott den ersten Menschen lehrte und ihm in Mund und Herz legte, ist ohne Zweifel von allen die vollkommenste und dem von ihr Benannten ange-
11 12
Vgl. Wolfson: The Veracity of Scripture, 620 f. Vgl. Platon: Kratylos 435a-c, 556 f.
13 Õiquxr Õhmu Õiaurqb hbrh Õituan Õtumww hm Õhm Õtcq ly ñurti Õtcql wi Õibtkmhu tunuwlh Óa hmilwh qps ilbm auh ubblbu unuwl ly hmwu Õdal Õihlah hdml rwa haurbh tihlah ñuwlhu Õhl tuanhm auhw rmul hcr umw auh hix wpn Õdah ul arqi rwa lku rmaw umk Õlukm rtui hiaurql htuanhu tunuwlh lkm .[. . . ] wdqh ñuwll ñurtiu hlym Õuwl hzm biixthu uybj ly dmlmu ul tuanu auhh Õwl iuar – Jehuda
ha-Levi: Kuzari, IV, 25, ed. Cassel, 341 f.
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messenste: »Und wie der Mensch jedes Lebenatmende nennen würde, so sollte sein Name sein« (Gen. 2,19), d.h. es sei geeignet für diesen Namen, weil dieser ihm angemessen sei und von dessen Beschaffenheit Kunde gebe. Daraus folgt, dass der heiligen Sprache ein höherer Rang anzuweisen ist [...].
In der von Gott erschaffenen Sprache, in der die Namen den Dingen vollkommen entsprechen, finden menschliche Verabredungen keinen Platz. Wenn aber in der göttlichen Sprache mit den Worten zugleich die Dinge erschaffen wurden, stellt sich die Frage, wo im Hebräischen göttliche und menschliche Sprache auseinandertreten, wie zwischen ihnen unterschieden werden kann. Jehuda ha-Levi greift zur Beantwortung dieser Frage auf einen Gedanken der jüdischen Mystik zurück, auf das Sefer Jezira, das »Buch der Schöpfung«.14 Kurz vor der zitierten Stelle ˙ dass die Sprache, die aus Namen besteht, nicht identisch sei betont er, mit magischer Sprache. Sprache, die unmittelbar auf die Natur einwirkt und schöpferische Kraft besitzt, ist Gott vorbehalten. Zwar sind es die Buchstaben und Namen der hebräischen Sprache, durch die Gott die Welt geschaffen hat, aber sie haben bei Gott eine andere Qualität als beim Menschen. Im Sefer Jezira heißt es: »Er schuf seine Welt durch drei sefarim, s-f-r, s-f-r und ˙s-f-r« – rps rpsb ,Õirps hwlwb umluy ta arb .rpsu – Seit Saadia wird die Stelle so ausgelegt, dass die drei sefarim als sefar, sippur und sefer zu lesen sind – als Zahl oder Berechnung, Erzählung oder gesprochenes Wort und Buch oder geschriebenes Wort. Jehuda ha-Levi verbindet diese Auslegung Saadias mit der aristotelischen Theorie von der Einheit, zu der sich Subjekt, Objekt und Akt des Denkens im Prozess des Verstehens verbinden: Die drei sprachlichen Äußerungen – Denken, Sprechen und Schrift – bilden bei Gott eine Einheit, während sie beim Menschen in eine Dreiheit zerfallen.15 Das Hebräische wird also als Sprache gekennzeichnet, der die unmittelbare Wirksamkeit göttlicher Sprache fehlt, die jedoch den konventionellen Sprachen überlegen ist, da sie, wenn auch gebrochen und ohne prakti14 Zu diesem kleinen Werk über Kosmogonie und Kosmologie, in dem beschrieben wird, wie Gott »in 32 wunderbaren Wegen der Weisheit«, d. h. durch die zehn Urzahlen oder Sefirot und die 22 Konsonanten des hebräischen Alphabets, die Welt konzipiert und erschaffen hat, vgl. Scholem: Ursprung und Anfänge der Kabbala, 20–29 und ders.: Der Name Gottes und die Sprachtheorie der Kabbala, 21–26, sowie Wasserstrom: Further Thoughts on the Origins of Sefer yesirah und weitere Beiträge in Aleph 2 (2002). ˙ nur von Kabbalisten, sondern auch von Im Mittelalter wurde das Sefer Jezira nicht ˙ Philosophen intensiv rezipiert. Kommentare sind u. a. von Saadia Gaon, Sabbatai Donnolo und Jehuda ben Barzillai al-Bargeloni überliefert, s. Jospe: Early Philosophical Commentaries. 15 Vgl. ebd., 397 f.
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sches Vermögen, noch etwas vom ursprünglichen Zusammenhang zwischen Wort und Ding in der göttlichen Sprache bewahrt. Die Sprache ermöglicht Einsicht in die Natur der Dinge, weil sie ein Repertoire der Korrespondenzen darstellt. Was in den Namen aufgehoben ist, kann studiert werden. Anhand der Namen ist es möglich, sich die Natur der Dinge zu vergegenwärtigen. In seinem Kommentar bietet Zamos´c´ eine interessante Illustration dieser Auffassung. Er schreibt über die Wissenschaften, die zu König Salomos Zeit unter den Hebräern beheimatet waren, doch im Exil verloren gingen: [A]uch durch die Übersetzung aus der heiligen Sprache in die übrigen Sprachen kam es, was ihr Verständnis betrifft, zu Verlusten und zu Verwirrung – sie wurden zwar von einer Sprache in die andere gegossen, doch ihr Sinn blieb nicht erhalten. [...] Die Dinge, die in der heiligen Sprache erläutert werden, sind darin besser zu verstehen, als die Dinge, die in den übrigen Sprachen niedergeschrieben werden [...].16
Jede Übersetzung vergrößert den Abstand zwischen Namen und Ding, vermehrt die Ungenauigkeiten und öffnet dem Irrtum Tür und Tor. Mit dem Hinweis auf den göttlichen Ursprung der hebräischen Sprache konnte die besondere Bedeutung des Studiums der Schriften, die noch in ihr überliefert sind, hervorgehoben werden. Doch zugleich entstand ein Problem, wo es nicht um das rezeptive, sondern um das produktive Verhältnis zur Sprache ging. Wo die Texte und die Wörter, aus denen Erkenntnis zu gewinnen wäre, abhanden gekommen und vergessen sind, ist der Verlust endgültig, entsteht ein Mangel, der nicht durch neue Produktivität ausgeglichen werden kann, da ein schöpferisches Verhältnis zur Sprache nicht dem Menschen, sondern allein Gott zukommt. Wie problematisch diese zweite Implikation des Argumentes von Jehuda ha-Levi ist, lässt sich daran ablesen, dass seine Kommentatoren jede Gelegenheit, die der Text bietet, nutzen, um darauf zurückzukommen. Zamos´c´ schlägt vor, Jehuda ha-Levis Bemerkungen zum göttlichen Ursprung der Sprache als Absage an ihre Entstehung durch menschliche Konventionen zu lesen: »Diese Sprache existierte nicht durch Übereinkunft wie die übrigen Sprachen, die seit der Zeit der Zerteilung [nach dem Turmbau] entstanden, vielmehr ist es die Sprache, die der Schöpfer dem ersten Menschen eingab am Tag, an dem er ihn erschuf, und in der er mit ihm redete.«17 Auf den ersten Blick könnte diese Bemerkung als 16 ñuwl la ñuwlm uqruh ik úa Õtnbhb lublbhu dsphh hrq tunuwl raw la wduqh ñuwlm hqtyhh i`y Õg rawb Õibtknh Õininyh ñm ñibhl Õixukn rtui Õh wduqh ñuwlb Õiraubmh Õininyh [. . . ] :Õb Õmyj dmy al k`y :[. . . ] htluz tunuwlh – Zamos´c´: Ozar nehmad, II, 66, fol. 66a. 17 Õdab arubh Õww ñuwlh aih ˙lba .hg˙lphh tym uuhtnw tunuwl raw umk hmkshb hih al ñuwlh taz :umy rbd hbu utua aurb Õuib ñuwarh – Ebd., II, 72, fol. 67b.
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allgemeine Zurückweisung der These vom konventionellen Ursprung der hebräische Sprache gelesen werden. Tatsächlich aber meint Zamos´c´, dass das Hebräische nicht durch dieselbe Art der Konvention wie die übrigen Sprachen entstand. Schon im ersten Teil des Kuzari hatte er deutlich gemacht, dass die heilige Sprache durchaus auf Konvention beruht, wenn auch in besonderer Weise:18 Zuvor war eine Sprache und waren einerlei Worte für alle, dies war die heilige Sprache, die von Seiten des ersten Menschen auf Übereinkunft beruht, in ihr sprach der Geist des Ewigen, in der Ordnung der heiligen Sprache und ihrer Verfasstheit, wie es heißt [Gen 2,20]: »Da gab der Mensch Namen« usf., und [Gen 2,19]: »Alles Leben-Atmende, wie es der Mensch nennen würde, sollte sein Name sein«.
Was Zamos´c´ im Sinn hat, wenn er hier von Konventionen spricht, die nicht ausschließen, dass die hebräische Sprache göttlichen Ursprungs ist, lässt sich älteren Kommentaren entnehmen. Moscato verweist, wie später auch Zamos´c´, bei seinem Versuch, das konventionelle Moment zu retten, auf dessen mächtigsten Fürsprecher, auf Maimonides. Dieser hatte sich im More nevukhim mit einer knappen Bemerkung zur biblischen Erzählung von den Namen, die Adam den Tieren gab, gegen die epikuräische Theorie gewandt: »Wissen sollst du und aufmerksam werden darauf, dass wir aus dem Ausspruch ›Da gab der Mensch Namen‹ usf., lernen, dass die Sprachen auf Übereinkunft beruhen, nicht aber, wie manche dachten, natürlich sind.«19 Auch Moscato erwähnt die Konventionalität der hebräischen Sprache, um sich gegen die Theorie vom natürlichen Ursprung abzusetzen.20 Wie lässt sich dies aber damit vereinbaren, dass das Hebräische als Sprache göttlichen Ursprungs keine Angelegenheit des Menschen sein kann? Moscato bedient sich einer Konstruktion, die er bei Abraham ibn Esra finden konnte, dem wichtigsten mittelalterlichen Fürsprecher einer »revelationist-conventionalist theory« des Sprachursprungs,21 und weist darauf hin, dass Adam nur den Tieren Namen gab, keinem anderen Ding. Adam erfand die Sprache nicht, sondern zeigte nur, dass er es versteht, angemessen mit ihr umzugehen:22 18 rdsb ub rbd 'h xur rwa ñuwarh Õdam Õksum wduqh ñuwl auhu Õlukl txa hpwu dxa ñuwl 'ih hzl Õduq .umw auh 'ix wpn Õdah ul arqi rwa lku rmanu 'ugu tumw Õdah arqiu w`mk ,utxnhu wduqh ñuwl – Ebd., I,
56, fol. 13b.
19 al ,tuimksh ± tunuwlhw undml ± 'ugu tumw Õdah arqiu :urma ± uily rruyttu uhydtw Óircw hmmu .hz ubwx rbkw umk ,tuiybj – Maimonides: More nevukhim, Bd. 4, II, 30, 88. 20 21
Moscato: Qol Jehuda, I, 56, fol. 36b. Siehe Zwiep: Mother of Reason and Revelation, 150–158.
22 ,dam hlq hz [!] tbuwt ik ,haurb aihw unrma Õy 'ugu tumw Õdah arqiu butkh rmam Óily hwqi lau ñuwlh tudusim urzgn Õh Õg Õtumw rwa Õimwh úuy lau hdwh tix la qr tumw arqw butkh rmai al rwam :rumak ñuily ipm ul lxnh rwa – Moscato: Qol Jehuda, II, 72, fol. 81b.
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Der Ausspruch der Schrift: »wie es der Mensch nennen würde« usf., sollte dir keine Schwierigkeit bereiten, wenn wir auch sagten, dass sie erschaffen sei, denn die Antwort ist ganz einfach. Die Schrift sagt ja, dass er nur den Tieren des Feldes und den Vögeln des Himmels Namen gab – auch deren Namen aber waren abgeleitet aus den Grundlagen der Sprache, die er, wie gesagt, aus dem Munde des Höchsten empfing.
Mit dieser Interpretation von Gen 2,19 –20, die eine Unterscheidung trifft zwischen den Grundlagen der Sprache, die Gottes Werk sind, und den Ableitungen, die das Werk des verständigen ersten Menschen sind, könnte die Theorie vom göttlichen Ursprung der Sprache so gewendet werden, dass sie ein produktives Verhältnis des Menschen zur Ursprache nicht mehr ausschließt. Doch Moscato betont dort, wo das Thema zum letzten Mal im Kuzari auftaucht, die Determiniertheit der Sprache durch ihren göttlichen Ursprung:23 Denn nicht des Menschen sind die Anordnungen des Herzens, wo es um die Festsetzung der Grenzen der heiligen Sprache geht, und nicht des Menschen ist die Weise, ihre Namen auf seinen Lippen zu führen, denn vom Ewigen kommt die Antwort der Zunge, wie schon gesagt, dies betrifft alle Buchstaben, Punkte und Akzente in allen Worten und Sätzen.
Hier wird das konventionelle Moment für die hebräische Sprache ins Unbedeutende zurückdrängt. Die Möglichkeit eines schöpferischen Verhältnisses zu ihr wird nicht in Betracht gezogen. Die hebräische Sprache wird zu einer Ordnung erklärt, die ursprünglich und unantastbar ist. Sie kann durch ihre Sprecher nur verständig in Beziehung zu der sie umgebenden Wirklichkeit gesetzt, doch nicht modifiziert werden. Modifikationen, die doch auftreten, können keine Gültigkeit erlangen. Sie erscheinen als Abweichungen, als Verletzungen der sprachlichen Regeln, als Korruption der ursprünglichen Vollkommenheit der Sprache und ihrer Überlieferung. Die Vorstellung vom Hebräischen als Ursprache erlaubte es, an der Überlegenheit der Sprache trotz ihrer problematischen Geschichte festzuhalten. Zugleich kann der Sprache, die an ursprüngliche Festsetzungen gebunden ist, Geschichte nur als eine des Niedergangs und Verfalls begegnen. Moscatos zuletzt zitierte Äußerung könnte daher als »toter Punkt« erscheinen, an den die Reflexion über das Hebräische als Ursprache führen mochte. Mit Sicherheit war es ein kritischer Punkt.
23 'hl ik ,uitpw ly Õtumw ta tawl ukrd Õdal al Õg ,wduqh ñuwl tulubg tbchb bl ikrym Õdal al ik Õhijpwm lklu Õhirbd lkl Õimyjhu tuduqnhu tuituah lkl rumak ñuwl hnym – Ebd., IV, 25, 89.
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Vom Sinai: Eine einheitliche Sprache Moscato schrieb in einem Kontext, in dem es noch nicht um die Erneuerung und Veränderung des Hebräischen als Sprache des Schreibens ging. Die hebräischen Autoren der italienischen Frühen Neuzeit – Elia Bachur, Asarja de’ Rossi, Moscato – waren sich der Sprache, derer sie sich in ihren Werken bedienten, trotz der Spuren, die eine Geschichte des partiellen Vergessens hinterlassen hatte, sicher. So erscheint Moscatos Hinweis auf den göttlichen Ursprung der »Buchstaben, Punkte und Akzente in allen Worten und Sätzen« hier als recht unbekümmerte Referenz auf den Punkt, in dem philosophische und grammatische Diskussionen über den Sprachursprung konvergierten. Während die philosophische Diskussion sich vor allem auf die Genesis-Erzählungen von den ersten Sprechern der Sprache – von Gott, Adam und den Namen – bezog, ging es in den grammatischen Diskussionen eher um einige Exodus-Verse zur Materialisierung der Sprache und ihrer Überlieferung in der Schrift – um Gott, Moses und den offenbarten Text der Tora. Die Schrift, so rabbinische, mittelalterliche und frühneuzeitliche Traditionen, war eindeutig, was ihren eigenen Ursprung betraf. In Exodus 24,12 (»und ich werde dir geben die Tafeln von Stein, mit der Lehre und dem Gebote, das ich geschrieben«) und Exodus 32,16 (»die Tafeln waren ein Werk Gottes; und die Schrift war eine Schrift Gottes«) wurde der göttliche Ursprung nicht nur der Tora, sondern auch der Sprache, in der sie gegeben ist, bekräftigt. Die Erzählung von Esras Restitution der schriftlichen Tora nach der Rückkehr aus dem babylonischen Exil warf allerdings Fragen zur Form der Schrift auf. Während es keinen Zweifel daran gab, dass die Wörter und Abschnitte, die Vokale und Akzente samt allen Bedeutungen des Textes vollständig offenbart worden waren, so bestand doch eine gewisse Unsicherheit im Hinblick auf die Frage, welche Aspekte des Textes schriftlich gegeben waren und welche zunächst mündlich tradiert wurden. Wie sahen die Buchstaben auf den Tafeln aus? War die Tora in assyrischer Schrift offenbart worden, war diese Schrift in Vergessenheit geraten, hatte Esra die assyrische Schrift einfach übermittelt oder hatte er sie wiederhergestellt? Und wann waren – neben der Form der Konsonanten – auch die Vokal- und Akzentzeichen schriftlich festgesetzt worden? Die beiden wichtigsten Referenzen für diese Fragen bildeten ein biblischer und ein talmudischer Text. Nehemia 8,8 begegnete bereits in den Diskussionen zum Targum und war auch im Hinblick auf das Alter der Vokal- und Akzentzeichen relevant: »Und sie lasen in dem Buche, in der Lehre Gottes, deutlich mit Angabe des Sinnes, so dass sie das Gelesene verstanden.« Die Auslegung des Verses im babylonischen Talmud, in Nedarim 37b, lautet:
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R. Iqa b. Abin sagte nämlich im Namen R. Hananels im Namen Rabhs: Es heißt [Neh 8,8]: »und sie lasen in dem Buche ˙der Lehre Gottes, deutlich mit Angabe des Sinnes, sodass sie das Gelesene verstanden«. »Sie lasen in dem Buche der Lehre Gottes«, das ist die Schrift; »deutlich«, das ist die Übersetzung; »mit Angabe des Sinnes«, das sind die Absätze; »das Gelesene verstanden«, das ist die Versteilung, wie manche sagen, die Überlieferungen. R. Jic¸haq sagte: Die Lesung der Schriftschreiber, die Auslassungen der Schriftschreiber, die zu lesenden und nicht zu schreibenden und die zu schreibenden und nicht zu lesenden [Worte] sind sämtlich Mosˇe am Sinaj überliefert worden.24
Diese Passage wurde im Allgemeinen als Hinweis darauf gelesen, dass die Etablierung des vokalisierten und akzentuierten Textes der Tora auf Esra zurückgeht. Doch schon Abraham ibn Esra deutete an, dass in seinen Augen die Vokal- und Akzentzeichen einer späteren Epoche zuzuordnen sind.25 Jehuda ha-Levi wählte im Kuzari Formulierungen, die so unbestimmt waren, dass sie sich mit den verschiedensten Auffassungen vereinbaren ließen: »Man setzte die sieben Hauptvokale und die Akzente zu Zeichen der von Moses überkommenen Bestimmungen.«26 Als Elia Bachur in der berühmten Vorrede zum dritten Teil seines Werkes Masoret ha-masoret (Venedig 1538) die Vokal- und Akzentzeichen auf die nachtalmudische Zeit datierte und sie den Masoreten, die in Tiberias wirkten, zuschrieb, deutete er Jehuda ha-Levis zeitlich unbestimmtes »man setzte« (we-samu) in seinem Sinne und interpretierte auch Abraham ibn Esra und David Kimchi zu seinen Gunsten.27 Jehuda Moscato kommt in seinem Kuzari-Kommentar zur Stelle ausführlich auf Elia Bachurs Überlegungen zu sprechen. Er zitiert dessen Erläuterungen zur Geschichte der Vokalzeichen zum Teil zustimmend,28 weist aber die späte Datierung und die entsprechende Interpretation des wesamu zurück. Der chronologische Zusammenhang, in dem der Kuzari auf die Vokal- und Akzentzeichen zu sprechen kommt, zeige, dass sie 24 Die ganz ähnlichen, doch nicht identischen Formulierungen aus bMeg 3a wurden in den Diskussionen zu den Vokal- und Akzentzeichen ebenfalls herangezogen. 25 Ibn Esra: Mozne leschon ha-qodesch, fol. 1a-b, wo das Werk der Masoreten nach dem Talmud und vor den älteren mittelalterlichen Grammatiken genannt wird, und ders.: Sefer ha-zahot, fol. 7a (ed. pr. 138b), wo es ausdrücklich heißt: »So ist der Brauch ˙ der Weisen aus˙ Tiberias. Sie sind die Hauptsache, denn von ihnen kamen die Masoreten, von denen wir die Punktation empfingen.« – iwna uih Õhm ik ,rqiyh Õhu a`irbj imkx ghnm ñk ´ lie Le´vita, 298 f. .[. . . ] duqnh lk unlbq Õhm unxnau trusmh – Vgl. Weil: E 26 :[. . . ] hwmm hlbqb Õuqityh rwa Õhh tunuktl tutua Õimyjhu Õiklmh ybw umwu – Jehuda ha-Levi: Kuzari, III, 31, ed. Cassel, 238. 27 Elia Bachur (Levita): Masoret ha-masoret, 121–131, hier 126 f.; seine Verweise auf Ibn Esra und Kimchi: 125 f. und 121 f. Zur Rezeption Elia Bachurs unter den christlichen Hebraisten vgl. Burnett: From Christian Hebraism to Jewish Studies, 203–239. 28 Moscato: Qol Jehuda, III, 31, fol. 35b–37b.
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dort als Werk der ansche knesset ha-gedola, der »Männer der Großen Versammlung«, d. h. der Generation Esras, gedeutet werden.29 Jehuda Moscatos wichtigstes Argument gegen Elia Bachurs Datierung ist – ohne dass dies kenntlich wird – einem anderen Werk entnommen. Es beruht auf Asarja de’ Rossis Untersuchungen im 59. Kapitel des Me or enajim. Elia Bachur hatte darauf hingewiesen, dass die Vokalund Akzentzeichen im Talmud unerwähnt bleiben, und daraus geschlossen, dass sie zur Zeit der Redaktion des Talmud noch unbekannt waren. Asarja de’ Rossi hält ihm entgegen, dass den Vokalzeichen in kabbalistischen Werken wie dem Bahir und dem Zohar (die man zu seiner Zeit für älter als den Talmud hielt) große Bedeutung zukommt. Er räumt aber ein, dass Elia Bachur diese Werke womöglich unbekannt blieben, da sie zu seinen Lebzeiten noch nicht gedruckt waren. Moscato übernimmt De’ Rossis Argument, paraphrasiert es und zitiert zum Teil dieselben mystischen Texte, die sich schon in Me or enajim fanden.30 Gegen Ende des 59. Kapitels entwirft Asarja de’ Rossi seine eigene Theorie von den Vokalzeichen. Er fügt in die Rede vom göttlichen Ursprung der Sprache eine wechselhafte Geschichte der schriftlichen Aufzeichnung ein, so dass die Gegensätze zwischen den verschiedenen Auffassungen der früheren Gelehrten aufgehoben scheinen:31 Da wir gesehen haben, dass die Kabbalisten auch in [den Vokalzeichen] Geheimnisse entdecken, ist es wirklich möglich, dass sie am Sinai empfangen wurden, wenngleich sie danach auch unter uns erfunden wurden. Der Ewige weiß, ob die Gedanken der Menschen nichtig sind. Nach unserer Methode, sind alle Worte der Weisen, die wir zu Beginn des Kapitels anführten, gerechtfertigt. Die Vokalzeichen wurden am Sinai, zur Zeit Esras und nach dem Abschluss der Gemara gegeben, denn wenn sie nach Zeiten des Vergessens oder der Verwirrung unter der Menge erneuert wurden, sah es so aus, als seien sie gerade an jenem Tage gegeben worden. Zugleich ist es gerechtfertigt, wenn es uns so scheint, als seien sie zusammen mit den Buchstaben der Schrift in den Tagen der Schöpfung angeordnet worden. Alles war immer ein Prozess des Vergessens und der Wiederherstellung. 29 Ebd., III, 31, fol. 36b. Burnetts Behauptung, Asarja de’ Rossi habe die einzige direkte jüdische Antwort auf Masoret ha-masoret formuliert (From Christian Hebraism to Jewish Studies, 207 f.), ist offensichtlich nicht ganz zutreffend. Neben Moscato wendet sich auch Schabbetai Sofer gegen Elia Bachur, und auch er zitiert in diesem Zusammenhang – namentlich – Asarja de’ Rossi; s. u., 130. 30 Moscato: Qol Jehuda, III, 31, fol. 37a. Zu Asarja de’ Rossi und Moscato – und zu den neoplatonischen Tendenzen im Werk beider – s. Idel: Judah Moscato, 50. 31 tacmh ñk irxa uih Õa ik inism ulbqtnw ñkti rumak tudus Õhl Õg Õisxim Õilbuqmh untuarb ik tmau qrph warb uycuh rwa Õimkxh irbd lk hz unkrd ipl ik irh ,lbh hmh Õa Õda 'ubwxm ydui 'h unlwm im ua Õxktwh irxa za Õwdxthb uarnw uniih armgh tmitx rxau arzy imibu inism untn tuduqnhw udxi uqdci imim btkh tuitua Õy turdusm ñtuih unl harnw hm Õhmy qdci Õgu untn auhh Õuih uliak ñumhh dib Õlblbth .[. . . ] Õudsiu urzxu Õuxkw d`y dimt lkhu ,tiwarb – Asarja de’ Rossi: Me or enajim, 180b, engl:
The Light of the Eyes, 707.
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Mit seiner letzten Bemerkung über die Anordnung der Vokale und Buchstaben der Schrift »in den Tagen der Schöpfung« schlägt Asarja de’ Rossi einen Bogen, der von den Debatten über Moses, den Ursprung der Schrift und die Geschichte ihrer Aufzeichnung zu den Diskussionen über Adam und den Ursprung der Sprache zurückführt. Er bezeichnet so den doppelten Kontext, in dem Moscatos Bemerkung über die Anordnung der »Buchstaben, Punkte und Akzente in allen Worten und Sätzen« Bedeutung zukam – als Antwort auf einige sprachkundliche wie philosophische Probleme. Nur wenige Jahre nachdem Moscatos Qol Jehuda (1594) in Venedig gedruckt worden war, erschien in derselben Stadt Jehuda Löw ben Bezalels Abhandlung Tif eret Jisra el (1599). Wie Moscato interpretiert auch Jehuda Löw den Zusammenhang zwischen dem Ursprung der Sprache und dem Ursprung der Schrift etwas strikter als Asarja de’ Rossi. In seinem Kommentar zu bNedarim 37b betont er die Vollständigkeit der Überlieferung vom Sinai, die die Abtrennung der Worte, die Buchstaben und die Vokale einschließt:32 Wie [...] schon bemerkt, ist an der Lehre des Ewigen nichts zu verbessern oder zu verändern, denn den Worten des lebendigen Gottes kann man nichts hinzufügen, nichts kann entfernt und nichts verändert werden, weder bei den Wörtern, noch bei den Buchstaben oder den Punkten. Dies alles wurde überliefert als Halacha an Moses vom Sinai.
Im Folgenden erklärt Jehuda Löw etwas überraschend, dass er mit den »Punkten« nur die Vokale selbst, nicht aber die Vokalzeichen meint, die lediglich dem Gedächtnis dienen und durch ihre Form die Laute zwar aufs Genaueste symbolisieren, doch auch ohne Halachot vom Sinai und unabhängig von Esras Gelehrsamkeit etabliert werden konnten. So wird deutlich, dass die Vokalzeichen, selbst wenn sie menschlichen Ursprungs sind, doch kein Anlass sein können, eine Geschichte der schriftlichen Aufzeichnung – des Vergessens, der Unsicherheit und der Restitution – zu entwerfen. Jehuda Löw zeichnet ein Bild der Überlieferung, das keine Unterbrechungen, keine Unsicherheiten, keine Vervielfältigung der Versionen, keine Irrtümer und Widersprüche kennt, die nach einer Wiederherstellung der richtigen Fassung der Lehre verlangen: Es ist jedenfalls klar geworden, dass sich die Anordnung der Punkte, wenn sie den Wegen der Sprache folgt, aus der heiligen Sprache selbst ergibt, so dass es dazu keiner Halacha an Moses vom Sinai bedarf; wenn aber die
32 llk ñuyrgu tpsut ub ñia 'iix 'qla irbd ik iunw ub ñiau llk ñuqt Õuw 'h trutb rmul ñiaw [. . . ] unrma rbk .inism hwml hklh rsmn lkh qr ttuduqnb alu tuituab alu 'bitk alu iunw alu – Jehuda Löw ben
Bezalel: Tif eret Jisra el, Kap. 66, fol. 67b.
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Ursprache
Anordnung der Punkte den Wegen der Sprache nicht entspricht, so ist sie »Lesung der Schriftschreiber« [miqra sofrim], und diese ist Halacha an Moses vom Sinai; [...] endlich ist die Lesung der Punkte, die der Grammatik nicht entsprechen, nicht das Werk Esras, vielmehr gehen sie zurück auf die Gabe der Tora.33
Der Text der Tora, der bisweilen »den Wegen« der hebräischen Sprache folgt, bisweilen von ihnen abweicht, ist in jedem Fall das Ergebnis ursprünglicher Offenbarung und ihrer zuverlässigen Tradierung. Jehuda Löws Überlegungen entstanden zu einer Zeit, zu der die Überlieferung des biblischen Textes tatsächlich recht einheitlich und stabil geworden war. Die Masoreten des frühen Mittelalters und die Naqdanim (»Punktatoren«) des 12. bis 15. Jahrhunderts hatten einen Text etabliert, der weitgehend akzeptiert war. Mit der von Jakob ben Chajjim ibn Adonija besorgten, sorgfältig kompilierten und korrigierten Ausgabe der Miqra ot gedolot (»Rabbinerbibel«), die bei Bomberg in Venedig im Jahr 1525 gedruckt wurde, erhielt der Text auf neue Weise dauerhafte Gestalt. Während der standardisierte biblische Text es Jehuda Löw erlaubte, ein stabiles Bild der Überlieferung zu zeichnen, verhielt es sich mit den liturgischen Texten etwas anders. Es waren vor allem die zahlreichen liturgischen Dichtungen, die Pijjutim, die von verschiedenen aschkenasischen Varianten des Hebräischen zeugten, sprachlich der Mischna oft näher standen als der Bibel und vom masoretischen Standard deutlich abwichen. Die erfolgreiche Standardisierung des biblischen Textes und die Einführung des Buchdrucks, der lokale Varianten auch außerhalb ihres ursprünglichen Geltungsbereichs sichtbar machte, Divergenzen zwischen verschiedenen Überlieferungen schärfer hervortreten ließ und sich zudem häufig als zusätzliche Fehlerquelle erwies, führten zu neuen Bemühungen um die Standardisierung auch des liturgischen Textes.34 Diese fanden ihren Ausdruck insbesondere im Projekt der Institutionalisierung einer autoritativen Ausgabe des Gebetbuches für alle Gemeinden, die zu Beginn des 17. Jahrhunderts in der »Dreiländersynode« der Juden Polens, Litauens und Russlands vertreten waren. Der Plan konnte umgesetzt werden, als Schabbetai Sofer, der kühnste Autor unter jenen, die sich mit der Anwendung der Regeln masoretischer Vokalisation auf den liturgischen Text befassten, ein korrigiertes Gebetbuch zum Druck vorlegte. Die Approbation, mit der die »Dreiländer33 hklh Óirc alu wduqh ñuwlb hlut auh iadub hz rbd ñuwlh Órdb auh Õa duqnh ik rabth Õuqm lkmu tairq úus úus [. . . ] inism hwml hklh auhu Õirpus arqm llkb auh ñuwlh Órdb duqnh ñia Õau inism hwml .hruth tnitn Õy uih qr arzy hz hwy al qudqdh ñm Õiacui Õhw tuduqnh – Ebd., fol. 68a-b.
34 Zur Geschichte der Vokalisation des liturgischen Textes in der frühen Neuzeit s. Reif: Shabbethai Sofer, 29–38.
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Die mangelhafte, die vorzügliche Sprache
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synode« das Werk im Jahr 1618 autorisierte, zeigt, wie religiöse und praktische Erwägungen einander wechselseitig stützten. Sie zitiert zunächst Passagen aus der rabbinischen Literatur, kabbalistischen Werken und dem Schulkhan arukh zur Bedeutung der richtigen Aussprache der Gebete und wendet sich dann den zeitgenössischen Verhältnissen zu:35 Als aber die Weisen der Generation sahen, dass die meisten sich beim Gebet in diesen Dingen auf die gedruckten Gebetbücher verlassen, die in Wirklichkeit allesamt nicht richtig sind, vor allem, was die Punkte, den Dagesch und den Rafe betrifft, so wählten wir den großen Gelehrten, unseren Lehrer und Meister Schabbetai, sein Fels möge ihn bewahren, den Sofer aus Przemysl, und baten ihn, das Gebetbuch auf das ganze Jahr zu korrigieren. [...] Nun steht im Protokollbuch der Dreiländersynode für die Frühjahrsmesse des Jahres 1610 geschrieben, dass die Erwählten unter den Weisen der Generation und die Landeshäupter sich versammelten und festsetzten, dass in allen Gemeinden ein Gebetbuch korrigiert wird, das der Kantor für sein Gebet benutzen und jeder Hausvater zur Grundlage der Korrektur seines eigenen Gebetbuchs machen soll. Da wir nun sahen, dass das Gebetbuch, das unser Lehrer und Meister Schabbetai drucken ließ, aufs genaueste korrigiert ist [...], urteilen wir, dass jede Gemeinde unbedingt dazu verpflichtet ist, eines jener Gebetbücher zu erwerben [...].
Schabbetai Sofers Siddur wurde in Prag im Jahr 1617 gedruckt, doch weder von dieser noch der folgenden Ausgabe, die 1625 in Lublin erschien, sind Exemplare überliefert. Nur die Approbationen und das Titelblatt mit dem Vorwort zur zweiten Ausgabe, das zusammen mit dem Manuskript aufbewahrt blieb, zeugen noch davon, dass das Werk wirklich zum Druck gelangte.36 Der Kommentar, der das korrigierte Gebetbuch begleitete, blieb bis vor kurzem ungedruckt. In Lublin war schon Ende des 16. Jahrhunderts eine neue Ausgabe liturgischer Texte veröffentlicht worden, die von Salomon Luria korrigierte »Ordnung der gottesdienstlichen Hymnen«, Seder ha-zemirot (1596). Schabbetai Sofer hatte bei Salomon Lublins Schüler Mordechai Jaffe studiert, ehe dieser von Lublin nach Kremenetz und Prag wechselte,37 lebte aber in Przemysl, wo gegen Ende des 16. Jahrhunderts ein 35 dxa Õg ñia tmab rwa ,Õispdnh Õirudish ly ula 'ininyb Õikmus Õillptmh burw rudh imkx tuarbu uwqbu alwmyrpm rpus Ñ`i itbw r`rhm úulah ta urrb k`y ,iprhu wgdhu tuduqnh ñinyb jrpb unuqtk Õhm upsatnw q`pl y`w rda dirib 'ucra 'gd sqnpb 'utk acmnw rxamu .[. . . ] hnwh lkm tulpt ruds highl unmm lyb lkw uzirkiu ub llpti ñzxhw dxa rudis uhigi tulihq lkbw unqtu 'unidmh iwar úurcb rudh imkxm Õirrubm ,[. . . ] duam hgum auh l`nh itbw r`rhm sipdhw rudshw unituarb k`y ,rudish utua Óutm ulw rudis higi tibh .[. . . ] l`nh Õirudsh 'tuam dxa ruds p`ky tunql Õibiiuxm lhqu lhq lkbw unxna 'irzug k`y – Schabbetai
Sofer: Siddur, Bd. 2, 17. 36 Ebd., Bd. 1, 29 f. (Reproduktion des Titelblatts und der ersten Seite) und Reif: Shabbethai Sofer, 53. 37 Schabbetai Sofer: Siddur, Bd. 2, 32 f.
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Ursprache
Zentrum grammatischer Studien entstanden war.38 Mit den Rabbinern, von denen er lernte und die sein Werk unterstützten, teilte Schabbetai Sofer die Auffassung, dass nicht nur die Vokale, sondern auch die Vokalzeichen auf die Offenbarung am Sinai zurückzuführen seien, wie dies in der rabbinischen und kabbalistischen Literatur bezeugt werde. So verteidigt er in einem weiteren unveröffentlichten Manuskript David Kimchi gegen Elia Bachurs Behauptung, der sefardische Grammatiker stütze eine späte Datierung der Vokalzeichen, und zitiert zustimmend Asarja de’ Rossis Entwurf einer wechselhaften Geschichte des Vergessens und der Restitution der Zeichen.39 Aus Schabbetai Sofers Kommentar zum Gebetbuch geht deutlich hervor, wodurch er zum wichtigsten aschkenasischen Grammatiker des 17. Jahrhunderts wurde. Die Überlegungen zum Ursprung der Vokalzeichen am Sinai werden nun aus dem Zusammenhang allgemeiner Studien zur Bibel und der Geschichte der hebräischen Sprache herausgelöst und systematisch auf das konkrete Problem der Standardisierung des liturgischen Textes bezogen. Sie werden zur Grundlage der Auffassung, dass der biblische Text die Norm ist, die auch für liturgische Texte gilt, dass also biblische und liturgische Sprache eine Einheit bilden, die durch eine Geschichte der Irrtümer und Fehler zerfiel und nun wiederhergestellt werden muss. Zum Segensspruch über den Wein schreibt Schabbetai Sofer:40 Da – wie erwähnt – in der gesamten [heiligen] Schrift das Wort gefen [»Weinstock«] vor einer Pause mit einem Qamaz unter dem Gimel geschrieben wird [also gafen], müssen wir sagen, dass˙ derjenige einem Irrtum unterliegt, der bore pri ha-gefen sagt [...]. Wer dies ändert, verstößt gegen die Überlieferung unserer Vorfahren, ihr Andenken zum Segen, die sich, wie erwähnt, auf die Überlieferung der Halacha an Moses vom Sinai verließen. Dies genügt dem Verständigen, der die Wahrheit anerkennt.
Hier zeigt sich deutlich, wie nützlich Asarja de’ Rossis Erzählung von der wechselhaften Geschichte der hebräischen Sprache für den Grammatiker war. Sie ermöglichte es, den »toten Punkt«, an den das Narrativ von der ursprünglichen Vollkommenheit der Sprache und ihrem Niedergang im Exil führen konnte, zu umgehen und an dessen Stelle eine Geschichte des Vergessens, der Irrtümer und der Restitution zu setzen.
38 39 40
Reiner: A Biography of an Agent of Culture, 239. Schabbetai Sofer: Siddur, Bd. 2, 223 f.; Reif: A Defense of David Qimhi, 219. rmuah hpb tuyj lpnw rmul unl wi rkznk qsphb habwk Ñ`mqb l`migh ñpg Õw arqmh˙ lkbw rxamu
ly rbuy hnwmh lku itbtkw Õillkh ip ly qsphh inpm Ñ`mqb hturql Óirc ik l`ugsb l`migh ñpgh irp arub .tmah ly hdumh ñibml hzb idu ,rkznk inism hwml hklh tlbq ly ukmsw l`z uninumdq tlbq – Zit. nach
Reif: A Defense of David Qimhi, 221; s. auch Schabbetai Sofer: Siddur, Bd. 2, 226. ˙
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Die mangelhafte, die vorzügliche Sprache
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Schabbetai Sofer lässt keinen Zweifel daran, dass inmitten der Vervielfältigung sich widersprechender Meinungen und Praktiken die »Wahrheit« wiederhergestellt werden kann. Besser überliefert als alle anderen Werke Schabbetai Sofers sind seine Anmerkungen zu Moses Kimchis Grammatik Mahalakh schevile hada at (Lublin 1622). Die Reflexionen zum göttlichen Ursprung »aller Buchstaben, Punkte und Akzente in allen Worten und Sätzen«, die sich bei Asarja de’ Rossi und Moscato fanden, fasst Schabbetai Sofer hier zusammen, indem er sie auf die gesamte Grammatik der hebräischen Sprache überträgt. In seiner Einleitung zum Mahalakh heißt es:41 Ich wusste um den Rang dieser Wissenschaft, die die Grundlage der gesamten Lehre und des Haltens der Lehre ist. Keiner vermag ohne sie auch nur eine Hand oder einen Fuß zu rühren, dies gilt für die Bibel wie für die Mischna, die Gemara und die aggadischen Midraschim [...]; diese Wissenschaft wurde Moses am Sinai mündlich überliefert, wie es in Nedarim, im vierten Kapitel, auf Blatt 37b mit den Worten »Lesung der Schriftschreiber« [miqra soferim] angedeutet ist, und sie ist es, die es dem Menschen ermöglicht, die Lehre des Ewigen und ihre Geheimnisse zu verstehen [ ...].
Schabbetai Sofer greift hier eine Vorstellung auf, die schon in Jehuda Löw ben Bezalels Tif eret Jisra el angedeutet war: Die »Wege« der hebräischen Sprache und der Text der schriftlichen Tora entsprechen einander nicht völlig. Wenn man aber davon ausging, dass die schriftliche Tora Unregelmäßigkeiten enthält, die sich, wie Jehuda Löw schrieb, der Grammatik entziehen, so ergab sich für die »Wissenschaft« von der Grammatik ein Problem: Sie ließ sich nicht ableiten aus einem Text, der als grammatisch uneinheitlich galt, zugleich aber überall autoritativ war. Ein solcher Text erlaubte letztlich keine Entscheidungen darüber, welche sprachlichen Erscheinungen die Regeln definieren und welche als Ausnahmen anzusehen sind. Schabbetai Sofer löste dieses Problem, indem er die Wissenschaft von der hebräischen Grammatik zu einem Gegenstand der mündlichen Lehre erklärte. Mit Hilfe der mündlichen Tora wird es möglich, die schriftliche Tora als stabile und einheitliche Überlieferung der Verfasstheit der hebräischen Sprache zu lesen, die sprachliche Regeln wie Ausnahmen definiert. Als Text, der eine grammatische Definition aller regelmäßigen wie unregelmäßigen sprachlichen Erscheinungen zulässt und nirgends durch Stellen unterbrochen wird, die solche Definitionen in Frage stellen, konnte die schriftliche
41
[ . . .] al ,hdylbm ulgr tau udi ta wia Õiri alu ,hmuiqu hruth dusi aihw ,hmkxh taz tlym itydi ,Õirdnd 'd qrpb 'tiadk hp lyb inism hwml hrsmn hmkxh tazu [. . . ] hdga wrdmbu armgbu hnwmb alu arqmb .[. . . ] hitumulytu 'ii trut Õdah ñibi hdi lyu ,'rpus arqm tlmb b`y z`l údb hz zmru – Kimchi, Moses: Mahalakh, fol. 2b.
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Ursprache
Tora zur Grundlage für die Standardisierung der hebräischen Sprache werden. Zugleich ermöglichte es ein solcher Text, die Kenntnis der Grammatik zum methodischen Ausgangspunkt nicht nur der richtigen Analyse der Liturgie, sondern der jüdischen Überlieferung überhaupt – der Schrift, des Talmuds, der Midraschim und der kabbalistischen Literatur – zu erheben. Schabbetai Sofers kühne Verallgemeinerung – sein Schluss von den Vokalzeichen auf die Grammatik überhaupt – ermöglichte es ihm, mit Entschiedenheit das biblische zum normativen Hebräisch zu erklären. Grammatische Entscheidungen würden von nun an auf einer einheitlichen und eindeutigen textuellen Grundlage beruhen. Diese Annahme wurde in seinen Werken zum Ausgangspunkt scharfzüngiger und witziger Kritik an abweichenden Meinungen und Traditionen.42 Schabbetai Sofers Selbstbewusstsein zeigt sich aber nicht nur gegenüber den Gelehrten, die er herausfordert, sondern auch gegenüber den Lesern, die er umwirbt. Er versichert ihnen, dass jeder den neu kommentierten Mahalakh als Einführung ins Hebräische nutzen und danach selbständig weitere Grammatiken studieren kann, bis er am Ende auch die Kabbala verstehen wird. Seine Erschließung des biblischen Hebräischen würde die hebräische Sprache zu einem allgemein zugänglichen Gegenstand des Wissens machen.43 Angesichts der neuen Ansätze zur Erforschung der hebräischen Grammatik, die Schabbetai Sofer erkundete, bezeichnete Stefan Reif ihn zu Recht »as a forerunner of the work of such later scholars as Solomon ›Zalman‹ Hanau, Isaak Satanow, Judah Ben-Ze ev, Wolf Heidenheim and Seligmann Baer.«44 In Schabbetai Sofers Werk zeichnet sich eine Konfiguration ab, die die Rede vom Ursprung der hebräischen Sprache noch lange Zeit prägte: Die Sprache der (heiligen) Schrift gilt als offenbart, doch anders als die philosophische Diskussion über den göttlichen Ursprung und den nicht-konventionellen Charakter der Sprache es nahezulegen schien, bedeutet dies für die Grammatiker nicht unbedingt, dass das Wissen von der Sprache sich ihren Sprechern entzieht. Im Gegenteil: Wenn sich alle sprachlichen Möglichkeiten auf einen Ursprung und eine normative Grundlage zurückführen (und alle abwei-
42 Allerdings nannte Schabbetai Sofer seine Zeitgenossen nicht beim Namen, und Elia Bachur, gegen den die meisten seiner spöttischen Bemerkungen gerichtet waren, galt ohnehin als umstritten (Reif: A Defense of David Qimhi, 218). Wenn Schabbetai ˙ an, dass dieser Meister Sofer einmal auch David Kimchi kritisiert, so merkt er vorsichtig der hebräischen Sprache sich hier wohl auf das Werk eines anderen Autors verlassen habe (ebd., 223). 43 Kimchi, Moses: Mahalakh, fol. 3a. 44 Ebd., 213.
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Grammatik
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chenden Sprachpraktiken »korrigieren«) lassen, kann das Wissen von der Sprache auf neue Weise als einheitlich und zugänglich beschrieben werden.
2. Grammatik Ein Zeichen dafür, dass nach Jahrzehnten einer gewissen Gleichgültigkeit gegenüber der Grammatik der hebräischen Sprache um 1700 im westlichen Aschkenas ein neues Interesse an ihr erwachte, sind einige Grammatiken, die in Frankfurt am Main, Amsterdam, Fürth und an anderen Orten erschienen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie das Erlernen der Grammatik strikt auf das Torastudium beziehen. Doch abgesehen davon unterscheiden sie sich nicht nur, was die Anordnung des grammatischen Wissens betrifft, sondern auch im Hinblick auf ihre Kontexte, ihre Begründungen, ihre Ansätze und Implikationen erheblich voneinander. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts setzen die Verhandlungen über das »Gesetz« der Sprache ein. Dieses Gesetz wird zum ersten Mal entschieden in Frage gestellt, hartnäckig umgangen und unwirksam gemacht, zugleich aber bestimmter denn je zur Geltung gebracht.
Grenzgänge Jehuda Leib ben David Neumark (gest. 1723) aus Hanau, der Verfasser der Grammatik Schoresch Jehuda, die 1692 in Frankfurt erschien, wurde schon von Ludwig Geiger und Moritz Steinschneider als ungewöhnliche Figur gewürdigt. Aus der Begründung für den Schutzbrief, den Neumark 1694 für Berlin erhielt, geht hervor, dass er als jüdischer »Informant« lebhafte Kontakte zu christlichen Gelehrten unterhielt. Er habe »nun bereits 10 Jahr lang an verschiedenen orten [ .. .] viel Christen mancherley alters und condition, darunter auch Predigeren, Doctores und Professores Theologiae in Hebräischen, Caldeischen und Rabbinischen Wissenschaften treulich informiret« und möge sich nun »alhier«, in Berlin, niederlassen und »diejenige so seiner information gebrauchen wolten, frey und ungehindert informiren«.45 In Berlin scheint sich Neumark, obgleich sein Schutzbrief dies nicht zuließ, zunächst im Buchhandel betätigt zu haben, was im folgenden Jahr »[s]ämmtliche Buch-
45 Datiert vom 18. Dezember 1694, zit. nach Geiger: Geschichte der Juden in Berlin, Teil 2, 53.
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Ursprache
händler« der Stadt, so Geiger, zur Klage gegen ihn veranlasste. Diese wurde abgewiesen. Ein in diesem Zusammenhang erstelltes Inventar der Bücher, die Neumark auf Bestellung vertrieb, enthält nur wenige – fast nie mit Titel angeführte – hebräische Drucke. Bei den meisten Werken handelt es sich um lateinische theologische Literatur, doch auch »10 Gesangbücher Lutheri« werden genannt.46 Aus demselben Jahr ist eine behördliche Anweisung überliefert, die sich gegen den Bann richtet, der »alhier oder auch in Pohlen schon« gegen Neumark verhängt worden sein soll. Die Gemeindeältesten und -vorsteher werden angewiesen, »Ihm in der Synagogue wegen seiner Studien einen ehrlichen orth anzuweisen, auch die gemeinde mit Nachdruck dahin anzuhalten, dass selbige ihn in seinem Berueff nicht weiter beschimpffen solle«.47 Welcher der Berufe Neumarks ist hier gemeint? Dem Lieferanten lateinischer theologischer Werke und dem Gesprächspartner protestantischer Pastoren und Professoren mag man ebenso mit Misstrauen begegnet sein wie dem Autor einer hebräischen Grammatik, die in diesem Umfeld entstand. Neumarks Aktivitäten – als Grammatiker, »Informant« oder Buchhändler – weisen ihn als Grenzgänger zwischen jüdischer und christlicher Welt aus. Auch später noch ist seine Tätigkeit in christlichen hebraistischen Zusammenhängen bezeugt. Daniel Ernst Jablonski (1660–1741), Enkel des Comenius, Professor, Hofprediger und »Generalsenior« der Brüdergemeinde in Polen und Preußen, gründete 1697 die erste hebräische Buchdruckerei Berlins, und Neumark wird sein »Factor«: zwischen 1699 und 1702 ist er in mehreren der dort erschienenen Werke als derjenige genannt, der den Druck besorgte.48 Einige Jahre später war er – wieder in Hanau – Leiter der Druckerei, die der Orientalist Heinrich Jacob Bashuysen dort zwischen 1708 und 1712 unterhielt.49 46
Die Liste liegt einem behördlichen Schreiben vom 7. Oktober 1695 bei, ebd., 54. Ebd. 48 Steinschneider: Hebräische Drucke in Deutschland, Bd. 1, 377–380. Jehuda Neumarks Sohn, Natan Neumark, führte von 1719 bis 1727 eine eigene Druckerei, vgl. ebd., Bd. 3, 84 f. – Jablonski ist auch der Autor einer Empfehlung auf dem Titelblatt zu Schlomo Salman Hanaus Grammatik Zohar ha-teva (Berlin 1733). Zudem begegnet er in Mendelssohns Einleitung zu seiner˙ Pentateuch-Ausgabe, wo Mendelssohn darauf hinweist, dass er ein Manuskript mit dem Kommentar des Raschbam aus Jablonskis Bibliothek benutzen konnte – ein Manuskript, das Jablonski wiederum aus David Oppenheims Bibliothek erhalten hatte, um es drucken zu lassen (JubA 14, XCIII und 246). 49 Steinschneider: Christliche Hebraisten, 51, wo allerdings irrtümlich Hannover statt Hanau (lat. Hanoviae) als Sitz der Druckerei angegeben ist. Steinschneider bemerkt, dass Bashuysen ein Kompendium von Jacob Altings Fundamenta punctationis linguae sanctae (4. Aufl. Frankfurt 1686, 5. Aufl. ebd. 1687) herausgab, und vermutet, dass Neumark Alting benutzt hat, s. Steinschneider: Bibliographisches Handbuch, Nr. 37, 5 und (ohne Nummer) 18 sowie ders.: Hebräische Drucke, Bd. 1, 377 f. 47
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Grammatik
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Neumarks Vorrede zu seiner Grammatik liest sich wie ein dichter, gelehrter Überblick über einige der wichtigsten Motive, die sich im Hinblick auf die Geschichte und Gegenwart der hebräischen Sprache zu seiner Zeit herausgebildet hatten. Nur Fragen der jüdischen Zweisprachigkeit interessierten ihn offenbar kaum, noch beunruhigten sie ihn. Sein Text wird beherrscht von einer anderen Differenz, von der Notwendigkeit, eine Grenze nach außen festzulegen: zwischen Juden und Christen. Neumarks Grenzgänge stehen neben dieser Insistenz auf der Möglichkeit, Grenzen aufrecht zu erhalten und zu sichern, und es ist nicht deutlich, ob die eine der anderen Praxis widerspricht oder ob sich beide Tendenzen ergänzen. Die Vorrede beginnt mit ausführlichen Zitaten aus der kabbalistischen Literatur, aus Josef Gikatillas Ginnat egoz und dem – 1685 in Amsterdam zum ersten Mal gedruckten – Hesed le-Avraham des Abraham ˙ Kuzari zitiert. Mit diesen drei Asulai, der wiederum Jehuda ha-Levis Autoren bekräftigt Neumark zunächst den göttlichen Ursprung der hebräischen Sprache. Anschließend wendet er sich dem Hebräischen in der Geschichte der jüdischen Nation vor dem babylonischen Exil zu:50 Und nach der Sprachverwirrung blieb die heilige Sprache bei einer heiligen Nation, bei den Vätern und ihren Nachfahren, die sie benutzten bis zur Vertreibung [aus] dem Land, der ersten [Tempel-]Zerstörung. Ich zweifle nicht daran, dass die heilige Sprache während der ganzen Zeit des ersten Tempels verbreitet und ihnen geläufig war [...].
Die enge Verbindung zwischen der heiligen Sprache und der »heiligen Nation« vor dem babylonischen Exil, die Neumark hier schildert, bildet einen scharfen Kontrast zur Entfremdung zwischen der Sprache und ihren Sprechern, die seither stattgefunden hat. Neumark schreibt die Geschichte des Sprachverlusts als Geschichte der Auflösung der eindeutigen Verbindung zwischen Sprache und Nation. Zwischen die Sprache und ihre Sprecher schieben sich andere Sprachen und fremde Nationen. Neumark rekurriert auf Maimonides’ Darstellung des babylonischen Sprachverlusts, doch er übernimmt sie nicht unverändert. Eine kleine Bemerkung, die er einfügt, bringt auf erstaunlich direkte Weise den Zusammenhang zwischen der hebräischen Sprache und der Fähigkeit zur Unterscheidung zum Ausdruck, der in Maimonides’ Text lesbar, doch nicht explizit formuliert war:51 50 dy hb uwmtwnw Õhirxa Õyrzu tubah Õh hwudq hmua dib wduqh ñuwl hrawn tunuwlh tulblbth irxau .[. . . ] Õlca hligru hiucm wduqh ñuwl htih ñuwar tib ñmz lkw ilca qps ñiau ñuwar ñbruxb Ñrah tulg Õui –
Neumark: Schoresch Jehuda, Haqdamat ha-mehabber [unpaginiert]. 51 .hduyth dusi Õhm ljbtn .Õhituba huryw al .Õhl al˙ Ñrab hnuwar unituba ulg rwak .Õhh Õimib hihu ipl .Õtucrab unuwll wia lk .tidudwa rbdm Õyh icxu .tiduhi ñuwl Õhm hxkwn .hduhi tib Õiugh lkk uihu .Õtulg tumuqm – Ebd.
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Ursprache
Es war in jenen Tagen, als unsere Vorfahren zum ersten Mal vertrieben wurden in ein Land, das nicht das ihre war, da haben unsere Vorväter sie [ihre Sprache] nicht bewahrt, die Grundlage der Schrift kam ihnen abhanden, und das Haus Jehuda wurde allen Völkern gleich. Die jüdische Sprache haben sie vergessen, die Hälfte des Volkes sprach Aschdodisch, ein jeglicher in der Sprache seines Landes, entsprechend den Orten des Exils.
Die Sprache erscheint als Hüterin der Differenz zwischen Juden und Nichtjuden, als unterscheidende Kraft schlechthin. Die Sorge um die hebräische Sprache wird zur Sorge um die Erhaltung dieser Differenz. Gefährdet ist die Möglichkeit, sich zu unterscheiden, den Unterschied zu artikulieren, aber nicht nur, weil das Hebräische durch die fremden Sprachen, die sich die Juden aneigneten, verdrängt wurde. Die hebräische Sprache, die ihren Sprechern abhanden kam, ging zudem über in fremde Hände. Das Studium der Sprache und der Wissenschaft von der hebräischen Grammatik wurden zu einer christlichen Angelegenheit: »Keiner unter den Söhnen Israels geht ihr nach und fragt nach ihr. Von fremder Hand wird sie geschrieben. Und bei uns gilt sie als Fremdes [ke-nokhrit]. Außer uns haben Fremde [zarim] sie sich angeeignet, an ihr laben sich die Kinder der Fremden [jalde nokhrim].«52 Das Hebräische verbindet Juden und Christen nicht, sondern entzweit sie. Die hebräische Sprache ist, so Neumark, zum Ort einer kulturellen Usurpation geworden. Den Juden wurde sie entfremdet, als andere sie sich aneigneten, »Fremde«, zarim und jalde nokhrim. Doch Neumark schreibt nicht nur eine Geschichte des Verlusts und der Entfremdung. Er entwirft eine Gegengeschichte, die an Asarja de’ Rossis Darstellung wechselhafter Sprachverhältnisse erinnert: Es sind die jüngeren Grammatiker, die »das Werk Esras« wiederholen und das Wissen von der Sprache wiederherstellen. Zum Ausgangspunkt dieser Gegengeschichte wird das Bild der Ursprache, das Neumark zu Beginn seiner Vorrede evozierte. Während Maimonides’ Darstellung der Sprachvermischung und des Sprachverlusts in einen Gegensatz zu Jehuda haLevis Erzählung von Abrahams Zweisprachigkeit tritt, zeigt sich, dass Jehuda ha-Levis Lob der Ursprache die Geschichte des Maimonides ausgezeichnet ergänzt. Der Niedergang der Sprache im Exil legt es nahe, das Bild der einen Sprache, die zuvor das Volk regierte, so glänzend wie möglich hervortreten zu lassen und die Unantastbarkeit der göttlichen Sprache zu betonen. Jehuda Neumark kann mit Jehuda ha-Levi darauf bestehen, dass die hebräische Sprache von der Geschichte der Entfrem-
52 inbm wia ñia [. . . ] .uxkw htua jymku .uxiqrh al qudqdh hwym txqrmu .uxigwh al btkbw hrutlu .Õirkn idli hb uqipwi .Õirz hulyb unitluz .hbwxn tirknk unlu .hbtkn Õirz dib .lauwu rzux hirxa .larwi –
Ebd.
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Grammatik
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dung zwischen ihr und ihren Sprechern nicht berührt wird. Der Fragmentierung der Sprache durch das Vergessen kann er die – der Geschichte entzogene – Vollkommenheit der Sprache entgegensetzen. Und gegen die Geschichte ihrer Usurpation durch die christlichen Hebraistik kann er auf der Unwandelbarkeit der Ursprache und ihrer Verbindung mit der jüdischen Nation bestehen. Da die hebräische Sprache ihre Würde und Unantastbarkeit aus ihrem Ursprung bezieht, kann nicht von ihrer Erneuerung, sondern allein von ihrer Restitution die Rede sein. Neumark unterstreicht dies, indem er – nach den Zitaten aus Ginnat egoz, Hesed le-Avraham und dem Kuzari – ˙ hebräische Sprache von Gott selbst noch einmal eigens erwähnt, dass die eingerichtet und geordnet wurde: »[ . . .] wir wissen, dass er, gelobt sei er, sie eingerichtet hat. Gott weiß ihren Weg, und er kennt ihren Ort, ihre Stimme wird in der Höhe gehört [ . ..].«53 In dem, was folgt, interpretiert Neumark die Vorstellung, dass Gott selbst die hebräische Sprache eingerichtet hat und sie menschlicher Übereinkunft entzogen ist, indem er der Sprache ein Gesetz zuschreibt. Wenige Zeilen nach dem obigen Zitat taucht im Text die Metapher von den »Tafeln« auf, in die die Grammatiker die »Halacha« der Sprache eingraben: »In die Tafeln ritzten und gruben sie ihre Weisung und ihr Recht, die [Rechts-]Sätze des Ewigen sind gerecht allzumal in ihren Worten.«54 Als von Gott eingerichtete Sprache besitzt das Hebräische nicht eigentlich Regeln, kelalim, sondern halakhot und mischpatim. ˙ Die Rede von halakhot und mischpatim ist im Hinblick auf Gram˙ matisches nicht neu. Neu sind die starken Bedeutungen, die diese Begriffe bei Neumark annehmen. Elia Bachur etwa schrieb in seinem Sefer ha-bahur, er wolle nur darstellen, was dem »Gesetz« (hoq) und der ˙ ˙ »Satzung« (mischpat) der Grammatik entspreche, irreguläre Wörter ˙ aber, die die »Ordnung der Halacha« (seder ha-halakha) verändern, wolle er übergehen.55 Das Gesetz, von dem Elia Bachur spricht, wird nicht mit Vorstellungen der Unwandelbarkeit und Unantastbarkeit in Verbindung gebracht. Im Gegenteil, der Verweis auf die Wörter, die die »Ordnung der Halacha« verändern, macht deutlich, dass die Grammatik doch eher Regeln und Ausnahmen von der Regel kennt als ein feststehendes Gesetz. Jehuda Löw ben Bezalel und Schabbetai Sofer, die die Grammatik der hebräischen Sprache nicht metaphorisch, sondern buchstäblich mit der rabbinischen Rede von den Weisungen an Moses vom Sinai verknüpften, betonten – anders als Neumark – den mündlichen
53 54 55
.[. . . ] hmrb ymwn hluq .hmuqm ta ydi auhu .hkrd ñibh Õiqla .hkiryh t`i auhw unydi – Ebd. .[. . . ] Õhirbdb uidxi uqdc [!] `h ijpwm hjpwmu htklh uqqxu utrx tuxulh ly– Ebd.
Elia Bachur: Sefer ha-bahur, Haqdamat ha-mehabber [unpaginiert]. ˙ ˙
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Charakter der Überlieferung, und Schabbetai Sofer sprach weiterhin von kelalim. Wenn Neumark in seinem Entwurf einer Gegengeschichte zur Geschichte der Entfremdung zwischen der Sprache und ihren Sprechern auf Satzungen und Weisungen zu sprechen kommt, die in steinerne Tafeln eingegraben sind, so ist deutlich, dass ihm an diesen Begriffen gerade liegt, weil sie gegen das Vergessen eine der Geschichte enthobene Ordnung der Sprache betonen, und weil sie gegen christliche Ansprüche das Wissen vom Hebräischen zurückholen in jüdische Zusammenhänge des Forschens, Aufzeichnens und Tradierens. Die Aufgabe der Grammatiker ist es, das unantastbare Gesetz der hebräischen Sprache sichtbar zu machen. Grammatik kann darum nur als Wiederholung, nicht als Neuerung aufgefasst werden. Doch Neumark hält sich einen begrenzten Spielraum für Originalität offen:56 Denn ich habe hier lautere und kostbare Dinge hinzugefügt, von denen die Grammatiker der Generationen vor mir nicht sprachen. Auch sprechen meine Lippen vom Wissen in einer reinen und einfachen Sprache, damit jeder es leicht verstehen kann. Die Früheren haben mir Raum gelassen, um mich auszuzeichnen, mein Fuß steht auf dem ebenen Grund der Ordnung. Um mich nicht zu wiederholen, habe ich einen Zaun und eine Umgrenzung gesetzt, denn diese Dinge zweckmäßig anzuordnen, ist äußerst schwer, ja fast unmöglich. Hierin liegt eine große Schwierigkeit für das Verständnis, dies geht so weit, dass man das Frühere nicht ohne das Wissen vom Späteren verstehen kann.
Die Komplexität des Gesetzes der Sprache, das es im Grunde stets nur zu wiederholen gilt, bringt es mit sich, dass die Wiederholung selbst zu einer interessanten Aufgabe wird. In der Darstellung der Regeln erweisen sich frühere Überlieferungen als unzulänglich. Ein neues Repetitorium der hebräischen Grammatik kann durch die gelungene Anordnung des stets schon vorhandenen Wissens neue Elemente desselben sichtbar und verständlich machen. Allerdings versäumt Neumark nicht, scharf und ironisch auf das Desinteresse an solchen Repetitorien unter seinen jüdischen Zeitgenossen aufmerksam zu machen. Wie diejenigen unter den »Pragern«, die den Grammatikunterricht befürworteten, weist er darauf hin, dass grammatische und masoretische Studien unpopulär sind und weder Ansehen noch Einkommen sichern.57 Lebhaft führt Neumark seinem Publikum 56 rurb itpw tyd Õg ,Õirudb inplm uih rwa Õiqdqdmh urma alw hm ,Õirqiu Õirb Õirbd ub itpsuhw ruwimb hdmy ilgr ,rdgthl ub Õinuwarh il uxinh Õuqmu ,hlqnb Õda lkl utnbh ahiw .hlqu hiiqn ñuwlb ullm tuihl irwpa itlb jymku duam dy ub hwq auh itilkth rudsh ik ,rdgu giis itiwy Õirbdh lupkl alw ,rdsh .Õirxatmh tyidi itlb Õimduqh unbui alw dy duam hnbhh iwq ub ,Õirbdh – Neumark: Schoresch
Jehuda, Haqdamat ha-mehabber [unpaginiert]. 57 ˙ ha-Levis Einleitung zu seiner Grammatik Siah Jizhaq, 67 f. Vgl. Isaak ben Samuel ˙ ˙˙
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die Erwägungen vor Augen, die, wie er meint, zur Verwerfung des Studiums der heiligen Schrift führen:58 Warum sollte ich meine Stärke und Kraft zeigen in der Wissenschaft von der Grammatik und der Masora? Ist sie doch entlegen und verborgen, sie verschafft mir keinen Lohn. Ich will zum Berg der Lehrer gehen, Kodices und Turim lernen, ich will hingehen und mich mit den Rechtssätzen des Geldes befassen, und fett werden meine Speisen sein. Ich will mich ganz der öffentlichen Predigt widmen, mit angenehmen und süßen Auslegungen nach dem einfachen Wortsinn, damit sie mir die vielen Dinge verschaffen, die ich brauche. Warum sollte ich die Schrift studieren, was keinen Eindruck macht, und nicht das Geringste wert ist?
Gegen solch leichtfertigen Spott setzt Neumark die Andeutung einer Vision der Erlösung, in der dem Hebräischen eine wichtige Rolle zukommt. So wie der Verlust der Sprache dazu führen konnte, dass Israel sich unter den Völkern verlor, kann ihre Wiederherstellung dazu beitragen, die Zerstreuung aufzuheben: »Kehre um, Israel, die ihr auf den Ewigen harrt, Gebundene der Hoffnung, kehrt zurück zur Feste, Rose der Täler und Lilie des Scharon. Lernt gut und erforscht diese Wissenschaft aufrichtig und geschickt, so wird der Ewige Wut und Zorn von euch nehmen.«59 Neumark unternimmt in seiner Vorrede einen umfassenden Versuch der Legitimation grammatischen Wissens. Er hat gesichtet, was die ihm zugängliche hebräische Literatur zu Sprachwissenschaft und Sprachreflexion anbietet, und unterschiedliche Elemente ausgewählt. Neben mystischen und philosophischen Spekulationen zum Ursprung der Sprache stehen mittelalterliche und frühneuzeitliche, auf ihre jeweilige Gegenwart bezogenen Motive der Sprachkritik. Von der mangelhaft überlieferten, fragmentierten Sprache ist ebenso die Rede wie vom Unwissen und der Gleichgültigkeit ihrer Sprecher, selbst hinsichtlich des kargen Restes der Überlieferung. Hinzu tritt schließlich die Geschichte der Usurpation der Sprache durch die »Fremden«. Neumarks Bild der Entfremdung zwischen der Sprache und ihrer Nation erscheint ähnlich verdichtet wie das Bild des Sprachverlusts, das Zamos´c´ zeichnet. In seiner Gegengeschichte rekurriert Neumark auf die Vorstellung vom göttlichen Ursprung der Sprache und ihrem Gesetz, in dem die Bindung der Sprache an ihren Ursprung zum Ausdruck kommt. Wenige 58 rh la il Óla .trukwm hnmm il ñia .trtsnu hmlyn aihu .trusmu qudqd tmkxb .ixku inua tuarhl il hm Õibrb wurdl iwpn rusmau Óla .tunuzm il uihi tuirbu .tunumm inidb dubyau Óla .Õiruju Õiqsup dumll .Õirumh qr bwxn uniau .Õwur hwuy uniaw rbd arqmh dumll il hmu .Õiburm ikrc il uqspiw idk .Õibryu Õian Õijwp .Õuwh tpilqk – Neumark: Schoresch Jehuda, Haqdamat ha-mehabber [unpaginiert]. 59 uwrd bjih udml .ñurwh tlcbx Õiqmyh tnwuw .ñurcbl ubuw huqth i˙risa h`l Õilximh larwi hbuw .ñurxu úa Õkilym [!] `h risiu .ñurwku rwuib tazh hmkx – Ebd.
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Ursprache
Jahre später zeigt sich, dass das Narrativ, das in Neumarks Einleitung hervortritt, zwar dem Studium der Sprache dient, indem es grammatisches Wissen legitimiert, dass es dieses Studium aber auch dominiert, indem es das Sprechen über die hebräische Sprache und die Konstitution sprachlichen Wissens reguliert und diszipliniert. Die Erzählung, in deren Zentrum die Ursprache und ihr Gesetz stehen, wird im Streit um die Wissenschaft von der Grammatik eingesetzt, sobald sich in dieser säkulare Auffassungen von der hebräischen Sprache abzeichnen.
