Spielen und Philosophieren zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit [1 ed.] 9783666230141, 9783525230145, 9783647230146


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German Pages [336] Year 2016

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Spielen und Philosophieren zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit [1 ed.]
 9783666230141, 9783525230145, 9783647230146

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Andreas Hermann Fischer

Spielen und Philosophieren zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit

Vandenhoeck & Ruprecht

®

MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen

www.fsc.org

FSC® C083411

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-23014-5 ISBN 978-3-647-23014-6 (E-Book) ISBN 978-3-666-23014-1 (V& R eLibrary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Zugleich Dissertation Ludwig-Maximilians-Universität München 2015. T 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Petrarca, Francesco: Des remHdes de l’une et l’autre fortune prospHre et adverse. Paris: Galliot du Pr8, 1523, fol. 20r. BIU Sant8 (Paris) / http://www.biusante.parisdescartes.fr/ histmed/image?01254 Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, D-96158 Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

›Life is a game, boy. Life is a game that one plays according to the rules.‹ ›Yes, sir. I know it is. I know it.‹ Game, my ass. Some game. If you get on the side where all the hot-shots are, then it’s a game, all right – I’ll admit that. But if you get on the other side, where there aren’t any hot-shots, then what’s a game about it? Nothing. No game. John D. Salinger, The Catcher in the Rye Ut enim nec terra seminis, quod non concepit, fructus reddere potest nec quisquam, quamvis ingeniosa gula sit, vel ius nigrum vel conditos boletos nunquam antea visos appetere, ita nec quisquam ignotum sibi ludum concupiscere. Pascasius Iustus, Alea

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kapitel 1: Nicolaus Cusanus, Jacobus de Cessolis und Platon über das Erfinden von Spielen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlagen für die Analyse des Globusspiels . . . . . . . . . . . . . Soziale Felder der Allegorie: Spielende Kardinäle . . . . . . . . . . . Moral des Globusspiels: Die Kugel zu Gott bringen . . . . . . . . . . Jenseits des Spielens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zurück zum Anfang: Jacobus und die Macht des Spielens . . . . . . Die Erfindung von Spielen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konsequenzen der Spielerfindung: Platon und die neuen Spiele . . . Konklusionen: Spielergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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91 94 99 106 111 114 120 126 132

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . Forschungsstand und Fragestellung Methodische Grundlagen . . . . . Struktur der Arbeit . . . . . . . . .

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Vorspiel. Ein Kompass von Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . Aristoteles darüber, was Spiele nicht sein können . . . . . . . . . . Die translatio und die ludi: Bedingungen mittelalterlicher Spielphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Albert und der lateinische Aristoteles: Philosophen müssen spielen Thomas’ Summe: Der Primat des Ernsten . . . . . . . . . . . . . . Ludus/iocus/lusus: Valla, Bruni und humanistische Wortspiele . . . Kurz vor Cusanus: Aristoteles bei Juristen und Predigern . . . . . . Zusammengefasst: Wie Aristoteles entkommen? . . . . . . . . . . .

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8

Inhalt

Kapitel 2: Ludisches Philosophieren: Ficino, Speroni und die italienischen Philosophiespiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ficinos ernste Spiele mit den Sophisten . . . . . . . . . . . . . . Sperone Speroni: Syllogismuskämpfe und die Gärten des Dialogs Zwischenstand: Zwei Versionen von Platon . . . . . . . . . . . . ›Aristotile, cortegian vecchio‹: Castiglione, Marcolini und die spielerische Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konklusionen: Die spielerische Philosophie . . . . . . . . . . . .

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Kapitel 3: Spielpädagogik für kleine Philosophen: Die Pariser Lusus pueriles des Erasmus, Vives und Cordier . . . . . . . . . . . . . . . . Erasmus: In ludo pulchrum est arte vincere . . . . . . . . . . . . . Vives’ Spiele in Valencia und Paris . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Pariser Sammler von Spieldialogen . . . . . . . . . . . . . . . . Konklusionen: Eine Dynamik der Didaktik des Spielens . . . . . .

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Kapitel 4: Aufschlag für Alfonso: Antonio Scaino mit der Naturphilosophie auf der Suche nach dem perfekten Spiel . . Das Gerüst des Trattato del giuoco della palla . . . . . . . . Ferrareser Ludologie und eine Geometrie des Fechtens . . . Zoologische Tennisphilosophie: Spiele als Lebewesen . . . . Vincenzo Maggi und die flüchtige Luft . . . . . . . . . . . . Physikalische Tennisphilosophie: Mechanik und Bewegung Konklusionen: Objektive Harmonie . . . . . . . . . . . . . .

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Kapitel 5: Pascasius Iustus gegen die Unersättlichkeit: Spiel als Wahrheit . Grundlegende biographische Daten und ein dedikatorisches Rätsel . Pascasius’ philosophische Medizin und medizinischer Humanismus . Erste Diagnose: Wider die Spielleidenschaft als avaritia . . . . . . . Physische Grundlagen: Wirkursache und Gewohnheit . . . . . . . . Grundlagen der Therapie: Selbsthilfetipps und zwei Heilmittel . . . . Erweiterung der Therapie: Die Stoa und Galen . . . . . . . . . . . . In ludo veritas: Die Wahrheit über die Spanier im Spiel . . . . . . . . Konklusionen: Spiel als Krankheit, Wahrheit und Therapiemodell . .

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253 257 261 266 273 279 284 289 296

Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Verwendete Abbreviaturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort

Die vorliegende Studie ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Sommersemester 2015 von der Fakultät für Philosophie, Wissenschaftstheorie und Religionswissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommen wurde. Ermöglicht wurde die Arbeit durch ein dreijähriges Promotionsstipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes. Für die stets unkomplizierte und verständnisvolle Betreuung möchte ich mich besonders bei Dr. Matthias Frenz, Dr. Imke Thamm und Christine Schade bedanken. Nicht mehr rekonstruierbar sind mir all die Namen der vielen Mitstipendiaten/innen, die auf Doktorandenforen oder bei Sprachkursen mit hilfreichen Tipps und interdisziplinären Perspektiven zu dieser Arbeit beigetragen haben. Daher spreche ich auch stellvertretend Astrid Sänger, Mark Wittlinger, Jutta Kling, Amir Zelinger und Sebastian Strehlau für viele anregende Gespräche meinen herzlichsten Dank aus. Das Deutsche Historische Institut in Paris gewährte mir ein Kurzzeitforschungsstipendium im Jahr 2013, für das ich sehr danke, im Besonderen Prof. Rainer Babel und Karin Foertsch für die freundliche Betreuung. Dem Deutschen Historischen Institut in Rom möchte ich sehr herzlich für zwei Forschungsstipendien im Jahr 2013 und 2014 danken, für diverse Hilfen und Tipps insbesondere Prof. Martin Baumeister, Dr. Alexander Koller, Dr. Andreas Rehberg, Monika Kruse und Dr. Sabine Ehrmann-Herfort, auf deren Hinweise mein bescheidenes musikgeschichtliches Wissen in dieser Arbeit zurückgeht. Herzlichen Dank möchte ich auch Dr. Thomas Hofmann und Elisabeth Dunkl für die bibliothekarische Unterstützung aussprechen. In den Katzengärten des DHI und nächtlichen römischen Gassen haben Marie Schmidt, Anne Orschiedt, Spiridion Thoma, Dr. James Lees, Wolfgang Jürries, Beate Umann, Dr. Tanja Skambraks, Friederike Willasch, Miriam Henzel, Kerstin Heermann, Constanze Beringer und einige andere BewohnerInnen der fluktuierenden DHIWG nicht nur fachlich geholfen, sondern in vielfacher Hinsicht dazu beigetragen, dass die Motivation niemals verloren ging. Prof. Mariacarla Gadebusch Bondio und Dr. Roberto Poma danke ich für die Möglichkeit der Teilnahme an einer medizinhistorischen Sommerschule an der Herzog-August-Bibliothek

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Vorwort

Wolfenbüttel im Jahr 2013, die mein Wissen galenischer Medizin um Lichtjahre erweitert hat – und auch sonst war’s in Wolfenbüttel ganz schön (liebe Grüße an Will Daniels, Arne Spohr und Carolin Schmitz). Außerdem gilt mein Dank den Teilnehmern/innen eines Seminars zur Philosophie des Spielens, das ich im Sommersemester 2013 in München geben durfte und aus dem ich vielfältig verwirrende Anregungen gewann. Den Teilnehmern/innen einer interdisziplinären Doktorandentagung unter dem Titel Spielverderber der Geistesgeschichte, die 2014 an der Ludwig-Maximilians-Universität München stattfand, bin ich für ihre Beiträge ebenfalls sehr verbunden. Prof. Ingrid Baumgärtner, Prof. Klaus Herbers, Prof. Alessandro Nova und Prof. Gerhard Wolf danke ich dafür, dass ich im Rahmen eines interdisziplinären Doktoranden-Workshops erste Ausschnitte des Kapitels zur Tennisphilosophie vorstellen durfte. Stellvertretend für viele Bibliotheken möchte ich den Mitarbeitern/innen der Biblioteca Ambrosiana in Mailand und der Biblioteca comunale Ariostea in Ferrara für ihre sehr freundliche und eingehende Hilfe danken. Meiner Betreuerin Prof. Sabrina Ebbersmeyer danke ich herzlich für ihren vorbehaltlosen und stets das freie Denken ermöglichenden Rückhalt, auch in der organisatorisch schwierigen Situation zwischen Kopenhagen und München. Meinem Zweitbetreuer Prof. Thomas Ricklin möchte ich für zahlreiche Anregungen, kritische Diskussionen und vielfache Unterstützung ebenfalls herzlich danken. Einen großen Dank schulde ich auch Prof. Florian Mehltretter für die unkomplizierte Übernahme der Rolle des dritten Prüfers. Für seine große Hilfsbereitschaft und kontinuierlich wunderbares Querdenken sei Dr. Heinrich C. Kuhn innigst gedankt. Ohne die Herzlichkeit und Diskussionsfreude von Dr. Gabriele Sprigath wäre das Seminar für Geistesgeschichte und Philosophie der Renaissance in den letzten Jahren kein so schöner Ort zum Arbeiten und Spielen gewesen. Helga Pirner-Pareschi danke ich für ihren stets freundlichen Beistand bei administrativen Angelegenheiten und Übersetzungsfragen, Dr. Christian Kaiser für seine immer geduldige Hilfe etwa bei Übersetzungen aus dem Altgriechischen. Auch Okihito Utamura, Dr. Nikolaus Egel, Severija Kubilius und Dr. Cecilia Muratori, die mit verschiedenen Tipps und Anregungen zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen haben, bin ich zu großem Dank verpflichtet. Am meisten bedanken möchte ich mich allerdings bei Annika Willer und Leo Maier, die mit ihrer Freundschaft und verständnisvollen Unterstützung diese Dissertation durch die funkelndsten Tage und dunkelsten Nächte begleitet haben, und ohne deren Hilfe dieses Spiel nie gelungen wäre. Wer bis hierher durchgehalten hat: Nicht schlecht. Und: Keine Angst, ich zähle nicht alle außeruniversitären Freunde und Verwandten auf, deren vielgestaltige Hilfe diese Arbeit ermöglicht hat und bei denen ich mich von ganzem Herzen am besten persönlich bedanke. Meinen Eltern Ursula und Richard, meiner Großmutter Herta und Jenny möchte ich allerdings ausdrücklich und

Vorwort

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besonders herzlich für ihre Unterstützung danken, obwohl ich damit niemals das aufwiegen kann, was ihr Zuspruch und ihre Liebe für mich bedeuten. München, im Januar 2016

Einleitung

Dem Aristoteliker Pietro Pomponazzi zufolge birgt die Philosophie zwei große Übel in sich. Zum einen erbringe sie kein Geld, da für das menschliche Leben nichts weniger notwendig sei als Philosophie. Noch schlimmer jedoch ist der zweite Makel, der sie von der Mathematik grundlegend unterscheidet: Aliud, quod est maius (et minus tollerabile), est incertitudo. Nam philosophia est pulchra, si esset certa sicut est mathematica. Nam metaphysica et philosophia sunt coniecturales et fere in omnibus sunt opiniones et H come uno giochare.1 (Das andere [Übel], das größer ist (und weniger hinnehmbar), ist die Unsicherheit. Freilich ist die Philosophie schön, wenn sie doch sicher wäre, wie es die Mathematik ist. Denn Metaphysik und Philosophie beruhen auf Vermutungen und fast zu allen Dingen gibt es nur Meinungen und es ist wie ein Spielen.)

Überliefert hat uns die kleine Passage der Student Gregorio Frediani, sie stammt aus seiner Reportatio zu Pomponazzis Vorlesung über De generatione et corruptione aus den Jahren 1521/22 in Bologna. Bei ihrer Lektüre fällt nicht nur der unsaubere Stil einer Vorlesungsmitschrift ins Auge, die zwischen Latein und Italienisch changiert. Auch hätte man von Pomponazzi erwarten können, dass er der Philosophie mit einigem Ernst begegnen würde. Denn nachdem er in seinem Tractatus de immortalitate animae aus dem Jahr 1516 behauptet hatte, Aristoteles zufolge sei die Seele sterblich, vermochte er inquisitorischer Verfolgung gerade noch einmal zu entkommen.2 Die existentiellen Gefahren unkonventio1 Pomponazzi, Pietro: Expositio super primo et secundo De partibus animalium. Hrsg. von Stefano Perfetti. Florenz: Olschki, 2004, die Stelle aus einer parallel stattfindenden Vorlesung zu De generatione et corruptione zitiert auf S. LXVIII, im Original zu finden in der Biblioteca Vaticana, Ms. B. Vat. Regin. lat. 1279, fol. 240r. Den Wechsel ins Italienische nimmt Frediani auch vor dieser Passage bei einzelnen Wörtern vor, er ist also nicht spezifisch für seine Bemerkung über Spiele. Soweit nicht anders angegeben, stammen alle Übersetzungen in dieser Arbeit von mir und sind nur als leserfreundliche Hilfestellung zur Erschließung des Originaltextes zu verstehen. 2 Vgl. Martin, Craig: Subverting Aristotle. Religion, History, and Philosophy in Early Modern Science. Baltimore: Johns Hopkins University Press, 2014, S. 61–69.

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Einleitung

nellen Philosophierens mussten ihm demnach wohl vertraut gewesen sein. Und dennoch weist er seine Zuhörer nachdrücklich darauf hin, dass seine Profession nichts als ein unsicheres Spielen sei. Wenn wir allerdings glauben, sicher bestimmen zu können, was Pomponazzi damit sagen wollte, so dürften wir bald in Schwierigkeiten geraten. Man muss hierfür nicht einmal Wittgenstein gelesen und seine Behauptung von der Unmöglichkeit einer allgemeinen Definition des Begriffs Spiel akzeptiert haben.3 Schon der Versuch, die zeitgenössischen Bedeutungen von giochare zu ermitteln, legt offen, dass alles andere als klar ist, was Pomponazzis Vergleich in Anbetracht der Fülle rinascimentaler Spielpraktiken verdeutlichen sollte. Nicht gemeint haben wird er wohl, die Philosophie gleiche der ausgesprochen körperbetonten Fußballversion der Florentiner, dem calcio fiorentino, und umfasse die Verletzung gegnerischer Denker. Auch das physisch weniger anspruchsvolle Schachspiel scheidet als mögliche Referenz vermutlich aus, insofern Pomponazzi gerade die Unsicherheit des Spielens unterstreicht. Kann man sich die Situation der Schachfiguren nicht jederzeit kombinatorisch erschließen? Keineswegs sicher scheinen Karten- und Würfelspiele, doch waren dies die zwielichtigen Spiele der Gasthäuser. Als Niccolk Machiavelli aus dem Exil in einem berühmten Brief an Francesco Vettori seinen Tagesablauf schildert, kulminiert die Darstellung seiner trostlosen Lebenslage in der Beschreibung des Nachmittags, den der ehemalige Spitzenfunktionär der Republik Florenz mit einem Metzger und Ziegelbrennern bei Kartenspiel und Backgammon verbringt und sich fragt, ob das Schicksal sich nicht dafür schäme.4 Sollte man wirklich unterstellen, dass Pomponazzi die Philosophie mit derart unstatthaften Vergnügungen in Verbindung bringen wollte? Vielleicht ist es aussichtsreicher, konkrete Spielpraktiken zu vernachlässigen und zum besseren Verständnis philosophische Konzepte des Spielens heranzuziehen. Dabei liegt es nahe, auf Aristoteles zurückzugreifen, den Pomponazzi an dieser Stelle eigentlich zu kommentieren vorhat, und mit dem Stagiriten schlicht festzustellen, dass Spielen Erholung sei.5 Doch ist Erholung genuin unsicher? Und allgemeiner gefragt: Hat nicht jedes Spiel als Grundlage feste Regeln, die eine unbestreitbare Basis einer jeden Partie und eben keine opiniones 3 Vgl. Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen. In: Ders.: Werkausgabe in 8 Bänden. Band 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2006, S. 325–580, hierzu insb. S. 277–278, wo Wittgenstein anstelle einer allgemeinen Definition den Begriff der Familienähnlichkeit entwickelt, um die Beziehung zwischen verschiedenen Spielarten zu beschreiben, die sich demnach nur in manchen Eigenschaften gleichen. 4 Vgl. Machiavelli, Niccolk: Opere. Band 3: Lettere. Ediert von F. Gaeta. Turin: Utet, 1984, S. 425–426, hierzu S. 426 (Brief XI vom 10. 12. 1513): »Cos&, rinvolto in tra questi pidocchi, traggo el cervello di muffa, e sfogo questa malignit/ di questa mia sorta, sendo contento mi calpesti per questa via, per vedere se la se ne vergognassi.« 5 Vgl. Arist. NE VII 8 (1150a9–1150b19).

Einleitung

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ausmachen? In diesem Fall wäre es widersinnig, Spiele als Metapher vollständiger Unsicherheit zu verwenden. Spielt man mit uns? Aber was meinen wir überhaupt, wenn wir feststellen, jemand spiele mit uns, oder jemand spiele überhaupt? Mittelalterliche Gelehrte jedenfalls zeigten keine Scheu, auch die höchsten intellektuellen Tätigkeiten damit in Verbindung zu bringen: Einer Bestimmung des Thomas von Aquin zufolge lässt sich die contemplatio sapientiae mit einem Spiel vergleichen, da beide für sich erstrebt werden und ihr Vergnügen in sich haben.6 Diese Bekräftigung kontemplativer Autonomie hat nun aber offensichtlich wenig mit Pomponazzis Sichtweise vom Philosophieren als Spielen zu tun. Denn scheint er nicht zu insinuieren, dass die spielenden Philosophen den nicht spielenden Mathematikern unterlegen sind, und dass dies ein Übel ist? Philosophie charakterisiert als Spiel ist in seiner knappen Bemerkung der epistemologisch subordinierte, unsichere Gegensatz zur sicheren Mathematik: Was hat es mit dieser beiläufigen Hierarchisierung über das unscheinbare Wort giochare in einer Vorlesung vor beinahe fünfhundert Jahren auf sich, die heute so deutlich aus einer hastigen Notiz eines Studenten zu uns spricht? Mir ist nicht daran gelegen, einen konkret fassbaren Begriff von Spiel hinter einer unbegrenzten Vielfalt von Bedeutungen gänzlich verschwinden zu lassen. Doch die Möglichkeiten, Pomponazzis Diktum über die Philosophie als Spiel einzuordnen, ergeben sich offenbar nicht aus der Sache selbst, resultieren nicht aus einer vermeintlichen Essenz des Spielbegriffs, die man intuitiv erschließen könnte. Vielmehr ist seine Äußerung Teil einer historischen Diskursformation, innerhalb derer sie erst an bestimmbarer Bedeutung gewinnt. Diese Bestimmung misslingt, wenn die genaueren Äußerungsmodalitäten unberücksichtigt bleiben: Welche Bedeutungen kamen Spielen im sozialen Umfeld Pomponazzis zu? Wie konnte man Spiel definieren? Auf welche Weisen wurde der Begriff in philosophischem Kontext gebraucht? Vergangenes Sprechen über Spielen ist demnach nicht naiv erklärbar, sondern muss als vergangene soziale Praxis aus ihren Zusammenhängen erschlossen werden. Historisch variierend wie die Spiele selbst stellen dabei auch die Konzepte7 des Spielens Produkte einer uns konkret bearbeitbaren Geschichte dar. Zu dieser Geschichte davon, welche Möglichkeiten des Erklärens, Befragens und Benutzens von Spielen erdacht wurden, gehören die zahlreichen philosophischen Spielkonzepte vergangener

6 Vgl. Thomas von Aquin: Expositio libri Boetii De ebdomadibus, Proömium, siehe hierzu Kapitel 1, S. 96–98 dieser Arbeit. 7 Konzept verwende ich zur Bezeichnung von Denkschemata sensu largo, die bewusst oder unbewusst vorhanden, explizit ausgearbeitet oder implizit vorausgesetzt, komplexe Systeme oder simple Einheiten sein können – die methodischen Grundlagen dieser Arbeit werden allerdings im Folgenden noch näher erläutert.

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Einleitung

Jahrhunderte, von denen einige das Urteil Pomponazzis über die Philosophie maßgeblich mitbestimmt haben dürften. Erste Hinweise auf gängige Deutungsschemata ludischer Praktiken bei seinen Zeitgenossen lassen sich beispielsweise aus dem 1545 erschienenen Toxophilus gewinnen, einer vom englischen Humanisten Roger Ascham verfassten Schrift über das Langbogenschießen in Form eines platonischen Dialogs. Zugleich vermittelt der Text – und deswegen halte ich seine Einbeziehung gleich zu Beginn für aufschlussreich – eine Ahnung der Bandbreite dieser philosophischen Spielkonzepte, deren Heterogenität eine eindeutige Zuordnung des Urteils Pomponazzis erschweren dürfte. Denn besonders auffällig an Aschams Einordnungen des Spielens ist, dass sie völlig unvereinbar mit der knappen Philosophiekritik aus der Bologneser Aristotelesvorlesung zu sein scheinen. Der Dialog setzt mit einer zufälligen Begegnung ein: Bei einem Spaziergang trifft ein Arzt namens Philologus auf seinen Bekannten Toxophilus, den er angesichts des schönen Wetters eigentlich bei einer Gruppe von Bogenschützen vermutet hätte, die zuvor seinen Weg gekreuzt hatte. Er findet ihn stattdessen tief versunken in der Lektüre des Phaidros Platons. Zwar zeigt Toxophilus sich nachhaltig beeindruckt von den darin enthaltenen Ausführungen zur Natur der Seele, bedauert jedoch umgehend die verpasste Gelegenheit, sich im Bogenschießen zu üben. Hierauf ermutigt Philologus ihn, er schieße doch im Gegenteil auf dasjenige Ziel, das jeder Gelehrte vor sich haben solle, und fährt fort: Phil: (…) And I suppose it be a great dele more pleasure also, to se a soule flye in Plato, then a shafte flye at the prickes. I graunte you, shoting is not the worst thing in the world, yet if we shote, and time shote, we ar not like to be great winners at the length. And you know also we scholers haue more ernest & weightie matters in hand, nor we be not borne to pastime & pley, as you know wel ynough who sayth. Tox: Yet the same man in the same place Philologe, by your leue, doth admitte holsome, honest and manerlie pastimes to be as necessarie to be mingled with sad matters of the minde, as eating & sleping is for the health of the body, and yet we be borne for neither of bothe. And Aristotle him selfe sayth, that although it were a fonde & a chyldish thing to be to ernest in pastime & play, yet doth he affirme by the authoritie of the oulde Poet Epicharmus, that a man may vse play for ernest matter sake. And in an other place, that as rest is for labour, & medicines for helth, so is pastime at tymes for sad & weightie studie.8

8 Ascham, Roger : Toxophilus. (=Medieval and Renaissance Texts and Studies 244) Ed. und komm. von Peter E. Medine. Tempe: Arizona Center for Medieval and Renaissance Studies, 2002, S. 48. Die betreffenden Passagen sind zuerst Cicero, De offic. I, 103, sowie Arist. NE X 6 und Pol. VIII 3, vgl. hierzu das Kapitel Vorspiel dieser Arbeit. Verwunderlich ist der Verweis auf Epicharmus, denn Aristoteles zitiert in der Nikomachischen Ethik eigentlich Anacharsis, um die Erholungsfunktion des Spielens zu unterstreichen, vgl. auch S. 145, Kommentar 48/18 der zitierten Ausgabe des Toxophilus.

Einleitung

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»As you know wel ynough who sayth«: Das Wissen um die Behauptung Ciceros, dass wir nicht zum Spiel geboren seien, setzt Philologus bei Toxophilus selbstverständlich voraus. In der Tat kann dieser sogleich das Zitat aus De officiis vervollständigen und unternimmt die Verteidigung rekreativen Spielens unter Einbeziehung der Nikomachischen Ethik und der Politik des Aristoteles. Dem an die zitierte Stelle anschließenden, nochmaligen Insistieren des Philologus, dass mehr Arbeit auch mehr Ertrag bringe, hält er unter anderem die kreativitätsfördernde Wirkung von Spiel und Freizeit entgegen: »So those which neuer leaue poring on their bokes, haue oftentimes as thinne inuention, as other poore men haue, and as smal wit and weight in it as in other mens.«9 Nicht nur wird Spielen demnach als essentiell für das wissenschaftliche Studium bewertet. Mindestens das Wissen um eine sozusagen »klassische« Passage über Spiele bei Cicero gilt im Dialog als allgemein bekanntes Bildungsgut. Es stellt sich folglich die Frage, ob Ascham diesen Konsens als literarische Fiktion nur inszenierte, oder ob er mit Cicero und Aristoteles auf Quellen zurückgriff, die tatsächlich gemeinhin zu Rate gezogen wurden, wenn man vor der Entscheidung stand, entweder Platon zu lesen oder sich dem Bogenschießen und dem Spielen hinzugeben. Falls Aschams Beschreibung zutreffend ist, so bot erholsames Spielen nach Cicero und Aristoteles in Gelehrtendiskursen ein Gegengewicht zur allzu monotonen Konzentration aufs Studium. Umso verwunderlicher schiene es aber auch, dass gerade der Aristotelesexperte Pomponazzi die ganze Philosophie zu einem bloßen Spiel erklärt. Bereits die Gegenüberstellung dieser beiden Beispiele erlaubt die Vermutung, dass die in Frage stehende Beziehung von Philosophie und Spiel zur Zeit Pomponazzis auf komplexeren Diskurszusammenhängen beruht haben dürfte. In der Philosophiegeschichtsschreibung ist jedoch bislang der Umstand, dass mittelalterliche Gelehrte sogar einen Philosophen zum Erfinder des Schachspiels erkoren, kaum beachtet worden.10 Auch die verschiedenen spielphilosophischen Ansätze während der Renaissance waren in der Forschung bisher nicht Gegenstand näherer Betrachtung.11 Und über das von Pomponazzi als Identität gedeutete Verhältnis von Spielen und Philosophieren in diesen Zeiträumen lassen sich nur, wie anfangs durchexerziert, wenig fundierte Vermutungen anstellen. Eben diesen vernachlässigten Bereichen der Geschichte des Spielens und der Spielkonzepte widmet sich die vorliegende Arbeit. Sie setzt bei der Beob9 Ascham (2002), Toxophilus, S. 49. 10 Zu philosophischen Spielerfindern vgl. Kapitel 1 dieser Arbeit. 11 Wenn in dieser Arbeit von Renaissance, Mittelalter und Früher Neuzeit die Rede ist, so in rein temporalem, nicht qualitativem Sinn. ›Mittelalter‹ bezeichnet im Folgenden also etwa die Zeit von 600 bis 1500, ›Frühe Neuzeit‹ die Periode ab 1500 bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts, ›Renaissance‹ den Zeitraum von circa 1400–1600, den Übergang zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit.

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Einleitung

achtung an, dass rinascimentale Philosophen methodisch und interdisziplinär experimentierend ausgesprochen heterogene Beschreibungen ludischer Praktiken entwarfen. In dieser Studie wird verhandelt, ob sich charakteristische Elemente dieser philosophischen Diskurse um Spiele benennen lassen, welche Fragen die Philosophen an Schach, Tennis oder das Würfeln gestellt und welche Antworten sie in ihren spezifischen Lebenssituationen vorgelegt haben. Ich ergänze hier ›Lebenssituationen‹, weil ein philosophiehistorischer Nachvollzug ihrer Ansätze zugleich die Offenlegung derjenigen diskursiven und soziokulturellen Artikulationsbedingungen bedeutet, die zur Formation unterschiedlicher Spielphilosophien beigetragen haben. Erst auf diese Weise wird eine historisch adäquate Situierung der Äußerung Pomponazzis möglich, wobei im Folgenden vor dem Hintergrund seiner Bemerkung und den Ausführungen Aschams besonders das Verhältnis von Philosophieren und Spielen in den Fokus rücken soll. Um diese Untersuchung methodisch konzise in Angriff nehmen zu können, werde ich auf den folgenden einleitenden Seiten die forschungsleitenden Koordinaten vorliegender Studie entwickeln. Hierfür werden zunächst im Ausgang einer Darstellung der bisherigen Forschungslage die grundlegenden Thesen der Arbeit entworfen und der Untersuchungsgegenstand eingegrenzt. Ein methodischer Grundriss skizziert sodann die Vorgehensweise in den folgenden Kapiteln, bevor zuletzt die Struktur der Arbeit erläutert wird.

Forschungsstand und Fragestellung Bislang hat die Philosophiehistoriographie wie auch die Ideen- und Intellektualgeschichtsschreibung den mittelalterlichen und rinascimentalen Spielphilosophien wenig bis gar keine Aufmerksamkeit zugestanden. Exemplarisch in dieser Hinsicht fasst ein knappes Verdikt, das jegliche weitere Nachforschung obsolet erscheinen lässt, aus dem Artikel ›Spiel‹ des Historischen Wörterbuchs der Philosophie zusammen: Erst bei Kant, Schiller und im Deutschen Idealismus, vor allem im Rahmen der Fragen nach der menschlichen Freiheit und der Seinsweise des Ästhetischen, wird ›Spiel‹ philosophisch relevant.12 12 Corbineau-Hoffmann, Angelika: Spiel. In: HWdPh Band 9 (1995), 1383–1390, hierzu 1384. Bei den hiermit exponierten Texten handelt es sich um Kants Kritik der Urteilskraft, in der ein ›freies Spiel der Erkenntniskräfte‹ eingeführt wird (vgl. etwa KU § 9 [AAV, S. 217]), und Schillers auf diesen Überlegungen basierenden Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen, vgl. Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Band 20: Philosophische Schriften. Erster Teil. Hrsg. von Benno von Wiese unter Mitwirkung v. Helmut Koopmann. Weimar : Böhlau, 1962, S. 309–412.

Forschungsstand und Fragestellung

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Neben wenigen Zeilen zu antiker Spieltheorie firmieren allein Thomas von Aquin und Nicolaus Cusanus als Zeugen dafür, dass es dem Mittelalter und der Renaissance doch nicht gänzlich an ludischer Sensibilität gemangelt habe.13 Die nicht gerade zahlreichen philosophischen Arbeiten zur Geschichte der Spieltheorien ziehen denn auch überwiegend Kant und Schiller als erste neuzeitliche Heroen einer philosophischen Erschließung des Ludischen heran. So hat Mihai Spariosu in seiner Studie zum Spiel in modernen philosophischen und wissenschaftlichen Diskursen, obgleich er die durch den Untersuchungsfokus bedingte Begrenztheit seiner Analysen durchaus anerkennt, dennoch festgestellt, dass »play as a major explicit philosophical topic resurfaces with the rise of German idealism and may be connected with the aesthetic turn in Western metaphysics.«14 Seiner Rede vom Wiederauftauchen als philosophische Thematik, die man schon angesichts des Titels Dionysus Reborn auf die Antike beziehen darf, hat Spariosu kurze Zeit später mit einer Aufarbeitung des Zusammenhangs von Spiel, Politik und Poetik im griechischen Denken eine nachträgliche Grundlage verliehen, die Mittelalter und Renaissance gekonnt unbeachtet zwischen zwei große spielgeschichtliche Diskursformationen einkeilt.15 Ähnliches gilt für Alexander Aicheles eingehende und wichtige Analysen des Spielbegriffs, die zunächst bei einem berühmten Heraklitfragment über die Zeit als spielendes Kind und Platons Phaidros ihren Ausgang nehmen, dann jedoch umgehend mit Kant und Nietzsche die modernen Dimensionen von Spiel

13 Allerdings wird Thomas’ Ansatz wenig Verdienstvolles abgewonnen, vgl. Corbineau-Hoffmann (1995), 1384: »Für das christliche Verständnis des Menschen und der Welt gewinnt ›S.‹ ebenfalls keine systematische Bedeutung. Thomas von Aquin nimmt die Meinung des Aristoteles auf; die Frage nach der ethischen Beurteilung des S. steht im Kontext der aristotelischen Mesotes Lehre und vermag einen tieferen Sinn des S. für den Glauben nicht zu begründen.« 14 Spariosu, Mihai: Dionysus Reborn. Play and the Aesthetic Dimension in Modern Philosophical and Scientific Discourse. Ithaca und London: Cornell University Press, 1989, S. 30, dem es in seiner auf Nietzsche gerichteten Studie vor allem um eine Geschichte des Rationalen und Prärationalen über das Spielkonzept geht, vgl. S. 22–24. Die Existenz nicht-philosophischer Konzepte gesteht er dabei auch vor dem 18. Jahrhundert zu, vgl. S. 23: »This does not mean, however, that before that time there were no play concepts operative in post Hellenic thought. On the contrary, the Middle Ages, the Renaissance, and the Baroque can be seen as some of the most playful ages in Western History (…).« Allerdings versagt er sich deren Berücksichtigung wegen Platz- und Zeitbeschränkungen. Seine Studie greift erheblich zurück auf Heidemann, Ingeborg: Der Begriff des Spieles und das ästhetische Weltbild in der Philosophie der Gegenwart. Berlin: De Gruyter, 1968 (was er selbst anmerkt, vgl. Spariosu (1989), Dionysus, S. 2), die ebenfalls nichts über Mittelalter und Renaissance zu berichten weiß und sich zentral mit Kant und Heidegger auseinandersetzt. 15 Vgl. Spariosu, Mihai: God of Many Names. Play, Poetry, and Power in Hellenic Thought From Homer to Aristotle. Durham und London: Duke University Press, 1991, die Beziehung zu Dionysus Reborn stell Spariosu auf S. X selbst her.

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ausloten.16 Sogar wo erklärtermaßen eine Genealogie des Spiels das Ziel ist, wie bei Mechthild Nagel, wird nach den Vorsokratikern, Platon und Aristoteles sofort zu Kant und Schiller übergegangen: »I will leap over the medieval period, dominated by Catholic intellectual thought and indebted to Aristotelian philosophy.«17 Überblicksmäßige Darstellungen spielphilosophischer Ansätze wie Stephan Grätzels publizierte Vorlesungen über Spielphilosophie setzen ebenfalls bei Kant oder, wie Renata Viti Cavalieres Filosofia del gioco, bei Heidegger, Kant und Schiller ein.18 Im jüngst erschienen Sammelband Spiel: Facetten seiner Ideengeschichte widmet sich nur ein einziger Artikel zu Cusanus’ De ludo globi einem mittelalterlichen spielphilosophischen Text.19 Eine ähnliche Fokussierung auf neuzeitliche Ansätze findet sich gleichermaßen in der Aufsatzsammlung The philosophy of play, in der vormodernen Entwürfen gar keine Behandlung zugebilligt wird.20 Als Jörg Neuenfeld seine ausführliche Geschichte des Spiels im 16 Vgl. Aichele, Alexander: Philosophie als Spiel. Platon Kant Nietzsche. Berlin: Akademie Verlag, 2000, es handelt sich um das Heraklitfragment B 52, vgl. S. 15; die Arbeit ist ihrer Konzeption nach allerdings auch auf Nietzsche hin ausgerichtet und versucht, eine für sein Denken konstitutive philosophische Tradition nachzuvollziehen, vgl. S. 9–13. 17 Nagel, Mechthild: Masking the Abject: A Genealogy of Play. Lanham: Lexington Books, 2002, S. 59. 18 Vgl. Grätzel, Stephan: Der Ernst des Spiels. Vorlesungen zu einer »Philosophie des Spiels«. Hrsg. von Joachim Heil und Astrid Schollenberger. London: Turnshare, 2004, zum Beginn bei Kant mit einer expliziten Abgrenzung zu Wittgenstein vgl. S. 13–19; Cavaliere, Renata Viti: Filosofia del gioco. Neapel: SEN, 1983, das erste Kapitel zu Heidegger auf den S. 9–44, zu Kant und Schiller S. 129–150. Auch aktuellere Werke philosophischer Begriffsbestimmung von ›Spiel‹ greifen selbstverständlich zuerst zu Kant, vgl. etwa Bencivenga, Ermanno: Filosofia in gioco. Rom/Bari: Laterza, 2013, S. 5, der hier ebenfalls mit einem Zitat aus der Kritik der Urteilskraft einsetzt. 19 Vgl. Kowalewicz, Michel Henri (Hrsg.): Spiel. Facetten seiner Ideengeschichte. Münster : Mentis, 2013, der Sammelband verfolgt eine Begriffsgeschichte mit dezidiert modernem Schwerpunkt, wobei wieder das 18. Jahrhundert Ansatzpunkt ist, vgl. S. 10: »Es sollten gerade die Divergenzen im Wort- oder Begriffsgebrauch und die sehr unterschiedlichen Kontexte deutlich werden, in denen ›Spiel‹ seit dem 18. und besonders im 20. Jahrhundert eine wachsend große Bedeutung erlangte. Denn nur dadurch kann der Frage nachgegangen werden, warum der Begriff des Spiels stets an Faszination gewonnen hat.« 20 Vgl. Ryall, Emily ; Russell, Wendy und MacLean, Malcolm (Hrsg.): The Philosophy of Play. New York: Routledge, 2013, eine kleine Geschichte philosophischer Spielkonzepte explizit nach Spariosu, die Antike und Deutschen Idealismus bespricht, findet sich in der Einleitung auf den S. 2–4. Auch der unter anderem pädagogische Schwerpunkt der Sammlung ändert an der Auslassung vormoderner Ansätze nichts, obwohl etwa der Pädagoge Scheuerl, Hans (Hrsg.): Das Spiel. Band 2: Theorien des Spiels. Weinheim und Basel: Beltz, 1991, S. 13–16, schon auf die lange theoretische Geschichte von Spielen hingewiesen hatte. Allerdings setzt seine Theoriensammlung trotzdem mit der Aufklärung ein. Die ebenfalls pädagogisch orientierte italienische Aufsatzsammlung Il gioco in Occidente hingegen spricht Mittelalter und Renaissance zwar mannigfaltige ludische Praktiken zu. Doch selbst Franco Cambi, der durchaus spielpädagogische Ansätze der Renaissance wie bei Vittorino da Feltre berücksichtigt, begreift die Geschichte seiner (pädagogischen) Theorie als auf Kant hingeordnete Progressionsgeschichte: »Sono approfondimenti – tutti quanti: da Vittorino a Kant – di quel

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Sinne einer modernen Utopie mit einer Darstellung der ästhetischen Begründung des Spielbegriffs um 1800 und Kant begann, legitimierte er den späten Anfang damit, dass eine philosophische Sicht auf das Phänomen Spiel über Jahrhunderte schlicht durch dessen Selbstverständlichkeit erschwert worden sei. Und wenn auch mitunter jemand einen Blick darauf geworfen habe, so »verhinderte eine unterschwellige, aber stets greifbare Geringschätzung des Spiels als reiner und kurzweiliger Zeitvertreib die mühsame philosophische Begriffsarbeit.«21 Mindestens bei einem Blick auf die dezidiert philosophische Sekundärliteratur muss also überraschen, wie verbreitet die Einschätzung einer nicht existierenden mittelalterlichen und rinascimentalen philosophischen Auseinandersetzung mit Spielen ist. Obwohl Geschichts- und LiteraturwissenschaftlerInnen die Vielfalt vormoderner Spielpraktiken ausführlicher als die Philosophen und Philosophinnen dargelegt haben, konnten diese Arbeiten aus benachbarten Disziplinen die philosophiegeschichtlichen Mängel doch nur punktuell beheben. So hat etwa der Mediävist Arno Borst die Geschichte der mittelalterlichen Rythmomachia, des Spiels der Philosophen, gründlich aufgearbeitet und nachdrücklich auf die Komplexität mittelalterlicher Spieltheorien hingewiesen, ohne jedoch deren Zusammenhänge weiter erforscht zu haben.22 In seiner einschlägigen Studie zu Literatur als Rekreation im Mittelalter bezog Glending Olsen zwar ebenfalls Reflexionen über das Spiel bei Thomas von Aquin ein, ließ aber deren philosophiehistorische Implikationen außen vor.23 Ebenfalls aus literaturwissenconcetto di ludus che poi anche il razionalismo e l’empirismo hanno, a loro modo, interpretato. (…) Possiamo dire – allora – che tutto l’arco filosofico della Modernit/ produce una, via via, piF sensibile e piF alta (di piF alto significato e simbolico e teoretico) attenzione al gioco (…).« (Cambi, Franco: Il gioco nella Modernit/: le prassi e le teorie. In: Cambi, Franco und Staccioli, Gianfranco (Hrsg.): Il gioco in Occidente. Storie, teorie, pratiche. Rom: Armando, 2007, S. 49–61, hierzu S. 59). 21 Vgl. Neuenfeld, Jörg: Alles ist Spiel. Zur Geschichte der Auseinandersetzung mit einer Utopie der Moderne. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2005, S. 16, der an gleicher Stelle fortfährt: »Daher ist es nicht ungewöhnlich, dass das Spiel in der Philosophiegeschichte bis in das 18. Jahrhundert hinein nur am Rande erwähnt wird, und zwar zumeist in pejorativer Absetzung zur Erkenntnistätigkeit und zu den Anforderungen der alltäglichen Lebenswelt. Obwohl jeder Mensch spielte, tat er dies doch zuweilen mit einem schlechten Gewissen.« 22 Vgl. Borst, Arno: Das mittelalterliche Zahlenkampfspiel. Heidelberg: Carl Winter, 1986, sowie ders.: Was uns das Mittelalter zu sagen hätte. Über Wissenschaft und Spiel. In: Historische Zeitschrift 244 (1987), S. 537–555, der hier zwar besonders die Ansätze von Gelehrten der Pariser Universität wie Roger Bacons oder des Thomas von Aquin knapp herausstellt, vgl. S. 547–552. Wenn er jedoch behauptet, Thomas von Aquin stelle sich mit seiner Spieltheorie gegen seinen Lehrer Albertus Magnus, durchschaut er den Zusammenhang beider Ansätze nicht, wie wir im Kapitel Vorspiel sehen werden. Bei der Rythmomachia handelt es sich um ein Spiel basierend auf boethianischer Mathematik, zur philosophischen Dimension vgl. auch Moyer, Ann E.: The Philosopher’s Game. Rithmomachia in Medieval and Renaissance Europe. Ann Arbor : The University of Michigan Press, 2001. 23 Vgl. Olsen, Glending: Literature as Recreation. Ithaca und London: Cornell University Press,

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schaftlicher Perspektive verfolgte Stefan Matuschek literarische Spieltheorien zwischen Petrarca und den Brüdern Schlegel und gab einige wichtige Hinweise zu philosophischen Konzepten des Spielens in der Renaissance samt ihren relevanten Quellen. Dabei widmete er allerdings einer Philosophie des Spielens naheliegenderweise nicht sein Hauptaugenmerk.24 Jüngst bereicherte Jörg Sonntag die Historiographie des Spielens um einen Sammelband zur bislang vernachlässigten klösterlichen Spielkultur, wobei auch theoretische Ansätze angesprochen, allerdings nicht eingehender analysiert wurden.25 Diese wichtige Erweiterung der Spiel- und Sportgeschichtsschreibung (deren Forschungsgegenstände sich selbstverständlich nicht streng gegeneinander abgrenzen lassen) verweist auf deutliche Lücken in beiden Disziplinen, die, soweit ich sehe, ebenfalls philosophische Beschäftigungen mit Spielen betreffen.26 Nicht zuletzt hat auch George McClure im Zuge einer Untersuchung der Rolle von Frauen in Konversationsspielen der Renaissance einen kleinen Überblick zur Spieltheorie gegeben, der sich jedoch auf giochi di conversazione des italienischen Cinquecento und literarische Quellen beschränkt.27 All diese Arbeiten waren für die vorliegende Studie zwar von eminenter Bedeutung, doch das Spiel als eigenständiges philosophisches Thema hat keine von ihnen näher beachtet. Eine eingehende Würdigung philosophischer Ansätze fehlt selbst dort, wo sich WissenschaftlerInnen verschiedenster Disziplinen ausschließlich dem

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1982, zu philosophischen Spieltheorien vor allem S. 90–100, wo sich Olsen auf die Rezeption der Nikomachischen Ethik des Aristoteles bei Thomas von Aquin konzentriert. Vgl. Matuschek, Stefan: Literarische Spieltheorien von Petrarca bis zu den Brüdern Schlegel. Heidelberg: Winter, 1998, zur Spielphilosophie bei Platon und Aristoteles S. 25–32. In einer ebenfalls literaturwissenschaftlichen, von Klaus W. Hempfer und Helmut Pfeiffer herausgegebenen Aufsatzsammlung zu rinascimentalen Spielwelten finden sich auch Behandlungen der Philosophen Nicolaus Cusanus und Girolamo Cardano, deren erkenntnistheoretische Nutzbarmachung von Spielen explizit angesprochen wird, vgl. Hempfer, Klaus W. und Pfeiffer, Helmut (Hrsg.): Spielwelten. Performanz und Inszenierung in der Renaissance. Stuttgart: Franz Steiner, 2002, zur Einordnung der Aufsätze Mark Föckings zu Cusanus und Stefan Hartungs zu Cardano vgl. das Vorwort S. IX–XI. Vgl. Sonntag, Jörg (Hrsg.): Religiosus ludens. Das Spiel als kulturelles Phänomen in mittelalterlichen Klöstern und Orden. (=Arbeiten zur Kirchengeschichte Band 122) Berlin und Boston: De Gruyter, 2013, mit der Untersuchung der Klöster und Orden kommt diesem Aufsatzband zugleich das Verdienst zu, andere Sozialräume als den bislang fokussierten Hof für eine Geschichte des Spielens zu erschließen, vgl. ibid., S. 2–3. Zu aktuellen Entwicklungen der Spielgeschichtsschreibung vgl. die Zeitschrift Ludica. Annali di storia e civilit/ del gioco 1 (1995) ff., sowie die dazu gehörige, gleichnamige Monographienreihe, zur Sportgeschichte vgl. etwa den Sammelband von McClelland, John und Merrilees, Brian (Hrsg.): Sport and Culture in Early Modern Europe / Le sport dans la civilisation de l’Europe pr8-moderne. Toronto: Centre for Reformation and Renaissance Studies, 2009, in dem sich Yvan Morin (S. 391–408) zwar mit Ficinos Sicht auf körperliche Ertüchtigung, jedoch nicht eingehender mit Verbindungen zu philosophischen Diskussionen von Spielen beschäftigt. Vgl. McClure, George: Parlour Games and the Public Life of Women in Renaissance Italy. Toronto/Buffalo/London: University of Toronto Press, 2013, zur Spieltheorie S. 3–28.

