Sportsoziologische Aufklärung: Studien zum Sport der modernen Gesellschaft [1. Aufl.] 9783839417256

Anyone who wants to portray modern society cannot leave out sport! Karl-Heinrich Bette puts this demand into practice in

184 38 1MB

German Pages 260 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
1 Sportbegeisterung und Geseschaft
2 Sportheden: Zur Sozioogie soziaer Prominenz
3 X-treme: Sinnmotive im Abenteuer- und Risikosport
4 Risikokörper und Abenteuersport
5 Koektive Personaisierung im Dopingdiskurs
6 Biografische Risiken und Doping
7 Doping as transintentionaes Konsteationsprodukt
8 Sportsozioogie
Sigen
Abbidungen
Textnachweise
Literatur
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Sportsoziologische Aufklärung: Studien zum Sport der modernen Gesellschaft [1. Aufl.]
 9783839417256

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Karl-Heinrich Bette Sportsoziologische Aufklärung

Karl-Heinrich Bette ist Professor für Sportwissenschaft an der Technischen Universität Darmstadt. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Sportsoziologie, der Soziologie des Körpers sowie der neueren soziologischen Systemtheorie.

Karl-Heinrich Bette

Sportsoziologische Aufklärung Studien zum Sport der modernen Gesellschaft

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2011 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Karl-Heinrich Bette Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1725-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort l 7 1

Sportbegeisterung und Gesellschaft l 15

2

Sporthelden: Zur Soziologie sozialer Prominenz l 47

3

X-treme: Sinnmotive im Abenteuer- und Risikosport l 71

4

Risikokörper und Abenteuersport l 87

5

Kollektive Personalisierung im Dopingdiskurs l 111

6

Biografische Risiken und Doping l 131

7

Doping als transintentionales Konstellationsprodukt l 143

8

Sportsoziologie l 181 Siglen l 237 Abbildungen l 239 Textnachweise l 241 Literatur l 243

Vorwort

Der vorliegende Band versammelt ausgewählte Studien zum Sport der modernen Gesellschaft. Damit wird ein Sozialbereich erkundet, der mit seinen Erlebnisofferten und Handlungsmodellen seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine stetig wachsende Nachfrage zu verzeichnen hat. Einige markante Phänomene, die im Gefolge der Verselbständigung des Sports und seiner gesellschaftlichen Inanspruchnahme entstanden sind, sollen im Folgenden mit den inkongruenten, amoralischen und fremden Blicken der Soziologie beobachtet und beschrieben werden. Am Anfang des analytischen Reigens steht die Beantwortung der auf den ersten Blick banal erscheinenden Frage, warum sich weltweit Millionen Menschen regelmäßig als Zuschauer, Leser und Hörer für den Spitzensport begeistern. Um die Untersuchung nicht vorzeitig durch alltagstheoretische Vermutungen, psychologisierende Deutungen oder anthropologische Wesensannahmen zu blockieren, ist der Befassungshorizont in typisch soziologischer Manier erweitert und durch eine Stellgröße ergänzt worden, die das Leben der Menschen in somatischer, psychischer und sozialer Hinsicht nachhaltig beeinflusst und in besonderer Weise für die Erzeugung und Befriedigung von Bedürfnissen zuständig ist: die moderne Gesellschaft mit ihrer funktionsorientierten Differenzierungsmatrix und ihrer zentrifugalen Dynamik. Wichtige und bislang unbemerkte Zusammenhänge lassen sich hierdurch zum Vorschein bringen und für die modelltheoretische Durchleuchtung des Sportpublikums und der Zuschauermotive nutzen: Der Sport konnte durch die Ausdifferenzierung eigener Regeln und Organisationen sowie die Internationalisierung und mediale Verbreitung seiner Sinnbezüge zum ersten Teilsystem der Weltgesellschaft reüssieren. Als bedeutsam hat sich in diesem Zusammenhang der Umstand erwiesen, dass der Sport vornehmlich ein sprachunabhängig wahrnehmbares Körper- und Bewegungshandeln prozessiert und gesellschaftlich Exkludiertes und

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Marginalisiertes in einer modernen Weise einzubeziehen versteht, ohne dabei auf eine krude Kompensation vernachlässigter oder verlorengegangener Bedürfnisse und Motivlagen setzen zu müssen. Er ist in dieser Hinsicht ein »Parasit«, der gleichzeitig sowohl von den Errungenschaften als auch von den Folgeproblemen profitiert, die sich im personalen Erleben und Handeln nach dem Wechsel der Gesellschaft von Stratifikation auf funktionale Differenzierung ergeben haben. Diese doppelte Fundierung in den Ambivalenzen der Moderne erklärt die Stabilität, die der Sport nach seiner Loslösung aus der diffusen Verschränkung mit anderen Sozialsystemen – vornehmlich Religion, Erziehung, Medizin, Politik und Militär – als soziokulturelles Phänomen erreichen konnte. Unter Rückgriff auf vormoderne Körper-, Spiel- und Bewegungspraktiken hat er eigene Selbstbezüglichkeiten ausgeprägt und sich als ein Sozialsystem etabliert, das eine große Anzahl der Gesellschaftsmitglieder sowohl aktiv in Bewegung setzt als auch passiv unterhält und fasziniert. Die Mehrfachteilhabe des Sports an den sozietalen Umbauprozessen und deren Wirkungen zeigt sich in der Analyse der Sportbegeisterung in besonderer Weise: So ist die Inklusion in die Publikumsrollen des Sports erst auf der Grundlage moderner Kommunikations- und Transporttechniken möglich geworden. Menschen können in ihrer Freizeit unabhängig von Herkunft und Rang hochverdichtet an wenigen Orten zusammenkommen, auf Massenbasis an Wettkämpfen teilhaben und mit Hilfe der Medien über Sportereignisse informiert werden, die jenseits des Horizontes stattfinden. Das spitzensportliche Handeln, dass die Zuschauer hierbei zu sehen und zu hören bekommen, ist in seinen charakteristischen Merkmalen hochgradig modern. Siegescode, Leistungskonkurrenz, spezialisierte und verberuflichte Athleten- und Trainerrolle, Organisationsbildung, Ökonomisierung, Verrechtlichung und Verwissenschaftlichung sind nur einige der diesbezüglich unzweideutigen Merkmale. Der gesellschaftliche Modernisierungsprozess schuf aber auch erst, und dies ist die andere Seite der Medaille, den Bedarf, sich jenseits von Alltag und Routine, von Körperdistanzierung, Affektdämpfung, Gemeinschaftsverlust und biografischer Diskontinuität als Zuschauer durch den Sport unterhalten und zerstreuen zu lassen. Aus der weltweit gestiegenen Nachfrage nach spannenden, affektiv aufgeladenen, heldenerzeugenden und gemeinschaftsstiftenden Sportleistungen durch das Publikum lässt sich in einem instruktiven Umkehrschluss ableiten, wie weit die Durchrationalisierung des modernen Lebens fortgeschritten ist und wie sehr die humanen Kollateralwirkungen des gesellschaftlichen Wandels bereits im Alltag virulent geworden sind. Der Spitzensport gibt seinem Publikum demgegenüber das Versprechen, dass alternative Erlebnismöglichkeiten abseits der üblichen Routine und organisatorischen Zurichtung von Person, Körper und Gemeinschaft noch existieren und nicht im Mahlwerk funktionaler Differenzierungsprozesse zerrieben worden sind. Die Zuschauer schätzen am Leistungs-

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sport, dass er nicht so ist, wie der Rest der Gesellschaft. Sie goutieren die Differenz zwischen Wettkampf und Alltag. Da soziale Enklaven, die gegen das alltägliche Einerlei gerichtet sind, in Gefahr stehen, durch Routinisierung unterlaufen und ihrer schöpferischen Kraft beraubt zu werden, drohen Paradoxien, die es organisatorisch zu bewältigen gilt. Die Trennung von Vorderbühne und Hinterbühne und die permanente Generierung von Spannung und Zerstreuung durch ergebnisoffene Wettkampfserien und eine auf kommunikative Begleitung, Kommentierung und Begeisterungssteigerung spezialisierte Medienindustrie helfen dabei, entparadoxierende und langeweileverhindernde Wirkungen beim Publikum zu erzielen. Der zweite Themenschwerpunkt hinterfragt die Helden des Sports und ergänzt das bereits in der Analyse der Sportbegeisterung als Motivbaustein bedeutsam gewordene Thema der Heldenverehrung durch wichtige Einsichten. Wenn die in Publikumsrollen inkludierten Zuschauer spätestens in Momenten nationaler Euphorie, etwa nach gewonnenen olympischen Medaillen oder Weltmeisterschaften heimischer Athleten, von affektiver Kontrolle auf lautstarke Devotion umschalten und ihre Helden in einem Freudentaumel auf öffentlichen Straßen und Plätzen feiern, ist abzuklären, was hinter diesen kollektiven Huldigungsritualen und Achtungserweisen steckt. Welche Leistungen werden hier eigentlich belohnt? Offensichtlich sind es nicht nur die aus der Ferne heimgebrachten »Beutestücke«, Trophäen, die bewundert werden. Es geht vielmehr um Ehre, Identität und die Teilhabe der Zuschauer an imaginierten Gemeinschaften, um einen identifikatorischen Schulterschluss zwischen Akteuren und Beobachtern. Vor allem: Was lässt sich über die Gesellschaft lernen, in der das kollektive Bejubeln von Sporthelden wahrscheinlich geworden ist? Und warum sind es gerade Athleten und Athletinnen, und nicht etwa Wirtschaftsführer, Politiker, Priester, Wissenschaftler, Soldaten oder als Nothelfer bekanntgewordene Alltagsakteure, die in der öffentlichen Heldenrhetorik eine dauerhafte Monopolstellung einnehmen und den Status parasozialer Figuren erwerben konnten? Um all diese Fragen komplexitätsangemessen zu beantworten, sollen zunächst die Rahmenbedingungen und Präsentationsformen unter die Lupe genommen werden, die entscheidend dazu beigetragen haben, dass der Spitzensport zum zentralen Heldensystem der modernen Gesellschaft avancieren konnte. Da Personen und Personengruppen mit ihren Leistungen letztlich erst durch Beobachtung sowie durch Begleit- und Folgekommunikation und das Vorhandensein von Vergleichsstandards zu Helden deklariert werden können, und die hymnische Fremdpreisung insofern zum Heldengeschäft gehört, ist es in einem Folgeschritt unverzichtbar, die narrativen Verlaufsfiguren von Sportheldengeschichten nachzuzeichnen und die verschiedenen Heldentypen zu benennen, die der Spitzensport als schnell erkennbare »Charaktermasken« in seinen Wettkampfepisoden ausprägt und als Personenthemen in das gesellschaftliche Kom-

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munikationspanorama einschleust. In funktional differenzierten Gesellschaften ist der auf Konkurrenz, Erfolg und Leistungssteigerung ausgerichtete Spitzensport offensichtlich der einzige Sozialbereich, der real existierende Helden noch in einer ungefährlichen und sozial weithin akzeptierten Weise zu produzieren vermag. Eben weil er im Ensemble der verschiedenen gesellschaftlichen Funktionsfelder eine entbehrliche Größe darstellt und ihm keine Bedeutung für die basale Reproduktion der Gesellschaft zukommt, sind seine Hauptakteure für konsens- und identitätsstiftende Heldenattributionen freigesetzt. Sporthelden irritieren und polarisieren ihre Zuschauer nicht durch ein geld-, macht-, wahrheits- oder glaubensorientiertes Handeln; sie erzeugen vielmehr Bewunderung und Faszination durch hochstehende physische, psychische und technischtaktische Kompetenzen. Nach diesem Ausflug in die Welt der exemplarischen Sozialfiguren und der kollektiven Heldenadoration durchleuchtet der dritte Themenschwerpunkt die Sinnmotive, mit denen Menschen dazu gebracht werden, ihr Leben und ihre Gesundheit im Rahmen riskanter Praktiken aufs Spiel zu setzen. Die Grenzgänger und Abenteuervirtuosen, die als Extrembergsteiger, Big-wave-Surfer, Ultramarathonläufer, Apnoetaucher, Freerider oder Basejumper bewusst die Konfrontation mit naturalen Dynamiken und Gesetzmäßigkeiten suchen, um sich zu erproben und zu bewähren, werden in Kap. 3 und 4 mit der nüchternen und überindividuell ausgerichteten soziologischen Frage konfrontiert: Für welche im gesellschaftlichen Modernisierungsprozess hervorgerufenen psychischen, physischen und sozialen Probleme signalisieren diese Selbstgefährdungspraktiken eine Lösung zu sein? Die Ausführungen über die Angstlust und das Lebendigkeitsbegehren der Abenteuer- und Risikoakteure, über ihre Suche nach Einzigartigkeit, Gewissheit, Lebendigkeit, Körper- und Selbsterfahrung sowie nach Raum- und Gegenwartserlebnissen zeigen, dass man sehr viel von der Wirkungsweise funktionaler Differenzierung und der Durchrationalisierung der unterschiedlichen Lebenswelten zu sehen bekommt, wenn man extreme Betätigungen nicht isoliert auf Instinkte, Triebe, Gene, hormonal gesteuerte Bedürfnisse, frühkindliche Traumata, anthropologische Gesetzmäßigkeiten oder autonome psychische Befindlichkeiten zurückführt, sondern hierfür vielmehr die moderne Gesellschaft mit ihrem Möglichkeits- und Wirkungsreichtum in Rechnung stellt. Der vierte Themenschwerpunkt analysiert in drei Einzelstudien ein Problemfeld, das für den Sport eine systemgefährdende Sprengkraft besitzt: das Dopingphänomen. Wenn immer mehr Beobachter den Spitzensport pauschal als Spritzensport ansehen und nicht mehr bereit sind, über die weit verbreiteten devianten Praktiken hinwegzusehen, steht nicht nur der gute Ruf des Sports auf dem Spiel, auch die Ressourcenzuweisungen relevanter Umfeldakteure stehen in Gefahr, eingestellt oder erheblich reduziert zu werden. Eine Ahnung, welche

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Konsequenzen hieraus für den Sport resultieren können, lässt sich durch einen Blick in die Entwicklung der System-Umwelt-Beziehungen notorisch dopingfreundlicher Sportarten gewinnen. So haben sich wichtige Sponsoren nach den zahlreichen Skandalen der letzten Jahre gänzlich aus der Unterstützung der Profiteams im Radrennsport zurückgezogen, um durch die medial verbreiteten Negativschlagzeilen nicht mitgeschädigt zu werden und eigene Investitionen ohne einen entsprechenden »return of investment« abschreiben zu müssen. Vormals klassische Radrennen sind eingestellt worden, weil Kommunen und lokale Finanzgeber nicht mehr bereit sind, knappe Geldmittel in eine dopingverseuchte und entsprechend schlecht beleumundete Sportart zu investieren. Die Möglichkeiten nationaler Athleten, in eigenen Profiteams eine Anstellung zu erhalten, sind hierdurch erheblich reduziert worden, was einer massiven Deprofessionalisierung des nationalen Radsports gleichkommt. Als besonders folgenreich für die Beziehungsgestaltung zwischen Spitzensport und Wirtschaft erwies sich der tatsächliche oder auch nur angedrohte Rückzug des öffentlichrechtlichen Fernsehens aus der Life-Berichterstattung bei den großen Rennen. Eine ähnliche Situation bahnt sich in anderen Sportarten an. Den Veranstaltern klassischer Turniere im Reitsport drohen die öffentlich-rechtlichen Medien mit einem Rückzug aus der Fernsehberichterstattung, wenn der internationale Verband weiterhin darauf verzichtet, die hohen Standards der europäischen Tierschutzverordnungen anzuerkennen. Auch den Profi-Boxställen wird ein medialer Rückzug angedroht, wenn die Promoter keine überraschend durchgeführten Trainingskontrollen bei ihren Athleten zulassen. Am Anfang der Dopinganalyse steht in Kap. 5 eine soziologische Beobachtung zweiter Ordnung. Wie wird Doping beobachtet und rekonstruiert? Eine Abklärung dieses Sachverhalts ist wichtig und unverzichtbar, weil der Umgang mit Doping in maßgeblicher Weise davon abhängt, wie der organisierte Sport und wichtige Umfeldakteure das Problemfeld beobachten und beschreiben und auf welcher Erkenntnisgrundlage sie ihre Maßnahmen gegen die Dopingdevianz organisieren. Als problemverschärfend hat sich bis heute der personalisierende und singularisierende Umgang mit Doping in Sport, Recht, Pädagogik und Massenmedien erwiesen. Dopingvergehen werden in den dort ablaufenden Diskursen nahezu ausschließlich dem Fehlverhalten einzelner Menschen zugerechnet. Damit kommt eine Technik zur Reduktion von Komplexität zum Einsatz, die weniger der analytischen Durchdringung der Dopingrealität dient, als vielmehr dem Latenzschutz des organisierten Sports. Die Wirkungen multipler Akteurverstrickungen zwischen Sport, Wirtschaft, Politik, Massenmedien und Publikum werden dabei nachhaltig ausgeblendet. Auch der immer wieder zu hörende Ruf, doch endlich den Hintermännern das Handwerk zu legen, stellt nichts anderes als den Versuch dar, die strukturellen Dynamiken, die zum Doping führen, weiterhin zu missachten und Doping in einer penetrant simplifizie-

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renden Weise kontrafaktisch an einzelnen Personen festzumachen. Entsprechend täter- und personenorientiert fallen die Maßnahmen des organisierten Sports aus, Doping als illegitime Innovation zu eliminieren. Alle Versuche, die in Hochkostensituationen stehenden Athleten mit ethisch-moralischen Argumenten gegen »böse Mächte« aufzurüsten oder durch eine Kontrollintensivierung von ihrer Devianz abzubringen, sind bislang fehlgeschlagen, weil Doping, wie Kap. 6 verdeutlicht, als eine Mehrzweckwaffe auf der Mikroebene des Spitzensports zum Einsatz kommt, um die typischen biografischen Risiken der Athletenrolle zu kontern. Nimmt man die Makro- und Mesoebene des Geschehens zusätzlich ins Visier, erscheint Doping als ein transintentionales Phänomen (Kap. 7), dass sich durch Akteurverstrickungen hartnäckig in der Gegenwartsgesellschaft festgesetzt hat und strukturell immer wieder neu angeheizt wird. Permanenz und Renitenz in der Nutzung illegitimer Verfahren und Mittel deuten darauf hin, dass im Spitzensport überindividuelle Dynamiken am Werk sind, die sich nicht linear aus den Handlungsabsichten einzelner Personen ableiten lassen. Die in diesem Band vorgestellten Studien zur globalen Sportbegeisterung, zur Soziologie der Sporthelden, zu den diversen Sinnmotiven des Abenteuerund Risikosports sowie zur Dopingproblematik zielen alle darauf ab, ausgewählte Erscheinungsweisen des Sports vor dem Hintergrund der Gegenwartsgesellschaft zu durchleuchten. Mit dieser Erweiterung der Perspektive lassen sich Blicke auf den Sport werfen, die komplexer und variantenreicher ausfallen als rein personen-, daten- oder wesensorientierte Zugriffsweisen. So kann mit Hilfe einer theoretisch interessierten Soziologie ein Weltausschnitt in einer erfrischend anderen Weise erhellt und auf den Punkt gebracht werden, der trotz des großen öffentlichen Zuspruchs in vielen Bereichen intransparent geblieben ist. Schließlich verfolgen die hauptsächlichen Beobachter des Sports, das Sportpublikum und die Massenmedien, keine wissenschaftlich-analytischen Interessen, wenn sie dem Geschehen in den Arenen und Hallen beiwohnen oder darüber in immer wieder neu anschwellenden Wörter- und Bilderfluten berichten. Die einen wollen, schlicht formuliert, einfach nur ihren Spaß haben und sich amüsieren; die anderen sind darauf aus, Informationen zu übermitteln, Aufmerksamkeit zu erzielen und eigene Einschaltquoten und Auflagen zu erhöhen. All dies ist legitim und in der Gegenwartsgesellschaft sozialstrukturell tief verankert. Gründe, sich akademisch mit den von Zuschauern oder Medien generierten Einsichten zufriedenzugeben, gibt es allerdings nicht. Demgegenüber lassen sich viele Gründe finden, um den Sport und dessen Beobachter und Nutzer zusätzlich mit dem Theorieinventar der Soziologie zu durchleuchten. Denn offensichtlich hat die moderne Gesellschaft durch die Ausgliederung sowohl des Zuschauer- als auch des Teilnehmersports auf Errungenschaften und Probleme reagiert, die sie durch ihr funktionales Differenzierungsprinzip selbst her-

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vorgerufen und hinter dem Rücken der Akteure auf Dauer gestellt hat (Bette 2010: 5ff., 87ff.). Hieraus lässt sich eine wichtige Forderung ableiten: Wer die Moderne im Rahmen soziologischer Gesellschaftsdiagnosen umfassend auf den Begriff bringen möchte, darf über den Sport nicht schweigen! Eine sportsoziologische Aufklärung hat allerdings nicht nur die verschiedenen Erscheinungs- und Nutzungsformen des Sports zu analysieren; sie hat ihr Aufklärungsgeschäft vielmehr auch auf jene Instanz auszudehnen, die mit einem derartigen Begehren an die Öffentlichkeit tritt. Eine sportsoziologische Aufklärung muss, anders formuliert, sich selbst zum Thema machen und reflexive und rekursive Schleifen in ihre Beobachtungen und Beschreibungen einbauen. Eine derartige Vorgehensweise ist spätestens dann unverzichtbar, wenn eine Disziplin wie die Sportsoziologie bereits Wirkungen im Sport hinterlassen hat, und dieser Sozialbereich infolge dessen nicht mehr als eine vollkommen wissenschaftsfreie Zone angesehen werden kann. Dringen Beobachtungen zweiter Ordnungen in die Beobachtungen erster Ordnung vor und übernehmen dort eventuell sogar Orientierungs- und Steuerungsfunktionen, hat sich dies im Selbstverständnis der betreffenden Wissenschaftsdisziplin entsprechend niederzuschlagen. Man denke nur an die »Versozialwissenschaftlichung« der Sportsprache, das Hineindiffundieren sportsoziologischer Erkenntnisse in die Sportlehrer- und Trainerausbildung, die Irritationen der korporativen Sportakteure durch sportsoziologische Doping- und Hooliganstudien oder an die empirischen Daten, die durch Kommissionsberichte und Bestandsanalysen in den organisierten Sport hineingelangt sind. Das letzte Kapitel stellt deshalb die Sportsoziologie selbst in den Mittelpunkt der analytischen Bemühungen und nimmt damit in einem abschließenden Schwerpunkt eine Abklärung der sportsoziologischen Aufklärung vor. Darmstadt, im November 2010

Karl-Heinrich Bette

1 Sportbegeisterung und Gesellschaft

Der Spitzensport ist ein fester Bestandteil der zeitgenössischen Freizeit- und Unterhaltungskultur. Die olympischen Sommer- und Winterspiele, die FußballWeltmeisterschaften, die Tour de France, die Rennserien der Formel 1, die Grandslam-Turniere im Tennis oder die Ligaspiele in den diversen Ballsportarten schlagen regelmäßig Millionen in ihren Bann. Sportliche Wettkämpfe werden dabei von vielen Menschen nicht nur beiläufig wahrgenommen. Die Rhythmik des Sportkalenders prägt vielmehr die Lebensweise und Zeitverwendung breiter Bevölkerungskreise, so dass bei nicht wenigen Gesellschaftsmitgliedern Entzugserscheinungen oder Melancholiegefühle entstehen, wenn etwa die Fußball-Bundesliga Pause macht oder die olympischen Spiele sich mit einem Abschiedsritual in die Zukunft vertagen. Für viele ist der im Stadion wahrgenommene, am Fernsehbildschirm erlebte, im Radio gehörte oder in der Tageszeitung gelesene Sport zu einem wichtigen Lebensbegleiter geworden, dessen Fehlen als Verlust erlebt würde. Die Resonanz, die gerade die populären Sportarten mit ihren Großereignissen bei zuschauenden Massen hervorrufen, brachte anfangs einige Kulturkritiker dazu, auf eine Semantik der Sucht, des Verrücktseins, der Krankheit und Entfremdung zurückzugreifen, um die ihnen unverständliche Sportbegeisterung zu erklären. Deutungsversuche dieser Art können wenig befriedigen, weil sie die Zuschauer in ihren Bedürfnissen und Artikulationsformen nicht ernst nehmen, sondern aus einer Pose der besserwisserischen Überlegenheit kritisieren. Die Beobachter sagen damit wenig über die Zuschauer, aber viel über sich selbst aus. Sie deuten letztlich im Subtext ihrer Äußerungen auf Probleme hin, die sie mit den Themen Körper und Sport, Spaß und Hingabe sowie mit Phänomenen kollektiven Verhaltens haben. Wer pauschalisierend über die Inklusion der Zuschauer in den Sport herzieht und deren Teilhabe simplifizierend als Konsequenz gesellschaftlicher Verblendungszu-

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sammenhänge wertet oder unter dem Aspekt falsch platzierter und vergeudeter revolutionärer Energien abhandelt, reduziert die Analyse eines weltweit verbreiteten Phänomens in einer unzulässigen Weise auf eigene politische Veränderungswünsche. Vor allem fehlt dieser Vorwurfs- und Ressentimentrhetorik eine klare theoretische Durchdringung sowohl der Publikumsmotive als auch des Kontextes, in dem die Motive evoziert und dauerhaft zur Entfaltung gebracht werden. In der Sportbegeisterung lässt sich nicht nur Interessantes über den Sport lernen, sondern auch über die Gesellschaft, in der sportliche Ereignisse eine enthusiastische Nachfrage erfahren. Im Spaß der Massen bekommt der soziologische Beobachter in einer subtilen Weise vor allem die Wirkungen zu sehen, mit denen Menschen im gesellschaftlichen Modernisierungsprozess konfrontiert werden. Im Folgenden geht es deshalb nicht allein darum, die Motive herauszuarbeiten, die das Sportpublikum dazu bringen, ein Interesse am Leistungssport zu entwickeln und auf Dauer zu stellen. Vielmehr sollen die Ausführungen über die Motivlage des Sportpublikums auch in eine Diagnose der Gegenwartsgesellschaft und ihrer Verdrängungen und Verluste eingebettet werden. Die Beweggründe für das Sportinteresse des Publikums lassen sich auf der Grundlage dieser zeitdiagnostischen Einschätzungen dann als Vordergrundphänomen ableiten und zuordnen. Die ergänzenden Folgefragen lauten dann beispielsweise: Warum schalten Menschen auf Massenbasis ihre Fernsehgeräte ein, wenn zwei Mannschaften einem Ball hinterherjagen, Leichtathleten im Stadion ihre Runden drehen oder Radsportler sich über mehrere tausend Kilometer durch Städte und Landschaften quälen? Welche sozialen Bedingungen haben die Unwahrscheinlichkeit einer Begeisterung für derartige Praktiken in eine Wahrscheinlichkeit transformiert, und zwar so wirksam, dass in der Begeisterung typischerweise die sozialen Bedingungen der Begeisterung selbst unthematisiert bleiben. Damit gerät ein Themengebiet in den Aufmerksamkeitshorizont hinein, das lange Zeit in der Theoriebildung vernachlässigt wurde. In der Anfangszeit der sportwissenschaftlichen Reflexionsarbeit kam der zeitgenössischen Sportbegeisterung keine größere Bedeutung zu. Die Sportmediziner befassten sich mit den Körpern von Athleten; die Sportpädagogen versuchten, den Sport als Schulfach zu legitimieren und aufzuwerten; den Didaktikern ging es um das Wie des Lernens und Vermittelns sportlicher Kompetenzen, den Biomechanikern um die Optimierung sportlicher Bewegungen. Das heißt: Alle Disziplinen waren in der einen oder anderen Weise an den Sportaktiven interessiert, und nicht am Publikum. Auch in den soziologischen Forschungen zum sogenannten »life-time-sport« oder zum »sport for all« hatte man die Zuschauer, Leser und Hörer schlichtweg vergessen – was eigentlich verwundert, da die Publikumsmotive in der Regel sehr stabil ausfallen und lebenslang aufrechterhalten bleiben.

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Folgende Beweggründe haben dazu beigetragen, das Interesse am Sportpublikum in den letzten Jahren zu steigern: Erstens haben die fortschreitende Kommerzialisierung und Medialisierung des Sports eine empirisch orientierte Rezipientenforschung innerhalb und außerhalb der Universitäten hervorgebracht. Nicht nur Medienanstalten, sondern auch Sponsoren wollen schließlich wissen, wer sich bei den Sendungen einschaltet und wie eigene Zielgruppen am besten zu erreichen sind. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen dringen häufig nicht an das Licht der Öffentlichkeit, da die Auftraggeber dieser Studien kein Interesse daran haben, ihre Marktkonkurrenten unentgeltlich mit den von ihnen finanzierten Forschungsergebnissen stärker zu machen. Die Leitfrage dieser Auftragsforschung lautet: Wer sitzt wo aus welchen Gründen und schaut welcher Sportart zu und kann dabei wie erreicht werden? Zweitens haben die Fanausschreitungen bei sportlichen Großveranstaltungen auf eine sehr drastische Weise verdeutlicht, dass man über die Motive des Publikums lange Zeit relativ wenig wusste. Für steuerungs- und ordnungspolitische Maßnahmen gegen den Hooliganismus im Fußball war es notwendig geworden, sich Klarheit zu verschaffen, was die betreffenden Sportfans eigentlich antreibt und deviant werden lässt. Hier waren es vor allem die zivilisationstheoretischen Arbeiten von Norbert Elias, Eric Dunning und der »Leicester School of Sport Sociology«, die zu einer historischen Einordnung des Zuschauerverhaltens im Fußball beigetragen haben. Ein dritter Grund für das gestiegene Interesse am Sportpublikum ergab sich aus sportpsychologischen Fragestellungen. Welche Faktoren bestimmen sportliche Leistungen? Können Zuschauer die Ergebnisse auf dem Spielfeld beeinflussen? (Beckmann 1991; Strauß 1994). Macht es einen Unterschied, ob eine Fußballmannschaft ein Heim- oder ein Auswärtsspiel zu bestreiten hat? Gibt es ein Katharsiserleben für Sportzuschauer? Ein vierter Grund für das Interesse am Publikum hat sich in den letzten Jahren aus der sportsoziologischen Beobachtung des Dopingphänomens ergeben (Bette/Schimank 1995a, 1996b). Wie ist zu erklären, so die Leitfrage, dass eine Abweichung von sportinternen Normen national und international über alle sportlichen Disziplinen hinweg zu beobachten ist und bis heute noch nicht nachhaltig aus der Welt geschafft werden konnte? Offensichtlich ist Doping ein Konstellationsphänomen, das sich durch das Zusammentreffen unterschiedlicher Interessen am Spitzensport immer wieder neu ergibt (vgl. Kap. 7). Das Sportpublikum tauchte in diesem Zusammenhang als eine unorganisierte Kollektivität auf, die durch ihre ungehemmte Nachfrage nach sportlichen Erfolgen und eigene Selbsttäuschungen dazu beiträgt, Doping strukturell mitzuerzeugen. Im Kontext dieser Überlegungen wurde die strategische Bedeutung des Sportpublikums im Geflecht der am Spitzensport interessierten Konstellationsakteure deutlich: Ohne ein Publikumsinteresse gäbe es kein wirtschaftliches, politisches und massenmediales Interesse am Spitzensport. Denn warum sollten Firmen einzelne Vereine, Ver-

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bände oder Athleten unterstützen, wenn es kein Publikum gäbe, das sich die Firmenlogos auf Sportlerhemden, Autos und Banden ansähe und anschließend entsprechende Kaufentscheidungen träfe, also ein Interesse am Spitzensport hätte. Und warum sollten Fernsehanstalten enorme Geldmengen für die Übertragung von Wettkämpfen ausgeben, wenn sie damit nicht auch entsprechende Einschaltquoten erreichen könnten. Das Sportpublikum wurde als der Prinzipal identifiziert, der das Interesse anderer gesellschaftlicher Akteure am Sport maßgeblich bestimmt. Dass der Spitzensport auch auf dem Bildschirm politischer Akteure als eine bedeutsame Größe auftaucht, verweist einerseits auf den Bedeutungsverlust nationaler Politik und andererseits auf die Bedeutung, die politische Akteure dem Leistungssport aufgrund seiner Sichtbarkeit zumessen. Das Sportpublikum tauchte, fünftens, neuerdings in Arbeiten auf, die sich mit der Einbeziehung von Personen in gesellschaftliche Funktionssysteme befassten oder Phänomene der Weltgesellschaft analysierten – ohne allerdings die Frage nach der Motivlage des Publikums zu stellen und plausibel zu beantworten. Rudolf Stichweh (2005: 113ff.) sah den Wettkampfsport und das Sportpublikum als getrennt operierende Sozialsysteme an. Nicole Burzan et al. (2008: 70ff.) durchleuchteten teilsystemische Inklusionsverhältnisse und stießen hierbei, mit empirischen Befunden, ebenfalls auf die Publikumsrollen des Sports. Christiane Eisenberg (2008) beantwortete die Frage nach dem Weltereignis-Charakter des Fußballs. Und Tobias Werron (2010) hinterfragte auf Grundlage der Arbeit von Rudolf Stichweh den »Weltsport und sein Publikum«, beging hier aber den inhaltlichen Fehler, seine Ausführungen auch mit Beispielen aus dem Baseball zu belegen, einer Sportart, die es seit 150 Jahren nicht geschafft hat, eine global betriebene und nachgefragte Disziplin zu werden, und deshalb eher als Beispiel für die misslungene Amerikanisierung des Weltsports taugt. Die folgende Analyse bleibt nicht bei dem Hinweis auf Prinzipal-Agent-Verstrickungen im Verhältnis von Sport, Publikum und gesellschaftlichen Großakteuren stehen, sondern geht einen Schritt weiter. Sie leitet die wichtigsten Publikumsmotive aus gesellschafts- und differenzierungstheoretischen Einsichten ab und thematisiert damit auch jene Stellgrößen, die hinter dem Publikum gefühlserzeugende und handlungsstimulierende Wirkungen entfalten. Eine derartige Vorgehensweise vernachlässigt konsequenterweise Fragestellungen bezüglich der sportartspezifisch variierenden Begeisterungsfähigkeit der Zuschauer, verzichtet auf eine Erhebung von Alters-, Schichtungs- und Geschlechtsvariablen des Publikums und fragt auch nicht nach vorhandenen nationalen Vorlieben und Reputationshierarchien. Auch wenn besondere Ereignisse wie Olympische Spiele oder Weltmeisterschaften immer wieder eine globale Resonanz hervorrufen, gilt das Zuschauer-, Leser- und Hörerinteresse in der Regel vornehmlich national präferierten Sportarten, Mannschaften oder auch einzelnen Athleten,

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die auf dem internationalen Sportparkett erfolgreich sind oder Erfolgsaussichten vorzuweisen haben. Generell lässt sich festhalten, dass das Sportpublikum erst lernen musste, am Leistungssport langfristig interessiert zu sein. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts hat die Begeisterungsfähigkeit für den Sport enorm zugenommen. Der Zuwachs verweist einerseits auf die spezifischen dramaturgischen Möglichkeiten des Sports, Interesse und Begeisterung hervorzurufen; andererseits deutet die gestiegene Nachfrage aber auch auf Veränderungen hin, die sich in Folge von Modernisierungsprozessen – Stichworte: Industrialisierung; Technisierung von Transport und Kommunikation; Urbanisierung; Organisationsbildung und Bürokratisierung; Stadt-Land-Migration; Trennung von Arbeit und Freizeit; Enttraditionalisierung der Geschlechterrollen; Verdrängung körperlich harter Arbeit; Verstuhlung der Bewegung – in den entwickelten Industriegesellschaften für das individuelle Erleben und Handeln ergeben haben. Aufgrund verbesserter Gelegenheitsstrukturen können viele Zuschauerbedürfnisse heute nahezu rund um die Uhr befriedigt werden. Offensichtlich gibt es demnach eine Zunahme an subjektiver Dringlichkeit, sich jenseits der Arbeitswelt und des Intimmilieus mit entbehrlichen Themen zu beschäftigen und zu vergnügen. Die Inklusion des Sportpublikums in eigenständige Rollen profitierte dabei sehr stark von technischen Innovationsschüben. Eisenbahn, Auto und Flugzeug versetzen Menschen heute in die Lage, sportliche Wettkämpfe an fernen Orten besuchen zu können. Und moderne Kommunikations- und Speichertechnologien – angefangen von Telegrafie, Zeitung und Radio bis hin zu Fernsehen und Internet – machen Sportereignisse, die jenseits des Horizontes stattfinden, unmittelbar verfügbar (Betts 1953; Bette 2010: 101ff.). Man kann sagen: Erst technische Errungenschaften haben die weltweite Einbeziehung der Zuschauer und die Internationalisierung des Sports ermöglicht. Wettkampfhandlungen zeichnen sich nämlich dadurch aus, dass sie in dem Moment, in dem sie passieren, praktisch verschwinden – ohne Spuren zu hinterlassen. Erst mit Hilfe von Sprache, Schrift, Bild und Ton und entsprechenden Verbreitungstechnologien lassen sich Sportereignisse konservieren und an Nichtanwesende gleichzeitig oder zeitversetzt übermitteln. Was die Zuschauer über den Leistungssport wissen, wissen sie in erster Linie über die Massenmedien. Selbst diejenigen, die regelmäßig ins Stadion gehen, um Spiele der Fußball-Bundesliga zu besuchen, müssen auf Zeitung, Fernsehen oder Radio zurückgreifen, um sich über die anderen Ligaspiele zu informieren. Was also treibt das Sportpublikum an, sich für den Spitzensport zu interessieren? Für welche Bedürfnisse signalisiert der Zuschauersport eine Lösung zu sein?

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SPANNUNGSLUST UND UNGEWISSHEITSBEGEHREN Moderne Gesellschaften produzieren ambivalente Effekte. Institutionen erleichtern einerseits die Lebensführung der Menschen, indem sie spezifische Leistungen in einer erwartbaren Weise verfügbar machen. Routinisierung, Bürokratisierung und Wohlfahrtsstaatlichkeit entlasten davon, alles selber machen zu müssen, und produzieren hierdurch eine durchaus positiv erlebte Sicherheit, die Vertrauen schafft und ein Handeln ohne permante Zukunftsangst ermöglicht. Andererseits rufen Organisationen der Daseinserleichterung und -fürsorge eine typisch moderne Langeweile hervor. Norbert Elias und Eric Dunning (1970) haben in ihren Studien über die Wirkungen des europäischen Zivilisationsprozesses eine »Suche nach Spannung in spannungsarmen Gesellschaften« auf der Ebene individueller Akteure vorgefunden. Anders formuliert: Der Sport profitiert in einer subtilen Weise von der Durchsetzung und Verbreitung zivilisatorischer Standards. In einer Gesellschaft, die Vorhersehbarkeit und Risikominimierung durch Strukturbildung hergestellt hat, gewinnen sportliche Wettkämpfe einen hohen Unterhaltungswert für zuschauende Massen, weil sie eine künstliche Art des Spannungserlebens ermöglichen. Der Leistungssport lässt sich deshalb als eine soziale Nische zur Bekämpfung der modernen Langeweile und Routine ansehen. Jede Liga, ob im Fußball, Basketball, Handball, Ringen oder Boxen, verweist nicht nur auf sportliche Leistungs-, Konkurrenz- und Hierarchisierungsinteressen, sondern deutet auch auf das Bedürfnis nach Abwechslung, Spannung und Routineunterbrechung hin. Menschen können in der Zuschauerrolle als externe Beobachter an einem sozialen Konflikt teilhaben. Verbände als korporative Akteure arrangieren und inszenieren konkurrenzorientierte Interaktionen mit Hilfe von Verregelung, Versachlichung und Rollenspezialisierung vor real anwesenden Zuschauern, um ein vornehmlich physisch nicht anwesendes Publikum massenhaft zu unterhalten. Das in einem Wechsel zwischen Spannung und Entspannung, Freud und Leid sowie zwischen Hoffnung und Enttäuschung hin und her oszillierende Erleben der Zuschauer ist das Ergebnis einer spezifischen Dramaturgie, die den Beobachter mit Haut und Haaren erfasst und in das Geschehen hineinzieht. In der Beobachtung der Krisenbewältigung der Sportler vergisst der einzelne Zuschauer sich und seine Nöte und erreicht so einen Zustand der Selbst- und Seinsvergessenheit. Im »Eifer des Gefechts« zählt nur der Augenblick des sportlichen Geschehens, und nicht die Problemsituation, die man vielleicht als Zuschauer oder Zuschauerin außerhalb des Stadions zu bewältigen hat. Spannung entsteht dabei nicht zufällig, sondern ist das Ergebnis eines Zusammentreffens des sportlichen Sieg/Niederlage-Codes mit den Prinzipien des offenen Wettkampfausgangs und der formalen Gleichheit der Akteure.

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Die Sieg/Niederlage-Orientierung ist die zentrale Leitorientierung des Leistungssports. Anhand dieses zweiwertigen Schemas wird aus einer unendlichen Fülle von Handlungsmöglichkeiten eine hochselektive Auswahl getroffen. Andere Werte bleiben per definitionem unberücksichtigt. Jede Position in dieser binären Logik profiliert sich nicht in sich selbst, sondern gewinnt ihre Bedeutung nur als Negation des jeweils anderen Wertes. Ein Sportler kann einen Sieg nur dann erringen, wenn in einem Wettkampf gleichzeitig auch Verlierer ermittelt werden. Anders herum gilt auch: Ohne Verlierer gäbe es keine Sieger! Der Spitzensport lässt Zuschauer damit sowohl an der Freude der Sieger als auch an der Niedergeschlagenheit der Verlierer teilhaben. In einer Gesellschaft, in der die Bewertung einzelner Sachverhalte durch den Differenzierungsgrad der Gesellschaft durchaus uneindeutig ausfällt, erzeugen Wettkämpfe durch ihre scharf diskriminierende Leitorientierung eine unbarmherzige Eindeutigkeit, die die Sportakteure mit technischen Mitteln hartnäckig aufrechterhalten und verteidigen. Wo die Sinne von Kampfrichtern überfordert sind, entscheiden Zielkameras und anderweitige Mess-Systeme, wer gewonnen oder verloren hat. Der Zweite in einem Wettkampf ist dabei immer auch der erste Verlierer. Der direkt gegenüber dem Olympischen Dorf angebrachte Werbe-Slogan der Sportartikelfirma Nike bei den Olympischen Spielen 1996 in Atlanta drückte diese Logik unmissverständlich aus: »Freu’ Dich nicht, dass Du Silber gewonnen hast, sei vielmehr traurig, dass Du Gold verloren hast.« Neben der Sieg/Niederlage-Logik sorgt ein weiteres dramaturgisches Arrangement im Leistungssport für Spannungsgefühle beim Sportpublikum: der prinzipiell offene Wettkampfausgang. Wer gewinnen wird, ist vor einem Wettkampf in der Regel nicht bekannt. Sportliche Konkurrenzen sind deshalb immer überraschend und unvorhersehbar. Dort, wo Athleten oder Mannschaften in ihrem Kompetenzniveau zu weit auseinanderliegen, sorgen Gewichtsklassen sowie Alters- und Geschlechtseinteilungen für die Herstellung einer formalen Ausgangsgleichheit. Wettkämpfe, von denen man vorher schon wüsste, wie sie hinterher ausgingen, wären schlichtweg langweilig. Die selbstverschriebene Ungewissheit, die bis zuletzt gegeben ist, stellt ein wichtiges Sinnkriterium des Leistungssports dar. Im Basketball oder im Handball fällt die Entscheidung oft erst in der letzten Sekunde, was die Spannung bis zur Unerträglichkeit steigern kann. Und auch das nach einer Verlängerung anberaumte Elfmeter-Schießen im Fußball bei einer Europa- oder Weltmeisterschaft ist nachweislich eine finalisierende Maßnahme, die über nationale Grenzen hinweg zu einer dramatischen Erhöhung der Pulsfrequenz von Zuschauern führt. Spannung entsteht dabei als eine spezifische Orientierung auf Zukunft: Selbst wenn alles in einem Wettkampf als bereits entschieden erscheint, kann es im letzten Augenblick immer noch einen unerwarteten Umschwung geben – man denke nur an den »lucky

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punch« im Boxen oder den in der letzten Sekunde erfolgreichen und spielentscheidenden Korbwurf im Basketball. Dass regelkonform durchgeführte Sportwettkämpfe weder abgesprochen werden noch ergebnismäßig vordeterminiert sind, markiert den Unterschied zum Spannungserleben in der virtuellen Welt der Kriminalromane oder Horrorfilme. Schaut man sich einen spannenden Film am nächsten Tag noch einmal im Kino an oder liest den Krimi noch ein zweites Mal, wird man sicherlich noch Feinheiten entdecken, die vorher nicht bemerkt wurden. Dennoch passiert Identisches auf der Leinwand oder Buchseite, weil das Handeln der Akteure in Bild- oder Schriftform genau festliegt und in Papier, Zelluloid oder in anderen Medien reproduzierbar abgespeichert wurde. Wer einen Kriminalroman liest, kann außerdem auf den letzten Seiten nachlesen, wie die Geschichte ausgeht und wer der Mörder ist (Bette 1989: 174ff.). Spannungsgefühle kann ein Krimileser oder ein Kinobesucher also nur dann entwickeln, wenn er sich strikt an das Skript des Verfassers oder Regisseurs hält, den Text oder den Film sukzessiv von vorne nach hinten liest oder ansieht, ohne zwischen den Zeilen oder Bildsequenzen hin und her zu springen, um Lese- bzw. Sehzeit zu gewinnen oder nicht vorgesehene Einblicke in zukünftige Entwicklungen zu nehmen. In einem sportlichen Wettkampf ist eine vergleichbare Umgehung des offiziellen Skripts nicht möglich, weil die Ergebnisoffenheit Teil der Inszenierung ist. Ein Zuschauer hat sich vielmehr im Hier und Jetzt auf die real ablaufende Sportzeit einzulassen und sich mit ihr zu synchronisieren. Das sportspezifische Spannungserleben setzt allerdings voraus, dass der Zuschauer das Skript, die Spielund Wettkampfidee, in etwa verstanden haben muss. Damit wird deutlich: Auch das Spannungsträchtige einer Sportart muss erst erlernt werden. Ein Europäer wird nicht notwendigerweise tiefe Spannungsgefühle entwickeln, wenn er zum ersten Mal ein Baseball-Spiel beobachtet. Und viele US-Amerikaner finden den europäischen Fußball ziemlich langweilig. Das Spannungserleben der Zuschauer wird demnach durch die Art und Weise beeinflusst, wie das Regelwerk der einzelnen Sportdisziplin den Sieg/Niederlage-Code umsetzt. Sportspiele mit Zeitbegrenzung sind häufig spannender als Spiele ohne temporale Begrenzung. Spannend ist der Leistungssport für Zuschauer weiterhin auch dadurch, dass er gegenüber anderen Zuteilungskriterien, die soziale Positionen nach Rasse, Religion, Herkunft oder Moral verteilen und legitimieren, ausdrücklich indifferent ist. In einem 100-m-Lauf gewinnt der schnellste Läufer, und nicht der schönste, reichste oder sozial deprivierteste Athlet. Wo nur die regelkonform erbrachte, exakt gemessene Leistung unter formal Gleichen zählt, können sich weltweite Verbreitungsideen wie der moderne Olympismus problemlos institutionell verfestigen. Der universelle Charakter des Sportcodes ließ den Leistungssport deshalb auch zum ersten Teilsystem der Weltgesellschaft werden.

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Eine wichtige Randbedingung für das Spannungserleben und die Begeisterung der Zuschauer ist die prinzipielle Konsequenzlosigkeit des sportlichen Wettkampfes für die Daseinsführung der Beobachter. Für die Zuschauer steht in der Regel selbst nichts auf dem Spiel. Sie können mitzittern, euphorisch den Sieg feiern oder heulend die Niederlage kommentieren. Dennoch gibt es für das Sportpublikum auf Grund der prinzipiellen Konsequenzlosigkeit des sportlichen Wettkampfes ein unbelastetes Genießen, einen angenehmen »Thrill«, ein erfülltes Gegenwartserleben. Damit ist insgesamt nicht gesagt, dass Spannungsmomente in der Gegenwartsgesellschaft ausschließlich im Sport oder in der virtuellen Welt der Medien anzutreffen wären und ansonsten gänzlich aus dem modernen Leben verdrängt worden seien. Dies ist sicherlich nicht der Fall. Ein Blick in die Tageszeitung und das Einschalten der Hauptnachrichten im Fernsehen machen dem Beobachter schnell klar, dass spektakuläre Dinge tagtäglich national und international zuhauf passieren. Sieht man von problematischen Großereignissen wie Krieg, Terror oder Naturkatastrophen einmal ab, so gibt es auch in den typischen Situationen der Jedermann-Rolle ein durchaus häufiges Spannungserleben: die Angst eines Schülers, versetzt oder nicht versetzt zu werden; die Angst eines Patienten vor einem operativen Eingriff oder die Angst vor Arbeitslosigkeit oder dem Abbau sozialer Leistungen. All diese Spannungsformen haben mit psychisch belastenden und existentiell bedeutsamen Situationen zu tun. Demgegenüber gehört der Sport für das Publikum zur Kultur des Überflüssigen und Entbehrlichen. Selbst der schmerzliche Abstieg der eigenen Mannschaft aus der Bundesliga ist nicht vergleichbar mit dem Verlust des Arbeitsplatzes oder einer gescheiterten Ehe. Fans verlieren auch nicht ihren beruflichen Status, wenn die eigene Mannschaft eine Niederlage hinzunehmen hat. Der wettbewerbsorientierte Sport bietet aufgrund seiner basalen Entbehrlichkeit eine sozial legitimierte Möglichkeit, aus dem Alltag und den dort herrschenden Zwängen zumindest kurzzeitig auszubrechen: Der Sport ermöglicht eine »Auszeit« vom Ernst des Lebens – und ist gerade deswegen paradoxerweise für viele Menschen existentiell bedeutsam. Das heißt: Eben weil der Leistungssport prinzipiell gesellschaftlich entbehrlich ist und nicht die Bedeutung von Politik, Wirtschaft, Recht oder Wissenschaft erreichen kann, ist er für viele zu einem Fluchtpunkt der Sinnhaftigkeit geworden – gerade für Zuschauer. Um es deutlich zu formulieren: Eine Gesellschaft kann ihre basale Reproduktion auch ohne spitzensportliche Wettkämpfe sichern. Wenn von heute auf morgen alle sportlichen Konkurrenzen wegfielen, keine Olympischen Spiele, Weltmeisterschaften oder Bundesligen mehr stattfänden, würden viele Menschen zweifellos gravierende Entzugserscheinungen haben. Auch die sportorientierten Segmente der Freizeit- und Unterhaltungsindustrie würden diesen Wegfall nachhaltig in ihren Bilanzen spüren. Gesellschaftlich aber ginge es dennoch

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weiter. Der Spitzensport ist in der Tat, wie die Medien immer wieder kolportieren, die »wichtigste Nebensache der Welt«. Vielleicht trifft aber auch zu, was der Sportjournalist Uwe Prieser vor einigen Jahren (FAZ vom 28.9.1996) angesichts der rabiaten Kommerzialisierung des olympischen Spitzensports formulierte. Der Sport sei, so seine Deutungsofferte, zur »unwichtigsten Hauptsache der Welt« geworden. Sportliche Ereignisse sind, last but not least, auch deshalb für viele Zuschauer attraktiv, weil sich die aus dem Sieg/Niederlage-Code entspringende Spannung durch eine Übercodierung mit dem Geldmechanismus noch einmal steigern lässt. Was im Wettsport passiert, ist die Überformung der spitzensportlichen Leitdifferenz mit der Logik der Ökonomie (Profit/Nonprofit bzw. Haben/Nichthaben). Menschen, die Wetten abschließen, bangen nicht nur um Athleten, Pferde, Autos und deren Rangplatzierungen, sondern auch um das von ihnen gesetzte Geld, das sie nun entweder verlieren oder vervielfachen werden. Der Reiz im Wettsport besteht insbesondere darin, Geld gewinnen zu können, ohne selbst eigene Leistungen erbringen zu müssen. Man läuft, springt oder rast schließlich nicht selbst, sondern partizipiert am Laufen, Springen und Rasen der anderen. Abgesehen von eigenen Wahrnehmungsleistungen ist der Einzelne nur mit seinem Wetteinsatz am Geschehen beteiligt; er ist und bleibt ansonsten ein passiver Beobachter. Andere gewinnen oder verlieren stellvertretend für ihn. Diese von einem eigenen Handeln weitgehend entlastende Verbindung zwischen Ökonomie und Sport lässt Menschen bisweilen süchtig werden. Der Sport mit seinem typischen Auf und Ab nährt die Hoffnung, dass ein überraschender Erfolg prinzipiell immer möglich sei und dass bereits vorhergegangene Wettniederlagen mit einem Schlag kompensierbar wären.

SEHLUST UND KÖRPERERLEBEN Die moderne Gesellschaft hat die Nachfrage nach dem menschlichen Körper durch interne Umbauprozesse erheblich reduziert. Alle Maßnahmen, ihn im Rahmen von Sport-, Fitness-, Gesundheits- oder Schönheitsorganisationen aufzuwerten, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die moderne Gesellschaft in zunehmender Weise körperlos funktioniert. Einige Schlagworte sollen genügen, um die Frage zu beantworten, wodurch der Körper an Bedeutung verloren hat und warum das stellvertretende Sich-Bewegen der Sportlerkörper für viele Zuschauer so attraktiv ist: Die Technisierung des Transports stellt den menschlichen Körper bei der Durchquerung des Raumes ruhig. Der moderne Mensch ist vornehmlich der sitzende Mensch – selbst wenn Autos oder Flugzeuge ihn fortbewegen. Die modernen Massenmedien ermöglichen weiterhin

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zwischenmenschliche Kommunikation ohne gleichzeitige physische Anwesenheit der Kommunikationspartner am gleichen Ort. Und die Technisierung der Arbeitswelt hat körperlich anstrengende Arbeit immer mehr überflüssig gemacht – mit der Konsequenz, dass es seit Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer fortschreitenden Intellektualisierung und »Verkopfung« der Arbeit gekommen ist. Gegenüber dem im Alltag weitgehend ruhiggestellten und ausgeblendeten Körper stellt der sportlich bewegte Körper der Athleten im Stadion oder auf dem Bildschirm etwas Besonderes, man kann durchaus sagen: etwas Unzeitgemäßes dar. Mit den enormen Aufwendungen in Training und Wettkampf für die Erbringung optimaler körperlicher und motivationaler Leistungen können die Sportler durchaus als die letzten körperorientierten Leistungsindividualisten der modernen Gesellschaft bezeichnet werden. Der Spitzensport ist, so gesehen, ein riesiger gesellschaftlicher Verausgabungsapparat, der körperliche und psychische Verschwendungsexzesse institutionalisiert hat und theatralisch zur Schau stellt. Mindestens zwei Akteure treten in einem Wettkampf gegeneinander an, um sich vor den Augen eines interessierten Sportpublikums zu produzieren und zu verausgaben. Drei körperorientierte ästhetische Momente sind für das Zuschauererleben in besonderer Weise bedeutsam (Bette/Schimank 1995a: 70): erstens die Ästhetik riskanter Körperlichkeit: der Salto rückwärts auf dem Schwebebarren; bestimmte Bewegungsvollzüge am Reck oder die Steilabfahrt beim Skirennen mit 120km/h; zweitens die Ästhetik der Perfektion körperlicher Abläufe und Synchronisationen: ein perfekter Fallrückzieher; gelungene Spielzüge im Fußball; die Koordination schlanker Körper im Tanzsport; die passgenaue Abstimmung von Körper, Musik und Gerät in der Rhythmischen Sportgymnastik oder das Zusammenspiel von Mensch und Maschine im Rennsport; drittens reizt im Sport die Ästhetik des Kampfes: der kraftvolle Einsatz in den Rückschlagspielen; der Schlagabtausch im Boxen oder die körpernahe Konfrontation im Handball oder Fußball. Das Erleben der sportspezifischen Körperästhetik und Spannung profitiert von der prinzipiellen Möglichkeit des Scheiterns. Sportler verlieren nicht nur, weil andere besser sind; sie können bei ihrer Leistungsdarbietung auch stürzen, straucheln, mit anderen Sportlerkörpern kollidieren, ihre Geräte verlieren, auf Grund von Überanstrengung kollabieren und das erwartete Optimum an Bewegungsabläufen insgesamt verfehlen. Die permanente Möglichkeit des Scheiterns nobilitiert das Sportgeschehen, indem sie dem möglichen Funktionieren ein radikales Gegenbild entgegenstellt. Der sportliche Wettkampf ist durch diese eingebaute Kontingenz nicht nur kurzweilig, er ist dadurch auch zu einem modernen Mythos geworden, zu einem Sinnbild für das menschliche Dasein überhaupt. Alle, die sich auf Wettkämpfe einlassen, können scheitern und in ihren Erfolgsambitionen enttäuscht werden. Der sportliche Wettkampf steht des-

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halb in einer symbolischen Nähe zum Tod. Selbst die dauerhaft erfolgreichen Athleten wissen, dass ihre Körperkompetenzen und ihre motivationale Stärke irgendwann nicht mehr ausreichen werden, um zu gewinnen, und dass sie irgendwann einmal verlieren werden und die Bühne zu verlassen haben. Im Unterschied zu vielen künstlerischen Formen der Ästhetik im Rahmen von Literatur, moderner Musik oder bildender Kunst entlastet der Sport das Publikum von jedem Zwang zur Reflexion und Kommunikation. Der Zuschauer kann vielmehr ohne größere Denk- und Redeanstrengungen durch einfaches Wahrnehmen der Sportlerkörper, Rennmaschinen oder der geschossenen, geworfenen oder weggeschleuderten Artefakte wie beispielsweise Ball, Speer, Kugel oder Diskus direkt genießen. Das Publikum muss den Sportlerkörper und dessen Bewegungsabfolgen im Stadion oder auf dem Bildschirm lediglich signalhaft »lesen« können. Hierbei kann es unmittelbar an den weitgehenden Kommunikations- und Reflexionsverzicht der Sportler ankoppeln. Denn wer als Athlet während des Wettkampfes bei aller Strategie und Taktik zu viel denkt, blockiert den Fluss des eigenen Handelns. Die Zuschauer können sich über Prozesse der Wahrnehmung mit den Körperhandlungen der Sportler synchronisieren und sich sogar in das Gefühl hineinsteigern, dass die beobachteten Athleten die verlängerten Organe ihres eigenen Bewusstseins und ihrer eigenen Erfolgsphantasien seien. Eine weitere Form des Publikumserlebens ergibt sich aus dem Umstand, dass der Sport Menschen in ihrem Bestreben, andere durch Leistung zu übertrumpfen, systematisch sichtbar macht. Wenn real existierende Personen einzeln oder in Mannschaften gegeneinander antreten, um Sieger und Verlierer zu bestimmen, präsentieren sie sich nicht als virtuelle Größen, sondern als Menschen »mit Haut und Haaren«. Sportereignisse bieten deshalb in erwartbarer Weise Gelegenheiten für diverse Formen der Sehlust. Diese kann zunächst sexueller Natur sein. Die Zuschauer können auf den Körpern und in den Körperfalten der Sportler und Sportlerinnen visuell flanieren gehen: der Blick unter den Rock einer Eiskunstläuferin oder in den abgespreizten Schritt einer Turnerin; der Blick auf das imposante Muskelpanorama eines Boxers oder Ringers oder auf die durchtrainierte Körperlichkeit von Schwimmern und Schwimmerinnen. Geeignete Momente für den Einsatz »gefräßiger Augen« (Mattenklott 1983: 78) können sich im Sport weiterhin durch Missgeschicke, Unfälle und Verletzungen ergeben. Wo Athleten bewusst Risiken unter Konkurrenzbedingungen eingehen, Sportlerkörper um die eigene Achse rotieren oder sich beschleunigt und konfrontativ aufeinander zubewegen, können Entgleisungen, Disbalancen und Fehlsynchronisationen in erwartbarer Weise passieren. Unfälle im Motorsport, Stürze bei der Ski-Abfahrt oder Foulplay in den Ballsportarten sind Anlässe, die nicht wenige Zuschauer ins Stadion oder vor die Bildschirme treiben. Auf den Rennstrecken dieser Welt stehen die Beobachter besonders gerne an jenen

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Stellen, an denen Unfälle wahrscheinlich sind. Eine weitere, in der Sporttheorie bislang übersehene Art der Sehlust ergibt sich in folgender Hinsicht: Der Zuschauer beobachtet nicht nur die Sportakteure in deren Körperlichkeit, Ästhetik, Gelingen, Versagen oder Fehlverhalten. Es sind vielmehr auch die anderen Zuschauer, die in den Blickwinkel des Sehinteresses hineingeraten. Das Beobachten der Beobachter erhält dann den Status eines Seinsmodus, in dem Menschen sich mit jenen Evidenzgefühlen versorgen, die ihnen in anderen sozialen Lebensbereichen versagt bleiben. In einer Welt der fortschreitenden Abstraktion, in der sich wichtige Entwicklungen nicht mehr mit dem eigenen Sinnesrepertoire nachvollziehen und überprüfen lassen, wird die Süd- oder Westkurve eines Fußballstadions, in welcher der harte Kern der Fans dichtgedrängt steht, um mit Schlachtrufen die eigene Mannschaft anzufeuern oder die Gegner und Schiedsrichter erbarmungslos niederzubrüllen, zu einem Ort der Konkretion und Unmittelbarkeit, die man beispielsweise in der »kultivierten« Theatralität der Schaubühne oder Oper vergeblich sucht. Menschen rezipieren Kunst in Museen oder Theatern hauptsächlich schweigend. Im Stadion hingegen kann man sich an der Spontaneität und Direktheit des Publikums berauschen und offene oder klammheimliche Sympathiegefühle entwickeln, wenn Schlacht- und Hetzgesänge angestimmt werden und der Kodex der gutbürgerlichen Sitten mit Füßen getreten und durch einen Kodex der schlechten Sitten ersetzt wird. Gerade diejenigen, die ihr Alltagsleben eher leidenschaftslos und distanziert zu verbringen haben, können aus der Beobachtung der Geräuschund Affektkulisse aufseiten der anderen Sportzuschauer einen Rausch des Erlebens ableiten – ähnlich den Erfahrungswerten des Flaneurs, der aus der Bewegung im großstädtischen Straßen- und Menschengetümmel seine »choque«Erfahrungen gewinnt. Selbst die An- und Abreise zu einem Fußballspiel kann für Zuschauer spannend sein, wenn die Anhänger der beiden konkurrierenden Mannschaften aufeinandertreffen und nicht durch polizeiliche Maßnahmen davon abgehalten werden, aufeinander loszugehen. Abgesehen von jenen Ausnahmefällen, in denen real anwesende Zuschauer in Sportunfälle oder handgreifliche Auseinandersetzungen zwischen Fangruppen hineingeraten, erlaubt der Sport die Befriedigung einer Sehlust, die sich ohne Gefahr für die eigene Person und ohne Gewissensbisse ausüben lässt. Die Zuschauer im Stadion, in der Halle oder vor dem Bildschirm können sehen, ohne dass sie als Einzelpersonen selbst gesehen werden. Das Kollektiv bringt den einzelnen Zuschauer im Stadion zum Verschwinden und entindividualisiert ihn. Die Seher vor dem Bildschirm und die Hörer am Radio bleiben technisch bedingt auf Distanz und können mit ihren verbalen Einwürfen und Ausfällen und mit ihren mimischen und gestischen Begleitkommentaren selbst nicht gesehen oder gehört werden. Gegenüber den Gaffern bei Verkehrsunfällen oder den Unglückstouristen nach Überschwemmungen haben die Sportzuschauer

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den Vorteil, moralisch nicht stigmatisiert werden zu können. Denn sie können mit Recht darauf hinweisen, eigentlich wegen des Sports anwesend zu sein, und nicht wegen der Unfälle. Die Sehlust der Sportvoyeure ist auch deswegen nicht illegitim, weil diejenigen, die sie beobachten, sich schließlich selbst öffentlich zur Schau stellen. Eine heimliche Komponente kommt erst dann ins Spiel, wenn im offiziell erlaubten Sehen dort verstohlene Blicke stattfinden, wo Takt- und Taburegeln ansonsten das Sehen kontrollieren und beenden. Das Übertragungsinteresse der Massenmedien befördert und ermöglicht die Sehlust der Zuschauer. Mit Hilfe von Teleobjektiven und Richtmikrofonen bekommt das Publikum Seh- und Höreindrücke vermittelt, die es mit seinem eigenen Sinnesrepertoire so nicht sammeln könnte. Das Sportpublikum wird damit in die Lage versetzt, Einsichten und Blicke auch ohne die Zustimmung der beobachteten Sportler zu »stehlen«. Inzwischen scheinen einige Sportdisziplinen die voyeuristischen Interessen der Zuschauer systematisch bedienen zu wollen. Man denke nur an die erwartbaren Entgleisungen von Tennisspielern (McEnroe) oder die »spontanen« Schlägereien im Eishockey. Hier wird der handgreifliche Regelverstoß zu einem kalkulierten Inszenierungsmittel, das Athleten und Mannschaften aufwenden, um soziale Aufmerksamkeit in eigener Sache herzustellen, und auf das nicht wenige Zuschauer dann auch klammheimlich warten. Das Ausbleiben derartiger Entgleisungen wird dann eher als Verlust wahrgenommen, und nicht als Sieg sportlicher Fairness gefeiert. Auch die fortschreitende und gezielt hergestellte Erotisierung der Sportmode, wie sie im Beachvolleyball der Frauen auf der Grundlage neuer Verbandsregeln vollzogen wurde oder im Frauensprint seit den 1980er Jahren beobachtbar ist, deutet darauf hin, dass einzelne Athleten und Verbände voyeuristische Begehrlichkeiten bewusst bedienen, um knappe soziale Aufmerksamkeit aufseiten des Publikums zu erzielen. Man weckt das Zuschauerinteresse durch Gewaltimporte und Erotikofferten und hofft auf höhere Einschaltquoten und Sponsorengelder.

HELDENVEREHRUNG UND SUBJEKTERLEBEN Das Alltagsleben der Menschen wird in der modernen Gesellschaft in maßgeblicher Weise durch Organisationen bestimmt. Von der Geburt bis zur Bahre sind es Krankenhäuser, Schulen, Universitäten, Firmen, Verwaltungen und anderweitige Instanzen, die den Einzelnen unterrichten, ausbilden, erziehen, pflegen, wegschließen oder nach seinem Tod klinisch-sauber entsorgen. Vorab festgelegte Regeln und Vorschriften stecken weitgehend den Horizont ab, in dem personales Handeln stattfinden darf. Neben den Einrichtungen, in denen

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Menschen freiwillig Mitgliedschaften erwerben können, existieren Organisationen wie Schule, Arbeitsamt oder Steuerbehörde, denen sich der Einzelne nicht entziehen kann, weil keine Alternativen zur Verfügung stehen. Generell gilt: Menschen werden in organisatorisch bestimmten Milieus immer nur in eng begrenzten Rollenausschnitten wahrgenommen und nachgefragt. Die Chancen, sich jenseits der erwarteten Verhaltenspflichten sichtbar zu machen, sind dabei eher gering. Dies hat damit zu tun, dass Menschen in Organisationen häufig nur in Publikums- und Klientenrollen bedeutsam sein dürfen. Man darf zwar handeln, meist aber nur nach Anweisung, ansonsten wird man im Handeln betreut, überwacht oder ist in der einen oder anderen Weise Leistungsempfänger. Insgesamt erscheinen Menschen auf dem Bildschirm von Organisationen als austauschbare Größen. Gefühle der Entfremdung und eigenen Nichtigkeit sind die Erlebniskorrelate von Personen, die einen Großteil ihres Lebens in derartigen Einrichtungen zu verbringen haben. Bei aller Freiheit, die Menschen erst durch institutionelle Garantien und die Leistungsfähigkeit von Organisationen erwerben und – meist in ihrer Freizeit – ausleben können, droht das einzelne Subjekt in der Organisationsgesellschaft subtil zu verschwinden. Zumindest muss es lernen, mit den strukturell erzeugten Ambivalenzen irgendwie sinnvoll umzugehen. Der Zuschauersport bietet in diesem Zusammenhang die Möglichkeit, an der Sichtbarwerdung und -machung einzelner Personen oder Gruppen teilhaben zu können. Das in diesem Zusammenhang wichtige Stichwort heißt Heldenverehrung. Sporthelden sind Inkarnationen der Außeralltäglichkeit. An ihnen, einzelnen markanten Personen, lässt sich vorführen, dass Menschen auch in der Organisationsgesellschaft nach wie vor wichtig sind. Sporthelden sind Akteure, die in dem alles entscheidenden Augenblick den Unterschied ausmachen und so der Annahme von einer Verflüchtigung des Subjekts in der Moderne nachhaltig entgegentreten. In den Helden des Sports verehrt das Publikum demnach etwas, was im eigenen Leben häufig fehlt: Sichtbarkeit, Außeralltäglichkeit, soziale Aufmerksamkeit und Anerkennung sowie individuelle oder kollektive Handlungswirksamkeit. In einer Gesellschaft, in der Menschen durch Organisationen häufig gehandelt werden, ist der Held eine Sozialfigur, die Handlungsspuren auch stellvertretend für all jene hinterlässt, die weniger sichtbar und vielleicht auch weniger bedeutsam im Alltag agieren können oder müssen. Wer alles für seinen Verein gibt, sich vor den Augen von Millionen aufopfert, die Knochen hinhält und die Ärmel hochkrempelt, sich körperlich und motivational verausgabt und damit die Verhaltenserwartungen des Publikums auf hochstehende Leistungen übererfüllt, wird geliebt und geschätzt. Heldenverehrung eröffnet den Zuschauern die Möglichkeit, aus dem Einerlei ihres Alltags, aus den Routinen einer »nivellierten Wohlstandsgesellschaft« und der damit ver-

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bundenen lähmenden Mittelmäßigkeit über Identifikationsprozesse zumindest zeitweise auszubrechen. Eben weil Sporthelden Personen sind, die durch eigene Anstrengungen in der einen oder anderen Weise Erfolge erreicht haben und dem zuschauenden Publikum damit in einer sehr realen Weise Akte einer erfolgreichen Selbstermächtigung vorführen, werden sie von den Fans verehrt. Sporthelden können für das Publikum zudem eine Reihe von symbolischen Repräsentationsfunktionen übernehmen: für das eigene Geschlecht oder die eigene Schicht, Region, Nation oder Ethnie. Der Sieg der deutschen Fußballnationalmannschaft 1954 in Bern verschaffte den Nachkriegsdeutschen nach dem verlorenen Weltkrieg eine weltweite und vor allem harmlose Aufmerksamkeit als Siegernation und – daraus resultierend – ein Selbstwertgefühl, das, wie zeitgenössische Beobachter bemerkten, äquivalent zur erfolgreichen Einführung der D-Mark war. Und als Tiger Woods die Leistungsstandards der bislang von Weißen dominierten Golfszene neu definierte, wurde er schlagartig zu einem Vorbild für farbige Kinder und Jugendliche. Sportmuseen, sportartspezifische »halls of fame«, Sportbücher, Sportfotos und -filme beobachten, historisieren und memorieren die außeralltäglichen Leistungen der Sporthelden und verewigen sie jenseits körperlicher Verfallsprozesse. Damit wird das Sportidol zum quasi-göttlichen Menschen, dem man Irrtumsfreiräume zugesteht, dem man unterstellt, dass er irdisch eigentlich nicht fehlbar sein könne. Heldencharisma ist, wie der Soziologe Lipp (1993: 17) formulierte, ein umgekehrtes Stigma, das erst dann wieder ins Negative umkippt, wenn der Sportheld seine Fans beleidigt, durch Arroganz und Distanzgehabe düpiert oder durch eklatantes Fehlverhalten aus den Wolken auf die Erde fällt. Der Fall des amerikanischen Footballspielers O. J. Simpson mag hierfür als Beispiel dienen. Sportliche Wettkämpfe bieten in einer systematischen Weise, und das macht sie für Zuschauer so interessant, Gelegenheiten für die Erzeugung und den Auftritt von Helden. Die Polarität zwischen Sieg und Niederlage ermöglicht eine Konkurrenz, in der heroische Taten erwartbar sind. Heldentum ist dabei nicht planbar, sondern ergibt sich situativ im Rahmen der Konstellationsstruktur sportlicher Wettkämpfe. Gelegenheiten für Heldentum entstehen dann in jenen seltenen Momenten, in denen Athleten oder Mannschaften über sich selbst hinauswachsen. Ein Torwart, der die gegnerische Mannschaft durch seine gekonnten Paraden zur Verzweiflung bringt, und eine Mannschaft, die einen uneinholbar erschienenen Rückstand durch eigene Anstrengungen aufholt und am Ende siegreich das Spielfeld verlässt, zeigen dem Publikum, dass sich personale Leistungsbereitschaft und kollektive Anstrengungen lohnen und den alles entscheidenden Unterschied auszumachen vermögen.

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Heldenverehrung im Sport deutet damit mindestens auf drei Referenzpunkte hin: erstens auf die Sportler und Sportlerinnen, die durch ihre außeralltäglichen Leistungen zu Helden bzw. Heldinnen geworden sind, zweitens auf das Sportpublikum, das ihnen einen Heldenstatus durch entsprechende Verehrungs- und Huldigungspraktiken attestiert, und drittens auf die zeitgenössische Gesellschaft, die individuelle Akteure durch Prozesse der Organisationsbildung und Kollektivierung zum Verschwinden bringt und hierdurch strukturell den Boden für die moderne Heldenverehrung erzeugt. Es gibt demnach nicht nur ein »basking in reflected glory« der Zuschauer in den Leistungen der Athleten, sondern auch eine Widerspiegelung der von den Zuschauern hochgehaltenen und durch Modernisierung verknappten Werte und Bedürfnisse im Heldentum der Athleten. Wie die Soziologen Lindner und Breuer (1978: 21) bereits vor Jahren zeigten, spiegeln die Fußballhelden des Ruhrgebiets in einer idealtypischen Weise die physischen Fähigkeiten wider, die ein Arbeiter in der Zeche oder im Hüttenwerk aufzubringen hat, um beruflich überleben zu können: Härte, Hartnäckigkeit, Kondition, Ausdauer, körperliche Gewandtheit, Geschicklichkeit und das Fehlen von Wehleidigkeit. »Die körperliche Tätigkeit als Maßstab geleisteter Arbeit wird auch zur Einschätzung der Profifußballer angelegt.« Gerade diejenigen erfahren als Sportler eine positive Einschätzung, die sich dem gleichen Arbeitsethos verpflichtet fühlen wie die Zuschauer in ihrer Arbeit. Der Fußballer Uwe Seeler wird bis heute in Deutschland als nationale Ikone verehrt, weil er als good guy den kleinbürgerlichen Tugendkatalog vorlebte, Vereins- und Heimatverbundenheit zeigte, sich der Internationalisierung seiner Fußballerkarriere durch Abwanderung ins Ausland widersetzte und all diese Verhaltensweisen, ohne als Person abzuheben, immer wieder durch erfolgreiche Torschüsse in der Vereins- und Nationalmannschaft veredelte. Wie stark die Heldenverehrung das Zuschauererleben prägt, zeigt der Umgang des Publikums mit jenen Sportlern, die gegen die Erwartungshaltungen der Zuschauer verstoßen. Wer nicht alles gibt, sich vielmehr schont oder lässig in einer Pose der demonstrativen Überlegenheit und Indifferenz aus dem Stand spielt, erhält im Fußball keinen Heldenstatus, sondern eher den Nimbus des arroganten Schnösels zugeschrieben, der sein Geld »nicht wirklich« verdient habe. Eine Nobilitierung als Nationalheld fand bei Beckenbauer erst dann statt, als seine Art des Fußballspielens zu Welt- und Europameisterschaftsehren geführt hatte. Erst dann lernte das Publikum, seinen Bewegungsminimalismus zu schätzen. Hymnische Lobpreisung und Heldenverehrung aufseiten des Sportpublikums können ansonsten auch schnell ins Gegenteil, nämlich in Verachtung und Hass, umschlagen. Spott, Häme und ein demonstrativer Bewunderungsentzug in Gestalt von Pfiffen, Buhrufen und zugewendeten Rückenpartien sind der Preis, den der Sportheld zu bezahlen hat, wenn er die Erwartungen und Verschmelzungsphantasien des Publikums, insbesondere des harten Fan-Kerns,

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nicht nur nicht erfüllt, sondern sogar schockartig zerstört. Arrogante, despektierliche Bemerkungen über den sozialen Status der eigenen Zuschauerklientel sind dazu angetan, dass die durch Verehrung bestimmte Beziehung zwischen Sportlern und Fans von letzteren aufgekündigt wird. Eine Thematisierung und abfällige Kommentierung vorhandener Differenzen lassen die Fiktion einer Symmetrie im Verhältnis von Publikum und Sportheld zerplatzen. Die Verachtung der Masse durch den Sportstar quittiert diese mit Achtungsentzug. Was vorher reputationsförderlich und identitätsstabilisierend wirkte, erhält nun die Qualität einer asymmetrischen Beziehung, in der die Majorität die ihnen zur Verfügung stehenden Machtmittel rigoros einsetzt. Ein desillusioniertes Publikum kann einem Helden in der Tat auch den ihm nur geliehenen Status wieder entziehen. Öffentliche Degradierungszeremonien sind die Konsequenz, wie das folgende Beispiel zeigt. Als der Fußballer Michael Rummenigge vor Jahren während einer Telefonaktion auf die Frage eines Fans, ob ein Fußballprofi wie er nicht zu viel verdiene, antwortete, dass gute Fußballer wie er rar seien, Schlosser wie der Anrufer aber wie Sand am Meer zu finden wären, ging mit Hilfe der auf Sensationen ausgerichteten Boulevardpresse ein Aufschrei der Empörung durch die Fanreihen. In einer Rückschau auf dieses Ereignis schrieb der Sportjournalist Holger Gertz (SZ vom 15.1.1998): »Am nächsten Tag stand der Dialog in jeder Zeitung, am übernächsten konnte ihn jeder Fan im ganzen Land auswendig, und als Rummenigge, zwanzig Jahre alt, am Wochenende darauf sein nächstes Spiel hatte, war alles anders all zuvor. 'Drecksau', aus zehntausend Kehlen, als der Stadionsprecher seinen Namen vorlas, Wutpfiffe bei dem Kurzpass. Aus dem kleinen Rummenigge war ein großes Arschloch geworden, und für viele Fans ist er das lange geblieben. [...] Als er fünf Jahre später von den Bayern zu Borussia Dortmund wechselte, wo die Menschen tagein, tagaus mit Stolz zur Schicht fahren, sammelten sich Schlosser, Müllfahrer, Bergarbeiter und all die anderen vor dem Stadiontor. ›Es gab Fan-Demos gegen mich wegen dem alten Spruch‹, sagt Rummenigge, 34 mittlerweile, ›da hab ich überlegt, ob ich da überhaupt hingehen soll.‹« Auch im weniger dramatischen Fall schlechter Sportleistungen kann das Publikum die eigene Mannschaft daran erinnern, was an Engagement von den Helden erwartet wird. Wenn die Fans nicht mehr die eigene, sondern vielmehr die gegnerische Mannschaft per Klatschen unterstützen, demonstrativ in der ersten Halbzeit in den Stadiongängen stehenbleiben, aufs Spielfeld stürmen, um ihre Wut nach einem Abstieg in eine untere Spielklasse gewalttätig zum Ausdruck zu bringen oder die Heimfahrt der Sportler nach einem verlorenen Spiel durch Sitzblockade verhindern, führen sie demonstrativ vor, dass Heldenverehrung und Loyalität ihren Preis haben. Hinter diesem Verhalten steht eine aus dem Alltagssachverstand ausgeschleuste Austausch- und Gerechtigkeitslo-

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gik: Es soll nur derjenige mit Bewunderung, Beifall oder Heldenverehrung bedacht werden, der sich ehrlich bemüht, entsprechende Leistungen erbringt und die Adoration damit auch verdient. Ein als asymmetrisch wahrgenommener Austausch zwischen Sportlern und Fans wird aufseiten des Publikums nur begrenzt toleriert.

GEFÜHLSARBEIT Der gesellschaftliche Modernisierungs- und Zivilisierungsprozess hat Gelegenheiten für ein intensives, emotionsgeladenes und positiv besetztes Spannungserleben verknappt. So müssen Menschen im Alltag lernen, ihre Affekte zu zügeln. Wer es nicht schafft, sich an die Verhaltenserwartungen eines zivilisierten Auftretens in der Öffentlichkeit anzupassen, geht das Risiko ein, dass gesellschaftliche Kontrollinstanzen ihn disziplinieren und negativ sanktionieren. Der Leistungssport ist vor diesem Hintergrund innerhalb der modernen Gesellschaft zu einem zentralen Ort für die außeralltägliche Artikulation von Affekten geworden. Die sportspezifische Besonderheit des Auslebens von Gefühlen wird deutlich, wenn man rekapituliert, was mit dem Gefühlshaushalt im Verlauf der soziokulturellen Evolution passiert ist. Dass Spontaneität und unmittelbare Gefühlsäußerungen im Verlauf des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses einer zunehmenden sozialen Kontrolle unterworfen wurden, ist das Resultat einer Reihe von sozialen Errungenschaften, von denen nur einige an dieser Stelle aufgezählt werden sollen: die Monopolisierung der Gewalt in den Händen des Staates, die Verrechtlichung der Konfliktlösung durch die Ausdifferenzierung eines eigenständigen Rechtssystems sowie die Durchrationalisierung der Lebenswelt durch Organisationsbildung. Auch die Entwicklung des Geldmechanismus hat sich disziplinierend auf den Affekthaushalt der Menschen ausgewirkt, wie man seit den Arbeiten von Karl Marx, Georg Simmel und Norbert Elias weiß. Geld, das ursprünglich die Funktion hatte, die Mühseligkeit, Zufalls- und Personenabhängigkeit des Naturaltausches aus der Welt zu schaffen, brachte eine neue Dynamik in die Gesellschaft und in die Verhaltensweisen der Menschen hinein. Die auf das Quantitative und Rechenhafte hindrängende Logik des Geldes durchdrang nahezu alle Lebensbereiche und imprägnierte diese mit ihren spezifischen Wirkungen. Wenn Konsumenten und Produzenten auseinandertreten und Menschen nicht mehr in Nahkontakt treten müssen, weil Geld als ein symbolisch generalisiertes Steuerungsmedium zwischen sie getreten ist, werden Indifferenz und Anonymität zu erwartbaren sozialen Konsequenzen. Akteure, die ihr Geld nicht nur einsetzen, um direkt zu konsumieren,

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sondern die ihren Mehrwert durch Reinvestitionen zu steigern trachten, haben sich auf Zukunft einzulassen. Sie müssen längere Handlungsketten einkalkulieren und auf eine unmittelbare Befriedigung ihrer Bedürfnisse verzichten. Spontane Reaktionen werden so strukturell verdrängt. Auch dies hat zu einer weit um sich greifenden Entemotionalisierung des sozialen Lebens geführt. Der Reiz des Sports ergibt sich nun daraus, dass er die zivilisatorischen Verdrängungen von Gewalt, Körperlichkeit, Spontaneität und die Disziplinierung der Gefühle aufgreift und regelgeleitet auf den Kopf stellt. Indem der Sport das durch Modernisierung Marginalisierte und Verdrängte in die Gesellschaft unter neuen Vorzeichen zurückbringt, ist er zu einem modernen Mythos geworden. So hat er außerhalb von Polizei und Militär in einigen Disziplinen bewusst gewaltnahe Interaktionsverhältnisse eingerichtet. Im Boxen, Ringen, Rugby, Eishockey, American Football und in diversen asiatischen Kampfsportarten gehört die Anwendung physischer Gewalt zum akzeptierten Mittelrepertoire, um den Gegner auszuknocken, zu schultern oder um Punkte, Tore oder Raumgewinne zu erzielen. Der von beiden Seiten exekutierte Gewalteinsatz ist allerdings nur solange legitim, als er durch Regeln abgedeckt wird. Körpergewalt hat im Sport eine soziale Rahmung, die exzessive, unkontrollierte Abweichung negativ sanktioniert. In der Bearbeitung des Unzivilisierten zeigt sich der Sport somit als sehr zivilisiert. Der traditionelle Sport zieht deshalb auch eine Grenze gegenüber jenen Praktiken, die im Rahmen von Gewaltexzessen, von »ultimate fights« und Käfigkämpfen, eine Entgrenzung zivilisatorischer Standards durchzusetzen versuchen. Der zeitgenössische Sport ist nicht nur für diejenigen, die ihn betreiben, ein Refugium für das Ausleben von Gefühlen; auch das Sportpublikum, das über Prozesse der sinnlichen Wahrnehmung am Geschehen partizipiert, ist für eine eigenständige Gefühlsarbeit freigesetzt. Die Zuschauer können brüllen, schreien, pfeifen, jammern, johlen, gröhlen, buhen, applaudieren, stampfen, trampeln, in voller Erregung aufspringen, in den Klatschrhythmus anderer Fans einstimmen, Schlachtgesänge skandieren oder kollektiv stöhnen, wenn ein Spielzug erfolgreich durchgeführt wurde oder der Stürmer der eigenen Mannschaft das Tor knapp verfehlte. Der Beifall variiert dabei vom höflichen Respektzollen bis hin zum Toben und hysterischen Rasen, wenn selbst die ansonsten total Kontrollierten ihre vornehme Zurückhaltung vergessen und ihren Gefühlen explosionsartig freien Lauf lassen. Der Zuschauerraum erhält durch das affektive Sich-Ausleben der Zuschauer den Status eines gesellschaftlichen Sonderraums, in dem erlaubt ist, was ansonsten einer strengen sozialen Kontrolle unterliegt. So nehmen Zuschauer den Sport gerne als Anlass, um geltende Takt- und Benimmregeln zumindest kurzzeitig außer Kraft zu setzen. In der Zuschauerrolle darf man, ganz im Gegensatz zum Verhalten in anderen Rollen, Lärm erzeugen, sich karnevalesk verkleiden, neotribale Verhaltensweisen ausleben und

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unzivilisierte Äußerungen und Diffamierungen von sich geben. Die Schmähgesänge zwischen Fangruppen (»We will, we will fuck you!«) oder die Beleidigung der Schiedsrichter (»Du schwarze Sau!«) und Gegner (»Schalke Nullvier, die Scheiße vom Revier!«, wie die Anhänger von Borussia Dortmund über ihren Erzrivalen intonieren) stellen Verhaltensweisen dar, für die man außerhalb des Stadions schief angesehen oder gar bestraft würde. So manches, was die Zuschauer in der Fankurve von sich geben, ahndet die Justiz außerhalb des Stadions als Beleidigung oder Volksverhetzung. Das in einigen Sportarten artikulierte Gefühlspanorama hat, wie man leicht erkennen kann, eine gegenweltliche, anti-hierarchische Qualität. Lärmerzeugung, Beleidigung und demonstrative Spontaneität kontern berufliche Coolness und ein Handeln »sine ira et studio«. Entscheidungen des Schiedsrichters müssen vom Publikum nicht stillschweigend akzeptiert werden, sondern laden zu einer affektiven, direkten und vor allem lautstarken Kommentierung ein. Auch das Einfrieren von Mimik und Gestik infolge der Internalisierung affektiver Neutralitätserwartungen dürfen Zuschauer auf der Tribüne oder vor dem Fernsehgerät durch ein Händeringen, Haareraufen, Aufspringen, Fluchen, Zetern, Schreien und ein mimisches Mitkämpfen außer Kraft setzen. Die Lizenz, sich öffentlich auf den Zuschauerrängen auszuleben, kann selbst sportinterne Regeln der Affektdisziplinierung bisweilen unter Druck setzen. Hierfür ein Beispiel: Das Publikum hat im Theater erst langsam das Schweigen lernen müssen. Wo vorher noch lautstark gegröhlt, Zustimmung oder Abneigung hörbar signalisiert wurde, kam durch die Verbürgerlichung des Theaters eine weihevolle Ruhe in den Zuschauer- und Zuhörerraum hinein. Die Gefühlsäußerungen können im Sport auch umgekehrt verlaufen. Im Tennis konnten die Zuschauer ihre Zugehörigkeit zur Oberschicht lange Zeit monopolistisch demonstrieren. Durch das faire Beklatschen beider Opponenten zeigten sie ihre Kultiviertheit und ihre zivilisierte Einstellung zur traditionellen Sportmoral und feierten so auch das Bessersein ihrer Diszipliniertheit gegenüber den Gefühlsäußerungen des schnöden Plebs, der, so ihr Vorwurf, die eigenen Gefühle nicht unter Kontrolle habe. Die Demokratisierung der Zuschauer hat diese demonstrative Distanziertheit verdrängt. Bei wichtigen Spielen schlägt sich das Publikum immer mehr auf die Seite des Lokalmatadors und versucht, zu dessen und eigenen Gunsten, den Gegner durch entsprechende Interventionen zu irritieren. Lärm, Gedränge und Tumult als feste Bestandteile der traditionellen Volksfestkultur gelten allerdings, wenn sie im Stadion oder auf den Straßen zu massiv auftreten, als potentielle Bedrohung der Ordnung und werden deshalb durch entsprechende Maßnahmen zivilisiert. Im Theater gelang die Domestizierung der Zuschauer durch die Substitution der unteren durch die mittleren und oberen Schichten. In den typischen Unterschichtssportarten verteidigen die Zuschauer bis heute ihre Ansprüche auf eigene Artikulationsformen, widersetzen

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sich den diversen Disziplinierungsmaßnahmen wie der Ruhigstellung durch Verstuhlung und verteidigen so ihre letzten Räume für ein unzivilisiertes Auftreten in der Öffentlichkeit. Dass die Stühle bisweilen zerstört und als Wurfgeschosse eingesetzt werden, deutet auf den Unwillen nicht weniger Zuschauer hin, in der körperlichen Bewegungsfreiheit durch materiale Maßnahmen diszipliniert und eingegrenzt zu werden. Um Entgleisungen dieser Art zu verhindern, setzt die Polizei mit Hilfe technischer Errungenschaften »panoramatische Blicke« ein. Zuschauer werden gefilmt, identifiziert, bei Fehlverhalten aus den Zuschauerrängen entfernt und mit Stadionverboten belegt.