Streit In Jehuda Moscatos Kommentar Qol Jehuda hieß es: »Denn nicht des Menschen sind die Anordnungen des Herzens, wo es um die Festsetzung der Grenzen der heilige Sprache geht [. . .], denn vom Ewigen kommt die Antwort der Zunge«.60 Rund 150 Jahre nach Moscato, im Jahr 1708, verkündet ein junger Grammatiker mit ausgeprägtem Selbstbewusstsein, Schlomo Salman Hanau (1687–1746), dass er sich eben der Festsetzung einer Grenze zugewandt habe, zwar nicht der Grenze der hebräischen Sprache, doch immerhin der Grenze der Wissenschaft von ihrer Grammatik.61 In der zweiten Vorrede zu seinem grammatischen Lehrwerk Binjan Schlomo heißt es über die Wissenschaft von der Grammatik:62 Und ein prächtiges Gebäude habe ich auf ihr errichtet, seine Spitze reicht zum Himmel; ein jeglicher, der durstig ist, soll zum Wasser gehen, und der Mann von Scharfsinn wird aus ihr heraufschöpfen, in seinem Monat wird er sie finden [Jer 2, 24]; ich habe [ihr] ein Haus zur Wohnung gebaut, ihre Umzäunungen habe ich bestimmt und ihr eine Grenze gesetzt.
Hanau schreibt im Bewusstsein, dass eine neue Zeit anbricht, eine postbabylonische Epoche, in der es auf der Grundlage der Wissenschaften möglich wird, neue Türme zu errichten. Die Grammatik erscheint als Wissenschaft, die es ermöglicht, die hebräische Sprache vollkommen zu erklären, ihre Architektur nachzuvollziehen, ihren Bauplan offen zu legen:63 60
Vgl. oben, 123. Erste – und hier erheblich erweiterte und differenzierte – Überlegungen zu Hanau und Zamos´c´ finden sich in: Schatz: Vorgeschrieben und umgeschrieben. 61
62 hnb .hnacmi uwdxb .hnldi tunubt wiau .Õiml ukl amc lk iuh .Õimwh yigm uwar .itinb hily raupm ñinbu .lubg hl itiwyu itrdg hirdg .lubz tib itinb – Hanau: Binjan Schlomo, Dalte ha-binjan [Vorrede,
unpaginiert].
63 ilm ñuktkiu aupia ñti imu .lluwu amzug Órd al .lluk qudqdh tmkx lk irh .ina itrbx rwa rubxh hz uih qudqdb rwa Õirbxmh irpsm dxab acmn al ik .uqxmi alw ñurxa rudl ñurkzl .uqquxi trpuyu lzrb jyb rwa .itklh uz Órd itzxau .itklmn itydb hnhu [. . . ] .itrbx rwa hz irps umk Õiwudxh ub ubrtiw .Õirbdm
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Dies ist das Buch, das ich geschrieben habe, es enthält die ganze Wissenschaft der Grammatik, ohne Übertreibung und Falschheit sei’s gesagt, und wer vermöchte mein Wort mit eisernem Griffel und Blei einzugraben, noch der letzten Generation zum Gedenken, dass es nicht ausgelöscht werde, denn es findet sich kein anderes Buch, das sich mit Grammatik befasst und so viele Neuerungen enthält wie dieses, das ich verfasste, [...] ich habe mich von meinem Verstand leiten lassen und bin diesen Weg gegangen, der den frühen Grammatikern unbekannt und verborgen geblieben ist, ihnen zeigte sich nicht das ganze Bild, wie dem Adler am Himmel oder dem Schiff auf dem Meer oder der Schlange auf dem Felsen [...].
Anders als Asarja de’ Rossi, Schabbetai Sofer oder Jehuda Neumark rühmt sich Hanau keines Beitrags zur Wiederherstellung der Wissenschaft von der Grammatik innerhalb einer wechselvollen Geschichte des Vergessens und der Restitution, sondern verkündet triumphierend ihre Vollendung. So sind es nicht mehr halakhot und mischpatim als göttli˙ Griffel festche Festsetzungen in der Sprache, die es gilt, mit eisernem zuhalten, sondern seine eigenen Worte, denn durch diese erfahren die Regeln der Sprache ihre endgültige Formulierung. Nicht nur Hanaus Verhältnis zum göttlichen Ursprung der Sprache, auch sein Verhältnis zur Überlieferung wirkt wenig bescheiden. Er beschränkt sich nicht wie Neumark auf eine Revision der Art und Weise, in der das grammatische Wissen in älteren Werken angeordnet und vorgestellt wurde, sondern erklärt sich unabhängig von der Überlieferung – er lässt sich von seinem eigenen Verstand leiten und sieht in seinem Licht auch das, was den früheren Grammatikern verborgen blieb. Hanau will die Überlieferung nicht fortschreiben, er ist nicht bemüht, seine Erkenntnisse in ihre Zusammenhänge einzuordnen, sondern möchte vor allem zeigen, was er Neues herausgefunden hat – über die älteren Forschungen zum Hebräischen hinaus und gegen sie. Scharfe Polemik gegen die angesehensten Grammatiker der Vergangenheit wie der Gegenwart durchzieht sein ganzes Werk.64 Der witzige und respektlose Ton ist derselbe wie bei Schabbetai Sofer, aber er trifft nicht das Werk eines bestimmten Gelehrten, gegen den die Autorität eines anderen Gelehrten verteidigt wird, sondern alle Vorgänger. Das Inhaltsverzeichnis listet genauer als die Gegenstände der einzelnen Abschnitte die Namen der Autoren auf, deren Irrtümer korrigiert werden, darunter Abraham ibn Esra, David Kimchi, Elia Bachur, Isaak ben Samuel haLevi und Jehuda Neumark.
wxnku .Õimb trbuy hnipsku .Õimwb rwn Órdk .hnumt lk Õhb harn alu .hnumju hrtsn Õinuwarh Õiqdqdmm .[. . . ] jiw ruc ily – Ebd.
64 Eine Beschreibung der Grammatik selbst in ihren Grundzügen bietet Zwiep: Imagined Speech Communities, 84–90.
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Ursprache
War wirklich nur »jugendliche[s] Ungestüm«65 für Hanaus beredte, scharfzüngige Angriffe gegen die Werke anderer Grammatiker verantwortlich? Es gehörte gewiss noch mehr dazu, um den Streit auszulösen, der als erste große Auseinandersetzung der jüdischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts gelten darf. Eine Abbitte Wenige Jahre vor Hanaus Binjan Schlomo, im Jahr 1704, war in Frankfurt am Main unter dem Titel Seder tefilla ein Gebetbuch mit einem grammatischen Kommentar von Asriel und Elia Wilna erschienen. Es war sehr erfolgreich, wie sich an den Approbationen ablesen lässt, die die Herausgeber zwischen 1704 und 1713 für eine erweiterte zweite Auflage sammelten, die unter dem Titel Derekh siah ha-sade im Jahr 1713 in Berlin erschien. Die Reihe der Approbationen˙ wird eröffnet von einem Schreiben David Oppenheims (1664–1736) aus dem Jahr 1704, das, wie eine Vorbemerkung erklärt, nach dem Druck der Frankfurter Ausgabe an die Herausgeber gesandt worden war. Einleitend heißt es darin: »An die Söhne des Exils [ . . .], damit in allen Synagogen den Lehrern der kleinen Kinder verkündet werde, dass sie mit ihren Schülern eben aus diesem Gebetbuch [Seder tefilla] lernen sollen, das korrigiert und aus dem jeder Fehler entfernt wurde [ . ..].«66 Diese Aufforderung, den Frankfurter Siddur als verbindliches Lehrbuch für den Unterricht der Knaben zu akzeptieren, wird in den meisten der folgenden Approbationen wiederholt, so von Abraham Broda, ebenfalls 1704, damals in Prag, und von Naphtali Kohen, Aron Wolff und Jechiel Michel, alle unterzeichnend in Berlin 1713. Sie erinnert nicht von ungefähr an die Approbation der »Dreiländersynode« für Schabbetai Sofers Werk. Tatsächlich knüpften Asriel und Elia Wilna direkt an Schabbetai Sofers Gebetbuch an. Ein Siddur, der angeblich auf Schabbetai Sofer zurückging, doch nur wenige seiner Korrekturen enthielt, war in Lublin im Jahr 1648 erschienen.67 Eine weitere Ausgabe mit demselben Titelblatt wurde in Dyhernfurth im Jahr 1690 von Schab65 66
Freimann: Salomo Hanau’s Widerruf, 93.
rds Óutm aquud [!] Õhdimlt Õy dumll uligriw iqdrd irqmh la tuisnk itb lkb zirkhl [. . . ] hlugh inbl .[. . . ] tuiyj lkm tqlusmu hgumh hlpt – Asriel und Elia Wilna: Derekh siah ha-sade, Haskamot,
˙ nicht nur für seine fol. 9a. Oppenheim war Oberrabbiner Böhmens und Mährens und Gelehrsamkeit, sondern auch für sein Mäzenatentum und seine Bibliothek hebräischer Durcke und Manuskripte bekannt, die im 19. Jahrhundert von der Oxforder Bodleiana erworben wurde. 67 Zum Weg, auf dem Schabbetai Sofers Werk ins 18. Jahrhundert gelangte, s. die im Folgenden erwähnten Approbationen (Schabbetai Sofer: Siddur, Bd. 2, 19–24) und Reif: Shabbetai Sofer, 53–56.
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betai Bass, dem Autor des Sifte jeschenim, herausgeben.68 Beiden Ausgaben lag nicht das Manuskript selbst zugrunde, sondern wohl eine gekürzte Abschrift. Zwischen 1693 und 1695 gab es jedoch Bemühungen, das vollständige Manuskript, das im Besitz des Enkels des Autors war, zum Druck zu befördern, und David Oppenheim verfasste eine Approbation. Im Jahr 1704 schließlich lag dieses Manuskript Schabbetai Bass vor, der für den Druck eine Haskama des eher unbekannten Saul aus Krakau erhielt, die auf den Monat Av (Menachem) des Jahres 1704 datiert ist. Zu diesem Zeitpunkt war das Frankfurter Gebetbuch der Wilnas bereits erschienen, das – wie die älteren Lubliner und Dyhernfurther Ausgaben – sich auf Schabbetai Sofer beruft, doch nur einen Teil seiner Korrekturen enthält. David Oppenheim aber hatte es neben vielen anderen Rabbinern approbiert, was dazu beigetragen haben mag, dass Schabbetai Bass keine anderen Approbationen erhielt und seine Pläne am Ende nicht verwirklichen konnte. Oppenheims gewichtige Approbation für die zweite Auflage, die den Druck der ersten bereits erwähnt, stammt ebenfalls aus dem Monat Av des Jahres 1704 und dürfte den Wettbewerb zwischen den beiden Projekten entschieden haben. Als Hanaus Grammatik 1708 erschien, war sie ebenfalls mit Approbationen hervorragender Rabbiner versehen – an ihrer Spitze Naphtali Kohen, seit 1704 Rabbiner in Frankfurt, gefolgt von Samuel Schotten, Rabbiner in Frankfurt und Darmstadt, von Juda Mehler, Rabbiner in Deutz und Kurköln, und von Jakob Kohen Popers, Rabbiner in Koblenz, später in Frankfurt. Dazu, dass es Hanau gelang, für sein Erstlingswerk die Unterstützung etlicher der namhaftesten Autoritäten Frankfurts und des Rheinlands zu gewinnen, mögen seine persönlichen Beziehungen beigetragen haben. Juda Mehler berichtet in seiner Approbation, er habe den Autor im Lehrhaus des Elias Gumperz in Kleve kennengelernt:69
68 69
Siehe oben, 88 und 101.
Õw ik h`llcz Óirmy hila r`rhk Õinicqh lw abr abtum tibb [. . . ] ñman Õuqmb yuqt tuih duyb uitiar rbywl itiih urikm [. . . ] l`nh rubixb amui lk iylu ygiu xrjw Õimik uitulil Õwu l`nh rbxmh hih Õwu acmn .[. . . ] utmkx ly hmkx úisuh ik rtuib uiwkyu – Hanau, Binjan Schlomo, ebd. Elias Gumperz starb
im Jahr 1689, Mehler und Hanau können sich also nicht zu Gumperz’ Lebzeiten in dessen Lehrhaus begegnet sein. Freudenthal entnimmt Juspa Essens Noheg ka-zon ˙ Josef, Hanau 1718, fol. 54, dass Mehler sich 1702 in Kleve aufhielt – ein wahrscheinlicheres Datum für eine Begegnung zwischen Mentor und Schüler, und er schlägt vor, in der Approbation nach qezinim das Wort jorsche, »Erben des« Elias Gumperz, zu er˙ gänzen. Vgl. David Kaufmann u. Max Freudenthal, Die Familie Gomperz, Frankfurt a. M. 1907, 28 f.
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Ursprache
ich sah ihn, als ich noch an einem verlässlichen Ort saß, [ ...] im großen Haus der Vorsteher, des geehrten Meisters Elia Emmerich, das Andenken des Gerechten sei zum Segen für die künftige Welt, denn dort befand sich der genannte Verfasser, dort mühte er sich Nächte wie Tage, er arbeitete den ganzen Tag an dem genannten Werk [...], sein Bekannter war ich damals und bin es nun um so mehr, als er noch Weisheit seiner Weisheit hinzugefügt hat [...].
Wie sich noch zeigen wird, dürfte Juda Mehler Hanaus Werk tatsächlich gelesen haben. Dasselbe mag für Michel Oppenheim gelten, den Schwiegersohn David Oppenheims, der als Rabbiner zu Friedberg und Offenbach amtierte. Hanaus Danksagung an ihn schließt die Reihe der Approbationen ab – Oppenheim gewährte Hanau Unterkunft, während sein Werk gedruckt wurde:70 er tat mir Gutes und erzeigte mir eine Wohltat, als er mich in sein Haus aufnahm und anwies, ein besonderes Zimmer, einen Ort der Ruhe für mich frei zu machen und dort Bett, Tisch, Stuhl und eine Leuchte aufzustellen; von seinem Brot aß ich und aus seinem Becher trank ich während der Zeit der Drucklegung.
Die Frage, ob die approbierenden Rabbiner sich Hanaus Werk wirklich angesehen hatten, ehe sie ihre Zustimmung gaben, stellt sich besonders, weil das Buch einen Skandal hervorrief und eine Kontroverse entfachte, die Hanau sein Leben lang begleitete, ja wütende Gegenschriften noch über seinen Tod hinaus provozierte.71
70 Õiwhlu hxunm Õuqmu dxuim rdx il tunpl hucu utib Óutb itua sinkhu Õibuj Õidsx ily lmgu imy bijh .supdh ñmz Ówm ititw usukmu itlka utpm hrunmu asku ñxlwu hjm Õw – Hanau: Binjan Schlomo, ebd.
71 Über Hanaus Leben ist wenig bekannt. Er wurde 1687 in Hanau als Sohn des Vorbeters Jehuda Löw ben Jakob (gest. 1694) und der Krönle (gest. 1708) geboren, s. Löwenstein: Zur Geschichte der Juden in Fürth, Teil 2, 106–110. Interessant erscheint, dass Jehuda Neumark ebenfalls aus Hanau stammte. Zweifellos konnten beide Grammatiker von der Nähe Frankfurts profitieren, das sich neben Prag zu einem der wichtigsten kulturellen Zentren des westlichen Aschkenas entwickelt hatte. Während aber Neumark zugleich enge Beziehungen zu dem namhaften Orientalisten Heinrich Jacob Bashuysen unterhielt, Sohn des Predigers an der niederländisch-reformierten Kirche Hanaus, seit 1701 Lehrer am dortigen Gymnasium und von 1708 bis 1712 Besitzer einer hebräischen Druckerei, sind für Hanau solche Kontakte (noch) nicht belegt. Unter anderem geben Hanaus Bücher Auskunft über das Wanderleben, das er führte: er hielt sich zeitweise in Hamburg, Halle, Amsterdam, Kopenhagen, Fürth und zuletzt in Hannover auf. In Kopenhagen soll Hanau den zehnjährigen Naphtali Herz Wessely unterrichtet haben. Diese Behauptung, die bis heute ungeprüft wiederholt wird, geht zurück auf eine autobiographische Bemerkung Wesselys in seiner Schrift Rav tuv (Berlin 1782, zweiter Brief der Divre schalom we-emet, Berlin 1782–1785) in der er aber den Namen seines Lehrers nicht erwähnt und keineswegs von einem großen Grammatiker spricht, sondern lediglich von einem »Mann, der Grammatik unterrichtet« (isch melammed diqduq ha-laschon) – was es unwahrscheinlich macht, dass Hanau gemeint ist, der von
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Die Umrisse des Skandals zeichnen sich in der Schilderung ab, die Asriel Wilna von ihm gibt. Die Passage, in der er sich in seiner hebräischen Vorrede zu Derekh siah ha-sade auf Schlomo Hanau bezieht, ˙ lautet:72 Hier aber will ich zerbrechen die Zähne usf. [vgl. Ps 3,8], denn neu gedruckt wurde das Buch über die Grammatik, das Binjan Schlomo [Bau des Salomo] heißt, doch ich nenne es Hurban Schlomo [Zerstörung des Salomo], der seinen Mund aufreißt und ˙gesetzlos Reden ausstößt wie Schwertstiche, er redet gegen die großen Grammatiker, gegen David Kimchi und Abraham ibn Esra und gegen die Leuchte des Exils, Raschi, ihr Andenken zum Segen, und gegen die späteren Grammatiker, deren kleiner Finger dicker ist als seine Lenden. Und obgleich er schließlich eine Bitte um Verzeihung an jeden Einzelnen drucken ließ, wie es die vornehmen Häupter und Leiter, die Vorsteher der heiligen Gemeinde Frankfurt am Main verlangten, so ist es doch angemessen, ihn zu verstoßen – besonders wegen der Abbitte, denn er ist wie einer, der Kriechendes in seiner Hand verborgen hält [ ...].
Ob einige Häupter der Frankfurter Gemeinde selbst die Initiative ergriffen oder ob sie auf Betreiben anderer hin tätig wurden und welche der approbierenden Rabbiner die Forderung nach öffentlicher Abbitte schließlich unterstützten, bleibt im Dunkeln. Einer christlichen Darstellung des Skandals ist immerhin zu entnehmen, dass Hanau auch Unterstützung fand oder doch wenigstens vermittelnde Gönner:73 Weil diss Buch fast alle Hebräischen Grammaticos und andere beyn Juden hochgeachtete Lehrer [...] mit ziemlich harten expressionibus refutieret; so wäre es schier mit Feuer von den Frankfurtischen Juden-Obersten bestraffet und also supprimiret worden. Doch da der Autor noch unterschiedliche Patronen bey seinem Volke fand, und sich entschlossen eine öffentliche Abbitte gegen die vermoderten Gebeine derer, die er zu hart getroffen, abzulegen, und beydrucken zu lassen; wurde er auf diese Weise salvieret und publiciret. Worzu sonderliche Förderung that R. Michel Oppenheim [...].
Wodurch es Hanau gelang, so gewaltigen Anstoß zu erregen, wird aus Asriels Schilderung wie aus der christlichen Nachricht nur in Ansätzen
den Maskilim als bedeutender Grammatiker geschätzt wurde und gewiss ausdrücklich genannt worden wäre.
72 uip ryp rwa hmlw ñbrux uitarq inau hmlw ñinb 'qnh qudqdh ly 's wdxm spdnw 'ugu inw rbwa hzbu raw lyu l`z i`wr hlugh ruamu y`barhu q`drh hmh Õiqdqdmh iludg dgn rbdu brx triqdmk hjub qx ilbl iwar ipula trizg ú`y 'au 'a lkm hlixm wqbu úusbl sipdhw úau untmm hby Õnjq rwa Õinurxah Õiqdqdmh :[. . . ] udib Ñrwh zxuau lbujk auhu hlixmh ly duxib utudnl iuar m`m ñiimd p`p q`q inicq igihnmu – Asriel u.
Elia Wilna: Derekh siah ha-sade, Haqdama, fol. 11a [falsche Paginierung, richtig: 12a]. 73 ˙ Adam Andreas Cnollen in einer Anzeige des Binjan Schlomo aus dem Jahr 1713, zit. nach: Freimann: Salomo Hanau’s Widerruf, 94.
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deutlich. Waren es wirklich die kühnen Formulierungen, mit denen er sich über die älteren Grammatiker hinwegsetzte, und der übermütige Spott, der selbst im Text der Abbitte noch unverkennbar war, die solch heftige Abwehr hervorriefen? Was hatte sich verändert, seit Schabbetai Sofer die grammatischen Auffassungen David Kimchis verteidigte und Elia Bachur mit spöttischen Worten angriff? Welche Regeln für Verhandlungen über die Überlieferung, für Argumente und Kontroversen, betrachteten Hanaus Gegner als gültig, während Hanau sich ihnen entzog? An den Beginn seiner Abbitte stellt Hanau eine Entschuldigung für seine sprachlichen Fehltritte, doch eingeschoben zwischen die Zeilen der Entschuldigung wird von Anfang an ein zweiter Text lesbar, in dem Hanau betont, dass es weder seine Absicht war, die Würde der älteren Grammatiker anzutasten, noch diese tatsächlich verletzt worden sei. Die Vorstellung, dass kluge und fromme Gelehrte durch seine Überlegungen gekränkt sein könnten, erscheint als lächerliche Idee der weniger klugen Zeitgenossen.74 Die ersten Zeilen der Abbitte lauten:75 Es spricht der Autor: Siehe, ich habe mit meiner Zunge gefehlt in den Einwänden, die ich erhob gegen die Autoren [früherer Grammatiken], ich habe viele Worte gemacht und die Ehre der Weisen angetastet (doch nicht aus Rebellion oder Treulosigkeit tat ich dies, weder fremde Gedanken noch Unreines kamen mir in den Sinn, so dass ich die, die so weise sind, hätte verspotten wollen, meine Absicht war allein, den Leser zu begeistern und seine Aufmerksamkeit zu wecken, damit er auf die Belehrungen hört). Daher möchte ich sie um Verzeihung bitten: Über den Fürsten Don Isaak Abrabanel schrieb ich, er habe nicht mit Bedacht geredet und seine Worte seien nicht mit Verstand gesprochen, und an anderer Stelle schrieb ich über ihn, nichtig sei dies, weil es ihm an Wissen mangelte und er die Ansicht des Propheten nicht völlig ergründete. Dies alles war gleich einem Versehen, das vor dem Herrscher entschlüpft. Und so falle ich vor ihm nieder und bitte seine heiligen Knochen um Verzeihung, auf die Weisheit und Frömmigkeit des Fürsten verlasse ich mich, sicher wird mir der Herr solche Worte vergeben. 74 Die Bibliotheca Rosenthaliana, Amsterdam, verfügt über eines der seltenen Exemplare des Binjan Schlomo, in denen dieses Blatt, eingeheftet am Ende, noch zu finden ist (Ros 1879 D 36). Veröffentlicht wurde der Text von Freimann: Salomo Hanau’s Widerruf, 93 f. Im Rahmen des JNUL Digitized Book Repository wurde der Text auch elektronisch zugänglich. 75 úa) Õimkx dubkb itygnu ñilm itibrhu Õirbxmh ly itgwh rwa itugwhb inuwlb itlwk hnh rbxmh rma itnuuktn qr hlak Õimkx tuzbl lugip ua Ñux tbwxm Õuw ityd ly htly alu taz itiwy lymbu drmb al lanbrba qxci ñud rwh ly :hlixm Õhm wqbl itab ñk ly (Õidumlb yumwl unza riyhlu ñiiymh wpn bihlhl dri alw utyidi ñursx tapm uhtab taz hnh uily itbtk rxa Õuqmbu ,lkwhb al uirbdu rbdi tydb al itbtk uitumcym hlixm wqbmu uinpl ina xjtwmu jilwh inplm acuih hggwk itam aci hz lku .aibnh tyd úusl :hlak Õirbd ly ñudah il xlsiw rwh tudishu tmkxb ina xujbu Õiwudqh
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Grammatik
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Besonders erwähnt werden außer Abravanel noch Abraham ibn Esra, David Kimchi, Elia Bachur und Isaak ben Samuel ha-Levi, Verfasser des Siah Jizhaq. Hanau schließt mit den Worten: »[H]abe ich Böses erson˙ so˙ ˙komme es mir nicht über die Lippen, damit ich solche Worte nen, nicht mehr spreche [ . . .] .«76 Der ambivalente Text, den Hanau schreibt, mündet in eine eindeutige Geste der Zurücknahme. Sie kann aber nicht verbergen, dass für Hanau ein Verhältnis zur Überlieferung vorstellbar ist, in dem das Wissen von ihr zum Ausgangspunkt einer kritischen Prüfung wird, die weder von den Texten und den Institutionenen, die ihre Weitergabe regeln, noch von den alltäglichen Verhandlungen über ihre Implikationen in den Gemeinden und Familien, sondern allein vom Verstand geleitet ist. Ein Beispiel, in dem sich dieser Ansatz deutlich abzeichnet, kann zugleich ein Licht auf den Zwist werfen, der zwischen Hanau und Asriel und Elia Wilna entstand und als Kern der größeren Kontroverse gelten darf. Hanau bezieht sich in Binjan Schlomo mehrfach auf den Frankfurter Siddur, und stets, um einen Irrtum zu korrigieren. Doch meist geschieht dies knapp und ohne polemische Note. Wenn er einmal das Werk als siddur medujjaq bezeichnet, als »genaues« oder »genau geprüftes« Gebetbuch, könnte darin sogar ein gewisser Respekt zum Ausdruck kommen.77 Doch an anderen Stellen lässt Hanau seiner gewandten, angriffslustigen Feder freien Lauf. Er behauptet, dass Asriel und Elia Wilna ein Fehler in der Vokalisation des Wortes galujot in der Amida unterlaufen sei, und setzt spöttisch hinzu: »ich stand und staunte, wie es geschehen konnte, dass beide in eine Grube fielen, der Vater und der Sohn, und sie einander nicht Halt bieten konnten.« Doch dann präsentiert Hanau eine überraschende Wendung. Die beiden Grammatiker werden gewissermaßen entlastet, ihr Fehler ist nicht originell, denn sie haben sich auf David Kimchis Mikhlol gestützt: »Mein Blick fiel auf meinen Ochsen, und ich sah, dass ihr Zaumzeug sie fehlgeleitet hat [Jes 30,28], eine verkehrte Variante hat sie in die Irre geführt, denn im Mikhlol findet sich ein Fehler des Schreibers.«78 Hanau knüpft an die frühneuzeitlichen italienischen Gelehrten und an Schabbetai Sofer, den spöttischen Gegner Elia Bachurs, an (der auch schon auf einen Fehler im Mikhlol hingewiesen und ihn ebenfalls anderen als Kimchi selbst zugeschrieben hatte). Für ihn ist die Überlieferung nicht in jedem Fall ein Hort der richtigen Einsicht. Sie kann auch eine Quelle des Irrtums sein. 76 Õirbd ly jrxtmu dmuy innh dam hm ribk ñilmb ixur itacuhu Õhily itgwh rwak Õirbxmh raw ly .[. . . ] hlah Õirbdk duy rbdl ip rubyi lb itumz ñkl ñibi im tuaigwu hlak 77 78
Hanau: Binjan Schlomo, fol. 91a.
iniy jbtu .uribx ta Õiqhl dxah luki alu uidxi ñbhu bah txa rubb Õhinw ulpn Óia Õmutwm itdmy .[. . . ] s`j wi lulkmb ik Õuyth twbuwm axsnu Õhiixl ly hytm ñsr ik iruwb – Ebd., fol. 61b–62a.
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Ursprache
Hanau kennt keine verlässlichen Traditionslinien, keine Namen, deren Autorität unbedingt gilt, keine Schriften, die unbesehen Geltung beanspruchen könnten. Zugleich geht er noch einen Schritt weiter als die älteren Gelehrten. Zum einen argumentiert er nicht länger gegen einen bestimmten Text, indem er einen anderen zitiert. Er macht nicht eine Überlieferung gegen eine andere geltend, er wägt nicht ab zwischen verschiedenen Autoritäten, er interessiert sich nicht dafür, wie die Mehrheit entscheidet. Sein Urteil über Asriels, Elias und David Kimchis Fehler entspringt seinen eigenen unabhängigen Untersuchungen und seinem kritischen Verstand. Zum anderen rühmt er sich dieses Verfahrens ausdrücklich, er benennt es und wählt Worte, die Schabbetai Sofers Formulierungen aus seiner Ausgabe des Mahalakh an Deutlichkeit und Selbstsicherheit noch übertreffen. Asriel knüpft ebenfalls an Schabbetai Sofer an, doch nicht an den Verfasser polemischer Anmerkungen gegen Elia Bachur, sondern an den Verteidiger Kimchis. In der Vorrede zur zweiten Auflage seines Gebetbuchs von 1713 stützt er sich auf die Namen und die mit ihnen verknüpften Linien der Tradierung und Autorisierung, die Orientierung bieten und die Texte, die sich auf sie beziehen, legitimieren:79 Er hat auch an vielen Stellen Einwände gegen uns erhoben und übertrat das Verbot des großen Weisen, unseres Lehrers und Meisters Naphtali Katz; als mein Sohn, unser hervorragender Lehrer und Meister Elia, ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüber stand, um seine Frechheit zurückzuweisen, fragte er ihn, ob er irgendeinen Einwand habe, und er sagte, er habe keinerlei Einwände gegen unser Gebetbuch; doch als er danach das Buch beendete, schrieb er, Vater und Sohn fielen in eine Grube. Und sicher wäre es angemessen zu antworten, doch sagte König Salomo, Friede mit ihm: »antworte nicht dem Toren« [Spr 26,4]. Wer Gehirn in seinem Schädel hat, versteht und begreift, dass er nicht gegen uns Klage führt, sondern gegen den großen Weisen, unseren Lehrer und Meister [Jehuda] Löw, Vorsteher des Gerichts und Haupt der Jeschiva der heiligen Gemeinde Prag, und gegen den großen Grammatiker Schabbetai Sofer, wir aber haben mit Appetit von ihren Textversionen [nusha ot] gekostet. So sage ich über ihn: ˙ sieben Mal fällt der Gerechte und steht wieder auf usf. [Spr 24,16].
79 alpumh inbw rwab Ñ`k iltpn r`rhum ludgh ñuagh Õrx ly rbyu tumuqm ybwb k`g unily giwh hnhu 's ly hgwh Õuw ul ñiaw rmau hgwh uzia ul wiw Õab rbd uprux biwhl Õinpb Õinp umy dmuy hih 'ila r`rhum imu lisk ñyt la h`yhw rma Óa biwhl iuarhm iadubu .rubl ulpnw unbu ba btk 'sh rmgb k`xau unlw hlpt garp q`qd m`ru d`ba iauul r`rhum ludgh ñuagh ly 'ak utnult unily alw ñibiu likwi udqdqb xum ul wiw :'ugu Õqu qidc lupi ybw uily rmua ina k`y .Õhlw tuaxsunh Õyj bujb unmyjh unxnau Õ`wrhum ludgh qdqdmhu
– Asriel und Elia Wilna: Derekh siah ha-sade, Haqdama, fol. 11b [falsche Paginierung, ˙ richtig: 12b]. Kleine Druckfehler wurden stillschweigend korrigiert.
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Grammatik
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Asriel verknüpft seine Arbeit mit den Namen der Überlieferung, indem er die Autorität des Jehuda Löw ben Bezalel und des Schabbetai Sofer anerkennt, und indem er diese Namen zugleich benutzt, um seinem eigenen Werk Legitimität und Anerkennung zu verschaffen. Auch wenn er von Hanau fordert, den Überlieferungszusammenhang der Texte und autoritativen Namen zu respektieren, sich mit seinen Ergebnissen auf diesen zu beziehen und sein Werk in ihn einzuschreiben, geht es darum, die Gültigkeit dieses vertrauten Verfahrens der Legitimierung zu verteidigen. Als Hüter dieses Verfahrens in der Gegenwart erscheint Naphtali Kohen, der – anders als die Namen der Vergangenheit – über institutionalisierte Macht verfügt. In den zitierten Worten Asriels wird das Tradieren als Prozess sichtbar, in dem die gegenwärtigen Autoren untereinander und mit den früheren Gelehrten kommunizieren, um das Aufkommen von Neuigkeiten zu regulieren. Hanau hingegen besteht darauf, eine Methode zu entwickeln, die es erlaubt, diesen Prozess selbst zu überprüfen und der Kontrolle des Verstandes zu unterwerfen. Schlomo Hanau und Asriel und Elia Wilna wurden gewiss auch darum zu Gegnern, weil sie auf demselben Markt konkurrierten. Doch davon abgesehen trennte sie der gewaltige Abstand zwischen ihren Haltungen zu den Methoden des Tradierens und Autorisierens. Er zeigt sich noch in solch kleinen Bemerkungen wie der Parenthese zu Beginn von Hanaus »Abbitte«. Während Hanau hoffte, mit distanzierender, witziger Kritik der früheren Grammatiker für sich und seine Wissenschaft werben zu können, rühmen sich Asriel und Elia Wilna gerade ihres Respekts und ihrer grundsätzlichen Nähe zu ihnen. Während noch Neumark die Überlieferungslinien grammatischen Wissens sorgfältig nachzeichnete und seine Neuerungen darin diskret situierte, durchkreuzt Hanau sie nach Belieben. Mit seinem selbstbewussten Rationalismus beginnt er, die Textur der Autorisierung, die die Überlieferung trägt, in Frage zu stellen. Ein einheitliches Gebäude Den Angriffen der beiden Grammatiker widersprach Hanau in seinen folgenden Werken dreifach, auf einer faktischen, einer epistemologischen und einer narrativen Ebene. Zehn Jahre nach Binjan Schlomo und fünf Jahre nach Derekh siah ha-sade erschien in Hamburg Scha are tora, ˙ ein Lehrbuch, das eine Zusammenfassung des Binjan Schlomo bietet, vermehrt um einige neue Ansichten und ohne polemische Ausfälle. Der approbierende Oberrabbiner der Dreigemeinde Altona, Hamburg und Wandsbek, Jecheskel Katzenellenbogen, lobt Hanau wegen seines Verzichts auf die alte Streitlust:80 80 tinw htyu 'inuwarh dgn rbd rti tpwb riti ñh rsx ñhb wbih tdm ly zirphu uz hmkxb trbxm rbixu .[. . . ] han rubxb hnukn rbid rwih Órdb Órd – Hanau: Scha are tora.
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Ursprache
Er verfasste eine Schrift zu dieser Wissenschaft [der Grammatik], doch war sie äußerst trocken, hier fehlte etwas, dort war zuviel, mit großen Worten wandte er sich gegen die Früheren, doch nun, beim zweiten Mal, geht er auf geradem Weg und spricht Treffendes in einer hübschen Abhandlung.
Während das kleine Lehrbuch möglicherweise nur in recht wenigen Exemplaren gedruckt und jedenfalls nicht sehr bekannt wurde,81 gewann Hanaus nächstes Werk erhebliche Bedeutung. 1725 veröffentlichte er in Jessnitz eine Ausgabe des Siddur, Bet tefilla, und angehängt, doch als gesondertes Werk, seinen grammatischen Kommentar zum Gebetbuch, Scha are tefilla. Bemerkenswert sind auch hier die Approbationen. An ihrer Spitze steht die bereits 1713 verfasste Haskama des Abraham Broda, der schon 1704 Derekh siah ha-sade approbiert hatte. Er ˙ rühmt Hanau, doch wie Jecheskel Katzenellenbogen vergisst er nicht zu erwähnen, dass das Erstlingswerk des Grammatikers nicht unproblematisch war:82 Größer als die Würde des ersten Gebäudes, das Schlomo auf seinem Namen errichtete, möge die des zweiten Gebäudes sein. Wohin er sich auch wenden wird, möge er Einsicht gewinnen, und der Ewige möge mit ihm sein. Überall ist die Regel [halakha], wie er sagt, nichts geht in dieser Wissenschaft ohne ihn, wie vor mir schon viele und vollkommene Weise bemerkten, die Stimme der Mehrheit aber ist wie die Stimme des Allmächtigen.
Auch Jechiel Michel hatte – im Jahr 1713 – eine Approbation für Derekh siah ha-sade verfasst, ehe er Hanaus Scha are tefilla 1724 mit ˙ einer Haskama versah. Ebenfalls noch aus dem Jahr 1713 stammt die Haskama des Zvi Aschkenasi.83 Eine Spur zur Jugendzeit in Kleve weist die Haskama des Bendit Wesel, der Rabbiner in Breslau und ein Enkel des Elias Gumperz war.84 Diese Approbationen zeigen, dass sich Hanaus Ansehen als Grammatiker trotz des Skandals um Binjan Schlomo gefestigt hatte. In der Vorrede zu Scha are tefilla reagiert Hanau, nach zwölf Jahren, auf Asriels Behauptung, er sei der Auseinandersetzung ausgewichen, mit einer Gegendarstellung:85 81 Steinschneider (Bibliographisches Handbuch, Nr. 794, 58) spricht von 200 Exemplaren.
82 lkbu .umy 'hu likwi hnpi rwa lkb .umw ly hmlw hnb rwa ñuwarh ñm hzh ñurxah tibh dubk hihi ludgu :idw luqk ñumh luqu Õimlw ñku Õibr Õimkx inpl udiyh rwak .utuam spa tazh hmkxbu .utumk hklh Õuqm –
Hanau: Scha are tefilla, fol. 1b. 83 Vgl. dazu Freudenthal: Aus der Heimat Mendelssohns, 303 f. 84 Freudenthal hält es für möglich, dass Wesel und Hanau sich noch aus Kleve kannten, vgl. Kaufmann-Freudenthal: Familie Gomperz, 229.
85 btk .[. . . ] ñil`rbb lairzy 'r sipdhw inwh supd tmdqhb itiar ñk itymw rwaku il dguh tuwq tuux hnhu larwiu ydui auh i`i Õihla la .Õhily itgwh rwa itugwh ly biwhl Õinpb Õinp idgnl dmy 'ila 'r unbw Óia Õw
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Von schweren Einwürfen sprach man mir, und wie ich es gehört hatte, so fand ich es in der Vorrede zur zweiten Auflage des Asriel in Berlin [...]. Er schreibt dort, wie sein Sohn Elia mir von Angesicht zu Angesicht gegenüber stand, um auf die Einwände, die ich gegen sie erhoben hatte, zu antworten. Gott weiß und Israel, dass die Rede des Mannes Lug und Trug ist [...]. Ich will sagen, was aufgezeichnet wird mit Recht, Worte der Wahrheit, denn ehe ich das Buch Binjan Schlomo in der heiligen Gemeinde Frankfurt am Main drucken ließ, legte ich Elia, seinem Sohn, alle Einwände, die ich gegen sie erhoben hatte, vor und bat ihn, auf jene Einwände zu antworten, andernfalls würde ich sie in die Druckerei bringen. Doch er blieb wie stumm, denn kein Mund vermag auf diese starken Einwände zu antworten.
Hanau dreht den Vorwurf um – nicht er, sondern Elia Wilna habe sich der Diskussion entzogen. Eine kleine Bemerkung Hanaus lässt allerdings durchscheinen, dass Asriel in einem Recht gehabt haben mag. Hanau hat nie in Erwägung gezogen, dass seine Argumente nicht standhalten könnten: »kein Mund vermag auf diese starken Einwände zu antworten«. Die Zurückweisung Asriels auf der faktischen Ebene erscheint letztlich fast irrelevant, da es Asriel wie Hanau um eine epistemologische Frage geht, um die Frage, welche Bedeutung der Überlieferung für die Konstituierung sprachlichen Wissens zukommt. Hanau wiederholt noch einmal, dass die Überlieferung von Irrtum und Täuschung nicht frei ist:86 Auch in der Vorrede zur zweiten Auflage hat er mir entgegen gehalten, dass ich manchmal einem der frühen Autoren widersprach. Doch unschuldigen Herzens und mit reinen Händen tat ich dies. Denn es ist eine Lehre, jedem Menschen ist erlaubt, der Wahrheit nachzuforschen und nach ihr zu verlangen. So steht auch in einem Responsum des [von Jair Bacharach verfassten] Hawwot Ja ir, es sei erlaubt, über einen der frühen Autoren zu schreiben, er ˙ habe geirrt, denn dem Irrtum entgeht auch der Beste unter den Menschen nicht. Es ist auch nicht richtig, die Wahrheit zu verbergen und das männ-
q`qb hmlw ñinb rps itspdh Õrj ik tma irbd rwui btkb Õuwrh diga hnhu .[. . . ] ul wxk wiah rbd rqw ik .ñhh tugwhh ly biwhl unmm itwqbu Õhily itgwh rwa tugwhh lk unb 'ila 'r inpl itych ñii`md jrup`qnrp :[. . . ] ñhh tuqzxh tugwhh ly biwhl hp ñia ik wirxmk ihiu .supdh tibl Õaiba ual Õau – Hanau: Scha are
tefilla, fol. 6a. 86
.Õinuwarh irbxmm rbxm hzia ly Õimypl itbwh rwa ly iniy dgnl Óiryh inwh supd tmdqhb Õw Õg tbuwtb btku :tmah irxa wurdlu ruqxl Õda lkl rtumu aih hrut ik .taz itiwy ipk ñuiqnbu ibbl Õutb Õnma ñia Õg :tuyjh ñm jlmn al iwunah ñim rxbmw ñuik hyjw Õinuwarh ñm rbxm hzia ly butkl rtumw riai tuux Õyu .lkhm rtui buha tmahu ja`rqs buha ñujl`pa buha uj`sra rmamk rbg inp tusklu tmah Õilyhl iuar rbdh il sxiil iuar rtui lba .hz ly inmiwahl iuar ñia .iatau anjiqn anwld apjwbu ib hih tudli ik tuih .itlki ipk uttma ly rbdh dimyhl imcy aicmhb rumg tuldtwhu tuzirzl – Ebd. Vgl. Bacharach:
Hawwot Ja ir, §1, fol. 1a-b. Der zweite Ausspruch, den Hanau zitiert, kursierte in ˙ verschiedenen Varianten und wird auf Aristoteles’ Nikomachische Ethik (1096 a 16) zurückgeführt.
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Ursprache
liche Gesicht zu bedecken, wie der Ausspruch des Aristoteles [lehrt]: Platon ist ein Freund, Sokrates ist ein Freund, doch eine größere Freundin ist die Wahrheit. Wenn etwas Kindisches an mir war [...], so ist es doch nicht richtig, mich deswegen zu beschuldigen. Richtiger wäre, es der Eile zuzuschreiben und dem völligen Bemühen, zu tun, was ich kann, um die Sache der Wahrheit entsprechend zu zeigen, so gut ich es vermag.
An die Stelle der Namen, der Kette der Überlieferung und Autorisierung, setzt Hanau den Begriff der Wahrheit, einen Begriff, der von nun an die Lektüre der Texte regieren soll. Überlieferungen werden nicht länger befragt (um die Wahrheit zu erfahren), sondern erforscht (um herauszufinden, inwiefern sie der Wahrheit entsprechen). Hanau fordert eine neue Weise des Tradierens, eine neue Methode, der er eine eigene Tradition zuschreibt, eine Tradition kritischer Selbstreflexion, die er mit zwei Namen als jüdisch und griechisch bezeichnet. Indem er die Bemerkung des Jair Bacharach und die lateinische Sentenz »amicus Sokrates, amicus Platon, sed magis amica veritas« nebeneinander stellt, illustriert Hanau den lateinischen Ausspruch: Im kritischen Forschen nach der Wahrheit ist die Trennung zwischen verschiedenen Traditionslinien mit je eigenen Geltungsansprüchen aufgehoben.87 Der »Wahrheit«, der Hanau sich nähern will, korrespondiert der »eigene Verstand«, auf den er sich in seiner Vorrede zu Binjan Schlomo bezieht. Hanau erprobt die Sprache der Aufklärung, indem er bestimmte hebräische Begriffe mit neuen Bedeutungen versieht und mit neuer Emphase gebraucht – hokhma (Weisheit, Wissen), da at (Verstand), ˙ emet (Wahrheit). Ob »jugendliches Ungestüm« oder »etwas Kindisches«, wie Hanau selbst schreibt: Hanaus Eifer und Übermut mögen tatsächlich Ausdruck dessen sein, dass der Grammatiker im Bewusstsein schreibt, noch eine andere als die Welt der hebräischen Sprache neu zu entdecken – die Sprache der kritischen Forschung, mit deren Begriffen und Methoden sich das Hebräische neu erschließen lässt und die Sprachverwirrung der einander widerstreitenden Überlieferungen, seien es jüdische, seien es jüdische und griechische, aufgehoben werden kann. Am wichtigsten jedoch wird die dritte Ebene, auf der Hanau seinen Gegnern antwortet: die narrative Ebene. Schon die Approbation, die Juda Mehler für Binjan Schlomo schrieb, vermittelt den Eindruck, dass der umsichtige Rabbiner etwas von den Schwierigkeiten vorhergesehen haben könnte, in die Hanau mit Blick auf das Narrativ vom göttlichen Ursprung der Sprache geriet, denn er versucht, ähnlich wie Neumark,
87 In seiner Vorrede zu Scha are tora hatte Hanau sieben Jahre zuvor in einer ähnlichen Bemerkung nur Aristoteles erwähnt. Bacharachs Ausspruch hat er womöglich erst später entdeckt.
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die Lücken in diesem Narrativ auszumachen, die Neuerungen zulassen: »Manche schöne Tür tat er uns auf, [gab uns] Schlüssel und Regeln, alte und auch neue, die unsere Vorfahren unter den Grammatikern nicht bedacht hatten – doch war dies gewiss vom Himmel, der ihm noch Raum gelassen hat, sich mit seinem Werk auszuzeichnen, einem Werk des Himmels.«88 Die kleine diplomatische Geste blieb aber offenbar wirkungslos. In ihrer Replik auf Hanau griffen Asriel und Elia Wilna auf das Narrativ von der Grammatik als Lehre, die Moses am Sinai offenbart wurde, zurück – und versahen es mit einigen Änderungen. In der jiddischen Vorrede zu Derekh siah ha-sade heißt es:89 ˙ Auch muss man wissen, dass der Heilige, gelobt sei er, die Grammatik dem Moses, unserem Meister, Friede auf ihm, auf dem Berg Sinai übergeben hat, ebenso wie die ganze Tora. Wer es nicht glaubt, der ist verdorben, selbst wenn es Grammatisches betrifft, das unsere Rabbinen in der Tora festgesetzt haben. Er wird ein Ketzer genannt und hat keinen Anteil an der kommenden Welt. [...] Wenn der Heilige, gelobt sei er, selbst zurückzahlt, wo es die Reden der Rabbinen betrifft, um wieviel mehr wird man bestraft, wenn es die Reden betrifft, die der Heilige, gelobt sei er, höchstselbst auf dem Berg Sinai übergeben hat. Die Grammatik ist darin eingeschlossen.
Jehuda Löw ben Bezalel hatte die Überlieferung grammatisch unregelmäßiger sprachlicher Erscheinungen im biblischen Text mit dem Sinai verknüpft und damit grammatisches Wissen als notwendig unsystematisch und unvollständig charakterisiert. Schabbetai Sofer hatte die Wissenschaft von der hebräischen Grammatik insgesamt zu offenbarter mündlicher Lehre erklärt und damit eine systematische Entfaltung grammatischen Wissens ermöglicht. Beide Autoren stimmten jedoch trotz ihrer Differenzen darin überein, dass die Verknüpfung der hebräischen Grammatik mit dem Sinai komplex ist: Jehuda Löw vermerkt ausdrücklich, dass für grammatisch regelhafte Erscheinungen keine besondere Offenbarung anzunehmen sei, und auch Schabbetai Sofer erklärt nicht die Grammatik selbst, sondern die Wissenschaft, die es erlaubt, sie zu systematisieren, zu offenbarter Lehre und schreibt ihr eine
88
ñm iadubu Õiqdqdmh unituba uryw al rwa Õiwdx Õgu Õinwi Õillku tuxtpm hmk unl xtp buj xtp Õgu .[. . . ] Õimwh tkalm utkalmb rdgthl Õuqm ul uxinh Õimwh – Hanau: Binjan Schlomo, Haskamot
[unpaginiert].
89 lk za jug uza inis rh ñyd úiua h`yr hwm uc jrp Æ jny rbia h`bqh jah qudqd ñyd zd ñwiuu ñm laz Óa ñzyuug qdqdm ñibh Õimk Æx hrznua wauu qudqd ñiia ña ulip Æ a .hluk Æm zia rd jbiulg jin wy ryuu 'ñua .hluk hruth aid wauu dir aid úiua jlacb h`bqh ñyuu [. . . ] b`hyl qlx ñiiq jah 'ñua sruqipa jwiih rd .hrut rd ñia úiua ñbygig jah umcybu udub Æk Æb h`bqh wauu dir aid úiua jp Æ arjwg jryuu ñm zd ñkw lkm .ñbirwg ñibh Õimk Æx :ñsalwg ñiia ñnird Óa qudqd rd zia giblyz wd .inis rh Õyd – Asriel und Elia Wilna: Derekh siah
ha-sade, Haqdama, jidd. [unpaginiert].
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˙
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Ursprache
wechselvolle Geschichte zu. In Asriel und Elia Wilnas Version des Narrativs vom Sinai verschwinden diese komplexen Elemente. In einer metonymischen Verschiebung wird das, was für die Tora Geltung beansprucht, unmittelbar auf ihre Sprache und deren Grammatik übertragen. Diese Vereinfachung der Erzählung vom göttlichen Ursprung der Sprache und ihrer Grammatik, die sie auf neue Weise buchstäblich auslegt, geht mit ihrer Popularisierung einher: Asriel und Elia argumentieren nicht länger allein im Kontext rabbinischer Gelehrsamkeit, sondern wenden sich in ihrer jiddischen Vorrede an ein breiteres Publikum. Ihre Zuspitzung des Narrativs lässt sich zugleich als Antwort auf Hanaus selbstbewusste Aneignung der grammatischen Wissenschaft lesen. Seiner säkularisierenden wird die sakralisierende Rede entgegengesetzt. Das Wissen vom Hebräischen wird zurückgeholt in die direkte und eindeutige Abhängigkeit von der Offenbarung an Moses vom Sinai und in die Traditionsprozesse, die an sie anknüpfen. Aber auch Hanau verändert in den Werken, die auf Binjan Schlomo folgen, seine argumentativen Strategien und bezieht das Narrativ vom Ursprung der Sprache in sie ein. In der Vorrede zu Scha are tora entwirft er eine Traditionskette von den Männern der Großen Versammlung bis zu Saadia Gaon:90 Dass sich schon viele und vollkommene Gelehrte mit großem Fleiß und viel Bereitschaft um die Grammatik der heiligen Sprache bemüht haben, ist eine Sache, die sich nicht leugnen lässt. Wende dich und betrachte die große Mühe, welche die Männer der Großen Versammlung auf sie verwandten, die Zimmerleute und Schlosser. Sie waren die vollkommenen unter den Menschen, ihr Herz stand offen wie die Tür zu einem Saal. [...] Sie haben uns die Punktation und die Akzente eingerichtet und haben die Schrift in die Überlieferung [masoret] des Bundes hineingestellt. Sie haben der Tora Zeichen gesetzt mit ihren Buchstaben, Punkten und Akzenten gegen Schrecken der Nacht, damit sie im Exil nicht vergessen wird. Und ihr Werk wurde schon von unseren Weisen, denen der Mischna, gerühmt, wenn sie sagten: die Überlieferung ist ein Zaun um die Tora. Wir wissen verlässlich, dass die Geonim, die nach den Amoräern und Saboräern kamen, in dieser Wissenschaft nicht nachließen, denn der Gaon, Rav Saadia aus Pitum, hat drei Bücher über die Grammatik verfasst [...]. Und unser Meister Hai Gaon
90 iaw rbd auh tubr tunmzhbu ludg tucirxb Õimlw ñku Õibr Õimkx wdqh ñuwl qudqdb uldtwh rbkw Õimlwh uih Õh .rgsmhu wrxh hludgh tsnk iwna hzb uldtwh rwa ludgh xrujh haru jth .uwixkhl rwpa umwu .tirbh trusmb arqmh usinkhu .Õimyjhu duqnh unl unqtu udmy Õh [. . . ] .Õlua lw uxtpk Õbl Õiwnabw taz Õtkalm hxbuw rbku .tulgb hruth xkwt alw tulilb dxpm himyju hituduqnu hituituab hrutl Õinuic Õiarumah ñmz irxa uih rwa Õinuaghw hnman unydiu :hrutl giis trusm Õrmab hnwmh lyb unimkx lca .[. . . ] qudqdb Õirps hwlw rbx Õutipm hidys br ñuagh hnh ik uz hmkxb qizxhlm Õhidi upr al Õiarbusu .wdqh ñuwl inzam rpsl utmdqhb arzy ñba Õlwh Õkxh Õhily diyhw umk úsamh rps rbx ñuag iah unibru –
Hanau: Scha are tora, Haqdama, [unpaginiert].
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hat das Buch Ha-me assef verfasst, wie der vollkommene Weise Ibn Esra in seiner Einleitung zum Buch Mozne leschon ha-qodesch bezeugt.
Statt wie zuvor die Linien der Tradition in Frage zu stellen, werden sie hier – für eine frühe Phase der Traditionsbildung – sorgfältig rekonstruiert, um die eigene Wissenschaft mit dem Gewicht der Tradition zu verbinden. In der Vorrede zu Scha are tefilla heißt es ausdrücklich: hrutl giis aihw trusmh ly itudti itkmtu – »Ich stützte mich mit meinen Pflöcken auf die Überlieferung [ha-masoret], die ein Zaun ist um die Tora.«91 Hanau rekurriert auf jene zweigleisig eingerichtete Verbindung zur Überlieferung, die Asriel und Elia Wilna vorführten: Ihre Zusammenhänge werden evoziert, sie erhalten den ihnen zustehenden Respekt und verleihen dafür dem Werk, das sich auf sie beruft, seinerseits Bedeutung, sichern ihm Lesbarkeit und Anerkennung. Doch zugleich formuliert Hanau einen entschiedenen Einspruch gegen das neue und vereinfachte Narrativ von der Grammatik als Lehre vom Sinai. Er weist darauf hin, dass die Vokal- und Akzentzeichen erst zur Zeit Esras hinzugefügt wurden, um die Überlieferung des Textes zu sichern. Doch auch diesen Einspruch modifiziert Hanau noch einmal. In seiner Grammatik Zohar ha-teva und in seiner letzten Schrift Quntres ˙ qure akkavisch reagiert er auf die Vorwürfe seiner Gegner, indem˙ er sich das Narrativ, das er verletzt hat, aneignet und es so aufschreibt, dass seine eigene Arbeit darin ihren Ort finden kann. In der Vorrede zu Quntres qure akkavisch heißt es:92 ˙ Ihr sollt verlässlich wissen, dass diese Wissenschaft, ihre Regeln und Einzelheiten am Sinai vorgetragen wurden, doch war es nicht gestattet, sie aufzuschreiben, wie es auch für die mündliche Lehre galt, bis zu den Tagen unseres heiligen Meisters [Jehuda ha-nasi], als erlaubt wurde, sie aufzuschreiben, denn »Zeit ist’s zu handeln für den Ewigen«, damals wurden auch die Regeln der Grammatik aufgezeichnet. [...] Die frühen Grammatiker aber brachten in ihren Büchern nur die Hauptregeln – über die richtige Auslegung und die Gründe für jene Regeln sagten sie nichts, denn dies war ihrer Generation genug, da ihr Herz offen stand wie die Tür zu einem Saal, wie dies auch für unseren heiligen Rabbi galt, als er die Mischna 91 92
Hanau: Scha are tefilla, fol. 7b.
dy hp lybw hrut ñidk btkhl untin al Óa inisb urman hitujrpu hitullk tazh hmkxh ik hnman uydt Õiqdqdmh Õnma :[. . . ] qudqdh illk k`g ubtkn zau 'iil tuwyl ty Õuwm hbtukl urith wudqh unibr imib ik Õhh Õillkhl Õimyju Õituanh tuiiuh Õhb urikzh alu Õiiwarh Õillkh Õa ik Õhirpsb uaibh al Õinuwarh rwa irxau .hnwmh rubxb wudqh unibr hwyw Órdk Õlua lw uxtpk xutp hih Õblw Õrud iwnal qipsm hih hz iibad tuiiuhb tuinwmh wrpl dumlth urbxu iwa bru anibr umq tulgh lujlju turch úqut inpm tubblh ujymtn rwak Õhh Õiiwarh Õillkh uxinh lba Õimyju tuiiuh hb upsutn alu hlt ly hdmy qudqdh tmkx Õluau .abru ipui tlilk dam dmxn rps auhu llkmh rps rbxu ixmq dud unibr abw dy Õiqdqdmh Õhitubam Õtua uwri uirxa uab rwa Õiqdqdmh lku Õinurxah Õiqdqdmh waru Õinuwarh Õiqdqdmh úus hih auh .Ñrah lk wuwm .Õituw Õh uimim Õluk – Hanau: Quntres qure akkavisch, fol. 2a-b.
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Ursprache
verfasste. Als aber der Beherzten wegen der mächtigen Bedrängnisse und der Wanderungen des Exils weniger wurden, da machten sich Rabina und Rav Aschi daran, den Talmud zu verfassen, um die Mischna mit den Diskussionen des Abbaje und Rava auszulegen. Doch die Wissenschaft von der Grammatik blieb auf ihren alten Mauern stehn, ihr wurden keine Diskussionen und Begründungen hinzugefügt, man legte die Hauptregeln dar, wie man sie von den Vorvätern, den Grammatikern, ererbt hatte, bis unser Meister David Kimchi kam und das Sefer ha-mikhlol verfasste, ein ganz köstliches Buch, der Schönheit Vollendung, eine Freude der ganzen Erde. Er war der letzte der frühen Grammatiker und das Haupt der späten Grammatiker – und alle Grammatiker, die nach ihm kamen, trinken von seinen Wassern.
Auf den ersten Blick wiederholt Hanaus Erzählung die des Asriel Wilna auf direkte und eindeutige Weise. Die Grammatik der hebräischen Sprache ist Lehre vom Sinai. Doch gerade hier, wo Hanau ganz zum Narrativ seiner Gegner überzuwechseln scheint, schreibt er es neu. Von Schabbetai Sofer hat er gelernt, dass die Wissenschaft von der Grammatik der hebräischen Sprache mündliche Lehre ist. Dem fügt er hinzu, dass die Verschriftlichung der grammatischen Lehre – wie die Verschriftlichung der mündlichen Tora – ihre Anfänge in der Geschichte hat. Und noch eine Veränderung fügt Hanau in das Narrativ seiner Gegner ein, um es auf seine Wissenschaft hin zu öffnen. Die Tradierung der grammatischen Lehre vollzog sich wohl in Analogie zur Tradierung der mündlichen Tora, doch mit einem entscheidenden Unterschied: Die Festlegungen der frühen Grammatiker, die der Verschriftlichung der mündlichen Tora in der Mischna entsprechen, wurden nie mit einer »Gemara« versehen. Sie wurden lediglich kopiert:93 Auch die Grammatiker, die nach ihm [David Kimchi] kamen, haben nur diese Hauptregeln aufgezeichnet, sie haben nichts hinzugefügt und nichts weggenommmen, selbst wenn sie sahen, dass die Ausnahmen von den Regeln in die Tausende und Zehntausende gingen, bis nun in unseren Zeiten die Zahl der Frömmler und Einfältigen zunahm, die ihre Finger von jener Wissenschaft lassen, ja vor ihr fast die Flucht ergreifen wie ein Kind, das vor der Schule flüchtet, denn sie meistern die Regeln der Grammatik nicht mehr, da sie sehen, dass sich zu jeder von den Hauptregeln hunderte und tausende Ausnahmen finden; dies aber ist nicht die Definition einer Regel, dass sie öfter verletzt als bestätigt wird. 93 uyrg alu Õhily upisuh al Õhw umk Õdmy ly Õhh Õiiwarh Õillkh uxinh uirxa uab rwa Õiqdqdmh Õgu Õhidi Õikwumh Õiyuncu Õiwurp ubr hz unimnzbw dy .tubbrlu Õiplal Õhh Õillkh ñm uaciw uarw tuih Õy Õhm Õtuarb Õlca qudqdh illk unman al rwa irxa rpsh tibm xrubh qunitk hnmm Õixrub jymku tazh hmkxh ñm tuihl llkh rdgm hz ñiau llkh ñm Õiacuih Õiplalu tuaml uacmn Õhh Õiiwarh Õillkh ñm llku llk lkb ik .dmuyh ly hburm Ñurp – Ebd., fol. 2b.
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Grammatik
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Hanau kritisiert die einfache Wiederholung der grammatischen Lehre, die nicht mit Auslegung und Ableitung verbunden wird. Er charakterisiert seine Arbeit nicht länger als Infragestellung der Linien des Tradierens, sondern erklärt sich selbst zum Ersten, der seit langer Zeit die Arbeit des Tradierens wieder aufnimmt, der sich – nach dem Vorbild der Auslegung der mündlichen Lehre – an die Entfaltung der Regeln der grammatischen Lehre für die Gegenwart macht. Aus den Gründen, die die frühen Grammatiker für ihre Hauptregeln angaben, konnte er, schreibt Hanau, weitere Regeln ableiten, die den späten Grammatikern entgangen waren, Regeln, die so verlässlich sind, dass darunter nun auch alle Wörter fallen, die bisher als Ausnahme galten und von denen es mehr gab als solche, die den bekannten Regeln folgten:94 Ich rastete und ruhte nicht, ehe ich nicht klare Annahmen, verstandesgemäße Ableitungen und hinreichende Gründe für alle Hauptregeln gefunden hatte. Alle sind dem Verständigen gegenwärtig und dem Vernünftigen geradewegs einsichtig. Und aus jenen Gründen entstanden noch weitere Regeln, die unter die Hauptregeln fallen und von ihnen abzweigen, und an die die späten Grammatiker nicht gedacht hatten. Und ich fand und sah, dass diese Regeln so zuverlässig sind, dass alle befremdlichen Wörter, die von jenen Hauptregeln abweichen, nun samt und sonders unter die Regeln fallen, die von den Hauptregeln abgeleitet und von mir neu aufgestellt wurden, so dass kein einziges Wort übrig bleibt, das eine Ausnahme bildet.
Da die Verschriftlichung der mündlichen Überlieferung unvollständig blieb und nur einige Grundregeln umfasst, öffnet sich ein Raum für die Erweiterung des Wissens von der Sprache durch Ableitung und Auslegung: die komplexe Wiederholung. Diese bleibt bezogen auf die Schrift, während zugleich der Prüfung der Überlieferung durch den Verstand nichts mehr entgegensteht. Hanau schreibt Asarja de’ Rossis Narrativ von einer wechselhaften Geschichte des Vergessens und der Wiederherstellung sprachlichen Wissens um in eine Geschichte des Fortschritts, die – nach David Kimchi jäh unterbrochen – nun ihre Vollendung findet. In Zohar ha-teva zitiert Hanau noch einmal die Worte Juda Mehlers aus ˙dessen Haskama zu Binjan Schlomo und verbindet sie mit einer entschiedenen Geste des Abschlusses:95 94 Õiiwarh Õillkhl Õiqipsm Õimyju Õilkwum Õiwqhu tururb turbs itacm rwa dy itxn alu itjqw al Õiiwarh Õillkh txt Õirxa Õillk duy il udlun Õhh Õimyjh ñmu .tyd iacuml Õirwiu ñibml Õixukn Õluk Õhh lk ik dy Õhh Õillkh unman Ók lk ik itiaru itacmu .Õinurxah Õiqdqdmh uryw al rwa Õhm Õipytsmh rwa Õiiwarh Õillkh txt Õh rwa Õillkb ullkn Õluk Õhh Õiiwarh Õillkh ñm uaci rwa ñhh turzh tulmh .hcux tacuih txa hlm ulipa rawt alw ñpuab ilca uwdxtn – Ebd. 95 uryw al rwa Õiwdx Õillk hmku .itrab Õilkwum Õitpumu Õiqipsm Õimyjb qudqdh illk lk Õg uxinhw ala hz ñia .jwpth unila rwa Õinuwarh irpsm rps Õuwb urkzn al rwau .itryw Õinurxah Õiqdqdmh .jwqthlu ub rdgthl Õuqm il – Hanau: Zohar ha-teva, Haqdama, fol. 2b.
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Ursprache
Auch habe ich alle Regeln der Grammatik mit hinreichenden Gründen und verstandesgemäßen Beweisen erklärt. Manche neue Regeln habe ich ersonnen, an die die späten Grammatiker nicht gedacht hatten, und die auch in keinem Buch der früheren [Grammatiker] erwähnt wurden, sofern sie auf uns gekommen sind. Dies aber allein, weil man mir Raum ließ, mich auszuzeichnen und zu schmücken.
Hanau hat, um es zeitgenössisch zu formulieren, den Mechanismus der Sprache entdeckt, er wird zum Meister derselben. Hanaus Verwandlung des Narrativs vom göttlichen Gesetz der Sprache ergänzt seine früheren Schritte zu einer Säkularisierung der Rede über die hebräischen Sprache. Die Lehre, die kein Geheimnis mehr birgt, der Ursprung, der die Sprache dem Wissen nicht entzieht, der Grammatiker, der das Gesetz erfasst, dem die Sprache gehorcht, der göttliche Autor der Sprache, dessen Wissen dem des Grammatikers nicht länger überlegen ist – diese neuen Elemente, die hier in die Rede über das Hebräische Eingang finden, bedeuten, dass die Bindung der Sprache an ihren göttlichen Ursprung beginnt, irrelevant zu werden. Sie wird nicht bestritten, nicht zertrennt, verliert aber ihre einschüchternde und regulierende Kraft. Wie die Sprache zu beschreiben ist, wird nicht mehr durch eine Tradition entschieden, die nur die unvollkommene Wiederholung des Gesetzes der Sprache kennt, sondern zunehmend zur Angelegenheit eines Wissens, dem die Ordnung der Sprache transparent und verfügbar erscheint. Die geläufigen Sprachen Seine Gegner konnte Hanau allerdings mit seinen neuen narrativen Strategien nicht überzeugen. Er selbst schildert die etwas verschlungenen Wege der Gelehrten, die ihn zur Veröffentlichung des Quntres qure akkavisch bewogen. Meir von Prag verfasste Einwände gegen˙ Hanaus Zohar ha-teva, Isaak Przemysl brachte sie als Manuskript von Prag ˙nach Fürth, wo Hanau sich um 1744 aufhielt, und übergab sie einem Gegner Hanaus, Ruben ben Aron Grishaber, auch Seligman Schwab genannt. Dieser fügte weitere Einwände hinzu und verbreitete sie unter seinen Schülern. Letzteres brachte Hanau dazu, eine eigene Schrift zur Verteidigung seiner Grammatik zu verfassen. Er kannte offenbar Meirs Manuskript ebenso wie Grishabers Ergänzungen, denn er zitiert beide ausführlich. Grishaber veröffentlichte schließlich noch im selben Jahr seine Entgegnungen unter dem Titel Anaf ez avot. In seiner Vorrede ˙ res, sondern auch gegen wendet er sich nicht nur gegen Hanaus Qunt ˙ 96 dessen Ausgabe des Gebetbuchs: 96
trbxmbu [i]ryw hzh ludgh rbdb hihnh .Õinubnu Õimkx Õirpud hcilm iwna [. . . ] .Õiwudqb udi xlw hlpt
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Grammatik
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In seiner Schrift Scha are tefilla legte er Hand an Heiliges. Sprachkundige, Schreiber, Gelehrte und Verständige [der früheren Tage] – haben sie je etwas so Großes unternommen und den Text [nusah] der Vorfahren geändert, wie ˙ jener es tut? Verfehlungen und Boshaftigkeiten häuft er an, indem er die Akzente der neuen wie alten Bücher ändert.