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Spielen in der Renaissance gewidmet haben. Die nach wie vor umfangreichste Aufsatzsammlung zu diesem Thema haben Phillipe AriHs und Jean-Claude Margolin herausgegeben. Unter dem Titel Les jeux / la Renaissance versammelten sie im Jahre 1982, basierend auf einem 1980 abgehaltenen Kolloquium, eine beindruckende Auswahl an Perspektiven auf rinascimentales Spielen.28 Ohne im Rahmen dieser Arbeit die zahlreichen und wichtigen Ansätze des Bandes erschöpfend darstellen zu können, muss doch attestiert werden, dass philosophische Auseinandersetzungen mit dem Spiel hier allenfalls randständig behandelt werden. Gleiches gilt für den von Paolo Febbraro herausgegebenen, aus einem Kongress im Jahre 1991 entstandenen Sammelband zur Literatur des Spiels und der Vergnügungen zwischen dem 12. und 16. Jahrhundert, der die philosophische Literatur gänzlich vernachlässigt.29 Dagegen benennt Alessandro Arcangelis Studie über Recreation in the Renaissance zwar zahlreiche für die folgenden Analysen höchst relevante Diskurse und war für die vorliegende Arbeit unverzichtbar.30 Doch versteht sich die Arbeit ausdrücklich auch als Ausarbeitung eines Hinweises Peter Burkes, der in einem Aufsatz Ende des letzten Jahrhunderts eine auf Norbert Elias’ Zivilisationsprozess basierende These von der Entstehung einer eigenständigen leisure culture im frühneuzeitlichen Europa vertrat.31 Sie ist daher weniger an detaillierteren Einzelanalysen von Kon-

28 Vgl. AriHs, Philippe und Margolin, Jean-Claude (Hrsg.): Les jeux / la Renaissance. (=De P8trarque a Descartes XLIII) Paris: Vrin, 1982. Der Band enthält knappe Aufsätze zu Nicolaus Cusanus (S. 354–366), Juan Luis Vives (S. 469–487) und Michel Montaigne (S. 325–341), aber kaum Hinweise auf eine spezifisch philosophische Diskussion um Spiele. 29 Vgl. Febbraro, Paolo (Hrsg.): Passare il tempo. La letteratura del gioco e dell’intrattenimento dal XII al XVI secolo. Atti del convegno di Pienza, 10/14 settembre 1991, 2 Bände. Rom: Salerno, 1993. 30 Vgl. Arcangeli, Alessandro: Recreation in the Renaissance. Attitudes Towards Leisure and Pastimes in European Culture, c. 1425–1675. Houndmills/New York: Palgrave, 2003. 31 Vgl. ibid., S. VIII, zum Ansatz Burkes vgl. Burke, Peter : The Invention of Leisure in Early Modern Europe. In: Past & Present 146 (1995), S. 136–150. Der These widersprach Marfany, Joan Llu&s: The Invention of Leisure in Early Modern Europe. In: Past & Present 156 (1997), S. 174–191, worauf wiederum Burke, Peter : The Invention of Leisure in Early Modern Europe. Reply. In: Past & Present 156 (1997), S. 192–197 antwortete. Burkes Annahme, im Zuge zunehmender Disziplinierung der Gesellschaft und der immer weniger spielerischen Arbeit sei leisure zu einem Bereich ernsthaften Interesses geworden, setzt Marfany unter anderem den Hinweis entgegen, dass es leisure wenigstens in der Oberschicht, aber wohl auch bei einfachen Menschen schon immer gegeben habe. Sie sei in den grundsätzlichen Formen darüber hinaus gleich geblieben. Burke wiederum widersetzte sich dieser (nach seiner Meinung) Gleichsetzung von Natur und Kultur und betonte, dass das handlungsleitende Konzept leisure nicht vor dem 18. Jahrhundert aufgetreten sei. Insofern beide jedoch übereinstimmen, dass leisure als Konzept im Untersuchungszeitraum der folgenden Analysen ganz offenbar nicht existierte, werde ich den Begriff im Folgenden auch nicht verwenden. Zu Elias’ These eines Zivilisationsprozesses, der eine zunehmende Selbstkontrolle von Individuen seit dem Mittelalter bedinge, vgl. Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zi-

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zepten interessiert, als vielmehr am Nachweis diskursiver Tendenzen in einem breiteren Kulturpanorama. Dass man sich bei der Identifikation philosophischer Stimmen zum Spiel dabei mit spezifischen Problemen konfrontiert sieht, beweist Manfred Zollingers grundlegende und umfangreiche Bibliographie der Spielbücher, die verständlicherweise nur Publikationen versammelt, deren zentraler Fokus auf Spielen liegt.32 Der Umstand, dass unter den 165 in der Rubrik »Theoretische Texte« versammelten Drucken fast keine philosophischen Werke zu finden sind, erklärt sich nicht zuletzt aus der Eingebundenheit philosophischer Spielanalysen in größere, eben nicht spielspezifische Werkkontexte – etwa, wie wir sehen werden, in die Kommentartradition zur Nikomachischen Ethik des Aristoteles. Als letzte Stimme aus der bisherigen Forschungsliteratur, bevor ich die Thesen der vorliegenden Arbeit skizziere, sei noch derjenige Philosophiehistoriker genannt, der sich, soweit ich sehe, bislang als einziger etwas ausführlicher zur philosophischen Geschichte des Spielens zwischen Antike und Deutschem Idealismus geäußert hat: Colas Duflos Untersuchung Le jeu. De Pascal / Schiller ist sicherlich nicht die fehlende Beachtung spielphilosophischer Entwürfe des Mittelalters und der Renaissance vorzuwerfen, und allein deswegen gebührt ihr schon eine herausgehobene Stellung als Orientierungspunkt für die folgenden Analysen. Allerdings reduziert auch Duflo die Komplexität nachantiker Spielphilosophie auf eine allein moralphilosophische Dimension. Seine Analyse nimmt ihren Ausgang von der Feststellung, dass Schiller als »le moment significatif« zu sehen sei, in dem sich ein moderner Begriff von Spiel herausgebildet habe.33 Doch entstehe dieser Ansatz nicht ex nihilo, insofern ihm einerseits anthropologische Diskussionen des 18. Jahrhunderts, andererseits die Erwähnungen des Spielens in theoretischen Texten von Theologen, Philosophen, Moralisten oder Wissenschaftlern von der Antike bis zur Neuzeit vorausgehen. Dabei sei letztere, ausgesprochen repetitive Geschichte im Grunde kurz erzählt: Entweder habe man das Spiel auf seinen ethischen Wert hin befragt, oder aber, sehr spät in der Geschichte, einige seiner epistemisch gewinnbringenden Elemente erkannt. Erstere Linie, in der dem Spiel nur rekreativer Wert zugesprochen und eine eutrapelia genannte Tugend des Maßhaltens im Ludischen vorgeschrieben worden sei, setze nach Duflo schon mit Aristoteles und seiner Nikomachischen Ethik ein, werde im europäischen Mittelalter durch Thomas von vilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 2 Bände. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1976. 32 Vgl. Zollinger, Manfred: Bibliographie der Spielbücher des 15.–18. Jahrhunderts. Erster Band: 1473–1700. Stuttgart: A. Hiersemann 1996, zum Spiel-Verständnis darin vgl. ders.: Aspekte des Spiels. Bemerkungen zur Eingrenzung des für die Bibliographie zu verwendenden Spiel-Verständnisses. In: Bauer, Günther G. (Hrsg.): Homo ludens. Der spielende Mensch. Band 3. München/Salzburg: Katzbichler, 1993, S. 279–286. 33 Duflo, Colas: Le jeu. De Pascal / Schiller. Paris: Presses Universitaires de France, 1997, S. 13.

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Aquin vermittelt und bestehe bis ins 18. Jahrhundert fort.34 Ein tugendhaft geregeltes Spiel habe man dem Aquinaten nach vor allem zur Erholung des Geistes nach anstrengenden Studien gebrauchen dürfen.35 Mit der mathematischen Beschreibung aleatorischer Spiele im 17. Jahrhundert, der Entwicklung der Stochastik also, beginne jedoch eine Wertschätzung der erkenntnisstiftenden Aspekte von Spielen.36 Bei Gottfried Wilhelm Leibniz etwa beschränke sich diese neue Dimension wissenschaftlicher Spielbetrachtung nicht nur auf mathematische Analyse. Er betone zudem den kreativen Aspekt ludischer Praktiken, wenn er etwa feststelle: »Die Menschen sind niemals einfallsreicher als bei der Erfindung von Spielen; der Geist fühlt sich hier am wohlsten.«37 Hingewiesen hat Duflo dabei auch auf einen bemerkenswerten Text des Universalgelehrten, in dem dieser unter dem Titel Drile de pens8e im Jahre 1675 eine Sozietät von Gelehrten imaginiert, die allerlei Kuriositäten präsentieren und Vorführungen veranstalten solle, von Feuerwerken, Laterna-MagicaVorstellungen bis zu Maschinendarbietungen, Glücksspielen und Tennisspielen, ja die sogar eine eigene Academie des jeux unterhalten müsse.38 In dem von Leibniz unter den Eindrücken einer Paris-Reise skizzierten Gelehrtenprojekt sind die so zusammenwirkenden zahllosen Perspektiven und Einsichten nicht nur Anlass, die Menschen über nutzbringende Neuheiten zu informieren, sondern geben Anregungen zu stetig neuen Erfindungen.39 Spiele haben hierbei einen festen Platz innerhalb vielfältiger Erkenntnissuche, zumal Leibniz selbst neben der Überschrift seiner handschriftlichen Notiz über den Drile de pens8e vermerkt: »plus tost Academie des Ieux.«40 Entsprechend ließe sich die philosophische Geschichte des Spielens nach Duflo folgendermaßen erzählen: Im Mittelalter bei Thomas von Aquin war das Spiel noch allein Erholungsmittel für 34 35 36 37

Vgl. ibid., S. 14–23. Vgl. ibid., S. 19. Vgl. ibid., S. 24. C.J. Gerhardt (Hrsg.): Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz. Band III. Hildesheim: Olms, 1960, S. 667 (Brief an R8mond de Montmort): »Les hommes ne sont jamais plus ing8nieux que dans l’invention des jeux; l’esprit s’y trouve / son aise.« Den Brief zitiert Duflo (1997), Le jeu, auf den S. 28–29. Zum mathematischen Spielinteresse von Leibniz vgl. auch Leibniz, Gottfried Wilhelm: L’estime des apparances. 21 manuscrits de Leibniz sur les probabilit8s, la th8orie des jeux, l’esp8rance de vie. Ed., übers., eingl. und mit Anm. versehen von Marc Parmentier. Paris: Vrin, 1995, S. 267–281. 38 Vgl. Leibniz, Gottfried Wilhelm: Drile de pens8e, touchant une nouvelle sorte de repr8sentations. In: Ders.: Sämtliche Schriften und Briefe. Vierte Reihe, Band 1. Berlin: Akademie Verlag, 1983, S. 562–568. 39 Vgl. ibid., S. 565, hierzu Lazardzig, Jan: Die Maschine als Spektakel. Funktion und Admiration im Maschinendenken des 17. Jahrhunderts. In: Schramm, Helmar et al. (Hrsg.): Instrumente in Kunst und Wissenschaft. Zur Architektonik kultureller Grenzen im 17. Jahrhundert. Berlin: De Gruyter, 2006, S. 167–193. 40 Vgl. Leibniz (1983), Drile de pens8e, S. 562 Anm. 1.

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den geistig Arbeitenden, doch für Leibniz wird es in der Akademie der Spiele nun ganz im Gegenteil ein Modus (oder besser : viele verschiedene Modi) der Erkenntnissuche. Versucht man den Umgang bisheriger Forschung mit spielphilosophischen Ansätzen des Mittelalters und der Renaissance zusammenzufassen, so könnte man zwei grobe Tendenzen benennen: Entweder wurden die entsprechenden Entwürfe trotz Erwähnung nicht näher analysiert und mitunter auch ignoriert, oder man beschränkte sich auf eine mehr oder weniger »exemplarische« Fokussierung der Rezeption aristotelischer Spieltheorie bei Thomas von Aquin. Schon die von Colas Duflo benannten Problemfelder geben meines Erachtens jedoch Anlass, eine Erweiterung der bisherigen Forschungsergebnisse anzustreben. Vor allem in Anbetracht einer ludischen Wissenssuche bei Leibniz stellt sich die Frage, wie Spiele überhaupt zu einem denkbaren Gegenstand oder Mittel wissenschaftlicher Analysen werden konnten, wenn sie doch bei Thomas von Aquin und im Mittelalter angeblich nur rekreative Funktion für den Philosophierenden oder für den wissenschaftlich Arbeitenden generell innehatten. Es scheint, auch vor dem Hintergrund der eingangs zitierten Bemerkung Pomponazzis, zumindest unwahrscheinlich, dass sich vor dem Ansatz Leibniz’ keine alternativen Konzepte des Verhältnisses von wissenschaftlicher Arbeit und Spiel herausgebildet haben oder wenigstens eine graduelle epistemische Aufwertung von Spielen. Die vorliegende Studie versucht, ausgehend von der bislang in der Forschung fokussierten aristotelischen Spielphilosophie, eine Erweiterung der philosophischen Geschichte des Spielens um zwei komplementäre Aspekte. Sie stellt einerseits eine Vielfalt an Perspektiven dar, die Philosophierende zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit in Bezug auf Spiele entwickelt haben. Sie betont nachdrücklich, dass ein Verweis auf die von Aristoteles angenommene Erholungsfunktion nicht der exklusive philosophische Ansatz zur Beschreibung von Spielen gewesen ist. Andererseits wird der tatsächlich verbreitete Einfluss der aristotelischen Theorie auf das philosophische Schreiben über Spiele eingeräumt, ohne jedoch diese Theorie zu einem vermeintlich starren Bedingungsgefüge zu erklären, auf dessen Grundlage Philosophen fortwährend unkritisch den im Grunde gleich bleibenden Ansatz reproduzierten. Vielmehr soll eine plurale Dynamik soziokultureller Aneignungen aristotelischer Spielphilosophie herausgestellt werden, die den variablen Einfluss dieses Deutungsschemas ludischer Praktiken und insbesondere der aristotelischen Unterscheidung von Spielen und Philosophieren verdeutlicht. In zwei ausführlichere Thesen gefasst bedeutet dies: Erstens wendet sich die Arbeit gegen die vielfach wiederholte Rhetorik eines gänzlichen Neuanfangs der Spielphilosophie bei Friedrich Schiller oder Immanuel Kant. In Mittelalter und Renaissance haben sich nicht wenige Philoso-

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phierende eingehend mit Spielen befasst. Die folgenden Kapitel sind einigen dieser Ansätze gewidmet und damit der Korrektur ihrer weitgehenden Ausblendung in der Philosophie- und Geistesgeschichte. Nicht nur soll dabei gezeigt werden, dass sich die Geschichte der bisher in der Forschung bevorzugt thematisierten aristotelischen Spieltheorie komplex und keinesfalls homogen darstellt. Das Hauptaugenmerk liegt vielmehr auf der Herausstellung der Pluralität vormodernen Philosophierens über Spiele, das, wie zu zeigen sein wird, facettenreichere Ansätze als allein die aristotelische Spieltheorie in der Auslegung des Thomas von Aquin hervorgebracht hat. Demonstriert werden soll dies an ausgewählten philosophischen Texten en d8tail, und zwar in möglichst unterschiedlichen sozialen Feldern und Perspektiven. Die entsprechenden Texte werden darauf befragt, welche Probleme Philosophen diskutierten, welche Lösungsansätze sie entwarfen, welche Methoden sie einsetzten und auf welche Texte/Theorien sie zurückgriffen, wenn sie Spiele beobachteten, beschrieben oder für ihre Argumentationen nutzbar machten. Obschon folglich kein Überblick mit dem Anspruch einer vollständigen Beschreibung aller philosophisch relevanten Diskussionen um Spiele41 in Mittelalter und Renaissance angestrebt wird, sondern der Nachweis von tatsächlich komplexen Möglichkeiten des philosophischen Umgangs mit Spielen, versteht sich die Arbeit zugleich als erste Orientierung im weitläufigen und bislang weitgehend unbearbeiteten Feld mittelalterlicher und frühneuzeitlicher philosophischer Beschäftigung mit Spielen. Ich werde mich dabei vornehmlich auf Spielkonzepte des 15. und 16. Jahrhunderts konzentrieren, beginnend beim einzigen spielphilosophischen Ansatz zwischen Thomas von Aquin und Immanuel Kant, der seinen Weg ins Historische Wörterbuch der Philosophie gefunden hat: Dem Dialog De ludo globi des Nicolaus Cusanus. Nicht nur kann Cusanus dabei als erster gut erforschter Ausgangspunkt für weitere Exkursionen der spielphilosophischen Gemengelage fungieren. Auch werden gerade dem Zeitraum zwischen Spätmittelalter und 41 Hier wäre zu fragen, was als eine »philosophisch relevante Diskussion um Spiele« zu gelten habe. Die Unschärfe des Adjektivs »philosophisch« und das breite Bedeutungsspektrum des Begriffs »Spiel« gestatten, die Theatergeschichte ebenso wie die Literaturgeschichte, die Geschichte höfischer Spiele und das weite Feld rinascimentaler Musik (um nur einige Beispiele zu nennen) zu legitimen Untersuchungsgebieten zu erklären – dass eine solchermaßen (un)definierte Menge an potentiellen Quellen im Rahmen dieser Arbeit schon allein forschungsökonomisch nicht zu bewältigen wäre, leuchtet wohl unmittelbar ein. Insofern es in dieser Studie allerdings nicht um Vollständigkeit geht, erlaube ich mir, auf eine trennscharfe globale Definition von »philosophisch relevanten Diskussionen um Spiele« zu verzichten. Als ein Kriterium für die Auswahl der zu behandelnden Texte stelle ich allerdings die Bedingung, dass diese Texte selbst eine Verbindung von Philosophie und Spiel herstellen – schließlich geht es um eine historische Analyse, d. h. eben nicht um die Frage, was aus moderner Perspektive an diesen Quellen »philosophisch« oder »Spiel« sein könnte, sondern wie das Verhältnis dieser beiden zu einer bestimmten Zeit tatsächlich konzipiert werden konnte.

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Früher Neuzeit in der Forschung vielfache Transformationen von Wissensbeständen und als Charakteristikum eine bewusste Reflexion auf bestehende Pluralitäten unterstellt. Er scheint mit seiner hohen epistemischen Dynamik daher bestens dafür geeignet zu prüfen, inwiefern schon vor Kant und Schiller heterogene philosophische Bestimmungen des Ludischen möglich waren.42 Wenn es allerdings zutrifft, dass sich der Zeitraum des Übergangs zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit durch Transformationen oder Neubewertungen von Wissensbeständen auszeichnet, dann muss weitergehend gefragt werden, ob dies ebenfalls für die in dieser Arbeit behandelten Philosophen gilt, und welche Wissensbestände sie bei ihrem Philosophieren über Spiele heranzogen und verarbeiteten. Es wird sich zeigen, dass die spielphilosophischen Ansätze während der Renaissance in verzweigten Kontinuitäten stehen, selbst wenn sie mit diesen brechen, wobei vor allem die scholastische Auslegung aristotelischer Spieltheorie einen zentralen Orientierungspunkt darstellt. Dass diesem Diskurs folglich eine gewichtige Rolle für rinascimentales Denken über Spiele zukommt, ist Ausganspunkt der zweiten These dieser Arbeit. Zweitens soll dargelegt werden, dass das Philosophieren über Spiele einen dynamischen Bezugspunkt im aristotelischen Deutungsschema ludischer Praktiken fand, welches den epistemischen Status43 von Spielen zwar durch die 42 Vgl. hierzu etwa Flasch, Kurt: Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli. Stuttgart: Reclam, 2000, S. 627–631, der die Abhängigkeit zahlreicher tatsächlicher Zäsuren in diesem Zeitraum von Kontinuitäten betont, bspw. auf S. 630: »Das Mittelalter hatte die Texte aufbewahrt und wiederhergestellt, auf die man sich um 1500 stützen konnte. Es hatte eine Vielzahl theoretischer Modelle erprobt, deren Scheitern von Leonardo Bruni, von Valla und Cusanus demonstriert wurden [sic]. Daß man neue Wege einschlagen müsse, um die Natur und die Gesellschaft zu begreifen, das war um 1450 für einen nachdenklichen Beobachter, der sich die radikalsten Analysen nicht vom Leibe hielt, wohl zu erkennen.« Auch Klaus W. Hempfer hat bei seiner vielzitierten Auseinandersetzung mit dem Renaissancebegriff dafür argumentiert, dass die Renaissance sich nicht durch eine Pluralisierung selbst, sondern durch eine intensive Reflexion auf Pluralität auszeichne, vgl. Hempfer, Klaus W.: Probleme traditioneller Bestimmungen des Renaissancebegriffs und die epistemologische Wende. In: Ders. (Hrsg.): Renaissance. Diskursstrukturen und epistemologische Voraussetzungen. Literatur – Philosophie – Bildende Kunst. Stuttgart: Franz Steiner, 1993, S. 9–45. Mit dem relativ offenen Begriff Transformation versuche ich einerseits, nicht das Neue ohne Kontinuität zu sehr zu betonen, andererseits den Begriff Pluralisierung zu vermeiden, da der strenge Nachweis einer tatsächlichen Pluralisierung von Spielphilosophien im Rahmen dieser sich auf das 15. und 16. Jahrhundert konzentrierenden Untersuchung ohnehin nicht geführt werden könnte (übrigens genauso wenig wie der Nachweis des Gegenteils). 43 Mit der Wendung epistemischer Status bezeichne ich diejenigen Positionen oder Funktionen, die Spielen in Ordnungen des Wissens explizit oder unausgesprochen innehatte, d. h. hinsichtlich der Produktion, Vermittlung, Darstellung oder Stabilisierung von Wissensordnungen – kurz gesagt, die Bestimmungen des Verhältnisses von Wissen und Spielen. Mögliche Bestimmungen betreffen demnach etwa die Fragen, welches Wissen man über Spielen gewinnen, mithilfe von Spielen produzieren oder durch Spielen vermitteln konnte, aber auch

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Konstituierung eines spezifischen Verhältnisses von Philosophieren und Spielen eingrenzte, von Philosophen jedoch ausgesprochen variabel interpretiert wurde. Diese zweite These konkretisiert die vorgestellte erste These: Die Pluralität rinascimentaler Spielphilosophien soll in vorliegender Studie gewonnen werden durch die Herausstellung einer Dynamik, die verschiedene Formen der Aneignung und Neubestimmung von Inhalten aristotelischer Spielphilosophie betrifft. Dabei geht es weder um den Nachweis allgemeiner Bedingungen, die für spielphilosophische Ansätze aus der breiten Rezeption des Aristoteles abzuleiten sind, noch um eine Untersuchung isolierter Alternativen, sondern um die Darstellung der vielfältigen soziokommunikativen Transformation des wirkmächtigen aristotelischen Spielkonzepts. Verkompliziert wurde diese Transformation vor allem durch den aristotelischen Spieldiskurs selbst, insofern Spielen in ihm nur den kontradiktorischen Gegensatz des Philosophierens ausmachte. Exponenten dieses Diskurses, wie der eingangs zitierte Roger Ascham, nahmen an, dass durch die Entspannung spielerischer Aktivitäten die Kapazität zu theoretischer Arbeit erneuert werde. Ludischen Praktiken fiel daher primär die Rolle zu, das Subjekt zu erneuter Erkenntnisproduktion zu befähigen, d. h. als notwendiges Gegenstück zur eigentlichen Wissensproduktion zu fungieren. Trotz der weiten Verbreitung dieses Deutungsmusters, die man mit begrenztem Erkenntnisgewinn anhand einer tatsächlich repetitiven Aneinanderreihung von Quellen illustrieren könnte, interessiere ich mich im Folgenden vielmehr für Momente der Irritation dieses Schemas, d. h. für Autoren, die von der aristotelischen Spielphilosophie ausgehend konzeptionelle Alternativen des Verhältnisses von Spielen und Philosophieren entwickelten. In Verbindung mit der ersten These ist damit auch das Korpus relevanter Quellen für die folgende Untersuchung eingrenzt, das ein Ensemble möglichst pluraler Umgangsweisen mit dem aristotelischen Spielkonzept darstellen soll. Als Dynamik lässt sich dabei das ambivalente Verhältnis dieser Texte zum aristotelischen Diskurs verstehen, das durch ein Oszillieren zwischen jeweils partieller Kongruenz und Devianz charakterisiert werden kann und ihnen als Bewegung einer Auseinandersetzung mit der aristotelischen Spielphilosophie eingeschrieben ist. Insofern dabei bestimmte Aneignungsmodi durch die enge Verknüpfung von Philosophie und Spiel im aristotelischen Diskurs schon vorgegeben sind, umfassen diese alternativen Konzepte des Spielens im Umwelche Möglichkeiten nicht genutzt oder explizit ausgeschlossen wurden. Diese Definition orientiert sich an Foucaults Begriff der Episteme, vgl. hierzu Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1981, S. 272–273: »Unter Episteme versteht man in der Tat die Gesamtheit der Beziehungen, die in einer gegebenen Zeit die diskursiven Praktiken vereinigen können, durch die die epistemologischen Figuren, Wissenschaften ermöglicht werden; (…) es ist die Gesamtheit an Beziehungen, die man in einer gegebenen Zeit innerhalb der Wissenschaft entdecken kann, wenn man sie auf der Ebene der diskursiven Regelmäßigkeiten analysiert.«

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kehrschluss auch eine Auseinandersetzung mit der Rolle der Philosophie, zumindest was ihr Verhältnis zu Spielen betrifft. Man kann daher die weitergehende Vermutung in den Raum stellen, dass in den Diskursen der Philosophie zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit die Differenz Spiel/Philosophie eine Möglichkeit für die kritische Diskussion von Konzepten des Philosophierens bot. Diese Möglichkeit deutete sich schon im anfangs aufgeführten Zitat Pomponazzis an, insofern die Opposition Spiel versus Philosophie zu einer Opposition Philosophie als Spiel versus Mathematik transformiert werden konnte. Zuvor habe ich von einer Komplementarität beider Aspekte gesprochen: Die Thesen ergänzen sich, insofern gezeigt wird, dass die Vielfalt philosophischer Perspektiven auf Spiele unter anderem durch verschiedene Bestimmungen des Verhältnisses von Philosophieren und Spielen entwickelt wurde. Gerade anhand dieser Vielfalt wird auch der variable Einfluss aristotelischer Deutungsmuster des Spielens aufzuzeigen sein. Ferner ist auch in Bezug auf diese heterogenen Entwürfe die allgemeinere Vermutung zu prüfen, ob die Thematisierung von Spielen in philosophischen Ansätzen Bedeutung für die Konzeptionalisierung des Philosophierens selbst haben konnte. Ich wähle bewusst und vorsichtig »konnte«, weil mir nicht daran gelegen ist, die offensichtlich abwegige Behauptung aufzustellen, diese Bedeutung sei von allen Philosophierenden in Mittelalter und Früher Neuzeit reflektiert oder wahrgenommen worden. Es soll jedoch geprüft werden, ob in Philosophiediskursen die Möglichkeit angelegt war, über den Begriff Spiel die Grenzen des Philosophierens selbst zu reflektieren. Der Titel vorliegender Studie trägt mit seiner Konjunktion entsprechend beiden Thesen Rechnung: Spielen und Philosophieren bezieht sich einerseits auf den Nachweis der Vielfalt philosophischer Perspektiven auf Spielen, andererseits auf das Verhältnis von Spielen und Philosophieren selbst. Bereits ersichtlich ist hieraus, dass in der folgenden Untersuchung nicht versucht wird, das Phänomen Spiel in seiner Gesamtheit zu beleuchten. Wie Stefan Matuschek mit Blick auf die lexikalische Spannweite des Begriffs Spiel im Grimm’schen Wörterbuch festgestellt hat, bleibe der Versuch ergebnislos, unter den zahlreichen Verwendungsvarianten etwas Konstantes zu abstrahieren.44 Ansprüchen oder Hoffnungen auf eine allgemeine oder den Philosophen/innen und Historikern/innen leicht handhabbare eindeutige Definition darf man daher wohl eine Absage erteilen. Schon das kurze Beispiel Pomponazzis hat diesbezügliche Komplikationen hinreichend aufgezeigt. Der Heterogenität des Wortgebrauchs liegt auch eine heterogene Geschichte der Spielkonzepte zugrunde: Entsprechend versteht sich die vorliegende Arbeit als Beitrag zu einer multiperspektivisch geprägten Kulturgeschichte des Spielens aus philosophiehistorischer Sicht. Im Fokus steht auf den folgenden Seiten allein die Geschichte 44 Vgl. Matuschek (1998), Literarische Spieltheorien, S. 3.

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der philosophischen Spielkonzepte zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Ihren Ausgang wird die Untersuchung bei einer Analyse des nun schon als Angelpunkt identifizierten aristotelischen Spieldiskurses nehmen – jedoch werde ich nicht diskursanalytisch im engeren Sinne verfahren, sondern bin vor allem bestrebt, in relationalen Analysen die Spielräume rinascimentalen Philosophierens über Spiele aufzudecken. Diese methodischen Grundlagen der folgenden Untersuchungen bedürfen nun zunächst der genaueren Klärung, worunter ich die Beantwortung der Fragen verstehe, wie im Folgenden vorgegangen und von welchen Voraussetzungen ausgegangen wird.

Methodische Grundlagen Da es im Folgenden um die Darstellung der Pluralität verschiedener spielphilosophischer Ansätze in Bezug zum aristotelischen Spieldiskurs gehen soll, ist sowohl eine isolierende Behandlung der Mikroebene wie auch die Verdeckung partikularer Diversität unter größeren makrogeschichtlichen Narrativen und Kategorien zu vermeiden. Um eine Dynamik zwischen vorhandener Struktur und Devianz, d. h. zwischen der Präsenz des relativ invarianten aristotelischen Deutungsschemas ludischer Praktiken und einer aus dessen Transformation in unterschiedlichen Kontexten entstehenden Pluralität beschreiben zu können, bedarf es eines flexibleren Modells philosophischer Textproduktion, das die Konzentration auf distinkte historische Momente bei gleichzeitiger Sensibilität für überindividuelle Konstanten erlaubt. Ich werde in einem ersten Schritt vor allem in Rückgriff auf Bourdieu und Foucault versuchen, über Definitionen des für diese Arbeit grundlegenden methodischen Instrumentariums, also über die nähere Bestimmung der Begriffe Diskurs, Habitus, philosophischer Text und sozialer Raum, ein derartiges Modell zu skizzieren; in einem zweiten Schritt werde ich im folgenden Abschnitt sodann erläutern, wie sich dieses Modell auf die Struktur der folgenden Untersuchungen auswirkt.45 Nachdrücklich hingewiesen sei noch darauf, dass ich keinem der beiden Theoretiker gänzlich folge, 45 Meine methodologische Grundhaltung orientiert sich damit an derjenigen Achim Landwehrs, der Bourdieus theoretische Arbeiten als mögliche Weiterentwicklungen des Diskurskonzepts Foucaults begreift, welches als zum Teil uneindeutig und fragmentarisch der Weiterentwicklung zur konkreten Applikation für empirische Untersuchungen bedarf, vgl. hierzu Landwehr, Achim: Historische Diskursanalyse. Frankfurt a. M.: Campus-Verlag, 2008, S. 79–84. Aufgrund der Heterogenität der im Folgenden verhandelten Texte werden in den Einzelkapiteln nochmals speziellere methodische Erwägungen anzustellen sein, um den jeweiligen Quellen gerecht werden zu können und nicht starr eine Methodenschablone über Texte ohne Ansehung ihrer Eigenheiten zu legen – die grundlegenden methodischen Erörterungen sind also jeweils nochmals den spezifischen Problemen des Einzeltextes anzupassen.

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sondern aus ihren Werken unterschiedliche methodische Instrumente gewinne, die kombiniert ein höheres Maß an akteurszentrierter Dynamik in die diskursanalytische Perspektive bringen sollen. Aus Foucaults Werkzeugkiste entnehme ich den Begriff Diskurs, der im Folgenden eine thematisch zusammenhängende Gruppe von Aussagen bezeichnet.46 Allein der thematische Zusammenhang konstituiert allerdings noch keinen Diskurs. Da nicht zu jeder Zeit alles, was gesagt werden könnte, tatsächlich gesagt wird, unterliegt die Aussageproduktion offensichtlich Bedingungen, die ich Diskursregeln oder diskursive Regeln nennen werde. Diese sind nicht im Sinne von Vorschriften zu verstehen, sondern betreffen die den Aussagen immanenten Existenzbedingungen. Hierunter verstehe ich durch Analyse der Quellen extrahierbare, den Aussagen zugrunde liegende Systeme, d. h. etwa Hierarchisierungen und Ordnungen von Dingen, Auslassungen oder regelmäßige Muster, auf deren Grundlage Wirklichkeit und Wissen konstruiert wird. Erst Gruppen von Aussagen, die in diesem Sinne nach gleichen oder ähnlichen Regeln gebildet werden, sind auf Grundlage dieser Existenzbedingungen als ein Diskurs zu bezeichnen.47 Es versteht sich, dass ich den Begriff Diskurs dabei als Analyseinstrument verwende (und nicht auffasse als selbst untersuchbares Objekt oder als eine Metaphysik der Quellen, die verborgen den Fortgang des Aussagens regelte), um Regelmäßigkeiten des Aussagens und deren Organisationsprinzipien sichtbar zu machen.48 Ebenso deutlich dürfte geworden sein,

46 Von seinen petites bo%tes / outils spricht Foucault in einem Interview unter dem Titel Des supplices aux cellules, vgl hierzu Foucault, Michel: Dits et Pcrits 1954–1988. Band II: 1970– 1975. Paris: Gallimard, 1994, S. 716–720, hierzu S. 720. Zum Diskursbegriff vgl. Foucault (1981), Archäologie, S. 170. Für die folgenden Ausführungen vgl. auch grundlegend Landwehr (2008), Historische Diskursanalyse, S. 91–99, des weiteren ders. (Hrsg.): Diskursiver Wandel. Wiesbaden: Springer, 2010, darüber hinaus Veyne, Paul: Foucault. Der Philosoph als Samurai. Stuttgart: Reclam, 2009, sowie ders.: Foucault. Die Revolutionierung der Geschichte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1992, ferner Sarasin, Philipp: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2003. 47 Vgl. für die dabei relevanten Faktoren Foucault (1981), Archäologie, S. 61–112, vgl. auch Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt a. M.: Fischer, 1991, grundsätzlich zum Diskursbegriff Landwehr (2008), Diskursanalyse, S. 20–22. Ich werde im Folgenden Diskurs von Diskursformation unterscheiden und mit letzterem Begriff eine Menge von Diskursen bezeichnen, die thematisch zusammenhängen. Beispielsweise wären die Diskussionen der Medizin eine Diskursformation, die eine bestimmte Menge an Diskursen umfasst. 48 Der Diskurs »macht« also meines Erachtens nichts, und er »existiert« auch nicht – was existiert, sind Singularitäten, d. h. Quellen in einer bestimmten Form, die auf ihre Voraussetzungen untersucht werden können. Auf ihrer Grundlage lassen sich Diskurse als theoretisches System des Aussagens zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Kontext (re)konstruieren, d. h. als Abstraktion, oder um es mit Paul Veyne zu sagen: »So wie die Funktionstüchtigkeit eines Motors nicht ein Teilstück dieses Motors ist, sondern die abstrakte Idee, dass der Motor funktioniert.« (Veyne (2009), Der Philosoph, S. 38).

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dass mir der Begriff im Folgenden eher zur Strukturierung größerer Textmengen oder zur Einordnung einzelner Aussagen in eine Serie von Aussagen dient. Nicht gelegen ist mir hingegen daran, eine Kollektivität des Diskurses zu behaupten und die Stimmen Einzelner nur als Echo überindividueller und statischer Strukturen zu betrachten. Für die folgenden Analysen nehme ich an, dass dasjenige Phänomen der Regelmäßigkeiten, das man hinsichtlich mehrerer Quellen Diskurs nennen kann, auf in mehreren Individuen verankerten Organisationsprinzipien des Aussagens beruht, die durch Sozialisation und Bildung habitualisiert sind.49 Unter Habitus verstehe ich nach Bourdieu Dispositionssysteme, die als Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmatrix fungieren. Diese Systeme werden ausgebildet als Verinnerlichung derjenigen äußeren Existenzbedingungen, die für eine bestimmte Umgebung konstitutiv sind, etwa materieller oder symbolischer Art – sie sind sozusagen die inkorporierte Geschichte von Individuen und ihren Erfahrungen.50 Gleiche und ähnliche Erfahrungen führen dabei zu ähnlichen Dispositionssystemen, die folglich zur Ausbildung ähnlicher Praktiken51 tendieren, wozu auch Diskurse als sprachliche Praktiken 49 Für eine ähnliche Verbindung der Ansätze Bourdieus und Foucaults vgl. Füssel, Marian und Neu, Tim: Doing Discourse. Diskursiver Wandel aus praxeologischer Perspektive. In: Landwehr (2010), Diskursiver Wandel, S. 213–235, hierzu S. 220–222, auch S. 230: »Eine praxeologisch erweiterte Diskursanalyse ist mithin keine integrative Metamethode, sondern ermöglicht eine mikrologische Nahsicht auf historische Wandlungsprozesse, die ansonsten mitunter auf einer relativ abstrakten Ebene gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen verbleiben.« 50 Vgl. Bourdieu, Pierre: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1976, S. 164–169, vgl. auch Fröhlich, Gerhard und Rehbein, Boike (Hrsg.): Bourdieu Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar : Metzler, 2014, S. 110–118, vgl. zudem die prägnante Beschreibung des Habitus bei Krais, Beate und Gebauer, Gunter : Habitus. Bielefeld: transcript, 2002, S. 6: »Dieser Operator ist Produkt der Geschichte eines Individuums, geronnene Erfahrung und damit nicht nur modus operandi, sondern auch opus operatum (ein Produkt, ein Werk, etwas Hergestelltes); er ist verinnerlichte, inkorporierte Geschichte; in ihm wirkt die ganze Vergangenheit, die ihn hervorgebracht hat, in der Gegenwart fort – allerdings um den Preis des Vergessens.« Die bisherige Applikation von Bourdieus Konzepten in der Philosophiehistoriographie scheint mir begrenzt, ein Beispiel wäre Maffeis, Stefania: Zwischen Wissenschaft und Politik: Transformationen der DDR-Philosophie 1945–1993. Frankfurt a. M./New York: Campus Verlag, 2007, zur Methode S. 14–22; für die Philosophiegeschichte des Mittelalters hat Imbach, Ruedi: Autonomie des philosophischen Denkens? Zur historischen Bedingtheit mittelalterlicher Philosophie. In: Aertsen, Jan. A. und Speer, Andreas (Hrsg.): Was ist Philosophie im Mittelalter? (=Miscellanea Mediaevalia 26) Berlin/New York: De Gruyter, 1998, S. 125–137, Anregungen aus Bourdieus Werk für eine Diskussion der Autonomie der Philosophie im Mittelalter gewonnen. 51 Im Folgenden unterscheide ich Praxis zur Beschreibung menschlichen Tuns sensu largo von Praktiken oder Praxisformen, die ein organisiertes und prinzipiell wiederholbares, auf Routine, implizitem oder explizitem Wissen basierendes Tun sind, vgl. orientierend Reckwitz, Andreas: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive. In: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 32, Heft 4, August 2003, S. 282–301, hierzu

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zu rechnen sind.52 Allerdings müssen die Dispositionssysteme von Individuen stetig an neue Situationen angepasst werden, wobei der Habitus Prinzip dieser geregelten Improvisationen ist, die in der Vermittlung der verinnerlichten Struktur mit den jeweiligen Anwendungsbedingungen besteht.53 Wie die Geschichte des Individuums ist auch der Habitus dabei unabgeschlossen und theoretisch veränderbar, etwa durch differente Erfahrungen oder Reflexionsprozesse. Produkte dieser dynamischen Vorgänge sind unter anderem philosophische Texte. Sie werden im Folgenden verstanden als zu Philosophiediskursen (also der zu einer bestimmten Zeit als philosophisch bezeichneten Menge von Aussagen) gehörende Aussagesysteme, die zugleich Schnittpunkte heterogener Diskurse sein können, ohne für uns notwendig kohärent sein zu müssen.54 Zudem basieren sie als Texte auf zahlreichen erlernten Praktiken, wie denjenigen des Schreibens oder des logischen Argumentierens, und berücksichtigen bestimmte Praktiken der Textauslegung bei den Rezipienten. Das »Denken« eines/r Philosophen/in, als »Philosophieren« schon selbst Teil einer organisierten Praxis, bekommen wir über einen Text nur relativ zu diesem Netz heterogener Praktiken und in bestimmten Praxisformen zu fassen. Überhaupt besteht für einen Akteur nur die Möglichkeit, sozial anerkanntes philosophisches Wissen über einen bestimmten Gegenstand zu produzieren, wenn dieses Wissen auch durch Praktiken hergestellt wird, die von anderen zu einer bestimmten Zeit als wissensproduzierend, gegenstandsadäquat und philosophisch anerkannt werden – oder die zumindest in dem Sinne anschlussfähig sind, dass sie, auch wenn sie die gängigen Praktiken selbst in Frage stellen, sich zumindest ablehnend auf diese beziehen.55 Damit ist schon angezeigt, dass Diskurse meiner methodischen Vorannahme nach nicht ortlos oder autonom generiert werden, sondern von Individuen unter

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S. 289. Praktik und Praxisform sind selbstverständlich, wie auch Diskurs, als analytische Begriffe zu verstehen. Vgl. Bourdieu (1976), Entwurf, S. 172: »Deshalb, weil gleiche Existenzbedingungen zur Schaffung von Systemen (zumindest partiell) ähnlicher Dispositionen tendieren, liegt die daraus entspringende Homogenität der Habitusformen auch der objektiven Übereinstimmung der Praxisformen und Werke zugrunde (…).« Hierzu auch ibid., S. 186–189; vgl. auch Foucaults Aufforderung, Diskurse als »Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen.« (Vgl. Foucault, Archäologie, S. 74). Vgl. Bourdieu (1976), Entwurf, S. 170–172. Mit dieser Definition einher geht auch der Verzicht auf die Kategorie Text als notwendigerweise eindeutig oder widerspruchsfrei rekonstruierbare Einheit – dies kann der Fall sein, muss allerdings nicht zutreffen. Der Fokus verschiebt sich entsprechend auf von Individuen relational produzierte Aussagen. Eine in diesem Sinne exzeptionelle Position scheint Bourdieu etwa Martin Heideggers Philosophie zuzuschreiben, vgl. Bourdieu, Pierre: Die politische Ontologie Martin Heideggers. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988.

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bestimmten sozialen Artikulationsbedingungen. Wenn ein/e einzelne/r Autor/in einen Diskurs implizit oder explizit fortschreibt, dekonstruiert oder ignoriert, so geschieht dies stets relativ zu einer Menge von Individuen, die sich in bestimmten Weisen zueinander verhalten. Ich werde Bourdieu folgend von einem sozialen Raum ausgehen, der ein durch objektive Strukturen charakterisiertes Kräftefeld darstellt und von spezifischen Beziehungsgefügen geprägt ist. Diese dynamischen Strukturen werden durch die Praxisformen von Individuen (re)produziert und weisen diesen durch wechselseitige Klassifizierungen relationale Positionen zu, wobei das auf dem Habitus gründende Handlungsrepertoire des Einzelnen, sein Kapital56, die Möglichkeiten und den Status innerhalb dieses mehrdimensional strukturierten Raums bestimmt.57 Gleichzeitig stellt dieser soziale konstruierte Raum »akkumulierte Geschichte«58 dar, d. h. er (und damit auch die in ihm sozialisierten Individuen) ist durchwirkt von historisch aus interindividueller Praxis gewachsenen und zur unhinterfragten Selbstverständlichkeit gewordenen Strukturen – die gleichwohl stets zu umkämpften Strukturen werden können.59 56 Mit dem Ausdruck Kapital beschreibt Bourdieu akkumulierte Ressourcen, die im sozialen Raum Profit erbringen – dabei ist nicht nur ökonomisches, sondern auch kulturelles oder soziales Kapital gemeint, vgl. zur Übersicht Bourdieu, Pierre: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Kreckel, Reinhard (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten. (=Soziale Welt Sonderband 2), Göttingen: Schwartz, 1983, S. 183–198. 57 Vgl. Bourdieu, Pierre: Sozialer Raum und »Klassen«. In: Ders.: Sozialer Raum und »Klassen«. LeÅon sur la leÅon. Zwei Vorlesungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1985, S. 7–46, hierzu S. 9–11; Ders.: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1998, S. 48; vgl. auch Fröhlich/Rehbein (2014), Bourdieu, S. 219–225. Die individuellen Dispositionssysteme sind folglich genauer als Produkt der Sozialisation in diesen Kräftefeldern zu deuten, als inkorporierte Struktur der bestehenden, variablen Strukturen und Positionsverhältnisse, der Spielregeln bestimmter sozialer Kontexte und der relevanten symbolischen Ordnungen. Zur relationalen Zuordnung vgl. auch Bourdieu (1988), Die politische Ontologie, S. 48–49: »Das genau scheidet den Laien vom Experten, der weiß, was sprechen bedeutet, weil er, zumindest auf eine praktische Weise, den Raum kennt, in dem sein Diskurs aufgenommen werden wird, das heißt das Feld der vereinbaren Stellungnahmen, denen gegenüber sich seine eigene Position negativ, differentiell bestimmt finden wird. (…) Ein sozial als philosophisch anerkanntes Denken impliziert den Bezug auf das Feld der philosophischen Stellungnahmen wie auch das mehr oder minder klare Bewußtsein von dem wirklichen Standort, den es in diesem Feld einnimmt.« 58 Vgl. Bourdieu (1983), Ökonomisches Kapital, S. 183: »Die gesellschaftliche Welt ist akkumulierte Geschichte. Sie darf deshalb nicht auf eine Aneinanderreihung von kurzlebigen und mechanischen Gleichgewichtszuständen reduziert werden, in denen die Menschen die Rolle von austauschbaren Teilchen spielen.« 59 Vgl. Bourdieu (1976), Entwurf, S. 171: »In der Tat gibt das »Unbewußte« niemals etwas anderes wieder als das Vergessen der Geschichte, das die Geschichte selbst vollzieht, indem sie die objektiven Strukturen, die sie erschafft, in jenen Quasi-Naturen, als welche die Habitusformen zu verstehen sind, verkörpert.« Vgl. auch Krais/Gebauer (2003), Habitus, S. 73: »Die doxa, die Selbstverständlichkeit der sozialen Ordnung, wird in konflikthaften Erfahrungen leicht brüchig: Immer wieder werden Handlungsweisen und Interaktionen aus dem

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Wenn sich die Bedingungen für die Produktion eines philosophischen Textes also einerseits aus bestehenden Diskursregeln ergeben, so müssen andererseits auch die jeweilige Artikulationssituation und die daraus resultierenden Artikulationsbedingungen berücksichtigt werden, die einer Aussage erst ihre spezifische Bedeutung in einem sozialen Kontext verleihen. Ich werde zur Beschreibung der genaueren sozialen Lokalisierung von Autoren auf den Begriff Feld zurückgreifen, verstanden als Teilbereich des sozialen Raums, der gewissen, mehr oder weniger eindeutigen, aber stetig verhandelbaren Regeln unterliegt – Beispiele hierfür wären eine Universität oder ein Hof.60 Der Anschluss an den gleichen Diskurs und die Fortführung seiner Regelmäßigkeiten hätte in diesen Kontexten jeweils anderen Stellenwert in Abhängigkeit von der spezifischen Struktur der sozialen Umgebung.61 Was Philosophieren als sozial geregelte und dynamische Praxis in diesen jeweiligen Kontexten und im Besonderen Philosophieren über Spielen ausmacht, wird im Folgenden zu klären sein. Die Artikulationsbedingungen der in diese Zusammenhänge eingebundenen philosophischen Texte ergeben sich jedenfalls nicht nur aus den Texten selbst. Für ihre Offenlegung ist eine umfassende Kontextualisierung notwendig, wofür man, ohne sich methodisch gleich auf ein tiefes Spiel wie den balinesischen Hahnenkampf einzulassen, eine dichte Beschreibung des historischen soziokulturellen Umfelds einzelner Texte vornehmen muss.62 Nicht zuletzt kann Fraglosen, Selbstverständlichen herausgerissen, werden Zusammenhänge bewusst, gibt es Anstöße zum Nachdenken über das eigene Verhalten, über den eigenen Ort in der Welt und Ansätze zur Auflehnung oder der bewussten Auseinandersetzung mit der sozialen Ordnung, mit einem Wort, immer wieder erfahren sich die Individuen in ihrer Praxis als reflektierende, bewusst handelnde Subjekte.« Es versteht sich allerdings, dass wir dabei stets »eingebunden bleiben in den sozialen Zusammenhang, nicht nur auf Grund äußerer Zwänge, sondern auch auf Grund der mit unserer Vergangenheit, unserem Habitus gegebenen Haltung zur Welt (…).« (Ibid., S. 73–74.). 60 Der Begriff Feld wird folglich weniger spezifisch als bei Bourdieu gefasst, insofern dieser darunter schärfer abgegrenzte, relativ autonome Teilbereiche gesellschaftlicher Praxis versteht, vgl. hierzu auch den vergleichenden Aufsatz von Weiss, Hilde: Theorienvergleich innerhalb der konflikttheoretischen Tradition: Die Sozialtheorie Giddens’ und Bourdieus. In: Greshoff, Rainer und Kneer, Georg (Hrsg.): Struktur und Ereignis in theorievergleichender Perspektive: Ein diskursives Buchprojekt. Wiesbaden: Springer, 1999, S. 203–236, hierzu S. 211–212. Mir scheint aber die Vorstellung einer starken sozialen Ausdifferenzierung wenigstens in Bezug auf vormoderne Gesellschaften nicht immer angebracht. Der im Folgenden benutzte Feldbegriff ist also weniger streng, aber dafür auch unproblematischer auf verschiedene Teilbereiche des Sozialen im Untersuchungszeitraum anwendbar. 61 Vgl. hierzu Reckwitz, Andreas: Ernesto Laclau. Diskurse, Hegemonien, Antagonismen. In: Moebius, Stephan und Quadflieg, Dirk (Hrsg.): Kultur. Theorien der Gegenwart. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2006, S. 339–349, hierzu S. 342. 62 Zu einem derartigen Ansatz der Kontextualisierung philosophischer Aussagen vgl. Flasch, Kurt: Philosophie hat Geschichte. Band 1: Historische Philosophie. Beschreibung einer Denkart. Frankfurt a. M.: Klostermann, 2003, S. 62–80 (Wozu intellectual history?), hierzu auch Kracauer, Siegfried: Geschichte – Vor den letzten Dingen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp,

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erst hierdurch nachvollzogen werden, weshalb Philosophen in einer bestimmten Situation bestimmte Fragen stellten, und auf welche kontextualen Gegebenheiten diese Fragen zurückzuführen sind.63 Die Frage nach einer genaueren Definition des Begriffs Spiel hingegen stellt sich mir auf Grundlage dieser methodischen Voraussetzungen nicht. Und dies keineswegs nur deshalb, weil es sich um einen für philosophische Reflexionen gefährlichen Begriff handelt, der eine unübersehbare Menge an Assoziationen, metaphorischen Verwendungen und Bedeutungen mit sich führt.64 Es liegt mir darüber hinaus auch fern, in einer philosophiehistorischen Untersuchung den hier behandelten Philosophen, die sich zu ihrer Zeit und mit ihren Mitteln in jeweils spezifischen sozialen Feldern der Aufarbeitung ludischer Praktiken verschrieben hatten, die definitorische Arbeit abzunehmen. Außerdem würde jeder Versuch einer solchen Bestimmung von Spielen meinerseits Diskurse in die Quellen hineintragen, die selbst wiederum aus Diskussionszusammenhängen in modernen sozialen Feldern stammen. Im Folgenden wird es jedoch gerade darum gehen, welche Konzepte des Spielens, seiner Funktionen und seines Verhältnisses zur Philosophie die Philosophen auf welche Art und Weise entworfen haben. Allerdings: Wenigstens können wir meines Erachtens davon ausgehen, dass Spielen als soziokulturelle Praxis Wandlungen unterworfen ist. Philosophisches Denken über Spiele muss also eine Auseinandersetzung mit denjenigen konkreten sozialen Praktiken sein, die in einem bestimmten Kontext zu einer bestimmten Zeit als Spiele identifiziert wurden. Die Ansätze müssen ferner die sozialen Konnotationen berücksichtigen, die sich in unterschiedlichen Feldern aus den konkreten Praktiken des Gebrauchs dieses Begriffs ergeben oder diesen Gebrauch bestimmt haben. Wiewohl sicherlich davon auszugehen ist, dass in entgegengesetzter Richtung auch philosophische Reflexionen über Spiele die Praxis des Spielens verändern können, wird in dieser Arbeit der Fokus allein auf die philosophischen Texte gelegt. Das zuvor angesprochene flexiblere Modell philosophischer Praxis kann nun im Lichte der dargelegten methodischen Annahmen exakter bestimmt werden. 1971, S. 99–124; zur Wendung dichte Beschreibung siehe Geertz, Clifford: Thick Description: Toward an Interpretive Theory of Culture, sowie ders.: Deep Play: Notes on the Balinese Cockfight. Beide Aufsätze in: Ders.: The Interpretation of Cultures. New York: Basic Books, 1973, S. 3–30 und S. 421–453, wobei der Verweis allein meint, dass ich die Analysehaltung einer möglichst komplexen Beschreibung eines Kontextes und fremder Spiele übernehmen werde, nicht jedoch Geertz’ methodische Grundlagen. 63 Vgl. hierzu Rorty, Richard: The Historiography of Philosophy : Four Genres. In: Ders.: Truth and Progress. Cambridge: Cambridge University Press, 1998, S. 247–273, der eine Geistesgeschichte entwirft, in der nach den Fragen selbst gefragt wird, d. h. nach der Möglichkeit bestimmter Fragen zu einer bestimmten Zeit. 64 Vgl. hierzu den Ansatz von Sutton-Smith, Brian: The Ambiguity of Play. Cambridge (Mass.): Harvard University Press, 1997, der allein sieben rethorics of play identifiziert, die eine Wahrnehmung von Spiel seiner Ansicht nach bestimmen, hierzu S. 7–12.