GEMEINSCHAFTSERLEBEN UND SPORTGEREDE Die moderne Gesellschaft hat durch die Umstrukturierung ihrer Binnenverhältnisse eine ungeheure Effektivität entwickelt, die sie von der vormodernen Gesellschaft Alteuropas deutlich unterscheidet. Der Zugewinn durch die Ausgliederung gesellschaftlicher Teilsysteme seit 1800 hat allerdings auch eine Reihe problematischer Konsequenzen hervorgerufen, mit denen die Gesellschaftsmitglieder auf der Ebene ihres Erlebens und Handelns konfrontiert werden. Neben der strukturellen Erzeugung von Langeweile, Körperverdrängung, und neben der Verflüchtigung des Subjekts durch die Heraufkunft der Organisationsgesellschaft und einer Entemotionalisierung des Affekthaushalts geht mit der gesellschaftlichen Modernisierung ein vehementer Gemeinschaftsverlust auf der Interaktionsebene einher. Die Drei-Generationen-Familie beispielsweise ist durch die räumliche und soziale Trennung von Familie und Wirtschaft sowie Prozesse der Urbanisierung praktisch eliminiert worden. Selbst in der neueuropäischen Kernfamilie ist ein dauerhaftes Gemeinschaftserleben immer unwahrscheinlicher geworden, weil die Partizipation beider Elternteile am Wirtschaftssystem und die zeitintensive Inklusion der Kinder am Schulsystem eine aktiv betriebene Gemeinsamkeit eher hintertreiben. Und in den Städten zeigen Menschen in der urbanen Öffentlichkeit eine demonstrative Gleichgültigkeit gegenüber ihren Mitmenschen, um sich so vor Überforderung zu schützen. Wer kennt schon die einzelnen Mitmieter im eigenen Hause, wer die Nachbarn in umliegenden Häusern? Nicht zuletzt tragen auch technische Innovationen wie Telefon, Fernsehen und Internet mit dazu bei, dass die Menschen – trotz räumlicher oder technisch ermöglichter Nähe – einander weniger treffen als früher. In einer Gesellschaft, in der traditionelle Gemeinschaften im Mahlwerk funktionaler Differenzierungsprozesse zerrieben werden, offerieren die zahlreichen sportlichen Wettkämpfe und Wettkampfserien ein Gemeinschaftserleben der besonderen Art, nämlich die Teilhabe an einer feier- und spaßorientierten Er-

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lebnisgemeinschaft. Dies gilt nicht nur für die Zuschauer im Stadion oder die Besucher der Fan-Meilen, die sich wechselseitig wahrnehmen und auf die Äußerungen der jeweils anderen reagieren. Auch Fernsehzuschauer und Radiohörer können sich als Teil einer Erlebnisgemeinschaft fühlen, da sie wissen, dass Millionen andere im selben Moment das Gleiche tun. Und wer das Gemeinschaftserleben nach einer gewonnenen Meisterschaft nicht nur auf dem Bildschirm oder im Radio de facto erleben möchte, kann sich lauthupend in den innerstädtischen Autokorso einreihen oder den Sport als Anlass nehmen, um mit Freunden eine Party zu veranstalten. Auch die Maskerade der Fußballfans in Gestalt der Vereinskluft deutet darauf hin, dass sich der Einzelne in seiner je persönlichen Erscheinungsweise freiwillig entindividualisiert und einer überindividuellen Gemeinschaft anschließt. Fußballfans, die im gleichen Outfit zu den Heim- und Auswärtsspielen ihrer Mannschaft anreisen, demonstrieren eine tribale Zugehörigkeit, und dies in einer Zeit, in der die Zugehörigkeit zu lokal gebundenen Gruppen unter Mobilitätsdruck geraten ist. Wo die Zeichen aus ihrer Bindung an eine bestimmte Klasse und Schicht losgelöst worden sind, kann der Sport zu einem Refugium für Retribalisierungs- und Vergemeinschaftungsversuche werden. Nicht umsonst ist das gemeinsam im Stadionrund gesungene Lied unter dem Titel »You’ll never walk alone«, das ursprünglich von Gerry & the Pacemakers in der englischen Hitparade intoniert wurde, zu einer Musikikone geworden, die nicht nur in der Anfield Road des FC Liverpool und im Celtic Park von Celtic Glasgow angestimmt wird, sondern auch in vielen anderen Stadien für Gemeinschaftsgefühle zwischen Zuschauern, Vereinen und Mannschaften sorgt. Zeichen der gewollten Verbundenheit und Identifikation zwischen Sportakteuren, Verein, Nation und Publikum im Sinne einer »imagined community« (Anderson 1983) werden heute im Sport auch bewusst in Szene gesetzt. Man singt gemeinsam die Nationalhymne, legt, wie im US-amerikanischen Sport üblich, die Hand währenddessen kollektiv an die Brust oder intoniert inbrünstig Vereinslieder, um sich auf sportliche Konkurrenzen einzustimmen. Der Stadionlautsprecher nennt nach einem Tor animierend den Vornamen des Torschützen, um den Stadionbesuchern die Möglichkeit zu geben, kollektiv den Nachnamen zu brüllen. Die Fans dürfen so beweisen, dass sie sich auskennen und Teil einer funktionierenden Wissensgemeinschaft sind. Die kollektive Sportbegeisterung nivelliert im Moment des Gemeinschaftserlebens für einen kurzen Augenblick soziale Unterschiede sowie Geschlechts-, Klassen-, Rassen- und Religionsschranken. Das Ich geht im Wir kurzzeitig unter. Manche Sportvereine sind mit ihren Namen zu einem Synonym für eine bestimmte Region und für die Klassenlage ihrer Zuschauer geworden sind, so im Fall des Fußballvereins Schalke 04, der lange Zeit als ein von Arbeiterfußballern gegründeter Zu-

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sammenschluss die hartnäckige Existenz der Arbeiterkultur innerhalb des bürgerlichen Sportbetriebs repräsentierte (Lindner/Breuer 1978: 51f.). Inzwischen haben auch die Marketingexperten die gemeinschaftsstiftende Kraft des Sports entdeckt. Gerade in jenen Räumen, die wie das Ruhrgebiet unter Massenarbeitslosigkeit und industriellen Transformationsprozessen zu leiden haben, wird heute die Karte sportlich gestifteter Wir-Gefühle gespielt, um das Wachstumsinteresse von Sportvereinen zu bedienen. Eine überregionale Zeitung (FAZ vom 21.5.1997) berichtete bereits vor Jahren: »Zwei ausgefuchste Manager, beide aus dem Revier, haben das diskursive Spielfeld bestellt und den Vereinen gigantische Rendite beschert. Der Dortmunder Michael Meier ließ die Mannschaft die anachronistischen Ringelsöckchen der goldenen Tage wieder anziehen und sorgt durch Sonderförderung der letzten eingeborenen Dortmunder Klos, Zorc und Ricken für paradoxe Nestwärme in einem internationalen Ensemble. Inzwischen hat sogar der Sportartikel-Sponsor der Borussen die liebevolle Verkackeierung des Dortmunder-Arbeitermythos in seine Werbestrategie eingebaut und einen Kabarettisten angeheuert, der unter dem Namen Koslowski den arbeitslosen Besserwisser am Spielfeldrand mimt.« Auch die Maskerade der Fußballfans in Gestalt von Kutten oder Vereinskluft deutet darauf hin, dass sich der Einzelne in seiner je persönlichen Erscheinungsweise freiwillig entindividualisiert und einer überindividuellen Gemeinschaft anschließt. Fußballfans, die im gleichen Outfit zu den Heim- und Auswärtsspielen ihrer Mannschaft anreisen, demonstrieren eine tribale Zugehörigkeit, und dies in einer Zeit, in der die Zugehörigkeit zu lokal gebundenen Gruppen unter Mobilitätsdruck geraten ist. Wo die Zeichen aus ihrer Bindung an eine bestimmte Klasse und Schicht losgelöst worden sind, ist der Sport ein Refugium für Retribalisierungsversuche. Das Gemeinschaftserleben im Stadion hat seit geraumer Zeit eine neue Qualität bekommen, weil die Zuschauer inzwischen gelernt haben, ihre Möglichkeiten der Teilhabe am Sportgeschehen selbstbewusst zu koordinieren. Pfeifkonzerte, Schlachtgesänge und kollektive Stöhn- oder Ah-Geräusche sind Bestandteile eines Repertoires, mit dem das Geschehen auf dem Spielfeld begleitet oder kommentiert wird. Im Gleichklang der Stimmen und des rhythmisierenden Klatschens synchronisieren sich die Fans untereinander und installieren sich kurzzeitig als eine organisierte Kollektivität, die auf das Geschehen auf dem Spielfeld mit Freude, Bekräftigung, Ironie, Häme oder auch Beleidigung reagiert. Auch dies sind Momente, in denen sich die Fans selbst als Fans inszenieren und die Rolle der gezielt Einfluss nehmenden Beobachter übernehmen. Im Passiven können Zuschauer bisweilen sehr aktiv sein. Das Gemeinschaftserleben darf dabei an der Oberfläche bleiben, und dringt nicht etwa in therapeutische Tiefen vor. Die Zuschauergemeinschaft zeichnet sich gerade dadurch aus, dass es der »Tyrannei der Intimität« (Sennett 1983) entgegenwirkt und kei-

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ne intime Gruppe konstituiert. Die Menschen können untereinander fremd bleiben und sich dennoch wechselseitig in ihrer Identität als Zuschauer sozial bestätigen. Der Zuschauersport kompensiert damit in besonderer Weise die Festverdrängung, die sich durch den Säkularisierungsprozess ergeben hat. Die europäische Festkultur war bis ins Mittelalter ein Privileg der Kirche. Erst die französische Revolution hat zumindest in Westeuropa dieses Festmonopol nachhaltig zurückgedrängt. Zentraler Bestandteil der neuen Festivalisierung mit Hilfe des Sports ist die Ermöglichung eines kollektiven Gemeinschaftserlebens, das sich durch Synchronisierung und Parallelisierung bis in Rauscherfahrungen hinein steigern kann. Die Inszenierung von Gemeinschaft ist gerade in einer Gesellschaft wichtig, die den Menschen hochgradig individualisiert und vereinzelt. In einem Umkehrschluss weist das Sportspektakel darauf hin, dass das moderne Leben offensichtlich für viele Menschen zu wenig an Abwechslung, Nähe und Gemeinschaft bietet. Dies hat damit zu tun, dass in einer komplexen Gesellschaft die einzelnen Personen nicht mehr einem homogenen lebensweltlichen Verbund angehören. Die Wahrscheinlichkeit, auf Menschen zu treffen, mit denen man eine gemeinsame Geschichte und einen gemeinsam erarbeiteten Gesprächsvorrat besitzt, wird angesichts der gestiegenen Mobilität immer unwahrscheinlicher. Außerdem führen die fortschreitenden Prozesse der Arbeitsteilung und Rollendifferenzierung zu einer Verknappung allgemeiner Gesprächsthemen. Diese Entwicklung resultiert in einem Gemeinschaftsverlust auf der Diskursebene. Worüber soll man sprechen, wenn Menschen immer weniger Gemeinsamkeiten aufweisen? Eine gesellige Konversation entsteht, wenn die Themen so gewählt werden, dass alle Anwesenden prinzipiell die Chance haben, sich in irgendeiner Weise beteiligen zu können. Neben dem Wetter, bestimmten Tagesereignissen und bestimmten Aspekten der persönlichen Geschichte repräsentiert der Sport ein solches öffentlichkeits- und geselligkeitsfähiges Thema. Nur: über das Wetter kann man lediglich ein paar Sätze verlieren, dann wird es schnell langweilig oder zäh. Auch die Behandlung eigener biografischer Details, etwa Krankheiten, ist nicht für jedermann interessant, weil Gespräche dieser Art mit existentiellen Krisensituationen zu tun haben. Nicht wenige gehen deshalb davon aus: Wenn es den Sport nicht gäbe, müsste man ihn angesichts der gesellschaftlichen Entwicklungen auf der Diskursebene neu erfinden. Das Reden über Sport ist inzwischen zu einem wichtigen sozialen Schmiermittel geworden, nicht nur bei Männern. Man kann reden, ohne über sich selbst direkt reden zu müssen. Der Sport passt in besonderer Weise in den Code der Geselligkeit hinein: Jedermann verfügt über Primärerfahrungen im Sport. Dadurch gibt es einen Anschluss an das, was alle schon wissen oder selbst erfahren haben. Der sportliche

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Wettkampf ist zudem relativ einfach strukturiert und prinzipiell beobachtbar. Selbst ein Laienpublikum kann ihn verstehen, wenn es hierfür etwa durch den schulischen Sportunterricht oder eigene Wettkampferfahrungen vorsozialisiert wurde. Der Sport offeriert durch Technisierung und Quantifizierung eine eindeutige Welt, in der Leistung noch ihren festdefinierten Platz findet. Die Massenmedien sorgen zudem durch ihre tägliche Berichterstattung für eine permanente Produktion von Neuigkeiten. Als Kommunikationsthema erreicht der Sport deshalb keinen Sättigungsgrad. Die Daueraktualität des Sports ist ein bewährtes Mittel, um Gespräche zu beginnen, im Fluss zu halten und peinliche Stockungen zu vermeiden. Der Sport signalisiert – ganz im Gegensatz zu Diskussionen über Politik oder Religion – eine gewisse soziale Harmlosigkeit. Durch die Fokussierung der Aufmerksamkeit auf ein beidseitig interessantes, harmloses Thema lässt sich z.B. eine familiale Kohäsion inszenieren und, wie im amerikanischen Baseball, eine Vater-Sohn-Beziehung intensivieren. Gerade die Möglichkeit, nicht über konfliktträchtige Themen reden zu müssen, eröffnet spezifische Möglichkeiten eines Gemeinschaftserlebens, die jenseits des Sports selten anzutreffen sind. Paradoxerweise konnte der Spitzensport erst durch die Expansion der Massenmedien und die damit einhergehende Emanzipation von der physischen Anwesenheit der Zuschauer im Stadion zu einem öffentlichen Diskursthema werden. Viele Sportbegeisterte haben noch nie eine Schwimmhalle oder ein Stadion betreten, können aber dennoch ihr Sportinteresse intensiv ausleben und anschließend darüber reden. Gegenüber den Fernsehzuschauern, die auf die Vorgaben und Sehausschnitte angewiesen sind, die ihnen die Medien anbieten, haben die real anwesenden Zuschauer im Stadion allerdings einen Vorteil: Sie besitzen eine höhere Wahrnehmungsautonomie bezüglich des Einsatzes ihrer diversen Sinnesorgane. Sie haben allerdings auch Nachteile hinzunehmen: Am Fernsehbildschirm können Zuschauer mit Hilfe der Kameralinsen und Richtmikrofone näher an das Geschehen heranrücken, Zeitlupen mitverfolgen und die Kommentare hören, die ihnen durch die Sportjournalisten mitgeteilt werden. Durch die Installation von Videowänden in den Stadien und Sporthallen sind in einigen Sportdisziplinen (Beispiel: Leichtathletik) einige dieser Nachteile inzwischen aus der Welt geschafft worden. Die Zuschauer können das Geschehen jetzt sowohl auf der Laufbahn als auch auf den riesigen Videoleinwänden verfolgen. Und da die Zuschauer sich hierbei selbst als zuschauende Akteure wahrnehmen, also reflexiv werden, ist im Gefolge dieser technischen Innovation in den Stadien eine neue Wink- und Grüßkultur entstanden, die es so vorher nicht gegeben hat. Die Beobachter entdecken sich mit Hilfe der Medien als Beobachter und teilen den Daheimgebliebenen mit ihrem mimisch-körperlichen Inventar oder mitgebrachten Fahnen oder Plakaten mit, dass sie von anderen Zuschauern gesehen und bemerkt werden wollen.

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Die gemeinschaftsorientierte Anwesenheit der Zuschauer bei einem Sportwettkampf muss im Übrigen nicht notwendigerweise immer nur sportliche Gründe haben. Oft wird der Sport auch parasitär genutzt, um sportunspezifische Interessen zu bedienen. Man denke nur an das demonstrative Gesehenwerden-Wollen in den zahlreichen Vip-Lounges bei Formel-1-Rennen, Fußballspielen und Tennisturnieren oder die Darstellung eines modischen Oberschichtsgeschmacks bei den Pferderennen in Ascot oder Baden-Baden. Auch Boxwettkämpfe werden sowohl vom Rotlichtmilieu als auch von der A- und BMedienprominenz genutzt, um sich zu präsentieren und als Mitglieder sozialer Zitationskartelle darzustellen. Der Sport ist dann Anlass, um andere Formen der Gemeinschaftsbildung zu ermöglichen. Selbst die Randale im Stadion oder auf der Straße zielt bisweilen auf ein Gemeinschaftserleben ab. Gewaltbereitschaft distinguiert in scharfer Weise zwischen In- und Outgroup und verschafft Anerkennung durch die Ablehnung der Gewaltaversiven und den Verfolgungsdruck der Polizei.

SPORTINTERESSE ALS BIOGRAFISCHER FLUCHTPUNKT Die gesellschaftliche Modernisierung hat in den Biografien der Gesellschaftsmitglieder nachhaltig Spuren hinterlassen. Menschen haben millionenfach ihre Arbeit verloren; Paarbeziehungen sind heute auch nicht mehr das, was sie einmal waren; bestehende Freundschafts- und Bekanntschaftsnetzwerke zerbröseln unter dem Druck gesellschaftlicher Veränderungen; der Individualisierungsprozess lässt die Gesellschaftsmitglieder immer unähnlicher werden. Lebte der vormoderne Mensch hauptsächlich noch im Einzugsbereich seines unmittelbaren Wohn- und Arbeitsortes unter dem alles überformenden Himmel religiöser Weltdefinitionen, hat das moderne Subjekt sich auf räumliche und soziale Mobilität einzustellen. Außerdem erlebt es die dramatischen Veränderungen innerhalb der Gesellschaft in einem Zustand der »transzendentalen Obdachlosigkeit« (Lukács). Sicherlich können die gravierenden biografischen Brüche, die Menschen in der Moderne hinzunehmen haben, nicht gänzlich durch eine passive Inklusion in den Sport kompensiert werden. Dennoch kann das über Jahrzehnte konstante Sportinteresse nicht zu unterschätzende biografische Fixpunkte liefern. Es eignet sich zunächst für eine Rückbesinnung, weil es sich meist schon in der frühen Kindheit und Jugend formiert und intellektuell wenig anspruchsvoll ist. Menschen können ihr Sportinteresse – beispielsweise an der Fußballmannschaft des eigenen Herkunftsmilieus – auch dann noch bedienen, wenn sie schon längst ihren Geburtsort verlassen haben. Die Massen-

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medien helfen, das Interesse aufrechtzuerhalten, weil sie die Rezeption des Sports auf der Zuschauerseite durch ihre Speicher- und Verbreitungsmöglichkeiten entterritorialisiert haben. Sportereignisse strukturieren die eigene Biografie aber nicht nur mit Blick auf vergangene Zeiten, sondern auch in Bezug auf die permanent ablaufende Gegenwart. Nach wie vor sind die Fußballübertragungen und Konferenzschaltungen am Samstagnachmittag im Radio und die anschließenden abendlichen Sportsendungen im Fernsehen feste Bestandteile lebensweltlicher Wochenendrituale, anhand derer nicht wenige Menschen ihre Freizeit ausrichten und strukturieren. Das Zelebrieren des passiven Sportkonsums aufseiten des Publikums und die hartnäckige Abwehr sportunspezifischer Praktiken während der sportlichen Seh- und Hörzeit deuten auf ein wichtiges Begehren hin: Unterhalten werden zu wollen und Kontinuität in einer Zeit zu erleben, in der Diskontinuitäten strukturell erzeugt werden und biografisch zu ertragen sind. In einer Gesellschaft, in der durch Prozesse funktionaler Differenzierung divergierende Zeithorizonte im Kontext von Wirtschaft, Politik, Massenmedien, Erziehung und Bildung, Kunst, Recht, Wissenschaft und Familie entstanden sind, kann das Festhalten an der Rhythmik des Sports dabei helfen, eine Festigkeit ins eigene Leben zu bekommen, die jenseits des An- und AbgeschaltetWerdens im Arbeitssektor angesiedelt ist. Das Ritual der Wiederholung schafft Gefühle der Kontinuität und Geborgenheit. Der Sport gibt mit seinen Ligen und deren Zeitstruktur biografischen Halt: er ordnet die Wochen, Monate und Jahre und strukturiert das individuelle Erleben auf kollektiver Basis – ähnlich dem Wirkungseffekt von Nachrichtensendungen, die für Millionen den Abend einleiten und selbst in der Übermittlung von Katastrophen und Kriegen den Zuschauern und Hörern die Botschaft zu übermitteln vermögen, dass man sich zumindest noch auf das Medium verlassen kann, das diese Schreckensinformationen verbreitet. Mit Hilfe der Medien erbringt der Sport damit eine biografische Orientierungsleistung, die in der vormodernen Gesellschaft Alteuropas der Kirche zukam. Über Jahrhunderte bestimmte das Läuten der Glocke den Tagesrhythmus der Menschen. Kirchliche Festtage schufen wiederkehrende Situationen und halfen dabei, Gefühle der Erwartbarkeit und Geborgenheit hervorzurufen. Durch die wiederkehrende Abfolge von Wettkämpfen formuliert der Sport ein vergleichbares Verlässlichkeitsversprechen: Politiker kommen und gehen, Börsenkurse können steigen und fallen, aber die Fußball-Bundesliga, die Olympischen Spiele und die Europa- und Weltmeisterschaften in den diversen Sportarten bleiben.

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SYNOPSE Bedürfnisse nach einem intensiven Erleben, nach Abwechslung, Gemeinschaft, Fest, Rausch und Körperlichkeit mit Hilfe des Sports deuten auf einen durch Gesellschaft modellierten Alltag hin, in dem vergleichbare Bedürfnisse andernorts in dieser Kompaktheit und Mischung offensichtlich nicht befriedigt werden. Der Zuschauersport bietet auf allen Dimensionen des menschlichen Erlebens und Handelns eine Welt, die das durch Modernisierung ins Abseits Gedrängte in einer überschaubaren sozialen Nische selektiv thematisiert, revitalisiert und Interessierten als Erlebnisressource offeriert. In sachlicher Hinsicht lässt sich die im Alltag erzeugte Routine und Langeweile auf den Zuschauerrängen, vor dem Radio oder Fernsehgerät zumindest kurzzeitig durch eine bis zur Unerträglichkeit gesteigerte, dennoch aber harmlos bleibende Spannung kontern. Spannung entsteht dabei nicht von ungefähr, sondern ist das Erlebniskorrelat des spitzensportlichen Sieg/Niederlage-Codes und der regelgeleiteten Inszenierung und Theatralisierung sportlicher Wettkämpfe. Vor dem Hintergrund der fortschreitenden Abstraktion und Körperferne der modernen Gesellschaft unterbreitet der Zuschauersport mit Hilfe der Massenmedien außerdem das Angebot, Körperlichkeit und Ästhetik »real« erleben zu können, ohne sich selbst verausgaben oder aufs Spiel setzen zu müssen. Die Körper- und Personennähe eröffnet darüber hinaus die Möglichkeit sowohl erlaubter als auch verstohlener und taktloser Blicke auf ein Geschehen, in dem der eine Akteur nur das gewinnen kann, was der andere verliert. Damit ist das Leistungspanorama des Zuschauersports aber noch keineswegs erschöpft. In einer Welt auseinanderlaufender Zeithorizonte, biografischer Brüche und Diskontinuitäten erschließt der Zuschauersport eine zeitliche Sphäre der Verlässlichkeit und Kontinuität. Die Rhythmik sportlicher Wettkämpfe kann Halt geben, den Alltag strukturieren helfen und eine Verbindung zur Vergangenheit herstellen. In sozialer Hinsicht können Zuschauer durch ihr Sportinteresse auf die Gemeinschaftsverluste reagieren, die ihnen durch gesellschaftliche Modernisierungsprozesse zugefügt worden sind. Wo Großfamilien praktisch nicht mehr existieren, Menschen den Raum zwischen Wohnort und Arbeitsplatz in technischen Geräten meist schweigend ohne dauerhaft wiederkehrende Sozialkontakte überbrücken, das Miteinander am Arbeitsplatz durch Arbeitsteilung, Konkurrenzorientierung und affektive Neutralität geprägt wird, die Geldwirtschaft ein Handeln auf Distanz ermöglicht und die fortschreitende Urbanisierung auch die Indifferenz der Menschen untereinander erhöht hat, bietet die Teilhabe am Sport den Zuschauern eine erfrischend andere Möglichkeit, Sozialität zu erleben. Wer menschliche Nahkontakte mitbekommen möchte, kann sich in die Südkurve stellen, nach einem sportlichen Sieg die Innenstädte in einem Autokorso abfahren, Mitglied in einem Fan-Club werden oder

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eine sportbezogene Party in den eigenen vier Wänden organisieren. Selbst individuelle Akteure, die einsam vor dem Bildschirm am Sport teilhaben, können in Beobachtung der Begeisterung der anderen Zuschauer zumindest noch sehen und hören, dass Gemeinschaft nach wie vor existiert. Außerdem versetzen sich die Zuschauer durch ihr Sportinteresse in die Lage, ein Wissen über einen Themenbereich zu erwerben, mit dem sich in Arbeitspausen oder in ihrer außerberuflichen Freizeit gesellige Konversationen bestreiten lassen. Auch in dieser Hinsicht wirft der Sport nicht zu unterschätzende »social benefits« ab. Der Zuschauersport eröffnet weiterhin Möglichkeiten des Subjekterlebens und der Identifikation. In der Verehrung von Sporthelden können die Zuschauer an einer Welt partizipieren, in der einzelne Personen oder Gruppen noch den alles entscheidenden Unterschied auszumachen vermögen. Die Sichtbarkeit der Athleten, die Regel- und Leistungsbezogenheit ihres Handelns und die damit einhergehende Distanz zu vormodernen Mechanismen der Positionsverteilung wie Geburt, Alter und Herkunft sind wichtige Bedingungen der Möglichkeit für die sportive Huldigungskultur. Der Sportheld legitimiert sich durch selbsterbrachte Leistungen. Und die Sportverbände tun alles, um die organisatorische und soziale Ermöglichung personaler Leistungen zum Verschwinden zu bringen. Auf dem Siegertreppchen steht der Athlet, nicht dessen Trainer, Masseur oder Pharmakologe. Die Sportbegeisterung der Zuschauer verweist insgesamt nicht nur auf den Sport und dessen Konstellationsstruktur; sie deutet auch auf die Verdrängungen und Verluste hin, die Menschen durch den gesellschaftlichen Modernisierungsprozess hinzunehmen haben. Folgt man dieser Einschätzung, dann ist das Interesse am Sport als ein möglicher Coping-Mechanismus für die Gesellschaftsmitglieder einzustufen, der als komplexes Motivbündel überdies kein funktionales Äquivalent besitzt. Weder Politik und Wirtschaft noch Erziehung, Religion, Wissenschaft, Kunst oder das Rechtssystem können mit ihren systemspezifischen Grundoperationen eine dem Leistungssport vergleichbare öffentliche Dauernachfrage hervorrufen. Dies lässt sich wie folgt plausibilisieren: Politische Parteitage sind in der Regel nur noch symbolische Inszenierungen für das Verkünden von Ergebnissen, die bereits feststehen, weil sie vorher unter Ausschluss der Öffentlichkeit an anderen Stellen ausgehandelt wurden. Außerdem sind die Konsequenzen politischen Handelns nicht belanglos, sondern können die Lebensführung der Menschen nachhaltig beeinflussen. Schließlich besteht die Funktion der Politik gerade darin, kollektiv bindende Entscheidungen auch dort herzustellen, wo keine Zustimmung erwartbar ist. Auch dem wirtschaftlichen Handeln fehlt im Oszillieren zwischen Haben und Nichthaben, zwischen Eigentum und Nichteigentum, jene »Leichtigkeit des Seins«, die dem Sport zukommt. Ökonomische Verluste, die man an der Börse einsteckt, haben

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eine andere Qualität als die Niederlage der heimischen Fußballmannschaft, die man als Fan bisweilen zu betrauern hat. Auch die traditionellen Amtskirchen taugen nicht als funktionales Äquivalent für die Kompensation der durch Modernisierung erzeugten Verdrängungen und Verluste. Kirchliche Hochämter und Messen sind nach wie vor, trotz aller Ökumene, als Kontakthöfe zur imaginierten Transzendenz konzipiert. Der Sport hingegen betreut Menschen in Fragen des konsequenzlosen Diesseitserlebens. Religion offeriert außerdem – zumindest in den Kirchen Westeuropas – eher ein gedämpftes, kontemplatives Handeln und Beten. Nicht wenige Zeitgenossen empfinden kirchliche Messen deshalb eher als langweilig und wenig abwechslungsreich. Typischerweise kann ein Messvollzug auch nicht die Spannung erreichen, die im sportlichen Wettkampf die Massen fasziniert und mitfiebern lässt. Die Konstellationsstruktur einer religiösen Feier ist weder konfrontativ noch siegesorientiert. Ein affektives Sich-Ausleben mit verbalen Entgleisungschancen und entsprechenden körperlichen Äußerungsformen aufseiten der Teilnehmer ist nicht vorgesehen. Außerdem ist es den diversen religiösen Glaubensrichtungen bisher noch nicht gelungen, ein dauerhaftes Miteinander ohne Konflikte durchzusetzen. Der Sport hingegen hat sich bereits seit ca. einhundert Jahren, nämlich mit Entstehung des modernen Olympismus, zu einem »lateralen Weltsystem« (Willke 1998: 381) entwickelt, in dem Wettkämpfe zivilisiert auch zwischen denjenigen Nationen ausgetragen werden, die ansonsten eher durch Konflikt und Dissens miteinander verbunden sind. Der Sport ist ein »global player«, weil er sich aus einzelnen nationalstaatlichen Gesellschaften herausziehen und in ein transnationales Gebilde hineinentwickeln konnte. Weiterhin kann Religion Gewissheit nur durch Glauben, durch Rückgriff auf Übernatürliches, schaffen. Der Sportzuschauer gewinnt demgegenüber ein Evidenzerleben durch die Beobachtung real existierender Sportlerkörper, die in einem von außen beobachtbaren Wettkampfambiente gegeneinander antreten und um ein knappes Gut, den sportlichen Sieg, konkurrieren. Der Sport steht damit für sich selbst, und nichts anderes, auch wenn manche Athleten die Transzendenz bisweilen anrufen, um Siege für sich wahrscheinlich werden zu lassen. Im Gegensatz zu den klassischen Religionen ist der Sport weder gottorientiert noch auf ein imaginäres Jenseits ausgerichtet. Er ist vielmehr auf den Körper der Sporthelden, das Diesseits und die Gegenwart fixiert. Auch die Wissenschaft ist nicht dazu angetan, die durch Modernisierung hervorgerufenen Verdrängungen an Spannung, Gemeinschaft, Körpererleben und Heldentum funktional äquivalent zu ersetzen. Die Ergebnisse wissenschaftlichen Forschens sind häufig zu abstrakt und schwierig, und eignen sich deshalb nicht für ein globales Jedermann-Verstehen. Die Helden der Wissenschaft, beispielsweise Nobelpreisträger, erbringen ihre Forschung auch nicht vor den Augen einer direkt zuschauenden Öffentlichkeit im Rahmen einer alles entschei-

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denden Wettkampfsituation, sondern in irgendwelchen Labors, die sich einer externen Beobachtung entziehen. Vor allem erfolgt die Prämierung als Wissenschaftsheld erst Jahre nach der Leistungserbringung im Rahmen nicht-öffentlicher Gremienentscheidungen. Und künstlerische Happenings oder Besuche im Museum rufen kein dauerhaftes Masseninteresse hervor, weil Kunstobjekte oft nur für Eingeweihte oder mit Hilfe gutgemeinter didaktischer Begleitinterpretationen verstehbar sind. An einem 100-m-Lauf oder einem Fußballspiel hingegen kann auch derjenige seinen Spaß haben, der die diversen Regeln nicht genau kennt. Wer außerdem eine bestimmte Ausstellung ein oder zwei Mal besucht hat, trifft beim dritten Mal auf inzwischen Bekanntes, das sich aus sich selbst heraus nicht mehr verändert. Selbst Videoinstallationen mit Zufallsgeneratoren sind irgendwann einmal langweilig. Im Gegensatz hierzu erzeugen sportliche Konkurrenzen permanent neue Situationen und sind im Ausgang nicht präzise kalkulierbar. Der Zuschauer hat an einem dynamischen sozialen Geschehen teil, in dem sich Handlungsresultate im Moment des Geschehens immer wieder neu herstellen. Niemand weiß im Vorfeld eines Fußballspiels, wie die Handlungen sich auf dem Spielfeld entfalten werden, weil die Sportakteure kämpferisch bemüht sind, die Entfaltungschancen der jeweils anderen Seite zu beschneiden. In einer Zeit, in der die traditionellen Sinninstanzen Religion, Familie und Arbeit massive Bedeutungsverluste hinnehmen müssen, ist der Sport aufgrund der unterschiedlichen Erlebnisofferten, die er unterbreitet, für viele Menschen zu einer neuen Sinninstanz geworden. Dies gilt sowohl für diejenigen, die ihn aktiv betreiben, als auch für jene, die am sportlichen Geschehen als Zuschauer, Hörer oder Leser teilhaben. Eben weil der sportliche Wettkampf für das Publikum – weniger für die Athleten, Trainer oder Funktionäre – im Reich der Freiheit, und nicht im Reich der Notwendigkeit angesiedelt ist, ist er für viele paradoxerweise zu einer Notwendigkeit im Bereich des Überflüssigen geworden. Das genussorientierte Erleben der Zuschauer setzt dabei nicht nur die Risikobereitschaft und Leidensfähigkeit der sportlichen Leistungsträger voraus: Es sind vor allem die personalen Konsequenzen des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses, die den Boden für die moderne Sportbegeisterung bereitet haben. Aus der weltweit gestiegenen Nachfrage nach spannenden und aufregenden sportlichen Leistungen durch ein interessiertes Publikum lässt sich ableiten, wie weit die Routinisierung der Lebenswelt fortgeschritten ist und wie sehr die humanen Kollateralschäden des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses bereits den Alltag durchdrungen haben.

2 Sporthelden: Zur Soziologie sozialer Prominenz

Der Spitzensport ist wie kein anderer Sozialbereich geeignet, Helden zu erzeugen. Diese spezifische Kompetenz hat sich in der kommunikativen Landschaft der modernen Gesellschaft entsprechend niedergeschlagen. Die häufige Rede von Helden und Heldentum findet man heute meist nur noch in der Kommentierung sportlicher Ereignisse und Akteure. Einzelne Athleten oder Mannschaften wachsen in Wettkampfsituationen über sich hinaus, verzaubern das Publikum mit außeralltäglichen Leistungen und erhalten hierfür den Ritterschlag zum Helden. Falls ein entsprechender Überraschungseffekt vorliegt, werden die Taten der Sportler und Sportlerinnen sogar als »Wunder« gewürdigt und in Form von »Sommer-« und »Wintermärchen« memoriert und nacherzählt. Alltagshelden hingegen, die ungeplant und spontan Menschenleben retten oder durch andere prosoziale Aktionen auffallen, lösen in den Massenmedien nur ein punktuelles Interesse aus. Selbst großformatige Ereignisse wie Terroranschläge oder Sturmfluten mit nachfolgenden Rettungsaktionen sind nicht geeignet, Alltagshelden in der Hierarchie der Aufmerksamkeit langfristig nach oben zu katapultieren. Die Monopolisierung der Heldenrhetorik zugunsten des Sports verweist nicht nur auf dessen Möglichkeiten, Menschen im Medium der Leistung zu profilieren und die Begeisterung breiter Massen zu mobilisieren; sie deutet auch auf Umbauprozesse in der Wahrnehmung des Helden in der Restgesellschaft hin. Die Rede von Bedeutungsverschiebungen in der Bewertung des Heroischen in der Moderne ist begründungsbedürftig, denn Personen können auch in komplexen Gesellschaften einen Heldenstatus erreichen, wenn sie sich als Formen in den Steuerungssprachen sozialer Systeme markant sichtbar machen (Luhmann 1975a). So können Politiker durchaus zu Helden werden, wenn sie das Medium

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der Macht erfolgreich für die Durchsetzung politischer Ziele einsetzen und hierfür kollektiven Beifall ernten. Skandale haben in den letzten Jahren aber immer wieder zu einer Desillusionierung der politischen Prominenz geführt. Für den Fall der Bundesrepublik Deutschland denke man nur an die zahlreichen Parteispendenaffären, in die selbst diejenigen verstrickt waren, die sich vorher in anderen Bereichen einen durchaus guten Namen erworben hatten. Hinzu kommt, dass in demokratisch verfassten Gesellschaften mit dem Wahlpublikum ein Prinzipal über den Politikern lauert, der offene Worte und handlungskräftige Entscheidungen häufig nur dann belohnt, wenn eigene Interessen hierdurch nicht allzu stark tangiert werden. Außerdem fällt es einzelnen Akteuren in der Politik offensichtlich schwer, individuelle Duftmarken zu setzen und heroische Handlungsspuren zu hinterlassen, weil die Parteien sie in eine straffe Gremien- und Proporzlandschaft einbinden. Nicht umsonst werden viele Politiker heute abschätzig als »Parteisoldaten« bezeichnet, also als Figuren dargestellt, die im Gleichschritt marschieren und ihre Handlungsleistungen als Befehlsempfänger der Parteispitze erbringen. Auch die Religion ist im Medium des Glaubens prinzipiell heldenfähig. Ihre Heroen findet man traditionellerweise in den Reihen der Religionsstifter und deren Nachfolger und Repräsentanten. Nicht wenige religiöse Gemeinschaften haben aus Gründen moralischer Erbauung sogar ausgeklügelte Heldenhierarchien geschaffen und hierfür genaue Zutrittsregeln definiert. Wer sein Leben für den eigenen Glauben zu opfern bereit ist, landet im religiösen Heldenranking in der Sonderkategorie der Märtyrer. Und wer seine Mitmenschen durch dauerhafte Wohltaten beeindruckt oder gar »Wunder« bewirkt, wird nach Begutachtung durch ein hierauf spezialisiertes Gremium postum selig gesprochen oder in den Adelsstand der Heiligen aufgenommen. Religionshelden sind aber im Gefolge der gesellschaftlichen Modernisierung, insbesondere nach der Entzauberung durch die Wissenschaft und die negativen Erfahrungen mit religiös motivierten Kriegen und Auseinandersetzungen, auch nicht mehr das, was sie in der vormodernen Gesellschaft einmal waren. Ein ähnlicher Bedeutungsverlust von Heldenfiguren ist gegenwärtig in der Wirtschaft zu beobachten. Hier sind es erfolgreiche Unternehmer, Konzernführer und Manager, die prinzipiell im Heldenhimmel landen könnten. Aber die Heroen des Gelderwerbs und der Bedürfnisbefriedigung fallen im Zeitalter der Globalisierung eher dadurch auf, dass sie den »shareholder value« ihrer Firmen zu steigern trachten und Arbeitsplätze trotz hoher Rendite abbauen oder ins Ausland verlegen. Wenn zudem Manager in Zusammenarbeit mit Aufsichtsräten eine Selbstbedienungsmentalität zu Lasten der Aktionäre kultivieren und sich bei Firmenzusammenschlüssen wechselseitig »goldene Handschläge« verabreichen, sind dies keine Maßnahmen, die in der öffentlichen Meinung als heroisch gewürdigt werden. Die Aufgabe, das wirtschaftlich Mögliche unter den

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Konkurrenzbedingungen einer weltweit ausgreifenden Ökonomie zu steigern, führt deshalb in vielen Branchen eher zu einer ambivalenten Einschätzung des wirtschaftlichen Führungspersonals. Auch die Wissenschaft lässt heroische Leistungen im abstrakten Medium der intersubjektiven Wahrheit durchaus zu. Die Scientific Community schätzt beispielsweise jene Akteure hoch ein, die als Grundlagenforscher dabei helfen, die Welt neu zu erklären, oder die als Anwender Pioniergewinne bei der Neuentwicklung von Medikamenten, technischen Gerätschaften oder Operationsverfahren erzielen. Wissenschaftler bevölkern den Heldenkosmos dann als Nobelpreisträger, gefeierte Erfinder oder namhafte Theoretiker. Von den Wissenschaftshelden bekommt das breite Publikum aber nicht viel mit, weil wissenschaftliche Leistungen in einer Welt der Abstraktion stattfinden und nur von wenigen Insidern angemessen eingeschätzt werden können. Außerdem sperren sich viele wissenschaftliche Erkenntnisse einer Umsetzung in die Sprache der Bilder. Wer aber in einer medienorientierten Gesellschaft mit seinen Leistungen nicht gesehen wird und »newsworthiness« beweist, hat geringe Heldenchancen. Wissenschaftler kommen deshalb in der Regel über den Status einer sektoralen Prominenz nicht hinaus. Letztlich hat auch das traditionelle Heldenrefugium der Nationalgesellschaften einen enormen Reputationsverlust hinnehmen müssen: das Militärsystem mit seinen Gewaltakteuren. Spätestens nach den kriegerischen Auseinandersetzungen des letzten Jahrhunderts besitzen Militärhelden keinen sonderlich hohen Status mehr. Militärische Leistungen haben eben nicht mit der »Leichtigkeit des Seins«, sondern mit Tod und Zerstörung zu tun. Hinzu kommt, dass die Entwicklung von Massenvernichtungs- und Distanzwaffen das Töten entindividualisiert hat. Um die Verluste der eigenen Soldaten klein zu halten und die Akzeptanz der Bevölkerung in asymmetrischen Kriegen nicht überzustrapazieren, ist der persönliche Einsatz vor Ort immer mehr durch das Drücken von Knöpfen und das Dirigieren von Tötungsmaschinen, Drohnen, auf entfernt liegenden Bildschirmen ersetzt worden. Vor dem Hintergrund der Bedeutungsverschiebungen in der Bewertung politischer, wirtschaftlicher, wissenschaftlicher, religiöser und militärischer Führungspersonen konnte der Spitzensport im letzten Jahrhundert zum zentralen Heldensystem der modernen Gesellschaft aufsteigen. Verschärft formuliert: In funktional differenzierten Gesellschaften ist der Spitzensport der einzige Sozialbereich, der real existierende Helden noch in einer ungefährlichen Weise produzieren kann. Eben weil er keine unverzichtbare Funktion für die Gesamtgesellschaft erbringt (Bette 1989: 169; Schimank 2001a), sind seine Hauptakteure in besonderer Weise offen für heroische Attribuierungen, schließlich sind diese von einer Funktionserbringung im engeren Sinne entlastet und können deshalb für die Wirkung der ansonsten in Anschlag gebrachten symbolisch ge-

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neralisierten Steuerungsmedien nicht zur Verantwortung gezogen werden. Erleichtert wurde diese Karriere durch die Expansion der Massenmedien und die Entstehung der »leisure society«, der Freizeitgesellschaft. Immer mehr Menschen können aufgrund des gestiegenen Wohlstands, höherer Freizeitbudgets und technischer Errungenschaften an den Erlebnisofferten des Sports teilnehmen. Und nachdem die Jenseitsversprechen der Religion nach dem »Tode Gottes« und der »Umkehr aller Werte« (Nietzsche) viele Menschen nicht mehr in ihren Bann schlagen können, ist der Spitzensport als spaß- und unterhaltungsorientierter Repräsentant des Diesseits gerade aufgrund seiner Heldenerzeugungskompetenz in das Zentrum einer komplexen Akteurkonstellation hineinkatapultiert worden. Man kann sagen: Die Sporthelden sind die profanen Götter der Neuzeit, die nicht nur für die Attraktivität des Spitzensports eine große Bedeutung haben. In einer differenzierten Gesellschaft sind sie insgesamt auch der Kitt, der trotz der strukturell begründeten Orientierungsunterschiede zwischen den gesellschaftlichen Teilbereichen spezifische Interessensverschränkungen ermöglicht. Wer über die Bedeutung des Spitzensports im Kontext von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Massenmedien und Publikum sachangemessen reden und entsprechende Standortbestimmungen vornehmen möchte, hat sich deshalb mit den Heroen des Sports als den herausragenden Figuren dieses Systems auseinanderzusetzen. So eignen sich Sporthelden als Identifikationsfiguren für das Publikum, als Themen- und Aufmerksamkeitsbeschaffer für die Massenmedien, als Werbeträger für die Wirtschaft und als Legitimationsbeschaffer für die Politik. Als Sozialfiguren der Außeralltäglichkeit sind sie maßgeblich daran beteiligt, wenn vielerorts »Erregungsgemeinschaften« (Sloterdijk 1998) entstehen. Die Verknüpfungen zwischen dem Spitzensport und dessen Umfeld funktionieren vor allem deshalb, weil nationale und internationale Sporthelden für breite Massen den Status »parasozialer« Figuren (Horton/Wohl: 1956) erreicht haben. Das heißt: Kinder und Jugendliche eifern ihnen nach, geben sich spielerisch ihre Namen, kaufen ihre Sportkleidung und imaginieren sich in ihre Helden hinein, um mit ihnen eins zu werden und an ihrer Berühmtheit teilzuhaben. Erwachsene integrieren ihre Idole als wichtige Bezugspersonen in die Fernsehfamilie, diskutieren über sie am Arbeitsplatz oder Stammtisch, beobachten sie im Stadion, lesen und hören von ihren biografischen Wendungen, und tun all dies, ohne ihre Helden jemals persönlich kennengelernt zu haben. Im Folgenden sollen zentrale Aspekte des Sportheldentums einer soziologischen Analyse unterzogen werden. Der erste Abschnitt wird die sportinternen Bedingungen herausarbeiten, die den Spitzensport zum zentralen Heldensystem der modernen Gesellschaft gemacht haben. Ein zweiter Schwerpunkt wird auf die unterschiedlichen Ausprägungen sportiven Heldentums eingehen und eine Heldentypologie vorstellen und begründen. Und ein dritter Abschnitt wird die

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narrativen Verlaufsfiguren abklären, die den Heldengeschichten des Sports zugrunde liegen.

SPITZENSPORT ALS HELDENSYSTEM Die Heldenfähigkeit des Spitzensports ist das Ergebnis spezifischer Arrangements, die sich im Gefolge seiner Ausdifferenzierung in zeitlicher, sachlicher, sozialer und räumlicher Hinsicht ergeben haben. Die Sportverbände als die korporativen Akteure des Spitzensports haben auf dieser Grundlage ein Opportunitätsmilieu für die Epiphanie und Apotheose von Helden geschaffen, das es so weder in Wirtschaft, Politik und Religion noch in Wissenschaft, Kunst oder Erziehung in vergleichbarer Weise gibt. Folgende Bedingungen lassen sich hierfür benennen: Während die maßgeblichen Sozialfiguren von Politik, Wirtschaft, Religion oder Wissenschaft ihre systemspezifischen Handlungen hinter verschlossenen Türen, in Laboren, Sitzungssälen, Fabrikhallen oder Kirchen abwickeln, finden sportliche Wettkämpfe in Sonderräumen statt, die bewusst auf Beobachtung hin angelegt sind. Stadien, Sporthallen und Arenen sind bühnenähnliche Orte, die das Handeln der Wenigen den Blicken der Vielen aussetzen. Dort, wo eine unmittelbare Teilhabe der Zuschauer an den Wettkämpfen nicht möglich ist, stellen Kameras, Mikrofone und Satellitenübertragungen eine Sichtbarkeit für nichtanwesende Zuschauer her. Mit der gezielten Verfügbarmachung öffentlichkeitsorientierter Sporträume wird eine wichtige Voraussetzung für eine breite Heldenverehrung erfüllt: Helden müssen nicht nur besondere Leistungen erbringen; sie brauchen vielmehr auch Beobachter, die ihr Handeln mitbekommen und im Rahmen vorhandener Situationsdefinitionen als außergewöhnlich erleben und attestieren. Ohne Jünger, Fans und Bewunderer gibt es keine Helden. Heldentum ist eine soziale Konstruktion, die sich aus dem Zusammenspiel zwischen Akteur und Beobachter ergibt. Es verweist primär nicht auf Wesensmerkmale einer spezifischen Handlung, sondern auf das Erleben und den Erwartungshorizont des Publikums. Wer einsam großartige Taten vollbringt, also nicht beobachtet wird, oder darauf verzichtet, über die Formen und Effekte seines Handelns zu kommunizieren, wird nie in den Pantheon der Helden aufgenommen werden können. Die Heldenfähigkeit des Spitzensports profitiert weiterhin von dem relativ voraussetzungslosen Inklusionsmodus, mit dem der Spitzensport auf das Publikum zugreift: Wahrnehmung und organische Empathie reichen bereits aus, um an Sportentscheidungen teilhaben zu können. Intellektuelle Kennerschaft und spezifische Kompetenzen aufseiten der Zuschauer werden nicht vorausgesetzt. Da sportliche Wettkämpfe letztlich nonverbal ablaufende Auseinandersetzun-

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gen zwischen real existierenden Körpern oder Mensch-Maschine-Systemen sind, kann der Spitzensport problemlos ein Weltpublikum ansprechen und unterhalten, und zwar trotz vorhandener Sprachbarrieren. Im Sport können die Zuschauer als eingeschlossene ausgeschlossene Dritte an dem Prozess der Entscheidungsfindung unmittelbar teilhaben und entsprechende Authentizitätsgefühle entwickeln, was in Politik, Wissenschaft oder Wirtschaft in vergleichbarer Weise so nicht möglich ist. Einem Sozialbereich, an dem man an den entscheidenden Handlungen im Moment des Geschehens mit eigenen Augen und Ohren partizipieren kann, wird ein ungleich höherer Realitätswert zugeschrieben als jenen Sozialbereichen, die durch Abstraktion geprägt sind und ihr systemspezifisches Handeln nach außen abschotten. Was lernt man schon von der Komplexität der Wirtschaft, wenn man die Zahlenspiele an der Börse verfolgt? Und welche Einblicke gewährt die Politik, wenn man die Parlamentsdebatten im Fernsehen zu sehen bekommt? Auf der Basis von Wahrnehmungsorientierung und organischer Empathie eröffnet der Sport demgegenüber die Möglichkeit von Synchronizitäts- und Kausalitätserfahrungen. Der Zusammenhang von Ursache und Wirkung lässt sich, bei allen legalen und illegalen Aktivitäten auf der »Hinterbühne«, in den Interaktionssituationen des sportlichen Wettkampfes im Moment des Geschehens in einem mittleren Bereich direkt beobachten: Spieler A schießt eine Flanke und Spieler B erzielt anschließend ein Kopfballtor. Diese über einfache Wahrnehmungsprozesse erzielte Eindeutigkeit setzt sich wohltuend von den permanenten Uneindeutigkeiten in der Restgesellschaft ab. Was ist der 3:1-Sieg bei einem Fußballspiel gegenüber dem Ausgang einer politischen Wahl, bei der noch nach Wochen darüber diskutiert wird, wer als Gewinner zu betrachten ist und die Koalitionsverhandlungen übernehmen darf? In einer Gesellschaft, in der die Intransparenzen zunehmen und Eindeutigkeiten und Gewissheiten zerfließen, konnte der Sport durch die Beobachtbarkeit seiner Akteure und die Nachvollziehbarkeit der im Wettkampf erbrachten Leistungen zu einer wichtigen Quelle von Gewissheitserfahrungen werden, die andere Sozialbereiche aufgrund ihrer Spezialisierung und Funktionsausrichtung in vergleichbarer Weise nicht mehr zur Verfügung stellen können. Gegenüber Politikern, die aus wahltaktischen Überlegungen heraus oft nicht meinen, was sie sagen, und Wissenschaftlern, die man aufgrund der Kompliziertheit ihrer Sprache und der Abstraktheit ihrer Wissensgebiete häufig nicht versteht, erscheinen Sporthelden durch ihre Einbettung in ein körper- und personenorientiertes Sozialsystem als Inkarnationen der Eindeutigkeit, Konkretheit und Lebensweltnähe. In der Währung der Heldenverehrung werden sie hierfür vom Publikum entsprechend belohnt. Die Heldenfähigkeit des Spitzensports profitiert weiterhin von dem Umstand, dass das Handeln der Akteure einer einfach zu verstehenden Logik unterliegt, dem Code von Sieg und Niederlage (Bette 1989: 171ff.). Dieser Grund-

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antagonismus ist der Motor, der die Sportler und Sportlerinnen mit Handlungsmotiven ausrüstet und dauerhaft für eine kreative Unruhe und Dynamik sorgt, die außersportliche Sozialbereiche anschließend für eigene Zwecksetzungen nutzen können. Alle, die in einem Wettkampf antreten, wollen das Gleiche, nämlich den sportlichen Sieg, aber nur einer kann ihn erringen. Das Publikum weiß dadurch in jedem Wettkampf, worauf es sich einzustellen hat. Das Miteinander der Athleten ist immer auch ein bewusstes Gegeneinander – egal, ob es sich um einen 100-m-Lauf, ein Reitturnier oder ein Fußballspiel handelt. Hinzu kommt, dass die im Sieg/Niederlage-Code eingespeicherte Rekord- und Steigerungslogik das Streben der Akteure nach besonderen Leistungen strukturell auf Dauer stellt. Jede Rekordmarke fordert zur Überbietung heraus und macht diejenigen sichtbar, die den Wettkampfraum als Gewinner oder Verlierer verlassen. Da sich niemand lange auf den Lorbeeren früherer Tage ausruhen kann, wird jeder Athlet gezwungen, seine einmal erworbene Reputation immer wieder neu zu bestätigen. Der serielle Charakter sportlicher Wettkämpfe tut ein Übriges, um außeralltägliche Leistungen erwartbar zu machen. Man denke nur an die mehrmonatigen Wettkampfserien, die in den verschiedenen Mannschaftssportarten installiert worden sind, um am Ende einen nationalen oder internationalen Meister zu küren. Diese Temporalisierung des Geschehens durch Strukturbildung eröffnet den Athleten und Athletinnen die Möglichkeit, sich wöchentlich durch messbare Leistungen zu präsentieren. Und es ist gewiss, dass sie hierbei beobachtet und entsprechend ihrer Leistungen evaluiert werden. Die Heldenfähigkeit des Spitzensports profitiert zudem von der Spannungsträchtigkeit und Harmlosigkeit sportlicher Wettkämpfe (ebd.: 174ff.). Spannung ist das Erlebniskorrelat sowohl des Sieg/Niederlage-Codes als auch der Ergebnisoffenheit sportlicher Konkurrenzen. Im Gegensatz zur virtuellen Filmund Buchrealität, die Regisseure und Autoren exakt vorherplanen, ist der sportliche Wettkampf ein Real-life-Event, bei dem man am Anfang noch nicht weiß, was am Ende herauskommt. Wichtige Entscheidungen fallen oft erst in den letzten Sekunden einer Spielzeit oder auf den letzten Metern eines Rennens. Das Publikum wird so auf eine unterhaltsame Weise elektrisiert. Außeralltägliches kann im Sport alltäglich passieren. Das Warten hierauf ist ein Teil des Faszinosums Spitzensport. Eine weitere Genussverstärkung kommt dadurch zustande, dass sportliche Auseinandersetzungen mit ihrer Spannungsträchtigkeit und Ergebnisoffenheit für das Publikum eine völlig andere Bedeutung haben als wirtschaftliche, politische oder militärische Konfrontationen, die tief in die Lebensumstände von Menschen eingreifen. In einem Wettkampf geht es für die Zuschauer nicht um Leben oder Tod oder wirtschaftlichen Gewinn oder Ruin, sondern um ein an und für sich unwichtiges Gut, nämlich einen sportlichen Sieg oder eine sportliche Niederlage. Wenn die Fußballmannschaft

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der eigenen Herkunftsgesellschaft bei einer Weltmeisterschaft nicht auf dem ersten Platz landet, hat dies keine Konsequenzen für die nationale Produktion wissenschaftlicher Wahrheit oder die Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen in der Politik, auch wenn kurzzeitig aufseiten des Publikums durchaus eine nationale Trauer-, Wut- und Niederlageverarbeitungsgemeinschaft entstehen kann.

Spitzensport als Heldensystem – Sichtbarkeit der Akteure durch die Ausdifferenzierung beobachtungsorientierter Sonderräume; theatralische Aufführung sportlicher Wettkämpfe in Stadien, Arenen, Hallen oder anderweitigen Sporträumen – Wahrnehmung und organische Empathie als dominante Modi für die Inklusion des Sportpublikums – sprachunabhängige Teilhabe des Publikums am Sportgeschehen – leichte Verstehbarkeit spitzensportlichen Handelns durch die global geltende Logik von Sieg und Niederlage; Reduktion von Komplexität durch die Ausdifferenzierung sportartspezifischer Regeln – Spannung als Erlebniskorrelat sportlicher Sinnvorgaben: Sieg/Niederlage-Code, Prinzip des offenen Wettkampfausgangs, Prinzip der formalen Gleichheit der Akteure – Gleichzeitigkeit von Athletenhandeln und Zuschauererleben; Ermöglichung von Synchronizitätsund Kausalitätserfahrungen im Rahmen sportlicher Real-life-Events – Konsequenzlosigkeit sportlicher Wettkämpfe für das außersportliche Leben der Zuschauer – Ermöglichung von Leistungsindividualisierung und Selbstheroisierung auf der Grundlage sportartspezifischer Regeln und Könnensvorstellungen Abb. 1: Spitzensport als Heldensystem

Sportliche Wettkämpfe sind schließlich heldenfähig, weil sie in besonderer Weise Möglichkeiten der Leistungsindividualisierung und Selbstheroisierung eröffnen. Leistung ist dabei keine hinreichende, sondern eine notwendige Bedingung der Möglichkeit sportiven Heldentums. Menschen, die an der Sinnsphäre des Spitzensports teilhaben, erhalten so die Chance, sich auf der Grundlage kodifizierter Bewertungsmaßstäbe von anderen abzusetzen und Einzigartigkeit zu erringen. Die Selbstprofilierung durch Leistung erfolgt nicht durch abstrakte kommunikative Fähigkeiten der Akteure im Umgang mit Geld, Macht oder Wahrheit, sondern auf der Grundlage physischer, psychischer, sozialer und technisch-taktischer Kompetenzen. Die in anderen Sozialbereichen durchaus noch bedeutsamen Kriterien der Positionszuteilung wie Alter, Herkunft,

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Reichtum, Schönheit, Rasse, Geschlecht, Ideologie oder Religionszugehörigkeit spielen bei der Rangvergabe im Spitzensport explizit keine Rolle. Die im Wettkampf eingesetzten Messgeräte sichern den auf Eigenleistung begründeten Status des Einzelnen legitimatorisch ab und verschaffen Akzeptanz, Plausibilität und Eindeutigkeit. Zielkameras und Uhren kommen zum Einsatz, um in Situationen, in denen das menschliche Auge im Moment der Entscheidungsfindung versagen würde, final entscheiden zu können, wer gewonnen und wer verloren hat. Damit bietet der Spitzensport insgesamt etwas Besonderes: Während Menschen in Organisationen oft hinter den Kulissen verschwinden, um dort ihre Arbeit in unüberschaubaren Handlungsketten zu verrichten, offeriert der Sport den genau umgekehrten Effekt: Einzelne Personen oder Gruppen dürfen sich vor den Augen zuschauender Dritter in ihren Fähigkeiten präsentieren und erhalten strukturell die Chance, ihre Handlungsbeiträge bis ins Heroische zu steigern. Und die Organisationen, die dies durch die unterschiedlichsten Arrangements ermöglichen und tragen, bleiben bei aller Inszenierung und Eventisierung im Hintergrund. Im Spitzensport werden Leistungen und Erfolge auf der Wettkampfbühne dem Können der Sportler zugeschrieben, und nicht dem Wirken anonymer Mächte oder technischer Infrastruktursysteme. Sporthelden stellen deshalb eine Sonderkategorie der Prominenz dar: Sie glänzen durch Leistungen, die sie selbst erbracht und in vielen Jahren erarbeitet haben. Sie setzen sich dadurch von jenen Sozialfiguren ab, die seit geraumer Zeit den öffentlichen Diskurs in den Medien bestimmen und deren Reputation nicht auf Leistung, sondern auf psychischen Auffälligkeiten oder der Bereitschaft beruht, das Private völlig ungehemmt öffentlich zu machen.

HELDENTYPOLOGIE Wo ein erbittertes Ringen um Sieg oder Niederlage stattfindet, Räume erobert und verteidigt werden, wo Angriffs- und Abwehrschlachten geschlagen, Punkte gesammelt, Revanchen für vorhergehende Enttäuschungen genommen werden und eigene Erfolgsstrategien im Auf und Ab und Hin und Her des Wettkampfes dramatisch scheitern können, wird der Boden für die unterschiedlichsten Heldengestalten strukturell bereitet. Die Heldentruppe des Sports ist insofern keine homogene Einheit; sie zeigt sich vielmehr als ein hochdifferenziertes Gebilde, das sich aus den Besonderheiten der einzelnen Sportarten, der Wirkungsdauer von Sportergebnissen, den Präsentationsleistungen und Funktionen der Athleten und den beim Publikum hervorgerufenen Gefühlen ergibt. Um die Koordinaten zu bestimmen, in denen das heroische Themen- und Figureninventar des

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Spitzensports angesiedelt ist, empfiehlt es sich zunächst einmal, den Heldenkosmos in räumlicher Hinsicht zwischen zwei Eckpunkten anzusiedeln: den »local heroes« einerseits, also den lokalen, regionalen und nationalen Größen des Sports, und den globalen Sporthelden andererseits. Letztere wurden erst möglich durch die technischen Entwicklungen auf dem Gebiet der Massenmedien, die zu einer Aufhebung der räumlichen Beschränkungen sportiven Heldentums führten. Waren die Sporthelden bis in die dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts – man denke nur an den deutschen Boxer Max Schmeling – vornehmlich noch Radio-, Zeitungs- und Wochenschauhelden, sind die gegenwärtigen Sportheroen in erster Linie Helden des Fernsehens und des mobilen Internets. Sie können infolge dessen nicht nur lokal, regional und national, sondern global im Augenblick des Geschehens multimedial konsumiert werden. In zeitlicher Hinsicht macht es Sinn, zwischen Kurzzeit- und Langzeithelden zu unterscheiden und somit auf die unterschiedliche Wirkungsdauer heroischer Taten abzuheben. Erstere glänzen durch Augenblickserfolge, also durch hochstehende sportliche Leistungen, die aber aufgrund von Körper- und Motivationsgrenzen oder Verletzungen nicht dauerhaft reproduzierbar sind. In diese Heldenkategorie fallen auch jene Sportler, die den Zufall zu nutzen wussten oder vom Scheitern der Konkurrenten profitierten und dadurch auf Rangplätze vorstießen, die sie ansonsten nie hätten erreichen können. Der Sturz, den ein führender Sportler kurz vor der Ziellinie hinlegt, stellt für den Stürzenden eine Katastrophe dar; für den Zweiten, der dadurch zum Sieger wird, ist es eine nicht kalkulierbare Fügung des Schicksals. Die Kurzzeithelden sind die Sternschnuppen am Heldenhimmel: Sie begeistern durch eine hohe Lichtabgabe, ziehen aber schnell vorüber und erreichen dadurch nicht die dauerhafte Helligkeit jener Fixsterne, die noch spätere Generationen begeistert und fasziniert. In der Heldenliga stehen deshalb die Langzeithelden an oberster Stelle. Jede größere Sportnation verfügt über entsprechende Figuren, die ihr Publikum über Jahre durch hochstehende Leistungen begeisterten, die Konkurrenz dominierten und die Ergebnisoffenheit sportlicher Wettkämpfe zeitweise sogar außer Kraft setzten. Man denke nur an die langjährigen Erfolgsserien von Pelé, Muhamad Ali, Eddy Merckx, Carl Lewis, Michael Schumacher, Steffi Graf, Boris Becker oder Michael Jordan. Im kollektiven Gedächtnis sind es vornehmlich die Langzeithelden, die auf der internationalen Wettkampfbühne reüssierten und mit Hilfe der Massenmedien memoriert und bei gegebenen Anlässen revitalisiert werden. In sachlicher und sozialer Hinsicht beruhen die Differenzen in der Heldenriege vornehmlich auf Unterschieden, die durch die Anforderungsprofile der Sportarten in den Wettkampf hineinkommen. Bei der Tour de France werden, wie Roland Barthes (1957: 110ff.) in seinen »Mythen des Alltags« feststellte,

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Radrennsportler in erwartbarer Wiese zu Helden stilisiert, indem man sie in Situationen hineinbringt, in denen sie sich über mehrere Wochen nicht nur mit den Konkurrenten, sondern auch mit der »grausamen« Natur auseinanderzusetzen haben. Diese tritt den Sportlern in Form von Hitze, Kälte und Müdigkeit oder in Gestalt steiler Berge, großer Raumdistanzen, rutschiger und holpriger Straßen oder begrenzter Zeit entgegen. Die »Wasserträger« im Peloton hingegen können im Radrennsport höchstens zu stillen Helden werden, weil sie sich in entscheidenden Augenblicken zum Verschwinden bringen müssen und auf eine Individualisierung durch Leistung zum Wohl von Team und Spitzenfahrer zu verzichten haben. Andere Sportarten erzeugen andere Heldentypen. Hochspringer glänzen nicht durch mehrwöchige Verausgabungen, sondern fallen als schnelle Überwinder großer Höhen auf. Turner setzen sich akrobatisch mit Körper, Schwerkraft und Gerät auseinander. Ein 100-m-Sprinter kann sich bei entsprechender Kompetenz als Held der Geschwindigkeit und Eigenbeschleunigung feiern lassen. Man denke nur an den alles dominierenden jamaikanischen Läufer Usain Bolt. Spitzenzehnkämpfer brillieren an zwei Tagen durch außeralltägliche Mehrfachkompetenzen im Laufen, Springen, Werfen und Stoßen. Und der Formel-1Held steht für Schnelligkeit, Modernität und eine gelungene Mensch-MaschineSymbiose. Er repräsentiert Individualität, Leistungs- und Risikobereitschaft und Durchsetzungswillen, manchmal steht er allerdings auch für Unfairness, Ellenbogenmentalität und radikale Selbstbezüglichkeit. Unterschiede im Heldenrepertoire des Sports ergeben sich weiterhin durch den Körperhabitus und die performativen Qualitäten der Sportler und Sportlerinnen, die sich in entsprechenden Spitznamen niederschlagen können, sowie durch die Rollen, die den Akteuren im Wettkampf, beispielsweise im Fußball, zugewiesen werden. Dass Franz Beckenbauer als Libero zum »Kaiser« geadelt wurde, hatte damit zu tun, dass er durch Führungsqualitäten, Übersicht und einen ausgeprägten Bewegungsminimalismus im Bereich des Oberkörpers glänzte. Außerdem hielt er sich souverän aus Zweikämpfen heraus und vermied harte und verletzungsträchtige Konfrontationen. In einer Sportdisziplin, die durch Rollenspezialisierung einen hohen Koordinationsbedarf aufweist, war er derjenige, der auch in Situationen der Bedrängnis zu führen wusste und die Abstimmungsdefizite und Reibungen zwischen den einzelnen Spezialisten durch ein eigenes beherztes Handeln gegenzusteuern verstand. Demgegenüber gibt es Helden des Kampfes, der zähen Auseinandersetzungen, wie sie besonders in Sportarten erwartbar sind, in denen die Sportlerkörper im Wettkampf hart aufeinanderprallen. Wer diesen Konfrontationen nicht aus dem Wege geht, sondern aufgrund seiner Position vielmehr bewusst aufsucht, wird häufig mit dem Namen von Tieren belegt, die für ein schneidiges Auftreten gezüchtet wurden. In der Heldenmetaphorik des Fußballs war Berti Vogts

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der »Terrier«, der die Gegner durch seine Verbissenheit zur Verzweiflung brachte. Wayne Rooney wurde durch seine kompromisslose Härte und seine hohe Konfliktbereitschaft zum Helden der englischen Arbeiterklasse. Mit seinen »mannhaften« Qualitäten überzeugt er nicht nur auf dem Spielfeld, sondern auch in außersportlichen Situationen. Besondere Heldenchancen besitzen diejenigen, die aufgrund ihrer sozialen Rolle als Verteidiger über die Reinheit und Heiligkeit von Sporträumen zu wachen haben. Wenn ein Handballtorwart bei einer Weltmeisterschaft die Siebenmeterwürfe der Gegner in Serie abwehrt und damit der eigenen Mannschaft zum Sieg verhilft, ist dies traditionellerweise der Stoff, aus dem Helden, sprich »Hexer«, sind. Gleiches gilt für die erfolgreichen Torwartfiguren des Fußballs. Oliver Kahn wurde im öffentlichen Diskurs mit dem Titel des »Titanen« geadelt, weil er sein Tor mit Kampfsportqualitäten ohne Rücksicht auf eigene und fremde Verluste verteidigte, den Gegnern offensiv als menschliches Bollwerk entgegensprang und sich auch nicht scheute, die eigenen Verteidiger mit einer entsprechenden Gestik und Mimik öffentlich für ihre Versäumnisse in der Defensivarbeit zu rüffeln. Torwartfiguren bewähren sich, wenn sie gekonnt die Bälle des Gegners durch eigene Taten abwehren oder in Besitz nehmen, als Abwehrhelden, als »Hüter des Hauses«. Das eigene Publikum ehrt und belohnt sie insbesondere dann mit entsprechenden Huldigungsgesten und -ritualen, wenn es diesen Akteuren gelungen ist, die Penetrations- und Befleckungsversuche des Gegners mit gekonnten Paraden erfolgreich zu vereiteln und die Schande der Niederlage und der Torraumbesudelung abzuwenden. Dem Verteidigerheld steht komplementär die Sozialfigur des Eroberers oder Angreifers gegenüber. Dieser attackiert Gegner, besetzt und erobert heilige Räume, indem er vorher die Defensivsysteme der Konkurrenz mit Raffinesse austrickst oder durch Schnelligkeit überrennt. In Mannschaftssportarten sind die Erobererhelden die Vollstrecker, die am Ende einer langen Handlungskette stehen und deshalb in besonderer Weise Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Während die eigenen Mitspieler als Vorbereiter der Heldentat schnell vergessen werden, weil in der Regel nur die letzte Vorbereitungsstation noch memoriert wird, heimsen die Erobererhelden und Vollstrecker den Ruhm ein. Sie haben das Privileg oder das Glück, im richtigen Augenblick die Entscheidung herbeiführen zu können. Wenn die anderen zögerlich sind und sich nicht aus der Deckung ihrer Positionen heraustrauen, wagt der Erobererheld den Sprung ins Ungewisse, und trägt anschließend die Konsequenzen seiner Risikoübernahme. Sportler, die in der Öffentlichkeit in besonderer Weise als Helden gefeiert werden, sind häufig auch als Gerechtigkeits- und Racheengel in Erscheinung getreten. Da sportliche Wettkämpfe notwendigerweise Verlierer, also Ungleiche, erzeugen, sind Spezialisten für das Begleichen alter Rechnungen und für

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die Wiederherstellung sportlicher Ehrgefühle im Spitzensport erwartbar – insbesondere dann, wenn die Sportler in Wettkampfserien miteinander verbunden sind und auf eine jahrzehntelange gemeinsame Konfliktgeschichte zurückblicken können. Auseinandersetzungen dieser Art lassen sich sowohl auf der Bühne inner- und interstädtischer Beziehungen als auch auf der Ebene internationaler Konkurrenzen beobachten. Beispiele für den Bereich des Fußballs liefern die folgenden Mannschaften: 1. FC Bayern München vs. 1860 München, Glasgow Rangers vs. Celtic Glasgow, Borussia Dortmund vs. Schalke 04 oder Karlsruhe vs. Stuttgart. Für den Fall des internationalen Vergleichs denke man an die klassische Eishockey-Rivalität zwischen den USA und Kanada, für das Hockeyspiel an die Rivalität zwischen Indien und Pakistan, für den Fußball an die Konkurrenz zwischen Brasilien und Argentinien. Gerechtigkeits- und Rachehelden dürfen im Sport allerdings ihr Handwerk nur in Gestalt regelgerechter Gewalt, technischer Raffinesse oder überlegener physischer und psychischer Kompetenz verrichten. Exzesse, die aus dem Ruder laufen, sind im Sport nicht vorgesehen und werden, wenn sie dennoch passieren, entsprechend geahndet. Oft sind es Konflikte und Asymmetrien, die außerhalb des Sports zu Auseinandersetzungen führen, die Athleten und Athletinnen immer dann zu Helden werden lassen, wenn sie als stellvertretende Rächer für erlittene Kränkungen in Erscheinung treten können. Als der DDR-Fußballer Jürgen Sparwasser bei der Fußball-WM 1974 im Spiel gegen die bundesrepublikanische Auswahl das 1:0 Siegtor erzielte, wurde er zu Hause zu einem Volkshelden. Fußball-David war gegen Fußball-Goliath angetreten und hatte seine Stärke vor den Augen der Weltöffentlichkeit unter Beweis stellen können. Und wenn mehr als sechzig Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges bundesdeutsche Fußballer gegen die holländische Nationalelf antreten, geht es nach wie vor nicht einfach nur um einen sportlichen Wettkampf, sondern um die Bewältigung nationaler Kränkungen und Inferioritätsgefühle im Verhältnis zwischen einem kleinen und einem großen Nachbarn, die durch eine wechselvolle Geschichte miteinander verstrickt sind. Helden zeigen sich im Sport nicht nur als Eroberer, Verteidiger und Rächer, sondern treten auch als Retter und Erlöser auf, was zu Mischungsverhältnissen eigener Art führen kann. Man denke nur an den erfolgreichen Fußballstürmer oder -torwart. Retterhelden befreien im Sport das zuschauende Publikum vom quälenden Druck des Wartens auf den Erfolg oder die Wende des Geschehens. Die Geburt dieser Heldenfigur erfolgt meist durch eine überraschende Aktion, die eine nahende Katastrophe abwendet oder eine bereits eingetretene Krise schlagartig löst: durch einen spielentscheidenden Torschuss, den niemand erwartet hat, durch einen Korbwurf in der letzten Spielsekunde oder den erfolgreichen Spurt am Ende einer Staffel. Erlöserhelden retten entweder einen Vorsprung über die Zeit, schaffen ein begehrtes Unentschieden oder führen durch

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beherztes Handeln zum ruhmreichen Sieg – so beispielsweise der Fußballspieler Oliver Neuville, als er bei der WM 2006 im Spiel Deutschland gegen Polen in der Nachspielzeit das 1:0 Siegtor schoss und damit Fußballdeutschland flächendeckend erlöste und einen entsprechenden Freudentaumel in privaten und öffentlichen Räumen auslöste. Häufig tritt die entscheidende Tat eines Helden als ein körperlicher Opfergang für eine überindividuelle Sozialkategorie wie Verein, Verband, Nation oder Ethnie in Erscheinung. Eroberer-, Verteidiger-, Rächer-, Retter- und Erlöserhelden transformieren sich dann in profane Märtyrer. Als Hans Günther Winkler bei den Olympischen Reiterspielen in Stockholm 1956 trotz einer schweren Verletzung und entsprechender Schmerzen antrat und den Parcours auf der »Wunderstute« Halla erfolgreich überwand und so der deutschen Mannschaft die Goldmedaille sicherte, war ein Held geboren worden. Und als bei den Olympischen Spielen in Atlanta 1996 eine amerikanische Turnerin trotz eines gebrochenen Knöchels humpelnd zum Pferdsprung anlief, um der eigenen Mannschaft den Sieg zu retten, und nach der Landung zusammenbrach und von ihrem Trainer mit schmerzverzerrtem Gesicht aus der Halle getragen wurde, feierte ganz Amerika diesen Sprung als heroischen Opfergang für die eigene Nation. Sportler können demnach zu Märtyrerhelden werden, wenn sie sich ihrer Sache mit Haut und Haaren hingeben und ihr Engagement durch entsprechende Opfergaben »heiligen«. Körperschäden und Blessuren legen dann Zeugnis ab über ihre Hingabebereitschaft und Passion. Wunden und Verletzungen werden deshalb nicht verheimlicht, sondern als »Ehrenzeichen« vorgeführt. Sie belegen in einer sehr eindeutigen Weise, dass man das Äußerste zu geben bereit war und erntet hierfür Dankbarkeit und Respekt. Eine weitere Heldenfigur, die in der Dynamik sportlicher Wettkämpfe geboren und theatralisch zur Aufführung gebracht wird, ist der tragische Held. Er personalisiert die Kluft zwischen Absicht und Erfolg, zwischen dem Wollen und dem tatsächlichen sportlichen Können eines Subjekts. Der tragische Held ist die Verkörperung derjenigen, die im Sport auf der Strecke bleiben, weil sie in wichtigen Entscheidungs- und Notsituationen vor den Augen des Publikums dramatisch scheitern, ein eklatantes Fehlverhalten zeigen oder aufgrund von Verletzungen die von ihnen erwarteten Leistungen nicht erbringen können. Man denke nur an den Kopfstoß von Zinedine Zidane im letzten Spiel seiner Karriere bei der Fußball-WM 2006 oder an den chinesischen 110-m-Hürdensprinter Liu Xiang, der bei den Olympischen Spielen in Peking viele Landsleute schockierte und zum Weinen brachte, als er wegen einer Verletzung nicht zum Start antreten und die sicher erwartete Goldmedaille erringen konnte. Die oft im Bruchteil einer Sekunde vollzogene Transformation von einem Hoffnungsträger und möglichen Retter und Erlöser in eine Sozialfigur der Niederlage hinterlässt entsprechende Spuren im Körperhabitus der Akteure. Der

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tragische Held mutiert durch eigenes Versagen oder unglückliche Umstände zum leidenden Menschen. Die Körperspannung geht verloren. Der Einzelne sackt in sich zusammen, tritt frustriert gegen die Wand und gibt sich seinen Schuldgefühlen hin und muss getröstet werden. Da das individuelle Scheitern oft auch ein Scheitern der eigenen Mannschaft und der mitfiebernden Zuschauer bedeutet, entsteht eine sich wechselseitig verstärkende Trauerspirale im Verhältnis von Athlet und mitleidendem Publikum. Tragische Helden gehören in die Kategorie der Antihelden. Weil sie nicht das bringen, was das Publikum von ihnen erwartet, vermitteln sie diesem häufig Gefühle der Kränkung und Scham. Man denke nur an die Schweizer Fußballspieler, die bei der WM 2006 durch kollektives Versagen im Elfmeterschießen auffielen und damit eine ganze Nation in eine kurzzeitige Depression hineinbrachten. Tragische Helden können manchmal sogar Wut und Hass aufseiten des Publikums auslösen. Der Identifikationsmechanismus zwischen Sportler und Fan kippt in solchen Fällen ins Negative und Aggressive um. Die nicht zu Ehren gekommenen Athleten müssen sich dann durch die Hintertür nach Hause schleichen, weil an der Vordertür die Fans mit ihrer Empörung und Verachtung lauern. Die ungarischen Verlierer bei der Fußball-WM 1954 beispielsweise hatten gravierende soziale Diffamierungen und Stigmatisierungen nach dem Endspiel gegen Deutschland zu ertragen. Die Niederlage wurde als nationale Schande wahrgenommen. Die tragischen Helden des Endspiels wurden zu Sündenböcken deklariert und mussten zeitlebens mit dem Makel des Misserfolgs leben. In Kolumbien kann ein verschossener Elfmeter bei einer Weltmeisterschaft sogar zum Tod durch Lynchjustiz führen, insbesondere wenn hierdurch die Wettmafia Geld verliert. Welche Heldenfiguren den Sport auch immer bevölkern, sie müssen sich als Formen bzw. Gestalten im Medium der Leistung profilieren. Die Mitkonkurrenten, die es nicht bis auf das Siegerpodest schaffen, sind dadurch unverzichtbare Bedingungen der Möglichkeit sportiver Prominenz. Helden sind, im Sinne von Michel Serres (1981), die Parasiten der Verlierer. Ebenso wie Sterne nachts einen dunklen Hintergrund brauchen, um zu strahlen, brauchen Sporthelden Konkurrenten, von denen sie sich leistungsmäßig absetzen können. Auf das olympische Motto »Dabeisein ist alles« fällt angesichts dieser Notwendigkeit ein neues Licht. Um sich auf Dauer als ein Heldensystem zu etablieren, braucht der Sport eine Legitimationsrhetorik für diejenigen, die die Helden durch ihre Mittelmäßigkeit und ihr Scheitern erst zum Leuchten bringen. In seltenen Situationen können allerdings auch die Verlierer die Parasiten der Gewinner sein und eine Sonderform des Heldentums ausprägen, die Gilde der tapferen Versager. Auch sie gehören in die Kategorie der Antihelden. Der Zusammenhang zwischen Form und Medium funktioniert dann kurzzeitig genau umgekehrt: Die Träger sportlicher Spitzenleistungen fungieren unfreiwillig als

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Hintergrund für die Profilierung der sportlich Minderbegabten oder Schlechttrainierten: Schwimmer, die das Ziel kaum erreichen, weil sie gegen das Ertrinken anzukämpfen haben; Skispringer, die wie »Eddy the Eagle«, in erwartbarer Regelmäßigkeit Bruchlandungen hinlegen oder weit abgeschlagen hinter der Spitze landen; Marathonläufer, die nach Stunden der Selbstkasteiung im Halbkoma das Ziel erreichen. In der Regel bekommt man die tapferen Versager nur bei Olympischen Spielen zu sehen, weil sie dort trotz schlechter Leistungen aufgrund von Länderquoten mitmachen dürfen. Das Publikum feiert diese Antihelden bisweilen sogar frenetisch. Hier werden nicht Hochstapler entlarvt, die falsche Leistungen vorgegeben haben, sondern Laien bewundert, die sich in Wettkämpfe wagten, in denen sie aufgrund ihrer minderen Leistungen nichts zu suchen hatten. Die sportliche Minderleistung ist demnach kurzfristig aufmerksamkeitsträchtig, wenn sie dort auftritt, wo hochstehende Leistungen erwartet werden. In einem Sozialbereich, der individuelle Kompetenzen gnadenlos sichtbar macht und Möglichkeiten der Individualisierung und Selbstheroisierung eröffnet, gehen die Akteure immer auch das Risiko ein, ihren einmal erworbenen Rang durch sportliche Minderleistungen oder entlarvte Normabweichung selbst zu sabotieren. Heldenstatus im Sport ist deshalb immer prekär und labil. Der Spitzensport ist insofern ein System, das Helden sowohl hervorbringen als auch symbolisch töten kann. Dies betrifft insbesondere die Kurzzeithelden des Sports. Wer seine anfangs hochstehenden Leistungen nicht auf Dauer stellen kann, wird irgendwann nur noch mitleidig belächelt. Andere treten als Nobodies bei internationalen Wettkämpfen an und kehren als Nationalhelden in die Heimat zurück. Dies schafft einzigartige Möglichkeiten der kommunikativen Begleitung und Weiterverarbeitung des Geschehens. Allgemein kann festgehalten werden: Es sind häufig bereits eingetretene oder antizipierte Notsituationen, die Menschen im Sport zu Helden machen. Hier zeigt sich eine enge Verbindung zu den Alltagshelden, die beispielsweise ihr Leben in einer U-Bahnstation riskieren, um Gestürzte vor einem heranrasenden Zug zu retten, die als Flugkapitäne ein vollbesetztes Flugzeug trotz ausgefallener Antriebsaggregate erfolgreich auf einem Fluss landen oder die als Professoren an amerikanischen Schulen und Universitäten ihr Leben bei einem Amoklauf opfern, um den eigenen Studenten den Sprung aus dem Fenster zu ermöglichen. Notsituationen haben im Wettkampfsport allerdings eine völlig andere Qualität und Bedeutung. Sie sind nicht das Ergebnis existentieller Nöte und ziviler Courage, sondern entstehen durch die gewollte Polarisierung der Akteure und die Umsetzung sportartspezifischer Regelwerke. Denn Not ist im Sport nicht etwas, was es im jeden Preis zu vermeiden gilt. Ganz im Gegenteil geht es in Wettbewerbssituationen, in denen der eine nur das gewinnen kann, was der andere verliert, immer auch darum, Not und kritische Ereignisse für die je-

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weils andere Seite bewusst herzustellen. Allerdings zielt die Not, die man anderen im Sport durch strategische Maßnahmen und eigenes Können bereitet, nicht darauf ab, Menschenleben zu nehmen oder bewusst Verletzungen herbeizuführen; sie ist eher eine Not, die künstlich erzeugt wird, um die eigenen Siegeschancen zu erhöhen und die der Konkurrenz zu minimieren. Das Publikum hat dann das Privileg, die Sportler dabei zu beobachten, wie diese mit den Notbewältigungs- und Noterzeugungsstrategien der jeweils anderen Seite umgehen. Sporthelden sind deshalb als Sozialfiguren anzusehen, die mit ihrem beherzten und manchmal auch aufopfernden Handeln letztlich auf strukturell und künstlich hergestellte Not- und Gefährdungssituationen reagieren. Man denke nur an die bewusst vereisten Pisten im Skirennsport, an die Hindernisse, die man Reitern in den Weg stellt oder an die Schikanen, die im Motorsport eingebaut werden, um den Wettkampf für die Zuschauer interessant und für die Athleten schwer zu machen. Auch die Auf- und Abstiegskämpfe, die in den Sportligen für Fluktuationen von oben nach unten – und umgekehrt – sorgen, lassen immer wieder Notsituationen und Helden entstehen. Heldenstatus können dann jene Spieler erreichen, die den Abstieg in eine untere Liga vermeiden helfen oder den Aufstieg durch entsprechende Tor- und Abwehrerfolge ermöglichen. Als Alexander Frei, ein Fußballspieler im Sold von Borussia Dortmund, im viertletzten Bundesligaspiel der Saison 2006/2007 vor 81.000 Zuschauern mit zwei fulminanten Freistoßtoren gegen Eintracht Frankfurt erfolgreich war und damit der eigenen Mannschaft Luft im Abstiegskampf verschaffte, bezeichnete eine überregionale Zeitung (FAZ, 30. April 2007, Nr. 100: 29) ihn anschließend als »König von Dortmund« und als »Held des Dortmunder Dramas«. Die Erschwernisse, die Athleten und Athletinnen im Sport zu bewältigen haben, erinnern durchaus an die Prüfungssituation antiker Helden. Diese hatten auf ihrer Abenteuerreise Seeungeheuer, einäugige Riesen oder Sirenen zu bekämpfen oder zu umschiffen, um sich zu bewähren und einen Heldenstatus zu erreichen. Im Sport fällt den Athleten und Athletinnen die profane Aufgabe zu, Hürden zu überspringen, Gegner zu schultern und Wertungsrichtlinien optimal umzusetzen. Häufig müssen sie hierfür ihre Heimat verlassen und eine Trennung von ihrem Herkunfts- und Unterstützungsmilieu in Kauf nehmen, um in der Ferne an »gefährlichen« Orten, nämlich in fremden Stadien, ihre Abenteuer- und Bewährungstaten zu vollbringen. Die Abreise der eigenen Sportler zu den Großereignissen ihrer Disziplin wird deshalb auch mit Verabschiedungsritualen umrahmt und überhöht. Die Rückkehr der Sportler nach einem erfolgreichem »Beutezug« bei Olympischen Spielen oder Welt- und Europameisterschaften führt erwartungsgemäß zu karnevalesken Feiern, zu Konfettiparaden auf städtischen Prachtstraßen oder zu Huldigungen auf öffentlichen Plätzen und Rathausbalkonen. Die Helden dürfen ihre Schriftspuren in »Golde-

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nen Büchern« hinterlassen und bekommen »Silberne Lorbeerblätter« durch politische Akteure ans Revers geheftet.