Was Grishaber etwas unklar formuliert, findet sich klar und deutlich ausgesprochen in einem Text, der schon 1738 verfasst wurde, doch erst 1784 in Prag zum Druck gelangte, in Mordechai Halberstadts Quntres ˙ hassagot. Mordechai Halberstadt (1686–1769), der selbst ein grammatisch korrigiertes Gebetbuch vorgelegt hatte,97 erklärt, dass die Sprache der Gebete nicht auf die Sprache der Schrift bezogen werden kann und nicht in Analogie zu dieser geregelt ist. Vielmehr handle es sich hier um eine eigene Sprache – gesprochene Sprache, Umgangssprache, mit eigenen Formen, durchzogen vom Aramäischen, nicht wiederzufinden in der schriftlichen Tora und dennoch heilige Sprache:98 [D]ie Segenssprüche und Gebete durften schließlich anfangs überhaupt nicht aufgeschrieben werden. Erst später erlaubte man, sie aufzuschreiben, denn »Zeit ist’s, zu handeln« usf. Gewiss gilt für sie aber nicht dasselbe wie für die schriftliche Tora, man muss nicht auf Qri und Ktiv, defektive und pleneSchreibung achten. Darum benutzten diejenigen, die die Gebete einrichteten, auch Wörter, die in der Schrift gar nicht zu finden sind: kegon [wie zum Beispiel], ela [sondern], akhschaw [jetzt], lefikhakh [demnach], kedai [es lohnt], qal wa-homer [um wieviel mehr] usf., Wörter, die alle zur rabbinischen ˙ Auch werden in allen Büchern, neuen wie alten (außer in Sprache gehören. denen des genannten Salman), Erweiterungen der Wortstämme des Nif al und Hitpa el aus der talmudischen Sprache benutzt, etwa nit alla, nitma et usf., dies alles aber, weil sie nicht gegeben wurden, um niedergeschrieben, sondern um mündlich in der geläufigen Sprache gesprochen zu werden. Und wenn auch die Rabbinen, ihr Andenken zum Segen, davor warnten, in aramäischer Sprache zu beten, so wussten sie wohl doch, dass auch jene Ausdrücke heilige
:Õinwi Õg Õiwdx Õirpsh imyj ta utunwb .Õinudzu tuggw hzh wiah hbrh rwak .Õinumdqh txsn tunwl – Grishaber: Anaf ez avot, Haqdama [unpaginiert]. 97 Vgl. Satanow: ˙Wa-je etar Jizhaq, fol. 3b. 98 lba .ñbtukl urith 'Õugu tuwyl ty˙ Õ˙ uwm Ó`xa qr .llk butkil untin al hlxtm tulpthu tukrbh lk irh Õg tulpth irdsm uwmtwh hz Õyjmu 'uritiu 'urisxb qdqdlu bitku irqb btkbw hrutk Õnid 'ihiw al iadu acmn Õg .l`zr ñuwl ñhw ñhimudu .rmuxu lqu .iadk .Ókipl .uiwky .ala .ñugk .llk arqmb Õiacmn Õniaw tulmb .hlytn ñugk .lypthu .lypn .Õiniinbh tubkrhb uwmtwhw (l`nh z`r rpsbm Ñux) 'iniwi Õg Õiwdx 'irpsh lkb l`zr urihzhw Óau .lgrumh ñuwlb ú`yb ñturql ala butkl urman alw inpm hz lku .s`wh ñuwlb ñhimudu .jymtn uwy hpi alu [. . . ] .arqmb Õiacmn Õniaw úa .ñh qh`l ullh tunuwl Õg ik uydi Õhw rwpa .imra ñuwlb llpthl ipl 'highu 'uduqnu tuituau 'bit uqxmw Õiix 'iqla irbdb di xulwl uwqb rwa l`nh z`r jrpbu .Õinurxa tcq ñia ñku ,ipj xkumd tuyjb al Õa hxsun Õuw tunwl ñiaw l`z 'inuwarh urihzh rbku .Õhl hgun ñiau hlpwh Õtyd .ludg qxudb ulipa ñmiiql rwpaw lk tunwi tuaxsunh ñm zuzl ñiau hzb Õhl yumwl – Düsseldorf [Halber-
stadt]: Quntres hassagot, fol. 2a-b. ˙
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Ursprache
Sprache sind, obgleich sie in der Schrift nicht vorkommen. [...] Aber einige der Späteren, besonders der erwähnte Salman, handelten nicht schön – sie wollten Hand legen an die Worte des lebendigen Gottes, indem sie Wörter, Buchstaben, Punkte sowie Zeichen der Aussprache tilgten, wie es ihrer unbedeutenden Meinung entsprach, kein Licht ist bei ihnen. Schon die Frühen, ihr Andenken zum Segen, warnten davor, eine Textfassung [nusah] zu än˙ dern, es sei denn, es findet sich ein höchst verwerflicher Irrtum. Darum soll man nicht auf sie hören und von den alten Fassungen, so lange es nur geht und selbst bei großen Schwierigkeiten, nicht abweichen.
Zur Überlieferung gehören Texte, die sich den Regeln, die sich aus den Untersuchungen des Verstandes und aus der Schrift ergeben, nicht fügen. Diese Texte besitzen eigene setzende Kraft. Damit wird das einheitliche Gebäude der Sprache, das Hanau – und vor ihm Schabbetai Sofer – zu errichten suchten, infrage gestellt. Wenn das Hebräische wechselnden Regeln unterliegt, wenn auch die Modifikationen der mündlichen Sprache und die sich vervielfältigenden Varianten der Überlieferung autoritativ – heilig und unantastbar – sein können, so gibt es keine Möglichkeit, die Sprache als Einheit zu erfassen und als Ganzes zu durchdringen. Die Grammatiker werden an die Tradition, die sprachliche Überlieferung verwiesen, die sie von Fall zu Fall studieren können, doch das Gesetz, das die Sprache zusammenhält und regiert, bleibt im Dunkeln – ein Geheimnis, das keine Souveränität gegenüber der Sprache und keinen Meister derselben zulässt. Halberstadts Worte stimmen in vieler Hinsicht mit den Argumenten überein, die Hanaus schärfster und prominentester Gegner vorbrachte, der berühmte und für seine kritischen, polemischen Interventionen berüchtigte Altonaer Gelehrte und Rabbiner, Jakob Emden (1697–1776). Der Streit zwischen beiden begann, als Emden im Jahr 1728 den ersten Teil seines Werkes über die Mischna, Lehem ha-schamajim, veröffent˙ in den tradierten Text belichte, Hanau darin willkürlicher Eingriffe zichtigte und seine Irrtümer im Einzelnen beschrieb. Hanau erwiderte ihm 1733 im Anhang Mikhse ha-teva zu seiner Grammatik Zohar hateva. Spät – erst mehr als zwanzig Jahre nach Hanaus Tod ˙– ergreift Emden in diesem Streit noch einmal ausführlich das Wort, indem er einen umfangreichen, gegen Hanau gerichteten Kommentar zum Gebetbuch publizierte. Hanau hatte von diesem Kommentar, der schließlich unter dem Titel Luah eresch 1769 erschien, offenbar schon 1730 gehört. In einer kurzen ˙ Vorrede zu Mikhse ha-teva erklärt er, dass zuverlässige Leute ihm von einer Schrift berichtet hätten, die den Titel »Luah heres« trage und in ˙ der Emden seine Einwände gegen ihn versammelt˙ habe. Hanau betont, dass er, nachdem ihm dies zu Ohren gekommen war, die Verständigung mit Emden gesucht habe:99 99
itymw rwaku riyh la hzh dbknh ab q`pl Ñ`t tnwb Õdrjwma q`qb ituihb ik Ñrau Õimw ily indiymu
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Grammatik
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Mögen Himmel und Erde meine Zeugen sein, dass ich, als ich im Jahr 490 [1729 /30] in der heiligen Gemeinde Amsterdam weilte, und jener Geehrte in die Stadt kam, mich freute, als ich davon hörte, und zu ihm ging, um ihn selbst zu sehen. Ich bat ihn, mir etwas von den Einwänden, die er gegen mich hat, zu zeigen, vielleicht seien seine Worte richtig, dann wäre ich bereit, die Wahrheit ganz und gar anzuerkennen. Vielleicht habe er aber auch nicht völlig verstanden, was ich meinte, dann könnte ich ihm erklären, was verborgen blieb. Doch wahrhaftig, der Mann leugnete und sagte mir, es sei ihm nie in den Sinn gekommen, über diese Dinge etwas zu schreiben.
Schließlich kommt es doch, so Hanau, zu einem knappen Dialog zwischen beiden, der wohl rasch wieder abbricht, doch dessen ungeachtet wie ein methodisches Lehrstück wirkt. Hanau demonstriert seine Wissenschaft und die Probleme mit den Prozessen des Tradierens, die sich in ihrem Licht zeigen:100 Ich fragte ihn, ob er auch bestreite, was ich zum Gebet »Kommen wird für Zion...« [im Morgengebet für die Wochentage] ausgeführt habe: u-netaltani ˙ ruha, Tet mit Patah, Lamed mit Schwa nah und Taw mit Patah. Er antwortete ˙ ˙ ˙ ˙ ˙ mir: Nein, im Gegenteil, auch ich pflege so zu sagen. Da bat ich ihn, mir zu sagen, aus welchem Grund er so zu sagen pflege, und er antwortete mir: Weil dies die Punktation im Targum ist. Ich sagte zu ihm: Richtig, so ist die Punktation im Targum in der Baseler Ausgabe der Rabbinerbibel, doch tatsächlich ist die Punktation in den venezianischen Ausgaben netalatni, Tet mit ˙ dass wir ˙ uns Qamaz, Lamed mit Patah, und Taw mit Schwa. Er antwortete, ˙ ˙ auf die Mehrheit stützen. Da erwiderte ich ihm: Die Mehrheit hat doch netalatni wie in den venezianischen Ausgaben, und so ist auch die Punktation in˙allen Gebetbüchern, die wir besitzen; auch ziemt es sich für einen Grammatiker nicht, sich auf die Mehrheit [arubba] zu verlassen wie ein Blinder, der eine Öffnung findet [be-arubba], wenn die Mehrheit nicht der Wahrheit entspricht, vielmehr ist es richtig, die Wahrheit herauszufinden durch den abwägenden Verstand und klare Beweise, die zeigen, was tauglich ist, dieses oder jenes. Und er stand wie stumm und antwortete nicht mehr [.]
Õirbd ilua ily giwhw hmm uhcq spa il tuarhl unmm itwqbu 'ipa lbql uila itklhu utarql itxmw uymw ta ajwuqbu .hsumkh ityd ul digau ityd úusl dri al ilua ua alm hpb tmah ly tuduhl ñkum ina zau hmh Õinukn .[. . . ] rbd hlah Õirbdb butkl utyd ly hly al Õluymw rmal ila rmaiu il wxk wiah ik animaq – Hanau:
Zohar ha-teva, fol. 75b. ˙ 100 xt`pb ti`jh axur inÇ TÅlÂjÅn U ñuicl abu rdsb rmul itilyhw hmb ily qlux auh hz rbdb Õg Õa uhitlawu utyd il dighl unmm itwqbu Ók rmul ghun ina Õg abrda ala ual il biwhu x`tpb ui`thu xn a`uwb dm`lhu duqn auh Ók tmab ul itrmau .arq iahd umugrtb duqn auh Ókw ipl il biwhu Ók rmul ghun auh Õyj hzial d`mlhu Ñm`qb t`ijh inÇ tÂlÅjÄnÂU duqn ha`iciniu isupdb arbia hail`izab supd hludg arqmb arq iahd umugrtb lkb acmn rwak untljnu auh burh aulh itrma za .abura ñnikms unxnaw il biwh auhu au`wb ui`thu x`tpb Õa hburab amusk hbura Óumsl qdqdml iuar ñia Õg .unidibw hlipth iruds lkb duqn auh Óku ha`iciniu isupd ihiu .hz ua hzh rwki Õhm hzia Ótux tpumb xikuhl utyd luqwb tmah rrbl iuar lba tmah la Õuiq burh ñia [.] duy hny alu wirxmk – Ebd., fol. 75b.
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Ursprache
Zunächst verständigt sich Hanau mit Emden über den Text, den sie beide wiederholen. Eine einheitliche Überlieferung scheint sich abzuzeichnen, an deren Anfang ein und dieselbe Autorität steht – der Targum. Doch Hanau zerstört den Schein der Einheitlichkeit, indem er auf die unterschiedlichen Drucke, Basel und Venedig, hinweist. Die Tradition ist im Laufe der Zeit mehrdeutig geworden, und es bleibt den Gelehrten der Gegenwart nichts anderes übrig, als zu wählen, zu urteilen und die ein oder andere Überlieferung zurückzuweisen. Während die Gegner Hanaus die sprachliche Vielfalt ins Feld führen, die sich innerhalb der Tradition auf einer diachronen Ebene zeigt, bezieht sich Hanau auf die Vielfalt, die die Tradition auf der synchronen Ebene kennzeichnet und als Mehrdeutigkeit hervortritt. Emden löst das Problem dadurch, dass er wiederum ein der Tradition immanentes Kriterium anwendet: der dichter belegte, der mehrheitlich überlieferte Text soll gelten. Hanau aber weist dieses Kriterium zurück, indem er spöttisch eine der zentralen Metaphern der Aufklärung gegen Emden kehrt. Er stellt der Blindheit dessen, der sich ohne Überlegung auf die Mehrheit verlässt, die Suche nach der Wahrheit entgegen, die sich im Licht des Verstandes zeigt und von der andere durch klare Beweise überzeugt werden können. Den Gegentext zu Hanaus inszeniertem, exemplarischen Dialog liefert Emden in seiner Vorrede zu Luah eresch. Hanau berief sich auf ˙ heqqeschim muskalim, »verstandesgemäße Schlussfolgerungen«, auf te amim maspiqim, »zureichende Gründe«, und auf da at, »Verstand« ˙oder »Vernunft«. Dieses methodische Vokabular greift Emden zuallererst an, doch nicht, indem er sich direkt auf Hanau bezieht, sondern indem er einen Paralleltext schreibt, in dem er sich bemüht, Hanaus selbstgewisse Rede von der Verlässlichkeit und Verbindlichkeit verstandesgemäßer Verfahren durch eine Darstellung ihrer lächerlichen und gefährlichen Willkür zu unterlaufen:101 Er begab sich auf ein Gebiet, das nicht das seine ist, um ohne Erlaubnis zu zerstören und zu erbauen, um zu ändern, wie es ihm in den Sinn kommt. Ich sah ihn viele Male gefangen in den Fallstricken der Verdrehungen seiner Neuerungen, seiner Fehler, die sich in seinem Gehirn eingenistet haben. [...] Ich will den Rang jenes Mannes, was das Handwerk der Grammatik betrifft, nicht kleiner und geringer machen. Doch er ist ein Mensch, und so
101 dkln tubr Õimyp uitiar .uxur ly hluyh lkk tunwl tuwrb alw tunblu rubwl ulw uniaw Õuxtb snkn .qudqdh tkalmb wiah hz tlym ñijqhlu jyml itab al inau [. . . ] .uxumb unnq rwa tuiyjh iwudx iwubiw iwqumb biwhlu giwhl .ixk br ik idi hacm ribk ina rubg rmai wlxh [. . . ] .ñuimdh ilux hlx ñka .Õiwnam auh Õnma ik Õininphu Õininyh tnbhb Õg Õlw umcy haru ulubg rby lba .ulwb dumyl ul id alu .[. . . ] uxur tmxb Õimduqh ly unmm tualpnu .tuludg trbdm ñuwl .tulptu tukrb ybtmb l`zx uybjw ruhjhu iqnh Õnuwl txt Õiwubku Õinumjh .Õimlyn Õh Õimkxl Õg Õimyplu – Emden: Luah eresch, Altona 1769, Vorrede [unpaginiert].
˙
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Grammatik
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erkrankte er an seiner Einbildungskraft [...]. Der Schwache spricht, ich bin ein Held, Fülle hat erworben meine Hand, denn groß genug ist meine Kraft, [so spricht er,] um Einwände zu erheben und zu antworten den Früheren mit erhitztem Gemüt [...]. Es genügte ihm nicht, auf eigenem [Gebiet] zu bleiben. Er überschritt seine Grenze und hielt sich auch für vollkommen, was das Verständnis der Dinge, der Perlen betrifft, die verborgen und verdeckt sind in der reinen Sprache, in der unsere Weisen, ihr Andenken zum Segen, die Segenssprüche und Gebete prägten, einer Sprache, die Großes spricht, zu wunderbar für ihn, selbst den Weisen bleibt manchmal etwas in ihr verborgen.
Emdens Text erklärt Verstand ohne Wissen um die Grenzen, die dem Verstand gesetzt sind, zur Krankheit; der sichere Gang verstandesgemäßer Schlussfolgerung erscheint verkehrt in einen Weg voller Fallstricke; und die Gewissheit, neu gefundene Regelhaftigkeiten durch klare Beweise allgemein einleuchtend machen zu können, wird als phantastische Selbstüberschätzung verspottet. Die Grenze, die Emden den Forschungen Hanaus gesetzt sieht, wird eindeutig bezeichnet: die Segenssprüche und Gebete. Der Text der Liturgie entzieht sich der Autorität des Verstandes wie der Schrift. Was Halberstadt als historische Entwicklung der Sprache darstellte – Modifikationen und die Hinzufügung neuer Wörter und Stämme, auch die Integration aramäischer Elemente – beschreibt Emden jedoch radikaler: als Entwicklung einer eigenen Sprache, die nicht mit der Sprache der Bibel verwechselt und vermischt werden darf. In Luah eresch heißt es:102 ˙ Vergeblich stellte er Verknüpfungen her, als er die ganze Sprache des Gebets und der Segenssprüche nach den Konventionen einer Grammatik zurechtbiegen wollte, die auf dem Gebrauch der heiligen Sprache in der Schrift beruht. Wo immer er in ihnen etwas fand, das seinen Wegen nicht entspricht, entfernte er es und schloss ab. Doch steht ihm über das Abschließen und die Wahl kein Urteil zu. Denn es ist offenbar und bekannt, dass unsere Weisen, ihr Andenken zum Segen, die die Gebete und Segenssprüche festgesetzt haben, sich in ihnen der Sprache bedienten, die ihnen geläufig war. Über sie sagten sie: Die Sprache der Tora steht für sich, und die rabbinische Sprache steht für sich.
Das Hebräische erscheint als Sprache, die in zweierlei »Rezensionen« überliefert ist. Die spätere ist von der früheren klar getrennt, doch durch dieselbe göttliche Autorität gesichert. Die Sprache der Gebete ist nicht aus der Sprache der Bibel abgeleitet, kein Prozess hat hier stattgefunden, 102
ñuwl ghnm ly xnumh iimksh qudqd Órd ly tukrbhu hlpth ñuwl lk bshl utucrb úurc úrc a`uwl h`liynh jpwm ul alu .ub lynu uilym uhqixrh uitubitnb Óluh itlb Õhb acm rwa lku .arqmbw wduqh urma uilyw .Õlca ligrh ñuwl utuab Õkutb uwmtwn tukrbhu tulipth inqtm l`zxw auh yudiu iulg ik .hrixbhu .duxl Õimkx ñuwlu duxl hrut ñuwl – Ebd.
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Ursprache
der die Sprache korrumpierte, so dass sie nun sorgfältig nach den Regeln der Schrift und des Verstandes wiederherzustellen wäre. Vielmehr handelt es sich um eine selbständige, einstmals »geläufige« Sprache, nicht rückführbar auf eine andere Sprache, und jede Modifikation derselben, die sich auf Sprache außerhalb des Gebetstextes gründen will, erscheint als Akt der Willkür.103 Emden insistierte wie Asriel und Elia Wilna darauf, dass die hebräische Sprache einen unübersichtlichen Text darstellt, der den Untersuchungen des Verstandes nicht zugänglich wird. In die Rede über das Gesetz der Sprache und ihre verschiedenen »Rezensionen«, wie sie sich bei den Gegnern Hanaus seit Asriel und Elia Wilna herausgebildet hatte, ging die Erfahrung mit dem Hebräischen als Sprache, die einst gesprochen, nun aber nur noch studiert wird, ein. Diese Erfahrung, von der im frühneuzeitlichen Italien noch keine Rede war, die in der »Prager« Literatur auf die politischen, sozialen und kulturellen Verhältnisse der Zeit zurückgeführt wurde, auf die Bedingungen des Exils oder die Verhältnisse in den jüdischen Institutionen des Lernens, wurde nun in mehreren Schritten und auf immer differenziertere Weise der Verfasstheit des Hebräischen selbst zugeschrieben. Die Unzugänglichkeit der Sprache, die nicht gesprochen und nicht im Sprechen modifiziert wird, konnte, dies zeigte sich schon bei Zamos´c´, als Erfüllung ihrer Bestimmung als heiliger Sprache interpretiert werden. In sakralisierender Rede wurden die Unzugänglichkeit der Sprache für ihre Sprecher und die Unantastbarkeit ihres göttlichen Gesetzes ineinander geblendet. Hanau hingegen insistierte darauf, dass die hebräische Sprache zugänglich werden kann. In der Auseinandersetzung mit der diasporischen Geschichte der Sprache, ihren zahlreichen historischen und lokalen Varianten und jenen Gelehrten, die sich gegen die Reduktion solcher Vielfalt wandten, indem sie die Gleichursprünglichkeit aller sprachlichen Erscheinungen behaupteten, erklärte er, dass sich die Sprache erschließen lässt, weil ihre Grammatik einheitliche Regeln kennt und auf einem
103 Emden behauptet, dass Hanaus Wissenschaft sich in willkürlicher Weise über die Überlieferung und die Regeln des Tradierens hinwegsetzt. Doch gerade die Namen und Institutionen der Tradition stellten ihn vor ein Problem, das argumentativ nicht lösbar war. Hanau war es gelungen, für seine Schriften die Haskamot vieler bedeutender Rabbiner seiner Zeit zu erlangen – unter anderem die bereits erwähnte Haskama des Zvi Aschkenasi für Scha are tefilla. Emden reagierte darauf besonders empfindlich. Er entschloss sich, die Haskama seines Vaters ebenso wie die des Abraham Broda als Fälschung zu bezeichnen – ein halbes Jahrhundert nach den beiden auf 1713 datierten Haskamot und viele Jahre nach Hanaus Tod (ebd.). Doch diese Behauptung erwies sich als recht wirkungslos. Hanaus Ruf als großer Grammatiker hatte sich, unabhängig von der Frage, ob seine grammatischen Korrekturen der Liturgie im Einzelnen stets zu übernehmen seien, gefestigt; s. auch unten, 169.
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einheitlichen Text der Sprache, nicht auf mehreren »Rezensionen« beruht. Während Hanaus Gegner das Narrativ vom göttlichen Ursprung der Sprache ausdehnten und auf zahlreiche und zum Teil recht späte linguistische Erscheinungen bezogen, schränkte Hanau seine Relevanz energisch ein und ließ es nur noch für den biblischen Konsonantentext gelten. Hanaus Rückwendung zum Sinai lässt sich – auf fast paradoxe Weise – als Fortsetzung seiner säkularisierenden Rede lesen: Sie diente der Revision, Eingrenzung und Kontrolle der Interpretationen und Implikationen, die sich mit dem Narrativ vom göttlichen Ursprung verbanden, und war Teil seines Versuchs, das Wissen von der Grammatik der Sprache zugänglich zu machen. Die Orientierung der Maskilim am biblischen Hebräisch hatte gewiss vielfältige Gründe. In der Kontroverse um Hanau zeigt sich, dass sie nicht nur ideologisch motiviert war. Sie war von Anfang an auch methodische Notwendigkeit.
Ein Echo? In einer Frage war Hanau sich mit Asriel und Elia Wilna einig – von der Bedeutung grammatischen Wissens waren sie alle überzeugt. Dass der Eifer für grammatische Studien, den Hanau und seine Gegner teilten, sich seit dem zweiten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts auszubreiten begann, zeigen die neuen grammatischen Einführungen für den Unterricht, die neben Hanaus umfangreicheren Lehrbüchern entstanden. Israel ben Abraham richtet sich in Mafteah leschon ha-qodesch (Amsterdam 1713) an Kinder wie überhaupt an˙ »Liebhaber« der heiligen Sprache, so das Titelblatt. Auch in der Einleitung des ohne Approbation gedruckten Büchleins wendet sich der Autor, ein Konvertit,104 nicht ausdrücklich nur an eine jüdische Leserschaft. Vielmehr heißt es, die Grammatik sei bestimmt für Klein und Groß, für Juden wie Christen.105 Wer Israel ben Abrahams Grammatik folgt und, worauf der Autor hofft, später mit wachsendem Verstand die Untersuchung der Buchstaben, Punkte und Akzente selbständig fortsetzt, wird die Tora verstehen, ohne auf eine Auslegungstradition angewiesen zu 104 Auf dem Titelblatt nennt sich der Autor »Jisra el ben Avraham Avinu« (»Israel, Sohn Abrahams, unseres Vaters«). Schon Steinschneider und Freudenthal vermuteten, dass Wolf ein Irrtum unterlief, als er diesen Autor mit dem Besitzer der Köthener, später Jessnitzer Druckerei identifizierte, s. Steinschneider: Cat. Bodl., Nr. 5445, 1162 und Freudenthal: Aus der Heimat Mendelssohns, 297. Tatsächlich nennt sich der Drucker, etwa auf dem Titelblatt der von Zamos´c´ kommentierten Ausgabe des Ruah hen ˙ ˙des (Jessnitz 1744), »Jisra el bar Avraham z″zl« (»Israel, Sohn Abrahams, das Andenken ˙ Gerechten sei zum Segen«) und weist damit unmissverständlich auf eine reale, nicht symbolische Genealogie hin. 105 Israel ben Abraham: Mafteah leschon ha-qodesch, fol. 1b. ˙
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sein:106 »Wenn er dann älter und der Verstand stärker wird, dann wird er von selbst mehr verstehen können. Und er wird an keinem Buchstaben, Punkt oder Akzent vorübergehen, ehe er nicht den richtigen Grund für ihn kennt.« Israel ben Abraham präsentiert die Grammatik als Wissenschaft, die einen eigenständigen und unmittelbaren Zugang zur Bedeutung der Schrift ermöglicht, und kommt ohne ein Wort zur Auslegungstradition, zu Raschi, anderen Kommentatoren oder der mündlichen Lehre aus. Die Spuren christlich-hebraistischer Wissenschaft in diesem kleinen Lehrwerk sind unverkennbar.107 Israel ben Abraham schrieb Jiddisch, und anders als bei Em ha-jeled sind nicht nur die grammatischen Erklärungen in dieser Sprache verfasst, sondern auch Einleitung und Titelblatt. Die im Jahre 1718 in Wilhermsdorf erschienene Grammatik Girsa de-januqa des Eisik Auerbach ist zwar einerseits – anders als Mafteah leschon ha-qodesch – aus˙ schließlich für den Elementarunterricht bestimmt. Andererseits aber sind nicht nur Titel und Einleitung, sondern auch die Erklärungen nicht in der Sprache, die die Kinder sprechen, sondern auf Hebräisch geschrieben. Nur die einzelnen Wortformen werden mit einer jiddischen Übersetzung versehen. Die Approbation des Fürther Rabbiners Baruch Kahana gilt merkwürdigerweise dennoch einer jiddischen Grammatik. Er lobt, dass Auerbach es unternommen habe, »in aschkenasischer Sprache zu erläutern und hinreichend zu erklären, was sich in den Grammatikbüchern findet«.108 In Kahanas Haskama wie in Auerbachs Einleitung fällt auf, mit welch kräftigen Formulierungen hervorgehoben wird, dass grammatische Kenntnisse für das Verstehen der Schrift unabdingbar sind. Kahana schreibt: »eine große Besserung bewirkte er, indem er die Knaben unterweist im Zusammenhang der Schrift und den Wegen der Schriften, denn daran hängt alles«.109 Und Auerbach bemerkt noch kühner: »dieses mein Werk wird ihm mehr nützen, als wenn er bis zum dreizehnten
106 jwblyz Óiz ñup Æ rjiiuu ñuw ry jryuu ñyd .jryuu rqryjw uzla dnajw rp Æ rd 'ñua jryuu rjly ñyd ry ñyuu ñjk Æyr ñyd jryuu ry zib ñig aiib rp Æ ñzal úparj rda (hduqn) rda (t Æ ua) ñiiq jryuu 'nua .ñnyq ñijw rp rym .ñsiuu ñup Æ ryd (Õyj) – Ebd., fol. 2a.
107 Zum Amsterdamer kulturellen und jiddisch-diasporischen Kontext des kleinen Werks s. Berger: Jidisch we-ha-modernizazja; zum möglichen Zusammenhang mit der ˙ von Berger vorgestellten jiddischen Einleitung zum Sprachstudium des Feivel (Phoebus) Metz, Masakh ha-petah (Amsterdam 1710; ebd. 13–18), die den Mangel an jiddischen Grammatiken bedauert,˙ s. Zwiep: Jewish Enlightenment Reconsidered, 304. 108 .[. . . ] qudqdh irpsb acmnw hm z`nkwa ñuwlb qipsm ruaibb rablu rrbl – Auerbach: Sefer girsa de-januqa, [fol. 1b]. Vielleicht wurde Kahana fehlgeleitet durch die etwas missverständlichen Formulierungen der Einleitung, aus denen nicht immer deutlich hervorgeht, ob perusch eine Erklärung oder eine Übersetzung meint. 109 .[. . . ] ub iult lkhw dti auhu Õibutkh ikrdu arqmh rubixb Õirynh Ónxl ñqit ludg ñuqit– Ebd.
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Lebensjahr den Pentateuch lernt, ohne zu wissen, was er sagt [ .. .]«.110 Zugleich ist Auerbach bemüht, seiner Arbeit jedes grundsätzlich Neue abzusprechen. Er betont, dass es eigentlich keiner neuen Grammatik bedarf, gibt es doch viele ältere, die unbenutzt in der Ecke liegen. Dies liege aber daran, dass die älteren Grammatiken sich an fortgeschrittene Leser richten und nicht für den ersten Unterricht taugen. So habe er nichts weiter getan, als aus dem Material der älteren Grammatiken auszuwählen und zusammenzustellen, was für den Unterricht nützlich sei. Sein Lehrbuch ist aus der Tradition der jüdischen Grammatiker heraus entstanden und führt zu dieser Tradition – und zur Auslegungstradition – zurück:111 Etliche Jünglinge können bezeugen, dass sie meine Schrift studierten, als sie noch in Handschrift vorlag, danach aber studierten sie selbstständig die Bücher des [Elia] Bachur und die anderen Grammatiker; sie wissen und verstehen bei jedem Buchstaben, was Wurzel ist und was Flexion, und [sie verstehen] auch die Worte Raschis, sein Andenken zum Segen.
Es ist nicht ganz klar, ob Auerbach sich eher an den tinoq, den kleinen Knaben, oder an den bahur, den Jüngling oder Jeschivastu˙ denten, wendet. Jedenfalls sah er sich zehn Jahre später veranlasst, ein zweites grammatisches Lehrbuch zu verfassen, dieses Mal in der den Kindern geläufigen Sprache, in Jiddisch. Das 1728 in Fürth erschienene Werk nannte er bezeichnenderweise »Kindersprache«, Schuta de-januqa.112 Nicht an Kinder, sondern an Erwachsene wandte sich Alexander Süskinds 1717 in Köthen gedruckte hebräische Grammatik Derekh ha-qodesch.113 Alexander folgt in der Anordnung des Stoffes und der Terminologie Hanaus Binjan Schlomo und bietet eine – bisweilen nicht unkritische – Zusammenfassung, ohne allerdings diese Grammatik oder ihren Autor zu nennen.114 In seiner Einleitung bedauert Alexander die Vernachlässigung der masoretischen Wissenschaft. Den Akzen-
110
.[. . . ] rmaq hm ydi alu hnw g`i dy wmuxh dumliw hm rtui hz irubix ul liyuiu – Ebd., [fol. 2a]. rawbu ruxbh irpsb Õmcym udml Ók rxau Õuwr btkb uduyb hz irubix udmlw udigiu udiyi Õiruxb hziau :l`z i`wr irbd Õgu wumiw ua wruw auh hzia tua lk unibhu uydiu Õiqdqdm – Ebd. 111
112
Hanau schrieb für Auerbachs grammatische Erklärungen zu Raschi eine kurze lobende Vorrede (eine »Haqdama«, die trotz großer Ähnlichkeit der Form keine »Haskama« war, wie Löwenstein: Geschichte der Juden in Fürth, Teil 2, 107, Anm. 4, meint), s. Auerbach: Be er rehovot, fol. 2a. 113 ˙ Alexander Süskind, Sohn des Rabbinatsassessors Samuel Sanwil aus Metz, war zeitweilig Angestellter Behrend Lehmanns in Halberstadt und Amsterdam. Hinweise zu seiner interessanten Biographie – er war ein Anhänger des Marquis de Langallerie – finden sich bei Freudenthal: Aus der Heimat Moses Mendelssohns, 192 ff. 114 Siehe Zwiep: Imagined Speech Communities, 90–93.
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Ursprache
ten widmet er ein eigenes, auf Jiddisch geschriebenes Kapitel.115 Wie Auerbach betont auch Alexander, dass er etwas Neues geschaffen habe, das doch zugleich ganz und gar auf der Tradition beruhe, auf masora und qabbala:116 Was aber die Teile der Grammatik betrifft: Auch wenn es scheint, dass darin viele Dinge zu finden sind, die die Früheren nicht bedachten, bin ich doch stets auf ihren Spuren geblieben, ich habe nur das Essbare vom Abfall getrennt, um zu zeigen, was ihre wirklich Ansicht war, überall dort nämlich, wo die Späteren in unserer Zeit den Verdacht hegten, dass etwas nicht unter die Regeln der Grammatik fällt. Sie wussten und verstanden aber nicht, dass diese Ausnahme durch die Akzente bewirkt wird oder dass hier mit Liebe ausgelegt ist der Anteil der Gesetzgeber der Masora und der Tradition.
Anstatt in seinem Vorwort auf die Unterrichtsverhältnisse einzugehen, bezieht Alexander mit den zitierten Zeilen im Streit um Hanaus Binjan Schlomo eine eigene Position: es ist möglich, alle Erscheinungen der hebräischen Grammatik zu erklären – hierin stimmt Alexander Hanau zu –, ohne sich aber von den früheren Grammatikern zu distanzieren – hier ist er anderer Meinung. Der Schlüssel zur Durchdringung der Grammatik der hebräischen Sprache ist das Wissen von der Masora. Mit ihrer Hilfe lassen sich alle Schwierigkeiten lösen, die der Text und die Überlieferungen aufwerfen. So unterschiedlich die drei Grammatiken sich in ihren Vorreden präsentieren, machen sie gemeinsam doch deutlich, dass an ganz verschiedenen Orten im westlichen Aschkenas ein neues Interesse an grammatischem Wissen, sei es für den Unterricht oder für das Studium der Erwachsenen, erwachte, zögernd wohl, aber doch vernehmlich, sogar auffällig nach dem langen Schweigen des 17. Jahrhunderts zu grammatischen Dingen. Ob im ländlichen Süddeutschland, im weltoffenen
115 S. D. Luzzatto gibt an, dass Süskind sich in diesem Kapitel auf Matthias Wasmuth stützte: »sembra aver fatt’ uso dell’ opera di Wasmuth« (Prolegomeni ad una grammatica ragionata, 60). Rohrbacher (Isaak Wetzlar, 36 f.) weist auf das Manuskript eines Werks hin, das Süskind Ende des Jahres 1716 beendete (Oxford, Ms. Neubauer 1501, fol. 15) und auf dessen Titelblatt er angibt, er habe Adolph Theobald Overbecks deutsche Bearbeitung von Wasmuth (Der endlich gefundene Haupt-Schlüssel zur doppelten Kunst der Ebraeischen Accentuation, Braunschweig 1716) in Celle bei einem »christlichen Frommen« gesehen und durch die Vermittlung Isaak Wetzlars von diesem erhalten. Das Verhältnis der gedruckten Grammatik zu diesem Manuskript ist zu prüfen. 116 Óutm lkuah itrrib qr Õtubqym itzz al taz lk ly .Õinuwarh Õuryw al 'ibr 'irbd ñkutm harn ik Õau illkb tnmhl lkui al ñursxl uninmzb Õinurxah Õudwx rwa tumuqmb hnuknh Õtyd lkl tuarhl tlusph .hlbqhu hrsmh iqquxm tqlx [!] tbha úucr Õww ua Õimyjh xkm ab aihh turzhw unibh alu uydi alu .qudqdh
– Alexander Süskind ben Samuel: Derekh ha-qodesch, Haqdamat Sefer Derekh ha-qodesch [unpaginiert].
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Amsterdam, wo die Aufklärer ihre Vorbilder fanden, oder in Köthen, Halberstadt und Halle, wo Süskind Unterstützung erhielt und Moses Wulffs Presse, die seine Grammatik druckte, viel zur Herausbildung der Aufklärung beitrug – die Überzeugung des Chajjim ben Bezalel Friedberg und des Josef ben Elchanan Heilbronn, des Jomtov Lipman Heller und des Isaak ben Samuel ha-Levi, dass das Studieren der Tora über das Studieren der Grammatik geht und die Regeln der Grammatik den Regeln der Tradition nicht widersprechen, sondern zu ihnen hinführen, lebte wieder auf. Aber nicht nur die verschiedenen neuen grammatischen Einführungen zeigen, dass das Interesse an grammatischen Kenntnissen wuchs. Ein weiteres bemerkenswertes Indiz ist der Erfolg, der Hanaus Zohar ha˙ der die teva zuteil wurde. Aron ben Moses Rofe, der Berliner Drucker, Grammatik 1733 zum ersten Mal veröffentlicht hatte, brachte im Jahr 1750 eine zweite Auflage heraus. Drei weitere Auflagen im 18. Jahrhundert – 1755 in Z˙o´łkiew,117 1769 in Berlin und 1787 in Dyhernfurth – machten das Werk zu einem der ersten »Bestseller« der jüdischen Aufklärung.118 Abgelöst wurde es erst von Jehuda Leib ben Ze evs Talmud laschon ivri, zuerst in Breslau 1796 erschienen. Auch im 19. Jahrhundert fand Hanau noch ein breites Publikum, nun vor allem in Osteuropa.119
117 Gershon Hundert vermutet, dass es ein Exemplar dieser Ausgabe ist, das in der Liste der Neuankäufe für die Bibliothek des Volozhiner Bet midrasch aus dem Jahr 1762 als einzige Grammatik (mit Titel, doch ohne Druckort oder -jahr) verzeichnet ist – neben dem Druck selbst ein weiterer Hinweis darauf, dass Hanaus grammatisches Werk schon im 18. Jahrhundert nicht nur in aufklärerischen Zirkeln und nicht nur im westlichen Aschkenas rezipiert wurde; s. Hundert: The Library of the Study Hall in Volzhin, 234 u. 237. 118 Wenige Bücher der hebräischen Aufklärer Berlins sind in mehreren Auflagen überliefert. Während wir von Mendelssohns Be ur millot ha-higgajon, sowie seinem Pentateuch-Werk und den daran anschließenden Ausgaben einzelner biblischer Bücher, von Gebetbüchern oder Haggadot mit deutscher Übersetzung zahlreiche Auflagen kennen, haben die sprachwissenschaftlichen Werke Wesselys nur ausnahmsweise einmal drei Auflagen erreicht. Die Ausgaben philosophischer oder literarischer Werke mit Kommentaren, oder die eigenen ethischen, pädagogischen und literarischen Schriften der Maskilim fanden offenbar nie das Echo, das einen Nachdruck zwingend gemacht hätte. Auch andere Werke Hanaus wurden in Westaschkenas nachgedruckt, ehe sie in Ostaschkenas Verbreitung fanden: Scha are zimra erschien 1762 noch einmal in Fürth, Scha are tefilla 1779 in Dyhernfurth. 119 Der osteuropäische Aufklärer und frühe Zionist Abraham Bär Gottlober (1811– 1899) schildert in seiner Autobiographie die nächtliche Lektüre des Zohar ha-teva als ˙ erste und entscheidende Erleuchtung auf dem Weg zum richtigen Studium der hebräischen Sprache, s. Parush: Mabat aher, 72. Elieser ben Jehuda erwähnt in der Vorrede zu seinem Wörterbuch, dass es in den˙ Schulen der Städte Litauens üblich gewesen sei, mit Zohar ha-teva hebräische Grammatik zu lernen, s. Elieser Ben Jehuda: Thesaurus, 4. ˙
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Ursprache
Zwischen Zohar ha-teva und Talmud laschon ivri liegen die Jahre der ˙ Entfaltung, der Blüte und des beginnenden Niedergangs der Berliner Haskala. Eine Grammatik, deren Erfolg mit den Werken Hanaus und Ben Ze evs vergleichbar gewesen wäre, ist in all diesen Jahren nicht entstanden. Dies ist kein Zufall. Mit der Schrift Qohelet musar, die um 1750, ungefähr zur selben Zeit wie die zweite Auflage von Hanaus Grammatik und beim selben Verleger, erschien, kündigte sich eine andere Richtung aufklärerischer Aktivität an. Im Hinblick auf die hebräische Sprache treten die Bemühungen um Grammatik zurück zugunsten anderer Felder, die mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Die Säkularisierung der Sprache wird vorangetrieben, doch geschieht dies vor allem durch Überlegungen zur Spracherweiterung, in deren Dienst die Grammatik nun zu treten hat.
3. Spracherweiterung Wie Berge an einem Haar Jehuda ha-Levi hatte das Hebräische als Sprache beschrieben, die, weil sie in Vergessenheit geriet, fragmentiert erscheint, doch zugleich noch immer als vollkommene Sprache gelten kann, weil sie als Ursprache der Geschichte entzogen ist. Den Hebräern ist ihre Sprache in großen Teilen abhanden kommen – die Ursprache, die göttliche Sprache, die Sprache der Schöpfung aber wird dadurch nicht berührt. Die Kehrseite dieses Arguments trat in den Kommentaren zum Kuzari hervor. Die Sprache, die sich nicht durch menschliche Konvention bildet, deren Ordnung keine Angelegenheit der Geschichte, sondern der Offenbarung ist, kann, wenn die Überlieferung von ihr zerbrochen ist, kaum wieder aufgefunden und nicht wieder hergestellt werden. Ihre Vollkommenheit setzt die Distanz von einer Geschichte des Verfalls ebenso wie von einer Geschichte modifizierender Wiederherstellung voraus. Während die Vorstellung vom Hebräischen als Ursprache Sprecher und Sprache voneinander distanzierte, bezeichneten die Grammatiker Wege der Annäherung. Hanau suchte in seinen Werken nachzuweisen, dass es möglich sei, die Regeln der hebräischen Sprache mit Hilfe des Verstandes vollständig zu erfassen und zu systematisieren. Dem Grammatiker Hanau ging es noch nicht um das Schreiben neuer Texte, sondern um das Studium der vorhandenen Schriften – der Bibel, der Liturgie – und um ihre souveräne Beherrschung, die sich in der Fähigkeit bewies, das im Text Ausgelassene zu ergänzen oder fehlerhaft Ergänztes
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Spracherweiterung
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zu identifizieren und zu korrigieren. In diesem Sinn schrieb Hanau nicht neue Texte, sondern den gegebenen Text zu Ende. Mit seiner Insistenz auf der Einheit und Zugänglichkeit des normativen Textes, des biblischen Hebräisch, schuf Hanau darüber hinaus aber die Voraussetzungen dafür, in dieser Sprache neue Texte zu verfassen. Mag sein, dass Hanaus zuversichtlicher Blick auf seine Wissenschaft damit zusammenhing, dass er in hebräischer Sprache stets nur Texte über die hebräische Sprache schrieb. Wer sich naturwissenschaftlichen oder philosophischen Gegenständen zuwandte, wer politische oder literarische Texte schrieb, stieß unweigerlich auf größere Schwierigkeiten. Wohl mochte es möglich sein, die Regeln der Sprache zu studieren und nach den Regeln der Sprache zu schreiben – doch mit welchen Worten? Die schmale normative Basis der Sprache, der biblische Text, mochte es zulassen, die Regeln der Sprache vollständig aus ihm abzuleiten, doch der Wortschatz, den er bot, war recht begrenzt. Darauf hatte schon Emden in seiner Replik auf Hanau hingewiesen, als er dafür plädierte, mehr als nur die biblische Überlieferung als Grundlage der hebräischen Sprache anzuerkennen. Notwendig sei es, die von der biblischen Überlieferung abweichenden sprachlichen Elemente der nachbiblischen Überlieferung zu respektieren, nicht nur, weil sie ebenfalls göttlichen Ursprungs sind, sondern auch, weil sie für die Gegenwart, in der das Hebräische eine mangelhafte Sprache ist, eine unverzichtbare Bereicherung darstellen:120 Wir sollen sie freundlich aufnehmen und sie beschirmen wie flatternde Vögel. [...] Denn sie stammen von [den Weisen], ihr Andenken zum Segen, den frühen Sprechern der Sprache. Aus Notwendigkeit nehmen wir von ihnen, was wir brauchen, besonders aber, da an einigen Stellen unsere Sprache, von der uns nur wenig blieb, nicht hinreicht. So sind wir gezwungen von ihnen zu erbitten, was uns fehlt [...].
Die Sorge um den ohnehin schon reduzierten Bestand der hebräischen Sprache, der nicht durch Purismus und den Verzicht auf einen Teil des Überlieferten noch weiter angegriffen werden dürfe, teilten etliche jüdische Aufklärer mit Emden.121 Doch zeichnete sich zugleich ein Konsens darüber ab, dass auch der überlieferte Wortschatz der hebräischen Sprache im Ganzen nicht hinreicht, um sich in der Gegenwart auf Hebräisch zu verständigen, und dass es unabdingbar wird, die Sprache zu erweitern.
120
ñkl .Õinuwarh ñuwlh ilyb l`z Õhm ik [. . . ] .tupy Õirpck Õhily ñghlu . tupi Õinp rbsb Õlbql unilyu Õhm wqbn unxrk lyu .unidib ryzm jym trawnh .unnuwl di hrcq tumuqm hmkbw duxib .unkrcl xqn Õhm xrkhb .[. . . ] unnursx – Emden: Luah eresch, Haskama [unpaginiert]. 121
Siehe unten, 273.
˙
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Überlegungen zur Notwendigkeit der Spracherweiterung waren schon früher angestellt worden und dürften den Gebildeten vertraut gewesen sein. Sie begegnen bereits in den Vorreden der mittelalterlichen Übersetzer, auf die zu Beginn des vorigen Kapitels hingewiesen wurde. Diese konstatierten nicht nur den im Vergleich zum Reichtum der arabischen Sprache eher geringen Wortschatz des Hebräischen, sondern erklärten auch, dass sie beim Übersetzen dazu übergingen, dem Arabischen Wörter zu entlehnen und neue hebräische Wörter zu konstruieren. Prominente, auch um die Mitte des 18. Jahrhunderts zugängliche Beispiele waren die Vorrede des Jehuda ibn Tibbon zu Bachja ibn Paqudas Hovot ha-leva˙ Maimonides’ vot122 und die Vorrede seines Sohnes Samuel ibn Tibbon zu More nevukhim. Jehuda ibn Tibbon gibt zu, er habe für manche Wörter Stämme eingeführt, die für diese Wörter sonst nicht belegt sind, um auf diese Weise den Mangel der Sprache auszugleichen:123 Wer diese Übersetzung studiert, möge mir keine Vorwürfe machen, weil ich an manchen Stellen, bei manchen Verben und Substantiven Stämme konstruiert habe, die sich in der hebräischen Sprache nicht finden, denn die Schwierigkeiten in der Sache angesichts des Mangels in der Sprache haben mich [...] dazu gebracht.
Samuel ibn Tibbon beruft sich auf seinen Vater, erklärt aber weit ausführlicher, wie er dem Mangel der Sprache zu begegnen suchte. Er schuf nicht nur für bekannte Wurzeln neue Stämme, um zu neuen Wörtern zu gelangen, sondern übernahm auch Wörter aus dem Arabischen und der Umgangssprache:124 In all dem folge ich meinem Vater, meinem Lehrer, sein Andenken zum Segen, so auch, wenn ich Stämme schaffe, die sich in unseren Büchern nicht finden, wie nitpalsef [philosophieren], von filosof, dem Arabischen entsprechend, wo diese Stammform ebenfalls daraus abgeleitet ist, denn dies ist die Weise der Verfasser von Büchern über die Wissenschaften: Sie kon-
122 Diese Vorrede findet sich etwa in der hebräisch-jiddischen Ausgabe der Hovot ha-levavot, übers. von Samuel Posen, Amsterdam 1716 (Petiha la-metargem). ˙ 123 Õniaw Õininb tumwhu Õilyph tcqb tumuqmh tcqmb itinbw inpm .ta˙ zh hqtyhb ñiiymh inmiwai la .Ók idil inuaibh [. . . ] ñuwlh rcuq Õy ñinyh qxud ik ,tirbyh ñuwlb Õiacmn – Bachja ibn Paquda: Hovot ˙ ha-levavot, ed. Zifroni, 62.
124 'úslptn' :umk ,unirpsb uacmi alw Õininb tunbb uirxa Ówma rwak ,l`z irum aba rxa Ówma hz lkb Õininb tunbl tumkxh irps irbxm Órd ñku ;unmm k`g utua hnbw ibryh ñuwl rxa ub Ówmhl ,'úusulip'm hnnbaw ñinyh itlb ñiny ly Õulipiu ,Õyhu ñumhh ñuwlm tulm luawlu Õhinuwar Õuryw al tulm wdxlu Õhinpl unbn al rcuq aibi hz lklu ± ,tmah ly ñuimd ñia Õau ,ñuimd qps Õhh Õininyh inw ñib hihiw dblbu ,uily Õh Õulipi rwa .tuqumy tumkx ininyb rbdb ñuwl lk – Maimonides: More, ed. Ibn-Shmuel, Bd. 1, LXXXVIII.
Noch ausführlicher schildert Samuel ibn Tibbon sein Vorgehen in der Einleitung zu seiner der Übersetzung angehängten »Erklärung der Fremdwörter«, dem Perusch meha-millot zarot.
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Spracherweiterung
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struieren Stämme, die noch nie zuvor konstruiert wurden, sie schaffen neue Wörter, die die Früheren noch nicht geprägt hatten, und sie entlehnen der Sprache der Menge und des Volkes Wörter, um sie auf einen Gegenstand zu beziehen, auf den jene sie nicht bezogen haben, wenn nur zwischen beiden Gegenständen genug Ähnlichkeit besteht, auch wenn es keine wahre Ähnlichkeit ist. Dazu kommt es durch den Mangel, der jeder Sprache eignet, wenn über Dinge der tiefgründigen Wissenschaften gesprochen wird.«
Der Mangel, der die beschriebenen Maßnahmen notwendig macht, wird hier nicht allein dem Hebräischen zugeschrieben, sondern als allgemeines Problem formuliert – die Wissenschaften verlangen in allen Sprachen neue Wortschöpfungen. Dieser pragmatischen Haltung der mittelalterlichen Übersetzer nähert sich Israel Zamos´c´, wenn er in seinem Kommentar zur selben Passage des Kuzari, aus der Moscato die Negation der Konvention in der hebräischen Sprache ableitete, zu einem ganz anderen Schluss gelangt. Zamos´c´ geht einen entscheidenden Schritt über alle seine vorigen Beobachtungen und Behauptungen hinaus, indem er den Zustand des Mangels, den er stets als unaufhebbares Faktum, als Ergebnis einer irreversiblen Geschichte präsentiert hatte, mit einem Mal als Ausgangspunkt zweifelhafter, doch nachdrücklicher Bemühungen um die Ergänzung des Fehlenden durch Neuerungen vorstellt:125 Aber wir, wir haben [die hebräische Sprache] wegen unserer Sünden im Laufe der Exilierungen verloren, und nichts ist bei uns geblieben als die Substantive, Verben und Partikel, die gebraucht wurden von denen, die im Tanakh sprachen; außer diesen kennt keiner von uns etwas, und wir tappen wie ein Blinder im Finstern, wenn es uns um Dinge geht, die nicht im Tanakh erwähnt sind; wir bauen Formgruppen [gezarot] nach [dem Ermessen] unseres Verstandes, und hängen uns an die Wörter, die geschrieben sind, wie Berge, die an einem Haar hängen.
Zamos´c´ erörtert nicht die Frage, ob es erlaubt sei, die Grenzen der Sprache zu erweitern, sondern stellt fest, dass dies in der Praxis geschieht, ja geschehen muss, wenn es überhaupt möglich sein soll, in hebräischer Sprache zu schreiben. Zunächst könnte diese positive Haltung zur Spracherweiterung darauf zurückgeführt werden, dass Zamos´c´ sich nicht mit der Grammatik, sondern mit dem Lexikon der hebräischen Sprache befasst. Während die Grammatik auch in anderen Sprachen vorwiegend der Ort konservati-
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rbdl ukrcuh Õbw tulmhu Õilyphu tumwh Õa ik unta rawn alu ,tuilgh Óruab hundba unitunuyb unxnau Ó`ntb urkzn al rwa Õirbd la Órjcnwk hlpab ruyk Õiwwmm unxnau ,hmuam ydui unta ñia Õtluzu ,Ó`ntb :hrywb Õiiulth Õirrhk Õibutkh tulmb unmcy ñilutu ,untydm turzg Õinubu – Zamos´c´: Ozar nehmad,
˙
IV, 25, fol. 128a.
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Ursprache
ver Darstellungen bleibt, ist das Lexikon der Ort, an dem Sprache weit eher offen und innovativ beschrieben wird. Gesellschaftliche, kulturelle und politische Veränderungen hinterlassen hier rasch und unweigerlich ihre Spuren. Doch wäre es zu einfach, Zamos´c´s Überlegungen auf einen grundlegenden Unterschied zwischen den Gebieten der Grammatik und des Wortschatzes zurückzuführen. Die Erweiterung des Lexikons der hebräischen Sprache war (und ist) aufs engste an ihre Grammatik gebunden. Auch im Hinblick auf den Wortschatz ging es um den biblisch überlieferten Bestand der Sprache; es ging darum, nach den Regeln der Grammatik aus den biblisch belegten Wortformen auf die Wortwurzeln zu schließen, sie korrekt zu identifizieren, und, wiederum unter Anwendung der Regeln der Grammatik, legitime Möglichkeiten der Ableitung neuer Wörter aus diesen Wurzeln zu bestimmen. Und es ging um die Frage, ob die biblischen durch neue Wurzeln ergänzt werden dürfen. Wie schon die Grammatiker greift Zamos´c´ auf die Möglichkeit zurück, von der hebräischen Sprache wie von der Tora zu sprechen. Doch handelt es sich bei ihm nicht mehr um eine Metonymie, die in einem als real geltenden Zusammenhang – Moses am Sinai – gründet, sondern eher um eine metaphorische Sprechweise. Das Verhältnis der Sprache zur offenbarten Schrift ergibt sich nicht direkt aus dem der mündlichen zur schriftlichen Lehre, ist aber damit vergleichbar. Mit seiner Bemerkung über die Berge, die an einem Haar hängen, spielt er auf die Mischna an, in der es heißt (mHag 1,8): »Die Satzungen über den Sabbat, über die Festopfer und über˙ die Veruntreuungen sind wie Berge, die an einem Haar hängen, denn sie bestehen aus wenigen Schriftworten und zahlreichen Bestimmungen.« Wie Hanau verweist auch Zamos´c´ mit seinem Vergleich darauf, dass die Sprache als Gesetz vorzustellen ist und in dieser Hinsicht als unantastbar und unverfügbar gelten muss, dass sie aber andererseits wie jedes Gesetz der Auslegung bedarf. So wie es möglich ist, Halachot an wenige Worte der Schrift anzuhängen, ist es, nach Zamos´c´, auch möglich, neue Wörter aus den Wurzeln, die in der Schrift vorkommen, abzuleiten. Die Verbindung mag prekär sein, solange sie aber – erfinderisch und einfallsreich wie im halachischen Prozess – immerhin noch nachgewiesen werden kann, ist – so legt der Vergleich nahe – der Autorität, die am Ursprung der Sprache steht, Genüge getan. Man könnte denken, Zamos´c´ hätte hier für den lexikalischen Aspekt der Sprache dasselbe geleistet wie Hanau für den grammatischen Aspekt: er hätte einen Weg eröffnet, der über die einfache Wiederholung des gegebenen, geoffenbarten Sprachtextes hinausführt, indem er auf die legitimierten Strategien der Auslegung und Ableitung verweist. Und doch gibt es einen großen Unterschied – geradezu hörbar im unglück-
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lichen Ton, in dem Zamos´c´ seinen Vergleich vorbringt und der sich so deutlich von Hanaus selbstbewusstem Ton abhebt. Während sich Hanau rühmt, alle Regeln der hebräischen Grammatik zu sehen und sichtbar zu machen, klagt Zamos´c´ angesichts des beschädigten lexikalischen Bestands der Sprache über die Blindheit und Haltlosigkeit der Schreibenden. Ein Teil der Sprache ist unwiderruflich verloren, ihre ursprüngliche Fülle unzugänglich. Zamos´c´ ist, wie Asriel und Elia Wilna, wie Halberstadt und Emden, überzeugt, dass der Text der Sprache stets nur unvollständig wiederholt werden kann. Selbst die komplexe Wiederholung, die Auslegung einschließt, reicht nicht hin. Wer schreibt, muss den verlorenen ursprünglichen Text wider Willen ersetzen. Sobald sich aber dieses Moment des Ersetzens in Zamos´c´s Konzept von den Ableitungen aus den Wurzeln hineinmischt, lässt sich der Prozess der Spracherweiterung nicht mehr durch die Schrift, durch Regeln der Ableitung, durch das Narrativ von der schriftlichen und der mündlichen Lehre der Sprache regulieren. Eine Sprachpraxis zeichnet sich ab, die sich nicht mit dem Bezug auf die sicheren Grundlagen sprachlichen Wissens begnügen kann, über die Emden und Hanau verhandelten. Emdens Überzeugung, dass die tradierten Texte für die Bewahrung des liturgischen Textes genügend Anhaltspunkte liefern, und Hanaus Zuversicht, den gesamten Text der hebräischen Sprache mit Hilfe der Schrift, des Verstandes und der auf beiden sich gründenden grammatischen Wissenschaft erschließen zu können, waren irrelevant für das Problem, vor das sich Zamos´c´ gestellt sah. Wenn die hebräische Sprache nicht nur als überliefertes Korpus beschrieben, sondern als Sprache der Gegenwart geschrieben werden sollte, musste ihr überlieferter lexikalischer Bestand erweitert, der Mangel ergänzt, das Vergessene ersetzt werden. Die Unvollständigkeit des überlieferten Sprachtextes, der Mangel an sprachlichem Wissen, der im Hinblick auf die Wörter nie ganz behoben werden kann, öffnen aber der Willkür Tür und Tor. Die Instanz, auf die Hanau sich berief, taucht bei Zamos´c´ wieder auf: »wir [. . .] bauen Formgruppen nach [dem Ermessen] unseres Verstandes [mi-da atenu]«. Der Verstand, da at, erscheint hier als Ratgeber so fragwürdig wie bei Emden und so unumgänglich wie bei Hanau. Diejenigen, die das Hebräische in der Gegenwart fortschreiben, können sich im Prozess der Spracherweiterung nur begrenzt auf Schrift und Auslegung stützen, sie sind angewiesen auf Erfindungen, die sich den überlieferten Regeln des Autorisierens und Legitimierens entziehen. Die Distanz zwischen der hebräischen Sprache und ihren Sprechern, die sich im Narrativ vom Hebräischen als göttlicher Ursprache verfestigt hatte, hat ihre Spur noch in Zamos´c´’ Bild von der Blindheit, mit der die Sprechenden sich in der Sprache bewegen, hinterlassen. Die Sprache
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als Lehre oder Gesetz kann nicht mehr vollständig rekonstruiert werden, nicht mehr ganz erlernt und nachvollzogen werden. Doch kann der Sprache auch nicht ohne weiteres ein neues Gesetz zugeschrieben werden. In diesem Zwischenstadium durchbricht Zamos´c´ die sakralisierende Rede von der hebräischen Sprache und vollzieht einen Schritt zu ihrer Säkularisierung, der sich vor dem Hintergrund mittelalterlicher Sprachpraxis eher als Schritt der Resäkularisierung ausnimmt. Um der Möglichkeit willen, das Hebräische als Sprache in der Gegenwart nicht nur zu studieren, sondern auch zu schreiben, bejaht er die Überschreitung der zu seiner Zeit gültigen Grenze ihrer Unantastbarkeit: die keinem überlieferten, gesicherten und sichernden Gesetz mehr unterliegende Erweiterung der Sprache. Sein Schüler Moses Mendelssohn wird um 1750 in seiner Frühschrift Qohelet musar das Schreiben der Sprache noch entschiedener gegenüber ihrem Studium privilegieren und das Thema der Spracherweiterung auf andere und sehr unbekümmerte Weise aufgreifen.
Qohelet Musar: Schrift und Schreiben Qohelet musar, »Prediger der Moral«, zeigt, welche Veränderungen in der theoretischen und praktischen Annäherung an die hebräische Sprache um 1750 einsetzten. Das knappe Werk, – sechs Kapitel auf nur 16 Seiten – wurde um 1755 /56 veröffentlicht, d. h. etwa zur selben Zeit, zu der Mendelssohns Briefe Über die Empfindungen gedruckt wurden und seine Übersetzung von Rouseaus Discours sur l’origine et les fondements de l’ine´galite´ parmi les hommes entstand.126 Es ist als moralische Wochenschrift angelegt, erschien anonym und wurde schon zu Mendelssohns Lebzeiten zwei Autoren zugeschrieben – Mendelssohn und einem nie identifizierten Mitautor, »Tobias« – doch wird im Folgenden aus Gründen, die anderswo dargelegt werden konnten, davon ausgegangen, dass Mendelssohn als einziger Autor der Schrift anzusehen ist.127 Qohelet musar hier nach Neumarks und Hanaus grammatischen Werken einzuführen, bedeutet, diese Schrift in veränderten Beziehungen wahrzunehmen: nicht als erstes Aufleuchten im Dunkel der voraufklärerischen Epoche, sondern als Distanzierung von anderen frühaufklärerischen Projekten, als Hinweis auf eine Verschiebung der Akzente, als Vorschlag, Aufklärung nicht neu, sondern anders als bisher voranzutreiben. Auffallend ist die Zurückhaltung, mit der Mendelssohn auf 126
Zu Entstehung, Inhalt und Kontexten des Werks vgl. Gilon: Qohelet musar, und Schatz: Einleitung, JubA 20.1, XV–XXXV. 127 So bereits Altmann: Mendelssohn, 86 f. und daran mit weiteren Überlegungen anknüpfend Schatz: Einleitung, XXIII–XXVI.
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vorangegangene innerjüdische Entwicklungen reagiert. Das wachsende Interesse am Studium der Wissenschaften wird nicht erwähnt und die grammatische Annäherung an die hebräische Sprache und die in ihr verfassten Quellen nur reserviert kommentiert. In den Vordergrund treten philosophische Fragen, literarische Experimente und Fragen der Spracherweiterung. Indem Mendelssohn Qohelet musar als moralische Wochenschrift konzipierte, wählte er für seine Schrift das Genre, das in seiner Umgebung so entschieden wie kein anderes der Ausbreitung des Deutschen als Sprache der bürgerlichen Gesellschaft, der Wissenschaften und der Literatur gewidmet war. In witzigen und ironischen Essays, die oft als fiktive Zuschriften an die Herausgeber und deren Beantwortung gestaltet waren, ermahnten die moralischen Wochenschriften zur Lektüre von Schriften, die als Muster eines klaren und angenehmen Stils gelten konnten, und erprobten selbst eine vernunftgemäße und bewegliche, den verschiedensten Gegenständen angemessene Sprache.128 So liegt auf der Hand, dass in Qohelet musar nicht nur der Brief über die hebräische Sprache im zweiten Kapitel und das sechste Kapitel über das Übersetzen als Aufruf zur Erneuerung des Hebräischen zu lesen sind, sondern auch die anderen Kapitel, die versuchen zu zeigen, dass sich das Hebräische in eine Sprache zeitgenössischer Publizistik, Philosophie und Poesie verwandeln lässt. Eine verlassene Braut? Jenseits der Musarliteratur Der erste Teil des zweiten Kapitels ist als »Brief« vom Folgenden abgesetzt, erstreckt sich im Erstdruck über kaum mehr als eine Seite und bietet auf gedrängtem Raum ein höchst vielseitiges Inventar überlieferter Argumente für das Studium der hebräischen Sprache. Am Beginn steht der Ruf eines Predigers – der Brief setzt mit der Rhetorik der Musarliteratur ein:129 Ich sehe, dass unsere Brüder, die Kinder Israels, unsere heilige Sprache verlassen haben, und dies erzürnt mich sehr. Ich weiß nicht, wie dieses Übel geschah. Was dachten sie bei sich, und was kam sie an, dass sie die stolze Krone, ihren prächtigen Schmuck, zu Boden zu warfen? Ist sie doch die erwählte unter den Sprachen. Das Wort des Ewigen, das in Visionen an 128 Vgl. Martens: Botschaft der Tugend, 408–418 und Blackall: The Emergence of German as a Literary Language, 49–101. 129
hm .tazh hyrh htihn hkia itydi al .il hrx bjihu :hwudqh uninuwl ubzy larwi inb unixa itiar har 'h rbdu .tunuwlbw rxbmh aih alh .Õtrapt ibc tuag trjy hcra Óilwhl :Õhila yigh hmu hkk ly uar .umluy rcu 'h ñibh hbu hih rby ñuwlb Õiaibnh uidby la hzxmb – Gilon: Qohelet musar, 160; dt.
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seine Knechte, die Propheten erging, war in hebräischer Sprache; in ihr ersann und erschuf der Ewige seine Welt [...].
Das Motiv der verlassenen heiligen Sprache nahm bereits einprägsame Gestalt in der Metapher von der verlassenen Braut an, die Jomtov Lipman Heller in seiner Haskama zur Grammatik Siah Jizhaq wählte. ˙ ebenso ˙˙ Dieses Bild kehrte in Hanaus Vorrede zu Binjan Schlomo wie in der Vorrede zur Kurzgrammatik Ma ane Elijahu wieder, in der Elia Wilna sich ausdrücklich auf Heller bezieht.130 Es findet sich aber auch in einer Predigt des Jonathan Eybeschütz (ca. 1690–1764) aus dem Jahr 1748,131 einer Auslegung zu dem Midrasch, in dem es heißt, dass Israel, wie einst aus Ägypten, so auch künftig wegen dreier Dinge aus dem Exil zurückgeführt wird: weil die Söhne Israels ihre Namen und ihre Sprache nicht ändern und sich nicht unter die Töchter des Landes mischen.132 Eybeschütz verbindet, wie schon viele seiner Vorgänger unter den Kritikern des Sprachverfalls, die Klage über den Niedergang der hebräischen Sprache mit ihrem Lob als vorzüglichste unter den Sprachen:133 Schaut nun und seht, wie groß der Vorzug der heiligen Sprache ist, sie ist es, die Rettung und Erlösung näher bringt, wegen unserer vielen Sünden, es ist die hebräische Sprache – wie eine Braut [sitzt sie] im Hause ihres Vaters, verlassen und niedergeschlagen; keiner achtet auf eine reine Sprache, auf wahres Hebräisch, jedem ist es erlaubt, seinem Sohn Französisch, Deutsch, das ist die aschkenasische Sprache, und andere Sprachen beizubringen, wer darin viel tut, wird gelobt, aber keiner gibt acht auf die hebräische Sprache. Wer kann Hebräisch sprechen, ohne irgendeine [andere] Sprache hineinzumischen – Chaldäisch, Aramäisch und dergleichen, und ohne viele Fehler
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Siehe oben, 85. Auf diesen und weitere Texte des Jonathan Eybeschütz und des Jacob Emden, die ihm als »Vorboten« der Haskala galten, wies bereits Azriel Shohet hin: Im hillufe ˙ und tequfot, 235 ff. Im Folgenden wird hingegen eher die Distanz zwischen Emden Eybeschütz einerseits und dem aufklärerischen »Moralprediger« andererseits sichtbar. 132 Am nächsten kommt die Version, in der Eybeschütz den Midrasch wiedergibt, dem Text in Be-midbar rabba, ed. Mirkin, 13,20, wo es heißt: ñdib uihw tubuj tudm wlw dgnk .huryh ñm Õmcy urdgwu Õnuwl ta unw alu Õmw ta unw alw ,ulagn ñtukzbu Õircmb larwi lw – »In Anbetracht dreier Tugenden, die Israel in Ägypten besaß, und um ihretwillen wurden sie befreit: sie änderten nicht ihre Namen, nicht ihre Sprache und hüteten sich vor Unzucht.« 131
133 hlkk tirby ñuwl aih r`huyb hluagu hyuwi tbrqmh aihu wduqh ñuwl tlym hldg hmk uaru an ujibh 'a lku itma irbyb 'lh tuxcb rbdl bl ly Õw wia ñia hwujru hbuly hiba tibb rtux tprc ñuwl unb dmll ñuwl rbdl luki im ub xigwm ñia irby 'lu xbuwm z`h rbdl hbrmh lk tunuwlhm hmudku znkwa 'l auh a`iinmla hnignb ñugh itlb Õtlpt úa hz tmxmu tubr [. . . ] tuyjb hz lk Õyu hnhku iamra iadlk ñuwl tuburyt ilb irby ipurc tuau rubd lkbu Õidmxm uluk q`hl Õktam xkwn Óia 'hl wudq Õy Õkm inwub [. . . ] tuduqnu Õimyjhu iuark [.] ñuwlh dib tumhu Õiixh ñ`zyu tma tulugsu tumw – Eybeschütz: Ja arot devasch, fol. 95a (Predigt
in Metz vom 7. Adar 5508 [1748]).
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zu machen? Darum ist auch ihr Gebet, was die Melodie betrifft, ohne gebührende Würde, und [dasselbe gilt für] Akzente und Vokalisation [...]; ich schäme mich eurer, Volk, das dem Ewigen heilig ist, wie konnte es geschehen, dass ihr die heilige Sprache vergessen habt, ist sie doch ganz und gar lieblich, an jede Rede und jeden Buchstaben [knüpfen sich] Kombinationen und wahre Wunderkräfte, darum heißt es: Leben und Tod sind in der Macht der Zunge [Spr 18,21].
Zu den Texten, die dieser Passage zugrunde liegen, zählt gewiss auch Maimonides’ »babylonische Geschichte«, die die Festsetzung des liturgischen Textes als Maßnahme gegen die Vermischungen des Exils beschrieb. Das Hebräische wird als heilige Sprache in Anspruch genommen, als Sprache der Absonderung und der Reinheit, die auf die vorexilische Einheit von Sprache, Ort und Nation verweist. Die heilige Sprache als unterscheidende Kraft ist gefährdet, wo sie durch Nachlässigkeit, Vermischungen und Verwechslungen korrumpiert wird: durch die Bevorzugung des Französischen oder Deutschen, durch das Eindringen des »Chaldäischen und Aramäischen« und durch die Achtlosigkeit im Hinblick auf Punkte und Akzente. Kritik an der Hinwendung zu den Sprachen der Umgebung, zur Landessprache und zum Französischen als Sprache höfischer und bürgerlicher Bildung, findet sich auch in einem der populärsten Bücher der Musarliteratur des 18. Jahrhunderts, in Zvi Hirsch Kaidanovers Qav ha-jaschar. In einem Kapitel über denselben Midrasch, auf den sich auch Eybeschütz beziehen wird, bemerkt Kaidanover über das Hebräische in der Gegenwart:134 Nun sehe ich im größten Teil des Landes ein großes Hindernis verborgen, denn wegen unserer vielen Sünden handeln viele Menschen nicht, wie es sich ziemte. Es ist uns nämlich überliefert, dass der Mensch mit seinen Söhnen, wenn sie noch klein sind, alle Dinge in der heiligen Sprache lernen soll, damit sein Sohn dahin komme, sich in Heiligkeit zu üben, indem er die heilige Sprache spricht; doch neue Leute, vor kurzem erschienen, gewöhnen die Kleinen daran, Französisch und andere Sprachen zu sprechen, und wenn der Junge heranwächst, so achtet sein Vater nicht darauf, dass sein Sohn ins Lehrhaus geht, sondern wacht darüber, dass er in eine Schule geht, 134
ñuik hz auhu .ñguhk alw ñiwuy a`b hbrh rh`uyb rwa hnidmh burb ñ`upc rwa ludg luwkm itiar uiwkyu q`hlb rbdl hwudqb umcy ligriu unb abiw idk q`hlb rbd lk 'injq ñhwk uinb Õy dumll Õdah Óircw li`qd Óliw bl ly Õw uiba ñia rynh ldgiwku .tunuwl irawbu tprc ñuwlb rbdl Õinjqh Õiligrmw [u]ab brqm Õiwdxu rbdl ñiluki uih ñirdhnsd l`iqd úa .tunuwl rawu itprc ñuwl dumilh tibl Ólil auh utuxgwh a`k dmh`bl unb rqiy zyulu tprc ñuwlh ñiwuy uiwky k`awm ybq Órd alu iary Órd tunuwlh ñidmul uih m`m ñuwl Õiybw .iary 'ruth dumilhu – Kaidanover: Qav ha-jaschar, Kap. 82, fol. 90b. Die parallel gedruckte
jiddische Fassung ist viel knapper. Hier erwähnt Kaidanover nur, dass viele Knaben schon eine fremde Sprache lernen, ehe sie einen Siddur gesehen haben, und mahnt, sie zunächst das Hebräische zu lehren.