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Es wird davon ausgegangen, dass die Philosophierenden mit ihren Schriften vorhandene Diskurse fortführen, wobei der Anschluss an einen Diskurs, d. h. seine Fortführung oder Ablehnung, seine Transformation oder dergleichen, innerhalb eines sozialen Raums stattfindet. Da die Individuen dessen Strukturen sowohl produzieren als auch von ihnen produziert werden, entfällt eine strenge Differenz zwischen Mikro- und Makroebene zugunsten eines dynamischeren Modells, in dem internalisierte Strukturen zwar durch Individuen konstant unreflektiert reproduziert werden, zugleich aber stets verändert und infrage gestellt werden können. Seine deskriptive und explikative Leistungskraft, die sich natürlich erst anhand der Quellen beweisen muss, gewinnt dieses Modell meines Erachtens durch gleichzeitige Sensibilität sowohl für überindividuelle Konstanten als auch für individuellere Artikulationssituationen und Reflexionsmöglichkeiten: Ein/e Philosoph/in kann sowohl eine gängige philosophische Praxis internalisiert haben, Spiele nach Aristoteles zu deuten, gleichzeitig aber in spezifischen Situationen dieses Schema kombinieren oder neu interpretieren und dem aus diesem Prozess resultierenden Text sowohl die überindividuelle Konstanz aristotelischer Deutungsmuster als auch die individuelle Devianz einschreiben. Damit wird weder eine starre überindividuelle Struktur unterstellt (»Weil es diesen Diskurs gab, denkt xy so«), noch die völlige Ungebundenheit individueller Positionen behauptet (»xy hat autonom das Problem z erkannt«). Jedoch ergeben sich die jeweiligen Positionen im sozialen Raum nur relativ – Abweichungen und Übereinstimmungen zu bestehenden Verhältnissen werden in voller Schärfe nur aus vergleichenden Analysen verschiedener Positionen sichtbar. Anstelle einer rein quantitativ wohl beeindruckenden Menge von Reproduktionen des aristotelischen Deutungsschemas werde ich im Folgenden ein Ensemble philosophischer Ansätze vorstellen, das Abweichungen von diesem Schema auf sehr heterogene Arten realisiert, um sowohl die These einer Pluralität philosophischer Beschäftigung mit Spielen als auch diejenige einer Dynamik des verbreiteten, aber flexiblen und konstruktiven Einflusses des aristotelischen Deutungsmusters zu belegen. Die vorgestellten Texte lassen sich als Momentaufnahmen einer Bewegung zwischen autoritativer Fortschreibung des aristotelischen Diskurses und seiner Infragestellung durch Ablehnung der von ihm etablierten Praxisformen des philosophischen Sprechens über Spiele lesen. Diese Ambivalenz soll ebenfalls durch die Struktur der Arbeit abgebildet werden.

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Struktur der Arbeit Einerseits erlaubt die diskursanalytische Perspektive eine detaillierte Sezierung der Texte in ihre den Regelmäßigkeiten von Artikulationszusammenhängen folgenden Einzelaussagen, andererseits gestattet ihre Verbindung mit einer praxeologischen Perspektive die soziale Lokalisierung der Sprecher/innen in Relation zu Artikulations- oder Produktionsbedingungen philosophischer Texte. Das so skizzierte Modell zieht mit seiner Akzentuierung der Einzelakteure als Instanzen der Artikulation von Diskursen in einem sozialen Raum eine variablere Dynamik der Analysen nach sich, insofern Prozesse der Umgestaltung oder Konkurrenz von verschiedenen Diskursen soziokulturell eingeordnet werden können. Gerade um einzelne Alternativen zum aristotelischen Spieldiskurs wird es im Folgenden gehen, wobei die Arbeit entsprechend der ausgeführten methodischen Grundlagen auch zwei verschiedene Schwerpunkte setzt: Einerseits werde ich zur grundlegenden Orientierung zunächst die Genese des aristotelischen Spieldiskurses und seine Regelmäßigkeiten sowie Variationen skizzieren. Falls Bourdieu Recht hat und die Geschichte das Vergessen der Geschichte vollzieht, d. h. also die gewachsenen sozialen Strukturen und Deutungsschemata zur Selbstverständlichkeit gerinnen,65 so muss gefragt werden, wie die rinascimentale Selbstverständlichkeit zustande gekommen ist, Aristoteles und Cicero beim Thema Spiel als verlässliche Autoritäten zu betrachten – wie dies der am Beginn dieser Einleitung zitierte Roger Ascham seinen Toxophilus tun ließ. Das Zurückverfolgen dieses aristotelischen Diskurses auf seine Entstehungmodalitäten bedingt aber notwendigerweise die Einbeziehung der Geschichte der Nikomachischen Ethik, auf deren Rezeption die Grundelemente des Diskurses beruhen, sowie die Analyse ihrer ersten vollständigen Kommentierung durch Albertus Magnus im 13. Jahrhundert, insofern Albert den spieltheoretischen Gedanken des Aristoteles einen ersten komplexen Theoriezusammenhang verleiht. Dies bedeutet, dass der fokussierte Zeitraum des 15. und 16. Jahrhunderts zunächst in einem ersten Kapitel verlassen werden muss, bevor in fünf darauf folgenden Einzelkapiteln gefragt wird, wie Philosophen zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit in unterschiedlichen sozialen Feldern komplementäre oder alternative Konzepte entwarfen. Diese Studien auf Mikroebene fokussieren Einzelakteure und ihre durch heterogene Praktiken der Wissensproduktion bestimmten devianten Konzepte von philosophischem Spielen jenseits des aristotelischen Ansatzes. Erst diese relationale Struktur der Arbeit, in der die Einzelkonzepte zum aristotelischen Diskurs ins Verhältnis gesetzt werden, erlaubt zu untersuchen, (1) ob und welche Bedingungen bei der Formulierung spielphilosophischer Positionen aus der einflussreichen Rolle 65 Vgl. oben Fußnote 59.

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aristotelischer Spielphilosophie erwuchsen, (2) welche Diskurse für die Konstruktion alternativer Positionen herangezogen werden konnten, als auch (3) wie sich die Ansätze in ihrem Verhältnis zum aristotelischen Diskurs und in der Wahl ihres Ansatzpunktes voneinander unterscheiden, d. h. eine nähere Bestimmung ihrer Pluralität. Dabei will ich mit der als Grundlage aller folgenden Betrachtungen angestellten Untersuchung der Genese des aristotelischen Diskurses keinesfalls unterstellen, dass dieser Diskurs die einzige mittelalterliche Option gewesen sei, philosophisch über Spiele zu schreiben. Im Gegenteil werden die Analysen der Einzeltexte zeigen, dass Philosophierende zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit mitunter auf mittelalterliche Spielkonzepte zurückgriffen, um Positionen jenseits des aristotelischen Diskurses zu entwerfen. Allerdings halte ich dennoch den von der Rezeption des Aristoteles ausgehenden Diskurs für den nachhaltig wirkmächtigsten spielphilosophischen Entwurf des Mittelalters, der beim Thema Spiel, wie zu zeigen sein wird, noch im 16. Jahrhundert ganz selbstverständlich aufgerufen wird oder unausgesprochen als Kontrastfolie dient. Seine Geschichte wird aus eben diesem Grund näher beleuchtet, keineswegs steht jedoch in dieser Arbeit ein Interesse an der Rekonstruktion der Komplexität mittelalterlicher Spielkonzepte im Mittelpunkt. Ich fokussiere das 15. und 16. Jahrhundert und die hier nachweisbaren Bemühungen, neben, mit und gegen den einflussreichen aristotelischen Spieldiskurs philosophische Zugänge zum Spiel zu finden, um zu zeigen, welche Positionen Philosophierende in Bezug auf Spiele formulieren konnten und unter welchen spezifischen diskursiven und soziokulturellen Gegebenheiten dies geschah. Die Heterogenität der Ansätze wird es dabei notwendig machen, die Spielkonzepte der folgenden Kapitel in jeweils engem Kontext zu betrachten. Die Philosophen schöpfen sie nicht aus einer ewigen Vernunft, ihre Entwürfe ergeben sich als Antworten auf die konkreten Zusammenhänge ihrer Lebenswelt.66 Von ihren einzelnen Ansätzen ausgehend erschließen sich in spezifischen Feldern die Problemlagen, aus denen alternative Spielkonzepte entstanden sind. Damit ist übrigens nochmals angezeigt, dass eine vollständige Beschreibung 66 Zu dieser Betrachtungsweise und dem Begriff ›Lebenswelt‹, verstanden als »Ensemble menschlicher Verhältnisse, also die Interaktion von biologischen und sozialen, ökonomischen und ästhetischen, sprachlichen und mythologischen, institutionellen und privaten Fakten«, der meines Erachtens mit dem nach Bourdieu und Foucault entworfenen Modell gut in Einklang gebracht werden kann, vgl. Flasch (2003), Philosophie hat Geschichte. Band 1, S. 41–61, zum Zitat S. 42; vgl. als Beispiele ähnlicher, aber voneinander sehr unterschiedlicher Herangehensweisen etwa Ebbersmeyer, Sabrina: Homo agens: Studien zur Genese und Struktur frühhumanistischer Moralphilosophie. Berlin/New York: De Gruyter, 2010; Ricklin, Thomas: Der Traum der Philosophie im 12. Jahrhundert. Traumtheorien zwischen Constantinus Africanus und Aristoteles. Leiden: Brill, 1998; Kuhn, Heinrich C.: Philosophie der Renaissance. (=Grundkurs Philosophie 8.1) Stuttgart: Kohlhammer, 2014.

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rinascimentaler Spielphilosophie hier nicht angestrebt wird, sondern Analysen in jeweils klar umrissenen kontextualen Grenzen.67 Was die einzelnen Kapitel anbelangt, wird sich die Arbeit dabei folgende Grenzen setzen: Im Vorspiel wird zunächst der aristotelische Spieldiskurs analysiert, der mit der ersten vollständigen Kommentierung der Nikomachischen Ethik im lateinischen Westen durch Albertus Magnus um 1250 einsetzte. Neben näherer Betrachtungen von Aristoteles, Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Lorenzo Valla und Leonardo Bruni wird ein soziokultureller Überblick der als ludus bezeichneten Praktiken im mittelalterlichen Europa vorgestellt. Zudem zeigt ein abschließender Abschnitt die weitreichende Wirkung des aristotelischen Spieldiskurses auf, indem Beispiele seiner Aufnahme in der Rechtswissenschaft und der prädikantischen Praxis herausgearbeitet werden. Die strenge Trennung von Spiel und Philosophie ist als einer der wichtigsten Aspekte dieses Diskurses hervorzuheben. Spiele werden primär als rekreatives Mittel gewertet, um die für geistige Arbeit notwendigen Ressourcen wieder zu aktivieren. In Kapitel 1. Nicolaus Cusanus, Jacobus de Cessolis und Platon über das Erfinden von Spielen rückt die allegorische Spielauslegung des Kurienkardinals Nicolaus Cusanus in dessen Dialog De ludo globi in den Mittelpunkt der Betrachtung. Es wird dargelegt, dass Cusanus gegen die aristotelische Differenzierung von Philosophie und Spiel die Philosophie ins Spielen selbst verlegt. Im sozialen Feld des gegenüber ludischen Zerstreuungen durchaus aufgeschlossenen Piccolomini-Papsthofes entwirft er eine Allegorie des christlichen Lebensspiels, die neben der Aufnahme platonischer Motive vor allem den Anschluss an einen durch den Dominikanermönch Jacobus de Cessolis etablierten Diskurs der allegorischen Spielauslegung und philosophischen Spielerfindung versucht. Aus der Beobachtung der Spielerfindung und des Spielens gewinnt Cusanus in der Folge Einsichten über die menschliche Natur und die Struktur des menschlichen Geistes, was zweifellos eine Erweiterung der epistemischen Rolle von Spielen jenseits rekreativer Funktionalisierung darstellt. In Kapitel 2. Ludisches Philosophieren: Ficino, Speroni und die italienischen Philosophiespiele werden die erheblich voneinander abwei67 Die vorliegende Arbeit unterliegt entsprechend zahlreichen Beschränkungen: So wurden etwa spanische Quellen oder Schriften in slawischen Sprachen nicht berücksichtigt, der Fokus vor allem auf Italien, in weitaus geringerem Maße auf Frankreich und das Heilige Römische Reich gelegt. Die Tradition der mittelalterlichen höfischen Spielkultur und etwaige philosophische Entwürfe in Verbindung mit entsprechenden Praktiken wurden zugunsten eines Nachvollzugs der scholastischen Tradition vernachlässigt, ikonographische Fragen wurden gänzlich ausgespart, der Theaterdiskurs nicht hinreichend gewürdigt etc. Da allerdings explizit keine Vollständigkeit angestrebt wird, sondern der Nachweis präzis umrissener Merkmale von Spielphilosophien zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit, halte ich diese Vorgehensweise für sinnvoll, um nicht eine vielleicht große, aber wenig analysierte Sammlung von Texten zusammenzustellen.

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chenden Rezeptionen des erst seit Ende des 15. Jahrhunderts wieder integral auf Latein verfügbaren Korpus platonischer Dialoge bei Marsilio Ficino und Sperone Speroni untersucht. Die in Platons Schriften angelegte Nähe von Philosophie und Spiel re-interpretieren beide Denker entgegen der strengen Differenzierung beider Bereiche in der scholastischen Auslegung aristotelischer Ethik als alternative Form des Philosophierens. Zugleich demonstriert ihr Vergleich jedoch die Diversität der sich aus der platonischen Spielphilosophie ergebenden Möglichkeiten: Während Ficino die dialektischen Spiele des Sokrates als raffinierte antisophistische Technik der Wahrheitsvermittlung zeichnet, verlieren bei Speroni die vielfachen Meinungen in platonischen Dialogen jeglichen Wahrheitsanspruch. Dies hängt nicht zuletzt, wie gezeigt wird, mit einer italienischen Praxis spielerischer Philosophieimitation und ihrer undurchsichtigen Vielfalt in der Nachfolge des Cortegiano Baldassare Castigliones zusammen. Kapitel 3. Spielpädagogik für kleine Philosophen: Die Pariser lusus pueriles des Erasmus, Vives und Cordier beleuchtet die praktische Applikation spielpädagogischer Theorie insbesondere bei Erasmus von Rotterdam, Juan Luis Vives und Mathurin Cordier. Anhand einer Pariser Kompilation von Spielgesprächen unter Schülern, entnommen aus den praktisch orientierten und didaktisch innovativen Lateinlehrbüchern der drei genannten Humanisten, wird dargelegt, wie das Spielen in der humanistischen Erziehungslehre als strukturierte und die Beschwerlichkeit ernsten Philosophierens eliminierende Technik der Vermittlung von Eloquenz und Moralphilosophie fungierte – womit die spielerische Moralphilosophie in europaweit verbreitete Schulbücher integriert wurde. In Kapitel 4. Aufschlag für Alfonso: Antonio Scaino mit der Naturphilosophie auf der Suche nach dem perfekten Spiel wechseln wir von Paris an den Hof von Ferrara, an dem der junge Philosoph Antonio Scaino dem zukünftigen Herrscher Alfonso II. dessen Lieblingsspiel Tennis mit Naturphilosophie zu erklären versucht. In seinem komplexen und vielschichtigen Trattato del giuoco della palla beweist Scaino auf Grundlage aristotelischer Philosophie, dass dem Spielen mit Physik, Zoologie und Mechanik begegnet werden kann, wenn man auf der Suche nach einer möglichst perfekten und eleganten Spielform ist. Nicht nur macht er damit Spiele zu einer philosophischen Herausforderung: Ob er selbst die aristotelische Grenze zwischen Ernst und Spiel bei seinem Philosophieren über die Feinheiten des Ballspiels wahren kann, wird nicht immer eindeutig sein. In Kapitel 5. Pascasius Iustus gegen die Unersättlichkeit: Spiel als Wahrheit lassen wir uns vom flämischen Gelehrten Pascasius Iustus in die Betrachtung der dunklen Seiten, der verrückten und wahnsinnigen Züge ludischer Praktiken nach rinascimentalen Methoden einführen. Mit Galen und Aristoteles erklärt der Philosoph und Mediziner die übermäßige Spielleiden-

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schaft nicht zu einem moralischen Laster, sondern zu einer physisch verursachten Krankheit, der man trotzdem mit philosophischer Therapie begegnen könne. Ausdrücklich geht es ihm dabei nicht um die förderlichen rekreativen Spiele: Sein Augenmerk gilt einer gänzlich vernachlässigten, krankhaften Praxis des Spielens, zu deren Heilung er als Erster, wie er ausdrücklich betont, einen Beitrag leisten will. Im Schluss werden die Ergebnisse der zurückliegenden Kapitel zusammengefasst und zuletzt einige Konklusionen gezogen. Basierend auf der orientierenden Analyse des aristotelischen Spieldiskurses erlaubt die Gliederung, die Untersuchung rinascimentaler Spielphilosophien dynamisch und relational zu entwickeln. Mit der prinzipiell polyperspektivischen Haltung geht dabei auch der Verzicht darauf einher, ein lineares Narrativ zu entwerfen oder eindimensional chronologische Entwicklungen zu beschreiben. Ich behandle die einzelnen Ansätze zwar in chronologischer Reihenfolge, um etwaige Verbindungen unter ihnen herstellen zu können, werde aber in den Kapiteln mitunter wieder zurück oder nach vorne erzählen. Denn eine linearer geordnete und in thematische Kapitel unterteilte Erzählung der Entwicklung philosophischer Ansätze zu Spielen ließe vielleicht den missverständlichen Eindruck entstehen, diese seien nebeneinander, in stetiger Konkurrenz zueinander oder in konstanter Sukzession entstanden. In Ansehung der verfügbaren disparaten Quellen scheint mir eine derart strukturierte Geschichte jedoch wenig gegenstandsadäquat. Schon allein der mannigfaltigen Praktiken wegen, die als Spiel oder ludus oder gioco oder jeu beschrieben werden, halte ich eine eher plurizentrische Erzählweise für angebrachter. Außerdem sollen vor allem komplexe Momente einer pluralen Dynamik beschrieben werden, in denen Möglichkeiten philosophischen Spielens zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit auszuloten sind, und eben keine regelmäßigen Entwicklungen, die sich bei genauerem Hinsehen doch nur als störende Inkonstanten unterschlagende Erzählmuster erweisen würden. Zuletzt sei noch der flankierende Hinweis erlaubt, dass die vorliegende Studie, neben ihrer Einordnung als Beitrag zur Kulturgeschichte des Spielens, durchaus auch als Beitrag zur historischen Aufarbeitung des Begriffs Spiel im Sinne einer Archäologie des philosophischen Feldes gelesen werden kann.68 Eine derartige Archäologie scheint umso gebotener, wenn man den inflationären Gebrauch des Begriffs bei nicht wenigen Autoren (post)moderner Theoriebildung bedenkt. So hat etwa Michel Foucault gefordert, man müsse radikal nach der historischen Kontingenz der Dinge graben, jegliche Notwendigkeiten bestreiten und stattdessen fragen, was man spielen könne und wie man ein Spiel

68 Zum Begriff der Archäologie vgl. orientierend Foucault (1981), Archäologie, S. 198–200.

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erfinde.69 Gemeint sind hiermit wohl die Diskurse, die »systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen«70, und die »immer nur ein Spiel«71 sind. Wenn jedoch Spielen und das Sprechen über Spiele eine Geschichte haben und nicht schlicht intuitiv gegeben sind,72 dann werden wir, sofern wir den Hinweis Foucaults ernst nehmen, nicht umhinkommen, diese Geschichte(n) aufzuarbeiten und etwaige Notwendigkeiten auch hier zu bestreiten. Nimmt man diese Herausforderung an, so muss Foucaults metaphorischer Gebrauch des Begriffs Spiel ebenfalls als Teil eines dieser kontingenten Spiele betrachtet werden, dessen Existenzbedingungen und Erfindungsmodalitäten zu ermitteln sind. Dies bedeutet offenzulegen, wie das philosophische Sprechen über Spiele zustande gekommen ist, durch welche Diskurse es hervorgebracht wurde und welche Praktiken es beeinflusst hat. Wenn auch mit vorliegender Arbeit nicht der Anspruch auf eine umfassende Aufarbeitung dieser ganzen Geschichte erhoben werden kann: Mindestens ein Teil derjenigen historischen Aussagesysteme, deren Erbe in modernen Spielkonzepten weiterlebt, liegt vergraben in den rinascimentalen philosophischen Spielkonzepten zwischen Thomas von Aquin und Gottfried Wilhelm Leibniz.

69 Vgl. Foucault, Michel: Dits et Pcrits 1954–1988. Band IV: 1980–1988. Paris: Gallimard, 1994, S. 167: »Il faut creuser pour montrer comment les choses ont 8t8 historiquement contingentes, pour telle ou telle raison intelligible mais non n8cessaire. Il faut faire appara%tre l’intelligible sur le fond de vacuit8 et nier une n8cessit8, et penser que ce qui existe est loin de remplir tous les espaces possibles. Faire un vrai d8fi incontournable de la question: / quoi peut-on jouer, et comment inventer un jeu?« 70 Foucault (1981), Archäologie, S. 74. 71 Foucault (1991), Die Ordnung des Diskurses, S. 32–33. 72 Vgl. Sutton-Smith, Brian: Die Idealisierung des Spiels. In: Grupe, Ommo (Hrsg.): Spiel – Spiele – Spielen. Bericht über den 5. Sportwissenschaftlichen Hochschultag der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft in Tübingen (1982). Schorndorf: Hofmann, 1983, S. 60– 75, der sich gegen die Idealisierung des Spielens als bloße Freiheit wendet und auch den Spott, die Diskriminierungen oder das Risiko in Spielen betont.

Vorspiel. Ein Kompass von Aristoteles

Als der französische Franziskaner-Tertiarier Johannes Pilaguet sich 1481 an die Apostolische Pönitentiarie, den kurialen Gnadenhof wandte, weil bedauerlicherweise einer seiner Bogenschüsse beim Zielschießen einen neben der Zielscheibe stehenden Freund getroffen hatte, bemühte er sich zu betonen, dass er nur solatii causa gespielt habe, der Entspannung und Unterhaltung wegen. Gleichermaßen berichtet ein anderer Gnadesuchender 1479 in einem Schreiben aus der toskanischen Diözese Massa Marittime, dass ein 16-jähriger ins Schwert gestürzt sei, als man causa solatii et recreationis Schwertschläge gespielt habe.1 Diese integrierten Rechtfertigungen verwundern zunächst: War es bei tödlichen Unfällen während des Spielens so wichtig, aus welchem Grund man spielte? Welche Arten von Spielgründen waren erlaubt, welche hätte man in Bittschriften hingegen lieber verschwiegen? Und wie ist es zu erklären, dass Menschen aus weit auseinanderliegenden Regionen und in unterschiedlichsten Situationen für ihr Spiel übereinstimmend reklamieren, es sei der Erholung wegen aufgenommen worden? Die Aktualisierung dieser Argumentationsfigur zur Legitimation des eigenen Spiels als Erholung bedarf auf Seiten derer, die sie verwenden, der Annahme von gesellschaftlicher Akzeptanz und Wirksamkeit einer derartigen Erklärung. Von entspannendem Spiel, so können wir feststellen, erwarten die Bittsteller nicht, dass irgendjemand daran Anstoß nehmen könnte. Ohne Zweifel liegt ein zentraler Grund für diesen Umstand in der Möglichkeit des Rückgriffs auf spieltheoretische Passagen so gewichtiger Autoritäten wie Albertus Magnus und Thomas von Aquin: Beide hatten in der Mitte des 13. Jahrhunderts die erst kürzlich übersetzte Nikomachische Ethik des Aristoteles genutzt, um den Wert und die Notwendigkeit erholsamen Spielens philosophisch fundiert zu unter1 Vgl. Esch, Arnold: Die Lebenswelt des europäischen Spätmittelalters: Kleine Schicksale selbst erzählt in Schreiben an den Papst. München: Beck, 2014, Sport und Spiele auf den S. 86–99, zu den Fällen S. 90–92 und S. 444, auf letzterer Seite die Formulierung des Schwertspiels auf Latein »causa solatii et recreationis … ensium ictibus ludere«.

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Vorspiel. Ein Kompass von Aristoteles

streichen.2 Über eine grundlegende Ausformulierung der aristotelischen Gedanken in christlichem Kontext etablierten sie so einen spieltheoretischen Diskurs mit einem Argumentationsvorrat für rekreatives Spielen, den man von nun an bei Bedarf ausschöpfen und in Gnadengesuchen offenbar als selbstverständliches Deutungsschema voraussetzen konnte. Für die in den folgenden Kapiteln behandelten Autoren ist die aristotelische Spielphilosophie ebenso selbstverständlicher Referenzpunkt, ob sie nun ihre Weiterentwicklung oder Dekonstruktion betreiben. Wenn also im Folgenden die Aufarbeitung einiger spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Spielphilosophien in ihrem dynamischen Verhältnis zur aristotelischen Spielphilosophie in Angriff genommen werden soll, ist es geboten, sich zunächst der Genese des aristotelischen Spieldiskurses zu widmen – oder besser gesagt: seinen Facetten. Denn in diesem Kapitel geht es mir nicht darum, in den Untiefen der Bibliotheken den einen Anfang einer mittelalterlichen Spielphilosophie zu identifizieren. Wer Aristoteles als philosophischen Kompass im Mittelalter verwenden will, stellt bald fest, dass sich labyrinthische Wege eröffnen. Auch ist der von mir so bezeichnete aristotelische Spieldiskurs in sich nicht vollkommen homogen. Um Nicolaus Cusanus’ Schrift De ludo globi im nächsten Kapitel zum Ausgangspunkt einer Betrachtung der Vielfalt und Dynamik rinascimentaler Spielphilosophie zu machen, muss die komplexere philosophiehistorische Ausgangslage der cusanischen Arbeit am Spiel und damit die komplexere Geschichte des aristotelischen Spieldiskurses im Mittelalter berücksichtigt werden. Zwar beabsichtige ich nicht, diese Geschichte mit dem auch nur geringsten Anspruch auf Vollständigkeit zu erschließen. Doch können wir uns immerhin die Aufnahme der aristotelischen Spielphilosophie im lateinischen Westen und ihre Bedingungen von einzelnen Autoren ausgehend vergegenwärtigen, um aus diesen ausgewählten Betrachtungen Rückschlüsse auf zentrale Regelmäßigkeiten des Diskurses und seine Variationen zu ziehen. Als Voraussetzung für eine Analyse rinascimentaler philosophischer Beschäftigung mit Spielen interessieren mich folglich die Fragen, wie Aristoteles’ Spielphilosophie bei ihrem Eintreffen gelesen wurde, mit welchen Diskursen man sie in Zusammenhang brachte und welchen Diskurs sie selbst in Gang setzte. Einerseits werden so die grundsätzlichen epistemischen Entscheidungen deutlich, die die Vorgänger von Cusanus ihren Nachfolgern hinterließen, andererseits kann man einige Bedingungen dieser epistemischen Entscheidungen sichtbar machen, indem die Theorien in ihre historische und insbesondere 2 Vgl. hierzu auch Olson, Glending: The Medieval Fortunes of ›Theatrica‹. In: Traditio (1986), Vol. 42, S. 265–286, S. 283: »In regard to that acceptance, I think the introduction of the full Nicomachean Ethics into the Latin West around 1250 was an influence of major importance. It provided a more detailed, authoritative philosophical rationale for the legitimacy of entertainment in human life than anything that had been available earlier.«

Vorspiel. Ein Kompass von Aristoteles

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spielgeschichtliche Umgebung gestellt werden. Ein Abgleich einzelner Ansätze mit ihren Kontexten lässt die von den Theorien berücksichtigten Zusammenhänge sozialer Felder, lässt in den Blick genommene zeitgenössische ludische Praktiken und eingearbeitete diskursive Evaluierungen von Spielen erkennbar werden. Dynamiken der Rezeption und Modifikation aristotelischer Spielphilosophie können so anhand der Betrachtung einzelner konkreter Ansätze präzise herausgestellt werden. Eine solchermaßen kontextual fundierte Analyse wird es erlauben, im vielfältigen Netz mittelalterlicher ludischer Praktiken und Konzeptionalisierungen des Spielens Orientierung zu schaffen und einige Knotenpunkte für die Analysen der folgenden Kapitel festzuzurren. Der schon angesprochene Beginn der Rezeption der spielphilosophischen Passagen aus der Nikomachischen Ethik sowie zentrale Aspekte ihrer weiteren Geschichte bis zu Cusanus sollen in diesem Kapitel die Ausgangspunkte für diese Orientierung ausmachen. Den ersten uns verfügbaren vollständigen Kommentar zur Nikomachischen Ethik verfasste Albertus Magnus in Köln in der Mitte des 13. Jahrhunderts. Sein Schüler Thomas von Aquin schrieb die in diesem Zuge entwickelten spieltheoretischen Gedanken systematisierend fort und integrierte sie in seine für Studienanfänger der Theologie konzipierte Summa Theologica. Um die spielphilosophischen Arbeiten dieser beiden bekanntlich eminent einflussreichen Autoren nachvollziehen zu können, wird es in einem vorangestellten Abschnitt notwendig sein, Aspekte derjenigen mittelalterlichen Spielkultur herauszuarbeiten, auf die die in der Nikomachischen Ethik enthaltenen spieltheoretischen Passagen bei ihrer Ankunft im lateinischen Westen treffen. Vergegenwärtigen sollten wir uns zudem als Grundlage den Inhalt der Betrachtungen des Aristoteles selbst, nicht um die beiden Dominikaner an einer modernen Interpretation dieser Passagen zu messen, sondern damit die hybride, sozusagen interkulturelle Identität eines antiken griechischen Textes im lateinischen Mittelalter, die terminologischen Verschiebungen und ausgefüllten Lücken in den folgenden Analysen umso deutlicher herausgestrichen werden können. So vorbereitet können wir uns sodann der Frage widmen, welche Spiele Albert und Thomas mit Aristoteles treiben. Insbesondere werden wir dabei feststellen, dass sie Spielen zu einem festen und notwendigen Bestandteil des Philosophenlebens erklären. Bevor daraufhin die weite Verbreitung von Ansätzen dieses aristotelisch-albertinischen Diskurses dargestellt wird, indem auf seine Rezeption im 15. Jahrhundert in juristischen Traktaten und Predigten eingegangen wird, müssen wir noch einen kleinen Umweg machen. Denn die philosophiehistorische Situation von Spieltheorien ist kurz vor Cusanus’ De ludo globi noch komplexer geworden: Inzwischen war eine Neuübersetzung der Nikomachischen Ethik von Leonardo Bruni verfügbar, in der die spielbezogenen Passagen einer nicht unbedeutenden Neubewertung zugeführt wurden, die ihre

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diskursive Einordnung grundlegend veränderte. Doch lassen wir zunächst einmal Aristoteles selbst zu Wort kommen.

Aristoteles darüber, was Spiele nicht sein können Gleich im ersten Buch seiner Nikomachischen Ethik unterscheidet Aristoteles auf der Suche nach dem höchsten Gut drei Arten des menschlichen Lebens: Im b_or !pokaustij|r (bios apolaustikos) suche man ein Leben der Lust, knechtisch gleich dem Vieh, im b_or pqajtijºr (bios praktikos) hingegen die Ehre oder die Tugend in einem Leben der Gemeinschaft.3 Doch bestehe in keinem von beiden letztlich das Ziel unseres Strebens: Bekanntlich kommt Aristoteles im letzten Buch seines Werks zu dem Schluss, dass unser höchstes Glück im kontemplativen Leben, im b_or heyqgtijºr (bios theoretikos) liege, welches in jedem Falle Betätigung der Vernunft einschließe.4 In dieser Betätigung, so führt er aus, liege sozusagen die Funktion des Menschen, denn eben die Tätigkeiten der Vernunft unterscheiden uns als Menschen von Tieren oder Pflanzen. Die Funktion des guten Menschen sei es nun, diese Handlungen auf gute Weise auszuführen, und darin liege eben das Gut für uns Menschen.5 Doch manifestiert sich die Vernunft dabei zweifach: Neben dem rein vernünftigen existiere zudem ein Seelenteil, der fähig sei, der Vernunft zu gehorchen, wie wir eben bemerken, wenn wir heftigen Emotionen widerstreiten können.6 Gutheiten, oder anders ausgedrückt Tugenden, können wir also sowohl des Denkens wie auch des Charakters ausbilden. Erstere entstehen durch Belehrung, letztere durch Gewöhnung.7 Neben dem höchsten Glück im kontemplativen Leben, das in der Ausübung der geistigen, sogenannten dianoetischen Tugend besteht, charakterisiert Aristoteles entsprechend als nachgeordnetes höchstes Glück das politische Leben der ethischen Tugenden – und tatsächlich dreht der Großteil der Nikomachischen Ethik sich um die Ausbildung und Ordnung derselben. Die Menge jedoch, so bemerkt der Stagirit im ersten Buch, ziehe ein Leben der Lust vor gleich dem assyrischen König Sardanapal.8 Im zehnten und letzten 3 Vgl. Arist. NE I 3 (1095b14–1095b22), für den deutschen Text lege ich im Folgenden die Übersetzung von Ursula Wolf zugrunde, vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik. Übersetzt und herausgegeben von Ursula Wolf. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2006 (2. Auflage 2008); vgl. zum Folgenden auch Nagel (2002), Masking the Abject, S. 47–51. 4 Vgl. Arist. NE X 7 (1177a12–1178a8). 5 Vgl. ibid., I 6 (1097b22–1098a20). 6 Vgl. ibid., I 13 (1102a5–1103a10). 7 Vgl. ibid., II 1 (1103a14–1103a18). 8 Vgl. ibid., I 3 (1095b19–22), zu den Genüssen der Athener in der klassischen Periode, die im Kontext dieser Arbeit natürlich nur am Rande interessieren, vgl. Davidson, James N.: Kurtisanen und Meeresfrüchte. Darmstadt: WBG, 1999, zu Sardanapal S. 190, dessen Grabin-

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Buch, kurz bevor er das kontemplative Leben zum höchsten Glück erklärt, kommt er nochmals auf diesen Gedanken zurück. Das Glück, führt er aus, müsse eine Tätigkeit sein, die man an sich wählen wolle. Unter dieser Voraussetzung, so scheint es, kämen hierfür auch die lustvollen Arten der Vergnügung in Betracht – die Arten der paidi\ (paidia). Auch sie ist demnach eine Kandidatin für das höchste Glück, doch trügerisch: Nur weil die Mächtigen ihre Mußestunden mit ihr verbrächten und man diese gemeinhin für glücklich halte, glaube man, dass diese Dinge zur Glückseligkeit gehörten. Die Macht allerdings sei eben nicht der Quell von Verstand und Tugend und das Beispiel dieser Leute beweise daher wenig: Die paidia mache tatsächlich nicht unsere Glückseligkeit aus.9 Aristoteles führt einige Gründe für seine Schlussfolgerung an: Töricht erscheine es, ihretwegen alle Mühen des Lebens auf sich zu nehmen, ja kindisch, ihretwegen zu arbeiten. Da die paidia eine Art Erholung sei, eine !m\pausir (anapausis), führe man sie eben etwas anderem wegen aus, weshalb sie nicht das an sich erstrebenswerte Ziel sein könne. Anacharsis habe ganz richtig gesagt, dass man sich vergnüge, also der paidia nachgehe, um sich wieder ernsthaft betätigen zu können. Der freie Mann widmet sich also ernsthaften Betätigungen wie der Kontemplation und der Politik. Doch in Spiel und Vergnügen, die jeder Sklave genießen könne, bestehe unser Glück sicherlich nicht: Wer gebe einem Sklaven schon Anteil am menschlichen Glück?10 Wir sollten beachten, dass auch Mußezeit hier nicht zur paidia gerechnet, sondern prinzipiell ernst verstanden wird und in Verbindung gesetzt mit diacyc^ (diagoge) im Sinne von intellektuell erfüllender Muße, was Aristoteles in seiner Politik spezifiziert.11 Im siebten Buch seiner staatstheoretischen Schrift erklärt der Stagirit, dass das menschliche Leben in zwei Teile geschieden sei. Wie die Seele aus einem rationalen und einem nicht rationalen, jedoch zur Befolgung rationaler Prinzipien fähigen Teil bestehe, so setze sich auch das Leben aus Arbeit und Muße, aus Krieg und Frieden zusammen. Der Krieg sei jedoch dem Frieden stets untergeordnet, insofern er nur um des Friedens willen geführt werde. Ebenso sei die Arbeit auf Schaffung von Muße gerichtet: »Denn man muß zwar arbeiten und Krieg führen können, aber noch mehr verstehen, Frieden zu halten und edler Muße zu pflegen.«12

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schrift angeblich dazu aufforderte, sich dem Essen, Trinken oder der Brunst (in manchen Versionen auch dem Spielen) hinzugeben. Vgl. Arist. NE X 6 (1176b6–1176b27). Vgl. ibid., X 6 (1176b27–1177a11). Vgl. hierzu und zum Folgenden Spariosu (1991), God of Many Names, S. 224–235; zu Muße und Erziehung zur Muße bei Aristoteles auch Owens, Joseph: Aristotle on Leisure. In: Canadian Journal of Philosophy Band XI, 4 (1981), S. 713–723. Arist. Pol. VII 14 (1333a16–1333b3); zum Zitat vgl. 1333a41–1333b1, Übersetzung nach Eugen Rolfes, Aristoteles: Politik. Übersetzt u. mit erkl. Anm. vers. von Eugen Rolfes. Hamburg: Meiner, 1981, S. 269.

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Diese Muße kann nach Aristoteles jedoch nicht in der paidia bestehen: Diese nämlich habe mehr mit Arbeit als mit Muße zu tun. Neben der bloßen Absurdität der Behauptung, Spiele würden unsere Muße ausmachen und damit das Ziel unseres Lebens, sei zu bedenken, dass sie der Erholung wegen geschehen. Erholung benötige man aber, wenn durch Anstrengung bei der Arbeit Müdigkeit entstehe. In diesem Fall müsse die paidia also zur richtigen Zeit gleichsam einer Medizin eingesetzt werden. Sodann wirke sie als Entspannung der Bewegung des Geistes, als Lust der Erholung wegen.13 Demnach haben Vergnügungen zwar ihre Funktion und ihre Zeit, unser Glück finden wir allerdings in ernsteren Angelegenheiten, eben kontemplativen oder politischen Aktivitäten. Muße hat insofern nichts mit der paidia zu tun. Spielen kommt allein die Funktion zu, die Ausübung unserer seriöseren Tätigkeiten sicherzustellen. Da Vergnügungen allerdings rationaler Ordnung offen stehen, führt Aristoteles doch eine Tugend hinsichtlich der paidia ein, die er in der Nikomachischen Ethik eqtqapek_a (eutrapelia) nennt. In der unterhaltenden Art des Verkehrs untereinander müsse man in der Art zu sprechen darauf achten, wie und was man soll. Wer zu viel scherze oder gar nicht für Lustigkeiten empfänglich sei, verfehle die anständige Mitte, bei der nur das gesagt und angehört werde, was sich für einen gesitteten Mann zieme.14 Wegen der schon erwähnten Vorliebe der Mächtigen für Vergnügungen sind denn auch die hinsichtlich dieser Tugend Gewandten bei ihnen ausgesprochen beliebt.15 Die eutrapelia betrifft demnach die Regulierung der paidia im Zusammenleben mit anderen Menschen. Insofern Spiele aber ebenso mit dem subjektiven Verhalten zu Lust und Unlust zu tun haben, charakterisiert Aristoteles sie zudem aus anderer Perspektive. Wer ihrer nämlich zu viel pflege, scheine unmäßig zu sein, müsse aber in Wirklichkeit weichlich genannt werden. Unmäßig sind diejenigen, welche zu viel der Lust pflegen, weichlich jedoch der, welcher der Unlust fliehe, etwa sein Gewand schweifen lasse, um nicht der Beschwerde des Aufhebens ausgesetzt zu sein. Da die paidia eine Erholung sei, d. h. also wohl eine Beseitigung der Unlust, müsse man den, der das Vergnügen liebe, weichlich nennen.16 So sagt uns Aristoteles also zweimal, was paidia nicht sein kann. Sie ist weder unser Glück noch kann sie unsere Muße ausmachen. Dabei bestimmt er sie dennoch erstaunlich detailliert. Seine Ansicht können wir im Kern eine Erholungstheorie des Vergnügens unter dem Primat des Ernsten nennen. Gebraucht werden dürfen Spiel und Vergnügen zur Entspannung von Arbeit. Die Vor13 14 15 16

Vgl. Arist. Pol. VIII 3 (1337b35–1338a6). Vgl. Arist. NE IV 14 (1127b33–1128b9). Vgl. ibid., X 6 (1176b8–1176b18). Vgl. ibid., VII 8 (1150a9–1150b19).

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rangstellung des Ernsten ist dabei schlicht Faktum, die Annahme des Gegenteils als reductio ad absurdum abgewiesen.17 Diese insistierende Grenzziehung identifiziert mindestens zwei mögliche Kategorisierungen von Verhaltensweisen im abgetrennten Bereich des Vergnügens: Hinsichtlich Lust und Unlust ist derjenige, welcher der paidia zu viel pflegt, weichlich zu nennen, weil er die Erholung zu sehr liebt; hinsichtlich des Umgangs mit Anderen gilt es, sich die Tugend der eutrapelia präsent zu halten. Anschlussmöglichkeiten für spielphilosophisch Interessierte scheint Aristoteles damit ausreichend zu bieten. Allerdings ist Vorsicht geboten: Ich habe bislang bewusst die Begriffe Spiel und Vergnügen willkürlich ausgetauscht, da moderne Übertragungen sich bei der Verdolmetschung des Wortes paidi\ ebenfalls nicht einig sind.18 Die Lateiner lesen es in der ersten vollständigen Übersetzung der Nikomachischen Ethik als ludus, ein Begriff, dessen Extension mindestens ebenso unscharf zu nennen ist. Immerhin dies scheinen beide Begriffe allerdings mit dem deutschen Spiel gemeinsam zu haben. Ich werde im Folgenden zunächst ludus als Spiel wiedergeben und auf die Frage nach den Übersetzungen gleich noch einmal zurückkommen. Sehen wir uns zunächst an, in was für einer Spielsituation die aristotelischen Gedanken die lateinische Welt erreichen und wie sie bei Albert und Thomas aufgenommen werden.