SPORTHELDENGESCHICHTEN Heldengeschichten handeln typischerweise von Verwandlungen und den Konsequenzen, die sich hieraus für die beteiligten Personen ergeben. Damit ist ein zentraler Topos benannt, den man bereits in den griechischen und römischen Sagen der Antike nachlesen kann. Wie bewährt sich der Einzelne in riskanten und gefährlichen Situationen und welche Transformationen erfährt er auf seiner Abenteuerreise? Die Helden von Homer und Vergil besaßen übermenschliche Fähigkeiten, die sie sich nicht aufgrund langjähriger Trainingsanstrengungen angeeignet hatten, sondern die ihnen durch Götter vermittelt worden waren. Der Wille nach Ruhm und Ehre war der Antriebsmotor, der sie zu höchsten Leistungen antrieb, manchmal aber auch ins Verderben riss. Unter den Bedingungen des Lebens in modernen Gesellschaften bekommen Verwandlungsgeschichten völlig neue Konturen. In Zeiten, in denen die traditionellen Sinninstanzen an Bedeutung verloren haben und die Suche nach außerweltlichen Heilsgewissheiten für viele Menschen nicht mehr im Mittelpunkt der Lebensführung steht, geht es in den zeitgenössischen Heldengeschichten nicht mehr um die Auseinandersetzung zwischen Göttern und Sterblichen, sondern um die Verlockungen und Gefahren, mit denen Menschen in funktional differenzierten Gesellschaften zu rechnen haben. Der Spitzensport ist für das Erzählen solcher Metamorphosen in besonderer Weise geeignet. Schließlich hat dieser Sozialbereich weltweit unbarmherzige Konkurrenzverhältnisse institutionalisiert und ist dadurch zu einer akzeptierten gesellschaftlichen Enklave geworden, in der die Bewährung einzelner Personen oder Gruppen vor den Augen zuschauender Dritter dramatisch zur Aufführung und Entscheidung gebracht wird (Gebauer 1989, Alkemeyer 1996, Boschert 1996, Zimmermann 1996). Die gewollte Rivalität zwischen Sportlern um knappe Rangplätze führt zu extrem zugespitzten Situationen und schafft eine tragische Grundkonstellation, die drei archetypische Verwandlungen erwartbar macht: Aufstiegs-, Abstiegs- und Comebackgeschichten und entsprechende personale und korporale Verwandlungen werden im Sport immer wieder neu geschrieben und erzählt. So kann das Publikum im Spitzensport daran teilhaben, wie sich Unbekannte im Rahmen von Aufstiegsgeschichten aufgrund eigener Leistungen in Superstars und Idole transformieren, wie Arme durch sportliche Erfolge und daran geknüpfte Belohnungen märchenhaft reich werden, wie Schwache durch hartes Training stark werden oder wie sich international unerfahrene Fußballspieler in

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eine Solidargemeinschaft hineinverändern, die bei einer Weltmeisterschaft bis in die vorderen Ränge vorstößt und Größe in der Niederlage zeigt. Eine derartige positive Verwandlungsgeschichte hat 2006 in der Bundesrepublik einen Begeisterungstaumel für die eigene Nation hervorgerufen, den viele nicht mehr für möglich gehalten hatten. Die Identifikation mit den Helden des Sports führte zu einer Identifikation mit der Nationalgesellschaft und ihren Symbolen, also einer »imagined community« (Anderson 1983), für die die Sporthelden stellvertretend erfolgreich waren. Neben der Heldengeburt und der Heldenwerdung durch die positive Veränderung von Personen oder Gruppen sind es die Rückverwandlungen der Sporthelden in Nicht- oder Antihelden, die Abstiegsgeschichten, die in den Heldengeschichten des Sports immer wieder auftauchen. Diese zweite Form der Heldenvita erzählt vom Straucheln, Fallen und Scheitern der Akteure. Im Mittelpunkt stehen Sportler oder Mannschaften, die den hohen Erfolgserwartungen nicht entsprechen konnten, die unter dem Druck der Verhältnisse kollabierten und Abschied von ihrer bisherigen Identität als Gewinner zu nehmen hatten. Andere Abstiegs- und Rückverwandlungsgeschichten erzählen von Sportlern, die falsche Freunde hatten, ihr Geld fehlinvestierten, mit der Justiz aneinander gerieten, ihre automobilen Statussymbole nach durchzechter Nacht an die Wand fuhren, durch sexuelle Kontakte in Besenkammern Schlagzeilen machten oder ihre vormals glänzende Profikarriere als Pächter von Lotto-Annahmestellen beenden mussten. Die in diesen Abstiegsgeschichten beschriebenen biografischen Wendungen thematisieren die Schattenseiten des sportlichen Erfolgs, die Rückverwandlung der Sieger in situative oder sogar permanente Verlierer. Man denke in diesem Zusammenhang nur an die vielen Geschichten, die bis heute über ehemalige Größen des Sports erzählt werden, und die von Mord, Totschlag, Alkohol- und Drogenexzessen, dramatischen Scheidungen, Mafiakontakten und transformierten Körpern und Psychen handeln. Zwei prototypische Narrationen dieser Art sollen kurz vorgestellt werden: Diego Armando Maradona erscheint in den Heldengeschichten des Sports als der eigensinnige, spontane und anarchische Fußballspieler, der sich ausgeklügelten Taktiksystemen zeitlebens widersetzte, aber dennoch bereits mit 16 Jahren in der 1. Liga seines Landes spielte und zahlreiche nationale und internationale Meistertitel gewann (Archetti 2001). Maradona war in der Lage, die Massen von einem Augenblick zum anderen durch schnelle Tempowechsel, lange Dribblings, überraschende Körpertäuschungen, präzise Torschüsse und die »Hand Gottes« zu verzaubern. Seine Karriere war mit Skandalen durchsetzt und erhielt dadurch melodramatische Qualitäten. Die Höhen und Tiefen wechselten einander immer schneller ab. Am Ende seiner Fußball-Laufbahn erschien Maradona als das einzigartige, selbstzerstörerische und haltlose Genie, dem es nicht gelang, Bodenhaftung zu behalten und sein Talent vollends zur Entfal-

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tung zu bringen. Er schoss mit Luftgewehren auf wartende Journalisten, wurde bei Drogenrazzien im Vollrausch erwischt, des Dopings bei einer FußballWeltmeisterschaft überführt und blieb in Italien Steuern schuldig. In Argentinien und Italien wurde er dennoch zu einem Volksidol, zu einem Fußballgott, dem seine Entgleisungen bis heute vergeben werden, weil er sich in seinen Stärken und Schwächen bis heute jeweils als dramatischer Übererfüller zeigt. Die Metamorphosen, die Maradona durchlebte, transformierten nicht nur seine Karriere und Psyche, sondern veränderten auch seinen Heldenkörper bisweilen in eine schwergewichtige und erbarmungswürdige Masse. Aber selbst im Zustand der körperlichen Unförmigkeit kann er noch heute geniale Bewegungen demonstrieren, die von früherer Größe zeugen. Eine andere Geschichte vom Scheitern eines Sporthelden erzählt die Karriere des ehemaligen Boxweltmeister Mike Tyson. Aufgewachsen auf den Straßen New Yorks und gestählt im urbanen Überlebenskampf fand »Iron Mike« in frühen Jahren einen väterlichen Freund, der ihn zeitweilig zivilisierte und zur Weltmeisterschaft in der Königsklasse des Boxens führte. Tyson war der allseits gefürchtete Pitbull im Boxring, der archaische Krieger, der nur wenige Minuten brauchte, um seine Gegner K.O. zu schlagen und öffentlich zu demütigen. Nach dem Wechsel zu anderen Promotern und dem Tod seines väterlichen Förderers begann dann, so die Geschichte, der langsame Abstieg vom gefeierten Boxidol zum Schläger, Vergewaltiger, Geldverschwender, Ohrenbeißer und Verlierer (Jefferson 1997). In der öffentlichen Meinung erscheint Tyson als der böse, schwarze, hypermaskuline Mann, der den Verheißungen und Sirenengesängen des Boxsports erlag, mehrere Jahre im Gefängnis saß und in der Gosse und Schuldenfalle zu enden droht. Helden haben, so die Pointe, auch Prüfungen zu bestehen, um Held zu bleiben. Und nicht alle verfügen offensichtlich über die entsprechenden Handlungskompetenzen, um den einmal errungenen Status dauerhaft zu erhalten. In den letzten Jahren sorgt die Dopingproblematik immer wieder dafür, dass etablierte Sporthelden in der Öffentlichkeit dramatisch scheitern und ungewollte Metamorphosen und Abstiege zu durchleben haben. Gefeierte Athleten verwandeln sich dann in Dopingsünder, für die man aufgrund ihrer hartnäckigen Lügen und Täuschungen häufig nur noch Mitleid übrig haben kann. Wer sich illegitimer Mittel bedient, um in den Heldenhimmel zu kommen, kann mit Hilfe entsprechender Kontroll- und Degradierungszeremonien aus demselben auch wieder entfernt werden. Sportlernamen werden dann symbolisch aus Sieger- und Rekordlisten gestrichen. Medaillen und gelbe Trikots müssen zurückgegeben werden. Die Dopingkontrolleure erhalten damit den Status professioneller Heldentöter, die mit Hilfe naturwissenschaftlicher Testverfahren in die Tiefen der Heldenkörper hineinschauen, um dort illegitime Abweichungen justitiabel festzustellen.

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In der Transformation von Sporthelden in tragische Helden oder Schurken bekommt das Publikum wichtige Inhalte des gutbürgerlichen Erziehungsprogramms zu sehen, nämlich die an Heranwachsende gerichtete Forderung, die allgemein akzeptierten sozialen Regeln einzuhalten, sich permanent zu bemühen, an die Zukunft zu denken und sich nicht für die falschen Ziele zu verausgaben. Diese aus dem Versagen von Sportlern abgeleiteten impliziten Geschichten von einer »richtigen« Lebensführung haben neben ihrer Anleitungsund Vorbildfunktion wohl auch die Aufgabe, das Aufkommen sozialer Neidgefühle durch das Erzählen der negativen Konsequenzen des Erfolgs zu reduzieren, und zwar in einer Gesellschaft, die nach wie vor von starker sozialer Ungleichheit geprägt ist. Indem man die bedenklichen Seiten des sozialen Aufstiegs der vormals Erfolgreichen und Verehrten drastisch schildert, erklingt das Hohelied sozialer Normalität. Wenn Helden erwischt werden, können die Nichthelden sich zufrieden zurücklehnen und ihre Durchschnittlichkeit und Normtreue feiern. Eigenständige Zweige des Journalismus, die Papparazi und Enthüllungsjournalisten, sind inzwischen auch im Sport darauf spezialisiert, Helden zu entlarven, um der breiten Mehrheit Gefühle der Zufriedenheit in der Normalität zu vermitteln. Man erwischt die Außeralltäglichen in Alltagssituationen und zeigt dem Publikum mit voyeuristischen Bildern die Differenz zwischen Vorder- und Hinterbühne. Eine dritte Kategorie der Heldenvita ergänzt die Darstellungen vom Auf- und Abstieg bekannter Sportgrößen. Es handelt sich hierbei um Geschichten von der Läuterung und Wiederauferstehung vormaliger Sporthelden. Die Grundstruktur dieser Erzählung knüpft an die Berichte vom Misserfolg und Scheitern des Helden direkt an, nutzt diese Beschreibung aber als Ausgangspunkt für die Darstellung einer positiven Rückverwandlung. Einzelne Sportler, aber auch ganze Mannschaften ziehen sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ihrer Niederlagen und negativen Verstrickungen heraus. Indem sie hart arbeiten und sich auf ihre frühere Leistungsfähigkeit besinnen, überwinden sie den symbolischen Tod der sportlichen Niederlage. Sie verwandeln sich zurück in Helden und werden durch diese Transformation wieder verehrungswürdig. Ulrike Meyfarth und Franziska van Almsick beispielsweise wurden im Teenageralter Hochsprung-Olympiasiegerin bzw. Schwimm-Weltmeisterin und hatten anschließend eine lange Durststrecke in ihren Karrieren zu überwinden, die von der Häme der zuvor noch verehrenden Boulevardpresse und einiger Funktionäre begleitet wurde. Beide Sportlerinnen kehrten nach Jahren erfolgreich zurück und erreichten in ihren Sportdisziplinen einen Kultstatus. Eine Wiederauferstehungsgeschichte der besonderen Art erzählte vor einigen Jahren »Gentleman« Henry Maske, der nach zehnjähriger Pause für einen einzigen Boxkampf gegen seinen damaligen Gegner, Virgil Hill, in den Ring stieg, um die Schmach der Niederlage im letzten Kampf seiner Profikarriere zeitver-

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setzt zu tilgen. Auch Sportler, die sich auf dem Höhepunkt ihrer Leistungsfähigkeit als gefeierte Helden zurückzogen, können Comeback-Geschichten schreiben helfen, wenn sie nach Jahren der Sportabstinenz zurückkehren und sich gegen ihre Nachfolger durchzusetzen versuchen (Beispiel: Michael Schumacher). Auch in den Wiederkehr-, Läuterungs- und Wiederauferstehungsgeschichten von Sporthelden ist eine wichtige Botschaft eingespeichert, die auf Breitenwirkung und Nachvollzug ausgerichtet ist: dass es sich nämlich auch nach einer Ruhepause oder gar einer Niederlage lohnt, aufzustehen, den Herausforderungen ins Auge zu blicken und kämpferisch weiterzumachen. Die Zeitdimension wird so narrativ mit der Idee von der Selbstermächtigung des modernen Subjekts verknüpft.

Heldengeschichten

Metamorphosen

Geburt und Aufstieg als positive Transformation

Arme werden durch sportliche Erfolge reich; Schwache werden durch Training stark und unüberwindlich; Unbekannte werden berühmt; Unansehnliche werden ansehnlich.

Abstieg und negative Rückverwandlung

Sieger werden zu Verlierern; Reiche werden arm; Starke mutieren zu Schwachen; Schöne werden unansehnlich; Berühmte fallen zurück in den Status der Unbekanntheit; Beliebte machen sich unbeliebt; Zivilisierte benehmen sich unzivilisiert; Normtreue werden deviant.

Wiederauferstehung und Läuterung

Positive Rückverwandlung durch Überwindung von Durststrecken und Leidenszeiten; glorreiche Rückkehr auf der Grundlage harter und entbehrungsreicher Anstrengungen. Abb. 2: Verlaufsfiguren von Sportheldengeschichten

Häufig können Helden auf dem Wege der Rehabilitierung auf fremde, überraschende Hilfe von außen zurückgreifen. Nach den Erfahrungen bei der FußballWeltmeisterschaft 2006 könnte man dies den Klinsmann-Effekt sportiven Heldentums nennen: Ein ehemals erfolgreicher Fußballspieler ging in die Ferne und kehrte nach Jahren der Abwesenheit mit einer Reihe neuer Ideen und Konzepte nach Hause zurück, um dort gegen den starken Widerstand eines fußballerischen Establishments eine Mannschaft neu zu formen und aus dem Verliererlager zu befreien. Heldentum im Sport beschränkt sich insofern nicht auf

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die Sportler allein, sondern kann auch Trainer, Sportfunktionäre sowie die Mitglieder des assistierenden Umfelds umfassen. Auf der Grundlage der Dynamik sportlicher Karrieren werden die Geschichten vom Auf- und Abstieg der Helden und ihrer möglichen Wiedergeburt heute in erster Linie von den Massenmedien erzählt und mit entsprechenden Bildern und Rhetoriken verstärkt. Indem die Medien außeralltägliche sportliche Leistungen verbreiten und in die kommunikative Sphäre der Gesellschaft einspeisen, ermöglichen sie eine Temporalisierung sportiven Heldentums. Durch ihre Übertragung- und Speicherfähigkeit lassen sie selbst diejenigen Zuschauer, die im Moment der Heldenwerdung nicht dabei waren, zeitversetzt am Heldennimbus teilhaben. Dass die Medien, insbesondere das Fernsehen und die skandal- und klatschorientierte Boulevardpresse, sich der Hierarchisierungsund Selektionspraxis des Spitzensports anschließen und bewusst auf Heldenverehrung und Heldentötung setzen, hat mit ihrem eigenen Dramatisierungs- und Personalisierungsbedarf zu tun. Wer Leser, Zuhörer oder Zuschauer dauerhaft begeistern will, darf keine langen Geschichten über die Komplexität moderner Gesellschaften erzählen, sondern muss Informationen und Bilder liefern, die dem Unterhaltungsbedarf des Publikums entsprechen. Die Metamorphosen der Sporthelden sind in dieser Hinsicht medial besonders anschlussfähig. Eine markante Zäsur für die Inflationierung der Heldenverehrung fand in der Bundesrepublik Anfang der 1980er Jahre mit der Zulassung der privaten Fernsehsender statt. Diese setzten, wie zuvor bereits die klatschorientierte Boulevardpresse, ganz bewusst auf Sportstars und schufen eine Heldenindustrie, um die Aufmerksamkeit der Zuschauer von den öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten auf eigene Programme und Werbebotschaften zu lenken. Man kann sagen: Die Privaten gingen gezielt dazu über, ein Heldenmanagement zu betreiben. Sie informierten nicht mehr nur über sportliche Höchstleistungen, die auch ohne sie passiert wären, sondern versuchten, die Episoden sportiven Heldentums in eigener Regie herzustellen und für sich zu nutzen. Man denke nur an die Vermarktung der jungen deutschen Skispringer als »Boygroup« durch RTL. Die öffentlich-rechtlichen Anstalten haben sich inzwischen diesem Trend zur Inszenierung und Eventisierung von Sporthelden in gemäßigter Form angeschlossen, um im Kampf um hohe Einschaltquoten zu bestehen. Die Massenmedien bedienen damit systematisch die Helden- und Verschmelzungsphantasien eines Publikums, das selbst nicht zu außeralltäglichen Taten bereit oder fähig ist, und offerieren eine Ikonografie des Heldentums: Bilder und Originaltöne von Situationen, in denen es ums Ganze geht, in denen spektakuläre Erfolge winken, aber auch dramatische Niederlagen passieren können. Die Geschichten von den diversen Verwandlungen der Sporthelden werden bis ins Mythologische gesteigert und in Sportepen und -legenden abge-

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legt. Man denke in diesem Zusammenhang nicht nur an die mediale Rekapitulierung heroischen Handelns anlässlich sportlicher Großereignisse, sondern auch an die Inhalte von Sportbüchern und -filmen oder an die steingewordenen Institutionen der Heldenverehrung in Gestalt von Sportmuseen oder »halls of fame«. Einrichtungen dieser Art richten systematisch Beobachtungsverhältnisse für die Prominenz des Sports ein. Sie legen damit fest, was erinnert und was vergessen werden soll. Vor allem sagen sie implizit, wie Menschen sein sollten.

3 X-treme: Sinnmotive im Abenteuer- und Risikosport

Die Formen und Szenarien des modernen Abenteuer- und Risikosports sind bekannt: Menschen stürzen sich mit Fallschirmen von Hochhäusern, Brücken oder Staudämmen, absolvieren Wüstenmarathons, surfen in haushohen Wellen, setzen sich mit Gleitschirmen gefährlichen Winden aus oder klettern auf die höchsten Berge dieser Erde. Waren Betätigungen dieser oder anderer Art anfangs noch spektakulär und in der Lage, knappe soziale Aufmerksamkeit zu erzielen, gehören sie heute zu den Kernbestandteilen eines eigenständigen Sportmodells, das sich routinemäßig auf die Erzeugung und Inszenierung riskanter Praktiken spezialisiert hat. In reduzierter und entschärfter Form hat das Abenteuer inzwischen auch den Breitensport und die neueren Erlebnisparks erreicht. Snowboarder erproben ihre Fahrkünste zu Tausenden als Freerider jenseits der Pisten und Alltagsakteure lassen sich am Wochenende als Bungeespringer in Richtung Asphalt fallen oder in extremen Achterbahnen zentrifugieren. Das Abenteuer ist, wie es scheint, erfolgreich in der modernen Eventgesellschaft angekommen. Meldungen von Unfällen zeugen allerdings davon, dass die Risikobearbeitung nicht nur strapaziös, sondern gelegentlich auch ruinös ausfallen kann. Nicht wenige Menschen haben die Leidenschaft für das Besondere alljährlich mit ihrem Leben zu bezahlen. Um eine Handlungsform zu erklären, die sich den meisten Intellektuellen wohl auch heute noch in ihrer Sinnhaftigkeit entzieht, tut der Soziologe als Spezialist »für den zweiten Blick« (Luhmann 1981a: 170) zunächst einmal gut daran, nicht auf anthropologische Konstanten oder physiologische Erklärungen zurückzugreifen. Diese werden nämlich oftmals nach dem Motto konstruiert: Der Mensch brauche von Natur aus die Abwechslung und den Reiz des Neuen oder er müsse Katharsiseffekte sammeln und Adrenalinausschüttungen verspüren, um sich entsprechend in Schwung zu bringen. Erklärungen dieser Art onto-

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logisieren das menschliche Risikohandeln, stellen eine lineare Beziehung zwischen Handeln und Hormonen her und erweisen sich dadurch eher als Denkblockaden für eine anspruchsvolle Theoriearbeit. Im Folgenden soll die moderne Risikobereitschaft nicht aus der Perspektive des Einzelsubjekts, seiner Motive oder Körpersäfte heraus entwickelt werden. Vielmehr sollen modelltheoretische Ableitungen auf der Grundlage gesellschaftstheoretischer Überlegungen vorgenommen werden. Der gegenwärtige Abenteuer- und Extremsport ist, so die These, als eine Reaktion auf die personalen Wirkungen und Ambivalenzen der sich durchsetzenden Moderne anzusehen. Dieser Gedankengang soll in den folgenden Abschnitten zur Entfaltung gebracht werden.

RISIKOERLEBEN UND ANGSTBEWÄLTIGUNG Moderne Gesellschaften erzeugen durch Bürokratisierung und Routinisierung eine durchaus positiv erlebte Sicherheit. Alles ist irgendwie vorstrukturiert und geht seinen geregelten Gang. Die Kehrseite von Sicherheit, Routine und Systemvertrauen heißt allerdings Langeweile und Leere. Die moderne »ennui« hat gerade dort, wo Modernität in geballter Form auftritt, nämlich in den Großstädten und Ballungsräumen, entsprechende Strategien hervorgerufen, mit denen Menschen gegen Leere, Routine und Konvention anzugehen trachten. Inzwischen sorgt ein eigenständiger Wirtschaftszweig für Schock, Rausch, Amüsement und Regeneration. Der moderne Abenteuer- und Risikosport kommt an genau dieser Stelle ins Spiel. Eine sich selbst langweilende Gesellschaft stimuliert in Gestalt eines eigenständigen Sportmodells die Ausdifferenzierung von Situationen, Handlungstypen und Sozialfiguren, die freiwillig Risiken und Ungewissheiten eingehen, um sich und anderen die Botschaft zu übermitteln, dass der Saturierungsgrad der zeitgenössischen Lebensweise noch nicht so weit fortgeschritten ist. Damit wird deutlich: Die Moderne produziert nicht nur einen Sicherheits- und Risikominimierungsbedarf. Sie erzeugt in Reaktion hierauf vielmehr auch einen Bedarf an Risiko-, Ungewissheits- und Angsterfahrung. Angst erscheint damit nicht mehr ausschließlich als eine Gefühlsregung, die es zu vermeiden gilt. Sie wird vielmehr auch als eine erstrebenswerte Emotion angesehen, die man zur Gestaltung der eigenen Freizeit dosiert einsetzen kann. Für einen spaßorientierten Umgang mit Angst und Unsicherheit bietet sich der Sport in einer besonderen Weise an, weil es in diesem Handlungsfeld nicht um die Bearbeitung gesellschaftlich brisanter Problemfelder wie Ökologie, Arbeitslosigkeit, Terrorismus oder Übermilitarisierung geht. Die zahlreichen Risiken, die Menschen im Sport zu bewältigen versuchen, sind Luxusrisiken, denen

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man sich in der Freizeit stellt oder die Profis zum Amüsement einer abenteuerinteressierter Zuschauerklientel stellvertretend zu überwinden trachten. Extremsportler suchen demnach nicht den eigenen Untergang, wenn sie sich im Rahmen ihrer »Ausbruchsversuche« (Cohen/Taylor 1977) auf gefährliche Situationen einlassen. Sie nutzen vielmehr das Drohpotential des Scheiterns und die stimulierende Wirkung der Angst, um das eigene Lebendigkeitsgefühl zu steigern. Eric Escoffier, ein französischer Extrembergsteiger, beschrieb die vitalisierende Wirkung des Abenteuers mit existentialistischem Pathos wie folgt: »Besser zwei Minuten wie ein Löwe leben, als sich wie ein Tier, das immer nur schläft, durch ein langes Leben quälen.«1 Der moderne Risikosport ist deshalb als eine Kulturtechnik der Lebensbejahung anzusehen. In einem radikalen Akt der Verdiesseitigung stellen Menschen nicht das Unvermeidliche des Todes in beschleunigter Weise her, sie nobilitieren vielmehr ihr Leben durch Risikoerfahrung, Angstbewältigung und bisweilen auch Todesnähe.

SELBSTERMÄCHTIGUNG UND SUBJEKTAUFWERTUNG Gegenüber der eher passiven Freizeitgestaltung mit Hilfe von Buch, Radio oder Film steht bei Risiko- und Extremsportlern die Inklusion als aktiv Handelnde im Vordergrund. Abenteuersportler wollen, in der Sprache von Alain Touraine (1995) formuliert, Akteure, nicht Agenten sein. Sie wollen handeln, nicht gehandelt werden. Sie wollen Beute, und nicht Rente. Der demonstrative Aktivismus, den sie an den Tag legen, dient demnach nicht allein dem Kick der Risikoerfahrung und der Vertreibung der modernen Langeweile und Routine, sondern auch der Selbstermächtigung des modernen Subjekts. Wie ist dieser »Wille zur Macht« (Nietzsche) zu erklären? Die Selbstermächtigungsversuche im Risikosport verweisen auf die Ohnmachts- und Nichtigkeitserfahrungen, die Menschen im Gefolge des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses hinzunehmen haben. Folgende Wirkungszusammenhänge lassen sich hierfür exemplarisch nennen: Ohnmachts- und Nichtigkeitserfahrungen sind zunächst eine Konsequenz des Umstandes, dass die moderne Gesellschaft weitgehend als eine Organisationsgesellschaft funktioniert. Seit dem 19. Jahrhundert haben sich immer mehr korporative Akteure zwischen Individuum und Gesellschaft geschoben und die bisherigen Person-Umwelt-Verhältnisse dramatisch verändert. So weist Coleman (1986) auf die wachsende Asymmetrie zwischen Personen und Organisa__________________ 1

Escoffier, 38 Jahre, ist seit August 1998 am Broad Peak im Himalaya verschollen.

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tionen hin und nimmt an, dass diese den Einzelmenschen oder, wie er es nennt, die »natürliche Person«, in zunehmendem Maße verdrängten und überflüssig machten. Dies habe u.a. damit zu tun, dass einzelne Personen immer nur geringere Steuerungsressourcen zur Verfügung hätten als die ihnen übergeordneten Organisationen. Dieser Befund lässt sich ergänzen: Personen besitzen oftmals auch keine Exit-Option, d.h. sie können Organisationen nicht ausweichen, weil keine Alternativen vorhanden sind. Man denke nur an Stadtverwaltungen, Steueramt oder die Schulbürokratie.2 Zudem nehmen Organisationen individuelle Akteure immer nur hochselektiv wahr. Menschen sind nie »ganz« Teil eines Sportvereins, einer Universität oder eines Wirtschaftsunternehmens, sondern erlangen ihre Bedeutung immer nur in eng begrenzten Ausschnitten. Organisationen erzeugen damit in erwartbarer Weise Gefühle der Entfremdung und der Bedeutungslosigkeit aufseiten ihrer Mitglieder. Ohnmachts- und Nichtigkeitserfahrungen kommen weiterhin zustande, weil individuelles Handeln in einer arbeitsteilig organisierten Gesellschaft generell nicht in einem geschlossenen, überschaubaren und autarken Handlungskontext abläuft, sondern in lange und komplexe Handlungsketten eingebettet ist. Anfang und Ende des Handelns entziehen sich typischerweise einer präzisen Beobachtung. Menschen haben immer, wenn sie sich auf Gesellschaft einlassen, an einer beigeordneten Realität teil, deren Regeln sie nicht bestimmen und deren Wirkungen sie nicht kontrollieren können. Allein schon durch ihre strukturelle Koppelung mit einer Vielzahl sozialer Funktionssysteme geraten sie in Situationen hinein, auf die sie keinen Einfluss haben. Die Erfahrung von der Begrenztheit der eigenen Wirkungsmöglichkeiten und der Nichtigkeit der eigenen Person wird dem einzelnen Subjekt schließlich auch durch die Expansion der modernen Massenmedien tagtäglich vermittelt. Nachrichtensendungen informieren nicht nur über das, was in der Welt passiert; sie machen gleichzeitig auch deutlich, wie wenig man mitbeeinflussen kann. Das weltweite Sehen und Kommunizieren führt beobachtende Psychen in einer subtilen Weise zu der Einschätzung, völlig unbedeutend und ohne Einfluss zu sein. Denn was können wir beispielsweise direkt bewegen, wenn wir das Elend in der sogenannten Dritten Welt sehen oder Terrorakte am Bildschirm in Echtzeit beobachten. Folgender Zusammenhang lässt sich aus den bisherigen Überlegungen ableiten: Der moderne Risiko- und Extremsport ist nicht nur vor dem Hintergrund von Langeweile, Leere und Routine zu diskutieren, er hat auch mit dem Bedeutungsverlust von Personen und den Ohnmachts- und Nichtigkeitserfahrungen zu tun, die strukturell durch die Expansion der modernen Organisationsund Mediengesellschaft erzeugt werden. Wo die »invisible hands« korporativer __________________ 2

Zu den vier Arten möglicher Asymmetrisierungen siehe Schimank (2000b: 248f.).

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Akteure operieren, Menschen im Rhythmus der verschiedenen gesellschaftlichen Teilsysteme ein- und ausgeschaltet werden und nur in eng begrenzten Ausschnitten bedeutsam sind, entsteht offensichtlich ein Bedarf, nicht nur passiv und in Ausschnitten an der Welt teilzuhaben, sondern aktiv und »ganzheitlich« mitzugestalten und zu erleben. Der Risikosport eignet sich in einer besonderen Weise, diesen Bedarf in einer sozial protegierten Nische abzudecken. Abenteuer und Wagnis haben nämlich einen totalisierenden Charakter, weil sie Menschen in extremer Weise absorbieren und fordern, man könnte sagen: »hyperinkludieren« (Göbel/Schmidt 1998: 111ff.). Wenn Bergsteiger die Todeszone über 8000m aufsuchen oder Extremkanuten sich in Wasserfälle und Strudel stürzen, setzen sie ihre gesamte Existenz aufs Spiel. Es handelt sich nicht nur um ein Teilrisiko, das der Einzelne eingeht. Dies würde beispielsweise zutreffen, wenn er im Rahmen ökonomischer Transaktionen seine wirtschaftliche Existenz durch das Unterschreiben riskanter Verträge aufs Spiel setzte. Der Extremsport inkludiert den Menschen hingegen nicht bereichsspezifisch und rein symbolisch, sondern »mit Haut und Haaren«. Er bietet deshalb ein radikales Gegenprogramm zur dominanten Inklusionsdynamik der modernen Gesellschaft. Menschen wollen sich in der Bewältigung außeralltäglicher Risiken das Gefühl verschaffen, Herr im eigenen Hause zu sein. Damit offeriert das Abenteuer eine knappe Ressource: Es wird genutzt, um die Welt im kleinen, in der Mikrophysik des eigenen Handelns, in den Griff zu nehmen und zu ordnen. Die spektakulären Aktionen, die Risikosportler ausführen, erzählen deshalb immer auch Bewältigungs- und Bewährungsgeschichten; und dies in einer Zeit, in der Krisen, Skandale und Zusammenbrüche tagtäglich eher Geschichten der Nichtbewältigung und Desillusionierung erzählen. Hierbei erfolgt typischerweise ein Rückgriff auf die Mythen der bürgerlichen Populärkultur, vornehmlich auf die Idee vom freien, autonomen Individuum, das auf sich selbst oder eine kleine Gruppe Gleichgesinnter gestellt durch die Welt streift, um diverse Abenteuer und Bewährungsproben zu bestehen und sich zu vervollkommnen. Elitäre Massenverachtung, Freiheitsphantasien und Einsamkeitsbegehren treffen in dieser Selbstfestlegung aufeinander und gehen unterschiedliche Mischungsverhältnisse ein. Reinhold Messner (1991: 358), einer der wohl bekanntesten Berufsabenteurer, führte hierzu in dankenswerter Offenheit aus: »Mein Unterwegssein hat wenige Richtlinien. Eine davon ist von den Bedingungen des Abenteuers definiert: erstens, dass ich dorthin gehe, wo die anderen nicht sind; zweitens, dass ich mich von der Neugierde leiten lasse; drittens, dass ich bis zur Grenze gehe; viertens, dass ich riskiere, verändert oder nicht wieder zurückzukommen und fünftens, dass ich dem Weg meines Herzens folge. Ich gehe nicht dorthin, wo mich die Medien, die Fans oder

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meine Vertragspartner gerne sähen, ich gehe dorthin, wo ich immer auch scheitern könnte.«3 Abenteuer- und Extremsportler eignen sich aufgrund ihrer Selbststilisierung als autonome Subjekte als Projektionsflächen für individuelle und kollektive Sinnentwürfe. Insbesondere die Werbung greift inzwischen immer häufiger auf Abenteuerfiguren und -praktiken zurück, um in der Öffentlichkeit Zeichen von Individualität und Freiheit zu setzen und bestimmte Produkte entsprechend anzupreisen. Als Sozialfiguren der Selbstermächtigung können Extremsportler schnell zu Helden avancieren. In einer Gesellschaft, in der das Handeln in vielen Bereichen für die meisten Rollenträger affektiv neutral abläuft und Personen Bedeutungsverluste hinzunehmen haben, zeigen Abenteuerhelden mit ihren spektakulären Aktionen in schlagender Weise, dass das Subjekt noch nicht gänzlich tot ist. Bevor Extremsportler allerdings zu Helden erklärt werden, haben sie sichtbar zu leiden und das Tal der Entbehrungen und Versagungen zu durchschreiten. Sie müssen in ihrem Streben nicht unbedingt erfolgreich sein – bereits der Versuch, das sichtbare Bemühen, genügt, um als jemand anerkannt zu werden, der Widerstand leistete und seinen Eigensinn durchzusetzen trachtete.

GESELLSCHAFTSUMWELT ALS FLUCHTPUNKT Das Selbstermächtigungsprogramm mit Hilfe des modernen Risiko- und Abenteuersports vollzieht sich interessanterweise im Rahmen einer systematisch hergestellten Konfrontation mit der Selbstbezüglichkeit und Komplexität außergesellschaftlicher Größen, nämlich mit der Eigengesetzlichkeit der Natur, des physikalischen Kosmos sowie mit der Eigenlogik des menschlichen Körpers. Eine derartige Auseinandersetzung hat entscheidende Vorteile: Hier muss der Einzelne sich nicht mit jenen symbolischen Kräften und Konstellationszwängen messen, die ansonsten im Alltag Gefühle der Fremdsteuerung, Nichtigkeit und Übermächtigung erzeugen. Extremsportler setzen sich im Moment ihres Handelns nicht mit der Kompliziertheit symbolisch generalisierter Steuerungsmedien wie Geld, Macht, Wissen oder Wahrheit auseinander. Es geht auch nicht um virtuose sprachliche oder schriftliche Kommunikation, um ein Raffinement auf der Diskursebene. Vielmehr zählen Mut, Geschicklichkeit und physisch-organische Einsatzbereitschaft. Wenn also Menschen in der Welt abstrak__________________ 3

Neben den inhaltlichen Aussagen fällt in diesem Zitat der häufige Gebrauch der Ich-Form auf.

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ter und personenfern ablaufender Kommunikation keine Sicherheit zu finden meinen, dann stehen wenigstens noch die Feinmotorik der Muskeln und psychische Eigenschaften zur Verfügung, um sich selbst und anderen Handlungsfähigkeit zu demonstrieren. Es entspricht dieser Logik, wenn Extremsportler ihr Risikohandeln im Kontext von Bergen, Flüssen, Wüsten oder Meeren durchführen oder auf die Artefakte der modernen Gesellschaft in Gestalt von Straßen, Hochhäusern, Staudämmen und Türmen zurückgreifen, um diese für ihre Abenteuerzwecke zu nutzen. Dort kämpfen sie dann gegen die Gesetze der Schwerkraft und machen Brems-, Fall- und Beschleunigungserfahrungen. Oft müssen sie hungern, frieren und schwitzen, um eigene Steuerungsfähigkeiten zu beweisen. Ihr Handeln folgt dabei dem Rhythmus der Wellen, den Konsistenzbedingungen der Erde oder dem Wechsel von Hell und Dunkel, von Wind und Flaute oder von Wärme und Kälte. Im Abenteuer verschafft sich das Subjekt Differenzerfahrungen, die im Bereich gesellschaftlicher Kommunikation so nicht zu bekommen sind. Eine in der Welt naturaler Gesetzmäßigkeiten vollzogene Selbstermächtigung hat noch weitere Vorteile: Wasser, Luft und Erde machen menschliches Handeln beobachtbar. Selbstermächtigungsversuche, die in anderen gesellschaftlichen Funktionsfeldern ablaufen, stoßen hingegen auf Grenzen, weil sie in einer Welt der Abstraktion und Symbolik durchgeführt werden müssen. Kopfabenteuer und Selbstermächtigungsversuche, die beispielsweise in der Wissenschaft stattfinden, schlagen sich vornehmlich im Medium von Schrift, genauer: in Gestalt von Publikationen, nieder. Erst dann wird soziale Reputation als Zweitcodierung des wissenschaftlichen Wahrheitscodes vergeben (Luhmann 1970: 237) und die Selbstermächtigungarbeit anerkannt. Die primären Produkte wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion sind dabei meist aber nur einer lesenden Sonderöffentlichkeit zugänglich und erzeugen bei denen, die wissenschaftliche Abstraktion und Sprache nicht beherrschen, gravierende Verstehensprobleme. Der moderne Abenteuer- und Risikosport hingegen ist ein Real-life-Event. Die Selbstermächtigungsgeschichten, die hier erzählt oder gezeigt werden, sind relativ leicht zu dechiffrieren, weil sie nah an der Alltagsontologie der Zuschauer und Zuhörer ausgerichtet sind. Risikoepisoden lassen sich, wenn sie mit Hilfe der Medien publik gemacht werden, auf der Grundlage einer »organischen Empathie« wahrnehmen und verstehen. Externe Beobachter brauchen keine abstrakten Denkkalküle einsetzen und sich ein langwieriges Expertenwissen aneignen, sondern sind vielmehr für ein schnelles Genießen freigesetzt.

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INDIVIDUALISIERUNG UND DISTINKTION Menschen wollen im Abenteuer- und Risikosport nicht nur sich selbst ermächtigen und beeindrucken. Sie wollen mit ihren riskanten Aktionen auch von anderen wahrgenommen werden und sich ein eigenständiges Identitätsbild erstreiten. In komplexen Gesellschaften sind Bemühungen dieser Art erwartbar, weil Personen, durch Differenzierungsprozesse genötigt, sich komparativ gegenüber anderen zu beweisen haben. Im Gegensatz zur vormodernen Gesellschaft, in der die bestehende Sozialhierarchie die Möglichkeiten und Grenzen der individuellen Lebensgestaltung und Selbstdarstellung strikt festlegte und ein Handeln jenseits dieser Vorgaben nur um den Preis der sozialen Ächtung und Entwurzelung möglich war, wird das Subjekt in der Moderne mit der Aufgabe konfrontiert, das eigene Ich sowohl nach innen – gegenüber sich selbst – als auch nach außen – gegenüber anderen – zu definieren und abzugrenzen. Der individuelle Lebenslauf wird, weil er mit seinem Ereignisreichtum so und nicht anders verläuft, zum Fixpunkt, an dem das Subjekt sich in seinen Eigenheiten sichtbar machen kann. Und besondere Betätigungen wie beispielsweise der Extremsport können als Folien dienen, in die man eine entsprechende Subjektivierungs- und Biografiearbeit einarbeitet. Risiko- und Abenteuersportler koppeln damit an eine Möglichkeit an, die bereits der organisierte Wettkampfsport mit seinem Individualisierungsversprechen zur Verfügung stellt. Dessen Angebot lautet: Selbstprofilierung im Medium komparativer Leistungsvergleiche vor den Augen eines zuschauenden Publikums. Ein Sprinter läuft die 100-m in 9,5 Sekunden und kann sich anschließend gegenüber den langsameren Zeitgenossen als individuelle Besonderheit fühlen. Im Spitzenbereich des Abenteuersports geht es um Konkurrenzen und Pioniergewinne anderer Art: die Erstbesteigung und -begehung hoher Berge, das Finden neuer Routen, das mehrmalige Durchschwimmen von Meeresengen oder Seen, das einhändige Durchsegeln der Ozeane, die Erstumrundung der Erde in einem Ballon oder das Durchstreifen lebensfeindlicher Räume, die sich dem menschlichen Zugriff bislang entziehen konnten. Wenn all diese Eroberungszüge bereits erfolgreich vollzogen wurden und der Neuheitsbonus insofern nicht mehr zur Verfügung steht, können sich Menschen anhand beliebig anderer Differenzen im Extremsport individualisieren: als der erste Mann, die erste Frau, der erste Amerikaner oder die erste Deutsche, die eine riskante Tat mit oder ohne Technikeinsatz vollbringen konnte. Um Einzigartigkeit zu beweisen, kann man zudem das eine auch mit dem anderen in einem neuartigen Risiko- und Abenteuermix verbinden und das Ganze durch Extremisierung, Versportlichung und Rekordorientierung weiter verschärfen. Extremsportler individualisieren sich vornehmlich durch demonstrative Risikoübernahme und Selbstgefährdung. Gegenüber all jenen Formen der veralltäg-

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lichten und gezähmten Kurzzeitabenteuer, die man beispielsweise auf Jahrmärkten in Gestalt von Achterbahnen und Bungeeplattformen erleben kann, hat der moderne Risikosport ein prinzipiell offenes Ende. Es kann auch schiefgehen, wie die zahlreichen Todesfälle immer wieder beweisen. In der freiwilligen Selbstgefährdung, die dem Extremsport zu eigen ist, steckt deshalb ein so wirksames Potential, sich von anderen in einer beobachtbaren Weise abzuheben, weil Selbsterhaltung, Gesundheitsvorsorge, Lebensverlängerung und die zeitgenössische Kultur des Genießens und Sichauslebens für das moderne Subjekt einen hohen Stellenwert besitzen. Die Anwesenheit des Todes dramatisiert das Abenteuer- und Risikogeschehen zusätzlich und verschafft denjenigen, die sich dem Tod als der größten narzisstischen Kränkung des modernen Subjekts bewusst nähern, eine Aura der Besonderheit und Verwegenheit. Gerade weil viele Menschen den eigenen Tod vergessen machen wollen und vor dieser finalen Grenze davonlaufen, kann derjenige, der freiwillig gefährliche und potentiell todbringende Situationen aufsucht, sich in einer besonders markanten Weise sozial sichtbar machen. Die eigene Endlichkeit bewusst aufs Spiel zu setzen, erlaubt die Akquisition symbolischen Kapitals im Rahmen einer Performanz der Coolness und Robustheit. Im Abenteuer und Risiko verweigern sich individuelle Akteure damit auch demonstrativ der üblichen »Bio-Politik« der Gesellschaft.4 Indem sie sich selbst gefährden, gehen sie nämlich auf Distanz zu jenen Erwartungen, mit denen beispielsweise der traditionelle Sport, aber auch Erziehungsinstitutionen, das Krankheitssystem und die Fitnessindustrie auf eine subtile Weise die Daseinsund Gesundheitsvorsorge der Gesellschaftsmitglieder zu kontrollieren und zu überwachen versuchen.

KÖRPERLICHKEIT UND WAHRNEHMUNG Extremsportler setzen gegen die Intellektualisierung und Verkopfung des Alltags ein körperorientiertes Handeln. Menschen, die Berge besteigen, Eis- oder Sandwüsten durchqueren, nutzen ihre Körper in einer demonstrativen Weise – und sie tun dies in einer Gesellschaft, die Körperlichkeit in vielerlei Hinsicht verzichtbar gemacht hat (Bette 1989). Menschen fahren mit dem Auto, fliegen mit dem Flugzeug, kommunizieren per Telefon oder E-Mail, bewegen sich also immer weniger zeit-, körper- und energieintensiv fort. Der Extremsport bietet eine Welt, die die Körperferne der Moderne systematisch mit einem radikalen __________________ 4

Vgl. hierzu die Analyse von Foucault (1977) zur Geschichte von Gefängnissen und psychiatrischen Anstalten.

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Gegenbild konfrontiert. Physische Betätigungen im Rahmen von Langzeitexpeditionen, Trekkingtouren, Bergbesteigungen oder Polarüberquerungen zeigen in einer überzeugenden Weise, dass der Körper als Fortbewegungsvehikel noch nicht gänzlich überflüssig geworden ist. Vor dem Hintergrund einer Gesellschaft, die auf der Basis von Kommunikation operiert, steht im Risikosport nicht Kommunikation, sondern Wahrnehmung im Vordergrund. Augen, Ohren und Nase, aber auch Hände und Füße sowie die hierüber vermittelten Orientierungs-, Gleichgewichts- und Balancierungsfähigkeiten erfahren im Extremsport eine interessante Wiederbelebung. Bergsteiger, Langstreckenschwimmerinnen oder Extremsurfer wollen schließlich keine hochstehenden intellektuellen Aufgaben bewältigen. Sie suchen vielmehr körperliche Primärerfahrungen und außeralltägliche Sinneseindrücke – und zwar in einer Zeit, in der Sekundär- und Tertiärerfahrungen immer mehr den Erfahrungshorizont des Einzelnen domestizieren. In einer vornehmlich durch Sprache, Schrift, Bild und Film geprägten Gesellschaft erscheint die Realität vornehmlich als gehörte, erzählte, gelesene oder auf dem Bildschirm gesehene Realität. Sprache und Schrift erzeugen aber immer nur eine semiotische Welt, und es wäre beispielsweise fatal, Wörter, die Dinge bezeichnen, für die Dinge selbst zu halten (Luhmann 1997: 218). Damit deutet sich an, was ein jenseits von Sprache und Schrift angesiedeltes körperund wahrnehmungsorientiertes Handeln leisten kann. Es ermöglicht einen Zutritt in jene reale Realität, die zwar durch Wörter und Bilder bezeichnet wird, aber durch sie nie erreicht werden kann. Dinge, die man riecht, fühlt, begreift und in der einen oder anderen Weise mit seinem Körper benutzt, wirken anders als Sachverhalte, die nur durch Kommunikation zu entschlüsseln sind. Wahrnehmungsorientierung und wortloses Körperhandeln im Rahmen extremer Sportpraktiken werden offensichtlich auch deshalb sozial stark nachgefragt, weil Kommunikation eher Spiralen des Missverstehens auf den Weg bringt. Der körper- und wahrnehmungsorientierte Abenteuersport wäre dann auch als eine Antwort auf die Expansion von Verstehensdefiziten zu werten. Schließlich ist Wahrnehmung nicht darauf angewiesen, zwischen Information und Mitteilung zu unterscheiden, während für Kommunikation genau diese Unterscheidung konstitutiv ist (Luhmann 1984: 560f., Kieserling 1999: 35). Wenn also die Trias von Information, Mitteilung und Verstehen in einer weithin beobachtbaren Weise auseinandertritt und die Konsequenzen des Missverstehens zudem mit Hilfe der Massenmedien permanent wach gehalten werden, erschallt auf der Ebene von Personen der Ruf nach einem wahrnehmungsorientierten, schnellen und einfachen Verstehen.

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EINDEUTIGKEIT UND EVIDENZ Vormoderne Gesellschaften können durch ihre Fixierung auf Religion und Herkunft sowie die geringe räumliche Mobilität ihrer Mitglieder als »Gewissheitsgesellschaften« (Gross 2000: 3) bezeichnet werden. Moderne Gesellschaften hingegen sind paradox und ambivalent konstruiert: Jenseits der Routine des Alltags produzieren sie höchstens die Gewissheit, dass traditionellen Sicherheiten und Gewissheiten nicht mehr zu trauen ist. Einschätzungen dieser Art sind das Ergebnis sozialstruktureller Veränderungen, die sich weitgehend hinter dem Rücken der Akteure als nicht-intentionale Nebeneffekte völlig anders motivierter Prozesse ergeben haben. Der Abenteuer- und Extremsport formuliert vor diesem Hintergrund ein Eindeutigkeits- und Evidenzversprechen, das nicht wenige dankbar annehmen. Die Expansion des Risikomotivs lässt sich also nur angemessen verstehen, wenn man die Gewissheitsverluste in Rechnung stellt, die durch Modernisierung hervorgerufen werden. Welche Kräfte diese Entwicklung antreiben, soll an folgenden Beispielen vorgeführt werden: Überlieferte Evidenzen werden zunächst dadurch systematisch zerstört, dass die moderne Gesellschaft eine Dynamik freisetzt, die auf Wachstum, Veränderung und permanente Steigerung ausgerichtet ist. Wo das Bestehende nur als Durchgangsstadium für das Zukünfige bedeutsam ist, erscheint der Status quo als defizitär und dauerhaft verbesserungswürdig. Diese notorische Unzufriedenheit kommt zustande, wenn Sozialbereiche an jeweils einer Funktion freigesetzt werden, also von Fremdreferenz auf Selbstreferenz umschalten, und anschließend nur noch ein Interesse daran haben, ihre eigene Logik zu bedienen. Die Verselbständigung der modernen Wissenschaft zeigt den hiermit einhergehenden Evidenzverlust in besonders krasser Weise. Was heute noch als Wahrheit gilt, findet sich morgen vielleicht schon auf dem Schrottplatz der Ideen wieder. Komplexe Gesellschaften erzeugen weiterhin durch ihre Differenzierungsmatrix ein Weltbild, das auf dem Bildschirm vieler Gesellschaftsmitglieder als uneindeutig, polyvalent erscheint. Die moderne Gesellschaft ist eben nicht nur eine »Multioptionsgesellschaft«, wie Gross (1994) formulierte, sondern auch eine Multi-Beobachtungsgesellschaft. Das heißt: Durch die funktionale Fragmentierung der Gesellschaft erhöht sich die Anzahl alternativer und heterogener Beobachtungsmöglichkeiten. Wenn ein einzelnes Ereignis nicht nur eine politische oder wirtschaftliche Bedeutung hat, sondern gleichzeitig auch im Kontext rechtlicher, wissenschaftlicher, künstlerischer, pädagogischer oder religiöser Fragestellungen relevant wird, multipliziert dies einerseits die Möglichkeiten, mit denen die Menschen sich selbst und die sie umgebende Welt beobachten können. Andererseits müssen die Gesellschaftsmitglieder es sich gefallen lassen, dass auch sie aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln beobach-

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tet und nachgefragt werden. Ein einheitliches Verhältnis von Individuum und Gesellschaft wird dadurch unwahrscheinlich. Menschen müssen infolge dessen lernen, dass ihre Einschätzungen über sich selbst und über die Welt beobachtungsrelativ sind – und dass eine Position für eine höherwertige und »wahre« Beobachtung nicht in Sicht ist. Evidenzverluste treten zusätzlich auch dadurch auf, dass es heute keine optisch-visuellen Äquivalente für ablaufende gesellschaftliche Komplexität mehr gibt. Wenn beispielsweise an der Börse Notierungen vorgenommen werden, bleibt die in dieser Institution operierende ökonomische Eigendynamik selbst Insidern ein Geheimnis, mit der Konsequenz, dass dieses Defizit an Nachvollziehbarkeit wirtschaftlicher Prozesse inzwischen selbst zu einem gravierenden Wirtschaftsproblem geworden ist. An den Börsen werden heute nicht mehr physisch-evidente Dinge, etwa Schweinehälften, Autos oder Sojabohnen, getauscht, sondern symbolische Äquivalente jagen in digitalisierter Auflösung mit höchster Geschwindigkeit durch Glasfaserkabel oder Satellitenkanäle. Falls diese Analyse zutrifft und die moderne Gesellschaft durch ihren Formtypus tradierte Wirklichkeitsbilder und Wahrnehmungsmuster systematisch zur Verflüchtigung bringt und damit ihren Mitgliedern die Grundlagen für die Erzeugung von Evidenzgefühlen unter den Füßen wegzieht, stellt sich die Frage, wie individuelle Akteure mit derartigen Transformationen umgehen und wie Gesellschaft wiederum auf dieses Rauschen in ihrer personalen Umwelt reagiert. Der Extremsport ist, um es auf eine analytische Spitze zu treiben, eine Antwort der Gesellschaft auf die humanen Kollateralwirkungen des Modernisierungsprozesses. Risiko und Abenteuer dienen nicht nur der Zerstreuung, Selbstermächtigung und Distinktion oder der Wiederbelebung von Körperlichkeit und Sinnlichkeit; sie kommen, so meine Vermutung, auch als neue Evidenzbeschaffungsprogramme ins Spiel. Notwendig ist hierfür eine assistierende Semantik, die mit Natürlichkeits-, Fitness- und Selbstverwirklichungsformeln dabei hilft, dass physische und psychische Anstrengungen insgesamt positiv verbucht werden, und nicht als Entfremdungsfaktoren erscheinen. Wie funktioniert dieser Mechanismus der Evidenzbeschaffung? Im Wagnis finden Menschen paradoxerweise Halt, weil gerade der riskierte Körper als eine unhintergehbare Sicherheits- und Gewissheitsbasis gilt. Die Gefühle, die im Extremsport entstehen, erscheinen als konkret und eindeutig, weil die Situationen der Selbstgefährdung konkret sind, über Wahrnehmung erfahren werden können und eine totalisierende Wirkung ausüben. Angst läuft eben nicht nur im Kopf ab, sondern durchflutet den ganzen Körper. Eine Kulturkritik, die jedwede Ausprägung der Realität als reine Konstruktion ansieht, tropft angesichts dessen problemlos ab. Denn wer darüber nachdenkt, ob das Seil, an dem er hängt, real vorhanden ist oder nur als Erfindung seines Geistes existiert, wäre im Abenteuersport nicht handlungsfähig. Er würde in den Strudeln der Selbst-

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und Welthinterfragung hängenbleiben oder abstürzen. Der Risikosport erzeugt demzufolge Wirklichkeits- und Präsenzgefühle, die in einer vergleichbaren Weise über Kommunikation so nicht hervorgerufen werden können.

WIEDERANEIGNUNG VON RAUM UND GEGENWART Die Materialität des Raumes und die in ihm versammelte Dingwelt haben im Verlauf des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses einen radikalen Bedeutungswandel erfahren. Die Technisierung des Transports resultierte zunächst in einer Entkoppelung von Raum und Fortbewegung.5 Menschen können heute Distanzen überbrücken, ohne sich selbst körperlich fortbewegen zu müssen. Ganz im Gegenteil, die zeitgenössische Schnelligkeit bei der Raumdurchquerung ist nur deshalb möglich, weil die Fortbewegungsgeschwindigkeit der Menschen nicht mehr von der Schrittfrequenz der Beine oder der Pumpfähigkeit des Herzens abhängt. Eine Marginalisierung des Raumes entstand weiterhin durch die Evolution der modernen Kommunikationstechniken. Die Entwicklung von der Schrift, über den Buchdruck, die Telegrafie, das Telefon bis hin zum Fernsehen und zum Internet brachte eine ungeheure Ausdehnung der kommunikativen Reichweite mit sich; allerdings um den Preis einer Entkoppelung von Mensch, Raum und Kommunikation. Man kann heute miteinander sprechen, ohne in einem konkret vorhandenen Raum gleichzeitig anwesend sein zu müssen. Abenteuer- und Extremsportler erscheinen vor diesem Hintergrund als Spezialisten für die Wiedereroberung der durch Transport- und Kommunikationstechnik verdrängten Zwischenräume. In ihren diversen Praktiken lassen sie die Aura des Raumes wieder auferstehen und die dort vorhandenen Eigenheiten zu sinnhaft erfahrbaren Größen werden. Die Atopie, die Ortlosigkeit der modernen Weltgesellschaft, kontert der Abenteuer- und Extremsport durch die Ermöglichung einer Präsenz im realen Raum. Ihr stellt er spezifische Raumofferten entgegen, die Menschen dankbar als Orientierungspunkte des Handelns in Anspruch nehmen. Der Raum des Extremsports ist konkret und nicht imaginiert, wie beispielsweise der Raum im Fernsehen oder im Kino, der als reine Illusion auf die Leinwand oder den Bildschirm projiziert wird, und der sofort verschwindet, wenn das Licht angeht oder der Fernsehapparat ausgeschaltet wird. Der moderne Risikosport reduziert die Teilhabe an der Welt nicht auf die Zweidimensionalität einer Buchseite oder einer Leinwand. Drachenflieger, Moun__________________ 5

Zur Versportlichung und Festivalisierung urbaner Räume vgl. Bette (1999: 192ff.).

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tainbiker und Bungeespringer gewinnen die dritte Dimension des euklidischen Raumes zurück. Hier können sie neu erleben, hier können sie allerdings auch final scheitern. Moderne Gesellschaften haben nicht nur den Raum »getötet«, wie Heinrich Heine 1843 als Reaktion auf die Erfahrung der Eisenbahnreise formulierte, sie haben auch das Gegenwartserleben schrumpfen lassen. Die Erfahrung eines verkürzten Aufenthalts in der Gegenwart ist als Konsequenz fortgeschrittener Differenzierung zu verbuchen. Wenn komplexe Gesellschaften einen Überhang an Möglichkeiten produzieren und sich die anstehenden Erfordernisse und Handlungsentwürfe nicht im Hier und Jetzt erfüllen lassen, kann man sie zumindest in die Zukunft schicken und auf eine spätere Lösung hoffen. Die Gegenwart verkommt angesichts dessen zu einer Erfahrungsgröße, die, wenn man sie festzuhalten versucht, gleich wieder entschwindet. Abenteuer und Risiko versprechen eine kurzfristige Abhilfe. Sie verweisen nicht auf Zukunft, sondern auf Gegenwart. Hierauf wies bereits Georg Simmel (1911) in seinem Aufsatz über das Abenteuer hin. Er bezeichnete den Abenteurer als »Gegenwartswesen«. Er dachte hierbei nicht an Extrem- und Risikosportler, sondern nannte explizit die Sozialfigur des Spielers und Casanova als erotisch-sexuellen Abenteurer. Bei beiden »verschlang der Rausch des Augenblicks (wobei ich den Akzent mehr auf Augenblick als auf Rausch legen möchte) die Zukunftsperspektive mit Haut und Haaren.« Die Risikoepisoden, denen sich Menschen im Extremsport stellen, erhalten die Funktion, linear und gleichförmig verlaufende Zeit durch spannende, herausfordernde Ereignisse zu interpunktieren. Die jenseits der Alltagsroutine angesiedelte Auszeit für das Abenteuer wird zu einer Time-in-Situation, in die sich Menschen freiwillig und bewusst hineinbegeben, um in ein rauschhaftes Zeitgefühl hineinzufallen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verdichten sich zu einem punktuellen Erleben, in dem nur der nächste Schritt, der nächste Haltegriff, die nächste Sicherungsmaßnahme zählt. Man könnte hier, mit Alois Hahn (2000: 157), von einer »Hypertrophie des Präsens« sprechen. Der Mensch wird zum Gegenwartsmenschen, weil das Risiko Körper, Bewusstsein und Handeln durch Totalisierung synchronisiert. Gedanken als Elemente des psychischen Systems werden im Risiko im wahrsten Sinne des Wortes aufgesaugt, gleichsam daran gehindert, Beobachtungen zweiter Ordnung durchzuführen. Extreme Betätigungen bieten Menschen, die sich nicht nur einfach thematisieren, sondern die ihre Selbstthematisierungen wiederum selbst thematisieren, die Möglichkeit einer dezisionistischen Externalisierung. Wenn der Einzelne droht, in Beantwortung der Frage nach dem eigenen Ich in Reflexionsspiralen und infiniten Regressen steckenzubleiben, verspricht die Eigenwelt des Risikos einen totalisierenden Reflexionsverzicht. Die so hergestellte Rausch- und Glückserfahrung, von der viele Extremsportler berichten, kann bis

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zur Sucht gesteigert werden. Haben Extremsportler bestimmte Abenteuer bestanden, werden die nächsten geplant, weil die Gegenwart ohne ein Abenteuerprojekt als langweilig, leer und bedeutungslos wahrgenommen wird. Bereits der Abstieg von einem Berg erscheint vielen als ein negatives Ereignis, das es schnell zu Gunsten von neuen Herausforderungen zu überwinden gilt.

INKLUSION DES EXKLUDIERTEN Die verschiedenen Motive, die der Abenteuer- und Extremsport bedient, verweisen auf Strukturen und Wirkungen der modernen Gesellschaft. Das heißt: Man kann sehr viel über die Möglichkeiten und Konsequenzen funktionaler Differenzierung lernen, wenn man sich die Risikovorliebe der Zeitgenossen ansieht und extreme Betätigungen nicht isoliert auf hormonale Bedürfnisse, anthropologische Gesetzmäßigkeiten oder autarke psychische Befindlichkeiten zurückführt, sondern die Wirkung sozialer Konstellationen hierfür in Rechnung stellt. Vor dem Hintergrund einer Gesellschaft, die Handeln futurisiert, geht es zeitlich im Extremsport um das Hier und Jetzt, um das selbstvergessene, rauschhafte Verweilen in der Gegenwart. Sachlich konterkariert die Risikoorientierung die typisch moderne Bestrebung, Erwartungssicherheit durch Risikovermeidung herzustellen. Selbstgefährdungspraktiken sollen Gefühle der Langeweile und Leere vertreiben und einem neuen Lebendigkeitsgefühl Platz schaffen. Räumlich steht die alternative Rückeroberung verdrängter Territorialität auf dem Programm und sozial wird ein Rollenkonstrukt favorisiert, das den »ganzen« Menschen mit Haut und Haaren in den Vordergrund stellt. Strategien der Selbstermächtigung zielen darauf ab, den Bedeutungsverlust des Subjekts in der Organisationsgesellschaft zumindest kurzfristig außer Kraft zu setzen. Ebenso setzt der moderne Abenteuer- und Extremsport der fortschreitenden Verzichtbarkeit des Körpers offensiv einen Kontrapunkt entgegen, indem er sinnliche Wahrnehmung rehabilitiert und den Körper als Handlungswerkzeug und Fortbewegungsvehikel wieder ernst nimmt. Damit findet im Abenteuersport insgesamt eine bemerkenswerte Umkehr statt: Die Normalität des Alltags und die dort stattfindende gesellschaftliche Zurichtung des Subjekts werden als künstlich beschrieben, um vor diesem Hintergrund das Risikomilieu als natürlich zu markieren. Extremsportler personalisieren insofern das gesellschaftlich Exkludierte in einer bemerkenswerten und eigensinnigen Weise und werden damit zu einem wichtigen Bestandteil der gesellschaftlichen Erinnerungsarbeit. Sie speisen durch ihr Handeln Themen in die öffentliche Kommunikation ein, die von einer Welt jenseits der Routine,

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Sicherheit und Kopforientiertheit berichten. Als Spezialisten für das Naturale, Unvorhersehbare, Außeralltägliche, Nichtkommunikative und Riskante halten sie das Verdrängte präsent, indem sie es durch extreme Übersteigerung bis zur Kenntlichkeit verfremden. Das gesellschaftlich Abgeworfene verschwindet demnach nicht ein für allemal, es wird vielmehr bei Bedarf nach Maßgabe vorhandener Strukturen umcodiert, in eine entsprechende Programmatik gebracht und den Gesellschaftsmitgliedern als Freizeitangebot offeriert. Die modernen Abenteuer- und Extremsportler machen mit ihrer Differenzorientierung im Übrigen nicht nur Erfahrungen, die sie für ihren eigenen Erlebnishaushalt abbuchen. Indem die Medien über ihre Taten und Empfindungen kommunizieren, können auch jene am Abenteuer und Risiko teilhaben, die selbst risikoaversiv leben und sich vergleichbare Situationen der Selbstgefährdung nicht zumuten. Wenn das Außeralltägliche in Serienproduktion geht, Abenteuer von hinter den Kulissen arbeitenden Spezialisten nach sachrationalen Kriterien vorbereitet und geplant werden, könnte man in Anlehnung an Georg Ritzer (1993) von einer »McDonaldisierung« des Abenteuers sprechen. Und es gibt Anzeichen, dass die gegenwärtige Erlebnisindustrie in genau diese Richtung tendiert. Dadurch aber, dass der Abenteuer- und Extremsport typischerweise mit den Unwägbarkeiten von Natur, Körper und Psyche zu tun hat, tauchen Steuerungsund Machbarkeitsgrenzen auf, die sich auch durch Organisationsbildung und Versachlichung nicht aus der Welt schaffen lassen. Das Abenteuer behält zumindest in seinen extremen Varianten eine anarchische Qualität, die das Außeralltägliche und Riskante nachhaltig vor einer Demokratisierung und Banalisierung schützt.

4 Risikokörper und Abenteuersport

Auf dem Markt der öffentlichen Aufmerksamkeit kommt dem zeitgenössischen Abenteuer- und Risikosport eine große Bedeutung zu. Höhenbergsteiger, Ultratriathleten, Freikletterer, Fallschirmspringer, Einhandsegler, Rallyefahrer, Drachenflieger, Großwellensurfer oder Wüstendurchquerer setzen ihr Leben in spektakulären Aktionen aufs Spiel und erbringen physische und psychische Leistungen, die weit über das übliche Maß sportlicher Hingebungs- und Aufopferungsbereitschaft hinausgehen. Die Namen der Abenteuerhelden stehen für ein wildes, riskantes und intensives Leben in einer ansonsten weitgehend zivilisierten, auf Erwartungssicherheit und Risikominimierung ausgerichteten Gesellschaft. Wo Menschen in ihrer alltäglichen Daseinsführung nahezu rund um die Uhr von Organisationen betreut und kontrolliert werden, erscheinen Abenteuer- und Risikosportler mit ihren verwegenen Taten als handlungskräftige Inkarnationen der Außeralltäglichkeit. Sie erheben sich aus dem Einerlei der Routine und erzählen den Risikoaversiven Geschichten vom möglichen Anderssein. Die hohe Verletzungs- und Todesrate in ihren Reihen deutet nicht nur auf den Preis hin, den Menschen bisweilen zu bezahlen haben, wenn sie die Sicherheitszonen der Gesellschaft freiwillig verlassen und sich dem Fremden und Kontingenten aussetzen. Die Erschlagenen, Erfrorenen, Abgestürzten und Verschollenen sagen auch etwas über die Dringlichkeit aus, mit der nicht wenige Gesellschaftsmitglieder durch das Aufsuchen real existierender Risiko- und Gefahrensituationen Bedürfnisse und Handlungsformen zurückzugewinnen trachten, die im Modernisierungsprozess verdrängt wurden. Die Abenteuer, um die es im Risikosport geht, finden in der Tat nicht in der semiotischen oder virtuellen Wirklichkeit von Filmen, Romanen oder Computerspielen statt, sondern

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in der realen Realität, in der Menschen mit ihren Erlebniswünschen und Erlösungshoffnungen auch final scheitern können. Abkömmlinge des Extremsports sind inzwischen in reduzierter Form in den Freizeit- und Breitensport diffundiert und haben dessen Handlungspanorama erweitert. Es liegt im Trend, wenn Alltagsakteure ihre Ausdauerfähigkeit im Marathonlauf oder Kurztriathlon erproben, an gefrorenen Wasserfällen emporklettern oder die Einöden außereuropäischer Regionen in ihrer Freizeit auf Abenteuer- und Trekkingtouren erkunden. Die Vorbildwirkung der Risikoavantgarde wird offensichtlich kollektiv genutzt, um in Kurzzeitabenteuern aus dem Alltag auszubrechen, eigene Begrenzungen auszutesten und sich selbst in der Bewältigung von Ungewissheit neu zu beobachten und zu evaluieren. Als sichtbare Abweichungen vom Üblichen haben die zu Wasser, zu Lande und in der Luft durchgeführten Risikoaktionen zudem außersportliche Performanzräume erobert. Vortragssäle, Talkshows, aber auch Bücher, Filme und Internetforen werden nach überstandenen Abenteuern zu Bühnen, auf denen die Extremen ihre Risikobearbeitung bild- und sprachförmig aufbereiten und alltagsphilosophisch interpretieren. Ebenso hat die Ökonomie die Symbolkraft extremen Handelns entdeckt, um das wirtschaftlich Mögliche zu steigern. Abenteuersportler riskieren als angeheuerte Stuntmen der Industrie Kopf und Kragen und werben währenddessen für Produkte, die Freiheit, Individualität, Lebensfreude, Risikobereitschaft und Robustheit ausdrücken sollen. Nicht wenige Firmen benutzen den drittletzten Buchstaben des Alphabets, das »X«, um vormals getrennte Lebenssphären durch Neologismen und Begriffskompilationen miteinander zu verbinden – Beispiele: X-rail; X-men; X-Sport – und die Idee des Knappen, Riskanten und Besonderen in die Ikonografie von Produkten und Lebensstilen zu überführen. Menschen handeln nicht, wie man auf den ersten Blick meinen könnte, sinnlos, wenn sie die Sphäre der Routine und Sicherheit verlassen und sich in Situationen der Kontingenz und Unsicherheit gefährden. Ganz im Gegenteil sind Abenteuer- und Risikopraktiken in besonderer Weise sinnhaft besetzt, weil sie nicht zufällig passieren, sondern bewusst und gezielt hergestellt werden. Der Sport ist als Abenteuer- und Risikofeld bedeutsam geworden, weil frühere Abenteuerfelder entweder nicht mehr zur Verfügung stehen, Reputationsverluste erlitten haben – man denke nur an die katastrophalen »Kriegsabenteuer« des letzten Jahrhunderts – oder nicht jene »Leichtigkeit des Seins« besitzen, die nur Sozialbereichen zukommt, die keine übergeordnete und unverzichtbare gesellschaftliche Funktion zu erfüllen haben. Eben weil der Sport nicht notwendig, sondern »überflüssig« ist, ist er für viele Menschen paradoxerweise zu einem wichtigen Muss geworden. Dies gilt in zunehmendem Maße auch für den zeitgenössischen Abenteuer- und Risikosport.

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Die folgende Analyse zielt darauf ab, ausgewählte Aspekte dieses Handlungsfeldes soziologisch zu durchleuchten.6 Der erste Abschnitt zeigt, dass der Abenteuer- und Risikosport ein gesellschaftliches Unternehmen darstellt, das seine Sinnofferten primär aus der Bearbeitung und Inanspruchnahme des NichtSinnhaften, des Außergesellschaftlichen, ableitet. In den diversen Praktiken steht nicht die unmittelbare Teilhabe von Personen an der Welt der gesellschaftlichen Kommunikation im Vordergrund; es geht vielmehr um die gezielte Konfrontation einzelner Subjekte oder Gruppen mit außergesellschaftlichen Größen und Gesetzmäßigkeiten – was Anregungs-, Begleit- oder Folgekommunikationen über die Möglichkeiten und Grenzen der Sinnsuche im NichtSinnhaften keineswegs ausschließt. Berge, Meere, Wüsten, aber auch Hochhäuser, Staudämme und Brücken werden zu Objekten, die Risikoakteure gehend, laufend, kletternd, schwimmend, segelnd, fliegend, fallend oder gleitend zu erobern und zu zähmen trachten. Der zweite Abschnitt diskutiert den Nutzen, den die Körper- und Wahrnehmungsorientierung des Abenteuer- und Risikosports abzuwerfen verspricht. Sinnfindung und expliziter Körper- und Sinneseinsatz stehen in einem engen Verweisungszusammenhang. In einer Gesellschaft, in der menschliche Körper in vielen Funktionsbereichen an Bedeutung verloren haben und die Primärerfahrungen des Subjekts maßgeblich durch medial vermittelte Sekundär- und Tertiärerfahrungen geprägt und überlagert werden, offeriert der Abenteuer- und Risikosport durch seine Ausrichtung auf Körper und einfache Wahrnehmung Handlungs- und Erlebnismöglichkeiten, die immer mehr Menschen dankbar für die Generierung von Authentizitäts-, Natürlichkeits- und Lebendigkeitsgefühlen in Anspruch nehmen. Der dritte Abschnitt vertieft diesen Gedankengang und untersucht die in diesem Sportmodell anzutreffende Ökonomie der Verausgabung. Risiko- und Extremsportler schinden sich, wie man weiß, bis zum Umfallen – und sie tun dies freiwillig und bewusst. Indem sie physisch und psychisch enorm anstrengende Abenteuer- und Leidenssituationen aufsuchen und durchleben, gehen sie auf Distanz zu den weitverbreiteten Wellness-, Gesundheits- und Wohlfühlofferten der zeitgenössischen Freizeit- und Fitnessindustrie. Die durch gesellschaftliche Modernisierungsprozesse ermöglichte und dominant gewordene konsumatorische Körperverwendung wird im Abenteuer- und Risikosport auf den Kopf gestellt und durch ein markantes und distinktionskräftiges Gegenmodell ersetzt. Der vierte und letzte Abschnitt arbeitet die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen im modernen Abenteuersport heraus, verortet die Risikopraktiken im Rahmen von »erster« und »zweiter Moderne« und diskutiert einige Konsequenzen dieser Synthese. __________________ 6

Zur analytischen Vertiefung siehe Bette (2003, 2004).

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SINNSUCHE IM NICHT-SINNHAFTEN Der primäre Bezugspunkt risiko- und abenteuersportlichen Handelns liegt außerhalb der Gesellschaft, nämlich in der Auseinandersetzung der Akteure mit der Eigengesetzlichkeit der Natur, des physikalischen Kosmos sowie mit der Eigenlogik des Körpers. Obwohl kommunikativ durch vorhandene, in Abenteuererzählungen, Expeditionsberichten und Rekord- und Heldenmythen abgelegte Semantik angeleitet, und insofern Vollzug von Gesellschaft, sind Abenteuer- und Risikosportler Spezialisten für die Thematisierung und Inanspruchnahme der nicht-kommunikativen Umwelt der Gesellschaft.7 Es geht um Menschen, Psychen und Körper, und deren Einpassung in die Sphäre naturaler Elemente und zivilisatorischer Materialitäten. In der Vertikale eines Berges oder der Horizontale einer Wüste oder in der Tiefe eines Meeres widersetzen sich die Risikoakteure mit ihren Körpern den übermächtigen Gesetzen der physikalischen Welt oder nutzen diese in einer kreativen Weise für eigene sportive Zwecke. Sie verschaffen sich – wie man leicht erkennen kann – Differenzerfahrungen, die ihnen im Alltag ansonsten verwehrt sind. Die Skiabfahrt im hüfthohen Pulverschnee, der freie Fall nach einem Fallschirmabsprung aus großer Höhe oder das Gleiten auf einem Surfbrett in einer sich überschlagenden Welle liefern komplexe sensorische Eindrücke, die man am Schreibtisch oder vor dem heimischen Fernsehbildschirm in einer vergleichbaren Weise nicht sammeln kann. Männer und Frauen messen sich im Abenteuersport nicht mit gesellschaftlichen Symbolsystemen wie beispielsweise Geld oder Macht, die ihre Steuerungskraft hinter dem Rücken der Akteure entfalten und im Alltag oft Gefühle der Fremdsteuerung, Nichtigkeit und Übermächtigung hervorrufen. Sie kämpfen vielmehr in ihrer psycho-physischen Gesamtheit gegen die Anziehungskraft der Erde, nutzen die unterschiedlichen Aggregatzustände des Wassers für eigene Fortbewegungen oder simulieren den Vogelflug mit eigens konstruierten Flug- und Gleitgeräten. Sie trotzen ihre Existenz und ihre Fortbewegung vornehmlich jener Größe ab, die der gesellschaftliche Modernisierungsprozess auf Distanz gesetzt hat: der Natur mit ihren diversen Substanzen und Erscheinungsformen. Risikosportler, die sich der Eigenlogik der Elemente aussetzen, aber auch an Hochhäusern hochklettern oder sich von Staudämmen in die Tiefe stürzen, wenden sich bewusst Größen zu, die nicht auf der Grundlage von Sinn operie__________________ 7

In der Sichtweise der neueren soziologischen Systemtheorie erscheint die Gesellschaft als ein operativ geschlossenes Sozialsystem, das nur aus Kommunikationen besteht und sich so scharf von einer nicht-kommunikativen Umwelt abgrenzt (Luhmann 1984: 192ff.). Gleichwohl bleiben Sozialsysteme auf die Existenz und Funktionsfähigkeit ihrer Umwelt angewiesen. Vgl. Kapitel 3.

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ren. Dies gilt sowohl für den eigenen, im Sport eingesetzten Körper, der auf der Basis von Leben funktioniert, als auch für die Eigendynamik von Erde, Wasser, Luft oder Licht.8 Ein Handeln, das auf die Veränderung oder erfolgreiche Inanspruchnahme dieser gesellschaftlichen Umweltfaktoren ausgerichtet ist, unterliegt anderen Spielregeln als ein Handeln, das auf die Teilhabe an immateriellen Kommunikationsprozessen abzielt. Risikosportler haben am Berg, auf einem Ozean oder in der Wüste andere Probleme zu lösen als Menschen, die in Arbeitsorganisationen oder Bürokratien inkludiert sind und dort in Distanz zur eigenen Physis und zu Bergen, Wellen, Wüsten und Winden ihre Rollenerwartungen zu erfüllen haben. Die hochgetriebene Körperkompetenz, die ein Extrembergsteiger zur Bewältigung eines Himalayagipfels aufzubringen hat, wäre unpassend für die Arbeit am Fließband. Eben weil Erde, Wasser, Luft und Licht sowie der Körper nicht-sinnhaften Gesetzmäßigkeiten unterliegen, eignen sie sich paradoxerweise als Fluchtpunkte, an denen sich individuelle und kollektive Sinnansprüche festmachen lassen. So profitiert der im Abenteuer- und Risikosport platzierte Rückgriff auf außergesellschaftliche Größen von der Erfahrung, dass die Teilhabe an der Gesellschaft Menschen häufig überfordert – selbst dann, wenn diese in ihrer Freizeit unterfordert zu sein glauben. Personen stoßen schließlich durch ihre strukturelle Koppelung mit der modernen Gesellschaft auch auf die Mehrsinnigkeit, Widersprüchlichkeit und Folgeträchtigkeit der dort ablaufenden Kommunikationen. Die Moderne entlastet ihre Subjekte nicht nur von den Zwängen früherer Existenz- und Lebensformen, sondern belastet sie auch in einer subtilen Weise und ruft bei nicht wenigen ein »Leiden an der Gesellschaft« (Dreitzel 1968) hervor. So werden Personen durch Organisationen beschleunigt und zum Handeln veranlasst, rollenmäßig parzelliert, mit Erwartungen überlastet, im Wechsel von Arbeit und Freizeit an- und abgeschaltet, in ihrer Körperlichkeit ruhiggestellt, mit Stress, Routine und Langeweile konfrontiert und in überindividuell verursachte Konflikte und Widersprüche hereingezogen. Die Gesellschaft produziert nicht nur Kommunikationen, die auf den Gleisen symbolisch generalisierter Steuerungsmedien ablaufen und ein hohes Maß an Erwartbarkeit und Annahmemotivation auf der Ebene von Personen erzeugen; sie lässt diese auch an den Disparatheiten und Abstimmungsdefiziten teilhaben, die zwischen den Teillogiken der einzelnen gesellschaftlichen Funktionsfelder entstehen. Vor allem aber konfrontiert sie Menschen mit kommunikativer Symbolik und Abstraktion. Die Hinwendung zur Eigengesetzlichkeit der außergesellschaftlichen Welt erscheint vor diesem Hintergrund als eine Maßnahme, mit der moderne Subjek__________________ 8

Psychische und soziale Systeme funktionieren auf der Grundlage von Sinn, organische Systeme auf der Basis von Leben. Vgl. Luhmann (1984).

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te im wahrsten Sinne des Wortes handgreiflich gegen Transformationen in der Gesellschaft und deren Wirkungen anzugehen versuchen.9 Situationen eines beschleunigten sozialen Wandels provozieren Rückbesinnungen auf das, was als beständig und dauerhaft gegeben erscheint, und dem individuellen Akteur im Wechsel von hell und dunkel, warm und kalt, hoch und tief, laut und leise, nass und trocken, bekannt und unbekannt oder nah und fern entgegentritt. Menschen, die ihr Handeln im Kontext dieser Differenzen und Polaritäten abwickeln, sind von den Schwierigkeiten, Konsequenzen, Widersprüchlichkeiten und Unwahrscheinlichkeiten gesellschaftlicher Kommunikation weitgehend entlastet. Der Sinn des Sports besteht darin, nicht auf den Sinn von Kommunikation zu bauen, sondern vielmehr die Intensitäten des Körpers, die Eigenheiten und Restriktionen der Natur sowie künstliche Materialitäten ins Spiel zu bringen, um diese für ein alternatives Erleben und Handeln sowie eine außeralltägliche Selbstbeobachtung zu nutzen. Menschen profitieren im Abenteuer- und Risikosport davon, dass naturale Elemente, bei allen personalen Bewältigungs- und Übermächtigungsversuchen, unhintergehbare Grenzen definieren. Weder die Kälte im Hochgebirge noch die Erdanziehungskraft beim Freiklettern oder die Hitze bei einem Wüstenmarathon lässt sich per Diskursentscheid abstellen oder durch kommunikativ angeleitete Interventionen aus der Welt schaffen. Nur bestimmte körperliche Bewegungsabfolgen sind in den diversen Risikosportarten zugelassen, andere werden unbarmherzig sanktioniert und bei einem Fehlverhalten mit letalen Ergebnissen bestraft. So begrenzen die Gesetze der Schwerkraft die Fortbewegung im Raum. Der Körper bleibt der Erde verhaftet, selbst wenn er fliegt, läuft, klettert oder schwimmt. Die Natur eröffnet bestimmte Handlungsfenster, verschließt andere aber auch. Menschen müssen deshalb lernen, die »Gesetze« der Elemente zu lesen und zu verstehen. Extremsportler zeigen sich dabei oft als Meister der Anpassung und des situativen Entscheidens, wann und wie zu handeln bzw. ein Handeln zu unterlassen ist. Wie ist der nächste Schritt zu setzen, der nächste Griff zu plazieren, um einen Absturz zu verhindern? Wie ist das Schwergewicht des eigenen Körpers zu verlagern, um auf einer Welle zu reiten oder auf einem Snowboard ins Tal zu gleiten? Das Nicht-Sinnhafte wird zum Taktgeber, Begrenzer und Ermöglicher des Handelns. Die prinzipielle Unbeeinflussbarkeit von Erde, Wasser, Luft und Licht lässt diese Elemente zu einer konkreten Herausforderung werden, die Menschen im Rahmen von Selbstbehauptungs- und Selbstermächtigungsprogrammen aufsu-

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Zum Verhältnis von Körper und Gesellschaft in der Phase fortgeschrittener Modernität siehe Bette (1987, 1989, 1999: 106ff.).

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chen und nutzen.10 Nicht abstrakte und symbolische Formen geben den Subjekten halt, es sind vielmehr die konkreten Ausprägungen der biologischen und physikalischen Welt, die als Leuchtfeuer für Sinngebungsversuche dienen und entsprechend angesteuert werden. Anders formuliert: Dass dem aktiv betriebenen Sport in seinen diversen Schattierungen heute eine so eminente Bedeutung zukommt, hat mit den sozialen, psychischen und somatischen Konsequenzen des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses und dem hieraus resultierenden Umbau des Erlebens und Handelns zu tun und kann zudem als eine Reaktion auf die Welt der gesellschaftlichen Kommunikation gewertet werden, mit der die Menschen über strukturelle Koppelungen verbunden sind. Wo nicht nur Menschen, sondern auch Sozialsysteme in eigenen Steuerungssprachen »reden« und schwer zu verstehen sind, und ohnehin nur die »Kommunikation kommuniziert« (Luhmann 1995: 113f.), geben Körper und Natur als spür- und greifbare Größen ein Eindeutigkeitsversprechen, das seinesgleichen sucht. Schnee, Wasser, Wüsten oder Berge stellen eine »harte Wirklichkeit«11 dar, die dem menschlichen Beobachter und Nutzer in einer sehr plausiblen Weise als »real« und »beobachterunabhängig« erscheint und entgegentritt. Die Elemente, aus denen diese Realität besteht, sind mehr oder weniger eng miteinander gekoppelt. Dass Menschen sie für Zwecke der Selbstverortung und Selbstermächtigung oder als Quellen für die Erzeugung von Verlässlichkeits- und Evidenzgefühlen nutzen, ist verständlich, weil vergleichbare Anstrengungen im Bereich der Gesellschaft im Medium der Kommunikation abzuwickeln wären und dort auf erwartbare Schwierigkeiten stießen. Eine Kommunikation ist, wie die neuere soziologische Systemtheorie (Luhmann 1981b; 1984: 191-241) lehrt, erst dann als gelungen anzusehen, wenn drei unterschiedliche Operationen erfolgreich durchgeführt werden konnten. Informationen müssen, erstens, übermittelt, zweitens, verstanden und, drittens, angenommen werden. Kommunikationsbarrieren treten demnach in mindestens dreifacher Weise auf: Wichtige Informationen werden, obwohl eine Nachfrage besteht, häufig bewusst nicht übermittelt. Selbst wenn sie übermittelt wurden, werden die Informationen oft nicht wahrgenommen und verstanden. Und wurden sie verstanden, werden sie nicht notwendigerweise auch angenommen und in interne Entscheidun__________________ 10 Zum Zusammenhang zwischen den Selbstermächtigungsbestrebungen im Abenteuer- und Risikosport und den Zurichtungen des Subjekts in der modernen Organisationsgesellschaft siehe Bette (2004: 23ff.). 11 Simon (1993: 48ff.) spricht – ohne Bezug zum Abenteuer- und Extremsport – von einer »härteren Wirklichkeit«, um das »leichtere« Errechnen von Wirklichkeit durch einen Beobachter in jenem Bereich zu plausibilisieren, den die klassische Newtonsche Physik beschreibt. Soziale Regeln erschienen als »weichere Wirklichkeit«, weil sie unter dem Einfluss eines Beobachters veränderbar seien.