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wo er Französisch und die anderen Sprachen lernt. Obgleich uns überliefert ist, dass [die Mitglieder des] Sanhedrin siebzig Sprachen kannten, so war das Studium der Sprachen doch nur eine Nebensache und keine feste Einrichtung, was jetzt anders ist. Sie machen das Französische und die Fremdsprachen zur Hauptsache und das Studium der Tora zur Nebensache.
Neben die Schwierigkeiten mit der Ordnung des Unterrichts in Tora, Mischna und Talmud ist offenbar ein weiteres grundsätzliches Problem getreten: die Bevorzugung des Unterrichts in profanen Dingen. Kaidanover konstruiert allerdings keinen Gegensatz zwischen dem Erlernen der Sprachen der Umgebung und dem Studium der Tora. Seine Kritik richtet sich darauf, dass die Prioritäten sich verkehrt haben – die Aneignung profanen Wissens verdrängt das Studium der Tora.135 Kaidanovers und Eybeschütz’ Sprachreflexionen stehen ganz im Kontext ihrer Bemühungen um die religiöse Integrität des Judentums: um die Ordnung des Unterrichts und die Wiederherstellung der Sprache des Gottesdienstes, an die sich die Hoffnung auf eine Rückkehr aus dem Exil knüpft. Der Sprachbrief des »Moralpredigers« beginnt zwar mit Formulierungen, die an die Musarliteratur anknüpfen, doch schon nach wenigen Zeilen ändert er die Richtung. Die Begründung für die Rückkehr zur hebräischen Sprache wird abgelöst von dem in der Musarliteratur herangezogenen Konzept der heiligen Sprache. Stattdessen wird sie an das aus der philosophischen und grammatischen Literatur vertraute Konzept der Ursprache gebunden. Mendelssohn bringt ein langes Zitat aus Jehuda ha-Levis Kuzari, den Abschnitt über die »göttliche, erschaffene Sprache«:136 Das Wort des Ewigen, das in Visionen an seine Knechte, die Propheten erging, war in hebräischer Sprache; in ihr ersann und erschuf der Ewige Seine Welt, wie es im Kuzari, im vierten Kapitel, Abschnitt 25, in seinem
135 Azriel Shohet zitiert einige Texte, die tatsächlich als Indiz dafür gelten können, dass städtische, wohlhabendere Familien seit Ende des 17. Jahrhunderts ihre Kinder zunehmend in Deutsch und Französisch unterrichten ließen, um ihre berufliche wie gesellschaftliche Kompetenz zu erweitern; s. Shohet: Im hillufe tequfot, 58–63. 136 iyibr rmamb irzukh rmamk .umluy rcu 'h ñibh hbu hih rby ñuwl˙ b Õiaibnh uidby la hzxmb 'h rbdu
Õda inb Õhily umiksh Õlk tunuwl ñyi) haurbh tiqla ñuwlhu .utlm úijau .hrici rpsl uwuripb h`k ñmis hdml rwa (haurbh irzukh harq ñkl Ñrahu Õimwh utuwy [Õ]uib 'h arb q`hl lba .Ñrah hglpn rwa irxa umk .Õlkm rtui hiaurql htuanhu tunuwlh lkm hmilwh qps ilbm auh .ubblbu unuwl ly hmwu Õdal Õihla úa ik l`r) uybj ly dmlmu ul hanu hzh Õwl iuar auhw l`r umw auh hix wpn Õdah ul arqi rwa lku rmaw tumwh uxnuh rwa q`hlb ñk al .rxa Õwm rtui Õybjl Õmw Õiksi al Óa rbd lkl tumwb uarq tunuwlh rtib .btkmb (hrici rpsb) rman hz lyu dy 'uku q`hll ñurtiu hlym Õuwl hzm biixthu (Õirbdh iybjl Õimiksm –
Gilon: Qohelet musar, 160; dt. JubA 20.1, 6 f. Die Auslassung am Schluss des KuzariZitats betrifft die Feststellung, dass auch die Engel dem Hebräischen mehr Aufmerksamkeit schenken als allen anderen Sprachen, und kann als bezeichnend für den aufklärerischen Kontext gelten. Vgl. Jehuda ha-Levi: Kuzari, IV, 25, ed. Cassel, 342.
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Kommentar zum Sefer Jezira heißt – ich zitiere seine Worte: »Die göttliche, erschaffene Sprache (denn˙ über alle Sprachen einigten sich die Menschen nach der Zerteilung der Welt. Aber die heilige Sprache schuf Gott an dem Tage, an dem er den Himmel und die Erde machte, darum nennt sie der Kuzari die geschaffene), die Gott den ersten Menschen lehrte und ihm in den Mund und in das Herz legte, ist ohne Zweifel von allen Sprachen die vollkommenste und dem von ihr Benannten angemessenste, wie es heißt: Und wie der Mensch jedes Lebewesen nennen würde, so sollte sein Name sein, das heißt, es ist jenes Namens würdig, er ist ihm angemessen und gibt Kunde von seiner Natur (das heißt, dass man auch in den anderen Sprachen jedes Ding mit einem Namen versah, aber diese Namen entsprechen der Natur der Dinge nicht mehr als irgendein anderer Name. Anders ist es in der heiligen Sprache, in der die Namen verliehen wurden, die der Natur der Dinge entsprechen). Daraus folgt, dass der heiligen Sprache ein höherer Rang und größerer Vorzug zukommt« usw. bis: »und so heißt es (im Sefer Jezira) über die Schrift«. ˙
Mendelssohn fügt in das Zitat aus dem Kuzari zwei kurze Kommentare in Parenthesen ein. Der erste erweist sich als fast wörtliches Zitat aus dem Kommentar, den Zamos´c´ zu einem anderen Abschnitt des Kuzari schrieb und an der im Qohelet musar zitierten Stelle nur noch einmal aufgreift. In Zamos´c´s Bemerkungen zum 72. Abschnitt des zweiten Kapitels heißt es:137
»Die gemachte, die erschaffene«: Diese Sprache existierte nicht durch Übereinkunft wie die übrigen Sprachen, die seit der Zeit der Zerteilung [nach dem Turmbau] entstanden, vielmehr ist es die Sprache, die der Schöpfer dem ersten Menschen eingab am Tag, an dem er ihn erschuf, und in der er mit ihm redete.
Die einzige signifikante Abweichung von Zamos´c´s Text besteht darin, dass Mendelssohn sich entscheidet, die heilige Sprache direkt als Gottes Schöpfung zu bezeichnen und nicht nur davon zu sprechen, dass sie dem Menschen von Gott in den Mund gelegt sei. Die kleine Differenz mag darauf zurückzuführen sein, dass Zamos´c´ darauf bedacht war, den Verweis auf die adamitische Namensgebung und die schwierige Frage, wie sich hier göttlicher Ursprung und Konvention zueinander verhalten, in seine Auslegung zu integrieren, während Mendelssohn sich von dieser Frage nicht beunruhigt zeigt. Dies zeigt die zweite Parenthese, die ungeachtet der Rede von der erschaffenen Sprache nun die Namen thematisiert, die den Dingen – von einem in der Passivform des Verbs verschwindenden Subjekt – verliehen
137 ñuwlh aih lba .hglphh tym uuhtnw tunuwl raw umk hmkshb hih al ñuwlh taz rmulk haurbh trcunh :umy rbd hbu utua aurb Õuib ñuwarh Õdab arubh Õww – Zamos´c´, Ozar nehmad, II, 72, fol. 67b.
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wurden. Für diese Parenthese lässt sich bei Zamos´c´ keine ebenso deutliche Parallele finden, doch die Nähe zu seinem Kommentar ist auch hier unverkennbar.138 Unmittelbar vor dem im Qohelet musar zitierten Ausschnitt heißt es im Kuzari:139 »Nun stufen sich Sprach- und Schriftarten je nach ihrer Vollendung ab; bei einigen ist der Name dem Benannten sehr angemessen, was bei andern weit weniger der Fall ist.« Zamos´c´ kommentiert:140 »Bei einigen ist der Name dem Benannten sehr angemessen«: Der Name belehrt über das, was in der Natur des Benannten liegt [...]. Und er sagt, dass unter den Sprachen in dieser Hinsicht manche einen Vorzug vor den anderen haben, die heilige Sprache aber ist die vorzüglichste von allen.
Indem Mendelssohn, anknüpfend an Jehuda ha-Levi und Zamos´c´, den göttlichen Ursprung der Sprache und ihre daraus abgeleitete Übereinstimmung mit der Natur der Dinge hervorhebt, bestimmt er das Hebräische in doppelter Hinsicht als Sprache des Studiums: Er evoziert die Auffassung von der unantastbaren und unverfügbaren Sprache, und er stellt das Hebräische als Sprache vor, aus der Erkenntnis über die Natur der Dinge zu gewinnen ist. Das Hebräische erscheint zunächst nicht als Sprache religiöser Praxis, sondern als Quelle philosophischen Wissens. Doch das Zitat aus dem Kuzari bildet nicht das einzige Argument für die Rückkehr zur hebräischen Sprache. Neben das philosophische setzt der Sprachbrief ein halachisches Argument, und neben Jehuda ha-Levi werden die beiden großen Autoritäten des sefardischen und aschkenasischen Mittelalters herangezogen, Maimonides und Raschi. In beider Namen unternimmt es Mendelssohn, das geläufige Argument älterer und zeitgenössischer Autoren gegen ein eingehendes Studium des biblischen Textes zu entkräften: ñuighh ñm Õkinb uynmu – »Und haltet eure Söhne ab von der Rezitation« (bBer 28b). Raschi kommentierte: al iadm rtui arqmb Õuligrt – »Unterrichtet sie nicht zu viel in der Schrift.«
138 Die Nähe der Parenthesen, die in das Kuzari-Zitat eingeschoben wurden, zu Zamos´c´s Kommentar verweist noch einmal deutlich auf Mendelssohn als Autor des Sprachbriefs. Mendelssohn notierte Teile aus Zamos´c´s Kommentar am Rand der lateinischen Übersetzung des Kuzari, die Johann Buxtorf 1660 in Basel publizierte. Alexander Altmann sprach von einer Abschrift des Kommentars, die verschollen sei (Altmann: Mendelssohn, 766), doch die Bände der Buxtorf-Ausgabe mit Mendelssohns Glossen liegen heute in der Bibliothek des Jewish Theological Seminary, New York; s. Shear: Judah HaLevi’s Sefer ha-Kuzari, 80. 139 Õiquxr Õhmu Õiaurqb hbrh Õituan Õtumww hm Õhm Õtcq ly ñurti Õtcql wi Õibtkmhu tunuwlh Óa .[. . . ] Õhl tuanhm – Jehuda ha-Levi: Kuzari, IV, 25, ed. Cassel, 341. 140 hnhu .[. . . ] auhh arqnh ybjb rwa ñiny ly hrum Õwhw rmulk Õiaurqb hbrh Õituan Õtumww hm Õhm :Õlukm trxbum wduqh ñuwlu Õtcq ly Õtcql ñurti hzh ñinyb wi tunuwlh lkbw rma – Zamos´c´: Ozar
nehmad, IV, 25, fol. 130a. ˙
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˙
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Der talmudische Ausspruch und Raschis Kommentar erfuhren – abhängig vom kulturellen Kontext und den Auseinandersetzungen, in denen sie eingesetzt wurden – ganz unterschiedliche Auslegungen. Sie dienten allerdings in Aschkenas seit der Zeit der Tosafisten immer wieder als Beleg dafür, dass es gerechtfertigt sei, das Studium der Bibel und ihrer Sprache gegenüber dem Talmudstudium weitgehend zurückzustellen.141 Mendelssohn verweist dagegen auf Maimonides’ Kommentar zu Pirqe avot, in dem das Erlernen der hebräischen Sprache zu einer Mizwa erklärt wird. In Kapitel 2,1 der »Sprüche der Väter« heißt es: rihz iuhu hrumxbk hlq hucmb – »Sei bei einem leichten Gebot ebenso umsichtig wie bei einem schweren Gebot.« Als Beispiele für Gebote, die leicht zu erfüllen sind, aber die gleiche Umsicht verdienen wie schwere Gebote, nennt Maimonides die Freude an den drei Wallfahrtsfesten und das Erlernen der hebräischen Sprache: »Und anschließend sagte er, dass man vorsichtig sein muss bei einem Gebot, das für leicht gehalten wird, wie die Freude an Wallfahrtsfesten und das Erlernen der heiligen Sprache.«142 Schließlich wird Raschi selbst als Zeuge gegen jene aufgerufen, die seinen Worten eine Absage an das Sprachstudium entnehmen wollen. Zitiert wird sein Kommentar zu Dtn 11,19, einem Vers, der zu den Abschnitten des Schma gehört. Raschi bringt dort eine Überlieferung aus Sifre: »Wenn ein kleines Kind zu sprechen beginnt, so unterhält sich sein Vater mit ihm in der heiligen Sprache und lehrt es Tora, wenn er dies aber nicht tut, so ist es, als würde er es begraben.«143 Durch die Kenntnis der hebräische Sprache erschließt sich dem Kind die Tora. Das Hebräische bildet die Grundlage der philosophischen wie religiösen Entzifferung der göttlichen Offenbarung, es ermöglicht die Lektüre des Buchs der Natur wie der Schrift. Sterne am Himmel? Jenseits der grammatischen Literatur Mendelssohn versucht die beiden Aussagen Raschis zum Torastudium miteinander in Einklang zu bringen, indem er die erste als Ermahnung zum rechten Maß beim Studium der Bibel und ihrer Sprache auffasst:144 141 142 143
Siehe M. Breuer: Min u benekhem min ha-higgajon. .[. . . ] q`hl tdimlu lgrh txmwk hlq aihw hb bwxiw hucmb rhzl Óircw rma k`xau .urbuq uliak auh irh ñk hwy al Õau hrut udmlmu wdqh ñuwlb umy xiwm uiba rbdl lixtm qunithwk –
Vgl. Sifre Devarim, ed. Finkelstein, 104. Den letzten Teil dieser Überlieferung erklärt Raschis Kommentar zum nächsten Vers, zu Dtn 11,20: »Wer Tora lernt, wird lange leben, wer aber nicht lernt, dessen Lebenszeit verkürzt sich.« 144
hduqn ua tua uacmi Õa uwiwi rwa Õiwnah hwymk .trusmhu arqmh dumlb unimi lk hlbn alw aih utyd hruth dumll unl buj rtuiu .iadm rtui arqmb uligrt al umcyb l`z auh btk ñk ik .Õinuwarh uryw al rwa rbdk tuwym qidcl ul hlilx :lku lkm ñuwlh tkalmm tuprthl lba .unimi Óruau uniix aih ik Õimkxl hrusmh .aih hucm ik auh Óuphnu .hzh – Eine andere Erklärung des Raschi-Kommentars gibt Men-
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Ursprache
Er meinte, dass wir nicht alle unsere Tage mit dem Lernen der Schrift und der Masora zubringen sollten wie diejenigen, die sich freuen, wenn sie einen Buchstaben oder einen Punkt finden, den die Früheren nicht bedacht haben. Denn er [Raschi], sein Andenken sei zum Segen, schrieb selbst: »Unterrichtet nicht zu viel in der Schrift. Besser ist es für uns, die Tora zu lernen, die den Weisen überliefert wurde, denn sie ist unser Leben und die Dauer unserer Tage.« Doch von der Beschäftigung mit der Sprache ganz abzulassen – bewahre, dies darf der Fromme nicht tun. Im Gegenteil: ein Gebot ist es.
Wogegen richtet sich Mendelssohn, wenn er vor einer zu intensiven Beschäftigung mit Buchstaben und Punkten warnt? Edward Breuer hat vermutet, dass Mendelssohn auf die historisch-kritische Forschung der christlichen Bibelwissenschaft abzielte.145 Tatsächlich betrachtete Mendelssohn diese äußerst skeptisch. Davon zeugen allerdings lange nur seine privaten Briefe, so etwa die beiden vom 16. Februar 1773 und 8. Februar 1774 an einen nicht ermittelten Adressaten, der es unternehmen wollte, einen »rabbinischen Commentar« ins Deutsche zu übersetzen, für den Mendelssohn aber keinen Verleger fand.146 Im zweiten der genannten Briefe heißt es:147 Die Kennicott’sche Unternehmung betreffend, bin ich vollkommen Ew. Hochwohlwürden Meinung, dass dieser Gelehrte und seine Freunde und Anhänger gar zu eigenmächtig mit der Schrift umgehen, und sich in Absicht auf dieselbe Freiheiten erlauben, welche sich bescheidene Critici nicht einmal in Absicht auf gemeine Schriftsteller des Alterthums zu erlauben pflegen.
Wie hartnäckig Mendelssohn einer öffentlichen Stellungnahme zu Fragen der historisch-kritischen Forschung auswich, hat Edward Breuer sorgfältig beschrieben.148 So vermied er es in einem Brief vom 3. Dezember 1771 an Michaelis, in dem er sich über Johann Jacob Rabes Übersetzung seines Qohelet-Kommentars und die von Rabe ausgewählten und dem Kommentar beigegebenen Übersetzungen äußert, auch jene von Des Voeux zu erwähnen, die auf zahlreichen Eingriffen in den masoretischen Text beruhte.149 Um dieselbe Zeit veröffentlichte Johann Salomo Semler die deutsche Übersetzung, die Christian Gottlob Meyer von Elia Bachurs Masoret ha-masoret angefertigt hatte,150 und versah sie delssohn im Vorwort zu seinem Kommentar über die Millot ha-higgajon des Maimonides, vgl. JubA 14, 27, dt. JubA 20.1, 39 ff. 145 Breuer: Ha-haskala we-ha-miqra, 445–463. 146 JubA 12.2, 33. 147 Ebd., 42. 148 Breuer: The Limits of Enlightenment, 117–124. 149 JubA 12.2, 23 f. 150 Elias Levita, Uebersetzung des Buchs Massoreth Hammassoreth, unter Aufsicht
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mit einer langen Widmung an Mendelssohn. In dieser setzte er ohne weiteres voraus, dass sein Adressat die auch in der christlichen Welt umstrittene späte Datierung der Masora, die Elia Bachur vorschlug, als Ergebnis der »kritischen freien Beobachtung« begrüßen würde. Eine Antwort Mendelssohns auf Semler ist nicht überliefert, allerdings findet sich ein kurzer, freundlich distanzierter Kommentar in einem Brief an Michaelis vom 25. Juni 1772.151 Erst in seiner hebräischen Vorrede Or la-netiva zur Pentateuch-Ausgabe kommt Mendelssohn auch in einer veröffentlichten Schrift auf die Masora und die Integrität des überlieferten Textes der Tora zu sprechen. Gegen Elia Bachur und mit Asarja de’ Rossi vertritt Mendelssohn die Auffassung, dass die Masora als mündliche Lehre am Sinai gegeben und in Teilen schon früh schriftlich festgehalten worden sei. Er stimmt Elia Bachur aber darin zu, dass sie im Ganzen tatsächlich erst nach Abschluss des Talmud niedergeschrieben wurde.152 Schließlich kommt er explizit auf die unterschiedlichen Voraussetzungen zu sprechen, die jüdische und christliche Lektüren der Tora leiten:153 [D]a die christlichen Übersetzer die Überlieferung der Rabbinen nicht haben und nicht auf die Worte der Masora hören, akzeptieren sie auch die Punkte und Akzente nicht, die wir besitzen; sie verwandeln die Worte der Tora in eine durchbrochene Mauer, jedermann kann sich über sie erheben und tut mit ihr, was er will, sie fügen hinzu, nehmen weg, und verändern die Lehre des Ewigen; dies betrifft nicht nur die Punkte und Akzente, sondern manchmal auch die Buchstaben und Wörter (denn wer zügelt ihren Geist?), entsprechend den Einfällen ihres Herzens und ihrer Einsicht, so lesen sie bisweilen in der Tora nicht, was dort geschrieben steht, sondern was ihnen in den Sinn kommt. Doch ich mache jenen Gelehrten daraus keinen Vorwurf, denn was sollte sie dazu bringen, auf die Überlieferung, die sie von ihren Vätern nicht empfangen haben, oder die Tradition [masora], die ihnen nicht von Männern, die bei ihnen als zuverlässig gelten, übermit-
und mit Anmerkungen Joh. Salomo Semlers, Halle 1772. Meyer, ein Konvertit, übersetzte einige Jahre später auch Dubnos Prospekt Alim li-terufa zu Mendelssohns Pentateuch-Übersetzung unter dem Titel Probe einer jüdisch-deutschen Uebersetzung der fünf Bücher Moses des Herrn Moses Mendelsohns [. . .], Göttingen 1780. 151 JubA 12.2, 29 f. 152 JubA 14, 225 ff., dt. JubA 9.1, 56 f. 153 tuduqnh ta ulbqi al úa ,hrusmh irbd la ñiymuw Õniau ,l`zx tlbq Õdib ñiaw irxa Õircunh Õimgrtmh Õipisum Õhu ,unucrk hb hwuyu uxkn wia lk hlyi ,hcurp hmuxk hruth irbd Õiwuy ,unidib rwa Õimyjhu rucyi im ik) tubithu tuituah ta Õg Õimypl Õa ik ,Õimyjhu tuduqnh dbl al .'h trutb Õinwmu Õiyrugu ly hluyh ta Õa ik ,Õw butkh ta hrutb uarqi alw Õimyp hz idi lyu ,Õtgwhu Õbl tubwxm ipk ,(?Õxurb la ua ,Õhitubam ulbq al rwa hlbqh la yumwl Õxirki hm ik ,Õhh Õimkxh ta hzb hngm ina ñiau :Õxur butkh lk ta tuwylu rumwl hruth irbd ta ulbqi al úa :Õlca Õinman Õiwnam Õhl hrusm itlbh hrusmh rud lkb hnuilyh hghnhhu hxgwhh ikrdb ñibhlu ,Õdq imib turuqh ta tydl ,Õimi irbd rps umk Õa ik ,Õw :rudu – JubA 14, 243; vgl. auch dt. JubA 9.1, 56 f.
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Ursprache
telt wurde, zu hören? Sie empfangen auch die Worte der Tora nicht, um alles, was dort geschrieben steht, zu bewahren und danach zu handeln, sondern wie ein Geschichtsbuch [...].
Im Vergleich zu diesen deutlichen Worten erscheint Mendelssohns Kritik ausgedehnter masoretischer Studien in Qohelet musar zu zurückhaltend und unspezifisch, um auf die historisch-kritische Forschung gemünzt zu sein. Der Vermutung Breuers widerspricht aber vor allem der genaue Wortlaut des Textes und der Kontext, den er evoziert. Wenn Mendelssohn über die Freude der Gelehrten schreibt, sobald es ihnen gelingt, die »Früheren« (rischonim) zu übertreffen, verweist er mit dem Begriff der rischonim auf jüdische Zusammenhänge der Lektüre und Kritik. Mendelssohn selbst hat die Auslegung der »Buchstaben und Punkte« in der Vorrede zu seinem Kommentar des Buchs des Predigers mit der Erforschung des allegorischen Wortsinns (remez) in eins gesetzt.154 Doch die zitierte Passage aus Qohelet musar legt noch eine andere Lesart nahe. Mendelssohn unterstreicht den Vorrang des Lernens der mündlichen Tradition vor dem Studium der »Buchstaben und Punkte« der Schrift. Mit diesen befassten sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts aber besonders die Grammatiker. Manches spricht dafür, dass es ihre Forschungen sind, die Mendelssohn hier mit einiger Ungeduld kommentiert und von denen er sich auf ganz traditionelle Weise distanziert, indem er den Vorzug des Studiums der Tora vor dem der Grammatik unterstreicht. Die Beschreibung der Freude des Gelehrten über seine Entdeckungen und über die Fortschritte, die sie gegenüber den »Früheren« bedeuten, trifft recht genau die Art und Weise, in der Hanau seine Studien präsentierte, so schon im oben erwähnten Inhaltsverzeichnis zu Binjan Schlomo, das hauptsächlich angibt, welche älteren Grammatiker widerlegt werden. Zudem kreisten die Diskussionen Hanaus wie seiner Gegner tatsächlich häufig um Fragen der Vokalisierung. Die biblischen Texte wurden akribisch daraufhin untersucht, welche Anhaltspunkte, im buchstäblichen Sinn, sie für die Punktation des liturgischen Textes bieten. Wie ernst »Buchstaben und Punkte« von Hanau wie von seinen Gegnern genommen wurden, drückt sich auf sehr konkrete und anschauliche Weise darin aus, dass sowohl Asriel und Elia Wilna als auch Hanau auf eine volkstümliche Geschichte zurückgreifen, um ihren Lesern vor Augen zu führen, welch ungeheure Bedeutung der richtigen Aussprache der Gebete zukommt. Asriel und Elia Wilna geben die Geschichte auf 154
JubA 14, 151; dt. JubA 20.1, 188.
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Jiddisch wieder, Hanau setzt sie in hebräischer Sprache sowohl 1718 vor seine Grammatik Scha are tora als auch 1725 vor seinen Gebetbuchkommentar Bet tefilla. Erzählt wird von einem frommen Mann, der nach seinem Tod einem Freund erscheint und ihm erzählt, man habe ihm – in der hebräischen Version – am Himmel kleine Blumen wie Sterne gezeigt bzw. – in der jiddischen Version – in einem finsteren Gelass viele Sterne vor Augen geführt, da hätten ihn Angst und Schrecken ergriffen, und er habe gefragt, was dies bedeute. Die Antwort lautet in der hebräischen Version:155 Dies sind die Punkte, die du in deinem Gebet verachtet hast, als du ein Zere statt einem Schwa und ein Hireq statt einem Schureq gesprochen hast ˙und ˙ andere Vertauschungen [vorgenommen] und Buchstaben übersprungen hast, indem du keinen Raum zwischen dem, was aufeinander folgt, gelassen hast. Dies sind alle Buchstaben und Punkte, die du je verdorben hast, keiner fehlt, alle klagen dich an und verlangen einen Rechtsspruch über dich. Sie sprechen: Dieser da hat uns verachtet und uns geschmäht, er hat verhindert, dass wir zur Krone des Höchsten gehören. Der Ewige aber liebt das Recht. Das Urteil, das über dich gefällt wurde, besteht darin, dass du in der Welt umherziehen musst, vielleicht kannst du wiederherstellen, was du verdorben hast. Und wenn nicht gute Taten dich beschützten, wäre der Rechtsspruch über dich noch viel härter.
Die Geschichte bleibt schließlich nicht bei der Formulierung ihrer Moral stehen, sondern liefert auch noch einen anschaulichen Bericht darüber, wie diese in die Praxis umgesetzt wurde:156 Die Leute in der Stadt jenes Kaufmanns sandten aber, sobald sie dieses Wunder hörten, in die Ferne, rund fünfzig Parsa ot, denn dort lebte ein Mann, sein Name war unser Lehrer und Meister Moses Chajjim, der Grammatiker. Und sie nahmen ihn mit in ihre Stadt, damit er ihnen Vater und Patron wäre und sie die Wissenschaft von der Grammatik lehre. Und die ganze Gemeinde übte sich und ihre Söhne und ihre Enkel in der Wissenschaft von der Grammatik und in einer deutlichen Sprache. Sie waren um-
155 rawu q`ruw Õuqmb q`rixu a`uw Õuqmb i`ric tarqu tllpth rwa Ótlptb tizb rwa tuduqnh ula al Õhm dxa Õluym tlqlq rwa tuduqnhu tuituah hla .Õiqbdh ñib xuir ttn alw hmb tuitua tgldu 'ipulxh .ñuilyh rtkb Õinmn tuihlm untua ynmu unmilkhu unzb hz inulp rmal ñid Óily Õiwqbmu Óily Õigrjqm Õluk rdyn Óiwym ilulu .tuuym tiih rwa ta ñqtt ilua Õluyb lglugm Ótuihl Ñurx hz Ójpwmu .auh jpwm bhua 'iiu .dam hwq Ónid hih Óily Õinigmh Õibujh – Hanau: Bet tefilla, fol. 2b. Die Antwort lautet in der
jiddischen Version ganz ähnlich, vgl. Asriel und Elia Wilna: Derekh siah ha-sade, Vor˙ rede [unpaginiert]. 156 dxa wia Õw hihw tuasrp Õiwmx umk quxrml uxlw tazh hailph Õymuwk dim aihh hnuq riyh iwnau lku .qudqdh tmkx Õdmllu ñurjplu bal Õhl tuihl Õbwum riy la Õwl uhuxqlu .qdqdm Õiix hwm r`ruhm umwu tuduqnu tuituah ajbmb Õirhzn uihu ñuwlh tuxcbu qudqdh tmkxb Õhinb inbu Õhinbu hmh Õmcy uligrh lhqh .hqupu luwkmu hrc Õuwb ulwkn al Õriyl qdqdmh abw Õuimu .yrlmu liylm txnhbu – Hanau: Bet tefilla,
fol. 2b.
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Ursprache
sichtig in der Aussprache der Buchstaben und Punkte und was Mil el und Milra [die Betonung auf der vorletzten oder letzten Silbe] betrifft. Vom Tage an, an dem der Grammatiker in ihre Stadt gekommen war, traf sie keine Not und kein Unglück mehr und nichts, was zum Anstoß wurde.
Hanau wählte diese Erzählung offenbar ebenso wie seine Gegner, um die Aufmerksamkeit des Publikums auf die recht komplizierte und spröde Materie zu lenken, die sie vorzutragen hatten. Die Annahme, dass Mendelssohn mit seiner Kritik allzu weitläufiger Forschungen zu »Buchstaben und Punkten« die Grammatiker im Sinn gehabt hat, wird auch gestützt durch einen Text, der zwar etliche Jahre später publiziert wurde, doch ganz ähnlich lautet und sich explizit auf das Erlernen der Grammatik bezieht. In der hebräischen Vorrede zum jiddischen Grammatik-Lehrbuch Hen ha-laschon des Gedalja Taikus ˙ heißt es:157 Obgleich dieses Studium selbst für die Toragelehrten sehr nötig ist, ist es doch nicht richtig, Zeit damit zu vergeuden, um alle Gründe für sämtliche Arten der Punktation zu erforschen. Denn wer kennt das Geheimnis des Ewigen und weiß um alle Varianten und Veränderungen, die sich in der Schrift finden und sämtlichen Grammatikern fremd geblieben sind? Die Jahre Methusalems würden nicht genügen, und man würde doch außerhalb bleiben. Darum ist wenig gut, doch [zu] vieles beschwerlich [ ...].
Wenn Mendelssohn als Autor des Sprachbriefes gelten darf, so lässt sich leicht außer traditioneller pädagogischer und ethischer Literatur noch eine weitere Quelle der Reserviertheit gegenüber den Erforschern der Buchstaben und Punkte identifizieren: Spinozas Tractatus theologicopoliticus. Im zwölften Kapitel erläutert Spinoza seine Unterscheidung zwischen den Tafeln des Gesetzes und »der wahren Urschrift des göttlichen Gesetzes«. Die steinernen Tafeln, in die Moses das Gesetz eingrub, sind zerbrochen, die zum zweiten Mal hergestellten Tafeln zusammen mit der Bundeslade, in der sie aufbewahrt wurden, verloren. Doch dieser Verlust tangiert nicht »die wahre Urschrift«. Denn diese ist nicht abhängig von der Materie – von »Tafeln von Stein«, »Tinte«, »Papier« –, und nicht identisch mit den sichtbaren »Zeichen« und »Bildern«, der Buchstabenschrift. Vielmehr handelt es sich um eine Schrift, die dem »Geist« oder dem »Herzen« eingeschrieben ist – immateriell, unverlierbar.158 Dar-
157 lk wqbl hz dumil libwb ñmz dbal ñukn unia Ó`pya hrut ilyb lkl ulipa ludg Óruc dumilh hzw úa ilyb lkl hih rwa arqmb Õiacmnh Õiunwhu Õipulxh lk ydil 'h dusb dmy im ik duqinh ikrd lkl tubish .[. . . ] hwq hburmu hpi hjuym ñkl Ñuxbm ahi ñiidyu hz lkl uqipsi al xlwutm tunw hrzl qudqdh tkalm –
Gedalja Taikus: Hen ha-laschon, Vorrede [unpaginiert]; vgl. Güdemann: Quellenschrif˙ ten, 201. 158 Zu Beginn des Kapitels wird die These prägnant vorgestellt: »Denn die Vernunft
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aus wird einerseits abgeleitet, dass der Untersuchung der materiellen Seite der Schrift keine besondere Bedeutung zukommt. Mehr noch: allzu genaue Aufmerksamkeit für die Buchstaben des Textes verrät eine abergläubische Hypostasierung der Materie.159 Andererseits wird kein Zweifel daran gelassen, dass die tradierte Schrift noch lesbar ist. Sie überliefert die »wahre Religion« dem Sinne nach, wenn auch nicht durch die Zeichen, in denen sie zuerst sichtbare Gestalt annahm.160 Spinoza hebt die Zufälligkeit und Veränderlichkeit der Schrift als materiellem Träger des unveränderlichen göttlichen Wortes hervor:161 [...] nam affirmare nolo, quod Scriptura, quatenus legem divinam continet, semper eosdem apices, easdem literas et denique eadem verba servavit (hoc enim Masoretis, et qui literam superstitiose adorant, demonstrandum relinquo), sed tantum quod sensus, ratione cujus tantum oratio aliqua divina vocari potest, incorruptus ad nos pervenit, tametsi verba, quibus primo significatus fuit, saepius mutata fuisse supponantur. Nam hoc, ut diximus, nihil Scripturae divinitati detrahit; nam Scriptura aeque divina esset, etsi aliis verbis aut alia lingua scripta fuisset.
Hier bedient sich Spinoza einer ganz ähnlichen argumentativen Strategie wie Jehuda ha-Levi, während er zugleich deutlich von dessen Überlegungen zur hebräischen Sprache abweicht. Jehuda ha-Levi suchte die hebräische Sprache vor einer Geschichte des Vergessens und des Verfalls zu retten, indem er sie als göttliche Ursprache den Wirkungen der Geschichte entzogen zeigte. Spinoza schreibt hingegen: »Antiqui lin-
selbst ebenso wie die Aussprüche der Propheten und Apostel verkünden laut und offen, daß das ewige Wort und der ewige Bund Gottes und die wahre Religion den Herzen der Menschen, d. h. dem menschlichen Geist von Gott her eingeschrieben und daß dies die wahre Urschrift Gottes ist [. ..].« Spinoza: Tractatus theologico-politicus / Theologischpolitischer Traktat, 392 /393 (ed. pr., 144). 159 »Wer [. . .] nach jenem Wort des Apostels im 2. Brief an die Korinther, Kap. 3, V. 3 den Brief Gottes in sich hat, nicht mit Tinte, sondern mit dem Geiste Gottes, und nicht auf Tafeln von Stein, sondern auf Tafeln von Fleisch ins Herz geschrieben, der möge aufhören, den Buchstaben anzubeten und so um ihn besorgt zu sein.« Ebd., 400 /401 (ed. pr., 148). 160 Ebd., 402 /403 (ed. pr., 148 f.). 161 »Ich will nicht behaupten, daß die Schrift, soweit sie das göttliche Gesetz enthält, immer dieselben Zeichen, dieselben Buchstaben und schließlich dieselben Worte beibehalten hat (das zu beweisen, überlasse ich den Masoreten und den abergläubischen Buchstabenanbetern); ich behaupte nur, daß der Sinn – denn bloß in Hinsicht auf diesen kann eine Rede göttlich heißen – unverfälscht auf uns gekommen ist, auch wenn man unterstellt, daß die Worte, mit denen er zuerst ausgedrückt war, öfters verändert worden sind. Das tut, wie gesagt, der Göttlichkeit der Schrift keinen Abbruch, denn die Schrift wäre gerade so göttlich, auch wenn sie mit anderen Worten oder in einer anderen Sprache geschrieben wäre.« Ebd., 408 /409 (ed. pr., 151).
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Ursprache
guae Hebraicae cultores nihil posteritati de fundamentis et doctrina hujus linguae reliquerunt: nos saltem ab iisdem nihil prorsus habemus: non ullum ditionarium neque grammaticam neque rhetoricam: Hebraea autem nation omnia ornamenta omneque decus perdidit (nec mirum, postquam tot clades et persecutiones passa est) [ . . .].«162 Die Urschrift aber ist – wie Jehuda ha-Levis Ursprache – unabhängig von ihrer textuellen Überlieferung. Spinoza führt eine Urschrift ein, die ebenfalls von historischen Verwerfungen nicht affiziert werden kann. Allerdings handelt es sich hier um eine Ordnung, die sich dem menschlichen Geist mitteilt, während die Ursprache lange als Ordnung galt, die sich den menschlichen Forschungen hartnäckig entzieht. Eine gewisse Verwandtschaft zwischen Spinozas und Hanaus Optimismus ist unverkennbar. Beide meinen, dass die Urschrift bzw. Ursprache durch die menschliche Vernunft rekonstruierbar ist. Doch die Studien des Philosophen und die des Grammatikers befassen sich mit verschiedenen Aspekten des Textes, mit Aspekten die Spinoza in einen Gegensatz zueinander stellt: Sinn und Buchstabe, Ordnung des göttlichen Gesetzes (der wahren Religion, des richtigen Handelns) und Ordnung der Zeichen. Diese Entgegensetzung findet ihr Echo noch dort, wo Spinoza sich eigens der Grammatik des Hebräischen zuwendet, in seinem Compendium Grammatices Linguae Hebraeae. Darin schreibt er: »Nam, ut uno verbo dicam, plures sunt, qui Scripturae; at nullus, qui linguae Hebraeae Grammaticam scripsit.«163 Unbestreitbar war die Erforschung der hebräischen Grammatik bis ins 18. Jahrhundert hinein gleichbedeutend mit dem Studium der Schrift. Wenn Mendelssohn Kritik übt an denen, die sich zu viel mit »Buchstaben und Punkten« befassen, dürfte dies also auch als Übertragung der Kritik Spinozas an »Masoreten und abergläubischen Buchstabenanbetern« auf die Grammatiker seiner Zeit zu lesen sein. Spinoza deutet an, dass die hebräische Sprache mehr und anderes sein könnte als Sprache der Schrift. Er erinnert im siebten Kapitel des Tractatus an das »Volk« als Träger der Sprache: »Deinde vulgus linguam cum doctis servat, sensus autem orationum et libros docti tantum [. . .].«164 162 »Die alten hebräischen Sprachkundigen haben der Nachwelt nichts über die Grundlagen und die Lehre dieser Sprache hinterlassen; wenigstens besitzen wir nicht das Geringste von ihnen, kein Wörterbuch, keine Grammatik, keine Stilistik. Das hebräische Volk aber hat all seinen Schmuck und all seine Zierde verloren (kein Wunder freilich nach so vielen Niederlagen und Verfolgungen) [ . ..].« Ebd., 250 /251 (ed. pr., 91). 163 »Denn, um es mit einem Wort zu sagen, viele schreiben eine Grammatik der Schrift; keiner aber schreibt eine Grammatik der hebräischen Sprache.« Compendium Grammatices Linguae Hebraeae, Cap. VII, 24, in: B. d. S[pinoza]: Opera posthuma. 164 »Sodann aber wird die Sprache nicht nur von den Gelehrten, sondern auch vom Volk erhalten, der Sinn der Reden und die Bücher aber nur von den Gelehrten.« Ebd., 248 /249 (ed. pr., 91).
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Mendelssohn zitierte hingegen zunächst Jehuda ha-Levi und präsentierte das Hebräische nur als Sprache des Studiums – der Schrift wie der Natur. Doch im Fortgang des Sprachbriefs liefert die Vorstellung vom Hebräischen als göttlicher Ursprache schließlich nur noch eines von ganz unterschiedlichen Argumenten für die erneute Hinwendung zur hebräischen Sprache – und sie wird ignoriert, wo sie den angestrebten Schlussfolgerungen im Weg steht. Eine Instrumentalisierung des Gedankens setzt ein, die seine Wirkung bricht. Auch Mendelssohn wendet sich schließlich der Sprache des »Volkes« zu. Eine Sprache »für alles« Das Hebräische erscheint am Schluss des Sprachbriefs nicht mehr als göttliche Sprache und Ursprache, sondern als eine unter den Sprachen der Nationen:165 Lernen wir von den übrigen Nationen, die sich durch die Sprachen in ihren Ländern unterscheiden. Sie rasteten und ruhten nicht, bis sie die Grenzen ihrer Sprache erweitert hatten. Und warum sollten wir zusehen, untätig bleiben und nicht dasselbe für unsere Sprache tun, die doch die erste ist, was Rang und Alter betrifft? [ ...] Mögen die Hebräer schauen und erkennen, dass unsere Sprache für alles taugt, was [ihnen] geschieht und widerfährt: weinend die Stimme zu erheben, den Fröhlichen zum Reigen Lieder anzustimmen und die Frevler im Lande am Tor zu ermahnen. Mögen sie sich belehren lassen und Reden [in] hebräischer Sprache führen.
Dreifach wird die hebräische Sprache hier herausgehoben aus den bis dahin geläufigen Zusammenhängen ihrer Repräsentation: als Sprache der Nation, als Sprache, deren Grenzen erweitert werden müssen und gewiss auch erweitert werden können, und schließlich als Sprache »für alles«, für alle Gegenstände und jede Situation. Die Rede vom Hebräischen als der von Gott erschaffenen Sprache, die zu Beginn des Textes zitiert wurde, hat offenbar fast sämtliche Implikationen verloren, die noch bei Zamos´c´ das Schreiben irritierten. Die Frage, ob und in welcher Weise die hebräische Sprache durch ihren Ursprung vorgeschrieben ist und wie sie umgeschrieben werden kann, wird nicht mehr gestellt. Sie wird umgangen oder eher übersprungen. Mendelssohn versetzt seine Leser ohne weiteres in die Gegenwart der »übrigen Nationen«, indem er deren Arbeit an ihren Sprachen zum
165
Õizux [h]ihn hmlu .Õnuwl lubg ubixrh dy ujqw alu uxn al .Õtucrab Õtunuwll tumuah rtim úlan lkl unnuwl ñukn ik tuarl ujibi Õirbyhu [. . . ] ?ñmzb Õduqhu [h]lymb ñuwarh unnuwlb Õhiwymk hwyn alu Õibkuw [r]sum uxqiu .Ñra iywr rywb xikuhl ua lig la Õixmwh bl ly Õiriwb rwl .ikbb luq Õirhl .ygpu hrqm rbd .[Õ]irbyh ñuwl Õan umaniu – Gilon: Qohelet musar, 161; dt. JubA 20.1, 8 (leicht modifiziert).
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Ursprache
Modell für die Erneuerung der hebräischen Sprache erklärt. In demselben Sinne, in dem das Englische als Sprache der englischen Nation, das Französische als Sprache der französischen Nation galt, wird das Hebräische als Sprache der jüdischen Nation bezeichnet. Die jüdische Nation soll nicht nur in hebräischer Sprache schreiben, sondern an ihr weiterschreiben, sie soll sich als neuer Autor der Sprache betätigen. Nach den zahlreichen Hinweisen auf die Gebundenheit der hebräischen Sprache an ihren göttlichen Ursprung, die Schrift und die tradierten Texte, die den Sprachbrief bis zu dieser Stelle bestimmten, wird hier die Gegenwart gegenüber den Ursprüngen privilegiert. Die hebräische Sprache gilt nicht mehr allein als Sprache der Schrift und der Verständigung über sie. Sie soll darüber hinaus zu einer Sprache werden, in der die jüdische Nation sich über ihre Gegenwart verständigen kann. Um der Möglichkeit willen, sich in der Gegenwart als Nation zur Sprache zu bringen, ergeht die Aufforderung, die Grenzen der hebräischen Sprache zu erweitern. Kurz und knapp wird dieser Gedanke eingeführt, er verträgt keine nähere Erörterung. Schließlich steht die Vorstellung vom Hebräischen als Nationalsprache, als Sprache, die der Nation gehört und gehorcht, der zuvor zitierten, noch selbstverständlichen Vorstellung von der göttlichen Autorität am Ursprung der Sprache entgegen. Nur die Wendung am Schluss des Absatzes über »unsere Sprache, die doch die erste ist, was Rang und Alter betrifft« wirkt als vage Reminiszenz an den Anfang des Sprachbriefs. Allerdings erscheint der Gedanke von der ausgezeichneten Stellung des Hebräischen unter den Sprachen hier seiner früheren religiösen und philosophischen Würde fast völlig beraubt und weitgehend instrumentalisiert: als ginge es nur darum, einen von mehreren Gründen anzugeben, warum man sich der besonderen Mühe unterziehen soll, ausgerechnet das Hebräische, das durch die lange Geschichte des Exils fragmentiert und als Nationalsprache wenig geeignet erscheint, als solche zu etablieren. Der Sprung, den Mendelssohn mit der Rede über das Hebräische als Sprache der Hebräer vollzieht, impliziert eine neue Ordnung jüdischer Zweisprachigkeit. War in der Frühen Neuzeit das Jiddische zur Sprache für fast alle Gegenstände und Situationen geworden, das Hebräische hingegen eine für die meisten nur schwer zugängliche Sprache der Schrift, so zeichnet sich in Mendelssohns Forderung eine Umkehrung ab. Das Hebräische – die Sprache, der es an Wörtern und Sprechern mangelt, die Sprache, die sich nur wiederholen ließ, studierend, rezitierend, übersetzend, die Sprache göttlichen Ursprungs und der Schrift – soll verwandelt werden in eine Sprache für alle Gegenstände und für die ganze jüdische Nation, in eine Sprache, die nicht nur studiert, sondern auch neu geschrieben werden kann. Das Jiddische hingegen findet in der
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Spracherweiterung
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neuen Ordnung der Nationalsprachen keine Erwähnung mehr, und verschwiegen wird auch, welche Sprache an seine Stelle treten soll – als mündliche Sprache, als private Sprache, als Erstsprache. Die Forderung, das Hebräische in eine Nationalsprache und eine Sprache »für alles« zu verwandeln, hat immer wieder Aufmerksamkeit auf sich gezogen, da hier der Beginn der Säkularisierung der Sprache vermutet wurde.166 Mit Blick auf die Reflexion über jüdische Zweisprachigkeit in der rabbinischen und mittelalterlichen Literatur zeigt sich aber, dass die Forderung, das Hebräische in eine Sprache »für alles« zu verwandeln, nicht selbst schon als Akt der Säkularisierung der Sprache gedeutet werden kann. Viel eher wird hier die alte Vorstellung, die heilige Sprache sei Sprache für Heiliges wie Profanes, aktualisiert. Während der Aufruf, das Hebräische als Sprache der Nation zu entwickeln, ganz der Gegenwart und Zukunft zugewandt scheint, unterliegt dem Text zugleich noch die tief in der Tradition verankerte Bedeutung des Hebräischen als Sprache, die sich unumschränkt schreiben und sprechen lässt. Und noch eine zweite ältere Reflexionslinie ist in Mendelssohns Aufruf wiederzuerkennen. Die Überlegungen zum engen Zusammenhang zwischen Sprache und Nation und zur heiligen Sprache als Hüterin der Differenz zwischen Juden und Nichtjuden, mit denen Neumark an Maimonides anknüpfte, boten ebenfalls Ansatzpunkte für die Beschreibung des Hebräischen als Nationalsprache. Sobald Mendelssohn aber aus dem Wunsch, das Hebräische als Sprache »für alles« und als Sprache der Nation zu vergegenwärtigen, die Notwendigkeit ableitet, die Sprache zu erweitern, gerät sein Text in Konflikt mit der Vorstellung vom göttlichen Autor der Sprache. Nicht die Gesetze des Ursprungs und der Schrift, sondern die Übereinkünfte der Sprechenden, die abhängig sind von den Kontexten, den politischen, sozialen und kulturellen Interessen und Bedürfnissen des Augenblicks, sollen die Konstruktion des Hebräischen als Nationalsprache bestimmen. In dieser – nicht ausdrücklich vollzogenen, recht verschwiegenen, eher indirekten – Abkehr vom Gesetz des Ursprungs und der Schrift vollzieht sich erneut ein Bruch mit dem religiös (biblisch, rabbinisch, mystisch oder philosophisch) entwickelten Narrativ von der göttlichen Ursprache. Ein weiterer Schritt zur Säkularisierung der Rede über die hebräische Sprache findet statt, nicht wortreich wie bei Hanau, nicht tastend wie bei Zamos´c´, sondern eher als etwas unvermittelter, hastiger Versuch, ein neues Narrativ zu etablieren. Von nun an kann die Nation als Autor und Adressat der Sprache gegenüber ihrem göttlichen Urheber, das Schreiben der Sprache gegenüber dem Studium der Schrift, die Konstruktion gegenüber der Deskription privilegiert werden. 166
Vgl. etwa Barzilay: National and Anti-National Trends, 173.
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Ursprache
Dass dieser Wechsel des Narrativs nicht nur auf die bisher nachgezeichneten Linien innerjüdischer Reflexion über Ursprung, Niedergang und eine mögliche Erneuerung der hebräischen Sprache zurückzuführen sein dürfte, zeigt schon die Art und Weise, in der der Sprachbrief in einen Gegensatz zur grammatischen Wissenschaft als Zentrum neuen sprachlichen Wissens, wie sie Hanau vertrat, und in einen Gegensatz zur vorsichtigen, besorgten Haltung gegenüber sprachlicher Konstruktion, wie sie Zamos´c´ artikulierte, tritt. Tatsächlich zeugt der Aufruf, sich dem Hebräischen zuzuwenden, wie die Nationen sich ihren Sprachen nähern, davon, dass dem Autor des Sprachbriefes das theoretische Interesse der nichtjüdischen Welt an Sprache überhaupt und ihre praktischen Bemühungen um die Ausformung ihrer verschiedenen Nationalsprachen nicht entgangen sind. Die Äußerungen zur hebräischen Sprache, die sich im Qohelet musar finden, sind wie die späteren Überlegungen Mendelssohns zum Sprachursprung und zur hebräischen Sprache Teil eines Denkzusammenhangs, in dem jüdische und nichtjüdische Überlegungen zur Sprache mit Bedacht aufeinander bezogen, miteinander verwoben – und auseinandergehalten wurden. Mit Mendelssohns Texten zur hebräischen Sprache und zum Sprachursprung werden Elemente nichtjüdischer Sprachreflexion für die Erneuerung und Säkularisierung des Hebräischen unmittelbar relevant.
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III. In der Zerstreuung: Sprache und Nation
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1. »Lernen wir von den übrigen Nationen ...« Wenn Mendelssohn den Blick seiner Leser auf »die übrigen Nationen« lenkt, so schlägt er vor, die Möglichkeiten einer Erneuerung der hebräischen Sprache in anderen Kontexten als bisher zu betrachten. Nicht die mittelalterlichen jüdischen Grammatiker und Übersetzer, nicht die christlichen Hebraisten, nicht die neuzeitlichen Rabbiner, die zum Erlernen des Hebräischen mahnten, nicht die Gelehrten des zurückliegenden halben Jahrhunderts, die neue hebräische Lehrbücher verfassten, sondern die Schriftsteller und Gelehrten, die sich ihren Landessprachen zuwandten, um sie als Nationalsprache zu etablieren, werden nun als Vorbilder evoziert. Für den Autor des Sprachbriefes wird ein nicht mehr nur deskriptives, sondern konstruktives Verhältnis zum Hebräischen in einer Zeit denkbar, in der nicht nur das Hebräische als unfertige Sprache erscheinen musste, sondern auch das Deutsche, dessen Entwicklung zur »Nationalsprache« noch nicht abgeschlossen war.
»Nation« und »Colonie« Der Begriff der »Nation« war um die Mitte des 18. Jahrhunderts deutsch wie hebräisch geläufig, besaß aber noch keineswegs die fest umrissenen Bedeutungen, die er im 19. Jahrhundert annehmen sollte. Das Verhältnis zwischen »Nation«, »Volk« und Staat oder »Republik« war ungeklärt und vieldeutig. Dies zeigt auf anschauliche Weise der Eintrag zur »Nation« in Zedlers Universal-Lexicon (1732–1750):1 Nation [...] heisset seiner eigentlichen und ersten Bedeutung nach, so viel, als eine vereinigte Anzahl Bürger, die einerley Gewohnheiten, Sitten und Gesetze haben. Aus dieser Beschreibung folget von selbst, daß ein gewisser, grosser oder kleiner Bezirck des bewohnten Erd-Kreises, eigentlich nicht den Unterschied der Nationen ausmache, sondern daß dieser Unterschied eintzig und allein auf die Verschiedenheit der Lebens-Art und Gebräuche beruhe, folglich in einer oftmahls kleinen Provintz, Leute von unterschiedenen Nationen bey einander wohnen können.
Die Nation wird mit kulturellen Merkmalen, zu denen hier auch »Gesetze« gehören, in Verbindung gebracht, strikt vom Territorium ge-
1
Zedler: Universal-Lexicon, Bd. 23, Sp. 901.
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In der Zerstreuung: Sprache und Nation
trennt, und zugleich, in einem der folgenden Absätze, genauso unbedingt an die Geburt gebunden.2 Obgleich als Beispiele für Nationen nur Deutsche, Franzosen und Wenden genannt werden, könnte hier auch ohne weiteres von der jüdischen Nation die Rede sein. Der Begriff des »Volkes« wird hingegen territorial bestimmt – verschiedene Nationen können auf einem bestimmten Gebiet als Volk zusammenleben. So »kann man sagen, daß das Wort Nation dem Inbegriff verschiedener Nationen, die in einem Bezircke wohnen, und eigentlich ein Volck (Populus) heisset, entgegen gesetzet werde.« Auf diese recht klare Abgrenzung der »Nation« vom »Volck« folgt rasch der Hinweis auf den uneindeutigen Gebrauch des Begriffs:3 Dieses in der That und in dem Ursprunge des Worts selbst, gegründeten Unterschiedes ohngeachtet, aber hat der Gebrauch es schon lange eingeführet, daß das Wort Nation auch für ein Volck, welches in einer gewissen und von andern abgesonderten Provintz wohnhafft ist, genommen wird. Bisweilen aber bedeutet es auch so viel, als ein gewisser Stand (Ordo) oder eine Gesellschaft (Societas.)
Zur Illustration der verschiedenen Bedeutungen, die der Begriff der Nation annehmen kann, werden nicht nur lateinische Schriftsteller, sondern auch hebräische Quellen herangezogen. Zedler verweist auf die biblischen umot und amim und erklärt, dass die umot, »dergleichen die Israeliten waren«, »gleichsam eine Mutter und eine Sprache« hatten, während die amim »aus unterschiednen Völckern zusammen gewachsen waren«.4 Der lateinischen natio, die patrilinear und mit Blick auf »Gewohnheiten, Sitten und Gesetze« definiert wurde, steht die hebräische uma gegenüber, die matrilinear und durch ihre Sprache bestimmt ist. Ein weiteres Mal scheint es nahezuliegen, nicht nur die »Israeliten« biblischer Zeiten, sondern auch die Juden der Gegenwart als Nation zu bezeichnen: als »eine vereinigte Anzahl Bürger«, die sich religiös, kulturell und sprachlich von den anderen Nationen unterscheidet, mit denen sie auf ein- und demselben Territorium zusammenlebt. Allein die Geburt muss als problematisches Kriterium gelten – immerhin ist es möglich zur jüdischen Nation zu konvertieren. Zur selben Zeit, als die Bände des Zedler in rascher Folge erschienen, war es aber nicht unüblich, jüdische Gemeinden, insbesondere in Preußen, mit einem weiteren Begriff in Verbindung zu bringen: »Colonien« waren nicht nur in Übersee, sondern auch in unmittelbarer Nachbarschaft, innerhalb der europäischen Landes- und Stadtgrenzen, zu finden. 2 3 4
Ebd., Sp. 902. Ebd. Ebd., Sp. 903.
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Schon im anonymen Schreiben eines Juden an einen Philosophen nebst der Antwort, das 1753 in Berlin erschien und im Zusammenhang mit der Debatte über die Einbürgerung der englischen Juden auch die rechtliche Gleichstellung der Juden in Deutschland forderte, ist von »Jüdischen Colonien« in Europa die Rede. Zugleich werden jüdische »Colonisten« ausdrücklich mit der Kolonialherrschaft in Übersee in Verbindung gebracht. Der Autor erwähnt einige jüdische »Directeurs der Ost-Indischen Compagnie« als Beispiel für eine erfolgreiche Politik der Integration, und er verweist auf die Möglichkeit, Juden zur »Vertheidigung« zu »gebrauchen«, indem sie »in Jamaica als Soldaten die Wachen besetzen helffen«.5 Fast dreißig Jahre später vergleicht Christian Wilhelm Dohm in seiner Schrift Über die bürgerliche Verbesserung der Juden die preußischen Juden mit »Kolonisten«,6 und Mendelssohn verweist in seiner Vorrede zur deutschen Übersetzung von Menasseh ben Israels Vindiciae Judaeorum, die auch eine Antwort auf Dohm enthält, auf die Vorteile, »die dem Staate zuwachsen werden, dem es zuerst gelingen wird, diese eingebohrnen Colonisten zu seinen Bürgern zu machen, und eine Menge von Händen und Köpfen, die zu seinem Dienste gebohren sind, auch zu seinem Dienste anzustrengen.«7 Zugleich erklärt Mendelssohn den preußischen Staat zum »Mutterland«: »Also hat die mütterliche Nation selbst keine Befugniß mit einer ihr gefälligen Lehrmeinung den Genuß irgend eines irdischen Guts oder Vorzugs zu verbinden, das Annehmen oder Verwerfen derselben zu belohnen, oder zu bestrafen, und was sie selbst nicht hat, wie sollte sie es der Colonie einräumen und gewähren können?«8 In Zedlers Universal-Lexicon findet sich eine Definition, die deutlich macht, wie selbstverständlich innere und äußere Kolonien als Teil ein und desselben ökonomischen und politischen Arrangements betrachtet wurden:9 Colonie heist eine Anzahl Menschen, welche einen wüsten oder unbewohnten Ort anbauen. Dergleichen die Spanier, Engelländer und Holländer in Ost-West-Indien anlegen [...]. Ingleichen diejenigen Familien einer frem-
5 Toury: Eine vergessene Frühschrift, 270 f. (Schreiben eines Juden), 275 u. 279 (Antwort). 6 Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, 133. 7 Mendelssohn: JubA 8, 5. 8 Ebd., 20 f.; vgl. auch die ausführliche Erläuterung zivilrechtlicher Arrangements in der »Colonie«, ebd. 16 f. David Friedländers Akten-Stücke die Reform der jüdischen Kolonieen in den Preußischen Staaten betreffend (Berlin 1793) bestätigt, wie selbstverständlich der Begriff in Verhandlungen über die »bürgerliche Verbesserung« der Juden war. 9 Zedler: Universal-Lexicon, Bd. 6, Sp. 726 f.
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den Nation, welche in einem schon bevölckerten und angebaueten Lande oder Stadt wohnen; mit besonderen Vor-Rechten aufgenommen werden, und ihr besonderes Wesen behalten. Dergleichen Colonien, sonderlich Frantzösischer Nation, seither etwa dreyßig Jahren in Deutschland und andern Reichen viel gepflantzet worden sind, als La Colonie Franc¸oise de Magdebourg etc.
Hier erscheint die »Colonie« als ausgewanderte Nation, die sich auf neuem Terrain und in neuen legalen Zusammenhängen etabliert. Unerwähnt bleiben diejenigen, die weder zur »mütterlichen Nation« zählen noch Kolonisten sind, sondern Kolonialisierte. Sie verschwinden zwischen dem »wüsten oder unbewohnten Ort« einerseits und »dem schon bevölckerten und angebaueten Lande« andererseits. Damit bleibt auch unausgesprochen, dass die jüdischen Kolonisten im »Mutterland« zugleich als koloniale Untertanen vorgestellt werden. Das Lexikon spiegelt den schwankenden und sich wandelnden Sprachgebrauch, auf den es selbst ausdrücklich hinweist. Zwischen dem Buchstaben C im 6. Band und dem Buchstaben V im 50. Band verändert sich die Beschreibung des Verhältnisses zwischen »Colonie«, »Nation« und »Volck«. Das »Volck« wird zunächst – in gewisser Übereinstimmung mit der früheren Definition – als egalitärer sozialer Zusammenschluss gekennzeichnet: »eine Menge oder ein Haufen Leute, welche sich in der Absicht, unter sich alle mit einander gleich durch einerley Rechte und Vortheile zu geniessen, oder um ihres gemeinen Bestens willen mit einander vereiniget und eine Art der Gesellschafft errichtet haben.«10 Den besonderen Gesetzen einzelner Nationen innerhalb der Republik steht hier das Recht gegenüber, das für alle ihre Bewohner gilt. Unter die verschiedenen Arten von Völkern zählt Zedler auch »eine Colonie oder Menge Volcks, so aus einer andern Republique ausgezogen und an einem bequemen Ort eine absonderliche Republique aufgerichtet«.11 Hier verschwimmen die Grenzen zwischen »Colonie«, »Nation« und »Volck«. Solange die »Colonie« als »Nation« vorgestellt wurde, konnte sie ohne weiteres auf einen weiteren politischen und legalen Rahmen, der durch Landes- oder Stadtgrenzen bestimmt war, bezogen werden. Doch im 50. Band sind solche »Nationen«, die sich in ein plurinationales politisches und legales System einfügen, nicht mehr anzutreffen. An ihre Stelle treten die »Republik« und das »Volck«, die sich wechselseitig konstituieren und als relativ homogene Einheiten vorgestellt werden. So erstaunt es nicht, dass hier an die Stelle einiger Reflexionen zur jüdischen »Nation« eine Charakterisierung des jüdischen
10 11
Ebd., Bd. 50, Sp. 362. Ebd.
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»Volcks« tritt, das als transhistorisches und geeintes Subjekt einer latenten – und bedrohlichen – eigenen Staatlichkeit erscheint, die allerdings nicht als Republik, sondern als Monarchie gekennzeichnet wird. »Die Juden« seien, so der Verfasser des Artikels,12 ein durch die gantze Welt zerstreuetes Volck, die bey ihren Sitten durchgängig ziemlich unverändert bleiben. Sie haben ein Melancholisches Temperament, dahero sie dem Geitz ergeben sind, als einem haupt-Character dieses Temperaments, bleiben auch sonst auf einen Sinn, wie wir denn auch das übrige, was diesem Temperament sonst noch anhängt, auf sie ziehen können. Die Erziehung thut hier viel, indem sie alle auf einerley Art erzogen werden, und noch mehr ihre Geburt, da sie nicht aus ihrem Geschlechte heyrathen. [...] Sonst scheinen sie vermögend zu seyn, eine mächtige Monarchie anzufangen, indem sie durch die gantze Welt zerstreuet leben, mit einander Briefe wechseln, und entsetzliche Mengen Volcks zusammen bringen könnten.
Wenn in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in jüdischen und christlichen Zusammenhängen, in denen die »bürgerliche Verbesserung« der Juden befürwortet wurde, an den Begriffen der »Nation« und der »Colonie« festgehalten wurde, so war dies gewiss auch Ausdruck des Versuchs, gegen die zitierten Vorstellungen auf der Möglichkeit zu insistieren, frühneuzeitliche Elemente einer plurinationalen politischen Ordnung in den sich herausbildenden modernen Staat einzuschreiben. Zugleich erwies sich der Begriff »Colonie« als höchst ambivalent. Er erlaubte es, jüdische Gemeinden als eigenständig und zugleich zugehörig zum »Mutterland« zu beschreiben. Aber er fügte die Debatten über die rechtliche Stellung der Juden auch in die komplexen kolonialen Kontexte des 18. Jahrhunderts ein, in denen naturrechtliche Argumente sich mit utilitaristischen Forderungen vermischten, die politische und ökonomische Abhängigkeit voraussetzten, und in denen die religiöse und kulturelle Überlegenheit der christlichen Kolonialmächte auf mehr oder minder subtile Weise immer wieder neu begründbar schien, während Differenz als Distanz, Abweichung und Fremdheit interpretiert wurde. Als »Colonie« blieb die Situation der preußischen Juden uneindeutig und prekär. Waren sie »Colonisten« oder wurden sie kolonialisiert? Die Vorschläge zur Ansiedlung europäischer Juden in den Vereinigten Staaten, der Karibik oder in Palästina, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts u`nd im frühen 19. Jahrhundert kursierten, zeigten zudem, wie rasch eine innere Kolonie, die Aufnahme begehrte, abgewiesen und als äußere Kolonie neu imaginiert werden konnte.13 12
Ebd., Sp. 371. Jonathan Hess analysiert in ausgesprochen erhellender Weise die kolonialen Vorstellungen, die hier wirksam wurden, vgl. Germans, Jews, 51–89. 13
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In der Zerstreuung: Sprache und Nation
So behielt in jüdischen Kontexten der Begriff der Nation weit größere Bedeutung. Das unbestimmte Verhältnis zwischen »Nation«, »Colonie« und »Volck«, das im Lexikon ebenso wie in den zeitgenössischen politischen Verhandlungen sichtbar wird, erlaubte es, die Bedeutungen der »Nation« in der Schwebe zu halten. Die »jüdische Nation« konnte sich, wie sich in den nächsten Kapiteln zeigen wird, in die weiten Netze kolonialer Imagination und Politik einfügen, aber auch die Distanzierung von ihnen und die Insistenz auf einer nicht kolonialisierbaren und kontrollierbaren Öffentlichkeit signalisieren. Innerhalb jüdischer Zusammenhänge war die Rede von der »jüdischen Nation« durch die hebräischen Bezeichnungen le om und uma vorbereitet, die sich in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Texten neben dem Wort am (»Volk«) finden.14 Im Anschluss an den Begriff der »hebräischen Nation« in Italien und den der »portugiesischen Nation« in den sefardischen Gemeinden Westeuropas könnte die »jüdische Nation« auch in die deutsche Sprache Eingang gefunden haben.15 Der Begriff erlaubte es, religiöse, sprachliche und selbst gewisse legale Unterschiede als kulturelle zu bezeichnen, die der Eingliederung in den modernen Staat nicht entgegenstanden und darum als Merkmale jüdischer Selbstbestimmung und Selbstrepräsentation erhalten bleiben konnten. Diese kulturelle Bestimmung der Nation ließ sich in deutschsprachigen Kontexten leicht begründen: »the Germany of the eighteenth century was a purely cultural concept, and yet, [ . ..] it was the only one in which ›Germany‹ had a being, as distinct from the multiplicity of principalities and states, large and small, [ .. .] divided by religion and political horizons, which were administered by means of the German language.«16 Solange zwischen Berlin, Göttingen, Hamburg und Weimar die gemeinsame, historisch weit zurückreichende und in der Gegenwart neu kultivierte Sprache zu den wichtigsten Grundlagen der Nation gezählt wurde, konnte sich auf diese Vorstellung auch die Rede von der jüdischen Nation und vom Hebräischen als Nationalsprache stützen. Benedict Anderson beschrieb die Nation als »imagined community«, die konstituiert wird durch ihre Bürger als lesende und schreibende Klasse. Mit der Standardisierung der Sprache durch den Buchdruck entstanden Leserschaften, die größer waren als die Gruppe derjenigen, die Latein lesen und schreiben konnten, und größer als die Kreise derjenigen, die einen bestimmten Dialekt sprachen:17 14 So auch in einigen der oben zitierten Passagen, z. B. in Jehuda ha-Levis Kuzari, David Kimchis Mikhlol (le om), Profiat Durans Ma ase efod und Jehuda Neumarks Schoresch Jehuda (uma). Entsprechend dem späteren Sprachgebrauch wurde le om bzw. uma durchgehend mit »Nation« übersetzt. 15 Siehe auch Elbogen: Die Bezeichnung »jüdische Nation«, 202–206. 16 Hobsbawm: Nations and Nationalism, 61. 17 Anderson: Imagined Communities, 44.
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Speakers of the huge variety of Frenches, Englishes, or Spanishes, who might find it difficult or even impossible to understand one another in conversation, became capable of comprehending one another via print and paper. In the process, they gradually became aware of the hundreds of thousands, even millions, of people in their particular language-field, and at the same time that only those hundreds of thousands, or millions, so belonged. These fellow-readers, to whom they were connected through print, formed, in their secular, particular, visible invisibility, the embryo of the nationally imagined community.