17 Aristoteles unterscheidet sich hier deutlich von seinem Lehrer Platon, bei dem paidi\ vielfältigere Verwendungen fand und unschärfere Abtrennungen hatte, vgl. hierzu Nagel (2002), Masking, S. 29–46; vgl. auch Aichele (2000), Philosophie als Spiel, S. 37–75, vgl. hierzu auch Kapitel 2 dieser Arbeit; vgl. ebenso Mihai Spariosus Bemerkung, der die antike Begriffsgeschichte des Spielens näher ausgeleuchtet hat: »Play in general, however, loses a great deal of its cultural prestige in Aristotle, who is perhaps the first Western thinker who seeks to separate it from and oppose it to serious philosophical activity.« (Spariosu (1991), God of Many Names, S. 234). Allerdings existiert eine Stelle im Corpus Aristotelicum, in der Aristoteles durchaus auch gelehrte Disputationen als (Wettkampf-)Spiele bezeichnet, vgl. Reth. I 11 (1370b32–1371a8). Diese Linie wird allerdings, soweit ich sehe, von seinen ersten mittelalterlichen Kommentatoren nicht aufgegriffen. 18 Ursula Wolf wählt ›Vergnügung‹, vgl. Aristoteles (2006), Nikomachische Ethik, bspw. S. 326 (X 6), während Rolfes in der Politik mit ›Spiel‹ übersetzt, vgl. Aristoteles (1981), Politik, bspw. S. 285; vgl. zur Schwierigkeit der Übertragung auch die Anmerkung von Eckhart Schütrumpf in seinem Kommentar zu Aristoteles: Politik Buch VII/VIII. Über. und erl. v. Eckhart Schütrumpf. (=Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung, hrsg. von Hellmut Flashar, Band 9, IV) Darmstadt: WBG, 2005, S. 577 (b38): »Amüsement, griech. paidi\, paidi#, meist übersetzt als ›Spiel‹ (Gigon), aber das wäre bei Erwachsenen nur eine Form, sich erholsam die Zeit zu vertreiben. ›Vergnügen‹ würde eher die Wirkung bezeichnen (…).«

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Die translatio und die ludi: Bedingungen mittelalterlicher Spielphilosophie Die vermutlich erste vollständige Übersetzung der Nikomachischen Ethik erreichte den christlichen lateinischen Westen in Form der Translatio Lincolniensis des englischen Bischofs Robert Grosseteste um 1246/47.19 In Köln kommentierte der Magister Albertus Magnus die neue Schrift zwischen 1250/52 zum ersten Mal in Gänze, wobei kein geringerer als sein Schüler Thomas von Aquin Notizen anfertigte.20 Die aristotelische paidi\ hatte Grosseteste mit ludus verdolmetscht und damit den beiden Dominikanern die Interpretationsrichtung vorgegeben.21 Wenn der Stagirit nun von ludi sprach, konnten Albert und Thomas darunter nicht nur verschiedene Versionen des Schachspiels zur höfisch-ritterlichen Selbstdarstellung verstehen: Würfelspiele, Wurfspiele, der jeu de paume als Vorläufer des Tennisspiels, verschiedene Brettspiele und Kegelspiele sind unter diesem Begriff ebenso zusammengefasst wie Tanz, Musik, Hahnenkampf und Trinkgelage.22 Der wohl profilierteste Spielhistoriker Frankreichs, Jean-Michel 19 Zur Datierung vgl. Callus, D.A.: The Date of Grosseteste’s Translations and Commentaries on Pseudo-Dionysius and the Nicomachean Ethics. In: Recherches de th8ologie ancienne et m8di8vale 14 (1947), S. 186–210. Partielle Übersetzungen und auch eine möglicherweise vollständige Version existierten schon zuvor, vgl. hierzu die Praefatio in Gauthier, Renatus Antonius (Hrsg.): Aristoteles Latinus. Band XXVI, I-3 (Fasc. 1): Ethica Nicomachea. Praefatio. Leiden/Brüssel: Brill/Descl8e de Brouwer, 1974, S. XV–CLI. Grossetestes Übertragung und Wilhelm Moerbekes zwischen 1260–70 erstellte Revision derselben bilden jedoch bis zum 15. Jahrhundert den Standardtext für Vorlesungen und Kommentare zur Nikomachischen Ethik, vgl. Lines, David A.: Aristotle’s Ethics in the Italian Renaissance (ca. 1300–1650). The Universities and the Problem of Moral Education. Leiden/Boston/Köln: Brill, 2002, zur Rezeption bis 1400 S. 45–49, speziell zu den ersten Übersetzungen und Grosseteste S. 46–47; vgl. auch Dod, Bernard G.: Aristoteles latinus. In: Kretzmann et al. (Hrsg.): The Cambridge History of Later Medieval Philosophy. Cambridge: Cambridge University Press, 1982, S. 45– 79, hierzu S. 61 und S. 77. 20 Dunbabin, Jean: The Two Commentaries of Albertus Magnus on the Nicomachean Ethics. In: Recherches de th8ologie ancienne et m8di8val 30 (1963), S. 232–250, hierzu S. 233–234. 21 Vgl. Gauthier, Renatus Antonius (Hrsg.): Aristoteles Latinus. Band XXVI, I-3 (Fasc. 3) : Ethica Nicomachea. Translatio Roberti Grosseteste Lincolniensis sive ›Liber Ethicorum‹. A. Recensio Pura. Leiden/Brüssel: Brill/Descl8e de Brouwer, 1972, S. 223–224 (IV 14/capitulum XV), S. 286 (VII 8/capitulum XI) und S. 357–358 (X 6/capitulum VII). 22 Zur Geschichte des Schachspielens siehe grundlegend Murray, Harold: A History of Chess. Oxford: Clarendon Press, 1911, zu mittelalterlichen Schachspielpraktiken S. 394–775; zur Verbindung mit dem Adel und sozialen Veränderungen im Spielverhalten vgl. Müller, Rainer A.: Vom Adelsspiel zum Bürgervergnügen – Zur sozialen Relevanz des mittelalterlichen Schachspiels. In: Concilium medii aevi 5 (2002), S. 51–75; vgl. enzyklopädisch für die semantische Bandbreite von ludus Isidor von Sevilla: Etymologiarum sive originum. Ediert u. m. Anm. vers. von Wallace Martin Lindsay. Oxford: Clarendon Press, 1911, Kapitel XVIII, 16–69; eine Ahnung der praktischen Bandbreite schon gegen Ende des 12. Jahrhunderts vermittelt William Fitzstephens Beobachtung zu den ludischen Betätigungen der Londoner unter dem Titel Capitula de situ nobilissimae civitatis Londoniae in Riley, Henry T. (Hrsg.):

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Mehl, hat zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert eine tatsächliche croissance ludique attestiert, in deren Zuge verschiedenste Quellenformen, von juristischen Akten bis zu poetischen Texten, zunehmend Erwähnungen und Behandlungen ludischer Aktivitäten zeigen, das Spielen mithin aufblühe begünstigt durch Urbanisierung, Entwicklung der Lohnarbeit, Intensivierung des Handels und Verfeinerung höfischer Lebensformen.23 Schon der wahrscheinlich nicht von Vinzenz von Beauvais selbst, jedoch aus dem 13. Jahrhundert stammende Speculum morale kann entsprechend aus der Bibel acht verschiedene Bedeutungen von ludus, vom unschuldigen Kinderspiel bis zum tadelnswerten, die Menschen verwirrenden ludus confusionis extrahieren – eine neue Unübersichtlichkeit?24 Folgt man Gherardo Ortalli und Alessandra Rizzi, so handelte es sich tatsächlich um eine produktive Unübersichtlichkeit: Beide haben komplementär zu Mehl dafür argumentiert, dass die zunehmende Auseinandersetzung weltlicher und kirchlicher Autoritäten mit als negativ angesehenen Aspekten dieses vielfältigen Spielens ebenso eine wachsende Beschäftigung mit den positiven Seiten mit sich gebracht habe. Der Verdammung des Spielens durch spätmittelalterliche Prediger wie Bernardino di Siena entspreche so gleichermaßen die affirmative Etablierung einer ludicit/ im christlichen Mittelalter, eines positiv besetzten sozialen Raums für Spiele.25 Eine grundlegende Bedingung der Spieldiskurse stellt entsprechend das Bemühen um Differenzierung dar. Schon aus dem römischen Recht erbten mittelalterliche Intellektuelle die kategoriale Zweiteilung von Spielen in Glücksspiele einerseits, wie etwa Würfelspiele, und Tugendspiele andererseits, beispielsweise Schach, die also Ausweis des eigenen Könnens und nicht bloßer Gewogenheit von Fortuna sind.26 Hinzu gesellte sich nun eine dritte Kategorie

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Munimenta Gildhallæ Londoniensis: Liber Albus, Liber custumarum et Liber Horn. Band II, 1: Liber Custumarum. London: Longman, Green, Longman, and Roberts, 1860, S. 2–15, zu den Spielen S. 10–14; über den »medieval sports reporter« genauer Carter, John Marshall: Medieval Games. Sports and Recreations in Feudal Society. (=Contributions to the Study of World History Band 30) New York et al.: Greenwood Press, 1992, S. 123–130. Eine ausführliche Anatomie mittelalterlicher Spielarten gibt Mehl, Jean-Michel: Les jeux au royaume de France du XIIIe au d8but du XVIe siHcle. Paris: Fayard, 1990, S. 31–176, quantitative Hinweise zur Praxis auch auf S. 179–182. Vgl. Mehl (1990), Les jeux, passim, vor allem S. 458–460. Vgl. von Beauvais, Vinzenz: Speculum quadruplex sive Speculum maius. Tomus 3: Speculum Morale. Douai 1624, Nachdr. Graz: Akad. Dr.– u. Verl.-Anst., 1964 (im Folgenden als Sp. Moral.), 1361–1363 (III, 8, Dist. 4). Zur Einordnung knapp Düchting, Reinhard: Vinzenz von Beauvais, in: TRE 35, S. 106–108. Vgl. Ortalli, Gherardo: Ludicity and Christian Culture in the Middle Ages. The Modes and Dynamics of a Complex Relationship. In: Ludica 13/14 (2007/08), S. 101–114, und Rizzi, Alessandra: Ludus/ludere. Giocare in Italia alla fine del medio evo. (=Ludica: collana di storia del gioco 3) Treviso/Rom: Fondazione Benetton/Viella, 1995, zur grundlegenden These S. 9–15. Zur Einteilung im römischen Recht vgl. Kuryłowicz, Marek: Das Glücksspiel im römischen

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der gemischten Spiele, die wie Tricktrack, also Backgammon, strategische und aleatorische Elemente verbinden – am prominentesten ist diese Dreiteilung wohl von Alfonso el Sabbio in seinem Libro de los juegos in Szene gesetzt worden.27 Allerdings wird sie keineswegs statisch in die Praxis übersetzt: Die breite und heterogene legislative Auseinandersetzung mit Spielen illustriert beeindruckend umfangreich das von Alessandra Rizzi herausgegebene Repertorium der Spielgesetzgebung in mittelalterlichen italienischen Kommunen.28 Obgleich vor allem Glücksspiele von den städtischen Autoritäten mit einiger Aufmerksamkeit bedacht werden, sind es dabei weniger die Spiele selbst, sondern eher die Effekte des Spielens, die Verbindung des Glücksspiels mit Geld und die aus Geldspielen resultierende Gewalt, welche Anstoß erregen.29 Diese Verbindung von Spielen mit Grausamkeit hatte im lateinischen Westen einerseits eine literarische Tradition: Den euphorische Zynismus der Zuschauer römischer ludi hinsichtlich tödlicher Gemetzel hatten die Kirchenväter den mittelalterlichen Gelehrten breit überliefert. Den Massenveranstaltungen der römischen Antike, wie etwa den Gladiatorenkämpfen als Spektakel des Mordens, konnten sie dabei nichts Positives abgewinnen.30 Laktanz etwa verabscheute die Verharmlosung des Tötens als ludus unter crudelia et inhumana suffragia.31 Für besonders verwerflich hielt er, dass die Philosophen, obgleich sie uns zur Verachtung der weltlichen und der Schau göttlicher Dinge angeregt hätten, trotzdem gerne an diesen öffentlichen Spielen teilnehmen, aus denen doch alle Arten von Lastern entstehen.32 Zwar existierten eine Vielzahl von Gründen wie Ido-

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Recht. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 102 (1985), S. 185–219, vgl. hierzu auch Ortalli, Gherardo: Barattieri. Il gioco d’azzardo fra economia ed etica. Secoli XIII–XV. Bologna: Mulino, 2012, S. 13–14. Vgl. die Faksimile-Ausgabe von Morencos, Pilar Garc&a (Hrsg.): Alfonso X el Sabio, Libros del Ajedrez, Dados y Tablas. (2 Bände, Faksimile und Kommentar) Madrid/Valencia: Patrimonio Nacional, 1987; es existiert nun zudem eine neue deutsche Übersetzung mit ausführlicher Einleitung, Alfonso X. »der Weise«: Das Buch der Spiele. Übers. u. kom. v. Ulrich Schädler und Ricardo Calvo. (=Ludographie Band 1) Wien/Berlin: Lit Verlag, 2009, zur Entstehung des Werks S. 16–30. Vgl. Rizzi, Alessandra (Hrsg.): Statuta de ludo. Le leggi sul gioco nell’Italia di comune (secoli XIII–XVI). (=Ludica: collana di storia del gioco 11) Treviso/Rom: Fondazione Benetton/ Viella, 2012, passim. Vgl. Rizzi (1995), Ludus/ludere, S. 17–19. Vgl. zu den römischen ludi, auf deren detailliertere Geschichte im Rahmen dieser Arbeit nicht eingegangen werden kann, grundlegend das Werk von Veyne, Paul: Brot und Spiele. Gesellschaftliche Macht und politische Herrschaft in der Antike. Darmstadt: WBG, 1990. Vgl. Laktanz, Div. Inst. VI, 20; auf die Stelle hingewiesen hat Weismann, Werner : Kirche und Schauspiele. Die Schauspiele im Urteil der lateinischen Kirchenväter unter besonderer Berücksichtigung von Augustin. (=Cassiciacum Band XXVII) Würzburg: Augustinus-Verlag, 1972, S. 87; Laktanz wird hier jedoch noch deutlicher : »Hos tamen ludos vocant, in quibus humanis sanguis effunditur.« (Lactantius: Divinae Institutiones. In: Lactantii Opera Omnia. Band 1. (=MPL VI) Paris: 1844, 707a). Vgl. Laktanz Div. Inst. VI, 20 (MPL VI 706b–707a), wo die Philosophen zwar dafür gelobt

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latrie, Ruhmsucht und die pagane kultische Bedeutung der Spiele, welche die Kirchenväter die ludi rügen ließen.33 Und nicht zuletzt brachten mittelalterliche Christen etwa auch Prostitution mit dem theatrum in Verbindung.34 Doch auch noch Thomas von Aquin verurteilt mit Verweis auf Johannes Chrysostomos neben Laszivität vor allem die aus spectacula erwachsende Brutalität.35 Selbst enzyklopädisch vermittelt die Spätantike den mittelalterlichen Intellektuellen noch dieses enge Band, wenn in Isidors Etymologiae die Grausamkeit antiker ludi unterstrichen wird und das Lemma zu Spielen den Titel De bello et ludis trägt.36 Für Albert und Thomas ist es andererseits nicht nur eine Bibliothek der Kirchenväter, die durch eine literarische Beschreibung der untergegangenen Spielkultur der Römer ludische Gewalttätigkeiten ins Gedächtnis ruft. Konkrete Gewalt in und aus Spielen stellte ein dringliches und verbreitetes Problem dar, wenn etwa in Gasthäusern aus Würfelpartien Streit entbrannte.37 Grosseteste selbst hatte daher als Bischof von Lincoln in Briefen den Geistlichen seiner Diözese Glücksspiele und Trinkgelage verboten. Spiele um Preise seien im Allgemeinen zu vermeiden, denn bei ihnen opfere man nach Isidor von Sevilla sowohl als Teilnehmer wie auch als Zuschauer den Dämonen, welche eben diese Spiele erfunden hätten.38 In völligem Einklang befindet er sich dabei mit den

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werden, unsere Aufmerksamkeit von irdischen Dingen abgelenkt zu haben: »Sed cum diserte ad contemptum terrestrium nos exhortati sunt, et ad coeli spectaculum excitaverunt, tamen spectacula haec publica non contemnunt. Itaque his et delectantur, et libenter intersunt. Quae, quoniam maxima sunt irritamenta vitiorum, et ad corrumpendos animos potentissime valent, tollenda sunt nobis, quia non modo ad beatam vitam nihil conferunt, sed etiam nocent plurimum. Nam qui hominem, quamvis ob merita damnatum, in conspectu suo jugulari pro voluptate computat, conscientiam suam polluit, tam scilicet, quam si homicidii, quod fit occulte, spectator et particeps fiat.« Vgl. Weismann (1972), Kirche und Schauspiele, S. 72–122. Für die These, das eine Tradition des Dramas im lateinischen Westen gegen das Theater wiederbelebt wurde, weil unter ›Theater‹ ein Ort für unstatthafte spectacula in weitem Sinne verstanden wurde, vgl. Clopper, Lawrence: English Drama: From Ungodly Ludi to Sacred Play. In: Wallace, David (Hrsg.): The Cambridge History of Medieval English Literature. Cambridge: Cambridge University Press, 2002, S. 739–766, besonders S. 741–743. Vgl. Summa Theologica, IIa–IIae, q.167 a.2ad2: »Ad secundum dicendum quod inspectio spectaculorum vitiosa redditur inquantum per hoc homo fit pronus ad vitia vel lasciviae vel crudelitatis, per ea quae ibi repraesentantur. Unde Chrysostomus dicit quod adulteros et inverecundos constituunt tales inspectiones.« (die Summa wird im Folgenden wie üblich nach der Leonina-Ausgabe zitiert, hierzu Band 10 (1899), S. 347). Vgl. Etymologiae XVIII, 59: »Haec quippe spectacula crudelitatis et inspectio vanitatum non solum hominum vitiis, sed et daemonum iussis instituta sunt. Proinde nihil esse debet Christiano cum Circensi insania, cum inpudicitia theatri, cum amphitheatri crudelitate, cum atrocitate arenae, cum luxuria ludi.« Vgl. zur ludischen Gewalt allgemein Mehl (1990), Les jeux, S. 296–308. Vgl. Luard, Henry R. (Hrsg.): Roberti Grosseteste episcopi quondam Lincolniensis epistolae. London: Longman, Green, Longman und Roberts, 1861 (im Folgenden als Grosseteste,

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Empfehlungen des vierten Laterankonzils von 1215, das Klerikern jegliche Art von Glücksspielen und insbesondere Würfelspiele verboten hatte.39 Seinem Verweis auf Isidors Rede von den durch Dämonen ersonnenen Preisspielen fügt Grosseteste sogleich hinzu, dass aus dieser Art des Spielens häufig Gewalt und sogar Mord hervorgehe.40 Die Sorge um den beim Spielen ausbrechenden Zorn durfte allerdings nicht bloß Glücksspielen gelten: Bei Spielschlachten, die ein keineswegs seltenes oder kurioses Beispiel mittelalterlicher Wettkämpfe sind, ging die Gewalt mitunter soweit, dass einzelne Teilnehmer im Spielkampf ums Leben kamen.41 Wiewohl also auch nicht-aleatorische Spiele Gefahren bargen und Bernhard von Clairvaux die Tempelritter für ihre Enthaltsamkeit vom Schachspiel lobte (wenngleich wir davon ausgehen müssen, dass es hier ebenfalls eine Version mit Würfeln gegeben hat),42 waren Glücksspiele in ihrer engen Verbindung mit Geldeinsätzen zudem moralisch belastet: Pseudo-Vinzenz von Beauvais zürnte, dass Spieler genusssüchtig und habgierig seien, da sie ihre Mitspieler so viel sie können berauben wollten – ja noch schlimmer seien sie als die Diebe im Wald, weil sie im Gegensatz zu diesen sogar die Hemden von ihren Spielpartnern nehmen.43 Obwohl mit rechtlichen und theologischen Systematisierungen des Glücksspiels, dessen zunehmender fiskalischer Nutzbarmachung und der damit einhergehenden Integration in sich entwickelnde ökonomische Zusammen-

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Epistolae), Brief 22, S. 72–76, hierzu S. 73–75 sowie Brief 52, S. 154–166, hierzu S. 159, 162 und 165–166. Vgl. Wohlmuth, Josef (Hrsg.): Konzilien des Mittelalters. (=Dekrete der ökumenischen Konzilien Band 2) Paderborn: Schöningh, 2000, S. 243 (Constitutiones Lateranenses, 16): »(…) ad aleas vel taxillos non ludant nec huiusmodi ludis intersint.« Vgl. Grosseteste, Epistolae, Brief 22, S. 74: »(…) hujusmodi ludi frequenter dent occasiones irae, odii, pugnae et homicidii.« Vgl. Taddei, Ilaria: L’encadrement des jeunes / Florence au XVe siHcle. In: Histoire urbaine 3 (2001), S. 119–132, ausführliche Literaturhinweise zum Phänomen der Spielschlachten in Italien auf S. 119; die Spielkämpfe finden auch schon Erwähnung bei Davidsohn, Robert: Die Frühzeit der Florentiner Kultur. Kirchliches und Geistiges Leben, Kunst und Häusliches Dasein. Dritter Teil. (=Geschichte von Florenz Band IV) [Nachdruck der Ausgabe Berlin 1927] Osnabrück: Biblio Verlag, 1969, S. 282–324 zu Festen, Spielen etc., speziell zu Kampfspielen S. 284–287; vgl. für eine Beschreibung auch den Abschnitt De ludis bellicosis in campis in Fitzstephens Kapitel zu London, op. cit. Fußnote 22, S. 11–12. Eine hervorragende Übersicht und Diskussion der im Kontext einer allgemeineren klerikalen Abwehrhaltung hinsichtlich weltlicher Vergnügungen erlassenen Verbote des Schachspiels bietet Plessow, Oliver : Mittelalterliche Schachzabelbücher zwischen Spielsymbolik und Wertevermittlung. Der Schachtraktat des Jacobus de Cessolis im Kontext seiner spätmittelalterlichen Rezeption. Münster : Rhema, 2007, S. 24–32, zu Clairvaux S. 24; zu Schachversionen mit Würfeln vgl. S. 25–28. Vgl. Sp. Moral. 1362 (III, 8, Dist. 4 E): »Item lusor est cupidus et avarus, adeo quod vellet quamcumque personam secum ludentem spoliare, et ad hoc laborat pro viribus, hoc intendit, et ad hoc tendit. Est crudelior caeteris raptoribus aut spoliatoribus, et magis inhumanus; quia aliquando spoliat eos camisiis suis et braccis, quod non faciunt qui spoliant homines in nemoribus.«

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hänge gesellschaftliche Freiräume für aleatorische Praktiken entstanden, blieb die moralische Verdammung als Blasphemie und Habgier induzierende Spielpraxis doch erhalten: So verbot Ludwig IX. von Frankreich 1254 die Würfelherstellung (sehr optimistisch) in seinem ganzen Reich.44 Die Überbetonung normativer Quellen kann allerdings auch den Blick auf jene Texte verstellen, die eine große Spielfreude bezeugen und uns ermahnen, genaue Differenzierungen vorzunehmen. Verbote und Verdammungen bedeuten nicht zugleich ihre praktische Befolgung. Viel amüsanter ist zum Beispiel, was Robert Grossesteste eigentlich zu verbieten versucht: Niemand solle Räder mit Zielen zum Werfen in den Kirchen aufstellen, und auch die Trinkfeiern scotales möchte er nicht mehr an heiligen Orten sehen.45 Warum hätte man so konkrete und nicht gerade naheliegende Praktiken verbieten müssen, wenn sie nicht existierten?46 Ein bedeutendes Problembuch zum Schachspiel wie der Bonus Socius entsteht schon um 1260 und Alfonso der Weise lässt 1283 sein berühmtes und prächtig illustriertes Spielebuch fertigstellen.47 In der pseudoovidianischen Dichtung De Vetula aus der Mitte des 13. Jahrhunderts werden Freizeitvergnügungen ausführlich beschrieben, nicht zu sprechen von poetischen Thematisierungen von Spielen in höfischem Kontext: Man muss nur auf die zahlreichen Erwähnungen von Spielen allein in der mittelhochdeutschen Literatur verweisen.48 Kein Wunder also, dass Hugo von St. Viktor, vielkopierter Universalgelehrter des 12. Jahrhunderts, schon in seinem Didascalicon gleich eine ganze Kunst der Unterhaltung erfindet, als er den sieben freien ebenso viele mechanische Künste

44 Vgl. Ortalli (2012), Barattieri, S. 11–25, zur Verbindung von Spiel und Sünde vgl. auch Ceccarelli, Giovanni: Il gioco e il peccato. Economia e rischio nel tardo Medioevo. Bologna: Mulino, 2003, S. 47–64. 45 Vgl. Grosseteste, Epistolae, Brief 52, S. 162: »Praecipimus etiam ut in singulis ecclesiis denuncietur solenniter ne quisquam levet arietes super rotas, vel alios ludos statuat in quibus decertatur pro bravio; nec hujusmodi ludis quisquam intersit. Prohibeantur similiter compotationes quae vulgo dicuntur scotales: omnes quoque ludi et placita secularia a locis sacris omnino arceantur.« 46 Das gibt Grosseteste auch zu, als er anordnet, man müsse die Gläubigen zur Konzentration aufs Gebet etwa bei Vigilien vor Heiligenfesttagen ermahnen, »(…) ne scurrilitatibus, vel ludis, vel forte pejoribus, ut fieri consuevit, intendentes, sanctorum iras in se provocent (…).« (vgl. Grosseteste, Epistolae, Brief 22, S. 75). 47 Zum Bonus Socius vgl. Murray (1911), History, S. 618–642; zu Alfonso siehe oben Fußnote 27. 48 Zu De Vetula vgl. Klopsch, Paul (Hrsg.): Pseudo-Ovidius De Vetula: Untersuchungen und Text. Leiden: Brill, 1967, zum Entstehungszeitraum S. 78; zu mittelhochdeutschen Erwähnungen des Schachspiels vgl. Classen, Albrecht: Chess in Medieval German Literature: A Mirror of Social-Historical and Cultural, Religious, Ethical, and Moral Conditions. In: O’Sullivan, Daniel (Hrsg.): Chess in the Middle Ages and Early Modern Age. A Foundamental Thought Paradigm of the Premodern World. Berlin/Boston: De Gruyter, 2012, S. 17–44.

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entgegenstellt.49 Unsere ursprünglich unverdorbene Natur bedarf, so erklärt der Viktoriner, nach dem Sündenfall der Wiederherstellung, und wo sie nicht wiederhergestellt werden kann, da müssen wenigstens ihre Mängel abgemildert werden, dabei stets unter Leitung der Weisheit.50 In diesem Sinne gehören auch die handwerklichen artes mechanicae zur Philosophie, und zwar als ars adulterina: Sie ahmen die Form der Natur durch die ratio nach, wenn sie beispielsweise Kleidung erfinden in Imitation tierischen Fellschutzes. Auch in diesen Erfindungstätigkeiten der konjekturalen Künste erwiesen sich also unsere rationalen Kräfte.51 Analog zu den sieben freien Künsten unterteilt Hugo die mechanischen in drei artes, die dem äußeren Schutz des Körpers dienlich sein sollen, nämlich die Tuchherstellung, die Waffenschmiedekunst und die Schifffahrt; vier weitere Künste sind dem inneren Wohl des Menschen zuträglich, nämlich die Landwirtschaft, die Jagd, die Medizin und als letzte die theatrica.52 Diese nun sei die scientia ludorum und habe ihren Namen vom Theater, weil man früher am liebsten hier ludischem Zerstreuungen nachgegangen sei. Hugo erzählt von der glanzvollen Spielvergangenheit der antiken Welt und ihren Orten, von dramatischen Darstellungen im Theater, Ringern in Gymnasien, Gesang, Musik und sogar von Würfelspielen bei Gastmählern. Und all dies sei erlaubt gewesen, weil die Bewegung die Wärme des Körpers erhalte und den Geist erfrische. Auch habe man die Notwendigkeit von Unterhaltungen schlicht erkannt und daher die klügere Option gewählt, bestimmte Plätze hierfür bereitzustellen, als das Volk in beliebigen Wirtshäusern irgendwelche Verbrechen begehen zu lassen.53 Der Viktoriner führt psychologisch-medizinische und soziale Gründe ins Feld, eine der größten Spielveranstaltungen der römischen Antike lässt er jedoch unbeachtet: Anders als Isidor von Sevilla und Laktanz erwähnt er die Grausamkeit antiker ludi mit keinem Wort.54 Das ist auch manchen seiner strengeren Rezipienten aufgefallen. Robert Kilwardby bezweifelte in seinem De ortu scientarum gerade mit Verweis auf Isidors Beschreibung brutaler Spiele, dass die 49 Hierzu erstmals Tatarkiewicz, W.: Theatrica, the Science of Entertainment: From the XIIth to the XVIIth Century. In: Journal of the History of Ideas (1965), Vol. 26 Nr. 2, S. 263–272; detaillierter und umfassender allerdings Olson (1986), Theatrica, S. 265–286. 50 Vgl. Hugo von St. Viktor : Didascalicon de studio legendi/Studienbuch. Lateinisch/Deutsch. Übers. und eingl. von Thilo Offergeld. (=Fontes Christiani Band 27) Freiburg et al.: Herder, 1997, I, 5 (im Folgenden als Didascalicon); vgl. auch Whitney, Elspeth: Paradise Restored. The Mechanical Arts from Antiquity through the Thirteenth Century. In: Transactions of the American Philosophical Society, New Series, Vol. 80, 1, 1990, S. 1–169, zu Hugo S. 75–99, zur Verbindung mit dem Sündenfall vor allem S. 89–90. 51 Vgl. Didascalicon I, 4 und I, 9. 52 Vgl. ibid., II, 20–27. 53 Vgl. ibid., II, 27. 54 Vgl. Etymologiae XVIII, 59.

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Kunst der theatrica für Christen angemessen sei. Eher solle man sie verabscheuen und bekämpfen – und folgerichtig ersetzt er sie auch mit der architectonica.55 Die Sorge ums Spiel will er, wenn überhaupt einer Kunst, der Medizin zuschreiben: (…) theatrica non videtur mihi ponenda apud catholicos, sed magis detestanda et impugnanda (…). Id autem quod de ludis licitum est catholicis, ut cithara, tuba, tibia et huiusmodi, pro loco et tempore aestimo esse reducendum ad medicinam ut collocetur sub illa parte medicinae quae considerat occasiones.56 ([…] die theatrica, scheint mir, ist nicht einzuführen bei den Katholiken, sondern eher zu hassen und zu bekämpfen. […] Das allerdings, was von den Spielen den Katholiken erlaubt ist, wie die Leier, die Trompete, die Flöte oder dergleichen, ist nach Ort und Zeit, so glaube ich, der Medizin nach zu gestalten, so dass es demjenigen Teil der Medizin zugeordnet wird, der die Gelegenheiten erwägt.)

Die occasiones, von denen Kilwardby spricht, sind bei Hugo v. St. Viktor neben den operationes einer der beiden Teile der Medizin. Sie betreffen prophylaktische Maßnahmen der Lebensführung in den Bereichen Luft, Ruhe und Bewegung, Entleerung und Auffüllung, Speis und Trank, Schlaf und Wachen sowie die Erregungen des Gemüts.57 In der auf Grundlage Galens entwickelten mittelalterlichen Diätetik sind diese sex res non naturales, die unserer Einflussnahme offen stehen, in Gesundheitsratgebern, den Regimina sanitatis, die Angelpunkte der vorsorglichen Regulierung unseres Lebenswandels.58 Aus Texten wie der pseudo-aristotelischen Schrift Secretum secretorum konnte man auch in der Volkssprache lernen, dass das richtige Maß von Ruhe und Bewegung die Gesundheit sichert.59 In Galens De sanitate tuenda werden als entsprechende Übungen explizit Ballspiele empfohlen.60 Kilwardby scheint mit seiner Verbindung zu Musik eher die Erregungen des Gemüts zu meinen, oder auch den Tanz, 55 Vgl. Olsen (1986), Theatrica, S. 273–74, vgl. zum Folgenden auch Olsen (1982), Literature as Recreation, S. 39–89, speziell zur Theatrica S. 64–75. 56 Kilwardby, Robert: De Ortu Scientarum. Ed. von Albert G. Judy. (=Auctores Britannici Medii Aevi IV) London: British Academy et al., 1976, S. 131–132. 57 Vgl. Didascalicon II, 16: »Medicina dividitur in duas partes, occasiones et operationes. occasiones sex sunt: aer, motus et quies, inanitio et repletio, cibus et potus, somnus et vigiliae, et accidentia animae. quae ideo occasiones esse dicuntur, quia faciunt et conservant sanitatem, si temperata fuerint; si intemperata fuerint, infirmitatem.« 58 Vgl. grundlegend Schmitt, W.: Res non naturales. In: LexMA, Vol. 7, col. 575–577, col. 751– 752 sowie col. 1662–1663, zu den Ursprüngen der sex res non naturales siehe Garc&a-Ballester, Luis: On the Origin of the »Six Non-Natural Things« in Galen. In: Kollesch, Jutta und Nickel, Diethard (Hrsg.): Galen und das hellenistische Erbe. Stuttgart: Franz Steiner, 1993, S. 105–115. 59 Vgl. hierzu Forster, Regula: Das Geheimnis der Geheimnisse: die arabischen und deutschen Fassungen des pseudo-aristotelischen Sirr al-asra¯r, Secretum secretorum. Wiesbaden: Reichert, 2006. 60 Vgl. Gal. De san. tuend. II, 8, 2.

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der zur Bewegung und Ruhe zählen würde: In jedem Falle aber beweist sein Kommentar zum Didascalicon, dass ludi auch als Teil der medizinischen Diskurse wahrgenommen wurden. Fassen wir die bislang beschriebenen soziokulturellen und diskursiven Bedingungen für eine mittelalterliche Spielphilosophie knapp zusammen: ludus ist im 13. Jahrhundert ein Begriff, der eine Vielzahl an heterogenen Praktiken beschreibt, die unterschiedlich bewertet werden. Aleatorische Spiele oder vielmehr ludische Praktiken in Verbindung mit Geldgewinnen sind dem Vorwurf der Habgier ausgesetzt, obgleich die Praxis von diesen Vorwürfen anscheinend wenig tangiert wird. Eben diese Spielpraxis wird allerdings häufig in Verbindung mit aus Streit entstehender Gewalt gesetzt. Insofern ist ludus kein unbelasteter Begriff für philosophische Spekulationen. Dennoch hat man zu berücksichtigen, dass der Wert von Spielen zur Erfrischung des Geistes und für die Aufrechterhaltung der Gesundheit anerkannt ist. Für die Bewertung von Grossetestes Übersetzung des Aristoteles ergeben sich folglich Konsequenzen. Bei der Übertragung in die Diskursformationen des lateinischen Westens gewinnt die aristotelische Spielphilosophie an Hybridität61, insofern sie als Theorie einer antiken Spielkultur auf eine nun mittelalterliche Spielkultur Anwendung findet. An den zuvor zitierten Stellen der Nikomachischen Ethik wählte der Bischof von Lincoln ludus, um paidi\ wiederzugeben, und schon das ist eine konzeptionelle Veränderung auf zwei Ebenen. Erstens sprechen die Griechen neben der paidi\ zum Beispiel spezifischer von !c~m, wobei letzterer Begriff einen Wettstreit in sportlicher oder musischer Hinsicht meint. Der semantische Rahmen von paidi\ hingegen ist weit. Der Begriff hat eine etymologisch starke Verbindung zu Kinderspielen, bezeichnete aber generell eine Reihe von verschiedenen Praktiken, darunter heilige Spiele oder Musik. In ludus fallen nun all diese Dimensionen zusammen: Sowohl die kindliche Konnotation, da ludus mindestens auch Schule bedeuten kann, als auch die ästhetische und experimentelle Seite, ebenso Brettspiele und nicht zuletzt die antagonistische des Wettstreits, die eben auch die Gladiatorenkämpfe und Massenspiele umfasst.62 Zweitens erbt die aristotelische Spieltheorie mit dem lateinischen Begriff ludus eine im Wort paidi\ nicht enthaltene Geschichte, auf 61 Hierunter verstehe ich neue Kulturformen, die aus interkulturellen Kontakten entstehen, vgl. hierzu Bhabha, Homi K.: The Location of Culture. London: Routledge, 1994. 62 Vgl. Huizinga, Johan: Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch, 2009, S. 39–40 und 46–47; die Schwierigkeiten der Übersetzung von paidia mit ludus in der Nikomachischen Ethik bemerkt auch knapp Ceccarelli (2003), Il gioco e il peccato, S. 153–154, und stellt fest (S. 154): »(…) H indubbio che la traduzione impropria abbia facilitato una letteratura del passo in cui i fenomeni ricreativi sono piF strettamente ricondotti alle dimensione del gioco.« Nicht sicher bin ich mir allerdings, ob man eine traduzione propria bei der zugegebenen Unschärfe von paidia überhaupt anstellen könnte, zumal ludus nicht unbedingt »enger« auf Spiele bezogen ist.

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deren Theoretisierung sie eigentlich nicht ausgelegt ist. Der lateinische Aristoteles hat andere Probleme als der griechische: Eigentlich spricht er von einer untergegangenen Spielwirklichkeit, nämlich derjenigen der Bewohner einer griechischen Polis. Mit dem Begriff ludus steht er aber plötzlich in einer Begriffstradition, die lange nach seinem Tod erst begonnen hatte und Konnotationen wie die der blutigen römischen Spiele mit sich trägt, deren diskursive Auswirkungen in der Spielphilosophie des Stagiriten nicht mitgedacht sind. Dazu gehört die Gewalt als konkretes Problem von Spielen, aber auch die Verbindung zur avaritia des Spielers als eine der christlichen Todsünden. Zudem sind Spiele inzwischen Teil eines spezifischen diätetischen Diskurses. Hinzu kommt zuletzt, dass wir es nun mit anderen Konnotationen der Differenz zwischen Arbeit und Muße zu tun haben: Die positiv konnotierte schole griechischer Eliten war schon im lateinischen otium für Cicero nur als otium cum dignitate tragbar, also etwa im Verfassen von für die Gemeinschaft nützlichen Schriften. Im christlichen Kontext der sieben Todsünden wurde otium hingegen bald in Verbindung mit der acedia, der Trägheit gebracht.63 Durfte man unter dieser Bedingung müßig spielen, oder war Spiel etwas gänzlich anderes als Muße, wie Aristoteles in seiner Politik ausführte? Bedenkt man in Kontrast kritischer Haltungen zum otium die vielfältige höfische Spielkultur, scheint von größter Bedeutung, in welchem Kontext jemand eine Antwort auf diese Frage gibt. Jedenfalls muss Aristoteles, will man ihn im lateinischen Mittelalter lesen, an die jeweiligen Bedingungen angepasst werden – sehen wir also, wie der erste Lateiner, der einen vollständigen Kommentar zur Nikomachischen Ethik verfasst, als dominikanischer Mönch mit all diesen eigentümlichen Verhältnissen umzugehen versucht.

Albert und der lateinische Aristoteles: Philosophen müssen spielen Für den freien männlichen Bürger der Polis sah Aristoteles die heyq_a als höchstes Glück. Die von Arbeit befreiten Eliten widmen ihre Mußestunden am besten der theoretischen, mindestens aber der praktischen Betätigung der Vernunft. Nur wenige Jahre nachdem Grosseteste das heidnische Moralsystem der Nikomachischen Ethik den Lateinern wieder verfügbar gemacht hatte, wandte sich der Dominikaner Albertus Magnus, dem als Magister in Köln die Gründung einer Ordenshochschule anvertraut war, diesen Passagen in der noch 63 Vgl. Vickers, Brian: Leisure and Idleness in the Renaissance: The Ambivalence of otium. Teil 1 in Renaissance Studies Vol. 4 N. 1 (1990), S. 1–37, Teil 2 in Vol. 4 N. 2 (1990), S. 107–154; Vickers verfolgt hauptsächlich die negativen Konnotationen von otium, zu Cicero Teil 1, S. 10–14, zur Verbindung mit der acedia Teil 2, S. 107–111.

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weitgehend unbekannten Ethik zu.64 In seinem Kommentar von 1250/52 interpretierte er nun in monastischem Kontext die Vernunfttätigkeit als diesseitiges höchstes Glück, das als Resultat spekulativer Arbeit eine Assimilation an die Tätigkeit des göttlichen Intellekts bedeute. Damit gewinnt die Philosophie, obgleich innerhalb christlicher Maßstäbe, an Autonomie, insofern sie innerweltliches Glück verspricht. Albert entwirft hier und in seinem zweiten, späteren Ethik-Kommentar Grundlinien einer philosophischen Lebensform, die in der Forschung in Zusammenhang mit anschließenden Versuchen der Etablierung eigenständiger philosophischer Wissensbereiche an der Pariser artes-Fakultät gesehen werden.65 Diese neue Lebensform des Philosophierenden bedarf der Ausformulierung, und wenn, wie gesehen, bei Aristoteles die Spiele sogar in trügerische Konkurrenz zum eigentlich höchsten Gut der Kontemplation treten können: Welchen Platz nehmen Spiele dann in Alberts Konzept eines Philosophierenden ein? Berücksichtigen wir zunächst den spezielleren Kontext des Dominikaners: Innerhalb einer vielfältig spielinteressierten Gesellschaft sind ludische Aktivitäten im auf Gotteserkenntnis gerichteten monastischen Umfeld schwieriger zu rechtfertigen.66 Und schlimmer : Für Spiele ist im theoretisch strengen Regelwerk der Dominikaner eigentlich kein Platz vorgesehen. Zu den lässlichen Sünden zählt nach der ältesten Dominikaner Konstitution: »Wenn ein ausschweifend Lachender, durch schallendes Gelächter oder Spiele, Worte oder Taten, andere 64 Ich zitiere im Folgenden nach der Kölner Edition Albertus Magnus: Super Ethica. Commentum et Quaestiones. Ediert von Wilhelm Kübel. (=Alberti Magni Opera Omnia, Band XIV, Teil 1 und 2) Münster : Aschendorff, Teil 1: 1968–1972, Teil 2: 1987 (im Folgenden als Super Ethica), zu Albert und dem studium generale in Köln vgl. Sturlese, Loris: Die deutsche Philosophie im Mittelalter. Von Bonifatius bis zu Albert dem Großen. München: Beck, 1993, S. 324–388. 65 Vgl. Müller, Jörn: Natürliche Moral und philosophische Ethik bei Albertus Magnus. (=Beiträge zur Geschichte und Philosophie des Mittelalters 59) Münster : Aschendorff, 2001, S. 110–114 und 120–128, zur Autonomie vgl. auch de Libera, Alain: Albert le grand et la philosophie. Paris: Vrin, 1990, S. 37–43, auch Speer, Andreas: »sapientia ordinatur ad contemplari« – Philosophie und Theologie im Spannungsfeld der Weisheit bei Albertus Magnus. In: Brachtendorf, Johannes (Hrsg.): Prudentia und Contemplatio. Ethik und Metaphysik im Mittelalter. Festschrift für Georg Wieland zum 65. Geburtstag. Paderborn et al.: Schöningh, 2002, S. 199–221, zur Autonomie gegenüber der Theologie S. 204–207, zu Kontinuitätsmomenten zwischen beiden vgl. S. 212–218; zur Verbindung mit den Pariser Aristotelikern vgl. Bianchi, Luca: Il vescovo e i filosofi. La condanna parigina del 1277 e l’evoluzione dell’aristotelismo scolastico. Bergamo: Lubrina, 1990 und ders.: La felicit/ intellettuale come professione nella Parigi del Duecento. In: Rivista di Filosofia 78 (1987), S. 181–199. 66 Speziell der Frage nach der Kulturgeschichte des Spiels in Klöstern und Orden des Mittelalters widmet sich der Sammelband von Sonntag (2013), Religiosus ludens; zum auf den ersten Blick paradoxalen Verhältnis von Klöstern und Spielen sowie dessen Auflösung vgl. das Geleitwort von Schmitt, Jean-Claude: Le paradoxe des moines joueurs, auf den S. V–IX; vgl. darüber und zu monastischer recreatio auch Olsen (1982), Literature as Recreation, S. 109–115.

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zum Lachen anzureizen strebt.«67 Schon das vierte Laterankonzil hatte wie erwähnt Klerikern das Glücksspiel untersagt, wenig kommentierte und daher unmissverständliche Verbote bietet das kanonische Recht auch für Mönche. Im 1234 in Kraft getretenen Liber Extra heißt es, iocum saecularem diligere käme eher dem Spielmann zu, ebenso wie die Liebe zu Glücksspielen. Überhaupt werden weltliche Geschäfte vom Mönchsleben ausgeschlossen.68 Doch muss man differenzierter argumentieren: Wie archäologische Latrinenfunde von Schachbrettern in Klöstern zeigen, wurden theoretische Vorschriften nicht notwendigerweise praktisch umgesetzt.69 Und insbesondere Jörg Sonntag hat herausgestellt, dass es trotz der zitierten Passage gerade die dominikanischen Denker waren, die sich auch für eine theoretische Legitimation mönchischen Spielens interessierten.70 Den Konflikt einer mönchischen Lebensform mit spielenden Philosophen sollten wir also nicht zu sehr betonen. Albert selbst scheint sich auch wenig um potentielle derartige Konflikte zu kümmern, was mit seiner grundsätzlichen Haltung erklärt werden kann, in seinem Kommentar eine konsequent philosophische Perspektive einzunehmen.71 Er beginnt damit, Aristoteles folgend, die eutrapelia zusammen mit der amicitas und veritas zunächst als eine Tugend des Zusammenlebens mit anderen 67 Vgl. Denifle, Heinrich: Die Constitutionen des Predigerordens vom Jahre 1228. In: Denifle, Heinrich und Ehrle, Franz: Archiv für Litteratur- und Kirchengeschichte des Mittelalters. Erster Band, Erstes Heft. Berlin: Weidmannsche Buchhandlung, 1885, S. 165–227, hierzu S. 206: »Si dissolute ridens, cachinnis vel ludis, dictis vel factis, alios ad ridendum concitare intenderit.« 68 Vgl. den Titel X 3.50.1 in Friedberg, Aemilius (Hrsg.): Corpus Iuris Canonici. Band 2. Leipzig: Bernhard Tauchnitz, 1881, Sp. 667: »Turpis verbi vel facti esse ioculatorem, vel iocum saecularem diligere. Aleas amare.« Hierzu ausführlicher Dannenberg, Lars-Arne: Spielverbote für Kleriker und Mönche im kanonischen Recht des Mittelalters. In: Sonntag (2013), Religiosus ludens, S. 81–95, betreffend die zitierte Passage des Liber Extra S. 84–85, hinsichtlich einer Verbindung zu dem Klerikern gewidmeten Verbot von Glücks- und Würfelspielen im Titel X 3.1.15 bei den Kommentatoren S. 86–91; die Wurzel für letzteren Titel sei wiederum das schon oben zitierte Verbot des vierten Lateranum, vgl. ibid., S. 90; zum Rückzug aus weltlichen Geschäften und der spärlichen Kommentierung der Spielverbote des Liber Extra S. 91–92. 69 Vgl. zur Spielpraxis in Klöstern allgemein auch Sonntag, Jörg: Tennis, Tricktrack und Zahlenkampf im Paradies oder Vom vielgestaltigen Spiel der Klosterleute. In: Brehm, Christiane (Hrsg.): Heiter bis Göttlich. Die Kultur des Spiels im Kloster (Katalog zur Sonderausstellung in der Stiftung Kloster Dalheim), Lindenberg: Kunstverlag Fink, 2013, S. 12–25, sowie allg. den Katalog; archäologischen Funden in Klöstern widmet sich auch der Beitrag von Vavra, Elisabeth: Murmel, Spielstein, Würfel. Relikte mittelalterlicher Spielkultur in Kloster und Kirche. In: Sonntag (2013), Religiosus ludens, S. 219–238. 70 Vgl. Sonntag, Jörg: Erfinder, Vermittler, Interpreten. Ordensleute und das Spiel im Gefüge der mittelalterlichen Gesellschaft. In: Sonntag (2013), Religiosus ludens, S. 241–274, zur Beschäftigung der Dominikaner mit Spielen besonders S. 250–257; zu synodaler Gesetzgebung als geeignetere Quelle für Spielpraxis auch Dannenberg (2013), Spielverbote, S. 92–95. 71 Vgl. Sturlese (1993), Die deutsche Philosophie, S. 338–339.

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zu definieren (ad convivendum alteri). Dabei sei die veritas eine Tugend hinsichtlich des Wahren in Taten und Worten, die beiden anderen jedoch circa delectabile gedacht: Entweder hinsichtlich des Erfreulichen im ernsten Leben, die Freundschaft eben, oder des Erfreulichen im Spiel, was also die eutrapelia angehe.72 Aristoteles’ Vorschläge wollen für Albert aber nicht ungeprüft sein, lasse doch das Spiel durch seine Nähe zum Kindischen, zum Leichten, zum Auflockern und eben nicht zur schwierigen tugendhaften Anstrengung einige Zweifel aufkommen: Kann es unter diesen Voraussetzungen eine Tugend des Spielens überhaupt geben? Bedeutet ein Leben in dauerhafter Betätigung der Tugend nach Aristoteles nicht Glück und kann Spielen wirklich etwas zu diesem Glück beitragen?73 Alberts Antwort ist eine disctinctio: Obwohl jede Tugend aufs Glück gerichtet sei, gebe es doch zwei verschiedene Modi, in denen dies geschehe. Entweder wirke eine Tugend wesentlich auf die vollkommene Tätigkeit des Glücks, was auf Spiele nicht zutreffe; oder sie sei aufs Glück gerichtet gemäß dem Wohl-Sein, dem bene esse des Individuums – so wie die eutrapelia: Est enim virtutis operari, quando debet et quantum debet et secundum alias circumstantias. Et ideo non est virtutis proprium, ut semper operetur, sed quod quandoque remittatur ab intentione sua ad consistentiam subiecti, quia natura humana non sustinet, quod aliquis semper sit in exercitiis neque quantum ad studium civilis neque quantum ad studium contemplativae vitae. Et ideo ad quietem et recreationem operantis sunt necessarii ludi honesti et virtus in eis ad refocillandum, quia sine talibus destrueretur subiectum virtutis.74 (Die Tugend muss nämlich wirken, wann sie soll und wie sehr sie soll und gemäß anderer Umstände. Und daher ist es der Tugend nicht eigen, dass sie ständig wirke, sondern dass sie irgendeinmal von ihrer Intention zurückgeworfen werde auf die Beschaffenheit des Subjekts. Denn die menschliche Natur erträgt es nicht, dass jemand ständig in eifriger Beschäftigung sowohl hinsichtlich des politischen als auch hinsichtlich des kontemplativen Lebens steht. Und daher sind anständige Spiele zur Erholung und Wiederherstellung der Betätigung sowie Tugenden in ihnen zur Erquickung notwendig, da ohne solches das Subjekt der Tugend zerstört würde.)

Wie Albert erklärt, müssen also auch die Umstände geregelt werden, um zu tugendhaften Tätigkeiten zu kommen, das bene esse des Denkenden durch Spiele zur dauerhaften Aufrechterhaltung unseres höchsten Glücks in kontemplativen 72 Vgl. Super Ethica IV, Lectio XIII, 323, S. 277, 77–81 und ibid., Lectio XV, 349, S. 296, 36–43; Diese virtutes adiunctae betreffen, zusammen mit der auf das Gut-Leben in sich gerichteten mansuetudo, das Leben selbst (dirigunt in ipsam vitam), vgl. ibid., Lectio XII, 315, S. 270, 9– 16. 73 Vgl. Super Ethica IV, Lectio XV, 344, S. 292, 67–83 und S. 293, 1–2; vgl. zum Glück als dauerhafte Betätigung der Tugend Arist. NE I 11 (1100a10–1101b9). 74 Super Ethica IV, Lectio XV, 344, S. 293, 19–29.