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gen überführt. Der kommunikative Normalfall ist deshalb nicht der Konsens, sondern der Dissens – was die Teilhabe der Subjekte an der Kommunikationssphäre der Gesellschaft nicht gerade erleichtert. Personen, die in einer hochdifferenzierten Gesellschaft auf eine Vielzahl struktureller Vorprägungen stoßen, wenn sie beispielsweise an den selbstbezüglich geschlossenen Kommunikationskreisläufen gesellschaftlicher Funktionssysteme partizipieren, müssen häufig die Erfahrung machen, wenig von dem, was dort an kommunikativer Eigendynamik abläuft, verstehen oder in irgendeiner Weise selbst beeinflussen zu können. Das Aufsuchen der physisch evidenten Natur und die Korporalisierung des Handelns bieten angesichts dieser Problematik entscheidende Vorteile: Durch die bewusste Auseinandersetzung mit Erde, Wasser, Luft und Licht versetzen Menschen sich in die Lage, andere Formen der Identitätsarbeit zu entdecken und für den Aufbau des Selbstwertgefühls anzuwenden, als ihnen im Arbeitsalltag in Auseinandersetzung mit abstrakten Symbolsystemen zur Verfügung stehen. Für den Reputationserwerb im Sport zählen psychische und physische Fähigkeiten und Fertigkeiten, also askriptive Merkmale, und nicht Ressourcen wie Herkunft, Geld, beruflicher Status oder erlerntes Buchwissen. Im Sport geht es um Kraft, Schnelligkeit, Ausdauer, Beweglichkeit, Geschicklichkeit, Mut und psychische Belastbarkeit. Selbstwirksamkeitsversuche und Distinktionsmaßnahmen, die in außersportlichen Sozialbereichen ablaufen, finden häufig in einer Welt der reinen Abstraktion statt. Wer in der Wissenschaft reüssieren will, muss Bücher schreiben, Statistiken berechnen oder Drittmittel akquirieren. Wer als Extremsportler einen Reputations- und Distinktionsgewinn verbuchen möchte, hat Berge zu besteigen, Höhlen zu durchtauchen oder Kontinente laufend zu umrunden, und kann hierbei zunächst auf Sprache oder Schrift verzichten. Eine Kommunikation über die Sinnsuche im Nicht-Sinnhaften wird für die Abenteuer- und Risikovirtuosen erst dann bedeutsam und unverzichtbar, wenn die Abweichung vom Üblichen für die eigene Identitätsarbeit genutzt und von anderen beobachtet und bestätigt werden soll. Die Bewährung im Wagnis braucht Sichtbarkeit, sollen Mit- und Nachmenschen beeindruckt und Sponsoren befriedigt werden. Dies erklärt den exzessiven Einsatz von Fotoapparaten und Videokameras, mit denen die Extremen ihre Abenteuer- und Risikoprojekte zu Wasser, zu Lande und in der Luft festhalten und für anschließende kommunikative Weiterverwendungen abspeichern. Wer als handlungskräftiges Subjekt wahrgenommen und dem Vorwurf der Lüge und des vorgetäuschten Handlungserfolgs bei der Bewältigung einer Abenteueraufgabe entgehen möchte, muss sich auf dem Berggipfel mit einem Selbstauslöser fotografieren oder durch ein eigens mitgebrachtes Filmteam im Vollzug des Handelns ablichten

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lassen.12 Der Abenteuer- und Extremsport co-evoluierte in den letzten Jahren mit der Entwicklung der modernen Übertragungs- und Speichertechniken. Selbst das nahe Ende in der Todeszone eines Achttausenders lässt sich noch im letzten Moment des Lebens mit Hilfe eines Satellitentelefons an physisch nicht Anwesende mitteilen. Begleit- oder Anschlusskommunikationen der Extremen über sich selbst und ihre Taten im Bereich des Nicht-Kommunikativen sind demnach nicht ausgeschlossen, sondern im Zeitalter medialer Verbreitungsund Speichertechniken erwartbar. Schließlich kann die zwischen Erfolg oder Scheitern angesiedelte Auseinandersetzung einzelner Personen oder Gruppen mit naturalen Elementen oder zivilisatorischen Materialitäten bei entsprechender Sichtbarkeit auch für Nichtbeteiligte spannend sein und entsprechende Imitationsbedürfnisse hervorrufen. Inzwischen sorgt ein eigenständiges Buch-, Bild- und Filmgenre für eine kommunikative Weiterverbreitung der risikosportlichen Sinnsuche im Bereich des Nicht-Sinnhaften.

KÖRPER UND EINFACHE WAHRNEHMUNG Im Arbeitsalltag der Moderne werden Menschen in ihrer Körperlichkeit funktionsspezifisch zugerichtet. Regeln unterwerfen das physisch-organische Substrat sozialen Kontrollen und Routinen: Körper müssen ruhig sein, dürfen nicht durch Geräusche auf sich aufmerksam machen, werden verhüllt, um nicht durch Ausdünstungen zu stören, müssen in öffentlichkeitszugewandten Berufen permanent lächeln, haben den Taktvorgaben der Industrieproduktion zu folgen oder werden zur besseren Abwicklung abstrakter Geschäfte auf den Stuhl verbannt.13 Wer aufgrund von Krankheit, Verletzung oder Alter in seiner Körperlichkeit den jeweiligen Funktionsvorgaben nicht zu folgen vermag, landet in Präventions- oder Regenerationsprogrammen oder wird des Feldes verwiesen und durch taugliche Andere ersetzt. Auch die Fitnesserwartungen, mit denen Firmen beispielsweise ihre Manager konfrontieren, um diese ihren Schnelligkeits- und Mobilitätsimperativen anzupassen, deuten darauf hin, dass Organisa__________________ 12 Die Extremen werden zu Sammlern ihrer eigenen Taten und zu Buchhaltern ihrer medialen Resonanzfähigkeit. Vgl. hierzu die Auflistung des Medienechos auf den Deutschlandlauf eines Extremläufers in Meyer (2003: 57). 13 Aus soziologischer Sicht ist es ratsam, keine Verschwörungstheorie der modernen Organisationen in diesem Zusammenhang zu formulieren: Menschen können mit ihren Körpern auch Leistungen nutzen, die ihnen ohne Organisationen nicht zur Verfügung stünden. Man denke nur an die Möglichkeiten der Prävention, Krankenversorgung und Lebensverlängerung, die es in vergleichbarer Weise in der Vormoderne nicht gab.

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tionen den menschlichen Körper entweder als Ressource für eigene Operationen in Anspruch nehmen oder auf ihn verzichten, wenn eine Körpernutzung ihrer Logik entgegenläuft. Extremsportler opponieren gegen diese spezifische Zurichtung in einer demonstrativen Weise, indem sie ihre Körper und Sinnesorgane bewusst aktivieren und zur Erreichung ihrer Ziele einsetzen. Menschen, die sich mit einem Gleitschirm den Winden aussetzen oder die alleine durch die Polarregionen streifen, tun dies in einer Gesellschaft, die den Körper in vielerlei Hinsicht überflüssig gemacht hat. Der Körper ist nun kein Instrument mehr, das stumm und ohne weitere Beachtung für andere Arbeitsvorgänge verwendet wird; er ist vielmehr als Handlungsbasis und -träger unmittelbar bedeutsam. In einer Gesellschaft, in der die Massenmedien Informationen und Neuigkeiten nicht nur verbreiten, sondern auch selbst aktiv herstellen, kommen Menschen in ihrer alltäglichen Orientierung nicht umhin, auf Erfahrungen und Einschätzungen zurückgreifen zu müssen, die andere jenseits des Horizontes für sie gemacht und in entsprechenden Symbolsprachen abgelegt haben. Typisch modern ist die Erfahrung, dass Menschen in ihrer Wahrnehmung häufig fremdgesteuert werden. Fernsehen, Radio und Zeitung kanalisieren nicht nur das Wissen der Menschen über die Welt, sie beeinflussen auch in einer sehr konkreten Weise die Wahrnehmungsschritte und -formen der Weltaneignung. Gefühle der Freiheit und Lebendigkeit stellen sich im Abenteuer- und Risikosport hingegen ein, weil das aktive Eintauchen in die Welt der Primärerfahrungen eine Autonomie über den eigenen Sinnes- und Körpereinsatz beinhaltet. Während der Zuschauer im Fernsehen an die Schnittfolge und die Bildauswahl eines Regisseurs oder Kameramanns gebunden ist, die Welt somit zwar selektiv zur Verfügung steht, aber die Ausschnitte passiv hinzunehmen sind, ist der Abenteuer- und Risikosportakteur sein eigener Regisseur. Sportgeräte und technische Artefakte wie Gleitschirme, Surfbretter oder Mountainbikes dienen ihm als verlängerte und spezialisierte Körperglieder, mit denen er seine Fortbewegung in Raum und Zeit steuern, die eigenen Wahrnehmungs- und Erlebnisprozesse dirigieren und sich selbst und seinen Körper alternativ beobachten kann. Gegen die Marginalisierung und Fremdbeeinflussung der körperlichen Primärerfahrungen in der Organisations- und Mediengesellschaft stellt der Extremsport eine Welt der Eigenerfahrungen, die viele Menschen verzaubert und in ihren Bann schlägt. Die konkreten und selbst erzeugten Körpererfahrungen kontern jene Erlebnisse, die in einer »abstract society« (Zijderveld 1970) ansonsten hinzunehmen sind. Dass Gesellschaftsmitglieder heute verstärkt im Rahmen von Körpertraining auf ihre eigene physisch-organische Umwelt zurückgreifen, um sich in dieser Sphäre zu verorten, macht Sinn, weil der Körper eine real existierende Größe ist, die das Bewusstsein zumindest noch in begrenzten Bahnen bewegen und steuern kann. Der Körper lässt sich zudem mit

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den Eigenheiten der Natur besser akkordieren als mit abstrakten und nichtmateriellen Symbolwelten. Einen Berggipfel können Menschen mit ihrem Körper besteigen, den Berg wissenschaftlicher Wahrheiten haben sie sich kognitiv anzueignen. Die Extremen opponieren in ihrem Handeln gegen eine durch Wörter, Bilder, Schrift und symbolisch generalisierte Medien maßgeblich bestimmte Gesellschaft, indem sie sich bewusst auf Praktiken einlassen, die ein spezifisches Bewusstseins- und Körpererleben hervorrufen und bereits über einfache sinnliche Wahrnehmungsprozesse ansteuerbar sind. Sprache und Bilder, mit denen Menschen sich im Alltag orientieren und durch deren Entschlüsselung und Verstehen sie an der Kommunikation von Gesellschaft teilhaben, können die Komplexität und Vielschichtigkeit körperlich-sensorischer Erfahrungen nur unzureichend einholen: die Gefühle des Tauchens in großer Tiefe, des Skifahrens auf einem steilen Abhang oder des Schwebens mit einem Gleitschirm. Offensichtlich hat die Entstehung einer funktional differenzierten Gesellschaft einen Bedarf an sinnlich orientierten Eigenerfahrungen hervorgerufen, die Menschen gegen die dominante Welt fremdvermittelter Sekundärerlebnisse und Gewissheitsverluste in Anschlag bringen. Im Meer der Kontingenzen, Widersprüche, Parzellierungen und Komplexitäten übernehmen selbstgemachte Körpererfahrungen die Aufgabe, Abstraktion und Körperdistanzierung zu kontern. Menschen profitieren von dieser Hinwendung, weil einfache körperbasierte Wahrnehmungsleistungen ein Sicherheitsfundament erschließen helfen, das allein durch die Teilhabe an symbolisch-abstrakten Zeichensystemen oder virtuellen Realitäten in vergleichbarer Weise nicht herstellbar ist. Es macht einen Unterschied, ob der Einzelne in seinem Wirklichkeitserleben vornehmlich durch eine semiotische Realität, also durch Sprache, Schrift oder Bild, geprägt wird, oder ob er selbst die »Wirklichkeit« im unmittelbaren sensorischen Nahkontakt begreift, wahrnimmt, riecht, hört, exploriert oder betrachtet, und hierbei von real vorhandenen naturalen Elementen umgeben und beeinflusst wird. Hände, Füße, Augen, Ohren und Nase ermöglichen eine Teilhabe an jener realen Realität, den die semiotische Realität durch Abstraktion und Zeichenbildung abzubilden trachtet, aber direkt nie erreichen kann. Eis, auf dem man gleitet oder rutscht, Wasser, in dem man schwimmt oder taucht, Bergwände, an denen man langsam mit den eigenen Händen und Füßen emporklettert, und die Erde, auf der man sich laufend oder gehend fortbewegt, verschaffen Erfahrungen, die sich weder durch eine Buchlektüre noch durch Bilder oder Filme über die diversen Fortbewegungsarten in vergleichbarer Weise vermitteln lassen. Der eigene Körper eröffnet unterschiedliche Formen des Wirklichkeitszugangs: Finger und Hände sind für die Erfassung und Einverleibung der Nähe zuständig, die Augen sind darauf spezialisiert, Ferne wahrzunehmen und ohne direkten Kontakt an der Welt teilzuhaben. Hand, Gehirn und Auge formen, so

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Popitz (1995: 71) in einer vereinfachten Deutung, einen »organisch-technischen Regelkreis«: die Hand arbeitet und verändert die Dingwelt, das Auge steuert den Handeinsatz und das Gehirn vergleicht diesen mit eingespeicherten Zielvorgaben und initiiert Korrekturen. Die Hände wären deshalb, so Popitz, aufgrund ihrer technischen Verwendbarkeit wichtige Bedingungen der Möglichkeit von »Weltoffenheit«. Sie erlaubten, philosophisch-anthropologisch betrachtet, eine Anpassung der Menschen an die Welt durch Veränderung der Welt. Sie stellten nicht nur Kontakte zur Außenwelt her, sondern kanalisierten auch den Zugang zur Innenwelt, wenn beispielsweise die Hände den eigenen Körper berühren. Die im Sport ablaufende Revitalisierung der Sinne profitiert von genau entgegengesetzt ablaufenden Entwicklungen auf dem Niveau der modernen Gesellschaft. Die menschlichen Greif- und Gehorgane haben im Verlauf des Modernisierungsprozesses an Bedeutung verloren.14 Früher von Händen erfüllte Funktionen sind an Apparate delegiert worden. Menschen können mit Hilfe einer entsprechenden Computersoftware Texte schreiben, ohne mit den eigenen Fingern Buchstaben formen zu müssen. Autos werden heute weitgehend von Robotern, mechanischen Kunstkörpern, zusammengeschraubt und -geschweißt. Ärzte diagnostizieren Krankheiten mit Hilfe komplizierter Gerätschaften. Lichtkabel leuchten in Körperhöhlen hinein und verschaffen Einblicke, wo menschliche Augen und Finger auf Distanz bleiben müssen. Und Füße entfallen immer mehr als reine Fortbewegungs- und Distanzüberbrückungsorgane, da Autos, Züge und Flugzeuge für eine weitgehend fußlose Fortbewegung sorgen. Der (Extrem-)Sport rehabilitiert den gesellschaftlichen Bedeutungsverlust der Greif- und Fortbewegungsorgane gerade in jenen Disziplinen, in denen Klettern, Halten, Stoßen, Ziehen, Gehen und Laufen existentiell bedeutsam sind. Menschen, die ihre Hände einsetzen, um die Vertikale zu bewältigen und der Erdanziehungskraft zu widerstehen, oder die ihre Füße bewegen, um den Raum zu überwinden, verschaffen sich eine Gewissheit, die auf sensorischen Eindrücken beruht und ohne ein kommunikatives Verstehen auskommt. Hände und Füße stellen eine unmittelbare Erfahrung her, die Sprache hingegen befreit hiervon (Gebauer 1984: 253). Wahrnehmung bezieht sich vornehmlich auf Anwesendes; Kommunikation hingegen zielt auf Abwesendes, meist in Gestalt von Sprache oder Schrift. Natürlich sammeln Menschen auch sinnliche Erfahrungen in der Arbeitswelt, beispielsweise vor dem Computerbildschirm, und auch ihre Körper sind hierbei nach wie vor bedeutsam. Finger tippen Worte in einen Bildschirmtext hinein oder bewegen einen Joystick, um zu zeichnen und Animationen herzustellen. Auch die Augen sind für koordinative Zwecke am __________________ 14 Die moderne Berührungsangst und den Verlust des Taktilen beschreibt Weyh (1999).

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Bildschirm unerlässlich. Dennoch fällt auf, dass sich die einfache Wahrnehmung im Zeitalter der Technisierung und Automatisierung auf die Wahrnehmung und Handhabung von Knöpfen, Schaltern und Bildschirmen reduziert hat. Vor diesem Hintergrund macht es einen Unterschied, ob die Akteure das Gefühl der Raumdurchquerung auf der zweidimensionalen Fläche eines Bildschirms während eines Computerspiels erleben oder in der Dreidimensionalität des realen Raumes, wenn sie bei einem Mehrfachtriathlon große Distanzen mit dem eigenen Körper schwimmend, laufend und radfahrend überwinden und sich mit Wasser, Luft, Sonne und Erde, Konkurrenten und den Begrenzungen ihrer Körper auseinanderzusetzen haben. Auch die Selbstgefährdung beim Extrembergsteigen oder bei einer mehrwöchigen Hochseeregatta ist real und nicht Teil einer imaginierten Gefährdung, wie man sie im Roman oder Film erleben kann.

ÖKONOMIE DER VERAUSGABUNG Der Abenteuersport gewinnt sein spezifisches Profil durch eine radikale Abwendung von der in modernen Gesellschaften allgemein üblichen Nutzung physischer und psychischer Ressourcen. Der Alltagskörper wird aus dem Kontext seiner lebensweltlichen Normalverwendung und -vertaktung herausgenommen und in einen Risiko- und Leidenskörper transformiert. Entbehrungen zu tolerieren, Einsamkeit, Kälte, aber auch Hunger, Hitze und Durst zu ertragen, zeugt von dem Bestreben, auf erreichte zivilisatorische Standards zumindest zeitweise bewusst verzichten zu wollen. Ermüdung, Schweiß und völlige Verausgabungen sind vormoderne Körperzustände, die erst der exzessiv betriebene Sport wieder mit Sinn ausgestattet hat. Unter dem Damoklesschwert des finalen Scheiterns heben die Extremen die Marginalisierung harter körperlicher Arbeit in der Moderne freiwillig auf. Sie wollen Körperenergie nicht einsparen, sondern demonstrativ vergeuden. Die verschwendete Energie wird zum Gradmesser der Sinnhaftigkeit ihres Tuns. Im Abenteuersport lebt sich nicht eine komfort- und bequemlichkeitsorientierte Genussmentalität aus; der Genuss entsteht vielmehr durch harte Knochenarbeit und eine asketische Komfort- und Bequemlichkeitsabstinenz. Damit wenden sich die Akteure gegen ein Handlungskonzept, das Energieverluste beim Einsatz menschlicher Körper zu vermeiden und Zeitersparnis durch den technisch-mechanischen Transport von Körpern und Dingen zu erreichen trachtet. Die Verausgabungsimperative des Extremsports stellen die in der Gesellschaft gültigen Maßstäbe für einen möglichst effektiven und schonenden Körpereinsatz auf den Kopf.

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Man kann sagen: Höhenbergsteiger, Ultratriathleten, Distanzschwimmer oder Extremskifahrer sind Sozialfiguren, die im Rahmen einer disziplinspezifischen Ökonomie der Verausgabung eine Vermeidung der körperlichen Arbeitsvermeidung durchsetzen, um so einen asketischen Leistungsindividualismus theatralisch zu inszenieren. Die Extremen verfolgen bewusst nur jene Ziele, die sich mit einem hohen physischen und psychischen Aufwand erreichen lassen. Sie sind dadurch in einer spezifischen Weise »unzeitgemäß«. Eine verausgabungsfreie Zielerreichung wäre für sie langweilig und unproduktiv. Erst die physische Energieverschwendung adelt ihr Handeln. In ihrer körperorientierten Verausgabung verfolgen sie die Absicht, Technik als »funktionierende Simplifikation« (Luhmann 1997: 524) zu entsimplifizieren. Die Akteure sprechen das Gebot aus, die im Alltag durch Technik erzielbaren Entlastungseffekte explizit nicht nutzen zu wollen. Komplexität soll nicht »künstlich« reduziert werden; die Subjekte sollen vielmehr die Möglichkeit erhalten, der durch Technik verdrängten Komplexität mit Hilfe eines absorbierenden und energieverschwendenden Körpereinsatzes wieder habhaft zu werden.15 So verzichten Bergsteiger im Rahmen ihrer alternativen Handlungswahl auf vorhandene technische Gerätschaften, etwa eine Bahn oder Gondel, um einen Gipfel zu erreichen. Sie setzen ihre Extremitäten ein und erbringen intensive eigene Körperopfer, um die Höhe in einem langwierigen, gefährlichen und äußerst anstrengenden Verfahren zu erklimmen. Positive Erlebnisse kommen für sie nur dann zustande, wenn dem Erfolgserleben ein körperintensives Handeln vorgeschaltet werden konnte und am Gipfel nur diejenigen auftauchen, die einer ähnlichen Aufwandsökonomie zu folgen bereit waren. Der Kick, von dem Abenteuer- und Extremsportler häufig berichten, speist sich aus der Lust, jenen Institutionen und Organisationen entkommen zu sein, die Macht und Kontrolle auch dadurch ausüben, dass sie menschliches Handeln verpflichtend an reine Kopfarbeit und Körperschonung koppeln. Ein schwitzender, ausgepumpter Körper wäre in vielen Arbeitskontexten dysfunktional, weil er am nächsten Tag seine Aufgaben nicht mehr störungsfrei erbringen könnte. In dem Handeln der zeitgenössischen Abenteuer- und Extremsportler tritt eine Zweck-Mittel-Rationalität zu Tage, die der üblichen Körperverwendung in __________________ 15 Messner (2002: 24) formulierte hierzu: »Es gibt auf unserem ramponierten Planeten kaum noch Freiräume, wo wir unsere Industriegesellschaft vergessen und unsere ureigensten Kräfte und Fähigkeiten erproben können. Und dies ist der eigentliche Grund dafür, daß es für mich keine faszinierendere Herausforderung gibt als die des Menschen vor dem Berg. Ich weigere mich, mir diese Herausforderung durch technische Hilfsmittel verderben zu lassen, worunter ich Sauerstoffgeräte, Bohrhaken, Hubschrauber, kurz, technisches Gerät verstehe, mit dessen Hilfe Unmögliches möglich gemacht werden kann.« Auf den Komfort, die entlegenen Regionen der Erde mit einem Flugzeug zu erreichen, verzichtet Messner allerdings nicht.

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der Moderne konträr gegenübersteht und eine Gegenökonomie eigener Art begründet. Körperliche und psychische Verausgabungen erscheinen nicht als Bedrohung, sondern als Bedingungen der Möglichkeit einer sinnorientierten Lebensführung. Die Verweigerung, den üblichen Nutzungsvorstellungen im Umgang mit dem eigenen Körper zu entsprechen, dient als Bollwerk gegen das Eindringen alltäglicher Gewohnheiten und Verhaltenserwartungen. Schutzmaßnahmen, die Gewerkschaften und Arbeitgeber in außersportlichen Handlungsfeldern installiert haben, um eine Überstrapazierung von Körper und Psyche zu verhindern, sind im Extremsport nicht anzutreffen. Auch die im modernen Alltag ansonsten bedeutsame Trennung zwischen Arbeit und Freizeit entfällt. Abenteuerakteure haben körperlich rund um die Uhr zu schuften, wie man bei den zeitgenössischen Segelabenteuern, Kontinentüberquerungen und Mehrfachtriathlons immer wieder sehen kann. Das »Unvernünftige« des eigenen Tuns bleibt im Abenteuersport selbst nicht unbeobachtet, sondern wird reflexiv für Darstellungen personaler Einzigartigkeit verwendet. Abenteuerhelden stellen sich demonstrativ als Spezialisten für die Zurückweisung und Negation alltagsweltlicher Nützlichkeitsvorstellungen dar. Vernünftig ist derjenige, der sich in Abenteuer und Risiko verausgabt und bisherige Grenzen überschreitet; unvernünftig ist derjenige, der hierauf verzichtet. So wird Fremdreferenz abgewiesen und die eigene Handlungsautonomie begründet. Extremsportler profitieren in ihrer Ökonomie der Verausgabung von der im Alltag institutionalisierten Körpermodellierung und -kontrolle. Sie prägen körperorientierte Handlungsformen in einer Gesellschaft aus, die den Rationalitätsbegriff im Bereich von Arbeit, Lernen, Kommunikation und Fortbewegung weitgehend körperfern festgelegt hat. Menschen bringen sich im Extremsport bewusst in Situationen hinein, in denen sie sich selbst und anderen demonstrieren können, dass der Zugriff auf den eigenen Körper über allgemein übliche Grenzen weit hinausgeschoben werden kann – mit und auch gegen vorhandene Naturgesetze. Sie wenden sich damit nicht nur gegen die Genuss-, Spaß- und Wohlfühlverwendung des Körpers im Alltag, sondern auch gegen gängige Gesundheitskonzepte. Gesundheit ist in der modernen Gesellschaft ein »unumstrittener Höchstwert; ja wohl der einzige Höchstwert, der außerhalb aller ideologischen Kontroversen steht« (Luhmann 1983: 42). Diesem »Höchstwert« widersetzen sich die Risikosportler demonstrativ. Wer gesund bleiben will, geht keine lebensgefährlichen Risiken ein. Extremsportler gefährden ihre Gesundheit vielmehr, denn so können sie auf Distanz zum Üblichen gehen und sich selbst Signale der eigenen Besonderheit und Andersartigkeit sowie der Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns geben. Die Extremen wollen Differenz, und nicht eine Gleichheit im Reich der sozialen Absicherung und Gesundheit. Für sie fängt die Sinngebung dort an, wo die Gesundheits- und Wohlfahrtsorientierung aufhört.

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Im Gegensatz zum Gesundheitssport thematisieren Abenteuer- und Risikosportler ihre Körper nicht protektiv oder rehabilitativ, sondern setzen sie bewusst aufs Spiel und konfrontieren sie mit bisweilen lebensgefährlichen Herausforderungen. Es geht nicht um Lebensverlängerung, die behutsame Wiederherstellung von Gesundheit, die Beseitigung einer physisch-organischen Störung, sondern um Risikobewältigung, Eroberung und Erfolg mit Hilfe der eigenen Körperkompetenz. Ein Körper, der sich dieser Aufgabe widersetzt, nicht risiko- und gefahrentauglich ist, hat in diesem Handlungsfeld nichts zu suchen. Wo Menschen ihren Willen zur Selbstermächtigung durch Selbstgefährdung erkaufen, wird die dem Körper im Alltag beigemessene Bedeutung ins Gegenteil verkehrt. Der Körper ist im wahrsten Sinne des Wortes »extrem« wichtig. Auf seine Signale nicht zu hören, hätte fatale Konsequenzen; ihn allerdings zu schonen, hintertriebe die Ziele des Abenteuerprojekts. In einer Gesellschaft, die bereits weit im Medikalisierungsprozess fortgeschritten ist und in der Menschen ihre Schmerzen und Befindlichkeitsstörungen mit Hilfe chemischer Substanzen betäuben und verdrängen, bietet der Extremsport ein alternatives Körpererleben. In den ausdauerorientierten Praktiken, die sich über Tage, Wochen oder Monate hinziehen, feiert der homo dolens, der leidende, gegen die Widrigkeiten der Natur ankämpfende und sein Tun mit Blut, Schweiß, Tränen, Erfrierungen, Schlafentzug, Atemnot, Blasen, Hunger und Durst bezahlende Mensch seine moderne Wiederkehr. Das Erscheinungsbild des abgehärmten, ausgepumpten, dehydrierten und vorzeitig gealterten Akteurs ist symptomatisch für jene Betätigungen, in denen der Körper über längere Zeit mit extremen Belastungen und Prüfungen traktiert wird. Das tief zerfurchte Gesicht, der langsame Schritt und der völlig erschöpfte Körper zeugen von gerade überstandenen Gefahren und Strapazen und dem Preis, der zu bezahlen ist, wenn sich Menschen freiwillig der Kontingenz der Natur aussetzen und den Routinen des Alltags und den dort stattfindenden Zurichtungen zu entgehen versuchen.16 Die Idee des selbstauferlegten Martyriums ist ein wichtiger Bestandteil dieser Praktiken. Schmerzen werden nicht als Negativbotschaften wahrgenommen, die es in jedem Fall zu vermeiden gilt; sie sind vielmehr kalkulierte Bestandteile eines spezifischen Körperprogramms, das in scharfem Kontrast zur Anstrengungsvermeidung in der Restgesellschaft steht. Höhenbergsteiger, Ultramarathonläufer, Extremradfahrer und Langstreckenschwimmer sind Inkarnationen freiwilligen Leidens, die sich in ihrem ausgemergelten Erscheinungsbild demonstrativ gegen die »Verweichlichung« des modernen Subjekts wenden. Anstrengungen und Entbehrungen sind in dieser Handlungslogik positiv be__________________ 16 Man denke nur an das Erscheinungsbild des Extrembergsteigers Hermann Buhl nach dessen Erstbesteigung des Nanga Parbat.

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setzt, weil sie in einer Zeit der körperlichen Anstrengungsminimierung und Leidensvermeidung knappe und außeralltägliche Erlebnishorizonte eröffnen und für Distinktionszwecke nutzbar sind. Indem die individuellen Akteure sich im Abenteuer- und Extremsport bewusst körperlich und psychisch verausgaben, können sie sich als individuelle Besonderheiten in Szene setzen und Identitätsarbeit ableisten. In der Ökonomie der Verausgabung geht es somit auch um Abgrenzung und Macht. Triebe und Begierden werden dem eigenen Willen nicht nur deshalb unterworfen, um sich selbst zu disziplinieren und neue Erfahrungen zu sammeln, sondern auch um andere durch gezeigte Selbstdisziplinierung zu beeindrucken. In einer Gesellschaft, in der viele Menschen an dem Überangebot der Warenwelt teilhaben können und konsumatorische Lebensstile weit verbreitet sind, werden Verausgabung und Askese zu einer scharfen Waffe im Reich der sozialen Distinktion. Extremsportler erscheinen in diesem Lichte als Übererfüller sozialer Verzichtserwartungen, die ihre alternative Körperökonomie mit Hilfe der Medien zelebrieren und theatralisch darstellen. Dies zeigt sich auch im Umgang mit den physischen Konsequenzen riskanten Handelns. Der verletzte Körper – etwa in Gestalt abgefrorener Finger und amputierter Zehen – verleiht dem Abenteurer eine Aura des Authentischen, Ehrlichen und Hingebungsbereiten. In einer Gesellschaft, in der ansonsten viele Menschen mit Hilfe der Schönheitsindustrie eine glatte, straffe und unverletzte Haut, also ein makelloses Äußeres, anstreben, kommt Verletzungen und Blessuren als den sichtbaren Folgen der Risikoübernahme ein hoher Distinktionswert zu. Wenn bereits leichte Schmerzen zu einem Arztbesuch führen, kann derjenige, der Schmerzen infolge von Verletzungen und Abenteuerschäden standhaft erträgt, ja sogar die Situationen, in denen sie verursacht wurden, freiwillig aufsuchte, als etwas Besonderes erscheinen. Wenn das Abenteuer sich gewissermaßen in die Haut und in das Körpergebäude hineingegraben hat, werden die Träger dieser Zeichen hierfür entsprechend bestaunt und verehrt. Körperliche Versehrtheit als Resultat eingegangener Risiken wird nicht wehleidig wahrgenommen, sondern als Preis akzeptiert, der für ein bestimmtes riskantes Projekt zu erbringen war. In schlagender Weise zeigen Schmerzen, Verletzungen und Blessuren, dass der Einzelne bereit und willens war, für die Umsetzung seines alternativen Erlebnisprogramms ein entsprechendes Opfer zu erbringen. Nicht wenige Abenteuersportler haben einen Märtyrerstatus erreichen können, weil sie ihr Leben einer Sache widmeten und bereit waren, sich dem Außeralltäglichen vollends hinzugeben. Man denke nur an die vielen Extremen, denen im kollektiven Gedächtnis ein entsprechender Platz reserviert wurde, weil sie im Abenteuer verlorengingen und nicht zurückkamen. Soziologisch interessant und gesellschaftlich relevant sind nicht nur das Abenteuer- und Risikohandeln der Extremen sowie deren Körperpraktiken im

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Rahmen einer Ökonomie der Verausgabung und demonstrativen Energieverschwendung. Ebenso wichtig ist der gesellschaftliche Folgediskurs hierüber. Der moderne Abenteuer- und Risikosport erlaubt nämlich eine Inklusion derjenigen, die an der Abenteuerwelt nur passiv teilhaben können oder wollen. Voraussetzung hierfür ist, dass über die Sinnsuche der Risikoakteure in der Sphäre des Nicht-Sinnhaften sprach-, schreib- und bildmäßig kommuniziert wird. Indem Extrembergsteiger, Survival-Spezialisten, Wüstenläufer, Taucher oder Langstreckensegler mit Hilfe der Medien Bilder und Filme ihrer Taten erzeugen und über ihre Empfindungen und Motive reden und schreiben, können sie auch jene an ihren Erlebnissen teilhaben lassen, die ansonsten risikoaversiv leben und sich vergleichbare Situationen der Selbstgefährdung und des Leidens nicht zumuten. Quantitativ ist der letztgenannte Aspekt sogar bedeutsamer, denn die allerwenigsten Zeitgenossen sind darauf erpicht, selbst Risiken einzugehen und Verausgabungen in ihrer Freizeit durchzuführen. Die modernen Sportabenteurer, Eroberer und Entdecker machen mit ihrer Differenzorientierung insofern auch Erfahrungen, die für ein Erleben aus zweiter Hand gut sind. Extremsportliche Grenzgänger sind mit ihrer alternativen Körperökonomie soziale Figuren, die stellvertretend für die anderen ein wildes, riskantes, entbehrungsreiches, aber auch intensives Leben führen. In einer Gesellschaft, in der Organisationen Risiken zu entschärfen und Erwartungssicherheit durch strukturelle Vorkehrungen herzustellen trachten, erscheinen Risiko- und Extremsportler ihren Mitmenschen als real existierende Chiffren einer verdrängten Welt, in der das wilde und extreme Sein noch seinen Platz hat. Abenteuerakteure haben in nicht wenigen Fällen einen Heldenstatus erreichen können, weil sie sich durch das Erbringen außeralltäglicher Leistungen und das demonstrative Vorführen einer alternativen Körperökonomie als Spezialisten für die Wiederkehr gesellschaftlich verdrängter Sinndimensionen installieren konnten. Sie sind Sozialfiguren, die das Verdrängte repräsentieren und personalisieren, und damit beobachtbar machen. Leute wie Reinhold Messner, Arved Fuchs und Rüdiger Nehberg, und die vielen anderen Wüstenläufer, Weltumsegler, Ballonfahrer, Extremradfahrer, Drachenflieger oder Höhenbergsteiger speisen durch ihr Handeln Themen in die öffentliche Kommunikation ein, die von einer Welt jenseits der Routine, Risikominimierung, Körperverdrängung und Abstraktion berichten. Diese Inklusion des Exkludierten funktioniert, weil moderne Übertragungstechniken das jenseits des Horizontes angesiedelte Abenteuer- und Risikohandeln sozial verfügbar machen. Zudem helfen aus dem Ideenfundus der Kultur- und Gesellschaftskritik ausgeschleuste Legitimationsrhetoriken dabei, die Sinnhaftigkeit des Handelns nach innen und außen entsprechend zu plausibilisieren. Erhellend ist, dass viele Abenteuer- und Extremsportler ihr Leben als Anti-Geschichten erzählen, als Opposition gegen Erscheinungsweisen der modernen Gesellschaft: gegen die

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Entmündigung des Einzelnen durch den Wohlfahrtsstaat, die Langeweile und Routine des modernen Alltags, die fehlenden Herausforderungen in der Freizeit und die Verdrängung ursprünglicher und authentischer Erfahrungen in einer maßgeblich durch Technik bestimmten Gesellschaft. Abenteurer und Risikohelden halten das Exkludierte präsent, indem sie es in ausgewählten Projekten episodenhaft inszenieren und theatralisch überhöhen und ausleben. Sie haben deshalb eine erstaunliche Omnipräsenz im gesellschaftlichen Kommunikationspanorama erreichen können. In einer differenzierten Gesellschaft ist der Abenteuer- und Risikosport mit seiner alternativen Körperökonomie und Handlungswahl zu einem polykontexturalen Thema geworden: Die Wirtschaft bedient sich riskanter Abenteuerpraktiken, um in Werbebotschaften auf bestimmte Produkte und Lebensstile hinzuweisen. Man denke nur an die Expansion der Firma Red Bull, die über die Förderung und mediale Darstellung von Risiko- und Extremsportlern im Rahmen eigener Events den Einstieg in den Wettkampfsport (Fußball und Formel 1) fand. Die Politik spannt Abenteuer- und Extremsportler ein, um nach innen Massenloyalität zu erzeugen und nationale Repräsentanz nach außen zu ermöglichen. Man denke nur an den Wettlauf der Nationen, um die Pole zu erreichen, die tiefsten Meere zu ertauchen oder die höchsten Berge zu besteigen. Da sich extreme Betätigungen personalisieren lassen, zudem spannend und interessant sind, permanente Neuigkeiten produzieren und eine starke Nachfrage erzeugen, berichten die Massenmedien in aller Regelmäßigkeit über alte und neue Risikobewältigungsversuche. Inzwischen sind gerade die privaten Fernsehanstalten dazu übergegangen, ein Abenteuermanagement durchzuführen. Sie informieren nicht mehr nur über Abenteuerereignisse, die auch ohne sie passiert wären, sondern inszenieren Abenteuer- und Risikoepisoden in eigener Regie. Fernsehsender oder Zeitungen organisieren zusammen mit Wirtschaftssponsoren Extremsportvergleiche als Events für ein breites Medienpublikum in Gestalt von Rallyes, Wüstenmarathons, Surf- und Flugwettbewerben, Rocky-Mountain-Überquerungen und Kontinentumrundungen, oder sie unterstützen die Abenteuertouren bekannter »Grenzgänger«. Menschen werden unter der Beobachtung von Fernsehkameras auf einsamen Inseln ausgesetzt, um im Rahmen moderner Robinsonaden riskante Aufgaben zu bewältigen. Oder man bringt prominente Zeitgenossen dazu, in einem Wüsten- oder Dschungelsetting strapaziöse Abenteuerwettkämpfe und Trekkingtouren durchzuführen. Die Massenmedien bedienen damit systematisch die Ausbruchsphantasien und voyeuristischen Bedürfnisse eines Publikums, das selbst nicht auszubrechen bereit oder fähig ist, und offerieren eine Ikonografie der Flucht und Selbstermächtigung: dramatische Bilder und Geschichten von Situationen, in denen es ums Ganze, um Leben und Tod, geht, in

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denen spektakuläre Erfolge winken, aber auch dramatische Niederlagen passieren können.

ABENTEUERSPORT ALS MODERNITÄTSSYNTHESE Anschlussfähig ist der Abenteuer- und Risikosport in der Gegenwartsgesellschaft auch deshalb, weil in ihm Momente der »ersten« und »zweiten Moderne« (Beck 1986) aufeinandertreffen und sich miteinander in einer bemerkenswerten Weise verbinden.17 Die »erste Moderne« ist die sich durchsetzende Moderne – also diejenige Moderne, die vormoderne Sozialverhältnisse Schritt für Schritt beseitigte und ersetzte, dem Prozess der funktionalen Differenzierung zum Durchbruch verhalf und das Verhältnis von Mensch und Gesellschaft in einer spezifischen Weise neu modellierte. Die »erste Moderne« führte zu einer Distanzierung zwischen Mensch und Natur, verdrängte und zähmte den wilden Körper, löste multifunktionale, diffus miteinander verbundene Sozialgebilde auf, ersetzte diese durch selbstreferentielle, ihrer eigenen Logik folgende Sozialbereiche, dämpfte den Affekthaushalt der Menschen, entzauberte deren Erleben, ließ Arbeitsorganisationen und Bürokratien entstehen und erzeugte sowohl Stress als auch Gefühle der Monotonie und Langeweile in den Köpfen ihrer Mitglieder. Vor allem installierte sie das Leistungsprinzip, um knappe soziale Positionen jenseits von Geburt, Herkunft und Religionszugehörigkeit zu verteilen. Die »zweite Moderne« reagiert auf die Resultate der »ersten«, deren Folgeprobleme sie thematisiert und bearbeitet. Sie ruft eine neue Sensibilität bezüglich des Verhältnisses von Mensch und Natur hervor, lässt wilde Körperlichkeit selektiv und episodenhaft wieder zu, führt zu einer Wiederentdeckung verdrängter Räumlichkeit und Zeitlichkeit, regt Versuche der Selbstermächtigung in der Organisationsgesellschaft an und führt in Gestalt der Soziologie zu einem Nachdenken über die Bedingungen und Konsequenzen der »ersten« und »zweiten Moderne«. Das Verhältnis der beiden Modernen ist nicht als ein striktes Nebeneinander oder Nacheinander gemeint. In denjenigen Gesellschaftsbereichen, wo die »erste Moderne« sich besonders früh durchsetzte, begann auch die »zweite Moderne« entsprechend früh, während in anderen Handlungsfeldern noch nicht einmal die »erste Moderne« angefangen hat. __________________ 17 Zur Anwendung dieser Denkfigur auf den eventorientierten Zuschauersport siehe die Analyse von Bette/Schimank (2000b: 316ff.).

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Diese generellen Überlegungen zur Bedeutung der »ersten« und »zweiten Moderne« lassen sich direkt auf unser Thema beziehen: Der Extremsport hat einen Gegen- und einen Entsprechungscharakter zu Ausprägungen der modernen Gesellschaft entwickelt. Er ist zugleich Negation und Bejahung von Modernität. Er ist einerseits modern, weil er, im wahrsten Sinne des Wortes, »extrem« leistungsorientiert ist und mit Hilfe von Medien, Technik und all den Errungenschaften der modernen Zivilisation stattfindet: mit Goretex-Kleidung, GPS-Ortung, wissenschaftlichen Wetterprognosen und Satellitentelefon. Andererseits ist der Abenteuer- und Extremsport aber auch eine theatralische Gegeninszenierung, die Erscheinungsformen und Konsequenzen der »ersten« Moderne hinterfragt und kritisiert. Auf dieser Grundlage zielt die Programmatik dieses Sportmodells darauf ab, Exkludiertes unter neuen Bedingungen zu inkludieren und Unterkomplexität, Resubjektivierung, Körpereinsatz, Raum- und Gegenwartserfahrung sowie ein Kontingenzerleben wiederzubeleben. Da die gegenstrukturelle Ausrichtung des Abenteuer- und Extremsports nicht jenseits, sondern innerhalb der modernen Gesellschaft stattfindet, ist es erwartbar, dass in diesem Handlungsfeld Widersprüche und Paradoxien entstehen, welche die dort handelnden Personen und Organisationen unter Druck setzen und zu bestimmten Reaktionen veranlassen. Hierfür lassen sich viele Beispiele finden: Extremsportler bejahen die Errungenschaften der Moderne, wenn sie auf Transportmittel zurückgreifen, um die Sonderräume des Abenteuers und Risikos zu erreichen. Sie benutzen Flugzeuge und Autos, frieren ihre Körper in Sitzpositionen ein, um anschließend in den entferntesten Winkeln dieser Erde körperorientiert klettern, surfen oder laufen zu können. Andere schonen sich mit technischer Hilfe, um sich später physisch und psychisch völlig zu verausgaben. Die Gleichzeitigkeit von »erster« und »zweiter Moderne« schlägt sich auf der personalen Ebene in einer Ambivalenz von Sicherheits- und Risikobedürfnis nieder. Auch die Helden der Berge, Ozeane und Wüsten, die höchste Risiken eingehen und sich in Büchern und Filmen über den Sicherheitsfetischismus ihrer Zeitgenossen und deren »Verweichlichung« und Wohlfahrtsorientierung auslassen, versichern ihre Häuser gegen Sturm und Hagel und sorgen für ihr Alter vor. Menschen nehmen in der »zweiten Moderne« nicht nur reflexiv die eher problematischen Konsequenzen des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses wahr; sie nutzen vielmehr auch die Möglichkeiten, die sich infolge der Durchsetzung der industriell-kapitalistischen Moderne eröffnet haben: den materiellen Wohlstand, die bezahlte Freizeit, die Optionenvielfalt des Entscheidens und das hohe Maß an Technisierung von Transport und Kommunikation. Der zeitgenössische Abenteuer- und Extremsportler erscheint angesichts dessen als ein sozialer Hybrid, der sowohl die Errungenschaften der Moderne selbstbewusst nutzt als auch in Protestposen gegen die Moderne agitiert.

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Das Zusammentreffen von »erster« und »zweiter Moderne« hat auch in organisatorischer Hinsicht Konsequenzen hervorgerufen: Die Reaktionen gegen die Auswirkungen der modernen Gesellschaft, gegen Routinisierung, Vereinnahmung und Fremdsteuerung durch Organisationen sind in der Zwischenzeit selbst in die Programmatik korporativer Akteure eingegangen. Spezialorganisationen begleiten und ermöglichen heute die Risikoaktionen und Selbstermächtigungsbestrebungen individueller Akteure. Der zeitgenössische Abenteuer- und Extremsport ist damit Teil jener »reaktiven Korporatisierungs«Sphäre (Schimank 2001b: 284) geworden, die in der modernen Gesellschaft – auch außerhalb des Sports – als Reaktion auf die Dominanz von anonymen, intransparenten und entfremdenden organisatorischen Großinstitutionen entstanden ist. Wie sehr die gegenwärtige Abenteuer- und Risikoszene bereits durch Versuche der Entparadoxierung geprägt ist und mit ihren Widersprüchen und Ambivalenzen kämpft, zeigt sich in folgender Hinsicht: Wenn Organisationen den Abenteuer- und Risikosport entdecken und im Rahmen der modernen Erlebnis- und Eventindustrie zu veralltäglichen suchen, bleibt dies nicht ohne Konsequenzen. Der einzelne distinktionsorientierte Akteur wird, um diese widersprüchliche Situation für sich zu lösen, in eine Spirale der Abweichung hineingetrieben. Der moderne Abenteuersport gewinnt seine gegenwärtige Dynamik deshalb, wie es scheint, durch Abweichungsverstärkung. Menschen versuchen der »Paradoxie der Individualität« (Bette 1999: 171ff.) durch Leistung, Risikosampling, Extremisierung, exaltierte Selbstdarstellung und Skurrilität zu entgehen. Wer die Vertikale bereits ausgelotet und dort seine Erstbesteigungsmarkierungen hinterlassen hat, kann, falls andere nachgezogen haben, die Horizontale entdecken. Im Zeitalter der »technischen Reproduzierbarkeit« des Abenteuers sind Extremsportsituationen immer wieder neu zu definieren und zu inszenieren, um Originalität zu beweisen. Wenn die Gefahr besteht, dass die Individualisierungsbestrebungen der anderen mit organisatorischer Unterstützung den einzelnen Abenteuer- und Risikohelden einholen, hilft nur ein weiteres Andrehen der Risikospirale. Das Extreme muss durch das noch Extremere übertrumpft werden. Eine Wiedereinführung der Abweichung in die Differenz von Abweichung und Konformität kann dem Subjekt zumindest kurzzeitig das Gefühl verschaffen, ein einzigartiges Individuum zu sein. Anders zu sein als die anderen stößt allerdings spätestens dann in der individuellen Biografie auf Grenzen, wenn der eigene Körper die Risikopraktiken nicht mehr mitmacht. Als Reinhold Messner aufgrund von Verletzungen und Alterungsprozessen nicht mehr in der Lage war, bestimmte bergsteigerische Freikletter-Routen durchzuführen und Jüngere ihn auf diesem Gebiet bereits überflügelt hatten, flüchtete er sich in alternative Praktiken: Er ging in die extreme Höhe, verzichtete auf Technik und Sauerstoff, betrieb anschließend eine Quantifizierung des Abenteuers, indem er alle Achttausender

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dieser Erde bestieg und entdeckte dann die Horizontale der Eis- und Wüstenregionen. Gegenwärtig überzieht er die Alpen in einem Akt der Selbstsakralisierung mit Museen, die seinen Namen tragen. Abenteurer und Extremsportler drohen aus diesem Grunde in Posen zu erstarren, die für Außenseiter in der modernen Gesellschaft verfügbar gehalten werden. Extrembergsteiger, Survivalspezialisten, Ultramarathonläufer oder Polarüberquerer sind funktionale Äquivalente zu jenen Sozialfiguren, die in außersportlichen Bereichen als Protestavantgarde reüssierten, aber mit ihrer demonstrativen Randständigkeit, Außeralltäglichkeit und Opposition schon längst ihren Platz in der Gesellschaft gefunden haben. Den »Grenzgängern« fällt es unter diesen Bedingungen schwer, die Originale zu bleiben, die sie zu sein behaupten. Der moderne Abenteuer- und Risikosportler ist mit seinen Körperpraktiken und Autonomiebestrebungen unter diesen Bedingungen zu einer paradoxen Figur geworden: Wenn er vom Mittelmaß, Risikoaversiven, Körperdistanzierten und Langweiligen in der Restgesellschaft abweicht und sich in künstlichen oder natürlichen Situationen aufs Spiel setzt, tut er letztlich nur das, was aufgrund seiner vorausgegangenen und sozial beobachteten Selbstfestlegung in der Zwischenzeit von ihm erwartet wird. Entgegen ihrem auf radikale Freiheit, Autonomie und Abweichung ausgerichteten Selbstbild sind Extremsportler Akteure, die mit den ihnen gegenüber artikulierten Erwartungen konform gehen: nämlich Freiheit und Autonomie anzustreben, das Riskante zu wagen, den Körper bis an die Grenze des Machbaren zu belasten und Kopf und Kragen zu riskieren, um »einzigartige« Projekte durchzuführen, und all dies körperlich-performativ auch für andere zu inszenieren.

5 Kollektive Personalisierung im Dopingdiskurs

Das Dopingthema ist in den letzten Jahren zu einem festen Bestandteil der Kommunikation über den Sport geworden. Wurden spitzensportliche Ereignisse lange Zeit nahezu ausschließlich harmonistisch dargestellt und kommentiert,18 gehören Meldungen über Normverstöße heute zur tagtäglichen Routine der Sportberichterstattung. Angesichts der hohen Skandalfrequenz könnte man fast schon von einer allmählichen Verflüchtigung dopingfreier Sportdiskurse reden. Selbst dort, wo nicht über Blut-, Urin- oder Zahnpastapraktiken gesprochen wird, ist Doping in Gestalt von Pauschalunterstellungen dauerhaft im öffentlichen und privaten Reden über Sport präsent – mit der Konsequenz, dass jede hochstehende Leistung es sich heute gefallen lassen muss, automatisch unter Dopingverdacht gestellt zu werden. Die Zukunft des Spitzensports wird deshalb von nicht wenigen als problematisch wahrgenommen. Eine starke Verunsicherung hat sich breit gemacht, wohin der Weg dieses gesellschaftlichen Teilsystems und seiner Akteure führen wird. Die Ernüchterung über die gegenwärtige Situation speist sich dabei nicht nur aus der Beobachtung der alltäglich gewordenen Dopingvergehen, sondern ist das Ergebnis einer Reihe übergeordneter und untereinander zusammenhängender Desillusionierungen. Den Verbänden ist es, erstens, bislang nicht gelungen, Doping mit eigenen Bordmitteln entscheidend zu bekämpfen. Die Alleingänge einzelner Verbände in der Dopingbekämpfung werden national und international immer wieder unterlaufen und boykottiert. Wenn überhaupt einmal Fortschritte zu verzeichnen sind, dann scheinen sie im Modus mittelalterlicher __________________ 18 Im Sport der 1950er und 1960er Jahre waren es vornehmlich Verstöße gegen den Amateurparagrafen, die von Sportjournalisten mit kritischem Unterton berichtet wurden.

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Springprozessionen zu erfolgen: zwei Schritte vor, einer zurück, und zwischendurch lange Phasen der Problemleugnung, des Nichthandelns und der klammheimlichen Nutzung der »brauchbaren Illegalität« des Dopings.19 Ernüchternd wirkt, zweitens, dass Medizin und Pharmakologie – aus welchen Gründen auch immer – bislang keine Verfahren entwickelt haben, um jedwede Dopinganwendung treffsicher und justitiabel nachzuweisen. Clevere Athleten mit einem entsprechend motivierten, ausgerüsteten und vernetzten Umfeld können nach wie vor bestimmte Medikamente verwenden, ohne Entdeckung befürchten zu müssen. Deutungsangebote, die Doping als das Ergebnis einer bestimmten sozialen Konstellation ausweisen und damit auf die strukturelle Bedingtheit der Abweichung abzielen, werden, drittens, systematisch ausgeblendet und ignoriert. Sowohl der organisierte Sport als auch die an der Problemerzeugung mitbeteiligten Akteure aus Wirtschaft, Politik und Massenmedien waschen die eigenen Hände in Unschuld. Und auch viele Sportzuschauer meinen offensichtlich, dass sie mit den Dopingpraktiken nichts zu tun hätten. Diese systematische Verleugnung der eigenen Mitbeteiligung reizt zur Reflexion, nicht um moralisierende Vorwürfe zu erheben, sondern um strukturelle Lernblockaden und Beobachtungsdefizite auf den Begriff zu bringen. Die Schwierigkeiten der Dopingbekämpfung haben nicht nur mit den zweifellos vorhandenen finanziellen, rechtlichen und logistischen Grenzen der Dopingbekämpfung zu tun. Sie sind vielmehr auch – so meine Hauptthese – das Resultat einer personalisierenden Situationsdefinition, die den öffentlichen Dopingdiskurs hartnäckig und kontrafaktisch dominiert. Trotz flächendeckender Normverstöße wird Doping nach wie vor und nahezu ausschließlich dem Fehlverhalten einzelner Menschen zugeschrieben. Diese gefährlich vereinfachende Realitätskonstruktion existiert nicht zufällig, sondern ist als das Ergebnis einer strukturellen Koppelung anzusehen, die sich innerhalb der modernen Gesellschaft im Umgang mit der Dopingproblematik ergeben hat. Wenn nicht nur der organisierte Sport Doping auf individuelles Fehlverhalten reduziert, sondern alle relevanten Bezugsgruppen aus den unterschiedlichsten Gründen ins gleiche Horn stoßen, können sich Deutungsschemata festsetzen, die eine Problemlösung nicht nur erschweren, sondern eventuell sogar verhindern. Die vieldiskutierte Krise des Spitzensports ist, wie es scheint, auch eine Konsequenz des personalistischen Umgangs mit der Krise. Um diese Denkfigur zu entwickeln, sollen im Folgenden all jene Sozialbereiche thematisiert werden, die maßgeblich an der kollektiven Personalisierung des Dopingproblems beteiligt sind. Der erste Abschnitt dieses Kapitels spricht die im Sport selbst stattfindende Betonung von Körper und Person an und stellt __________________ 19 Man denke nur an das Verhalten des IOC bei der Konstitution der Welt-Anti-DopingAgentur (WADA) in Lausanne im Januar 2000.

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den subjektorientierten Umgang der Sportverbände mit Devianz vor. Der zweite Abschnitt beschäftigt sich mit den Massenmedien, insbesondere mit dem Fernsehen, und leitet die dort übliche Personalisierungs- und Attributionspraxis aus der Notwendigkeit eines Mediums ab, Neuigkeiten in aufmerksamkeitsträchtige Bilder übersetzen zu müssen und Analyse nur dann zulassen zu können, wenn diese schnell verständlich, gering abstrakt und quotenträchtig ausfällt. Der dritte Abschnitt behandelt die Subjektkonstrukte weiterer Umfeldakteure, die in der gegenwärtigen Dopingdebatte involviert sind, nämlich den »homo juridicus« des Rechtssystems und das Autonomiekonzept der zeitgenössischen Pädagogik. Der vierte Abschnitt zählt Konsequenzen auf, die sich aus der allgemeinen Personalisierung des Dopings bereits ergeben haben. Und der letzte Abschnitt plädiert für die Umstellung der Analyse von Personalisierung auf Struktur und skizziert damit das soziologische Erkenntnisprogramm.

PERSONALISIERUNG IM SPITZENSPORT Die große Resonanz, die der Sport seit Mitte des 19. Jahrhunderts erzeugen konnte, hat mit seiner Fähigkeit zu tun, den problematischen Konsequenzen gesellschaftlicher Modernisierung eine Sphäre des körperlich Konkreten und sinnlich Nachvollziehbaren entgegenzusetzen. Gegen die Abstraktion der heutigen Welt bringt der Sport reale Personen ins Spiel. Wenn Leichtathleten die Bahn umrunden oder Fußballer mit hohem Körpereinsatz dem Ball nachjagen, steht der Faktor Mensch im Zentrum des Geschehens. Neben den Erlebnisofferten und Gefühlsintensitäten, die der Sport denjenigen anbietet, die ihn betreiben, macht er, und dies ist auch wichtig, Menschen in öffentlich beobachtbaren Situationen sozial sichtbar. Eine bestimmte Anzahl von Akteuren tritt in einem fixierten kurzen Zeitraum an einem überschaubaren Ort gegeneinander an, um in einem ergebnisoffenen Konflikt die Entscheidung zwischen Sieg oder Niederlage herbeizuführen. Die hierbei erbrachten Leistungen werden Personen zugeschrieben und im Rahmen von Belobigungsritualen coram publico prämiert. Dadurch wird sowohl den Athleten als auch dem Sportpublikum in einer leicht nachvollziehbaren Weise gezeigt, dass der einzelne Mensch noch in der Lage ist, im richtigen Moment den alles entscheidenden Unterschied zu machen. Der Nichtigkeitserfahrung des Einzelnen in der modernen

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Organisationsgesellschaft setzt der Sport die Idee von der Autonomie des Subjekts durch Leistungsindividualisierung entgegen.20 Die Konkurrenzkonstellation des Wettkampfes bietet die Gelegenheit, dass Sportler über sich hinauszuwachsen und Alltäglichkeit in Außeralltäglichkeit und Einzigartigkeit transformieren. Dies hat den Spitzensport in besonderer Weise heldenfähig gemacht (Bette/Schimank 1995a: 62ff.). Die demonstrative Fixierung des Sports auf Personen und deren Leistung erzeugt dann allerdings auch den Eindruck, dass nur einzelne Menschen in diesem Sozialbereich bedeutsam wären, selbst wenn sie in Gruppen auftreten. Für die Bearbeitung von Dopingvergehen hat dieser sporttypische Zugriff auf Körper und Person erhebliche Konsequenzen: Eben weil die Sportorganisationen darauf spezialisiert sind, Subjektivierungsarbeit zu leisten, fällt es ihnen leicht, in analoger Weise auch Normverstöße zu personalisieren und damit zu singularisieren. Eine Singularisierung abweichenden Verhaltens findet statt, wenn komplexe Zusammenhänge aufgelöst, als Einzelfälle behandelt und nicht in einen übergeordneten Kontext eingeordnet werden. Warum sollte ein Fachverband auch darauf verzichten, Fehlverhalten zu individualisieren, wenn er gleichzeitig hochstehende sportliche Leistung durchaus künstlich auf die Fähigkeit einzelner Subjekte reduziert. Nach bekannt gewordenen Dopingfällen weisen Sportfunktionäre inzwischen schon routinemäßig darauf hin, dass der Regelverstoß ausschließlich der Motivation des abweichenden Sportlers zuzurechnen sei. Gegebenenfalls verweist man auf den schlechten Einfluss einzelner Trainer und Betreuer und sucht nach den Hintermännern, die die Abweichung möglich machen. Aber auch dies ist nur eine Personalisierung anderer Art. Wenn die Verbände abweichendes Verhalten an individuellen Akteuren festmachen, unternehmen sie eine Reihe von Markierungsmaßnahmen: Sie bezeichnen den Ursprung einer Handlung, definieren ein Subjekt oder Individuum, dem sie die Handlung zurechnen, und bewerten sowohl Handlung als auch Handlungsträger im Lichte der eigenen offiziellen Regeln. Es ist in der Tat bemerkenswert, wie die Verbände Doping in Einzelfälle kategorisieren, ohne Zusammenhänge zu sehen und Auslösefaktoren mitzuthematisieren. Der soziale Kontext individuellen Handelns wird hartnäckig und systematisch unterschlagen oder höchstens im Lichte naiver Alltagstheorien gespiegelt. So schwadroniert man in den Verbänden routinemäßig mit Krankheits- und Tiermetaphern über die »Seuche«, das »Krebsgeschwür« oder die »Krake« des Dopings, lamentiert moralisierend über den »Werteverfall in unserer Gesellschaft« und bezeichnet die Devianten zumindest in den offiziellen Fensterreden __________________ 20 Dies gilt selbst dort, wo Mannschaftsleistungen im Vordergrund stehen. Im American Football wird jeder Touchdown penibel festgehalten und entsprechend memoriert und personalisiert.

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als »charakterlose Gesellen«, die man unbarmherzig aus dem Verkehr ziehen müsse, um allerdings anschließend neue Wettkampfserien zu vereinbaren und entsprechende Verträge mit Fernsehanstalten und Sponsoren zu schließen. Auch ehemalige Athleten folgen bisweilen dieser Sichtweise. Max Schmeling beispielsweise fand es in einem Interview »furchtbar, wenn Sportler zum Doping greifen. Das sind Menschen ohne Moral und Ethik, die keine Fairness besitzen. Olympische Ideale sind denen fremd.« (KSA vom 8.4.1993) Generell werden die Ertappten im öffentlichen Diskurs als »Dopingsünder« bezeichnet und damit einer semantischen Kategorie zugeordnet, die ursprünglich für Verstöße gegen religiöse Gebote entwickelt worden war. Der erwischte Sportler erscheint dann als gefallener Engel, der sich durch eigene Verfehlungen aus dem Paradies herauskatapultiert hat. Selbst wenn Sportfunktionäre bisweilen den Einfluss des sozialen Umfeldes konzedieren, bleiben sie bei einer Personalisierung stehen, wenn es um die Bestrafung beteiligter Akteure geht. Auch hier sehen sie nur schwarze Schafe, die es aus dem Verkehr zu ziehen gilt. Indem die Sportverbände Doping täterorientiert attribuieren, exekutieren sie ein Stück korporativer Macht. Denn Macht hat derjenige, der über eigene Verstrickungen schweigen darf. Dem Festmachen der Abweichung an einzelnen Personen fällt in diesem Zusammenhang offensichtlich die Funktion zu, das strukturelle Fundament der Sportorganisationen vor lästiger Kritik zu schützen. Durch die Etikettierung individueller Sündenböcke können die Fachverbände zudem von eigenen Widersprüchen und Handlungsdilemmata ablenken (Bette/ Schimank 1996a). Wenn ein Verband aufgrund eines gestiegenen Ressourcenbedarfs nicht nur als Prinzipal der eigenen Sportler tätig ist, sondern gleichzeitig auch als Agent übergeordneter Prinzipale spezifische Leistungen zu erbringen hat, wäre das Eingestehen einer Mitschuld auch sehr riskant. Es gefährdete den Ressourcenfluss von außen, weil es wichtige Bezugsgruppen der Gefahr aussetzte, durch das Dopingthema mitkontaminiert zu werden. Das Abschieben der Schuld auf individuelle Akteure hat dann die Aufgabe, das prekäre Verhältnis der Sportorganisationen zum gesellschaftlichen Umfeld vor möglichen Irritationen zu schützen und den Glauben an die Beherrschbarkeit des Problems aufrechtzuerhalten. Wenn Verbände deutlich machen können, dass allein einzelne Athleten Schuld auf sich geladen haben, erscheint die Situation als prinzipiell noch veränderbar und nicht als völlig verfahren. Man müsste nur die betreffenden Personen kontrollieren und gegebenenfalls des Feldes verweisen und könnte dadurch – so die implizite Botschaft – das Problem bereinigen oder zumindest eindämmen. Die Verbände geben damit sich selbst und ihrem Umfeld das Signal, dass sie noch handlungs- und zukunftsfähig sind. Unter Einbeziehung naturwissenschaftlicher Kompetenz setzt die Dopingbekämpfung der Verbände so auch in erwartbarer Weise am einzelnen Subjekt an. Denn nichts personalisiert mehr als die Analyse individueller Körpersäfte. Da-

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mit wird allerdings gleichzeitig der soziale Kontext der Abweichung systematisch zum Verschwinden gebracht. Blut und Urin sagen nichts aus über die biografischen Risiken der Athletenrolle; sie erzählen nichts über die dopingstimulierenden Qualifikationsnormen der Verbände. Und auch die Verhaltenserwartungen, die Politik, Wirtschaft, Massenmedien und Publikum an die einzelnen Sportler adressieren, können durch Massenspektrometer oder andere Analyseverfahren nicht sichtbar gemacht werden. Die gegenwärtige Dopinganalytik erfasst, wie man leicht erkennen kann, nur biochemische Parameter. Die Kooptation der Naturwissenschaften versetzt die Sportorganisationen demnach nicht nur in die Lage, ihre Kontrolle direkt am Subjekt festzumachen und in die Tiefen der Sportlerkörper hineinzuschauen; sie macht es auch leicht, Widersprüche und Handlungsdilemmata auszublenden und wissenschaftlich unbearbeitet zu lassen. Die naturwissenschaftliche Dopinganalytik eignet sich vortrefflich für die Individualisierung der Schuld und die Inszenierung korporativer Unschuld.

PERSONALISIERUNG IN DEN MASSENMEDIEN Der für den Spitzensport typische leistungs- und konkurrenzorientierte Zugriff auf Mensch und Körper ist in der modernen Gesellschaft nicht unbeobachtet geblieben. Er fasziniert all jene Sozialbereiche, die mit einer derartigen Subjektivierungsarbeit ihre eigene Funktions- und Leistungserbringung zu steigern trachten. Die mächtigste strukturelle Koppelung hat sich in dieser Hinsicht mit den modernen Massenmedien ergeben.21 Sportliche Wettkämpfe sind an die Logik von Zeitung, Radio und Fernsehen direkt anschlussfähig. Sie sind spannend, eignen sich für Heldenidentifikationen und nationale Bewährungsgeschichten. Sie decken zudem den unersättlichen Neuigkeitsbedarf der Medien in einer äußerst komfortablen Weise ab. Die Häufigkeit der Sportevents, die den Wettkampfkalender in vielen Disziplinen bestimmt, und die Resultate, die tagtäglich in sportlichen Auseinandersetzungen weltweit erzielt werden, entsprechen dem medialen Bedürfnis, permanent berichtenswerte Informationen zu prozessieren und zu verbreiten. Wenn die Medien über die sportspezifische Diskriminierungsarbeit zwischen Sieg und Niederlage berichten, dies als eigene Information mitteilen, wird der organisatorische Zwang erheblich reduziert, Sendezeit oder Seiten mit eigenen Neuigkeiten und Analysen füllen zu müssen. Der Sport hält, so könnte man sagen, die Massenmedien durch seine interne __________________ 21 Diese Beziehung musste allerdings erst im Laufe der Zeit entdeckt werden. Siehe Abb. 4 zur Anschlussfähigkeit von Spitzensport und Massenmedien.

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Dramatik und Unruhe dauerhaft wach und versorgt sie mit entsprechenden Themen.22 Eben weil die Medien darauf spezialisiert sind, Informationen technisch zu vervielfältigen und an Nichtanwesende zu übermitteln, werden Selbstbezüglichkeit und Selbstorganisation für sie nicht nur möglich, sondern auch unverzichtbar. Die Medien gewinnen so die Freiheit der eigenen Themenwahl und Themenbehandlung. Radio, Zeitung und Fernsehen berichten demnach nicht im Verhältnis eins zu eins über die Welt des Sports; sie müssen vielmehr eine hochselektive Aufmerksamkeit für bestimmte berichtenswerte Nachrichten und eine ausgeprägte Indifferenz für nicht passfähige Informationen entwickeln. Als berichtenswert sehen Sportjournalisten im Allgemeinen all jene Ereignisse an, die sich besonders effektiv an den Aufmerksamkeitshorizont der Rezipienten anschließen lassen. Wie Niklas Luhmann (1996) gezeigt hat, präferieren die Medien generell Informationen, die sich vom Altbekannten deutlich unterscheiden. Jede Nachricht muss im Verhältnis zur Vorgängernachricht einen schnellen und leicht verstehbaren Neuigkeitswert signalisieren. Bei Ereignissen, die gegen die Erwartung laufen, ist genau dies der Fall. Themen, die konfliktträchtig sind, lokale oder nationale Bezüge aufweisen, die sich moralisieren, dramatisieren und personalisieren lassen, haben gute Chancen, mediale Resonanz zu erzeugen. Zeitung, Radio und Fernsehen, die auf Leser, Zuhörer und Zuschauer angewiesen sind, finden dabei in den Sportinteressierten ein Publikum, das sie selbst simultan als Publikum inkludieren können (Blöbaum 1994: 305ff.). Für das Fernsehen ist die Ausrichtung auf Personen bzw. die Personalisierung von Neuigkeiten noch bedeutsamer als für die Printmedien. Dies lässt sich aus der Logik des Mediums selbst erklären. Das Fernsehen braucht Bilder, um informativ zu sein. Neuigkeiten müssen auf dem Bildschirm vornehmlich visuell präsentiert werden können.23 Indem der Sport in seinen Sonderräumen Subjekte sichtbar macht, auf Leistungsindividualisierung setzt und dramatische Situationen erzeugt und vorführt, kann das Fernsehen an der spezifischen Bilderwelt und Theatralität des modernen Sports teilhaben. Ergänzt durch eine entsprechende Klangkulisse geben bewegte Bilder dem Zuschauer ein Evidenzversprechen. Sie stehen gleichsam dafür, dass sich Realität tatsächlich so abgespielt hätte. Bildsequenzen haben eine hohe suggestive Kraft, weil sie im Ge__________________ 22 In Umkehrung der Luhmannschen (1996: 47) Formulierung, dass die Massenmedien die Gesellschaft »wachhalten«. 23 Im Umkehrschluss erweckt das Fehlen von Bildern den Eindruck der Nichtauthentizität der Informationen und des Stagnierens. Ungeduld und Umschalten auf einen anderen Sender sind Reaktionen, mit denen Fernsehzuschauer auf das Fehlen informativer Bilder reagieren.

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gensatz zum Standbild Entwicklungsverläufe und Prozessfiguren zeigen.24 Wettkämpfe als zeitlich, sachlich, sozial und auch räumlich ausgegrenzte Interaktionsbereiche produzieren diese Bilder am laufenden Band. Kameras können die Sonderräume des Sports beobachten und mit Mikrofonen abhören. Sportler und Sportlerinnen lassen sich sehen, hören, räumlich verorten und auf dem Bildschirm vorführen. Als wahrnehmbare Gestalten gelten sie deshalb in den Medien als Garanten für Authentizität.25 Man kann sie zu Interviews einladen und ihnen Fragen stellen, und vielleicht geben sie auch informative Antworten. Sie sind eben keine fiktionalen Figuren, wie man sie in Romanen oder Filmen antrifft, sondern Menschen mit Haut und Haaren. In einer Gesellschaft, in der immer mehr optische Äquivalente für vorhandene gesellschaftliche Komplexität fehlen, erbringen Sportler mit ihren Körpern realitätserzeugende Leistungen, die die Medien dankbar aufnehmen und nach eigenen Präferenzen verstärken. Der Sport dient besonders dem Fernsehen als Evidenzbeschaffer, weil in einem Medium, das selbst viel Schein produziert, Garanten für Authentizität offensichtlich knapp geworden sind. Mit Hilfe der Personen- und Körpernähe des Sports kann das Fernsehen in der eigenen Programmstruktur eine markante Trennlinie zwischen Simulation und Realität ziehen. Dass die Medien die Personenofferte des Sports für ihre eigene Programmatik nutzen, zeigt sich in extremer Weise in ihrem Umgang mit der Prominenz dieses Sozialbereichs. Im Hofieren einzelner Sportstars treiben die Medien ihre Subjektivierungsarbeit auf die Spitze. Heldenverehrung durch die Medien ist Personalisierung pur. Im Rahmen einer »Ökonomie der Aufmerksamkeit« __________________ 24 Inzwischen ist es zu einer Hierarchisierung der Journalisten untereinander gekommen. Fernsehjournalisten als Sachwalter bewegter Bilder und als Spezialisten für die Übertragung von Sportsendungen in Echtzeit haben Hörfunk- und Pressejournalisten auf die hinteren Ränge verdrängt. Dies hat wenig mit Kompetenz, aber viel mit der Logik und der Schnelligkeit der einzelnen Medientypen und der selektiven Nachfrage vonseiten des Publikums zu tun. Der thematische Ausschluss aus der Bildsprache des Fernsehens eröffnet aber auch Chancen für Zeitung und Radio, noch einmal anders über Sportereignisse zu berichten. Je mehr die Zeitungsleser allerdings durch das Fernsehen auf Personalisierung eingestellt werden, was mit der Visualisierung der Informationen einhergeht, desto mehr müssen sich auch die Zeitungen an die veränderten Rezeptionsgewohnheiten des Publikums anpassen und selbst personalisieren. Abstraktion wird unter diesen Bedingungen zu einer Sache gesonderter Kommentare. 25 Da sich Informationen und Neuigkeiten immer dann als plausibel und authentisch darstellen lassen, wenn sie an Personen festgemacht werden können, ist Personalisierung nicht nur in der Sportberichterstattung ein Erfolgsrezept, sondern auch im Politik-, Wissenschafts- und Wirtschaftsjournalismus. Auch hier kommt es dann zu entsprechenden Inszenierungen, um ablaufende Komplexität sichtbar zu machen.

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(Franck 1998) ermöglichen Sporthelden eine Nachfrage durch ein interessiertes Publikum, die sich in hohen Einschaltquoten und Auflagenhöhen niederschlägt. Und da die Medien einen permanenten Neuigkeitsbedarf haben, ist verständlich, warum sie Sporthelden aufbauen, demontieren und – falls nötig – auch revitalisieren. Das Dopingthema ist an die Selbstbezüglichkeit der Massenmedien in besonderer Weise anschlussfähig, weil es den journalistischen Sensationsbedarf in vielerlei Hinsichten abdeckt. Es ist konfliktträchtig, weil gedopte Sportler gegen die Fairplay-Moral des Sports verstoßen und Erwartungsenttäuschungen hervorrufen. Wer klammheimlich verbotene Mittel und Verfahren einsetzt, um sich einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen, betrügt seine Mitkonkurrenten, indem er die Chancengleichheit im Wettkampf außer Kraft setzt, und hintertreibt die normative Ordnung des Sports in einer illegitimen Weise. Kein Wunder also, dass die Massenmedien bekannt gewordene Dopingfälle begierig aufgreifen und skandalieren – ebenso wie Korruption im öffentlichen Dienst, Betrug in der Wissenschaft, Parteispendenaffären in der Politik oder Insidergeschäfte an der Börse. Normverstöße qua Doping sind für die Medien weiterhin interessant, weil sie sich für eine Moralisierung eignen. Vor allem jene Journalisten, die selbst nicht auf einen tagtäglichen Zutritt in die Vereine und Verbände angewiesen sind, weil sie etwa für überregional ausgerichtete Printmedien arbeiten (Beispiele: FAZ, SZ, DER SPIEGEL), können dann den Sport am Raster der Differenz von Gut und Schlecht beobachten und sich selbst öffentlich als Statthalter des Guten installieren. Doping ist schließlich für die Medien berichtenswert, weil der täterorientierte Umgang des Sports mit Dopingsündern direkt dem Personalisierungsbedarf der Medien entspricht. Nichts ist für die Medien informativer als ein Ereignis, das an einzelnen Personen in einer kompakten und leicht nachvollziehbaren Weise sichtbar gemacht werden kann. Dopingsünder, die man vorführen, zum Sprechen bringen oder in ihrem Schweigen zeigen kann, lassen sich von Zuschauern relativ leicht wahrnehmen. Die Einzelfallbehandlung des Sports in Sachen Doping passt in die Selbstbezüglichkeit der Medien hinein, weil Einzelfälle sich dort besonders gut präsentieren lassen. Ausufernde Komplexität hingegen übersteigt das Darstellungspotential gerade des Fernsehens. Das mediale Interesse an einzelnen Personen beschränkt sich im Übrigen nicht allein auf die erwischten Sportler. Auch Pharmakologen, Sportmediziner, Trainer, Verbandspräsidenten und Dopingkritiker haben im Gefolge der vielen Dopingvergehen einen Unterhaltungswert eigener Art erwerben können. Weil diese Akteure einzelne Fälle aus ihrer Sicht jeweils anders und oft auch kontrovers kommentieren, und als Personen mit redenden Mündern und adressierbaren Namen vorzeigbar sind, wurden sie zu wichtigen Elementen des medialen

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Dopingdiskurses. Besondere Chancen, gehört, gezeigt und zitiert zu werden, haben dabei vor allem jene Kritiker, die den Skandalierungs- und Personalisierungsbedarf der Medien durch scharf formulierte Kritik an real existierenden Personen abzudecken bereit sind. Sporthistoriker, die im Rahmen des Aufarbeitens der Dopinggeschichte konkrete Namen nennen, oder Pharmakologen und Sportpädagogen, die Trainer, Sportmediziner und Sportfunktionäre direkt attackieren oder anklagen, sind in dieser Hinsicht für die Medien besonders interessant. Zieht man all diese Argumente zusammen, wird deutlich, dass Doping zunächst der Stoff ist, aus dem Medienträume sind. Aber dies ist nur die eine Seite der Medaille. Doping ist auch dazu angetan, das Publikum langfristig zu desillusionieren und zum Abschalten zu bringen. Aus dem Medientraum kann dann sehr schnell ein medialer Albtraum werden. Denn Betrug im Sport stört die Dramaturgie des schönen Scheins und schreckt viele Zuschauer ab. Wenn die Medien demnach zu kritisch über Doping berichten, stehen sie in Gefahr, einen Teil ihres Publikums zu verlieren. Und es scheint, dass die vorauseilende Angst, dass genau dies passiert, gerade das Fernsehen immer mehr dazu bringt, das Privileg der öffentlichen Kritik freiwillig aus der Hand zu geben und das Dopingthema kleinformatig abzuhandeln oder gänzlich auszublenden. Ein bekannter Sportjournalist des ZDF führte hierzu in dankenswerter Offenheit aus: »Warum soll ich den Ast absägen, auf dem ich selber sitze?« Aussagen dieser Art sollte man als Soziologe nicht personalisieren. Dass Fernsehanstalten die Dopingproblematik in ihren Nachrichten und Unterhaltungssendungen hochselektiv behandeln, sich selbst als Problemmiterzeuger ausblenden26 und eine Personalisierung bevorzugen, ist nicht das Ergebnis böser oder ungebildeter Menschen, sondern muss vielmehr als das Resultat von Strukturen gewertet werden, die Journalisten dazu bringen, so zu handeln, wie sie handeln. Folgende Bedingungen, die das Verhältnis von Kontext und Handeln maßgeblich beeinflussen, fallen auf. Die personalisierende und moralisierende Bewertung des Dopings durch Journalisten ist zunächst als ein Maßnahme zu werten, die den Sport als eine Gegenwelt des Positiven für die Medien erhalten soll. Denn im Gegensatz zu den Nachrichten aus Wirtschaft und Politik, wo »Positives« allenfalls am Ende eines quälend langsamen und mühseligen Kon__________________ 26 Wo sind, so könnte man als außenstehender Beobachter fragen, jene Reportagen, in denen beispielsweise das Fernsehen in Sachen Doping reflexiv und rekursiv wird, d.h.: in sich selbst über sich selbst berichtet und die im Sport durch die Medien hervorgerufenen Wirkungen thematisiert? Ohne die Medien gäbe es schließlich kein Publikumsinteresse, und ohne ein Publikumsinteresse wären Wirtschaft und Politik nicht am Sport interessiert. Die Medien sind, auch wenn sie dies vor sich selbst verheimlichen, tief in die Dopingproblematik verstrickt, weil sie für die Verwertungskette des Sports unverzichtbar sind.

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fliktprozesses zustande kommt, erscheint der Sport prinzipiell noch als ein Unterhaltungsfeld, das sich unbelastet von negativen Konnotationen genießen lässt. Da Dopingtäter vor diesem Hintergrund eine Bedrohung medialer Interessen am »sauberen« Spitzensport darstellen, hat die Einzelfallbehandlung und Individualisierung des Dopings durch die Journalisten die Funktion, die strukturelle Koppelung zwischen Medien und Spitzensport abzusichern und als noch nicht gefährdet auszuweisen. Würden die Medien Doping nicht an einzelnen Sportlern festmachen, sondern als einen nicht mehr aufzuhaltenden, strukturell erzeugten Flächenbrand behandeln, könnten sie den Sport in eigener Sache nicht mehr nutzen. Ohne eine Personalisierung und Singularisierung des Dopings gäbe es keinen Interessenskonsens zwischen den Medien und dem Spitzensport. Der opportunistische Umgang mit dem Dopingthema ist außerdem eine Konsequenz, die sich aus der technischen Verkoppelung der Medien mit ihrem höchsten Prinzipal, dem Sportpublikum, ergeben hat. Die Medien haben nämlich über das Messen von Einschaltquoten und das Festhalten von Auflagenhöhen eine Art nicht unproblematischer Selbstbeobachtung eigener Wirkungen installiert, durch die eine bemerkenswerte Ergänzung bisheriger Beobachtungsverhältnisse stattfindet: Das Sportpublikum liest nicht nur Zeitungen, hört Radio und schaut Fernsehen. Radio, Zeitung und Fernsehen beobachten inzwischen auch das Publikum. Die Zuschauer, Hörer oder Leser tauchen dabei nicht als Menschen aus Fleisch und Blut in den Medien auf; sie werden dort lediglich als Zahlen wahrgenommen. Besonders das Fernsehen befindet sich infolge dieser technischen Verkoppelung mit seinem obersten Prinzipal in einer permanenten »Hochkostensituation«, vor allem dann, wenn es den finanziellen Input für das eigene Operieren nicht wie die öffentlich-rechtlichen Anstalten mit Hilfe des Staates zugeordnet bekommt, sondern über Werbung selbst zu erwirtschaften hat. Die Logik eines an Quoten ausgerichteten Fernsehens und die scharfe Konkurrenz der Sender untereinander drängen auf eine Berücksichtigung der Publikumsinteressen, weil Zuschauer mit der technischen Möglichkeit der Fernbedienung eine wirksame Exit-Option besitzen. Dies setzt die Programm-Macher unter einen enormen Handlungs- und Inszenierungsdruck. Wo das Damoklesschwert des Abschaltens und des Aufmerksamkeitsverlustes die Programmgestaltung diktiert, erfolgt eine strukturelle Bevorzugung jener Themen und Präsentationsformen, die eine schnelle Aufmerksamkeit herzustellen versprechen und das Sportpublikum nicht überfordern oder gar der Mitverantwortung bezichtigen. Auf Unterhaltung und Entspannung ausgerichtete Zuschauer nehmen das mit Krankheit, Betrug und Tod zusammenhängende Dopingthema, wenn es zu häufig angesprochen wird, als Kränkung oder Störung wahr und nutzen dann ihre Exit-Option in Gestalt eines Ab- oder Umschaltens, um Situationen dieser Art zu ver-

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meiden. Wolf-Dieter Poschmann, damaliger Sportchef des ZDF, formulierte hierzu: »Es ist ein Fakt, dass das Interesse an Doping aufseiten der Masse der Zuschauer nicht sehr ausgeprägt ist.« In Sportsendungen, in denen ein Beitrag über Doping eingebaut wird, »finden sich dort Knicke.« (SZ vom 6.10.1999) Fernsehsender haben insofern, wenn sie ihre Sendungen an der Einschaltquote ausrichten, ein existentielles Eigeninteresse, ihr Publikum nicht durch ein Zuviel an Dopingberichterstattung abzuschrecken. Die weitgehende Ausblendung der Dopingthematik und der entlastende Griff zur Personalisierung der Abweichung durch das Fernsehen haben schließlich mit der spezifischen Nähe zu tun, die sich in den letzten Jahren zwischen den Fernsehsendern und dem organisierten Sport ergeben hat. Die Anstalten berichten heute nicht mehr nur über Sportereignisse, die auch ohne sie passiert wären, sondern betreiben, wie Kepplinger (1992) es formuliert hat, ein »Ereignismanagement«. Sie informieren immer mehr auch über Wettkämpfe, die sie aktiv mitinszenieren. Und wer kritisiert schon gerne Ereignisse, die er selbst mit großem Aufwand mitfinanziert hat. Wichtige Fragen werden dann nicht mehr gestellt, weil sich die Journalisten im Rahmen eines vorauseilenden Gehorsams an die Bedürfnisse der neuen Akteurkonstellation anzupassen haben. Die Berichterstattung der ARD über die Dopingfälle bei der Tour de France 1998 war in dieser Hinsicht ein bemerkenswertes Beispiel für die problematischen Konsequenzen eines »Ereignismanagements«. Je strikter die Koppelung zwischen Sportund Medieninteressen ausfällt, desto größer wird offensichtlich die Gefahr, dass diese Konstellation auch in Gestalt von Schweigespiralen und Beschwichtigungskartellen wirksam wird. Das Festmachen des Dopingthemas an einzelnen Personen hat schließlich noch damit zu tun, dass soziale Strukturen weder einer wahrnehmenden Beobachtung durch Kameras und Mikrofone zugänglich sind, noch dem Neuigkeitsbedarf der Medien dauerhaft entsprechen können. Strukturen sind generalisierte Verhaltenserwartungen, die symbolisch im Hintergrund wirken. Sie haben die Aufgabe, bestimmte Handlungsverknüpfungen zu ermöglichen und bestimmte andere zu demotivieren. Strukturen kann man weder riechen noch schmecken, anfassen oder sehen. Sie geben keine Interviews und lassen sich nicht einem klatschenden Studiopublikum vorführen. Nur Menschen sind als Gestalten, über die gesellschaftliche Strukturen wirken, vorzeigbar und können als Personen zum Sprechen gebracht werden. Zu dieser prinzipiellen »Unsinnlichkeit« von Strukturen kommt die Schwierigkeit hinzu, dass Strukturen – eben weil sie in zeitlicher, sachlicher und sozialer Hinsicht Erwartungssicherheit herstellen sollen – eine relative Konstanz aufweisen und sich nicht von heute auf morgen verändern. Ihre Vorhersehbarkeit und Stabilität widersprechen in eklatanter Weise dem permanenten Spannungs- und Neuigkeitsbedarf gerade des Fernsehens.

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Aus diesen Überlegungen heraus lässt sich begründen, warum Journalisten soziologische Analysen zur Dopingproblematik zwar zustimmend und bestätigend zur Kenntnis nehmen, oft aber nicht als berichtenswert ansehen und personalisierende und aufdeckungsbereite Kritiker bevorzugen. Sportsoziologen werden gemieden, weil sie strukturell denken, Komplexität nicht personalisieren und einer vorschnellen Moralisierung eher distanziert gegenüberstehen (Bourdieu 1998). Sie finden in der Regel nur dann Gehör, wenn sie sich an die Relevanzstrukturen der Medien anpassen, sich als professorale Wissenschaftshelden vorführen lassen, in kurzen Sätzen sprechen, auf Distanz zu ihrer Fachsprache gehen und die strukturelle Bedingtheit von Vorgängen an Personen vorführen.