Die Fixierung der Sprache durch den Druck erzeugte zudem eine Vorstellung historischer Dauer, auf die sich die Vorstellung von der »Nation« als stabiler Einheit stützen konnte. Und schließlich wirkte die gedruckte Sprache assimilierend, indem sie abweichende Dialekte aus der Öffentlichkeit verdrängte.18 Für die Möglichkeit, die Nation als Gruppe, die eine Sprache teilt, zu imaginieren, war aber nicht nur die Standardisierung der Sprache durch den Buchdruck von Bedeutung. Diese verband sich mit einem zweiten Prozess, der unabhängig von ihr eingesetzt hatte: Die administrativen Interessen des Staates und die politischen und ökonomischen Aspirationen des aufstrebenden Bürgertums führten zum Aufbau eines Schulsystems, das zu hochsprachlicher Kompetenz erziehen sollte. Die Fähigkeit, schriftlich wie mündlich zweckmäßig zu kommunizieren, galt als unentbehrliche Voraussetzung für die Beförderung des »Gemeinwohls«.19 So zeigt sich die kulturelle Dimension des frühen Begriffs der »Nation« einerseits besonders in der Bedeutung, die Sprache als Merkmal nationaler Zugehörigkeit gewinnen konnte. Andererseits besaß die Sprache keineswegs nur kulturelle, sondern auch politische und soziale Aspekte. Spannungen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen spiegelten sich in den Bedeutungen, die verschiedenen Sprachen und sprachlichen Varietäten – dem Französischen, dem Hochdeutschen, den Dialekten – zugewiesen wurden. Im Zeitalter des Aufstiegs des Bürgertums war die »Nation«, gerade insofern sie über Sprache definiert wurde, mehr als ein kulturelles Konzept. Die Sprache war ein Medium politischer wie kultureller Grenzziehungen. Dies galt auch für das Hebräische. Es sollte einerseits als Sprache der jüdischen Nation in der Diaspora erneuert werden, als Sprache jüdischer Selbstverständigung, die in der Zerstreuung nach außen differenzierend und nach innen einigend wirkt. Andererseits wurde es
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Ebd., 44 f. Vgl. ebd., 41 f. und – als detailreiche Studie für den deutschsprachigen Raum – Gessinger: Sprache und Bürgertum. 19
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In der Zerstreuung: Sprache und Nation
kultiviert als Sprache der Distanzierung von den »Unwissenden«, die sich auf Jiddisch verständigten. Doch noch eine weitere Ambivalenz trat hervor. Die Sprache, die es als Nationalsprache ermöglichen sollte, eine Grenze zwischen der jüdischen Nation und den übrigen Nationen zu bezeichnen, war längst von der Situation der Diaspora – einem Netz kultureller Bezüge und der daraus resultierenden Uneinheitlichkeit und Uneindeutigkeit – geprägt. Die Wissenschaft von der hebräischen Sprache war zu einem Feld geworden, auf dem Juden und Christen sich trafen, gegeneinander stritten, einander rezipierten, und sie war ein Feld der Übertretungen, der Häresien und Konversionen in beide Richtungen.20 Auch die Sprachreflexion der jüdischen Aufklärer blieb verknüpft mit der Art und Weise, in der in der nichtjüdischen Welt über das Hebräische, Deutsche und über Sprache überhaupt geschrieben wurde. Die theoretischen, narrativen und praktischen Annäherungen der Maskilim an das Hebräische waren Versuche, in der Diaspora die Differenz zur christlichen Welt und zu den übrigen Nationen zu artikulieren und Distanzen sichtbar zu machen. Sie waren aber auch – wie die Rede vom Hebräischen als Nationalsprache selbst – Resultat der Übernahme und Umwandlung politischer und kultureller Entwürfe der nichtjüdischen Welt und zeugten von der Unmöglichkeit, eine Sprache der Selbstbestimmung zu entwickeln, in der die Machtverhältnisse, die kulturellen Kontakte und produktiven Spannungen der Diaspora nicht schon Spuren hinterlassen hatten. Dies galt für das Hebräische wie für die Art und Weise, in der über das Hebräische geschrieben wurde.
»Sie rasteten und ruhten nicht . ..« Mendelssohn hat, so berichtet Friedrich Nicolai, als erstes christliches religionsphilosophisches Werk Johann Gustav Reinbecks Betrachtungen über die in der Augspurgischen Confeßion enthaltene und damit verknüpfte Göttliche Wahrheiten gelesen, in denen der Autor sich hier und dort in knappen Worten für die Wahl des Deutschen als Sprache philosophischer Erörterung ausspricht.21 Womöglich angeregt durch die
20 Elisheva Carlebach konzentriert sich in ihrem Buch Divided Souls. Converts from Judaism in Germany 1500–1750 auf ethnographische und autobiographische Literatur, doch ihre sorgfältige Schilderung der spannungsreichen Beziehungen zwischen christlichen Hebraisten und Konvertiten und der Entwicklung, die im 18. Jahrhundert zu beobachten ist – hin zu selbstbewussten und am aufklärerischen Vernunftbegriff orientierten Darstellungen jüdischer Tradition – zeigt auch den Schauplatz, auf dem die Literatur zur hebräischen Sprachkunde entstand; vgl. insbesondere 200–234. 21 Friedrich Nicolai’s Anmerkungen zu Moses Mendelssohn’s Briefwechsel mit
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Lektüre Reinbecks, der sich auf Christian Wolff bezog, und – so Nicolai – direkt veranlasst durch Aron Gumpertz, begann Mendelssohn, Leibniz und Wolff zu studieren. Damit machte er sich mit zwei Autoren vertraut, die sich ebenfalls mit großer Bestimmtheit für die Hinwendung zum Deutschen als Sprache der Philosophie und Wissenschaften ausgesprochen hatten. Während Leibniz (1646–1716) allerdings weiterhin auf Latein und Französisch publizierte und korrespondierte, veröffentlichte Wolff (1679–1754) seine philosophischen Werke auch auf Deutsch.22 Im Hinblick auf Fragen der Grammatik wie des Wortschatzes war das Deutsche noch in den dreißiger und vierziger Jahren des 18. Jahrhunderts Gegenstand intensiver – und kontroverser – Anstrengungen zur Definition seiner Regelhaftigkeit und zur Erweiterung seiner Möglichkeiten. Es ist nicht überliefert, welche Grammatiken Mendelssohn las, als er sich mit dem Hochdeutschen vertraut machte.23 In Berlin kursierte sicher vor allem die Grammatik Johann Bödikers (1641–1695), der Rektor des Gymnasium in Cölln gewesen war. Sie genoss über Berlin hinaus Ansehen, dürfte aber dort, wo sie entstanden war, besondere Zustimmung gefunden haben, da der regionale Sprachgebrauch für das Urteil über sprachliche Richtigkeit bei Autoren wie Lesern von Bedeutung war. Bödikers Grund-Sätze der Deutschen Sprachen wurden mehrfach neu aufgelegt, zuletzt 1746.24 Gottscheds (1700–1766) Grund-
Gotthold Ephraim Lessing, in: Mendelssohn: Gesammelte Schriften, ed. Mendelssohn, Bd. 5, 206. In der Einleitung zu seinem Werk bemerkt Reinbeck, er habe »offt gewünscht, daß jemand in Teutscher Sprache die Lehr-Sätze unserer Kirchen [ .. .] vor Augen legen möchte« (Reinbeck: Betrachtungen, Teil 1, Einleitung, § xix [unpaginiert]). In der Vorrede zum dritten Teil, in dem Reinbeck das Verhältnis seiner Betrachtungen zur Wolffschen Philosophie kurz erläutert, schreibt er: »So verabscheuen manche das Wort Würcklichkeit, ohngeachtet es ein gutes altes deutsches Wort ist, daß ich in den alten Schrifften unserer Vorfahren vielfältig gefunden habe. Manche wollen das Wort Begrif, nicht sogar einmahl leiden, und machen dasselbe recht zu einem Schiboleth, an welchem man einen Wolfianer so gleich erkennen könne [ . ..] Man sollte fast nicht dencken, das Leute auf so wunderliche Einfälle gerahten könnten. Wenn man Existenz, Concept, Notion oder Idea sagt, so läßt mans gelten; aber wenn man sich seiner reinen Mutter-Sprache befleißiget, und die Worte gut deutsch giebet, so soll es schon eine halbe Ketzerey seyn.« (Ebd., Teil 3, Vorrede, § xvi, xlvii.) Auf Reinbecks Rechtfertigung der Verwendung deutschsprachiger philosophischer Begriffe verwies schon Altmann: Mendelssohn, 26. 22 Mendelssohn unternahm mit seinen Briefen Über die Empfindungen und Qohelet musar etwas Ähnliches – seine ersten philosophischen Versuche erschienen zugleich in deutscher und hebräischer Sprache. 23 Im Verzeichnis der Büchersammlung Moses Mendelssohns findet sich keine Grammatik der deutschen Sprache. Dies mag mit den geringen finanziellen Mitteln des jungen Mendelssohn und dem ausgeprägten (Aus- und Ver-)Leihwesen seiner Zeit oder auch mit der grundsätzlichen Unvollständigkeit des Verzeichnisses zusammenhängen. 24 Die Grund-Sätze der Deutschen Sprachen erschienen 1690 in Cölln und wurden
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legung einer Deutschen Sprachkunst, 1748 in Leipzig erschienen, ist Mendelssohn gewiss vermittelt durch seine Freunde begegnet: Aron Gumperz verehrte Gottsched,25 Lessing zählte zu seinen schärfsten Gegnern.26 Überdies könnte Mendelssohn in Dessau oder Berlin der berühmten älteren Grammatik begegnet sein, die Justus Georg Schottelius (1612– 1676), Rat und Bibliothekar in Wolfenbüttel und Mitglied der »Fruchtbringenden Gesellschaft«, verfasst hatte. Die 1663 veröffentlichte Ausführliche Arbeit Von der Teutschen Haubt-Sprache wurde 1737 neu aufgelegt.27 Deutlicher als in den anderen genannten Grammatiken tritt bei Schottelius der kulturelle Zusammenhang hervor, auf den die Überlegungen der frühen jüdischen Aufklärer zur Erneuerung der hebräischen Sprache und ihre Überzeugung, sie ließe sich im Kontext der Bemühungen anderer Nationen um ihre Sprachen verwirklichen, zu beziehen sind.28 Die Auffassungen von der deutschen Sprache, die hier entfaltet wurden, um diese als Nationalsprache zu legitimieren, konnten ohne weiteres für die hebräische Sprache übernommen werden, wenn sie nicht überhaupt durch sie inspiriert erschienen. Der Ausführlichen Arbeit sind zehn »Lobreden« auf die deutsche Sprache vorangestellt, deren Hauptmotive – äußerst knapp – auch im Sprachbrief des Qohelet musar zu finden sind: das hohe Alter der Sprache, ihre Übereinstimmung mit der Natur der Dinge, ihr geringes Ansehen, das Lob, das ihr dennoch hier und dort zuteil wird, ihre Vernachlässigung durch ihre Sprecher und schließlich die Ermahnung, sie zum 1701 und 1709 nachgedruckt. 1723 gab Johann Leonhard Frisch sie in Berlin mit eigenen Anmerkungen neu heraus. Auch diese Ausgabe wurde bereits 1729 nachgedruckt. Schließlich erschien 1746, ebenfalls in Berlin, das Werk mit Frischs Zusätzen, neu geordnet und mit eigenen Anmerkungen versehen durch Johann Jacob Wippel. 25 Gumpertz: Briefe, 333–337, und Lausch: A. S. Gumpertz. 26 Lessing ließ an Gottscheds Grammatik kein gutes Haar. Er kritisierte sie 1759, indem er ausführlich einen anderen Gegner Gottscheds, Johann Michael Heinze, Rektor zu Lüneburg, zu Wort kommen ließ, der Bödiker und Frisch entschieden bevorzugte. Lessing: Werke und Briefe, Bd. 4, 658–665 (Briefe, die neueste Litteratur betreffend, 65. Brief, 2. November 1759). 27 Das Buch geht auf die Teutsche Sprachkunst zurück, die 1641 erschien und 1651 »[v]ielfaltig vermehret und verbessert« ein zweites Mal gedruckt wurde. Der Neudruck der Ausführlichen Arbeit erschien unter dem Titel: Ausführliche Abhandlung vom Ursprung und Aufnahme Der Teutsche Sprache [. ..] Von D. J. G. S., Hildesheim 1737. 28 Auch in Schottelius’ Umkreis – bei Christian Gueintz (1592–1650), seinem Gegenspieler in der »Fruchtbringenden Gesellschaft«, wie bei Georg Philipp Harsdörffer (1607–1658), seinem Verbündeten – finden sich Erörterungen, die zeigen, dass die Rede von einer Erneuerung des Deutschen zur Übertragung auf die hebräische Sprache geradezu einlud. Einen informativen Überblick über die Grammatikschreibung des 17. und 18. Jahrhunderts bietet Gardt: Geschichte der Sprachwissenschaft in Deutschland, 98–229.
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Nutzen der Nation zu pflegen und zu erweitern. Schottelius beginnt mit dem vornehmen Ursprung der Sprache:29 [...] die jenige Sprache, welche ihren Anfang durch wunderbare Göttliche vermittelung mit bey dem Babilonischen Thurmbau und erfolgender verwirrung genommen, und von des Ascenas Geschlechte und Nachkommen in Europen gebracht, wird nicht unrecht mit allgemeinem Nahmen genant die Celtische Sprache: die sich auch durch gantz Europam fast ausgebreitet [...] Die alte Tuitische oder Teutische Sprache ist [ ...] ein dialectus und vornehme Mundart der Celtischen Sprache, und zwar in dem Orte Europens, so Teutschland geheissen und annoch heisset, sonderlich allemahl gewesen und geblieben:
Schottelius hegt keinen Zweifel daran, dass das Deutsche als »Mundart der Celtischen Sprache«, was sein Alter betrifft, von keiner Sprache übertroffen wird – außer von der ältesten, dem Hebräischen. Er zitiert zwar auch einige Stimmen, die bestreiten, dass das Hebräische die erste Sprache der Menschheit war,30 verweist jedoch abschließend auf Augustinus und Hieronymos, die darin übereinstimmen, dass das Hebräische als Ursprache zu gelten hat.31 Obgleich Schottelius das Deutsche nicht auf die Zeit vor der babylonischen Sprachverwirrung zurückführen will, deutet er an, dass nicht nur im Hebräischen, sondern auch im Deutschen »Göttliche vermittelung« wirksam war. So lässt sich vom Deutschen ebenso wie vom Hebräischen sagen, dass seine Wörter mit der Natur der Dinge aufs genaueste übereinstimmen.32 Was er damit meint, erklärt Schottelius, wenn er auf die mimetische Genauigkeit und Differenziertheit der Sprache zu sprechen kommt, auf ihre onomatopoetischen Qualitäten: »Zum Exempel nehme einer nur diese Wörter: Wasser fliessen, gesäusel, sanft, stille, etc. [. . .] Was kan das Geräusch des Fliessenden Wassers wesentlicher abbilden?«33 Die Übereinstimmung zwischen Wort und Ding lässt sich, 29 Schottelius: Ausführliche Arbeit, Dem Durchleuchtigsten Fürsten [ . ..], [unpaginiert]. 30 Ebd., 30 f. 31 Ebd., 31. Auch Gueintz ging davon aus, dass das Hebräische die älteste Menschheitssprache war und das Deutsche während der babylonischen Sprachverwirrung aus ihm hervorging, und auch er leitet die »Fürtrefligkeit« des Deutschen aus seinem hohen Alter ab, s. Gueintz: Deutscher Sprachlehre Entwurf, 8 (vgl. auch 2). 32 Schottelius zitiert dazu – zunächst auf Lateinisch und dann in deutscher Übersetzung – Adrianus Scrieckius Rodornus (1560–1621): »In dem ich stets nachsinne, und das Sprachwesen von Anfang biß zu Ende durchdenke, habe ich dennoch endlich nach sehr vielen zweiffelhafften Anstössen erspüret und entdekket die wunderreiche Verwandniß und Zustimmung zwischen dem natürliche Wesen, und der Hebraischen und Teutschen Sprache: und daß alles seine klare Ausdeutung und Verstand habe nach Deutung der Teutschen und Hebraischen Wörter.« Ebd., 20. 33 Ebd., 59.
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meint Schottelius, nicht anders denn durch göttliche Einwirkung erklären:34 Es ist demnach der Anfang und vollständige Grundlegung der Teutschen Letteren, der Stammwörter, der Ableitungs- und Doppelungsarten, nicht ohn Göttliche Mithülffe, aus sonderlicher Kunst und Erfahrenheit entstanden: Denn die innerliche Schiklichkeit und wundervolle Art kan nicht gnugsam begriffen, noch, wie es anfangs kommen, daß durch die Zusammenfügung etzlicher Zieferen ein solches Wort, und folgends das lebhafte Bild eines Dinges dadurch werde vorgestellt, ersonnen werden.
Die Wörter als Zeichen, die mit dem Bezeichneten in einem notwendigen Zusammenhang stehen, können nicht menschlichem Wissen allein entsprungen sein, sondern verweisen auf das göttliche Wissen von der Natur der Dinge. Die hebräische Sprache gilt Schottelius als Vorbild, an dem die deutsche Sprache zu messen ist, soll ihre Vorzüglichkeit deutlich hervortreten. Bemerkenswert erscheint das Hebräische vor allem wegen der Vollständigkeit, Kürze, Schönheit und Deutlichkeit seiner »Stammwörter«.35 Die Theorie der »Stammwörter« oder »Wurzeln«, die im Zentrum von Schottelius’ Ausführlicher Arbeit steht, weist tatsächlich über die begriffliche Anleihe hinaus36 eine gewisse Affinität zur hebräischen Grammatik auf. Die »Grundrichtigkeit« der Sprache zu entdecken, heißt, ihre stets einsilbigen Stammwörter zu identifizieren, die »nohtwendig gantz und unzerbrochen bleiben« müssen.37 Zumindest die Konsonanten sind, in welcher Form die Stammwörter auch auftreten mögen, stets gleich zu schreiben. Durch Ableitungen aus den Stammwörtern und deren Kombination bildet sich der Wortschatz des Deutschen. In Schottelius’ Lehre von den Stammwörtern verbinden sich, wie etwas früher bei Schabbetai Sofer und etwas später bei Hanau, Reflexionen zu Alter und Natur der Sprache mit den praktischen Erfordernissen der Sprachbeschreibung: sie erlaubt es, die Vereinheitlichung der Sprache voranzutreiben. Die Verwandtschaft zwischen christlichen und jüdischen Sprachbemühungen tritt aber noch in anderer Hinsicht hervor. Schottelius hält denjenigen, die die Möglichkeiten der deutschen Sprache gering schätzen, das Lob entgegen, mit dem sie in etlichen Werken des 16. und 17.
34
Ebd., 58 (und vgl. 61). Ebd., 62. 36 »Der Begriff der Wurzel wird schon im 16. Jh. hin und wieder aus der hebräischen Grammatik übernommen.« Jellinek: Geschichte der neuhochdeutschen Grammatik, Bd. 1, 138. 37 Schottelius: Ausführliche Arbeit, 193. 35
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Jahrhunderts bedacht wird. So zitiert er auch eine Passage aus Opitz’ Aristarch, eine Ermahnung, sich der deutschen Sprache zuzuwenden, sie zu kultivieren und zu tradieren.38 Schottelius bringt hier nicht nur das lateinische Original, sondern auch eine Übersetzung, die dem fast ein Jahrhundert später verfassten Sprachbrief Mendelssohns überraschend nahe steht. Die Attribute des Uralten, Zierlichen und Prächtigen, die Metaphorik vom Fall und vom »Erheben« der Sprache, die Hervorhebung der engen Verbindung zwischen der Nation und der nicht nur zu tradierenden, sondern auch zu erneuernden und zu erweiternden Sprache finden sich hier wie dort:39 Und kan und sol ja niemand mehr verborgen seyn, daß keine Verhinderniß, sonderen die höchste Zeit da sey, auch unsere Sprache aus dem Staube zu heben, und ans Tageliecht zu bringen: Die uhralte Sprache, die zierliche Sprache, die prächtige Sprache, die allein würdig gewesen die Teutsche Welt, das Wohnhauß so vieler grossen Helden, zu bewohnen: die Sprache, die volständig und unvermengt durch die grimme Fluht so langer Jahren gedrungen, und sich bey uns erhalten hat. Diese ist die Sprache, O ihr Teutschen, die euch einzig zulieben, diese ist es, wo ihr euch nicht wolt dero unwürdig machen, die ihr müsset in Ehren und Würden halten, die ihr müsset zieren und ausschmükken, und so ihr was könnet, hierin ein Meisterstück tuhn. Ermannet euch, ihr Teutschen, mißgönnet euren Nachkommen nicht dasselbe, was von GOtt durch eure Vorfaren auf euch gebracht worden [...].
Das Lob der deutschen Sprache als einer, die »volständig und unvermengt« überliefert sei, bildet zwar einen scharfen Kontrast zur Klage der hebräischen Schriftsteller über die Fragmentierung ihrer Sprache im Exil, doch Mendelssohn kann sich in Qohelet musar ungeachtet solch selbstsicherer Rhetorik auf die »übrigen Nationen« berufen, weil das Deutsche und das Hebräische schließlich dasselbe Problem aufwerfen: sie wurden von anderen Sprachen verdrängt und bedürfen, um Sprache »für alles« zu werden, der Erweiterung. Die Ausgestaltung der Sprache wird von Schottelius in derselben ersten Einleitung, in der er das Motiv vom hohen Alter der deutschen Sprache exponiert, unmissverständlich als Bruch mit ihren Ursprüngen beschrieben:40 Von der uhralten und welträumigen Celtischen oder alten Teutischen Sprache ist gründliches und haubtsachliches nach dero Consistentz nichts aufgezeichnet und auf die Nachwelt fortgebracht, ausser was etwa Armgrinus,
38 39 40
Ebd., 23. Ebd. Ebd., Dem Durchleuchtigsten Fürsten [. ..], [unpaginiert].
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Olaus Wormius, Spelmannus, Olaus Magnus, Verstagen, und etwa mehr andere von dem altwesen der Celtischen Rede, nach jeder Mundart angemerket, und uns also die rechte und volle kundigkeit derselben Ertzsprache zuergrübelen und zuerlangen nicht möchlich sein kan: Lauffet deshalber das studium Linguae Germanicae eigentlich dahinnaus, wie die, per secula angenommene, mehr und mehr gebilligte [...] HochTeutsche Sprache [...] recht und wol erlernet, in und nach ihrer eigenschaft erweitert, bereichert und zum stande einer vollkommenen Sprache gebracht und erhalten werde oder werden könne.
Schottelius beschreibt die unvollständige Überlieferung des Deutschen in ähnlichen Sätzen wie die jüdischen Autoren das geringe Wissen vom Hebräischen, das nur in den 24 Büchern der Schrift überliefert ist, und er gelangt zum selben Schluss: die »Celtische oder alte Teutische Sprache« kann nicht wiederhergestellt werden. Sprachgeschichte ist nicht denkbar als Geschichte der Rekonstruktion der Ursprünge, sondern nur als eine der fortschreitenden Konstruktion. Diese Hinwendung zu einem konstruktiven Verhältnis zur Sprache ermöglichte es, mit neuer Selbstverständlichkeit auch die Erweiterung des Hebräischen zu fordern. Indem Mendelssohn in Qohelet musar den Überlegungen zur Spracherweiterung, die sich schon bei Zamos´c´ fanden, den Hinweis auf das Verhältnis zwischen Sprache und Nation in seiner Umgebung hinzufügt, verleiht er ihnen einen Kontext, in dem der göttliche Ursprung der hebräischen Sprache und ihre Geschichte während des Exils nicht länger als Hindernis für ihre Erneuerung in der Gegenwart erscheinen müssen. Ein konstruierendes Verhältnis zu einer Sprache, die zugleich als uralt und als unvollständig gilt, kann mit Blick auf die christliche Umgebung als ganz unproblematisch eingeführt werden. Die schwierige Frage, nach welchen Regeln die Sprache zu erweitern sei und auf welchen Grundlagen man sich über sie einigen könnte, streift der Autor des Sprachbriefs allerdings mit keinem Wort. In hebräischen wie deutschen Kontexten ging es darum, welche Bedeutung der schriftlich überlieferten Sprache und welche dem gegenwärtigen, mündlichen und mundartlich gefärbten Sprachgebrauch für die Entscheidung über sprachliche Richtigkeit und Schönheit zukommt. Die deutschen und hebräischen Grammatiker des 17. und frühen 18. Jahrhunderts hatten es mit Sprachen zu tun, die uneinheitlich überliefert und gebraucht wurden. Ihre Grammatiken wirkten stets nicht nur deskriptiv, sondern auch präskriptiv. Die Beschreibungen eines regelhaften Sprachgebrauchs enthielten zugleich Vorschriften, über die grundsätzlich wie im Einzelnen lebhaft gestritten wurde.41 41 Vgl. dazu Erben: Die Entstehung unserer Schriftsprache und Donhauser: Das Deskriptionsproblem und seine präskriptive Lösung.
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Johannes Claius hatte in seiner erfolgreichen Grammatica Germanicae Linguae, die 1578 in Leipzig erschien und bis 1720 elfmal gedruckt wurde,42 Luthers deutsche Bibelübersetzung als göttlich inspirierte auch zum Ort der Offenbarung richtiger deutscher Sprache erklärt.43 Schottelius hingegen bezieht sich nicht auf eine einzige Schrift göttlichen Ursprungs, in der die richtige Sprache verborgen liegt, sondern auf eine Vielzahl schriftlicher Dokumente, die neben den mündlichen Varietäten des Deutschen entstanden und im Alltag zu finden sind. Die dort entwickelte Schriftsprache geht nicht auf einzelne hervorragende Schriftsteller zurück, sondern auf Konventionen, die sich auf einer sozial breiten und anonymen Basis herausgebildet haben: »Es wird aber bey diesem unserm itzigen Vorhaben zum Ziel gesetzet die Hochteutsche Sprache [ . . .], welche die Teutschen, sonderlich aber das Teutsche Reich selbst, in den Abschieden, in den Canzeleyen, Gerichten und Trükkereyen bishero von Jahren zu Jahren angenommen und gebraucht hat [ . . .]«.44 Die Legitimation eines bestimmten Sprachgebrauchs durch die Bindung an einen göttlichen Ursprung und heilige Schriften, die ihn zuverlässig überliefern, hat hier ihre Bedeutung verloren. An die Stelle des Versuchs, die Autorität bestimmter Schreib- und Sprechweisen spekulativ festzusetzen, treten Ansätze zu einer historischen und soziolinguistischen Untersuchung der Konventionen, die sich in bestimmten Institutionen herausbildeten und in mehr als einer Region oder gesellschaftlichen Schicht wirksam waren. Diese Konventionen lassen sich nicht einmal mehr direkt mit einem »Wesen« oder »Grund« der Sprache in Verbindung bringen, sondern sind, so scheint es, vom historischen Zufall abhängig. Im Anschluss an das vorige Zitat heißt es:45 Die Niedersächsische, wie auch Niederländische Mundart, kommt dem rechten Grunde, und Uhrsprünglichem Wesen oft näher, als das Hochteutsche, ist auch fast an Wörteren reicher und nicht weniger lieblich. Aber weil die Hochteutsche Mundart communis Germaniae Mercurius ist, auch nunmehr eine durchgehende Kunstrichtigkeit darin hervor bricht, und im gantzen Teutschem Reiche, in Cantzeleien, dem Justitzwesen und anderen hohen negotiis publicis von Jahren zu Jahren man zu dieser Mundart, mit hinterlassung der Landrede, sich angeschikket [ ...], richten wir uns nunmehr in gantz Teutschland darnach [...].
42 43 44 45
Donhauser: Das Deskriptionsproblem, 34. Ebd., 38. Schottelius: Ausführliche Arbeit, 174. Ebd.
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Sprache wird nicht mehr mit den Offenbarungen der Schrift verknüpft, sondern mit denen der Natur, die wiederum den Konventionen der Gesellschaft nicht entgegensteht, sondern sich in ihnen durchsetzt und in sie zu übersetzen ist. Die Natur der Sprache, die als ihre »Grundrichtigkeit« grammatisch beschrieben werden muss, findet sich zwar im Sprachgebrauch wieder, doch zwingt sie durchaus auch, diesen, wo er von der »Grundrichtigkeit« abweicht, zu korrigieren, so etwa in der Schreibung der Stammwörter oder ihren Flexionsendungen. Schottelius konnte mit Hilfe der Stammwort-Theorie seine Vorschriften für den richtigen Sprachgebrauch durch Analogiebildung entwickeln und in einer gewissen Unabhängigkeit von Eigenheiten der Dialekte und Soziolekte begründen. Damit stellte er sich gegen die Grammatiker, die den Gebrauch – vor allem den Meißnischen Sprachgebrauch – für ausschlaggebend hielten und sich gegen eine Normierung wandten, die Korrekturen desselben implizierte.46 Im Streit zwischen Analogisten und Anomalisten zeichnete sich eine Differenz ab, die in der Diskussion über die Möglichkeit einer einheitlichen Beschreibung des Hebräischen, die auch präskriptiv wirkt, wiederzuerkennen ist. Schottelius bestand darauf, dass die Grammatik die dem Gebrauch zugrunde zu legende, grundsätzliche Regelhaftigkeit der Sprache offenlegen und eine unüberschaubare Zahl nur beschränkt gültiger Regeln durch eine auf Analogien basierende, einheitliche Ordnung ablösen kann. Hanau will ebenfalls ein einheitliches Gesetz der Sprache, das ihren historischen Konkretionen vorausgeht, sichtbar machen. Die durch Ableitung gefundenen Regeln sollen es ermöglichen, alle grammatischen Erscheinungen des Hebräischen zu erfassen und unter seinen unterschiedlichen historischen Ausprägungen die korrekten Formen zu identifizieren. Schottelius wie Hanau behaupten die Unantastbarkeit eines dem Gebrauch übergeordneten Gesetzes der Sprache, um den zeitgenössischen Sprachgebrauch kritisieren und korrigieren zu können. Ihre Gegner verteidigen hingegen eine uneinheitliche Sprache, eine uneinheitliche Überlieferung. Gueintz wirft Schottelius vor: »Alles nach einer Regell machen, ist alles eines haben wollen, das doch auch in der Seel des Menschen nicht ist; [ .. .] Sprachen können wir auch nicht machen, sie sindt schon [ .. .].«47 Während Gueintz gegen Schottelius im 46 Zum Verhältnis zwischen sprachtheoretischen und sprachpolitischen Überlegungen bei Schottelius s. Gardt: Geschichte der Sprachwissenschaft, 131. Beide Seiten, Analogisten wie Anomalisten, beriefen sich im übrigen auf Luther – die eine Seite fand bei ihm Einsicht in die Sprachnatur, die andere Seite die bewusste Nähe zum alltäglichen Sprachgebrauch (ebd., 132). 47 Zit. ebd., 132.
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Namen der Muttersprache und einer natürlichen Sprachtradition argumentiert, führt Emden seine Angriffe gegen Hanau im Namen tradierter Texte und des göttlichen Ursprungs der Vorschriften, die sich in ihnen manifestieren. Im deutschsprachigen Kontext verlor dieser Konflikt schließlich an Bedeutung, als die Grammatiker aufhörten, ihre »Beschreibungen« auf einen Sprachtext zu gründen, der noch nirgends vollkommen realisiert erschien – weder in autoritativen Texten wie Luthers Bibelübersetzung, noch im ostmitteldeutschen Sprachgebrauch.48 An die Stelle einer »virtuellen« Sprache, die als Gegenstand grammatischer Beschreibung eingeführt, von dieser aber erst – präskriptiv – hervorgebracht wurde, trat der Versuch, eine Standardsprache zu identifizieren, von der man annahm, dass sie im Begriff sei, sich durch den Ausgleich zwischen den verschiedenen Mundarten herauszubilden.49 1754 schrieb Carl Friedrich Aichinger (1717–1782) in der Vorrede zu seinem Versuch einer teutschen Sprachlehre:50 Vielleicht ist [...] meine Grammatik eben darum desto teutscher, weil sie weniger Meißnisch ist. Ich kann aber auch geschehen lassen, daß, wenn einige, wie ich gehört habe, die Gottschedische Grammatik nur eine Meißnische nennen, sie die meinige nur für eine Oberpfältzische gelten lassen. So dann wird zu wünschen seyn, daß nun nach uns beiden noch ein Schwab, ein Frank, ein Rheinländer, ein Westphälinger, ein Niedersachs, ein Pommer und ein Schlesier, jeder eine Grammatik schreibe; Herr Prof. Gottsched aber so lang lebe, daß er sie alle gegeneinander halten, und eine vollkommen allgemeine teutsche Sprachkunst heraus ziehen könne.
Aichinger interessiert sich nicht mehr für eine stets schon vorhandene und hinter den unterschiedlichen Varietäten identifizierbare Sprache, sondern erörtert das Unabgeschlossene eines Prozesses, in den er auch seine eigene Grammatik einordnet, die er nur einen »Versuch« nennt. Seine Aufmerksamkeit gilt der Art und Weise, in der sich durch die Entscheidungen der Schriftsteller, der Leser und der Grammatiker eine Sprache herausbildet, über die noch keine endgültigen (grammatischen) 48 Die Gelassenheit, mit der Bödiker drei sich gegenseitig ausschließende Positionen zur Frage nach der Ursprache nebeneinander stehen ließ, verrät, dass das Problem im Kontext grammatischer Erörterungen an Bedeutung verloren hatte: »Entweder ist die askanische oder celtische Sprache die alte Paradis- und Welt-Sprache gewesen, so daß alle andere von ihr herkommen; wie Becanus, Cluverius, Stierhelm u. a. m. vorgeben: oder unsere Sprache ist mit der hebräischen von einer verlornen Paradis-Sprache abgestammet: oder sie ist von der hebräischen, als der ältesten, wie die älteste Tochter entstanden, und hernach weit in die Fremde ausgesteuret.« Bödiker: Grundsäze Der Teutschen Sprache, 284 f. 49 Siehe Donhauser: Deskriptionsproblem, 53. 50 Aichinger: Versuch einer teutschen Sprachlehre, Vorrede [unpaginiert].
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Auskünfte erteilt werden können.51 Schottelius hatte das richtige Sprechen zum Ergebnis eines natürlichen Aneignungsprozesses erklärt, aber auch zum Gegenstand reflektierter Arbeit, zum Resultat von Korrekturen und Erweiterungen, die wiederum nur als Entfaltung der Sprachnatur Gültigkeit beanspruchen durften. Die Spannung zwischen dem Verweis auf die Autorität einer vorgängigen Sprachnatur und der Orientierung an der Schriftkultur bestimmter Institutionen und ihrer Konventionen wird besonders deutlich, wenn Schottelius von der »Ausarbeitung der Muttersprache« spricht.52 Aichinger betont hingegen die Offenheit und Unabgeschlossene einer sprachlichen Entwicklung, die kein ursprüngliches Gesetz erfüllen muss, sondern von gesellschaftlichen Verständigungsprozessen abhängig ist. Auch hier zeigt sich die Nähe zwischen deutschen und hebräischen Erörterungen zur Sprache. Wenn Schottelius die »Ausarbeitung« der Muttersprache fordert und Hanau mit der Vorstellung von einer Auslegung der grammatischen mündlichen Lehre argumentiert, rekurrieren beide auf Redeweisen, die es gestatten, was in ihrer Beschreibung sprachlicher Ordnung neu erscheinen mag, zurückzuführen auf das, was immer schon als Teil dieser Ordnung gelten durfte. Zamos´c´s Einsicht in die Unumgänglichkeit sprachlicher Neuerung bezeichnet hingegen den Übergang zur bewussten und offenen Akzeptanz eines produktiven Verhältnisses zur Sprache, so wie er sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts bei Aichinger und anderen vollzieht – bei Zamos´c´ allerdings modifiziert durch das Bedauern über den sprachlichen Verlust, der den Schritt zur sprachlichen Konstruktion notwendig macht. Auch wenn Mendelssohn im Sprachbrief des Qohelet musar nichtjüdische Schriftsteller nicht ausdrücklich erwähnt, ist unverkennbar, dass in den sprachkundlichen Schriften seiner Umgebung das Material bereitlag, auf das er sich mit seinem Aufruf zur Erweiterung der hebräischen Sprache als Sprache der Nation stützen konnte. Der Sprachbrief entstand genau in dem Augenblick, in dem Vorstellungen von einem vorgeschriebenen Sprachtext und einer vorgängigen Sprachnatur ihre Bedeutung verloren und den Prozessen sprachlicher Übereinkunft innerhalb der Nation, zwischen Autoren und Lesern, neue Aufmerksamkeit geschenkt wurde.
51
Siehe Donhauser: Deskriptionsproblem, 56. Schottelius: Ausführliche Arbeit, Ad Serenißimum Principem praefatio [ .. .], [unpaginiert]. 52
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Von den Nationalsprachen zur Sprache überhaupt Neben grammatischen Fragen spielten auch Fragen der Spracherweiterung für die Kultivierung des Deutschen als Sprache »für alles« eine große Rolle. Leibniz widmete ihnen eine kleine Schrift, die einige Beachtung fand, die Unvorgreifflichen Gedancken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der Teutschen Sprache (Hannover 1717).53 Ob Mendelssohn diese Schrift kannte, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Doch einige Berührungspunkte zwischen der Sprachreflexion in den Unvorgreifflichen Gedancken und in Qohelet musar legen es nahe. Leibniz schätzte Schottelius54 und knüpfte mit seinen Gedancken unverkennbar an die Diskussionen der »Fruchtbringenden Gesellschaft« an. Die Linie des Arguments, das den Ausgangspunkt für die Ausführliche Arbeit, die Gedancken und den »Sprachbrief« des Qohelet musar bildet, ist dieselbe: Da die Sprache, die zur Nationalsprache werden soll, voller Mängel ist, müssen zunächst Rang und Würde der Sprache und ihr Zusammenhang mit der Geschichte der Nation beschrieben werden, um zu begründen, warum es geboten ist, Anstrengungen zu ihrer »Ausarbeitung« zu unternehmen. Doch Leibniz situiert die Frage, wie »Reichthum, Reinigkeit und Glantz« der Sprache55 und ihre Entwicklung zur Sprache der Nation zu befördern seien, in einem neuen Kontext. Zwar bietet auch er Strategien der Legitimation für die sich herausbildende Nationalsprache. Sie erscheinen aber bezogen auf einen Kontext, der in die Unvorgreifflichen Gedancken selbst nicht direkt eingeht: auf die philosophische Diskussion über den Ursprung der Sprache überhaupt und die Art des Zusammenwirkens zwischen Sprache und Denken.56 Hans Aarsleff hielt im Hinblick auf Condillacs Essai sur l’origine des connaissances humaines fest, was (wie er selbst zeigte) für die gesamte Sprachreflexion des ausgehenden 17. und des 18. Jahrhunderts zutraf: »[T]he question of the origin of language is a question about the nature of language and the nature of thought, a means therefore of gaining knowledge of the progress of mind and the history of thought.«57 Der Perspektivenwechsel zeigt sich gleich zu Beginn der Unvorgreifflichen Gedancken. Schottelius hatte mit der göttlichen Vermittlung am
53 Die Ermahnung an die Teutsche, ihren Verstand und Sprache beßer zu üben blieb bis 1846 unveröffentlicht. 54 Siehe Aarsleff: From Locke to Saussure, 66 (Leibniz on Locke on Language). 55 Leibniz: Unvorgreiffliche Gedancken, § 56, 287. 56 Zu den größeren Zusammenhängen, in denen die einzelnen sprachtheoretischen Positionen, die im Folgenden erwähnt werden, auftauchten, vgl. Ricken: Sprachtheorie und Weltanschauung in der europäischen Aufklärung. 57 Aarsleff: From Locke to Saussure, 164.
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Ursprung der Sprache und der babylonischen Zerteilung der Sprachen begonnen, dem Ausgangspunkt für die Ausbildung der Nationalsprachen. Leibniz beginnt hingegen mit dem Verhältnis zwischen Sprechen und Denken: »Es ist bekandt, dass die Sprach ein Spiegel des Verstandes, und dass die Völcker, wenn sie den Verstand hoch schwingen, auch zugleich die Sprache wohl ausüben, welches der Griechen, Römer und Araber Beyspiele zeigen.«58 Leibniz übernimmt die Beschreibung der Funktionen der Sprache, die Locke (1632–1704) in seinem Essay concerning Human Understanding vorgeschlagen hatte: die Zeichen dienen der Mitteilung des Gedankens und dem Gedächtnis.59 Doch er widerspricht zugleich Lockes Theorie vom arbiträren Zeichen. Zeichen entstehen, so Locke, »not by any natural connexion, that there is between particular articulate Sounds and certain Ideas, for then there would be but one Language amongst all Men; but by a voluntary Imposition, whereby such a Word is made arbitrarily the Mark of such an Idea.«60 Locke bringt keine zusammenhängende Erzählung vom Sprachursprung, skizziert aber einige Gedanken, die eine klare Absage an die Vorstellungen vom göttlichen Ursprung und der adamitischen Namensgebung bedeuten – als Modelle, um zu verstehen, wie Sprache verfasst ist und sich zum Denken verhält, sind sie unbrauchbar.61 Die biblische Erzählung von der »Sprache des Paradieses« taucht bei Locke nicht auf. An die Stelle der Sprache als göttlicher Gabe, als Offenbarung an Adam, tritt das Sprachvermögen, das jedem Menschen durch seine von Gott geschaffene Natur eignet: »God having designed Man for a sociable Creature [ .. .] furnished him [ .. .] with Language, which was to be the great Instrument, and common Tye of Society.«62 Die Wörter der Sprache werden nicht offenbart, sie werden dem Menschen von der Natur, die er beobachtet, nahegelegt:63 Man therefore had by Nature his Organs so fashioned, as to be fit to frame articulate Sounds, which we call Words. [...] Besides articulate Sounds [...] it was farther necessary, that he should be able to use these Sounds, as Signs of internal Conceptions; and to make them stand as marks for the Ideas within his own Mind, whereby they might be made known to others [ ...]. 58
Leibniz: Unvorgreiffliche Gedancken, § 1, 255. Locke: An Essay concerning Human Understanding, III, ii, 2, 405 und Leibniz: Unvorgreiffliche Gedancken, § 5, 257. 60 Locke: An Essay concerning Human Understanding, III, ii, 1, 405. 61 Locke wendet sich hier gegen das cartesianische Konzept der »eingeborenen Ideen« ebenso wie gegen das Eindringen mystischer Vorstellungen von der adamitischen Sprache in die zeitgenössische Reflexion über Wissen und Sprache, s. Aarsleff: From Locke to Saussure, 52–63 (Leibniz on Locke on Language). 62 Locke: An Essay concerning Human Understanding, III, i, 1–2, 402. 63 Ebd. 59
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Eine Verschiebung im Narrativ vom göttlichen Autor hat stattgefunden: seinen Platz in der philosophischen Erörterung des Ursprungs der Sprache findet er nur noch als göttlicher Autor der Natur.64 Autoren der Sprache aber sind die von ihm durch ihre Natur mit dem Vermögen zur Sprache ausgestatteten Menschen. Sprache und Wissen sind voneinander abhängig, sie entwickeln sich allmählich, und am Anfang dieser Entwicklung stehen nicht göttliche, sondern menschliche Worte.65 Wenn Locke schließlich Adam doch erwähnt, so nicht den des »Paradieses«, sondern Adam nach der Vertreibung – »in the State of a grown Man, with a good Understanding, but in a strange Country«66 – einen Adam, der sich in seinen sprachlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten, in seinem Wissen von den Dingen und in seinem Gebrauch der Wörter von anderen Menschen in nichts wesentlich unterscheidet:67 The same Liberty [ ...], that Adam had of affixing any new name to any Idea; the same has any one still, (especially the beginners of Languages, if we can imagine any such,) but only with this difference, that in Places, where Men in Society have already established a Language amongst them, the signification of Words are very warily and sparingly to be alter’d.
Die Wörter geben keine Auskunft über die Natur der Dinge, sondern allein über die Grundlagen und die Verfasstheit des menschlichen Wissens. Häufig genug sind sie ungenau oder fehlerhaft angeordnet, weil das Wissen, das ihnen zugrunde liegt, unzulänglich ist. So leiten sie die Erkenntnis derjenigen, die glauben, sich auf sie stützen zu können, in die Irre. Hier ist, so Locke, keine Sprache der anderen überlegen.68 Das Studium der Sprache eröffnet kein neues Wissen, ist aber unabdingbar, um die falschen Vorstellungen zu entdecken, die mit den Wörtern transportiert werden, und um sie zu revidieren. Die präzise, reflektierte und neuen Einsichten immer wieder angepasste Anordnung der Wörter ist für den Fortschritt der Wissenschaften unerlässlich.69 Die Notwendigkeit, sich konstruierend zur Sprache zu verhalten, sie zu verändern und zu erweitern, ergibt sich hier nicht aus der Geschichte der Nationen und ihrer Sprachen, sondern aus der Geschichte des menschlichen Wissens. Locke kommt im Anschluss an seine Sätze über Adam »in einem fremden Land« auf die Schwierigkeiten der Spracherweiterung zu sprechen:70 64
Locke bezeichnet tatsächlich einmal den göttlichen Urheber aller Dinge als »Author«. Ebd., III, iii, 19, 419. 65 Ebd., III, i, 5, 403. 66 Ebd., III, vi, 44, 466. 67 Ebd., III, vi, 51, 470 f. 68 Ebd., III, ix, 4, 477. 69 Vgl. Lockes Erzählung vom Versuch einiger Mediziner, sich über den »Nervensaft« zu verständigen, ebd., III, ix, 16, 484 f. 70 Ebd., III, vi, 51, 471.
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He that hath new Notions, will, perhaps, venture sometimes on the coining new Terms to express them: But Men think it a Boldness, and ’tis uncertain, whether common Use will ever make them pass for currant. But in Communication with others, it is necessary, that we conform the Ideas we make the vulgar Words of any Language stand for, to their known proper Significations, [ ...] or else to make known that new Signification, we apply them to.
Anders als Adam trifft derjenige, der in der Gegenwart neue Wörter vorschlägt, überall auf den Widerstand der überlieferten und verfestigten Konventionen. Neue Wörter, vorgeschlagen von Einzelnen, erscheinen als Ausdruck individueller Anmaßung, Zeichen ohne Autorität. Richtiger erscheint es, auf die vorhandenen Wörter zurückzugreifen und ihre Bedeutungen zu präzisieren. Locke privilegiert das konstruierende Verhältnis zur Sprache gegenüber ihrem Studium, doch er bleibt vorsichtig, was das Hinzufügen neuer Wörter betrifft. Eher besteht die Arbeit an der Sprache in Verschiebungen innerhalb ihrer Zeichenordnung. Leibniz hingegen erklärt, »dass die Worte nicht nur der Gedancken, sondern auch der Dinge Zeichen seyn«.71 Den Prinzipien, auf die Leibniz seine Erkenntnistheorie gründet, gehorcht auch die Sprache. Das Prinzip des zureichenden Grundes verlangt, dass die Verbindung zwischen Worten und Dingen keine willkürliche sei; und das Prinzip der universellen Harmonie erfordert einen Zusammenhang zwischen den Sprachen – sie müssen letztlich auf einen gemeinsamen Ursprung zurückgeführt werden können.72 Leibniz distanziert sich wie Locke vom biblischen Narrativ, das noch in Schottelius’ Ausführungen präsent war. Doch gegen Locke behauptet Leibniz die Natürlichkeit des Zeichens. Die Sprache habe sich wahrscheinlich aus den Lauten entwickelt, die die Menschen angesichts bestimmter natürlicher Erscheinungen und auf Grund der Regungen, die diese bei ihnen hervorriefen, äußerten: »Habent tamen Linguae originem quandam naturalem, ex sonorum consensu cum affectibus, quos rerum spectacula in mente excitabant. Et hanc originem non tantum in lingua primigenia locum habuisse putem, sed et in linguis posterius partim ex primigenia, partim ex novo hominum per orbem dispersorum usu enatis.«73 Die Sprache ist weder göttlichen Ur-
71
Leibniz: Unvorgreiffliche Gedancken, § 5, 257. Siehe Aarsleff: From Locke to Saussure, 88 (The Study and Use of Etymology in Leibniz). 73 »Haben doch die Sprachen einen gewissermaßen natürlichen Ursprung in der Übereinstimmung der Laute mit den Affekten, die der Anblick der Dinge im Geiste hervorrief. Und ich meine, dass nicht nur die erste Sprache auf diese Weise entstanden ist, sondern auch die späteren Sprachen, die zum Teil aus der ersten hervorgingen, und zum Teil durch den neuen Gebrauch der Menschen, die über den Erdkreis zerstreut 72
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sprungs noch willkürlich, sondern in doppeltem Sinne natürlich: sie entstand als natürlicher Ausdruck des Menschen und korrespondiert ursprünglich der Natur der Dinge. Wenn die Zeichen nicht willkürlich sind, so kann das Studium der Wörter zur Erkenntnis der Dinge führen: »Denn weil [ . . .] die Worte den Sachen antworten, kan es nicht fehlen, es muss die Erläuterung ungemeiner Worte auch die Erkäntniss unbekandter Sachen mit sich bringen.«74 Je älter eine Sprache ist, desto deutlicher lässt sie die ursprüngliche Benennung der Dinge und die Ursachen dieser Benennung hervortreten. Allerdings bestreitet Leibniz entschieden, dass sich die Sprache des ersten Menschen irgendwo unverändert durch die Geschichte erhalten habe und erkennt dem Hebräischen keine besondere Stellung zu. Welches die Sprache Adams war, entzieht sich dem Wissen.75 Wie Schottelius hält Leibniz das Deutsche für eine der ältesten Sprachen der Menschheit und für die erste der europäischen Sprachen. Und auch er meint, dass die Wörter im Deutschen eher als andere geeignet sind, zur Erkenntnis der Dinge, die sie bezeichnen, beizutragen. Nachdem er skizziert hat, welche Überlegungen und weiterführenden sprach- und ideengeschichtlichen Untersuchungen an das Wort »Welt« geknüpft werden könnten, schreibt er:76 Dergleichen Exempel sind nicht wenig vorhanden, so nicht allein der Dinge Ursprung entdecken, sondern auch zu erkennen geben, dass die Worte nicht eben so willkührlich oder von ohngefehr herfürkommen, als einige vermeynen [...]. Und weiln die Teutsche Sprache vor vielen andern dem Ursprung sich zu nähern scheinet, so sind auch die Grund-Wurtzeln in derselben desto besser zu erkennen [...].
Wenn die Worte nicht so sehr Zeichen sind, in denen mangelhaftes Wissen von den Dingen sich offenbart, als vielmehr Spuren eines Wissens, das zurückzugewinnen ist, so muss die Kultivierung der Sprache als »Spiegel des Verstandes« auf dem Studium ihrer Geschichte gründen. In der etymologischen Forschung verbindet sich das philosophische Interesse am Zusammenhang zwischen Sprache und Denken mit dem politischen Interesse daran, der Sprache und durch sie der Nation eine weit zurückreichende, noble Genealogie zuzuschreiben. Beide Anliegen implizieren die Distanzierung von Narrativen eines metahistorischen
wurden, entstanden.« Leibniz: Sämtliche Schriften, Bd. VI.4, 59 (De linguarum origine radicali). 74 Leibniz: Unvorgreiffliche Gedancken, § 40, 278. 75 Siehe Aarsleff: From Locke to Saussure, 88 und Dutz: Lingua Adamica nobis certe ignota est. 76 Leibniz: Unvorgreiffliche Gedancken, § 50, 283.
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Ursprungs der Sprache. Eine zweite Verschiebung, neben der vom Autor der Sprache zum Autor des natürlichen Sprachvermögens, zeichnet sich ab: vom Studium der ursprünglichen Sprache zum Studium der Sprachgeschichte. Leibniz widmet sich in seinen Unvorgreifflichen Gedancken vor allem der Frage, wie dem Mangel an Wörtern, der sich im Deutschen auf vielen Gebieten bemerkbar mache, zu begegnen sei. Er empfiehlt drei Strategien: das Studium der Geschichte der eigenen Sprache, um vergessene Wörter neu zugänglich und geläufig zu machen, die »Einbürgerung« fremder Wörter und die Erfindung neuer Wörter. Anders als Locke privilegiert Leibniz den Rückgriff auf die ungehobenen Schätze der Vergangenheit. Er zeigt sich aber auch optimistischer als jener, was Neologismen betrifft:77 Erdenckung neuer Worte oder eines neuen Gebrauchs alter Worte, wäre das letzte Mittel zur Bereicherung der Sprache. Es bestehen nun die neuen Worte gemeiniglich in einer Gleichheit mit den alten, welche man Analogie, das ist, Ebenmass nennet, und so wol in der Zusammensetzung als Abführung (Compositione & Derivatione) in Obacht zu nehmen hat. Iemehr nun die Gleichheit beobachtet wird, und je weniger man sich von dem so bereits in Übung entfernet, je mehr auch der Wolklang, und eine gewisse Leichtigkeit der Aussprache dabey statt findet, und jemehr ist das Schmieden neuer Wörter nicht nur zu entschuldigen, sondern auch zu loben.
Werden neue Wörter nach gewissen Regeln – vor allem der Analogie – gebildet, die gewährleisten, dass der Sprache möglichst wenig Neues hinzugefügt wird, so sind sie willkommen. Auf das schon von Locke angesprochene Problem der Autorität, die den neu geschmiedeten Wörtern erst zur Durchsetzung verhelfen müsste, antwortet Leibniz, indem er an den Akademie-Gedanken erinnert. Die Wörter werden weder durch die Autorität einer ursprünglichen, göttlichen Eingebung, noch durch die Rekonstruktion einer Sprachnatur oder durch klassische Texte legitimiert, sondern durch die Autorität »grundgelehrter Kenner«.78 Die Geschichte der Sprache ist nicht abgeschlossen. Die Namensgebung, mit der die ersten Menschen begannen, findet ihre Fortsetzung in der Gegenwart, in der die Grenzen der Nationalsprache erweitert werden. Der Übergang von der Forderung, die hebräische Sprache neu zu studieren, zum Aufruf, ihre Grenzen zu erweitern, wirkt bei Mendelssohn abrupt. Bei Locke und Leibniz hingegen sind Studium und Erfindung durch die Auslassung des biblischen Narrativs auf jeweils eigene 77 78
Leibniz: Unvorgreiffliche Gedancken, § 74–75, 295 f. Ebd., § 76, 296.
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Weise miteinander vermittelt. Der Sprache wird eine Geschichte zugesprochen, die durch das Studium vergegenwärtigt und durch die Konstruktion neuer Wörter fortgeschrieben werden kann. Die Unvorgreifflichen Gedancken verknüpfen auf neue Weise das politische Interesse an der »Ausarbeitung« der Nationalsprachen und das sprach- und kulturgeschichtliche Interesse an dem, was die Einzelsprache über die Geschichte der Nation verrät, mit einem theoretischen Interesse an Sprache überhaupt, an ihrer Geschichte und ihrer Bedeutung für das Denken. Diese besondere Konfiguration theoretischer und praktischer, politischer und kultureller Anliegen kennzeichnet auch den Sprachbrief des Qohelet musar. Doch liest man Qohelet musar mit Blick auf die Verschiebungen in den Vorstellungen vom Ursprung der Sprache und ihrer Geschichte, wie sie sich bei Locke und Leibniz deutlich abzeichnen, zeigt sich, wie zurückhaltend Mendelssohn selbst in seinem – im jüdischen Kontext – kühn wirkenden Aufruf zur Erneuerung der hebräischen Sprache bleibt. Seine Akzentuierung der philosophischen Bedeutung des Sprachstudiums (für die Erkenntnis der Natur der Dinge) drängt zwar die religiöse Bedeutung der Sprache (für das Studium der Tora) zurück und wird vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Diskussion über das Verhältnis zwischen Sprache und Denken als Moment säkularisierenden Schreibens sichtbar. Doch die Begründung für die theoretische Relevanz der hebräischen Sprache führt zur Distanzierung von den Denkfiguren, denen Mendelssohn bei Locke und Leibniz begegnen konnte. Im Gegensatz zu beiden hält Mendelssohn am Narrativ von der Sprache als göttlicher Schöpfung ausdrücklich fest, und die Identität der adamitischen mit der hebräischen Sprache erscheint bei ihm selbstverständlich. In Qohelet musar ist keine Rede davon, dass die Anfänge der Sprache in der mimetischen Bezeichnung der Dinge liegen, dass die Sprache abhängig ist von den Menschen, die die Dinge mehr oder weniger zutreffend erklären und bestimmen, und dass das Denken sich zusammen mit der Sprache und der Verfertigung der Wörter entfaltet. Mendelssohn besteht auf einer Lektüre der biblischen Ursprungserzählung, die von den historischen und anthropologischen Perspektiven auf die Entstehung der Sprache, die unter seinen Zeitgenossen zu dominieren begannen, unberührt bleibt. Erkenntnis entsteht nicht durch das Aussprechen der Namen, sondern durch ihr Studium.
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Ursprache und »allmähliger Ursprung« der Sprache Mendelssohns Rückgriff auf das biblische Narrativ erscheint nicht nur bemerkenswert, weil er als Distanzierung von Locke und Leibniz gelesen werden muss, sondern auch, weil es gut möglich ist, dass der junge jüdische Philosoph, der in Qohelet musar auf Jehuda ha-Levi zurückgreift, auch Rousseaus Discours sur l’origine et les fondemens de l’ine´galite´ parmi les hommes schon kannte und eigene Gedanken dazu notierte. Der Discours erschien 1753, Mendelssohn übersetzte ihn 1755 ins Deutsche, publiziert wurde seine Übersetzung zu Beginn des Jahres 1756. Rousseau (1712–1778) rekurriert auf die Überlegungen zum Sprachursprung, die Condillac (1714–1780) in seinem Essai sur l’origine des connoissance humaines (1746) formuliert hatte. Gegen Locke insistierte Condillac auf der Notwendigkeit, die gemeinsame Entwicklung von Sprache und Denken vollkommen von der Vorstellung eines göttlichen Ursprungs zu lösen. Er entwarf ein Bild der frühen Geschichte der Sprache, das diese nicht als übernatürliche Gabe, sondern als natürliches Vermögen zeigt. Eine lange und kontinuierliche Entwicklung, gekennzeichnet durch die Differenzierung der Sprache und des Denkens, die sich wechselseitig beförderten, führte, so Condillac, von der Gebärdensprache zur Lautsprache.79 Rousseau folgt Condillac, doch erst für die Geschichte der Sprache nach der Entstehung der menschlichen Gesellschaft. Gegen Condillac wendet er ein, dass dieser den Gesellschaftszustand bereits voraussetzt und damit der entscheidenden Schwierigkeit ausweicht: »la manie`re dont ce philosophe re´sout les difficulte´s qu’il se fait a` lui-meˆme sur l’origine des signes institue´s montrant qu’il a suppose´ ce que je mets en question, savoir, une sorte de socie´te´ de´ja` e´tablie entre les inventeurs du langage [ . ..].«80 Rousseau untersucht die Möglichkeit der Entstehung der Sprache, ehe der Mensch zum Gesellschaftswesen wurde, doch er vermag kaum zu erklären, wie aus dem ersten »Schrei der Natur« komplexere sprachliche Konstruktionen hervorgehen konnten, und er gesteht dies auch ein:81 Quant a` moi, effraye´ des difficulte´s qui se multiplient, et convaincu de l’impossibilite´ presque de´montre´e que les langues aient pu naıˆtre et s’e´tablir par des moyens purement humains, je laisse a` qui voudra l’entreprendre la discussion de ce difficile proble`me: lequel a e´te´ le plus ne´cessaire, de la socie´te´ de´ja` lie´e a` l’institution des langues, ou des langues de´ja` invente´es a` l’e´tablissement de la socie´te´? 79 80 81
Vgl. Ricken: Condillac: Sensualistische Sprachursprungshypothese. Rousseau: Discours sur l’origine et les fondements de l’ine´galite´, 142. Ebd., 160.
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Eine Antwort auf dieses Problem versuchte 1756 Johann Peter Süßmilch in zwei Vorträgen vor der Berliner Königlichen Akademie der Wissenschaften. Diese veranstaltete seit 1748 unter ihrem Präsidenten Maupertuis eine Reihe von Sitzungen über sprachtheoretische Fragen, zu denen Maupertuis selbst beitrug und die mit Herders preisgekrönter Antwort auf die Akademiefrage für das Jahr 1770, seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache, ihren Abschluss fand.82 Süßmilch hatte Rousseaus Discours durch Mendelssohns Übersetzung kennen gelernt, während er mit der Abfassung seines Versuchs eines Beweises, daß die erste Sprache ihren Ursprung nicht vom Menschen, sondern allein vom Schöpfer erhalten habe befasst war. Aufgrund seiner eigenen philosophischen Untersuchung und Rousseaus Schilderung der außerordentlichen Schwierigkeiten, die sich ergeben, will man den Ursprung der Sprache auf natürlichem Wege erklären, führte Süßmilch noch einmal den göttlichen Ursprung der Sprache als philosophisch notwendige Annahme in die Diskussion ein.83 Mendelssohn, der junge Übersetzer, zeigte sich dagegen von Rousseaus Schwierigkeiten unbeeindruckt. Nach seiner Lektüre und der Übersetzung des Discours schrieb er Anfang 1756 an Lessing und teilte ihm einige Einwände gegen die Schrift mit, die auch Rousseaus Ausführungen zum Sprachursprung betrafen.84 Mendelssohn versucht zu zeigen, dass die Entstehung der menschlichen Sprache leichter zu erklären ist, als Rousseau annimmt. Schon die Tiere kennen Laute, die in natürlichem Zusammenhang mit ihren »Gemüthsbewegungen« stehen oder nachahmenden Charakter haben.85 Um diese elementare als menschliche Sprache auszubilden, bedurfte es möglicherweise langer Zeiträume, doch es war dazu »keine ausgebildete Vernunft, keine göttliche Eingebung, sondern nichts, als eine Einbildungskraft und ein Vermögen sich vollkommener zu machen« erforderlich.86 Das Gleiche gilt für den Übergang zu den willkürlichen Bezeichnungen und den abstrakten Begriffen:87
82
Zu Herder s.u., S. 246. Zur Berliner Akademiedebatte siehe Aarsleff: From Locke to Saussure, 176–199 (The Tradition of Condillac. The Problem of the Origin of Language in the Eighteenth Century and the Debate in the Berlin Academy before Herder). 84 Das Sendschreiben an den Herrn Magister Lessing wurde zusammen mit der Übersetzung 1756 bei Voss in Berlin veröffentlicht (Altmann: Mendelssohn, 49 und 770). 85 Mendelssohn, JubA 2, 106. 86 Ebd., 107. 87 Ebd., 108. 83
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Ich will mich abermals bey der Länge der Zeit nicht aufhalten, die da hat verstreichen können, bevor dieses Spielwerk zu einer Sprache angewachsen ist. Man siehet wenigstens, daß alles natürlich hat zugehen können, und daß wir nicht nöthig haben das höchste Wesen mit einer Erfindung zu belästigen, die uns nach Rousseaus Meinung so schädlich gewesen ist.
Zur Erklärung der Entstehung menschlicher Sprache ist es durchaus nicht notwendig, ihr göttlichen Ursprung zuzusprechen. Am Anfang steht der natürliche Laut, das Blöken der Schafe, Vogelgesang und Meeresrauschen88 – keineswegs eine göttliche Stimme. Mendelssohn arbeitete seine Thesen später zu einem Aufsatz »Über die Sprache« aus, den er allerdings nie veröffentlichte. In dieser zweiten Fassung seiner Reflexionen zur Entwicklung der Sprache widmete er sich weit ausführlicher als zuvor dem Übergang von einer Sprache, die nur aus natürlichen oder nachahmenden Lauten besteht, zu einer Sprache, in der darüber hinaus konkrete und abstrakte Gegenstände willkürlich bezeichnet werden. Um diesen Übergang zu den arbiträren Zeichen zu erklären, genügt es ihm nicht mehr, beim Menschen nur Einbildungskraft und die Fähigkeit, sich zu vervollkommnen, vorauszusetzen. Es bedarf einer »Vernunftanlage«, die den Menschen vom Tier grundsätzlich unterscheidet. Mendelssohn stimmt hier mit Herder überein, was seine Rezension der Preisschrift für die Allgemeine deutsche Bibliothek aus dem Jahr 1773 bestätigt, in der er Herders Kritik an Condillac bekräftigt.89 Die besondere »Sagacität« des Menschen zeigt sich in der Fähigkeit, »Sachen durch willkührliche Zeichen andeuten zu wollen«, die ihm von Gott »anerschaffen« wurde: »Was die Allmacht dem erschaffenen Menschen wunderthätig mittheilen kan, das kan sie ihm eben so gut bey der Hervorbringung anerschaffen haben.«90 Mendelssohn wendet sich mit Nachdruck gegen die Vorstellung, Gott greife unmittelbar in den natürlichen Gang der Dinge ein. Am Ursprung der menschlichen Sprache steht kein Wunder: Gott hat die Sprache nicht erschaffen und sie auch keinen Menschen unmittelbar gelehrt. Mendelssohns Äußerungen spiegeln Spinozas Kritik am Wunderglauben ebenso wie die aufklärerische Polemik gegen ihn:91
88
Vgl. ebd., 106. »Die Sprache, die der Mensch als Thier hat, dies Geschrey, worinn sich jede lebhafte Empfindung ohne Absicht und ohne Willkühr äussert, muß mit der, die er als Mensch hat, nicht verwechselt werden. Vergeblich hat sich daher Condillac, nebst andern mehr bemühet, den Ursprung dieser aus jener herzuleiten.« JubA 5.2, 177. 90 JubA 6.2, 7. 91 Ebd., 6. 89
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Da aber mit den allerbesten Absichten, die die Vorsehung auszuführen hat, die allerweisesten Mittel in der vollkommensten Harmonie zu stehen scheinen; so ist es außerordentlich kühn von einer Begebenheit zu sagen, sie habe von der allerhöchsten Weisheit durch keine natürliche Mittel ins Werk gerichtet werden können; sondern die Allmacht habe sie unmittelbar hervorbringen müssen. In jenen Zeiten der Unwissenheit war man vermessen genug, diesen Auspruch sehr ofte zu thun, und man glaubte die Gottheit zu ehren, je öfter man die Dazwischenkunfft der Allmacht für nothwendig erkläret. Bessere Begriffe von den Eigenschaften Gottes und von seinem Werke, der Natur, haben uns über sehr viele Beyspiele von dieser Art eines Bessern belehrt, und wir wissen nunmehr, daß es der Gottheit weit anständiger sey, ihre Endzwecke durch weise Mittel, als durch unmittelbare Dazwischenkunft zu erhalten.
Eine gewisse Distanz dieser Überlegungen zu Condillacs und Rousseaus Ablehnung übernatürlicher Gründe in der philosophischen Untersuchung ist unübersehbar. Mendelssohn macht sich ihre kritische Strenge nicht zu eigen, sondern rekurriert auf eine Position, die Locke nahe kommt: Gott nahm auf den Ursprung der Sprache mittelbar dadurch Einfluss, dass er den Menschen mit dem Willen, durch Sprache zu kommunizieren, begabte. Die Sprache selbst war nicht mit einem Mal und in vollkommener Ausprägung vorhanden, sondern ist das Resultat einer Entwicklung, für die lange Zeiträume anzunehmen sind. An die Stelle des Narrativs vom göttlichen Ursprung der heiligen Sprache tritt der Versuch, »diesen allmähligen Ursprung der Sprache begreiflich zu machen«.92 Auf vorsichtige Weise partizipiert Mendelssohn – nicht allzulange nach der Abfassung des Qohelet musar – an der säkularisierenden Bewegung, die Locke, Condillac und Rousseau mit charakteristischen Unterschieden verfolgten. In der philosophischen Rede wird die Entstehung der Sprache von den Vorstellungen unmittelbaren göttlichen Wirkens und eines absoluten Beginns abgelöst und in die Welt des Menschen und seiner Geschichte verlegt. Während Mendelssohn in Qohelet musar mit Blick auf die Gegenwart der hebräischen Sprache Schritte der Säkularisierung vollzog, unternimmt er solche Schritte in seinen deutschsprachigen Schriften und Entwürfen hinsichtlich der Anfänge der Sprache. Doch in den folgenden Jahrzehnten zeigt sich weder in seiner Sprachpraxis noch in seinen hebräischen Schriften eine lineare Fortführung dieser Bewegungen. Seinem Aufruf, das Hebräische in eine aktive Sprache der Gegenwart zu verwandeln, folgte eine neue Hinwendung zum Hebräischen als heiliger Sprache und Sprache der Schrift.
92
Ebd. 11.
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2. Grammatik und Übersetzen Schon Isaak ben Samuel ha-Levi hatte in seinem Lehrbuch aus dem Jahr 1628 ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Kenntnisse der hebräischen Grammatik nicht allein dem Studium der überlieferten Texte dienen, sondern auch von Nutzen sind, wenn man hebräisch schreiben will. Mehr als ein Jahrhundert später erwähnt Isaak Wetzlar in seinem Libes briv erneut den Zusammenhang zwischen grammatischem Wissen und der Fähigkeit, hebräisch nicht nur zu lesen, sondern auch zu schreiben.93 Doch in den folgenden Kapiteln seiner Schrift tauchen Grammatikkenntnisse als Voraussetzung für den aktiven Gebrauch der Sprache nicht mehr auf. Wetzlar kommt erst wieder auf sie zu sprechen, wo es um die Rezitation der Gebete geht: »Ich sagte zu ihnen, ob sie nicht wohl daran täten, wenn sie so viel Grammatik wie möglich lernten, damit sie das Hebräische richtig lesen könnten, um zum Ewigen, gelobt sei er, zu beten [ . ..].«94 An anderer Stelle empfiehlt Wetzlar, in den Schulen Schlomo Salman Hanaus Grammatiken zu studieren, und auch hier stehen seine Ermahnungen im Kontext seiner Überlegungen zur Liturgie:95 Könnte es dahin gebracht werden, dass die Lehrer mit den Kindern sogleich Grammatik der heiligen Sprache lernten, wäre dies etwas, das nicht zu verbessern wäre, und ich hoffe zum Ewigen, gelobt sei er und gelobt sein großer Name, dass sich taugliche Männer finden, die wissen, wie nötig und nützlich dies wäre, und die mit Hilfe des Ewigen helfen werden. Der große und berühmte Grammatiker Salman Hanau, Friede auf ihm, hat uns genügend Grammatikbücher hinterlassen, so dass sie mit Hilfe Gottes, gelobt sei er, leicht zu lernen ist.