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und politischen Bemühungen sichergestellt werden. Da die wesentlich aufs Glück gerichteten virtutes nicht immer tätig sein können, brauche es eine Tugend der Erholung, denn durch die Auflockerung des Spielens könne man sich im Anschluss der eigentlichen Tugend umso besser widmen. Natürlich nicht in undiszipliniertem und kindlich sklavischem Spiel: Dem Weisen entsprechen eben nur Spiele nach Maßgabe der Tugend (ludi moderati secundum virtutem sunt sapientis).75 Diese Wertschätzung spielerischer Ablenkung übernimmt Albert vermutlich von einem anonymen griechischen Kommentator der Nikomachischen Ethik, den Grosseteste ebenfalls übersetzt hatte. Der wohl spätantike Interpret warnt davor, dass der Geist unbrauchbar werde, wenn er einem Bogen gleich stets gespannt bleibe, weshalb also erfreuliches und edles Spiel für den studiosus unbedingt notwendig sei.76 Diese Bemerkung passt insofern hervorragend zum Beginn von Aristoteles’ Schrift, als dieser dort ausgeführt hatte, dass man einem Schützen gleich das um seinetwillen verfolgte Ziel unserer Handlungen erkennen müsse, um es besser treffen zu können.77 Albert nun bringt diese Schützenmetapher zudem in Verbindung mit einer Erzählung über einen der christlichen patres: Ohne ihn namentlich zu benennen, berichtet er vom Wüsteneinsiedler Antonius dem Großen, der einem Jäger mithilfe der Bogenmetapher über die Notwendigkeit von Rekreation aufgeklärt habe. Als dieser nämlich ihn und seine Brüder gescholten habe wegen der Entspannung, der sie sich hingaben, machte Antonius ihn darauf aufmerksam, dass auch sein Bogen breche, wenn man ihn überspanne. Gleiches gelte für das Bemühen um Tugend, das man unterbrechen müsse, damit nicht die Tugendhaftigkeit zerbreche.78 Das zeigt, dass Albert auf eine christliche Tradition der Erholungslegitimation zurückgreifen und die Entspannung im Philosophenleben nach Aristoteles mit eben dieser in Verbindung setzen kann. So erwähnt er auch knapp Augustinus, der die Notwendigkeit von Entspannung in De musica ebenfalls herausstelle.79 75 Vgl. Super Ethica IV, Lectio XV, 344, S. 293, 41–55. 76 Vgl. Mercken, H. Paul F.: The Greek Commentaries on the Nicomachean Ethics of Aristotle. Band 1. (=Corpus Latinum Commentariorum in Aristotelem Graecorum I, 1) Leiden: Brill, 1973, S. 364, 25–28: »Indiget enim studiosus et requie, ut utique non semper laborans ipsi mens inutilis fiat in semper intentum esse secundum arcus, qui non remissi a propria resolvuntur fortitudine.« Zu Datierung und Charakter des Kommentars vgl. S. 14*-15*. 77 Vgl. Arist. NE I 1 (1094a18–26). 78 Vgl. De vitis patrum V 10, 2 (Migne, Jacques Paul (Hrsg.): Vitae Patrum. (=MPL LVVIII) Paris: 1849, 912 CD), die Geschichte etwas variiert auch bei Cassianus, Coll. Pat. XXIV, 21 (Cassianus, Ioannes: Opera Omnia. Band 1. (=MPL XXXXIX) Paris: 1846, 1312–1315), zu Alberts Erwähnung der Geschichte vgl. Super Ethica IV, Lectio XV, 344, S. 293, 29–37; vgl. zur Geschichte dieser Erzählung Olsen (1982), Literature as Recreation, S. 90–93 und Arcangeli (2003), Recreation, S. 12–14. 79 Vgl. Augustinus, De musica I 2, 14 (Augustinus: Opera Omnia. Band 1. (=MPL XXXII) Paris: 1841, 1116).

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Doch unterfüttert der Kölner Magister die kurze Bemerkung im anonymen Kommentar zur Spielnotwendigkeit für Gelehrte noch um ausführlichere Begründungen. Einerseits physisch: Spiele seien notwendig sowohl für das kontemplative als auch für das politische Leben, »(…) denn unsere Tätigkeiten, da wir materiell sind, sind nicht ohne Bewegung, und die Bewegung, weil sie Distanzen betrifft, erzeugt Ermattung (…).«80 Das gelte auch für die Tätigkeit des Intellekts, insofern er auf niedere Kräfte zurückgreife, die materiell seien, und daher brauche es Erholung.81 Andererseits argumentiert Albert zudem psychologisch: »Da nämlich die wissenschaftliche Beschäftigung eine heftige Zuneigung des Geistes zu etwas ist, folgt aus der Heftigkeit Ermattung (…)«, weswegen es also Ruhe brauche, um später wieder beschwingter zu sein.82 Derjenige nun, der anständig die Freude von Spielen passend einzusetzen weiß, ist nach Albert auch zum Zusammenleben mit Anderen fähig.83 Da Spiele für das Subjekt ohnehin notwendig sind, ist der eutrapelia eben zentral, eine Tugend zu sein, die das Zusammenleben der Menschen in ludischer Hinsicht betrifft. Denn Albert hat durchaus einen Sinn dafür, dass spielerische Interaktionen die Inhalte von Gesprächen einer Neubewertung zuführen können: Jemand zu schmähen mag unrecht sein. Es könne aber passieren, dass das Spiel diese Schmähung auferlege, weshalb die Schmähung formell dann eben die ratio ludi sei und Lachen verursachen könne. Doch wo zu viel der Schmähung stattfinde, da entstehe schnell Betrübnis und Zorn – disziplinierte Spiele führen hingegen zu Lachen ohne Verachtung.84 Und trotz dieser geforderten tugend80 Super Ethica IV, Lectio XV, 349, S. 296, 61–65 (das übersetzte Zitat beginnt beim ersten »quia«): »(…) utilis est requies et ludus, immo necessarius ad vitam contemplativam et civilem, quia operationes nostrae, cum materiales simus, non sunt sine motu, et motus, quia distare facit, inducit lassitudinem (…).« 81 Vgl. Super Ethica IV, Lectio XV, 349, S. 296, 65–68; die körperliche Ermüdung durch geistige Arbeit hat Albert in diesem Sinne auch in seiner Kommentierung der Parva Naturalia angesprochen: Wenn jemand über eine schwierige oder göttliche Sache nachdenke, bei der man sich aufs Innere konzentriere, dann wende auch die Seele ihre Kräfte aufs Innere und ziehe sie von den äußeren Organen ab (vgl. Slenczka, Notger : Träume zwischen Gott und Teufel. In: Gerok-Reiter, Annette und Walde, Christine (Hrsg.): Traum und Vision in der Vormoderne. Traditionen, Diskussionen, Perspektiven. Berlin: Akademie Verlag, 2012, S. 133–160, hierzu S. 148). 82 Super Ethica IV, Lectio XIV, 349, S. 296, 51–54 (Übersetzung bis »lassitudo«): »Cum enim studium sit vehemens applicatio animi ad aliquid, ex vehementia sequitur lassitudo, et ideo oportet, quod sequatur quies ad hoc quod potentiae sint ad postea operandum expeditiores.« 83 Vgl. Super Ethica IV, Lectio XV, 347, S. 295, 21–36. 84 Vgl. Super Ethica IV, Lectio XV, 346, S. 294, 73–74: »(…) eutrapelia ordinat hominem ad alterum, cui convivit (…).« Ebenso ibid., 345, S. 294, 18–20: »(…) huic virtuti, quae inclinat in alterum ad delectabiliter convivendum secundum ludum.« Zur Schmähung ibid., 346, S. 294, 41–44 und 77–84; Albert unterscheidet zwischen derisio und risus: »(…) derisio, secundum quod exponitur in alia translatione, sumitur in virtute duorum vocabulorum, ut dicatur derisio, de quo est risus, ut vocetur tantum materia risus sine forma despectionis,

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haften Achtsamkeit in sozialem Spielen, von Verboten spricht Albert nie: Gänzlich ohne gemeinschaftliches Spiel zu leben führe, wie auch Gregor der Große bestätige, nur zu einem asozialen tierischen Leben (bestialiter vivat).85 Auf die Frage nach den geeigneten Spielen kommt Albert nochmals zurück, als er sich mit Aristoteles’ Reflexionen auf die Wahl zwischen ludus und contemplatio als unser höchstes Glück auseinandersetzt. Wie kommt der Stagirit überhaupt auf die Idee, Spiele könnten unser Glück ausmachen? Albert antwortet wiederum mit einer distinctio der Spielarten: Schandhaft und sklavisch seien zwar Spiele aus Gewinnstreben und in unehrenhaften Dingen. Hier aber spreche Aristoteles von den ludi liberales, die der Tugend ähnliche Bewegungen umfassen und an sich wählenswert seien, weil die Betätigung in edlen Spielen etwas in sich habe, das erfreue – obgleich sie selbstverständlich mit ihrer Erholungsfunktion ein übers Spielen hinausgehendes Ziel haben.86 Unter diesen edlen Spielen verstand man nach Albert in alten Zeiten die Ringkunst und den Wettlauf: (…) qui, ut dicit Vitruvius, fuerunt instituti in civilibus ad exercitium, ne corporis quiete languescerent corpora generatis grossis humoribus. Et sic patet etiam, quod ludi tales ordinatur ad felicitatem contemplativam, quia per huiusmodi exercitia subtiliantur spiritus et humores et efficiuntur spiritus magis mobiles, unde subtilius homo potest speculari.87 ([…] diese, wie Vitruv berichtet, wurden den Bürgern gelehrt zur Ertüchtigung, damit nicht durch die leibliche Ruhe die Körper erschlaffen aufgrund der Produktion dicker Säfte. Und so ist klar, dass solche Spiele auf das kontemplative Glück hingeordnet werden, da durch solcherlei Übungen die Lebensgeister und die Körpersäfte verfeinert sowie beweglichere Lebensgeister hervorgebracht werden, weshalb der Mensch feiner spekulierend zu denken vermag.)

Albert erweitert also noch einmal seine physische Erklärung der Erholungsnotwendigkeit. Nicht nur ermüdet der Körper von geistiger Arbeit, auch ist unsere durch bestimmte Spiele hervorgerufene subtile humorale Verfasstheit eine Voraussetzung dafür, dass wir uns feineren Spekulationen hinzugeben vermögen. Vermeiden lässt sich die Bildung dicker Säfte bei Gelehrten durch die Spiele Vitruvs – dieser hatte in seinem De architectura eine Palästra beschrieben, in der neben Plätzen für die körperliche Ertüchtigung auch Orte für Philosophen quae in derisio est. Et sic de ludis disciplinatis potest esse derisio, in quantum per eos excitatur risus.« (ibid., 347, S. 295, 47–53). 85 Vgl. Super Ethica IV, Lectio XV, 350, S. 297, 40–41, vgl. hierzu Greg., Moral. I 5, 45 n. 78 (Gregorius: Opera Omnia. Band 1. (=MPL LXXV) Paris : 1862, 724B). 86 Vgl. Super Ethica X, Lectio X, 891, S. 745, 34–39 und ibid., 62–63: »(…) operationes ludi liberales sunt eligibiles secundum se, quia habent in se aliquid quod delectat (…).« 87 Super Ethica X, Lectio X, 891, S. 745, 39–46.

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und Rhetoren zur Disputation vorhanden sein sollten.88 Albert nun verbindet die antike Gemeinschaft physischer Übung und geistiger Arbeit mit medizinischen Maßnahmen zur Produktion subtiler Lebensgeister. Diese Lebensgeister fungieren in dem Körpermodell, dass die mittelalterlichen Philosophen griechischarabischer Medizin entnommen hatten, als feinstoffliche Vehikel der Seele um bestimmte Körperfunktionen zu steuern – je feiner sie sind, desto feiner lässt sich steuern, und gerade Spiel fördert also nach Albert diese wünschenswerte Spiritualisierung unserer Körpersäfte.89 Für die kontemplative Tätigkeit ist Spielen somit unerlässlich. Spielen schafft die Voraussetzung für Denken, sorgt dabei jedoch zugleich für Erholung: In Spielen, so fährt Albert fort, erfahre die ratio Ruhe von der Kontemplation des Studiums – und obwohl das Spiel eher in Aktion als Kontemplation bestehe, richte es doch gerade aus diesem Grund weniger zum politischen als vielmehr zum kontemplativen Glück aus.90 Natürlich: Albert hatte ja schon deutlich gemacht, dass die eutrapelia sich auf das Zusammenleben mit anderen Menschen beziehe, die Quantität und Modalitäten von Spielen regle, welche eben notwendig werden aufgrund der nicht durchhaltbaren ständigen Operation der essentiell zum Glück führenden Tugenden. Spiele müssen geordnet werden in der politischen Gemeinschaft, weil sie notwendig sind, um die Operationsfähigkeit des Intellekts zu erhalten. Da tugendhaftes Spielen damit aber zumindest teilweise in den Bereich der praktischen Vernunft fällt, wird vor allem die kontemplative höchste Tätigkeit des 88 Vgl. Vit. De arch. V 9, 5, zu Alberts Lektüre dieser Passage vgl. Super Ethica II, Lectio VI, 138, S. 122, 55–66 und S. 123, 1–4: »palaestra autem, ut dicit Vitruvius, erat quoddam trigonum aedificium et habebat tria tecta, quae coniungebantur, et in medio exercebant se homines ad pugnam, quod distinguebatur quibusdam columnis, et sub tectis stabant inspectores et sapientes, qui de sapientia conferebant, et haec exercitia fuerunt inventa, ut dicit Commentator, ut conservarentur cives in sanitate corporis, ut superflui umores consumerentur per labores.« 89 Vgl. hierzu auch schon Hugo v. St. Viktors Bemerkung im Didascalicon II, 20, aus welchem Grund die sieben freien Künste frei genannt würden: »(…) quia liberos, id est, expeditos et exercitatos animos requirunt, quia subtiliter de rerum causis disputant (…).« Der Gedanke, dass körperliche Ertüchtigung gegen Materieansammlungen betrieben werden sollte, findet sich in Avicennas Kanon der Medizin, vgl. Avicenna: Liber canonis. Venedig: Paganinus de Paganinis, 1507, fol. 56v (I, III, 2, cap.1). Zu körperlicher Ertüchtigung in der klösterlichen Medizin vgl. Jankrift, Kay Peter : Motus et exercitium. Körperliche Bewegung in der klösterlichen Medizin. In: Sonntag (2013), Religiosus ludens, S. 137–147; vgl. auch den PolitikKommentar Alberts (Borgnet, Auguste (Hrsg.): B. Alberti Magni (…) Opera Omnia. Vol. Octavum: Politicorum Lib. VIII. Paris: VivHs, 1891, S. 738b), wo er hinweißt auf ein pythagoreisches »(…) librum, quo continetur de artibus tripudii et chorearum, quibus motibus oportet repraesentare distinctiones et modulationes musicorum, et qualiter oportet currere fortiter in stadio, ut eventur corpora civium et non languescant per inertiam (…).« 90 Vgl. Super Ethica X, Lectio X, 891, S. 745, 17–20 und 53–58: »(…) ipsa operatio ludi actio quaedam est, sed in ipsa operatione est quies rationalium virtutum a meditatione studii, et ideo per modum, qui dictus est, magis ordinatur ad felicitatem contemplativam quam civilem, quia in ludo non est quies exteriorum operationum.«

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Intellekts unterbrochen. Wenn wir spielen, so lässt sich mit Albert sagen, erholt sich der Mensch vor allem von der theoretischen Betätigung des Philosophierenden, in der Aristoteles unser höchstes Glück gesehen hatte. Das ist meines Erachtens der zentrale Aspekt des albertinischen Ansatzes: Um wieder abgeschieden über subtile Fragen denken zu können, sind zur Erholung soziale ludische Tätigkeiten notwendig, die es tugendhaft zu regeln gilt. Albert spezifiziert das an anderer Stelle seines Ethikkommentars. So setze Aristoteles Glücksspieler ganz recht in eine Nähe zu Dieben, weil diese eben mit ihrem Tun auch die civilitas verderben und richtigerweise mit gesetzlichen Verboten belegt werden. Überhaupt müssen sie aus der Bürgerschaft vertrieben werden.91 Disziplinierte und freie Spiele seien vielmehr ludi exercitiorum, also wohl mit einem Anteil von körperlicher Übung, die den Statuten einer res publica entsprechen.92 Zu vermeiden sind etwa laszive Spiele wie Tänze, von denen Aristoteles in der zuvor erwähnten Passage der Unmäßigkeit des siebten Buches spreche, wenn von jemandem die Rede ist, der lusivus und damit weichlich ist. Hüten solle man sich auch vor der Ansicht der Tyrannen, die glauben, der exzessiv Spielende sei eutrapelisch, wie auch vor der Meinung der Epikureer, die im Spiel gar das Ziel unseres Lebens sehen wollen.93 Fassen wir Alberts Arbeit am Spiel in zwei Punkten zusammen: Vom anonymen Kommentator hatte er erstens die Notwendigkeit von Spielen für Gelehrte übernommen, diese mit physiologischen und psychologischen Argumenten allerdings fundierter begründet. Die ihm aus medizinischen Diskursen bekannte gesundheitsfördernde Wirkung von Bewegung nutzt er dabei, um bestimmten Spielen eine notwendige Funktion zur Aufrechterhaltung unserer Denktätigkeit zuzuschreiben. In der Lebensform eines Philosophierenden könnten wir gar nicht anders als spielen: Um die Tätigkeit verfolgen zu können, in der wir unser höchstes Glück finden, müssen wir uns darum bemühen, unsere Kräfte wiederzugewinnen. Dass Albert hier vor allem körperliche Spiele betonte, ergab medizinisch Sinn. Schon um 1227 hatte Adam von Cremona in seinem Gesundheitsratgeber für Kaiser Friedrich II. erklärt, dass beim Nachdenken und Vorstellen der Körper ruhe, beim Reiten und Laufen hingegen der Geist; beim Lesen, Schreiben und Unterrichten arbeiten wir jedoch sowohl mit dem Geist als auch mit dem Körper.94 Eine solchermaßen enge Verbindung von Körper und

91 Vgl. Super Ethica IV, Lectio IV, 277, S. 240, 48–50 und 75–82, insb. 77–80: »Aleator enim peccat in ipsam civilitatem, quia per huiusmodi officium ipse corrumpit eam; unde dicit infra, quod interest legislatoris, quod taxillatores exterminet de civitate.« 92 Vgl. Super Ethica IV, Lectio XV, 350, S. 298, 13–19. 93 Vgl. Super Ethica X, Lectio X, 891, S. 745, 59–61 und 73–76. 94 Vgl. Hönger, Fritz: Ärztliche Verhaltungsmaßregeln auf dem Heerzug ins Heilige Land für Kaiser Friedrich II., geschrieben von Adam von Cremona (ca. 1227). Leipzig: Noske, 1913,

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Geist setzt auch Albert voraus, denn Denken ermüdet seinem Ansatz nach ebenfalls den Körper. Durch Bewegungsspiele aber kann man sowohl die kontemplative Tätigkeit unterbrechen als auch die humoralen Voraussetzungen für weitere geistige Arbeit schaffen. Mit Aristoteles und Vitruv beweist Albert, dass sowohl Mönche als auch Philosophierende, so sie denn denken und sich Gott nähern wollen, der Spiele bedürfen, als psychische und physische Notwendigkeit. Zweitens stellt Albert die Soziabilität von Spielen explizit heraus. Weil die denkenden Menschen ohnehin spielen müssen, also die subjektive Notwendigkeit zum Spielen besteht, gilt es, das Spielen in der Gemeinschaft tugendhaft zu regeln und intersubjektiv zu betrachten. Man beweist sogar seine Soziabilität im Spiel: Wer diesen Umgang mit Menschen gänzlich vernachlässige, lebe bestialisch. Die eutrapelia ist entsprechend die Tugend des rechten Maßes im ludischen Zusammenleben. Dabei darf man allerdings nur ehrenhafte Spiele verfolgen: Albert ordnet die aristotelischen Spielpassagen in die zuvor schon beschriebenen Diskussionen um verschiedene Formen von ludi ein. Vitruvianische Spiele der körperlichen Ertüchtigung sind zu befürworten, aleatorische Praktiken hingegen politisch zu unterbinden. Dies stellt eine Erweiterung der aristotelischen Passagen dar, die sich gleich den medizinischen Erweiterungen aus zeitgenössischen Diskursen speist. Aristoteles’ Spieltheorie dient Albert demnach dazu, die Notwendigkeit ludischer Betätigung für die Denkanstrengung zu etablieren und zu legitimieren. Bestehenden diskursiven Praktiken der distinctio von verbotenen und erlaubten Spielen wird entsprochen und die Rolle ludischer Betätigungen im medizinischen Diskurs aufgegriffen. Innerhalb dieser Koordinaten entwirft Albert für die Lebensform des Philosophierenden ein Konzept vom Spielen als Tätigkeit, welche die Aufrechterhaltung dieser Lebenspraxis unter der Bedingung körperlicher Inkonstanz sicherstellt. Auch die physischen Grundlagen einer aufs kontemplative Glück gerichteten Existenz bedürfen der vorausschauenden Aufmerksamkeit des Subjekts, insofern es ohne eine Berücksichtigung der Entspannung in jedem Falle die Befähigung zur geistigen Arbeit verliert. Dieser Ansatz ist eine komplexe Begründung der Notwendigkeit des Spielens, der kreativ die diskursiven Zusammenhänge von ludischen Praktiken für eine Aufwertung des Spielens mittels aristotelischer Philosophie innerhalb eines neuen Lebensmodells nutzt: Alberts berühmtester und häufiger gelesener Schüler hatte dem vor allem noch eine systematisierende Ordnung hinzuzugeben.

S. 60: »Exercitium vero utriusque est legere, scribere, docere et talia exercere, quorum unus indiget alterius ope (…).« Den Hinweis hierauf entnehme ich Jankrift (2013), Motus, S. 147.

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Thomas’ Summe: Der Primat des Ernsten Thomas von Aquin, der während Alberts erster Vorlesung zur Nikomachischen Ethik in Köln studiert hatte, folgte in seiner Summa Theologica weitgehend den grundlegenden Linien seines Lehrers.95 In der 168. Quaestio der zweiten Hälfte des zweiten Teils kommt er auf die Frage nach der Mäßigung in den äußeren Bewegungen des Körpers zu sprechen. Zu diesen ordnet er nun auch Spiele, die deren unernsten Teil ausmachen. Zunächst jedoch erörtert er im ersten Artikel die äußeren Bewegungen in ernsthaften Angelegenheiten. Nach der ratio könne man sie in zweifacher Weise ordnen: Einerseits hinsichtlich der Angemessenheit für die eigene Person; andererseits hinsichtlich der Angemessenheit für andere Personen oder Orte. In jedem Falle gelte dabei, dass man innere Dispositionen aus den äußeren Bewegungen herauslesen könne. In ernsthaften Angelegenheiten gebe es entsprechend zwei Tugenden: Erstens die Mäßigung äußerer Bewegungen bezüglich anderer Menschen, was zur amicitia gehöre, d. h. die Mäßigung von Freude und Trauer in Taten und Worten betreffend die mit uns Zusammenlebenden. Zweitens die veritas, insofern unsere Bewegungen Zeichen innerer Dispositionen seien und jemand sich in Worten und Taten darbieten müsse, wie er im Herzen fühle.96 Die amicitia und veritas betreffen demnach die ernsten Bewegungen, die eutrapelia sodann aber das Spiel. Die darauffolgenden Artikel 2–4 der Quaestio widmen sich einer Tugend in spielerischen äußeren Bewegungen des Körpers sowie dem Übertreiben und der Vernachlässigung von Spielen. Die Struktur folgt demnach der aristotelischen Spieltugend mit ihrer wählenswerten Mitte sowie zu vermeidenden Exzessen. Albert folgend setzt jedoch auch Thomas sich zunächst kritisch mit der Möglichkeit einer Tugend des Spielens auseinander, allerdings mit deutlicheren patristischen Einwänden. Nach Ambrosius sei Gotteswort, dass diejenigen, die lachen, weinen werden, und auch Chrysostomos halte dafür, dass das Spielen vom Teufel komme. Augustinus wiederum betone in seiner Schrift De Musica – auf diese hatte auch schon Albert zurückgegriffen – die Notwendigkeit von geistiger Erholung, die durch ludische Taten und Worte geschehe, weshalb auch Aristoteles eine Spieltugend namens eutrapelia einführe.97 Thomas schlägt sich auf die augustinische Seite: Gleich der Notwendigkeit zur Erholung bei körperlicher Anstrengung, so habe auch die Seele nur beschränkt Kräfte, entstehe ebenfalls Ermüdung, wenn der Mensch über das ihm 95 Vgl. zur Verbindung Thomas’ zum Ethikkommentar Alberts das Vorwort Kübels in Band 1 der Edition, Super Ethica op. cit., S. V–VI; die im Folgenden behandelte Spiele betreffende Quaestio der Summa Theologica findet sich auf den S. 349–355 der Leonina Band 10 (1899). 96 Vgl. Summa Theologica, IIa-IIae, q.168pr., a.1cor. sowie a.1ad3. 97 Vgl. ibid., q.168 a.2arg.1, 2 und s.c.; vgl. Ambr. De off. I, 23 (=MPL XVI, 54), sowie Chrys. In Matt. VI (=MPG 57, 70): »Non enim Deus id dat ut ludamus, sed diabolus.«

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zuträgliche Maß hinaus gehe. Umso mehr gelte dies, da auch der Körper bei seelischer Tätigkeit arbeite, die anima intellectiva durch körperliche Organe tätige Kräfte beanspruche. Da aber die sinnlichen Güter dem Menschen naturgemäß seien, entstehe eine fatigatio animalis, eine seelische Ermüdung also, wenn sich die Seele in angestrengter rationaler Tätigkeit über die Sinne erhebe, sowohl in Tätigkeiten der praktischen als auch der spekulativen Vernunft – wobei sie mehr ermüde, wenn sie kontemplativen Tätigkeiten nachgehe.98 Die Ermüdung sei darüber hinaus umso größer, je heftiger die Tätigkeit der Vernunft verfolgt werde (quanto vehementius operibus rationis intendat). Auch Thomas greift zur Versinnbildlichung dieses Sachverhalts auf die Geschichte vom beinahe brechendem Bogen zurück. Um Erholung zu gewährleisten, benötige man daher analog zur körperlichen Ruhe bei körperlicher Ermüdung seelische Ruhe, die in delectatio bestehe, insofern man die Anstrengung der Hingabe zur wissenschaftlichen Betätigung der Vernunft hiermit unterbreche (intermissa intentione ad insistendum studio rationis).99 Eben diese Vergnügungen meine Aristoteles: Huiusmodi autem dicta vel facta, in quibus non quaeritur nisi delectatio animalis, vocantur ludicra vel iocosa. Et ideo necesse est talibus interdum uti, quasi ad quondam animae quietem. Et hoc est quod Philosophus dicit, in 4 Ethicorum, quod in huius vitae conversatione quaedam requies cum ludo habetur : et ideo oportet interdum aliquibus talibus uti.100 (Solcherlei Worte und Handlungen, die nur dem seelischen Vergnügen dienen sollen, heißen Kurzweil oder Lustigkeit. Und daher ist es notwendig, diese bisweilen zu gebrauchen, sozusagen für eine gewisse Erholung der Seele. Gerade das meint Aristoteles, wenn er sagt: ›Im Wandel dieses Lebens findet man eine gewisse Entspannung im Spiel‹, und darum muss man sich dergleichen bisweilen zuwenden.) 98 Vgl. Summa Theologica, IIa-IIae, q.168 a.2cor. 99 Vgl. ibid., siehe hierzu auch Ia-IIae, q.34 a.1ad1; die durch den Sündenfall korrumpierte menschliche Natur bedarf nach Vernunftmaßgabe der delecatatio, vgl auch Ia-IIae, q.32 a.1ad3: »Cum autem virtus humana sit finita, secundum aliquam mensuram operatio est sibi proportionata. Unde si excedat illam mensuram, iam non erit sibi proportionata, nec delectabilis, sed magis laboriosa et attaedians. Et secundum hoc, otium et ludus et alia quae ad requiem pertinent, delectabilia sunt, inquantum auferunt tristitiam quae est ex labore.« 100 Summa Theologica, IIa-IIae, q.168 a.2cor.; die Übersetzung basiert auf Thomas ‹de Aquino›: Die deutsche Thomas-Ausgabe = Summa theologica. Übers. und komm. von Dominikanern und Benediktinern Deutschlands und Österreichs. Band 22. Graz/Wien/Köln: Verlag Styria, 1993, S. 337, ist an einigen Stellen jedoch modifiziert. Es sei darauf hingewiesen, dass conversatio auch spezifisch monastisches Leben bedeuten kann, vgl. Plotke, Seraina: Conversatio/Konversation: Eine Wort- und Begriffsgeschichte. In: Schnell, Rüdiger (Hrsg.): Konversationskultur in der Vormoderne. Geschlechter im geselligen Gespräch. Köln: Böhlau, 2008, S. 31–120, bes. S. 47; ebenfalls hinzuweisen ist auf die ambivalente Stellung von animalis, wenn Thomas von delectatio animalis spricht: Hier ist vermutlich seelisches Vergnügen gemeint, wie sich aus dem folgenden Satz ergibt.

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Wenn man sich also davor hüte, die delectatio des Spiels in schändlichen Worten oder Handlungen zu suchen, dabei auf die Umstände der Personen, der Zeit, des Ortes und überdies auf die Würde der Seele achte, steht einer Tugend des Spiels, gleich der von Aristoteles entworfenen eutrapelia, nichts mehr im Wege. Denn ein nach Maßgabe der Vernunft tätiger habitus sei eben eine Tugend (habitus autem secundum rationem operans est virtus moralis). Für diese Maßgaben greift Thomas vor allem auf Ciceros De officiis zurück: Es gebe nach Tullius unedle und edle Spiele, wobei wir die anständigen wählen müssen. Auch gelte es moderat zu spielen, so wie Cicero erkläre, das Spiel dürfe man zur Erholung wie den Schlaf und die Ruhe gebrauchen.101 Denn ein Spiel sei das menschliche Leben letztlich nicht, abermals unterstreicht Thomas mit Cicero: »Denn nicht mit der Bestimmung sind wir von der Natur in die Welt gesetzt worden, dass wir zu Spielerei geschaffen zu sein scheinen, vielmehr zu Lebensernst und bestimmten bedeutsameren und größeren Aufgaben.«102 Entsprechend gebe es auch ein Übermaß des Spielens, einmal nach der Art der Handlung selbst, die man im Spiel sich aneigne und die unedel sein oder beim Nächsten Schaden anrichten könne; andererseits in den Umständen des Spiels, wenn etwa die rechte Zeit nicht beachtet werde. Auch letzterer Fall könne eine Todsünde sein, wenn jemand die delectatio des Spiels der dilectio Dei, also der Liebe zu Gott vorziehe.103 Jedenfalls aber hält Thomas dafür, dass Spiele manchmal von Sünden entschuldigen oder sie zumindest abschwächen. Dies gelte für manche Sünden, wenn sie Sünden nur der Intention nach seien, im Spiel aber die Intention nur die delectatio und nicht der Schaden eines Anderen war ; für Sünden, die allerdings ihrer Art nach sündhaft seien, wie Mord, gelte dies selbstverständlich nicht.104 Ein Mangel an Spielen ist nach Thomas auch tadelnswert, wie er vor allem mit Aristoteles selbst begründet: Doch sei dieser Mangel weniger verwerflich als das Übermaß, da wenig delectatio im Leben genüge, so wie wenig Salz im Essen.105 Zusammenfassend lässt sich feststellen: Die körperliche Bedingung der subtilen Lebensgeister, von der Albert noch gesprochen hatte, verschwindet bei Thomas. Die intellektive Seele arbeitet natürlicherweise mit den Sinnen, erhebt 101 Vgl. Summa Theologica, IIa-IIae, q.168 a.2ad3; zu Thomas Einteilung von Spielen vgl. auch Sonntag (2013), Erfinder, S. 251–252, siehe auch Kapitel 1 dieser Arbeit, S. 97. 102 Vgl. Summa Theologica, IIa-IIae, q.168 a.2ad2; zum Zitat vgl. Cic. De off. I, 103: »Neque enim ita generati a natura sumus, ut ad ludum et iocum facti esse videamur, ad severitatem potius et ad quaedam studia graviora atque maiora.« Die Übersetzung folgt unter modernisierter Orthographie Cicero: De Officiis/Vom pflichtgemäßen Handeln. Lateinisch/ Deutsch. Übers., komm. und hrsg. von Heinz Gunermann. Stuttgart: Reclam, 1976/2007, S. 91. 103 Vgl. Summa Theologica, IIa-IIae, q.168 a.3cor. 104 Vgl. ibid., q.168 a.3ad1. 105 Vgl. ibid., q.168 a.4cor.

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sich aber über die Sinne in der kontemplativen Tätigkeit. Die Vehemenz dieser Tätigkeit ermüdet. Thomas fokussiert damit in der Summa Theologica diejenige von Alberts Erklärungen der Notwendigkeit spielerischer Ablenkung für Gelehrte, die ich psychologisch genannt habe: Den Geist bedrückt die Heftigkeit seiner Anstrengung. Die vitruvianischen Spiele körperlicher Ertüchtigung erwähnt der Aquinat mit keinem Wort. Thomas verengt damit zwar den Blickwinkel und betont vor allem nachdrücklich den Primat des Ernsten mit Cicero.106 Doch lassen die ludi honesti in der besprochenen Quaestio auch Raum für eine Vielzahl von ludischen Praktiken, eben weil sie nur kontextual geordnet, nicht konkret wie bei Albert beschrieben werden.107 Zentral ist die rekreative Funktion, die der angestrengt Denkende zwingend benötigt. Unter der Bedingung der korrumpierten menschlichen Natur muss man seine Intention zur Kontemplation, zur Erhebung über die sinnlichen Dinge hin und wieder unterbrechen. Bei Thomas ist das Spielen damit in der Gelehrtenexistenz systematisch verankert und theologisch gerechtfertigt. Und beachtenswert ist auch: Er etabliert die Notwendigkeit des Spielens mit Augustinus und auf Basis von Albert gegen so gewichtige Stimmen wie diejenigen des Ambrosius und Johannes Chrysostomos. Ob Aristoteles allerdings die Notwendigkeit spielerischer Erholung in einem solchermaßen strukturierten Philosophenleben gemeint habe, ist für die an sprachlicher Brillanz interessierten humanistischen Nachfolger Alberts und Thomas’ nicht mehr so eindeutig. Die Applikation der eutrapelia ist für sie vor allem eine Übersetzungsfrage, die Leonardo Bruni eindringlich an seine Vorgänger stellt und die in der Unschärfe des Wortes ludus begründet liegt.

106 Auch in seinem Ethik-Kommentar geht Thomas nicht über diese Linie hinaus, vgl. Spiazzi, Raymundi M. (Hrsg.): Sancti Thomae Aquinatis In decem libros Ethicorum Aristotelis ad Nicomachum expositio. Turin: Marietti, 1964, S. 234–237 (L. IV Lectio XVI) und S. 539–540 (L. X Lectio IX); für eine knappe Diskussion thomasischer Rekreationsansätze vgl. Olsen (1982), Literature as Recreation, S. 95–99. 107 Giovanni Ceccarelli hat dafür argumentiert, dass Thomas gerade durch eine fehlende konkrete Bestimmung guter Spiele im Gegensatz zu Albert, der ludi honesti mit körperlichen Spielen zu identifizieren und aleatorische Spiele gänzlich zu verdammen scheine, Raum für eine Auseinandersetzung mit Glücksspielen belässt, die auch deren rekreative Funktion zu würdigen imstande ist, vgl. Ceccarelli, Giovanni (2003), Il gioco e il peccato, S. 154–166. Albert jedoch nennt Glücksspiele und Körperspiele nur als Beispiele für die entgegengesetzten guten und schlechten Arten von Spielen, eingeleitet mit einem sicut, und identifiziert sie nicht damit, vgl. Super Ethica IV, Lectio XV, 350, S. 298, 13–19. Dennoch ist Ceccarellis Beobachtung in Bezug auf Thomas wohl richtig – für die tatsächliche Würdigung von Glücksspielen im Ausgang von Thomas sei nur der Hinweis im wirkmächtigen Summa-Kommentar des Thomas Cajetan erwähnt, dass der Theorie des Aquinaten zufolge Schach zu meiden sei, da es den Geist anstrenge, und man daher eigentlich aleatorische Spiele zur Entspannung vorziehen müsse, vgl. Band 10 der Leonina (1899), S. 354.

Ludus/iocus/lusus: Valla, Bruni und humanistische Wortspiele

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Ludus/iocus/lusus: Valla, Bruni und humanistische Wortspiele Ich möchte auf ein lexikalisches Problem zu sprechen kommen, dessen Umfang ich bislang verschwiegen habe. Denn betrachtet man allein Alberts und Thomas’ Schriften, scheint der Sachverhalt begrifflich hinreichend klar : ludus umfasst den Bereich erholender Tätigkeiten in einem weiten Sinne, ähnlich dem deutschen Spiel, das von seiner Extension her nur unscharf zu begrenzen ist. JeanMichel Mehl hat jedoch darauf hingewiesen, dass das lateinische Mittelalter zwei Begriffe kenne, um von eben diesem Tätigkeitsbereich zu sprechen: ludus und iocus, dazu die Verben ludere und iocari.108 Schon in seinem umfangreichen Werk zum Spiel im französischen Mittelalter bemerkte er die Austauschbarkeit beider Begriffe, wies aber zugleich darauf hin, dass ludus zur Bezeichnung von konkreten Spielen verwendet werde, was auf iocus nie zutreffe.109 In einer neueren Arbeit hält er dafür, dass iocus Spiele der Wörter, aber auch Amüsement bezeichnen könne, ludus hingegen das organisierte Spiel meine. Jedoch entwickeln sich die eng beieinander liegenden Begriffe nach Mehl semantisch zusammenhängend. Dabei trage ludus letztlich den Sieg davon und erzeuge mit der durch die Absorbierung von iocus eintretenden Weitläufigkeit die Notwendigkeit, ihm erklärende Präzisierungen beizugeben.110 Dem deutschen Spiel würde ludus also durch unscharfe Extension entsprechen, und gerade die mangelnde Eindeutigkeit ließe den Begriff theoretisch produktiv werden, insofern Notwendigkeit zur Spezifikation moralisch angemessenen Spiels oder seiner Zwecke bestünde. Etwas mehr als eine Dekade vor Cusanus De ludo globi mündete diese Notwendigkeit bei Lorenzo Valla jedoch wieder in einem Differenzierungsversuch. In seinem im Jahre 1449 fertiggestellten Werk De elegantia linguae latinae versuchte der Humanist eine Unterscheidung zwischen iocus und ludus zu konstituieren und zeigt dabei, dass wir im Folgenden von einer nicht gänzlich zu eliminierenden Verwirrung hinsichtlich der beiden Wörter ausgehen müssen. Die Bedeutungen von iocus und ludus jedenfalls lassen sich nach Valla vor allem aus Ciceros De oratore und Quintilians Institutio oratoria erlernen, was er in einer knappen Definition zusammenfasst: »(…) iocus in verbo, ludus in facto.«111 108 Hierzu auch Huizinga (2009), Homo ludens, S. 46–47. 109 Vgl. Mehl (1990), Les jeux, S. 14–18. 110 Vgl. Mehl, Jean-Michel : Des jeux et des hommes dans la soci8t8 m8di8vale. Paris: Honor8 Champion Pditeur, 2010, S. 63–66, insb. S. 65: »Ainsi, la victoire de ludus entra%ne la n8cessit8 d’accompagner le terme de pr8cisions suppl8mentaires.« 111 Vgl. Valla, Laurentius: De linguae latinae elegantia. In: Valla, Laurentius: Opera Omnia. Band I. Hrsg. von Eugenio Garin. Turin: Bottega d’Erasmo, 1962 [Nachdruck der Ausgabe Basel 1540], S. 1–235, hierzu S. 126–127; Zur Wirkmächtigkeit des Werks und allgemein vgl. Ax, Wolfram: Lorenzo Valla (1407–1457). Elegantiarum Linguae Latinae Libri Sex (1449).

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Allerdings beeilt Valla sich sogleich einzugestehen, dass bei beiden Begriffen Ausnahmen möglich seien: Wenn etwa Fortuna ihre Scherze treibe, dann wohl eher durch Taten, und iocari beziehe sich hier also nicht auf Wörter. Die Zerteilung des Ludischen führt Valla darüber hinaus in noch eine Richtung fort: Auch müsse man das Wort ludus von lusus unterscheiden, denn ersteres habe mit spes und periculum zu tun, letzterem würde nur aus Lust nachgegangen.112 Das ist eine weitere Grenzziehung im Bereich ludischer Tätigkeiten, die wir folgendermaßen zusammenfassen und vorerst als Arbeitsdefinition beibehalten könnten: Es gibt Spiele mit Worten, iocus, und Spiele mit Handlungen, wobei diese konzeptionell unterschieden sind in ludus und lusus. Zu beachten ist dabei aber stets der Hinweis Mehls, dass ludus ausgreifend die mit ihm verbundenen Begriffe aufnehmen kann. Dieses humanistische Interesse an Wort-Spitzfindigkeiten im Ludischen ist philosophisch nicht unbedeutend, zumindest wenn es um Übersetzungen geht. Die aristotelische paidi\ hatte Grosseteste als ludus übersetzt, zu Beginn des 15. Jahrhunderts war diese Übertragung aber nicht mehr ohne Konkurrenz. Leonardo Bruni stellte 1416/17 eine Neuübersetzung der Nikomachischen Ethik fertig und war dabei voller Verachtung für die mittelalterlichen Versionen, die Albert und Thomas verwendet hatten.113 Die Sprache müsse die Eloquenz des Aristoteles wiedergeben, die alten Übersetzungen wollte er nicht als eigentliche Übersetzungen gelten lassen.114 In einer Vorrede zu seiner Neuübersetzung ist er auch um Beispiele der schlechten Qualität alter Verdolmetschungen nicht verlegen. Vor allem die Übersetzung einer Passage zur eutrapelia will ihm nicht gefallen: Atqui poterant haec omnia, quae ob ignorantiam reliquit, commode et eleganter Latine dici! Primum enim, quod ille in ludo inquit, magis equidem in ioco dicendum reor; nam »ludere« pila et alea magis dicimus, »iocari« autem verbis. In ioco igitur laudabilem illam mediocritatem, quam Graeci eutrapeliam vocant, nostri tum urbanitatem tum festivitatem tum comitatem tum iocunditatem dixere.115

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In: Wolfram Ax: Text und Stil. Studien zur antiken Literatur und deren Rezeption. Hrsg. von Christian Schwarz. Stuttgart: Franz Steiner, 2006, S. 131–152. Vgl. Valla (1962/1540), Elegantia, S. 126. Zu den neueren Übersetzungen der Nikomachischen Ethik seit dem 15. Jahrhundert vgl. Lines (2002), Aristotle’s Ethics, S. 49–54, speziell zu Bruni S. 49; ausführlicher zur Übersetzungstätigkeit und Hinweisen zur Nachwirkung Botley, Paul: Latin Translations in the Renaissance. The Theory and Practice of Leonardo Bruni, Giannozzo Manetti and Desiderius Erasmus. Cambridge: Cambridge University Press, 2004, S. 5–62. Vgl. hierzu Gerl, Barbara: Philosophie und Philologie. Leonardo Brunis Übertragung der Nikomachischen Ethik in ihren philosophischen Prämissen. Habil.-Schrift, München 1979, S. 23–27. Aretino, Leonardo Bruni: Humanistische-Philosophische Schriften. Hrsg. von Hans Baron. Leipzig/Berlin: Teubner, 1928, S. 79, Auszug aus der Vorrede 1416/17 unter dem Titel Praemissio quaedam ad evidentiam novae translationis Ethicorum Aristotelis.

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(Dabei konnte doch dies alles, was er aus Unwissenheit vernachlässigte, angemessen und geistreich auf Latein gesagt werden! Erstens nämlich, was jener im Spiel spricht, halte ich eher für im Scherz zu sagen; denn »spielen« verwenden wir vor allem für Ballspiel und Glücksspiel, »scherzen« aber für Wörter. Im Scherz besteht also dieses lobenswerte Mittelmaß, welches die Griechen eutrapelia nennen, die unseren aber bald mit Urbanität, bald Heiterkeit, bald Fröhlichkeit, bald Liebenswürdigkeit ausdrücken.)

Der Unterschied zwischen iocus und ludus ist bedeutsam für Bruni, weil iocari in verbis gelte – die eutrapelia wäre nach seiner Neuübersetzung eine verbale Angelegenheit. Die dicta vel facta, von denen Albert und Thomas noch gesprochen hatten, verlieren hiermit ihren Sinn. Nach Brunis Übersetzung ist die eutrapelia nicht mehr eine Tugend des Spielens, sondern eine Tugend des scherzhaften Sprechens. Sind also die beiden Betrachtungen ludischer Tätigkeit, die ich bislang vorgestellt habe, nichts weiter als bedauerliche Missverständnisse? Oder haben sich die Humanisten von ihrer nachweisbaren Begeisterung für den Witz und Fazetiensammlungen zu einer Fehlinterpretation der Passage hinreißen lassen?116 Brunis heftige Verurteilung mittelalterlicher Übersetzungen rief rasch die Gegenstimme des Spaniers Alfonso Cartagena auf den Plan.117 In seiner Verteidigung der althergebrachten Versionen widmete sich Cartagena auch Brunis Angriff auf das alte ludus und machte vor allem zwei Gegenargumente geltend: Erstens sei ludus das Genus und iocus die Spezies, zweitens werden beide jedoch häufig ohne Unterschied verwendet. Daher sei die alte Übersetzung eben nicht als unklug anzusehen, da ludus entweder iocus miteinschließe, ludus und iocus aber zumindest austauschbar seien.118 Cartagenas Defensio der alten Verdolmetschungen entspricht den Hinweisen Mehls: ludus übernimmt auch hier die Rolle eines Überbegriffs, der scherzhafte Rede miteinschließen kann. Gerade diese Unschärfe aber provoziert bei Bruni entschiedene Abgrenzungsbemühungen. Man kann die humanistische Verwirrung mit einem kleinen Seitenblick in die Antike verständlicher machen: Andrea 116 Zu humanistischen Fazetiensammlungen vgl. grundlegend Bowen, Barbara C.: Humour and Humanism in the Renaissance. Aldershot: Ashgate, 2004, sowie dies.: One Hundred Renaissance Jokes. An Anthology. Birmingham: Summa Publications, 1988. 117 Die sich entwickelnde Auseinandersetzung wird als controversia Alphonsiana bezeichnet, vgl. hierzu Ebbersmeyer (2010), Homo agens, S. 152–162. 118 Vgl. Birkenmajer, Alexander : Vermischte Untersuchungen zur Geschichte der mittelalterlichen Philosophie. (=Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters. Texte und Untersuchungen hrsg. von Clemens Baeumker, Band XX, Heft 5) Münster : Verlag der Aschendorffschen Verlagsbuchhandlung, 1922, die Defensio auf S. 162–186, hierzu S. 171– 172, besonders S. 172: »Non ergo putes insipienter translationem hanc ›ludi‹ tamquam generali omnium vocabulo usam, sed licet ›iocum‹ recte forsan dicere potuisset, ›ludi‹ verbo uti maluit, cum ›ludus‹ ›iocum‹ includat, vel saltem ›iocus‹ pro ›ludo‹ et ›ludus‹ pro ›ioco‹ plerumque sumatur.«

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Nuti hat in seiner Studie zu(r) antiken Bedeutung(en) von ludus und iocus und zur Frage, weshalb das Italienische heute das auf iocus basierende gioco und eben keine Derivate von ludus verwende, die These entwickelt, dass ludus seine ursprünglich sehr weiten und dynamischen Bedeutungen im imperialen Zeitalter des römischen Reichs eingebüßt habe. Da der Plural ludi auf die großen öffentlichen Spiele, also reglementierte Manifestationen herrschaftlicher Macht begrenzt werde, nehme iocus, das zunächst starr nur verbale Spiele oder eben Scherze bezeichnet hatte, in seine Extension die Dynamik von ludus auf.119 Der christliche lateinische Westen hat demnach eine Masse antiker Literatur geerbt, in der die semantischen Verschiebungen zwischen iocus und ludus enthalten sind, jedoch zugleich nebeneinander stehen. Vallas Beteuerung der Austauschbarkeit der Begriffe scheint sich damit zumindest teilweise aus einer fehlenden Analyse der historischen Transformation in der Semantik zu erklären. Diese Uneindeutigkeit muss im Folgenden stets mitgedacht werden. In der Regel jedoch, so viel können wir feststellen, gilt Mehls Hinweis von ludus als Oberbegriff, wie gerade die Umstrittenheit von Brunis Versuch einer genaueren Differenzierung zeigt. Allerdings waren die Differenzierungen nicht folgenlos. Einer der meistgedruckten Ethik-Kommentare der Renaissance zeigt tatsächlich Spuren vokabularer Veränderungen. Er stammt von Donato Acciaiuoli und basiert auf Vorlesungen des Byzantiner Gelehrten Johannes Argyropulos.120 Letzterer hatte in Konstantinopel und Padua Theologie und Philosophie studiert, war dann nach Byzanz zurückgekehrt, verblieb jedoch nach der Eroberung Konstantinopels durch die Türken im Jahr 1453 dauerhaft in Italien. In Florenz, dessen Bürger er 1466 wurde, lehrte er die griechische Sprache und Philosophie. Sein Schüler Acciaiuoli, dem Vespasiano da Bisticci nachsagte, er habe eine mano velocissima sein eigen nennen können, hat die von Argyropulos in der Vorlesung vorgetragenen Gedanken sodann zu Papier gebracht, unter anderem einen umfangreichen Kommentar zur Nikomachischen Ethik.121 Ein völlig unvermittelter humanistischer Neuanfang ist der Kommentar jedoch nicht: Die vielfältigen Bezüge zum fast 200 Jahre vor der Ankunft des 119 Vgl. Nuti, Andrea: Ludus e iocus. Percorsi di ludicit/ nella lingua latina. (=Ludica: collana di storia del gioco 4) Treviso/Rom: Fondazione Benetton/Viella, 1998, S. 185 zum weiten Bedeutungsradius, zur Transformation S. 199–204, tabellarische Übersicht auf S. 204. 120 Aufgrund von nicht weniger als 18 Ausgaben im 16. Jahrhundert betitelt Luca Bianchi ihn tatsächlich als bestseller und erklärt ihn darüber hinaus für die Humanisten der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zur »interpretazione ›canonica‹«, vgl. Bianchi, Luca: Un commento ›umanistico‹ ad Aristotele. L’ »Expositio super libros Ethicorum« di Donato Acciaiuoli. In: Rinascimento 30 (1990), S. 29–55, hierzu S. 31. 121 Vgl. Bigi, Emilio: Argiropulo, Giovanni. In: DBI 4 (1962), S. 129–131; zu Acciaiuoli vgl. Vespasiano da Bisticci: Vite di uomini illustri del secolo XV. Hrsg. von Paolo D’Ancona und Erhard Aeschlimann. Mailand: Ulrico Hoepli, 1951, S. 332.