PERSONALISIERUNG DURCH JURISPRUDENZ UND PÄDAGOGIK Bestärkt wird der personalisierende und moralisierende Blick der Massenmedien auf Doping durch die Perspektiven, die zwei in diesem Zusammenhang wichtige Professionen einnehmen: Juristen und Pädagogen – was sich wie folgt begründet. Das moderne Rechtssystem operiert mit der Leitdifferenz von Recht und Unrecht, und muss, wenn es zu Entscheidungen kommen möchte, mit spezifischen Annahmen über seine Rechtsobjekte arbeiten. Typischerweise operiert es im Rahmen seiner basalen Zirkularität mit einem Menschenbild, das Personen per definitionem Handlungsautonomie und Rechtsfähigkeit attestiert. Im vormodernen Rechtsverständnis ging man hingegen noch davon aus, dass der einzelne Mensch nicht vollständig für seine Taten zur Verantwortung gezogen werden könne, weil er als Spielball übergeordneter schicksalhafter Kräfte angesehen wurde. Mit der Annahme, dass der Mensch durchaus Herr im eigenen Hause sei, verweigert sich das moderne Recht dieser Einschätzung und geht von der Selbststeuerbarkeit des individuellen Schicksals aus. Die Idee des autonomen Rechtssubjekts ist, wie man als Soziologe unschwer erkennen kann, eine Akteurfiktion, die das Rechtssystem als eine spezifische Realitätsannahme ausgeschleust hat, um Rechtsentscheidungen treffen zu können (Hutter/Teubner 1994). Subjektkonstrukte und Autonomieunterstellungen erweisen sich als nützlich, wenn es um die individuelle Zurechnung von Schuld oder Nichtschuld geht. Wie sollte ein Richter auch einen Beklagten verurteilen können, wenn er diesem nicht die prinzipielle Fähigkeit zugestehen würde, zwischen einem Ja oder Nein zur Normabweichung entscheiden zu können. Höchstens unter der Standardformel von »mildernden Umständen« bzw. »Schuldunfähigkeit« aufgrund von Alkoholgenuss, erzwungenem Handeln oder geistiger Behinderung lässt das Rechtssystem Relativierungen zu, indem es

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Einflüsse anerkennt, die das Handeln der einzelnen Person jenseits deren Verantwortung prägend beeinflusst haben. Bei der rechtlichen Behandlung von Doping steht vornehmlich eine auf einzelne Personen ausgerichtete Kasuistik im Vordergrund. Juristen schließen aus vielen Einzelfällen nicht auf einen pathologischen Gesamtzustand, sondern belassen es bei einer personalisierenden und singularisierenden Bearbeitung abweichenden Verhaltens. Ertappte Sportler werden – Fall für Fall – behandelt und gegebenenfalls freigesprochen oder abgeurteilt. Nicht der Verband, der implizit oder explizit Doping initiierte, steht am Pranger und wird verurteilt. Es sind die Sportler, Trainer, Sportmediziner und die Sportfunktionäre, denen die Abweichung zugeschrieben wird. Medien, Sponsoren und Politiker, die ihren Teil dazu beigetragen haben, dass Dopingpraktiken als Problemlösungsstrategien expandieren konnten, tauchen im Kontext von Rechtsentscheidungen ebenfalls nicht auf. Die überindividuellen Verstrickungen des Subjekts sind, so könnte man sagen, der blinde Fleck des Rechtssystems. Mit der Strategie der Personalisierung und Singularisierung des Dopings schützen Juristen sich vor einem Steckenbleiben in den Fallen uneindeutiger Kausalität. In einer vernetzten Gesellschaft über Ursachen und Wirkungen treffsicher zu urteilen, gelingt in der Tat nur durch einen juristischen Dezisionismus und entsprechende Subjektfiktionen. Eine weitere personenorientierte Behandlung des Dopingthemas erfolgt durch die Pädagogik. Spätestens seit Rousseau steht die Idee von der Autonomie des Subjekts im Mittelpunkt der pädagogischen und erziehungswissenschaftlichen Reflexion. Die Erziehungspraxis soll mit Hilfe entsprechend ausgewiesener Spezialisten so eingerichtet werden, dass das mündige, selbstverantwortliche Individuum am Ende eines langen Prozesses möglich wird. Der Einzelne soll befähigt werden, manipulatorische Einflüsse abzuwehren und Zweck seiner selbst zu werden. Und Bildung hat die Aufgabe, dieses Ideal zur Perfektion zu bringen und ein angemessenes Verhältnis von Ich und Welt herzustellen. Normverstöße sind für Pädagogen Charakterschwächen, die auf Erziehungsdefizite zurückgehen. Dementsprechend zielen ihre Empfehlungen zur Bewältigung der Dopingkrise vornehmlich auf Prävention, Ethik und Moralerziehung. Normabweichler sollen durch erzieherische Einwirkungen dazu gebracht werden, auf den Pfad der Normtreue zurückzukehren. Und diejenigen, die sich im Vorfeld der Abweichung befinden, also in Gefahr stehen, selbst einmal deviant zu werden, sollen durch Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit gegen Abweichung immunisiert und von einer betrügerischen Leistungssteigerung abgehalten werden. Pädagogisierung will also Normkonformität im Innern der individuellen Akteure fest verankern. Entsprechend angeleitete Fairplayund Ethik-Initiativen versuchen so auch, die Dopingresistenz der Sportler zu stärken, und zwar gegen das rationale Eigeninteresse der Athleten, sich ange-

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sichts des Erfolgsdrucks und der erwartbaren Gewinnmöglichkeiten zu dopen. Auch die von verbandlich nahestehenden Sportpädagogen angedachte »Olympische Pädagogik« vertraut auf die Kraft guter Argumente und empfiehlt zur Veränderung der Sportpraxis, am Subjekt anzusetzen.

FOLGEN KOLLEKTIVER PERSONALISIERUNG Indem die Sportverbände täterorientiert reagieren, die Medien skandal- und menschenzentriert berichten, Pädagogen personale Interventionen empfehlen und das Rechtssystem von der Handlungsautonomie der Subjekte ausgeht, um sanktionieren zu können, ist es zu einer strukturellen Koppelung gekommen, die man als soziologischer Beobachter nur als ruinös bezeichnen kann. Trotz aller Differenzen, die zwischen Sport, Recht, Pädagogik und den Medien zweifellos vorhanden sind, entstand ein intersystemischer Personalisierungskonsens, der einer komplexitätsangemessenen Bearbeitung des Dopingthemas im Wege steht. Dadurch, dass sich die Situationsdefinitionen und Subjektivierungsstrategien verschiedener Akteure miteinander verschränken und wechselseitig verstärken, ist im gegenwärtigen Dopingdiskurs zunächst eine ultrastabile Deutungsgemeinschaft hervorgebracht worden, die nicht nur gegen andere Versionen der Realitätsinterpretation weitgehend immun ist, sondern diese in der öffentlichen Aufmerksamkeit auch nachhaltig verdrängt. Beobachter, die alle in eine Richtung schauen, erzeugen offenbar eine eigene Realität, die zum Mitschauen in die gleiche Richtung verleitet. Eine personenorientierte Attribution, die auf mehreren Füßen steht und sich permanent wiederholt, erhält selbst einen stabilen, aufmerksamkeitsleitenden Strukturwert. Deutungskartelle dieser Art sind vor allem deswegen problematisch, weil sie die Fähigkeit der beteiligten Systeme reduzieren, sich durch andere Unterscheidungen irritieren zu lassen. Indem beispielsweise die Sportorganisationen Abweichung personalisieren und ihre eigenen Probleme und Konfliktherde unthematisiert lassen, nehmen sie sich die Möglichkeit, die Alarmierfunktion von Widersprüchen für ein eigenes Lernen zu nutzen. Die Personalisierung der Abweichung blockiert insofern nicht nur die eigene Selbstbeobachtung, sondern erschwert auch das organisatorische Lernen. Doping wird also dadurch nicht etwa eliminiert, dass viele sich hiermit intensiv beschäftigen. Vielmehr wird Doping auch durch die personalisierenden Definitionen der vielen in einer überraschenden Weise dauerhaft am Leben erhalten. Eine »pluralistic ignorance« (Luhmann 1996: 62) entsteht eben nicht nur durch das bekannte Wegsehen und Nichthandeln der

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Sportverbände; auch das obsessionelle Hinsehen auf einzelne Personen kann devianzverstärkende Effekte hervorrufen.27 Es verstellt nämlich den Blick auf die hinter dem Rücken der Akteure wirksamen systemisch-strukturellen Vorgaben und kann dadurch Interventionen an den entscheidenden Stellen blockieren. Selbst die Sportpädagogik ist inzwischen mit ihrem durchaus legitimen und wichtigen Anspruch, die Position des Subjekts im Sport zu verteidigen, Teil des Problems geworden, das sie durch Moral, Ethik, Erziehung und eigenes Engagement im organisierten Sport zu lösen trachtet. Eben weil sie durch ihre Betonung des Subjekts auch eine gewisse Harmlosigkeit signalisiert, wird sie durch das Sportestablishment instrumentalisiert. Denn nichts eignet sich besser für die symbolische Politik eines Verbandes als unverbindliche Moralund Ethikkampagnen mit Hilfe verbandlich inkludierter Sportpädagogen. Auch die energischsten Dopingkritiker können in einer für sie wohl überraschenden Weise nicht-intentional dazu beitragen, Doping zu perpetuieren, wenn sie ihr Engagement darauf beschränken, ausschließlich Vorwürfe gegen Personen und deren Handeln zu erheben. Die von ihnen mit Hilfe der Medien und des Rechtssystems gegen Sportfunktionäre, Mediziner, Trainer oder Athleten durchgeführten Kreuzzüge verfestigen das Bild, dass Doping ausschließlich als Fehlverhalten einzelner Individuen oder Personengruppen einzuschätzen sei. Der intersystemische Personalisierungskonsens hat weiterhin dazu beigetragen, dass die Bearbeitung der Dopingdevianz bereits bei der Problemdefinition in eine Sackgasse hineingeraten und dort steckengeblieben ist. Wie kann eine Problemlösung auch funktionieren, wenn bereits die Diagnose unterkomplex ausfällt? Folgende Dynamik scheint sich in diesem Zusammenhang ergeben zu haben: Situationsdefinitionen, die davon ausgehen, dass Doping Sache einzelner Menschen sei, lenken Planung und Strukturentwicklung in eine entsprechende Richtung. So hat sich in den letzten Jahren ein Deutungs- und Strukturbildungssyndrom herausgebildet, aus dem es praktisch kein Entrinnen gibt. Die Sportverbände werten Doping offiziell als Täuschungsakt der Athleten; und wenn sie hierauf reagieren, setzen sie auf Körperkontrolle und rechtliche Bestrafung und hoffen mit Hilfe der Pädagogik auf die immunisierende Kraft von Ethik, Erziehung und Aufklärung. Und diese Weltsicht wird durch die Definitionen relevanter Umfeldakteure bestätigt. Die zu Lasten der Sportler gehende Täterorientierung hat schließlich auch ein Pilatus-Syndrom hervorgerufen, das den öffentlichen Diskurs in einer fast schon penetranten Weise bestimmt. Das Abschieben der Schuld auf die Athleten entlastet nämlich nicht nur die Sportverbände, sondern versetzt auch die __________________ 27 Gerade den Medien müsste klar sein, dass sie Realität schaffen und stabilisieren, wenn sie personalisierende Deutungsofferten und Interpretationsangebote transportieren, die andere Sinnproduzenten anschließend unhinterfragt verwenden.

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Umfeldakteure in die Lage, die eigene Mitbeteiligung ohne größeren Aufwand auszublenden. So ist eine Matrix der Selbstentschuldigung und Problemabwehr entstanden, die subtil dazu beiträgt, dass die Logik der Abweichung selbst dann nicht blockiert wird, wenn das Reden über Doping inflationäre Züge aufweist. Wirtschaft, Politik, Medien und Zuschauer verweisen auf den Spitzensport, sehen sich selbst als unbeteiligte Akteure und waschen sich infolge dieser Situationsdefinition anschließend die eigenen Hände in Unschuld.

Konsequenzen kollektiver Personalisierung – Entstehung einer ultrastabilen intersystemischen Deutungsgemeinschaft – Verdrängung alternativer Realitätsinterpretationen – systematische Ausblendung struktureller Rahmenbedingungen – Blockade organisatorischen Lernens – »pluralistic ignorance« durch obsessionelles Hinschauen auf Personen und deren Verfehlungen – Problembearbeitung ohne treffsichere Problemanalyse – Pilatus-Syndrom: Verneinung eigener Mitschuld und Verstrickung – notorische Überforderung der Sportakteure durch Konzedierung und Unterstellung individueller Handlungsautonomie Abb. 3: Konsequenzen kollektiver Personalisierung

Die kollektive Personalisierung des Dopings hat, last but not least, dazu geführt, dass Athleten, Trainer, Sportfunktionäre und Mediziner als individuelle Akteure dadurch notorisch überfordert werden, dass man sie als Personen mit Meinungen, Absichten und Interessen ernst nimmt und an den Ausgangspunkt einer Handlungskette stellt, ihnen also Entscheidungsautonomie konzediert und zumutet. Indem sich die Sportorganisationen dadurch entlasten, dass sie die eigenen Widersprüche und Handlungsdilemmata auf einzelne Personen abschieben, belasten sie diese in einer sehr problematischen Weise. Die Verbände brauchen weder ihre internen Strukturen noch ihre Umfeldbeziehungen zu ändern; es sind die Sportler, Trainer und Sportmediziner, die sich in einer potentiell überfordernden Situation ethisch korrekt zu verhalten haben. Individuelle Akteure werden unter diesen Bedingungen gleichsam dazu genötigt, entsprechende Copingstrategien zu entwickeln.

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ENTSUBJEKTIVIERUNG ALS ERKENNTNISPROGRAMM Wenn Sport, Medien, Recht und Pädagogik und selbst die Mehrzahl der Kritiker in Sachen Doping vornehmlich auf Personen und deren Handeln schauen, und damit Realität schaffen, ist es Aufgabe der Soziologie, dieses weitverbreitete, aber auch riskante Beobachtungsschema zu unterlaufen und durch eine andere Version der Realität zu ergänzen. Denn nur so könnte diese den öffentlichen Diskurs bestimmende Deutungsgemeinschaft dazu gebracht werden, die problematischen Konsequenzen kollektiver Personalisierung zu sehen. Um eine bekannte Formel aus der neueren Politik zu paraphrasieren: Wer darauf verzichtet, die relevanten Stellgrößen in den Blick zu nehmen, die Doping strukturell miterzeugen, seine Aufmerksamkeit auf die individuellen Akteure fixiert und infolge dessen Doping als personelle Verfehlung attribuiert, kommt für die Lösung des Problems nicht nur zu spät, er trägt auch dazu bei, die Dopingbekämpfung zu erschweren! Die Soziologie tut deshalb gut daran, hartnäckig auf die handlungsprägende Kraft sozialer Konstellationen zu verweisen und ihre Skepsis gegenüber der typisch modernen Idee von der Autonomie der Subjekte zum Ausdruck zu bringen. Sie betont mit Recht, dass es nicht um »Menschen und ihre Situationen« geht, sondern »eher um Situationen und ihre Menschen«.28 Natürlich sehen auch Soziologen, dass Sportler als Personen handeln, sich beispielsweise dopen oder nicht dopen, aber sie weisen darauf hin, dass Sportler durch überindividuelle Strukturen und Netzwerke auch zum Dopen gebracht werden. Man denke nur an die tückischen Verstrickungen zwischen den diversen Akteuren, die sich mit Hilfe der Spieltheorie rekonstruieren lassen.29 Das Individuelle des Handelns ist, wie Beck/Beck-Gernsheim (1994: 30) es formuliert haben, »die Illusion derjenigen, denen die Einsicht in die sozialen Bedingungen und Bedingtheiten ihrer Existenz verstellt ist.« Das handelnde Subjekt erscheint in der Soziologie nicht, wie man nach all diesen Ausführungen meinen könnte, als eine unwichtige oder zu vernachlässigende Größe. Genau das Gegenteil ist der Fall. Indem Soziologen durch die individuellen Akteure hindurch auf jene Stellgrößen schauen, die das individuelle Handeln maßgeblich beeinflussen, sind sie in der Lage, auf Sachverhalte und Zusammenhänge aufmerksam zu machen, die das Subjekt notorisch überfordern. Der entsubjekti__________________ 28 So Erving Goffman (1986: 9) in seinen Studien über elementare Interaktionssituationen. 29 Die Spieltheorie zeigt sehr deutlich, wie stark die individuelle Handlungswahl einzelner Sportler durch die Handlungswahl ihrer Mitkonkurrenten bestimmt wird und Handlungsergebnisse erzielt werden, die am Anfang niemand so gewollt hat. Zum Konkurrenzspiel der Sportler, zum Unterstützungsspiel der Umfeldakteure und zum Kontrollspiel zwischen Athleten und Kontrolleuren siehe Bette/Schimank (1995a: 236ff.).

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vierende Blick der Soziologie könnte dadurch paradoxerweise zu einer wichtigen Bedingung der Möglichkeit einer zivilisierten Praxis werden, in diesem Fall: eines humanen Leistungssports. Es liegt auf der Hand, dass all diejenigen die strukturalistische Ausrichtung der Soziologie als narzisstische Kränkung wahrnehmen und entsprechend abwehren, die ihr professionelles Handeln direkt am Menschen festmachen. Wenn die individuelle Autonomie des Subjekts analytisch in Frage gestellt wird, wäre schließlich eine pädagogisch angeleitete Charakterbildung ebensowenig angebracht wie eine individuelle Schuldzuweisung durch die Juristen. Die Differenzen, die in der Bearbeitung des Dopings faktisch vorhanden sind, sollten nicht harmonieorientiert unter den Teppich gekehrt oder in irgendwelchen Syntheseversuchen aufgeweicht werden. Es geht auch nicht darum, die eine Sichtweise durch die andere zu ersetzen. Vielmehr ist es wichtig, die Unterschiede deutlich herauszuarbeiten, trennscharf voneinander zu profilieren und gegeneinander arbeiten zu lassen. So könnte das Verhältnis der Soziologie zu Pädagogik und Recht als »funktionaler Antagonismus« (Bette/Schimank 1999: 331) aufgefasst und institutionalisiert werden. Doping würde dann bewusst mehrgleisig behandelt. Pädagogen und Juristen hätten weiterhin ihre Ausrichtung auf Personen zu kultivieren; der Soziologie fiele die Aufgabe zu, sowohl die zur Abweichung führenden strukturellen Zwänge zu untersuchen als auch jene Konsequenzen zu erhellen, die sich bislang aus der Personalisierung der Dopingbekämpfung ergeben haben. Und um nicht in der Pose des sich selbst genügenden Beobachters zu verharren, könnten Soziologen auf der Grundlage ihrer Analysen entsprechende Beratungsangebote unterbreiten (siehe Kap. 7). Ob diese allerdings wahrgenommen und umgesetzt werden, ist nicht Sache der Soziologie, sondern bleibt der Selbstbezüglichkeit der in der Dopingproblematik verwickelten Akteure überlassen. Um eine Kooperation trotz vorhandener Differenzen auf den Weg zu bringen, wäre die Soziologie gut beraten, den personenorientierten Disziplinen und Instanzen nicht zu unterstellen, diese hätten das Dopingphänomen »falsch« bearbeitet. Dies wäre ein Rückfall in die Überheblichkeit früherer Zeiten. Soziologisch präziser ist es, wenn man darauf hinweist, dass Akteure, indem sie Unterscheidungen benutzen, immer nur das sehen, was die Unterscheidungen an Erklärungskraft hergeben. Und diese Einschränkung gilt natürlich auch für den strukturellen Blick der Soziologie. Trotz dieser wichtigen Relativierung eigener Erkenntnisansprüche könnte die kategorische Empfehlung eines konstruktivistisch aufgeklärten Soziologen an die eigene Zunft wie folgt lauten: »Forsche so, dass die Ergebnisse Deiner Beobachtungen die Beobachteten so irritieren, dass diese am Ende ihrer Beobachtungen mehr Optionen besitzen als vorher!«

6 Biografische Risiken und Doping

Jede Biografie enthält Risiken, da kein Lebensweg vollständig plan- und steuerbar ist. Irgendwie kommt immer irgendetwas dazwischen. Nicht umsonst weisen viele Existenzphilosophen darauf hin, dass das Scheitern zu den Grunderfahrungen des menschlichen Daseins gehöre und ein angemessener Umgang mit Risiken, Schicksalsschlägen und biografischen Unwägbarkeiten Hauptaufgabe der individuellen Überlebenskunst sei. Auch Sportlerkarrieren sind nicht von frei von Überraschungen und Unsicherheiten. Neben den allgemeinen Problemen der Lebensführung in komplexen Gesellschaften, die Athleten und Athletinnen wie alle anderen Gesellschaftsmitglieder auch zu bewältigen haben, weisen die biografischen Verlaufsfiguren im modernen Spitzensport allerdings Besonderheiten auf, die so weder in anderen Sozialbereichen zu beobachten sind, noch im Leistungssport früherer Tage in vergleichbarer Weise anzutreffen waren. Die Veränderung der Karrierebedingungen hat mit dem Bedeutungswandel des zeitgenössischen Spitzensports zu tun. Sportliche Wettkämpfe sind spannend, erlauben ein Sich-Ausleben von Gefühlen und taugen für eine breite Heldenverehrung. Die Resonanz, die gerade die populären Sportarten mit ihren Großereignissen bei zuschauenden Massen hervorrufen, führte zu einer gesteigerten Attraktivität des Spitzensports für Wirtschaft, Politik und Massenmedien. In den letzten Jahren ist so eine stabile soziale Konstellation entstanden, die hochstehende sportliche Leistungen rund um die Uhr nachfragt – mit der Konsequenz, dass die Chancen- und Risikostruktur sportlicher Karrieren ein völlig neues Profil bekam. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass die weite Verbreitung des Dopings auf der Mikroebene des Geschehens vornehmlich eine Konsequenz der veränderten biografischen Situation von Spitzensportlern ist. Denn offensichtlich

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versuchen immer mehr Athleten, den spezifischen Möglichkeiten und Risiken ihrer Lebenswelt mit Hilfe devianter Praktiken zu entsprechen. Und sie gehen hierbei notwendigerweise gravierende Folgerisiken in physischer, psychischer und sozialer Hinsicht ein. Um ein Verständnis dafür zu entwickeln, warum Doping inzwischen in vielen Disziplinen anzutreffen ist, sollen zunächst in einem ersten Schritt typische Risikofaktoren von Sportlerkarrieren herausgearbeitet werden, um dann in einem zweiten Schritt Doping als Bewältigungsstrategie aus diesen spezifischen Risikokonstellationen abzuleiten.30 Damit soll verdeutlich werden, dass Doping entgegen vorschnellen alltagstheoretischen Einschätzungen keine Angelegenheit ist, die sich einfach aus dem Persönlichkeitsinventar einzelner Sportler, Trainer, Funktionäre oder Sportmediziner ableiten lässt. Doping ist weniger eine Sache »schlechter« Menschen, sondern verweist vielmehr auf soziale Bedingungen, die Devianz in erwartbarer Weise auslösen.31 Warum sollte auch gerade im Spitzensport, so würde man als Soziologe fragen, sowohl national als auch international und über alle Disziplinen hinweg ein Sortiment von Akteuren versammelt sein, das sich kollektiv durch Charakterdefizite auszeichnete? Die Massenhaftigkeit der Verstöße und der eskalierende Charakter der Abweichung sollten vielmehr zu denken geben. Ein Blick in die biografische Situation von Spitzensportlern kann erhellende Einsichten in die sozialstrukturelle Bedingtheit der Dopingabweichung verschaffen.

RISIKOFAKTOREN IN ATHLETENKARRIEREN Das Hauptrisiko derjenigen, die sich im Leistungssport als Athleten betätigen, besteht zunächst darin, während der Karriere erfolglos zu sein. Diese Aussage erscheint auf den ersten Blick als banal, aber es ist gerade diese Selbstverständlichkeit des Scheiterns, die für den einzelnen Sportler zum Problem werden kann. Erfolglosigkeit kann dabei viele Gründe haben. Misserfolg ist zunächst das erwartbare Ergebnis der spezifischen Wettbewerbs- und Konkurrenzorientierung des Spitzensports. Sportliche Wettbewerbe erzeugen systematisch Ver__________________ 30 Die folgenden Ausführungen stammen aus dem Kontext eines vom Bundesinstitut für Sportwissenschaft geförderten Forschungsprojekts, das ich seinerzeit zusammen mit Uwe Schimank von der FernUniversität Hagen (heute Universität Bremen) und zwei Mitarbeitern an der Universität Heidelberg unter dem Titel »Biographische Dynamiken im Leistungssport. Möglichkeiten der Dopingprävention im Jugendalter« durchgeführt habe. Siehe hierzu ausführlicher Bette et al. (2002: 340ff.). 31

Zur Kritik an der »kollektiven Personalisierung« des Dopingproblems siehe Kapitel 5.

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lierer, um Gewinner entsprechend profilieren zu können. Misserfolg ist deshalb kein Unfall, sondern der Fall, auf den man sich einzustellen hat. Verschärft formuliert: Der sportliche Wettkampf braucht viele Verlierer, damit er wenige Sieger profilieren kann. Die Gewinner sind gleichsam die Parasiten der Unterlegenen. Die legitime Herbeiführung des Scheiterns der Vielen zugunsten des Erfolgs der Wenigen ist ein zentrales Element der Abwicklung sportlicher Wettbewerbe. Auch wenn vordere Plätze durchaus noch als Erfolge gefeiert werden können, gilt das kollektive Mitleid spätestens denjenigen, die den »undankbaren vierten Platz« errungen haben. Das Gedächtnis des Spitzensports speichert vor allem die Namen und Leistungen der Sieger. Die Verlierer werden als Akteure memoriert, die es versucht, aber nicht geschafft haben. Die aus dem Siegescode entspringende Unbarmherzigkeit in der Zuteilung von Rangpositionen zeigt sich besonders auffällig in dem Bemühen, Sieger von Verlierern selbst dort noch zu trennen, wo die menschlichen Sinnesorgane keine Unterschiede in der Leistungserbringung mehr auszumachen vermögen. Man denke nur an den Einsatz der Hunderstel-Sekunde im Schwimmen oder in der Leichtathletik. Für den einzelnen Athleten sind Misserfolge während der Karriere besonders in jenen Disziplinen zu erwarten, in denen die Konkurrenzintensität durch den globalen Wettbewerb besonders hoch ausfällt. Der Leistungssport hat bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts mit Heraufkunft der olympischen Bewegung einen weltweiten Geltungsanspruch ausgeprägt. Er inkludiert prinzipiell alle, da er gegenüber Zuteilungskriterien wie Rasse, Klassenzugehörigkeit, Geschlecht, Herkunft oder Alter weitgehend immun ist. Jeder, der sich seinen Sinnprinzipien unterwirft und die entsprechenden Leistungen erbringt, kann mitmachen. Für die Biografiegestaltung der Sportler hat diese prinzipielle Offenheit allerdings enorme Konsequenzen: Überall dort, wo Athleten aus vielen Ländern gegeneinander antreten und schärfste Konkurrenzbedingungen vorherrschen, wird der eine für den anderen zu einem starken biografischen Risiko. Im Spitzensport kann man trotz hochstehender Eigenleistungen karrieremäßig scheitern, weil die anderen schlichtweg besser sind. Je umfassender also der Leistungssport die Qualität eines Teilsystems der Weltgesellschaft erreicht hat und je höher die soziale Dichte in einer Disziplin deshalb ausfällt, desto wahrscheinlicher wird es für den einzelnen Athleten, dass er scheitern wird. Biografische Risiken im Spitzensport sind nicht allein das Ergebnis von Niederlagen, die man sich bei Wettkämpfen einhandeln kann. Der hohe Unsicherheitsgrad von Sportlerkarrieren kommt durch ein weiteres charakteristisches Merkmal zustande, das den Leistungssport von anderen Sozialbereichen in markanter Weise absetzt: die extreme Körperabhängigkeit sportlichen Handelns. In der Normalbiografie ist der Körper für die Person vor allem der zentrale Ort zur Befriedigung konsumatorischer Bedürfnisse – um beispielsweise

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Sexualität auszuleben oder um Wohlgefühle durch die Inszenierung von Essen und Trinken herzustellen. Demgegenüber haben Athleten eher ein instrumentelles Verhältnis zum eigenen Körper aufzubauen. Dies ist eine Konsequenz des Leistungsindividualismus und der »technischen« Körperabhängigkeit sportlicher Erfolge. Das spitzensportliche Körperideal ist der sportartspezifisch funktionstüchtige und immer weiter steigerbare Körper. Dieses Körperbild steht in einem krassen Gegensatz zur sinnlichen Genussfähigkeit und -steigerung des Alltagskörpers. Verletzungen und Leistungsabfall werden deshalb als Krisenzustände wahrgenommen, die es zu vermeiden, zu beseitigen oder zumindest aufzuschieben gilt. Da immer kleinere Leistungsverbesserungen nur noch durch immer größere Anstrengungen zu erreichen sind, ist die Gefahr einer Überstrapazierung des Athletenkörpers geradezu konstitutiv für Sportlerkarrieren. Alle Karriereplanungen können im Spitzensport von heute auf morgen über den Haufen geworfen werden, wenn der Körper sich verweigert und nicht mehr mitmacht. Was den Spitzensport durch seinen expliziten Körperbezug in einer ansonsten körperverdrängenden Gesellschaft so ungemein interessant macht, ist damit gleichzeitig die Achillesferse sowohl des Gesamtsystems als auch derjenigen, die sich karrieremäßig im Spitzensport engagieren. Jeder Athlet unterliegt dem Risiko des Scheiterns durch Verletzungen, Krankheit und Leistungsabbau. Die Körperabhängigkeit der Athletenrolle bringt demnach einen Unsicherheitsfaktor in das Erleben und Handeln der Sportler hinein, wie er bei anderen Tätigkeiten so nicht anzutreffen ist. Der Status eines Sportlers ist aus diesem Grunde wesentlich labiler als beispielsweise der eines Wissenschaftlers, der sich über körperunspezifische Lizenzen und Titel absichern kann und seinen Beruf auch dann noch kompetent auszufüllen vermag, wenn der körperliche Niedergang bereits eingesetzt hat oder bereits weit fortgeschritten ist. Vergleichbare Qualitäten lassen sich nur in anderen körperfundierten Arbeitsbereichen finden, so beispielsweise im Tanz oder in den schönheits- und jugendlichkeitsfixierten Berufen der Mode- und Werbebranche. Hier fehlt allerdings das Moment des formalisierten Wettbewerbs um das knappe Gut des Sieges. Niederlagen bei Wettkämpfen und hieraus resultierende Karriereprobleme sind nicht nur das Ergebnis starker Gegner, konkurrenzintensiver Sportarten oder sich verweigernder Sportlerkörper. Im Spitzensport können sich nur diejenigen langfristig durchsetzen, die über lange Zeit psychisch robust genug sind, um dem Erfolgs- und Wettbewerbsdruck zu widerstehen. Unter diesen Bedingungen ist es riskant, nach jahrelangen Investitionen die Motivation zu verlieren. Eine Psyche, die irgendwann nicht mehr mitspielt, weil sie durch Ängste, Erfolgserwartungen, Verletzungserfahrungen oder die Öffentlichkeit des Rollenhandelns überfordert wird, kann ein Engagement im Spitzensport abrupt beenden. Athleten, die dauerhaft an sportlicher Reputation interessiert sind, haben

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deshalb ihre Leistungsmotivation entsprechend lange zu erhalten. Wer seinen eigenen Leistungen aufgrund misslungener Motivierung permanent hinterherläuft, droht ansonsten als tragischer Held in die Annalen seiner Sportart einzugehen. Misserfolg als Hauptrisiko von Sportlerkarrieren kann zudem aus der Art der Leistungsmessung sowie sportinternen Kontextveränderungen herrühren. Es macht nämlich einen Unterschied, ob sportliche Leistungen wie in der Leichtathletik nach Zentimeter, Gramm und Sekunde objektivierbar sind oder von den Definitionskartellen von Kampfrichtern abhängen. Wie sehr die sportartspezifische Messlogik die Karriere von Sportlern beeinflussen und zum Risiko von Sportlerbiografien werden kann, zeigen immer wieder die Auseinandersetzungen um Wertungspunkte oder Nominierungsentscheidungen in den kompositorischen Sportarten – Rhythmische Sportgymnastik, Turnen, Eiskunstlauf – oder in den Kampfsportdisziplinen wie Boxen oder Ringen. Die Willkür von Nominierungsentscheidungen und Kampfrichterurteilen erzeugt aufseiten der betroffenen Sportler und Sportlerinnen oftmals das fatalistische Gefühl des Ausgeliefertseins und der Ohnmacht. Und viele Karrieren mussten ohne größere internationale Erfolge beendet werden, weil der sportinterne Kontext plötzlich eine völlig andere Gestalt bekommen hatte. Verbände ändern beispielsweise im Verlauf von Sportlerkarrieren das Wettkampfreglement, modifizieren Gewichtsklassen oder eliminieren ganze Disziplinen bei Olympischen Spielen – was den Prozess der Karriereplanung erheblich stören kann und ein gänzlich anderes Athletenprofil schafft. Auch Olympiaboykotte, wie es sie 1980 in Moskau und 1984 in Los Angeles noch gab, sind Ereignisse, auf die sich niemand in seinen Karriereplanungen und biografischen Selbststeuerungsversuchen einzustellen vermag. Viele Sportler mussten ihre Medaillenhoffnungen von heute auf morgen begraben, weil Politiker den Sport für eigene Zwecke instrumentalisiert hatten. Risiken für Sportlerbiografien können sich weiterhin auch aus der Knappheit und Instabilität von Förderbedingungen ergeben. Wer als Athlet in einer bestimmten Karrierephase nicht auf den institutionell vorgesehenen Karrierezug aufspringen kann oder will, hat höchstens noch als Spät- oder Seiteneinsteiger die Möglichkeit, knappe Kaderplätze zu erringen. In einem Sozialbereich, der seine Förderungen nach dem Matthäus-Prinzip verteilt (»Wer hat, dem wird gegeben; wer nicht hat, dem wird genommen!«), bedeutet das Verpassen institutionell vorgesehener Förderplätze mittel- und langfristig das Aus. Sportliche Spitzenleistungen sind ohne ein unterstützendes Umfeld unwahrscheinlich. Denn kein Athlet kann allein aus sich heraus den Anforderungen des modernen Spitzensports entsprechen. Ohne einen Trainer, Sportmediziner oder Physiotherapeuten, und ohne die entsprechenden Trainingsmöglichkeiten und logistischen Unterstützungen vonseiten der Vereine und Verbände könnten viele

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Leistungen in der heutigen Zeit nicht mehr erbracht werden. Umgekehrt heißt dies: Werden die Förderbedingungen instabil, weil Familie, Verein oder Sponsoren ausfallen, staatliche Gelder oder Fördermöglichkeiten wegbrechen oder Sportarten Popularitätsschwankungen hinzunehmen haben, sind Karrierebrüche erwartbar. Und wenn Niederlagen zu einem Ressourcenentzug führen und wiederum Niederlagen hervorrufen, entsteht eine abwärts führende Spirale des Misserfolgs – bis überhaupt keine Unterstützungen mehr fließen. Damit wird ein wichtiger Zusammenhang deutlich: Die Karriere von Spitzensportlern wird neben der systemtypischen Konkurrenz um Sieg oder Niederlage zwischen den Sportlern und Sportlerinnen noch durch eine zweite Konkurrenzbeziehung geprägt, nämlich durch den Wettbewerb um knappe Förder- und Zutrittschancen. Hier zu verlieren, ist höchst riskant. Ein weiterer Risikofaktor für Sportlerbiografien resultiert aus der tatsächlichen oder vermuteten Dopingdurchsetztheit der eigenen Karrieresportart sowie der zögerlichen Haltung vieler Fachverbände in der Dopingbekämpfung. Dass bereits die Vermutung, und nicht die Faktizität des Dopings, ein gravierendes biografisches Risiko darstellt, hat damit zu tun, dass Doping buchstäblich aus dem Nichts entstehen kann, nämlich als eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Die Athleten brauchen nur wechselseitig voneinander zu meinen, dass ihre Mitstreiter sich dopen, um auch selbst rationalerweise zum Doping zu greifen. Selbst unbewiesene Dopingunterstellungen können aufgrund der Intransparenz des inzwischen weltweit agierenden Sports und der Unvollständigkeit der Information der Konkurrenten untereinander schnell zu einer sozialen Situationsdefinition führen, die ein eigenes Dopen zum Zwecke der Nachteilsvermeidung auf den Weg bringt. Diese Mechanik gilt eben nicht nur für die Sportler, die untereinander in einer Konkurrenzbeziehung stehen, sondern auch für die nationalen Sportverbände. Für die Gestaltung von Karrieren im Spitzensport bleibt diese Situation wechselseitiger Verstrickungen nicht ohne Konsequenzen. Verbände, die ihre Kontrollaufgaben nicht ernst nehmen, weil sie sich im internationalen Wettbewerb keine Wettbewerbsnachteile einhandeln wollen, setzen die eigenen Sportler – auch ohne es zu wollen – unter einen impliziten Dopingdruck und werden damit selbst Teil des Problems, das sie zu lösen vorgeben. Das heißt: Die weit verbreitete Risikoaversion vieler Sportverbände in der Dopingbekämpfung ist ein gravierenden Risiko für Sportlerkarrieren, da nicht oder nur halbherzig durchgeführte Dopingkontrollen die Sportler nötigen, sich durch Abweichung an das Doping der anderen anzupassen. Die bereits aufgezählten Risikoelemente können schließlich kumulative Wirkungen hervorrufen und eine Vielzahl kausaler Interdependenzen erzeugen. Sportler, die beispielsweise das Risiko des Verlierens durch erhöhte Trainingsanstrengungen verringern wollen, belasten dadurch eventuell Körper und Psyche in einer Art, die zu Verletzungen und Demotivationen führt. Oder Sportler,

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die sich in dopingdurchsetzten Disziplinen zähneknirschend selbst dopen, um an knappe Fördermittel und Kaderplätze zu gelangen, gehen das Risiko der Entdeckung und sozialen Stigmatisierung ein. Eine Verschärfung dieser ohnehin schon brisanten Situation entsteht dadurch, dass Erfolglosigkeit aufgrund der genannten Bedingungen nicht nur für die Athleten allein riskant ist, sondern eine Bedrohung für alle an der Leistungserbringung beteiligten Akteure darstellt. Trainer, Funktionäre, Vereine und Verbände, aber auch die wirtschaftlichen und politischen Sponsoren sind ebenso wie die Sportler auf Erfolge angewiesen. Gerade diejenigen, die im Spitzensport beruflich tätig sind und über keine Positionsalternativen verfügen, unterliegen dem Druck, dass der von ihnen betreute oder geförderte Athlet erfolgreich sein muss. Für den Trainer hängen Anstellung und Karriere davon ab; Ärzte, die den Verbänden zu nahe rücken, werden nicht daran gemessen, Gesundheit herzustellen, sondern Funktionsfähigkeit der von ihnen betreuten Sportler bei Wettkämpfen zu ermöglichen. Für Vereine und Verbände stehen staatliche Fördergelder, die Zuwendungen von Sponsoren und vielleicht auch die Einnahmen aus Fernsehrechten auf dem Spiel. Und die Sponsoren brauchen dauerhafte sportliche Erfolge, weil das Publikum ansonsten das Interesse verlöre und dadurch wichtige Rezipienten von Werbebotschaften wegfielen. Auch politische Instanzen, die nationale Sportverbände jährlich mit hohen Summen unterstützen, müssen sich gegenüber dem Bundesrechnungshof und den Steuerzahlern legitimieren, ob sie ihre Gelder an den richtigen Stellen eingesetzt haben. Misserfolge bei Wettkämpfen betreffen also nicht nur die einzelnen Athleten, sondern sind Ereignisse, die sowohl das gesamte sportinterne Unterstützungsmilieu als auch außersportliche Bezugsgruppen betreffen. Damit erfolgt eine gefährliche Verdopplung und Verstärkung des Risikoniveaus. Es kommt zu einer Risikosteigerung durch Anspruchsinflationierung. Beiläufigkeit, Harmlosigkeit und Voraussetzungslosigkeit sind gleichsam aus dem Sport vertrieben und durch kalkulierende Erwartungsansprüche ersetzt worden, was für die Sportlerkarrieren nicht ohne Konsequenzen geblieben ist. Die Sportler geraten in eine Situation hinein, die den ohnehin schon vorhandenen Hochkostenstatus ihres Handelns zusätzlich erhöht. Neben dem Risiko der Erfolglosigkeit während der Karriere werden Sportlerbiografien durch einen zweiten Risikokomplex geprägt, nämlich die Zukunftsunsicherheit nach Beendigung der Sportkarriere. Die Zukunft taucht spätestens dann als Thema im Erlebnishorizont von Athleten auf, wenn die eigenen Leistungen stagnieren oder zurückgehen, plötzliche Verletzungen auftreten oder das Karriereende aufgrund außersportlicher Restriktionen absehbar ist. All dies kann auch, falls man selbst von diesen einschneidenden Ereignissen noch nicht heimgesucht wurde, bei anderen Sportlern beobachtet und entsprechend antizi-

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piert werden. Ein erster Risikofaktor ergibt sich in diesem Zusammenhang aus der kognitiven und evaluativen Schließung des Sportlerbewusstseins. Athleten, die ihre Identität vornehmlich über sportliche Erfolge definieren und hierbei durch ein leistungsinteressiertes Umfeld bestätigt werden, tragen das Risiko des Sinn- und Identitätsverlustes nach dem Ende ihrer Sportkarriere. Wenn die körperliche und psychische Leistungsfähigkeit nachlässt, die Niederlagen vielleicht schon unumkehrbar eingetreten sind oder unmittelbar bevorstehen, kommt für viele Sportler die traumatische Zeit des Aufhörens und des Abschiednehmens von einem Selbstbild, das durch eine jahrelange, fast ausschließliche Fixierung auf den Spitzensport geprägt wurde. Gefühle der Leere, des Hineinfallens in ein großes Loch sind vielfach berichtete Erfahrungen, mit denen Sportler und Sportlerinnen die Zeit nach der Karriere wahrnehmen. Ein weiterer Risikofaktor ist in der Totalisierung der spitzensportlichen Lebenswelt angelegt. Athleten, die einen Großteil ihres bewussten Lebens in sportlichen Gemeinschaften integriert waren, empfinden Entzugserscheinungen, wenn sie auf diesen »sozialen Uterus« verzichten müssen. Das Risiko besteht darin, den Sport als Geborgenheitshort zu verlieren und einen »sozialen Tod« (Rosenberg 1984) zu erleiden, d.h.: alle über das Athletendasein vermittelten Macht-, Einkommens- und Partizipationschancen von heute auf morgen aufgeben zu müssen. Wer nicht vorgesorgt hat, keine Bildungs- und Berufsabschlüsse erwerben konnte, und es versäumte, sportliche Lorbeeren zu erringen und diese in andere »Währungen« umzumünzen, wird das Karriereende besonders schmerzhaft empfinden. Weitere Unsicherheitselemente entstehen aus dem ökonomischen Risiko, Leistungssport über mehrere Jahre betrieben oder sich körperliche Schäden eingehandelt zu haben.

COPING DURCH DOPING Abweichendes Verhalten im Spitzensport in Gestalt eines heimlichen Dopings fällt nicht, wie die vorhergehende Analyse andeuten sollte, vom Himmel. In der Sprache des amerikanischen Techniksoziologen Charles Perrow (1984) formuliert, erscheint Doping vielmehr als ein »normal accident«, der sich aufgrund genau benennbarer sozialer Bedingungen immer wieder neu ereignet. In einem abstrakten Sinn verweist Doping auf die Steigerungslogik des Spitzensports – citius, altius, fortius – und deren Entfesselung durch ein sportinteressiertes Umfeld (Bette/Schimank 1995a). In dem Maße, wie das große Geld, Einschaltquoten und politische Interessen ins Spiel kommen, wächst der Erfolgsdruck nicht nur auf den Sport und seine Akteure, sondern auch gegenüber dem sportinteressierten Umfeld. Zwischen dem Sportler auf der einen und dem Publikum auf

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der anderen Seite spannt sich demnach eine komplexe Konstellation unterschiedlichster Akteure auf, die Erfolgserwartungen artikuliert und bisweilen sogar vertragsförmig fixiert. Die Sportlerkarrieren drohen durch diese strukturellen Veränderungen mit inflationären Ansprüchen überfordert zu werden. Die inneren Kontrollmechanismen, die der Wettkampfsport in Gestalt von Fairplay-Orientierungen und traditioneller Sportmoral entwickelt hat, geraten massiv unter Druck. Legale Innovationen wie Technik, Taktik und Training werden als alleiniger Fortschrittsmotor für die Steigerung von Athletenleistungen entwertet. Ungewollt, aber unvermeidlich wird vielmehr ein Sondieren und Experimentieren in den Grau- und Verbotszonen der Leistungsförderung angeregt. Doping erscheint vor diesem Hintergrund nicht als eine zufällige Aggregation von Einzelfällen, sondern als eine Copingstrategie, mit der viele Sportler und Sportlerinnen die spezifischen Risiken ihrer Lebenswelt zu kontern versuchen. Ein bewusst vollzogenes Doping wird im Spitzensport als eine Art Mehrzweckwaffe eingesetzt, um ein Scheitern während der Karriere zu verhindern und die Zukunftsunsicherheit nach der Karriere zu minimieren. Folgende Motive lassen sich – jenseits sportartspezifischer Varianzen – modelltheoretisch aus der biografischen Situation von Athleten ableiten: Athleten dopen sich, erstens, um die in sportlichen Wettbewerben vorgesehene Möglichkeit des Misserfolgs zu vermeiden. Die Unsicherheit darüber, wer gewinnt oder wer verliert, soll mit Doping in eine Sicherheit zu eigenen Gunsten transformiert werden. Doping zielt in dieser Hinsicht darauf ab, zentrale Sinnelemente des Leistungssports klammheimlich zu Gunsten des Erfolgsprinzips außer Kraft zu setzen: nämlich die prinzipielle Offenheit des Wettkampfausgangs und die Idee der formalen Gleichheit der Akteure. Athleten nutzen Doping, zweitens, als eine Strategie, um die Möglichkeiten des eigenen Körpers zu steigern und dessen Begrenztheiten auszugleichen. Der prinzipiell fehlbare Sportlerkörper soll durch gezielte Interventionen an das sachliche, soziale und zeitliche Anforderungsprofil der diversen Sportdisziplinen angepasst werden. Sportler, Trainer und die unterstützenden Umfeldakteure streben damit eine konditionale Programmierung an, eine möglichst treffsichere Wenn-Dann-Beziehung zwischen Mitteleinsatz und Zielerreichung. Die Verwendung von Epo, Anabolika und anderen Medikamenten und Verfahren zielt darauf ab, einen genau spezifizierten Output zuverlässig zu erzielen. Doping ist, drittens, für offensichtlich immer mehr Athleten das Mittel erster Wahl, wenn es um die Passung von Psyche und Spitzensport geht. Gedopt wird beispielsweise, um Beeinträchtigungen durch Angst oder Aufregung auszuschalten, um Motivationsprobleme zu lösen oder auch um Ruhe oder Gelassenheit in Wettkampfsituationen herzustellen. Man interveniert in den Körper, um das Bewusstsein wettkampf- und erfolgsfähig zu machen. Doping kommt, viertens, ins Spiel, wenn Sportler das

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Risiko ausschalten wollen, knappe institutionelle Fördermöglichkeiten zu verpassen. Die Teilhabe an den diversen Leistungen der Vereine, Verbände und anderer Förderinstanzen ist schließlich eine unverzichtbare Voraussetzung dafür, um auf hohem Niveau erfolgreich mitzuhalten. Misserfolg bei Wettkämpfen beinhaltet hingegen das Risiko, an diesen Ressourcen nicht teilhaben zu können oder von ihnen abgeschnitten zu werden. Athleten wägen deshalb im Rahmen einer rationalen Wahlhandlung ab, ob das Risiko eines Ressourcenverlustes größer oder kleiner als das Entdeckungsrisiko einzuschätzen ist. Dass neben den vielen Möglichkeiten der legitimen Innovation offensichtlich immer mehr auch Strategien der illegitimen Innovation im Spitzensport anzutreffen sind, zeugt davon, in welche Richtungen diese Denkkalküle inzwischen gehen. Doping wird, fünftens, als eine Strategie verwendet, um dem impliziten Dopingdruck sowie der klammheimlichen Dopingakzeptanz vieler Verbände zu entsprechen. Sportlerkarrieren sind in der Tat riskant, wenn sie in Handlungsfeldern stattfinden, die maßgeblich durch Verbände gesteuert werden, die sich in Sachen Doping permissiv verhalten. Doping erscheint dann als Epiphänomen der auf Verbandsebene nicht gelösten Dopingkontrollprobleme. Dass in der Mehrzahl der Disziplinen meist kein offensives, sondern nur noch ein defensives Dopen stattfindet, deutet darauf hin, dass die Verbände Doping durch defizitäre Kontrollmaßnahmen strukturell miterzeugen. Den Athleten, die zwischen einem Ja oder Nein zum Doping abwägen, geben sie teilweise sogar das offen ausgesprochene Signal, dass der Grenznutzen des Dopinggebrauchs höher veranschlagt wird als die Einhaltung von Fairness-Regeln. Doping findet, sechstens, als eine Strategie der Identitätsbehauptung statt. Der Leistungsindividualismus des zeitgenössischen Spitzensportlers nimmt den Siegescode beim Wort und prägt eine systemadäquate Identität aus, die Sportler nicht ohne weiteres aufgeben wollen und können. Die einzige Möglichkeit der Individualisierung besteht für sie nämlich darin, besser zu sein als die anderen. Vor diesem Hintergrund erhalten Pillen und Spritzen die Funktion, das Selbstbild der Athleten mit den nötigen Erfolgserlebnissen zu versorgen und eine Identitätsbedrohung durch Misserfolge abzuwenden. Doping ist, siebtens, als eine Maßnahme zu werten, die auf eine Reduzierung ökonomischer Risiken abzielt. Mit Hilfe naturwissenschaftlicher Technologien soll der »return of investment« verlässlicher werden. Denn ohne entsprechende Erfolge bei Wettkämpfen gibt es weder sportinterne Gelder noch Unterstützungszahlungen von Sponsoren. So entsteht ein Erwartungsdruck aufseiten der Sportler, während der zeitlich eng begrenzten Sportkarriere dauerhaft erfolgreich sein zu müssen – und dies in einer Situation, in der alle anderen Mitkonkurrenten das Gleiche anstreben. Doping kommt, achtens, als Sekundärdevianz ins Spiel. Bereits vollzogene Abweichung muss nach außen verheimlicht werden, wenn die bereits mit Hilfe illegitimer Praktiken erzielten Leistungen im Nachhinein nicht als Dopingrekorde

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denunziert werden sollen. Abweichung führt deshalb zur Abweichung, die wiederum zur Abweichung führt. Und es fällt schwer, aus dieser Spirale auszusteigen. Doping wird, neuntens, eingesetzt, um sich Körpererfahrungen zu verschaffen, die ohne Doping nicht verfügbar wären. Sportler, die mit bestimmten Mitteln und Verfahren belastbarer im Wettkampf sind, die Berge beispielsweise, wie Radrennsportler berichteten, »hinauffliegen«, ohne dabei durch Gefühle der totalen Erschöpfung und Verausgabung irritiert zu werden, speichern Erfahrungen ab, auf die sie in späteren Wettkämpfen nicht mehr verzichten wollen. Auch das großvolumige Körperschema, das sich Kraftsportler mit Hilfe muskelaufbauender Präparate verschaffen können, kann süchtig machen – insbesondere dann, wenn es durch externe Achtungserweise bestätigt wird. Das Perfide der Situation besteht darin, dass Doping angesichts der Vielzahl möglicher Verwendungsgründe als ein überdeterminiertes Phänomen anzusehen ist. Ein einziges der genannten Motive reicht bereits aus, damit Sportler sich dopen oder gedopt werden. Diese Überdeterminiertheit macht die Dopingbekämpfung so ungemein schwer und hat bei nicht wenigen Dopinggegnern das Gefühl der Vergeblichkeit hervorgerufen. Hat man ein einzelnes Dopingmotiv durch bestimmte Maßnahmen weitgehend unter Kontrolle gebracht, zum Beispiel durch die Absicherung der nachsportlichen Karriere durch berufliche Fördermaßnahmen, existieren noch viele andere Gründe, die Sportler zum Doping verleiten können: Doping zum Zwecke der Identitätsbehauptung, zur Vermeidung von Wettbewerbsnachteilen und Misserfolgserfahrungen, zur Absicherung ökonomischer Interessen, zur Kompensation von Verletzungen und alterbedingten Leistungseinbußen oder zur Beschaffung knapper Körpererfahrungen. Mit dem Hinweis auf die möglichen Risikoverkettungen ist nicht gesagt, dass die genannten Risikoelemente die Karriereplanung von Athleten deterministisch beeinflussten. Das Verhältnis von Risikokontext und Handeln ist eher als eine nicht-lineare Beziehung einzuschätzen.32 Denn wie könnte man als Soziologe sonst erklären, dass nicht wenige Sportler, die in demselben oder in einem ähnlichen Kontext situiert sind, sich nicht dopen? Als intervenierende Variablen, die dopingverhindernde Wirkungen hervorrufen können, fallen folgende Bedingungen auf: außeralltägliche Talentressourcen; Angst vor Entdeckung, Stigmatisierung, Sucht und Krankheit; die Einbettung der individuellen Akteure in ein sozial-moralisches Milieu in Familie oder Verein; Geldknappheit oder der fehlende Zutritt zu einer devianten Subkultur. Sportler haben demnach Möglichkeiten der Selbststeuerung, die sie auch mit mehr oder weniger großem Geschick nutzen. Bei allen biografischen Selbststeuerungsversuchen müssen die genannten Risikofaktoren aber als Eckdaten, __________________ 32 Vgl. Bette/Schimank (1995a: 107ff.); Bette et al. (2002: 368ff.).

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die das Handeln der Sportler kanalisieren und prägen, hingenommen werden. Weder die Wettbewerbsorientierung noch die Körperabhängigkeit des Spitzensports oder der bereits erreichte Dopinggrad einer Disziplin lassen sich durch eigenes Handeln prägnant beeinflussen oder gar aus der Welt schaffen. Und wer im Verlauf seiner Karriere etwaige Antipathien gegenüber der Gnadenlosigkeit der Sieg/Niederlage-Logik oder der spezifischen Art der Leistungsbewertung in einer Sportart entwickelt, sollte den Leistungssport besser verlassen. Die hohe Skandalfrequenz zeigt, dass viele Athleten Doping trotz der potentiellen Möglichkeit des Neinsagens inzwischen als eine rationale Wahlhandlung ansehen – einmal abgesehen von jenen Fällen, in denen Sportler hinter ihrem Rücken heimlich von Trainern, Ärzten oder Konkurrenten gedopt werden. Als Strategie zur Steuerung spitzensportlicher Karrieren spielt Doping allerdings eine höchst ambivalente Rolle. Es soll biografische Unsicherheiten reduzieren, erzeugt aber nur eine Scheinsicherheit, weil es in höchster Weise riskant ist. Selbst kurzzeitige Pioniergewinne durch die Nutzung neuer Medikamente oder Verfahren sind, wie man weiß, mit immer größeren physischen und psychischen Konsequenzen zu erkaufen – von dem Risiko, erwischt zu werden und schlagartig einen »sozialen Tod« zu erleiden, ganz zu schweigen. Außerdem führt die Dopingverwendung aufgrund der Intransparenz und unvollständigen Information der Wettbewerber untereinander zwangsläufig zu einer immer stärker eskalierenden Spirale der Abweichung. Der global ablaufende Wettbewerb droht zu einem »Narrenrennen« (Hirsch 1976: 96) zu werden, bei dem alle Beteiligten auf der Stelle treten, aber auch alle die negativen Konsequenzen des Handelns zu tragen haben. Angesichts der mehrfaktoriellen Fundierung der Dopingmotivation und der engen Verknüpfung der devianzauslösenden Elemente mit der Logik des Leistungssports ist zunächst einmal festzuhalten, dass ein Königsweg zur Eliminierung des Dopingproblems nicht in Sicht ist. Gerade weil Doping mit den biografischen Risiken der Athletenkarriere und den Dilemma-Situationen der Sportverbände zu tun hat, wird es nicht gänzlich zu eliminieren sein. Da der Spitzensport zudem fester Bestandteil einer stabilen, aus Wirtschaft, Politik, Massenmedien und Publikum bestehenden Akteurkonstellation (Bette/Schimank 1995a, 2000) ist, ist eine radikale Null-Lösung des Dopingproblems weder zu erwarten noch durchzusetzen. Es kann demnach nur um eine effektive Eindämmung des Dopings gehen.

7 Doping als transintentionales Konstellationsprodukt

Es gibt Formen der Abweichung, die sich permanent neu herstellen und einer dauerhaften Lösung renitent verweigern. Im Bereich des Spitzensports stellt Doping eine solche Form der Abweichung dar. Täglich grüßen die Massenmedien in der einen oder anderen Weise mit diesem Thema, ohne dass eine nachhaltige Wendung zum Besseren erkennbar wäre. Nicht wenige Sportler und Sportlerinnen erbringen ihre sportlichen Leistungen nicht mehr allein über virtuose Technik und Taktik sowie außergewöhnliche Willens- und Körperstärke, sie greifen vielmehr zusätzlich und routinemäßig in Training und Wettkampf auf verbotene Mittel und Praktiken zurück, um ihre physischen und psychischen Leistungen zu steigern. Überraschend ist heute nicht mehr, dass über Doping berichtet wird; es wäre eher das Ausbleiben einer derartigen Berichterstattung, das überraschte und Folgefragen hervorriefe. Selbst sportliche Skandale sind durch ihre Abschreckungswirkung nicht in der Lage, kurzzeitig abweichungsfreie Handlungsräume zu schaffen. Wenn Athleten des Dopings überführt werden, ist dies eher als ein Präludium einzuschätzen, das auf zukünftige Regelverstöße vorbereitet. Interessierte Sportbeobachter fragen sich mittlerweile, ob Doping nicht schon den Status einer ultrastabilen und systemimmanenten Größe erreicht habe, mit der man trotz verstärkter Kontroll- und Eingrenzungsbemühungen fest rechnen müsse. Die unter dem Dopingbegriff abgehandelten Ereignisse und Vorfälle ähneln sich in der Tat in einer frappierenden Weise, auch wenn die Namen der beteiligten Akteure, Sportdisziplinen und verwendeten Praktiken variieren können.33 __________________ 33 Siehe hierzu und im Folgenden Bette/Schimank (1995a, 1999, 2000a, 2006a, 2006b) und Bette (2006).

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Nicht wenige Sportler, Trainer oder Zuschauer reagieren auf die Permanenz der berichteten Dopingfälle mit Resignation oder der expliziten Forderung, von diesem Thema nichts mehr sehen, hören oder lesen zu wollen. »Nicht schon wieder«, lautet der Spruch, den man in Diskussionen zum Dopingthema häufig zu hören bekommt. Man könne ja ohnehin nichts machen und habe sich zähneknirschend mit der Situation abzufinden. Außerdem solle man doch endlich einmal Ruhe geben und nicht beckmesserisch den Sport kaputtreden. Die dreifache Pose des Affen, der seine Sinnessensorien und Kommunikationspforten rigoros schließt und sich bewusst von seiner Umwelt abkoppelt, scheint nach fast vier Jahrzehnten der regelmäßigen Dopingberichterstattung weit verbreitet zu sein. So vermitteln viele Zuschauer den Eindruck, als ob sie mit all dem, was im Spitzensport passiert, generell nichts zu tun hätten, obwohl sie die eskalierende Erwartungsspirale, mit der die Sportakteure in Training und Wettkampf konfrontiert werden, mit ihrer Sportbegeisterung maßgeblich anheizen. Auch in den Sportverbänden und im sportinteressierten Umfeld tut man bisweilen so, als ob es nichts weiter zu tun gäbe, weil man meint, dass das, was man getan hat oder vorgibt, getan zu haben, ausreichte. Man installiert neue Institutionen, erhöht die Kontrollzahlen, feiert ab und zu einige Punktsiege im AntiDoping-Kampf, organisiert und evaluiert diverse Fairplay-Initiativen und verweist darauf, dass man damit das Möglichste unter den gegebenen Bedingungen unternommen hätte. Andere leiten aus der offensichtlichen Schwierigkeit, Doping mit wenigen einschneidenden Maßnahmen ein für alle Mal aus der Welt schaffen zu können, sogar die Aufforderung ab, es doch endlich freizugeben – in der irrigen und wenig reflektierten Annahme, anschließend den geliebten Sport wieder störungsfrei genießen zu können. Die Gründe, angesichts dieser Situation weder auf Resignation oder Fatalismus umzuschalten noch in einen hektischen und kurzatmigen Aktionismus zu verfallen, sondern stattdessen zur Abklärung der Sachlage zunächst auf die Erklärungskraft soziologischer Theorie zu setzen, lassen sich kurz und knapp benennen: Doping ist ein soziales Phänomen, und die Soziologie ist diejenige Wissenschaftsdisziplin, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts darauf spezialisiert ist, soziale Phänomene im Kontext der gesellschaftlichen Entwicklung einzuordnen und zu hinterfragen. Die soziale Bedingtheit des Dopings wird niemand ernsthaft bestreiten können, da diese Devianzart Voraussetzungen hat und Wirkungen hervorruft, die jenseits von biologischen und medizinischen Analysen liegen. Doping impliziert in einem doppelten Sinne eine soziale Instrumentalisierung des Athletenkörpers. Zum einen geht die Beeinflussung von Körperfunktionen auf Entscheidungen zurück, die Menschen in sozialen Kontexten treffen. Erst soziales Handeln setzt beim Doping körperrelevante Effekte in Gang. Zum anderen liegen dem Doping als sozialem Handeln sozial geprägte Zielsetzungen zu Grunde. Doping ist ein zielgerichtetes Handeln, das

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nicht zufällig passiert, sondern besondere Wirkungen bewirken will. Die Intervention in die Körpersphäre ist keine gedankenlos befolgte Gewohnheit oder das Ergebnis eines plötzlichen Affektausbruchs. Wer sich dopt, will damit etwas Bestimmtes erreichen. Wer andere dopt, ohne dass diese etwas davon mitbekommen sollen, verfolgt ebenfalls sozial definierte Ziele. Und selbst diejenigen, die trotz besseren Wissens über die Devianz schweigen, sie sogar klammheimlich tolerieren und ein effektives Gegensteuern unterlassen, haben sozial konturierte Motive im Kopf. Doping geschieht demnach in Übereinstimmung mit sozial verbreiteten Situationsdefinitionen, Interessenswahrnehmungen und Gelegenheitsstrukturen und ist deshalb ein genuin soziologisches Thema. Wenn Regelverstöße in einem bestimmten Handlungskontext nicht mehr die Ausnahme darstellen, sondern zur Regel geworden sind, ist es nicht nur legitim, sondern wichtig und unverzichtbar, danach zu fragen, welche Dynamiken diesen Reproduktionszyklus der Abweichung antreiben, welche Intentionen und Risiken mit der Devianz verbunden sind und wie aus soziologischer Sicht mit dem Phänomen umgegangen werden sollte. Um dies konkret anzugehen, diskutiert der erste Abschnitt Doping als ein transintentionales Konstellationsphänomen. Damit ist der Umstand gemeint, dass die Dopingdevianz von Athleten primär nicht als Resultat isolierter individueller Entscheidungen anzusehen ist, die etwa auf der Grundlage schlechter Charaktereigenschaften oder fehlgeleiteter Siegesambitionen von Athleten, Trainern oder Sportfunktionären getroffen würden. Doping ist vielmehr auf der Makroebene des Geschehens das Ergebnis des Zusammenwirkens unterschiedlichster Akteurinteressen am Spitzensport – mit der Konsequenz, dass alle Beteiligten, insbesondere die Athleten und Athletinnen, sich unversehens in einer eskalierenden Anspruchsspirale wiederfinden, der sie nicht einfach entrinnen können. In diesem Zusammenhang sollen die Bedeutung des Sportpublikums sowie die Rolle von Massenmedien, Wirtschaft und Politik angesprochen und die Handlungsverkettungen thematisiert werden, die sich zwischen diesen Akteuren ergeben haben und der Dopingneigung strukturell Vorschub leisten – selbst dann, wenn sich die Mehrzahl dieser Akteure explizit gegen Doping ausspricht. Der zweite Abschnitt nennt die wichtigsten Konsequenzen der intersystemischen Nutzenverschränkungen zwischen dem Spitzensport und seinen relevanten gesellschaftlichen Umwelten: die »Entfesselung« des Siegescodes, die Totalisierung der Sportlerrolle und die klammheimliche Entstehung einer Doppelmoral, die das traditionelle Achtungsschema des Sports für ein »gutes« oder »schlechtes« Handeln auf den Kopf stellt. Außerdem soll der Erwartungssog angesprochen werden, in den anwendungsorientierte Wissenschaftsdisziplinen wie die Sportmedizin oder Pharmakologie hineingeraten, wenn sie dem totalisierten Spitzensport zu nahe rücken. Der dritte Abschnitt stellt Doping als illegitime Innovation vor. Denn genau darum geht es: Legitime soziale Ziele, man

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denke nur an sportliche Erfolge und Siege, sollen möglichst treffsicher mit illegitimen Mitteln erreicht werden. Um diesen Sachverhalt abzuklären, sollen die Intentionen der Dopingakteure in zeitlicher, sachlicher und sozialer Hinsicht modelltheoretisch rekonstruiert und mit den tatsächlich hervorgerufenen Risiken kontrastiert werden. Das abschließende Kapitel skizziert unter dem Stichwort »Konstellationsmanagement« Schlussfolgerungen für eine zukünftige Präventionsarbeit, die nicht am Subjekt ansetzt, sondern die Konstellationsakteure einbezieht, die Doping auch unwissentlich miterzeugen helfen. Damit steht am Ende ein Problembewältigungsvorschlag, der über die bisher installierten, personenfixierten Kontroll- und Aufklärungsmaßnahmen deutlich hinausgeht und die Richtung angibt, in der zukünftig nach komplexitätsangemessenen AntiDoping-Strategien gesucht werden sollte. Denn eine Erkenntnis ist als gesichert abzubuchen: Die bisherigen Maßnahmen sind weder geeignet, Doping entscheidend zu bekämpfen, noch zeigen sie gangbare Wege aus der Dopingsackgasse auf. Eine strukturell durch eine stabile Akteurkonstellation angestoßene Abweichung verschwindet schließlich nicht einfach, wenn man Einzelpersonen aus dem Verkehr zieht, bestraft oder ihnen in biografischen Hochkostensituationen mit erzieherischen oder aufklärungsorientierten Maßnahmen beizukommen versucht. Dauerhaftigkeit und Hartnäckigkeit in der Verwendung illegitimer Verfahren und Mittel weisen vielmehr darauf hin, dass im Spitzensport überindividuelle Dynamiken am Werk sind, die sich nicht linear aus den Handlungsintentionen einzelner Personen ableiten lassen.

KONSTELLATIONSAKTEURE UND AKTEURKONSTELLATIONEN Das Dopingthema ist in den letzten Jahren zu einem festen Bestandteil der Kommunikation über den Sport geworden. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen einzelne Athleten, aber auch Trainer, Sportfunktionäre, Manager, Ärzte oder Apotheker, denen der Vorwurf gemacht wird, hinter einer Fassade der Regeltreue perfide Täuschungsakte vollzogen, abverlangt, unterstützt oder geduldet zu haben, um sportliche Leistungen zu steigern und um tatsächliche oder nur befürchtete Nachteile gegenüber den Konkurrenten aus der Welt zu schaffen. Als Antriebsfaktoren werden diesen Akteuren übersteigerte Erfolgsmotive, Ruhmsucht, Geldgier und insgesamt moralische Verkommenheit unterstellt. Entsprechend einfach fallen die Reaktionen aus. Das Motto heißt: »Haltet den Täter und bestraft ihn!« Nur mit Kontrolle, Strafe und einer begleitenden ethischen Aufrüstung könne der »Dopingsumpf«, so die Meinung, trockengelegt werden.

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Hinter dieser Theorie der schwarzen Einzelschafe steckt eine der kulturellen Leitideen der modernen Gesellschaft: die Vorstellung von der Autonomie des Subjekts. Menschen sind und sollen in ihrem Handeln selbstbestimmt sein. Gegenüber dieser in der europäischen Aufklärung entwickelten Einschätzung nimmt die Soziologie eine kritische Position ein. Soziologen relativieren die Autonomieidee als Tatsachenbeschreibung und betonen stattdessen die Verstrickung des Einzelnen in soziale Handlungszwänge.34 Von der Autonomie ihres Handelns können Menschen eigentlich nur dann ausgehen, wenn sie sich dem schmerzhaften Blick in die soziale Bedingtheit ihres Tuns dauerhaft verweigern. Ego handelt in der Regel nicht als alleinlebende, selbstbestimmte Monade; sein Handeln koinzidiert vielmehr mit dem Handeln vieler anderer. Hierdurch entsteht eine überindividuelle Realität, die sich in ihren Wirkungen dem geplanten und treffsicheren Zugriff des einzelnen Subjekts entzieht. Menschen schaffen Situationen, aber Situationen schaffen auch ihre Menschen und versorgen individuelle Akteure mit Motiven für ihr Handeln (vgl. Kap. 5). Die Soziologie geht dabei weder von einem rigiden Determinismus im Verhältnis von Kontext und Handeln noch von einem grenzenlosen Subjektivismus aus, der sich ohne soziale Vorgaben und Konsequenzen ausleben könnte. Das Credo der Soziologie, das sie von anderen Disziplinen absetzt, lautet: Es gibt eine Wirkungsmacht sozialer Bedingungen! Menschen werden in ihrem Handeln durch komplexe Verhaltenserwartungen beeinflusst, selbst wenn sie meinen, dass sie sich im Reich der reinen Freiheit aufhielten – schließlich muss auch das, was gemeinhin unter einem freiheitlichen Handeln verstanden wird, erst durch soziale Arrangements, Regeln und Institutionen hergestellt und stabilisiert werden. Das Fehlverhalten einzelner Personen in Sachen Doping wird durch diese soziologische Sichtweise nicht etwa relativiert und entschuldigt, sondern lediglich in einen größeren Zusammenhang gestellt. Vor allem kommen die verdeckten Stellgrößen in Sicht, an denen man anzusetzen hätte, um Normverstöße wirksam herunterzufahren. In Anwendung der modernitätskritischen soziologischen Perspektive zeigt die weitverbreitete Dopingpraxis, dass weniger der einzelne Sportler selbstbestimmt handelt, sondern vielmehr Akteurkonstellationen die eigentlichen Handlungsträger der Normdevianz im modernen Spitzensport sind. Eigendynamiken der Abweichung und Abweichungsverstärkung verstricken die Athleten national und international und über nahezu alle Sportdisziplinen hinweg in zunehmendem Maße ins Doping. Doping ist deshalb nicht plötzlich vom Himmel gefallen, sondern muss als eine nahezu zwangsläufige Folgeerscheinung der Sportentwicklung gewertet werden. Dopingdevianz ist damit nicht etwas, was __________________ 34 Siehe hierzu den Vergleich zwischen Doping und Terrorismus in Bette/Schimank (1999). Zu den Grundprinzipien der Soziologie siehe Bette (2010: 65ff.).

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einem Sportler zustößt – einmal abgesehen von jenen Fällen, in denen Sportler und Sportlerinnen hinter ihrem Rücken heimlich gedopt werden. Unfairness und Betrug sind in der Zwischenzeit vielmehr zu rationalen Wahlakten geworden, mit denen sich die Sportakteure kühlkalkulierend an die Möglichkeiten und Zwänge ihrer Lebenswelt anpassen.35 Die ausschließlich am selbstbestimmten Handlungswillen und am Charakter der Sportakteure festgemachte Rekonstruktion der Dopingverwendung durch die Sportverbände einerseits sowie durch Pädagogik, Medizin, Recht und Massenmedien andererseits erweist sich angesichts dieser Diagnose nicht nur als problematisch, sondern, wie Kap. 5 gezeigt hat, sogar als problemlösungsverhindernd. Bei der Beantwortung der Frage, in welchen strukturellen Kontexten sich die Sozialfiguren des Sports bewegen und wie dieser Kontext ihr Handeln prägt, stößt der soziologische Beobachter zunächst auf die Logik des Leistungssports, der die Athleten und Athletinnen sich ohne Wenn und Aber zu unterwerfen haben. Handlungsleitend für alle, die in Wettkämpfen gegeneinander antreten, ist das Dual von Sieg und Niederlage. Denn der Leistungssport muss, wie andere gesellschaftliche Teilsysteme auch, Mechanismen entwickeln, damit Handeln nicht irgendwie weitergeht, sondern in einer bestimmten Art geschieht. Codes versetzen Teilsysteme in die Lage, ihre eigene Identität zu definieren und das ihnen Eigentümliche zu reproduzieren. Jedes Subsystem konstituiert einen in sich geschlossenen, sich nur auf sich selbst beziehenden Zusammenhang von generellen kognitiven, normativen und evaluativen Orientierungen, die die teilsystemische Handlungslogik ausmachen. Evolutionär erfolgreich bei der Etablierung solcher stabiler gesellschaftlicher Leitorientierungen waren in der modernen Gesellschaft u.a. das Rechtssystem mit seinem Code von Recht/Unrecht, die Wirtschaft mit ihrem Code von Zahlungsfähigkeit/Nichtzahlungsfähigkeit, die Politik mit ihrem Code von Machtbesitz/Machtlosigkeit bzw. Regierung/Opposition oder die Wissenschaft mit ihrem Code von Wahrheit und Nichtwahrheit. Jede Position in der binären Logik von Sieg und Niederlage gewinnt ihre Bedeutung nicht in sich selbst, sondern nur als Verneinung des jeweils anderen Wertes. Einen Sieg anzustreben, ohne die Möglichkeit einer Niederlage einzukalkulieren, ergäbe keinen Sinn. Über Wahrheit zu sprechen, ohne Unwahrheit als Gegenpol mitzudenken, wäre wissenschaftlich unsinnig. Ebenso profiliert sich das Recht erst als Gegenpol zum Unrecht. Die sportliche Leitorientierung von Sieg und Niederlage stimuliert und stützt somit Handlungsmotive und generalisiert und legitimiert sie. Sie dient als strukturelle Koppelung zwischen Person und Teilsystem. Dritte Werte haben im Sport zunächst nichts zu suchen. Die Sieg/Niederlage-Logik des Leistungssports hat unerbitt__________________ 35 Bette et al. (2002: 362ff.). Siehe für die Mikroebene des Geschehens Kapitel 6, für die Mesoebene Bette/Schimank (1996a).

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liche Wettkämpfe institutionalisiert und weltweite Konkurrenzen auf Dauer gestellt. Einer kann immer nur gewinnen. Das olympische Motto drückt diese auf Steigerung und Überbietung ausgerichtete Logik unmissverständlich aus: Schneller, Höher, Stärker! Jeder Rekord ist nur dazu da, möglichst bald übertrumpft zu werden. Der Spitzensport weist damit einen nicht-teleologischen Charakter auf. Das paradoxe Ziel leistungssportlichen Handelns besteht darin, niemals ein Endziel der Leistungsentwicklung zu formulieren und festzuschreiben. Die einzige Freiheit, die individuelle Akteure in einer derart rigide vordefinierten Situation haben, besteht darin, sich dem Code nicht zu unterwerfen, den Spitzensport zu meiden oder nach einschlägigen Erfahrungen schnell wieder zu verlassen. Wer hingegen an organisierten Wettkämpfen Spaß hat, weil er sich dort vor den Augen eines zuschauenden Publikums mit Konkurrenten messen und sich selbst darstellen möchte, hat sich mit der Sieg/Niederlage-Orientierung zu arrangieren. Soweit die den Code programmatisch ummantelnden Regeln der formalen Gleichheit und des offenen Wettkampfausgangs eingehalten werden, weiß am Anfang niemand, wer am Ende das Spielfeld oder das Stadion als Gewinner oder Verlierer verlassen wird. Die aus der Ungewissheit der Leistungskonkurrenz entspringende Spannung ist insofern das Korrelat von Situationen, die dieser Logik unterliegen. Spannende Wettkämpfe faszinieren die Zuschauer. Damit ist das zweite Element der dopingerzeugenden Akteurkonstellation benannt: das Sportpublikum. Dank einer gestiegenen Nachfrage und verbesserter verkehrs- und kommunikationstechnischer Möglichkeiten ist der Spitzensport in den letzten Jahrzehnten zu einem festen und zentralen Bestandteil der modernen Freizeit- und Unterhaltungsindustrie geworden. Der Anteil der Gesellschaftsmitglieder, die sich zumindest für eine einzelne Sportart dauerhaft interessieren, ist dementsprechend immer größer geworden. Die Motive des Sportpublikums sind vielgestaltig (vgl. Kap. 1): Sportliche Wettkämpfe bilden, weil sie bis zur Unerträglichkeit spannend sein können, eine Insel der Abwechslung und kurzweiligen Ungewissheit im modernen Meer der Langeweile und Routine. Menschen können als externe Beobachter an einem inszenierten sozialen Konflikt teilhaben, ohne hierbei selbst leistungsmäßig gefordert zu werden. Für sie steht nichts auf dem Spiel. Es sind die Athleten, die sich bis zur völligen Erschöpfung verausgaben und bisweilen auch Kopf und Kragen riskieren. Die Zuschauer können mitzittern, euphorisch den Sieg feiern oder zerknirscht die Niederlage kommentieren. Dennoch gibt es für sie ein unbelastetes Genießen, ein erfülltes Gegenwartserleben. In der Beobachtung der Krisenbewältigung der Anderen vergisst der Einzelne sich selbst und seine Nöte und erreicht so einen Zustand der Selbst- und Seinsvergessenheit. Sportliche Wettkämpfe sind für das Publikum weiterhin interessant, weil sie neben dem Spannungserleben körperorientierte ästhetische Erfahrungen ermöglichen und Gemein-

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schaftserlebnisse jenseits von Intimität und Nähe zulassen. In einer Welt auseinanderlaufender Zeithorizonte, biografischer Brüche und Diskontinuitäten erschließt der Zuschauersport außerdem eine Sphäre der längerfristigen Verlässlichkeit und Kontinuität. Die Rhythmik sportlicher Wettkämpfe kann Halt geben, den Alltag strukturieren helfen und eine Verbindung zur Vergangenheit herstellen. Schließlich ermöglicht der Sport noch eine harmlose Art der Heldenverehrung (vgl. Kap. 2). Die Zuschauer können an einer geschlossenen Welt partizipieren, in der einzelne Personen oder Gruppen noch den alles entscheidenden Ausschlag zu geben vermögen. Der Sportheld legitimiert sich durch selbsterbrachte Leistungen, und nicht etwa durch die Umsetzung vormoderner Mechanismen der Positionsverteilung wie Geburt, Alter, Religionszugehörigkeit und Herkunft. Das Sportpublikum taucht im Kontext der Dopingproblematik als eine unorganisierte »Masse« auf, die durch ihre Nachfrage nach sportlichen Höchstleistungen soziale Aufmerksamkeit selektiv verteilt: Verehrung für die Erfolgreichen und Aufmerksamkeitsentzug für die Verlierer. Das heißt: Wer als Sportler dauerhaft beim Publikum ankommen möchte, um sich seine leistungsindividualistische Identität durch Beifall bestätigen zu lassen, muss erfolgreich sein und darf sich nicht zu lange im Lager der Verlierer aufhalten. Ansonsten drohen Nichtbeachtung oder sogar Häme. Durch die Massenhaftigkeit ihrer Nachfrage setzen die Zuschauer eine Dynamik frei, die der einzelne Sportkonsument nicht mehr kontrollieren kann. Wenn Millionen gleichzeitig ihr Fernsehgerät einschalten, weil sie an einem sportlichen Großereignis teilhaben wollen, wird der einzelne Zuschauer durch das gleichzeitige Interesse der anderen Zuschauer Teil einer sozialen Konstellation, die er selbst so nicht gewollt hat. Andere Bezugsakteure werden durch das Sportinteresse des Publikums auf den Spitzensport aufmerksam, machen diesem Sozialbereich Ressourcen verfügbar und installieren anschließend einen ungeheuren Erwartungsdruck gegenüber denjenigen, die letztlich die Leistungen zu erbringen haben oder für die Leistungserbringung verantwortlich gemacht werden: den Athleten, Trainern und Sportfunktionären. Folgende Handlungsverkettungen haben sich infolge dessen ergeben: Das Publikumsinteresse an Rekorden und spannenden Wettkämpfen weckt zunächst die Aufmerksamkeit der Massenmedien. Damit betritt ein weiterer Akteur der Dopingkonstellation die Bühne. Radio, Fernsehen und Zeitung informieren ihre Zuschauer, Leser und Hörer gemäß eigener Selektionsregeln über Sportereignisse. Medien bevorzugen Informationen, die einen hohen Neuigkeitswert besitzen, konfliktträchtig sind, quantitative Verrechnungen ermöglichen, lokale, regionale, nationale und internationale Bezüge aufweisen und zudem personalisierbar und moralisierbar sind (Luhmann 1996: 58ff.). Der Leistungssport bedient all diese Kriterien in besonderer Weise. Wettkämpfe bieten zunächst eine

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Serienproduktion von Neuheit. Man denke nur an die Berichterstattung über die Fußball-Bundesliga. Täglich passiert etwas Neues: Mannschaften steigen auf oder ab; Trainer werden eingestellt oder gefeuert; Spieler sind verletzt oder haben sich regeneriert; Torhüter überziehen einander wechselseitig mit Beleidigungen; Spieler der Reservebank äußern ihren Unmut über ihr marginales Sportlerdasein oder die Ehefrauen der Spieler treten untereinander in einen Schönheitswettbewerb. Der Spitzensport ist demnach ein sozialer Mechanismus, der durch seine innere Dynamik die Medien fasziniert und davon entlastet, selbst permanent berichtenswerte Neuigkeiten produzieren zu müssen. Die Auseinandersetzungen, die der sportliche Wettkampf regelgeleitet in Szene setzt, sind weiterhin in einer harmlosen Weise konfliktträchtig. Mindestens zwei Parteien treten gegeneinander an, um die Entscheidung zwischen Sieg oder Niederlage auszukämpfen. Der Sport erzeugt zudem durch seine Messrationalität und sein Hierarchisierungsbestreben ein riesiges Zahlen-, Tabellenund Datenuniversum, über das sich trefflich kommunizieren lässt. Wettkämpfe produzieren permanent Informationen, wer zu welcher Zeit an welchem Ort und zum wievielten Male eine bestimmte Leistung erbracht und sich gegen wen durchgesetzt hat. Hierbei wird die Komplexität des Geschehens auf dem Rasen oder in einer Sporthalle auf Zahlen und Statistiken reduziert, die dann wiederum als Aufhänger für das Erzählen von Anekdoten und Hintergrundgeschichten oder die Ausstrahlung alter Aufzeichnungen geeignet sind. Durch die Ausdehnung des Sports von der lokalen bis zur internationalen Ebene sind sportliche Ereignisse außerdem geeignet, Emotionen über Identifikationsprozesse nahezu beliebig auszulösen, was für die Medien, die ihre Einschaltquoten erhöhen und Zeitungsauflagen verkaufen wollen, besonders interessant ist. Radio, Fernsehen und Zeitung informieren allerdings nicht umfassend-neutral über Sportereignisse, sondern bevorzugen die erfolgreichen Athleten oder Sportdisziplinen der eigenen Nation. Anschlussfähig ist der Spitzensport an die Welt der Massenmedien auch dadurch, dass sportliche Wettkämpfe leicht moralisierbar und personalisierbar sind: Die Differenz zwischen Fairplay und Foulplay kann man im Fernsehen eben nicht nur in Gestalt von Filmen, Bildern und O-Tönen zeigen; man kann die Geschehnisse auch anhand des Moralschemas von Gut und Böse anschließend kommentieren, um sich so als externer Sachwalter der sportlichen Fairness zu installieren. Und der Personalisierungsbedarf der Medien – insbesondere der des bildorientierten Fernsehens – lässt sich durch die Sichtbarmachung individueller Leistung im Sport sowie die Verehrung von Sporthelden leicht befriedigen. Abstrakte Themen ohne Neuigkeitswert und Konfliktpotential, die sich außerdem noch einer Personenattribuierung und Moralisierung verweigern, haben in den Massenmedien geringe Chancen, berichtet zu werden.

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Selektionskriterien der Massen-

Leistungen des Spitzensports

medien Neuheit von Informationen

Serienproduktion von Neuheit

Bevorzugung von Konflikten mit Spannungsgehalt; Kommunikation von Erwartungsenttäuschungen

Spannung als Erlebniskorrelat des Sieg/Niederlage-Codes; Wettkampf als geregelter sozialer Konflikt

Vorrang von Quantitäten und Vergleichsdaten; Magie großer Zahlen

Systematische Erzeugung von Zahlen, Tabellen und Rekordbilanzen

Bevorzugung von Themen mit lokalen, regionalen und nationalen Bezügen und hohem Identifikationspotential aufseiten des Publikums

Wettkampforganisation von der lokalen bis zur internationalen Ebene; Athleten und Mannschaften als Stellvertreter des Publikums

Privilegierung von Normverstößen und Skandalen mit Moralisierungspotential

Verstöße gegen sportliche Regeln durch Foulplay, Doping, Bestechung etc.

Primat der Personalisierung; Zurechnung des Handelns auf einzelne Subjekte

Leistungsindividualisierung; Sichtbarmachung einzelner Personen oder Mannschaften

Abb. 4: Anschlussfähigkeit von Spitzensport und Massenmedien

Durch ihre Fähigkeit, Informationen mit Hilfe technischer Errungenschaften zu speichern und zu vervielfältigen, sind die Medien zu wichtigen Bindegliedern in der Verwertungskette des Spitzensports geworden. Sie wecken die Interessen von zwei weiteren Akteuren, die durch ihre spezifischen Einflüsse dazu beitragen, dass im Spitzensport eine starke Dopingneigung entstehen konnte, nämlich von Wirtschaft und Politik. Beide Funktionsbereiche lassen sich als Teilhaber des hohen Publikumsinteresses und der Mediennachfrage bezeichnen. Sponsoren geben Geld in den Sport, um das wirtschaftlich Wichtige mit Hilfe sportlicher Akteure und Situationen zu steigern – insbesondere dann, wenn das Fernsehen regelmäßig über die unterstützten Athleten, Mannschaften oder Sportarten berichtet. Der Sport ist nicht nur ein attraktives Werbemedium, sondern auch ein interessanter Absatzmarkt für Konsumgüter. Die Politik subventioniert den Spitzensport vor allem, um Begleitaufmerksamkeit für Politiker und deren Wiederwahlinteressen herzustellen. In der Politik geht es schließlich um Macht. Das Sportpublikum wird von Politikern im Sinne eines »basking in reflected glory« genutzt, um sich der eigenen Wahlklientel als Sportförderer bekannt zu machen. Was eignet sich besser für die harmlose Herstellung von Wir-Gefühlen und die Repräsentation der Nationalgesellschaft im Ausland, als

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sportliche Siege auf internationalem Parkett, die dank medialer Verbreitung ein Massenpublikum erreichen und begeistern können. Eben weil die Politik innerhalb der modernen Gesellschaft die Funktion erfüllt, »die Kapazität zu kollektiv bindendem Entscheiden« (Luhmann 2000: 84) bereitzuhalten, versuchen Politiker durch die Nähe zum Sport, Eingang in die öffentliche Meinung zu erlangen und durch die Nähe zum Sportpublikum eine Gewogenheit bei zukünftigen Wahlentscheidungen zu ermöglichen. Politik und Wirtschaft nutzen demnach die gesellschaftsweite Sichtbarkeit des Spitzensports, um sich selbst sichtbar zu machen und ins rechte Licht zu rücken. Wirtschaft und Politik sind allerdings ebenso wie das Publikum und die Massenmedien uneinsichtig bezüglich ihrer Beteiligung und Rolle in der Dopingproblematik. Die Sportzuschauer wähnen sich als unbeteiligte Beobachter, da eine Interaktion unter Anwesenden zwischen Sender und Empfängern bekanntlich weder im Radio, noch im Fernsehen oder bei der Lektüre einer Tageszeitung stattfindet. Und in der Tat hat die Mehrzahl des Publikums mit Hilfe der technischen Möglichkeiten der modernen Massenkommunikation nur aus der Distanz am Geschehen teil. Dennoch gilt, dass es ohne ein Publikumsinteresse am Sport kein Interesse am Spitzensport durch Medien, Wirtschaft und Politik gäbe. Hinzu kommt, dass alle Konstellationsakteure die Konsequenzen ihrer Verstrickungen nicht nur nicht sehen, sondern die Sportakteure überdies noch in perfide Beziehungfallen schlagen, aus denen es für den Sport kein Entweichen gibt: Politiker zeigen sich entrüstet, wenn Athleten des eigenen Landes des Dopings überführt werden, fordern ein härteres Durchgreifen der Sportverbände und beteiligen sich mit Steuergeldern an der Dopingbekämpfung – wobei sie diesbezüglich deutlich knauseriger sind als bei der Förderung und Belohnung von Spitzenleistungen. Bei ausbleibender Medaillenausbeute kürzen sie aber rigoros die Fördergelder für die weniger erfolgreichen Sportarten.36 Sponsoren wissen, dass nur ein als »sauber« erscheinender Sport langfristig ihre Werbe-Interessen bedient; sie schreiben deshalb öffentlichkeitswirksam Anti-Doping-Klauseln in ihre Athletenverträge und verlangen so den von ihnen geförderten Athleten vertraglich eine Dopingabstinenz ab; beim sportlichen Versagen der von ihnen geförderten Athleten wechseln sie aber schnell zu den erfolgreichen Athleten oder Mannschaften über, die noch nicht des Dopings überführt worden sind. Auch die Massenmedien stellen wie Wirtschaft, Politik und Publikum Beziehungsfallen auf: Fernsehsender kommentieren in morali__________________ 36 Selbst wenn die Politik inzwischen die Fördergelder für die olympischen Sportarten pauschal dem organisierten Sport (DOSB) zuweist, um diesem die Verteilung zu überlassen und sich selbst als neutrale Geberinstanz zu präsentieren, bleibt das Prinzip von sportlicher Leistung und finanzieller Gegenleistung erhalten. Ohne Medaillen oder hohe Rangplätze kein Geld!