Im Hinblick auf das Studium der Tora rät Wetzlar hingegen keineswegs zur Lektüre von Grammatiken. Vielmehr hält er Übersetzungen für das geeignete Mittel, zum Verständnis der Schrift zu gelangen, und er emp93 94
Siehe oben, 110.
jkyr aiz jimrd ,ñjnryl qdqd Óilgim lip auz aiz ñauu ñijyj lhauu jin aiz biua jgazg ñnhia bah Óia .[. . . ] ñhuj uc 'iwh uc hlipt rhia ,ñnaiil uc irby ñjsiuu – Wetzlar: Libes briv, fol. 26a, 25. 95 ,ñijnryl wduqh ñuwl qdqd Óiilg az rdniq ñyd jim Õidmlm aid wad ñryuu jkarbg ñih ad wy jnyq Õiwna Óiz ñdryuu wy ludgh w`bu h`b 'iwh uc Óia ipah 'nua ,irhyuu ñrsyb rp uc jin ad Óaz ñiia wy irhyuu qdqdmh ,ñdriuu ñiplyh ucrd jim h`zybu ,irhyuu wuzid Óilcun dnua gijin Óiuh aiuu ñsiuu ad aid ñdnip Õirwk trzyb jijÈw ñinryl uc jkiil wy ,ñizal rjnih ñigung qdqd irps wnua jah h`y anyh ñmlz 'r Õsrupmh ludgh :Órbti lah – Ebd., fol. 48a-b, 47.
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Grammatik und Übersetzen
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fiehlt, wie erwähnt, ausdrücklich die jiddische Übersetzung des Jekutiel Blitz von Witmund.96 Die Zurückhaltung früherer Autoren gegenüber einer Lektüre der Tora, die sich auf die Grammatik stützt, scheint Wetzlar zu teilen. Wie so viele hebräische und jiddische Autoren zwischen Prag, Frankfurt und Amsterdam bevorzugt er das Übersetzen als Weg der Annäherung an das Hebräische der Schrift. Mendelssohn knüpft drei Jahrzehnte nach Wetzlar an diese Tradition an, indem er erneut vorschlägt, die Bedeutungen der Tora mit Hilfe von Übersetzungen zugänglich zu machen. Zugleich integriert er grammatische Aspekte auf neue Weise in seine Lektüre der Schrift. Doch Isaak ha-Levis und Wetzlars knappe Bemerkungen über die Bedeutung der hebräischen Grammatik für den aktiven Gebrauch der Sprache finden in seinem späteren Werk kein Echo.
Zurück zur Schrift Mendelssohns Ausgabe des Pentateuch, zwischen 1780 und 1783 unter dem Titel Netivot ha-schalom erschienen, zählt neben Naphtali Herz Wesselys fast gleichzeitig publizierten Traktaten zur Reform des jüdischen Unterrichts, Divre schalom we-emet (1782–1785), und der im Herbst 1783 begonnenen Zeitschrift Ha-Me assef zu den Hauptwerken der Berliner hebräischen Aufklärung. Während aber die Autoren des Me assef das Programm des Qohelet musar aufgriffen und versuchten, die Erneuerung des Hebräischen als Sprache der jüdischen Nation zu fördern und durchzusetzen, zeigt sich in Mendelssohns Reflexionen über die hebräische Sprache wie in seiner Schreibpraxis, in seinen Übersetzungen wie in seinen Überlegungen zur Grammatik, dass in seinem Werk das Interesse am Hebräischen als Sprache der Gegenwart wieder hinter das Studium der Sprache der Schrift zurücktritt. Das sechste und letzte Kapitel des Qohelet musar ergänzte den Aufruf des Sprachbriefs zur Erweiterung der hebräischen Sprache durch ein neues Beispiel für die Möglichkeiten der hebräischen Sprache in der Gegenwart – es präsentierte eine hebräische Prosaübersetzung der Eingangsverse aus Edward Youngs populärem Gedicht The Complaint or Night-Thoughts on Life, Death and Immortality (1742–1746).97 Der Übersetzung vorangestellt war die »Zuschrift« eines fiktiven Lesers, der seine Zustimmung zur Erneuerung des Hebräischen als Sprache »für alles« zum Ausdruck brachte, sich aber skeptisch äußerte, was die Möglichkeit betrifft, aus anderen Sprachen ins Hebräische zu übersetzen,
96 97
Ebd., fol. 51b, 50. Gilon: Qohelet musar, 178 ff.; s. auch JubA 20.1, 30 ff. und 417.
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und auf Jehuda ibn Tibbons Vorrede zur Übersetzung der Hovot ha˙ levavot verwies.98 Die »Antwort«, die ihm zuteil wurde, differenzierte 99 zwischen zwei verschiedenen Textsorten: Recht hatte der Übersetzer, den du erwähntest, was die Worte der Tora und der Weisheit betrifft, etwa den Mischna-Kommentar und das Buch Hovot ha-levavot, den More [nevukhim], das Sefer kevod elohim und das˙ Sefer ha-tapuah. Denn bei ihnen darf man von den Worten des Autors weder ˙ noch nach links abweichen. Aber darin geht es allen Sprachen nach rechts gleich, keine macht eine Ausnahme. Doch wenn liebliche Reden von einem Gefäß in ein anderes gegossen werden, so soll der Übersetzer nichts beachten außer der Redekunst. Und dazu ist die hebräische Sprache in beinah unvergleichlicher Weise geeignet. Die Bücher Iggeret ba ale hajjim und Ben ˙ ha-melekh we-ha-nazir rechtfertigen meine Worte.
Unterschieden wird hier zwischen tora und hokhma (»Lehre« und ˙ »Weisheit«) einerseits und Poesie andererseits. Unübersetzbar sind nur tora und hokhma – dies aber in allen Sprachen und unabhängig von der ˙ die übersetzt werden soll. Diese Behauptung ist in zweierlei Sprache, in Hinsicht bemerkenswert. Mendelssohn, der etwas mehr als zwei Jahrzehnte nach Abfassung des Qohelet musar den Pentateuch übersetzen wird, besteht hier noch auf der Unübersetzbarkeit von »Lehre«. Zugleich verweist er zur Begründung nicht auf tora im engeren Sinne. Es geht vielmehr um Übersetzungen ins Hebräische, und so gilt nicht vor allem die Tora vom Sinai, sondern jeder Text religiöser oder philosophischer Lehre als unübersetzbar.100 Der Unterschied zwischen unüber-
98 99
Siehe oben, 172.
dubk .hrumh rpsu .tubblh tbux rpsu tuinwmh wurp umk hmkxhu hruth irbdb trkz rwa qitymh qdc ñhm txa :Õluk tunuwlh lk ta hrqi dxa hrqm zau .lamwu ñimi Õrbxm irbdm tujnl ñia Õhb ik .xupthu Õihla tpw ñukt hzh rbdlu .hcilmh Õa itlb qitymh rumwi al :ilk la ilkm Õyun irma uqrui Õa Õluau .hrdyn al .irbd uqidci riznhu Ólmh ñbu Õiix ilyb trga rpsu .hl hmud ñia jymku Õirbyh – Gilon: Qohelet musar,
177; dt. JubA 20.1, 30. – Gemeint sind der arabische Mischna-Kommentar des Maimonides, der u.a. von Samuel ibn Tibbon ins Hebräische übersetzt wurde; Bachja ibn Paqudas »Buch der Herzenspflichten«, das in der hebräischen Übersetzung von Jehuda ibn Tibbon zu einem Hauptwerk jüdischer ethischer Literatur wurde; Josef ben Schemtov ibn Schemtovs hebräisches »Buch der Herrlichkeit Gottes« aus dem 15. Jahrhundert, das aber Teile des Sefer ha-middot, einer hebräischen Übersetzung der Ethik des Aristoteles von Meir Alguadez, enthält; das »Buch des Apfels«, eine pseudo-arisotelische Schrift über Tod und Unsterblichkeit, Anfang des 13. Jahrhunderts von Abraham ibn Chasdai aus dem Arabischen übersetzt und u.a. in Frankfurt / Oder 1693 gedruckt; die »Abhandlung von den Tieren«, von Kalonymos ben Kalonymos Anfang des 14. Jahrhunderts aus dem Arabischen übersetzt, gedruckt u. a. in Hanau 1718 und in Berlin 1758 und 1762; schließlich »Prinz und Derwisch«, Anfang des 13. Jahrhunderts von Abraham ibn Chasdai aus dem Arabischen übertragen und gedruckt u. a. in Wandsbek 1727. 100 Zugleich studierte Mendelssohn den More nevukhim in Samuel ibn Tibbons he-
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Grammatik und Übersetzen
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setzbarer und übersetzbarer Schrift wird auf allgemeine Weise mit dem zwischen begrifflicher Strenge und poetischer Freiheit in eins gesetzt. Damit entspricht das sechste Kapitel dem Versuch des zweiten Kapitels, das Hebräische unter die Sprachen der übrigen Nationen einzureihen und es in Zusammenhänge des aktiven Gebrauchs zu integrieren, auch wenn deutlich wird, dass Mendelssohn diese Zusammenhänge recht eng definiert. Als bewegliche und der Gegenwart mächtige Sprache erscheint das Hebräische in Qohelet musar vor allem, insofern es als literarische Sprache vorgestellt wird. Mendelssohn ließ seiner Übersetzung englischer Verse keine weiteren Übersetzungen ins Hebräische folgen. Im Jahre 1755, ungefähr zur selben Zeit, zu der er in Qohelet musar erklärte, dass sich die hebräische Sprache ausgezeichnet zur Übersetzung poetischer Werke eigne, begann er mit seinen Übersetzungen hebräischer Schriften ins Deutsche. Für die Zeitschrift Beschäftigungen des Geistes und des Herzens, die Johann Georg Müchler (1724–1819) herausgab, übersetzte er Jehuda ha-Levis Elegie Zijjon ha-lo tisch ali und Auszüge aus Jedaja Bedersis Behinat ˙ Vor allem aber begann er schon damals, kurze biblische˙ Pasolam.101 sagen ins Deutsche zu übertragen – sie finden sich in seiner 1757 erschienenen Rezension von Robert Lowths De sacra poesi Hebraeorum. Die Übersetzung einiger Verse aus Psalm 91, die hier veröffentlicht wurde, kann als der frühe Beginn seiner Arbeit am Buch der Psalmen gelten, die er 1783 mit der Veröffentlichung der gesamten Übersetzung abschloss. Allerdings bemerkt Mendelssohn zu den ersten Versen, die in der Lowth-Rezension auf Deutsch erscheinen, dass der hebräische Text in seiner Erhabenheit kaum übersetzbar sei: »Jesaias vergleichet (C. LXIII, 1.) das Strafgericht Gottes mit einer Weinkelter, und die Umschreibung dieses an sich einfältigen Gleichnisses ist in der Ursprache so prächtig und so erhaben, daß sie fast unmöglich in einer andern Sprache würdig genug ausgedruckt werden kann.«102 Dieses Urteil liest sich wie eine Reminiszenz an die Ausführungen des Qohelet musar zur Vorzüglichkeit der hebräischen Sprache und ist umso bemerkenswerter, als Mendelssohn derartige Einschränkungen hinsichtlich der Möglichkeit, Poesie nicht aus dem Hebräischen, sondern ins Hebräische zu übersetzen, im sechsten Kapitel des Qohelet musar nicht gelten ließ. Mendelssohn unternahm aber nicht nur keine weiteren Übersetzungen ins Hebräische, sondern veröffentlichte zwischen 1755 und 1782, als Or la-netiva, seine Einleitung zum Pentateuch, erschien, auch keine bräischer Übersetzung, so dass deutlich wird, wie sehr hier praktische Erfordernisse die philosophische Erörterung von Anfang an durchkreuzen. 101 Diese Übersetzungen wurden wieder abgedruckt in: JubA 10.1, 261–268. 102 JubA 4, 29 f.
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weiteren hebräischen Abhandlungen unter seinem Namen. Die beiden Kommentare, die er in dieser Zeit verfasste – zu Maimonides’ Millot ha-higgajon (1765) und zu Megillat Qohelet (1770) – erschienen anonym. Um 1767 /68 schrieb Mendelssohn außerdem seine beiden hebräischen Abhandlungen über die Unsterblichkeit der Seele, die allerdings erst posthum im Jahre 1787 von David Friedländer als Sefer ha-nefesch veröffentlicht wurden.103 In einem Brief an Wessely spricht Mendelssohn davon, dass es ursprünglich seine Absicht war, statt des Phädon (1767), seiner Abhandlung über die Unsterblichkeit der Seele, die sich auf Platon stützt und in deutscher Sprache verfasst ist, eine hebräische Abhandlung zu schreiben, die das Problem aus der Perspektive rabbinischer Quellen beleuchtet. Welche Schwierigkeiten dazu führten, dass er sich schließlich doch zu einer Abhandlung in deutscher Sprache entschloss, erklärt Mendelssohn nicht.104 In einem Brief an Raphael Levi bemerkt er hingegen, dass er wohl an die Abfassung einer hebräischen Entsprechung zum Phädon denke, fügt aber hinzu: Übersetzen läßt sich der Phädon nicht: wenigstens würde er im Hebräischen aufhören verständlich zu seyn, davon bin ich überzeugt; deswegen möchte ich gern eine andere Einkleidung wählen, in welcher ich die Sachen unsern Glaubensgenossen verständlich machen könnte. Wir wollen sehen! Noch bin ich im Hebräischen nicht stark genug.105
Mit seinem Kommentar zu Megillat Qohelet unternahm Mendelssohn kurze Zeit später tatsächlich den Versuch, ein hebräisches Gegenstück zu Phädon zu schaffen.106 Während Mendelssohn mit Qohelet musar versucht hatte, zeitgenössische Philosophie und Poesie in die hebräische Literatur einzuführen und ihr neue literarische Gattungen zu erschließen, bezog er sich in seinen späteren hebräischen Schriften fast ausschließlich auf Texte der jüdischen Überlieferung und wählte das klassische Genre des Kommentars. Zur Erweiterung der hebräischen Sprache, die der Autor des Qohelet musar forderte, hat er selbst kaum beigetragen. Das Hebräische behielt für ihn seinen Ort in der jüdischen Überlieferung. Es taugte zur Korrespondenz über aktuelle religiöse Fragen, wie Mendelssohns Briefwechsel mit Emden zeigt.107 Doch es wurde in Mendelssohns Schriften 103
Zur Datierung s. Borodianski in JubA 14, IV. Brief an Hartwig [Naphtali Herz] Wessely, Elul 5528 (August / September 1768), JubA 19, 119; dt. JubA 20.2, 160 f. 105 Brief an Raphael Levi, Ende 1767, JubA 12.1, 151. 106 Siehe Daniel Krochmalniks Bemerkungen zu Mendelssohns Kommentar in der Einleitung zur deutschen Übersetzung desselben in JubA 20.1, LV–LVIII. 107 Vgl. etwa die Korrespondenz über die Frage der frühen Beerdigung, JubA 19, 157–168. 104
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Grammatik und Übersetzen
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keineswegs zur Sprache alltäglicher Kommunikation und auch nicht zur Sprache der philosophischen und literarischen Welt, die sich durch die Lektüre von Leibniz und Wolff, Locke und Rousseau, Shakespeare und Racine eröffnete. Eine längere Abhandlung in hebräischer Sprache veröffentlichte Mendelssohn erst wieder mit Or la-netiva, wo das Hebräische nicht nur Sprache, sondern auch Gegenstand der Reflexion ist.
Nach dem »lebenden Alter« des Hebräischen Zu Beginn der 1780er Jahre gab es wenig Grund anzunehmen, dass es möglich sei, das Hebräische als Sprache jüdischer Selbstverständigung in der Gegenwart neu zu entfalten. Mendelssohns Bemerkung über die Unmöglichkeit, den Phädon auf Hebräisch zu schreiben, zeigt zunächst, wie schwierig es schien, die Sprache, die in Aschkenas vor allem in Zusammenhängen rabbinischer Gelehrsamkeit kultiviert worden war und wohl für mathematische, naturwissenschaftliche oder historische Gegenstände geeignet sein mochte, aber nie zur Erörterung philosophischer oder literarischer Fragen der Gegenwart herangezogen worden war, für diese Felder des Schreibens zu erschließen. Das frühneuzeitliche Italien, in dem Asarja de’ Rossi sein enzyklopädisches Werk Me or enajim verfasst hatte, schien weit entfernt. Und schon damals schrieben Simone Luzzatto oder Leone Modena in italienischer Sprache, wenn sie sich an ein christliches Publikum wandten.108 Mendelssohn entschied sich wie sie und veröffentlichte nicht nur Phädon, sondern auch sein philosophisches Hauptwerk Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum auf Deutsch. Für diese Entscheidung sprach nicht nur, dass die philosophische Literatur der Frühen Neuzeit ihre Ibn Tibbons noch nicht gefunden hatte und im Hebräischen die Terminologie fehlte, derer sich Mendelssohn in seinen Überlegungen zu Locke oder Lessing bediente, sondern auch, dass eine hebräische Abhandlung für christliche Leser kaum zugänglich gewesen wäre – schließlich war wenig Verlass auf das Interesse Berliner Verleger und Buchhändler an der Finanzierung deutscher Übersetzungen hebräischer Gegenwartsliteratur. Hinzu kam, dass die nachbiblische Geschichte des Hebräischen unter christlichen Gelehrten kaum noch hebraistische Neugier weckte.109 Po108
Simone Luzzatto veröffentlichte seinen Discorso circa il stato de gl’Hebrei im Jahr 1638 und Socrate, overo, Dell’humano sapere im Jahr 1651. Leone Modenas autoethnographisches Kompendium Historia de’ riti hebraici, das sich teilweise gegen Johannes Buxtorfs Synagoga Judaica richtet, aber von Buxtorf d. J. bei der Erweiterung desselben Werkes benutzt wurde (vgl. Cohen: Leone da Modena’s Riti, 318 f.), erschien ohne Zustimmung des Autors 1637 in Paris und in einer vom Autor besorgten Ausgabe 1638 in Venedig. 109 Zur Krise hebraistischer Forschung im Übergang zur Aufklärung s. Sutcliffe: Judaism and Enlightenment, 30–41.
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litische, historische und anthropologische Motive vermischten sich mit der christlichen Vorstellung vom Gegensatz zwischen »totem Buchstaben« und »lebendigem Geist« und führten zu Vorbehalten gegenüber einer Sprache, die über Jahrhunderte hinweg vorwiegend schriftlich kultiviert worden war. Als »lebendig« galt allein eine Sprache, die von weiten Teilen einer Nation gebraucht und mündlich entfaltet wurde.110 So trug Johann David Michaelis (1717–1791) seine Kritik der christlichen philologia sacra, einer Philologie der Sprache der Schrift,111 auch als scharfen Angriff auf die jüdische Überlieferung der hebräischen Sprache vor. Nach Michaelis ist die »lebendige« hebräische Sprache, die Sprache der Israeliten, nirgends mehr anzutreffen. Die Entwicklung der Sprache in nachbiblischen Zusammenhängen wird nicht als eigenständiges Kapitel der Sprachgeschichte, sondern als deviante und defizitäre Überlieferung beschrieben, die für das Verständnis der Sprache in linguistischer und philosophischer Hinsicht irrelevant ist. Über die »Hebräische Bibel« heißt es:112 Dieses ist das eintzige Buch, so uns aus dem lebenden Alter der Hebräischen Sprache übrig ist. Was in nachfolgenden Zeiten auf Hebräisch geschrieben ist, (wohin die Schriften der Rabbinen mit können gerechnet werden) stöst theils so gewaltig gegen die Regeln der Grammatik an, daß man daraus schlechte Regeln würde schöpfen können: wenigstens kann es eben deshalb keine gültige Auctorität ausmachen, weil es erst nach ausgestorbener Hebräischen Sprache geschrieben ist.
Die hebräische Sprache, wie sie unter Juden geschrieben, rezitiert und – wenn auch selten – gesprochen wurde, die hebräische Sprache der Mischna, des Mittelalters und der Frühen Neuzeit steht hier nur noch in einem negativen Zusammenhang mit dem »lebenden Alter« des Hebräischen. Die Unzulänglichkeit und Fehlerhaftigkeit der jüdischen Überlieferung zeugt davon, dass die Sprache »ausgestorben« ist und lässt das Hebräische, das Hanau, Emden oder Mendelssohn schreiben, als unheimliche Verdoppelung, als Schatten einer toten Sprache erscheinen. Schließlich zeichnete sich in den Debatten über die rechtliche Gleichstellung der Juden in Preußen und Österreich als weitere Herausfor-
110
Spinozas Bemerkung über den Gegensatz zwischen einer Grammatik des biblischen Textes und einer Grammatik der hebräischen Sprache deutete eine Veränderung des Interesses bereits an (s.o., 190). Im 18. Jahrhundert zeigten sich die neuen Tendenzen zudem in der Abkehr der Grammatiker vom präskriptiven Sprachtext und in ihrer Hinwendung zur Standardisierung der Sprache durch den Ausgleich zwischen verschiedenen Mundarten (s. o., 213). 111 Eine erhellende Erörterung der Kontexte, Ausformungen und Implikationen dieser Kritik bietet Weidner: »Menschliche, heilige Sprache«. 112 Michaelis: Hebräische Grammatik, Anhang, 7.
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Grammatik und Übersetzen
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derung ab, dass dem Deutschen künftig in vielen Angelegenheiten größere Bedeutung als dem Hebräischen zukommen sollte. Dohm wies in seiner Schrift Über die bürgerliche Verbesserung der Juden darauf hin, wie nützlich es sei, wenn Handelsbücher auf Deutsch geführt werden,113 und das Toleranzedikt, das Joseph II. zur gleichen Zeit in Österreich zeichnete, sah vor, dass »in allen öffentlichen in- und außergerichtlichen Handlungen« die Landessprache verwendet wird, während die »in hebräischer Sprache verfaßten oder auch nur mit hebräischen und jüdischen Buchstaben geschriebenen Instrumente für ungültig und nichtig« erklärt werden.114 Auf diese Situation antworteten die beiden jüdischen Aufklärer, die zu ihrer Zeit in jüdischen wie christlichen Kreisen die größte Anerkennung genossen, Naphtali Herz Wessely (1725–1805) und Mendelssohn, in ähnlicher Weise. Sie erkundeten, inwiefern das »lebende Alter« der hebräischen Sprache, ihre biblische Überlieferung, für die Gegenwart neue Bedeutung gewinnen könnte.
Vor der Wiederherstellung Wessely begann im Jahr 1742 als Siebzehnjähriger mit der Übersetzung der apokryphen Schrift Sapientia Salomonis (»Weisheit Salomos«) ins Hebräische. Die Übersetzung wurde allerdings erst im Jahr 1780 zusammen mit dem Kommentar Ruah hen veröffentlicht. Wessely war der ˙ ˙Werk tatsächlich um eine Schrift SaMeinung, dass es sich bei diesem lomos handele, deren hebräisches Original verloren sei und die es nun – ausgehend von Übersetzungen in andere Sprachen – wiederherzustellen gelte.115 Da Wessely ein Original rekonstruieren wollte, orientierte er sich am Wortschatz und an der Grammatik anderer biblischer Bücher, die er demselben Autor zuschrieb. Um die Sprache der biblischen Weisheitsliteratur zu imitieren, war es notwendig, sie genau zu studieren. Sprachstudium und aktiver Gebrauch der Sprache waren in seinem Werk von Anfang an miteinander verknüpft.116 113
Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung, 117. »Toleranzpatent«, in: Pribam: Urkunden und Akten, 494–500, hier: 498. 115 Nach welcher Vorlage Wessely übersetzte, ist nicht geklärt. Friedrichsfeld schreibt, dass Wessely das Buch aus dem Französischen übersetzt habe (Zekher Zaddiq, 14), ˙ während Meisl davon ausgeht, dass ihm die Pseudepigraphen in der Luther-Übersetzung vorgelegen hätten (Leben und Wirken, 33). 116 In seiner Einleitung zu den Schire tif eret erinnert Wessely an seine über vierzig Jahre zurückliegende Übersetzung und datiert seine Erkenntnisse über die Verfasstheit der hebräischen Sprache bis auf diese Arbeit zurück: hlah tualpnh ly rbdl xk itldxh tmabu 114
uitucilmmu uirbd iwarmu ,itqtyhw hmlw tmkx rpsb iruynb ,itunib ily 'h tlmxb ik ilul ,itrbdw hm .hlah Õininyb tuwdx ñibh itpsuh ,tldh il xtpnw rxa ik ,tuwdx itdml tumutsh – »Und wirklich
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Wessely vertrat die Auffassung, dass es im Hebräischen der Bibel streng genommen keine Synonyme gebe. Jede Wurzel, jeder Stamm, jedes Wort und jede Wendung haben ihre eigene, genau bestimmbare Bedeutung. Diese These wird anhand des Wortes hokhma, das Wessely in seiner hebräischen Übersetzung für sapientia ˙wählte, exemplarisch erläutert. Den Wörtern hokhma (Weisheit), bina (Einsicht), sekhel (Verstand), da at (Wissen), ˙ piqhut (Nüchternheit), orma (List), tahbula ˙ ˙ und (Taktik), mezima (Überlegung), eza (Rat), mahaschava (Gedanke) ˙ ˙ tuschijja (Klugheit) widmete Wessely eine eigene Untersuchung, die 1765 unter dem Titel Gan na ul in Amsterdam erschien. In der Vorrede heißt es:117 [D]as Wort Heiligkeit wird gebraucht für eine Differenz, [für etwas], durch das sich eine Sache auf löbliche und vorzügliche Weise von anderen, geringeren Dingen unterscheidet [...]. So sind die Wurzeln und Wendungen der anderen Sprachen voller Fehler und führen weg von der Wahrheit der Dinge, die sie bezeichnen. Anders ist es mit den Wurzeln dieser Sprache, denn sie sind von jedem Irrtum und Fehler geschieden und Wort für Wort jedem Seienden nach seinem Sein zugewiesen; daher wird sie die heilige Sprache genannt, das heißt eine Sprache, die sich durch ihre Vorzüglichkeit und Kraft von allen anderen Sprachen abhebt und unterscheidet.
Diese Überlegungen unterscheiden sich von dem, was im Qohelet Musar in Anlehnung an den Kuzari über die Vorzüglichkeit der hebräischen Sprache und ihre Zweckmäßigkeit für die menschliche Erkenntnis gesagt wurde, auf den ersten Blick nur durch die Art der Formulierungen, die sich von der philosophischen Terminologie des Kuzari lösen.
wäre meine Kraft zu gering gewesen, um über diese wunderbaren Dinge so zu sprechen, wie ich es tat, wenn ich nicht durch Gottes Erbarmen Einsicht gewonnen hätte, als ich in meiner Jugend das Buch der Weisheit Salomos übersetzte; aus seinen Hauptworten und seinen unerschlossenen Wendungen lernte ich Neuigkeiten, denn nachdem sich mir die Tür geöffnet hatte, verstand ich immer Neues in diesen Dingen«. Wessely: Schire tif eret, Bd. 1, Einleitung [unpaginiert]. Das Wort meliza, das im Folgenden mit »Wendung«, »Rede« oder »Redeweise« wiedergegeben wird,˙ nimmt in den Texten der Aufklärer verschiedene Bedeutungen an. Es bezeichnet eine einzelne poetische oder rhetorische Figur, kann aber auch Poesie oder Rhetorik überhaupt meinen und im weitesten Sinne gleichbedeutend mit »Literatur« oder »Sprache« gebraucht werden. (Vgl. Pelli: Tefisat ha-meliza 31–48.) Im 19. Jahrhundert wurde meliza zu einem Begriff, mit dem ˙ abwertend über˙ einen Stil geurteilt wurde, der stark von bibischen Wendungen geprägt war. Den Versuch, zu einem differenzierten Urteil über meliza in der Haskala-Literatur zu gelangen, unternehmen Alter: The Invention of Hebrew ˙Prose, 17–41, und Pelli: On the Role of Melitzah. 117 [...] raw iwrw hnhu [. . . ] .unmm Õituxph Õirxa Õirbdm hlgslu hlhtl rbd ldbh ly utxnh hwdq tlm Õildbn ñhw hzh ñuwlh iwrw ñk ñiau .ñhily uxnuhw Õininyh ttmam Õizulnu tuaigw Õialm ñhitucilmu tunuwlh ldbnu hlytm ñuwl rmulk ,wdqh ñuwl arqn ñklu ,utaicm ipk acmnh ly rbd rbd Õixnumu ,haigwu tuyj lkm :turxah tunuwlh lkm utumcybu utlugsb – Wessely: Gan na ul, Petihat ha-mehabber, fol. 21b.
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Grammatik und Übersetzen
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Auf den zweiten Blick zeigt sich allerdings eine bemerkenswerte Differenz. Während bei Mendelssohn das Studium der Sprache und die Interpretation der Schrift als prinzipiell unabschließbare Prozesse im Vordergrund stehen, geht es Wessely um Definitionen. Am Beginn der Vorrede zu Gan na ul heißt es:118 [I]ch komme, um in dieser Schrift und in anderen Abhandlungen, die ich verfasst habe, den Inhalt der Wurzeln unserer heiligen Sprache zu erklären, [das heißt] worauf die Grundlagen jeder Wurzel gemünzt sind, um für jede Wurzel eindeutige Definitionen und genaue Abgrenzungen vorzunehmen, durch die sich ihre Bedeutungen einkreisen lassen [...]. Nach den Regeln, die ich für jede Wurzel vorschlagen werde, [und die beschreiben,] was sie bezeichnet und was der Inhalt ihrer Bedeutung ist, werden alle Stellen, an denen eine bestimmte Wurzel im Tanakh erwähnt ist, in derselben Weise und mit derselben Begründung gleich und zutreffend [erklärt], entsprechend der Bedeutung nämlich, die wir ihr zum Zaun und zur Grenze gemacht haben.
Wessely nimmt in gewisser Weise Hanaus Rhetorik auf. So wie dieser es sich zur Aufgabe machte, die Regeln der Sprache genau zu bestimmen, hält Wessely es für möglich, die Bedeutungen einer Sprachwurzel exakt und endgültig zu definieren. Indem die lexikalischen Elemente der Sprache der Tora und der Propheten präzise beschrieben werden, wird die Sprache der Bibel zugänglich und verfügbar. Die Metaphern, in denen Wessely von seinem Unternehmen spricht, unterstreichen seine Zuversicht. Die Rede ist von Türen, die verschlossen waren und nun offen stehen,119 oder vom Licht, das hervorbricht wie die Morgenröte.120 Das Studium der Wortverwandtschaften ermöglicht es, sich innerhalb eines deutlich begrenzten, aber differenzierten lexikalischen Feldes relativ frei zu bewegen. Die Erweiterung der Grenzen der Sprache, die im Qohelet Musar gefordert wurde, wird nicht durch sprachliche Neuschöpfungen, sondern durch das Ausschöpfen aller dem »lebenden Alter« der hebräischen Sprache entstammenden Quellen erreicht.121 118 lk inda uybjh hm ly wdqh uninuwl iwrw ñkut itrbxw Õirubxh rtibu tazh itrbxmb rabl ab innh Õillkh ipk [. . . ] uituaruh hnibust ñhilyw Õilbgum Õilubgu Õiyudi Õirdg wrwu wrw lkl ttlu ,wrwu wrw Õiuw Ón`tb Õiwrwh ñm wrw ñhb rkznw tumuqmh lk hniiht utaruh ñkutu utxnh hm ly wrwu wrw lkl yicaw .ulubglu urdgl unmww haruhh utua ipk ,dxa Õyj lyu dxa Órd ly Õimiatmu – Ebd., fol. 2b–3a. 119
Vgl. oben, 234 (Anm.) So heißt es in Gan na ul, fol. 3a: 'ipb unl riahl rua rxwk yqbi za .l`nh Õildbhh acmn rwaku .Õiaibnhu hruth ñhb uwmtwhw tucilmh – »Und wenn wir die genannten Unterschiede finden, dann wird das Licht wie die Morgenröte hervorbrechen und uns die Bedeutung der Wendungen, derer sich die Tora und die Propheten bedienten, erhellen.« 121 Isaak Euchel unternahm den Versuch, Wesselys Studien als »Kritisch-philosophisch-hebräisches Wörterbuch« auf Deutsch zu veröffentlichen, doch der Prospekt, als »Erste Zugabe« zu Ha-Me assef 3 (1785 /86) veröffentlicht, konnte offenbar nicht genügend Pränumeranten werben, um das Vorhaben zu verwirklichen. 120
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Um die hebräische Sprache wieder aufleben zu lassen, genügt es allerdings nicht, sie zu studieren und zu erforschen. Sie muss auch gelehrt und gelernt werden. Fast zwanzig Jahre nach seiner Veröffentlichung von Gan na ul entwirft Wessely Pläne zur Neuordnung des Unterrichts, die dem Hebräischen eine merkwürdig ambivalente Rolle zuweisen. In Mahalal Rea , Wesselys Lobrede auf Mendelssohns Pentateuch-Ausgabe, und in seinem kurz darauf veröffentlichten Traktat zum jüdischen Erziehungswesen, Divre schalom we-emet, zeigen sich die Spuren einer neuen Skepsis und der Einschränkungen, die sich aus der Notwendigkeit ergeben, die eigenen Interessen mit den Plänen der staatlichen Autoritäten in Einklang zu bringen. In beiden Schriften wird die hebräische Sprache als Angelegenheit des Studiums vorgestellt, als Sprache, die nachträglich erworben und nachträglich erkundet wird. Zum einen soll der Unterricht in den ersten Jahren gründliche Kenntnisse der hebräischen Grammatik und der Bibel vermitteln, zum anderen soll er in der Landessprache erteilt werden: in richtigem und schönem Deutsch. Mendelssohns Pentateuch-Ausgabe erscheint in diesem Zusammenhang als ideales Lehrbuch für Lernende wie Lehrende: sie erlaubt Einblick in die deutsche Sprache und bietet zugleich eine Einführung in das Hebräische und die Bücher der schriftlichen Tora.122 In keiner der beiden pädagogischen Schriften ist hingegen davon die Rede, dass die Schüler auch lernen, auf Hebräisch zu schreiben. In Divre schalom we-emet schlägt Wessely zudem vor, Lehrbücher zu verfassen, in denen die Grundlagen des Glaubens, der Erkenntnis, der Moral und der Sitten nach allgemeinen philosophischen Grundsätzen vermittelt werden. Diese Lehrbücher sollen zunächst in hebräischer, dann aber auch in deutscher Sprache verfasst werden:123 Diese Hefte und ähnliches sollten von ihren Autoren in leichter, klarer und reiner Sprache verfasst werden, in der heiligen Sprache; danach soll sie einer, der die deutsche Sprache beherrscht, in seine Sprache übersetzen, [und zwar] in eine klare Sprache, und nach dieser Übersetzung soll der Lehrer seine Schüler die Worte des Buches lehren, so dass die Schüler beide [Sprachen] erwerben, die hebräische Sprache und die deutsche Sprache.
So wie Mendelssohns Pentateuch-Ausgabe als gelungenes Lehrwerk erschien, weil sie einen hebräischen Text und eine deutsche Übersetzung bot, soll nun ein hebräisch-deutsches Lehrbuch geschaffen werden, das
122 123
Wessely: Mahalal Rea , fol. 4b; dt., übers. von Rainer Wenzel: JubA 20.1, 329 f.
Õuqityi k`xau ,wduqh ñuwlb iqnu xc lq ñuwlb Õrbxmm btkhl ñiiuar ,ñhb acuiku ullh turbxmh hnhu uxiuriu rpsh irbd ta uidimltl dmlmh wrpi ,tazh hqtyhh ip lyu ,ñuwl tuxcb unuwll iznkwa ñuwl lyb :[. . . ] iznkwa ñuwlu irby ñuwl udmliw ,ñhinw Õg Õidimlth – Wessely, Divre schalom we-emet, Kap. 6
(unpaginiert).
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zur Grundlage des Elementarunterrichts wird. Allerdings besteht zwischen Mendelssohns Pentateuch und dem Lehrbuch, das Wessely ins Auge fasst, ein gewisser Unterschied: das Lehrbuch soll sich auf nichtjüdische Quellen stützen. Wessely rechtfertigt dies, indem er darauf hinweist, dass zwar alle Grundlagen des Wissens und der Moral in der Sprache der Tora enthalten seien, es aber für Anfänger schwer sei, sie aus der Tora selbst herauszulesen:124 Das Licht unserer Tora kann bei Anfängern und Schülern nichts bewirken, denn es ist Sache der Gelehrten, Wissenschaft und gute Lehren aus ihrer ältesten Quelle zu schöpfen, aus den Tiefen der sprachlichen Wendungen der Tora, man braucht dazu Weisheit des Herzens und besondere Einsicht – das ist nicht Sache der Anfänger.
Die Struktur der Nachträglichkeit, die im Hinblick auf den Spracherwerb hervortrat, taucht hier implizit ein zweites Mal auf. Obwohl das Hebräische als erste Quelle aller Weisheit und allen Wissens gepriesen wird, werden die Grundlagen des Wissens und des ethischen Handelns zunächst durch nichtjüdische Philosophie und Literatur vermittelt. Die hebräischen Texte werden erst nachträglich – und nicht von allen – entdeckt. Zur Legitimation dieser Verschiebung, durch die das Deutsche als primäre Sprache, als Sprache aller, als gesprochene Sprache und Sprache der Unterrichtsbücher, bekräftigt wird, während das Hebräische als sekundäre Sprache, als Sprache des Studiums und Sprache besonders talentierter Schüler dem Lateinischen zu ähneln beginnt, verweist Wessely auf die zeitgenössische kulturelle und politische Situation. Wesselys Optimismus, der knapp zwei Jahrzehnte früher an die Zuversicht des Autors des Qohelet musar und an Hanaus Selbstbewusstsein erinnerte, hat sich verflüchtigt. Das Hebräische wird nun erneut vor allem als beschädigte und mangelhafte Sprache vorgestellt, während Kenntnisse der dominierenden nichtjüdischen Sprachen unerlässlich sind:125 Und wenn die großen Männer Jerusalems, die die heilige Sprache perfekt sprachen, auch Aramäisch lernten, das die Sprache der Assyrer war – was sollen dann wir sagen, denen von unserer heiligen Sprache nur das Wenige geblieben ist, das sich in den vierundzwanzig heiligen Büchern befindet, und die wir zerstreut sind unter der Herrschaft der Könige des Landes, die
124 iqmymm ,ñuwarh Õruqmm Õibujh Õirsumhu tuydm buawl ik ,Õidimltlu Õilixtml untrut rua liyui al :[. . . ] Õilixtm hwym hz ñiau ,hriti hnibu bl tmkx hl hkircw ,auh Õimkx hwym ,hruth tucilm – Ebd. 125 ñuwl htihw timra ñuwl k`g udml ,uirub ly wdqh ñuwlb Õirbdm uihw Õiludgh Õilwuri iwna Õau di txt Õirzupmu ,wdqh irps d`kb acmnh utcqm qr hwudqh unnuwlm undib rawn alw unxna rman hm ,Õiruwah :[. . . ] Õighmhu Õipcpcmh Õinuik Õhiniyb hihn yudm ,iznkwa tpw Õirbdmh Ñra iklm – Ebd., Kap. 7
(unpaginiert).
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deutsch sprechen, warum sollen wir in ihren Augen sein wie Tauben, die pfeifen und gurren [Jes 8:19]?
Diese Beobachtung mündet in zwei verschiedene Schlussfolgerungen, die zwar nicht im Gegensatz zueinander stehen, aber doch den prekären, instabilen, von Spannungen durchzogenen Charakter der kulturellen Konstruktionen, mit denen Wessely experimentierte, deutlich hervortreten lassen. Zum einen gilt das Hebräische nun als Sprache, die von der Geschichte des Exils zutiefst affiziert ist und nicht mehr »für alles« gebraucht werden kann; zum anderen bleibt ihre »Ausarbeitung« eine der vornehmsten Aufgaben jüdischer Autoren. In seiner Vorrede zu Mendelssohns Pentateuch-Ausgabe entfaltet Wessely seine Interpretation der Heiligkeit des Hebräischen, indem er die Geschichte der Sprache, in der das Wissen von der Natur der Dinge aufbewahrt ist, unversehens in eine Gegenwart münden lässt, in der sich der Irrtum auch in das Hebräische gemischt hat und die Heiligkeit der Sprache aufgehoben ist:126 Seit die Städte des Heiligtums zur Wüste wurden [ ...], ist auch die heilige Sprache aus dem Munde der Beredsamen entschwunden. Denn nach Babel wurden wir herabgeführt, und die Kinder, die dort geboren wurden, sprachen Aschdodisch oder in der Sprache des jeweiligen Volkes, mengten Fremdes in die heilige Sprache. Seither ist die Heiligkeit der Sprache aufgehoben und zu ihrer Stärke noch nicht wieder zurückgekehrt [...], bis der Ewige von der Höhe herabschauen und unsere Tage wie einst machen wird. [...] Die Heiligkeit der Sprache besteht nun darin, daß sie klar und rein von Irrtümern und Fehlern der Erkenntnis ist, wie sie in die profanen Sprachen gemischt sind, die die Menschen in ihren Ländern je nach ihren Völkern vereinbart haben. Nicht so die hebräische Sprache, denn Gott, der Ewige, sprach in ihr. Deshalb ist sie in jeder Hinsicht wohlgeordnet und vor allem Irrtum bewahrt. [...] Und als die Fürsten Gottes und die Fürsten des Heiligtums sie noch sprachen, war sie weit und reich an Wurzeln, Verben, Nomina und Partikeln. Aber nun ist von ihr nur wenig geblieben.
Wessely führt eine scharfe Trennung zwischen der Sprache der Schrift und der Sprache der nachbiblischen Zeit ein. Heilig kann nur die Sprache genannt werden, die in der Tora, den Propheten und Hagiographen aufbewahrt ist. Die Sprache aber, die seit dem babylonischen Exil ge-
126 uih hmw udlun rwa Õinbhu ,hlbb undruh ik ,uicilm ipm wdq ñuwl Õg hrdyn [. . . ] rbdm uih wdq iry tym hntial duy hbw alu ñuwlh twudq hljb halhu zamu ,wdq tpwb turz ullb ,Õyu Õy ñuwlbu tidudwa Õirbdm umk ,tydh wubwmu tuyjm hkzu hrb htuihb aih ñuwlh twudqu [. . . ] Õdqk unimi wdxiu Õrmm 'h úiqwi dy ,[. . . ] ñk ly ,hb rbd 'h la ik ,irby ñuwl ñk al ,Õhiiugl Õtucrab Õdah inb ñhily umikshw lux tunuwlb ubrythw Õiwrwh tbru hbxr htih wdq irwu Õihla irw hb Õirbdm uihw duybu [. . . ] ,haigw lkm hrumwu lkb hkury aih :[. . . ] jym qr hnmm rawn al htyu tulmu tumw Õilyp – Wessely: Mahalal rea , fol. 3b, dt. JubA 20.1,
325 f.
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sprochen und geschrieben wird, ist vermengt mit Wörtern anderer, profaner Sprachen, die auf Konvention beruhen und unvollkommenes Wissen zum Ausdruck bringen. Die heilige Sprache kann und muss studiert werden, doch sie lässt sich nicht in eine aktive Sprache der Gegenwart verwandeln. Das Hebräische, das geschrieben wird, reiht sich ein unter die profanen Sprachen. Der geschriebenen und gesprochenen Sprache wird ihre Vorzüglichkeit erst durch die göttliche Restitution aller Heiligtümer am Ende der Tage zurückerstattet. Diese Beschreibung der Gegenwart des Hebräischen als Sprache, deren Heiligkeit durch die Geschichte des Exils aufgehoben ist, bedient sich wohl noch der überlieferten religiösen Sprache, in der die Heiligkeit der Sprache mit ihren besonderen und vorzüglichen Eigenschaften verknüpft wurde, bricht aber zugleich mit ihr. Während die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Autoren darauf insistierten, dass die Heiligkeit und die göttlichen Ursprünge der Sprache für die Beschreibung ihrer Gegenwart stärkere Bedeutung haben als die Geschichte ihrer Fragmentierung im Exil, kehrt Wessely das Verhältnis um: Die Geschichte der Sprache affiziert ihre vorzüglichen Eigenschaften und vermag es, ihre Heiligkeit aufzuheben. Eine weitere Spur der Distanzierung von den älteren Vorstellungen findet sich in Divre schalom we-emet. Während die heilige Sprache – und die Sprache, über deren Erneuerung Mendelssohn in Qohelet musar schrieb – eine Sprache »für alles« war, verwandelt sich das Hebräische nun in eine Sprache, in der nur noch »Heiliges« verhandelt werden soll. Gleich im Anschluss an die zuletzt zitierten Worte aus Divre schalom we-emet heißt es:127 Die hebräische Sprache ist eine Sache für sich, und die deutsche Sprache ist eine Sache für sich, jene [dient] den Dingen des Heiligen, des Glaubens und der Tora, und diese den Dingen der Welt im Handel und Wandel und Umgang der Menschen, und in der Kunst des höflichen Benehmens, den Naturwissenschaften und der Mathematik.
Hier wird die Vorstellung, dass die heilige Sprache eine Sprache »für alles« ist, die profane Sprache aber nur für Profanes gebraucht werden soll, angeglichen an christliche Vorstellungen, die Heiliges und Profanes symmetrisch auf den Gegensatz zwischen geistlicher und weltlicher Sphäre beziehen. Die heilige Sprache, die profan wurde, verliert gerade in profanen Angelegenheiten ihre Bedeutung. Während zuvor profane Dinge in heiliger und profaner Sprache verhandelt werden konnten, heilige Dinge aber nur in der heiligen Sprache, zeichnet sich nun eine Umkehrung der Verhältnisse ab. Heilige Dinge können in zwei profa127 irbdl hzu ,hruthu hnumah ,wdq irbdl hz ,umcy inpb ñiny iznkwa ñuwlu ,umcy inpb ñiny wdqh ñuwlu :tuidumlhu tuiybjhu tuisuminh tmkxlu Õdah inb ighnmu Õ`um iqsyb Õluyh – Ebd.
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nen Sprachen – dem Hebräischen oder der Landessprache – verhandelt werden, profane Dinge aber nur noch in der Landessprache. Im Lesebuch, das David Friedländer drei Jahre vor dem Erscheinen der Divre schalom we-emet für die Jüdische Freischule in Berlin herausgegeben hatte, deutet sich an, dass diese neue Ordnung der Sprachen von nun an auch in der Liturgie, in die das Jiddische nur partiell vorgedrungen war, die Austauschbarkeit der Sprachen nahelegen konnte. Anders als Wessely es vorsah, wird selbst das Schma Jisra el nur in deutscher Übersetzung (wenn auch in hebräischen Lettern) wiedergegeben.128 Es war jedoch Wesselys symmetrisch orientiertes Modell, das für die Herausbildung der jüdischen Reform im frühen 19. Jahrhundert größere Bedeutung behielt.129 Ungeachtet dessen, dass sich das Hebräische in Wesselys Schriften in eine Sprache verwandelt, deren Heiligkeit aufgehoben ist, die aber zugleich nur für Dinge des Heiligen benutzt werden soll, ließ Wessely nicht davon ab, nach Autoren und Wörtern für die profan gewordene heilige Sprache zu suchen. In gewisser Weise erheben seine Texte bisweilen Einspruch gegen sich selbst. Die Hoffnung, dass das Hebräische sich zu einer Schriftsprache entwickeln könnte, die auf dem Terrain der Wissenschaften und Künste zu neuer Blüte gelangt, tritt immer wieder hervor. So verlangt Wessely nachdrücklich, dass für das hebräisch-deutsche Elementarbuch geeignete Autoren gesucht werden, obgleich sie gewiss nicht zahlreich seien und man wohl vorerst mit Mendelssohns Pentateuch-Werk Vorlieb nehmen müsse. Seinen Aufruf zur Autorensuche beschließt er mit einem Anflug des alten Optimismus: »Und mit der Zeit werden es viele sein, die wissenschaftliche und ethische Werke schreiben, und für all diese Dinge wird es unter euch wundervolle Künstler geben.«130 Darüber hinaus ist der Text selbst ein Zeugnis für den Gebrauch der hebräischen Sprache zu einer Stellungnahme, die keineswegs nur religiöse, sondern auch politische und soziale Gegenwartsfragen berührt. Auch die Suche nach Wörtern setzte Wessely fort. Als der protestantische Theologe Johann Gottfried Eichhorn (1752–1827) im Jahr 1788 Auszüge aus einer jüdischen Chronik veröffentlichte, die in Cochin, der berühmtesten jüdischen Gemeinde der indischen Malabar-Küste, entstanden sein sollte, und im Me assef eine Übersetzung der Schrift ins Hebräische erschien, schrieb Wessely: »Vielleicht ist es uns zuletzt beschieden, mit Briefen bis zum Ort ihres Aufenthalts zu dringen und 128 129 130
Friedländer: Lesebuch für jüdische Kinder, 1. Vgl. Meyer: Response to Modernity, 36, 137, 186 et passim :hla lkb Õialpum Õinmua Õkb uihiu ,Õibuj Õirsumu tumkx ibtuk uihi Õibr ñmzh Õyu – Wessely:
Divre schalom we-emet, Kap. 8 (unpaginiert).
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ihrer Antwort zu entnehmen, ob sie noch Bücher haben, die hebräisch geschrieben sind, so dass wir durch sie Wege der Sprache, Wurzeln, Substantive und [andere] Wörter lernen – mehr als wir heute kennen.«131 Wesselys Überlegungen zum Hebräischen zeigen einen Augenblick, in dem die Rede über die hebräische Sprache sich auf alte und neue, religiöse und säkulare Vorstellungen zugleich bezieht. Die Rede von der Heiligkeit der Sprache, die aufgehoben ist, lässt sich als säkulare Interpretation ihrer Geschichte lesen. Sie drückt aber zugleich die religiöse Vorstellung aus, dass zwischen heiliger und profaner Sprache strikt zu unterscheiden ist: Die heilige Sprache, die über die wahre Natur der Dinge Auskunft gibt und studiert werden kann, ist genau zu trennen von der geschriebenen Sprache der Gegenwart, die voller Irrtümer ist. Und schließlich ist die Bestimmung der hebräischen Gegenwartssprache als profaner Sprache Teil einer Denkbewegung, die zur heiligen Sprache zurückführt. Die hebräischen Wörter der Gegenwart sind Zeichen des Mangels und des Verlusts im Exil, die schließlich aufgehoben werden, jedoch nicht durch menschliche, sondern durch göttliche Intervention. In eine ähnliche Figur der Resakralisierung münden auch Mendelssohns Reflexionen.
Die »tiefgründige Grammatik« der heiligen Sprache Mit seiner Einleitung zum Pentateuch, seinem Kommentar zu Exodus und seiner Reflexion über Sprache und Schrift in dem fast gleichzeitig erschienenen Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum (1783) wendet sich Mendelssohn jenem Modus der Lektüre zu, den Jehuda Löw von Prag als Grundlage des Studiums der Tora bezeichnet hatte: der Übersetzung, der Wiederholung.132 Doch Mendelssohn interpretiert 131 Õirps duy Õta wih ,unl ubiwiw Õirbdm yduhlu ,Õtunxt Õuqm dy turgab aubl hkzn tirxab iluau Õuih unidib wi rwam rtui ñilmu tumwu Õiwrw ñuwlh ikrd ñkutm dumll ,irby ñuwlb Õibutkh – Wessely:
Ma amar maggid hadaschot, 139. Das holländische Manuskript, das behauptete, Auszüge der jüdischen Chronik zu bieten, war von Leopold van Dort, einem Konvertiten, im Jahr 1757 verfasst worden. Ruetz, der lutheranische Pastor Den Haags, gelangte in den Besitz des Manuskripts und bat Tobias Boas, der zu Mendelssohns Briefpartnern zählte, seine Verbindungen nach Cochin zu nutzen, um das Manuskript zu verifizieren. Obwohl die Anfrage in Cochin ohne Antwort blieb, übersetzte Ruetz das Manuskript für Eichhorns Allgemeine Bibliothek der Biblischen Litteratur ins Deutsche; s. Fischel: The Exploration of the Jewish Antiquities of Cochin, 240–242. 132 Fragen des Übersetzens hatten unter den Maskilim noch wenig Aufmerksamkeit gefunden. Das wichtigste Werk, das ihnen vor Mendelssohns Pentateuch-Ausgabe gewidmet war, wandte sich kritisch gegen ältere Werke der »Prager Schule«, insbesondere den Be er Mosche, zeigt aber Gemeinsamkeiten mit den Amsterdamer Bibelübersetzern: Jehuda Leib Minden orientierte sich in seinem Wörterbuch Millim leloa, Berlin 1760, wie die Amsterdamer am peschat und suchte nach einer knappen, klaren Übersetzungs˙
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die wiederholende Lektüre auf neue Weise, indem er eine Theorie der Schrift entwickelt, die in die Wiederholung die Auslegung einschreibt – als Anerkennung der irreduziblen Mehrdeutigkeit der Zeichen und als Antwort auf eine Schrift, die über sich selbst hinausweist, indem sie auf die unauflösliche Beziehung zwischen Lehre und Handeln hindeutet. Mendelssohn entdeckt in den hebräischen Zeichen der Schrift ein aktualisierbares Potential, das nicht in den noch unverwirklichten Möglichkeiten der Sprache liegt, sondern in dem, was die Zeichen, so wie sie in der Tora überliefert sind, für Erkenntnistheorie und Ethik, für politische Emanzipation und jüdische Überlieferung bedeuten.133 Doch im Hinblick auf Fragen der Ordnung jüdischer Zweisprachigkeit und der Sprachpraxis zeigt sich, dass Mendelssohns späte Texte über die hebräische Sprache nicht nur Perspektiven eröffneten, sondern sich zugleich von einigen – anderswo erprobten – Möglichkeiten, dem Hebräischen als Sprache der Nation neue Bedeutungen zuzuschreiben, abkehrten. Mendelssohn distanzierte sich vom Projekt der Erneuerung des Hebräischen als Sprache der Gegenwart, indem er die Sprache, in der andere jüdische Aufklärer begannen, untereinander öffentlich zu kommunizieren, erneut mit der Schrift und ihrem Ursprung verknüpfte. Varianten Im ersten Teil von Or la-netiva erklärt Mendelssohn, dass die Tora als offenbarte Schrift bis in die Gegenwart hinein unverändert überliefert wurde. In diesem Zusammenhang steht ein kurzer Abriss der frühen Geschichte der hebräischen Sprache, der mit ihrem göttlichen Ursprung einsetzt:134 Die heilige Sprache, in der die 24 Bücher [der Schrift], die wir heute besitzen, geschrieben sind, ist die Sprache, in der der Name, gelobt sei er, zum
sprache. Die »aschkenasische Sprache«, die er wählte, ist eine Sprache im Übergang vom Jiddischen zum Deutschen. 133 Carola Hilfrich hat eine Lektüre Mendelssohns vorgeschlagen, die zeigt, dass die politischen und kulturellen Implikationen seiner Interpretation der Schrift sich im Kontext heutiger Reflexionen und Praktiken der »kulturellen Differenz« neu entfalten lassen – als »Entwurf einer alternativen Ordnung der Repräsentation« (Hilfrich: »Lebendige Schrift«, 125). 134 ñuwarh Õdal h`b i`wh rbd ub rwa ñuwlh auh ,Õuih unidib rwa Õirps d`k ubtkn ub rwa wduqh ñuwl idu ,uiaibn Õyu hwm Õy rbd ubu ,tuxlh ubtknu ,inis rh ly Õirbdh trwy yimwh ubu ,Õiwudqh tubalu xnl ñiql :wduqh ñuwl Õwb uturql ,tunuwlh lk lym rdhu hlymu ñurti hzb ul – JubA 14, 214; vgl. auch die
Übersetzung von Werner Weinberg in JubA 9.1, 9 f. Eine weniger wörtliche, dennoch sehr treffende Übersetzung, die allerdings zahlreiche Begriffe und Zitate auf Hebräisch beibehält, legte Heymann Jolowicz vor: Moses Mendelssohns’s allgemeine Einleitung in die fünf Bücher Moses (Cöslin 1847).
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ersten Menschen, zu Kain, Noah und den heiligen Vätern sprach; in ihr ließ er auf dem Berg Sinai die zehn Gebote hören, [in ihr] wurden die Tafeln geschrieben, und in ihr sprach er mit Moses und den Propheten, dadurch besitzt sie größeren Vorzug, höheren Rang und mehr Pracht als alle anderen Sprachen, so dass sie »heilige Sprache« genannt wird.
Für die Annahme, dass das Hebräische die Ursprache der Menschheit gewesen sei, zitiert Mendelssohn den Beweis des Midrasch, nach dem nur im Hebräischen das Wort für Frau aus dem Wort für Mann abgeleitet wird.135 Anders als in Qohelet musar wird allerdings die Behauptung, dass die Welt durch die heilige Sprache erschaffen sei, ins Zitat verwiesen,136 und Mendelssohn beeilt sich, dem Zitat eine Erläuterung hinzuzufügen: »das heißt: dies war die Sprache des Menschen seit Beginn der Schöpfung, es ist die Sprache, welche der Heilige, gelobt sei er, Adam und seine Frau lehrte, in ihr sprachen sie und ihre Söhne.«137 Mendelssohns Paraphrase des Zitats kann als Spur seiner Lektüre englischer, deutscher und französischer Erwägungen zum Sprachursprung gelesen werden. Da die Vorstellung, dass die Welt durch die hebräische Sprache erschaffen worden sei, der These vom »allmähligen Ursprung der Sprache« widerspricht, erscheint sie nur noch im Zitat, das anschließend durch den Kommentar relativiert wird. Die Bemerkung, dass Gott den Menschen die hebräische Sprache lehrte, die Mendelssohn als Erläuterung der Annahme, die Welt sei in dieser Sprache erschaffen worden, anbietet, nähert sich der »revelationalist-conventionalist theory« vom Sprachursprung, zugleich aber auch der These von der »Sagacität« des Menschen und dem Willen zur Sprache, der ihm »anerschaffen« sei.138 Dies bestätigt die Passage in Jerusalem, in der Mendelssohn seine früheren Entwürfe zu einer Geschichte der Sprache zusammenfasst. Über die Anfänge der gesprochenen Sprache und der Begriffsbildung heißt es:139 Die weise Vorsehung hat ihr [der Seele] ein Mittel sehr nahe gelegt, dessen sie sich zu allen Zeiten bedienen kann. Sie heftet das abgezogene Merkmal, entweder durch eine natürliche oder willkührliche Ideenverbindung an ein sinnliches Zeichen, das, so oft sein Eindruk erneuert wird, auch zugleich dieses Merkmal, rein und unvermischt, wieder hervorbringt und beleuchtet. So sind, wie bekannt, die aus natürlichen und willkührlichen Zeichen zu135
Ebd., 214 f.; vgl. auch JubA 9.1, 10. Vgl. oben, 40. Ebd. 137 [ . . .] uih ubu ,utwau Õdah ta h`bqh dml rwa ñuwlh auh ,hairbh tlxtm Õdah ñuwl hih Ók rmulk :Õhinbu Õh Õirbdm – JubA 14, 214; vgl. auch JubA 9.1, 10. 138 Vgl. oben, 224. 139 JubA 8, 171 f. 136
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sammengesetzen [!] Sprachen der Menschen entstanden, ohne welche sie sich nur wenig vom unvernünftigen Thiere hätten unterscheiden können [...]. So wie die ersten Schritte zur vernünftigen Erkenntnis gethan werden mußten, auf eben die Weise werden die Wissenschaften noch itzt erweitert und mit Erfindungen bereichert, und daher ist zuweilen die Erfindung eines Worts in den Wissenschaften von großer Wichtigkeit.
Mendelssohns Worte über die »weise Vorsehung«, die der Seele des Menschen die Erfindung der Zeichen »sehr nahe gelegt« hat, deuten die hebräische Rede vom Gespräch Gottes mit den Menschen als Metapher und übersetzen diese in die philosophische Rede vom »allmähligen Ursprung« der Sprachen. Die Differenz zwischen dem hebräischen und dem deutschen Text wäre dann nicht unbedingt als Widerspruch (stira), sondern eher als Varianz (hilluf) zu interpretieren, als Resultat von Ab˙ wandlungen, die durch Übersetzungen vom biblischen ins philosophische Idiom und umgekehrt entstehen und grundsätzlich miteinander in Einklang gebracht werden können.140 Doch nicht allen Aspekten der Rede über die hebräische Sprache, die in Or la-netiva auftauchen, wird in Jerusalem ihre Übersetzung zuteil. In der Hinwendung von der einen göttlichen zur Vielzahl der menschlichen Sprachen141 bleibt eine zentrale Konstellation aus Or la-netiva unberücksichtigt. In Or la-netiva beschreibt Mendelssohn das Hebräische in seiner Differenz zu allen anderen Sprachen als heilige Sprache. Die einzigartige Sprache Die Rückkehr zur Bestimmung des Hebräischen als heiliger Sprache erscheint in der oben zitierten Passage aus Or la-netiva verschränkt mit der Erörterung seines göttlichen Ursprungs. Weil die hebräische Sprache die Sprache Gottes, der Tora und der Propheten ist, darum kann sie als die vorzüglichste unter den Sprachen gelten und wird heilig genannt. Mendelssohn greift hier, an einer der seltenen Stellen, an denen in den Schriften der Berliner Maskilim die hebräische ausdrücklich als heilige Sprache definiert wird, auf Nachmanides zurück und nimmt zugleich Jehuda ha-Levis Unterscheidung zwischen Heilig und Profan als Differenzierung, die auf Distinktion beruht, auf.142 Aber noch weitere Texte stehen hinter Mendelssohns Erörterungen zur Heiligkeit der hebräischen Sprache: Michaelis’ Polemik gegen die jüdische Überlieferung der hebräischen Sprache und Herders Überlegungen zum Sprachursprung und zur hebräischen Poesie. 140
Zur chem für 141 Vgl. 142 Vgl.
Bedeutung des Unterschieds zwischen Verschiedenem und WidersprüchliMendelssohns Denken vgl. Hilfrich: »Lebendige Schrift«, 69–73. Hilfrich: Les e´crits de Mendelssohn sur le langage, 41–53. oben, 37 u. 55.
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Johann David Michaelis hatte schon seit der Mitte des 18. Jahrhunderts entschieden für eine Historisierung der hebräischen Sprache plädiert. Ihre Entwicklung sollte von der offenbarten Schrift abgelöst und als Teil der Geschichte des israelitischen Volkes beschrieben werden, das die Sprache zunächst mündlich kultivierte, ehe sie auch schriftlich aufgezeichnet wurde. Dies ermöglicht es Michaelis, seine historischen Untersuchungen der biblischen Sprache, Kultur und Rechtsprechung und ihrer Bedeutungen für die Gegenwart ohne Rücksicht auf jüdische Tradierungen der Schrift, ihrer Vokale und Akzente und ohne Interesse für jüdische philosophische und exegetische Strategien zu verfolgen.143 Von der »Göttlichkeit der Jüdischen Punkte« kann bei der Interpretation und Übersetzung des Hebräischen abgesehen werden,144 und die Vorstellung von der Übereinstimmung zwischen den Namen und der Natur der Dinge im Hebräischen wird als »Zusatz der Juden« sarkastisch kommentiert.145 An die Stelle früherer hebraistischer Aufmerksamkeit für jüdische Überlieferungen trat das Interesse an anderen Sprachen, die zur selben Sprachfamilie wie das Hebräische gezählt wurden, doch außerhalb jüdischer Zusammenhänge überliefert waren, insbesondere am Arabischen, einer zweifellos ganz und gar »lebendigen« Sprache.146 Mendelssohn antwortete auf Michaelis’ Überlegungen, indem er noch einmal auf Jehuda ha-Levi zurückgriff, doch in anderer Weise als zuvor. Während er in Qohelet musar oder dem Kommentar zu Maimonides’ Millot ha-higgajon147 die These des Kuzari über die hebräischen Namen, die der Natur der Dinge entsprechen, zitiert hatte, gibt er nun – nach Michaelis’ Polemik, die sich implizit auch gegen den Kuzari wandte – dieses Argument für die Vorzüglichkeit des Hebräischen auf. Es war womöglich zu offensichtlich, dass es keine Überzeugungskraft mehr besaß. Stattdessen betont Mendelssohn eine andere Qualität der hebräischen Sprache, eine Eigenschaft, die ebenfalls bereits im Kuzari erörtert wurde: Die hebräische Sprache bewahrt auch in der Schrift noch Spuren der Mündlichkeit. Damit argumentiert Mendelssohn gegen Michaelis, indem er zugleich eine seiner wichtigsten Voraussetzungen akzeptiert: Der mündlichen Dimension der Sprache kommt für ihre Entwicklung 143 Zu den weiteren und aufschlussreichen Kontexten dieser Bewegung vgl. Sheehan: The Enlightenment Bible, 213–217. 144 Michaelis: Deutsche Übersetzung des Alten Testaments, 1. Teil, XVIII; s. auch Breuer: The Limits of Enlightenment, 96–101. 145 Michaelis: Beurtheilung der Mittel, 89 f. 146 »Doch was uns die fast ausgegangene hebräische Sprache nur unvollkommen zeiget, können wir öfters aus den mit ihr verwanten, der Chaldäischen, Syrischen, Aethiopischen, und sonderlich der Arabischen Sprache mit mehrerer Gewißheit erlernen.« Michaelis: Hebräische Grammatik, Anhang, 7. 147 Vgl. JubA 14, 33; dt. JubA 20.1, 47.
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und ihr Verständnis entscheidende Bedeutung zu. Anders als Michaelis hält Mendelssohn es aber durchaus für möglich, dass die mündliche und schriftliche Kultivierung der Sprache einander nicht grundsätzlich entgegenstehen. Die Schrift verhält sich zur mündlichen Rede nicht als ihr äußerliches und zufälliges Supplement, sondern reflektiert und tradiert sie zuverlässig. Im Hebräischen, so Mendelssohn, schließen die grammatischen Regeln einige Regeln des mündlichen Vortrags mit ein. Die Akzente überliefern die Gliederung der Sätze durch Stimme und Atem, ihre Bedeutung durch Melodie und Zäsur. Diese erweiterte Grammatik des Hebräischen entspricht, so Mendelssohn, in einzigartiger Weise der Logik des Denkens. In Or la-netiva heißt es über die Akzente: ñuwl dxitn ñhb unl tuydunh tunuwlh rtim wduqh – »durch sie unterscheidet sich die heilige Sprache von allen anderen uns bekannten Sprachen«. Und Mendelssohn fährt fort:148 Bei diesen [den anderen Sprachen] achtet man nicht so genau auf die tiefgründige Grammatik, [darauf nämlich], dass die Verbindung und Unterscheidung der Worte so auf die Verbindung und Unterscheidung der Gedanken bezogen werden, dass die Wege der Sprache in dieser Hinsicht mit den Wegen der Seele und ihren Gedanken übereinstimmen und die äußere Rede so angeordnet ist, dass sie der inneren Rede mit großer Vollkommenheit entspricht.
Mendelssohn bezieht sich hier auf eine Passage des Kuzari, in der das Hebräische als vorzügliche Sprache beschrieben wird, weil es mit Hilfe der Akzente Elemente des mündlichen Gesprächs aufzeichnet und in der Poesie den Reim zugunsten einer sinnvoll gegliederten Rede aufgibt.149 Mit dieser These antwortet er nicht nur auf Michaelis’ Herausforderung, sondern auch auf Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772). In seiner Rezension der Abhandlung für die Allgemeine deutsche Bibliothek aus dem Jahr 1773 hatte Mendelssohn Herders Entwurf in vielem zugestimmt, doch an einer Stelle Einspruch erhoben. Herder nahm an, dass die Bezeichnungen der Dinge durch Laute aus dem Ineinanderfließen verschiedener sinnlicher Empfindungen in der Seele des Menschen entstanden, wobei sich die Laute mit den Merkmalen bestimmter Gegenstände verbanden, auch wenn es für solche Verbindungen keinerlei äußere Ursache gab. Mendelssohn bemerkt dagegen, Her-
148
dy ,ñldbhu Õinuiyrh rubx Õy sxuim ñdrphu tubith rubx tuihl qumy qudqdb Ók lk qdqdm Õhb ñia iminph rubdh Õy sxuimu Óryn inucxh rubdhu ,hituntwyu wpnh ikrd Õy hz dcm Õimiksm ñuwlh ikrd uihiw .[. . . ] br tumilwb – JubA 14, 217; vgl. auch JubA 9.1, 15. 149
Vgl. Jehuda ha-Levi: Kuzari, II, 69–74, ed. Cassel, 169–175.
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der hätte wohl bei näherer Untersuchung erkannt, »daß dieser Zusammenhang der Sinne, dies durchkreutzen derselben in jedem besondern Fall jedesmal von aussen veranlaßt, und durch frühe, auf mancherley Weise geknüpfte, oft ganz unbemerkte Associationen nicht tönender Gegenstände mit tönenden und Tönen gewirkt werde.«150 Das »Durchkreutzen«, von dem Mendelssohn hier spricht, taucht bei Herder aber erst einige Seiten später auf – dort, wo er mit fünf Sätzen die ältesten Sprachen der Menschheit charakterisiert. Der zweite Satz lautet: »Je älter und ursprünglicher die Sprachen sind, desto mehr durchkreuzen sich auch die Gefühle in den Wurzeln der Wörter!« Zur Erläuterung heißt es:151 [...] wie alles Gefühl und Laut werden muste, um Ausdruck zu werden! Daher die starken kühnen Metaphern in den Wurzeln der Worte! daher die Übertragungen aus Gefühl in Gefühl, so daß die Bedeutungen eines Stammworts, und noch mehr seiner Abstammungen gegen Einander gesetzt, das buntschäckichste Gemälde werden. [...] Die so genannte Göttliche Sprache, die Ebräische, ist von diesen Kühnheiten ganz geprägt, so daß der Orient auch die Ehre hat, sie mit seinem Namen zu bezeichnen; allein daß man doch ja nicht diesen Metapherngeist Asiatisch nenne, als wenn er sonst nirgend anzutreffen wäre! In allen wilden Sprachen lebt er [ ...]. Eine feurige Nation offenbart ihren Muth in solchen Metaphern, sie mag in Orient, oder Nordamerika wohnen; die aber in ihrem tiefsten Grunde die meisten solcher Verpflanzungen zeigt, deren Sprache ist voraus die ärmste, die älteste, die ursprünglichste gewesen, und die war ohne Zweifel in Orient.