Ludus/iocus/lusus: Valla, Bruni und humanistische Wortspiele

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Byzantiners Argyropulos verstorbenen Thomas von Aquin sind sogar im Autographen vermerkt.122 Immerhin haben wir aber nun einen Griechen als Übersetzungshelfer : Wie verfährt er also mit der Übersetzung von paidi\? Man kann sagen unentschieden oder auch kontextuell angepasst: In seiner Kommentierung der eutrapelia-Stelle aus dem vierten Buch verwendet er nur iocus, was auch seiner Übersetzung der Nikomachischen Ethik entspricht, während er bei der Interpretation der Passage aus dem zehnten Buch ioci et ludi verwendet.123 Die eutrapelia ist nun nur noch eine verbale Angelegenheit. Als Kandidaten für das Ziel unseres Lebens kommen jedoch nach wie vor Spiele und Scherze gleichermaßen infrage. Legte man also Mitte des 15. Jahrhunderts diesen Kommentar oder Brunis Übertragung neben den Kommentar von Albert oder die Summa von Thomas, so ergab sich ein seltsames Bild. Die beiden großen Kommentatoren sprechen über eine Tugend des Spielens, die bei Aristoteles selbst gar nicht mehr vorkommt. Natürlich behält auch die alte Übersetzung einigen Einfluss – doch kann man feststellen, dass mindestens seit der Übersetzung Brunis nicht mehr eindeutig ist, ob es bei Aristoteles die eutrapelia als eine Tugend des Spielens überhaupt gegeben habe. Die Träger dieser Theorie sind nun Kommentatoren wie Thomas von Aquin. Nicht mal dessen Spielpassagen in der Summa Theologica sind allerdings noch ohne weiteres verständlich: Thomas Cajetan, der im 16. Jahrhundert einen wirkmächtigen Kommentar zur Summa verfasste, musste zur Spieltheorie erst einmal erklären, dass Thomas mit ludus sowohl Wörter als auch Taten meine, obwohl ludi in factis bestünden, iocus hingegen in verbis – er setzt also Vallas Verständnis beim Leser schon voraus.124 Eine Differenzierung der Begriffe macht demnach die spieltheoretische Lage im peripatetischen Rahmen unübersichtlicher. Wenig überraschend also, dass auch italienischen Juristen, als sie sich an eine Verortung des Ludischen und die Fixierung einer Definition machen, diese Verschiebungen nicht entgehen.

122 Vgl. Lines (2002), Aristotle’s Ethics, S. 179. 123 Vgl. Aristoteles: Aristotelis Stagiritae peripateticorum principis ethicorum ad Nicomachum libri decem. Ioanne Argyropylo Byzantino interprete, nuper ad Graecum exemplar diligentissime recogniti, et cum Donati Acciaioli Florentini viri doctissimi commentariis castigatissimis, denuo in lucem editi. Paris: Roigny, 1542, fol. 75r–75v und fol. 195r–195v, zur Übersetzung vgl. ibid., fol. 74v–75r. 124 Vgl. Summa Theologica, op. cit. Fußnote 35, S. 352: »In articulo secundo quaestionis centesimaesexagesimaeoctavae, adverte duo. Primo, quod nomine ludi in proposito venit tam ludus, qui consistit in factis; quam iocus, qui consistit in verbis. Eadem enim est ratio utriusque moris.«

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Kurz vor Cusanus: Aristoteles bei Juristen und Predigern Zuletzt soll gezeigt werden, dass der bislang skizzierte aristotelische Spieldiskurs im 15. Jahrhundert nicht mehr nur eine Angelegenheit der Philosophen war und Spielen in unterschiedlichen Kontexten legitimierte. Seine Präsenz beschränkte sich nicht auf die Kommentartradition der Nikomachischen Ethik, er wird mit verschiedenen Diskursen kombiniert, in denen er nun eine Grundlage des Sprechens über Spiele bildete. Fassen wir seine Kernelemente kurz zusammen: Thomas und Albert hatten die aristotelischen Ausführungen zu Spielen genutzt, um die Notwendigkeit und die Legitimität von bestimmten Spielen in erholender Absicht zu angemessener Zeit und am richtigen Ort für das Leben denkender Menschen herauszustellen. Die eutrapelia hatten sie dabei zu einer Tugend des sozialen Spielens erklärt. Brunis Übersetzung betonte dagegen den ausschließlich verbalen Anwendungsbereich der eutrapelia und bestritt die Existenz einer Tugend des Spielens bei Aristoteles zugunsten einer Tugend des Scherzens. Trotz dieser neuerlichen Unschärfe dient Aristoteles nun als Legitimationsmöglichkeit der ludicit/ in verschiedenen sozialen Feldern. Beide Linien der Aristotelesauslegung finden sich etwa im Wissensbereich der Rechtswissenschaften. An der Pariser Universität empfiehlt man, eutrapelisch zu spielen. Und auch die Prediger erkennen die Existenz einer tugendhaften Weise des Spielens an – darunter auch Nicolaus Cusanus. Der Jurist Battista Caccialupi verfasst 1466 in Siena einen Traktat über Spiele, in dem er zu Beginn den Unterschied zwischen ludus, lusus und iocus festzumachen versucht.125 Er zitiert ausführlich Vallas Bemerkungen zu entsprechenden Wortdifferenzierungen, kommt aber auch auf Bruni zu sprechen und leiht sich exakt dessen Worte, um klar zu machen, dass die eutrapelia der alten Griechen sich auf iocus beziehe.126 Es handelt sich also um ein juristisches Werk, dass die lexikalischen Diskussionen aufnimmt und für eine Anwendung nutzbar zu machen sucht. Seine Definition des Spielens kopiert Caccialupi dabei explizit von Marianus Socinus, dem Sieneser Begründer einer bedeutenden Juristendynastie,

125 Ich zitiere nach der Ausgabe, welche die drei nach Zollinger zwischen 1450 und 1700 wichtigsten juristischen Traktate über Spiele vereint, Gregor XIII. (Hrsg.): Tractatus universi iuris. (=Tractatus illustrium in utraque tum pontificii, tum Caesarei iuris facultate iurisconsultorum) Venedig, 1584, Band 7; bei den Traktaten handelt es sich dabei um Del Pozzo, Paride: De ludo auf den fol. 151r–155r ; Costa, Stefano: De ludo, fol. 161v–168v und Caccialupis De ludo auf den fol. 155r–161v ; zu Zollingers Einschätzung vgl. Zollinger (1996), Bibliographie, S. 291, der erste Druck von Caccialupis De ludo datiert nach Zollinger auf 1493 (S. 295), zur Biographie und zum Abfassungszeitraum vgl. D’Amelio, Giuliana: Caccialupi, Giovanni Battista. In: DBI 15 (1972), S. 790–797. 126 Caccialupi, De ludo, fol. 156r, Spalte a, secunda quaestio.

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unter dem auch Aeneas Silvio Piccolomini studierte – der spätere Papst Pius II.127 In seinem Kommentar zum Liber Extra weist Socinus zunächst darauf hin, dass nach Aristoteles’ Ausführungen im vierten Buch der Nikomachischen Ethik Ruhe (cessatio) und iocus notwendig seien. Die cessatio könne man aber aus vielerlei gewinnen, und eben manchmal scherzend, was der cessatio eigentümlich sei: Hierin, nämlich in Worten, bestehe auch die mediokere Tugend der Griechen, wie er mit Hinweis auf Bruni ausführt.128 Allerdings war es den Juristen auch möglich, bei Thomas von Aquin zu verharren und Bruni zu ignorieren. Stephanus Costas Gedanken zum Spiel in seinem Traktat De ludo basieren wesentlich auf Thomas’ Quaestio in der Summa Theologica, nahe liegend verbunden mit Ciceros Hinweis, man dürfe Spiele nur wie Schlaf gebrauchen. Auch verweist Costa auf das Beispiel vom beinahe brechenden Bogen und schließt, dass als Gegenmittel zur Ermüdung der Seele Spiele notwendig seien, wie Aristoteles ja auch im vierten Buch der Nikomachischen Ethik und im siebten Buch der Politik dargelegt habe.129 Wenn wir nun noch Paride de Pozzos Traktat über Spiele, der auch die erholende Funktion von Spielen betont, hinzunehmen (und somit hätten wir die nach Manfred Zollinger wichtigsten gedruckten juristischen Traktate über Spiele vor 1700 versammelt, zudem mit Marianus Socinus eine ihrer wichtigen Quellen), so kann man feststellen, dass sie alle sich im aristotelischen Rahmenwerk bewegen.130 Es mag Unterschiede in der Frage nach einer Tugend des Spielens innerhalb dieses peripatetischen Systems geben, doch stimmen die Texte mit dem Stagiriten darin überein, dass Spiele der Erholung wegen gepflegt werden sollten. Die grundsätzliche Bewertung des Spielens in der aristotelischen Philosophie wird in den juristischen Traktaten nicht infrage gestellt, wiewohl gleichzeitig die Funktion der eutrapelia und ihr Geltungsbereich nicht mehr eindeutig sind. Man darf folglich schließen, dass juristisch auf Basis der aristotelisch-scholastischen Tradition mit ihrer humanistischen Erweiterung die Notwendigkeit von Spielen anerkannt wurde – jedenfalls im akademischen Kontext. In diesem 127 Vgl. Grendler, Paul F.: The Universities of the Italian Renaissance. Baltimore: Johns Hopkins University Press, 2002, S. 48–49. 128 Vgl. Socinus, Marianus (Senior): Nova et utilissima commentaria super secunda parte Libri Quinti Decretalium, nunc primum in lucem edita. Venedig: Iuntas, 1593, fol. 75v, Spalte a, 23–24. 129 Vgl. Costa, De ludo, fol.162r Spalte b–162v Spalte a, 2–6; zu Costa vgl. auch die ausführliche Monographie von Lucchesi, Marzia: Ludus est crimen? Diritto, gioco, cultura umanistica nell’opera di Stefano Costa, canonista pavese del Quattrocento. Mailand: Cisalpino, 2005, zur Biographie S. 3–51. 130 Vgl. del Pozzo, De ludo, fol. 151v Spalte b, 5, wo auch er mit Verweis auf Socinus die rekreative Funktion von Spielen zu ihrer Legitimation aufruft, zu Zollinger vgl. Fußnote 125.

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Milieu war man sich der Möglichkeit der Regulierung ludischen Zeitvertreibs durch die eutrapelia auch praxisnah bewusst, wie die Reformbemühungen der Pariser Universität aus dem Jahre 1452 zeigen. In einem Abschnitt der neuen Vorschriften werden die Magistri darauf hingewiesen, den Studenten nicht ausschweifenden Tanz oder unehrenhafte und verbotene Spiele zu erlauben: »(…) ja vielmehr sollen sie ihnen erlauben, tugendhaft und eutrapelisch zu spielen, zur Erleichterung der Arbeit und ehrenhaften Entspannung.«131 Nach Ansicht unserer Juristen sind das Spiele der Tugend oder der Erholung wegen, in jedem Falle ohne Habsucht.132 Wenn man Blasphemie vermeidet und nach hohen Verlusten die Verdammung Gottes oder Angehöriger der heiligen Familie unterbleiben lässt (denn das Gegenteil konnte durchaus erhebliche Konsequenzen haben133), konnte man sich den Spielen zur Rekreation ruhigen Gewissens hingeben. Man muss dann nicht in fortwährender Traurigkeit dahinsiechen, was auch Hugo Trottus befürwortet hätte, der als letztes Beispiel aus dem juristischen Bereich genannt sei. Denn zu Beginn seiner 1456 verfassten Betrachtung des Spiels erinnerte er sich an den Einwand des Kirchenvaters Ambrosius, der gute Christen eher zu einem Leben der Trauer anhalte. Doch antwortet Hugo ihm entschieden mit Thomas von Aquin, da nach Meinung des großen Theologen Erholung schlicht notwendig sei.134 Musste man das Spielen gegen eine Tradition frommer Trauer mit einem so deutlichen Verweis auf den heiligen Thomas verteidigen? Jedenfalls hatte es wortgewaltige Feinde: Der religiöse Eiferer Johannes Capistranus zog Mitte des 15. Jahrhunderts durch Europa und ließ bei seinen Massenpredigten allerhand Luxusgüter in Fegefeuern der Eitelkeit vernichten. In Nürnberg verbrannten so im Jahre 1452 nach einem Chronistenbericht angeblich 3612 Spielbretter und

131 Denifle, Heinrich und Pmile Chatelain (Hrsg.): Chartularium universitatis Parisiensis. Tomus 4. Paris: Delalain, 1897, S. 713–34, hierzu n. 2690 S. 730: (…): »quin potius permittant eos virtuose et eutrapelice ludere, ad laboris levamen et solacium honestum.« 132 Vgl. del Pozzo, De ludo, fol. 151v Spalte b, 5; Caccialupi, De ludo, fol. 156r Spalte a, 1; Costa, De ludo, fol. 162rb–162va, 3–8. 133 Einer der wohl am besten dokumentierten Fälle ist derjenige des Florentiners Antonio Rinaldeschi, der 1501 nach erheblichen Verlusten im Glücksspiel beim Verlassen eines Wirtshauses die unglückliche Entscheidung traf, einen am Boden liegenden Pferdeapfel aufzunehmen und gegen ein Bildnis der Gottesmutter Maria zu schleudern. Durch Beobachter überführt verurteilte man ihn zum Tode durch den Strang, vgl. Connel, William J. und Constable, Giles: Sacrilege and Redemption in Renaissance Florence: The Case of Atonio Rinaldeschi. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, Vol. 61 (1998), S. 53–92. 134 Trottus, Hugo: Opusculum de multiplici ludo. Cambridge (Mass.), Harvard University, Houghton Library, Ms. Lat. 194, fol. 2r ; vgl. hierzu Arcangeli (2003), Recreation, S. 76–78, eine knappe Diskussion weiterer juristischer Stimmen zum Spiel auf S. 78–81.

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40000 Würfel.135 Jedoch hatten diese Feuer auf lange Zeit gesehen wohl wenig Einfluss auf die Spielleidenschaft, die Geschäfte etwa der Spielkartenmacherzunft in Nürnberg wurden dadurch nicht nachhaltig beeinträchtigt.136 Ohne exemplum war Capistranus nicht. Schon Bernhardin von Siena hatte sich in seinen Predigten ausführlich mit Spielen beschäftigt und eine Vorbildfunktion für nachfolgende homiletische Praktiken übernommen.137 In einer flammenden Verurteilung des Glücksspiels imaginiert er eine teuflische Kirche der Spieler und bestimmte 15 aus dem Spielen erwachsende Bosheiten sowie 12 Arten von Menschen, die an gottlosen Spielen teilnehmen.138 Diese Predigt mit ihrer kleinteiligen Skelettierung des Glücksspiellasters ist ein hervorragender Beleg dafür, dass insbesondere mendikantische Prediger mindestens seit dem 15. Jahrhundert tiefgreifendere und ernsthaftere Analysen des Spielens und seiner schädlichen Konsequenzen verfolgen. Häufig geht es dabei um die Verurteilungen des Glücksspiels, auch zu einem geringeren Maß um die Verdammung der schon angesprochenen militärischen Spiele. Im Vordergrund stehen jedoch die Ausführungen der negativen Konsequenzen des Spielens, wie die Neigung zur Blasphemie oder zur Habgier, der Bereicherung am Gut eines Anderen.139 Neben der detailreichen Schilderung der aus dem Spiel erwachsenden Sünden fällt bei Bernhardin vor allem die Rolle der diabolischen Spielkirche ins Auge, ganz offenbar ein von ihm selbst erfundenes Narrativ. Um Anhänger für eine der Kirche Christi diametral gegenübergesetzte ecclesia zu schaffen, die nicht der Rettung der Seelen, sondern ihrer Verdammung dienen solle, ersann der Antichrist nach der Schilderung des Sienesen das Glücksspiel.140 Der listige Luzifer nutzte dabei den Hang der Sterblichen, sich vom Angenehmen eher als vom Schwierigen anlocken zu lassen.141 Zum Altar seiner Kirche erklärte er den Spieltisch, zum Messbuch den Würfel: Da aber auch in der Kirche Christi den zahlreichen Heiligen verschiedene Messen zuteilwerden, nahm der Teufel aus maßloser Nächstenliebe (ex abundantia caritatis meae) nicht alle für sich selbst 135 Vgl. Tauber, Walter : Das Würfelspiel im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Eine Kulturund sprachgeschichtliche Darstellung. Frankfurt a. M.: P. Lang, 1987, S. 49–50. 136 Vgl. Smoller, Laura A.: Playing Cards and Popular Culture in Sixteenth-Century Nuremberg. In: The Sixteenth Century Journal 17, N. 2 (1986), S. 183–214, hierzu S. 185–186. 137 Vgl. Rizzi (1995), Ludus/ludere, S. 25–27. 138 Vgl. S. Bernardinus Senensis: Quadragesimale de Christiana Religione. Sermones XLI–LXVI. (=Opera Omnia Tomus II) Hrsg. von den PP. Collegii S. Bonaventurae. Florenz: Typographia Collegii S. Bonaventurae, 1950, Sermo XLII, S. 20–34. 139 Vgl. Rizzi (1995), Ludus/ludere, S. 20–23. 140 Vgl. Bernardinus (1950), Quadragesimale, Sermo XLII, S. 20–21. 141 Vgl. ibid., S. 21: »Sed quia delectabilia magis alliciunt hominum mentes quam quae prima fronte aspera aestimantur, ideo sub nomine et titulo ludi cogitavi animarum innumerabilium stragem incredibilia scelera procurare.«

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in Anspruch, sondern widmete sie seinen Dämonen Sbaraglio, Minoretto und anderen – es handelt sich um Namen für Glücksspiele.142 In die Kirche des Antichristen tritt man also ein, indem man auf seinem Altar den Spieldämonen huldigt. Dieses Narrativ erklärt ludische Praktiken zu Instrumenten Luzifers, um die Menschen ihrem Verderben zuzuführen, da eben unzählige Laster aus der Idolatrie, der Vergötterung des Spielens erwachsen. Bernhardins Predigt zeichnet Spielen folglich als eine Tätigkeit, die das Böse im Menschen provoziert und zu sündhaften Verhaltensweisen führt. Dennoch wäre es verfehlt, nur die ludische Praktiken negierenden Aspekte prädikantischer Ansätze zu betonen. Das Ziel dieser Prediger, wie Alessandra Rizzi betont, war weniger die Prohibition als vielmehr die Regulierung allgegenwärtiger Spielpraktiken an christlichen Maßstäben – und je nach Kontext fallen konkrete Anweisungen auch differenzierter aus.143 Dabei konnte ein proludisches Gegengewicht in der prädikantischen Praxis nun Aristoteles darstellen. Der Straßburger Meister Ingold etwa hat 1432 in seinem Werk »Das goldene Spiel«, das nach seiner eigenen Angabe aus praktischer Tätigkeit als Prediger erwachsen ist, sieben Spiele den sieben Hauptsünden entgegengesetzt, wie etwa das Würfelspiel der Habgier.144 Denn Ingold weiß von Aristoteles, dass auf die guten Sitten geordnete Spiele einer Tugend entsprechen: »Als vil nun ain ieglich spil zu˚ gu˚ten siten geordnet wirt, so ist es ain tugend und hayßt eutropolya von Aristotiles, als vil aber ain ieglich spil weist auff untugend, so ist es sünd und verpoten.«145 Es handelt sich also um einen entgegengesetzten Entwurf zu Bernhardin, eben eine instrumentelle Nutzung von Spielen zum Zwecke der Tugendanleitung. Diesen Ansatz führt Ingold explizit auf Aristoteles und seine eutrapelia zurück, die hier als eine Tugend des rechten Spielens begriffen werden kann. Ein über die Maßen erfolgreiches Beispiel für die Vermittlung von Tu142 Vgl. ibid., S. 22: »Sed quia in Christi missali diversae sunt per anni circulum sanctorum Missae in eorum gloriam et triumphum, ideo, ne mihi videar omnia arrogare, diligo enim vos ex abundantia caritatis meae, multis de vobis impertior quasdam solemnes missas, si per vestras nequitias de illis poteritis triumphare.« 143 Vgl. Rizzi, Alessandra: Predicatori, confessori mendicanti e gioco alla fine del medioevo. In: Sonntag (2013), Religiosus ludens, S. 97–113, besonders S. 99: »L’interesse mendicante per il gioco (d’azzardo, man non solo), culminato nel secolo dell’Osservanza e proseguito in quello successivo delle Riforme, ebbe come scopo, principalmente, di orientare le pratiche ludiche contemporanee in direzioni considerate consone allo stile di vita del buon christiano.« Rizzi betont auch die variierende Strenge der Verurteilung je nach Kontext, etwa die größere Strenge bei öffentlichen Predigten im Gegensatz zum weiteren Spielraum in Beichtmanualen, vgl. S. 107–113. 144 Vgl. Meister Ingold: Das goldene Spiel. (=Elsässische Literaturdenkmäler aus dem XIV– XVII Jahrhundert, III. Band) Hrsg. von Edward Schröder. Straßburg: Karl J. Trübner, 1882, S. 1. 145 Idib., S. 4–5.

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genden durch Spiele hatte Ingold dabei in Jacobus’ de Cessolis Buch vom Schachspiel gefunden, von dem er zugibt, große Teile übernommen zu haben.146 Dieser Bezug ist auch für Nicolaus Cusanus bedeutsam, und ich werde im nächsten Kapitel auf ihn zurückkommen. Zuvor aber möchte ich noch kurz bei Cusanus selbst verweilen. Dass auch er in der Tradition eutrapelischer Vergnügungsregulierung steht, mit der Tradition der Ordnung ludischer Praktiken an guten Sitten vertraut ist, wird aus einer seiner eigenen Predigten klar. Als er 1457 in einer Sermo zu Brixen den Brief des Paulus an die Epheser ausdeutet, kommt er auf eine Stelle zu sprechen, an welcher der Apostel vor Sittenlosigkeit und albernem oder zweideutigem Geschwätz warnt und zur Dankbarkeit ermahnt.147 Iocularitas in verbis um Lachen zu erzeugen sei nämlich, wie Cusanus erklärt, der Sache des Christen nicht dienlich. Natürlich gebe es im vierten Buch der Ethik eine moralische Tugend namens eutrapelia, wenn man Taten oder Worte zur ehrenvollen Aufheiterung, zur Rekreation gebrauche – wirklichen Ernst jedoch verdienen andere Dinge: »Obwohl also die eutrapelia nicht verdammt wird, da sie eine gewisse moralische Tugend ist, muss doch der Christ sich eher freimachen für die Handlungen der Gnade.«148 Es scheint mir nicht beachtenswert, dass Cusanus die eutrapelia der eigentlichen Aufgabe des Christen unterordnet. Auch nicht, dass ihm die Möglichkeit präsent ist, sie könnte aufgrund ihrer Verbindung zu Albernheit verdammt werden. Wichtiger ist: Der Kusaner zieht zu seiner Bibelinterpretation das aristotelische Konzept der eutrapelia heran, stellt in dieser Passage ohne Notwendigkeit die Existenz einer Tugend der Erholung heraus. So fest ist die eutrapelia im Diskurs um Vergnügungen verankert, dass Cusanus sie beim Thema der albernen Gespräche selbstverständlich aufruft und anerkennt. Die Geschichte der Rezeption aristotelischer Spielphilosophie und der eutrapelia als dem Spiel zugeordnete Tugend reicht, trotz ihrer Unschärfe aufgrund fragwürdig gewordener Übersetzungen, aus dem 13. Jahrhundert bis zu den Juristen und Predigern des 15. Jahrhunderts, bis hin zu Nicolaus Cusanus, der sie nun völlig selbstverständlich bei der Auslegung einer Bibelpassage in Erinnerung ruft.

146 Vgl. ibid., S. 1–2, auch den eigentlichen Abschnitt zum Schachspiel generell auf S. 5–47. 147 Vgl. Eph. 5,4. 148 Vgl. de Cusa, Nicolaus: Sermones IV (1455–1463). Fasciculus 6. Hrsg. von Heide Dorothea Riemann. (=Nicolai de Cusa Opera Omnia Band 19, 6) Hamburg: Meiner, 2005, Sermo CCLXXIII, 13: »Ecce licet eutrapelia non damnetur, cum sit quaedam virtus moralis, tamen Christianus magis debet vacare gratiarum actioni.«

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Zusammengefasst: Wie Aristoteles entkommen? In diesem Kapitel wurde die Genese des aristotelischen Spieldiskurses fokussiert sowie die Offenlegung seiner Regelmäßigkeiten und Varietäten angestrebt.149 Es konnte aufgezeigt werden, dass Aristoteles’ Spielphilosophie zunächst eine hybride Identität im lateinischen Westen gewinnt. Die Übersetzung von paidia als ludus trägt eine lange Begriffsgeschichte von ludus insbesondere bei den Kirchenvätern in die aristotelische Theorie, verbindet diese aber auch mit differenten Praktiken des Spielens, die bestimmte diskursive Bewertungen wie etwa die Nähe zur Gewalt oder zur Blasphemie mit sich bringen. Albert nutzt insbesondere eine Verbindung zur Medizin, um Spiele in seine Auslegung der aristotelischen Kontemplation als innerweltliches höchstes Glück zu integrieren. Da bei einer philosophischen Lebensform, die sich der diesseitigen Suche nach Erkenntnis verschrieben hat, unsere körperliche Verfasstheit Grenzen der Betätigung vorschreibt, sind Spiele eine fundamentale Notwendigkeit, um die intellektuelle Tätigkeit langfristig aufrechterhalten zu können. Damit gewinnt Spielen nicht nur einen festen Platz im Philosophenleben, sondern wird auch tugendfähig innerhalb der politischen Gemeinschaft, denn subjektiv notwendiges Spielen muss sozial geregelt werden. Thomas systematisiert diese Einordnungen und gibt ihnen mit der Aufnahme in eine theologische Summe Bedeutung über eine eigentlich philosophische Lebensform hinaus. Folgt man Ortalli und Rizzi in der Einschätzung, dass die ludicit/ seit dem 12. Jahrhundert eine graduelle Aufwertung gewinnt, die im Verlauf des Quattrocento letztlich in die selbstverständliche Anerkennung der Notwendigkeit bestimmter Spielarten mündet, dann haben die Fürsprecher spielerischer Aktivitäten seit dem 13. Jahrhundert mit Aristoteles, Albert und Thomas sicherlich beeindruckende philosophische Unterstützer. Dass der zu Beginn dieses Kapitels angesprochene Franziskaner-Tertiarier Johannes Pilaguet daher eine Argumentationslinie

149 Ersichtlich dürfte nun auch sein, dass die Gemengelage mittelalterlicher Spielkonzepte vielschichtig ist. Schon Glending Olsen identifizierte mindestens zwei verschiedene Konzepte von Spielen in mittelalterlichen Diskursen: Die scholastische Tradition der Aristoteleskommentare einerseits und die Konstituierung einer ars in Form der von Hugo v. St. Viktor erfundenen theatrica andererseits – wobei mir beide Ansätze mit ihrem Rekreationsschwerpunkt nicht sehr verschiedenen scheinen, vgl. Olsen, Glending: Play as Play : A Medieval Ethical Theory of Performance and the Intellectual Context of the Tretise of Miraclis Pleyinge. In: Viator 26 (1995), S. 195–221, hierzu S. 196–197 Fußnote 7, eine Auflistung verschiedener mittelalterlicher Differenzierungen von ludus auf den S. 218–221. Wir können, um eine größere Unübersichtlichkeit herzustellen, mindestens die medizinische Rolle von Spielen, die Thematisierung als Mittel zur moralischen Korrumpierung bei Bernhardin und den didaktischen Gebrauch bei Meister Ingold wie auch bei Jacobus de Cessolis, der im nächsten Kapitel eingehender behandelt wird, hinzunehmen.

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aufruft, die durch solche Autoritäten abgesichert und etabliert ist, wird nicht mehr überraschen. Die Neuübersetzungen Brunis und Argyropulos’, welche die eutrapelia auf verbale Äußerungen beschränken, führen so auch allenfalls zu einer beschränkten Veränderung der Diskursbedingungen. Nach ihnen ist nicht mehr eindeutig (wie die Unterschiede im juristischen Diskurs zeigten), ob Aristoteles wirklich von einer Tugend des Spielens gesprochen habe und was mit der Erholung im philosophischen Leben eigentlich gemeint sei. Diese intradiskursive Ambivalenz ändert allerdings nichts an der Selbstverständlichkeit einer Praxis des Sprechens über Spiele, die durch den aristotelischen Spieldiskurs inzwischen grundsätzlich etabliert war. Die Pariser Universität empfiehlt eutrapelisches Spielen, Cusanus zitiert Aristoteles zur Bibelauslegung und in der Einleitung der anonymen Mensa philosophica wird in den 1480er Jahren spielerische Ablenkung für Gelehrte explizit mit Alberts Aristotelesauslegung legitimiert – auch die humanistische Fazetiensammlung als unterhaltende Literatur verteidigt das Scherzen noch mit dem Scholastiker Albert.150 Um dieser grundsätzlichen Selbstverständlichkeit trotz humanistischer Übersetzungsdiskussionen ein letztes Beispiel zu geben: Der Tübinger Jurist Johannes Aquila definierte 1516 in seinem Opusculum Enchiridion appellatum Ioannis Aquilae Ferme de omni ludorum genere gleich zu Beginn ludus und iocus mit Aristoteles. Doch zitiert er ebenfalls gut humanistisch Lorenzo Valla: »Iocus in verbis; ludus sive lusus potius in factis consistit.« Iocus sei dabei eine ehrenhafte und zwischendurch notwendige Entspannung des Geistes, um die Kräfte wiederherzustellen; ludus hingegen sei das ehrenhafte Aufrichten des durch Arbeit ermüdeten Körpers, um die matten Kräfte durch Unterbrechung der Tätigkeit wiederzugewinnen.151 Aquila folgt also den inzwischen vielfach

150 Zu Albert vgl. (s.a.): Mensa philosophica. Köln: Johann Guldenschaff, ca. 1485 (Exemplar der ULB Düsseldorf mit der Signatur MTHUSCH85:INK), Buch 4 (ohne Seitenzählung), hierzu Kipf, Johannes Klaus: Auctor ludens. Der Topos des spielerischen Schreibens in poetologischen Paratexten unterhaltender Literatur im Renaissance-Humanismus und in der deutschen Literatur der frühen Neuzeit. In: Anz, Thomas und Kaulen, Heinrich (Hrsg.): Literatur als Spiel. Evolutionsbiologische, ästhetische und pädagogische Konzepte. Berlin: De Gruyter, 2009, S. 209–229, hierzu S. 215–217. 151 Vgl. Aquila, Johannes: Opusculum Enchiridion appellatum Ioannis Aquilae Ferme de omni ludorum genere. Oppenheim: Köbel, 1516, vgl. insb. fol. 6r : »Ioc[us] est honesta (imo interdu[m] necessaria) animi relaxatio viriu[m] reparanda[rum] gra[tia] cu[m] mediocritate facta. Ludus vero est corporis defatigati laborib[us] honesta alleviatio: viriu[m]que fessaru[m] p[er] intermissione[m] op[er]is reparatio.« Das Valla-Zitat ibid. Johannes Aquila, eigentlich Johannes Gentner, war unter anderem Dekan der Artistenfakultät der Universität Tübingen, wechselte als Doktor beider Rechter später jedoch an die Juristenfakultät. Er verfasste unter anderem ein Werk zur Geldtheorie, zur Biographie vgl. Finke, Karl Konrad: Johannes Gentner alias Adler, Halietus, Aquila, Doleatoris (um 1474 bis 1518).

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Vorspiel. Ein Kompass von Aristoteles

reproduzierten aristotelischen Denkschemata einer Rekreationsnotwendigkeit für Gelehrte unter Einbeziehung humanistischer Reflexionen auf genauere Wortdifferenzierungen. Trotz der diskursiven Etablierung dieser Notwendigkeit des Spiels für Gelehrte, für Denkprozesse und für subtilere Tätigkeiten des Intellekts überhaupt muss doch festgestellt werden, dass der aristotelische Diskurs die Beschäftigung mit Spielen zugleich auf eine bestimmte Linie beschränkte, indem hauptsächlich deren rekreative Funktion unterstrichen wurde. Eine Betonung ludischer Entspannung hatte dabei zahlreiche Anschlussmöglichkeiten, insofern die Erholungsfunktion von Spielen für Albert und Thomas im 13. Jahrhundert keineswegs eine Neuheit darstellte. Schon längst vermochten beide auf einen christlichen Diskurs der Notwendigkeit von spielerischer Rekreation zurückzugreifen, sie konnten einen konzeptionell naheliegenden medizinischen Diskurs zu Rate ziehen und die aristotelischen Passagen mit Ciceros De officiis verknüpfen. Auf Basis dieser Konzepte war die Untersuchung des Spielens allerdings nur in der von Hugo von St. Viktor vorgeschlagenen Weise sinnvoll, nämlich in Form einer ars, die die Sorge um einen bestimmten Aspekt unserer Natur beinhaltet: Als ein Wissen um die Erholungsfunktion und wie sie am besten erfüllt werden kann. Indem Albert und Thomas das Spiel, anschließend an diese Deutungsschemata, nun mit Aristoteles in die Gelehrtenexistenz integrieren, fixieren sie zugleich einen strengen Gegensatz zwischen dem ernsten Denken des Philosophen und der Rekreation des Spiels. Die grundlegenden Differenzierungen lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Vorausgesetzt wird im aristotelischen Spieldiskurs mit Aristoteles und Cicero, dass das menschliche Leben aufs Ernste gerichtet sei. Philosophieren aber ist diejenige der ernsten Tätigkeiten, die das höchste Glück für den Menschen verspricht. Spielen jedoch ist unernst, es ist der kontradiktorische Gegensatz geistiger Arbeit überhaupt. Gleichwohl ist es notwendig, um durch die Unterbrechung des Philosophierens eine Wiederherstellung der geistigen Kräfte zu erreichen. Konstituiert wird demnach ein spezifisch kontradiktorisches Verhältnis von Philosophieren und Spielen. Eine Konzipierung der Philosophie selbst als Spiel, ein Sprechen über ludische Elemente des Denkens, über eine tentativ-experimentelle, aleatorische Seite auch rationaler Tätigkeit wäre in diesem Rahmen nicht möglich. Das Spiel bleibt der Vernunft äußerlich, weil es die Betätigung der Vernunft nur ermöglicht und, wie bei Albert, die physischen Grundlagen für diese sichert. Spielen bildet den unterlegenen Gegensatz zur ernsten Rationalität theoretischer Arbeit. Der Primat des Ernsten wird nicht infrage gestellt. In: Die Professoren der Tübinger Juristenfakultät (1477–1535). (=Tübinger Professorenkatalog, Band 1, 2). Bearb. von Karl Konrad Finke. Ostfildern: Thorbecke, 2011, S. 126–134.

Zusammengefasst: Wie Aristoteles entkommen?

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Damit ist die Situation der aristotelischen Spielphilosophie kurz vor Cusanus skizziert. Wenn die Philosophen alternative Konzepte des Spielens generieren wollen, müssen sie die aristotelische Episteme des Spielens infrage stellen und den statischen Fokus auf Erholung überwinden. Nicht zuletzt bedeutet dies auch die Modifikation eines philosophischen Lebensmodells, in das Spiele als die Kontemplation ermöglichend fest integriert sind. Das Verhältnis von Spielen und Philosophieren bedarf entsprechend der Neubestimmung. Wir werden sehen, dass Nicolaus Cusanus einen Ansatz wählt, in dem sich ratio und ludus treffen, das Spielen selbst Mittel zum Philosophieren wird. Hierfür sind möglicherweise spieltheoretische Ausführungen des Thomas von Aquin abseits der bisher fokussierten Aristoteles-Rezeption relevant. Und bei der Suche nach alternativen Zugängen zum Spielen liegt schließlich Platon nicht fern, dessen Texte dem lateinischen Westen bald integral verfügbar werden – aber folgen wir lieber Cusanus selbst bei diesem neuerlichen Beginn.

Kapitel 1: Nicolaus Cusanus, Jacobus de Cessolis und Platon über das Erfinden von Spielen

Im Jahr 1461 beklagt Nikolaus von Kues, dass an der Kurie niemand an seinen Reformvorschlägen Interesse zeige. Ehrgeiz und Habsucht würden gefördert, keiner tue seine Pflicht. Gleichzeitig ist Papst Pius II. damit beschäftigt, die Christen für einem Kreuzzug gegen die osmanischen Türken zu mobilisieren, um deren drohenden weiteren Vorstoß nach Europa zu verhindern, doch finden seine Appelle wenig Gehör. Und in Böhmen regiert mit dem Hussiten Georg von Podiebrad zum ersten Mal seit Jahrhunderten ein nichtkatholischer Herrscher ein Land mitten in Europa. Zu einer Zeit also, in der die katholische Kirche sich nicht unerheblichen Bedrohungen sowohl von außen als auch von innen ausgesetzt sieht, verfasst der Kurienkardinal Cusanus zwei Dialoge über ein von ihm ersonnenes Spiel, mit dem er den jungen bayerischen Fürsten Johannes und Albrecht allegorisch den richtigen christlichen Lebensweg aufzeigen will.1 Ob 1 Der Dialogus de ludo globi ist in den Jahren 1462/63 entstanden, in denen die Situation unverändert blieb, er wird nach der von Hans Gerhard Senger besorgten Ausgabe in den Heidelberger Opera Omnia des Cusanus zitiert, de Cusa, Nicolaus: Dialogus de ludo globi. Edidit commentariisque illustravit Iohannes Gerhardus Senger. (=Nicolai de Cusa Opera Omnia Band 9) Hamburg: Meiner, 1998 (Im Folgenden als De ludo globi). Zum Entstehungszeitraum vgl. S. XXI–XXIV der Einleitung Sengers. Die angegebenen Übersetzungen stammen von Gerda von Bredow in der Ausgabe von Kues, Nikolaus: Dialogus de ludo globi/ Gespräche über das Globusspiel. Lateinisch/Deutsch. Auf Grundlage der kritischen Ausg. neu übers. und mit Einl. und Anm. hrsg. von Gerda von Bredow. (=Schriften des Nikolaus von Kues in deutscher Übersetzung Heft 22) Hamburg: Meiner, 2000. Vgl. einleitend zum Globusspiel und über den Forschungsstand jetzt auch den Artikel von Senger, Hans Gerhard: Dialogus de ludo globi. In: Brösch, Marco et al. (Hrsg.): Handbuch Nikolaus von Kues. Leben und Werk. Darmstadt: WBG, 2014, S. 255–261, zum Verhältnis von Cusanus zu den Wittelsbachern vgl. Meuthen, Erich: Nikolaus von Kues und die Wittelsbacher. In: Münchener Historische Studien, Abteilung Bayerische Geschichte 10, München 1982, S. 95–113, zur historischen Situation vgl. Meuthen, Erich: Die letzten Jahre des Nikolaus von Kues. Biographische Untersuchungen nach neuesten Quellen. (=Wissenschaftliche Abhandlungen der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen Band 3) Köln und Opladen: Westdeutscher Verlag, 1958, zur Situation an der Kurie speziell S. 81, zur Biographie allg. jetzt auch Euler, Walter A.: Die Biographie des Nikolaus von Kues, in: Brösch (2014), Handbuch, S. 31–103. Zur Einschätzung der Hussiten durch Pius II. vgl. Pius Com. II 24, 3: »Regnum

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dieses Globusspiel jemals praktiziert wurde oder nur als literarische Fiktion des Kusaners existierte, wissen wir nicht. In jedem Falle aber dient es ihm im Dialog als anschauliches Hilfsmittel, um seinen beiden Gesprächspartnern spielend einige Elemente eines philosophisch begründeten Christentums nahe zu bringen. Dass Cusanus darüber hinaus der philosophischen Beschäftigung mit ludischen Praktiken einen nicht unerheblichen Dreh verleihen will, macht schon allein der Beginn des Gesprächs deutlich. Denn hinsichtlich der thomasischen Ausführungen scheint es einigermaßen frech, Johannes folgende Worte in den Mund zu legen: Ioannes: Cum te videam ad sedem retractum, forte fatigatum ex ludo globi, tecum si gratum viderem de hoc ludo conferrem. Cardinalis: Gratissimum.2 (Johannes: Da ich sehe, dass du, wahrscheinlich müde vom Globusspiel, dich auf den Sessel zurückgezogen hast, möchte ich, wenn es dir angenehm ist, mit dir über das Spiel sprechen. Kardinal: Sehr gern.)

Zur Erinnerung: Bei Thomas von Aquin waren Spiele ein Heilmittel gegen die Ermüdung von den Körper beanspruchender spekulativer Arbeit der anima. Nennen wir diese Rechtfertigung für Spiele im Folgenden Rekreations-Argument. Cusanus’ Alter Ego ist zu Beginn aber forte fatigatum ex ludo globi. Nicht philosophische Arbeit erschöpft ihn, gerade das Spiel zwingt dazu, sich zu erholen. Wenn das Spiel aber seiner von Aristoteles, Albert und Thomas behaupteten Erholungsfunktion beraubt ist, wozu nützt es noch? Wir können vermuten, dass es vielleicht nicht zur körperlichen Wiederherstellung, sondern allein zu geistiger Ablenkung dient. Denn nachdem zuerst gespielt wurde, geht man in De ludo globi im Anschluss wieder direkt zur philosophischen Spekulation über. Auch bei Albert und Thomas fungierte das Spiel als Erholungsmittel, um sich wieder kontemplativer Arbeit widmen zu können. Allerdings hatte man sich dann mit ernsthaften Dingen zu beschäftigen, wie Thomas mit seinem Cicero-Verweis bekräftigt hatte. Bei Cusanus blickt man jetzt auf das Spielen selbst zurück. Die an das Spiel anschließende intellektuelle Tätigkeit richtet sich auf die Untersuchung eben des Globusspiels.3 Dieser Beginn ist umso bemerkenswerter, wenn man sich die fortdauernde Präsenz des Rekreations-Arguments für die Legitimität des Spielens angesichts der offensiv ausgetragenen Spielfeindschaft bei Johannes Capistranus ins GeBohemiae bifariam divisum est: alii Romanam Ecclesiam sequuntur, alii respuunt, qui appellantur Hussitae, multis haeresibus infames (…). Georgius Poggebragius Hussitarum partium fuit (…).« 2 De ludo globi I, 1, 5–7, Übersetzung von Bredow (2000), Globusspiel, S. 3. 3 Auf die Verbindung zu Albert hat auch Hans Gerhard Senger in der kritischen Edition hingewiesen, vgl. De ludo globi, S. 3.

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dächtnis ruft. Juristen wie Stefano Costa oder Hugo Trottus begründeten und verteidigten legitimes Spielen in der Mitte des 15. Jahrhunderts nach wie vor mit Thomas’ Theorie der anständigen Erholung. Völlig ungerührt verwirft Cusanus jedoch gleich mit den ersten Sätzen des Dialogs diese auf Aristoteles gründende Integration sittlich angemessener Spielarten in eine philosophische Lebenspraxis. Cusanus spielt nicht, um wieder Denken zu können. Vielmehr setzt er an, mithilfe eines Spiels als Modell des christlichen Lebenswegs über unser Denken selbst nachzudenken. In diesem Kapitel wird es darum gehen, den Perspektivwechsel des Kardinals – das heißt: die Hinwendung zur philosophischen Untersuchung eines Spiels – nachzuvollziehen, seine Voraussetzungen offenzulegen und seine Konsequenzen für das Verhältnis von Spielen und Philosophieren zu benennen. Von großer Bedeutung ist vor allem die Berücksichtigung spezifischer Voraussetzungen der Spielallegorie, insofern aus der Modellierung vielfältiger Lebenswege als ebenso vielfältiges Spiel bei Cusanus nicht folgt, dass Menschen in ihren Leben nur kontingenten Spielen nachgingen. Zwar könnte man die spielerische Darstellung eines christlichen Lebenswegs durchaus als Reflexion auf eine grundsätzliche epistemologische Verunsicherung deuten, in deren Folge ein christliches Spielfeld als ein Spiel unter mehreren möglichen Spielen gedacht wird. Doch basiert Cusanus’ Ansatz zugleich auf einem Spielkonzept, in dem ludische Praktiken stets mit einer Regulierung und Ausrichtung am eigentlich Ernsten verbunden bleiben. In De ludo globi zieht dies eine Ausrichtung auf einen Jesus Christus nachahmenden Lebensweg nach sich, was dem Dialog eine gewisse Ambivalenz einschreibt: Einerseits werden aus der Betrachtung eines Spiels philosophische Einsichten über die generelle Freiheit menschlichen Denkens gewonnen. Andererseits verdeutlichen diese Einsichten vor allem die Gefahr eines freien Denkens ohne wahre Fundierung im Glauben. Deutlich aufzeigen lässt sich dies anhand einer in De ludo globi knapp ausgeführten Theorie der Spielerfindung, deren Implikationen durch einen Vergleich mit der philosophischen Spielerfindung im Liber de moribus des Jacobus de Cessolis und den von Platon in den Nomoi diskutierten politischen Problemen bei der Erfindung neuer Spiele noch schärfer konturiert werden können. Die Analysen dieses Kapitels werden folglich auf einen Vergleich dieser philosophischen Diskussionen der Spielerfindung hinauslaufen. In einem ersten Schritt werde ich vorbereitend einige Voraussetzungen für die Untersuchung der Spielallegorie des Cusanus diskutieren. Die Suche nach zugrundeliegenden Denkschemata und die Charakterisierung der Artikulationssituation von De ludo globi stehen hierbei im Vordergrund. Daher bedarf es zum einen grundsätzlicher Bemerkungen zur cusanischen Philosophie, zu dem im Folgenden vorausgesetzten Allegorieverständnis und zu möglichen spielphilosophischen Vorbildern; zum anderen werde ich versuchen, die Bewertung von

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Spielen im Werk des Cusanus und im direkteren sozialen Feld des Papsthofes zu skizzieren, um Struktur und Konnotationen der Spielallegorie in De ludo globi kontextual einordnen zu können. Auf diesen Grundlagen wird in einem zweiten Schritt der Inhalt des ersten Buches nachgezeichnet und ein Zwischenfazit gezogen. In einem dritten Schritt fokussiere ich sodann die in De ludo globi entwickelte Theorie der Spielerfindung in Auseinandersetzung mit der Tradition allegorischer Spielauslegung nach Jacobus de Cessolis, werde ihre Konsequenzen aber insbesondere durch einen Vergleich mit den spielkritischen Passagen aus den Nomoi Platons herausarbeiten.

Grundlagen für die Analyse des Globusspiels Vergegenwärtigen wir uns für die Betrachtung von Cusanus’ Spielphilosophie zunächst einige philosophiehistorische Koordinaten. Ich habe zuvor mit der Feststellung angesetzt, dass Cusanus sich mit dem Anfang seines Dialogs gegen Albert und Thomas positioniert. Folgt man der Interpretation der cusanischen Philosophie durch Kurt Flasch, wird eine derartige Absage an die scholastische Tradition nicht überraschen. Die Theorie eines Zusammenfallens der Gegensätze, wie Cusanus sie in seinen Schriften entwickelt hat, legte Flasch als Metatheorie des Scheiterns der Scholastik aus. Diese sogenannte Koinzidenzlehre baute demnach auf der Überzeugung, dass die ratio sich notwendigerweise in Widersprüche verstricken müsse, wenn sie versuche, mit ihren Begrenzungen, mit ihren Unterscheidungen zu Gott, zur ersten, unterschiedslosen Einheit zu gelangen. Falls Gott zugleich das Größte und Kleinste, das Höchste und Tiefste ist, dann führen theologische Spitzfindigkeiten auf Grundlage des Satzes vom Widerspruch Cusanus zufolge notwendig zu Aporien. Die spätmittelalterliche Universitätstheologie hatte für ihn versagt. Ihrem rationalen Ansatz setzte er eine Anleitung entgegen, wie man vernunftgemäß erkennen könne, dass allem eine gegensatzlose Einheit zugrunde liege, auch unserem Denken selbst: der Zusammenfall des Gegensätzlichen, die Koinzidenz.4 Gehen wir von den besprochenen Spielpassagen Alberts und Thomas’ aus, so ließe sich das Denken von philosophia in einem ludus in diesem Sinne als Koinzidenz einer scholas4 Zur Koinzidenzlehre, die ich in diesem Rahmen nicht ausführlich beleuchten kann, vgl. Flasch, Kurt: Nikolaus von Kues. Geschichte einer Entwicklung. Frankfurt a. M.: Klostermann, 1998, S. 44–70, siehe zur Rolle des intellectus bei der Koinzidenzlehre speziell die Ausführungen über De coniecturis, S. 141–164, vgl. auch die knappere Zusammenfassung in ders.: Philosophie hat Geschichte. Band 1. Frankfurt a. M.: Klostermann, 2003, unter der Überschrift Über Cusanus schreiben auf den S. 81–126, insb. S. 83–96, zudem ders.: Nicolaus Cusanus. München: Beck, 2007 und ders.: Nikolaus von Kues in seiner Zeit: Ein Essay. Stuttgart: Reclam, 2004.