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sierenden Stellungnahmen das Verhalten gedopter Athleten, lassen ihre eigene Verstrickung in der Akteurkonstellation aber systematisch unter den Tisch fallen und ziehen sich aus der Berichterstattung über Sportler, Mannschaften oder Sportdisziplinen schnell zurück, wenn die Leistungen nicht mehr stimmen und der Identifikationsbedarf des Publikums mit nationalen Siegern dort nicht mehr abgedeckt werden kann.

KONSEQUENZEN DER AKTEURVERSTRICKUNGEN Die wichtigsten Konsequenzen aus dem Beziehungsgeflecht zwischen Spitzensport, Publikum, Massenmedien, Wirtschaft und Politik lassen sich wie folgt benennen: Die sportliche Siegesorientierung ist durch die dem Sport von außen verfügbar gemachten Ressourcen geradezu entfesselt worden (Bette/Schimank 1995a: 52ff.). Gelder fließen in die Vereine und Verbände. Stützpunkte, Internate und andere Fördereinrichtungen werden errichtet. Hauptamtliche Trainer finden ihre Anstellung und werden vertragsmäßig auf die sportlichen Erfolge ihrer Schützlinge eingeschworen. Aus Amateuren sind längst Vollzeit-Athleten geworden, die sich selbst in jenen Disziplinen mit Haut und Haaren dem Spitzensport hinzugeben haben, in denen wenig Geld fließt.37 Die Athleten geraten durch den immer weiter eskalierenden Erfolgsdruck in eine Situation, in der sich die starke Nachfrage nach hochkarätigen sportlichen Leistungen durch Publikum, Medien, Politik und Wirtschaft nicht mehr mit den begrenzten körperlichen und psychischen Möglichkeiten in Einklang bringen lässt. Durch die Entfesselung des Siegescodes kommt es zu einer Überforderung von Körper und Psyche. Doping erscheint vor diesem Hintergrund als eine Strategie, um die Kluft zwischen den gewachsenen Anforderungen durch den von außen entfesselten Siegescodes einerseits und dem tatsächlichen Können der Sportlerkörper und der psychischen Verfasstheit der Athleten andererseits mit Hilfe technologischer und medikamentöser Interventionen zu überbrücken. Denn jeder Fortschritt im Reich der körperlichen Leistungsfähigkeit führt nicht zu einer dauerhaften Zufriedenheit der Sportakteure, sondern lässt den Ruf nach einem Mehr erschallen – auch weil die Konkurrenzsituationen des Sports dafür sorgen, dass Athleten sich auf bereits erworbenen Lorbeeren nicht allzu lange ausruhen dürfen. Wer heute siegt, kann morgen schon verlieren. Und da jeder Akteur dies weiß, wird die Leistungsspirale durch die Bemühungen derjenigen, die Erfolge __________________ 37 Vgl. hierzu die Konsequenzen der Hyperinklusion in die Spitzensportlerrolle, wie Bette/ Schimank (2006a) sie in ihrer Analyse der diversen Dopingfallen beschrieben haben.

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und Siege auch morgen erreichen möchten, permanent angeheizt. Im Unterschied zur unendlichen Steigerbarkeit des Sportcodes – man denke nur an das Sinnmotto des modernen Olympismus – weisen Körper und Psyche der Sportler als endliche Größen aber Grenzen des Wachstums und der Anpassungsfähigkeit auf. So ist eine hochkomplexe Matrix unterschiedlichster Akteurinteressen am Spitzensport entstanden, deren Erwartungen inflationär ins Kraut geschossen sind und denen viele Sportler nur noch durch Abweichung entsprechen zu können glauben. Die Athleten werden in zunehmendem Maße in ein komplexes Beziehungsgeflecht verstrickt, das handfeste Leistungserwartungen artikuliert und sogar vertragsmäßig festschreibt. Die Totalisierung der Sportlerrolle (Heinilä 1982) ist das Resultat dieser Entwicklung. Der Sportlerkörper als die maßgebliche Materialitätsbasis des Spitzensports wird durch die Anspruchsinflationierung überfordert: Das Siegen wird zu einem Muss, dem man sich als Sportler nur schwer entziehen kann. Damit ist klar: Doping ist als ein nahezu zwangsläufiger Effekt derjenigen Strukturen zu werten, die der moderne Hochleistungssport sowohl auf der Grundlage sportinterner Antriebsfaktoren als auch unter dem Einfluss sportinteressierter Umfeldakteure ausgeprägt hat. Der strukturell erzeugte Erfolgsdruck schafft eine nahezu unwiderstehliche Dopingneigung. Doping ist unter diesen Bedingungen nichts Akzidentielles, sondern etwas Essentielles des modernen Hochleistungssports. Es ist das transintentionale Ergebnis der Totalisierung des Leistungssports, das in ein intentionales Wollen der Akteure umschlägt, weil die Erfolgserwartungen gegenüber den Sportlern, Trainern und Sportfunktionären durch die Erwartungen sowohl des Publikums als auch politischer, wirtschaftlicher und medialer Instanzen verstärkt werden. Eine weitere Konsequenz lässt sich im Schatten dieser Entwicklung beobachten: Im Konkurrenzmilieu des Spitzensports ist eine Doppelmoral entstanden, die das bisherige Schema der Sportmoral auf den Kopf stellt und pervertiert. Die traditionelle Sportmoral differenziert die Welt des Sports anhand der Differenz von Gut und Schlecht. Gut sind diejenigen, die die Regeln und Normen des Sports einhalten: die also fair sind, die Postulate der formalen Gleichheit und der Ergebnisoffenheit respektieren und das Sportrecht einhalten. Schlecht sind jene, die hiergegen verstoßen: die beispielsweise ihre Gegner mit einer »Blutgrätsche« von hinten zu Fall bringen, die körperliche Bewegungsfreiheit ihrer Konkurrenten durch ein Festhalten an Körper und Kleidung beschränken, sich durch Schwalben unrechtmäßige Vorteile verschaffen oder eben in den Tiefen ihrer Körper verbotene Medikamente oder Verfahren zum Einsatz bringen. Wer die Regeln einhält, wird geachtet; wer gegen sie verstößt, wird missachtet und negativ sanktioniert. Achtung im Sinne einer generalisierten Anerkennung kommt jenen Personen zuteil, die den Erwartungen der Re-

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geltreue entsprechen. Achtung ist demnach ein soziales Tauschgut, das man im Sport, und nicht nur dort, einsetzt, um Handlungen zu motivieren, die als funktional für die Fortsetzung sozialer Beziehungen angesehen werden (Luhmann 1984: 318f.). Achtung lässt sich aber auch entziehen, wenn Verstöße gegen dominante Verhaltenserwartungen vorliegen. Der Schiedsrichter ist derjenige Akteur, der im unmittelbaren Wettkampfsystem über die Einhaltung der Regeln wacht und das Recht hat, bei Regelverstößen mit einem genau definierten Instrumentarium zu intervenieren, um den gefährdeten Gleichgewichtszustand zwischen den Parteien wiederherzustellen.

Regelkonformität Regelverstoß

Traditionelle Sportmoral

Subversive Untergrundmoral

gut

schlecht

schlecht

gut

Abb. 5: Doppelmoral im Spitzensport

Die subversive Untergrundmoral, die im Gefolge der Dopingmentalität Einzug in den Spitzensport gehalten hat, codiert das traditionelle Moralschema des Sports um: Das bislang Gute/Regelkonforme erscheint nun als schlecht, und das Schlechte/Unfaire hingegen als gut. Wer die offiziellen Sportregeln kreativ und heimlich außer Kraft setzt oder umgeht, dadurch Erfolge einheimst und die Konkurrenten auf die hinteren Plätze verweist, wird beklatscht, bekommt lukrative Sponsorenverträge und erhält vom Publikum und von den Massenmedien bei entsprechenden Erfolgen und Rekorden den öffentlichen Ritterschlag als Sportheld. Wer hingegen regelkonform agiert, auf Devianz verzichtet und wegen der Dopingpraktiken der Mitkonkurrenten in Wettkämpfen das Nachsehen hat, ist der Schlechte, weil er nicht anpassungsfähig ist und sich offensichtlich mit hinteren Rangplätzen zufriedengibt. Regeltreue Akteure, die die Gewinnerwartungen nicht erfüllen, werden häufig im Spitzensport dadurch abgestraft, dass man sie als »nicht zukunftsfähig« denunziert und ihnen knappe Kaderplätze und Fördergelder verweigert oder entzieht. Die Doppelmoral, die das Milieu des Spitzensports durchzieht und die normativen und evaluativen Orientierungen vieler Akteure prägt, entsteht somit durch die Inversion des traditionellen Moralschemas. Dieses Umkippen der klassischen Sportmoral muss allerdings verheimlicht werden, denn ansonsten könnten weder die Sportakteure ihre überlebenswichtigen Ressourcen von außen akquirieren noch die externen Bezugsgruppen in Wirtschaft, Politik, Me-

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dien und Publikum vom Spitzensport profitieren. So singen Sportler, Trainer und Sportfunktionäre auch dann noch das Hohelied von Fairness und olympischer Erziehung und simulieren nach außen Regeltreue, wenn sie durch ihre Verstrickungen und die Entfesselung des Siegescodes bereits genau entgegengesetzte Handlungsziele bedienen. Die traditionellen Werte des Sports bleiben auf der Strecke und eignen sich dann nur noch als Zitate, die man bei entsprechenden Anlässen, beispielsweise bei Kongressen, Jubiläen und Eröffnungsfeiern, demonstrativ vokalisiert, um Gesinnungstreue und Traditionsbewusstsein zu beweisen. Die Bedingungen für eine Steuerung des Spitzensports haben sich, wie diese Entwicklungen zeigen, durch die intersystemischen Nutzenverschränkungen des Spitzensports mit seinem Umfeld massiv verändert. Reichte die traditionelle Sportmoral noch in der Phase der relativen Selbstgenügsamkeit des Sports aus, um internen Fehlsteuerungen angemessen begegnen zu können, geraten die korporativen Sportakteure, die Sportverbände, in der Phase der massiven Fremdunterstützung in Zwänge und Handlungsdilemmata hinein, die eine Durchsetzung traditioneller Werte erschweren und sogar hintertreiben. Wer als Verband dauerhaft die offiziellen Anti-Doping-Regeln und die hiermit verbundenen Verhaltensstandards durchsetzt und die Devianten unbarmherzig aus dem Verkehr zieht, um so die Regeltreuen vor einer Anpassung durch Abweichung zu bewahren, wird durch Ressourcen- und Achtungsentzug von innen und außen bestraft, wenn hiermit längerfristig Erfolgseinbußen einhergehen. Schließlich bekommen die Sportverbände ihre Unterstützungsgelder von ihren wirtschaftlichen und politischen Sponsoren nicht aufgrund erfolgreich durchgesetzter Anti-Doping-Initiativen, sondern aufgrund von Medaillen bei internationalen Meisterschaften – und dies in einem global betriebenen Spitzensport, in dem Doping vielfach an der Tagesordnung ist. Auch die Medien wenden ihre knappe Aufmerksamkeit in der Regel nur denjenigen Sportlern und Sportdisziplinen zu, die dauerhaft erfolgreich sind. Verlierer, die das Publikum nicht zu begeistern vermögen, werden mit Nichtaufmerksamkeit abgestraft. Dass die offiziell auf Sauberkeit und Fairness ausgerichtete Selbstbeschreibung des Sports unter der Hand durch eine subversive Untergrundmoral unterlaufen und ersetzt wurde, kann angesichts dieser Verstrickungen und Handlungsdilemmata nicht überraschen. Eine weitere dramatische Konsequenz aus der Entfesselung des Siegescodes, der Totalisierung des Leistungssports und der Etablierung einer subversiven Untergrundmoral ergibt sich für das Verhältnis von Wissenschaft und Spitzensport. Wissenschaftsdisziplinen, die sich dem Spitzensport zuwenden, um dort anwendungsorientiert zu arbeiten, geraten unausweichlich in eine prekäre Situation hinein: Sie stehen in Gefahr, die Handlungsprämissen und ethischen Standards ihres Herkunftsmilieus aufgeben und sich kompromisslos dem sportli-

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chen Siegescode unterwerfen zu müssen, oder sie gehen das Risiko ein, keine Nachfrage vonseiten des organisierten Sports zu erfahren. Die Handlungsdilemmata und Beziehungsfallen, in welche die Sportverbände unausweichlich durch ihre wirtschaftlichen, politischen, massenmedialen Bezugsgruppen sowie das Publikum hineingeraten sind, werden weitergereicht und können auf der Rollenebene anwendungsorientierter Professionen zu Orientierungsproblemen, Loyalitätskonflikten und einer »brauchbaren Illegalität« (Luhmann 1964: 304ff.) führen. Die Gefahr, in einen illegitimen Erwartungssog hineinzugeraten, gilt insbesondere für jene Disziplinen, die, wie die Medizin oder Pharmakologie, in ihrem professionellen Handeln mit naturwissenschaftlichen Technologien zu tun haben und ein Monopol auf deren Anwendung oder Verbreitung etablieren konnten. Ärzte, die dem Spitzensport zu nahe rücken, über keine Positionsalternativen verfügen und nicht einer funktionierenden Peer-Kontrolle unterliegen, sind besonders anfällig. Ihnen fällt es schwer, unbotmäßigen Erwartungen ein beherztes Nein entgegenzusetzen, weil sie damit ihre berufliche Zukunft aufs Spiel setzten. Die Verheißungen, die der Spitzensport in Gestalt von Einkommen, Prestige, Drittmitteln, medialer Aufmerksamkeit, Reisen oder Zutritt zu knappen Forschungsfeldern zu bieten hat, können sich für anwendungsorientierte Professionen als subtile Verstrickungen erweisen. So haben einige Ärzte, wie die Dopingskandale der letzten Jahre gezeigt haben, ihre Ausrichtung an der Leitdifferenz von Gesundheit/Krankheit klammheimlich aufgegeben und sich dem Siegescode des Spitzensports unterworfen. Als Zwischenresümee lässt sich wie folgt festhalten: Doping ist ein Konstellationsphänomen, das sich zunächst erstaunlich unabhängig von den Handlungsabsichten einzelner Subjekte entwickeln und ultrastabil im Spitzensport festsetzen konnte, um anschließend ein intentionales, heimliches Wollen auf der Ebene der unmittelbaren Handlungsträger hervorzubringen. Konstellationsphänomene entstehen dadurch, dass die Funktionssteigerungsinteressen von mindestens zwei Akteuren zusammenfallen und sich miteinander verschränken. Dies ist bei der dopingerzeugenden Konstellation zweifellos der Fall: Leistungssportler werden durch den Siegescode des Spitzensports und die dadurch vorgegebene Handlungsorientierung darauf verpflichtet, siegen zu wollen und erfolgreich zu sein; das Sportpublikum will spannende Wettkämpfe erleben; Wirtschaftsunternehmen wollen durch eine Sportförderung letztlich Geld verdienen; und die Politik will die Aufmerksamkeit, die der Sport beim Publikum erzielt, in eigener Sache nutzen. Die Verschränkung dieser unterschiedlichen Interessen hat eine soziale Konstellation entstehen lassen, die Spitzensportler, Trainer und Sportfunktionäre nachhaltig unter Druck setzt und Doping als illegitime Copingstrategie immer wieder neu hervorbringt. Genau dies macht das Soziale dieser Devianz aus: dass sich durch das Zusammentreffen und die Verschränkung sportinterner Erfolgs- und Steigerungsambitionen mit externen

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Nutzenerwartungen im Spitzensport eine Realität jenseits offizieller Werte und Absichten etabliert hat, die einer Dopingneigung strukturell Vorschub leistet.

DOPING ALS ILLEGITIME INNOVATION Ein auf Leistung und Erfolg ausgerichteter Sozialbereich wie der Spitzensport, der ein knappes Gut, den sportlichen Sieg, in öffentlich beobachtbaren Konkurrenz- und Wettbewerbssituationen zur Verteilung und Belohnung bringt, regt ein entsprechendes individuelles und organisatorisches Innovationsstreben an, um die Ausgangsvoraussetzungen der Hauptakteure zu verbessern und Erwartungssicherheit im Hinblick auf die Zielerreichung herzustellen (Bette/Schimank 1995a: 166ff.; 2006a; 2006b). Die legitimen Maßnahmen, die im Sport eine Verwendung finden, sind bekannt: Technik, Taktik und Training sollen dabei helfen, dass Sportler nicht nur einfach an Wettkämpfen teilnehmen, sondern diese auch erfolgreich absolvieren. Auch der im Laufe der letzten Jahrzehnte entwickelte organisatorische und personelle Überbau in Gestalt von Leistungszentren, Stützpunkten, Materialprüfungs- und Entwicklungseinrichtungen oder hauptamtlichen Trainerstellen gehört zum legitimen Mittelinventar, um sportliche Leistungen systematisch zu steigern. Neben versteckten Fouls, heimlichen Manipulationen an Sportgeräten, Spionage, Korruption, betrügerischen Wettkampfabsprachen und Klassifikationsbetrug (beispielsweise durch gefälschte Geburtsdaten im Frauenturnen oder durch Fehlangaben von Schadensklassen im Behindertensport) gehört Doping zu den illegitimen Mitteln, die typischerweise im Sport zum Einsatz kommen, um Siege und Erfolge zu erreichen. Doping repräsentiert damit einen Handlungstypus, der Innovation über eine klammheimliche Devianz auf der Ebene des Mitteleinsatzes durchzusetzen trachtet, um die offiziellen Ziele spitzensportlichen Handelns möglichst zielgenau zu erreichen. Die sich dopenden Sportler wollen dabei nach außen als Akteure durchgehen, die sich an die offiziellen Regeln ihrer Sportart halten.38 Ein Sozialbereich, der für immer kleinere Leistungsverbesserungen inzwischen immer größere Investitionen verlangt und hierbei an die Grenzen der physischen und psychischen Machbarkeit gestoßen ist, entwertet offensichtlich die legale Trainingsarbeit als alleinigen Fortschritts- und Verbesserungsmotor für die Steigerung von Athletenleistungen und stimuliert, auch ohne es explizit zu fordern, ein Sondieren und Experimentieren in den __________________ 38 Vgl. hierzu die Ausführungen des US-amerikanischen Soziologen Robert K. Merton (1968: 185-214; 215-248).

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Grau- und Verbotszonen der Leistungsförderung. Man muss nur die Leistungsnormen für die Teilnahme an internationalen Wettkämpfen in den Sportverbänden so hoch ansetzen, dass man sie nur mit verbotenen Dopingpraktiken erreichen kann.

Legitime Innovation Definition

Mittel

Illegitime Innovation

– Erreichen sozial akzeptierter Ziele mit sozial akzeptierten Mitteln

– Erreichen sozial akzeptierter Ziele mit sozial nicht akzeptierten Mitteln

– – – – –

– – – – – – –

Training Taktik Technikverbesserung Talentsuche und -förderung Professionalisierung wichtiger Funktionsrollen – Optimierung der Förderlogistik

Foul-Play Wettkampfabsprachen Bestechung Gerätemanipulation Doping Spionage Klassifikationsbetrug

Abb. 6: Legitime und illegitime Innovationen

Die innovatorischen Leistungen, die der Einsatz von Dopingmaßnahmen zu erreichen verspricht, betreffen die Zeit-, Sach- und Sozialdimension des Spitzensports (Bette/Schimank 1995a: 170ff.). Und es ist dieses weite, über das rein Physische hinausgehende Leistungsspektrum der Dopingnutzung, das die Bekämpfung so schwierig und die gegenwärtigen Gegenmaßnahmen so hilflos erscheinen lässt. Das innovatorische Wirkungspanorama zeigt sich wie folgt: Sachlich ermöglicht Doping eine hochdifferenzierte, auf die Anforderungen der jeweiligen Sportart zugeschnittene Manipulation der Subjektkomponente des Sports. Es hilft beispielsweise, die physiologischen Grenzen herauszuschieben und eröffnet eine Nutzung der dem Willen des Sportlers nicht zugänglichen autonomen Leistungsreserven. Psychopharmaka nehmen die Angst, beruhigen oder machen aggressiv. Anabolika bauen Muskeln auf oder ermöglichen eine Regeneration. Sportler versetzen sich durch die Einnahme dieser und anderer Mittel in die Lage, Leistungen zu erbringen, die sie ohne eine Medikamentierung so nicht erreichen könnten. Zeitlich sorgt die Nutzung von Dopingmitteln für eine Verlängerung der Athletenkarriere sowohl nach vorne als auch nach hinten. Sportler können sich mit Hilfe diverser Medikamente und Verfahren früher in die Leistungselite hineinkatapultieren. Sie sind zudem in der Lage, die an den Zerfall der körperlichen Leistungsfähigkeit gebundene Begrenztheit ihrer Laufbahn durch Doping zu durchbrechen und auf der Zeitdimension zu stre-

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cken. So ist es durch Doping auch möglich, die natürliche Körperentwicklung der Sportler gleichsam zeitpunktfixiert in der Gegenwart einzufrieren, um eine möglichst hohe Adäquanz zwischen Körper und sportartspezifischen Anforderungen zu erreichen. Oder: Wo junge Körper und Psychen den Anforderungen von Training und Wettkampf besser entsprechen als erwachsene, liegt der Griff zu Maßnahmen nahe, die die natürliche Akzeleration verhindern. Man denke nur an die Wachstumsverhinderung im sog. Frauenturnen. Doping verkürzt zudem die Verletzungs- und Regenerationszeiten und sorgt für eine Rationalisierung »unproduktiver« Wartephasen. Doping wirft demnach einen Zeitnutzen in mehrfacher Hinsicht ab. Es beschleunigt und verlangsamt Sportlerkarrieren, verkürzt den Stillstand und synchronisiert Körperentwicklung und Hochleistungssport. Die sozialen Innovationsleistungen ergeben sich vor dem Hintergrund des eskalierenden Konkurrenzdrucks im modernen Spitzensport. Ungebremst durch die formellen Regeln der Verbände verbinden Dopingakteure mit ihrer Abweichung die Hoffnung, sich in Wettkampfsituationen kalkulierbar Vorteile zu verschaffen. Doping verkörpert – im wahrsten Sinne des Wortes – den Siegescode pur. Insofern sind dopende Sportler entgegen ihrer Etikettierung durch das Sportestablishment sehr wohl am höchsten Leitwert des Leistungssports orientiert. Denn das Ziel spitzensportlichen Handelns besteht, aller Olympischen Pädagogik zum Trotz, eben nicht im Fairsein, sondern im Gewinnen. Die immer noch anzutreffende Rhetorik des »Dabeisein ist alles!« erscheint demgegenüber eher als notdürftige Kompensation der extremen Selektivität des Siegescodes. So werden Verlierer getröstet und als Gegner bei der Stange gehalten.39 Mit einem Dopingeinsatz streben Sportler, Trainer und die unterstützenden Akteure des Umfeldes eine konditionale Programmierung an: eine möglichst treffsichere und zeitpunktgenaue Wenn-Dann-Beziehung zwischen Mitteleinsatz und Zielerreichung. Es geht um eine Form kontrollierter und restringierter Kausalitätsnutzung. Dopingmittel erhalten aus Sicht ihrer Verwender die Funktion, als Technologien in nicht-trivialen Überschneidungsfeldern – Körper, Psyche und Sozialsystem – Trivialisierungswirkungen zu entfalten. Der Doping-Input soll einen erwartbaren Output erzielen. Es liegt auf der Hand, dass es gerade die naturwissenschaftlichen Knopfdrucktechnologien sind, die dieses Bedürfnis nach Komplexitätsreduktion befriedigen. Pillen und Spritzen suggerieren Sicherheit durch einfache Handhabung und liefern zudem den Nutzern einen bequemen Reflexionsverzicht. Sportler müssen keine Kenntnisse über biochemische Vorgänge, wissenschaftliche Vorreflexionen und Voraussetzungen besitzen, wenn sie beispielsweise auf Anabolika zurückgreifen. Doping ist __________________ 39 Dies entspricht der Cooling-out-These von Erving Goffman (1971).

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demzufolge eine Sonderform einer naturwissenschaftlich-technologischen Instrumentalisierung des Athletenkörpers, die unter Ausschaltung vorhandener Komplexität zur Steigerung des sportlich Möglichen beitragen soll. Der hier imaginierte Idealkörper ist der hemmungslos als Maschine instrumentalisierte, ohne Rücksicht auf Eigenzweck und Gesundheit technisierte Körper der Sportler. Der Einsatz der medizinischen Technologien spiegelt die Fortschritts- und Machbarkeitsphantasien des modernen Spitzensports wider. Die naturale Materialitätsbasis des Sports, der Körper, wird gefügig gemacht, weil die alleinige Anpassung durch Training als nicht mehr ausreichend erscheint. Dass der menschliche Körper freilich nur begrenzt trivialisierbar und technologisierbar ist, verdeutlichen die gesundheitlichen Konsequenzen des Dopings: Es kann zu Krankheiten und dauerhaften Schädigungen kommen – im Extremfall mit Todesfolge. Manche Medikamente setzen das körpereigene Alarmsystem außer Kraft, reduzieren die Koordination und Konzentration, führen zu psychischen Abhängigkeiten und erhöhen das Aggressionspotential der Nutzer (Bette/Schimank 1995a: 178ff.). Bei Frauen resultieren bestimmte Medikamente in Regelstörungen, Vermännlichungserscheinungen und Befindlichkeitsänderungen. Während Schwangerschaften kann es zu Fehlentwicklungen der noch ungeborenen Kinder kommen. Diese keineswegs vollständige Auflistung möglicher physischer und psychischer Konsequenzen zeigt, dass Doping nur in einer sehr begrenzten Weise eine funktionierende Simplifikation und Trivialisierung darstellt. Dopinginterventionen sind hochriskant, wirken nur eine bestimmte Zeit und sind weder im Ergebnis noch in ihren Wirkungen eindeutig kalkulierbar. Die gesundheitlichen Schädigungen werden von den Betroffenen sachlich und zeitlich bagatelliert. In sachlicher Hinsicht beruhigt man sich damit, dass es keine gesicherten Erkenntnisse über Dopingschäden gäbe bzw. solche Schädigungen bei einer angemessenen medizinischen Betreuung in Grenzen gehalten werden könnten. In zeitlicher Hinsicht werden mögliche Schädigungen weit in der Zukunft verortet, also in einen Zeithorizont projiziert, der angesichts des gegenwärtigen Erfolgsdrucks noch nicht weiter bekümmert. Man könnte dies als Futurisierung der Schadenserwartungen bezeichnen. Der angestrebte Innovationsnutzen des Dopings beschränkt sich nicht nur auf die Sportler und Sportlerinnen, er lässt auch all diejenigen parasitär teilhaben, die assistierende und ermöglichende Funktionen innerhalb und außerhalb des Leistungssports ausüben. Trainer, deren berufliche Leistungsfähigkeit letztlich nur über die sportlichen Ergebnisse ihrer Komplementärrolleninhaber messbar ist, werden über dopingfundierte Erfolge von Athleten in die komfortable Lage versetzt, Reputation und Einkommen zu steigern. Politiker, die knappe Finanzen bewilligen, können sich im warmen Licht sportlicher Siege mitsonnen und sich über die Darstellung einer generellen Sportfreundlichkeit für Wahlen ins Spiel bringen. Für Sponsoren, die einen Imagetransfer zugunsten ihrer Produkte

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im Auge haben, fällt ebenso eine Begleitaufmerksamkeit ab, wenn gedopte und unentdeckte Athleten erfolgreich sind. Selbst die Zuschauer, die über den Mechanismus der Identifikation mit Siegern am Geschehen teilnehmen, haben etwas davon, wenn Doping als Devianztypus erfolgreich ist, solange er nicht bemerkt wird. Sie bekommen virtuose Leistungen zu sehen, die sonst nicht möglich wären. Davon profitieren schließlich auch die Massenmedien. Sie können ihre Einschaltquoten über die Darstellung spannender Wettkämpfe erhöhen. Wechselt man vom einzelnen Sportler auf die Konkurrenzsituation zwischen den Athleten über, gerät der eskalierende Zwangscharakter des Dopings in den Blick. Ähnlich wie Firmen, die zur Erzielung von Konkurrenzvorteilen gleichsam genötigt werden, über permanente Verbesserungen nachzusinnieren, wenn sie sich dauerhaft am Markt halten wollen, ergibt sich für diejenigen, die Dopingmittel in Leistungsvergleichen einsetzen, die Notwendigkeit, damit immer weiterzumachen, um innovatorische Vorteile zu erlangen oder auf Dauer zu stellen. Der Rückfall bereits ertappter Sportler (Paradebeispiel: Ben Johnson) ist nicht überraschend, sondern erwartbar. Er ist vielleicht der beste Beleg für die strukturellen Zwänge im Leistungssport. Es gibt demnach nicht nur eine Pfadabhängigkeit von Sportlerkarrieren. Bei denen, die ihre sportliche Reputation nur mit Hilfe eines illegitimen Doping-Einsatzes gewinnen konnten, existiert auch eine Pfadabhängigkeit der Abweichung. Wer bereits große Investitionen in seine Sportlerkarriere in zeitlicher, sachlicher und sozialer Hinsicht vorgenommen hat, will seine bisherigen Anstrengungen auch weiterhin mit Hilfe der verführerischen Innovationskraft des Dopings in Erfolgswährung aufgehen sehen. Lächerlichkeit droht ansonsten der Preis für diejenigen zu sein, die sich mit Hilfe von Dopingmitteln in die Spitze hineingebracht haben und einen Verzicht mit minderen Leistungen zu bezahlen hätten. Sprinter, die dopingfrei signifikant langsamer liefen, machten sich verdächtig, würden aus der institutionellen Förderung ausgeschlossen und mit Reputationsverlust bestraft. Doping erscheint vor diesem Hintergrund insgesamt als eine paradoxe Strategie. Dopende Athleten versuchen, ihren prinzipiell riskanten Anstrengungen eine Investitionssicherheit zu geben. Sie greifen auf Verfahren zurück, von denen sie meinen, dass sie Erfolge erwartbarer machten. Diese Strategien zur Absorption von Unsicherheit und Risiko sind selbst aber wiederum höchst riskant. Die Sportler können sich nicht nur gesundheitlich ruinieren und dauerhaft Schäden einhandeln; wenn ihr illegitimes Innovationsbestreben bekannt wird, werden sie bestraft und öffentlich als Normverletzer stigmatisiert. Trotz der Risiken wird Doping von vielen offensichtlich als unverzichtbar und notwendig angesehen. Die Konkurrenzsituation der Sportler führt allerdings dazu, dass die Unsicherheitsabsorption immer wieder vereitelt wird. Denn die miteinander konkurrierenden Sportler sind letztlich deshalb, weil sie sich wechselseitig unter Erfolgsdruck stellen, alle in derselben Lage und reagieren entsprechend

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gleichartig. Doping als Strategie der Unsicherheitsreduktion funktioniert daher nicht so, dass der einzelne Sportler mit Gewissheit eine im Vergleich zu seinen Konkurrenten erhöhte Erfolgsquote erreichen könnte. Die Koinzidenz mit dem Doping der Mitkonkurrenten reduziert den erwartbaren Nutzen für alle Beteiligten. Der intendierte Wettbewerbsvorteil kommt dadurch nicht treffsicher zustande. Selbst Pioniergewinne durch die Nutzung neuer und riskanterer Dopingtechnologien werden schnell eingeholt, wenn die Konkurrenz nachzieht und sich entsprechend aufrüstet. Damit bewirkt Doping allerhöchstens eine Nachteilsvermeidung und übernimmt dann die perverse Aufgabe, formale Gleichheit in dopingimprägnierten Disziplinen herzustellen. Dopingstrategien erweisen sich also insgesamt als trügerisch, weil sich die Sportler nicht nur neue Risiken einhandeln, sondern weil viele das Gleiche tun. Und weil niemand genau weiß, ob alle ernsthaften Mitkonkurrenten inzwischen dem Ruf der Dopingkritiker gefolgt sind und mit ihrer Devianz aufgehört haben, müssen alle weiterdopen, wenn sie im Weltsport auf den vorderen Rängen mitmischen wollen. Aus einem offensiven Doping, in dem nur sehr wenige Sportler sich einen heimlichen Vorteil gegenüber den ansonsten dopingfreien Konkurrenten erwirtschaften, wird schnell ein defensives Doping, wenn knappes Insiderwissen nach außen dringt oder die Devianz der sich offensiv dopenden Sportler anderweitig beobachtet, entlarvt und durch ein Dopen der bislang Dopingabstinenten gekontert wird. Die faktisch vollzogene oder auch nur vermutete Devianz der einen erzeugt so die Devianz der anderen. So entstehen eskalatorische Spiralen der Abweichungsverstärkung und eigendynamische Aufschaukelungseffekte, die selbst dann weiterlaufen, wenn die Athleten bereits den Spitzensport freiwillig oder unfreiwillig verlassen haben. Abweichungsverstärkend wirkt der Umstand, dass die Konkurrenten sich zwar in den Wettkämpfen oder im Training wechselseitig beobachten, dennoch aber kein profundes und stichhaltiges Wissen über das Dopinghandeln der jeweils anderen Seite gewinnen können. Das Misstrauen bleibt bestehen – auch dann, wenn alle beteuern, dass sie »clean« wären. Bis hierher sollte klar geworden sein, dass die übliche personalisierende und singularisierende Betrachtung des Dopings vollkommen an der Sache vorbeigeht. Die Ursachen und Dynamiken der Devianz sind vielmehr auf der überpersonellen Ebene komplexer gesellschaftlicher Konstellationen angesiedelt. Ebenso unangebracht wie eine Personalisierung ist es allerdings, auf dieser überpersonellen Ebene diffus moralisierend von »Werteverfall«, »Kommerzialisierung« oder »Moralverlust« zu schwadronieren. Eine nüchterne soziologische Betrachtung vermag demgegenüber sehr genau herauszuarbeiten, welche gesellschaftlichen Akteure wie und mit welchen Folgen an der Herstellung des Dopingproblems beteiligt sind. Die Frage, warum immer mehr Athleten unter einen Erfolgsdruck geraten, der sie zum Doping als Problemlösungsstrategie

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greifen lässt, kann mit Hilfe einer Konstellationsanalyse präzise beantwortet werden. Entscheidend ist dabei, dass auch diejenigen Akteure, von denen der Erfolgsdruck ausgeht, diesen nicht einfach abstellen können. Auch sie handeln nicht aus freien Stücken und regen nicht mutwillig zu Normverstößen an, sondern unterliegen ihrerseits strukturellen Zwängen. Letztlich handelt jeder Akteur aus seiner Sicht völlig rational. Sportorganisationen wollen auf dem internationalen Konkurrenzmarkt bestehen und eine möglichst hohe Medaillenausbeute ihrer Athleten und Athletinnen erreichen. Wirtschaftsunternehmen geben Geld in den Spitzensport, um zu werben und Produkte zu verkaufen. Staatliche Instanzen subventionieren den organisierten Leistungssport jährlich mit Millionen, um Nähe zu den Interessen des Sportpublikums herzustellen und die eigene Wählbarkeit zu steigern. Die Medien wollen ihre Einschaltquoten und Auflagen erhöhen. Und das Publikum will an spannenden Sportereignissen teilhaben, um Langeweile und Routine zu bekämpfen, Gemeinschaftsgefühle und harmlose Voyeurismen auszuleben, ästhetische Erfahrungen zu sammeln oder Helden zu verehren. Alle diese Handlungsintentionen sind für sich genommen völlig legitim. Doping zeigt allerdings, dass zweckrationale und zielorientierte Handlungen, wenn sie in komplexen Konstellationszusammenhängen stattfinden und sich ineinander verschränken, häufig kontraintuitive und problematische Effekte hervorrufen können, die sich pfadabhängig festsetzen und einer Veränderung hartnäckig Widerstand leisten.

DOPINGBEKÄMPFUNG ALS KONSTELLATIONSMANAGEMENT Zunächst ist festzuhalten, dass eine vollständige Eliminierung des Dopingproblems nicht in Sicht ist. Diese Einschätzung sollte nicht erschrecken, da auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen Devianzen passieren, die nicht völlig aus der Welt zu schaffen sind. Die bisher praktizierten Maßnahmen der Dopingbekämpfung lassen sich größtenteils in zwei Gruppen einteilen: Kontrollen und Strafen auf der einen, pädagogische Charakterstärkung auf der anderen Seite. Dopingkontrollen greifen im Nachhinein ein – bislang mit wenig Erfolg. Aber selbst wenn die Kontrollmaßnahmen sich entscheidend verbessern ließen, bliebe ihr Manko, dass sie Doping nicht von vorneherein verhinderten, sondern nur als schon geschehene Devianz eliminierten. Allenfalls könnte sich mit der Zeit ein Abschreckungseffekt der Bestrafungen einstellen, und dies auch nur bei einem dauerhaft hohen Kontrollaufwand. Im Gegensatz zur Bestrafung, die als eine Form der Außenlenkung anzusehen ist, zielt die Pädagogisierung darauf ab, Normkonformität im Innern der Sportler zu verankern. Etwaige Anfechtungen könnten dann durch die Sportler selbst abgewiesen werden. Sauberkeitser-

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wartungen würden durch Sozialisationsprozesse verinnerlicht werden, so dass eine Kontrolle durch Sanktionierung, Appell oder Ermahnung entfiele. Ein Athlet, der die Sportregeln in seiner Über-Ich-Struktur internalisiert hätte, besäße ein Sensorium, das ihm in bestimmten Gefährdungssituationen genau »sagte«, was er zu tun oder zu unterlassen hätte. Ein derart aufgerüsteter Sportler beobachtete sich gleichsam innen von außen am scharfen Strahl offizieller Normerwartungen. Falls er den Pfad der Regeltreue verließe, würden interne Regelmechanismen einsetzen, um Normerfüllung durch Selbstmissbilligung wiederherzustellen (Schimank 2000a: 50). Wer die Einhaltung der sozialen Normen zum festen Bestandteil seiner Identität erhoben hätte, brächte seine Ich-Konstruktion ins Wanken, wenn er gegen die bestehenden Sportregeln verstieße. Entsprechend angeleitete Fairplay- und Ethik-Initiativen versuchen so auch, die Dopingresistenz der Athleten zu stärken, und zwar gegen das rationale Eigeninteresse der Sportler, sich angesichts ihrer prekären Situation zu dopen. Unterstellt man den Verbänden hier einmal ein ernsthaftes Interesse an der Dopingbekämpfung, was aufgrund vorhandener und strukturell erzeugter Handlungsdilemmata in der Wirklichkeit der Sportverbände so nicht anzutreffen ist, wäre eine Internalisierung der Regeltreue aus ihrer Sicht ausgesprochen funktional, weil dies den Kontrollaufwand reduzierte und bestenfalls Maßnahmen zu treffen wären, die Akteure an die Normtreue zu erinnern. Aus der Sicht der Soziologie kann eine Dopingbekämpfung nicht ausschließlich und nicht einmal vorrangig auf derartige personenorientierte Maßnahmen setzen. Kontrollen und Bestrafungen sowie Charakterstärkung durch FairplayInitiativen haben ihren Sinn, bleiben aber bestenfalls Stückwerk, wenn sie nicht von wirksamen Maßnahmen auf der strukturellen, überpersonellen Ebene begleitet werden. Nachdem die Selbstbeschränkungsabkommen der Athleten und Athletinnen (Bette/Schimank 1995a: 337ff.) alle gescheitert sind, weil internationale Kooperationen entweder nicht zustande kamen oder unter dem Druck internationaler Konkurrenzverhältnisse zerrieben wurden, ist es an der Zeit, einen zusätzlichen Weg aufzuzeigen, der nicht auf Sanktionierung oder Pädagogisierung setzt, sondern die Akteure einbezieht, die Doping miterzeugen helfen. Welche Schwierigkeiten bei der Umsetzung eines derartigen Vorschlags zu erwarten sind, soll allerdings nicht verschwiegen werden, auch wenn dies, was nicht beabsichtigt ist, wie eine Zusatzklausel klingt, die um die Vergeblichkeit ihrer Wirkung weiß. Wer sich als Soziologe darüber wundert, dass die von ihm beobachteten Sozialsysteme und Akteure sich soziologischen Erkenntnissen und Beratungsofferten verweigern und diese vielmehr nur dann nutzen, wenn sie eigene Funktionsinteressen bedienen helfen, hat von der Selbstbezüglichkeit und Eigenlogik sozialer Systeme wenig begriffen. Soziologisch ist klar: Da Doping ein Konstellationsphänomen ist, muss die dopingerzeugende Konstellation geändert werden. Die Dopingbekämpfung ist

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daher zuallererst als »Konstellationsmanagement«40 zu konzipieren und zu realisieren. Das heißt: Maßnahmen der Dopingbekämpfung müssten mit all jenen Sozialbereichen abgestimmt werden, die ihren Anteil an der Totalisierung des Spitzensports und der Entfesselung des sportlichen Siegescodes beigesteuert haben. Auf der Makroebene des Geschehens heißt dies: Eine Reduktion der Dopingpraktiken ist nur dann erwartbar, wenn die ruinöse strukturelle Koppelung des Spitzensports mit anderen gesellschaftlichen Teilsystemen überwunden oder reduziert wird, wenn also die inzwischen als unverzichtbar angesehenen offensichtlich süchtig machenden Nutzenverschränkungen des Spitzensports mit Medien, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft durch ein entsprechendes intersystemisches und global ausgerichtetes Governance-Regime in einer konzertierten Anstrengung so transformiert werden, dass nicht länger Dopingdruck, sondern Druck in Richtung einer effektiven Dopingbekämpfung von ihnen ausgeht. Das Motto lautet: Kollektiv erzeugte Probleme können nur kollektiv gelöst werden! Dies gilt für Doping ebenso wie für viele andere Probleme, die in modernen Gesellschaften durch Akteurverstrickungen als transintentionale Effekte entstanden sind. Man denke nur an die Ökologieproblematik, an der eben nicht nur »böse« Kapitalisten oder »ignorante« Politiker, sondern auch Verbraucher und Konsumenten durch ihre Nachfrage beteiligt sind. Auch das Problem des Rinderwahnsinns bleibt analytisch unterbelichtet, wenn man lediglich auf eine »geldgierige« Viehwirtschaft verweist, die in der Massentierhaltung bedenkliches Billigfutter einsetzt; auch in Sachen BSE sind wiederum die Konsumenten mit im Spiel, wenn sie an der Ladentheke auf kollektiver, aber untereinander nicht abgestimmter Basis das billigste Stück Fleisch kaufen und so dazu beitragen, den Einsatz qualitativ höherwertiger Futtermittel strukturell zu demotivieren. Die zentralen Fragen lauten: Wie können die gesellschaftlichen Teilsysteme, die Mitglieder der dopingerzeugenden Akteurkonstellation sind, in eine instruktive Interaktion gebracht werden, obwohl sie radikal voneinander getrennt existieren und Probleme, die sie selbst nicht lösen können, typischerweise nach außen drängen und dem gesellschaftlichen Umfeld zur Lösung überantworten? Wie kann eine problembezogene Abstimmung funktionieren, wenn diese Teilsysteme eigene Steuerungsmedien entwickelt haben und auch nur in diesen »Sondersprachen« ansprechbar sind? Wie könnte ein Konstellationsmanagement zwischen Publikum, Massenmedien, Wirtschaft, Politik und Spitzensport aussehen und funktionieren? Vorab ist einzukalkulieren, dass jede Akteurgruppe nur ihrer je eigenen Logik folgt, konsequenterweise nur ein Interesse an sich __________________ 40 Siehe hierzu und im Folgenden Bette/Schimank (2000a: 108ff.) und Bette et al. (2002: 372ff.).

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selbst hat und auf externe Anforderungen zunächst völlig verständnislos reagiert. Hierfür einige Beispiele: Die Massenmedien wollen ihre Einschaltquoten oder Auflagen erhöhen und übertragen Sportsendungen, weil diese von einem Millionenpublikum nachgefragt werden. Moralisch inspirierte Forderungen von außen, die Sendungen oder Kommentierungen einzuschränken, um so den Druck von Sportlern und Sportverbänden zu nehmen, würden die verschiedenen Medienanstalten deshalb nur als Zumutung wahrnehmen und entsprechend zurückweisen. Oder: Wirtschaftsunternehmen wollen Geld verdienen und unterstützen bestimmte Vereine, Verbände oder Personen, um durch deren Erfolge und Image auf sich selbst und eigene Produkte hinzuweisen. Auch sie ließen sich durch externe Einschränkungsforderungen eher nicht beeindrucken. Und warum sollte die Politik, die den Spitzensport jährlich mit Millionenzahlungen subventioniert, darauf verzichten, den potentiellen Wählern in dieser beiläufigen Art ihre Regierungsfähigkeit und nationale Gesinnung zu beweisen. Schließlich will auch das Publikum spannende Wettkämpfe mit nationalen Spitzenathleten sehen – möglichst rund um die Uhr. Forderungen, den eigenen Seh-, Hör- und Lesekonsum einzuschränken und auf die eigene Sportbegeisterung zu verzichten, um dadurch weniger Umfeldinteressen zu wecken und Athleten und Athletinnen weniger unter Druck zu setzen, würden auch von dieser unorganisierten Bezugsgruppe entsprechend vehement abgewehrt werden. Insgesamt wäre demnach bei einem Konstellationsmanagement zu beachten, dass alle beteiligten Akteure sich weder von oben motivieren noch von außen steuern lassen. Phantasien, die in Sachen Dopingbekämpfung auf Hierarchie und externe Intervention setzen, müssen in einer differenzierten Gesellschaft scheitern (Willke 1989: 111ff.). Ähnliches gilt für Moralappelle. Jede Empfehlung, die die Konstellationsakteure von außen in einen moralisch höherwertigeren Zustand emporzuheben trachtet, ist zum Scheitern verurteilt, weil sie die Funktionsweise ausdifferenzierter gesellschaftlicher Teilsysteme und die zwischen Sauberkeits- und Erfolgserwartungen hin und her oszillierenden Ambivalenzen des Publikums missachtet. Moralappelle oder pädagogische Empfehlungen können überhaupt nur dann wirken, wenn sie über Prozesse der Selbständerung und des Respektierens der eigengesetzlichen Kausal- und Relevanzstruktur der betroffenen Teilsysteme und Organisationen laufen. Bei einem kollektiven Lernen im Rahmen einer teilsystemübergreifenden Akteurkonstellation geht es demnach nicht darum, einem umfeldorientierten Altruismus das Wort zu reden oder an die Moralität von Personen und Rolleninhabern zu appellieren.41 Vielmehr gilt es einen auf Reflexion ausgelegten Konstellations-Egoismus anzuregen. Reflexion findet statt, wenn Ego sich in __________________ 41 Lernen ist kein Akt der passiven Informationsaufnahme, sondern ein aktiver, binnengesteuerter Selektionsprozess. Siehe hierzu allgemein Fritz B. Simon (1997).

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die Situation relevanter Bezugsgruppen hineinversetzt, um sich für diese als »angemessene Umwelt« zu installieren, damit diese wiederum für Ego eine »angemessene Umwelt« sein können. Es geht also darum, ein Verständnis zu entwickeln für die unerwünschten Externalitäten des jeweils eigenen Handelns und die Emergenzeffekte, die sich aus dem Zusammenwirken verschiedener Handlungsformen in einer ungeplanten Akteurkonstellation ergeben. Ein Konstellationsmanagement könnte aus diesem Grunde nur funktionieren, wenn die beteiligten Akteurgruppierungen lernten, dass sie in Durchsetzung ihrer legitimen und rationalen Partikularinteressen auch unwissentlich an der Dopingproblematik beteiligt sind und für Fehlentwicklungen im Spitzensport eine Mitverantwortung tragen. Sie hätten in ihren Selbstbeschreibungen entsprechend festzuhalten, dass mit ihrer Hilfe eine Realität entstanden ist, die so niemand gewollt hat, der sich aber alle maßgeblich Beteiligten zu stellen haben, wenn dauerhaft auftretende Probleme in der Sportwirklichkeit entschärft werden sollen. Wichtig wäre es, den Anreiz für ein derartiges kollektives Lernen zu verdeutlichen: dass ein Spitzensport, der sich dauerhaft durch Doping selbst diffamiert, sowohl für die Medien als auch für Politik, Wirtschaft und Publikum langfristig riskant und damit letztlich zu meiden wäre. Nur durch den Hinweis, dass Eigeninteressen tangiert sind, können selbstreferentielle Akteure dazu gebracht werden, auf Informationen von außen zu reagieren und sich von einem Zustand in einen anderen zu verändern, also zu lernen: wenn eigene langfristige Nutzenerwartungen in Gefahr stehen, durch Dopingskandale und öffentliche Entrüstungskampagnen hintertrieben zu werden. Was könnten die externen Bezugsgruppen nun konkret tun, um dem organisierten Sport bei der Eindämmung des Dopings zu helfen, ohne hierbei auf eine Bedienung ihrer Eigeninteressen zu verzichten? Antwort: Sie müssten ihre spezifischen Steuerungssprachen nutzen, denn nur in diesen können sie handeln und auf externe Informationen reagieren. Die Politik hätte ihren durch Macht definierten Geltungskontext selbstbewusst ins Spiel zu bringen, um dem organisierten Sport die Erkenntnis zu vermitteln, dass die Einhaltung selbstgesetzter Regeln und die Beseitigung von Vollzugsdefiziten sich mehr auszahlen als die weitverbreiteten Strategien des Wegschauens oder der klammheimlichen Dopingakzeptanz. An dieser Stelle ist daran zu erinnern, dass die Subventionierung des organisierten Spitzensports nur deshalb für die Politik legitimierbar ist, weil der Sport sich eigene Regeln und Verhaltensauflagen gegeben hat, die nicht gegen Recht und Gesetz verstoßen. Staatliche Instanzen könnten durch ihre Zugriffsrechte auf Geldmittel gezielte Anreize für eine ernsthafte Dopingbekämpfung setzen und die Vergabe der Fördermittel an faktisch geleistete Maßnahmen der Dopingbekämpfung koppeln oder dem Sport durch ein scharfes Anti-Doping-Gesetz dabei helfen, an die Hintermänner der sich dopenden Athleten heranzukommen. In einigen Ländern – Frankreich und Italien – ist

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man diesen Weg gegangen und hat damit bemerkenswerte Erfolge erzielen können. Auch die Rückforderung von Fördermitteln bei Nichteinhaltung von Anti-Doping-Richtlinien könnte ein wirksames Instrument sein, um Fügsamkeit herzustellen. Eine derart von außen stimulierte Kontextsteuerung liefe über politische Verteilungsentscheidungen, dosierte Junktim-Forderungen und die Ausarbeitung gesetzlicher Rahmenrichtlinien für ein erwünschtes und unerwünschtes Verhalten der individuellen und korporativen Sportakteure. Wirtschaftsunternehmen dürften ihre Sponsorengelder nur denjenigen Verbänden verfügbar machen, die ihre Athleten unangemeldeten und engmaschigen Dopingkontrollen unterwerfen und über ein funktionierendes An- und Abmeldesystem verfügen. Veranstalter müssten nur diejenigen Sportler zu hochdotierten Wettkämpfen einladen, die sich nachweislich den Kontrollverpflichtungen im Vorfeld der Wettbewerbe gefügt haben. Mit Geld, das man den Sportorganisationen zur Verfügung stellt oder bei beobachteter Devianz und Kooperationsverweigerung auch wieder entzieht, ließe sich viel erreichen. Die Medien hätten das Sportgeschehen durch eine entsprechende Informationsübermittlung in Gestalt einer kritischen und investigativen Sportberichterstattung zu kommentieren. Die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten, die das Privileg besitzen, ihre Ressourcen nicht über Werbung erwirtschaften zu müssen, und deshalb prinzipiell keine opportunistische Anpassung an Wirtschaftsinteressen und Publikumsbedürfnisse zu betreiben haben, könnten durch die gezielte Vergabe von Übertragungsrechten eine sportinterne Fügsamkeit in Sachen Dopingbekämpfung durchsetzen. Ansätze derartiger Interventionen durch mediale Auflagen und Sauberkeitserwartungen hat es nach publik gewordenen Skandalen im Radrennsport, Boxen und im Reitsport bereits gegeben. Und das Sportpublikum sollte, obwohl es keine organisierte Kollektivität darstellt, all diese Maßnahmen durch beifälliges Interesse abstützen und diejenigen, die nicht mitmachen, durch Nichtbeachtung strafen. Die Wissenschaft könnte diese Initiativen zusätzlich durch die Entwicklung geeigneter Nachweisverfahren sowie die Produktion intersubjektiver Wahrheit und – wie die Soziologie – durch die Formulierung von Orientierungswissen begleiten. Wichtig wären auch Verschränkungen in der einen oder anderen Weise. So könnte die Politik der Wissenschaft Geld zur Verfügung stellen, um die Entwicklung effektiverer Verfahren zur naturwissenschaftlichen Dopingentdeckung voranzutreiben. Die Massenmedien könnten durch ihre besondere Rolle bei der Gestaltung der öffentlichen Meinung über die zahlreichen Initiativen in Politik, Wirtschaft oder Wissenschaft berichten und selbstkritisch die eigene Rolle reflektieren, was bis heute öffentlich so noch nicht passiert ist. Worauf es demnach ankäme, wäre eine intelligente Verknüpfung von Selbststeuerung und Kontextsteuerung. Kontroll- und Eindämmungsversuche, die »nur« auf einzelne Personen und »nur« auf den Sport abzielen, sind hingegen

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zum Scheitern verurteilt. Eine Beschränkung der Dopingbekämpfung auf die Athleten als individuelle Akteure oder die medizinischen und juristischen Dimensionen des Problems wäre eine Verkürzung, die den Misserfolg schon vorprogrammiert hätte. Die wirtschaftlichen, politischen und medialen Handlungslogiken müssten mit ins Gespräch gebracht werden; und dieser Diskurs hätte letztlich darauf ausgerichtet zu sein, dem Sport in dessen Sprache zu verdeutlichen, dass Doping sich nicht länger lohnt. Die wichtigsten Bezugsgruppen des Sports müssten mehr als bisher üblich, Einfluss auf das nehmen, was im Sport passiert – und zwar nicht allein auf der Grundlage von Moral und Appell, sondern in Gestalt einer Erhöhung oder Verknappung der ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen und Steuerungsmedien.

Konstellations-

Steuerungs-

akteure

sprache

Interventionsmaßnahmen

– gezieltes Interesse für kontrollwillige Athleten – Desinteresse für Kontrollverweigerer und dopingfreundliche Sportdisziplinen – Ächtung von Dopingsündern

Publikum

Aufmerksamkeit

Massenmedien

Information

Wirtschaft

Geld

– Koppelung der Sponsorenunterstützung an die Dopingbekämpfung der Sportverbände – Nichtförderung gedopter Athleten und dopingfreundlicher Sportarten

Politik

Macht

– Koppelung der Mittelvergabe an verbandliche Dopingbekämpfung; Ressourcenentzug bei Nichtfügsamkeit der Sportverbände – Unterstützung durch Anti-Doping-Gesetzgebung und internationale Kontrollvereinbarungen

Wissenschaft

Wahrheit

– kritischer Sportjournalismus – Koppelung der Übertragung bzw. Sportberichterstattung an die Anti-Doping-Politik der Verbände

– Verfeinerung der Kontrolltechniken – Herstellung von Orientierungswissen; Aufdeckung devianter Dynamiken und transintentionaler Akteurverstrickungen

Abb. 7: Konstellationsmanagement

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Befürchtungen, dass Maßnahmen dieser Art die Autonomie des organisierten Sports gefährdeten, sind abwegig, weil der organisierte Sport mit der alleinigen Bearbeitung eines transintentionalen Konstellationsphänomens, wie Doping es darstellt, eindeutig überfordert ist. Autonomiebedrohend wäre es eher, auf externe Hilfen dieser Art zu verzichten und mit dem weiterzumachen, was bisher an Nichthandeln, Wegschauen und symbolischer Politik in den Fachverbänden passiert ist. Viele Sportverbände benutzen bis heute die Autonomieidee, um nichts oder wenig gegen Doping zu unternehmen. Hier ist an das Motto zu erinnern, das oben bereits genannt wurde: Kollektiv erzeugte Probleme können nur kollektiv gelöst werden! Nur dem Sport als demjenigen Teilsystem die Problembearbeitung zu überlassen, in dem die Probleme augenscheinlich anfallen und kulminieren, hieße, auf effektive Gegenmaßnahmen freiwillig zu verzichten. »Runde Tische« auf der Ebene sowohl der nationalen und internationalen Sportorganisationen als auch national und international angesiedelter außersportlicher Konstellationsakteure müssten die Maßnahmen der einzelnen Instanzen koordinieren, denn nur so könnte der organisierte Sport lernen, auf die »brauchbare Illegalität« (Luhmann 1964: 304ff.) des Dopings zu verzichten, und eine entsprechende Selbständerung veranlassen. Das Konzept des »Runden Tisches«, das der Einfachheit halber im Singular angesprochen werden soll, transportiert wichtige Sinnimplikationen: Die äußere Formgestaltung drückt zunächst die Idee der Symmetrie und Gleichberechtigung aller Beteiligten aus. Kein Akteur steht einem anderen vor und soll einen Asymmetrieanspruch gegenüber den anderen begründen und exekutieren dürfen. Alle sind auf einer Ebene angesiedelt und weisen untereinander gleiche Rechte auf. Es gibt keine übergeordnete Instanz, die besondere Durchgriffsrechte gegenüber den anderen besäße. Ein »Runder Tisch« zeigt weiterhin, dass die zur Verhandlung anstehenden Probleme letztlich alle Beteiligten betreffen und eine Hierarchie der Betroffenheit nicht vorhanden ist. Doping ist inzwischen eben nicht nur ein Problem des Sports, sondern erzeugt auch negative Resonanzen in Politik, Wirtschaft und Massenmedien. Man denke nur an die kommerziellen und politischen Auswirkungen von Dopingskandalen und die Konsequenzen einer inflationären Dopingberichterstattung in den Massenmedien beim Publikum. Nach den zahlreichen Vorfällen im Radrennsport sind viele Sponsoren abgesprungen und haben ihre Gelder in unverdächtige Handlungsfelder investiert, weil sie nicht durch die Negativberichterstattung mitdiffamiert werden wollten. Die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten stiegen bei der Life-Berichterstattung während der Tour de France im Jahre 2007 aus, nachdem vorab getroffene Vereinbarungen mit den Rennställen und dem internationalen Radsportverband von diesen klammheimlich unterlaufen worden waren und die tägliche TourBerichterstattung zu einer reinen Dopingberichterstattung verkommen war.

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Nachdem Ben Johnson bei den Olympischen Spielen 1988 als Dopingsünder entlarvt worden war, berichtete das kanadische Fernsehen unter der Überschrift: »Canada in shame« über diesen Supergau des nationalen Sports. Erfahrungen dieser Art zeigen, dass Doping nicht nur den Sport betrifft, sondern auch Ausstrahleffekte auf alle relevanten Konstellationsakteure hat. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Einschätzung an Plausibilität, dass die anstehenden Probleme auch nur gemeinsam angegangen und einer Lösung näher gebracht werden können. Auch wenn jeder Akteur nur für sich selbst handelt und auf eigene Ressourcen zurückgreifen kann, hat jeder seinen Beitrag zu erbringen, um eine Gesamtlösung zu ermöglichen. Was bei einem intersystemischen Konstellationsmanagement zur Reduzierung des Dopingproblems nicht passieren dürfte, lässt sich bei vielen anderen »Runden Tischen« in durchaus negativer Weise bereits beobachten: Man diskutiert angeregt miteinander und versichert wechselseitig, guten Willens zu sein und bereits wichtige Schritte zur Lösung des Problems unternommen zu haben. Jeder Akteurvertreter verspricht weitere Änderungen und unterstreicht die eigene Verantwortungsbereitschaft. Meist bleibt es dann beim Reden oder bei symbolischer Politik. Ein »Runder Tisch« funktioniert aber nur, wenn Problemlösungsvorschläge nicht nur ritualistisch annonciert, sondern von allen Beteiligten in Gestalt konkreter, überprüfbarer und verbindlicher Selbstverpflichtungen festgelegt und abgearbeitet werden. Zusätzlich wären Limitationen einzubauen, damit der eine seine Rationalität nicht auf Kosten der anderen durchsetzt. Und generell wäre mitzudenken, dass die an einem »Runden Tisch« sitzenden Personen als Repräsentanten von Organisationen und deren Mitgliedern handeln, so wie beispielsweise die Vertreter von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen in Verhandlungen aufeinandertreffen, um etwa höhere Löhne oder längere Arbeitszeiten für ihre Mitglieder auszuhandeln. Um zu verhindern, dass die unorganisierten Akteure an einem »Runden Tisch« unterrepräsentiert sind, wären weiterhin Mechanismen zu entwickeln und zu institutionalisieren, um die bislang Nichtrepräsentierten einzubeziehen und strukturell zu berücksichtigen. Man denke beispielsweise an Organisationen, die außerhalb des Sports zum Schutz von Verbrauchern, Steuerzahlern, Kindern oder Schülern entwickelt worden sind, um diesen Gruppierungen im Konzert der vielen Stimmen angemessen Gehör zu verschaffen. Instanzen, die beispielsweise für die unorganisierte Kollektivität des Sportpublikums zu sprechen hätten, wären einzurichten und entsprechend zu verankern. Es sind Beispiele für ähnlich zugespitzte Konstellationen bekannt, die ein erfolgreiches Management der Selbständerung betrieben haben. Man denke nur an das Wettrüsten der Supermächte USA und Sowjetunion seit den 1950er Jahren, das diese durch Rüstungskontrollabkommen in den 1980er Jahren allmählich in den Griff bekamen (Bette/Schimank 2000a: 110). Auch wenn man aus einem solchen Beispiel gewisse Hoffnungen zu schöpfen vermag, darf nicht

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übersehen werden, dass das Wettrüsten bei all seiner Gefährlichkeit in zwei entscheidenden Hinsichten weniger komplex als die Dopingkonstellation ausfiel. Das Wettrüsten war das Ergebnis einer bipolaren Konstellation, die auf beiden Seiten von denselben Handlungslogiken beherrscht wurde, nämlich der militärischen und der politischen. Die Dopingkonstellation umfasst demgegenüber deutlich mehr Arten von Akteuren und wird durch eine Vielzahl von Handlungslogiken bestimmt: die sportliche und die politische, die wirtschaftliche und die massenmediale, die medizinische, juristische und auch die pädagogische Sichtweise. Nicht zuletzt spielt auch die Perspektive der Zuschauer eine bedeutsame Rolle.

Implikationen eines Runden Tisches

Grundidee

Folgewirkungen aufgedeckter Devianz

– Einsicht in die gemeinsame Betroffenheit durch Dopingdevianz – Motto: Kollektiv erzeugte Probleme lassen sich nur kollektiv lösen! – Beschränkung der Dopingbekämpfung auf den Sport bedeutet Vorprogrammierung von Misserfolg Spitzensport: Publikum: Wirtschaft: Politik:

Delegitimierung Desillusionierung Negativwerbung blockiertes Wir-Gefühl nach innen und Negativrepräsentation der Nationalgesellschaft nach außen Massenmedien: reduziertes Einschaltinteresse und Publikumsabwanderung

Funktionsvoraussetzungen

– Hierarchisierungsverzicht zu Gunsten eines einzelnen Konstellationsakteurs; Gleichberechtigung aller Konstellationsakteure – Verzicht auf ritualistische Annoncierung von Leistungen und symbolische Politik – Festlegung und Abarbeitung konkreter, überprüfbarer und international verbindlicher Selbstverpflichtungen aller Akteure – wechselseitige Kontrolle der Kontrollverpflichtungen – Sanktionierung der Kontrollverweigerer und Devianten

Ziele

– intelligente Verknüpfung von Selbst- und Kontextsteuerung – Gesamtlösung als Aggregation von Teillösungen – Etablierung von Global-governance-Strategien, da nationale Alleingänge im Weltsport zum Scheitern verurteilt sind Abb. 8: Implikationen eines Runden Tisches

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Die Soziologie könnte in diesem Zusammenhang eine wichtige Katalysatorund Mediatorfunktion übernehmen, denn als eine auf Beobachtung und Beschreibung spezialisierte Wissenschaftsdisziplin erfüllt sie eine wichtige Bedingung: Sie ist selbst nicht Teil der dopingerzeugenden Akteurkonstellation und wäre deshalb in der Lage, ihre Außensicht der Innensicht der beteiligten Akteure ohne größere Eigeninteressen verfügbar zu machen. Sie kann, eben weil sie selbst keine sportlichen, wirtschaftlichen, medialen oder publikumsorientierten Ziele abzudecken hat und somit nicht in den gleichen Handlungszwängen wie die von ihr beobachteten Akteure steckt, ein anderes, nämlich inkongruentes Wissen über die Funktions- und Wirkungsweise systemischer Eigendynamiken und intersystemischer Verstrickungen sammeln und verfügbar machen. Wie man aus der Attributionsforschung weiß: Handelnde rechnen Probleme anders zu als Beobachter, die selbst nicht handlungsmäßig in dem von ihnen beobachteten Kontext gefordert werden. Trotz ihrer externen Beobachterposition kann die Soziologie nicht den Anspruch erheben, den archimedischen Punkt der Weisheit gefunden zu haben und von diesem aus letzte Wahrheiten für alle verpflichtend verkünden zu können. Sie kann nur »ihre« Wahrheit vermitteln und als Orientierungshilfe anbieten. Es bleibt dann den Konstellationsakteuren überlassen, aus diesem Wissensangebot jene Informationen abzuleiten, die dazu beitragen könnten, die eigenen problematischen Externalitäten besser zu beobachten und zu reflektieren. Allerdings ist es auch Aufgabe einer seriösen, sich selbst in ihren Möglichkeiten und Grenzen mitbeobachtenden Soziologie, über die Wirkungs- und Umsetzungschancen ihrer Vorschläge nachzudenken. In diesem Sinne hat sie auf erwartbare Probleme bei der Etablierung und Umsetzung eines global ausgerichteten intersystemischen Governance-Regime hinzuweisen. Folgende Schwierigkeiten sind bei einem solchen abgestimmten Bündel von Maßnahmen zu erwarten und müssten durch einen »Runden Tisch« oder eine »Konzertierte Aktion« bearbeitet werden: Zunächst ist davon auszugehen, dass die Verbreitung soziologischen Wissens über die dopingerzeugende Akteurkonstellation den Selektionsstandards und Sinnverarbeitungsregeln der Massenmedien unterliegt, falls breite Wirkungseffekte intendiert werden. Eine auf Moralisierung und Skandalierung verzichtende und nicht auf Personen fixierte Berichterstattung über die Existenz und Wirkungsweise der Akteurkonstellation ist unter diesen Bedingungen schwierig durchzusetzen, zumal die Massenmedien dann auch intensiv über sich selbst und ihre Rolle in der Verwertungskette des Spitzensports zu berichten hätten. Berichte über soziologische Dopinganalysen sind dabei zunächst von den Printmedien und dem überregionalen Radio zu erwarten, da sie ungleich weniger scharf einem Bildbedarf unterliegen und nicht, wie das Fernsehen, jeder Information ein passendes Bild zuzuordnen haben. Außerdem treffen die Fernsehakteure mit dem Publikum auf einen un-

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einsichtigen Prinzipal, der mit der Möglichkeit des Abschaltens und Nichtlesen- und Nichthörenwollens über wirksame Exit-Optionen ihnen gegenüber verfügt. Wer beispielsweise die Zuschauer mit zu viel Dopingberichterstattung traktiert und langweilt, geht das Risiko ein, seine Klientel abzuschrecken oder gar zu verlieren. Weiterhin ist die Einsicht der Konstellationsakteure in die eigene Verstricktheit in das Dopingproblem noch nicht weit verbreitet, weil ein kollektives Lernen offensichtlich dadurch erschwert wird, dass die Resultate etwaiger Lernprozesse im Geflecht zwischen »talk« und »action« hängenbleiben und deswegen nur halbherzig umgesetzt werden. Der bisherige personenfixierte Umgang mit Doping, der sich seit Jahrzehnten »bewährt« hat, hilft dabei, das Problem auf den Sport und dessen Akteure abzuschieben und die eigenen Verstrickungen und Handlungsdilemmata unthematisiert zu lassen. Sowohl Sponsoren und politische Finanzgeber als auch Massenmedien und Publikum wehren sich energisch dagegen, beim Dopingthema in irgendeiner Weise mitgemeint zu sein. Doping ist schließlich kein Thema, das mit der Leichtigkeit des Seins, mit Spaß, Lebensfreude, Gesundheit oder Fairness zu tun hat und mit dem man gerne Werbung in eigener Sache betreiben möchte. Es ist vielmehr extrem negativ besetzt, da es auf betrügerische Machenschaften, Lügen, Verheimlichen und das Hintergehen offizieller Verhaltensstandards hindeutet. Außerdem sind die physischen und psychischen Konsequenzen des Dopings alles andere als erfreulich. Athleten ruinieren ihre Gesundheit, tragen psychische Folgeschäden davon, nicht wenige sind daran bereits gestorben. Und auch die Körpersäfte, mit denen Biochemiker und Pharmakologen zu tun haben, wenn sie Doping nachzuweisen versuchen, gehören eher in die Kategorie des Unappetitlichen. Blut und Urin sind schließlich keine Flüssigkeiten, mit denen man in der Öffentlichkeit hausieren geht. Dass Wirtschaft, Politik, Massenmedien und Publikum nicht mit Doping in Zusammenhang gebracht werden möchten, ist angesichts der negativen Besetztheit dieses Themas verständlich. Man wäscht sich infolge dessen die Hände in Unschuld, verweist auf die Verantwortung der jeweils anderen und trägt so dazu bei, dass die Dopingproblematik auf Dauer gestellt wird. Bisher hat das gemeinsame Interesse am hohen Unterhaltungswert des Spitzensports noch nicht dazu geführt, dass sich ein eigenständiges, global ausgerichtetes intersystemisches Verhandlungssystem etabliert hätte, um Doping als Konstellationsproblem anzugehen. Diese Handlungsabstinenz hat offensichtlich auch damit zu tun, dass es nicht etwa um die Lösung handfester Konflikte zwischen den Konstellationsakteuren ginge, sondern um die Abmilderung von Handlungseffekten und Nutzenverschränkungen, die sich hinter dem Horizont der eigenen Systemgrenzen hergestellt haben. Die Einnahme einer derartigen Pilatus-Haltung wird dadurch erleichtert, dass sich die Wirkungen von Handlungsverstrickungen in komplexen Gesellschaf-

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ten nicht linear auf einzelne Verursacher zurückführen lassen, sondern, wie erläutert, erst durch das Zutun vieler Akteure zustande kommen. Doping ist das Resultat multipler, durchaus unübersichtlicher Verstrickungen, und nicht das Ergebnis weniger Einzelentscheidungen, die untereinander intentional abgestimmt worden wären. Eine absichtsvolle Devianz entsteht erst dann, wenn die Konsequenzen der Handlungsverstrickungen und Beziehungsfallen auf der Ebene der individuellen und korporativen Sportakteure zu kompensieren sind. Hinzu kommt, dass die technische Trennung zwischen Sender und Empfänger sowohl beim Publikum als auch bei den Medienanstalten leicht zu der Einschätzung führt, dass man mit dem, was im Spitzensport passiert, überhaupt nichts zu tun habe. Auch Wirtschaft und Politik – Ausnahme: totalitäre Regime – stiften nicht zum Doping an, sondern helfen, so viel man weiß, »lediglich« dabei, den Siegescode des Spitzensports zu »entfesseln«. Dies passiert nicht mittels Befehl und Gehorsam, sondern über die Zuweisung oder den Entzug von Geld oder geldwerten Vorteilen sowie öffentlicher Aufmerksamkeit. Erschwerend für die erfolgreiche Etablierung eines Anti-Doping-Paktes kommt außerdem hinzu, dass diverse Teilgruppen von Akteuren, beispielsweise einzelne Medienanstalten oder Wirtschaftsunternehmen, untereinander in schärfsten Konkurrenzbeziehungen stehen und daher nicht alle gleichzeitig an einem Strang ziehen. Wenn die eine Firma sich stark in der Dopingbekämpfung engagiert und auf eine Förderung mehrfach kontrollunwilliger Sportler verzichtet, lacht sich die andere ins Fäustchen und profitiert klammheimlich von der Dopingdevianz der noch nicht erwischten Athleten. Auch die Konkurrenz von Nationalstaaten untereinander führt immer wieder dazu, dass nicht alle politischen Akteure einen strikten Anti-Doping-Kurs unterstützen – insbesondere wenn nationale Gesinnungen und Identitäten scheinbar auf dem Spiel stehen und durch sportliche Erfolge der eigenen Athleten und Athletinnen stark gemacht werden sollen. Die Auseinandersetzungen zwischen Ost und West führten oft dazu, dass Doping in den entwickelten Gesellschaften des Ostens heimlich im Kampf gegen die »Klassenfeinde« eingesetzt wurde. Demgegenüber wurde in den westlichen Sportverbänden über die Dopingpraktiken der eigenen Sportler häufig hinweggesehen, weil es die Fahne der Freiheit und Demokratie gegenüber den »Staatsamateuren« des Ostens hochzuhalten und ungleiche Startbedingungen zu kompensieren galt. Insofern ist nicht generell davon auszugehen, dass alle Konstellationsakteure gleichzeitig reflexions- und verhandlungswillig sind. Verhandlungsbereit sind Akteure in der Regel nur dann, wenn sie mögliche positive Ergebnisse für sich selbst antizipieren (Schimank 2000a: 286ff.). Wenn sie hingegen Nachteile erwarten, wird ihre Verhandlungswilligkeit eher niedrig ausfallen. Wer begibt sich schon gerne sehenden Auges in eine Verhandlungssituation hinein, in der keine Vorteile und Gewinne in eigener Sache zu erwarten sind? Wenn demzu-

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folge nur ein Akteur der dopingerzeugenden Konstellation ohne die notwendigen Absprachen und Selbstverpflichtungen besser führe als mit ihnen, außerdem ein hoher kostenträchtiger Verhandlungsaufwand betrieben werden müsste und der einzelne Akteur sich zudem öffentlich und geschäftsschädigend als Teil einer problemerzeugenden Konstellation darzustellen hätte, sind ernsthafte Bemühungen gegen Doping nur begrenzt erwartbar.

Erwartbare Steuerungsprobleme – Abhängigkeit der Verbreitung des soziologischen Orientierungswissens von den Selektionsstandards der Massenmedien – Pilatus-Syndrom: kollektive Uneinsichtigkeit aller Konstellationsakteure – Konkurrenz der Konstellationsakteure untereinander – Unwahrscheinlichkeit einer Synchronisierung und Internationalisierung des Akteurhandelns – Handlungsunfähigkeit des Publikums Abb. 9: Erwartbare Steuerungsprobleme

Ein weiteres Hemmnis liegt in der Schwierigkeit begründet, das Konstellationsmanagement im Weltmaßstab zu institutionalisieren und zu synchronisieren. Der Spitzensport hat sich seit Anfang des 20. Jahrhunderts zu einem »global player« entwickelt und entsprechend ausgerichtete Organisationen ausgeprägt. Ein Konstellationsmanagement hätte aber nicht nur die vielen nationalen und internationalen Sportorganisationen zu erfassen, sondern auch die globalen Spieler in Wirtschaft, Politik und Massenmedien an einem »Runden Tisch« zusammenzubringen. Auch wenn die Internationalisierung der olympischen Sportorganisationen bereits weit fortgeschritten ist und auf dieser Ebene erste Erfolge in der Handhabung des Dopingproblems erkennbar sind – Beispiel: die Standardisierungseffekte in der Dopingbekämpfung durch die Einrichtung der WADA –, haben sich die anderen Konstellationsakteure noch nicht in einer erkennbaren Weise zu verhandlungsfähigen supranationalen Einrichtungen in Sachen Dopingbekämpfung zusammengefunden. Die Uneinsichtigkeit der außersportlichen Akteure im nationalen Kontext verdoppelt und verstärkt sich demzufolge durch ihre Uneinsichtigkeit auf der internationalen Ebene. Damit wird im Übrigen nicht unterstellt, dass alle internationalen Sportorganisationen in Sachen Dopingbekämpfung einsichtig wären und hartnäckig gegen Doping vorgingen. Schließlich ist noch einzukalkulieren, dass das Publikum eine unorganisierte Kollektivität darstellt, die auf Massenbasis nicht handlungsfähig ist und

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eigene Unterhaltungsinteressen auch dann durchzusetzen trachtet, wenn hierdurch Überforderungen auf der Ebene der Sportakteure hervorgerufen werden. Dennoch ist insgesamt festzuhalten, dass sich eskalatorische Spiralen und Aufschaukelungseffekte prinzipiell in ihrer Dynamik begrenzen und zurückfahren lassen, wenn die an der Problemerzeugung beteiligten Bezugsgruppen zur Problemlösung mit herangezogen werden und verhandlungsbereit sind. Ob die Konstellationsakteure des Spitzensports ein dauerhaftes Interesse daran haben, ein intersystemisches Governance-Regime durchzuführen und hierbei die Einsichten der Soziologie zu nutzen, um die Dopingquote herunterzufahren, bleibt abzuwarten. Bislang scheinen nicht wenige Akteure in Wirtschaft, Politik, Massenmedien und Publikum von der »brauchbaren Illegalität« des unentdeckten Dopings der Athleten noch so stark zu profitieren, dass ein dringlicher und pauschaler Veränderungswillen nicht unterstellt werden kann. Die Risikoabwälzung erfolgt bisher hauptsächlich nur zuungunsten der Sportler. Nicht nur, dass die Sportler die möglichen, teilweise äußerst gravierenden Gesundheitsgefährdungen des Dopings auf sich nehmen müssen; sie sind auch die Sündenböcke, die im Fall ihrer Entlarvung auf dem Altar hochgehaltener Werte geopfert und mit dem ganzen Inventar sozialer Degradierungszeremonien sanktioniert und diffamiert werden. Wenn die illegitime Innovation durch Doping aufgedeckt und zu einem öffentlichen Skandal gemacht wird, gehören die innere Logik des Leistungssports und die Erwartungsträger in Wirtschaft, Politik, Medien und Publikum bislang nicht zu jenen, die an den Pranger gestellt werden. Nach wie vor verharren die maßgeblichen Funktionsträger bei einer Theorie der schwarzen Einzelschafe. Indem die außersportlichen Konstellationsakteure auf den Sport und dessen Sozialfiguren verweisen, wenn über Doping kommuniziert wird, entlasten sie sich selbst von einer Mitschuld. Dies sollte die Veränderungswilligen aber nicht entmutigen – vielleicht lassen sich doch noch strategische Allianzen denken und realisieren, die als Avantgarde eines Konstellationsmanagements mögliche Mitzieheffekte und Vorbildwirkungen erzielen könnten.

8 Sportsoziologie

Die moderne Gesellschaft hat sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts in Reaktion auf sich selbst und die von ihr erzeugten personalen Wirkungen allmählich auch zu einer Sportgesellschaft entwickelt. So suchen Millionen regelmäßig die Räume des Sports auf, um sich in ihrer Freizeit als Zuschauer in Erregungsund Spannungszustände versetzen zu lassen, Helden zu verehren, nationale Identifikationen auszuleben und außeralltägliche Körper- und Bewegungssynchronisationen zu bewundern. Menschen begeben sich damit bewusst in Situationen hinein, die der Routine, Langeweile, Körperdistanziertheit und Affektarmut der modernen Arbeitswelt ein Kontrastprogramm entgegenstellen und das Versprechen abgeben, dass eine positiv besetzte physische Nähe zu den Mitmenschen selbst unter den Bedingungen urbaner Indifferenz noch möglich ist. Und in der Demonstration der individuellen oder kollektiven Leistungsfähigkeit der Sportakteure bekommt das Publikum in einer leicht nachvollziehbaren Weise zu sehen, dass Subjekte alleine oder in der Gruppe auch in der abstrakten Gesellschaft noch beherzt und handlungskräftig zupacken können und den alles entscheidenden Unterschied auszumachen vermögen. Neben den Erlebnisangeboten, die der Sport mit seinen zahlreichen Events zuschauenden Massen unterbreitet, greifen breite Bevölkerungsschichten tagtäglich aktiv auf die Gesundheits-, Geselligkeits-, Spaß- und Abenteuerofferten des Sports zurück, um in Vereinen und Fitness-Studios oder in selbstorganisierten Situationen mit gezielten Maßnahmen die sozialen, psychischen und somatischen Kollateralwirkungen des gesellschaftlichen Wandels zu kontern und Gesellschaftsangemessenheit anzustreben. Ein sportlicher Körper signalisiert Präsenz in Interaktionen, Leistungsbereitschaft in Organisationen und Beanspruchbarkeit in Intimsituationen. Heute ist es nicht mehr begründungsbedürf-

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tig, am Sport in der einen oder anderen Weise teilzuhaben, sondern sich ihm und seinen Erlebnis- und Handlungsversprechen zu verweigern. Wenn Menschen in der Phase fortgeschrittener Modernität einen Zugang zur eigenen physischen Nahwelt herzustellen trachten, um sich selbst zu formen und zu modellieren, unternehmen sie dies nicht irgendwie, sondern gezielt auf der Grundlage sportiver Körper- und Personenideale. Der Sport ist damit derjenige Sozialbereich, dem es immer wieder in erstaunlicher Weise gelingt, eine große Anzahl der Gesellschaftsmitglieder anhand positiv konnotierter Sinnkriterien sowohl körperlich-aktiv in Bewegung zu versetzen als auch passiv-konsumatorisch zu unterhalten und zu begeistern. Trotz der enormen Aufmerksamkeit, die der Sport sowohl in den Lebenswelten individueller Akteure als auch auf der Ebene von Organisationen und gesellschaftlichen Teilsystemen hervorruft, gehört er nicht zu jenen Sozialbereichen, die auf eine lange Tradition der wissenschaftlichen Analyse zurückblicken können. Dies gilt in besonderer Weise für die soziologische Durchdringung dieses Handlungsfeldes. Die Sportsoziologie erlebte ihren Durchbruch als wissenschaftliche Subdisziplin von Soziologie und Sportwissenschaft erst in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts, also zu einer Zeit, in der sich der Sport bereits seit Jahrzehnten erfolgreich als Teilsystem der modernen Gesellschaft etabliert hatte und über umfangreiche Leistungsbeziehungen zu Wirtschaft, Politik, Massenmedien und Publikum verfügte. Andere sportorientierte Wissenschaftsdisziplinen wie Sportmedizin, Sportpädagogik, Sportpsychologie, Sportgeschichte, Sportdidaktik oder Trainings- und Bewegungslehre hatten bereits vor ihr universitäre Domänenmonopole durchsetzen können. Das folgende Kapitel zielt darauf ab, mit der Sportsoziologie jene Wissenschaftsdisziplin einer gesonderten Analyse zu unterziehen, die sich in der modernen Gesellschaft auf eine soziologische Beobachtung und Beschreibung des Sports spezialisiert hat und dieses Anliegen auch selbstbewusst in der eigenen Namensgebung zum Ausdruck bringt. Damit steht der Prozess der Autonomiegewinnung und Verselbständigung im Mittelpunkt des Interesses, mit dem in der Wissenschaft der Akt der Systembildung wiederholt und auf sich selbst angewandt wird. Hierfür sollen ausgewählte Aspekte der Sportsoziologie mit disziplininternen Bordmitteln beobachtet und beschrieben werden. Der erste Abschnitt nennt wichtige Wegbereiter der Sportsoziologie. Der zweite Abschnitt kategorisiert maßgebliche Entwicklungsphasen. Der dritte Abschnitt klärt die Einflüsse und Antriebskräfte ab, die zur Ausdifferenzierung der Sportsoziologie beigetragen haben. Der vierte Teilschritt skizziert den zentralen Objektbereich der Sportsoziologie: den Sport der Gesellschaft. Der fünfte Abschnitt klassifiziert sportsoziologische Forschungsebenen und Theorieorientierungen. Der letzte Abschnitt erörtert die Anwendungsbezüge der Sportsoziologie und leitet den Stellenwert

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der Sportsoziologie in der Reputationshierarchie der Soziologie aus differenzierungs- und zivilisationstheoretischen Überlegungen ab.

WEGBEREITER Die breite Resonanz, die Sport und Spiel bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts insbesondere bei urbanen Massen erzeugen konnten, schlug sich in der Wissenschaft zunächst nicht in der Etablierung einer eigens hierauf spezialisierten und in sich geschlossenen Scientific Community nieder. Ludische, aleatorische, mimetische und agonale Aktivitäten wurden der Sphäre der Zerstreuung und des billigen Vergnügens zugeschlagen und galten als nicht sonderlich wissenschaftstauglich.42 Wenn Sport- und Spielphänomene im Kontext publizierter Analysen auftauchten, dann meist am Rande oder in Studien, die anderen Zielsetzungen verpflichtet waren.43 Obwohl eine homogene, kognitiv spezialisierte, auf sich selbst reagierende und institutionell abgesicherte wissenschaftliche Kommunikationsgemeinschaft, die das Privileg besessen hätte, den Sport dauerhaft soziologisch zu beleuchten, zu jener Zeit noch nicht existierte, half das unkoordinierte, stark personenabhängige, multiperspektivische und episodische Kommunizieren über Sport- und Spielphänomene, ein solides und komplexes Fundament für jene Ideen und Einsichten zu legen, die später für die Etablierung und inhaltliche Ausgestaltung der Sportsoziologie als Wissenschaftsdisziplin genutzt werden konnten. So richteten Ethnologen und Kulturanthropologen ihre Aufmerksamkeit im Rahmen ihrer Interessen an fremden Bräuchen und Sitten auf Formen und Inhalte von Ritualen und Spielen sowie auf vormoderne Körper- und Bewegungspraktiken. George Catlin (1841), amerikanischer Maler und früher ethnologischer Beobachter der indigenen Kultur Nordamerikas, untersuchte die Spiele und Körperpraktiken der Indianer. 1834 sah er auf einer seiner Erkundungsreisen neben Pferderennen, Tänzen, Ringkämpfen und Laufwettbewerben das mit Netzstöcken enorm beschleunigte Ballspiel der Choctaw-Indianer aus dem heutigen Mississippi und Oklahoma und war von der Gewalttätigkeit, Schnelligkeit und Körperorientiertheit dieser konkurrenzorientierten Betätigung fasziniert. Nicht umsonst bezeichneten die

__________________ 42 Ludus = Spiel; alea = Würfel / Zufall; mimesis = Nachahmung bzw. Altes, Verdrängtes neu aufgreifen; agon = Wettkampf. 43 Vgl. Lüschen (1975, 1980); Voigt/Thieme (1993).