Während Mendelssohn sich in seiner Rezension durch eine Verschiebung zwischen den Argumenten nur indirekt von der Behauptung distanziert, die hebräische als »orientalische« Sprache gehorche vornehmlich der Ökonomie des Gefühls, schreibt er in Or la-netiva einen Gegentext. Die »tiefgründige Grammatik« des Hebräischen erweist dieses als Sprache des Denkens und des Gefühls zugleich, als Sprache, die nicht nur in ihrer Prosa, sondern selbst in ihrer Poesie der Erkenntnis dient und sie auf besonders einprägsame Weise vermittelt. Grammatik, Logik und Poesie sind im Hebräischen durch die Akzente aufs Engste miteinander verknüpft.152
150
JubA 5.2, 181. Herder: Sämtliche Werke, Bd. 5, 71 f. 152 Vgl. dazu ausführlicher unten, 251. Edward R. Levenson liest darum Mendelssohns Biur als Versuch, durch grammatische Analysen die genauen logischen Verbindungen innerhalb eines Textes und dessen einheitliche logische Struktur aufzuzeigen, und zwar unabhängig davon, ob es sich um prosaische oder poetische Passagen handelt (Levenson: Moses Mendelssohn’s Understanding of Logico-Grammatical and Literary Construction in the Pentateuch.) 151
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In der Zerstreuung: Sprache und Nation
Ihr Zusammenhang in der hebräischen Sprache ist zugleich Ausdruck der Einzigartigkeit der Sprache als heiliger Sprache und Sprache göttlichen Ursprungs. Mendelssohns Text antwortet damit nicht nur auf Herders frühere Schrift, sondern auch auf dessen im Frühjahr 1782 publiziertes Werk Vom Geist der Ebräischen Poesie. Darin revidierte Herder seine früheren Behauptungen. Er stellt nun eine genaue Beziehung zwischen der Ordnung der hebräischen Poesie, ihrem Parallelismus, und der Schöpfungsordnung, wie sie die monotheistische Religion begreift, her: »Car l’ide´e de l’unite´ de Dieu a toujours prote´ge´ la poe´sie he´braı¨que.«153 Herder schreibt:154 [...] im ersten Schöpfungsbilde ist der Begriff der Einheit Gottes, des Schöpfers unverkennbar. Dies, dünkt mich, hat der Poesie dieser Morgenländer eine Erhabenheit und Wahrheit, eine Einfalt und Weisheit gegeben, die glücklicher Weise die Leiterin der Welt ward. Es ist unsäglich, was für Schätze der Erkenntnis und Moralität des Menschengeschlechts am Begriff der Einheit Gottes zu hangen bestimmt waren.
Die Einzigartigkeit der hebräischen Poesie, die Herder hier rühmt, verlegt Mendelssohn aus der Welt des Monotheismus, die Herder auch als christliche reklamieren kann, in die Welt der besonderen jüdischen Überlieferung, indem er sie an die Akzente bindet. Die Spuren der Stimme in der Schrift sind zunächst die Spuren der göttlichen Stimme. Moses empfing die Tora am Sinai mit Vokalen und Akzenten und übergab sie Josua als mündliche Lehre, der sie seinerseits den kommenden Generationen übermittelte:155 Daher kann kein Zweifel bestehen, dass Moses, unser Lehrer, Friede auf ihm, alle Worte der Tora aus dem Munde der Allmacht vernommen hat, mit all der Pracht und Richtigkeit der Vokale und den dazu gehörigen Akzenten, mit allen Einzelheiten und Verbindungen, ohne dass etwas daran fehlt. Und so überlieferte er sie dem Josua, und Josua den Ältesten, und so pflanzte die Kette der Überlieferung sich von Geschlecht zu Geschlecht fort.
Mendelssohns Text lässt sich als Resakralisierung der Rede über die hebräische Sprache lesen. Er ist Teil einer Konstellation, in der die »tiefgründige Grammatik« der hebräischen Schrift, die sich nie ganz erschließen, nur immer wieder exegetisch neu erforschen lässt, für die jüdische Überlieferung zentrale Bedeutung gewinnt. 153 154
Olender: Les langues du Paradis, 54. Herder: Sämtliche Werke, Bd. 11, 255.
155 Õimyjhu tuduqnh ñuqtu rdh lk Õy hrubgh ipm hruth irbd lk ta ymw h`yrmw qps ñia htym hlbqh hlwltwn ñku Õinqzl ywuhiu ywuhil Õrsm ñku ,rbd Õhm rdyn al ñhipurcu ñhiqudqdb ,ñhl Õisxuimh :rud rxa rud aihh – JubA 14, 218 ; vgl. auch JubA 9.1, 16.
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Die Zeichen der Stimme Mendelssohn stimmte mit den nichtjüdischen Aufklärern darin überein, dass die für das Wohl der Menschen unabdingbaren Wahrheiten nicht durch Schriften, sondern durch die Natur offenbart und durch vernünftige Einsicht zugänglich werden, und er teilte ihre Auffassung, dass diese Offenbarung vor allem die Grundsätze des Handelns betrifft. Von diesen Grundsätzen heißt es bei Rousseau: »je les trouve au fond de mon cœur e´crites par la nature en caracte´res ine´fac¸ables.«156 Das aufklärerische Motiv von den natürlichen Gesetzen, die dem Herzen eingeschrieben sind, hat biblische Ursprünge157 und fand sich bereits bei Spinoza.158 In Mendelssohns Schriften aber blieb es, wo von der »natürlichen Religion« die Rede war, irrelevant, denn es war reserviert für einen Aspekt der jüdischen Religion, der nicht aufgeht in der allgemeinen »Menschenreligion«159 – für die Bewahrung und Überlieferung des »Zeremonialgesetzes«, der Halacha. In seiner Kritik der Schrift und der Schriftkulturen verlieh Mendelssohn der aufklärerischen Wendung gegen die Schrift als Ort des Dogmatischen eine neue Begründung. Er verwies auf den historischen Zusammenhang zwischen Schrift und Bild, durch den die Schrift von Anfang an in die Nähe des Götzendienstes und der Abgötterei rückte. Die mündliche Lehre wird als Nachvollzug des biblischen Bilderverbots gedeutet:160 Bilder und Bilderschrift führen zu Aberglauben und Götzendienst, und unsere alphabetische Schreiberey macht den Menschen zu spekulativ. Sie legt die symbolische Erkenntniß der Dinge und ihrer Verhältnisse gar zu offen auf der Oberfläche aus, überhebt uns der Mühe des Eindringens und Forschens, und macht zwischen Lehr und Leben eine gar zu weite Trennung. Diesen Mängeln abzuhelfen, gab der Gesetzgeber dieser Nation das Zeremonialgesetz. Mit dem alltäglichen Thun und Lassen der Menschen sollten religiöse und sittliche Erkenntnisse verbunden seyn. [...] Die zur Glückseligkeit der Nation sowohl als der einzelnen Glieder derselben nützliche Wahrheiten sollten von allem Bildlichen äußerst entfernt seyn; denn dieses war Hauptzweck, und Grundgesetz der Verfassung. An Handlungen
156
In der »Profession de foi d’un Vicaire Savoyard«, Rousseau, Œuvres comple`tes, Bd. 4, 594. 157 Siehe unten, 252. 158 Spinoza: Tractatus theologico-politicus / Theologisch-politischer Traktat, 392 /393 (ed. pr., 144), s. o., 188. 159 JubA 8, 164. 160 Ebd., 184. Vgl. dazu die Lektüre Hilfrichs, die Mendelssohns Kritik der Idolatrie als Teil eines dichten Netzes kulturtheoretischer, religiöser und politischer Linien der Reflexion liest (Hilfrich: »Lebendige Schrift«, Kap. 4 und 5).
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und Verrichtungen sollten sie gebunden seyn, und diese ihnen statt der Zeichen dienen, ohne welche sie sich nicht erhalten lassen. Die Handlungen der Menschen sind vorübergehend, haben nichts Bleibendes, nichts Fortdauerndes, das, so wie die Bilderschrift, durch Mißbrauch oder Mißverstand zur Abgötterey führen kann.
Mendelssohn greift hier Argumente, Urteile und Redeweisen auf, die christlichen Theologen und Aufklärern immer wieder dazu dienten, nicht nur bestimmte Erscheinungen des Christentums, sondern auch das jüdische Festhalten an der Halacha und ihrer Entfaltung zu kritisieren, und er wendet ihre religionskritische Sprache so, dass sie nun umgekehrt dazu taugt, die Vorzüge der jüdischen Religion herauszuheben und neu zu beschreiben.161 Das Judentum wird zu einer Religion der Stimme erklärt – und zwar gerade im Hinblick auf ihre Gesetze. Die Mündlichkeit der Überlieferung verwandelt diese in eine bewegliche und lebendige, Lehre und Handeln verbindende, dem Inneren des Menschen sich einprägende Ordnung: Die ungeschriebenen Gesetze aber, die mündliche Ueberlieferung, der lebendige Unterricht von Mensch zu Mensch, von Mund ins Herz, sollte erklären, erweitern, einschränken, und näher bestimmen, was in dem geschriebenen Gesetze, aus weisen Absichten, und mit weiser Mäßigung unbestimmt geblieben ist. In allem, was der Jüngling thun sahe, in allen öffentlichen sowohl als Privatverhandlungen, an allen Thoren und an allen Thürpfosten, wohin er die Augen, oder die Ohren wendete, fand er Veranlassung zum Forschen und Nachdenken, Veranlassung einem ältern und weisern Manne auf allen seinen Tritten zu folgen, seine kleinsten Handlungen und Verrichtungen mit kindlicher Sorgfalt zu beobachten, mit kindlicher Gelehrigkeit nachzuahmen, nach dem Geiste und der Absicht dieser Verrichtungen zu forschen, und den Unterricht einzuholen, dessen sein Meister ihn fähig und empfänglich hielt. So war Lehre und Leben, Weisheit und Thätigkeit, Spekulation und Umgang auf das Innigste verbunden [ ...].
Dieser Zustand lebendiger mündlicher Tradition gehört allerdings der Vergangenheit an. Mendelssohn beschließt seine Ausführungen, indem er deutlich macht, dass er rückblickend gesprochen hat: »aber, unerforschlich sind die Wege Gottes! auch hier ging es, nach einer kurzen Periode, den Weg des Verderbnisses. Nicht lange, so war auch dieser glänzende Zirkel durchlaufen, und die Sachen kamen wieder nicht weit von der Tiefe zurück, von welcher sie ausgegangen waren, wie leider! seit vielen Jahrhunderten am Tage liegt.«162 161
Eine eingehende Lektüre der vielfältigen Bezüge zur zeitgenössischen Philosophie und Kulturtheorie, in denen Mendelssohn seinen Begriff des »Zeremonialgesetzes« entwickelt, bietet Krochmalnik: Das Zeremoniell als Zeichensprache. 162 Ebd., 185.
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Mendelssohn hat die Folgen der Aufzeichnung der mündlichen Tora und der Verschriftlichung des Überlieferungsprozesses in Jerusalem nicht reflektiert. Es bleibt unklar, wo nach der Hinwendung zur Schrift noch Mündlichkeit und Stimme in der Überlieferung zu verorten sind. Doch in Or la-netiva und im Biur finden sich Passagen, die sich als Antwort auf diese Frage lesen lassen – jene Stellen, an denen Mendelssohn über die Akzente und die biblische Poesie spricht.163 In Or la-netiva beschreibt Mendelssohn die Überlieferung der schriftlichen Tora als einen mündlichen Prozess:164 Sie gaben die heiligen Schriften nicht ihren Söhnen oder Schülern und ließen sie das Geschriebene allein lesen, denn sie wären für sie wie ein versiegeltes Buch gewesen, sondern sie lasen ihnen vor, wiederholten mit ihnen, laut und mit Melodie und Gesang. So überlieferten sie ihnen die Akzente der Tora und versüßten ihnen den Honig ihrer Aussprüche, bis die Worte in ihr Herz eingingen und dort wie Sporne und Nägel eingepflanzt [Pred 12,11] waren.
Während Mendelssohn in Jerusalem im Hinblick auf die mündliche Tora vom Verstummen der Stimmen und dem Abbruch des Prozesses der mündlichen Überlieferung sprach, ist hier nun ausgerechnet im Hinblick auf die schriftliche Tora von einer Mündlichkeit die Rede, die, obgleich auch sie nicht mehr praktiziert wird, die Verschriftlichung überdauert. Durch die Akzente wird die Erinnerung an die Stimme wach gehalten. Diese Erinnerung aber interpretiert Mendelssohn als Wissen von der Differentialität der Zeichen, deren Bedeutung sich nie völlig erfassen, sondern nur prozesshaft entfalten lässt – in der Auslegung der »tiefgründigen Grammatik« der heiligen Sprache. Es ist das Besondere der hebräischen Sprache, dass sie eine Schrift besitzt, in der die Stimme ihre Spuren hinterlässt. Die Wirkung dieser Zeichen aber entfaltet sich in besonderer Weise, so Mendelssohn, in der biblischen Poesie. Im Biur zu Schirat ha-jam, dem »Siegeslied am Schilfmeer« (Ex 15), schreibt Mendelssohn, dass die biblische Dichtung auf 163 Raphael Jospe hat die Abwesenheit einer Reflexion über das Ende des mündlichen Prozesses in Jerusalem genau bezeichnet, interpretiert Or la-netiva aber, ohne im Hinblick auf diese Frage eine Beziehung zu Jerusalem herzustellen: Mendelssohn »fails to apply his own theory of the superiority of oral communication to Judaism as it has, by his own acknowledgement, existed for most, if not all, of the centuries of its encounter with Christianity.« (Jospe: The Superiority of Oral over Written Communication, 151.) 164 ,Õhl iuarh ajbmh ñuqt lk Õy Õirmamh ta unmm ymw ,brh ipm ymuwh dimlth ua uiba ipm dmulh ñbh Õirbdh uihiw Óinbl Õtnnwu hucmh ñk ik ,uidimltlu uinbl Õnnw ñku ,ubrm ua uibam auh Õg lbq rwa ipk Õhl uih ik ,dbl btkh Óutm Õhb turql Õubzyu Õhidimltl ua Õhinbl wduqh ibtk ta untn al .uipb Õidduxm Ók idi ly Õhl ñirsum uihu ,hrmzu hmiynb ,Õirbd luqb ,Õhmy unwu ,Õhinpl uarq ala ,Õutxh rpsh irbdk :Õiyujn turmsmu tunubrdk Õw uihu Õblb Õirbdh usnknw dy ,hirma wbd Õhl uqitmhu ,hruth imyj – JubA
14, 218; vgl. auch JubA 9.1, 16 f.
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die Regeln des Reims und des Metrums, denen die antike Dichtung folgt, und die nur ästhetische Funktion haben, verzichtet, und stattdessen eigenen Regeln folgt, die der Einsichtigkeit und Eindringlichkeit des Vorgetragenen dienen und auf eine moralische Wirkung zielen. Von den biblischen Dichtern heißt es:165 [S]ie wählten einen wichtigeren Vorzug, nämlich eine Ordnung der Gegenstände und Reden, die dem Zweck, den sie erreichen wollen, angemessen und auf ihn ausgerichtet ist, damit die Worte nicht nur ins Ohr des Hörenden dringen, sondern in sein Herz, auf dessen Tafeln sie eingegraben bleiben sollen, um Freude und Traurigkeit, Furcht und Gewissheit, Angst und Hoffen, Liebe und Hass hervorzubringen, wie es der Intention entspricht, und um in ihm die wichtigen Tugenden und vorzüglichen Eigenschaften zu befestigen wie Sporne und Nägel, die eingegraben sind – ein Haken, der nicht nachgibt.
Mendelssohn verwendet die Metapher der Herzensschrift und führt sie auf die biblischen Quellen zurück, aus denen auch die anderen Aufklärer geschöpft haben dürften. Wenn Mendelssohn von den Worten spricht, die in die Tafeln des Herzens eingegraben sind, so spielt er auf das Buch der Sprüche an, wo es von den Lehren und Geboten des Weisen heißt: »Schreibe sie auf die Tafel deines Herzens« (Kap. 7,3), und auf Jeremia, wo ebenfalls von den Tafeln des Herzens die Rede ist (Kap. 17,1). Zugleich erklärt er die Metapher in konkreten psychologischen Begriffen. Indem die Verse in kleine Einheiten aus zwei, drei oder vier Worten aufgeteilt werden, entstehen Pausen in der Rede, die der Aufmerksamkeit und der Erinnerung an das Gesagte dienen:166 [D]a die Abschnitte kurz sind, entstehen zahlreiche Zäsuren und Pausen, und diese häufigen Pausen sind sehr geeignet, die Aufmerksamkeit zu wecken und sie im Herzen zu stärken [ ...]; außerdem dienen sie dem Gedächtnis, denn es ist leicht, einen kurzen Abschnitt, dessen Aussage und Bedeutung ins Herz dringt, auswendig zu lernen, so dass er sich einem einprägt und geläufig bleibt für immer [...].
Die biblische Poesie wirkt aber nicht nur, weil sie sich durch ihre besondere Form dem Gedächtnis leicht einprägt. Dies ist nur ein konkreter Aspekt ihrer weit reichenden und auch das Handeln bestimmenden ästhetischen Wirkung. 165 idk ,ub ucri rwa tilkth la ñuukmu han ñpua ly 'irmamhu 'iniinyh rds aihu ,tdbkn rtui hlymb urxbu ua Órum ,bcy ua hxmw ub diluhl ,uituxul ly 'iturx urawiu ,ublb a`k ,dbl ymuwh ñzuab al Õirbdh usnkiw tulymh tunukthu tudbknh tudmh ukutb yubqlu ,hnuukh la tuanh ipk ,hanw ua hbha ,huqt ua dxp ,ñuxjb :jumt alw dti Õiyujn turmsmu tunubrdk – JubA 16, 126. 166 [...] 'ñuukh rruyl br tlyut wi tuxunmh iubrbu ,hxunmh tumuqmu tuqsphh ubrti Õircq 'irmamh tuihb ñunw tuihlu hp ly urmwl lq blb snknh ñbumu ñiny ub 'ihi Õa rcqh rmamh ik ñurkzl liyui ñku [. . . ] blb hqzxlu :[. . . ] Õimih lk ub ligru – Ebd.
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Mendelssohn hat dem Zusammenhang zwischen Ästhetik und Ethik bereits in seinen Jugendschriften einige Reflexionen gewidmet. So heißt es in den Hauptgrundsätzen der schönen Künste und Wissenschaften (1757): »Die Schönheit ist die eigenmächtige Beherrscherinn aller unserer Empfindungen, der Grund von allen unsern natürlichen Trieben, und der beseelende Geist, der die spekulative Erkenntniß der Wahrheit in Empfindungen verwandelt, und zu thätiger Entschließung anfeuert.«167 In seiner Einleitung zur Lowth-Rezension hatte Mendelssohn bereits darauf hingewiesen, dass die unmittelbare Wirkung des Schönen in der hebräischen Poesie besonders deutlich hervortritt: »selten bekümmert man sich um die Regeln der Kunst, nach welchen jene göttliche[n] Dichter, unter den alten Hebräern, die erhabensten Empfindungen in uns rege machen, und unmittelbar den Weg nach unserm Herzen zu treffen wissen.«168 Mendelssohn greift diese Überlegungen im Biur auf und benutzt sie, um die Überlegenheit der biblischen Poesie gegenüber der profanen Dichtung in anderen Sprachen zu begründen:169 [S]o hoch der Himmel über der Erde ist, so hoch stehen die Wege der heiligen Dichtungen [schire qodesch] über [denen] der profanen Dichtung. Nicht nur hinsichtlich des Rangs des Dichters, der hier wirkt, und hinsichtlich der kostbaren und bedeutenden Wendungen, die das Material der Dichtung ausmachen, oder hinsichtlich des Zwecks, nämlich durch die hohen und erhabenen Gegenstände den geraden Weg zur ewigen Glückseligkeit und zum wahren Gelingen zu weisen [...], sondern auch hinsichtlich der Form, das heißt der Anordnung, Zusammenstellung und Reihenfolge der Aussprüche, besitzen die heiligen Dichtungen, was Majestät und Schönheit betrifft, große Vorzüge und gewaltige Überlegenheit gegenüber allen Dichtungen, die sie [die Nichtjuden] so sehr loben.
Indem Mendelssohn die Wirkungen, die er zunächst mit den Akzenten im Allgemeinen in Verbindung gebracht hatte, auf das besondere Feld der biblischen Poesie und ihrer ästhetischen Prinzipien übertrug, unternahm er eine Verschiebung, die sich als folgenreich erwies. Wenn die Möglichkeit, die Überlieferung für die Gegenwart wirksam zu machen, mit den Akzenten als Spuren der mündlichen Überlieferung in der Schrift verknüpft wird, so bieten sich zwei Weisen an, diese Möglichkeit zu verwirklichen: die Rezitation im öffentlichen Vortrag 167 168 169
JubA 2, 428. JubA 4, 20.
,lyuph auhw rruwmh tlym tnixbb dbl al ,lux iriwm wdq iriw ikrd uhbg ñk Ñrah lym Õimw hubgk hxlchhu ixcnh rwuah la hrwihh aihw utilkt tnixbb ñku ,riwh rmux Õhw tudbknhu turqih tucilmhu ,Õrudsu Õrubx Õirmamh tkrym aihw hruch tnixbb Õg Õa ik ,[. . . ] Õibgwnhu Õimrh Õiniinyh idi ly titmah :[. . . ] Ók lk Õhl 'ixbuwmh 'iriwh lk ly ipuiu duhb hmucy hlymu br ñurti wdqh iriwl wi – JubA 16, 134.
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und die Deutung der Akzente, wie sie Mendelssohn im Biur unternimmt. Sind es diese Modi der Wiederholung, Rezitation und Exegese, die als Annäherung an die hebräische Sprache privilegiert werden, erhält das Hebräische zwar Bedeutung nur als Sprache der Schrift – doch als solche größte Bedeutung. Seine Relevanz ist wohl abhängig von seiner Bindung an die Schrift und ihren göttlichen Ursprung. Doch in Or la-netiva und im Biur wird die Umkehrung hinzugefügt. Die Bedeutung der jüdischen Überlieferung ist im Zeitalter der Aufklärung, der Kritik an dogmatischen Ordnungen und institutionalisierten Autoritäten, die der Prüfung des Verstandes nicht standhalten, abhängig von einigen besonderen Eigenschaften der hebräischen Sprache: von den Zeichen der Mündlichkeit in der Schrift, die Logik, Ästhetik und Ethik zusammenführen und das Hebräische zur vorzüglichen, zur heiligen Sprache machen. Hüterin der Differenz Das Studium der Eigenheiten der hebräischen Sprache, wie sie sich in den Zeichen der Schrift zeigen, wurde zu einem Prozess der Selbstverständigung über die religiöse Differenz, die es im Zeitalter der Emanzipation, ihrer politischen und kulturellen Perspektiven und Forderungen, neu zu bestimmen und zu bewahren galt. An diesem Prozess der Selbstverständigung, den Mendelssohn initiierte, nahmen schließlich viele der bedeutendsten jüdischen Aufklärer nicht nur seiner, sondern auch der nächsten Generation teil. Naphtali Herz Wessely, Isaak Euchel (1756–1804), Joel Bril (1760–1802), Aron Wolfsohn-Halle (1756–1835), Herz Homberg (1749–1841) und andere verfassten Übersetzungen und Kommentare zu sämtlichen Büchern der Schrift, so dass schließlich nicht nur der Pentateuch, sondern auch Propheten und Hagiographen in der von Mendelssohn entworfenen Form vorlagen. Und auch in der Zeitschrift Ha-Me assef wurden schwierige Passagen der Schrift untersucht, kommentiert, übersetzt und zugleich Fragen der Differenz und ihrer Repräsentation verhandelt.170 170 Gestützt auf umfangreiches Material argumentiert Shmuel Feiner, dass die Berliner Maskilim der zweiten Generation zwar das Bild Mendelssohns als Autorität am Beginn ihrer eigenen Bemühungen kultivierten, sich jedoch in religiösen und politischen Fragen weit von ihm entfernten und überdies von der Theorie zur Praxis der Reform übergingen (Feiner: Mendelssohn and »Mendelssohn’s Disciples«). Diese scharfe Unterscheidung zwischen dem moderaten Mendelssohn und seinen radikaleren Nachfolgern hat bereits Steven Lowenstein in Frage gestellt, indem er auf die sich verändernden politischen Bedingungen nach 1786 hinwies, die neue Konzepte innerjüdischer Reform nahelegten, und indem er Kontinuitäten benannte, etwa im Projekt des Biur (Lowenstein: The Berlin Jewish Community, 96 ff., und ders.: Jüdische Religion zwischen Tradition
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In seinen Reflexionen zur Übersetzung und Exegese des Pentateuch hebt Mendelssohn die Spannung zwischen einer wiederholenden und einer an der Grammatik orientierten Lektüre der Tora, wie sie sich in den Texten der »Prager Schule« abzeichnete, auf. Es ist gerade die »tiefgründige Grammatik« des Hebräischen, die die Bewegung des Übersetzens und Kommentierens als Wiederholung in Gang setzt, und zugleich führt die Bewegung vom Original zur Übersetzung immer wieder zum Hebräischen zurück. Über die aramäische Übersetzung, die Esra für die »Menge« der Israeliten anfertigen ließ, schreibt Mendelssohn: »Sie sollten, so war es seine Absicht, durch die Übersetzung die Schrift verstehen, Wissen erwerben über die Wege der Sprache, die unter ihnen in Vergessenheit geraten war, und sie wieder erlernen. Denn auf diese Weise lernt der Mensch, eine andere Sprache, die ihm nicht geläufig ist, zu verstehen.«171 Dieselbe Figur wiederholt sich in Mendelssohns Reflexionen über das Übersetzen und Kommentieren: Die Übersetzung ins Deutsche wird zum Ausgangspunkt einer Bewegung, an deren Ende dem Hebräischen seine ausgezeichneten Eigenschaften und seine differenzierende Kraft wieder zugedacht werden, indem es erneut als heilige Sprache beschrieben wird. Jehuda Neumarks Rede vom Hebräischen als »Hüterin der Differenz« wird fast ein Jahrhundert später philosophisch und exegetisch neu entfaltet und bestätigt.
Die »tote Sprache« der Grammatiker Was aber begründete Mendelssohn Abkehr vom Projekt des Qohelet musar und dem Hebräischen als geschriebener Sprache der jüdischen Nation in der Gegenwart? Mendelssohn restituiert und entfaltet das Bild selbstbewusster Zweisprachigkeit, das Jehuda ha-Levi entwarf. Doch zugleich rekurriert er auf die »babylonische Geschichte« des Mai-
und Transformation, 125 f.). Im Folgenden wird zwar im Hinblick auf die Haltung zum Hebräischen ebenfalls ein deutlicher Unterschied zwischen Mendelssohn und den Me assefim sichtbar. Doch zugleich bestätigt sich, was Lowenstein skizzierte: Es gibt Kontinuitäten des Interesses, und hinzufügen lässt sich, dass diese sich nicht nur im Praktischen, etwa der Fortsetzung des Biur-Projekts zeigen, sondern auch in der Art und Weise, wie Fragen der Exegese und der Differenz verschränkt miteinander Bedeutung gewinnen. Neben der Mitarbeit einiger Me assefim am Biur zeugt davon auch die Übertragung großer Teile des Jerusalem ins Hebräische, die Euchel in seine Mendelssohn-Biographie aufnahm: Toldot Rabbenu Mosche ben Menahem, Ha-Me assef 4 ˙ (1787 /88), 337–368 und Ha-Me assef 5 (1788 /89), 33–64. 171
Órdh ly ik .udmll urzxiu ,Õlca xukwh ñuwlh ikrdb ulikwiu ,arqmb unibi Õugrth i`yw utnuuk htihu :hily lgruh al rwa ,trxa hpw ñibhl Õdah dumli hzh – JubA 14, 233. Zu Übersetzungen als
beliebtes Mittel zum Erlernen von Fremdsprachen im 18. Jahrhundert vgl. etwa Fabian: Englisch als neue Fremdsprache des 18. Jahrhunderts, 189.
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monides. Zum einen bezieht er sich direkt auf sie, indem er sie unverändert zitiert.172 Zum anderen bietet er eine Geschichte der Akzente, die Asarja de’ Rossis Überlegungen paraphrasiert, aber in einigen Einschüben, die den Verlust der Sprache im Exil thematisieren, auf Maimonides verweist. Mendelssohn beginnt noch einmal, indem er das Bild einer ursprünglichen Einheit zwischen Sprache und Sprechenden entwirft:173 Solange Israel sich der reinen hebräischen Sprache ständig bediente – auch die Menge und auch, wo es um profane Dinge ging –, kannte und verstand jeder die Punkte und Akzente der Tora und begriff mühelos, was sie anzeigten, dem einfachen Wortsinn nach, denn sie waren alltäglich mit diesen Dingen befasst. Wer ein- oder zweimal zugehört hatte, wie sein Vater oder Meister die Tora las, der beobachtete die Zäsuren und die Stimmführung, ohne dass es notwendig war, genau darauf zu achten und zu studieren, wie sie aufgeschrieben sind, mit theoretischer Sorgfalt, Genauigkeit [diqduq, auch »Grammatik«] und großer Mühe, wie es der nötig hat, der unerfahren ist und an diese Dinge nicht von Mutterleibe an und durch die Lehrstube gewöhnt ist. Es ist möglich, dass zu jener Zeit die Einzelnen in ihren Büchern, in die sie schrieben, nicht alle Punkte und Akzente für jeden Buchstaben aufzeichneten, wie wir es heute tun, sondern nur dort, wo es notwendig war, und sie manchmal wegließen. Denn durch Gewohnheit fiel es ihnen leicht, auch ohne jene Zeichen zu lesen und die Sache zu verstehen.
Das glückliche Bild erweist sich als Schatten, als Projektion einer Gegenwart, in der die hebräische Sprache den Sprechenden fremd geworden ist. Stärkster Ausdruck der Entfremdung ist die Notwendigkeit, sich der Grammatik der Sprache bewusst zu werden, genau auf sie zu achten, sich der Mühe zu unterziehen, grammatisches Wissen zu erwerben. Entstanden ist die Entfremdung, als die Sprecher ihre Sprache im Exil nicht bewahrten und von der Lektüre der Tora abließen. Wie Maimonides, so konstatiert auch Mendelssohn, dass der Bruch, den das Vergessen bewirkt, irreversibel ist.174 Zwar ermöglichen die Reformen Esras, seine Wiederherstellung der Tora mit aramäischer Übersetzung, die erneute Annäherung an die Schrift. Doch es bleibt eine Annäherung 172 173
JubA 14, 233; vgl. auch JubA 9.1, 41 f.
Õhm dxa lk hih ,irbyh xch ñuwlb Õhlw lux ininybu ñumhh ñib Õg wmtwhl larwi dimthw duy lku .Õui Õui ullh Õininyh ly ulgruh ik ,ujuwp p`y Õhb hcrnh ta lmy ilb giwmu ,hruth imyju tuduqnb ñibmu ydui itlbm ,tuluqh tnuktu ,tuqsphh ñiny ta rmuw hih ,ubrm ua uibam hruth tairq Õitw ua txa Õyp ymww imu Õininyh ly lgruh alu hsn al Õdah Órjci rwak ,br xruju qudqdu tinuiy hxgwhb ñtbitkb qdqdlu ñiiyl Óruc tuduqnh ta ñmcyl ubtkw Õirpsb Õibtuk Õidixih uih al auhh tybw rwpau .utruh rdxu uma idwm ullh dcm ik ,Õujimwh Õimyplu ,dbl Óruch Õuqmb Õa ik ,Õuih Õiwuy una rawk ,hbitu hbit lk ly ,Õlk Õimyjhu :Õhh Õinmish ilb ñinyh ñibhlu aurql Õhily lqn hih lgrhh – JubA 14, 226 f.; vgl. auch JubA 9.1, 31. 174 Dazu mag neben seiner Kenntnis der Mischne tora auch seine Lektüre des More nevukhim beigetragen haben, vgl. Bd. I, Kap. 67.
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Grammatik und Übersetzen
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durch Vermittlung, die den unmittelbaren Zugang nicht ersetzen und nicht zu ihm hinführen kann. Die Fremdheit der Zeichen der Tora und ihrer sprachlichen Ordnung wird durch die Prozesse der Vermittlung bestätigt, nicht aufgehoben:175 Als sie nach Babel ins Exil geführt wurden, ihre Sprache vergaßen und von der Tora und ihrer Lektüre abließen, haben sie vielleicht auch die Punkte vergessen, bis Esra kam, durch den sie eine Übersetzung der Tora in der Sprache erhielten, derer sie sich damals bedienten, dem Aramäischen, und in aschurischer Schrift. Er stellte auch die Punkte wieder her und ordnete sie richtig. Siehe, es war die Absicht jenes Vollkommenen, dass sie durch die Übersetzung der Tora in die Sprache, die unter ihnen gebräuchlich war, den Inhalt der Schrift auch in der heiligen Sprache verstünden [...]. Doch wer haucht Atem des Lebens der Sprache ein, die tot und im Herzen vergessen ist? Sie bedurften bereits des genauen Studiums, übermäßigen Eifers und ausführlicher Betrachtung, um die Wege der Sprache und ihre Dinge zu erkennen – dies aber ist nur Einzelnen möglich, den Wächtern der Tora, die täglich an ihren Türen wachen.
An die Stelle des Wissens, das die Kinder nach und nach durch den Gebrauch der Sprache erwerben, ist das Wissen der Grammatiker getreten. Die Distanz zwischen der Sprache und ihren Sprechern kann nur noch von wenigen durchmessen und nie ganz aufgehoben werden. Das Bild vom Hebräischen als Sprache, die geschrieben wird, als Sprache »für alles« und als Sprache der jüdischen Nation, wie Mendelssohn es in Qohelet musar entwarf, wird ersetzt durch Maimonides’ Bild der Sprache, die zwar tradiert werden kann, indem sie verschriftlicht wird, doch gerade, weil sie nur noch Schriftsprache ist, von den Beschädigungen des Exils zeugt. Mendelssohn greift die christliche Rede von der »toten« Sprache auf, doch gegen Michaelis gibt Mendelssohn ihr eine Bedeutung, die tief in jüdischen Überlieferungen verankert ist. Und mit Wessely verweist er, indem er Maimonides’ babylonische Geschichte zitiert, auf die Beschränkungen durch die politischen Verhältnisse des Exils. Schließlich wird in einem letzten Schritt der Resakralisierung die Möglichkeit, das Hebräische als Sprache der Gegenwart und der Nation zu erneuern, in eine transhistorische Zukunft verlegt und die Fähigkeit, diese Erneuerung zu bewirken, nur noch dem göttlichen Autor der Sprache zugestanden:176
175 ñtnu arzy abw dy tuduqnh Õg uxktwnw ñkti ,htairqu hruth ta ubzyu Õnuwl ta uxkwu lbbl ulg rwaku Õdsiu tuduqnh ta Õg biwh auhu ,tiruwa btkbu ,imra ñuwl auhw ,za ub uwmtwhw ñuwlb hruth Õugrt udi ly .[. . . ] q`hlb Õg arqmh ñiny unibi ,Õhinib guhnh ñuwlb hruth Õugrt i`yw auhh Õlwh tnuuk htih hnhu :Õnukm ly tydl ,br tunnubthu hrti hdiqwu ,qd ñuiyl ñikirc uih rbk ?blh ñm xkwnu tmh ñuwlb Õiix xur xpi im Õluau :Õui Õui hitld ly Õidquwu hruth irmuw Õidixib Õa ik ñkti al hzu ,uininyu ñuwlh ikrd ta – JubA 14, 227;
vgl. auch JubA 9.1, 31 f. 176
Õidud ty aub dy ,hnywmu ñywm uitucmu utrutb unl ttl untiraw ly utlmxb hbuj hbsn htih 'h tamu
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In der Zerstreuung: Sprache und Nation
Der Ewige gewährte unserem Rest in seiner Barmherzigkeit diesen glücklichen Umstand und gab uns durch seine Lehre und Gebote einen Halt und eine Stütze, bis die Zeit der Liebe anbricht, in der er die Hütte Davids aus dem Staub erheben und zu der gefallenen Tochter Zions sprechen wird: erhebe dich, auf deine Füße, und lebe! Er wird seinen Geist auch der glücklichen Sprache schicken, um sie zum Leben zu erwecken und in ihren alten Stand zu versetzen, wie es ehedem war.
Bereits in Qohelet musar hatte Mendelssohn vor zu intensiven grammatischen Untersuchungen gewarnt. Seine Reserviertheit gegenüber grammatischen Studien brachte er auch in seiner Lowth-Rezension beiläufig noch einmal zum Ausdruck,177 und er wiederholte sie im Kommentar zu Millot ha-higgajon.178 Womöglich trugen so unterschiedliche Autoren wie Michaelis und Wessely, die den Vergleich des Hebräischen mit dem Lateinischen nahelegten und die aufkommende Kritik am formalen, grammatisch orientierten Lateinunterricht in den Schulen zur Festigung seiner Abneigung bei.179 Doch erst vor dem Hintergrund der Geschichte der hebräischen Sprache, wie Mendelssohn sie in Or la-netiva entwirft, werden die Gründe für seine Abneigung genau lesbar. Die Schwierigkeiten mit der Grammatik werden zum Zeichen der Distanz zwischen der Sprache und ihren Sprechern, die im Exil nicht aufhebbar ist. Das Wissen der Grammatiker mag zur Beherrschung der Sprache führen, doch die Sprache, die beherrscht wird, bleibt eine »tote« Sprache. So ist es kein Wunder, dass Mendelssohn dem Wissen der Grammatiker in Or la-netiva nur einen Platz am Rande zuweist. Am Schluss des zweiten Teils von Or la-netiva erwähnt er, dass Salomon Dubno, sein Mitarbeiter, der Pentateuch-Übersetzung eine Grammatik voranstellen wollte. Dies sei aber überflüssig: »[ . . .] denn es mangelt uns nicht an Grammatikbüchern, so dass ich kommen und ihrer Zahl noch eins hinzufügen müsste. Über all diese Dinge wurden bereits Bücher geschrieben ohne Ende, manchmal sind sie ausführlich, manchmal knapp.«180 An utuixhl ,rwuamh ñuwlb Õg uxur ta xlwiu !iixu Ólgr ly imuq tlpunh ñuic tbl rmaiu ,rpym dud tks ta Õiqiw :ñuwarh jpwmk ,unk ly ubiwhlu – JubA 14, ebd.; vgl. auch JubA 9.1, 32 f.
177 »Man hat daher schon längstens gewünscht, die Regeln der Schönheit in den alten hebräischen Dichtern erklärt [. ..] zu sehen. Wer diesem Werke gewachsen seyn will, muß freylich etwas mehr als die hebräische Grammatik inne haben; er muß mit der Erkenntniß der Sprache, einen sichern philosophischen Geschmack verbinden [ .. .]. Er [Lowth] hält sich eben so wenig bey gramatikalischen Grübeleyen, als bey unnützen kritischen Distinctionen auf; er geht grades Weges auf den Geschmack, und weis ihn in allen Arten von Schönheiten iederzeit festzusetzen.« JubA 4, 20 f. 178 JubA 14, 52. 179 Vgl. Gessinger: Sprache und Bürgertum, 75–79. 180 ula lk ly urbux rbk :dxa duy Õrpsm ly úisuhl ina aubaw ,una ñuwlh qudqd irps irsx al ik :hrcqb Õyp hkurab Õyp ,Ñq ñia Õirps Õiniinyh – JubA 14, 266; vgl. auch JubA 9.1, 65.
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Grammatik und Spracherweiterung
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die Stelle der Grammatik, die Dubno schreiben wollte, setzt Mendelssohn eine kurze Abhandlung über die Regeln der Syntax und ihre Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Logik, die auf seinem Kommentar zu Maimonides’ Millot ha-higgajon beruht und den dritten Teil von Or la-netiva bildet. Hier privilegiert Mendelssohn auch praktisch, als Schriftsteller und Herausgeber, die Exegese der »tiefgründigen Grammatik« der heiligen Sprache, die Lektüre einer Grammatik der Schrift, gegenüber dem Erwerb grammatischen Wissens, das dazu befähigt, die hebräische Sprache auch zu schreiben. Or la-netiva erschien zu Beginn des Jahres 1783. Im Herbst desselben Jahres veröffentlichte die »Gesellschaft der hebräischen Literaturfreunde« in Königsberg die erste Nummer des Ha-Me assef. Diese Zeitschrift bot denen ein Forum, die darauf insistierten, dass die Erneuerung des Hebräischen in der Gegenwart möglich und Aufgabe der jüdischen Nation als Autor der Sprache sei.
3. Grammatik und Spracherweiterung Mendelssohns Behauptung, über die Grammatik der hebräischen Sprache seien zahllose Bücher verfasst worden, erscheint bei näherem Hinsehen ein wenig fragwürdig – zumindest mit Blick auf jüdische Autoren. Die lebhafte Produktion grammatischer Werke zu Beginn des 18. Jahrhunderts hatte sich nicht fortgesetzt. Hanaus Zohar ha-teva wurde 1750 ˙ und 1769 in Berlin nachgedruckt. Ende der sechziger Jahre ist dort ein kurzes Aufleben des Interesses an grammatischen Lehrbüchern zu beobachten: 1767 wurden Elia Bachurs Sefer ha-bahur und 1769 Abraham ˙ ibn Esras Sefer ha-zahot neu gedruckt. Isaak Satanows Grammatik Sifte ˙ ˙ renanot (1773) setzt die Reihe der Neuausgaben in gewisser Weise fort – sie stützt sich weitgehend auf David Kimchi. Eine neue Phase der Grammatikschreibung setzte erst nach Abschluss der Pentateuch-Ausgabe im Umkreis des Ha-Me assef ein. Chajjim Köslin veröffentlichte 1788 in Hamburg seinen Maslul, Joel Bril brachte in Berlin 1794 seine Grammatik Amude ha-laschon heraus, und schließlich erschien 1796 in Breslau die hebräische Grammatik, die in Osteuropa bis zur zionistischen Etablierung der Sprache maßgeblich blieb: Jehuda Leib ben Ze evs Talmud laschon ivri. Die enge Verbindung zwischen diesen Grammatiken und dem Projekt der Erweiterung der Sprache, das im Me assef verfolgt wurde, zeigt sich in den Einleitungen zu den Grammatiken ebenso wie in den Diskussionen, die im Me assef über grammatische Fragen und den richtigen Weg zur Spracherneuerung geführt wurden.
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In der Zerstreuung: Sprache und Nation
Auf dem Marktplatz der Sprachen Als Isaak Euchel 1782 der Königsberger Gemeinde vorschlug, eine eigene Schule einzurichten,181 zitierte er in seinem Schreiben Sefat emet zur Begründung über mehrere Seiten hinweg die Passagen aus dem Kommentar Gur arje des Jehuda Löw von Prag, die sich mit einer neuen Ordnung des Unterrichts befassen und bereits vorgestellt wurden.182 Das Schulprojekt konnte allerdings nicht verwirklicht werden. Doch schon kurze Zeit später, im Frühjahr 1783, unterzeichnete Euchel zusammen mit Mendel Breslau, Simon und Sanwil Friedländer den Prospekt Nahal ha-besor, mit dem die »Gesellschaft der hebräischen Lite˙ raturfreunde« (Hevrat dorsche leschon ever) die Zeitschrift Ha-Me assef ˙ ankündigte, Subskribenten warb und eines der erfolgreichsten Projekte der jüdischen Aufklärung initiierte. In vieler Hinsicht liest sich Nahal ˙ ha-besor wie eine Ausarbeitung des Schulprogramms. Auch die Zeitschrift richtet sich vornehmlich an junge Leser, zu deren Bildung sie beitragen möchte: larwi inb irynu iruxb dib unibtkm ta ttl duxib unitnuuk – »unsere Absicht ist insbesondere, unsere Schrift den Jünglingen und Knaben Israels in die Hand zu geben«.183 Während in Sefat emet als Gegenstände des Unterrichts nur das Erlernen der hebräischen Sprache und – mit Jehuda Löw – die Lektüre der Bibel, der Mischna und des Talmud besonders erwähnt wurden, bietet Nahal ha-besor eine genaue ˙ assef die jungen Leser Übersicht über die Gebiete, auf denen der Me 184 unterrichten will:
181 Isaak Euchel, geboren in Kopenhagen, lebte von 1769 bis 1773 in Berlin, wo er eine traditionelle Erziehung erhielt, zugleich aber, vermittelt durch seinen Freund Joel Bril, erste Kontakte zu den jüdischen Aufklärern knüpfte. Nach einigen Jahren in Westfalen und Hannover, wo der Leibniz-Schüler Raphael Levi sein Lehrer war, erhielt er 1778 eine Anstellung als Hauslehrer der Familie des Joachim Moses Friedländer in Königsberg. Dort nahm er auch ein Universitätsstudium auf und wandte sich besonders den orientalischen Sprachen, der Anthropologie und Pädagogik zu. Obgleich Kant ihn als ausgezeichneten Schüler schätzte, wurde seine Bewerbung auf eine Stelle als Dozent für orientalische Sprachen mit Verweis auf die Universitätsstatuten, die einen christlichen Eid verlangten, abgewiesen. Von 1784 bis 1790 war Euchel Herausgeber des Me assef, dessen Redaktion er 1787 nach Berlin verlegte, wohin er auch selbst übersiedelte. Die erste biographische Skizze zu Euchel verfasste Meir Letteris: Toldot he-ha˙ kham R. Itzig Euchel z″l, in: Ha-Me assef la-schana ha-rischona, 41–47. Eine eingehende Studie zu Leben und Werk bietet Feiner: Jizhaq Euchel – ha-»jazam«. Einige lite˙ ˙ Sugot we-sugjot, 28–47, 237–252, rarische Schriften Euchels stellt Moshe Pelli vor: 299–309. 182 Euchel: Sefat emet, 4–7. 183 Euchel u.a.: Nahal ha-besor, 11. 184 ,hqudqdb bitn riai ˙,tirby ñuwl tlugsbu tmkxb duxibu illkh ñuwlh tmkxb Õimkx ip irbd uruqm yibi .Õidrnb Õiwrwh irdg tyd dmliu hiriwb Órd hruiu htucilmb lgym rwii – Ebd., 2.
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Grammatik und Spracherweiterung
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Aus seiner Quelle werden hervorfließen die Worte der Weisen zur allgemeinen Sprachwissenschaft und insbesondere zur Wissenschaft und Vorzüglichkeit der hebräischen Sprache; er wird Licht werfen auf den Pfad durch ihre Grammatik, ein gerades Gleis legen durch ihre Wendungen, den Weg weisen durch ihre Dichtungen und das Wissen um die Abgrenzungen der Wurzeln an den Narden lehren.
Vorgesehen sind ferner Abhandlungen zur Bibel, zu Wissenschaft und Ethik, zum Talmud, zur Pädagogik, zur jüdischen Geschichte (»Biographien der Großen unserer Nation«) und Gegenwart (»Neuigkeiten«). Eingerahmt wird dieses Programm von zwei literarischen Abteilungen: am Anfang stehen Gedichte, am Ende Ankündigungen neuer Bücher und Rezensionen. Die Themen, die die Herausgeber für die Aufsätze der Zeitschrift benennen, entsprechen den ersten vier Punkten des Programms, das Euchel anderthalb Jahre später in seinem Schreiben an den dänischen König für eine jüdische Schule in Kopenhagen entwirft:185 Der Untericht in dieser Schule soll bestehen: 1.) In Sprachen, nämlich der Landessprache, als Dänisch und Deutsch, und den morgenländischen Sprachen, Hebräisch, Chaldäisch und Rabinisch; alles nach der gründlichsten und faßlichsten Methode. 2.) Historie und Geographie, besonders soll die jüdische Geschichte gründlich vorgetragen werden, weil ich mir aus ihr vieles zur Aufklärung der Nation verspreche. 3.) Die Bibel, nach der gründlichsten Exegetick und Kritick, um alle mystische Erklärungen der Rabiner aus dem Wege zu räumen. 4.) Der Thalmud soll durch einen geschickten und wohldenkenden Mann extrahirt, die darinn enthaltene Moral deutlich und sistämatisch aus einander gesetzt, und wissenschaftlich vorgetragen werden.
Beide »Prospekte«, der hebräische und deutsche, tragen in ihren Bemerkungen über die Notwendigkeit, die hebräische Sprache zu unterrichten, die Handschrift des Philologen. Im Schreiben an den dänischen König ist von der »gründlichsten und faßlichsten Methode« zur Erlernung der europäischen wie »morgenländischen« Sprachen die Rede und Nahal ha-besor spricht nicht – wie etwa Isaak ben Samuel ha-Levi oder ˙ Hanau – von der »Wissenschaft von der Grammatik«, sondern von der »Sprachwissenschaft« (hokhmat ha-laschon). Das Projekt der Erneue˙ es im Me assef vorgestellt wird, vollzieht sich rung des Hebräischen, wie nicht parallel zu den Universitäten und in Abgrenzung zu ihnen, sondern lässt Berührungspunkte und Momente des Austauschs zu.186 185
Euchel: Schreiben an den dänischen König, 241. (Eine Kopie des Manuskripts – ursprünglich Archiv Schleswig, Acta A, XVIII, Nr. 439 – liegt in den Central Archives for the History of the Jewish People, Jerusalem, HM2 /1062a.) 186 Davon zeugt etwa auch die Korrespondenz über die Auslegung eines schwierigen
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In der Zerstreuung: Sprache und Nation
Für den Me assef suchten die Herausgeber ihre Patrone nicht unter den Gelehrten der Vergangenheit (wie Euchel in Sefat emet), sondern unter den namhaften Schriftstellern der Gegenwart. In einem Schreiben, das in Nahal ha-besor abgedruckt ist, wandten sie sich an Naphtali ˙ Herz Wessely, um ihn um Unterstützung für ihr Projekt zu bitten. Wessely sagte sie ihnen in seinem ebenfalls abgedruckten Antwortschreiben zu, doch nicht ohne einige Warnungen und Empfehlungen einzuflechten. Sie betreffen auch die hebräische Sprache:187 Da es euer Ziel ist, die Deutlichkeit [zahut] unserer heiligen Sprache kund ˙ ˙ zu tun, so beschränkt euch beim Studium der Wege der Sprache nicht darauf, deutlich zu sprechen und zu schreiben, wie es bei den profanen Sprachen der Fall ist, sondern macht nicht eher halt, als bis ihr am großen Meer, dem Meer der Wissenschaft von der Tora angelangt seid, denn durch das Wissen von der Beschaffenheit der Sprache macht ihr dem Volk die reinen Aussprüche der Tora verständlich, [dazu] sein heiliges Wort im Munde seiner Propheten und die wahre Tradition, die in den Händen der Weisen der Mischna und des Talmuds lag. Denn sie alle haben ihre Fundamente im Glanz der Heiligkeit der Sprache und der Redekunst, die in Heiligkeit prangen.
Wessely ist die Tendenz der geplanten Zeitschrift nicht entgangen. Die Herausgeber wiederholen den Aufruf des Qohelet musar – »Lernen wir von den übrigen Nationen . . .« – und beziehen ihn auf Wissenschaft und Ethik ebenso wie auf die hebräische Sprache. Diese wird zwar nicht nur als laschon ivrit oder leschon ever bezeichnet, sondern häufiger noch als »heilige Sprache« (leschon ha-qodesch) oder »unsere heilige Sprache« (leschonenu ha-qedoscha). Auch die »Vorzüglichkeit der Sprache« (segulat ha-laschon) wird erwähnt. Doch die knappe Beschreibung der geplanten Aufsätze zum Hebräischen und der ins Auge gefassten Lektüren lässt keinen Unterschied zum Studium klassischer oder neuerer Sprachen und ihrer Literaturen erkennen. Inwiefern das Hebräische, wenn es zur Sprache der jüdischen Nation wird, und das Studium der
Schriftverses, in die Euchel und D. Köhler, Dozent in Königsberg, involviert waren und die in der deutschen Zugabe zum Me assef gedruckt wurde, Ha-Me assef 1 (1783 /84), Erste Zugabe, 10–14.
187 tuxc rbdl dbl ñuwlh ikrd dumlb Õklubg umiwt la wdqh uninuwl tuxc yiduhl Õkinp tmgm tuihb idi lyw ,Õklubg hihi hruth tmkx Õi ludgh Õih dy lba ,lux lw tunuwl ikrd Õidmlmw Órdk ,tuxc butklu imkx dib htihw tma tlbqu uiaibn ipbw uwdq rbdu ,hrutbw turuhj turma Õyl unibt unukm ly ñuwlh tyd .wdqb turdanh hcilmhu ñuwlh twudq trdhb ñtdusiw dumlthu hnwmh – Euchel u. a.: Nahal ha-besor,
˙ 8. Hier und im Folgenden wird der Begriff zahut, der eine richtige und klare Sprache ˙ ˙ bezeichnet, wörtlich mit »Deutlichkeit« übersetzt, obgleich er in den folgenden Jahrzehnten allmählich auch die Bedeutung von »Reinheit« annahm. Vgl. Schatz: Entfernte Wörter, 246–249.
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Grammatik und Spracherweiterung
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Sprache, wenn es sich in Philologie verwandelt, noch gestatten, von der heiligen Sprache, die sich gegenüber den profanen Sprachen auszeichnet, zu sprechen, wird im ersten Teil des Prospekts nicht deutlich. Die Herausgeber des Nahal ha-besor antworten Wessely, indem sie im zweiten Teil der Schrift˙ den Vorzügen der heiligen Sprache ein eigenes kleines Kapitel widmen. Über die Anfänge und die Geschichte der Sprache heißt es dort zu Beginn:188 Einst war im Garten Gottes zwischen dichtbelaubten Ästen ihr Wipfel, ihre Pflanzung im Lande des Kleinods, sie erstreckte sich in ihrer Pracht über ihre Umgebung, alle Bäume Edens beneideten sie um ihre Schönheit, und viele Völker verlangten danach, in ihrem Schatten zu sitzen. – Doch als sich ihre Wurzeln auf dem Haufen schlangen, war keiner da, der sie schnitt und pflanzte, ihre Zäune wurden durchbrochen und ihre Zweige zerstört, wehe, zu den vom Schwert Erschlagenen fuhr sie in die Unterwelt, sie fiel zu den in die Grube Gesunkenen! – Hätte nicht Esra in seiner Gerechtigkeit uns einen geringen Rest hinterlassen, und hätten nicht die Männer der Wahrheit ihre Nachlese umzäunt und Riegel und Türen für einige Wurzeln errichtet, wer von uns wüsste noch etwas von der Deutlichkeit [zachut] ihrer Rede˙ kunst, der Lieblichkeit ihrer Dichtungen?
Die bildreiche Rede modifiziert die früheren Erzählungen vom göttlichen Ursprung der Sprache und von ihrem Niedergang im Exil. Die Metaphern erlauben es, auf eindeutige Aussagen über den Ursprung und die frühe Geschichte der Sprache zu verzichten. Wenn die Erzählung vom Gespräch Gottes mit Adam durch das Bild vom Baum der Sprache als Teil der von Gott erschaffenen Natur ersetzt wird, kann dies sogar als Andeutung einer Position gelesen werden, die Locke und der »revelationist-conventionalist theory« nahe kommt. Auffällig ist aber nicht nur das Umschreibende, sondern auch die Knappheit der Passage. Der narrative Zusammenhang, in dem die Beschreibung der vollkommenen, göttlichen Ursprache zur Antwort auf die Fragmentierung der Sprache im Exil wurde, hat für die Herausgeber des Me assef seine Bedeutung verloren. Nur fünf Jahre zuvor hatte Salomon Dubno diesen Zusammenhang am Anfang seiner Vorrede zum Prospekt Alim li-terufa, mit dem er Mendelssohns Pentateuch-Ausgabe ankündigte, aktualisiert und entfaltet:189
188 hipil ,hiturap hkirah hitubibs lyu ,ibc Ñrab hyjm ,htrmc htih Õituby ñib Õihla ñgb Õinpl hirdg ucrpn ,ñia yjunu rcuq spa ,ukbs lg ly hiwrw ty Óa ± .hlcb tbw udmx Õibr Õiugu ,ñdy icy lk huanq unl rituh utqdcb arzy ilul ± !htlpm htih rub idrui la ,hdri hluaw brx illx la hh ,hituild hnrbwtu tuxcm hmuam ydi unb im ,hiwrw rpsm ly Õitldu xirb Õiqhl ,hitulluy dyb urdg tma iwnau ,jymk dirw ?hiriw Õyunu ,hitucilm – Ebd., 12. 189 imib .[. . . ] unituba tlxn ly Õinnawu Õijqw unituihb .unwar ly urn ulhb .unlha ily hula dusb Õinpl zam trxbnh hmuah tpw htih aih ik .aihh Ñrab hl ñq irby tpwu tib hacm hwudqh unnuwl Õg .ñuwarh tibh
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In der Zerstreuung: Sprache und Nation
Vormals, als Gottes Geheimnis auf unserem Zelt und der Glanz seines Lichtes auf unserem Haupt weilte, als wir ruhig und sicher im Land unserer Väter [...] wohnten, zur Zeit des ersten Tempels, da hatte auch unsere heilige Sprache Wohnung, die hebräische Sprache ein Nest in jenem Lande gefunden. Denn sie war die Sprache der erwählten Nation, seit sie zum Volk wurde. Sie blieb bei uns auch nach der Zeit Evers und Pelegs, als die Erde zerteilt wurde und der Ewige die Sprache der ganzen Erde verwirrte. Nirgends blieb sie als bei Ever und seinen Nachkommen, und sie wurde weitergetragen, bis sie zu unserem Vater Abraham, Friede auf ihm, gelangte, und noch weiter von Generation zu Generation, bis unsere Väter nach Ägypten gingen. Selbst da haben sie ihre Sprache nicht vergessen [...], und auch später, als wir ins Land kamen, war die heilige Sprache unsere Sprache, denn wir wohnten abgesondert und kein Fremder war unter uns, und unter die Völker mischten wir uns nicht [vgl. Num 23,9]. Und auch wenn unsere Väter nach dem Tod Josuas sündigten und die Völker nicht vertilgten, wie ihnen befohlen war: ›keine Seele sollst du leben lassen‹ [Dtn 20,16], so wurden diese ihnen doch zu zinsbaren Dienstleuten [Jos 16,10], wie die Schrift bezeugt [...], und es besteht kein Zweifel daran, dass die Sprache der Nation, die in einem Land regiert und herrscht, dort die gängige Sprache ist.
Am Ursprung bildeten, so Dubno, Religion, Sprache und Nation eine Einheit. Zum Bild der Integrität der Sprache und der Nation, das Dubno zeichnet, gehört, dass Fremde und Fremdes ausgeschlossen bleiben. Zunächst ist Fremdes am Ursprung vollkommen abwesend, später wird es unterworfen und beherrscht. Die Bedingungen des Exils, in dem die Machtverhältnisse über die Ordnung der Sprachen entscheiden, werden auf die früheste jüdische Geschichte projiziert, indem eine Umkehrung vorgenommen wird: wie die jüdische Nation im Exil die jeweils herrschende Sprache übernahm, sprachen die fremden Nationen unter jüdischer Herrschaft einst hebräisch. Die Sätze der Herausgeber des Nahal ha-besor zu den Anfängen der Geschichte der hebräischen Sprache ˙mögen knapp und vage formuliert sein, sie genügen jedoch, um Dubnos Narrativ mit Bestimmtheit zurückzuweisen. Schon am Ursprung herrscht nicht Einheit, sondern Mannigfaltigkeit. Viele Völker begegnen sich, und wenn sie auch alle eine Sprache, die hebräische, annehmen, so doch nicht, weil sie unterworfen wurden, sondern aus freien Stücken, denn sie »verlangten danach, in ihrem Schatten zu sitzen«.
ik hrawn alu .Ñrah lk tpw 'h llb Õwu Ñrah hglpn uimib rwa glpu rby imim unidib hrawn rwa .iugl htih Õw Õg .Õircml unituba uab idy rud rxa rud Õhmu .h`y uniba Õhrbal habu hlwltwnw dy uyrzu rby dib Õa Õiugbu .unta rz ñiau .unnkw ddbl ik .unnuwl htih wduqh ñuwl .Ñrah ly unab ik ñk irxa Õgu [. . . ] Õnuwl uxkw al uixt al al rmal Õhily uujcn rwa Õimyh ta udimwh alu ywuhi tum rxa unituba uajx ik Õau .unbryth al hnuwl .hnidm hziab trbughu tlwumh hmuah qps ilbu [. . . ] butkh tudyk dbuy sml unl uih hmh z`ky .hmwn lk .aihh Ñrab Ólht – Dubno: Alim li-terufa, 323.
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Grammatik und Spracherweiterung
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Nicht die Ursprache interessiert die Herausgeber des Nahal ha-besor. ˙ Sie wenden sich vielmehr den Zusammenhängen der Gegenwart zu, in denen das Verhältnis der hebräischen Sprache zu den Sprachen der übrigen Nationen und ihre Möglichkeiten zu bestimmen sind. Dabei greifen sie auf Denkfiguren zurück, die mit dem Hebräischen als heiliger Sprache verknüpft waren:190 Und ist sie auch eingeschränkt, so wird sie doch im Herzen des Gebildeten weiter als das Meer, wenn er den Rang der Sprache erkennt, ihre Eigentümlichkeit (indem er von einer Wurzel auf die nächste schließt, von einem Ausdruck auf den anderen) und ihre Überlegenheit über alle anderen Sprachen (da sie die Formen, Tätigkeiten und Bewegungen in der Seele des Menschen entsprechend ihrer Natur erstehen lässt [...]). Auch genügen die wenigen Worte, die durch die Schriften zu uns gelangt sind, um in deutlichen Wendungen zu schreiben und die eigenen Gedanken dem Freund mitzuteilen, ohne die Eigentümlicheit der Sprache und ihre Lieblichkeit zu zerstören [ ...].
Der Verlust sprachlicher Möglichkeiten im Exil wird beklagt, doch zugleich kein Zweifel daran gelassen, dass die Sprache für die Gegenwart geeignet ist. Zur Begründung wird nicht mehr auf die ursprüngliche und unantastbare Vollkommenheit der Sprache Gottes, der Schöpfung und der Schrift hingewiesen, sondern auf die Bücher, die im Lauf der Zeit entstanden. Die Werke der großen hebräischen Dichter zeigen, dass es möglich ist, genügend Wissen von der Sprache zu erwerben, um sie gut zu schreiben: Õmyji Óixl 'hirbd uqtm hmu ñuwlh tlugsb uydi Õh – »sie kannten die Vorzüglichkeit der Sprache, wie süß munden ihre Worte dem, der sie kostet«.191 Die Vorzüge des Hebräischen (segula und jitron) gegenüber allen übrigen Sprachen werden wie bei Jehuda ha-Levi und Mendelssohn in einer – ohne Kenntnis dieser früheren Texte fast unleserlichen – Abbreviatur als Eindringlichkeit der Worte beschrieben, und selbst die Vorstellung von der besonderen Übereinstimmung zwischen Name und Ding im Hebräischen klingt noch an. Die Herausgeber des Nahal ha-besor bedienen sich zwar dieser Fi˙ guren, doch sie lösen sie heraus aus den Zusammenhängen, in denen sie bisher begegneten. Aus der Vorzüglichkeit der Sprache folgt nicht, dass sie besonders geeignet ist, um durch das Studium der Schrift zu Erkenntnis und richtigem Handeln zu gelangen, sondern dass sie es ihren Sprechern ermöglicht, zu kommunizieren und neue Texte zu verfassen. 190 ,uhyr ly wrwm wiqhb) htlugs ta tydlu ñuwlh tlym rikhl likwm blb Õi inm bxri ,aih rycm Õau ,Õybj ipk Õdah wpnb tuyunthu tuluyphu turuch ta hbichb) tunuwlh rti ly hnurtiu (rmam ly rmammu ta yiduhlu ,hxc hcilm butkl Õibutkb Õiabh tubith rpsm itmb qpsui Õg .(úsamh Õinpb h`ia rikzn rwak .[. . . ] hmyunu ñuwlh tlugs ta txwm itlbm uhyrl uitubwxm – Euchel u. a.: Nahal ha-besor, 12. 191
Ebd., 13.
˙
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In der Zerstreuung: Sprache und Nation
Das Hebräische erscheint – eindeutiger noch als in Qohelet musar – als Sprache des Schreibens und der Selbstverständigung unter den Intellektuellen der jüdischen Nation und in einer jüdischen Öffentlichkeit. Hier ist der doppelte Wechsel der Konstellationen, in denen Sprache beschrieben wird, zu beobachten, den Edward Said und Benedict Anderson hervorhoben: der Wechsel von der Betonung vertikaler Beziehungen zur Aufmerksamkeit für horizontale Beziehungen. Edward Said schrieb über die Philologien am Ende des 18. Jahrhunderts und insbesondere über die Auswirkungen der Erforschung des Sanskrit: »language became less of a continuity between an outside power and the human speaker than an internal field created and accomplished by language users among themselves.«192 Anderson zitiert dies und fügt hinzu:193 From this point on the old sacred languages – Latin, Greek, and Hebrew – were forced to mingle on equal ontological footing with a motley plebeian crowd of vernacular rivals, in a movement which complemented their earlier demotion in the marketplace by printcapitalism. If all languages now shared a common (intra-)mundane status, then all were in principle equally worthy of study and admiration. But by who? Logically, since now none belonged to God, by their new owners: each language’s native speakers – and readers.
Nicht mehr die Sprache des Ursprungs und der Schrift als Ort der Kommunikation zwischen Gott und seinen Geschöpfen, sondern die Sprache der Nation zwischen anderen Sprachen »auf dem Marktplatz«, auf dem ihr Wert verhandelt werden muss, und die Kommunikation ihrer Sprecher untereinander interessieren die Herausgeber des Nahal ˙ ha-besor. Sie unternehmen damit einen weiteren Schritt zur Säkularisierung der hebräischen Sprache, einen entscheidenden Schritt, da er nicht mehr durch Verschiebungen innerhalb überlieferter Narrative, sondern durch die Abkehr von ihnen zustande kommt. Die Me assefim brechen mit der Rede vom göttlichen Autor der Sprache, doch nicht, indem sie sich in direkter Kritik gegen sie wenden. Sie übergehen sie stillschweigend, und sie stellen in den Mittelpunkt ihrer Sprachreflexionen als neuen Autor die jüdische Nation. Selbst in den Namen, die sie dem Hebräischen geben, vollziehen die Herausgeber des Nahal ha-besor einen Wechsel. ˙ Zu Beginn des kleinen Kapitels über die Sprache wird zum letzten Mal »unsere heilige Sprache« (leschonenu ha-qedoscha) erwähnt. Von da an heißt das Hebräische selbst dort, wo die Denkfiguren angedeutet wer192 193
Said: Orientalism, 136. Anderson: Imagined Communities, 70 f.
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den, die seine Vorzüglichkeit begründen, nur noch »die Sprache« (laschon) oder »die hebräische Sprache« (leschon ever). Worauf es ihnen ankommt, fassen die Verfasser des Nahal ha-besor ˙ am Ende des Sprachkapitels zusammen:194 Wird denn ein Junge, der von seinen Eltern verlassen wurde und nichts in Händen hält als ein kleines goldenes Gefäß, in das ihr Andenken eingraviert ist, dieses zum Abfall werfen? Sollen Korallen und Kristall bei Zinn und Blei liegen? Wehe, hebräische Sprache, wie kommt es, dass du zu deinem Volk versammelt [d.h. gestorben] bist und keiner nimmt es sich zu Herzen? – Bei allen Völkern ist die Zeit der Wissenschaft angebrochen, sie ruhen weder am Tag noch bei Nacht und lehren ihre Söhne Sprache und Literatur, doch wir – warum sitzen wir träge und legen die Hände in den Schoß! – Brüder, wir wollen uns aufmachen und die Steine aus den Schutthaufen beleben!
Euchel und seine Freunde stimmen Mendelssohn zu: auch sie sprechen vom Hebräischen als toter Sprache.195 Doch sie sind sicher, dass sie – durch ihre Sprecher und in der Gegenwart – wieder zum Leben erweckt werden kann. Die Abkehr von der Rede über den göttlichen Ursprung der hebräischen Sprache ermöglichte es den Me assefim, die Erneuerung des Hebräischen als Projekt zu entwerfen, das keineswegs eine Distanzierung von der Sprache der Umgebung, dem Deutschen, implizierte. Beide Sprachen kommen miteinander in Berührung und werden aufeinander bezogen. So werden die Überschriften für die Abteilungen der Zeitschrift in Nahal ha-besor in zwei Sprachen, auf Hebräisch und Deutsch in hebräischen Lettern, erklärt. Das Hebräische genügt offenbar nicht, um zu verdeutlichen, was gemeint ist. Zwar ist es möglich, hebräische Entsprechungen für deutsche Begriffe zu finden, indem überlieferten Wörtern neue Bedeutungen zugeschrieben werden, doch der Übersetzungsvorgang muss transparent bleiben, um verständlich zu werden. Dadurch wird zugleich sichtbar, dass das Hebräische nicht unabhängig von den Sprachen seiner Umgebung existiert, sondern ihre Spuren trägt, indem es ihre Art der Begriffsbildung übernimmt. Es ist keine Sprache, die der Nation, die sich auf sie bezieht, eine einheitliche Grundlage böte oder Autonomie versprechen könnte. Auch wenn es ähnliche Praktiken des Übersetzens in hebräischen Texten bereits früher 194 tumar ?tucux tutpwab hnkilwih ,Õnurkz uily turx hnjq txa Õtkm Õa ik udib ñiau uitubam bzyn ñb rut yigh ñh ± ?bl ly Õiwm wia ñiau ,Ómy la tpsan Óia rby ñuwl hh ?trpuyu lidbb ñucbwi hkia wibgu an ± !di inumju Õilcy hbwn yudm unxnau ,rpsu ñuwl Õhinbl dmll utubwi al tulilu Õmui ,Õimyh lkb ydmh !rpy tumrym Õinba hixnu hmuqn unixa – Euchel u. a.: Nahal ha-besor, 13.