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tisch noch strengen Unterscheidung interpretieren. Anstatt widerspruchsfreier Eindeutigkeit in der Differenz Spiel/Philosophie eröffnet sich ein Raum der vielfältigen Möglichkeiten für eine spielende Philosophie. Wenn daher die scholastische Auslegungstradition der Spielpassagen in der Nikomachischen Ethik zum Verständnis des Spielkonzepts von De ludo globi nur als Kontrastfolie beiträgt, ist die Frage angezeigt, in welche Tradition(en) sich der cusanische Dialog stattdessen einschreibt, falls er überhaupt alternativen Vorbildern folgt. Schon benannt habe ich die Tradition allegorischer Spielauslegung, doch eine solchermaßen in Angriff genommene Neubestimmung des Verhältnisses von Philosophie und Spiel hat möglicherweise auch mit einem anderen Text zu tun, den Cusanus sich aktiv beschafft und zum Zeitpunkt der Abfassung des Globusspieldialogs schon in seine Bibliothek aufgenommen hatte. Für eine philosophische Ausweitung des Spielbegriffs stand dem Kardinal, den schon Vespasiano da Bisticci als grande Platonista bezeichnete, in dem vom Kreter Georg von Trapezunt erstmals übersetzen Gesetzen Platons ein gerade erst auf die Lateiner gekommenes Vorbild zur Verfügung.5 In einer berühmten Passage der Nomoi erklärt ein namenloser Athener seinen Gesprächspartnern Kleinias und Megillos, man dürfe ernstes Bemühen nur ernsten Dingen zukommen lassen, was letztlich allein für Gott gelte. Wir Menschen hingegen seien nur Spielzeuge der Götter : »Und so muss sich denn ein jeder, Mann oder Frau, diesem Umstand fügen und sein Leben lang die schönsten Spiele spielen, die es gibt (…).«6 Was Platon seine Dialogfigur hier demnach artikulieren lässt, ist nicht zuletzt eine philosophische Sorge um die Ernsthaftigkeit in der politischen Gemeinschaft. Es geht um die Frage, welchen Beschäftigungen man grundsätzlich ernst gegenüberzutreten hat. Dabei ist eine Ausrichtung an Gott nach Platon für menschliche Spiele grundlegend. Eine Reflexion auf ludische Elemente des Denkens bei Cusanus dürfen wir gleichermaßen nicht vorschnell als eine ausschließlich positive Würdigung spielerischer Freiheit der Erkenntnis begreifen. Zielloses Spielen bedeutet auch bei ihm, wie wir sehen werden, eine Gefahr für das Individuum, wenn es seinen Maßstab nicht im durch Christus 5 Die Übersetzung Georgs unter dem Titel De legibus hatte Cusanus vom Bischof von Arras und späteren Kardinal Jean Jouffroy im Austausch für Ps.-Quintilians Declamationes vor 1462 erhalten, das Manuskript befindet sich heute in der British Library als Harley 3261, vgl. den online verfügbaren Catalogue of illuminated Manuscripts unter der Adresse URL: http://www. bl.uk/catalogues/illuminatedmanuscripts/record.asp?MSID=4210& CollID=8& NStart= 3261 (zuletzt abgerufen am 20. 01. 2016). Auf die bezweifelbare Qualität der Übersetzung und die Handschrift selbst werde ich später zurückkommen. Zur Charakterisierung als Platoniker vgl. Bisticci (1951), Vite, S. 118. 6 Vgl. Plat. Nom. 803c, Übersetzung nach Platon: Die Gesetze. Eingl. von Olof Gigon, übertr. von Rudolf Rufener. Zürich und München: Artemis Verlag, 1974, S. 283, ich lege im Folgenden auch die italienisch-griechische Ausgabe Platone: Le Leggi. Übers. von Franco Ferrari und Silvia Poli. Mailand: BUR, 2007 zugrunde.

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exemplarisch vorgeführten Lebensweg findet. Die vielfältigen Möglichkeiten einer spielenden Philosophie sind demnach klar eingegrenzt. Hierfür spricht auch eine für das cusanische Globusspiel sicherlich wichtige Passage aus der Heiligen Schrift. Es handelt sich um eine Charakterisierung der Weisheit aus den biblischen Proverbia, in der das Verhältnis der sapientia zu Gott ludisch gefasst wird: Ich war seine Freude Tag für Tag und spielte vor ihm allezeit. Ich spielte auf seinem Erdenrund und meine Freude war es, bei den Menschen zu sein. Nun, ihr Söhne, hört auf mich! Wohl dem, der auf meine Wege achtet. Hört die Mahnung und werdet weise, lehnt sie nicht ab! Wohl dem, der auf mich hört, der Tag für Tag an meinen Toren wacht und meine Türpfosten hütet. Wer mich findet, findet Leben und erlangt das Gefallen des Herrn. Doch wer mich verfehlt, der schadet sich selbst; alle, die mich hassen, lieben den Tod.7

Auf die freudvollen Spiele der Weisheit folgt sogleich die Ermahnung, dass man bei ihrer Nichtbeachtung oder gar ihrer Verachtung dem Tod zuneige. Diese warnende Stelle und die Kontemplation der Weisheit thematisierte auch schon Thomas von Aquin im Proömium seiner Auslegung der boethianischen Schrift De ebdomadibus, und zwar im Kontext der Erklärung eines weiteren spielbezogenen Bibelverses aus dem Buch Jesus Sirach: »Praecurre prior in domum tuam, et illuc advocare et illic lude, et age conceptiones tuas.«8 (Geh aber zuerst schnell nach Hause und dort erheitere dich und dort spiele, und überlass dich deiner Stimmung.) Thomas legt die Passage folgendermaßen aus: Da das Studium der Weisheit das Privileg genieße, eher sich selbst zu genügen, könne man sich ihm umso besser widmen, je freier man sich von äußeren Angelegenheiten mache und auf die Kontemplation konzentriere. Dies betreffe den ersten Teil des Zitats – was aber soll die Aufforderung zum Spielen, illic lude, bedeuten? Die Kontemplation der Weisheit, führt der Aquinat weiter aus, gleiche einem Spiel, und zwar aus zwei Gründen. Erstens finde sich Vergnügen in Spielen, und die Kontemplation enthalte eben das höchste Vergnügen; zweitens aber werden die operationes ludi für sich erstrebt und nicht anderer Dinge wegen, ebenso wie die contemplatio sapientiae die Ursache ihrer Vergnügung in sich habe, weshalb

7 Prov. 8,30–36, hier wiedergegeben nach der Einheitsübersetzung, nach der Vulgata: »(30) cum eo eram cuncta conponens et delectabar per singulos dies ludens coram eo omni tempore, (31) ludens in orbe terrarum, et deliciae meae esse cum filiis hominum. (32) nunc ergo filii audite me: beati qui custodiunt vias meas; (33) audite disciplinam et estote sapientes et nolite abicere eam. (34) beatus homo qui audit me qui vigilat ad fores meas cotidie et observat ad postes ostii mei. (35) qui me invenerit, inveniet vitam et hauriet salutem a Domino. (36) qui autem in me peccaverit, laedet animam suam: omnes, qui me oderunt, diligunt mortem.« 8 Eccli. 32,15–16. Die Einheitsübersetzung lautet: »Geh nach Hause und sei nicht ausgelassen. Dort sei lustig und überlasse dich deiner Stimmung.«

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dieses Vergnügen nicht abnehme. Auch die vor Gott spielenden Weisheit aus den Proverbia entdecke so spielerisch verschiedene Wahrheiten.9 Diese Einordnung ist zunächst überraschend, da Thomas ja, wie zuvor gesehen, dem Spiel mit Aristoteles einen wohldefinierten Zweck zugesprochen hatte als Ausgleich gerade zur contemplatio. Wenn er den ludus demnach hier als etwas definiert, das man für sich erstrebe, und ihn sogar mit der contemplatio sapientiae vergleicht, scheint dies zunächst widersinnig. Nun besteht meines Erachtens keine Notwendigkeit, gegenläufige Tendenzen im Werk eines Autors zu harmonisieren – in diesem Fall allerdings könnte die Hinzuziehung einer Kategorisierung von Spielen, die Thomas in seinem Sentenzenkommentar vornimmt, hilfreich sein. Hier unterscheidet er Spiele, die von sich aus schändlich sind und die man unter allen Umständen meiden müsse, von den ludi liberales nach Aristoteles, welche an sich keine Schändlichkeit besitzen und durch die Tugend, d. h. von der eutrapelia geregelt werden. Bei Wahrung der richtigen Umstände dürfe man diese Spielen für die Ruhe und das soziale Miteinander nutzen. Eine dritte Kategorie der Spiele, die man loben und denen man nachgehen solle, betreffe allerdings die Freude der Aufopferung (gaudium devotionis). Diese Spiele entsprechen nach Thomas denjenigen aus einem Ausspruch Davids im zweiten Buch Samuel: »Im Angesicht des Herrn will ich spielen und noch geringer werden.«10 Drei Kategorien existieren demzufolge: Die schlechten Spiele, die Aristoteles-Spiele und die Spiele der Aufopferung. 9 Vgl. Thomas von Aquin: Expositio libri Boetii De ebdomadibus, Proömium: »Praecurre prior in domum tuam, et illuc advocare et illic lude, et age conceptiones tuas. Eccli. 32,15–16. Habet hoc privilegium sapientiae studium, quod operi suo prosequendo magis ipsa sibi sufficiat. (…) Ubi considerandum est, quod sapientiae contemplatio convenienter ludo comparatur, propter duo quae est in ludo invenire. Primo quidem, quia ludus delectabilis est, et contemplatio sapientiae maximam delectationem habet: unde Eccli. XXIV, dicitur ex ore sapientiae: spiritus meus super mel dulcis. Secundo, quia operationes ludi non ordinantur ad aliud, sed propter se quaeruntur. Et hoc idem competit in delectationibus sapientiae. Contingit enim quandoque quod aliquis apud seipsum delectatur in consideratione eorum quae concupiscit, vel quae agere proponit. Sed haec delectatio ordinatur ad aliquid exterius, ad quod nititur pervenire; quod si deficiat vel tardetur, delectationi huiusmodi adiungitur non minor afflictio, secundum illud Prov. XIV: risus dolore miscebitur. Sed delectatio contemplationis sapientiae in seipsa habet delectationis causam: unde nullam anxietatem patitur, quasi expectans aliquid quod desit. Propter quod dicitur Sap. VIII: non habet amaritudinem conversatio illius, nec taedium convictus illius, scilicet sapientiae. Et ideo divina sapientia suam delectationem ludo comparat, Prov. VIII: delectabar per singulos dies, ludens coram eo: ut per diversos dies, diversarum veritatum considerationes intelligantur. Unde et hic subditur : et illic age conceptiones tuas, per quas scilicet homo cognitionem accipit veritatis.« 10 Vgl. Thomas von Aquin: In IV Sententiarum, Lib. 4, d. 16, q. 4, a.2qc.1: »Respondeo dicendum ad primam quaestionem, quod ludorum est triplex differentia. Quidam enim ludi sunt qui ex se ipsis turpitudinem habent; et tales ludi ab omnibus vitandi sunt, et praecipue a poenitentibus, qui per fletum peccata corrigere debent, sicut ludi qui in theatris agebantur ad luxuriam provocantes. Alii ludi sunt qui ex gaudio devotionis procedunt, sicut David dixit: ludam, et vilior fiam coram domino: 2 regum 6, 21 et 23; et tales ludi non sunt vitandi, sed

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Wenn es also zutrifft, dass Thomas mit seiner Charakterisierung der contemplatio sapientiae in Anschluss an die spielende Weisheit aus den Proverbia diese letzte Form des Spielens meint, besteht im Kontext seines Gesamtwerks kein unmittelbarer Widerspruch. Die Aristoteles-Spiele der Philosophen würden unverbunden neben den Spielen der Aufopferung stehen. Es wäre auch zu fragen, welche Art von Kontemplation im Proömium des Boethius-Kommentars eigentlich gemeint ist und ob sie als philosophisch verstanden werden darf – allerdings geht es mir nicht um eine definitive Auflösung dieses thomasischen Ansatzes. In jedem Falle bietet sich mit der spielenden Weisheit der Proverbia und einer Art der Kontemplation als Spiel bei Thomas eine Anschlussmöglichkeit für Cusanus, auch die Philosophie ins Spiel zu verlegen und die in der Summa Theologica applizierte aristotelische Trennung von ludus und contemplatio zu überschreiten – gewissermaßen mit Thomas gegen Thomas. Hierfür spricht zudem, dass Cusanus sein Spiel selbst als ludus sapientiae beschreibt.11 Ersichtlich geworden ist allerdings auch, dass es nicht um beliebige Spiele geht: Wer die vor Gott spielende Weisheit verfehlt, liebt den Tod, und auch Thomas warnt vor an sich schändlichen Spielen, die zugunsten der Spiele in der Nachfolge Davids gemieden werden müssen. Neben diesen philosophie- und geistesgeschichtlichen Koordinaten müssen wir uns für die folgende Analyse von De ludo globi noch eine weitere, speziellere Bedingung des Dialogs vergegenwärtigen. Da Nicolaus ein Spiel als Allegorie verwendet, um Philosophie zu erklären, ist für eine verlässliche Untersuchung des Textes nicht irrelevant, welche Konnotationen Spiele im Umfeld des Kusaners und für ihn selbst haben konnten. Mir scheint daher Zurückhaltung geboten, wenn es darum geht, ein intuitives und damit vielleicht modernes Spielkonzept in das Werk hineinzulesen.12 Spielen unterliegt in der Lebenswelt von Cusanus benennbaren Bedingungen, welche die Grundlage seiner Spielallegorie ausmachen. Ich werde davon ausgehen, dass die Verwendung einer bestimmten Allegorie, also beispielsweise des Spiels, denjenigen Bereich, den sie allegorisieren soll, in bestimmter Hinsicht perspektiviert. Diese bestimmte laudandi et aemulandi. Quidam autem ludi sunt nullam turpitudinem habentes, quos philosophus liberales vocat; et hi sunt materia virtutis, scilicet eutrapeliae; et ideo servatis debitis circumstantiis, possunt laudabiliter fieri ad quietem propriam, et aliis delectabiliter convivendum. Sed contingit in eis esse peccatum, eo quod debitae circumstantiae non servantur ; unde in talibus ludis aliquid decet unum quod non decet alium; et in his etiam ludis poenitens se debet habere aliter quam alii, inquantum poenitentia fletum requirit. Tamen eis moderate uti potest, secundum quod ad recreationem animi pertinent, aut ad societatem eorum cum quibus homo convivit; unde Seneca dicit: sic te gere sapienter, ut nullus te habeat tamquam asperum, nec contemnat quasi vilem.« Vgl. hierzu auch knapp Sonntag (2013), Erfinder, S. 251–252. 11 Vgl. De ludo globi I, 31, 1. 12 Dies gilt schon allein der gerade zitierten unterschiedlichen biblischen, thomasischen und platonischen Spielkonzepte wegen.

Soziale Felder der Allegorie: Spielende Kardinäle

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Hinsicht hängt wiederum vom zeitgenössischen Gebrauch der Bilder, Gegenstände oder Figuren ab, die man als Allegorie verwendet. Zum Beispiel: Das Spiel als Allegorie des Denkens perspektiviert unser Denken unter den Bedingungen des Gebrauchs von Spielen und dessen Konnotationen in der Zeit des Cusanus. Eine kontextuale Einordnung erlaubt damit erstens gewöhnliche oder ungewöhnliche Verwendungsweisen des Spiels in De ludo globi im Verhältnis zu den Verwendungsweisen von Spielen im sozialen Umfeld des Kardinals deutlich herauszustellen. So lässt sich fragen, wie etwa eine Spielallegorie zur Vermittlung christlicher Philosophie im Umfeld der Kurie zu bewerten ist, wenn doch gleichzeitig in Predigten die Gefahren des Spielens mit Nachdruck betont werden. Zweitens werden hierdurch die strukturellen Bedingungen ersichtlich, die sich aus der Verwendung einer bestimmten Allegorie ergeben.13 Ausgehend von verstreuten Äußerungen zum Spiel im cusanischen Werk und unter Einbeziehung von Hinweisen zum Spielen im sozialen Feld des Papsthofes werde ich daher nun Cusanus’ grundlegende Deutungsschemata von Spielen skizzieren und deren kontextuale Bedingungen verständlicher machen. Vorbereitet wird so eine erste Einordnung von De ludo globi, die nach einer kompakten Zusammenfassung des Inhalts die Grundlinien für eine detailliertere Analyse der Spielerfindung geben soll.

Soziale Felder der Allegorie: Spielende Kardinäle Es interessieren mich also zunächst zwei Punkte: Für wie gewöhnlich können wir Spielen im Kontext eines Papsthofes halten, wenn es Juristen Mitte des 15. Jahrhunderts nach wie vor nötig erscheint, mit Thomas die Legitimität von Spielen gegen eine Tradition frommer Trauer herauszustellen? Zweitens und wichtiger : Geben uns dieses soziale Feld und andere Spuren in den Werken des Cusanus Hinweise auf die Denkschemata, die seinem Spielkonzept und damit der Spielallegorie zugrunde liegen? Hierfür sollte man sich zunächst von Mythen und zu groben Verallgemeinerungen befreien. Die von Heinrich Brockhaus geäußerte Vermutung, Cusanus habe zusammen mit Papst Pius II. und Kardinal Basilius Bessarion während des Konzils von Mantua ein frommes Geduldsspiel in Form eines reich bebilderten Kartenspiels erfunden (heute als Mantegna Tarocchi bekannt), entbehrt zwar nicht einer reizvollen Anziehungskraft, muss aber aufgrund fehlender Belege 13 Vgl. für die Tradition der Allegorien grundlegend P8pin, Jean: Dante et la tradition de l’all8gorie. Paris: Vrin, 1970, darüber hinaus Kurz, Gerhard: Metapher, Allegorie, Symbol. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1982, S. 62: »Die allegorische Bedeutung wird durch analogische und identifikatorische Reflexionen aus dem Text rekonstruiert.«

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zurückgewiesen werden.14 Ebenso sind zwar Hinweise auf das Verbot eines ludus globorum im Zuge der Würzburger Synode 1329 für eine Geschichte des Globusspiels von Interesse.15 Es scheint allerdings Vorsicht angebracht, wenn man eine direkte Relevanz für den Dialogus de ludo globi unterstellen will: Immerhin liegen 134 Jahre und eine beträchtliche Wegstrecke zwischen Würzburg 1329 und Nicolaus Cusanus im Rom der Jahre 1462/3. Einigermaßen sicher können wir vielmehr sagen, dass Cusanus als Bischof von Brixen im Jahr 1453 den Geistlichen seiner Diözese das Karten- und Würfelspiel verboten hat.16 Und auch sonst war er wohl (ebenso wie im letzten Kapitel Robert Grosseteste) kein Freund von Spielen, bei denen es um den Gewinn von Geld gehen konnte. Am 4. April des Jahres 1457 hielt er zu Brixen einen Sermo am Passionssonntag, dem fünften Sonntag der Fastenzeit, in dem er die Blasphemie besprach. Deren Ursprung verortete er unter anderem im Spielen: Venit iste diabolicus spiritus frequenter ex ludo, ubi luditur ex avaro animo bona alterius habendi. Ideo utique ludus taxilloris et alius quicumque ex avaritia procedens eliminandus est ab omni re publica christiana, ne blasphemia nutriatur et ira Dei provocetur.17 (Dieser diabolische Geist erwächst häufig aus demjenigen Spiel, wo aus einer habsüchtigen Gesinnung heraus gespielt wird, um die Güter eines anderen zu erlangen. Daher ist besonders das Würfelspiel und jedes andere aus der Habsucht hervorgehende Spiel aus jedem christlichen Staat zu verbannen, damit nicht die Blasphemie genährt und der Zorn Gottes hervorgerufen werde.)

Um die Tricks von Falschspielern wusste Cusanus schon seit seinen frühen Sermones: erst verführen sie den Mitspieler durch vermeintlich leichten Gewinn zum Weiterspielen, nur um ihn dann umso gründlicher auszunehmen.18 Wo aber 14 Vgl. Brockhaus, Heinrich: Ein edles Geduldsspiel: »Die Leitung der Welt oder die Himmelsleiter«, die sogenannten Taroks Mantegnas vom Jahre 1459–1460. In: Miscelanea di storia dell’arte in onore de J. B. Supino. Florenz, 1933, S. 397–416, insb. S. 400–402 und 415– 416; zur Einordnung der Karten vgl. den Katalog zur Ausstellung »Tarocchi«. Menschenwelt und Kosmos. Ladenspelder, Dürer und die »Tarock-Karten des Mantegna«. Wallraf-RichartzMuseum Köln, 9. Nov. 1988 bis 22. Jan. 1989, Köln, 1988, S. 39–52; vgl. hierzu Senger, Hans Gerhard: Globus Intellectualis. Welterfahrung und Welterkenntnis nach De ludo globi. In: Senger, Hans Gerhard: Ludus sapientiae. Studien zum Werk und zur Wirkungsgeschichte des Nikolaus von Kues. Leiden: Brill, 2002, S. 88–116, hierzu S. 101 Fußnote 55. 15 Vgl. Senger (2002), Globus, S. 98. 16 Vgl. Schreiber, W.L.: Die ältesten Spielkarten und die auf das Kartenspiel Bezug habenden Urkunden des 14. und 15. Jahrhunderts. Straßburg: J.H.Ed. Heitz, 1937, S. 33. 17 de Cusa, Nicolaus: Sermones IV (1455–1463). Fasciculus 6. Hrsg. von Heide Dorothea Riemann. (=Nicolai de Cusa Opera Omnia Band 19, 6) Hamburg: Meiner, 2005, Sermo CCLXXVI, 45, 6–11. 18 In der 1431 gehaltenen Sermo VII vergleicht Cusanus die Sünde mit Falschspielen: »Est simile ludo deceptorum, qui lucrari permittunt in principio et postea capiunt totum, etc.«

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auf solcherlei habgierige Art gespielt wird, ist Blasphemie nicht weit. Das ist beachtenswert: Sünde erwächst nach Cusanus nicht aus dem Spielen überhaupt, sondern aus einer habgierigen Weise des Spielens. Spiele der Habgier jedoch – zu denen Cusanus explizit Würfelspiele zählt – sind wegen der Gefahr von Blasphemie nicht nur für das Seelenheil der Menschen gefährlich, sie müssen aus der res publica christiana überhaupt beseitigt werden. Das ist eine politische Botschaft, der er als Brixener Bischof nachgekommen ist und die er schon in De concordantia catholica als Herrschaftsanweisung formuliert hatte: Der König müsse den Betrug in wucherhaften und kriminellen Verträgen durch Würfelspiele und Monopole ausmerzen.19 Sowohl das Verbot des Kartenspiels wie auch der Aufruf zur Verdammung jedes habgierigen Spielens stammen noch aus der Brixener Zeit des Kardinals. Seit 1450 war er dort Bischof mit geringem Erfolg und stand spätestens ab 1458 in heftiger Auseinandersetzung mit dem Landesfürsten Sigismund.20 Gerade im Jahre 1458 jedoch wählte ein Konklave seinen Freund Aeneas Silvio Piccolomini zum Papst der römisch-katholischen Kirche, fortan unter dem Namen Pius II. regierend. Cusanus, der sich im Streit um sein Bistum letztlich nicht durchsetzen konnte, wurde von Pius als legatus urbis nach Rom berufen und verbrachte nach dem endgültigen Scheitern in Brixen seine letzten Lebensjahre, nun sein Tätigkeitsfeld im Gegensatz zum engen Wirkungskreis des Bistums ausspannend, als enger Berater Pius II. und kirchenpolitischer Akteur im Umkreis der Kurie.21 Wir müssen also davon ausgehen, dass die Dialoge über das Globusspiel im Kontext des Piccolomini-Papsthofes entstanden sind, zumal eben dieser auch im Dialog selbst angesprochen wird. Zu Beginn des zweiten Buches erwähnt Albrecht, dass er angereist sei, um Papst Pius II. und Cusanus sowie die anderen Kardinäle besser kennenzulernen.22 Wenn wir Rom als Bezugspunkt für dieses Gespräch annehmen (was bei Pius’ Reisefreude nicht selbstverständlich ist23), dann dürfte Cusanus der kommunale Umgang mit Spielen entsprechend seinen Empfehlungen durchaus gefallen

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(de Cusa, Nicolaus: Sermones I (1430–1441). Fasciculus 2. Hrsg. von Rudolf Haubst. (=Nicolai de Cusa Opera Omnia Band 16, 2) Hamburg: Meiner, 1973, Sermo VII, 4, 27–29). Vgl. de Cusa, Nicolaus: De concordantia catholica. Edidit atque emendavit Gerhardus Kallen. (=Nicolai de Cusa Opera Omnia Band 14) Hamburg: Meiner, 1964, III, 566, 1–6: »Multa quidem alia regibus incumbunt, (…) insuper deceptiones, quae per contractus ac pravitates fiunt usurarias, per ludos taxillorum, per monopolia et huiusmodi, eradicare (…).« Eine Übersicht zum Brixener Streit bei Meuthen (1958), Die letzten Jahre, S. 15–27 und 57– 59, zur Biographie des Cusanus allg. Euler, Die Biographie des Nikolaus von Kues, S. 31–103. Vgl. Meuthen (1958), Die letzten Jahre, S. 28–31, 59 und 64. Vgl. De ludo globi I, 61, 6–8: »Tu nosti, pater, me advenisse summa fiducia, ut Papae nostro Pio atque tibi et aliis cardinalibus notior fierem et proficerem.« Vgl. Esch, Arnold: Landschaften der Frührenaissance. Auf Ausflug mit Pius II. München: Beck, 2008, S. 6–68; vgl. auch das Itinerar des Nicolaus 1458–1464 bei Meuthen (1958), Die letzten Jahre, S. 315–316.

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haben. In den Gassen der ewigen Stadt patrouillierten städtische Ordnungshüter und ahndeten mit Geldbußen, wenn Römer oder die zahlreichen in- und ausländischen Pilger und Geschäftsleute das erlassene absolute Verbot von Glücksspielen in den zahlreichen Tavernen überschritten.24 Ich will das betonen: Die Beschränkung des Spielens ist in Rom eine gesellschaftliche Praxis. Im Umfeld des päpstlichen Hofes hingegen, an dem Unterhaltung trotz aller Reformbemühungen – auch von Cusanus selbst – einen hohen Stellenwert einnahm, wurde nun aber durchaus gespielt. In seinen Reformvorschlägen für die römische Kurie empfiehlt Nikolaus entsprechend, Habsucht unter Kardinälen nicht zu tolerieren und alle Spieler, lusores, von der Kurie zu entfernen.25 Im Kontext von avaritia hat Cusanus vermutlich Glücksspiele um Geld im Sinn. Sollte er aber seine Abneigung gegenüber Kartenspielen für Geistliche beibehalten haben, dürften ihm auch einige andere Gepflogenheiten an der Kurie zumindest missfallen haben. Eine Ahnung kurialer Spielpraxis können wir beispielsweise aufgrund der Arbeiten Claudia Märtls erlangen, die Gesandtschaftsberichte am Papsthof ausgewertet hat.26 Aus ihnen lässt sich etwa lernen, wie selbstverständlich sich Kardinäle des Abends mit Damen zum Kartenspiel trafen. Interessanter für De ludo globi dürfte allerdings ein Bericht über Ballspiele unter Beteiligung eines Schützlings des Cusanus sein: Der Markgräfin von Mantua wird 1462 berichtet, dass ihr Sohn, Kardinal Francesco Gonzaga, 1462 zusammen mit dem Erzbischof von Benevent zu fortgeschrittener Stunde eines Festes mit bloßem Oberkörper einem Ballspiel nachgegangen sei, worauf Pius II. die beiden eher scherzhaft ermahnt habe.27 Überhaupt sollten uns Ballspiele aus mehreren Gründen im Kontext des Papsthofes nicht als ausgewöhnlich erscheinen. Pius II. hat selbiges in seinem 24 Vgl. Lombardo, Maria Luisa: I giocatori di dadi e di carte a Roma nel Quattrocento nelle fonti fiscali della Camera Urbis. In: »Il Gioco nello Stato Pontificio«, Archivi e Cultura, Rivista fondata da Antonio Lombardo, XLI (2008), S. 27–61. Die große Spielfreude zur Zeit des Cusanus bezeugt demgegenüber der kontinuierliche Import von Spielkarten, vgl. Esch, Arnold und Doris: Aus der Frühgeschichte der Spielkarte. Der Import von carte da giocare und trionfi nach Rom 1445–65. In: Gutenberg Jahrbuch 88 (2013), S. 41–53. 25 Vgl. de Cusa, Nicolaus: Opuscula III. Fasciculus 2: Opuscula ecclesiastica: Epistula ad Rodericum Sancium et Reformatio generalis. Edidit Iohannes Gerhardus Senger. (=Nicolai de Cusa Opera Omnia Band 15, 2) Hamburg: Meiner, 2007, 32, 35–38: »Etsi qui curiales, etiam laici reperti fuerint lenones, concubinarii, lusores et deceptores ab honestate declinantes, illos a nostra curia omnino eici mandamus.« 26 Vgl. Märtl, Claudia: Alltag an der Kurie. Papst Pius II. (1458–1464) im Spiegel zeitgenössischer Berichte. In: von Martels, Zweder und Vanderjagt, Arjo (Hrsg.): Pius II. »El piF expeditivo pontifice«. Selected Studies on Aeneas Silvius Piccolomini (1405–1464). (=Brill’s Studies in Intellectual History Band 117) Leiden/Boston: Brill, 2003, S. 107–145. 27 Vgl. ibid., S. 132–133 und S. 142, zu Ballspielen auch S. 128; zu Nicolaus’ Bemühungen um die Kardinalswürde für Francesco vgl. Meuthen (1958), Die letzten Jahre, S. 74–83, zum Verhältnis der beiden S. 82–83.

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Brief an den ungarischen und böhmischen König Ladislaus sogar explizit zur Erziehung junger Monarchen empfohlen – und zwar begründet mit dem schon wohl bekannten Rekreations-Argument, dass Spiele zur Erholung und zur Munterkeit hin und wieder notwendig seien.28 Speziell hinsichtlich klerikaler Körperertüchtigung hat Claudia Märtl außerdem darauf hingewiesen, dass in De cardinalatu, einer den perfekten Kardinal imaginierenden Schrift aus dem frühen 16. Jahrhundert, das Ballspiel als einzige den Kardinälen entsprechende körperliche Betätigung ausgewiesen wird.29 Auch existierte ein geistliches Ballspiel im 15. Jahrhundert, das alljährlich im Rahmen der Osterfeierlichkeiten in der Kathedrale von Auxerre aufgeführt wurde. Vom Zentrum des Bodenlabyrinths der Kathedrale spielte der Dekan von Auxerre den ums Labyrinth tanzenden Kanonikern einen Ball wechselseitig unter Musikbegleitung zu. Über dem Labyrinth, das nach Ulrike Zellmann ambivalent sowohl den ins Diesseitige verstrickten Irrweg zum tödlichen Zentrum als auch den Heilsweg aus dem diesseitigen Leben zum Zentrum der Erlösung symbolisiere, wagen die Beteiligten stets das Risiko des Scheiterns der Performance: ein Ballspiel als Vergegenwärtigung unsicherer Lebenswege.30 In nicht unähnlicher Weise erwähnte auch Cusanus in einem Sermo die schon angesprochene spielende Weisheit der Proverbia: So wie der Zitherspieler sich eine Zither gemacht habe, um sich an ihr zu erfreuen, so habe Gott die vernunftbegabte Seele erschaffen, die nun Harmonien hervorbringen oder aus Nachlässigkeit Misstöne erzeugen könne.31 Wenn also ludische Praktiken einen gewöhnlichen Aspekt auch kurialen Lebens ausmachten (wobei hier weniger streng reglementiert als gepredigt wurde) und Spiele mit sphärischen Körpern überdies zur Darstellung christlicher Eschatologie verwendet werden konnten, so überrascht es nicht, dass 28 Vgl. Kallendorf, Craig W. (Hrsg.): Humanist Educational Treatises. Cambridge (Mass.) und London: Harvard University Press, 2002, der Traktat De liberorum educatione auf den S. 126–259, hierzu S. 142: »Ceterum nec puero ludos interdixerim, qui non sunt obsceni. Ludere te cum aequalibus pila, quemadmodum tibi Iohannes Hinderbach, vir doctus, praecepta conscripsit, et probo et laudo. Est trochus; sunt alii pueriles ludi, qui nihil turpitudinis habent, quos tibi nonnunquam permittere praeceptores debent, ut sic laboris remissio fiat et alacritas excitetur.« 29 Vgl. Märtl (2003), Alltag, S. 128–129 Fußnote 55. 30 Zellmann, Ulrike: Lusus erat. Tanz und Spiel auf dem Labyrinth in der Kathedrale von Auxerre. In: Brittnacher, Hans Richard und Janz, Rolf-Peter (Hrsg.): Labyrinth und Spiel. Umdeutung eines Mythos. Göttingen: Wallstein, 2007, S. 36–74. 31 Vgl. hierzu Schwaetzer, Harald: Vom Gehalt geistiger Übung. Das Globusspiel des Nikolaus von Kues. In: Kowalewicz (2014), Spiel, S. 13–27, insb. S. 14–15, der die in Predigten angesprochenen negativen Seiten ludischer Praktiken jedoch nicht thematisiert. Das Bild der Zither in der Sermo CLXXVIII 8 und 9 in de Cusa, Nicolaus: Sermones III (1452–1455). Fasciculus 4. Hrsg. von Silvia Donati et al. (=Nicolai de Cusa Opera Omnia Band 18, 4) Hamburg: Meiner, 2004. Die schon angesprochene spielende Weisheit in Prov. 8,31 als »ludens in orbe terrarum et deliciae meae esse cum filiis hominum«.

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Cusanus nicht erst mit De ludo globi die didaktischen Möglichkeiten von Spielen zur Vermittlung von Philosophie entdeckte. Schon in dem wohl um 1460 entstandenen Trialog De possest verwendet er das Kreiselspiel der Kinder, um seinem Sekretär Giovanni Andrea de Bussi und dem Salzburger Bernhard von Kraiburg einige philosophische Grundeinsichten zu vermitteln.32 Die Bewegung des Kreisels gibt ihm dabei zunächst Gelegenheit, den Zusammenfall von Bewegung und Ruhe in der unendlichen Geschwindigkeit zu verdeutlichen.33 Bereits hier bemerkt Cusanus das große Potential philosophischer Spielbetrachtung: »Wir könnten in dieser Kreiselbewegung noch viele schöne Einsichten erjagen (…).«34 Zum Beispiel, dass die Kinder einem toten bewegungslosen Kreisel eine im Verstand erdachte Bewegung geben, die über das bloße Drehen hinausgeht (weil sie ihn zugleich zu einer Kreisbewegung antreiben) und die eben nicht in der Natur des Kreisels liege.35 Hierin stecke ein Gleichnis des Schöpfers, der Unbelebtes beleben will – solange der Lebensgeist bleibe, dauere die Bewegung an.36 Auch in der Kunst der Kinder, erklärt der Kardinal also, scheine die Natur und in eben jener Gott wider. Dies mache das Kreiselspiel zu einem lohnenswerten Untersuchungsgegenstand für die sapientes mundi.37 Ein Blick auf den Kreisel wie auch auf den Globus führt Cusanus demnach zur Philosophie. Umso bemerkenswerter muss uns folglich ein Rückblick auf den Brief des Pius an Ladislaus erscheinen, denn dieser empfiehlt genau zwei Spiele zur physischen Ertüchtigung junger Monarchen: Das Kreiselspiel und das Ballspiel.38 Auf diesen Zusammenhängen basierend können vor allem zwei Eckpunkte für die Betrachtung von De ludo globi festgehalten werden. Erstens gleicht Cusanus mit seinem Bemühen um eine angemessene Form des Spielens spätmittelalterlichen mendikantischen Predigern, die, wie im letzten Kapitel ausgeführt, eben die Regulierung der Spielpraxis an christlichen Maßstäben anstrebten. Weniger als Spiele an sich verwirft auch Cusanus nur bestimmte Praktiken des Spielens. Die Idee einer Regulierung von Spielen findet sich in 32 de Cusa, Nicolaus: Trialogus de possest. Edidit Renata Steiger. (=Nicolai de Cusa Opera Omnia Band 11, 2) Hamburg: Meiner, 1973 (im Folgenden als De possest); zu Entstehungszeitraum und Gesprächsteilnehmern vgl. die Einleitung Steigers, S. IX. 33 Vgl. De possest, 18–19. 34 Ibid., 23, 2–3: »Possemus adhuc plura in hoc trochi motu pulcherrima venari (…).« Übersetzung nach von Kues, Nikolaus: Trialogus de possest/Dreiergespräch über das KönnenIst. Lateinisch/Deutsch. Mit einer Einführung von Lothar und Renate Steiger. Neu übersetzt und mit Anmerkungen hrsg. von Renate Steiger. (=Schriften des Nikolaus von Kues in deutscher Übersetzung Heft 9) Hamburg: Meiner, 1973, S. 29. 35 Vgl. De possest, 23, 3–9. 36 Vgl. ibid., 23, 12–20. 37 Vgl. ibid., 23, 21–25. 38 Vgl. op. cit. Fußnote 28.

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seinem Werk als politische Aufgabe des Herrschers, der sündhaftes, vor allem habgieriges Spielen aus der christlichen Gemeinschaft verbannen muss, ebenso wie der Papst die Spieler von der Kurie. Auch für Cusanus gilt damit eine Voraussetzung, die uns nicht mehr ohne Weiteres präsent ist: Es gibt moralisch gute und schlechte Spielformen, weshalb Spiele kontrolliert werden müssen. Schlecht können sie entweder an sich sein, wie das Würfelspiel, oder wenn sie auf eine falsche Art gespielt werden, wie etwa aus Habgier. Die schlechten Spiele und Spielweisen sind gefährlich sowohl für das Seelenheil des Einzelnen als auch für die menschliche Gemeinschaft. Folglich versteht Cusanus die Eingrenzung des Spielens einerseits als konkrete ordnungspolitische Praxis, andererseits als rhetorische moralische Verdammung. Dies entspricht sicherlich teilweise dem Spielkonzept des aristotelischen Diskurses, insofern nach Thomas oder Albert die unbedenklichen Spiele von den verwerflichen geschieden werden mussten. Cusanus interpretiert sogar die spielende Weisheit der Proverbia in dieser Weise: Ein Zitherspiel kann harmonisch werden oder als Kakophonie missglücken. Die regulierende Eingrenzung des Spielens ist ein zentrales Element seines Spielkonzepts. Zweitens können wir davon ausgehen, dass die Dialoge im sozialen Feld eines durchaus spielbegeisterten Hofes entstehen, an dem manche normativen Botschaften der Predigten nur bedingt Applikation in der Praxis erfahren. Dass in den Sermones Bernhardins von Siena beispielsweise Kartenspiele als Instrumente des Teufels präsentiert werden, scheint die Kardinäle wenig zu stören.39 Cusanus wählt allerdings eine Spielart, die in geistlichem Kontext akzeptiert und präsent ist. Nicht nur schreibt er sich damit in eine philosophische Tradition der Bedeutung der Kugel in den Schriften Plotins und Platons ein,40 auch entspricht seine Wahl didaktischer Spiele den pädagogischen Vorschlägen Pius’ II. Die in De possest eingewirkte Passage der didaktischen Nutzung von Spielen lässt sich so gleichsam als experimentierende Vorstufe der ausführlicheren Spieldidaktik in De ludo globi lesen. Ein zweites zentrales Element des De ludo globi zugrunde liegenden Spielkonzepts ist entsprechend auch die positive Anerkennung von Spielen und ihrer didaktischen Möglichkeiten in einem Spielen durchaus aufgeschlossenen kurialen Umfeld. Auf Grundlage dieser Ergebnisse kann nun zur Betrachtung von De ludo globi 39 Vgl. Depaulis, Thierry : »Breviari del Diavolo so’ le Carte e Nabi«. How Bernhardine of Siena and His Franciscan Followers Saw Playing Cards and Card Games. In: Sonntag (2013), Religiosus ludens, S. 115–127. 40 Vgl. hierfür Senger (2002), Globus, S. 90–92; vgl. darüber hinaus für das Verhältnis zu Alain de Lille über die Thematisierung sphärischer Körper Butterworth, Edward J.: Form and Significance of the Sphere in Nicholas of Cusa’s De ludo globi. In: Christianson, Gerald und Izbicki, Thomas M. (Hrsg.): Nicholas of Cusa in Search of God and Wisdom. Leiden und New York: Brill, 1991, S. 89–100.

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selbst übergegangen werden. Sicherlich werde ich nicht alle Themen beleuchten können, die Cusanus in seinem Dialog anschneidet. Das Interesse dieses Kapitels ist allerdings klar eingegrenzt. Ich konzentriere mich auf Cusanus’ Ansatz der Spielerfindung, der im Verhältnis zu seinen philosophiehistorischen Bezugspunkten verständlich gemacht werden soll. Bevor wir allerdings zum Nachvollzug dieser Spielerfindungstheorie und der hierfür relevanten Diskurse kommen, müssen wir die genaueren Modalitäten des Globusspiels besser kennenlernen. Hierfür ist es zunächst geboten, einen knappen Überblick des Inhalts zu geben, bevor zu dessen Einordnung fortgeschritten werden kann.

Moral des Globusspiels: Die Kugel zu Gott bringen Im Dialog erklärt der Kardinal, er habe das Spielfeld, bestehend aus neun Kreisen um einen gemeinsamen Mittelpunkt, in Anlehnung an die vier Elemente farbig gestaltet. Die inneren drei Kreise seien feurig, also vermutlich rot, die folgenden drei ätherisch oder luftig, vielleicht weiß, und die äußeren drei wässrig, wahrscheinlich blau, wobei diese letzten im Erdschwarzen enden. Die Mitte wiederum sei dem Sonnenlicht nachempfunden, womit sich also 9 bunte, vom Erdschwarzen umgebene Ringe und ein innerer Kreis des Lichts ergeben. Zusammen bilden sie das farbenreiche Spielfeld des Globusspiels.41 Dieses Feld zeigt eine der beiden zentralen Voraussetzungen an, mit denen der Leser des Dialogs umgehen muss. Wir könnten sie so fassen: Die Welt ist von Gott geschaffen und diesen höchsten intellectus, wie Cusanus ihn in De beryllo mit Rückgriff auf Anaxagoras auch bezeichnete, erfreut es, wenn seine Schöpfung erkannt wird. Er schafft daher Wesen, die ihn zu erkennen vermögen.42 Er ist sozusagen die Mitte des Spielfelds, das Cusanus für seinen Dialog entwirft. Welches Verhältnis haben wir aber zu diesem Mittelpunkt? Mit Kurt Flasch lässt es sich folgendermaßen fassen: Seit seiner Schrift De coniecturis von circa 1442 habe Cusanus die Koinzidenztheorie, die ich zuvor schon knapp angerissen hatte, in eine Unterscheidung von intellectus und ratio gefasst. Mit der ratio, die Sinneseindrücke unterteilt, die ordnet und unterscheidet, müssen die Menschen nach Cusanus stets in Widersprüche geraten. Wie Gott die unterschiedslose Einheit ist, so ist jedoch der menschliche intellectus, die Vernunft, Abbild von ihm. Diese Vernunft hat das Unendliche zum Inhalt, sie ist Prinzip der ratio. 41 Vgl. De ludo globi I, 78, 11–14: »(…) centrum luci solari conformaverim et tres proximos circulos igneos, alios aetherios et tres quasi aequos, qui in nigro terreo desinunt, depinxerim.« 42 Vgl. de Cusa, Nicolaus: De beryllo. Editionem funditus renovatam atque instauratam curaverunt Iohannes Gerhardus Senger et Carolus Bormann. (=Nicolai de Cusa Opera Omnia Band 11, 1) Hamburg: Meiner, 1988, 4.

Moral des Globusspiels: Die Kugel zu Gott bringen

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Hierin ist der wichtigste Punkt dieses Gedankens zu sehen: Insofern die ratio unterscheidet, setzt sie das Ununterscheidbare, den intellectus, voraus. Der intellectus nun erkenne sich in den Bestimmungen der ratio als Prinzip, er begründet ihre Möglichkeiten. Er sieht sich selbst über ihre Distinktionen, und gerade in den Unterscheidungen und Bestimmungen der ratio entfaltet er sich fortwährend. Als Abbild Gottes produzieren die Menschen ihre rationalen Mutmaßungen dabei ebenso wie Gott die Welt, doch aus je individueller Perspektive.43 Zu einer zweiten zentralen Voraussetzung führen die Spielregeln. Die lex ludi besagt, der Spieler müsse versuchen, eine Kugel in die sonnige Mitte der neun Kreise zu steuern.44 Um eine beliebige Kugel handelt es sich allerdings nicht: Zur Verfügung steht nur ein spezieller, auf einer Seite nach innen gewölbter Globus.45 Die Delle bedingt, dass die Kugel unerwartete Bahnen nimmt, ihr Lauf nicht eindeutig vorhersagbar ist. Zwar erschwert dies das Spiel, es sorgt aber Cusanus zufolge bei den Beteiligten für große Freude und viel Gelächter. Zur Ermittlung des Siegers addiert man die erzielten Punkte, bei jedem Versuch vergeben nach dem jeweiligen Ruhepunkt des Globus auf einem der von außen nach innen durchnummerierten Kreise. Es gewinnt, wer zuerst 34 Punkte erringt – die Zahl der Lebensjahre Christi.46 Das ist selbstverständlich kein Zufall, denn Christus ist der Angelpunkt für eine zweite umfassende Einsicht, die im Globusspiel vermitteln werden soll. Sie bezieht sich auf grundsätzliche ethische Fragen, die folgendermaßen gefasst werden können: Wie erreicht man das ewige Leben? Können die Menschen einfach kraft der ihnen verliehenen Erkenntnisfähigkeiten ethische Normen gewinnen, die sie zum Schöpfer, zur Ruhe des ewigen Lebens führen und nicht zu den Qualen des Höllenfeuers? Und die Antwort ist eindeutig: Nein. Cusanus argumentiert christologisch und allegorisch in Bezug auf das Spiel: Der Sohn Jesus habe den Vater, den Ursprung des Lebens offenbart. Der Suche nach ewigem Leben sei damit eine Orientierung, ein exemplum gegeben. Diesem habe man zu folgen. Nur Christen kennen das Spielfeld, auf das zu zielen ist – ohne diese Orientierung wüsste man gar nicht, wohin mit der Kugel. Die regio vivorum, das Reich der Lebendigen, wie Cusanus das Spielfeld auch bezeichnet, würde ewig verborgen bleiben. Zum Zentrum, der vita viventium, dem Leben der Lebenden, das Christus ist, könnten die Menschen nie gelangen.47 In den zwei Büchern vom Globusspiel, von denen Johannes und Albrecht jeweils eines gewidmet ist, versucht der Kardinal seinen Schülern nun – neben 43 44 45 46 47

Vgl. Flasch (1998), Nikolaus von Kues, S. 143–164. De ludo globi I, 50, 3–11. Vgl. ibid., 4, 1–14. Vgl. ibid., 50, 4–6 und 11–12. Vgl. ibid., 51, 1–10 und 12–24.