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Teilnehmer dieses rauhe, Lacrosse-ähnliche Spiel als »little brother of war«.44 Die Veranstaltungen, denen Catlin beiwohnte, waren keine profanen Sportwettkämpfe im heutigen Sinne, sondern zeremonielle und sakrale Rituale, in denen real existierende Menschen die Schöpfungsgeschichte und den anschließenden Kampf zwischen Gut und Böse nachspielten. Außerdem hatten diese körperbetonten, in Gesänge und Tänze eingebetteten Konkurrenz- und Kampfspiele die implizite Funktion, Konflikte und Spannungen kontrolliert zu bearbeiten. Als »Ventilsitten« (Vierkandt 1931: 537) boten sie den verschiedenen Stämmen die Gelegenheit, sich unter einem nicht-kriegerischen Vorzeichen zu treffen und sich miteinander zu messen. Interaktionsnah komponierte Stammesgesellschaften, die dem Strukturprinzip der segmentalen Differenzierung folgen, favorisieren offensichtlich kriegs- und jagdorientierte Spiele, in denen der direkte Kampf Mann gegen Mann einzeln oder in der Gruppe im Vordergrund steht und hiermit korrespondierende physische und psychische Eigenschaften mimetisch trainiert werden können. Die ursprünglichen Spiele konnten einige Tage dauern, wurden von Schiedsrichtern überwacht und fanden in einem Spielraum statt, den die rivalisierenden Parteien vorher festgelegt hatten. Schamanen gaben den Akteuren spirituellen Beistand. In einigen Stämmen war es üblich, auf das mögliche Endergebnis Wetten in Gestalt von Pferden, Pelzen, Haushaltswaren, aber auch Frauen und Kindern abzuschließen (Vennum 1994; Conover 1997). Die englischen und französischen Siedler, die das Spiel im achtzehnten Jahrhundert erstmals zu Gesicht bekamen, waren von der Brutalität und Härte im Umgang der Parteien untereinander und der Verletzungsträchtigkeit ihrer Praktiken völlig schockiert.45 Edward Burnett Tylor (1879), ein Anthropologe aus Oxford, setzte die Tradition der ethnographischen Studien der 1840er Jahre fort und schrieb eine »Geschichte der Spiele«. In seiner komparativ angelegten Analyse ging er vornehmlich jenen Diffusionsprozessen nach, in denen Spiele die Grenzen ihrer Herkunftsräume überschreiten und in andere Kulturen integriert und den dortigen Gegebenheiten und Traditionen angepasst werden. Am Beispiel der amerikanischen »Lot-Games« versuchte er im Jahre 1896, den Beweis für eine soziokulturelle Verbindung zwischen Amerika und Asien in der präkolumbianischen __________________ 44 Siehe das Gemälde »Ball-Play of the Choctaw-Ball Up« von George Catlin im Smithsonian American Art Museum in Washington, D.C. oder auch das Bild »Sioux ball player Ah-No-Je-Nange, ‘He who stands on both sides’«, abgedruckt in der »George Catlin Virtual Gallery« (abrufbar im Internet unter www.georgecatlin.org.). 45 Vergleichbare Spiele sind bis heute in allen Indianergemeinden Nordamerikas anzutreffen. An amerikanischen Highschools und Universitäten ist der zivilisierte Nachfolger, das in Ligen gespielte Lacrosse, Teil des Sportunterrichts und der Sportlehrerausbildung. Zum Spiel der Choctaws vgl. weiterhin Salter (1977) und Blanchard (1981).

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Zeit zu erbringen. Er legte damit einen wichtigen Grundstein für die interkulturell vergleichende Spielforschung, die im 20. Jahrhundert große Aufmerksamkeit erzeugte und eigene kognitive Spezialisierungen (Sutton-Smith 1972, 1978; Avedon/Sutton-Smith 1971) in der Psychologie, Pädagogik und deren Subdisziplinen hervorbrachte, so auch in der Sport- und Spielpädagogik. In der neueren Sportsoziologie knüpfte vor allem Maria T. Allison (1982, 1995) an diese Tradition an, indem sie über kulturelle Unterschiede in der Sport-, Spielund Freizeitgestaltung forschte und die Differenzen zwischen dem leistungsund erfolgsorientierten Basketballspiel der Anglo-Amerikaner und dem gemeinschaftsbekräftigenden Spiel der Navajo-Indianer herausarbeitete.46 Herbert Spencer (1861: 235-309), einer der Gründungsväter der Soziologie, diskutierte die Bedeutung des Körpers für die Erziehung und die Ausprägung der geschlechtsspezifischen Identität und siedelte die Funktion des Spiels im Abbau überschüssiger Energien an. Er äußerte den Verdacht, dass der Körperlichkeit der heranwachsenden Generation vonseiten der Erwachsenen nicht die notwendige Aufmerksamkeit geschenkt würde, und empfahl, die fundamentalen Prinzipien eines organischen Wachstums erzieherisch zu nutzen. Er attestierte den Kindern erhebliche Körperdefizite gegenüber der Elterngeneration, und dies trotz einer verstärkten gesundheitsorientierten Lebensführung und einer verbesserten medizinischen Versorgung. In seinen Ausführungen über die Leibeserziehung – physical education – sprach er die Gefahren der modernen Lebensweise, die Überforderung der Eltern sowie die hieraus resultierende Schwierigkeit an, Kinder und Jugendliche körperlich angemessen auf den Lebensweg zu bringen. Spencer ging bereits zu jener Zeit konkret auf das Problem der Über- und Unterernährung sowie die Bedeutung von Diäten, angemessener Kleidung, Körperbelüftung und Training ein. Körperliche Betätigungen im Rahmen des durch deutsche Auswanderer importierten Turnens, gymnastics, seien angesichts dieser Defizitlage »besser als nichts«, würden aber durch die formalisierten Muskelbewegungen weniger effektiv wirken als ganzheitliche Trainingsmaßnahmen. In der Inanspruchnahme einiger weniger Körperteile beim Turnen sah Spencer die Gefahr einer »disproportionalen Entwicklung« (ebd.: 171). Außerdem wäre das Turnen monoton und wenig unterhaltsam, und wirke deshalb weniger stimulierend als das Spiel. Diesem sprach er (ebd.: 172) gegenüber dem Turnen eine »intrinsische Überlegenheit« zu. Mit einem reformpädagogischen Gestus wandte sich Spencer gegen den unbarmherzigen Schuldrill und das an den Schulen herrschende Zeitregime. Aus Angst, den Geist zu vernachlässigen, blieben die physischen Belange der Schüler unberücksichtigt. Die körperlichen Schäden hierdurch wären immens. Ein derart __________________ 46 Maria T. Allison promovierte bei Günther Lüschen, dem deutschen Soziologen, der an der University of Illinois at Urbana-Champaign u.a. auch Sportsoziologie lehrte.

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rigide organisiertes und ausschließlich auf den Kopf ausgerichtetes Schulsystem »unterminiere« systematisch die Gesundheit der Schüler und riefe die drohende Gefahr einer »langsam akkumulierenden körperlichen Degeneration« hervor: »Instead of respecting the body and ignoring the mind, we now respect the mind and ignore the body«. Der Kulturkritiker, Ökonom und frühe Soziologe Thorstein Veblen (1899: 170ff.) machte in seiner als Streit- und Schmähschrift konzipierten »Theorie der Freizeitklasse« auf das Fehlen geburtsständischer Gruppierungen in den USA aufmerksam und untersuchte vor diesem Hintergrund das Distinktionsmanagement des Geldadels, den er jenseits der bloßen Anhäufung von Gütern in einen prinzipiell endlosen Wettlauf um Ansehen und Prestige verstrickt sah: erstens in einen demonstrativen, durch größtmögliche Distanz zu einer produktiven Arbeit gekennzeichneten Müßiggang, zweitens in einen demonstrativen Konsumstil, der den Einzelnen dazu verpflichte, sich das jeweils Beste und Exklusivste anzueignen, um dieses anschließend ostentativ den Zeitgenossen zur Generierung von Neidgefühlen vorzuführen. Er geißelte die Geldgier der Finanzmagnaten an und differenzierte zwischen »finanziellen« Kompetenzen, mit denen sich die Geldjongleure der Arbeitsleistung ihrer Zeitgenossen bemächtigten, und unterschied hiervon die »produktiven« Tätigkeiten, mit denen notwendige Güter hergestellt und verteilt würden. Das Prestige der »parasitären« Wirtschaftsführer beruhe, so Veblen, nicht auf Fleiß und vorbildhafter Lebensführung, sondern auf »Vergeudung«. Die Rituale der Verschwendung wirkten stilbildend und würden durch ihre Vorbildwirkung von jedermann imitiert, was wiederum die Meinungsführerschaft der Finanzelite untermauere.47 Thorstein Veblen (ebd.: 170) erörterte in seiner im Schnittpunkt von Ungleichheits-, Habitus- und Freizeitforschung angesiedelten Kulturkritik die Funktion diverser sportiver Tätigkeiten und Aktivitäten, mit denen die Mitglieder der höheren Klassen versuchten, soziales Prestige durch »nutzlose« Zeit- und Energievergeudung zu erwerben und archaische Beuteimpulse auszuleben. Er wurde hierdurch, bourdivinistisch gesprochen, zum ersten Soziologen, der soziale Phänomene im Schnittpunkt von Habitus-, Sport- und Ungleichheitsforschung untersuchte. Der Sozialpsychologe Norman Triplett (1898) studierte in einer ersten empirischen Untersuchung die »dynamischen Faktoren des Wettbewerbs« und analysierte die Auswirkungen des Schrittmachens und des Wettkampfes auf Radfahrer und Kinder. Die körperliche Anwesenheit eines anderen Fahrers würde, so die von ihm in einem Laborexperiment überprüfte Annahme, als ein Stimulus wirken, um den Wettkampfinstinkt zu wecken und jene »freie nervöse __________________ 47 Zum Für und Wider dieser Streitschrift siehe das Vorwort von C. Wright Mills (1953: VIVIX).

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Energie« zu mobilisieren, über die der einzelne Sportler ansonsten nicht verfügen könne. Außerdem wirke sich die höhere Geschwindigkeit, die man einem auf Sicht fahrenden Gegner unterstelle, als eine leistungssteigernde »inspiration to greater effort« (ebd.: 516) aus. George Elliott Howard – Historiker, Soziologe und späterer Präsident der »American Sociological Society« – hielt am 26. April 1912 auf der »Konferenz für Leibeserziehung und Hygiene« in Chicago einen anschließend im »American Journal of Sociology« publizierten Vortrag zum Thema »Sozialpsychologie des Zuschauers«. Mit dem ganzen Arsenal der damaligen Kulturkritik ging er erstmals auf ein Phänomen ein, das seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in zunehmender Weise an Bedeutung gewonnen hatte: die Rolle von Sport und Sportzuschauern im Kontext veränderter Freizeit- und Unterhaltungsbedürfnisse. Die Sozialpsychologie sah er, ganz im Gegensatz zur heutigen Zuordnung, als Teildisziplin der Soziologie an: »Social psychology is applied Sociology at its best« (ebd.: 34). Unter dem Titel »Spectator-crowd and the Athletic Spectacle« setzte sich Howard auch mit den Verhaltensweisen der Sportzuschauer auseinander, die an interuniversitären Wettkämpfen teilnahmen und sich für ihre Alma Mater entsprechend enthusiastisch auf den Tribünen und außerhalb der Stadien ins Zeug legten.48 Während er dem Spiel eine wichtige Bedeutung für die »physische, mentale und moralische Gesundheit« (ebd.: 43) zubilligte, vermutete er im universitären Zuschauersport eine Bedrohung für die höhere Erziehung. Da das eigentliche Ziel des studentischen Daseins darin bestünde, sich zu bilden und erfolgreich zu studieren, sah er in den Wettkämpfen eine Gefährdung durch Ablenkung. Außerdem verkümmere die Körperlichkeit der Zuschauer in einer unerträglichen Weise durch die passive Beobachtung (ebd.: 45). Um den neuen Anforderungen in Arbeit und Freizeit zu genügen, empfahl er eine Reorganisation der Spielkultur innerhalb und außerhalb der __________________ 48 Zu den ersten Sportarten, die im 19. Jahrhundert an den amerikanischen Universitäten betrieben wurden, gehörten die vier Sportarten Rudern, Baseball, Leichtathletik und Football. Der erste Ruderwettkampf zwischen Harvard und Yale fand 1852 statt. Als Vorbild diente der seit 1829 jährlich auf der Themse zwischen den englischen Universitäten Oxford und Cambridge ausgetragene Ruderwettbewerb. 1858 gründeten vier amerikanische Ostküsten-Universitäten die »College Union Regatta«, die 1859 bereits mehr als 15.000 Zuschauer anzog (Riess 1995: 116). Der erste Baseball-Wettkampf an einer Universität fand im Jahre 1859 parallel zu einem Ruderrennen statt. 1879 wurde die College Baseball Association als erste »Intercollegiate baseball league« gegründet. Das erste Leichtathletiktreffen zwischen verschiedenen Universitäten fand 1873 ebenfalls im Begleitprogramm eines Ruderwettkampfes statt. 1875 hoben zehn Universitäten die »Intercollegiate Association of Amateur Athletes of America« aus der Taufe. Die populärste Universitätssportart, Football, hatte ihren ersten interuniversitären Wettkampf im Jahre 1869 zwischen Rutgers und Princeton. 1876 wurde die erste Meisterschaft zwischen verschiedenen Universitäten ausgekämpft, nachdem man sich auf einheitliche Regeln geeinigt hatte.

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Universitäten. Als Grundlage wählte Howard ein zweifaches Krisenszenario: Er sah zunächst eine »physiologische Krise« als Konsequenz der Trennung des Menschen von seinen Mitgeschöpfen durch die evolutionäre Errungenschaft des aufrechten Gangs. Eine zweite Krise resultiere aus der Tatsache, dass die zahlreichen arbeitsreduzierenden Maßnahmen durch die Einführung von Dampfmaschine und Elektrizität den Menschen dauerhaft zum Stillstand gebracht und »eingelullt« hätten. Die alten, öffentlichkeitsorientierten und integrativ wirkenden Spiele wären insbesondere in den Städten nahezu gänzlich durch neue Hallenaktivitäten verdrängt worden. Die Athleten wären die einzigen Akteure, die sich noch körperlich bewegten, aber ihre Betätigungen seien kein Spiel, sondern müssten als Arbeit rubriziert werden. Den Emotionen der Zuschauer stand Howard nicht nur skeptisch, sondern ablehnend gegenüber. Er sah die affektive Verstrickung der Zuschauer ins sportliche Wettkampfgeschehen als Gefahr an, da sie die Menschen von eigenen Spielaktivitäten abhielte. Einige Verluste würde die »athletic spectator crowd« allerdings aufwiegen: Im Baseballspiel beispielsweise sah Howard einen kraftvollen demokratischen Agenten am Werk, der die Menschen in den Stadien gleichmache und entindividualisiere: »Vast crowds of both sexes and of all age; person of every economic, social, religious, or intellectual class touch shoulders. They shout, think, and gesture in sympathy. They are just human beings, with the differentials of rank or vocation laid aside« (ebd.: 44). Dennoch sprach Howard sich dafür aus, die Sportwettkämpfe zwischen den amerikanischen Universitäten aufgrund der unterstellten Effekte aufzugeben. Gesündere Formen der Freizeitgestaltung würden vernachlässigt und das hohe Prestige des Sports überschatte die intellektuellen Aktivitäten und Leistungen. Die Reputation einer Universität hinge zu sehr vom sportlichen Erfolg einiger weniger Athleten ab, die als Semiprofessionelle die Amateure und die Spielkultur für jedermann verdrängt hätten. Im abgestimmten Schreien, Brüllen und Klatschen der Zuschauer sah Howard eine »mentale Perversion« (ebd.: 46), die sich höchstens als Trainingsmöglichkeit für spätere Betätigungen in höheren Positionen der Stadtverwaltung oder Politik eigne. Demgegenüber plädierte er für zivilisiertere Formen der dramatischen Erholung: »Dare we hope that sometime the educational theatre, the refined motion-picture spectacle, and the new moral drama shall replace the burlesque, the vaudeville, and the penny arcade; […]« (ebd.: 50). Der am Ende des 19. Jahrhunderts aus England nach Deutschland gekommene und sich langsam gegen Turnen und Gymnastik durchsetzende Sport hinterließ in den Schriften der zeitgenössischen deutschen Soziologie zunächst nur wenige Spuren. Georg Simmel (1908: 216f.) ging in seiner Streit-Analyse auf die sozialisierende und gefühlserzeugende Funktion sozialer Konkurrenz ein und arbeitete die legitimatorische Funktion des Leistungsprinzips heraus. Die Fixierung der Aufmerksamkeit auf die negativen und zerstörerischen Effekte

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von Konkurrenzbeziehungen verstelle – so Simmel – ungerechtfertigterweise den Blick auf deren »ungeheuer vergesellschaftende Wirkung«. Die Konkurrenz »zwingt den Bewerber, der einen Mitbewerber neben sich hat und häufig erst hierdurch eigentlicher Bewerber wird, dem Umworbenen entgegen- und nahezukommen, sich ihm zu verbinden, seine Schwächen und Stärken zu erkunden und sich ihnen anzupassen, alle Brücken aufzusuchen oder zu schlagen, die das eigene Sein und Leisten mit jenem verbinden könnten. […] Die moderne Konkurrenz, die man als den Kampf aller gegen alle kennzeichnet, ist doch zugleich der Kampf aller um alle.« So ginge es auch um ein »Ringen um Beifall und Aufwendung«, um »Einräumungen und Hingebungen jeder Art, ein Ringen der wenigen um die vielen wie der vielen um die wenigen; […]« (ebd.: 217). Simmel verdeutlichte seine Idee von der vergesellschaftenden Wirkung der Konkurrenz durch den Hinweis auf die vereinigende Kraft kampforientierter, autotelischer Spiele: »Ich kenne eigentlich nur einen einzigen Fall, in dem der Reiz des Kampfes und Sieges an und für sich, sonst nur ein Element inhaltlich veranlasster Antagonismen, das ausschließliche Motiv bildet: das Kampfspiel, und zwar dasjenige, das ohne einen, außerhalb des Spieles selbst gelegenen Siegespreises stattfindet.« In den »Geschicklichkeitsspielen« ginge es um »die rein soziologische Attraktion des Herrwerdens und Sichdurchsetzens gegen den andern«. Beim »Hazardspiel« allerdings fehle »das Wesentliche der Konkurrenz: die Differenz der individuellen Energien als Grund von Gewinn und Verlust« (ebd.: 221). Während leistungsbasierte Erfolge »beruhigend« und »objektivierend« wirkten, brächten zufallsbasierte Erfolge lediglich »Neid und Erbitterung« hervor. Max Weber (1920: 184) erörterte am Rande seiner religionssoziologischen Arbeiten das puritanische Interesse am Sport und stellte das gängige Bild von der generellen Körperfeindlichkeit des Puritanismus auf den Kopf: »Denn im übrigen war die Abneigung des Puritanismus gegen den Sport, selbst bei den Quäkern, keine schlechthin grundsätzliche. Nur musste er einem rationalen Zweck, der für die physische Leistungsfähigkeit erforderlichen Erholung, dienen. Als Mittel rein unbefangenen Sichauslebens ungebändigter Triebe dagegen war er ihm verdächtig, und soweit er zum reinen Genussmittel wurde oder gar den agonalen Ehrgeiz, rohe Instinkte oder die irrationale Lust zum Wetten weckte, war er selbstverständlich verwerflich. Der triebhafte Lebensgenuss, der von der Berufsarbeit wie von der Frömmigkeit gleichermaßen abzieht, war eben als solcher der Feind der rationalen Askese, mochte er sich als ›seigneurialer‹ Sport oder als Tanzboden und Kneipenbesuch des gemeinen Mannes darstellen.«49 Außerdem diskutierte Weber (1922: 337ff.) in seinen »Gesammel__________________ 49 Vgl. Schneider (1968) mit einer bestätigenden Studie zum Verhältnis von Puritanismus und Leibesübungen.

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te[n] Aufsätzen zur Wissenschaftslehre« in kritischer Auseinandersetzung mit dem Werk von Rudolf Stammler (1906) die Bedeutung und Konstruktion von Spielregeln anhand des Skatspiels und trennte hier zwischen einer empirischen und einer normativen Funktion von Regeln. Sportler und Sportlerinnen machten nach dem Ersten Weltkrieg bereits in Boxwettkämpfen, Fußballturnieren, Sechstagerennen, Motorsportveranstaltungen, Kanaldurchquerungen, Flugwettbewerben, Abenteuerreisen und Bergeroberungen Furore. Auto-, Motorrad- und Radrennfahrer durcheilten den Raum, stellten Weltrekorde auf und erschienen der interessierten Öffentlichkeit als Inkarnationen einer neuen, vibrierenden Zeit, als Herrscher im Reich der Geschwindigkeit, der Beschleunigung und der schnellstmöglichen horizontalen Mobilität. Technische Innovationen lieferten die Materialitätsbasis für diese neuen Betätigungen. Und die sporttypische Sieg/Niederlage-Logik steckte den Sinnhorizont und den Handlungsrahmen ab. Vor allem begann der Leistungssport Ende des 19. Jahrhunderts, sich als erstes »laterales Weltsystem« (Willke 1998: 381) quer zu den bereits bestehenden Nationalstaaten zu entwickeln. Eine supranationale Organisation, das Internationale Olympische Komitee, brachte Sportler aus aller Welt dazu, sich in einem vierjährigen Zeitrhythmus regelorientiert miteinander zu vergleichen, und zwar jenseits von politischer Orientierung, Religionszugehörigkeit, Herkunft und Ethnie. Den Startschuss hierfür lieferten die Olympischen Spiele der Neuzeit, die erstmals 1896 in Athen stattfanden. Der Sport stand insgesamt für Lebendigkeit, Durchsetzungsfähigkeit und Aufbruch. Neben dem Zuschauersport, der die Massen durch seinen Spannungsgehalt faszinierte, versetzte der Teilnehmersport Menschen durch seine Körper- und Personenorientierung in die Lage, aktiv und selbsttätig das Gefühl zu entwickeln, Subjekt und nicht Objekt zu sein – und dies in einer Zeit, in der viele Menschen noch unter den im Ersten Weltkrieg gemachten Erfahrungen mit Hunger, Tod und Verstümmelung litten, Massenarbeitslosigkeit und Tristesse herrschten, riesige Migrationsströme stattfanden und zu verkraften waren, rechte und linke Ideologien militant gegeneinander kämpften und die Auflagen durch den im Jahre 1919 ratifizierten Versailler Vertrag insbesondere von vielen männlichen Zeitgenossen als narzisstische Kränkung wahrgenommen und mit Revanchegelüsten und »Dolchstoßlegenden« beantwortet wurden. Außerdem riefen der nach dem Ersten Weltkrieg erfolgte Zusammenbruch der traditionellen Werteordnung und die hieraus resultierenden sozialen Konflikte bei vielen Menschen Gefühle der Krise, der Ohnmacht und des Niedergangs hervor. Die weltweit erste Monografie, die explizit der »Soziologie des Sports« gewidmet war, wurde 1921 von dem jungen Heinz Risse geschrieben. Der Sport stand zu jener Zeit zwar als Massenamüsement hoch im Kurs, an den deutschen Universitäten aber war er gerade erst dabei, sich als praxisorientiertes Ausbil-

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dungsfach zu etablieren.50 Angeregt durch die damaligen Zeitumstände eröffnete Risse (ebd.: 3f.) seine Analyse mit einem kulturkritischen Rundumschlag, in dem er typische Erscheinungsformen der modernen Gesellschaft pauschal und scharf angriff: erstens: die »bis ins Mark verfaulte« Großstadt, zweitens: die sich ausschließlich »über hundertmal zerkaute Prinzipien« streitenden politischen Parteien, drittens: die von einem »öden Snobismus« geprägte und auf »Natürlichkeit« verzichtende zeitgenössische Kunst und Kultur sowie viertens: das »impotente Geschlecht« der Intellektuellen, das sich mit seinem »unfruchtbaren Aesthetentum« lediglich hinter Worten verstecke und nicht in der Lage sei, die anstehenden Aufgaben effektiv zu lösen. Den Intellektuellen lastete Risse an, dass sie die »Führerschaft der Massen« verloren hätten. Viele Menschen würden, unkontrolliert und unbeeinflusst von den Intellektuellen, anderweitigen Betätigungen nachgehen, nämlich Sport treiben. Die Hinwendung zum Sport hätte die Kopfarbeiter wiederum dazu gebracht, diese neue »Bewegung« als »ungeistig«, »roh« und »bedeutungslos« zu diffamieren. Der Schmähung des Sports stellte Risse die der Lebensphilosophie Nietzsches entlehnte Forderung entgegen: »Wir brauchen kein aesthetisierendes Geschwätz, wir brauchen keine anspruchsvolle Ungeistigkeit, wir brauchen nur Willen. Und Willen bildet man nicht im Litteratencafé und nicht im Cabaret und nicht in Tanzdielen, sondern auf dem Sportplatz.« Mit seiner kleinen Schrift wollte Risse, so seine Selbstdeutung, die Leistung und Bedeutung des Sports für die Gesellschaft analysieren und festhalten, »was er (der Sport, KHB) für uns als Zukunft, als die große Hoffnung, bedeutet.« Dem Sport sprach Risse die Fähigkeit zu, die große Gegenkraft zu sein, mit der man die zahlreichen Verfallserscheinungen und Verwerfungen der modernen Gesellschaft erfolgreich kontern könne. Durch ihn ließe sich eine »Erziehung des Willens« erreichen und der »Intellektualismus« bekämpfen (ebd.: 84). Den Sport sah Risse allerdings in einer tiefen Krise stecken. Der gegenwärtige Berufssport sei »dekadent«, insbesondere dort, wo die in ihm vorgeführte Rohheit zunähme. Außerdem mache der Sport, um körperliche Leistungen zu steigern und Rekorde zu erzielen, eine Rationalisierung von Training, Bekleidung, Logistik, wissenschaftlicher Begleitung sowie eine Egalisierung der Sporträume notwendig. Hierdurch entstünde ein bürokratischer Überbau, der das Freiheitsbegehren und die schöpferische Kraft des Sports begrenze. Unter Sport verstand er »die Leibesübungen mit Ausschluß von Turnen und Gymnastik« (ebd.: 9). Hierunter subsumierte er den sog. »Rasensport«, den Wassersport, das Radfahren und die aus dem Zirkusmilieu stammenden Kampfsport__________________ 50 Das erste deutsche universitäre »Institut für Körperkultur« wurde 1920 an der Universität Gießen eingerichtet. Siehe Gissel (2006: 105). Zum Sport der 1920er Jahre vgl. auch die Analyse von Gumbrecht (2003).

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arten Boxen und Ringen. Das deutsche Turnen war für Risse kein Sport, weil es eine »künstliche, nicht natürliche Schönheit« erzeuge und eine Tätigkeit sei, die dem Einzelnen durch ihre Zwangsregeln jede Freiheit nähme. Der Übungsraum, die geschlossene Turnhalle sowie die enge Kleidung der Turner brächten die vom Turnen ausgehenden Begrenzungen und Sinnperspektiven bereits zum Ausdruck. Das Geräteturnen sah Risse nicht als eine geeignete Maßnahme an, der Fesselung des Individuums zu entkommen, da es »ein Abbild des gesamten mechanisierenden Systems« sei. Auch die Gymnastik erschien ihm lediglich als eine auf Muskelbeherrschung ausgerichtete Tätigkeit. Sie verfolge das Ziel, »durch regelmäßige Ausübung leichter Muskelbewegungen höchste Leistungsfähigkeit zu erreichen« (ebd.: 9). Den Sport wertete Risse als eine »Reaktion auf das gesamte System, innerhalb dessen Menschen zu Maschinen gemacht werden« (ebd.: 23). Er sei eine Form, ein »Ausweg, den sich das gefesselte Individuum sucht« (ebd.: 78). Es sei typisch, dass der moderne Sport in England entstanden sei, weil dort die Maschinenarbeit zuallererst die sozialen Verhältnisse und Mentalitäten durcheinandergewirbelt habe. Der Sport repräsentiere den »Versuch, dem Individuum wieder eine Betätigungsbasis zu geben« (ebd.: 26). Im sportlichen Wettbewerb könne das einzelne Subjekt überaus kreativ und schöpferisch sein, wichtige Freiheitsgrade erwerben und Singularität durch das Erreichen von Rekorden und hochstehenden Leistungen anstreben und erleben. Hier zeigte sich Risse wiederum von der Philosophie Friedrich Nietzsches stark inspiriert. Nietzsche, der große Lebensbefürworter, hatte eine große Anziehungskraft auf die damals heranwachsende Generation, weil er polemisierend und ironisierend zu allen traditionellen philosophischen Einstellungen auf Distanz ging, die Masse verabscheute und mit Zarathustra eine Kunstfigur schuf, die sich von allen herkömmlichen Moralvorstellungen trennte und Freiheit und Selbstüberwindung anstrebte (Wirkus 1996: 29ff.). Den Wunsch nach Einzigartigkeit und Distanz zum Üblichen, den der Sport erfüllen könne, brachte Risse wie folgt auf den Begriff: »Der Wille, irgendetwas, was es auch sei, als Einziger in dieser Vollendung vollbracht zu haben, der Wille, einmal im Leben ein höchst individuelles Meisterstück zu vollbringen und das Gefühl es vollbracht zu haben, die erst machen den Menschen.« Der mechanisierte Mensch habe keine andere Möglichkeit der Willensartikulation als auf dem Gebiete der körperlichen Kultur. Um einen Rekord zu erzielen, sei der »Sportmann« dann auch bereit, gesundheitliche Schäden in Kauf zu nehmen. Den Sport sah Risse (ebd.: 46) – bezüglich des Inhalts – als eine »Reaktion auf den sozialpsychischen Gesamthabitus unserer Zeit« an. In der Form hingegen übernähme er »alle Ausdrucks- und Organisationsmöglichkeiten eben dieses Habitus« und sei deshalb als Anpassung zu werten. Günther Lüschen (2006: 92) kommentierte den soziologischen Gehalt des Werks von Heinz Risse eher kritisch: »Als ›Soziologie‹ ist Risses Buch trotz

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einiger empirischer Verweise und einiger Hinweise auf theoretische Begriffe, die oftmals unverstanden bleiben, nicht zu bezeichnen; auch sind die zitierten Autoren eher nicht der Soziologie zuzuschreiben.51 Einen Anspruch auf eine ›formale‹ Analyse erfüllt das Buch in seiner Durchführung in keiner Weise. Während schon die ersten Kapitel zeigen, dass Risse den Begriff der Form kaum verstanden hat, wird dies besonders deutlich im Schlusskapitel, in dem eine metaphysische Analyse auch als Ansatz der Form des Sports verstanden werden könnte. Stattdessen zerbricht dieses Kapitel auf der einen Seite an der der innerweltlichen Askese des Bürgertums zugeschriebenen Haltung sowie am Nihilismus des Willens zur Macht in der modernen Gesellschaft und andererseits an den von Risse entdeckten Widersprüchlichkeiten des Sports, in dem er die ›reinliche Scheidung zwischen Sport und Turnen‹ in den zwanziger Jahren schon vorauszusehen scheint.« Die ursprünglich als Dissertation bei Alfred Weber geplante Arbeit wurde von diesem mit dem Hinweis abgelehnt, dass der potentielle Zweitgutachter den Sport voraussichtlich noch nicht als wissenschaftstaugliches Thema akzeptieren würde. Auch die Soziologie hätte in den universitären Fakultäten noch um ihre Anerkennung zu kämpfen.52 Die Soziologie vor und nach dem Ersten Weltkrieg besaß, wie Heinz Risse (1984: 29) Jahrzehnte später in einem Rückblick auf jene Zeit bezüglich des Wissenschaftsverständnisses und der Konkurrenz der Wissenschaftsdisziplinen untereinander feststellte, »kaum empirischen Charakter, wenn man unter ›empirisch‹ eine Wissenschaft versteht, die ihren Stoff anhand von aus eingehender Forschung gewonnenen Fakten untersucht und darstellt. Um 1920 umfasste die Soziologie Gebiete, auf denen andere Fakultäten wohnten; diese empfanden die Besucher als Eindringlinge und waren durchaus nicht geneigt, in ihnen liebe Gäste zu sehen.« In der Tat, die volle Akzeptanz als Universitätsfach konnte die Soziologie erst Jahrzehnte später, näm__________________ 51 Dieser Aussage muss man nicht zustimmen. Bei der Bewertung des soziologischen Gehalts einer Publikation geht es eben nicht nur um die zitierten, sondern auch um die unzitierten, aber ideenmäßig verwendeten Schriften, auf die ein Autor zurückgreift. Simmel und Tönnies wurden von Risse nicht explizit genannt, obwohl er seine Analyse mit ihren Befunden an zahlreichen Stellen garnierte. Auch Max Weber fand Eingang in seine Überlegungen. Im letzten Teil verwies er beispielsweise auf die innerweltliche Askese, die »wesentlich an der Schaffung des ganzen modernen Kapitalismus« beteiligt gewesen sei (ebd.: 74). Da Tönnies, Simmel und Weber zweifellos als Soziologen anzusehen sind, sollte der Arbeit von Heinz Risse der Status einer frühen soziologischen Studie nicht abgesprochen werden – bei aller Kritik, die man an einzelnen Aussagen formulieren kann. Man denke nur an den hohen spekulativen Anteil der Schrift, der sich insbesondere in seinem letzten Kapitel zeigt, in dem er »metaphysische« Überlegungen anstellte. 52 Risse wurde im gleichen Jahr mit einer anderen Arbeit promoviert. Zur Bedeutung der ersten Monografie zur Soziologie des Sports vgl. auch Pilz (1994: 443).

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lich ab Mitte der 1950er Jahre, erreichen. Eine Konsolidierung durch ein expandierendes Stellenwachstum fand in der Soziologie erst Ende der 1960er Jahre statt. Heinz Risse selbst war wenige Jahre nach der Veröffentlichung von der Qualität seiner Arbeit nicht mehr überzeugt, zog sein Werk nach der ersten 3000erAuflage zurück und wollte anschließend mit seiner Sportanalyse nicht mehr identifiziert werden. Ohne sein Wissen und seine Einwilligung wurde die Arbeit im Jahre 1981 wieder publiziert. In kritischer Selbstbeschau und in Verwunderung über die akademische Resonanz, die sein Werk national und international hervorgerufen hatte, schrieb er (Risse 1984: 8): »Denn schon zwei, drei Jahre nach dem Erscheinen des Buches fühlte sich der Verfasser nicht mehr in der Lage, den von ihm vorgetragenen Ideen zu glauben – Satz für Satz dachte er, müsste ich mir widersprechen, ich war 23 Jahre alt, als ich es schrieb, wir wollen es vergessen. Nie ist ein Kind von seinem Vater so frohen Herzens verstoßen worden wie dieses«. Als analytisch verfehlt sah er seine damals gehegte Annahme an, dass der Sport in besonderer Weise als Mittel zur Selbsterziehung und zur Beschaffung von Leistungsmotivation geeignet sei. Desillusionierend verfolgte er Jahre später die Sportentwicklung und war enttäuscht über die Metamorphose vom Amateursportler zum »bezahlten Gladiator« (ebd.: 35), die er in einigen Disziplinen beobachten zu können glaubte. Im Tennis sah er einen kommerziell orientierten »Wanderzirkus« am Werke, der Männer und Frauen mit einem »brutalen Training« konfrontiere und den Wert des Einzelnen ausschließlich aus dem Stand in der Weltrangliste errechne. Ernst Krafft (1925) beschrieb vier Jahre nach Risses Veröffentlichung den Weg »Vom Kampfrekord zum Massensport« und skizzierte »Umrisse einer Geschichte des Sports«. Er betonte die Bedeutung der sozialen Bedingungen, insbesondere die wirtschaftliche Ausrichtung einer Gesellschaft, um hieraus den Sport verstehend abzuleiten. »Man muss sich nur die Mühe machen, diese Vorbedingungen zu erkennen, dann leuchtet der Zusammenhang ganz von selbst auf« (ebd.: 9f.). Er kritisierte ethnologische Einstellungen, die Leibesübungen nicht auf »äußere Verhältnisse« zurückführten, sondern vielmehr als Sache der »Anlage« und der »Geschmacksrichtung« ansähen. Krafft ging vom »uralten Sport« der Naturvölker aus, erwähnte in diesem Zusammenhang das »MassenBallspiel der Indianer«, das Catlin (1841) in Texten und Bildern festgehalten hatte, beschrieb den »klassischen Sport« in der griechischen Antike (Pentathlon und Gymnastik) und kritisierte in diesem Zusammenhang die Heraufkunft des »Professionals«, der ausschließlich kommerzielle Interessen im Kopf gehabt habe. An die Stelle des eigenen Könnens sei bereits zu jener Zeit das »Staunen über fremdes Können« (ebd.: 17) getreten. Den Sport im Mittelalter verortete Krafft in den ritterlichen Exerzitien und Turnieren sowie in den städtischen Volksfesten und Ballspielen. Nach einer »sportlosen Zeit« Ende des Mittelal-

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ters sah er in der Turnbewegung des frühen 19. Jahrhunderts sowie in den militärischen Funktionsübungen ein Wiedererwachen des Sports. Die »einsetzende Trennung des Menschen von der Natur« habe »das Gegengewicht sportlicher Betätigung verlangt« (ebd.: 27). Die schwedische Gymnastik, das englische Rudern sowie den Fußballsport und das Tennisspiel nannte Krafft als Beleg für seine These vom Zusammenhang zwischen Sport und gesellschaftlicher Entwicklung. Im 20. Jahrhundert habe die Industrialisierung einen »Licht- und Lufthunger« aufseiten der Massen erzeugt und einen Bedarf geschaffen, Zeit und Raum mit Hilfe von Körper und Technik zu überwinden. Die »schaffende Menschheit«, die im Sport bereits sichtbar geworden wäre, könne und solle zur »Trägerin einer neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung« (ebd.: 32) werden. Die Arbeitersportbewegung mit ihrer starken Solidaritäts- und Gemeinschaftsorientierung sah Krafft als möglichen Motor der Veränderung hin zu einer sozialistisch geprägten Gesellschaftsordnung an. Fritz Hammer wurde im Jahre 1933 an der Universität Heidelberg mit einer 69-seitigen Dissertation zum Thema »Massensport« promoviert. In seiner Schrift versuchte er explizit, dieses in Deutschland insbesondere in den 1920er Jahren entstandene neue Phänomen soziologisch zu durchdringen. In der breit gestreuten Sportbewegung sah er qualitativ und quantitativ einen der »wirkungsvollsten Kollektivströme« seiner Zeit (ebd.: 66). Die auf der Grundlage des Massensports erzeugte sportliche Solidarität erschien ihm als das effektivste Medium, um einen Massenzusammenhalt zu erzeugen, zu verdichten und zu erhalten. Den einzigen sportbezogenen Artikel, der in den »Kölner Vierteljahreshefte[n] für Soziologie«, dem maßgeblichen Publikationsorgan der deutschen Soziologie, in der Zeit zwischen 1921 und 1934 erschien, schrieb Willy Latten (1934), ein Assistent Leopold von Wieses, ein Jahr nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten über die »Bürokratisierung im Sport«. Er ging damit auf einige Konsequenzen der zunehmenden Institutionalisierung des Sports in der Weimarer Republik ein. Den Ursprung der Bürokratisierung sah Latten in der Expansion der Sportbewegung und in der Rationalisierung des sportlichen Sozialethos, des Fairplay-Prinzips. Die »zahlenmäßige Ausbreitung des Sports« sei mit der »Versachlichung des arbeitenden Menschen in der industriellen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts« zusammengefallen und habe mit der »Einschränkung seiner Individualität im Arbeitsprozeß« und der hieraus resultierenden »Bedeutungslosigkeit« zu tun. Der Sport hingegen gebe dem Menschen »eine neue individuelle Bedeutung in einem Sozialsystem, das eine eigene Welt neben der anderen Welt« geschaffen habe (ebd.: 297). Allerdings sei diese Welt durch das »System der Platzanweisung durch Wettkampf und Kampfspiel, also durch das Prinzip der Konkurrenz« geprägt. Die Besonderheit des Sports liege darin begründet, dass der »Kampf ums Dasein« hier lediglich »gespielt« werde, und zwar nach dem Prinzip des Fairplay, also einem Prinzip,

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das den Gegner als einen »gleichwertigen Menschen« anerkenne. Außerdem sei der Sport durch das Prinzip der Chancengleichheit geprägt. Die miteinander konkurrierenden Parteien bildeten durch die Anerkennung der Konkurrenz zudem eine auf Zweckfreiheit ausgerichtete Gemeinschaft, die sich bewusst »aus dem Sozialraum des Erwerbs« ausgesondert habe. Die Fixierung auf Konkurrenz, Rekord, Kampf und Meisterschaft schaffe eine »Pyramide der Überordnung durch Anerkennung«. Die Entstehung der Sportvereine leiste, so Latten (ebd.: 298f.), einer schleichenden Rationalisierung und Bürokratisierung des Sports Vorschub. Das Größenwachstum des Sports und die hieraus resultierende Komplexitätssteigerung riefen eine Krise der Ehrenamtlichkeit als dem Kernprinzip der Sportvereine hervor. Entweder komme es dann zu einer Umwandlung des Ehrenamts in ein Hauptamt oder zu einer Differenzierung der Aufgaben im Bereich der Ehrenamtlichen. Dies allerdings führe zu einer Minimierung der Ehre und der sozialen Anerkennung sowie zu Kompetenzkonflikten. Dadurch, dass die Neben- und die Hauptamtlichkeit Geld kosteten, seien die Vereine gezwungen, Gelder vermehrt durch Mitgliederbeiträge und Eintrittsgelder zu erheben. Eine derartige Rationalisierung bleibe nicht ohne Konsequenzen, sondern rufe die »Gefahr der Perversion«, einer »Verkehrung« durch Professionalisierung und Kommerzialisierung hervor. Der Amateursport und das Gentleman-Ideal verlören an Bedeutung und riefen »Gewinnsucht« und Vorteilsbeschaffung hervor. Die starke Nachfrage nach dem Sport in den Städten habe außerdem das Meisterschafts- und Rekordmotiv dominant werden lassen, den Normierungsbedarf in zeitlicher, sachlicher, sozialer und räumlicher Hinsicht erhöht und eine eigene Sportbürokratie geschaffen, die sich allerdings immer mehr von den Bedürfnissen der Sporttreibenden entfernt habe. Latten (ebd.: 302 f.) ging damit explizit auf die Vorarbeiten von Risse (1921) ein. Dieser hatte sich in seiner sportsoziologischen Analyse auch mit dem gespannten Verhältnis von Sportbürokratie und Protest auseinandergesetzt und den Selbstzweckcharakter des organisatorischen Überbaus im Sport herausgearbeitet. Latten beendete seine Studie mit dem Hinweis auf die möglichen selbstzerstörerischen und Misstrauen sähenden Konsequenzen einer ausufernden Sportbürokratie und leitete hieraus, ein Jahr nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten und in Übernahme des damaligen Zeitgeistes, die Forderung nach »Einführung des Führerprinzips« im Sport ab: »Das Abstrakte und Anonyme, das in jedem Büroapparat steckt, wird in der Neuordnung kompensiert durch den konkreten Einsatz der Person des Führers« (ebd.: 304), der die letzten Entscheidungen zu treffen habe. Die Sportführer sollten unabhängig von der Sportbürokratie sein und ihre Legitimation aus dem ihnen von der Sportbasis gegenüber erbrachten Vertrauen ableiten. »Wieweit aber diese Wandlung, die im Sport mehr bedeutet als Gleichschaltung, geeignet ist, das ganze Sportleben zu verändern, muß sich erst zeigen.«

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Ein Jahr später publizierte Maria Kloeren (1935) ihre als »kultursoziologisch« ausgewiesene Dissertation zum Thema »Sport und Rekord«. Als Einstieg präsentierte sie historische Daten und Quellen aus England zwischen dem sechzehnten und achtzehnten Jahrhundert zum Ringen, Fechten und Boxen und wählte damit überraschenderweise Körperpraktiken aus, in denen es nicht primär um das Erzielen von Rekorden geht. Die Leistungen der Sportler unterliegen in diesen Disziplinen nicht der Logik von Zentimeter, Gramm und Sekunde. Die drei genannten Kampfsportarten sind vielmehr konfrontative Praktiken, in denen die Differenz von Sieg und Niederlage im Hin und Her eines Kampfes situativ zur Entscheidung gebracht wird. Auch wenn Schiedsrichter Punkte vergeben und individuelle Leistungen auf dieser Grundlage untereinander in Verbindung setzen und hierarchisieren, zielt der Vergleich nicht darauf ab, Rekorde zu erzielen und entsprechend zu memorieren. Kloeren (ebd.: 87ff.) ging außerdem auf die Kulturgeschichte des Duells ein, um die Entstehung des Zweikampfes als »Waffenspiel« zu plausibilisieren. Als Hauptursache für die in einem Prozess der Selbstjustiz mit dem Degen geklärten Ehrstreitigkeiten unter Aristokraten galten Spiele, bei denen Geld gesetzt und verwettet wurde: »[…], dazu gehören außer den Karten- und Würfelspielen zu dieser Zeit auch das Tennis- und das Kegelspiel« (ebd.: 90). Erst als der vormoderne Ehrbegriff durch die Betonung der Vernunft im Rahmen der europäischen Aufklärung an Bedeutung verlor, der Staat das Gewaltmonopol durchsetzte und Recht nicht mehr als »gottgegeben«, sondern als positiv gesetzt wahrgenommen wurde, verlor das Duell an Bedeutung und sollte, so zeitgenössische Empfehlungen, durch weniger blutige Formen der Streitschlichtung unter Gleichgestellten, nämlich Ringen und Boxen, ersetzt werden. »Für die Aufklärung heißt Duellieren: ein Gottesurteil zur Klärung von Schuld und Unschuld fordern. Das aber ist im höchsten Grade unvernünftig; denn die Erfahrung lehrt, dass nicht immer siegt, wer im Rechte ist, dass es also ein Eingreifen übernatürlicher Mächte in den gesetzmäßigen, natürlichen Verlauf der Dinge – ein Wunder – nicht gibt« (ebd.: 95f.). Erst im letzten und dritten Teil ihrer Dissertation, nachdem sie die Bedeutung der Pferdezucht für den Pferderennsport herausgearbeitet hatte, stellte Kloeren (ebd.: 184) Überlegungen zur Entwicklung des Rekordgedankens an. Als Begründung für ihren kurvenreichen Umweg gab sie an: »Die erste Sportbehörde wie die erste Organisation überhaupt zeitigte der Pferderennsport; wir werden deshalb die Untersuchung des Sports zur Aufgabe wählen müssen, um zu dem Verständnis des Rekordgedankens zu gelangen.« Höchstleistungen seien generell nur dann feststellbar, wenn, erstens, Messmöglichkeiten existierten und, zweitens, Leistungen immer unter gleichen Bedingungen aber zu unterschiedlichen Zeiten und von unterschiedlichen Personen zustande kommen könnten. Ohne die Festlegung von Maßeinheiten und Fortschritte in der Mess-

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technik gäbe es keine Sportrekorde. Ein Rekord stünde zunächst für eine herausragende Leistung, die als würdig befunden wurde, in einer schriftlichen und amtlichen Weise festgehalten zu werden. Weder die Rennen von Pferden noch die Wettbewerbe im Gehen und Laufen der sog. »foot men« seien rekordorientiert gewesen, da der Sieg bei »matches against time« in einem Wettkampf im Vordergrund gestanden habe, und nicht das Erzielen einer Rekordzeit. Der Messgedanke habe, so Kloeren, seinen Ursprung nicht im Sport, sondern in der »Verkehrsproblematik des sechzehnten Jahrhunderts« gehabt. Auf Reisende oder die Übermittler wichtiger politischer Informationen, die den Raum zwischen zwei Orten zu Fuß, zu Pferde oder Schiff zu überwinden hatten, und dabei auf die unterschiedlichsten Hindernisse stießen (Wetter, Anschlussmöglichkeiten, Wegelagerer etc.), wurden irgendwann einmal Wetten über die schnellstmögliche Reisezeit abgeschlossen. Erinnerungen hieran wurden in »records« festgehalten. Das Streben nach einer immer höheren Geschwindigkeit in der Fortbewegung und im Reisetempo habe, so Kloeren (ebd.: 194) »auf das Interessengebiet der Erholungsstunden, den Sport«, übergegriffen. »Matches against time«, und nicht gegen anwesende Gegner, seien die Folge gewesen. Wilhelm Hopf (1985: 295ff.) wies im Nachwort seines Reprints mit Recht darauf hin, dass die Arbeit von Maria Kloeren, trotz der gegenteiligen Annonce im Untertitel der Arbeit – keine soziologische Studie im engeren Sinne darstelle. Der Hinweis auf die kultursoziologischen Ambitionen sei auf Anraten ihres Doktorvaters, Herbert Schöffler, in den Untertitel hineingeraten. Kloeren, die »Englisch« und »Leibesübungen« als Studienfächer in ihrem Lebenslauf angab, wäre kaum als eine studierte Soziologin anzusehen. Ihr Verdienst besteht darin, bislang unbekannte historische Daten und Quellen über die Entstehung des Sports in England zwischen dem sechzehnten und achtzehnten Jahrhundert zusammengetragen und erschlossen zu haben. Schöffler (1935) publizierte im gleichen Jahr, und zwar unter expliziter Einbeziehung der von Maria Kloeren zusammengetragenen Quellen, ein 86-seitiges Büchlein zum Thema »England, das Land des Sportes«. Auch er trat mit dem Anliegen an, eine »kultursoziologische Erklärung« dafür liefern zu wollen, warum gerade der Sport in England »alle Volksgenossen als handelnde Teilnehmer wie interessierte Zuschauer« erfasst habe. Schöffler beschrieb die Wandlungen um 1700, stellte die Herkunft des Boxens dar, dachte über das Duell nach und ließ sich aus über die »soziale Entwicklung von Lauf- und Rennsport« sowie das Wetten. Für die zweite Hälfte des 17. Jahrhundert konstatierte er eine allmähliche Annektion des ursprünglich aus der Oberschicht stammenden Pferderennens durch die unteren Schichten sowie ein rasches vertikales Vordringen unterschichtsbasierter Betätigungen in Gestalt von »Raufringen«, »Raufboxen» und »Wettlaufen«. In der Zivilisierung des Adels durch das Zurückdrängen des Duells, den heraufkommenden Individualismus, die

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langsam entstehende Wettkultur, den Spannungsgehalt von sportlichen Konkurrenzen sowie die Ökonomisierung des Adels sah er die maßgeblichen Faktoren für die Entwicklung des Sports in England. Demgegenüber habe es in Deutschland erst im Jahre 1830 die ersten Pferderennen gegeben und das Turnen habe die Körperkultur bestimmt. Karl Mannheim (1935: 365) ging in seiner Studie zum Thema »Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus« kurz auf den Sport ein. Unter dem Eindruck des Versagens der Weimarer Republik, die unfähig gewesen sei, »die Probleme der modernen Massengesellschaft zu lösen«, und der Untauglichkeit des »alte[n] laissez-faire-Prinzip[s]«, fragte er nach einer Planung, die den gesellschaftlichen Eigenkräften keine Gewalt antue. In einem Unterkapitel zum »Übergang von der direkten zur indirekten Beeinflussung« nannte er den Sport als Beispiel, dass die »Rationalisierung in einem späteren Entwicklungsstadium zu einem natürlicheren Dasein führt« und »ganz bewusst versucht, den entmenschlichenden Folgen einer übertriebenen Regulierung zu begegnen.« Hierzu hielt er wie folgt fest: »Das viktorianische Zeitalter begünstigte z.B. mit seinem geringen Verständnis für das Wesen der industriellen Gesellschaft einen Kult des Unnatürlichen, während die moderne Massengesellschaft trotz ihrer stärkeren Organisiertheit eher dazu neigt, ihre Angehörigen durch systematische Körperkultur, Sport, und frische Luft wieder zu einer natürlicheren Lebensweise anzuhalten« (ebd.: 365). Mannheim sah den Sport, trotz der Entartungserscheinungen, die er vor allem in dessen »Rekordmanie« verortete, als Möglichkeit an, Menschen die »echten Freuden einer gemeinsamen Freizeitbeschäftigung« zu vermitteln. Hierzu müssten diese allerdings erst bewusst erzogen werden. Das Irrationale sei ohnehin »nicht unter allen Umständen etwas Schädliches«. Eine »richtig organisierte Massengesellschaft« müsse »nach Ventilen für die Triebe suchen, als der nüchterne Alltag durch die allumfassende Rationalisierung eine dauernde Triebverdrängung notwendig macht. Hierin kann man die Funktion des Sportbetriebs, der Feste und Veranstaltungen, aber auch der allgemeineren Kulturpolitik einer Massengesellschaft erblicken. Alle großen geschichtlichen Kulturen haben es bisher verstanden, die irrationalen Kräfte der Seele durch Sublimierung in bestimmte Bahnen zu lenken und ihnen Gestalt zu geben« (ebd.: 74). Mannheim wertete den Sport demnach als ein soziales Milieu, in dem Menschen ihre im Alltag verdrängten Triebe zivilisiert ausleben und formen könnten. Albert Parry (1934: 306) sah den Sport in einem Artikel in der »Encyclopedia of the Social Sciences« als Instrument an, um ein Massenpublikum subtil durch Zerstreuung und Ablenkung zu kontrollieren und von sozialen Revolten abzuhalten. Er prägte damit eine Argumentationsfigur, die in der Folgezeit in leicht abgewandelter Form immer wieder aufgegriffen wurde. Der Stadt- und Techniksoziologie Lewis Mumford (1934) betrachtete das Verhältnis von

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»Technik und Zivilisation« und bezeichnete den Sport vor diesem Hintergrund als problematisches Massenspektakel, das ins Spiel gekommen sei, als die Lebensbedingungen aufgrund von Routinisierung und Disziplinierung nach Abwechslung und Heldentum verlangten und der Lebenssinn in Gefahr gestanden habe, verlorenzugehen. Dem »Massensport« schrieb er eine kompensierende und legitimierende Funktion zu. Der Sport, der ursprünglich als Protest gegen Kommerzialisierung und Mechanisierung entstanden sei, sei mittlerweise selbst Teil der kommerzialisierten, mechanisierten und verregelten Welt geworden, und zwar um private Profitinteressen zu bedienen oder nationalistische Selbstdarstellungen zu ermöglichen. Die durch den Sport hervorgerufene Spannung könne allerdings nur kurzzeitig und oberflächlich Erleichterung verschaffen. Gegenüber dem Spiel verlange der Massensport, so Mumford (ebd.: 303), nach einer Prise Tod und Zufall, wie man im Automobilrennsport und Flugsport leicht sehen könne. Während sich die Möglichkeit, final zu scheitern, beispielsweise beim Bergsteigen zufällig und ohne Planung ergebe, sei es im Massensport Teil des Geschäfts. »[…] but sport in the sense of a mass-spectacle, with death to add to the underlying excitement, comes into existence when a population has been drilled and regimented and depressed to such an extent that it needs at least a vicarious participation in difficult feats of strength or skill or heroism in order to sustain its waning life-sense.« Der Ruf nach Zirkus, Spektakel, sadistischen Ausbrüchen und schließlich Blut sei typisch für Kulturen, die dem Ende nahe stünden. Als Beispiel hierfür erwähnte Mumford (1934: 304) nicht nur Rom unter Cäsar und Mexiko unter Montezuma, sondern auch Deutschland unter den Nazis: »These forms of surrogate manliness and bravado are the surest signs of a collective impotence and a pervasive death wish. The dangerous symptoms of that ultimate decay one finds everywhere today in machine civilization under the guise of mass-sport.« Das Hauptziel der mechanisierten und technisierten Welt bestehe darin, alles kalkulierbar und zufallsunabhängig zu gestalten. Der Sport hingegen glorifiziere den Zufall und das Unerwartete. Das maschinell Verdrängte feiere im sportlichen Wettkampf, aufgerüstet mit einer Ladung Emotionalität, eine spektakuläre Wiederkehr. Der Schrei des Entsetzens nach einem Unfall sei nicht Ausdruck einer Überraschung, sondern kommentiere eine erfüllte Erwartung. Mit Sprache unterlegte Filmbilder verbreiteten anschließend Spektakel und Thrill weltweit in den Nachrichten und Wochenschauen. Schal und langweilig geworden durch häufige Wiederholungen entstehe ein neuer Bedarf an noch mehr Brutalität. Im Sport sah Mumford drei Elemente öffentlich zur Schau gestellt: das große Spektakel, den Wettbewerb und die modernen Gladiatoren. Das Spektakel würde das ästhetische Element, das die industrielle Zivilisation so sehr vermissen lasse, insbesondere den kulturell Deprivierten vorführen: »Moreover, the spectacle itself is one of the richest satisfactions for the esthetic sense that the

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machine civilization offers to those that have no key to any other form of culture: the spectator knows the style of his favourite contestants in the way that the painter knows the characteristic line or palette of his master, and he reacts to the bowler, the pitcher, the punter, the server, the air race, with a view, not only to his success in scoring, but to the esthetic spectacle itself« (ebd.: 305f.). Schreien, Singen oder Brüllen der Zuschauer würden das Schauspiel nicht nur begleiten und rahmen, sondern auch dessen Bedeutung unterstreichen. Die Zuschauer übernähmen dann die Rolle des Chors im griechischen Drama. Wenn der Einzelne üblicherweise im Alltag von der physischen Nähe zu seinen Mitmenschen abgeschnitten sei, könne er im Sport eins werden mit einer primitiven, undifferenzierten Gemeinschaft. Das Drama des sportlichen Wettkampfes führe in die Motorik des Zuschauers hinein, würde Muskeln zur Kontraktion und Extension bringen und den Puls höher ansteigen lassen. Der Zuschauer könne aus seiner passiven Alltagsrolle heraustreten, seinen Emotionen freien Lauf lassen und sich als beteiligte und einflussnehmende Person fühlen. Neben der ästhetischen Dimension, die der Sport bediene, sei der zur Schau gestellte Wettkampf immer ein Konflikt zwischen dem Wunsch nach gekonnter Vorführung und dem Verlangen, einem brutalen Ereignis beizuwohnen. Außerdem stünden Zufall und Rekordorientierung in einem dauerhaften Spannungsverhältnis. »Chance is the sauce that stimulates the excitement of the spectator and increases his zest for gambling.« Hunde- und Pferderennen seien in dieser Hinsicht genauso effektiv wie Spiele, die ein höheres Maß an menschlichen Fertigkeiten erforderten. Mumford (ebd.: 306) kritisierte vor diesem Hintergrund das Bestreben, permanent sportliche Rekorde erzielen zu wollen. Das abstrakte Interesse an einem Rekord habe sich in vielen Sportarten als Hauptorientierung durchgesetzt. Es ginge dann nicht mehr um einen Wettbewerb unter Menschen, sondern um eine Auseinandersetzung mit einer abstrakten Größe. Der professionalisierte Sport reduziere zudem den Zufall, um erwartbare Ergebnisse zu erzielen. Die Konsequenz sei problematisch: Der Sport, der ursprünglich als Drama begonnen habe, sei zu einer reinen Vorführung und Ausstellung (ebd.: 306) verkommen. Der »Sieg um jeden Preis« habe das FairplayIdeal ersetzt. Neben dem Spektakel und dem Wettbewerb sah Mumford ein drittes Element im Sport zur Aufführung gebracht: die neuen Sporthelden. Diese erfüllten ihren Beruf pflichtgemäß wie Soldaten oder Opernsänger. Sporthelden stünden für Männlichkeit, Mut und Einsatzbereitschaft. Ihre Körper, denen ansonsten in der mechanisierten Welt keine größere Bedeutung mehr zukäme, würden sie exzessiv trainieren und stellvertretend für die Zuschauer abrichten. Hierfür bekämen sie eine fürstliche Belohnung in Form von Geld, Ruhm, Ehre und Aufmerksamkeit. Die Athleten stünden für den »Mars complex«, die Sportlerinnen für die Göttin Venus. Letztere sah Mumford in den Schwimmerinnen und

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Badenixen seiner Zeit repräsentiert, die nach ihrer Leistungssportkarriere das Fach wechselten, in Hollywood Karriere machten und in Schwimm-Musicals und Schwimm-Shows mit lasziven Auftritten in knappen Badeanzügen die sexuellen Phantasien ihrer männlichen Zeitgenossen beflügelten und die Idee von Sonne, Strand und Lebensfreude aus dem künstlichen Paradies gechlorter Schwimmbecken zu verbreiten suchten. Der Sportheld verfüge über all jene Fähigkeiten, die den Amateurathleten fehlten. Vor allem sei er effizient. Die Sportler hingegen, die sich der Kommerzialisierung verweigerten, würden durch die Journalisten in Misskredit gebracht. Die wirklich erfolgreichen Athleten hätten sich den Medienerwartungen und der Öffentlichkeit zu unterwerfen: »The really successful sports hero, to satisfy the mass-demand, must be midway between pander (Kuppler, KHB) and prostitute« (ebd.: 307). Denn in der mechanisierten Gesellschaft sei der Sport nicht länger mehr ein Spiel ohne Belohnung, sondern ein Millionengeschäft. Riesige Summen würden in Spieler, Trainer, Sportarenen und Ausrüstungen investiert. Vor allem infiziere die »Technik des Massensports« außersportliche Aktivitäten und Lebensbereiche. Wissenschaftliche Expeditionen und geographische Explorationen ähnelten inzwischen Geschwindigkeitsrennen oder Boxkämpfen. Der Sport sei immer mehr zu einem Mittel geworden, egal ob er für geschäftliche Zwecke, für die Erholung oder als ein Massenspektakel eingesetzt würde. Dadurch aber, dass der Sport inzwischen selbst Teil der mechanisierten und technisierten Gesellschaft geworden sei, gegen die er ursprünglich opponiert habe, könne von ihm keine schlagkräftige Antwort auf die Maschinenwelt mehr erwartet werden. Johan Huizinga, holländischer Kulturhistoriker und -philosoph, hinterfragte in seinem »Homo ludens« (1938) ebenfalls den modernen Sport und sprach diesem aufgrund eines unterstellten Verlustes an spielerischen Elementen keine tiefergehende kulturrelevante Bedeutung zu. Im Sport würden mit Hilfe von Technik, Organisation und Wissenschaft lediglich archaische Wettkampfinstinkte ausgelebt, aber keine gemeinschaftsbildenden und kulturschaffenden Effekte erzielt. Der Sport habe sich immer mehr von der reinen Spielsphäre entfernt und sei ein »Element sui generis« und nähme einen Platz neben dem eigentlichen Kulturprozess ein: »Der Sport ist vollkommen weihelos geworden und hat keine organische Verbindung mehr mit der Struktur der Gemeinschaft, auch nicht, wenn eine Regierungsgewalt seine Ausübung vorschreibt. […] Die Vollkommenheit, mit der die moderne soziale Technik den äußerlichen Effekt von Massendemonstrationen zu erhöhen versteht, ändert nichts daran, dass weder die Olympiaden noch die Sportorganisation amerikanischer Universitäten, noch die laut propagierten Länderwettkämpfe den Sport zu einer kulturschöpfenden Bestätigung emporheben können. Er bleibt, wie bedeutsam er auch für

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die Teilnehmer und Zuschauer sein mag, eine unfruchtbare Funktion, in der der alte Spielfaktor zum großen Teile abgestorben ist.«53 Frederik J. J. Buytendijk, Physiologe und Psychologe, analysierte 1933 »Wesen und Sinn des Spiels«. Er wies auf die Spannung zwischen dem kindlichen Drang nach Bindung und Autonomie hin und legte insgesamt ein wichtiges Fundament für zukünftige Spieltheorien. Dem Spiel wies er die Aufgabe zu, dem Individuum ein Opportunitätsmilieu zu bieten, »sein Ich-Gefühl zu verwirklichen, seine Persönlichkeit zu entfalten, unmittelbar der Richtung seines größten Interesses zu folgen in all denjenigen Fällen, in denen es das durch ernste Taten nicht tun kann« (ebd.: 159). Den Übergang vom »reinen Spiel« zum Sport beschrieb er als den Weg von der Spontaneität zum geregelten Sein, vom unspezialisierten Handeln zur Handlungsperfektion und zielorientierten Leistungssteigerung. »Die Regeln, die im Spiel Bewegungsfreiheit begrenzt, wird im Sport bestimmende Vorschrift, wie eine Handlung ausgeführt werden muß. […] Der Sport begründet seinen Wert und seine Wertung gerade im Nachstreben nach einer bestimmten idealen Ausführung der Handlung. Das reine Spiel enthält diese normativen Forderungen nicht und gehört denn auch zu einer ganz anderen Lebenssphäre. Die Tiere spielen; nur beim Menschen gibt es Sport, welcher ohne Normen, also ohne den Geist, nicht möglich ist« (ebd.: 119f.). Den Sportregeln sprach Buytendijk eine »negative Bedeutung« zu, weil sie nicht das bestimmten, was erlaubt sei, sondern das, »was nicht geschehen darf« (ebd.: 119). Das Spiel sei absichtslos, zwecklos und auf Unendlichkeit hin ausgerichtet; der Sport hingegen folge einem »Ausführungsplan« und sei in Dauer und Umfang begrenzt. Das Erfolgsgeheimnis der »höheren Spiele wie Fußball, Tennis, Schach- und Kartenspiel« sah er in deren Unberechenbarkeit sowie im »Hin und Her der Bewegung«. Außerdem machte Buytendijk in seiner Analyse auf den wichtigen Umstand aufmerksam, dass Spieler – beispielsweise durch die Form eines Balles und die hierdurch eröffneten Bewegungsmöglichkeiten und Kontrollierbarkeitsgrenzen – auch gespielt würden: »Spielen ist also nicht nur, daß einer mit etwas spielt, sondern auch, daß etwas mit dem Spieler spielt« (ebd. : 117). George Herbert Mead (1934: 150-164), der Mitbegründer des Symbolischen Interaktionismus, zeigte an der Differenz von Kinderspiel (play) und organisiertem Wettkampf (game), wie die Übernahme von Rollen funktioniert und welche Bedeutung dem »generalized other« bei der kindlichen Identitätsentwicklung zukommt. Während es bei einfachen Spielen meist um das Nachahmen anderer Personen ginge, sei der Wettkampf »ein Beispiel für die Situation, aus der heraus sich eine organisierte Persönlichkeit entwickelt. Insoweit das __________________ 53 Zitiert nach der deutschen Ausgabe (2006: 213f.).

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Kind die Haltungen anderer einnimmt und diesen Haltungen erlaubt, seine Tätigkeit im Hinblick auf das gemeinsame Ziel zu bestimmen, wird es zu einem organischen Glied der Gesellschaft. Es übernimmt die Moral dieser Gesellschaft und wird zu ihrem Mitglied. Es gehört ihr insofern an, als es den von den anderen übernommenen Haltungen erlaubt, seinen eigenen unmittelbaren Ausdruck zu kontrollieren. […] Was sich im Wettkampf abspielt, spielt sich im Leben des Kindes ständig ab. Es nimmt ständig die Haltungen der es umgebenden Personen ein, insbesondere die Rollen jener, die es beeinflussen oder von denen es abhängig ist« (ebd.: 202). Selbstbewusstsein entwickele sich also dann, wenn das Kind lerne, sich mit den Augen anderer zu sehen und die Perspektive des »generalized other« in sein Bewusstsein aufnähme. Spielerfahrung würde so zu einer allgemeinen Lebenserfahrung. In Frankreich tauchte der Sport Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts im Rahmen freizeitsoziologischer Studien auf, um dessen Bedeutung im Vergleich zu anderen Freizeitaktivitäten herauszuarbeiten (Caillois 1958a; Dumazedier 1963). Der Sport wurde als Teil der Konsumgesellschaft und als Möglichkeit gewertet, sich von den Zwängen der Arbeitswelt zu befreien. Bekannt wurde Roger Caillois in der Folgezeit aber weniger mit seinen freizeitsoziologischen Kategorisierungen. Bis heute gilt er als jemand, der Ordnung in die Vielfalt der diversen Spiele hineinbrachte. Spiele waren für ihn, so der erste formale Eingrenzungsversuch am Anfang seiner klassischen und viel beachteten Studie über »Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch« (1958b: 16 f.), durch spezifische Merkmale gekennzeichnet, nämlich erstens: die Freiwilligkeit der Teilnahme und die Abwesenheit von Zwang, zweitens: die zeitliche und räumliche Begrenztheit des Spielgeschehens, drittens: die Ablauf- und Ergebnisoffenheit sowie die Unproduktivität des Spiels, und viertens: die Regelhaftigkeit und Fiktionalität der Spielhandlungen im Rahmen einer »zweiten Wirklichkeit«. Roger Caillois verzichtete in seiner Weiterentwicklung der Spieltheorie darauf, die übliche Einteilung in Karten-, Geschicklichkeits-, Gesellschafts-, Kampf- oder Glücksspiele einfach nur zu übernehmen und weiterzutreiben. Er beobachtete die bekannten Spiele vielmehr auf strukturelle Merkmale, die er wie folgt benannte: agôn, alea, mimicry und ilinx. Anders formuliert: Er unterschied Spiele nach den Kriterien »Wettkampf«, »Zufall/Glück«, »Verkleidung/Verstellung« und »Rausch/Taumel«. Folgt man dieser vierfachen Einteilung, ergibt sich folgendes Bild von der Welt der Spiele: Wettkampfspiele (agôn) prägen eine scharfe, auf der Basis von formalen Gleichheitsorientierungen angesiedelte Rivalität zwischen mindestens zwei Parteien aus. Wo Ungleichheit vorhanden ist, werden Regeln eingeführt, um die Asymmetrie zwischen den Kontrahenten zu minimieren (Beispiele: Handicap-Regeln beim Pferderennen; Gewichtsklassen in den diversen Kampfsportarten). Dort, wo eine Eliminierung oder Reduzierung faktischer Ungleich-

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heit nicht möglich ist, weil beispielsweise Wind und Wetter eine Gleichheit der Startbedingungen permanent hintertreiben, kommen Losverfahren zum Einsatz, um die Bevorzugung einer Partei zu vermeiden. Glücksspiele (alea) repräsentieren das Zufallsprinzip, wie es beispielsweise dem Würfelspiel oder der Lotterie inhärent ist. Hier geht es nicht um Können und Geschicklichkeit, um Kraft, Ausdauer oder Schnelligkeit, sondern um die Gunst des Schicksals und die Fähigkeit, die Begrenztheit des eigenen Handelns anzuerkennen. Der Spieler befindet sich in einer Situation, auf die er selbst keinen Einfluss zu nehmen vermag. Eine Vorbereitung durch ein langjähriges Training macht daher wenig Sinn. Das Spielergebnis kann den Einzelnen plötzlich positiv überraschen oder blitzartig in den Orkus der Niederlage stoßen. Verstell- und Verkleidungsspiele (mimicry) stehen für das explizite Anderssein. Man kostümiert oder verstellt sich, und wird dadurch zu einer anderen Person, einer anderen Charaktermaske. Das alte Ich wird momenthaft vergessen und durch ein anderes Ich ersetzt. Kinder spielen Erwachsene, nehmen die Namen berühmter Fußballspieler an, imitieren deren Bewegungen, werden zu Flugzeugen oder Autos, um deren Motorengeräusche oder Bewegungen nachzuempfinden, oder projizieren sich in Cowboy- und Indianerfiguren hinein und spielen deren Konflikte nach. Fußballfans kostümieren sich, entindividualisieren ihre Gesichter mit einer Kriegsbemalung und gehören für einige Stunden zu einem lokalen Stamm, der innerhalb oder außerhalb des eigenen Territoriums das Eigene gegen das Fremde und Bedrohliche zu verteidigen bereit ist. In rauschorientierten Spielen (ilinx) dominiert die Komponente des Taumels, des Außer-sich-Seins im Strudel des Geschehens. Man fällt, rotiert, gleitet, schwebt oder durchquert mit hoher Geschwindigkeit den Raum und findet sich in einer Situation des tatsächlichen oder potentiellen Kontrollverlustes wieder. Die üblichen Koordinaten zur Orientierung des Subjekts in Raum und Zeit verlieren ihre Bedeutung. Schwindel erfasst das Bewusstsein. Reflexe ersetzen die Reflexion. Technische Materialitäten wie Kreisel, Schaukel, aber auch Skier, Surfbretter, Gleitschirme, Rennräder, Autos oder Flugzeuge können mit jeweils unterschiedlichen Effekten genutzt werden, um Rausch- oder Taumelgefühle zu erleben. Diese vier Spieltypen siedelte Caillois zwischen zwei entgegengesetzten Polen an, nämlich zwischen »ludus« einerseits und »paidia« andererseits.54 Paidia steht für das Spontane, Improvisierte, Ausgelassene, Tumulthafte und Ungeregelte. Ludus hingegen repräsentiert das Kompetenzorientierte und Ernsthafte im Spiel. Gegenüber dem agôn ist der Spieler, so Caillois, im ludus nicht in einen Wettkampf gegen Rivalen oder Konkurrenten verstrickt. Mit seinen Überlegungen wollte Caillois nicht nur eine Soziologie des Spiels erarbeiten, sondern eine von den Spielen __________________ 54 Zur bildlichen Darstellung der Spieltypen und Spielweisen siehe das Schaubild in Caillois (1958b: 46).

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ausgehende Soziologie formulieren (ebd.: 78). Er legte damit das Fundament, auf dem Jahre später Brian Sutton-Smith (1972, 1978) seine Theorie über den engen Zusammenhang von Spiel- und Gesellschaftskomplexität und David Le Breton (1991) seine abenteuer- und risikosportlichen Ordalanalysen aufruhen ließen. Der französische Semiotiker Roland Barthes (1957) schrieb in seinen »Mythologies« u.a. zwei Miniaturen über die Tour de France (ebd.: 110-121) und »le monde où l’on catche« (ebd.: 13-24). Er zeigte an diesen Beispielen aus der Alltags- und Massenkultur, dass die moderne, als »aufgeklärt« und »entzaubert« bezeichnete Gesellschaft permanent neue Mythen und Helden produziere. Barthes wies darauf hin, dass der Mensch bei der alljährlichen »großen Schleife« durch Frankreich naturalisiert, die Natur hingegen humanisiert würde. Den Bergen sprächen die Kommentatoren Bösartigkeit, Gefährlichkeit und Heimtücke zu. Der Mount Ventoux, einer der großen Berge, sei ein Moloch, ein »Gott des Bösen«, dem man als Fahrer Opfer zu erbringen habe. Vier Bewegungsformen seien für die Tour typisch: Führen, Verfolgen, Ausreißen und Eingehen. Wer vorne das Peloton anführe, bringe das größte Opfer. Er fange den Wind mit seinem Körper ein und erzeuge einen Schatten, in dem andere sich verstecken und von den Strapazen des Rennens regenerieren könnten. Das Verfolgen hingegen sei immer etwas feige und besitze den Charakter des Verrats. In der Tat ist der Verfolger der Parasit des führenden Fahrers. Das Ausreißen habe demgegenüber heroische Qualitäten. Hier erbringe der Fahrer ein sichtbares und distinktionsorientiertes Opfer, indem er sich allein an die Spitze setze, um meist nach einer längeren Phase der einsamen Selbstaufopferung vom Rest des Feldes »gefressen« und »geschluckt« zu werden. Das Eingehen während einer Etappe durch Übermüdung oder Übersäuerung sei dem symbolischen Tod auf der Straße, der Aufgabe, vorgeschaltet. Der Körper verweigert sich beim Eingehen dem Willen des Fahrers und folgt seiner eigenen Logik. In einem weiteren Beitrag in seinen »Mythen des Alltags« (1957) widmete Roland Barthes sich der »Welt, in der man catcht«. Er unterstrich den Schauspielcharakter des Catchens und wies darauf hin, dass diese gewaltinszenierenden Betätigungen auf oder neben der umseilten Bühne kein Sport, sondern ein Schauspiel seien, in dem exzessive Gesten und aggressive Körperaktionen sowie hypertrophe Körperformen eindeutige Botschaften von Helden und Schurken transportierten und melodramatische Gefühle von Triumph, Rache, Schmerz und Gerechtigkeit vermittelten. Helmuth Plessner (1952, 1956, 1967a), Soziologe und philosophischer Anthropologe, konnte für die 1950er Jahre noch mit Recht sein Erstaunen darüber äußern, dass der Sport – trotz seiner »außerordentlichen Bedeutung für unsere Zeit« – vonseiten der deutschsprachigen Soziologie und Anthropologie links liegengelassen worden sei. Er sah den Sport als ein »wesentliches Symptom«,

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als eine »wesentliche Erscheinung unseres kulturellen Zustandes unserer modernen Gesellschaft« an und zeichnete Umrisse einer Soziologie des Sports. Er erörterte den Zusammenhang von Sport und moderner Industriegesellschaft im Kontext einer Abbild- und Kompensationstheorie und sprach dem Sport die positive Möglichkeit zu, sowohl körperaktivierend zu wirken als auch Menschen in Wettkämpfen sozial sichtbar machen zu können. Sport sei mehr als nur Spiel, weil dort die Leistung im Vordergrund stünde. Da außerhalb des Sports die »Chancen und Kräfte«, nach oben kommen zu können, knapp verteilt seien, suchten Menschen nach einem Ersatz und fänden diesen im Sport. Und in dem Moment, in dem der Arbeitsalltag durch Rationalisierungsprozesse effektiver werde, in zeitlicher Hinsicht beschleunigt werde und sachlich immer parzellierter ausfiele, habe das Interesse am zweckfreien Tun zugenommen. Insbesondere das Spiel in gering differenzierten Gesellschaften eigne sich als Projektionsfläche, um die Pressionen und Nöte des eigenen Alltags zu beobachten. »In dem Maße, in dem die Menschheit sich als eine arbeitende erfaßt, hat sie sich«, so Helmuth Plessner (1967a: 17), »eine Gegenregion ausgespart.«55 Hans Linde und Klaus Heinemann (1968) formulierten einige Jahre später in ihrer Studie zum Verhältnis von »Leistungsengagement und Sportinteresse« eine »Kritik der projektiven Kompensationstheorie«. Plessner (1967b: 121f, zitiert nach ders.: 1975: 121-122) hielt die empiristische Kritik von Linde (1967) an seinen theoretischen Ausführungen allerdings für nicht stichhaltig und skizzierte eine Gegenkritik an der Methode der »persönlichen Befragung«: »Nur frage ich mich, ob aus noch so vielen Allensbächen das Bild des Stromes der modernen Gesellschaft und der Reaktionsformen auf sie zu gewinnen sind. Es nimmt mich nicht wunder, daß die Befragten der Lindeschen Untersuchung von Frustration, Anonymität und Kompensationswünschen nichts merken lassen.« Arnold Gehlen (1957: 57) wies im Rahmen einer kulturkritischen Studie zur »Seele im technischen Zeitalter« auf die veränderten »Erlebnisweisen« hin, die sich in Folge der »Tyrannei der Wirtschaft und der Rentabilität« sowie der »Unsinnlichkeit von Institutionen« in der privaten und öffentlichen Sphäre ergeben hätten. Und er konstatiert, dass selbst der Sport sich in eine »Aufführung« verwandelt habe, der sich die Massen passiv hingäben. Außerdem sei der Sport inzwischen zu einem »Asyl nationaler Ressentiments« (1957: 66) geworden und die fortschreitende Kommerzialisierung habe »Fanatismus, Übelnehmerei, Winkelzüge und Pressestrategien« in den Sport hineingebracht. Auch Jürgen Habermas (1958, 1967, 1975) sah in seinen »soziologischen Notizen zum Verhältnis von Arbeit und Freizeit« im Sport nur die Fortführung des Arbeitsprozesses in der Sphäre der Freizeit. Unter der Vortäuschung, Spiel zu __________________ 55 Die Ausführungen in Plessner (1967a) beruhen auf dessen Kurzartikeln aus den Jahren 1952 und 1956.

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sein, sei der Sport schon längst zum Showsport verkommen. Profis würden sich zum Amüsement konsumierender Zuschauer zur Schau stellen. Nur kleine »privatisierte Reste« seien von den Marktmechanismen noch nicht vereinnahmt worden.

ENTWICKLUNGSPHASEN Am Anfang der Entwicklung steht ab Mitte des 19. Jahrhunderts die Phase der beiläufigen, episodischen und unorganisierten Thematisierung von Sport und Spiel durch Ethnologen, Kulturanthropologen, Ökonomen, Psychologen, Pädagogen, Philosophen, Historiker, Schriftsteller, Leibeserzieher, frühe Soziologen und Kulturkritiker. Häufig artikulierten die Autoren zu jener Zeit lediglich alltagstheoretische Einsichten oder übernahmen unhinterfragt die mit Sozialisations- und Integrationsbehauptungen sowie mit pauschalen Gesundheitsannahmen aufgerüsteten Legitimationsrhetoriken von Leibeserziehern und Sportakteuren. Der Sport wurde dann entweder dem Bereich des Körperlich-Anrüchigen, Intellektuell-Anspruchslosen und Verkommenen zugeschlagen oder pauschal und kritiklos als ein erzieherisch wertvolles Medium angesehen, das in besonderer Weise geeignet sei, gezielt gegen die Gebrechen der Zeit und die fortschreitende Verkopfung und Gefühlsarmut des Arbeitslebens eingesetzt zu werden. Vielen galt der Sport als eine real existierende Gegenwelt zur Idee des Niedergangs, die als Reaktion auf die brachialen Veränderungen durch den gesellschaftlichen Modernisierungsprozess und das Gefühl verlorengegangener Gewissheiten entstanden war. Nachdem der Sport in Deutschland begonnen hatte, sich vereins- und verbandsförmig zu etablieren, und durch die Begeisterung, die er hervorrief, auf sich aufmerksam machte, findet von der Jahrhundertwende bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges eine Verdichtung der Diskurse statt. Die Bemühungen, das neuartige Sportphänomen aus den unterschiedlichsten Blickrichtungen zu beobachten und zu verstehen, nehmen, wie die folgenden Ausführungen exemplarisch zeigen sollen, enorm zu. Eduard Bertz (1900) schrieb eine erste umfassende Sozial- und Kulturgeschichte des Fahrrads, diskutierte dieses neue Fortbewegungsgerät als Verkehrs- und Bildungsmittel sowie als »Kulturbringer«, wog Möglichkeiten und Gefahren des kommerziellen Radrennsports ab, ging auf die Chancen des Fahrradfahrens für die Emanzipation der Frau ein und kommentierte in diesem Zusammenhang die Pionierbedeutung einer funktionsgerechten weiblichen Radbekleidung. Das Fahrrad sah er als »Bote des Heils für das weibliche Geschlecht« an, denn es habe ihm gerade das gebracht, was ihm fehle, nämlich die »kräftige, mit Lust ausgeführte Bewegung in freier Luft«. Da das Radfahren

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eine »Schule der Gefahr« (ebd.: 151ff.) sei, käme als Sekundärgewinn das Erlernen von »Aufmerksamkeit, Umsicht, Kaltblütigkeit, Entschlossenheit, Mut und Willenskraft« hinzu. Frauen könnten diese Tugenden zur Stärkung ihrer körperlichen, aber auch »geistigen« und »sittlichen« Eigenschaften durch die Nutzung des Rades erwerben und für ihren »Befreiungskampf« einsetzen. Den Damenradrennen stand Bertz allerdings skeptisch gegenüber. Sie bedienten nur die »männliche Lüsternheit« und seien eine »Ausartung und Versündigung gegen die weibliche Natur«. Als Sport sah Bertz (ebd.: 87) nur den Amateurradsport an, nicht den zu jener Zeit bereits existierenden und expandierenden Profiradsport. Die Berufsfahrer, die für Fahrradfirmen und andere Unternehmen Langstreckenrennen, Rundfahrten oder Sechstagerennen bestritten und hierfür entsprechend bezahlt wurden, schlug er dem »fahrenden Volke« zu und stellte sie damit auf eine Stufe mit Seiltänzern, Kunstreitern, Akrobaten und Gauklern. Da das deutsche Turnen in den Hallen stattfinde, durch starre Ordnungsvorschriften und entsprechende Übungen geprägt sei und den Schülern der Zugang zur frischen Luft und zur lustvoll besetzten spielerischen Betätigung verwehrt würde, sah Bertz (ebd.: 55) neben dem Schwimmen, dem Schlittschuhlauf, dem Reiten, Rudern, Wandern und Bergklettern in den »englischen Spielen« eine Möglichkeit, die Defizite des »erzwungenen Turnens« abzustellen. Da Menschen allerdings auf die diversen Formen der Leibesübungen aufgrund sozialer Zugangsprobleme, knapper Finanzmittel, ungünstiger Wetterlagen und energieraubender Arbeitstätigkeiten nur bedingt und zeitlich begrenzt zugreifen könnten, pries Bertz (ebd.: 60) das Zweirad emphatisch als Heilmittel der besonderen Art an, um Menschen in Bewegung zu setzen, ohne sie kraftmäßig zu überfordern, und ihnen außeralltägliche Gleit- und Raumdurchquerungserfahrungen zu vermitteln. Gegen die Steigerung des Nervenlebens in den Städten durch Hektik, Lärm und räumliche Nähe und die als Erlebniskorrelat neu entstandene Modekrankheit der »Neurasthenie«, die Georg Simmel (1903) einige Zeit später in seiner fulminanten Analyse über »Die Großstädte und das Geistesleben« soziologisch auf den Begriff brachte, empfahl Bertz (ebd.: 66) nicht, wie Simmel, die Blasiertheit, Reserviertheit, den Individualismus und die Extravaganz als Bewältigungsstrategien; er votierte vielmehr für die ausgiebige Nutzung des Zweirades, also eine körper- und bewegungsorientierte Praxis: »Besonders weichen vor dem Radfahren jene modernen Überreizungen, denen kein Stand und kein Alter jetzt entgeht, die Nervenschwäche in allen ihren Formen.« 56 Auch Eugen Sandow (1904: 22ff.) sah die mangelnde Nervenkraft seiner Zeitgenossen als Volkskrankheit an, die er mit einer neuen Körperkultur aus __________________ 56 Vgl. Nye (1982) zum Verhältnis von Neurasthenie, Degenerationsängsten und Sport in Frankreich zwischen 1880 und 1890.