195 ˙ Vgl. auch Euchels Bemerkung über das Hebräische als »längst todte« Sprache in ders.: Gebete der Juden, XVI.
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gab, erhalten sie durch den Kontext der säkularisierenden Rede, in dem sie hier erscheinen, neue Bedeutung. Sie können als Zeichen dafür gelten, dass die Opposition zwischen Heilig und Profan und die strikte Trennung zwischen den Sprachen, die sie implizierte, beginnt, auf dem Gebiet der Sprachen irrelevant zu werden. Das Hebräische kam in Nahal ha-besor nicht ohne das Deutsche aus. Umgekehrt war das Deutsche˙vielen Lesern noch eher in hebräischen als lateinischen Buchstaben zugänglich. So ist die deutsche Nachschrift zu Nahal ha-besor in hebräischen Lettern gedruckt. Beide Strategien – der ˙ erklärende Verweis auf die deutschen Entsprechungen neuer hebräischer Begriffe und die Aufnahme deutscher Beiträge in hebräischen Buchstaben – prägen auch die folgenden Jahrgänge des Me assef. Hinzu kommen deutschsprachige Aufsätze in lateinischen Lettern als Zugaben, die nicht zuletzt der Selbstdarstellung gegenüber der nichtjüdischen Umwelt dienten.196 Die Zweisprachigkeit des »hebräischen« Me assef zeigt, wie seine Autoren in ihrer Schreibpraxis mit der Abkehr von der Rede über die göttliche Ursprache zugleich auch die Abkehr von dem Narrativ vollziehen, das jüdische Vielsprachigkeit als Sprachvermischung und Ausdruck des Sprachverlusts deutete. An die Stelle der Warnung vor den Vermischungen tritt der Versuch, eine zweisprachige Ordnung zu etablieren, in der beide Sprachen, das Hebräische und Deutsche, sich ergänzen und die jüdische Nation auf neue Weise sprachmächtig werden lassen.
Im Archiv der Schriften Zu den Autoren des Me assef, die sich mit großer Beredsamkeit der jüdischen Nation als neuem Autor der Sprache zuwandten, zählt Isaak Satanow (1732–1804), langjähriger Direktor der Druckerei der Jüdischen Freischule in Berlin.197 In seinem Kommentar zu Jehuda ha-Levis Bemerkung über Abrahams Zweisprachigkeit schlägt er eine Definition der Heiligkeit des Hebräischen vor, die an Profiat Duran anknüpft und die Autorisierung der jüdischen Nation als Sprecherin der Sprache bekräftigt: »mir scheint, sie wurde so [d. i. heilig] genannt, weil man das Bezeichnete ausließ; richtig muss es heißen: Sprache des heiligen Volkes, wie [in Jesaja 62,12:] ›Heiliges Volk, Erlöste des Ewigen!‹ [ . ..].«198 Satanow distanziert 196 Eine ausgezeichnete Untersuchung zur Mehrsprachigkeit im Me assef bietet Werses: Ha-metahim ha-ben-leschonijim. Unter der älteren Literatur siehe insbesondere ˙ bi-tequfat ha-haskala, Shahevitch: Arba leschonot, und Kena ani: Hiddusch-laschon ˙ otehem schel sofre ha-haskala al ha-laschon ha- ivrit. Yizchaqi: De 197 Zu Satanows Werk vgl. Rezler-Bersohn: Isaac Satanow. 198 .[. . . ] 'h iluag wduqh Õy umk wduqh Õy ñuwl iuarhu rautmh ñursxb hkk arqnw il hari rwau – Jehuda ha-Levi: Ha-Kuzari, II, 68, ed. Satanow, fol. 31a.
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sich von der Ordnung jüdischer Zweisprachigkeit, die darauf beruhte, dass die Opposition von Heilig und Profan auf die Sprachen bezogen wurde. Er bezieht sich auf die Sprecher des Hebräischen, spricht über das Heilige, doch nicht über das Profane und wendet sich rasch neuen Fragen zu. In derselben Passage seines Kommentars beschreibt Satanow aber ausführlich, worin die Bestimmung jeder Sprache, auch der hebräischen, liegt: »Bestimmung der Sprache ist es, dass ein jeder dem anderen seine Gedanken mitteilen kann, daher liegt die Vollkommenheit der Sprache in der Menge ihrer Wörter [ . . .].«199 Das Hebräische wird eingereiht unter die Sprachen, die für jede Situation und jeden Gegenstand gedacht sind und es ihren Sprechern ermöglichen sollen, einander ihre Gedanken möglichst genau und ohne Beschränkungen mitzuteilen. Es war dazu einst in besonderer Weise geeignet, weil es reich an Wörtern und an Wissen war. Dem Wissen, das in der hebräischen Sprache niedergelegt ist, schreibt Satanow jedoch keinen göttlichen Ursprung mehr zu. Satanow erwähnt Newtons und Leibniz’ Erkenntnisse über die Farben des Spektrums, an dessen Ende (takhlit), so Satanow, die Farbe stünde, die hebräisch tekhelet heißt, und er fügt hinzu: utilkth ñuugh Õw tairq hnhu 'inuugh tuhm uydi rbk Õixinmhw hrui tlkt Õwb – »Und siehe, die Bezeichnung des Farbtons am Ende [des Spektrums] mit dem Wort tekhelet zeigt, dass diejenigen, die sie festlegten [ha-mannihim], die Eigenschaften der ˙ einen, allwissenden AuFarbtöne bereits kannten.«200 An die Stelle des tors der Sprache, manniah ha-laschon, tritt hier ein in den Wissen˙ schaften weit fortgeschrittenes Autorenkollektiv, ha-mannihim. Wenn aber die Kunst der Benennung eine Angelegenheit˙ dieses Kollektivs war, kann sie in der Gegenwart neu entfaltet werden. Die Me assefim waren sich einig darin, dass die Kunst der Benennung als Kunst der Ableitung neuer Wörter aus den überlieferten hebräischen Schriften wieder erlernt und ausgeübt werden sollte. Den Grammatikern fiel eine neue Aufgabe zu. Sie waren es, die die richtigen Arten der Ableitung zu bestimmen, über sie zu wachen und sie zu vermitteln hatten. So fügte Chajjim Köslin in seine Grammatik Maslul, ehe er auf die Wurzeln des Hebräischen zu sprechen kam, eine lange Vorbemerkung ein, in der er auf die Bedeutung der Kenntnis der Wurzeln und der Regeln der Wortbildung für die Erweiterung des Hebräischen hinwies.201 Die Grammatiker sind es, die das Archiv der Sprache für die Gegenwart erschließen. Nicht völlig einig waren diese sich allerdings in der Frage, welche Schriften das Archiv konstituieren, auf das sie sich beziehen dürfen. 199
Õirbdl hkuz 'ihtw l`r Õirbd brb htumilw 'ihi ñk ly uinuiyr uhyrl wia yiduhl auh ñuwlh tilkt .[. . . ] ubbl ly Õiluyh Õirbdh lk ly hb rbdl rbdmh lkuiw dy hbrh – Ebd., fol. 30b. 200 201
Ebd., fol. 31a. Köslin: Maslul, fol. 48b.
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Nachdem Naphtali Herz Wessely in Nahal ha-besor als Autorität zur ˙ Legitimierung des Publikationsprojekts aufgetreten war, zitierten die Herausgeber des Me assef im ersten Jahrgang der Zeitschrift zwei weitere berühmte Gelehrte einer älteren Generation: Mendelssohn war vertreten durch Teile des Qohelet musar, und in der letzten Nummer des ersten Jahrgangs erschien ein längerer Auszug aus dem Ma amar hatora we-ha-hokhma des Arztes Mordechai Gumpel Schnaber (1741– ˙ 1797) mit einer neuen Vorbemerkung des Autors.202 Schnaber, hier zeichnend als Levison, wiederholt in dieser Schrift, die bereits 1771 erschienen war, die Aufforderung des Qohelet musar, sich ein Beispiel zu nehmen an den übrigen Nationen, die nicht rasten noch ruhen in ihren Bemühungen um ihre Sprache:203 Noch ein anderes, sehr großes Übel habe ich gesehen, nämlich, dass wir unsere heilige Sprache verlassen haben, niemand erforscht sie und niemand verlangt nach ihr; wenn wir die Nationen, die uns in der Nähe und in der Ferne umgeben, betrachten, [so sehen wir,] dass sie weder rasten noch ruhen und Bücher machen ohne Unterlass; jedermann spricht und verfasst Schriften in der Sprache seines Volkes, um sie zu erweitern; warum aber lassen wir vom Erbteil unserer Väter und verlassen unsere heilige Sprache? Schlaff sind wir geworden, schlaff, da wir uns dieser guten Sache nicht annehmen; auch habe ich die Armut und den Mangel unserer Sprache gesehen, denn keiner von uns kann etwas in der heiligen Sprache benennen oder etwas in ihr beschreiben, wenn es nicht in der Tora oder den Propheten steht, und erst recht gibt es nur wenige, die in der Redekunst bewandert sind und angenehm sprechen [ ...]. Was aber werden die Völker ringsum sagen, wenn sie mit uns in unserer Sprache disputieren, die sie besser kennen als wir? Werden wir nicht die Hand an den Mund legen [und schweigen?] Werden sie uns nicht mit ihren Argumenten besiegen, werden 202
Schnaber war wie Mendelssohn ein Schüler David Fränkels, ehe er nach London ging und Medizin studierte. Vom schwedischen König zum Professor ernannt, plante er in Schweden die Errichtung eines eigenen medizinischen Instituts, doch das Projekt scheiterte. Schnaber ließ sich schließlich in Hamburg nieder, wo er als Arzt praktizierte und noch etliche hebräische Werke, z. T. kritisch gegen Mendelssohn, publizierte. Zu seiner bewegten Biographie und seinen Schriften vgl. Graupe: Mordechai Shnaber-Levison, Ruderman: Jewish Thought and Scientific Discovery, 345–368, und ders.: Was there an English Parallel to the German Haskalah?, 37–44. 203
Õy ,hl wqbm ñiau wrud ñia rwa hwudqh uninuwl tbizy aihu ,duam hbr aihu ,itiar trxa hyr duyu rbdm wiau wia ,Ñq ñia Õirps tuwym ujqwi alu uxuni al ,Õiquxrhu Õiburqh unitubibs rwa tumuah unituar ,Õiprn unxna Õiprn ?hwudqh uninuwl buzyl ,unituba tlxnm yrgn yudmu ,ubixrh ñyml umy ñuwlb rbx rbuxu ,qh`lb rbd ratl ua Õw aurql ydui unta ñia ik ,uninuwl ñursxu tld icichb úau ;hzh bujh rbdh tuwy itlbl Õiugh urmai hmu :[. . . ] Õirbdh imiynu hcilmh ixc ujym tazk úau ,Õiaibnhu hruth rpsb butk acmn al rwa uxcni alh ,hpl di Õiwn alh ?unitrkhm hrumg rtui hb Õtrkh rwa uninuwlb unmy Õxkuthb unitubibs rwa Õy qr urmau :unila t`i arubhm hxjbhh abw txt .hzh Õyh ,ñjqu lks Õy qr :urmai alh ,Õhitunyjb untua :[. . . ] hzh ludgh iugh ñubnu Õkx – Schnaber: Ma amar ha-tora we-ha-hokhma, fol. 5a; hier zitiert
˙ 1 (1783 /84), 185. nach der sprachlich leicht redigierten Fassung in: Ha-Me assef
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sie nicht sagen: nur ein unverständiges und kleines Volk ist dies – anstatt dass sich die Verheißung des Schöpfers, gelobt sei er, an uns erfüllt [Dtn 4,6]: »und sie [die Völker] werden sprechen: doch eine weise und einsichtige Nation ist dieses große Volk« – ?
Obwohl Schnabers Text manche Motive aus Qohelet musar wiederholt, sind es vor allem die Unterschiede, die ins Auge fallen. Schnaber spricht kein einziges Mal vom göttlichen Ursprung der hebräischen Sprache, sondern bezeichnet sie als »Erbteil unserer Väter«. Damit ist sie von jeher das Werk derer, die in ihr sprachen und schrieben. Eine weitere signifikante Wendung vollzieht der Text am Schluss der zitierten Passage. Die Aufforderung, das Studium der hebräischen Sprache zu intensivieren, wird nicht damit begründet, dass dies notwendig sei, um die zuverlässige Tradierung der Schrift und ihre Integrität zu gewährleisten. Bei Schnaber werden umgekehrt die Schrift, Mischna und Talmud zu Mitteln, die helfen, das Hebräische schreiben zu lernen: »[S]prechen wir in unserer klaren Sprache vor Königen, ohne uns zu schämen! Dazu gelangen wir aber, wenn wir die Bibel – unter Berücksichtigung des einfachen Wortsinnes und der Grammatik – studieren, die Mischna und den Talmud [. . .].«204 Die Schrift erscheint nicht länger als Ort, an dem sich die Unzugänglichkeit der hebräischen Sprache erweist, die einem Gesetz gehorcht, das ihren Sprechern entzogen ist. Ihre Texte stehen dem Vorhaben, selbst zum Autor der Sprache zu werden, nicht entgegen, sondern werden als Anleitung zum Schreiben aufgefasst. Spracherweiterung ist in den Augen Schnabers kein blindes Tasten im Finstern, wie es Zamos´c´ beschrieb, sondern vollzieht sich im Licht der Überlieferung. Schnabers Zuversicht kommt am deutlichsten in einer Formulierung zum Ausdruck, die sich in seiner Vorbemerkung anlässlich der Wiederveröffentlichung seines Textes im Me assef findet. Schnaber erklärt – in scharfem Gegensatz zu Wesselys zwei Jahre zuvor erschienener Bemerkung über die Aufhebung der Heiligkeit des Hebräischen –, er wolle die Söhne Israels den »neuen Weg der heiligen Sprache lehren«. Das hebräische derekh leschon ha-qodesch ha-hadascha könnte nicht nur »neuer Weg der heiligen Sprache«, sondern˙ auch, noch dichter, »Weg der neuen heiligen Sprache« heißen.205 In beiden Fällen zeigt sich das Vertrauen des älteren Gelehrten wie der jüngeren Me assefim in die Möglichkeit, der hebräischen Sprache eine Gegenwart zuzuschreiben, in der Neuerungen ihre Heiligkeit nicht in Frage stellen und umgekehrt ihre
204 ,uqudqdu ujuwp uily hruiw hm ipk arqmh undmlb hzl aubnu ,wubn alu Õiklm dgn hrurbh unitpwb rbdnu :[. . . ] dumlthu hnwmhu – Ebd. 205
Schnaber: Le-darko schel Ha-Me assef, 183.
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Heiligkeit der Erneuerung nicht entgegensteht. Schnaber, der auch einen Kommentar zu Maimonides’ dreizehn Artikeln schrieb (Jesode hatora, 1792), dürfte solche Unbefangenheit im Umgang mit der unvollkommen überlieferten heiligen Sprache in den Texten seines mittelalterlichen Autors wiedererkannt haben. Darüber, inwiefern neben der Bibel auch Mischna und Talmud als Grundlagen der Spracherweiterung herangezogen werden dürfen, entspann sich im Me assef eine aufschlussreiche Diskussion zwischen Isaak Satanow und dem Grammatiker Chajjim Köslin.206 Schon in seiner 1773 publizierten Schrift Iggeret bet tefilla wies Satanow darauf hin, dass für die hebräische Sprache der Gegenwart auf Wörter zurückgegriffen werden muss, die in der Bibel nicht zu finden sind:207 Zwar ist unsere Sprache die Herrin der Sprachen [ ...], dennoch ist sie uns nicht vollständig erhalten [...]; wer in ihr einen Ausdruck [hege] sucht, der sich in der Bibel nicht findet, soll keinen machen, ohne die Regeln der Logik [higgajon] zu kennen [...]; noch lobenswerter aber ist es, wenn wir einen Ausdruck aus den Worten der Bibel schaffen können [...].
An die Stelle des Bedauerns, das Zamos´c´ über die Blindheit derer äußerte, die neue Wörter finden müssen, treten bei Satanow Erörterungen über die Regeln und Präferenzen, die für die Erweiterung der Sprache gelten sollen, und Verhandlungen über die Bedingungen für die Aufnahme neuer Wörter. Dem widersetzte sich Chajjim Köslin in einem Artikel, den er im dritten Jahrgang des Me assef (1786 /87) veröffentlichte. Er ist davon überzeugt, dass das Hebräische keiner Ergänzung durch Wörter anderer Sprachen bedarf, sondern so, wie es überliefert wurde, ausreicht, um sich angemessen auszudrücken, denn neben der Bibel kann auch die Mischna als Grundlage für die Ableitung neuer Wörter hinzugezogen werden. Biblisches und mischnisches Hebräisch bilden eine Einheit, die, so Köslin, darauf beruht, dass die Sprache der Mischna ebensowenig wie die der Bibel durch fremde Sprachen affiziert wurde:208
206 Zu dieser Kontroverse vgl. Barzilay: From Purism to Expansionism, 3–15, und Parush / Fischler: Schiqqule laschon, sifrut we-hevra ba-wikkuach al ha-taharanut. 207 Õa itlb hnmm unta ñia ik ,unta hmlw hnnia z`ky ˙hnh [. . . ] tunuwlh trbg aih taz unnuwlw tuih Õy
ydiw Õa itlbm uhuwy ñkti al arqmb acmn itlbh hm hgh hb tughl hcri rwau [. . . ] wduqh irps d`kb acmnh .[. . . ] xbuwm rtui auh hz hnh ,arqmb tuacmn tulmb hm hgh rbxl lkun Õau ,[. . . ] ñuighh ijpwm – Satanow:
Iggeret bet tefilla, fol. 4b.
208 Õiqhlu uitumux tunbl Õinubnu Õimkx Õiwna Õiqh ik ,taz htih `h tam ,ñuwlh ñm unl rawnh jymh hnhu likwmu .Õitpwb ub ajbl lkun al rwa rbd rusxm ñiau Ñrpi lamwu ñimi ik dy ,ulubg ta bixrhlu ,uidumy ta bichl hnrq Õmuri ,ub hssun ñuwlh tbha rwa wia lku ,jpwmb uirbd lklkl ,utbuntu uirp buj acmi rbd ly ñm tunubt Órdu tyd dmliu ,tunuwlh ikrdl Õidgnmh Õirz hb ujlwi al ñyml lzrb ixirb tuwylu twxn tutld .hklh al hlugbu ,ilk ly ilkm hqruh alu hb hmyj dmy ik ,htbuj tubrb hb uwmtwh rwa Õinumdqh Õimkxh
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Und siehe, das Wenige, das uns von der Sprache blieb, war vom Ewigen, denn er stellte weise und einsichtige Leute auf, damit sie ihr Mauern erbauen und Wände errichten, damit sie ihre Grenze erweitern, bis Rechts und Links gesprengt sind, und es an nichts mangelt, es nichts gibt, das wir nicht mit den Lippen in ihr ausdrücken könnten. Der Gebildete [maskil], der aufmerkt auf eine Sache, findet schöne Frucht und guten Ertrag, um seine Rede einzurichten nach Gebühr. Möge jeder, den die Liebe zur Sprache treibt, ihr Horn erhöhen, indem er eherne Türen und eiserne Schlösser anbringt, damit die Fremden nicht über sie herrschen, die sich den Wegen der Sprachen widersetzen. Möge er Wissen [erwerben] und den Weg der Einsicht von den früheren Weisen lernen, die sich ihrer, der Fülle ihres Guts, bedienten, denn ihr Geschmack ist ihr geblieben, sie wurde nicht von einem Gefäß in ein anderes gegossen und erging sich nicht in der Fremde. Keines der Wörter, die sich in den Reden der Weisen [der Rabbinen] finden und derer sie sich zu jener Zeit bedienten, sollte, was seine Bedeutung und Form betrifft, in Zweifel gezogen werden, selbst wenn es sonderbar erscheint in unseren Augen, denn sie kannten den Rechtsspruch [mischpat] ˙ der Sprache, auf ihren Spuren wollen wir wandeln, ihre Gesetze wollen wir halten, und durch ihr Licht soll uns ein Licht werden, das heller leuchtet als die Sonne am Mittag.
Köslin distanziert sich von der säkularisierenden Rede über die Autoren der Sprache, indem er ihre Sprecher als Gesetzeshüter, nicht als Gesetzgeber auftreten lässt. Gleichzeitig aktualisiert er die Bestimmung der hebräischen als heiliger Sprache, indem er darauf besteht, dass sie strikt getrennt von den übrigen Sprachen fortzuschreiben ist.209 Die normative Kraft der mischnischen Sprache beruht wie die des biblischen Idioms darauf, dass Fremdes aus ihr ausgeschlossen blieb. Maimonides’ Narrativ, das die Differenz zwischen der heiligen und den profanen Sprache als genaue Trennung zwischen ihnen interpretierte, wird hier bekräftigt. Satanow antwortete Köslin, indem er im folgenden Jahrgang des Me assef ein völlig anderes Bild entwarf. Die Sprache der Bibel und die der Mischna gelten ihm zwar beide als hebräisch, doch – wie der Tradition, an die schon Emden anknüpfte – nicht als Einheit.210 Der Unterschied zwischen ihnen, der in Satanows Augen so groß ist, dass er von zwei hebräischen Sprachen spricht, beruht darauf, dass das biblische Hebräisch wenige fremde Wörter aufgenommen hat, während die Sprache der Mischna zahlreiche griechische, lateinische und andere Wörter
,ñhilqwmu ñhituaruhb qpsh lupiw iuar ñia ,aihh tyb ñhb uwmtwh rwa Õimkxh irbdb tuacmnh tulmh lku unl hihi Õruau ,rumwn Õhituqx tau ,Óln Õhitubqybu ,ñuwlh jpwm ta uydi hmh ik ,uniniyb ñh tualpn ik úa .Õirhcb wmwk riamh rua – Köslin: Be er rehovot, 52.
209 Der kleine Zusatz zum Titel seiner˙Grammatik erhält hier eine genaue Bedeutung: Maslul be-diqduq leschon ha-qodesch – »Weg in der Grammatik der heiligen Sprache«. 210 Vgl. oben, 171
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aus den Sprachen der Völker enthält. Das Volk, so Satanow, nahm Wörter auf »wie ein kriegerisches Heer, das die Häuser nach Beute absucht« (lulwl Õitbh iwpxm hmxlm abc lix umk).211 Diese Bemerkung Satanows erinnert an Neumarks Beschreibung des Exils als Terrain des Streits um die Macht über die Sprache. Doch die Verhältnisse haben sich geändert. Die hebräische Sprache erscheint nicht länger als Beute der Fremden, die sich ihrer bemächtigen. Vielmehr verhält es sich umgekehrt: ihre Sprecher verfügen über die Macht, die hebräische Sprache durch Beute aus anderen Sprachen zu bereichern. Diese Praxis der Spracherweiterung hat schon in der Bibel Spuren hinterlassen und ist erst recht seit der Epoche der Mischna Teil der Geschichte des Hebräischen, einer Geschichte, in der die Aufnahme neuer Wörter nicht länger als Ausdruck beklagenswerter Abhängigkeit erscheint: »Es gibt aber keinen Einwand gegen [Wörter aus den] Sprachen der Völker, die jüdisch wurden, denn wenn diejenigen, die die Sprache bereiten, über sie Übereinkunft erzielt haben, was gilt mir dann ein neues Wort oder ein fremdes – Hauptsache, es entspricht der Konvention.«212 Aufgabe der neuen Autoren der Sprache ist es, Wörter ihrer Umgebung »einzubürgern« und sie einzufügen in eine jüdische Geschichte der hebräischen Sprache in der Diaspora. In den Schriften der Grammatiker unter den Me assefim zeigt sich, dass der erste Schritt, mit dem sie an die früheren Bewegungen zur Säkularisierung der hebräischen Sprache anknüpften, ihr Verzicht auf die Rede vom göttlichen Ursprung des Hebräischen, bald zwei weitere Schritte ermöglichte. Wie an die Stelle des einen Autors der Sprache die Vielzahl ihrer Sprecher tritt, wird die eine Schrift als autoritativer Text, der das Gesetz der Sprache enthält, ergänzt durch die zahlreichen Texte, die die Sprecher der Sprache im Lauf der Zeit verfassten. Zugleich wird – deutlicher noch als in den Übersetzungen des Me assef – die strikte Unterscheidung zwischen heiliger und profaner Sprache aufgehoben. Gegen den Widerstand Köslins kann Satanow behaupten, dass Wörter aus den übrigen Sprachen, aus den Sprachen, die einmal als »profan« galten, Teil der hebräischen Sprache werden dürfen. Ihm schließt sich Jehuda Leib ben Ze ev (1764–1811) an, wenn er in der Vorrede zum deutsch-hebräischen Teil seines Wörterbuchs Ozar ha-schoraschim schreibt:213 ˙ 211 212
[Satanow]: Mikhtav schma Schlomo, 86.
ua hwdx hlm il hm Õhily Õixinmh umikshw rxa ik [. . . ] ,ub udhith rwa Õibr Õimy tpwm hnyj ñiau .[. . . ] hmkshh rxa Óluh rqiyh ik tirkn – Ebd. 213 hmhu dumltb tuacmnh turzh tumwh itarb tubr tumuqmb [. . . ] tirby ñuwl tuxc rumwl itwqb al ,tuxc rbdl unuwlu uip rmuwh hihu [. . . ] .imuru tinui ,tijpig ,timra ñuwl ñm .tuzuylh tunuwlm Õlca tuluaw utrga ua ubtk Õa tazl ubl tiwi al rwau .Õhm qxri wdqh ñuwl trhj ly Õiwynh Õiwrwm hkz utcilm tuihl .Õirbxmh irpsbu dumltb Õiacmn Õtuihl ,uila Õtua úsau ,hpw lulb aci – Ben Ze ev: Ozar ha-
schoraschim, Bd. 3, Vorrede [unpaginiert].
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Eine Geschichte der Sprache
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[I]ch habe nicht versucht, die Reinheit der hebräischen Sprache [...] zu bewahren [...]; an vielen Stellen wählte ich auch die Fremdwörter, die sich im Talmud finden und die aus den Sprachen der Völker entlehnt sind, aus dem Aramäischen, Ägyptischen, Griechischen und Lateinischen [...]. Wer seine Zunge hütet und darauf achtet, dass er rein spricht und seine Rede einzig aus Wurzeln der reinen heiligen Sprache gewinnt, soll sich von ihnen fern halten. Wer es sich jedoch nicht zu Herzen nimmt, wenn eine Schrift oder ein Brief am Ende in vermischter Sprache verfasst sind, der sammle sie ein, sofern sie nur im Talmud oder bei anderen Schriftstellern zu finden sind.
Ben Ze ev entwirft eine Geschichte der Rezeption und Adaption neuer kultureller Elemente in der Diaspora. Doch sie verdrängt die älteren Vorstellungen nicht völlig: Mit dem Begriff der »Fremdwörter« und der Unterscheidung zwischen »reiner« und »vermischter« Sprache wird die Erinnerung an die Erfahrungen der Usurpation, der Entfremdung und Assimilation aus politischer und kultureller Schwäche im Exil festgehalten.
4. Eine Geschichte der Sprache Ein weiterer Aspekt der Säkularisierung der hebräischen Sprache im 18. Jahrhundert deutete sich in Nahal ha-besor wie in den Schriften Sata˙ nows bereits an. Der Sprache wird eine Geschichte zugeschrieben, die sich nicht mehr zwischen göttlichem Ursprung, dem Niedergang im Exil, einer Rückkehr zur Sprache unter den Bedingungen des Exils und der vollkommenen Wiederherstellung am Ende der Tage abspielt. Schon in Nahal ha-besor war diese Erzählung in den Hintergrund getreten. ˙ Die Entdeckung der jüdischen Nation als Autor des Hebräischen und die Aufnahme ihrer Schriften in das Archiv autoritativer Texte ließen die Diaspora als Schauplatz einer anderen Geschichte der Sprache hervortreten. Jehuda Leib ben Ze ev war der erste Autor, der diese andere Geschichte des Hebräischen als säkulare Geschichte entfaltete. Er fasste die Figuren der Säkularisierung, die sich in den Schriften der Me assefim abzeichneten, in einem Abriss zur Sprachgeschichte zusammen, den er seinem Wörterbuch Ozar ha-schoraschim voranstellte. ˙ hebräischen Sprache beginnt nicht mit ihrem Seine Geschichte der göttlichen Urheber, sondern mit der ersten Schrift, die auf Hebräisch überliefert ist, dem Pentateuch:214 214
ñuwll rkz ñia ik ,lbb tulgu tibh ñbrx dy ñuwarh qquxm i`y tdh tnitnu rxbnh dmymm .ñuwarh ñmzh
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In der Zerstreuung: Sprache und Nation
Die erste Epoche [reicht] vom auserwählten Stand [am Sinai] und der Gabe der Religion [dat] durch den ersten Gesetzgeber bis zur Zerstörung des Tempels und zum babylonischen Exil, denn es findet sich keine Erwähnung der Sprache und ihrer Existenz aus der Zeit, die dieser vorausging. Zwar ist aufgrund der Erzählungen, die in ihr vom Anfang der Schöpfung erwähnt werden, nicht zu bestreiten, dass sie schon zuvor existierte, doch eine Erinnerung von ihrer Existenz besitzen wir erst durch sie.
An die Stelle der Frage nach dem Ursprung der Sprache tritt die Frage nach den Anfängen ihrer Geschichte. Der Verzicht auf eine Ursprungserzählung hindert Ben Ze ev nicht daran, auf die Vollkommenheit des Hebräischen am Beginn seiner Geschichte hinzuweisen. Woher sie rührt, erörtert er nicht, doch definiert wird sie im Hinblick auf die Sprecher der Sprache:215 Wegen der Annahme, von der wir ausgehen, dass nämlich die Bücher den Wert einer Sprache verdeutlichen, ergibt sich als zuverlässiges Urteil, dass die Sprache zu jener Zeit vollkommen war: sie genügte ihren Besitzern, um zu sprechen und über alle Dinge, die sie in ihren Bücher darlegen und aufdecken wollten, zu schreiben, was die wichtigste Bedingung für die Vollkommenheit einer Sprache ist.
Die anfängliche Vollkommenheit der Sprache, darin stimmt Ben Ze ev mit den früheren Erzählungen überein, ging im babylonischen Exil verloren. Doch da die Sprache nun ihren Sprechern anvertraut ist, vermögen diese auch, sie wiederherzustellen. Im mittelalterlichen Sefarad wird die hebräische Sprache von zahlreichen Autoren neu kultiviert – Ben Ze ev spricht von einer »zweiten Geburt der Sprache« (haja leda schnijja la-laschon). Nach der Vertreibung aus Sefarad gerät sie jedoch erneut in Vergessenheit. Nur wenige Autoren studieren sie noch – und Ben Ze ev zögert nicht, jüdische und christliche Gelehrte gemeinsam aufzuzählen: Elia Bachur und Schlomo Salman Hanau, Buxtorf d. Ä., Michaelis, Hetzel, Herder und Eichhorn. In Hanaus Geschichte der konvergierenden – jüdischen und nichtjüdischen – Linien einer Tradition kritischer Befragung, die er mit den Namen des Aristoteles und des Jair Bacharach bezeichnet hatte, schreibt Ben Ze ev hier, fast ein Jahrhundert später, zahlreiche weitere Linien ein.216 Und wie Satanow, der nicht gezögert hatte, fremde Wörter als Beute in die hebräische Sprache zu hb Õirkznh Õirupsh ñm ,Õinpl htuaicm tumdq wixkhl lkun al Õnma úah .auhh ñmzl Õdqw hmm hmuiqu .hnmm Õa ik unl ñia htiuh ñurkz Óa ,hairbh tlixtm – Ben Ze ev: Ozar ha-schoraschim, Haza a
˙
[unpaginiert]. 215
˙
ñuwlh tuih ,jlxm jpwm unl aci ,ñuwlh Óry unl rrbti Õirpsh i`y ik ,unxnh rwa tazh hxnh i`pyu ,Õhirpsb tulgl unuk rwa Õininyh lk butklu rbdl ,hilybl tqpsm htih rwab ,Õhh 'imib tumilwh tilktb .ñuwlb tumlwh iantm ludgh ianth auh rwa – Ebd. 216
Siehe oben, 151.
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Eine Geschichte der Sprache
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integrieren, reklamiert auch Ben Ze ev selbst Ansätze, die sich als fragwürdig erwiesen hatten, als nützlich für die hebräische Sprachgeschichte. Schließlich gelangt Ben Ze ev zur Epoche der jüdischen Aufklärer und beschreibt sie als eine Zeit der Extreme. Nie erlebte die hebräische Sprache im Exil einen solchen Aufschwung wie durch Mendelssohn, Wessely und die »Gesellschaft der hebräischen Litteraturfreunde«, und nie wurde sie so vernachlässigt wie nach Mendelssohns Tod. Ben Ze evs Geschichte lässt sich lesen als Zeichen jener Abkehr vom »Ursprung« und Hinwendung zur »Herkunft«, die Foucault in einer Lektüre Nietzsches als grundlegend für die Arbeit des kritischen Historikers beschrieben hat. Foucault kennzeichnet die Suche nach dem Ursprung als Versuch, »d’y recueillir l’essence exacte de la chose, sa possibilite´ la plus pure, son identite´ soigneusement replie´e sur ellemeˆme, sa forme immobile et ante´rieure a` tout ce qui est externe, accidentel et successif.« Ben Ze ev verortet seinen Versuch, das Wissen von der hebräischen Sprache zu erweitern, nicht mehr in einer Geschichte, die sich nur deuten lässt im Verhältnis zu einem Ursprung, der das Zeitliche, Zufällige und Disparate negiert. Seine Geschichte nähert sich einem anderen »Geheimnis« der Dinge: »le secret qu’elles sont sans essence, ou que leur essence fut construite pie`ce a` pie`ce a` partir de figures qui lui e´taient e´trange`res.«217 Ben Ze ev bevölkert seine Geschichte mit »Fremden«: den Sprechern, die einmal als »Fremde« galten in einer Sprache, die ein anderer Autor schrieb, mit Christen und mit Frauen. Die Fremdheit der Frauen in der Sprache erweist sich innerhalb der Sprachgeschichte, die Ben Ze ev entwirft, als höchst folgenreich. In einer Anmerkung schreibt er:218 Wenn die Sprache aufhört, die Sprache des Säuglings zu sein, sobald er der Brust seiner Mutter entwöhnt ist, kann sie für denjenigen, der sie erlernt, wenn er größer wird, nie mehr in allen Dingen vollkommen sein. Wer in ihr schreibt, tut nichts anderes, als die Idee aus seiner Sprache zu übersetzen. Denn die Sprache steht dem Schreibenden nur dann in ihrer Vollkommenheit zur Verfügung, wenn er auch in dieser Sprache denkt [ ...].
Hier trifft Ben Ze ev die große Schwäche des aufklärerischen Projekts einer Erneuerung des Hebräischen als Nationalsprache. Die Nation, für die es zur Sprache werden sollte, war nie die ganze Nation. Solange das Hebräische keine Sprache der Frauen war, blieb es – ungeachtet der
217 218
Foucault: Nietzsche, 148.
hnuqh ipb duy hmilw htuihl rwpia ia ,uma idwm qtynh qnuil trbdm ñuwl tuihl ldxt rwa ñuwlhu ñuwlh tumlw ñukt al ik ,unuwlm ñuiyrh qitym ala unnia hb btukh lku .Õininy lkb uldg imib dumlb htua .[. . . ] aihh ñuwlb k`g bwux auh Õa ik hb btukhl – Ben Ze ev: Ozar ha-schoraschim, Haza a.
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In der Zerstreuung: Sprache und Nation
Arbeit an der Erweiterung der Sprache – Zweitsprache, eine nachträgliche Sprache, stets angewiesen auf die Übersetzung aus der mündlichen Sprache.219 Ben Ze ev deutet an, dass in die Differenz zwischen schriftlicher und mündlicher Sprache die Geschlechterdifferenz eingeschrieben ist. Er erklärt nicht die Vater-, sondern die Muttersprache zur Sprache des Denkens und beschreibt die Schwierigkeiten, die sich aus der Trennung zwischen der schriftlichen Sprache der Nation und der gesprochenen Sprache der Frauen ergeben. Vorläufig kann die hebräische Sprache nicht zu einer Sprache »für alles« werden, weil sie nicht als Sprache für jede gedacht werden kann. Die Aufgabe, der sich Ben Ze ev zuwendet, gleicht in vielem der des Genealogen, wie Foucault ihn beschreibt: »Suivre la filie`re complexe de la provenance, c’est [ .. .] maintenir ce qui s’est passe´ dans la dispersion qui lui est propre: c’est repe´rer les accidents, les infimes de´viations – ou au contraire les retournements complets –, les erreurs, les fautes d’appre´ciation, les mauvais calculs qui ont donne´ naissance a` ce qui existe et vaut pour nous [ . . .].«220 Wenn Ben Ze ev trotz der Vernachlässigung der hebräischen Sprache, die er selbst in seiner Umgebung beobachtet, sein Wörterbuch veröffentlicht, so kann noch dies als Ausdruck seiner Überzeugung gelesen werden, dass die Geschichte der Sprache in der Zerstreuung mit ihren »Zwischenfällen«, »winzigen Abweichungen«, »völligen Umschwüngen« und »falschen Rechnungen« keine sicheren Auskünfte über die Zukunft zulässt, dass neue Öffnungen in der Geschichte denkbar sind und auch der hebräischen Sprache ein weiterer Anfang hinzugefügt werden könnte.
219 Zur Position der Frauen in der jüdischen Aufklärung vgl. Feiner: Ha-ischa hajehudija ha-modernit. 220 Foucault: Nietzsche, 143.
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Schluss: Eine Sprache wechselt den Autor Als »heilige Sprache« war das Hebräische über Jahrhunderte hinweg in vieler Hinsicht unersetzlich geblieben, und als Lingua franca der Gemeinden in der Diaspora war es lebendig, auch wenn es, wie viele andere Sprachen, nicht das einzige Idiom war, über das seine Sprecher verfügten, und ungeachtet der Spuren des Verlusts, die eine wechselvolle Geschichte im Exil mit sich gebracht hatte. Innerhalb dieser Geschichte erschien die Frühe Neuzeit als ein »Moment« der Unruhe und der Fremdheit in der Sprache, der zu neuen, intensiven Verhandlungen über Ursprung, Gegenwart und Zukunft des Hebräischen führte. Die jüdischen Aufklärer knüpften an die hebräischen Kulturen Italiens und der sefardischen Welt an, sie griffen auf Neuerungen in Lublin, Przemysl und Prag zurück, und sie beabsichtigten, das Hebräische seinen »Sprechern« in allen Situationen, in denen sie auf die Sprache zurückgreifen wollten, neu zugänglich zu machen. Zugleich entging ihnen keineswegs, dass das Projekt der Restitution der Sprache letztlich ihre Transformation bedeuten würde. Neue Annäherungen an das Hebräische traten auf vielfältige Weise, zerstreut an vielen Orten und in beweglichen Konstellationen hervor. Sie wurden in gelehrten Kommentaren und Abhandlungen ebenso wie in hebräischen oder jiddischen Schulgrammatiken sichtbar, sie wurden unterstützt durch rabbinische Approbationen und gefördert durch wohlwollende Mäzene. In ihnen zeigte sich, wie auf manchmal kühne, manchmal vorsichtige und zögernde Weise säkulare Begriffe, Narrative und Praktiken erprobt wurden, die sich aber von religiösen Sprech- und Denkweisen nicht völlig lösten, sondern mit ihnen verknüpft und vermittelt blieben. Schlomo Salman Hanau insistierte darauf, dass es möglich sei, das Gesetz der Sprache ausgehend von der Schrift und mit Hilfe des Verstandes vollständig zu erfassen. Der Grammatiker erscheint als Meister der Sprache, der neben ihren göttlichen Autor tritt. Israel Zamos´c´ erklärte, dass der geringe Wortschatz des Hebräischen dazu zwingt, sobald die Sprache geschrieben wird, neue Wörter zu erfinden und selbst zum Autor der Sprache zu werden – zu einem Autor allerdings, der nachträglich ans Werk geht und nicht wie ein Meister, sondern eher wie »ein Blinder« nach Neuerungen tastet. Mendelssohn verwandelte in seiner ersten hebräischen Schrift Qohelet musar Zamos´c´s Ansätze in ein Programm: Die hebräische Sprache soll als Sprache der jüdischen Na-
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Schluss: Eine Sprache wechselt den Autor
tion, als Sprache der Gegenwart, als Sprache nicht nur des Studiums der Schrift, sondern auch des Schreibens erneuert und erweitert werden. Die Herausgeber und Autoren des Me assef unternahmen es einige Jahrzehnte später, das Hebräische seinem neuen Autor, der jüdischen Nation, ganz zu übereignen. Sie erweiterten das Archiv der autoritativen Schriften, die der Spracherweiterung zugrunde liegen sollten, und ergänzten es durch die zahlreichen Texte, die die Sprecher der Sprache in der Diaspora verfasst hatten. Zugleich verschwand die Rede von der »heiligen Sprache« nicht völlig aus dem Vokabular der Aufklärer. In Verhandlungen mit der christlichen Umgebung wurde das Hebräische auch immer wieder neu als Sprache der Unterscheidung evoziert – sei es in Jehuda ha-Levis Sinne als Sprache der Distinktion, sei es in Maimonides’ Sinne als Sprache der Trennung, selbst wenn dies bedeutete, dass die neuen Autoren ihre Spuren in der Sprache manchmal nur als nachträgliche oder vorläufige Interventionen bezeichnen konnten. Jehuda Leib ben Ze ev skizzierte schließlich eine Geschichte der Sprache, die nicht mehr ausgeht von ihrem Ursprung, sondern – in der Bedeutung, die Foucault dem Wort gab – die disparaten Linien ihrer »Herkunft« verfolgt. Hier zeigte sich deutlich, wie sich die Situation der Diaspora in das Projekt der Erneuerung des Hebräischen als Sprache der jüdischen Nation einschrieb. Ben Ze ev schreibt in einem Augenblick, in dem ihm und anderen das Sprachprojekt der Maskilim schon fast als gescheitert erscheint.1 In diesem Moment verweist er darauf, wie sehr die Sprache abhängig ist von den Zufällen jüdischer Geschichte in der Diaspora, wie sehr sie geprägt ist durch Momente des Verlusts und des Vergessens, wie intensiv nichtjüdische Autoren in ihre Tradierung involviert sind und wie sehr der Nationalsprache, die nicht Erstsprache ist, die Frauen als Sprecherinnen fehlen. Doch zugleich hielten Ben Ze ev und seine Verbündeten am Hebräischen und an jüdischer Zweisprachigkeit fest. Der »neue Weg der heiligen Sprache« war Teil ihrer Antwort auf eine Situation, in der die Versprechen der Emanzipation geknüpft waren an die Forderung nach Veränderungen in allen Bereichen jüdischen Lebens – sprachlich, kulturell, ökonomisch, religiös. Während in philosophischen und politischen Schriften des 18. Jahrhunderts die Transformation jüdischer Religion und Sprache verlangt wurde, insistierten die jüdischen Aufklärer umgekehrt auf der Notwendigkeit, Begriffe, Vorstellungen und Haltungen der nichtjüdischen Welt umzuformen, indem sie sie in jüdische Zusammenhänge und in die hebräische Sprache übersetzten. 1 Vgl. Ben Ze ev: Ozar ha-schoraschim, Haza a, und den Briefwechsel zwischen Scha˙ Euchel aus dem Jahr ˙ 1799, in dem Euchel die Abkehr einer lom ha-Kohen und Isaak jüngeren Generation vom Hebräischen bitter beklagt: Ha-Kohen: Ketav joscher, 95 f.
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Schluss: Eine Sprache wechselt den Autor
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Die Prozesse des Übersetzens, des Umschreibens und der Umformung, für die das Wort »Haskala« emblematisch steht2 und die hier im Hinblick auf die Herausbildung säkularer Haltungen untersucht wurden, verdeutlichen, wie sich der Blick auf die europäische Moderne verändert, wenn ihr ihre ganz unterschiedlichen Anfänge neu eingeschrieben werden. Die europäische Moderne zeigt sich, wo die Rekonstruktion ihrer Genealogie auf die Geschichte der Amerikas, Indiens oder auf die jüdische Geschichte in Europa selbst stößt, zum einen in ihrer beherrschenden und unumgänglichen Präsenz, zum anderen wird sie in ihrem »fragmentarischen und episodischen« Charakter sichtbar.3 Gerade weil ihre großen Projekte stets auch an diejenigen adressiert waren, die ihr als »Andere« galten, trafen sie auf Widerstände, Gegenvorschläge und Übersetzungsprojekte, die den partikularen, begrenzten, endlichen Charakter ihrer universalisierenden Konzeptionen hervortreten ließen: »[ . ..] this rationality gives us only a partial hold on our lives – and that too through necessary, much-needed, yet inevitably poor translations«.4 Diesem Kommentar Dipesh Chakrabartys hätten die Maskilim, die sich der Erneuerung der hebräischen Sprache zuwandten und sie mit eigenwilligen, komplexen, fragmentarischen und fragmentierenden Versionen des Säkularen verknüpften, wohl durchaus zugestimmt. Wenn Joel Bril im Jahr 1797 zu begründen versucht, warum das Projekt einer hebräischen Zeitschrift auch in Zukunft fortgeführt werden muss, verweist er auf die Bedeutung des Hebräischen als Sprache jüdischer Selbstverständigung über die Herausforderungen der Gegenwart. Eine Zeitschrift wie der Me assef sei, so Bril, einerseits der einzige Weg [ ...], bei einer gewissen Klasse unserer Brüder die Liebe zu Wissenschaften, oder doch wenigstens, die Liebe zum reellen Wissen und Denken überhaupt, zu erwecken und zu befestigen; so wie es andrerseits auch der einzige Ort ist, wo über gewisse für unsere Nation interessante Gegenstände, so unbefangen, offen und frei geurteilt werden kann.5
2 Bekanntlich wurde nicht einmal das hebräische Wort für die Aufklärung selbst aus anderen europäischen Sprachen übernommen, sondern aus älteren jüdischen Überlieferungen abgeleitet. Nichts verweist in »Haskala« auf »Licht« oder »Klarheit«. Das hebräische Verb »le-haskil«, das schon im Mittelalter geläufig war und auf dieselbe Wurzel wie »sekhel«, das Wort für Verstand, zurückgeht, bezeichnet den Prozess, in dem Wissen erworben wird. Der Gelehrte, der viel Wissen erwirbt, ist ein »Maskil«, und erst seit dem 18. Jahrhundert bedeutet dasselbe Wort im engeren Sinne auch »Aufklärer«. 3 Vgl. Chakrabarty: Subaltern Histories, 36. 4 Ebd., 37. Vgl. auch Chatterjee: Talking about Our Modernity in Two Languages, insbesondere 284 f. Dies lässt sich auch als eine Antwort auf Gay: Enlightenment, 3–19, lesen. 5 Bril: Nachricht, 400.
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»Unbefangen, offen und frei« kann sich die Nation offenbar artikulieren, wenn ihre Sprache differenzierende Kraft behält. Auch wenn die hebräische Sprache als Nationalsprache nicht mehr vorwiegend der Grenzziehung nach außen dient, sondern vor allem auf interne Verhandlungen bezogen erscheint, trägt sie doch noch Spuren des Befremdens. Das Hebräische erscheint als Sprache einer jüdischen Öffentlichkeit, die sich bisweilen jenseits der Aufmerksamkeit der nichtjüdischen Welt und jenseits ihrer Konzepte und Forderungen über die Gegenwart zu verständigen sucht. Wie porös diese Konstruktion einer anderen Öffentlichkeit allerdings schon geworden war, zeigt sich darin, dass Bril selbst seine Bemerkungen auf Deutsch in hebräischen Lettern veröffentlichte. Zwölf Jahre nach Brils Erinnerung an das Hebräische als Sprache in der Fremde, und nur zwei Jahr nach Ben Ze evs historischer Skizze, finden sich im Me assef – dieses Mal in der deutschen Zugabe – erneut einige kurze Überlegungen zur Zukunft der hebräischen Sprache. Das Hebräische erscheint hier als nationale Sprache, weil sie transnational funktioniert:6 Auf die Frage: Wozu frommt zu diesem Zweck ein Journal in der Hebräischen Sprache, die nur wenige lesen können oder wollen? führe ich von vielen Antworten, womit ihr zu begegnen wäre, nur folgende drei an: 1. Weil sich die neuen Herausgeber im Gegentheil überzeugt haben, daß es der Kenner und Freunde der Hebräischen Litteratur noch viele giebt, 2. weil sie mit der israelitischen Gesammt-Nation, mit Deutschen sowohl, als mit Franzosen, Engländern u. s.w. reden wollen, und sich also der allgemeinen Sprache bedienen müssen; und 3. weil sie überhaupt den Werth dieser Litteratur nicht verkennen, und ihnen die Beschäftigung mit derselben erheblich genug ist, wäre auch damit nicht jener große Zweck verbunden, mittelst ihrer auf die Nation zu wirken.
Die Juden sind Teil der Nationen geworden, unter denen sie leben, Deutsche, Franzosen, Engländer, aber sie sind auch Teil der »israelitischen Gesammt-Nation«. Die Orte, an denen sie leben, werden hier nicht als Fremde beschrieben, sind aber auch nicht ausschließlich durch die politischen Grenzziehungen der europäischen Nationen definiert. Das Hebräische als »allgemeine« jüdische Sprache erlaubt es, die Diaspora als transnationalen Zusammenhang zu imaginieren. Das Hebräische trägt die Diaspora nicht nur in sich, insofern es die Wörter einer Geschichte der Zerstreuung einsammelt, sondern auch, insofern es seinen Sprechern eine gemeinsame Gegenwart verspricht.
6
Schalom ha-Kohen: Ein Wort über die Tendenz des Sammlers, 5.
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Doch zu Beginn des 20. Jahrhunderts wies der nordafrikanische Gelehrte und Ethnograph Mordechai ha-Kohen (1856 –ca. 1923) darauf hin, dass dieses Versprechen sogar im Hinblick auf das Hebräische selbst erst einzulösen war. Die Aussprache, die Schrift und der Wortschatz der Sprache wirken nicht nur verbindend, sondern auch trennend und bedürfen der Vereinheitlichung: »Zwar kennen aschkenasische wie afrikanische Juden die hebräische Sprache und die jüdische Schrift, doch jeder [gebraucht sie] nach der Weise seines Landes, und sie bleiben einander fremd, was die Aussprache und die Schrift betrifft [ . ..]«.7 Das Sprachprojekt der Maskilim lässt nicht nur das Fragmentarische nichtjüdischer aufklärerischer und säkularer Projekte hervortreten. Gerade weil es verspricht, dass es möglich ist, Kontinuität, Kohärenz und Kommunikation in der Diaspora im Übergang zur Moderne aufrechtzuerhalten, artikulieren sich in ihm schließlich auch die Diskontinuitäten, das Heterogene, die unübersetzbaren Besonderheiten und das Fragmentarische der Kommunikation, die die jüdische Gegenwart in der Zerstreuung kennzeichnen. In seinem Essay über Cultural Identity and Diaspora beschrieb Stuart Hall, wie die Erfahrung der Diaspora sich dreifach auffächert und artikuliert: in Erzählungen der Sehnsucht nach einem Ort des Ursprungs, der Selbstbestimmung und ungebrochenen Integrität, nach einem Ort jenseits der Geschichte, in dessen Repräsentation sich aber immer schon die Erfahrungen der Geschichte, Verlust und Kreativität, Drohung und Versprechen der Gegenwart mischen; im Dialog mit den herrschenden politischen und kulturellen Kräften, »[a] dialogue of power and resistance, of refusal and recognition«; und schließlich in der Entdeckung der Diaspora als Ort der Vermischungen, Transformationen und der immer wieder neu zu bestimmenden Differenz.8 Die Überlegungen der jüdischen Aufklärer zur hebräischen Sprache zeigen alle drei Facetten. Das Exil als Ort der Fremdheit, des Befremdens und der Bindung an die Bilder des Ursprungs verschwand nicht völlig aus der Rede über die Gegenwart und die Sprachen in der Zerstreuung. Die Insistenz auf der Zugehörigkeit zu europäischen Nationen und Kulturen und die Betonung einer gewissen Distanz zu ihnen blieben miteinander verschränkt. Die Hinwendung zum Hebräischen als einer jüdischen Sprache der Moderne erlaubte es, neue Möglichkeiten der Affiliation wie der Disaffiliation in der Diaspora zu erfinden.
7
Õirzum ,ucra ñungs ipk dxa lk ,iduhi btku rby tpw Õiydui Õhinw inqirpa iduhiu iznkwa iduhi ik [. . . ] .[. . . ] btkbu ajbmb hzl hz – Mordechai ha-Kohen: Higgid Mordechai, 234; vgl. auch Gold-
berg: The Oriental and the Orientalist. 8 Hall: Cultural Identity and Diaspora, 30.
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Literatur Abkürzungen Werkausgaben und Zeitschriften
LBIY LBIB MGWJ PMLA REJ ZGJD ZHB
Allgemeine deutsche Bibliothek Hebrew Union College Annual The Journal of the Ancient Near Eastern Society Jahrbuch der jüdisch-literarischen Gesellschaft Jewish Quarterly Review Jewish Studies Quarterly Jewish Social Studies Moses Mendelssohn, Gesammelte Schriften. Jubliäumsausgabe (s. Literatur) Leo Baeck Institute Yearbook Leo Baeck Institute Bulletin Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums Publications of the Modern Language Association of America Revue des e´tudes juives Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland Zeitschrift für hebräische Bibliographie
ND
Nachdruck
ADB HUCA JANES JJLG JQR JSQ JSS
JubA
Rabbinische Literatur AZ
b Ber BerR Hag ˙ Meg
Avoda zara Babylonischer Talmud Berakhot Midrasch Bereschit rabba Hagiga ˙ Megilla
Ned Pes Sab Sot Suk
Nedarim Pesachim Schabbat Sota ˙ Sukka
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Quellen
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Zur Transkription a b g d h u
*
b, v g d h w
z x j i k l
z ch t j˙ k, kh l
m n s y p c
m n s p, f z ˙
q w Ê Ï w r t
q s sch r t
Schwa na wird in der Regel durch e bezeichnet. Es kann aber entfallen, wenn die Aussprache, insbesondere einsilbiger Wörter, dies nahelegt (z.B. Schne luchot ha-brit). Personennamen werden in einer vereinfachten Transkription, ohne diakritische Punkte, wiedergegeben. Vornamen erscheinen in der Regel in der Form, in der sie deutschsprachig im 18. Jahrhundert gebräuchlich waren (z.B. Moses). Auch für geläufige Begriffe (z.B. Aschkenas, Halacha) wurde die gängige Schreibweise gewählt.
Quellen Hebräische Titel wurden – unabhängig davon, ob es sich um hebräische oder jiddische Werke handelte – im 17. und 18. Jahrhundert in Aschkenas anders ausgesprochen als heute, wo sich für das Hebräische die israelische Aussprache eingebürgert hat. Letztere wurde hier aber um der Einheitlichkeit willen der Transkription zu Grunde gelegt. So wurden etwa Mirqeves ha-mischne und Nesives ha-scholem zu Mirkevet ha-mischne und Netivot ha-schalom. – Wo die Erstausgabe eines Werks aus dem 17. oder 18. Jahrhundert nicht zugänglich war und eine spätere Ausgabe herangezogen wurde, wird das Jahr des Erstdrucks in Klammern genannt. – Anonyme Werke werden unter ihrem Titel aufgeführt. Aboab, Isaak: Menorat ha-ma or, übers. von Moses Frankfurt, Amsterdam 1722. Aichinger, Carl Friedrich: Versuch einer teutschen Sprachlehre [...], Frankfurt / Leipzig 1754 (ND: hg. von Monika Rössing-Hager, Hildesheim 1972). Alexander Süskind ben Samuel: Derekh ha-qodesch, Köthen 1717. Anon.: Art. »Se´cularisation«, in: Diderot, Denis / D’Alembert, Jean (Hg.), Encyclope´die, Bd. 14, Paris 1765, 883. Assaf, Simcha: Meqorot le-toldot ha-hinnukh be-Jisra el, Bd. 1, Tel Aviv 1954. ˙ 1573–1575. Asarja de’ Rossi: Me or enajim, Mantua –– Me or enajim, hg. von Isaak Satanow, Berlin 1794. –– The Light of the Eyes, übers.u. komm. von Joanna Weinberg, New Haven 2001. Asriel ben Moses / Elia ben Asriel Wilna: Derekh siah ha-sade, Berlin 1713. ˙ *
Am Wortanfang unbezeichnet
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Literatur
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–– Formen der Bibelvermittlung im älteren Jiddisch. Zur jiddistischen Forschung der letzten siebzig Jahre, in: Helmut Merklein u.a. (Hg.), Bibel in jüdischer und christlicher Tradition. Festschrift für Johann Maier zum 60. Geburtstag, Frankfurt a.M. 1993, 299–324. –– Zwei neuaufgefundene jiddische Briefe von 1602 und ihre Bedeutung für die Sozial- und Sprachgeschichte, Aschkenas 4 (1994), 449–468. –– Zur Frühgeschichte der jiddischen Erzählprosa. Eine neuaufgefundene Mais´e-Handschrift, Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 117 (1995), 243–280. –– Glikls Sprache vor ihrem sozialhistorischen und geographischen Hintergrund, in: Monika Richarz (Hg.), Die Hamburger Kauffrau Glikl. Jüdische Existenz in der Frühen Neuzeit, Hamburg 2001, 49–67. –– Historische jiddische Semantik. Die Bibelübersetzungssprache als Faktor der Auseinanderentwicklung des jiddischen und des deutschen Wortschatzes, Tübingen 2005. Toury, Jacob: Die Anfänge des jüdischen Zeitungswesens in Deutschland, LBIB 10 (1967), 93–123. –– Mi-be ajot »Qohelet musar«, Kirjat Sefer 43 (1968), 279–284. –– Eine vergessene Frühschrift zur Emanzipation der Juden in Deutschland, LBIB 12 (1969), 253–281. Turniansky, Chava: Al sifrut didaqtit be-jidisch be-Amsterdam (1699–1749), ˙ in: Yosef Michman (Hg.), Mehqarim al toldot jahadut Holand, Bd. 4, ˙ Jerusalem 1985, 163–177. –– The Evolution of the Poetical Contest in Ashkenaz, in: Studies in Yiddish Literature and Folklore, Jerusalem 1986, 60–98; hebr. in: Ha-Sifrut 32 (1982), 2–12. –– Le-toldot ha-»taitsch-chummasch«. »Chummasch mit ›chibber‹«, in: Haaqademja ha-le umit ha-jisre elit la-madda im (Hg.), Ijjunim ba-sifrut. Devarim sche-ne emarim be- erev li-khvod Dov Sadan bi-mlot lo schmonim we-hamesch schana, Jerusalem 1988, 21–58. ˙ –– Du-leschonijut ba-hevra ha-jehudit be-Aschkenaz, in: Ha-universita ha˙ Je˙ petuha – Polin. Peraqim be-toldot jehude mizrah-Eropa we-tarbutam, ˙ we-haskala be-mizrahhida˙ 7: Chava Turniansky (Hg.), Laschon, hinnukh ˙ ˙ ˙ Eropa, Tel Aviv 1994, 81–87. –– Miqra meforasch le-Eli ezer Zusman Rodelsum. Sefer joze dofen le-limmud ha-hummasch be-jidisch, in: Sara Japhet (Hg.), Ha-miqra bir i mefarschaw.˙ Sefer zikaron le-Sara Qamin, Jerusalem 1994, 497–517. –– Yiddish Literature in Frankfurt am Main, in: Karl E. Grözinger (Hg.), Jüdische Kultur in Frankfurt am Main von den Anfängen bis zur Gegenwart, Wiesbaden 1997, 273–285. –– The Events in Frankfurt am Main (1612–1616) in Megillas Vints and in an Unknown Yiddish »Historical Song«, in: Michael Graetz (Hg.), Schöpferische Momente des europäischen Judentums in der frühen Neuzeit, Heidelberg 2000, 121–137. Turniansky, Chava / Timm, Erika / Rosenzweig, Claudia: Yiddish in Italia. Yiddish Manuscripts and Printed Books from the 15 th to the 17 th Century, Mailand 2003. Viswanathan, Gauri: Outside the Fold. Conversion, Modernity, and Belief, Princeton 1998.
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Personenregister Aarsleff, Hans 215 f., 218 f., 223 Aichinger, Carl Friedrich 213 f. Amelander, Menachem Mann 103 Anderson, Benedict 11 f., 202 f., 266 Aristoteles 53, 119, 151 f., 228, 276 Aron ben Moses Rofe 169 Asad, Talal 26 f., 29, 32 Asarja de’ Rossi 41, 124, 126 f., 130 f., 136, 141, 157, 185, 231, 256 Asriel Wilna 145, 156 Assaf, Simcha 81, 83 Asulai, Abraham 37, 135 Auerbach, Eisik 166 ff. Bacharach, Jair 84, 151 f., 276 Bachtin, Michail 18 Bashuysen, Heinrich Jacob 134, 144 Bass, Schabbetai 74, 88, 101, 143 Baumgarten, Jean 107 f. Ben Ze ev, Jehuda 170, 274–278, 280, 282 Bhabha, Homi K. 22 Blitz, Jekutiel 93, 102 f., 227 Bödiker, Johann 205 f., 213 Bonfil, Robert 24 f. Breuer, Edward 81, 183 f., 186, 245 Bril, Joel 254, 259 f., 281 f. Broda, Abraham 142, 150, 164 Casanova, Jose´ 21–26 Chajjim ben Bezalel 90–95, 101, 169 Chajjim ben Natan 98 f. Chakrabarty, Dipesh 20, 281 Chotsch, Zvi Hirsch 99 f. Claius, Johannes 211 Condillac, E´tienne Bonnot de 215, 222–225 Dohm, Christian Wilhelm 199, 233 Dubno, Salomon 41, 44, 185, 258 f.,
263 f. Duran, Profiat 37, 41, 75, 93, 116 f., 202, 268 Durkheim, E´mile 54 f. Egidio da Viterbo 92, 94 Eichhorn, Johann Gottfried 240 f., 276 Elia Bachur 66, 86, 92, 94, 124 ff., 130, 132, 137, 141, 146 ff., 184 f., 259, 276 Elia Wilna 142, 145, 147 ff., 151, 153 ff., 164 f., 175, 178, 186 f. Eljakim ben Jakob Melammed Schatz 89, 103 Emden, Jakob 160, 162 ff., 171, 175, 178, 213, 230, 232, 273 Epstein, Jechiel Michel 57, 105 ff. Euchel, Isaak 11, 19, 31 f., 48, 81, 235, 254 f., 260 ff., 265, 267, 280 Eybeschütz, Jonathan 178 ff. Fabian, Johannes 33, 255 Feiner, Shmuel 13, 15 f., 33, 254, 260, 278 Fishman, Talya 24 f., 27, 82 Foucault, Michel 29, 277 f., 280 Frances, Jacob 67 Frankfurt, Moses 100 f., 103 Gerondi, Jona 61–64, 99 Gikatilla, Josef 37, 52 ff., 135 Gottsched, Johann Christof 205 f., 213 Grishaber, Ruben ben Aron 158 f. Gumpertz, Aron 205 f. Ha-Kohen, Mordechai 283 Ha-Kohen, Schalom 280, 282 Halberstadt, Mordechai 159 f., 163, 175 Hall, Stuart 283 Hanau, Schlomo Salman 85, 132 ff.,
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Personenregister 140–158, 160–165, 167–171, 174 ff.,
303
215 f., 218–222, 231, 260, 269
178, 186 ff., 190, 193 f., 208, 212 ff., Locke, John 30, 215–223, 225, 231, 226, 228, 232, 235, 237, 259, 261, 263 276, 279 London, Schlomo Zalman 49 Heilbronn, Josef ben Elchanan 87 f., 90, 93, 98, 166, 169 Heller, Jomtov Lipman 39, 75, 84 f., 169, 178 Herder, Johann Gottfried 223 f., 244, 246 ff., 276 Horowitz, Jesaja 52 ff., 81, 83 f. Ibn Esra, Abraham 41, 86, 93, 122, 125, 141, 145, 147, 155, 259 Ibn Gabirol, Salomon 67 Ibn Paquda, Bachja 39, 115, 172, 228 Ibn Tibbon, Jehuda 115, 172, 228 Ibn Tibbon, Samuel 42, 101, 115, 172, 228, 231 Isaak ben Samuel ha-Levi 84 ff., 97, 138, 141, 147, 169, 226, 261 Israel ben Abraham 165 f. Isserles, Moses 39, 61, 68, 70, 75, 77, 82, 84 Jablonski, Daniel Ernst 134 Jaffe, Mordechai 75, 84, 88, 93, 129 Janow, Jakob 98 Jechiel Michel 142, 150 Jehuda ha-Levi 28, 37–43, 45–48, 55 f., 60 f., 67, 109 ff., 116–121, 125, 135 f., 170, 180, 182, 189 ff., 202, 222, 229, 244 f., 255, 265, 268, 280 Jehuda Löw ben Bezalel 75, 79–82, 88, 90, 95, 98, 127 f., 131, 137, 144, 149, 153, 241, 260 Kahana, Baruch 166 Kaidanover, Zvi Hirsch 179 f. Karo, Josef 61, 74, 77, 82 Katz, Jacob 15 Kimchi, David 47, 86, 93, 125, 130 ff., 141, 145–148, 156 f., 202, 259 Kimchi, Moses 86, 131 Köslin, Chajjim 259, 269, 272 ff. Kohen, Naphtali 142 f., 149 Leibniz, Gottfried Wilhelm 205,
Lublin, Meir 77, 94 f., 129, 142 f., 279 Luntschitz, Ephraim 39, 75, 82 ff. Luria, Salomon 75–79, 81–84, 129 Maimonides, Moses 28, 37 ff., 43–47, 55 f., 103, 105, 110, 115, 122, 135 f., 172, 179, 182 ff., 193, 228, 230, 245, 256 f., 259, 272 f., 280 Maupertuis, Pierre-Louis Moreau de 223 Mehler, Juda 143 f., 152, 157 Mendelssohn, Moses 11, 13, 15, 18 f., 31 f., 34, 37, 39, 41, 44, 66, 68, 78, 97, 110, 134, 150, 165, 167, 169, 176 f., 180–186, 188, 190–194, 197, 199, 204 ff., 209 f., 214 f., 220–225, 227–233, 235–259, 263, 265, 267, 270, 277, 279, 284 Michaelis, Johann David 184 f., 232, 244 ff., 257 f., 276 Modena, Leone 24 f., 27, 231 Moscato, Jehuda 41, 116, 122–127, 131, 140, 173 Münster, Sebastian 92 Nachmanides, Moses 37, 41, 61, 244 Neumark, Jehuda 37 f., 41, 85, 93 f., 133–141, 144, 149, 152, 176, 193, 202, 255, 274 Nicolai, Friedrich 68, 204 f. Oppenheim, David 134, 142 ff. Oppenheim, Michel 144 f. Parush, Iris 96, 169, 272 Platon 119, 152, 230 Popers, Jakob Kohen 143 Prag, Meir 158 Przemysl, Isaak 158 Raschi 67, 82, 90, 96, 145, 166 f., 182 f. Raz-Krakotzkin, Amnon 25 ff., 93 Reinbeck, Johann Gustav 204 f. Reiner, Elchanan 16, 76 f., 79, 81, 90, 130
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Personenregister
Rödelsheim, Elieser Susman 103 ff., 108 Rousseau, Jean-Jacques 222–225, 231, 249 Ruderman, David 11, 15, 68, 75, 270 Saertels, Moses 87–90, 96, 98, 241 Said, Edward 266 Satanow, Isaak 37, 39, 132, 159, 259, 268 f., 272–276 Schabbetai Sofer 85, 95, 126, 128–132, 137 f., 141 ff., 146–149, 153, 156, 160, 208 Schnaber, Mordechai Gumpel 93, 270 ff. Schottelius, Justus Georg 206–212, 214 f., 218 f. Schotten, Samuel 49, 143 Shohet, Azriel 15, 178, 180 Sorkin, David 14 f., 78, 81 f., 102 Spinoza, Benedict 188 ff., 224, 232, 249 Steinschneider, Moritz 71, 86, 133 f., 150, 165
Süskind, Alexander 167 ff. Süßmilch, Johann Peter 223 Taikus, Gedalja 188 Tal, Abraham 59 Viswanathan, Gauri 22, 34 Weinreich, Max 62, 64 f., 72 f. Wesel, Bendit 150 Wessely, Naphtali Herz 32, 81, 144, 169, 227, 230, 233–241, 254, 257 f., 262 f., 270 f., 277 Wetzlar, Isaak 100 ff., 110, 168, 226 f. Witzenhausen, Josel 93, 102 f. Wolff, Aron 142 Wolff, Christian 205, 231 Wulff, Moses 66, 76, 169 Zamos´c´, Israel 39, 109 ff., 116 ff., 121 f., 139 f., 164 f., 173–176, 181 f., 191, 193 f., 210, 214, 271 f., 279 Zarfati, Josef 67 Zedekia ben Abraham ha-Rofe 62 ff. Zinberg, Israel 58 Zvi Aschkenasi 150, 164
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