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der Welt schaffen wollte: »Es gibt tausende und abertausende unserer Bevölkerung, welche nachts müde zu Bett gehen und morgens müde wieder aufwachen. Ein vielleicht noch größerer Teil weiß, was es heißt, Tag und Nacht unter nervösen Anspannungen zu leiden, welche durch die übermäßige Konkurrenz verursacht worden sind.«57 Als Abhilfe riet er zu einem Krafttraining mit Griffhanteln, Kugelstangen, Handstützen, Diskusscheiben, Keulen, »Bruststärkern« und Zuggeräten. Dieses Training sollte nicht nur die Muskeln fordern, sondern auch die Willenskraft schulen und die »Gewohnheiten der Selbstkontrolle und Mäßigung üben.« Außerdem könnten Menschen durch ein regelmäßiges kraftorientiertes Training über die Selbstachtung auch Fremdachtung erwerben und den »Durchschnittsmaßstab der Rasse als ganzes heben.« Dabei sei nicht die Zielerfüllung die Belohnung für den Kraftsportler, sondern der Weg dahin. Um sein Anliegen möglichst vielen Menschen näher zu bringen, brachte Sandow seine Ideen in korporalisierter Form auf die Bühne. Er faszinierte sein Publikum weltweit mit eigenen Kraftdemonstrationen und Vaudeville-Shows und wurde um die Wende zum 20. Jahrhundert zum ersten und häufig kopierten Propagandisten des modernen Kraftsports und Bodybuildings. Er nahm Herausforderungen an, kämpfte gegen Mensch und Tier und gewann viele Wetten. »Sandow carefully distanced himself from circus performers and human oddities, the subjects of popular photographs, and made pictures that showed he wanted to be ranked with leading actors and even works of art« (Kasson 2001: 63f.). In Studiofotografien imitierte er die Posen griechischer und römischer Statuen, schlüpfte in Gentleman- und Dandyrollen, zeigte sich als moderner Athlet oder als zeitgenössischer Radfahrer. In allen Darstellungen inszenierte er sich als Inkarnation männlicher Schönheit und Vollkommenheit. Er lieferte damit Vorbilder, auf die heute noch Bodybuilder in ihren Präsentationen zurückgreifen. Sandow ergänzte die bisherigen Ideale männlicher Schönheit und Kraft durch das Bild der muskelbasierten Hypermaskulinität und Virilität. Er wurde so zu einem Objekt weiblicher und männlicher Begierden, zumal er in seinen Shows häufig nur mit Feigenblatt und römischen Sandalen auftrat, was nicht nur zu jener Zeit durchaus ungewöhnlich war. Er etablierte damit den nackten, weißen, muskulösen Männerkörper sowohl als dominante ästhetische Referenzgröße als auch als Materialitätsbasis für Zeichen der wiedererstarkten männlichen Determiniertheit und des Willens zur Selbstmetamorphose.58 In __________________ 57 Zur Bedeutung des massengefertigten Niederrads mit Kettenantrieb, Kugellager, Freilauf und Luftgummireifen im Nervendiskurs um 1900 und zu den technikfixierten Erlösungsund Regenerationsprojektionen siehe den Historiker Radkau (1998: 202ff.). Den Geschwindigkeitskult diskutiert auch Kern (1983: 111). 58 Siebzig Jahre später fand eine filmische Wiederbelebung des hypertrophierten männlichen, weißen Muskelkörpers durch Arnold Schwarzenegger und Sylvester Stallone statt – typi-

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seinen Auftritten überraschte er bisweilen dadurch, dass er aus der Masse der Zuschauer kam und beeindruckende körperliche Klasse zeigte, um nach seinen Shows mit Hilfe einer verhüllenden Kleidung wieder in eine Alltagsrolle zurückzuschlüpfen. Er gab seinen männlichen Zeitgenossen gleichsam das Versprechen, dass auch sie ihre Wunschkörper mit einem ausgeklügelten Training und einer entsprechenden Willensstärke und Askesebereitschaft real erreichen könnten. Auf der Grundlage kulturkritischer und medizinischer Einschätzungen sowie männlicher Perfektionsvorstellungen forderte Sandow von seinen Zeitgenossen eine Umorientierung im Umgang mit dem Körper und sprach sich für ganzheitliche Kraftübungen aus. Die Vernachlässigung des Körpers sah er als »Sünde« an und mahnte deshalb eine »Sorge für den Körper« an. Die Schulen hätten die Körpererziehung ernster zu nehmen und müssten hierfür entsprechend logistisch ausgestattet werden. Sandow (1904) knüpfte – wie Eduard Bertz (1900), Georg Simmel (1903) und viele andere seiner Zeitgenossen – mit dem Hinweis auf das moderne Nervenleiden an einen Erklärungsansatz an, den der New Yorker Neurologe und Elektrotherapeut George Miller Beard (1869, 1880, 1881) unter dem Begriff der »Neurasthenie« im öffentlichen Diskurs bekannt gemacht hatte. Die einseitigen Überbeanspruchungen durch den schnellen gesellschaftlichen Wandel würden, so Beard, unweigerlich zu Disbalancen im Nervenhaushalt von Menschen führen und dort Angst- und Ermüdungszustände sowie Schlafstörungen, Verdauungsprobleme, Impotenz, Kopfschmerzen und Nervosität hervorrufen. Als Auslöser für die Entstehung der Neurasthenie sah er die massiven Veränderungen an, mit denen insbesondere die Inhaber gehobener Schlüsselpositionen durch die wirtschaftliche Konkurrenz, die Erosion religiöser Sinndeutungen, die Heraufkunft der Dampfmaschine, die Massenpresse, den Telegrafen, den wissenschaftlichen Fortschritt und die Frauenemanzipation konfrontiert würden. Die Überstrapazierung begrenzter Energien in einem Körperteil riefe, so seine Vermutung, in anderen Körperteilen Defizite hervor. Gesteigerte mentale Aktivitäten aufgrund von ökonomischer Konkurrenz schlügen sich in Überbeanspruchungen und in einer gesteigerten Energienutzung im Gehirn sowie in Verlusten an der Peripherie nieder. »Such a demanding milieu made the sapping of nervous energy inevitable« (Porter 2001: 39). Von einem Rückzug aus den überfordernden Erwartungshaltungen sowie von Diäten, Bädern und elektrischen Stimulationen erwartete er eine Re-Balancierung des Energiereservoirs. Beard versuchte mit dem Neurastheniebegriff, die Überlastungen vornehmlich männlicher amerikanischer Mittel- und Oberschichtsangehöriger unscherweise als Reaktion auf die Verunsicherung amerikanischer Männlichkeitsbilder in Folge des verlorenen Vietnamkrieges, umfangreicher Immigrationsströme sowie der Heraufkunft neuerer Formen des Feminismus. Siehe Kasson (2001: 222f.).

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ter einer plausibel klingenden, jenseits des weiblichen Hysterievorwurfs angesiedelten Einheitsformel zu subsumieren. Er stellte damit erstmals einen expliziten Zusammenhang zwischen Gesellschaftsentwicklung und physischer und psychischer Befindlichkeit, zwischen Modernisierung und Gesundheit bzw. Krankheit, her. Mit seinem Erklärungsansatz konnte er eine bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges andauernde Deutungshoheit etablieren, die Veränderungen in Medizin und Psychiatrie anstieß und auch sportrelevante Auswirkungen hatte. So sprachen Leibeserzieher einem gezielten Körpertraining eine kompensatorische Wirkung gegenüber den negativen Externalitäten des gesellschaftlichen Wandels zu. Der Kult männlicher Kraft, Potenz und Durchsetzungsstärke zeigte sich um 1900 nicht nur in der Inszenierung soldatischer Tugenden, sondern auch, und in Verbindung hiermit, in der Aufwertung der männlichen Muskelkraft, wie Eugen Sandow (1904) sie in eigenen Kraftsport-Studios und mit Hilfe von Eigenpräsentation und Werbung propagierte.59 Sein Bodybuilding war funktional äquivalent zum studentischen Mannbarkeitsritual der Mensur. Beide Praktiken waren, allerdings mit sehr unterschiedlichen Wirkungen, darauf ausgerichtet, sichtbare Spuren am Körper zu hinterlassen. Während das Krafttraining beabsichtigte, das gesamte Muskelpanorama zu überarbeiten und die einzelnen Muskelgruppen voneinander zu profilieren, um sichtbare Effekte hervorzurufen und das Körpererleben zu transformieren, zielte die Mensur darauf ab, seinem Träger symbolisches Kapital durch Gesichtsnarben zu verschaffen. Corpsstudenten traktierten das Gesicht als Sitz der Individualität im Rahmen eines ritualisierten Schlagabtausches auf dem Paukboden mit scharfen Korbschlägern, ohne dass die Füße der Kombattanten sich währenddessen bewegen und Verteidigungspositionen einnehmen durften. Den Beweis, ein ehrbarer, satisfaktionsfähiger und tapferer Mann zu sein, der vor einer Herausforderung nicht zurückweicht, musste der Einzelne in den an den Universitäten angesiedelten »schlagenden Verbindungen« mit Blut, Narben, Schmerztoleranz, Aggressivität und Trinkfestigkeit erbringen – und dies typischerweise zu einer Zeit, in der die Frauen damit begannen, ihre Bürgerrechte einzufordern und an deutschen Universitäten erfolgreich zu studieren. Mit ostentativer Härte, ritualisiertem Alkoholgenuss, einer starken männlichen Ingroup-Orientierung und der Bereitschaft zur eigenen Gesichtsverstümmelung hielt man sich das weibliche Geschlecht in den Burschenschaften auf Distanz. Während die Emanzipation der Frauen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für entsprechende Verunsicherungen aufseiten des männlichen Geschlechts sorgte, waren Männer im Kraftsport noch in der Lage, klassische __________________ 59

Zur Kraftsport- und Fitnessbewegung, die sich in Deutschland ab 1900 jenseits der Turnund Sportvereine etablierte, siehe Wedemeyer-Kolwe (2004: 290ff.).

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männliche Tugenden zu erarbeiten und in einer sichtbaren Weise vorzuführen. Unter der Hantel konnte man als Mann noch Qualitäten beweisen, die in der Maschinenwelt der Fabriken und in den Amtsstuben der Bürokratien bereits überflüssig geworden waren. Technische Erfindungen wie der Explosionsmotor und die leise vor sich hin surrenden Elektroaggregate hatten den männlichen Muskel in weiten Teilen des Arbeitslebens bereits nachhaltig verdrängt. Um in der neuen Angestelltenrolle typische Arbeitsprozesse zu erbringen, waren dicke Muskeln nicht erforderlich. Auch die Monopolisierung der Gewalt in Händen des Staates hatte dazu geführt, dass Männer ihre vornehmlich auf physischen Fähigkeiten beruhende Machtbasis nach außen zu delegieren hatten. Selbst das Militärwesen hatte durch die Herstellung von Distanzwaffen und die Entpersonalisierung des Tötens keinen größeren Bedarf mehr an muskelstarken Kriegern. Der Kraftsport repräsentierte demgegenüber eine distinktionskräftige Sonderwelt, in der das Exkludierte einem rigiden Überarbeitungsprozess unterworfen und als neues Körper- und Personenideal in die Gesellschaft rückprojiziert wurde. Die Massenpresse und die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts neu aufgekommene Fotografie sorgten dafür, dass diese auf Hypertrophie und physische Raumexpansion hinauslaufende Einwirkung auf den männlichen Körper eine weltweite Aufmerksamkeit erhielt. Der Schriftsteller und Graphologe Heinrich Steinitzer (1910) betrachtete in einer kleinen Studie den Zusammenhang von »Sport und Kultur. Mit besonderer Berücksichtigung des Bergsports«, ging kritisch auf den damaligen Leistungssport ein und sah in der körperlich-sportlichen Abstinenz berühmter Menschen ein Anzeichen von Größe. In seinem Versuch, das Wesen des Sports herauszuarbeiten, wehrte er sich gegen eine etymologische und geschichtliche Abklärung des Sportbegriffs, wie sie zu seiner Zeit üblich war. Er wolle nicht wissen, was Sport zu früheren Zeiten einmal bedeutet hätte. »Wir wollen wissen, was es jetzt bedeutet« (ebd.: 4). Das Gemeinsame des Sportbegriffs liege, so Steinitzer, nicht in einer »Gleichheit oder Aehnlichkeit der als Sport bezeichneten Tätigkeiten, sondern in der Art ihrer Ausführung. Jede beliebige, wie immer geartete Tätigkeit kann als Sport betrieben werden.« Sport sei zudem eine »soziale Tätigkeit« und könne nicht allein betrieben werden. Für den Wettbewerb seien Regeln unabdingbar, die einem einzigen Zweck dienten, nämlich »die genauesten Messungen und Vergleiche der Kräfte und Fähigkeiten zu ermöglichen. Das Wesen des Sports ist somit ein Messen und Vergleichen oder in einem Worte: der Wettbewerb in irgend einer Form.« Das Sich-Messen könne nicht nur mit Menschen, sondern auch mit Tieren oder leblosen Objekten, beispielsweise Bergen, stattfinden. Da jede Tätigkeit Sport sei, »soweit sie ausschließlich zu dem Zwecke ausgeführt wird, Kräfte mit anderen unter bestimmten Ausführungsbestimmungen zu messen«, würde eine Verberuflichung

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den Sport zweckentfremden und zerstören.60 Da sich der Sport, wie Steinitzer (ebd.: 46ff.) unter Rückgriff auf das antike Griechenland, das europäische Mittelalter sowie die Indianer Nordamerikas zu zeigen versuchte, insgesamt als »nicht förderlich für den Kulturfortschritt« erwiesen habe, vielmehr überall dort, wo sportliches Streben dominant anzutreffen sei, »Verfall« entstünde, sah er im Alpinismus ein potentielles, aber durch Versportlichung, Rekord- und Leistungsorientierung, Erstbesteigungswahn, Schnelligkeitsklettern und Nationalismus auch gefährdetes Heilmittel gegen den Verfall der Kultur. Der »alpinsportliche Betrieb« befördere die Unselbständigkeit des Subjekts. In einem nichtsportlich betriebenen Alpinismus könne der Mensch hingegen Distanz zum Alltag gewinnen, sich auf sich selbst besinnen und seine eigene vermutete Bedeutsamkeit relativieren lernen. »Wenn wir an das frische, fröhliche Herumtummeln in der gewaltigen Natur des Hochgebirges denken, wenn wir uns die weihevollen Stunden in der Einsamkeit, in der erhabenen Stille weltentlegener Täler vorstellen, können wir die Alpinisten verstehen, die aus ihrer Tätigkeit eine neue Blütezeit der Kultur hervorsprießen zu sehen hoffen, ja, darin das einzige Mittel erblicken, die Decadence auf ihrem Wege aufzuhalten« (ebd.: 47). Eine krude Versportlichung mache all diese Potentiale zunichte. Bertz empfahl den Alpinisten (ebd.: 73), über ihre Erfahrungen zu schweigen und auf eine Veröffentlichung ihrer Erlebnisse zu verzichten, denn das Reden und das Schreiben über ihre Empfindungen und Erlebnisse am Berg hätten durch den Sport und dessen Wettbewerbs- und Vergleichsorientierung überhand genommen. Sie regten nur ein umweltzerstörendes Kopieren und Nacheifern an und riefen eine Ungleichheit zwischen den Naturliebhabern hervor. In Sport und Kultur sah Steinitzer (ebd.: 76), so das Ergebnis seiner Untersuchung, »unvereinbare Gegensätze«. Er gab damit jenen Akteuren eine Stimme, die dem Sportalpinismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts kritisch gegenüberstanden. Diese Gruppierung reagierte mit Melancholiegefühlen und Ressentiments auf die Verdrängung und Marginalisierung jener Erhabenheits-, Frei__________________ 60

Bemerkenswert ist, wie präzise Steinitzer bereits vor mehr als einhundert Jahren auf die Ambivalenzen des Sports hinwies. So stelle sich der Sport als »Heilmittel« gegen die durch den gesellschaftlichen Wandel hervorgerufenen »Schäden« dar; er setze aber dieselben Prinzipien ein, um ein Kontrastprogramm zu liefern: Leistungsorientierung und Rekordbesessenheit. Zudem leiste der Sport durch seine Zurück-zur-Natur-Orientierung selbst einer Zerstörung der Natur Vorschub. Er dringe auch in jene Gebiete ein, »die unserer Ueberzivilisation von selbst hemmend gegenüberstehen; er ist es, der dem lauten unrastvollen Geist unserer Zeit dort Einzug verschafft hat«. Weiterhin schüre der Sport Konkurrenzdenken und Neid auch außerhalb des Sports. Steinitzer sah eine enge Verbindung zwischen der »Zunahme des Sports und der allgemeinen Tendenz der Ich-Betonung«. Er sah durch den Sport eine »große Ansteckungsfähigkeit und damit Gefährlichkeit für das gesamte Willens- und Triebleben« (ebd.: 37).

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heits-, Stille- und Einsamkeitsideale, die in der vorsportlichen Periode der Alpennutzung noch hoch gehandelt worden waren. Das sportliche Interesse an unbewältigten Schwierigkeitsgraden, am Finden neuer und schwieriger Routen, an der Erstbesteigung von Berggipfeln und an der Vergleichs- und Hierarchisierungspraxis der Bergsteiger untereinander wurde von den Mitgliedern dieses Milieus vehement abgelehnt. Der Sport erschien deshalb in ihrem »Schimpfklatsch« (Elias/Scotson 1990: 166ff.) als eine kulturzersetzende Krankheit.61 In der Abwertung der Versportlichung des Bergsteigens und der damit verbundenen Instrumentalisierung der Natur als Handlungsraum artikulierte sich auch eine nostalgische Sehnsucht nach dem Vergangenen und dem scheinbar Intakten, das als das einzig Authentische und Echte angesehen wurde. Das Bergsteigen, so weiß man heute, etablierte sich parallel zur voranschreitenden Industrialisierung Nordwesteuropas. Der erste nationale Bergsteigerverein wurde folgerichtig, wie Ulrich Aufmuth (2004: 89) festhielt, in England, dem ersten Land der industriellen Moderne, im Jahre 1857 gegründet. Zwölf Jahre später, im Jahre 1869, folgte der deutsche Alpenverein. Zwischen 1860 und 1880 formierten sich in ganz Europa Hunderte von Alpenvereinssektionen, die sich in der Eroberung der Berge engagierten. Bergsteigen und Bergwandern wurden zu einer frühen natur- und körperorientierten Massenbewegung. Anton Fendrich publizierte 1914 eine kulturphilosophische Abhandlung unter dem Titel »Der Sport, der Mensch und der Sportsmensch« und setzte sich ebenfalls mit der Ambivalenz des Sports auseinander. Er feierte den Sport als »Jungbrunnen«, der, bei angemessener Nutzung, in der Lage sei, eine »neue Kultur« und einen »neuen Menschen« zu schaffen. Er sah ihn allerdings aus unterschiedlichsten Richtungen her als bedroht an und entwarf eine entsprechende Gefährdungsdiagnose. Von ihm als »Sportteufel« bezeichnete Akteure nähmen den Sport zu ernst und sähen ihren einzigen Handlungssinn in dem öffentlichkeitsorientierten Erreichen von Rekorden sowie in dem verbissenen Versuch, ihre Gegner situativ im Rahmen von Wettkämpfen zu übermächtigen. »Der Mensch soll Sport treiben, nicht der Sport den Menschen« (ebd.: 14). Fendrich wetterte weiterhin gegen die »Schulmeister«, die »Behutsamen« und »Engbrüstigen«, die den Sport pauschal als ein großes Übel ansähen und »überall nur Zuchtlosigkeit wittern, wo neue Ordnung werden will, – alles nur, weil der Sport Bewegung ist, wo ihnen doch selber der Stillstand so sehr am Herzen liegt« (ebd.: 9). Und »ein respektvolles Lächeln« sollte jenen gelten, »die im Sport das neueste Allerweltsheilmittel der Menschheit und den einzigen Weg zur Wiedergeburt der deutschen Nation sehen. Denn dieser Aberglaube ist ebenso gefährlich, wie jener Unglaube töricht.« Demgegenüber sah Fendrich in __________________ 61 Zur Vertiefung der internen Diskussion innerhalb und außerhalb des deutschen und österreichischen Alpenvereins siehe Märtin (2006).

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der Natur- und Körperorientiertheit des Sports einen wichtigen ganzheitsorientierten Kontrast gegen die fortschreitende Technisierung, Bürokratisierung, Körperfeindlichkeit und Parzellierung des Alltags: »Denn erst durch den Sport ist der Mensch, der arme Aktengrübler, Bücherschreiber, Bureausitzer, Redenhalter und Werkstattsklave wieder seines Körpers, seiner Sehnen und Nerven und des ganzen pochenden und schlagenden Wundergetriebs seines leiblichen Organismus inne und froh geworden. […] Für das Nahen einer solchen Kultur des großen, starken und gütigen Menschen aber ist der Sport, richtig verstanden, klug erfasst und geschickt genutzt, ein wunderbares Hilfsmittel« (ebd.: 10f.). Fendrich wandte sich gegen eine historisierende Begründung des Sporttreibens, kritisierte das drillmäßige Hallenturnen, forderte einen »lehrerlosen Jugendsport« (ebd.: 24) und plädierte für eine spielerische, amateurhafte und vielseitige Sportnutzung. Der »Professional« war für ihn im eigentlichen Sinne keine Sportsmann, sondern ein »Gewerbetreibender«. In der Betrachtung des »Sportsmenschen« dachte Fendrich – ganz dem Denken seiner Zeit verhaftet – weniger an Frauen, sondern vornehmlich an sporttreibende Männer. Der Sport wird, wie all diese Annäherungsversuche zeigen, generell auf seine Tauglichkeit überprüft, Menschen in Bewegung zu setzen und gesundheitliche Effekte hervorzurufen, um die als subjektfeindlich, degenerationsfördernd und entmännlichend wahrgenommenen Veränderungen in der Gesellschaft abzufangen. Die Thematisierung des Sports wird in eine vehemente Kritik des Berufssports eingebettet, den die meisten Beobachter noch nicht einmal als Sport ansehen. Geld für Training und Wettkampf entgegenzunehmen und vom Sport zu leben, gilt zu jener Zeit als wesensfremd und unsportlich. Demgegenüber stimmen viele Beobachter das Hohelied des Amateurismus und der rein gesundheitsorientierten Sportnutzung an. Auch in der Literatur erzeugt das neuartige Sportphänomen entsprechende Resonanzen (Görtz 1996, Fischer 1999, Fleig 2008), weil es Bewegung in den Alltag bringt, Massen fasziniert, von der Mühsal der eigenen Daseinsbewältigung ablenkt und sich für das Ausleben lokaler, regionaler und nationaler Identifikationsbedürfnisse eignet. Der Sport wird als Ausdruck eines neuen, vitalistischen Lebensstils geschätzt, der die Menschen in die Lage versetzt, das gesteigerte Tempo in der Moderne sowohl in aktiver Eigenrealisierung als auch im passiven Zuschauergenießen ausleben zu können. Wenn der Sport vor und nach der Wende zum 20. Jahrhundert als Wissenschaftsthema einmal auftauchte, fand eine umfassende und organisierte Reflexion über den Zusammenhang von Sport, Spiel und Gesellschaft nicht statt. So nehmen Georg Simmel und Max Weber auf den Sport in Gestalt der Kampfspiele lediglich Bezug, um eigene Überlegungen zur Religions- und Konfliktsoziologie sowie zur Soziologie sozialer Regeln mit leicht nachvollziehbaren Beispielen auszustatten – und dies zu einer Zeit, in der der Sport bereits massenwirksam geworden war.

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Nach dieser diffusen Einbettung des Sports in ethnologischen, kulturanthropologischen, historischen, pädagogischen, medizinischen, psychologischen, leibeserzieherischen, frühsoziologischen, kulturkritischen und schriftstellerischen Diskursen kommt es mit der Publikation von Heinz Risse im Jahre 1921 in einer zweiten Entwicklungsphase zu einem ersten expliziten Spezialisierungsversuch in der »Soziologie des Sports«. Durch ihre nicht sehr stark ausgeprägte inhaltliche Konsistenz und Erklärungskraft sowie durch den geringen Status von Sport und Soziologie in der akademischen Welt und die anschließende Machtübernahme der Nationalsozialisten bleibt die Publikation jedoch ohne nennenswerte Anschlüsse. Ernst Krafft (1925: 33) kritisiert einige Jahre später lediglich die Aussagen Risses über die Arbeitersportbewegung und bezeichnet dessen Werk pauschal als »unwissenschaftlich«, ohne sich selbst anschließend an einer weiteren Ausformung der Soziologie des Sports als Wissenschaftsdisziplin zu beteiligen. Stattdessen hält er ein Plädoyer für eine sozialistische Gesellschaftsordnung und verweist auf die gemeinschaftsstiftende Bedeutung der Arbeitersportbewegung. Fritz Hammer (1933) erwähnt die Arbeit von Heinz Risse nur im Literaturverzeichnis seiner Dissertation zum Massensport, ohne im Text selbst Risses Ausführungen detailliert zu diskutieren und Weiterentwicklungsmöglichkeiten der Sportsoziologie aufzuzeigen. Auch der Artikel, den Willy Latten (1934) zur »Bürokratisierung des Sports« in den »Kölner Vierteljahresheften für Soziologie« publizierte, geht nur am Rande auf Risses Studie ein; er ist vor allem den Konsequenzen gewidmet, die sich bereits in der Weimarer Republik aus dem Größenwachstum des Sports einerseits und der Kluft zwischen Sportführung und Vereinsmitgliedern andererseits ergeben hatten. Latten benennt vorausschauend einige Probleme der Sportvereinsentwicklung, die erst Jahrzehnte später durch die Vereinssoziologie in Deutschland aufgegriffen werden, huldigt aber am Ende des Artikels mit der Forderung nach Einführung des Führerprinzips in den organisierten Sport dem nationalsozialistischen Zeitgeist. Die Brüche und Konsequenzen, die sich im organisierten Sport durch dessen Gleichschaltung mit der nationalsozialistischen Ideologie ergeben hatten, werden nicht genannt. Die Sportsoziologie als eine noch auszumodellierende Wissenschaftsdisziplin selbst bleibt unthematisiert. Weder Risse (1921), Krafft (1925), Hammer (1933) oder Latten (1934) konnten innerhalb der Soziologie in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen eine breite und unmittelbare Folgediskussion anstoßen. Nur die Arbeit von Risse wurde in der deutschen Sportsoziologie in der Zeit nach 1960 aufgrund ihres markanten, eindeutigen und identitätsstiftenden Titels wahrgenommen und zitiert. Auch die materialreichen Arbeiten von Maria Kloeren (1935) und Herbert Schöffler (1935) zum Sport in England waren nicht sportsoziologisch ausgerichtet, sondern hatten explizit eine »kultursoziologische« Ausrichtung, die aber aufgrund der ausschließlich sporthistorischen Argumentationslinien und

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Inhalte nicht umgesetzt werden konnte. Selbst Karl Mannheim (1935), der Lehrer von Norbert Elias an der Universität Frankfurt, erwähnte den Sport nach seiner Emigration nach England lediglich in einer knappen Bemerkung als eine Möglichkeit, verdrängte Triebe zu sublimieren und zu formen, allerdings mit Hinweis auf die Arbeiten von Risse, Krafft, Hammer, Kloeren und Schöffler. In den USA formulierte der Stadt- und Techniksoziologe Lewis Mumford (1934) eine scharfsinnige Kritik am Sport seiner Zeit. Seine Ausführungen über den »Sport and the ›bitch-goddess‹« wurden in der deutschen Soziologie aber weder wahrgenommen noch in den vorhandenen Wissenskorpus eingearbeitet. Vergleichbare Sportentwicklungen, wie sie sich in den Vereinigten Staaten durch die Einführung von Profiligen, die Kommerzialisierung und Medialisierung des Sports sowie die Einbeziehung des Leistungssports in das universitäre Ausbildungssystem bereits sehr früh ergeben hatten, fanden in Deutschland zu jener Zeit nicht statt und waren deshalb auch kein Gegenstand tiefergehender Reflexionen. Hinzu kam, dass die Soziologie in Deutschland nach 1933 faktisch aufgehört hatte, als eigenständige akademische Disziplin zu existieren. Eine Nachwuchsförderung fand nicht mehr statt. Viele Soziologen und Soziologinnen mussten Deutschland verlassen, wurden zwangsweise emeritiert oder fielen den »Säuberungsprozessen« der Nationalsozialisten zum Opfer. Die fünf örtlichen Konzentrationen der deutschen Soziologie vor 1933 in Berlin, Frankfurt, Heidelberg, Köln und Leipzig wurden alle aufgelöst (Lepsius 1979: 27). Die von Leopold von Wiese herausgegebenen »Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie« stellten ihre Publikationstätigkeit im Jahre 1934 ein. Der Lehrstuhl und das Seminar für Soziologie in Hamburg blieben übrig, ohne allerdings größere soziologische Wirkungen entfalten zu können. Die wenigen soziologischen Lehrveranstaltungen, die noch in anderen Städten stattfanden, waren »völkisch« und »deutsch« ausgerichtet und dienten der Stabilisierung und Legitimierung der nationalsozialistischen Herrschaftsideologie. Erst sieben Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges gab Plessner (1952, 1956) skizzenhafte Anregungen zur inhaltlichen Ausgestaltung der Sportsoziologie. Seine kurzen Artikel erschienen allerdings zunächst in außersoziologischen Publikationsorganen und riefen keine schulenbildende Wirkung hervor. Die Neubegründung der Soziologie fand in Deutschland in den 1950er Jahren statt. Bis Mitte des Jahrzehnts wurden zwölf Lehrstühle eingerichtet, was etwa dem Stand von 1932 entsprach. Die Soziologie etablierte sich, wie Lepsius (1979: 33) in seiner Analyse zur »Entwicklung der Soziologie nach dem Zweiten Weltkrieg« festhielt, »als ein Wahlfach am Rande der Fakultäten, in die sie eingegliedert worden war, vielfach durch Fakultätsgrenzen von sinnvollen anderen Studienfächern getrennt und auf sich selbst verwiesen.« Von den Reeducation- und Demokratieförderungsbestrebungen profitierte sie weit

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weniger als die Politische Wissenschaft. An den Universitäten wurde die Soziologie Mitte der 1950er Jahre noch als Geisteswissenschaft eingestuft. Ein Großteil der Forschung fand außerhalb der Universitäten in wiederbelebten oder neu eingerichteten Einrichtungen statt. Als Ende der 1960er Jahre die Lehraufgaben an den Universitäten zunahmen und das Fach expandierte, wurde die mangelnde Forschungskapazität an den Universitäten zum Problem (ebd.: 35). Der Übergang von der »Gründergeneration« zur »Nachkriegsgeneration« fand 1959 auf dem 14. Soziologentag in Berlin statt, wo erstmals frisch habilitierte Nachwuchswissenschaftler auftraten und einige von ihnen – Hans-Paul Bahrdt, Ralf Dahrendorf und Heinrich Popitz – in den Vorstand der »Deutschen Gesellschaft für Soziologie« gewählt wurden. Die Expansion auf der Ebene der Lehrstühle vollzog sich in der Zeit zwischen 1960 (25) und 1970 (69). Im Gefolge der breiten Wertschätzung, die der Soziologie aufgrund ihrer theoretischen Konsolidierung und des ihr unterstellten Analyse- und Steuerungspotentials in den zwei Jahrzehnten nach Ende des Zweiten Weltkrieges entgegengebracht wurde, beginnt in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts in einer dritten Entwicklungsphase der institutionelle Take-off der Sportsoziologie. Mit der Etablierung erster internationaler Vereinigungen nimmt die soziologische Analyse des Sports quantitativ und qualitativ deutlich zu (Lüschen 1980: 317ff.). Kognitive Spezialisierungen kommen zustande; selbstreferentielle Kommunikationszusammenhänge beginnen sich allmählich auszudifferenzieren. Der Sport wird zu jener Zeit vom soziologischen Nachwuchs als ein Thema entdeckt, das Pionier- und Individualisierungsgewinne abzuwerfen verspricht. Diese Entwicklung profitierte u.a. auch von René König, der nach seiner Emigration aus der Schweiz nach Deutschland zurückgekehrt war und 1949 auf den Lehrstuhl für Soziologie an der Universität zu Köln berufen wurde. In der Folgezeit war König bemüht, die deutsche Soziologie an den internationalen Diskussionsstand heranzuführen und aus ihr eine empirische Einzelwissenschaft zu formen, was einen deutlichen Unterschied zum Soziologieverständnis der sog. Frankfurter Schule markierte, die sich eher im Bereich der Sozialphilosophie und Kultur- und Gesellschaftskritik ansiedelte. König war Mitbegründer und früher Präsident der International Sociological Association (1962-1964). Nachdem der Nestor der deutschen Sportsoziologie, Günther Lüschen, noch Ende der 1950er Jahre Deutschland verlassen und nach Österreich (Graz) ausweichen musste, um dort über ein sportsoziologisches Thema promovieren zu können (Lüschen 1959), ist es nun möglich, mit dem Theorie- und Methodeninventar der Soziologie über den Sport zu arbeiten und systematisch Bezug zu anderen Analysen herzustellen. In der »Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie« eröffnet Lüschen (1960) die deutsche Diskussion mit seinen »Prolegomena zu einer Soziologie des Sports« an einer akademisch

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markanten Stelle. In Frankreich publiziert Magnane (1964) die erste Monografie zur Soziologie des Sports in französischer Sprache. Gerald S. Kenyon (1966) beschreibt wenige Jahre später den Werdegang der Sportsoziologie als Subdisziplin der Soziologie und gibt zusammen mit John W. Loy (1969) den ersten Reader zur Soziologie des Sports in englischer Sprache heraus. Eric Dunning (1971b), ein Schüler von Norbert Elias, folgt mit einer sportsoziologischen Artikelsammlung. In Deutschland publizieren Kurt Hammerich und Klaus Heinemann (1975) fremdsprachige Beiträge in ihren »Texte[n] zur Soziologie des Sports«. Und Günther Lüschen und Kurt Weis (1976) geben in einem eigenständigen Werk sportsoziologisch relevante Artikel heraus. Einen wichtigen Entwicklungs- und Inklusionsschub erfährt die Sportsoziologie im Jahre 1964 durch die Etablierung einer internationalen Vereinigung, des International Committee for Sociology of Sport (ICSS), die sich als Suborganisation des International Council of Sport and Physical Education (ICSPE) und der International Sociological Association (ISA) gebildet hatte und ab 1966 mit einer eigenen Zeitschrift, dem »International Review for Sociology of Sport«, über ein internationales Kommunikationsforum verfügte. Die nationalen Bemühungen, die Sportsoziologie innerhalb der Wissenschaftslandschaft der jeweiligen Mitgliedsländer zu etablieren, wurden durch diese Initiative entscheidend unterstützt. Eine Reihe internationaler Tagungen zu den unterschiedlichsten Themen fand in der Folgezeit statt und half dabei, eine soziale Schließung der sportsoziologisch Interessierten herzustellen und eine entsprechende Publizität für die Sportsoziologie hervorzurufen. Die Gründung des Bundesinstituts für Sportwissenschaft im Jahre 1970 war ein weiterer Meilenstein für die Entwicklung der Sportsoziologie in Deutschland, weil wichtige empirische Projekte durch diese auf Ressortforschung spezialisierte Außenstelle des Bundesinnenministeriums in der Folgezeit auf den Weg gebracht wurden und Nachwuchswissenschaftler im Rahmen von Forschungsprojekten die Gelegenheit bekamen, sich soziologisch mit den Strukturen und Prozessen des Sports auseinanderzusetzen und akademisch zu qualifizieren. In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre begann in Deutschland in einer vierten Phase die universitäre Etablierung und Konsolidierung der Sportsoziologie. Erstmals wurden Mitglieder der Scientific Community auf eigene Lehrstühle berufen und konnten sich in Forschung und Lehre soziologisch mit dem Sport auseinandersetzen, fachspezifische Schwerpunkte definieren und Studierende ausbilden – und dies professionell und hauptamtlich. Aus der universitären Anbindung ergab sich eine wichtige Konsequenz: Die Sportsoziologie wurde gleichsam strukturell gedrängt, sich gegenüber ihren Trägerinstitutionen curricular zu legitimieren. Sie musste Formen der Selbstbeobachtung und -reflexion installieren, Studien- und Unterrichtsmaterialien produzieren und sich theoretisch und methodologisch bewähren. Ihre universitäre Heimat fand die

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Sportsoziologie in Deutschland nicht, wie man auf den ersten Blick meinen könnte, an den soziologischen Instituten, sondern in der Sportwissenschaft. Den ersten Ruf auf eine Professur für Sportsoziologie erhielt Bero Rigauer im Jahre 1975 am Institut für Sportwissenschaft der Universität Oldenburg. Gunter Gebauer übernahm 1978 eine Professur für Philosophie und Soziologie des Sports an der FU Berlin. Die erste Professur für Sportsoziologie an der Deutschen Sporthochschule Köln erhielt Volker Rittner im Jahre 1979. Aufgrund des Domänenmonopols bereits etablierter Fächer und ihrer gering ausgeprägten Technisierbarkeit konnte die Sportsoziologie in der Sportwissenschaft allerdings nur eine relativ schmale institutionelle Basis erobern und nie die quantitative Verbreitung naturwissenschaftlicher Disziplinen erreichen. Selbst die vornehmlich normativ ausgerichtete Sportpädagogik verfügt gegenwärtig durch ihre feste Verankerung in der Lehrerbildung über ein breiteres institutionelles Fundament als die Sportsoziologie. Angesichts der dynamischen Entwicklung des Sports, eines Generationenwechsels in der Besetzung der Lehrstühle und einer Transformation der Universitätslandschaft befindet sich die zeitgenössische Sportsoziologie seit Ende der 1980er Jahre in einer fünften Phase der inhaltlichen Differenzierung und Diversifizierung – verbunden mit der Gefahr, die Einheit des Faches durch Verdifferenzierung und interne Absetzbewegungen zu verlieren. So existieren seit Mitte der 1980er Jahre zwei sportsoziologische Sektionen, die sich aus ihren unterschiedlichen Herkunftsmilieus ergeben haben. Die eine ist in der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft angesiedelt, die andere in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Letztere Sektion änderte kürzlich ihren Namen durch die Einbeziehung des Körperthemas (»Soziologie des Körpers und des Sports«) und brachte damit sowohl ihre Sinnpräferenz als auch ihr Logikverständnis zum Ausdruck. Gegenwärtig gibt es in der Bundesrepublik etwa ein Dutzend Professuren, die in der Sportwissenschaft explizit auf die Sportsoziologie oder den Themenbereich »Sport und Gesellschaft« Bezug nehmen, was im Vergleich zu wirtschaftwissenschaftlichen, politikwissenschaftlichen, medizinischen, juristischen oder erziehungswissenschaftlichen Professuren eine verschwindend kleine Anzahl ist. In der deutschen Soziologie wurde der Sport nie Kernbestandteil eigener Professuren und Arbeitsbereiche. Wenn der Sport an den soziologischen Instituten der Universitäten überhaupt einmal thematisiert wird, handelt es sich um die Beiträge einzelner Mitglieder der Scientific Community, die den Sport als Steckenpferd für sich entdeckt und in das Portfolio ihrer Spezialisierungen eingereiht haben.

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EINFLÜSSE UND ANTRIEBSKRÄFTE Unterstützt wurde die Ausdifferenzierung der Sportsoziologie durch den sich in den fünfziger und sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts anbahnenden Bedeutungswandel ihres Objektbereichs. Der Sport erfuhr nach dem Wechsel von einer Mangel- und Knappheitsgesellschaft in eine Überfluss- und Freizeitgesellschaft eine immense Nachfrage. Er inkludierte immer mehr Bevölkerungsschichten für aktive Betätigungen im Breitensport und erhielt durch Entwicklungen im Bereich der Kommunikationstechnologie zudem ein besonderes Profil als Zuschauersport. Erstmals gab es für breite Bevölkerungsschichten einen bezahlten Urlaub sowie längere Freizeitquanten nach der Arbeit, die sich für unterschiedlichste Betätigungen nutzen ließen. Und nachdem das Fernsehen 1936 bei den Olympischen Spielen in Berlin lediglich in ausgewählten Fernsehstuben zum ersten Einsatz gekommen war, und insofern noch kein Massenmedium im engeren Sinne darstellte, wurde es seit den fünfziger Jahren in den entwickelten Industriegesellschaften integraler Bestandteil privater Lebenswelten. Eine eigenständige, bildorientierte Unterhaltungsindustrie entstand und lernte langsam, im Sport einen ihrer maßgeblichen thematischen Schwerpunkte zu finden. Insbesondere der durch seine spezifische Dramaturgie und Inszenierung spannungsträchtige Leistungssport passte mit seinen nationalen und internationalen Großereignissen in das Ereignisprofil des Fernsehens besonders gut hinein und befriedigte die Unterhaltungs- und Identifikationsbedürfnisse eines breiten Publikums in höchst effektiver Weise. Infolge des Ressourcenzuflusses von außen und der weltweiten Verbreitung sportlicher Wettkämpfe mit Hilfe der Massenmedien expandierte der Sport zu einem globalen Phänomen. Die Asymmetrie zwischen der öffentlichen Aufmerksamkeit, die der Sport einerseits weltweit hervorrief, und seiner akademischen Durchdringung andererseits wurde durch diese Entwicklung immer größer und augenscheinlicher. Sich mit dem Sport jenseits journalistischer Analyse und geselliger Stammtisch-Interaktion wissenschaftlich auseinanderzusetzen wurde immer dringlicher und führte schließlich zur Ausdifferenzierung der Sportwissenschaft, in der auch die Sportsoziologie zeitversetzt nach Sportpädagogik, Sportdidaktik, Sportpsychologie, Sportgeschichte und Sportmedizin ihre institutionelle Heimat fand. Die Sportsoziologie profitierte dabei nicht nur von dem gewachsenen Bedarf an Orientierungswissen bezüglich des Massenphänomens Sport, sondern auch von dem Nimbus der Soziologie als Planungswissenschaft, der zumindest bis in die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts noch vorhanden war. Die Sportwissenschaft, und damit auch die Sportsoziologie, nutzte weiterhin den Bedeutungszuwachs des Sports im Kontext der nationalen und internationalen Politik. Ausschlaggebend für die politische Situation, die sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ergeben hatte, war die Polarisierung zwischen

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den westlichen Demokratien und den staatssozialistischen Ländern des Ostens. Der hieraus resultierende Ost-West-Konflikt wurde nicht nur kriegerisch ausgetragen, sondern fand vornehmlich auch in »kalter« Form auf dem symbolträchtigen und global sichtbaren Gebiet des Sports statt. Dieser war durch seine agonale Grundstruktur und seine Ausrichtung auf Sieg und Niederlage in besonderer Weise für eine stellvertretende, regelgeleitete und relativ harmlose Konfliktübernahme geeignet. Bei internationalen Wettkämpfen wollten sich die westlichen und östlichen Staaten und Staatenblöcke als die jeweils Besseren darstellen und Reputationsgewinne für ihre wirtschaftlichen und politischen Verfassungen erringen. Es entstand eine wechselseitige Nutzeninterdependenz im Verhältnis von Sport und Politik: Der organisierte Sport instrumentalisierte die Politik, um an knappe Ressourcen heranzukommen und ein eigenes Größenwachstum auf den Weg zu bringen; und die Politik nutzte den Sport, um über sportliche Erfolge einerseits Wir-Gefühle nach innen bei den eigenen Gesellschaftsmitgliedern in Gestalt von Massenloyalität hervorzurufen und andererseits eine möglichst effektive nationale Repräsentation nach außen durchzusetzen. Nicht nur militärisch, auch sportlich wurde in den einzelnen Nationalgesellschaften entsprechend aufgerüstet (Bette 1984a; Bette/Neidhardt 1985). In der Bundesrepublik verschärfte sich die Konkurrenz, nachdem das Internationale Olympische Komitee 1965 beschlossen hatte, nicht mehr – wie zwischen 1956 und 1964 – eine gesamtdeutsche Mannschaft für die Olympischen Spiele zu akkreditieren, sondern zwei getrennte deutsche Teams mit unterschiedlichen Flaggen und Nationalhymnen an den Start zu schicken. Der »Sputnik-Schock« des bundesdeutschen Sports erfolgte im Jahre 1968 bei den Olympischen Spielen in Mexico City, als die Athleten und Athletinnen der DDR unter den neuen Bedingungen die höhere Medaillenausbeute vorweisen konnten und überschwenglich die Überlegenheit des Sozialismus feierten. Mit Blick auf die anstehenden Olympischen Spiele in München 1972 und die damit drohende »Gefahr«, im eigenen Land als das sportlich unterlegene Gesellschaftssystem vorgeführt zu werden, antichambrierte der organisierte Sport in der Politik und konnte eine Neugründungs- und Umwidmungswelle sportwissenschaftlicher Einrichtungen erreichen – in der Hoffnung, die Medaillenausbeute hierdurch steigern zu können. Im Schatten dieses Demand-pull konnte sich die Sportsoziologie an den sportwissenschaftlichen Instituten mit zeitlicher Verzögerung etablieren. Hilfreich für die Etablierung der Sportsoziologie als universitäre Wissenschaftsdisziplin erwies sich die akademische Rückendeckung aus dem Bereich mutterwissenschaftlicher Sportliebhaber. Diese formulierten nicht nur wichtige Beiträge, sondern steigerten auch die Reputation der Sportsoziologie durch die Einbindung in den Kommunikationszusammenhang der universitären Soziologie. Außerdem halfen sie bei der Definition ihrer Standards. Wichtige Impulse

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erhielt die Sportsoziologie durch international renommierte soziologische Theoretiker wie Norbert Elias (1939: 263ff.) und Pierre Bourdieu (1978, 1985, 1992). Beide rekurrierten in ihren Studien immer wieder auf den Sport, um die Tragfähigkeit ihrer theoretischen Ansätze zu testen. Vor allem brachten sie Schüler hervor, die an ihre Arbeiten anknüpften und mit denen sie wichtige Folge-Analysen publizierten (Elias/Dunning 1979, 2003). Hierzu zählen für den Fall der Zivilisations- und Figurationssoziologie die in Leicester durchgeführten Arbeiten zum Fußball, Rugby oder zum Hooligan-Phänomen. Außerdem verdeutlichte Norbert Elias (1970: 75ff.) seine Idee von der unaufhebbaren Verstrickung des Individualhandelns in soziale Figurationen mit Beispielen aus der Welt von Sport und Spiel und leitete hieraus die Autonomie der Soziologie gegenüber der Biologie und Psychologie ab. In Loïc Wacquant (2003) fand Bourdieu einen akademischen Schüler, der sich selbst sportlich betätigte und Interessantes über die Welt eines Chicagoer Box-Gyms zu berichten hatte.

SPORT DER GESELLSCHAFT Die Sportsoziologie als Teildisziplin von Soziologie und Sportwissenschaft findet ihren spezifischen Bezugspunkt im real existierenden Sport. Sie trifft damit auf den Sonderfall eines gesellschaftlichen Nachzüglersystems, welches nach dem allgemeinen Durchbruch des Strukturprinzips der funktionalen Differenzierung diesen grundlegenden Prozess der gesellschaftlichen Evolution mit Verspätung nachholt. Der Sport konnte sich, wie man soziologisch leicht sehen kann, unter Rückgriff auf vormoderne Körper-, Spiel- und Bewegungspraktiken allmählich aus der diffusen Verschränkung mit anderen Sozialbereichen – vornehmlich Religion, Erziehung und Militär – lösen (Schimank 1988; Bette 1989), eigene Selbstbezüglichkeiten und Strukturen ausprägen und weltweite Inklusionsprozesse in Gang setzen. Insbesondere die Speerspitze seiner Ausdifferenzierung, der auf Konkurrenz, Überbietung und Rekord, formale Gleichheit und Ergebnisoffenheit ausgerichtete Leistungssport, ist mit Hilfe der modernen Massenmedien im 20. Jahrhundert zu einem wichtigen Teilsystem der Weltgesellschaft geworden – mit eigenen Organisationen, Programmen, Ereignissen und Nachfragestrukturen. Gegenwärtig erscheint der Sport als ein Sozialbereich, der seine Einheit in der Vielheit und in der Differenziertheit seiner Sinnbezüge findet. Systemtheoretisch gesprochen: Der Sport ist auf die Personenund Körperumwelt der Gesellschaft spezialisiert, die er mit Hilfe gesellschaftlicher Sinnprinzipien verfügbar zu machen versucht. Das Motto heißt: Sinnsuche im Nicht-Sinnhaften und Nicht-Kommunikativen. Leistung, Konkurrenz, Rekord und Erfolg, aber auch Gesundheit, Natürlichkeit, Fitness, Spaß, Abenteuer

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und Risiko sind zu Leitformeln für die Ausgliederung eigenständiger Sportmodelle geworden und haben zu einer Pluralisierung sportlicher Lebenswelten geführt. Und es scheint gerade die Mehrsinnigkeit und die differentielle Nutzbarkeit des Sports zu sein, die ihn zu einem omnipräsenten und ultrastabilen Faszinosum der modernen Gesellschaft werden ließen.62 Als Hauptantriebskräfte für die soziokulturelle Etablierung des modernen Sports wirken die Ambivalenzen, die sich auf der Ebene des personalen Erlebens und Handelns durch den Prozess der funktionaler Differenzierung ergeben haben. In einer Gesellschaft, in der die Körperlichkeit nachhaltig an Bedeutung verloren hat, Menschen interaktionsfrei und bewegungsarm miteinander kommunizieren können, eklatante Gemeinschaftsverluste zu beklagen sind, Langeweile durch Routinisierung und Bürokratisierung entsteht und Personen durch Beschleunigung, Zeitknappheit und Erwartungsüberlastung Stresserfahrungen abzubuchen haben, konnte der Sport Resonanz erzeugen, weil er ein alternatives Erleben und Handeln für Person, Körper und Gruppe zu offerieren in der Lage ist. Insbesondere in den durch Urbanisierung, Technisierung und Industrialisierung geprägten Städten entstand ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein jenseits der Arbeit angesiedelter Bedarf an Zerstreuung, Regeneration, Schock, Gemeinschaftserleben und körperlicher Eigenbetätigung, der zu einem großen Teil durch den Sport abgedeckt wurde. Durch die Trennung von Arbeit und Freizeit, die Technisierung des Transports sowie die Entwicklung neuer Kommunikationstechniken (Betts 1953) war es nun möglich, ein Massenpublikum nicht nur räumlich zu bewegen, sondern auch über Ereignisse jenseits des Horizonts dauerhaft zu informieren. Pointiert formuliert: Der Sport deckt mit seinen diversen Handlungs- und Erlebnismöglichkeiten einen Bedarf ab, der durch gesellschaftliche Modernisierungsprozesse geweckt worden ist. Vormoderne Bewegungspraktiken und Spiele wurden im Gefolge des Industrialisierungsprozesses – mit nationalstaatlichen Verzögerungen – durch eigenständige Organisationen neu strukturiert und auf die Freizeitbedürfnisse urbaner Massen zugeschnitten. So wurde beispielsweise in Gestalt des Fußballs aus einem weitgehend regellosen, lokal zwischen Dörfern ausgetragenen Volksspiel durch zeitliche, sachliche, soziale und auch räumliche Verregelungs- und Organisationsbildungsprozesse ein in Ligen durchgeführter Wettbewerbssport, der einen weltweiten Siegeszug antrat und bis heute die Massen begeistert. Die verschiedenen Praktiken, die gegenwärtig das Bild des Sports prägen, weisen in Analogie zur Ambivalenz der Moderne einen Gegen- und einen Ent__________________ 62

Zur vertieften Analyse des »Sports der Gesellschaft« siehe Bette (2010: 87-134) mit den Schwerpunkten: Codierung, Metamorphosen, Zuschauersport, Teilnehmersport, Sport als Modernitätssynthese, Sinnsuche im Nicht-Sinnhaften.

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sprechungscharakter zu Ausprägungen der modernen Gesellschaft auf (vgl. Bette/Schimank 1995b; Bette 2004, 2005). Sie zeigen zugleich eine Negation und eine Bejahung von Modernität. Sie sind einerseits modern, weil sie bisweilen extrem leistungsorientiert ausfallen und mit Hilfe moderner Technik stattfinden. Andererseits sind sie eine theatralische Gegeninszenierung, die Erscheinungsformen und Konsequenzen der Moderne hinterfragt und kritisiert. Auf dieser Grundlage zielt die Programmatik des Sports darauf ab, Verdrängtes und Marginalisiertes unter neuen Bedingungen zu inkludieren. Der zeitgenössische Sport ist insofern eine Synthese aus erster und zweiter Moderne. Offensichtlich regen die auf allen Dimensionen des menschlichen Erlebens und Handelns beobachtbaren Kollateralwirkungen des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses personale Bewältigungsstrategien an, die auf das Konzept der Leistungsindividualisierung und des Erfolgs, aber auch auf Ideen der Außeralltäglichkeit, des Ausbruchs sowie der Gesundheit, Regeneration und Langsamkeit zurückgreifen, um es in einer zeittypischen und von alten Sinnüberformungen bereinigten Gestalt wiederzubeleben. Im Sport können sich exkludierte Bedürfnisse in einer typisch modernen Weise bis hin zu Passionen verdichten. In der aktiven und passiven Teilhabe am Sport zeigt sich in einem instruktiven Umkehrschluss, wie der Prozess der funktionalen Differenzierung auf das individuelle Handlungs- und Erlebnispanorama zugreift und dieses subtil modelliert.

FORSCHUNGSEBENEN UND THEORIESCHWERPUNKTE Mit dem Hinweis auf die Bedeutung sozialer Systeme und sozialer Kontextbedingungen für das soziologische Selbstverständnis lassen sich die Forschungsgebiete der Sportsoziologie grob den drei Referenzen zuordnen, die gemeinhin als maßgebliche Ebenen der Systembildung gelten und unterschiedliche Systemtypen markieren. In der sportsoziologischen Forschung geht es, anders formuliert, um sportbezogene Analysen auf der Ebene von Interaktion, Organisation und Gesellschaft (Luhmann 1975b). Auf der Interaktionsebene stehen die Beziehungen im Vordergrund, die typischerweise zustande kommen, wenn Menschen in den mikrosozialen Situationen des Sports aufeinandertreffen, sich in ihrer physischen Präsenz wechselseitig wahrnehmen und ihr Handeln untereinander anhand spezifischer Sinnkriterien abstimmen. Der Sport bietet durch seine explizite Ausrichtung auf Person, Körper, Training und Wettkampf ein weites Feld für die Analyse sozialer Gruppen, Face-to-face-Beziehungen und jener Sozialfiguren, die das Interaktionsgeschehen im Sport unmittelbar prägen und beeinflussen: Trainer, Athleten, Sportfunktionäre, Sportzuschauer, aber auch Sportjournalisten oder wirtschaftliche oder politische Sponsoren. Insbe-

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sondere der wettkampforientierte Leistungssport liefert durch seine Fixierung am Sieg/Niederlage-Code und die inzwischen weltweite Konkurrenz der Akteure untereinander einzigartige Möglichkeiten, mikrosoziales Handeln im Spannungsfeld von Kooperation und Konflikt und von Assoziierung und Desintegration nahezu labormäßig zu studieren: von Profi-Mannschaften, deren Spieler untereinander in scharfen Wettbewerbsbeziehungen um knappe Plätze stehen, bis hin zu den elementaren Interaktionen jener Alltagsakteure, die sich in ihrer Freizeit in Ad-hoc-Gruppierungen zusammenfinden, um gemeinsam miteinander Sport zu treiben. Die sportsoziologisch relevanten Interaktionen können dabei zu Wasser, zu Lande oder in der Luft an den unterschiedlichsten Orten stattfinden: auf Straßen, in Sporthallen, Stadien, Schwimmbädern und Arenen, auf öffentlichen Plätzen oder in den verschiedenen naturalen Settings jenseits der Städte. Die Besonderheit des Sports besteht darin, dass das interaktive Mit- und Gegeneinander seiner Akteure im Wettkampf vornehmlich über sinnliche Wahrnehmungsprozesse abläuft und damit weitgehend nonverbal gesteuert wird. Konkrete kommunikative Handlungsanweisungen, die darauf abzielen, Sportler im Raum präzise zu dirigieren, sind aufgrund der Schnelligkeit des Geschehens zum Scheitern verurteilt und können deshalb meist nur in Auszeiten oder Wettkampfpausen gegeben werden. Bei einem Fußballspiel geht es in der Tat nicht um den Erwerb einer sprachlich-kommunikativen Kompetenz, sondern um das Akkordieren von Körpern im Wettkampfraum mit Hilfe vorab einstudierter Strategien und Taktiken – meist unter sporadischer Nutzung von Gestik und Mimik. Die Leitdifferenz des Spitzensports, der Sieg/Niederlage-Code, liefert den allgemeinen Handlungsrahmen und versorgt die einzelnen Spieler mit korrespondierenden Handlungsmotiven. Das zentrale Medium, das das Geschehen in den Sportspielen dirigiert, ist der Ball als ein künstliches Dingkonstrukt, das es zu zähmen und in seiner materialen Eigengesetzlichkeit zu beherrschen gilt. Sprache ist im Sport nur ein Begleitphänomen körperlicher Handlungsvollzüge. Kurzkommunikationen kommen ins Spiel, wenn die über Wahrnehmung koordinierte Abstimmung der Sportlerkörper angeleitet und beurteilt werden soll, scheitert oder an Grenzen stößt. Dass das sportliche Geschehen auf der Interaktionsebene häufig schweigend abläuft, hat auch damit zu tun, dass der Körper im Sport selbst als Träger von Informationen zum Einsatz kommt. Das Motto heißt: »The body is the message«. Indem ein Fußballspieler nach einem kurzen Sprint eine bestimmte Raumstelle auf dem Platz einnimmt, sich freiläuft, gibt er dem ballführenden Mitspieler die nonverbale Botschaft, mit einem gezielten Pass präzise bedient werden zu wollen, um so aus einer vielleicht aussichtsreicheren Position ein Tor zu erzielen. Im Training werden die für einen sportlichen Erfolg notwendigen Körper- und Raumbewegungen deshalb auch standardisiert und routinisiert

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vermittelt, um die Synchronisierung der Körper untereinander zu verbessern. Was ein Fußballspieler per Wahrnehmung vornehmlich zu lernen hat, um erfolgreich zu sein, ist das Lesen und Antizipieren bewegter Körper und geschossener Bälle und die Einpassung der eigenen Person in die Sozial-, Raum- und Zeitkonfigurationen des Spiels. Sportsoziologisch relevant sind allerdings nicht nur die verbalen und nonverbalen Interaktionen, die in Training und Wettkampf in den aktiven Betriebszuständen bewegter Sportlerkörper zustande kommen, sondern auch jene Gesellungsformen, die auf der Interaktionsebene über den Sport gestiftet werden und in denen der Sport beobachtet und kommunikativ aufgearbeitet wird. Der Sport ist in der Gegenwartsgesellschaft eben nicht nur im unmittelbaren körperlichen Vollzug der Akteure bedeutsam, sondern auch als Thema geselliger Kommunikation (Bette 1990). So findet der Fußball als beliebteste Zuschauersportart nicht nur auf dem Rasen als ein Spiel der Füße und Beine statt; er ist mit Hilfe der Massenmedien auch zu einer Kopf- und Redeangelegenheit derjenigen geworden, die selbst nie oder nur für eine begrenzte Zeit gegen den Ball getreten haben. Alltagsakteure kommentieren im Rahmen von Interaktionen, die um ihrer selbst willen stattfinden, die Leistung einzelner Mannschaften, wägen deren Chancen und Begrenztheiten ab, beklagen die Verletzungen ihrer Heroen, diskutieren mit hohem verbalen Aufwand den Tabellenstand, echauffieren sich über die tatsächlichen oder nur vermuteten Bevor- oder Benachteiligungen durch Schiedsrichter, kommentieren Trainerleistungen oder Mannschaftsaufstellungen und schlagen sich mit erheblicher Gefühlsemphase auf die Seite der eigenen Nationalgesellschaft, wenn diese beispielsweise ihre fußballspielenden Stellvertreter bei Europa- oder Weltmeisterschaften gegen Konkurrenten antreten lässt, um knappes symbolisches Kapital – Ehre – zu erringen. Dies funktioniert, weil sportliche Konkurrenzen relativ einfach strukturiert und bewusst auf Beobachtung ausgerichtet sind. Der Sport offeriert durch die Technisierung seiner Handlungsabläufe und die Quantifizierung seiner Ergebnisse eine eindeutige, nacherzählbare und kommentierbare Welt, in der Leistung noch ihren fest definierten Platz hat. Die Massenmedien sorgen zudem durch ihre tägliche Berichterstattung für einen permanenten Informationsnachschub. Als Konversationsthema erreicht der Sport deshalb keinen Sättigungsgrad. Seine Daueraktualität ist ein bewährtes Mittel, um Gespräche zu beginnen, in Fluss zu halten und peinliche Stockungen zu vermeiden. Dadurch, dass er, im Gegensatz zu Politik und Religion, eine gewisse Harmlosigkeit signalisiert, eröffnet selbst das kontroverse Reden über sportspezifische Belange Möglichkeiten eines Gemeinschaftserlebens, das jenseits des Sports selten anzutreffen ist. Das zweite Forschungsfeld betrifft die Organisationsebene des Sports. Um das sportliche Handeln auf der Interaktionsebene zu ermöglichen, müssen Sozialsysteme Strukturen ausprägen, um die Typik ihres Handelns situationsüber-

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greifend und personenunabhängig auf Dauer zu stellen. Im Mittelpunkt des Interesses stehen dann jene intermediären Instanzen, die zwischen den Systemtypen Interaktion und Gesellschaft angesiedelt sind, nämlich die Organisationen, die das systemtypische Handeln tragen und ermöglichen. Im Bereich des traditionellen Sports sind dies Sportvereine, nationale Sportverbände, internationale Sportorganisationen, Leistungszentren, Stützpunkte, Sportstiftungen oder Sportinternate. Sportsoziologisch interessant sind aber auch jene außersportlichen Organisationen, die den Sport in ihre eigene Programmatik inkludiert haben: der Sport im Gesundheitssystem, in Betrieben, Wirtschaftsunternehmen, Volkshochschulen, Universitäten, Militäreinrichtungen oder Touristikunternehmen. Da der Sport in Deutschland seit Anfang der 1970er Jahre schwerpunktmäßig nicht mehr nur in den traditionellen Sportvereinen stattfindet, sondern auch in kommerziellen Fitness-Studios, sind auch diese sportbezogenen Wirtschaftsorganisationen soziologisch in zunehmender Weise interessant geworden – ebenso wie jene lockeren Zusammenschlüsse, die innerhalb und außerhalb der Städte als Reaktion auf die etablierten Sportorganisationen entstanden sind und alternative Sportpraxen hervorgebracht haben. Bis in die 1980er Jahre galt das Hauptaugenmerk der Sportsoziologie den traditionellen Trägern des Sports in der Bundesrepublik, den Sportvereinen und ihren übergeordneten Instanzen. Damit wurde ein Organisationstypus in den Forschungsmittelpunkt gerückt, der in der Organisationssoziologie als »freiwillige Vereinigung« oder als »Interessensorganisation« firmiert und sich strikt von jenem Organisationstypus absetzt, der in der Soziologie als »Arbeitsorganisation« bezeichnet wird. Der dritte analytische Bezugspunkt der sportsoziologischen Forschung betrifft die Gesellschaftsebene. Hier geht es hauptsächlich um die soziokulturelle Aus- und Binnendifferenzierung des Sports in unterschiedliche Sportmodelle sowie um die Leistungsbeziehungen, die diese Modelle sowohl untereinander als auch mit anderen gesellschaftlichen Sozialbereichen eingegangen sind. Wie ist es möglich, so die Frage, dass zwischen dem Sport und anderen Teilsystemen wie Wirtschaft, Politik, Massenmedien, Recht, Familie oder Wissenschaft immer wieder Interessenskonsense trotz vorhandener Orientierungsdissense zustande kommen und dauerhaft stabilisiert werden? Dass der Spitzensport beispielsweise auf dem Bildschirm politischer Akteure als eine bedeutsame Größe auftaucht, hat mit dem Bedeutungsverlust nationaler Politik zu tun. Der nationale Staat hat wichtige Aufgaben im Laufe der letzten Jahrzehnte an supranationale Institutionen abgeben müssen, um das Miteinander der vormals häufig nur im Konflikt vereinten Nationalstaaten strukturell auf Dauer zu stellen und zu befrieden. Der Spitzensport avancierte infolge dieser Entwicklung sowohl nach innen als auch nach außen zu einem wichtigen Instrument der nationalen Selbstdarstellung. Die Erfolge eigener Athleten und Athletinnen sind auf-

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grund ihrer Sichtbarkeit und einfachen Lesbarkeit in besonderer Weise geeignet, Massenloyalität und Wir-Gefühle hervorzurufen und eventuell vorhandene politische Konfliktlinien zu überspielen. Sportliche Meriten, wie Olympiasiege oder erfolgreich absolvierte Weltmeisterschaften, können die Bürger zumindest kurzzeitig über politische Zumutungen und Misserfolge hinwegtrösten. Nationale Athleten können das internationale Ansehen eines Landes durch die Leistungen, die sie erbringen, nach außen hin steigern. Man denke nur an das »Sommermärchen« des Jahres 2006, als die sportlichen Erfolge und das Auftreten der deutschen Fußball-Nationalmannschaft das Land in ein Flaggenmeer verwandelten und das Publikum infolge dessen auf den Straßen und Plätzen eine vorher nicht vermutete »Leichtigkeit des Seins« zelebrierte – was weltweit positiv vermerkt wurde. Außerdem verweist das Sich-Sonnen von Politikern im Schatten nationaler Sporthelden auf die Schwierigkeiten, die Politiker haben, wenn sie ihre im Medium der Macht erzielten Leistungen den Wählern in einer schnellen, leichten und konfliktfreien Weise vorzuführen beabsichtigen. In der Regel finden die systemspezifischen Handlungen von Politikern in nicht-öffentlichen Räumen statt, meist im Rahmen von Aushandlungsprozessen, die nach außen nicht darstell- und kommunizierbar sind, und sie rufen häufig polarisierende Effekte bei den Gesellschaftsmitgliedern hervor, weil politische Entscheidungen differentielle Wirkungen in der Realität der Gesellschaft entfalten. Dieses Beispiel zeigt, dass eine Soziologie des Sports verkürzt ausfiele, wenn sie sich ausschließlich nur mit dem Sport auseinandersetzte. Sportsoziologen müssen, um ihren Objektbereich komplexitätsangemessen zu erfassen, Sensorien für außersportliche Belange entwickeln, weil der real existierende Sport selbst diese Beziehungen nach außen hin bereits realisiert und auf Dauer gestellt hat. Im Nachvollzug der faktischen Relationen des Sports zu seinem gesellschaftlichen Umfeld hat die Soziologie des Sports diese Bezüge aufzuarbeiten und in ihr Wissensrepertoire zu integrieren. Sie ist demnach eine Disziplin, in der man die Gesamtgesellschaft aus einer spezifischen Perspektive, nämlich durch den Sport, zu sehen bekommt. Letztlich stoßen Sportsoziologen dabei auch auf sich selbst, nämlich auf eine Wissenschaftsdisziplin, die innerhalb der Gesellschaft für die soziologische Beobachtung und Beschreibung des Sports ausdifferenziert wurde. Quer zu den drei Systemtypen von Interaktion, Organisation und Gesellschaft deckt die Sportsoziologie jene Forschungsfelder ab, die aus dem Repertoire der allgemeinen Soziologie bekannt sind. Dann geht es um Fragen der sozialen Schichtung und der sozialen Ungleichheit im Sport oder im Zugang zum Sport, um das Verhältnis von Sport und Körper, von Sport und Spiel, um die Möglichkeiten und Grenzen der impliziten und expliziten Sozialisation im und durch den Sport, die Relation von Sport und Geschlecht, Fragen der Integra-

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tion, Formen der Devianz, des Alterns, der Migration oder des interkulturellen Vergleichs. 63 Nach dem Abflauen der Diskussion um die sog. »Neue Linke«, die in Deutschland bis in die zweite Hälfte der 1970er Jahre den sportsoziologischen Theoriediskurs bestimmte, sind in der gegenwärtigen Theoriedebatte vornehmlich vier Forschungsparadigmen anzutreffen, die allerdings im Ausarbeitungsgrad sowohl qualitativ als auch quantitativ stark variieren: Als dominante Denkschule erweist sich seit Beginn der 1980er Jahre die neuere soziologische Systemtheorie, die vornehmlich durch Klaus Cachay, Karl-Heinrich Bette und später auch Ansgar Thiel in die Sportsoziologie eingeführt und in zahlreichen Monografien ausgearbeitet wurde.64 Im Kontext ihrer Dopingforschungen ergänzten und plausibilisierten Bette und Schimank (1995a, 2006a, 2006b) die systemtheoretische Diskussion durch akteur-, spiel- und biografietheoretische Einsichten. Die Sportsoziologie profitierte damit in besonderer Weise von der akribischen Theoriearbeit Niklas Luhmanns, der sich allerdings in seinem Werk selbst nur an sehr wenigen Stellen explizit zum Sport geäußert hatte, dennoch aber die systemtheoretische Debatte in der Sportsoziologie durch seine unterschiedlichen Ansätze und Theoriebausteine enorm beeinflusste. Auch die zahlreichen Arbeiten von Helmut Willke (1982, 1994, 1995) und Teubner und Willke (1984) zur Systemtheorie und zur Möglichkeit der Kontextsteuerung haben bis heute kommunikative Spuren in der Sportsoziologie hinterlassen. Gehörten Sport und Körper zu Beginn der systemtheoretischen Reflexionsarbeit noch zu jenen Sozialbereichen, die außerhalb des analytischen Interesses standen, ist diese Abstinenz auch mit Hilfe des in der Sportsoziologie bereits in den 1980er Jahren vollzogenen »body turn« (Rittner 1983, 1984, 1985; Bette 1987, 1989, 1999, 2004, 2005) in zunehmendem Maße aufgegeben worden. Im Verhältnis zur Soziologie ist die Sportsoziologie insofern nicht nur eine nehmende, sondern auch eine sehr stark gebende Disziplin. Als zweites Paradigma hielt die Soziologie Pierre Bourdieus Einzug in die deutsche Sportsoziologie, insbesondere in Gestalt des Habituskonzepts und der Theorie sozialer Felder – angereichert durch die Macht- und Körperstudien Michel Foucaults und neuere Performanz- und Mimesistheorien. Die Forschungsgruppe um Gunter Gebauer und Thomas Alkemeyer hat in Anwendung, Ergänzung und Modifizierung des Bourdieuschen Denkansatzes zahlreiche sportund körpersoziologische Studien durchgeführt und die Theoriedebatte in der __________________ 63 Siehe Lüschen/Sage (1981). Zur neueren Literaturdiskussion vgl. die Sammelrezension von Gugutzer (2005) und den Übersichtsartikel von Riedl/Cachay (2007). Zum Verhältnis von Sport und Geschlecht siehe exemplarisch Hartmann-Tews/Pfister (2003). 64 Siehe Bette (1984a, 1984b, 1987, 1989, 1992, 1999, 2004); Bette et al. (2002); Cachay (1978, 1988), Thiel (1997, 2002) und Cachay/Thiel (2000).

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Sportsoziologie durch ihre Publikationen bereichert.65 Als dritte Denkschule haben die sog. Cultural Studies Spuren in der Theorielandschaft der Sportsoziologie hinterlassen. Obwohl diese Analysen über keinen vergleichbaren Ausarbeitungs- und Homogenitätsgrad wie die Systemtheorie, das Habituskonzept oder die Theorie sozialer Felder verfügen und sich eher als ein Potpourri unterschiedlichster Theorien darstellen, konnten zahlreiche sportspezifische Phänomene mit ihrer Hilfe ergänzend abgeklärt werden – so die Karriere und Diffusion der neueren Trendsportarten, der Mediensport sowie die auf den Zeichen des Sports aufruhende urbane Jugendkultur. Als Autor zahlreicher Studien profilierte sich in diesem Kontext der Sportsoziologe Jürgen Schwier (2000, 2002). Er knüpfte in seinen Arbeiten an eine Tradition an, die sehr stark von John Fiske (1989) und den Mitgliedern des Centre for Contemporary Cultural Studies in Birmingham geprägt worden war. Fiske selbst hatte u.a. über die Strandkultur des Surfens oder auch die soziologischen Implikationen des Falls O. J. Simpson geschrieben – eines früheren Footballstars, der wegen Doppelmordes angeklagt und freigesprochen worden war (Winter/Mikos 2001: 247ff.) Der vierte und älteste Theorieansatz, der die Sportsoziologie seit Ende der sechziger Jahre prägt, ist die Zivilisations- und Figurationstheorie von Norbert Elias und dessen Schülern. Die Ergebnisse der in Leicester publizierten Studien fanden in Deutschland vornehmlich Eingang in Analysen zur Genese des Sports und zur Soziologie der Gewalt.66 Eine Sportart stand hierbei immer im Vordergrund: der Fußball mit seiner Fähigkeit, Massen weltweit zu mobilisieren und zu faszinieren.

ANWENDUNGSBEZÜGE: MÖGLICHKEITEN UND GRENZEN Wissenschaftliche Disziplinen können gegenüber dem organisierten Sport generell zwei Arten von Anwendungsbezügen entwickeln. In Gestalt ingenieurund naturwissenschaftlicher Disziplinen liefern sie zunächst Technologien im Sinne von strikten Wenn-Dann-Koppelungen und intervenieren damit direkt in die Körper- und Gerätesphäre des Sports. Technologien funktionieren als Problemlösungen, die vom Benutzer nicht verstanden werden müssen. Input und Output werden, so die Intention, deterministisch miteinander gekoppelt, so dass auf einen bestimmten Input immer ein erwartbarer Output erzeugt wird. Der __________________ 65 Siehe Alkemeyer (1997); Alkemeyer et al. (2003); Gebauer et al. (2004); Gebauer et al. (2006); Schmidt (2002). 66 Vgl. exemplarisch Pilz (1982); Hahn/Pilz/Stollenwerk/Weis (1988).

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Verwender hat den Vorteil, von einer Mitreflexion der wissenschaftlichen Denkvoraussetzungen für die Herstellung der Technologien entlastet zu sein. Ein Athlet, der von einem Sportmediziner eine Spritze gesetzt bekommt, damit er anschließend wieder trainieren kann, muss keine Kenntnisse der Medizin oder Biochemie besitzen. Pillen, Spritzen und ingenieurwissenschaftlich hergestellte Sportgeräte sind demnach Objektivationen, mit denen die Wissenschaft direkt in den Sport interveniert. Neben der Reflexionsentlastung signalisieren derartige Technologien Leistungen, die im organisierten Sport hoch geschätzt werden und das dortige Bild von der Wissenschaft maßgeblich prägen, nämlich einfache Handhabbarkeit, Treffsicherheit und schnellen Erfolg. Wissenschaftliche Disziplinen können den Sportakteuren weiterhin ein Orientierungswissen zur verbesserten Selbststeuerung anbieten. Letzteres gilt für alle Disziplinen, die keine Technologien produzieren. Dabei handelt es sich um Deutungsangebote, die auch abgewehrt werden können und bei denen langfristige Lernprozesse einzukalkulieren sind. Es ist leicht nachzuvollziehen, dass die Sportsoziologie nicht der technologieproduzierenden und -implementierenden Fraktion angehört, sondern ihre Kompetenzen im Bereich des Orientierungswissens entfaltet, und damit auf Analyse und Kommunikation setzt. Sportsoziologen wollen die Sportakteure nicht von einer Reflexion entlasten, sondern vielmehr zur Reflexion anregen. Sie machen sich deshalb häufig sehr unbeliebt. Wenn sie sich äußern, stehen meist krisenhafte Erscheinungen, soziale Konflikte und Devianzen im Vordergrund. Im Vergleich zu den ingenieur- und naturwissenschaftlichen Disziplinen wird die praktische Relevanz der Sportsoziologie vonseiten der Sportverbände eher als gering eingeschätzt. Ihre Erkenntnisse erscheinen als vage, diffus, fehlbar und kontingent. In Sachen sportlicher Leistungssteigerung gelten Sportsoziologen nicht nur als unbrauchbar, sondern sogar als renitent und bockig. Sie vermessen schließlich keine Körper, injizieren keine Spritzen und versuchen nicht, die Angst des Torwarts beim Elfmeter durch psychoregulierende Maßnahmen zu reduzieren. Auch in der Reputationshierarchie der Soziologie befinden sich Sportsoziologen nicht an oberster Stelle, was sich sowohl differenzierungs- als auch zivilisationstheoretisch erklären lässt: Der Sport ist im Ensemble der verschiedenen gesellschaftlichen Funktionsfelder eine entbehrliche Größe (Bette/Schimank 2006a: 146ff.). Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Recht und Bildung hingegen sind Teilsysteme, ohne die eine moderne Gesellschaft nicht auskommt. Aufgrund ihrer Ungleichartigkeit und der Leistungen, die sie für ihre Umwelt erbringen, sind sie »selbstsubstitutive Ordnungen« (Luhmann 1997: 753). Wenn hier Probleme auftauchen, würde niemand verlangen, auf diese Bereiche einfach zu verzichten. Gegen Arbeitslosigkeit im Wirtschaftssystem, Politikverdrossenheit im politischen System oder die Schulmisere im Bildungssystem, sind sportspezifische Probleme wie Doping oder Hooliganismus, trotz

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der hohen Redefrequenz im öffentlichen Diskurs, Bagatellen, die man vernachlässigen kann. Soziologen, die über gesellschaftlich unverzichtbare Sozialbereiche arbeiten und aus diesen Bereichen bisweilen auch eine Nachfrage erfahren, um die dortigen Operationsbedingungen analysieren und verbessern zu helfen, leiten hieraus in einer bemerkenswerten Denkvolte die Erkenntnis ab, selbst unverzichtbar zu sein. In Fortführung der Zivilisationstheorie von Norbert Elias sah Eric Dunning (1971a: 35f.) die Geringschätzung von Sport und Sportsoziologie durch die allgemeine Soziologie als Nachwirkung einer säkularisierten protestantischen Arbeitsethik an, nach der Menschen ihre Affekte zu dämpfen, ihre Körper zu zivilisieren und ihre Arbeit hoch einzuschätzen haben. Vielen Intellektuellen gilt der Sport heute in der Tat noch als »geistlose« Aktivität, die nicht der Verbesserung der gesellschaftlichen Realität diene, sondern ausschließlich dem individuellen Amüsement. Außerdem meinen offensichtlich nicht wenige Soziologen, dass der Sport durch seinen expliziten Körperbezug ausschließlich naturwissenschaftliche Relevanzen besäße. Sportsoziologen können demnach häufig die interessante Erfahrung einer doppelten Ablehnung machen. Sie werden von den Sportakteuren oftmals als lästige oder überflüssige Beobachter wahrgenommen, die Reflexionslasten in einen Sozialbereich hineinzutragen beabsichtigen, den viele Menschen bewusst aus Gründen der Reflektionsentlastung aufsuchen. Sportsoziologen gelten zudem auch in der Scientific Community der Soziologie als »marginal men«, weil sie mit dem gesellschaftlichen Status ihres Objektfeldes identifiziert und dementsprechend selbst als verzichtbar angesehen werden. Sie machen sich dadurch verdächtig, dass sie ihr berufliches Engagement einem Sozialbereich widmen, der mit Freizeit, Entspannung, Körperlichkeit, Affektivität, Geselligkeit und Denkabstinenz zu tun hat und damit eher der »Leichtigkeit des Seins« zugeschlagen wird, und nicht der Schwere der Existenz. Bourdieu (1992: 193) hat das Spannungsverhältnis, in dem sich die Sportsoziologie damit insgesamt bewegt, überspitzt auf den Punkt gebracht: »Von den Soziologen verachtet, wird sie auch von den Sportlern mit Misstrauen betrachtet.« Dieser Weltsicht kann man nur entgegenhalten, dass die moderne Gesellschaft sich nicht angemessen verstehen und erklären lässt, wenn man den Sport in seinen diversen Erscheinungsformen thematisch ausblendet und soziologisch nicht ernst nimmt. Indem man beispielsweise die Zuschauerbedürfnisse ins Visier nimmt, die Heldenverehrung von Sportlern oder die verbreitete Nutzung des Sports für eine bewegungs- und fitnessorientierte Lebensführung betrachtet, lässt sich viel über die Abstraktheit, Körperdistanziertheit und Personenferne sowie die Gemeinschaftsverluste lernen, die durch den gesellschaftlichen Modernisierungsprozess hervorgerufen worden sind. Die breite, bis hin zur Zivilreligion steigerbare Inanspruchnahme des Sports als neue Sinninstanz deutet

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deshalb nicht nur auf den Sport selbst und dessen Besonderheiten hin, sondern verweist umgekehrt auch auf die Ambivalenzen, mit denen Menschen durch den Prozess der funktionalen Differenzierung konfrontiert werden. Damit ist klar: Die moderne Gesellschaft ist nicht nur eine Informations-, Arbeits-, Wissens-, Risiko-, Entscheidungs-, Freizeit-, Organisations- oder Erlebnisgesellschaft, sie ist vielmehr auch eine Sportgesellschaft. Im Besonderen des Sports das Allgemeine der Gesellschaft sichtbar zu machen und aus dem Allgemeinen der Gesellschaft das Spezifische des Sports abzuleiten, ist eine Aufgabe, der sich die Sportsoziologie dauerhaft zu stellen hat. Ohne ihre analytischen Fähigkeiten jedenfalls blieben wichtige Aspekte der modernen Gesellschaft und des Verhältnisses von Person, Körper und Gesellschaft unbeobachtet, unbeschrieben und fremd. Und auch die Sportakteure wüssten deutlich weniger über das Handlungsfeld, in dem sie sich tagtäglich bewegen, wenn es nicht die stellvertretende Reflexion und Aufklärungsarbeit der Sportsoziologie gäbe.

Siglen

ARD BMW FAZ KSA RTL SZ WADA ZDF

Allgemeine Rundfunkanstalten Deutschlands Bayerische Motorenwerke Frankfurter Allgemeine Zeitung Kölner Stadt-Anzeiger Radio Television Luxembourg Süddeutsche Zeitung World Anti-Doping Agency Zweites Deutsches Fernsehen

Abbildungen

Abb. 1: Spitzensport als Heldensystem | 54 Abb. 2: Verlaufsfiguren von Sportheldengeschichten | 68 Abb. 3: Konsequenzen kollektiver Personalisierung | 127 Abb. 4: Anschlussfähigkeit von Spitzensport und Massenmedien | 152 Abb. 5: Doppelmoral im Spitzensport | 156 Abb. 6: Legitime und illegitime Innovationen | 160 Abb. 7: Konstellationsmanagement | 171 Abb. 8: Implikationen eines Runden Tisches | 174 Abb. 9: Erwartbare Steuerungsprobleme | 178

Textnachweise

Die einzelnen Kapitel dieses Buches gehen auf Beiträge zurück, die ich in den letzten Jahren an unterschiedlichen Stellen und zu unterschiedlichen Anlässen geschrieben habe. Alle Texte wurden für die vorliegende Publikation durchgesehen und dort, wo es notwendig war, von Doppelungen und Überschneidungen befreit und inhaltlich ergänzt. Außerdem habe ich Abbildungen an der einen oder anderen Stelle eingefügt, um den Nachvollzug der Argumente zu erleichtern. Die Kapitel 5, 6 und 7 haben von der gemeinsamen und außerordentlich ertragreichen Forschungsarbeit profitiert, die ich zusammen mit Uwe Schimank in den letzten Jahren durchgeführt habe. Markus Schroer bin ich zu Dank verpflichtet, weil er mich vor Jahren dazu animierte, einen Übersichtsbeitrag über die Sportsoziologie zu schreiben. Aus dem Artikel, den ich in Kapitel 8 in erheblich überarbeiteter und ergänzter Form beigefügt habe, wurde, ohne dass dies ursprünglich so geplant war, ein umfangreiches Buch, das der transcript Verlag im Jahre 2010 publizierte. Trotz der Durchnummerierung der Kapitel, die einen verpflichtenden Leseablauf suggeriert, können alle Artikel in diesem Buch für sich alleine rezipiert werden. Dies hat den enormen Vorteil, dass sich der Leser nicht notwendigerweise von vorne nach hinten durch das Buch zu zwängen hat, sondern auch den Vorteil einer »vagabundierenden« Lektüre genießen kann. Kapitel 1: Karl-Heinrich Bette, 2004: »Sportbegeisterung und Gesellschaft«. In: Carsten Kruse/Ilka Lüsebrink (Hg.), ›Schneller, höher, weiter?‹ Sportpädagogische Theoriebildung auf dem Prüfstand. Schriften der Deutschen Sporthochschule Köln Bd. 49. Sankt Augustin: Academia, 46-78 (revidiert und ergänzt). Kapitel 2: Karl-Heinrich Bette, 2007: »Sporthelden. Zur Soziologie sozialer Prominenz«. In: Sport und Gesellschaft, 4. Jahrgang, Heft 3, 243264 (revidiert und ergänzt).

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Kapitel 3: Karl-Heinrich Bette, 2003: »X-treme. Soziologische Betrachtungen zum modernen Abenteuer- und Risikosport«. In: Thomas Alkemeyer/Bernhard Boschert/Robert Schmidt/Gunter Gebauer (Hg.), Aufs Spiel gesetzte Körper. Aufführungen des Sozialen in Sport und populärer Kultur. Konstanz: UVK, 19-36. Kapitel 4: Karl-Heinrich Bette 2005: »Risikokörper und Abenteuersport«. In: Markus Schroer (Hg.), Soziologie des Körpers. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 295-322 (revidiert und ergänzt). Kapitel 5: Karl-Heinrich Bette, 2001: »Kollektive Personalisierung: strukturelle Defizite im Dopingdiskurs«. In: Helmut Digel (Hg.), Spitzensport: Chancen und Probleme. Schorndorf: Hofmann, 26-42. Kapitel 6: Karl-Heinrich Bette, 2001: »Biographische Risiken und Doping«. In: Helmut Digel/Hans-Hermann Dickhut (Hg.), Doping im Sport. Tübingen: Attempto Verlag, 140-152. Kapitel 7: Karl-Heinrich Bette, 2006: »Doping als transintentionales Konstellationsprodukt. In: Wolfgang Knörzer/Giselher Spitzer/Gerhard Treutlein (Hg.), Dopingprävention in Europa – Grundlagen und Modelle. Aachen: Meyer & Meyer, 75-91 (revidiert und erheblich ergänzt). Kapitel 8: Karl-Heinrich Bette, 2010: »Sportsoziologie«. In: Georg Kneer/ Markus Schroer (Hg.), Handbuch Spezielle Soziologien. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 587-604 (revidiert und erheblich ergänzt).

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Franz Bockrath, Bernhard Boschert, Elk Franke (Hg.) Körperliche Erkenntnis Formen reflexiver Erfahrung 2008, 252 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-227-6

Aubrey de Grey, Michael Rae Niemals alt! So lässt sich das Altern umkehren. Fortschritte der Verjüngungsforschung 2010, 396 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN 978-3-8376-1336-0

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KörperKulturen Elk Franke (Hg.) Herausforderung Gen-Doping Bedingungen einer noch nicht geführten Debatte Mai 2011, ca. 270 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1380-3

Sabine Mehlmann, Sigrid Ruby (Hg.) »Für Dein Alter siehst Du gut aus!« Von der Un/Sichtbarkeit des alternden Körpers im Horizont des demographischen Wandels. Multidisziplinäre Perspektiven 2010, 278 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1321-6

Paula-Irene Villa (Hg.) schön normal Manipulationen am Körper als Technologien des Selbst 2008, 282 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-889-6

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KörperKulturen Bettina Bock von Wülfingen Genetisierung der Zeugung Eine Diskurs- und Metaphernanalyse reproduktionsgenetischer Zukünfte

Swen Körner, Peter Frei (Hg.) Die Möglichkeit des Sports Kontingenz im Brennpunkt sportwissenschaftlicher Analysen

2007, 374 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN 978-3-89942-579-6

Juni 2011, ca. 240 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1657-6

Karen Ellwanger, Heidi Helmhold, Traute Helmers, Barbara Schrödl (Hg.) Das »letzte Hemd« Zur Konstruktion von Tod und Geschlecht in der materiellen und visuellen Kultur

Stefanie Richter Essstörung Eine fallrekonstruktive Studie anhand erzählter Lebensgeschichten betroffener Frauen

2010, 360 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1299-8

Antje Stache (Hg.) Das Harte und das Weiche Körper – Erfahrung – Konstruktion

Nicholas Eschenbruch, Dagmar Hänel, Alois Unterkircher (Hg.) Medikale Räume Zur Interdependenz von Raum, Körper, Krankheit und Gesundheit 2010, 254 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1379-7

Gerrit Kamphausen Unwerter Genuss Zur Dekulturation der Lebensführung von Opiumkonsumenten 2009, 294 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1271-4

Mischa Kläber Doping im Fitness-Studio Die Sucht nach dem perfekten Körper 2010, 336 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1611-8

Swen Körner Dicke Kinder – revisited Zur Kommunikation juveniler Körperkrisen 2008, 230 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-89942-954-1

2006, 496 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-89942-464-5

2006, 208 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN 978-3-89942-428-7

Martin Stern Stil-Kulturen Performative Konstellationen von Technik, Spiel und Risiko in neuen Sportpraktiken 2010, 302 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1001-7

Heinz-Jürgen Voss Making Sex Revisited Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive (2., unveränderte Auflage 2010) 2010, 466 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1329-2

Carsten Würmann, Martina Schuegraf, Sandra Smykalla, Angela Poppitz (Hg.) Welt.Raum.Körper Transformationen und Entgrenzungen von Körper und Raum 2007, 300 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-757-8

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