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einer Vielzahl weiterer Themen – diese zentralen Einsichten zu vermitteln.48 Beschreibt Cusanus im ersten Buch noch allegorisierend vor allem die Spielkugel und die Spielpraxis, so widmet er das zweite Buch hauptsächlich der Interpretation des Spielfelds.49 Das Zusammenspiel von Regeln, Spielgerät, Spielfeld und Spielern ist demnach hauptsächlich im ersten Dialog zu finden, wie auch die Theorie der Spielerfindung. Ich werde mich im Folgenden daher auf dieses Gespräch zwischen Cusanus und Johannes konzentrieren.50 Gehen wir also an den Anfang des ersten Dialogs. Obgleich durchweg thematisch mäandernd, führt Cusanus hier doch von Beginn an die grundlegenden Koordinaten seiner Philosophie ins Feld: Der zahllosen Vielfalt der Welt liegt eine erste Einheit zugrunde. Zunächst gibt die Kugel Anlass, auf diesen Weg zu geleiten, indem platonisch über die Möglichkeit perfekter Rundheit spekuliert wird. In der Materie, erklärt Nicolaus seinem jungen Zuhörer Johannes, könne nichts perfekt rund sein. Denn die Rundheit, die nicht noch runder sein könne, bestehe im unteilbaren Punkt, bei dem die Oberfläche vom Mittelpunkt überall den gleichen Abstand habe. Was wir aber sehen, sei stets teilbar, lasse ein größer oder kleiner zu, ein noch-runder. Es versteht sich also, dass der unteilbare Punkt materiell nicht sichtbar sein kann.51 De facto gebe es natürlich eine maximale Rundheit, die Rundheit des Universums. Aber diese in der Materie größtmögliche Rundheit ist für uns nicht erkennbar. Sie nährt sich in dem Maße der perfekten Rundheit an, dass sie den Sinnen verborgen bleiben muss. Für die Menschen sichtbar seien nur partiell die in der Welt beschlossenen Formen. Die Wahrheit der Rundheit aber, der Archetyp ist vor der Materie: Was wir sehen, sei nur veritatis imago – ein Abbild der Wahrheit.52 Wer für das Spiel also eine ideale Kugel formen will, muss notwendigerweise scheitern. Haben wir aber schon Probleme, die gedachte perfekte Rundheit mit der defizitären Rundheit der Materie überein zu bringen, so ergeben sich noch 48 Das asymmetrische Verhältnis der Gesprächspartner wird an mehreren Stellen des Dialogs deutlich, etwa wenn Cusanus Albrecht antwortet: »De ludo globi inquiris ea quae, dum audieris, non poteris aetate obstante fortasse discutere. Admiraberis tamen et violentia quadam incorporabis altissima, quae te habilem reddent, ut ad cuncta scibilia melius volare queas.« (De ludo globi II, 61, 22–25); vgl. auch den Anfang des ersten Gesprächs De ludo globi I, 2, 1–5. 49 Die Konzentration auf das Spielfeld fordert Albrecht anfangs des zweiten Buches explizit: »Sed non est mihi visum te circulorum regionis vitae mysticam sententiam explanasse.« (De ludo globi II, 61, 12–13). 50 Eine getrennte Behandlung ist auch dadurch gerechtfertigt, dass im Dialog selbst zu Beginn des zweiten Buches das erste Buch als abgeschlossene Einheit vorausgesetzt wird, vgl. De ludo globi II, 61, 8–12. 51 De ludo globi I, 8, 4–11 und 15, 4–18; vgl. für das Folgende auch Flasch (1998), Nikolaus von Kues, S. 584–585. 52 Vgl. De ludo globi I, 9–10 und 11, 16–17: »Vera autem rotunditas non potest esse in materia, sed veritatis tantum imago.«

Moral des Globusspiels: Die Kugel zu Gott bringen

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schwerwiegendere Hindernisse in der Praxis des Spielens. Zwar gesteht uns Cusanus eine Sonderstellung zu: Kein Tier, sagt er, könne ex intelligentia die Bewegung des Globus zu einem Ziel realisieren. Doch die vielgestaltige Form des ohnehin korrupten Globus, die unterschiedlichen Positionen der Kugel in unserer Hand, der unterschiedliche Antrieb bei jedem Wurf, der unebene Boden mit seinen Steinchen und dem Schmutz, ja sogar der Himmel, die Sterne, die Jahreszeiten – dies alles trage zur Unvorhersehbarkeit des Laufs der Kugel bei, so dass niemals zweimal der gleiche Wurf gelinge.53 In der materiellen Welt ist demnach alles immer verschieden.54 Dies zeigt die wechselhafte Bewegung des Globus, die Cusanus nun auch zur Analyse der gleichsam unsteten conditio humana dient. So wie die Menschen dem Globus Bewegung gegeben haben und ihn rollen lassen ohne weitere Beeinflussung, so habe Gott den Menschen in Bewegung gesetzt. In ihm erschaffen sei eine vernünftige Seele, die sich, wie die Platoniker sagen, selbst bewege. Gleich der Kugel, der die Bewegung nur akzidentiell – mit Gewalt durch einen Wurf zugefügt – und daher nicht natürlich zukomme, so werde auch der menschliche Körper von eben dieser Seele belebt (man bemerkt die Nähe zur Argumentation mit dem Kreisel in De possest). Ein perfekt runder Globus würde dabei, einmal angetrieben, nicht aufhören, sich zu bewegen. Die defizitäre Kugel allerdings kann nicht ewig rollen. Bei Menschen unterbrechen Krankheiten des Leibes die Bewegung des Leib-Seele-Verbunds, nicht jedoch die Bewegung der unsterblichen Seele. Sich selbst bewegend lebe sie auch ohne Körper weiter.55 Durch das Beispiel des Spiels versteht Johannes, dass viele sich bei der Betrachtung der Seele geirrt haben. Der Globus sei unserem Körper ähnlich, seine Bewegung, die der Mensch ihm zufüge, unserer Seele.56 Im Spiel ähnelt der Mensch demnach Gott, der dem von ihm erschaffenen Körper eine sich selbst bewegende Seele erschafft. Allerdings ist dies nicht die einzige Ähnlichkeit zwischen Gott und Mensch: Die Seele nun entfalte in ihrer Selbstbewegung eine kreative Kraft, erklärt der Kusaner, durch die sie neue Wissenschaften, Künste und auch Spiele erfinden könne. Denn im Gegensatz zu Tieren seien die Menschen frei, zu bedenken, was sie wünschen. Diesen fehle eben die menschliche virtus libera, sie unterstehen triebhaft dem Befehl der Natur.57 Daher könne man den Menschen in seiner Sonderstellung im Universum auch als Mikrokosmos bezeichnen, eine kleine Welt für sich. Über den Menschen stehe das durch die 53 54 55 56

Vgl. ibid., 3–7. Oder wie Cusanus es ausdrückt: »Nihil enim bis aequaliter fieri possibile est.« (Ibid., 6, 3). Vgl. ibid., 20–25. Vgl. ibid., 25, 1–4: »Ioannes: Valde placet similitudo globi ad corpus et motus eius ad animam. Homo facit globus et eius motum, quem impetus ei imprimit, et est invisibilis, indivisibilis, non occupans locum, sicut anima nostra.« 57 Vgl. ibid., 28–38.

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Cusanus, Jacobus de Cessolis und Platon über das Erfinden von Spielen

Weltseele belebte Universum, und über dem Universum der Makrokosmos, nämlich Gott. Dabei unterstehen die Menschen als Teil des Universums zwar mittelbar dem Reich der Welt, aber sozusagen als ein freies Reich im Reich. Wenn auch natürliche Notwendigkeit sie drängt, mindestens hinsichtlich ihrer moralischen Entscheidungen sind sie in ihrem Willen nach Cusanus stets frei.58 Wohin sollen die Menschen nun ihren Globus steuern, wenn sie mit derart weitreichenden Freiheiten ausgestattet sind? Das höchste Geheimnis des Spiels enthüllt uns Cusanus am Ende des ersten Dialogs. Das Globusspiel bedeute die Bewegung der menschlichen Seele von ihrem Reich in das Reich des Lebens. Nur die stetig Glaubenden finden den Weg ins Spielfeld und kennen das Ziel, sich orientierend am Beispiel Jesu Christi, der seinen Globus exakt in die Mitte der neun Kreise gesteuert habe. Orientierung an Jesus bedeutet hierbei jedoch auch ein nicht erreichbares Beispiel. Die vernünftige Seele ist an den materiellen Körper wie im Spiel der Wurf an den korrupten Globus gebunden – das macht es schwer, den richtigen Weg zu finden. Übung helfe aber, die Krümmung zu korrigieren und die Leidenschaften zu beherrschen. Gänzlich werden die Menschen dies selbstverständlich nie schaffen: Ein Neigung zur Erde bei ihrer irdischen Pilgerschaft mache sie dem Globus ähnlich. Wo sie hin gelangen, können sie wie im Spiel nicht sicher vorher sagen, und auch nicht in ihrem Leben. Eine gute Intention, durch Tugend die Linie zu begradigen, werde zuletzt aber von der Gnade Gottes unterstützt.59 Das Geheimnis des Globusspiels liegt also in der Ähnlichkeit des Spielverlaufs mit dem menschlichen Leben und den ethischen und epistemologischen Maximen, die aus diesem Vergleich zu gewinnen sind. Der Weg jedes einzelnen Mikrokosmus muss individuell gefunden werden. Jeder Mensch muss mit seinem Globus, mit seinen je eigenen körperlichen und geistigen Vorrausetzungen an sich arbeiten. Dabei rollt keine Kugel gleich, denn jeder kann bedenken, was er möchte, und zielen, wohin er will.60 Schließlich ist jeder frei, aus seiner individuellen Perspektive dasjenige Spiel zu erfinden und zu spielen, das er spielen will. Die ganze Welt werden wir, wie die Rundheitsspekulationen lehrten, ohnehin nicht erkennen.61 Das klingt nach unbegrenzter Willkür : Sind die Menschen in den unendlichen Zugangsmöglichkeiten zur Welt und in absoluter Freiheit verloren?

58 Vgl. ibid., 39–43. 59 Vgl. ibid., 51–60; hier könnte Cusanus hinsichtlich der Fundierung seiner Philosophie im Glauben nicht deutlicher sein: Die Gläubigen, sagt er, gelangen zum Zentrum des Lebens, »(…) sed impossibile infideli.« (Ibid., 53, 14). 60 Vgl. hierzu auch Flasch (1998), Nikolaus von Kues, S. 580–581. 61 Vgl. Senger (2002), Globus, S. 108–109.

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Jenseits des Spielens Ich möchte eine erste Einordnung der vorgestellten Gedanken versuchen. Nicolaus Cusanus, so lässt sich zusammenfassen, gewinnt in De ludo globi anhand einer philosophischen Untersuchung eines Spiels, das den christlichen Lebensweg modelliert, gewisse anthropologische Einsichten. Hierzu zählt, neben vielen weiteren Punkten, vor allem das Potential menschlicher Freiheit. Nach De ludo globi können die Menschen im Grunde beliebige und unzählige Spiele erfinden. Jedoch sollte man das Narrativ der Freiheit bei Cusanus meines Erachtens nicht überbetonen. Für den Kardinal existiert eine feste Ordnung der Welt, die für jeden Menschen aus individueller Perspektive erkennbar ist.62 Und blicken wir auf den ethischen Gehalt des Textes, so fällt auf, dass Nikolaus vor allem die vielfältigen, aus dem freien Willen erwachsenden Möglichkeiten der Menschen auf einen christlichen Lebensweg einpendeln will. Diese Disziplinierung von Spielen war, wie wir zuvor gesehen haben, nicht ungewöhnlich. Ebenso wie die angesprochenen Prediger seiner Zeit hat Cusanus ludische Praktiken, etwa in dem schon zitierten Brixener Sermo, im Sinne einer christlichen Spielweise regulieren wollen. Ein homologes Denkschema liegt dem Globusspiel zugrunde: Cusanus will das kurvenreiche Herumirren in den unzähligen Möglichkeiten der durch den freien Willen eröffneten Kontingenz auf einen Jesus nachahmenden Lebensweg begradigen. Falls wir die diskursive Umgebung des Cusanus, wie ich anfangs vorgeschlagen habe, als Grundlage der Allegoriebildung verstehen, dann können wir folgern, dass er die Allegorie eines Spiels entsprechend zeitgenössischer prädikantischer Praktiken verwendet, nach denen auch Spielen seine Orientierung im christlichen Lebensweg finden muss. Angesichts der zitierten Predigten darf als sicher gelten, dass Cusanus dieser verbreitete Umgang mit Spielen vertraut war. In diesem Sinne verstehe ich auch seinen Hinweis: »Meine Absicht war aber, dies neulich erfundene Spiel (…) in eine dem Vorhaben nützliche Ordnung zu bringen.«63 Beim Globuswurf hat sich der Christ demnach als Christ zu erweisen, falsches Spielen führt zum Verderben. Wer an der Welt hängt, an den bloßen Abbildern wahrer Formen wie an der defizitären Rundheit, der muss vergehen, wie Johannes zu erkennen meint: »Wer nicht an Christus als den Sohn Gottes glaubt, hängt an der Welt und erwartet nicht das bessere Leben.«64 Der wahre Christ, so erklärt Cusanus, sterbe wie Jesus für die gloria dei.65 62 Vgl. Flasch (1998), Nikolaus von Kues, S. 580. 63 De ludo globi I, 50, 3–6: »Fuit autem propositum meum hunc ludum noviter inventum (…) in ordinem proposito utilem redigere.« Übersetzung von Bredow (2000), Globusspiel, S. 55. 64 De ludo globi I, 53, 15–16: »Qui non credit Christo uti dei filio, mundo adhaeret et meliorem vitam non exspectat.« Übersetzung von Bredow (2000), Globusspiel, S. 59.

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Allerdings muss eingeräumt werden, dass trotz dieser eindimensionalen Ausrichtung auf einen christlichen Lebensweg die Vielfalt der im Dialog angesprochenen Themen bemerkenswert ist. Kurt Flasch bezeichnete De ludo globi als »Unterhaltungsphilosophie«, als eine durchaus sprunghafte Hinführung zu umfassenderen Texten und Einsichten, die gleichwohl einige innovative Elemente im bewegten Denken des Cusanus biete.66 Viele Themen allerdings würden nur angeschnitten und laden zur weiteren Ausdeutung ein.67 Die Ellipsen des Textes sind offensichtlich und werden von Cusanus auch thematisiert: Er verweist auf andere Bücher, bricht die Unterhaltung ab und benennt Digressionen.68 Man könnte diese Leerstellen jedoch auch als Ansatzpunkt für die Interpretation des Textes begreifen: Der Dialog regt zum eigenständigen Denken an, gerade indem er den Spielraum eines je eigenen Zugangs bewahrt und die Lehrsätze in dialogisch-situativer Unbestimmtheit belässt, was in völliger Übereinstimmung mit der entwickelten Theorie eines je individuellen Zugangs zum exemplarischen christlichen Lebensweg steht. Marc Föcking hat diese Vielzahl möglicher Erkenntniswege sogar dazu veranlasst, im Text einen epistemologischen Relativismus hinsichtlich irdischen Wissens am Werke zu sehen, der einem mittelalterlichen absoluten Wahrheitsanspruch die Absage erteile. Als Beleg der stark positiven Betonung von Kontingenz stellte er De ludo globi den wohl um 1300 verfassten Schachtraktat des italienischen Dominikanermönchs Jacobus de Cessolis gegenüber, den Liber de moribus.69 Über eine Allegorisierung des Schachfelds und seiner Figuren werden bei Jacobus eine ständisch strukturierte Gesellschaft und ihre durch zahlreiche Beispiele illustrierten Tugenden beschrieben. Auch dieser Text vermittelt demnach ethische Einsichten über ein Spiel, weist dem Schachspiel eine belehrende Funktion zu. Da aber 65 Vgl. De ludo globi I, 53, 1–2 und 3–5: »Ille Christianus est, qui praefert gloriam dei propriae vitae et gloriae et taliter praefert quod, si probaretur in persecutione, talis inveniretur.« Auch Kurt Flasch hat auf die Betonung des richtigen Glaubens in De ludo globi hingewiesen, vgl. Flasch (1998), Nikolaus von Kues, S. 577, wie auch Thurner, Martin: Theologische Unendlichkeitsspekulation als endlicher Weltentwurf. Der menschliche Selbstvollzug im Aenigma des Globusspiels bei Nikolaus von Kues. In: Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft 27 (2001), S. 81–128, hierzu S. 111–114; zur Disziplinierung des Spiels auch Senger (2002), Globus, S. 94–95 und 102–104. 66 Vgl. Flasch (1998), Nikolaus von Kues, S. 576, 581 und 584. 67 Vgl. ibid., S. 589. So hat etwa Hans Gerhard Senger sich in einem Aufsatz ausschließlich und ausführlich dem in De ludo globi nur knapp vorgestellten Atommodell gewidmet, vgl. Senger, Hans Gerhard: Metaphysischer Atomismus. Zur Transformation eines Denkmodells durch Nikolaus von Kues. In: Senger (2002), Ludus sapientiae, S. 117–140. 68 Vgl. bspw. De ludo globi I, 19, 13–14 oder 49, 10–12. 69 Vgl. Föcking, Marc: Serio ludere. Epistemologie, Spiel und Dialog in Nicolaus Cusanus’ De ludo globi. In: Hempfer und Pfeiffer (2002), Spielwelten, S. 1–18, zum Relativismus S. 6–11, zum Vergleich mit Cessolis S. 2–6.

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Spiele der kirchlichen Orthodoxie »irdische Lustbarkeit« bedeutet haben, so Föcking, müsse für den Mittelaltermenschen Cessolis das aktive Spielen in Beispielen und Parabeln, hinter einem sensus moralis des Schachspiels verschwinden.70 Föcking stellt sich damit explizit gegen die von Hans Gerhard Senger angenommene Kontinuität zwischen De ludo globi und dem Liber de moribus, da Jacobus’ Werk die im Globusspiel entworfene Kontingenz vor allem unter einer Flut von exempla zu vertilgen versuche und das Spiel keinen Anteil an den Erkenntnismodi der anima rationalis habe.71 Seine Geschichte der allegorischen Auslegungen von Spielen basiert demzufolge auf dem Umgang des jeweiligen Autors mit den Unwägbarkeiten des Spielens: Cusanus unterscheide sich gerade von der Tradition, indem er die kontingente Vielfalt der Spielwelt ernst nehme und zur Methodik des Erkennens mache.72 Die Dichotomie zwischen den beiden Texten ließe sich auf Grundlage dieser Ausführungen folgendermaßen fassen: Jacobus’ Ansatz entspräche den im vorherigen Kapitel vorgestellten aristotelischen Ansätzen zum Spiel, wonach ludus und ratio einen unüberbrückbaren Gegensatz bilden. Cusanus hingegen entdeckte gerade im Spielerischen, verstanden als Kontingenz, eine Methode der Erkenntnis. Im Folgenden möchte ich dieser Lesart allerdings nur teilweise folgen und vielmehr die Ambivalenz des Dialogs zwischen spielerischer Vielfalt der Erkenntnis und Spiel-Reglementierung betonen. Hierfür scheint mir zunächst wichtig hervorzuheben, dass Cusanus mit seinem Spiel nicht nur allegorisierend ein Erkenntnismodell vorstellt, sondern durch die philosophische Untersuchung eines Spiels bestimmte Erkenntnisse gewinnt. Hierzu zählt unter anderem die Einsicht in die prinzipiell ungebundene menschliche Freiheit zur Spielerfindung, die allerdings nicht allein positiv bewertet wird. Anhand einer näheren Betrachtung der cusanischen Theorie der Spielerfindung in De ludo globi soll nun gezeigt werden, dass Cusanus zwar die spielerisch-kontingente Vielfalt des Denkens und Handelns als wesentliche Möglichkeit des Menschen anerkennt, jedoch ihre Beschränkung, wie zuvor schon kurz angeschnitten, zugleich nachdrücklich fordert. Auch bricht Cusanus nicht mit der spätmittelalterlichen allegorischen Spielauslegung des Jacobus de Cessolis, sondern gewinnt meines Erachtens gerade durch ihre reflektierte und konstruktive Aufnahme eine eigene 70 Vgl. ibid., S. 3. 71 Vgl. ibid., S. 3–4 und Senger (2002), Globus, S. 100. 72 Vgl. Föcking (2002), Serio ludere, S. 9–11; in Bezug auf eine Geschichte der Kreativität betont in ähnlicher Weise Walter Haug die Unterschiede zu einer mittelalterlichen Epistemologie, da der Mensch im Globusspiel nur mehr versuchend selbstgesetzte Regelsysteme forme, wobei er im Relativen immer wieder zur Reflexion auf eben diese gezwungen werde – allerdings verhindere die Einsicht in den ständigen Annährungscharakter unserer Würfe eine völlig offene Kreativität, vgl. Haug, Walter : Das Kugelspiel des Nicolaus Cusanus und die Poetik der Renaissance. In: Daphnis 15 (1986), S. 357–374.

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Spielerfindungstheorie. Um die Verbindung beider Texte nachvollziehen zu können, müssen wir das Spiel zunächst aber (das ist ein Vorzug des Spielens) nochmals von vorne beginnen. Denn der Verweis auf den Liber de moribus ist von den ersten Sätzen an präsent. Gehen wir kurz an den Eingang des Dialogs mit Johannes zurück.

Zurück zum Anfang: Jacobus und die Macht des Spielens Der Beginn von De ludo globi gibt eine Einordnung des Gesprächs, er steckt den Rahmen für die Entfaltung des Textes ab. Wie anfangs dieses Kapitels deutlich gemacht, stellt schon der erste Satz die Ausführungen von Aristoteles, Albert und Thomas vom Spiel als Rekreation zumindest in Frage. Darauf hat schon Föcking verwiesen,73 wie auch auf die besondere Stellung der direkt anschließenden Äußerung des Johannes: Ioannes: Admiramur omnes hunc novum iucundumque ludum, forte quia in ipso est alicuius altae speculationis figuratio, quam rogamus explanari.74 (Wir alle bewundern dies neue und vergnügliche Spiel, vielleicht weil in ihm eine Spiegelung hoher Gedanken dargestellt ist; wir bitten dich sie auszulegen.)

Mindestens seit Platon und Aristoteles gilt die admiratio, die Verwunderung als Anfang der Philosophie.75 Hier allerdings wird diese admiratio von einem ludus ausgelöst, den Cusanus damit zum legitimen Untersuchungsgegenstand philosophischer Spekulation erklärt. Johannes begründet dies damit, dass im Globusspiel eine gewisse altae speculationis figuratio enthalten sei. Diese sinnliche figuratio unsichtbarer rationaler Tätigkeit hatten wir schon ansatzweise bei Thomas von Aquin kennengelernt, der im Anschluss an Aristoteles aus äußeren Bewegungen auf Dispositionen der Seele schloss. Doch bei Cusanus meint dies mehr. Spiele können nicht nur Charaktereigenschaften, sondern rationale Zusammenhänge zur Darstellung bringen, und finden daher auch selbstverständlich in den scientiae Verwendung: Cardinalis: Non male movemini, habent enim aliquae scientiae instrumenta et ludos, arithmetica rhythmimachiam, musica monochordum. Nec ludus scacorum caret mysterio moralium. Nullum enim puto honestum ludum penitus disciplina vacuum. Hoc enim tam iucundum globi exercitium nobis non parvam puto repraesentare philosophiam.76 73 74 75 76

Vgl. Föcking (2002), Serio ludere, S. 3–5. De ludo globi I, 1, 8–10, Übersetzung von Bredow (2000), Globusspiel, S. 3. Vgl. Plat. Theait. 155d, sowie Arist. Met. Buch A 2 (982b). De ludo globi I, 2, 1–6, Übersetzung von Bredow (2000), Globusspiel, S. 3.

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(Kardinal: Eure Gedankenbewegung ist gar nicht schlecht, einige Wissenschaften haben ja ihre Instrumente und Spiele, die Arithmetik die Rythmimachie, die Musik das Monochord. Auch das Schachspiel ist nicht ohne Geheimnis der Morallehre. Ich meine, dass es kein anständiges Spiel gibt, das ganz ohne den Gehalt geistiger Übung ist. Diese so vergnügliche Übung mit dem Globus stellt uns, wie ich meine, eine nicht unbedeutende Philosophie dar.)

Wissenschaften haben Instrumente und Spiele, wobei das Monochord als Instrument der Tonbestimmung in der Musik, die ryhtmimachia als Spiel der Arithmetik gelten dürften. Denn die Rythmomachia, ein wohl im 11. Jahrhundert entstandenes Zahlenkampfspiel auf Grundlage boethianischer Mathematik, schrieb als Ziel die Erspielung mathematischer Proportionen vor und wurde gar mit Pythagoras in Verbindung gebracht. So passt sie auch hervorragend zu einem Instrument der Harmonielehre.77 Doch ist Cusanus weit davon entfernt, nur bestimmten Spielen philosophisch-didaktische Funktionen zuzusprechen. Jedes ehrenhafte Spiel – ein Verweis auf den Diskurs um die Ehrenhaftigkeit nur gewisser Spiele, dessen Spuren wir schon bei Albertus Magnus finden konnten – sei nicht frei von disciplina.78 Dies bekräftigt Cusanus auch mit der anschließenden Feststellung, dass sein Spiel eine Philosophie repräsentiere. Das ist eine zumindest beachtenswerte Bemerkung: Spiele können bei Cusanus tatsächlich Philosophie darstellen. Gegen die strikte Trennung von ludus und contemplatio in der aristotelischen Kommentartradition spricht ihnen der Kardinal Verbreitung und einen festen Platz in den Wissenschaften zu.79 Der in unserem Zusammenhang interessanteste Bezug aus obigem Zitat aber ist folgender : Das Schachspiel, erklärt der Kardinal, entbehre nicht eines Ge77 Die umfassendste und gründlichste Arbeit hierzu stammt von Borst (1986), Das mittelalterliche Zahlenkampfspiel, zur Entstehung S. 50–80, zu Cusanus S. 9–10 und 243–244, zu Pythagoras S. 23 und 243; zum Verhältnis von Globusspiel und Rythmomachie vgl. Breidert, Wolfgang: Rhythmomachie und Globusspiel. Bemerkungen zu zwei mittelalterlichen Lehrspielen. In: Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft 10 (1973), S. 155–171. 78 Die disciplina ist hier wohl, berücksichtigt man auch das didaktische Setting, als ›Unterweisung‹ oder ›Lehre‹ zu verstehen, hat aber auch eine Sinnebene in Richtung Körperbewegungen wie bei Hugo von St. Viktor : »Disciplina est membrorum omnium motus ordinatus, et dispositio decens in omni habitu et actione.« (vgl. Hugo v. St. Viktor : De institutione novitiorum. In: Hugo v. St. Viktor : Opera Omnia II. (=MPL CLXXVI) Paris: 1854, 925–952, hierzu 938a). 79 Breidert (1973), Rhythmomachie, S. 170–171, interpretiert die Rede vom honestus ludus als Plattitüde, insofern es selbstverständlich gewesen sei, dass man jedem Gegenstand eine moralische Deutung abringen habe können. Da aber bei einem Spiel der Vorwurf der vanitas oder levitas nahe gelegen habe, sei der Beginn von De ludo globi als Apologie zu verstehen. Ich glaube allerdings, dass Cusanus erstens mit dem honestus ludus an die Tradition eutrapelischer Spielregulierung anschließt. Zweitens verteidigt er das Globusspiel nicht, sondern verortet es offensiv gegen die aristotelische Schultradition im Bereich der Wissenschaft selbst.

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heimnisses der Morallehre. Selbstverständlich ist Schachspielen in verschiedenen Texten allegorisch ausgelegt worden und als Teil der septem probitates mitunter Bestandteil der ritterlichen Tugendausbildung gewesen.80 Wie aber Oliver Plessow für den deutschen Sprachraum unter Verwendung einer Fülle von Manuskripten gezeigt hat, darf man den Traktat des Jacobus de Cessolis über eine allegorische Auslegung des Schachspiels als einen im Spätmittelalter außergewöhnlich weit verbreiteten Text ansehen.81 Da der Inhalt ebenfalls eine (moral)philosophische Spielallegorie darstellt, wird Cusanus mit ziemlicher Sicherheit dieses Werk im Sinne gehabt haben. Es darf folglich davon ausgegangen werden, dass er selbst seine Schrift mit Jacobus’ Werk in Zusammenhang setzt. Wir können entsprechend diese textimmanente Einordnung nutzen und den von Cusanus benannten Vorgänger von De ludo globi zum Vergleich heranziehen, um mit dem Liber de moribus die Eigenheiten der cusanischen Dialogs schärfer zu konturieren. Der Dominikaner Cessolis beginnt seine Schrift mit folgender Rahmenhandlung: Zur Zeit der Erfindung des Schachspiels habe der König Evilmoradach, der seinen Vater in nicht weniger als 300 Stücke hatte zerschlagen lassen, ein Schreckensregiment in Babylon geführt. Dabei duldete er keinen Widerspruch. Unter den Lastern des Königs sei das eine am schlimmsten gewesen, jeden seiner Kritiker hinrichten zu lassen.82 Der Philosoph Xerses, von den Griechen Philometer genannt (ein Liebhaber der Gerechtigkeit und des Maßes also), habe die Grausamkeiten des Herrschers nicht länger ertragen (und die an ihn gerichteten Bitten der Untertanen) und wollte, in guter philosophischer Tradition nach Sokrates, lieber sterben, als das bestehende Unrecht weiter zu dulden und ein Leben gemäß den Sitten wilder Tiere zu führen.83 80 Zur Tradition moralisierender Spiele Plessow (2006), Schachzabelbücher, S. 34–45, vgl. auch Senger (2002), Globus, S. 98–100; zum Schachspiel als Teil der Ausbildung junger Adliger vgl. zum Beispiel schon aus dem 12. Jhrd. Alfonsi, Petrus: Disciplina clericales. Ediert von Friedrich W.V. Schmidt. Berlin: Theodor Chr. Enslin, 1827, S. 44, 8: »Probitates vero hae sunt: Equitare, natare, sagittare, cestibus certare, aucupare, scacis ludere, versificari.« 81 Vgl. Plessow (2006), Schachzabelbücher, S. 13–14 und 71–74. 82 Vgl. Vetter, Ferdinand (Hrsg.): Das Schachzabelbuch Kunrats von Ammenhausen, (…) nebst den Schachbüchern des Jakob von Cessole und des Jakob Mennel. Frauenfeld: Verlag J. Huber, 1892, 37/38–39/40: »Tempore igitur Evilmoradach regis Babilonie, hominis lascivi iniusti crudelis, qui patris corpus in trecentas partes divisit et ccc vulturibus dedit commedendum, hic ludus inventus est, quem de moribus hominum et officiis nobilium in prologo intitulare decrevimus. Hic enim rex inter alia mala unum habebat pessimum, quod correptores suos occidebat et increpationes oderat, quod stultissimum est.« Da bislang keine kritische Edition des Liber de moribus vorliegt, zitiere ich, dem Beispiel Plessows folgend (vgl. Plessow (2006), Schachzabelbücher, S. 14 Anm. 9), nach der zugegebenermaßen etwas unübersichtlichen Arbeit Vetters, angegeben werden mangels Seitenzahlen jeweils die Spaltennummerierungen am oberen Rand jeder Seite. Die Edition Vetters beruht hauptsächlich auf einer Wolfenbütteler Handschrift, vgl. hierzu 25/26 (vor 27/28 ohne Nummerierung). 83 Vgl. ibid., 43/44 und 45/46: »Nam cum philosophus videret vitam regis detestabilem, et

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Unter Gefahr für Leib und Leben ersann er also das Schachspiel, und das aus drei Gründen: (1) Vor allem um die Laster des Königs zu korrigieren; (2) um Müßiggang zu vermeiden (ocio evitare), aus dem Traurigkeit entspringe; (3) wegen der Begierde der Menschen, Neues zu erfahren, weshalb er das Spiel auch so vielfältig gestaltet habe (ludum variarum et innumerabilium rationum plenum invenit).84 Mit seinem vordersten Anliegen hatte er bald Erfolg. Als Evilmoradach der neuen bewundernswerten Schönheit des Schachspiels bei der Beobachtung spielender Fürsten, Ritter, Barone und Herzöge gewahr wird, begehrt auch er das Spiel zu erlernen. Xerses aber entgegnet, dass er hierzu nur bereit sei, falls der König seine Rolle als Schüler annehme, sozusagen die Herrschaftsverhältnisse umkehre. Dieser willigt ein und unterwirft sich dem Unterricht des Philosophen, der ihm das Spielfeld und die Aufgaben der einzelnen Figuren, hierüber auch die Tugenden und Pflichten etwa des Königs, vor allem dessen Verpflichtung zu gewaltfreier Herrschaft nahebringt.85 Erst am Ende der Erklärungen eröffnet Xerses dem König auf Nachfrage, dass er das Spiel erfunden habe, um ihn zu unterweisen und die Ungerechtigkeit zu beenden.86 Der Text besteht nun hauptsächlich aus den besagten Auslegungen der Aufgaben und Pflichten der einzelnen Figuren, untermauert durch eine Fülle einzelner exempla der für die jeweilige Person angebrachten Tugenden. Nachdem dies für Adelige und Gewöhnliche durchexerziert wurde, widmet sich Jacobus im letzten Teil seines Werks dem Spielfeld und der Bewegung der einzelnen Figuren, deren Zugmöglichkeiten wiederum ihr Verhältnis zueinander und die ihnen zugeordneten Tugenden versinnbildlichen.87 Der Liber de moribus, so fasst es Oliver Plessow, verbindet demnach als tugenddidaktische Schrift die litera-

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nemo eum culpare auderet propter eius crudelitatem, quam in hominum sapientum nece ostenderat, rogatu populi neglecta vita morti se exposuit mallens pro iusticia vitam finire, quam ad modicum tempus eam ducere bruti animalis moribus conformatam.« Später weist uns Jacobus allerdings darauf hin, dass Xerses überlegt habe, wie er zugleich dem Tod entkommen und den Bitten der Menschen nachkommen könne, daher also das Spiel erfunden habe, damit der König über die Beobachtung Dritter sich selbst korrigiere, vgl. 823/ 824–825/826. Vgl. ibid., 51/52 und 65/66–75/76. Vgl. ibid., 51/52–63/64, insbesondere 51/52–57/58: »Circa primam sciendum est, quod predictus rex (…) cum vidisset hunc ludum et multos milites, barones ac duces cum predicto philosopho bellicose ludere, miratus ludi pulchritudineum ac insueti solacii novitatem, interesse voluit, ludum discere desideravit ac cum dicto philosopho bellare ludendo decrevit. Ad quod philosophus cum respondisset, regem facere non posse, nisy prius formam discentis assumeret, respondit rex, hoc esse congruum, et discere cupiens formam discipuli omnino in se suscepit.« Vgl. ibid., 59/60 und insbesondere 61/62: »Iniustum quippe est tu aliis inperare velis cum tibi ipsi inperare non possis, et memento: violenta inperia durare non possunt.« Vgl. ibid., 83/84–363/364 für die adeligen Figuren, 377/378–729/730 für die Gemeinen, 739/ 740–801/802 für das Schachbrett und die Bewegung der Figuren.

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rische Tradition der Exempelsammlung mit derjenigen der Sozialmetapher im Bild des Schachspiels.88 Kehren wir zu Cusanus zurück und versuchen den Vergleich. Auffallend ist, dass sowohl bei Jacobus de Cessolis als auch bei ihm das Spiel textstrukturierende Funktion übernimmt. Beide beginnen zunächst mit einer Analyse der Spielgeräte, d. h. der Kugel und der Schachfiguren, bevor zur Analyse des Spielfelds vorangeschritten wird. Die Bewegungen der Kugel bzw. der Figuren werden bei Nicolaus gleich zu Beginn, bei Jacobus gegen Ende erörtert. Natürlich allerdings ist die Strukturierung bei Jacobus strenger : Cusanus bleibt eher lose beim Spiel. Inhaltlich betrachtet ist Föcking sicherlich zuzustimmen, dass gegenüber den metaphysischen Diskussionen in De ludo globi bei Jacobus die regis correctio das Hauptanliegen des Texts bildet.89 Aber dass das Spiel im Liber de moribus durch mittelalterliche Allegorese in den Hintergrund trete, darf wohl bezweifelt werden. Die Krux der Erzählung ist ja geradezu, dass der König beim Spielen unterrichtet werde, darüber hinaus stehen die Stellung der Figuren auf dem Brett und ihre spielinternen Zugmöglichkeiten in direkter Verbindung mit ihren ständischen Tugenden. Ebenso verlangt Jacobus de Cessolis ein Wissen um das Schachspiel beim Leser respektive Zuhörer, insofern die Regeln nicht erschöpfend erläutert werden: Er setzt also das aktive Spielen als Hintergrund voraus. Auch in der Frage der Kontingenz des Spielens versucht Jacobus mitnichten die Vielfalt des Schachspiels zu beschränken. Explizit stellt er seine Mannigfaltigkeit als Erfindungsgrund heraus.90 Am Ende des Werks heißt es gleichermaßen lustvoll hinsichtlich vielfältiger Interpretationen des Spiels, Ziel der Spielerfindung sei die Bereitstellung von Stoff zum Nachdenken und zum Erfinden verschiedener Arten sowohl des Spielens als auch des Schreibens darüber gewesen.91 Darüber hinaus könnte man die Vielzahl an Exempla auch als eine Vielzahl der Möglichkeiten deuten, sich den jeweiligen Tugenden zu nähern, mit einer entsprechenden Vielzahl an exemplarischen Situationen und Verhaltensweisen. Überhaupt ist Text des Jacobus de Cessolis ein schwer einzuordnendes Gattungsgemisch, mit seinen zahlreichen Beispielen mögliche Vorstufe zum Entwerfen von Predigten, aber durchaus auch in einer Nähe zu Fürstenspie-

88 Vgl. Plessow (2006), Schachzabelbücher, S. 11 und S. 60. 89 Vgl. Föcking (2002), Serio ludere, S. 3. 90 Hier auch mit dem Hinweis auf Arist. Met. A 1 (980a), dass der Mensch natürlicherweise zu wissen begehre, vgl. Vetter (1892), Schachzabelbuch, 71/72–75/76. 91 Ibid., 825/826: »Addidit se etiam hunc ludum invenisse, (…) ut daret materiam meditandi multis et inveniendi varias rationes et modos tam ludendi quam etiam loquendi et scribendi super eo.«

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geln.92 Wenn wir hierbei einen Unterschied zu Cusanus konstituieren wollen, so muss eher gesagt werden, dass in De ludo globi die Mannigfaltigkeit der beispielhaften Verhaltensweisen auf nur mehr ein exemplum beschränkt wird, nämlich den Lebensweg Jesu Christi, dem allein man zu folgen habe. Allerdings führt dies zu einem noch grundlegenderen Unterschied: Ethische Verhaltensmaximen bleiben im Globusspiel eher außen vor und das exemplum im Detail unbestimmt. Außer einer Empfehlung zu fides, caritas und spes belässt es Cusanus bei grundlegender Metaphysik und Anthropologie.93 Bereits hieraus kann man schon vorsichtig schließen, dass in De ludo globi das Hauptinteresse keinesfalls die ethischen oder gar politischen Applikationen der Spielinhalte bilden. Woran Cusanus offenbar in höherem Maße gelegen ist, lässt sich im Besonderen verdeutlich an der Art und Weise, wie beide Autoren die Spielerfindung in ihren Schriften in Szene setzen. Denn bemerkenswert ist im Liber de moribus doch der Umstand, dass gerade ein Philosoph ein Spiel erfindet. Und das unter höchster Todesgefahr : Um den Mächtigen zur Umkehr zu bewegen, bedient sich der Denker einer List in Form eines Spiels, um die Verhältnisse zwischen dem uneingeschränkt grausam Herrschenden und dem Beherrschten umzukehren. Wie wir gesehen haben, glaubt die Menge nach Aristoteles, dass in Spielen die Glückseligkeit bestehe, weil gerade die Tyrannen ihr Leben den eutrapelischen Vergnügungen hingeben. Gerade bei ihnen, so betont der Stagirit an dieser Stelle, stehen jedoch deshalb diejenigen, die solche Kurzweil gut zu veranstalten wissen, in hohem Ansehen.94 In Jacobus’ Spiel nun wird der Tyrann zum unterlegenen Schüler, der für Unterweisung offen ist, eben weil er das Unterhaltsame erlernen will. Folglich nutzt der Philosoph die Spiellust der Mächtigen, um zu derjenigen Tugendhaftigkeit zu führen, die Aristoteles dem Tyrannenleben gegenüberstellte. Die Erfindung philosophischer Spiele bedeutet insofern Macht, als der Herrscher sich den in einer Gemeinschaft etablierten Regelsystemen beugen muss, will er lustvoll an ihnen teilhaben – und im Liber der moribus bedeutet dies auch und vor allem ein Moralsystem. Jacobus de Cessolis imaginiert demnach die philosophische Unterwerfung des Tyrannen durch ein Spiel. Es handelt sich um eine Darstellung einer raffinierten praktischen Anwendung aristotelischer Spielphilosophie.95 92 Plessow bezeichnete ihn konsequenterweise als »hybrid polygenerisch«, vgl. Plesow (2006), Schachzabelbücher, S. 60–71. 93 Vgl. De ludo globi I, 53, 12–13. 94 Vgl. Arist. NE X 6. 95 Jenny Adams hat in ihrer Untersuchung zum Liber de moribus die in gewisser Hinsicht komplementäre These aufgestellt, dass Jacobus im Gegensatz zur klassischen Körpermetapher, die einen den zusammenhängenden Staatskörper lenkenden Herrscher imaginiere, mit der Schachmetapher die einzelnen Teile der Gesellschaft als unabhängige Individuen betrachte, welche durch unpersönliche Regeln verbunden sind und gelenkt werden; in der Spielmetapher werde Macht daher eher psychologisch als physisch ausgeübt, vgl. Adams,

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Diese subversive Energie seines Vorgängers erreicht der Kurienkardinal Cusanus dagegen nicht. Er unterhält sich aus der sicheren Position freundschaftlicher Verbundenheit mit seinen jungen bayerischen Gesprächspartnern. Immerhin geht es auch um anderes, befördert werden soll die Selbsterkenntnis junger Prinzen. Obgleich Parallelen zum Liber de moribus festzustellen sind wie prinzipiell die Belehrung eines prospektiven Herrschers zum Zwecke philosophischer Orientierung, beschäftigt De ludo globi sich mit Spielen nicht primär als Vehikel praktisch-moralphilosophischer Didaktik. Vielmehr geht darum, aus der Betrachtung des Spiels etwas über die Grundstrukturen menschlichen Denkens zu lernen, denn die philosophia, wie wir zuvor gehört haben, ist im Spiel enthalten. Deutlich wird dies vor allem anhand der menschlichen Freiheit, beliebige Spiele erfinden und spielen können. Und in der Thematisierung dieser Spielerfindung reflektiert Cusanus nun eben diejenigen anthropologischen Bedingungen, die Jacobus’ Schrift überhaupt erst ermöglichen.

Die Erfindung von Spielen Wenden wir uns also der Spielerfindung in De ludo globi im Detail zu und fassen dafür nochmals knapp zusammen. Sowohl Jacobus de Cessolis als auch Cusanus benutzen ein Spiel, um philosophische Inhalte zu vermitteln. Die Unterschiede scheinen zunächst marginal. Während Jacobus Moralphilosophie in eine ludische Unterweisung verpackt, sind es bei Cusanus metaphysische und anthropologische Zusammenhänge, die anhand des Globusspiels besprochen werden. Bei Jacobus erklärte die philosophische Spielerfindung nur als Rahmenhandlung den Hauptinhalt der moralisierenden Schachauslegung. Cusanus allerdings geht nun im Kontext seiner Psychologie zur Theoretisierung des Spielerfindens selbst über. Das Inventionsvermögen erklärt er zu einer spezifisch menschlichen Fähigkeit, was längst nicht die einzige und nicht einmal die offensichtlichste mittelalterliche Option für ludische Inventoren darstellte.96 Jacobus bezieht sich in seiner Schrift ablehnend auf eine weit verbreitete Theorie der Filiation, wonach der griechische Heerführer Palamedes vor Troja das Schachspiel erfunden habe, um seine Männer auch außerhalb des Kampfes mit der taktisch anspruchsvollen Kriegssimulation beschäftigt zu halten.97 Die pseudo-ovidianische Dichtung De vetula nannte hingegen Schach das Spiel des Jenny : Power Play. The Literature and Politics of Chess in the Late Middle Ages. Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 2006, S. 15–56. 96 Für das Folgende vgl. auch Mehl, Jean-Michel: De l’origine des jeux: quelques r8ponses m8di8vales. In: Ludica 15/16 (2009/2010), S. 128–134. 97 Vgl. Vetter (1892), Schachzabelbücher, 39/40.

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Odysseus.98 In der Nachfolge Herodots haben Gelehrte auch dafür gehalten, die Lyder hätten, um sich von einer lang wütenden Hungersnot abzulenken, die meisten üblichen Spiele (außer die Brettspiele), wie das Knöchelspiel oder das Ballspiel erfunden – daher sagten die Lateiner eben auch ludus.99 Philosophen begegnen demgegenüber eher selten, doch wurde die zahlentheoretisch fundierte Rythmomachia wenig überraschend zur Erfindung des Pythagoras verklärt.100 Verbreiteter scheint der Ursprung im Übersinnlichen: Würfelspiele wurden vielfach als Erfindung des Teufels beschrieben.101 Und ein halbes Jahrhundert nach Cusanus imaginierte Marco Girolamo Vida den Ursprung des Schachspiels gut humanistisch in einer Partie zwischen Apollo und Mercurius, wobei die Nymphe Scacchis das Spiel zuerst in Italien populär gemacht habe.102 Übersinnliche Wesen, populäre Weise und besungene Heroen sind keine unüblichen Gestalten für Erfindungen, auch in Bezug auf den mechanischen oder politischen Bereich. In der schon antiken Tradition von Erfinderkatalogen gelten oftmals auch »kulturelle Errungenschaften« wie Demokratie oder Briefschreiben als Erfindungen, meistens zurückgehend auf so klangvolle Namen wie Prometheus oder Daedalus.103 Cusanus benennt in De ludo globi für Instrumente ebenfalls noch antike und mythische inventores: Das Astrolab habe Ptolemäus ersonnen, während Orpheus für die Leier verantwortlich zeichne. Allerdings betont Nicolaus hier auch, dass die Seele, ebenso wie Ptolemäus und Orpheus, generell neue Instrumente ersinne.104 Mit Heroen hat die zunehmende Bedeutung von Erfindern im Spätmittelalter auch nichts mehr zu tun, die Anfänge des Patentwesens finden sich tatsächlich im 15. Jahrhundert.105 Angesichts der Tradition berühmter und mythischer Spielerfinder vollzieht Cusanus dennoch einen bemerkenswerten Schritt: Die Erfindungstätigkeit wird ihm Ausgangs98 Vgl. Klopsch (1967), De Vetula, S. 215 (I, 577–581). 99 Vgl. Herodot: Historien. Stuttgart: Kröner, 1971, I, 94; die Herleitung wird von Hugo von St. Viktor aufgenommen, vgl. Didascalicon, III, 2 : »ludi a Lydis initium sumpsisse creduntur, qui ex Asia venientes in Etruria consederunt sub Tyrreno duce, ibique inter ceteros superstitionum suarum ritus spectacula instituerunt, quem morem Romani imitati sunt, accersitis inde artificibus, indeque ludi a Lydis vocati sunt.« 100 Vgl. Borst (1986), Zahlenkampfspiel, S. 23 und S. 243. 101 Vgl. die im letzten Kapitel diskutierte Predigt Bernhardin von Sienas, vgl. auch Mehl (2009/ 2010), De l’origine, S. 131, oder Tauber (1987), Würfelspiel, S. 56. 102 Vgl. Di Cesare, Mario A. (Hrsg.): The Game of Chess. Marco Girolamo Vida’s ›Scacchia Ludus‹. With English Verse Translation and the Texts of the Three Earlier Versions. Nieuwkoop: Hes & de Graaf, 1975. 103 Dohrn-van Rossum, Gerhard: Novitates – Inventores. Die Erfindung der Erfinder im Spätmittelalter. In: Schmidt, Hans-Joachim (Hrsg.): Tradition, Innovation, Invention. Fortschrittsverweigerung und Fortschrittsbewusstsein im Mittelalter. Berlin/New York: De Gruyter, 2005, S. 27–49, hierzu S. 36–37. 104 Vgl. De ludo globi II, 94, 1–3; hierzu auch Borst (1986), Das mittelalterliche Zahlenkampfspiel, S. 243. 105 Vgl. Ludwig, K.H.: Innovation, technische. In: LexMa Band 5 (1991), 430–432, hierzu 432.

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punkt für eine christliche Anthropologie, und zwar als eine Fähigkeit, die dem Menschen allgemein und nicht bloß wenigen eigen ist.106 Seine Theorie der Spielerfindung entwickelt Cusanus im Zuge einer Besprechung der Fähigkeiten unserer Seele. Zuvor habe ich nur knapp angeschnitten, dass er der anima Selbstbewegung zuschreibt. An dieser Stelle diskutiert er die Behauptung jedoch ausführlicher. Denn dem jungen Zuhörer Johannes reicht der bloße Hinweis nicht, er bittet den Kardinal um Klärung: Wenn die Seele sich selbst unaufhörlich bewege, auf welche Art bewegt sie sich dann?107 Jedenfalls nicht auf eine der üblichen sechs Bewegungsarten, antwortet Cusanus. Sie bewege sich selbst, indem sie »(…) unterscheidet, abstrahiert, teilt und sammelt. Folgern ist die Kraft der Seele, also ist es auch Seele.«108 Gerade in diesem Folgern, ratiocinari, bewege sie sich also selbst. Man könnte auch sagen, erklärt der Kardinal, sie bewege sich selbst auf zwei Arten: Indem sie sich entweder zur Ursache der Körperbewegung oder zum Gleichnis der Dinge mache. Denn die Seele könne sich allem Erkennbaren gleichformen, dem Allgemeinen wie dem Besonderen im Verschiedenen.109 Die seltsam anmutende Passage – darauf hat schon Gerda von Bredow hingewiesen – setzt Platons Timaios voraus.110 Zwischen der materiellen Welt und der ersten Einheit der (zugrundeliegenden allgemeinen) Ideen nimmt die Seele eine Mittlerfunktion ein. Daher hat sie Zugriff sowohl auf die Einzelheiten der sinnlich-materiellen Welt als auch auf die in allen präsenten ursprünglichen Ideen. Vom platonischen Demiurgen, dem Schöpfer der Welt, ist sie als dritte Seinsform zwischen beide Bereiche gemischt. Daher kann sie auch selbst schöpferisch tätig werden und sozusagen zwischen beiden Bereichen vermitteln, ihre Ideen in die materielle Welt bringen. Cusanus erklärt: Neues zu erfinden, artes und scientiae, dies sei tatsächlich eine Kraft der Seele, bei der diese sich selbst bewege. Johannes bittet den Kardinal, diese Selbstbewegung der Seele im Erfinden anhand des Spiels zu demonstrieren. Cusanus führt daraufhin einen Dreierschritt ein: Cogitare – Considerare – Determinare. So erfindet man Spiele: Cogitavi invenire ludum sapientiae. Consideravi quomodo illum fieri oporteret; deinde terminavi ipsum sic fiendum ut vides. Cogitatio, consideratio et determinatio virtutes 106 Auf die Zuwendung zu Alltag und Technik im Spätwerk des Nikolaus von Kues aus der Auffassung einer göttlichen Einheit als Sich-Zeigen heraus hat Kurt Flasch (1998), Nikolaus von Kues, S. 42 hingewiesen. 107 Vgl. De ludo globi I, 28, 1–3: »Adhuc unum rogo, iterum circa animae motum declares: Quando ais animam seipsam movere, dicito qua specie motus se perpetuo movet!« 108 Ibid., 28, 6–7: »(…) discernit, abstrahit, dividit et colligit. Ratiocinari virtus est animae, igitur et anima.« Übersetzung von Bredow (2000), Globusspiel, S. 31. 109 Vgl. De ludo globi I, 29, 10–14 und insbesondere 29, 1–2: »Unde anima vis est illa, quae se omnibus rebus potest conformare.« 110 Vgl. Plat. Tim. 34c–35c sowie 36e–37c; vgl. von Bredow (2000), Globusspiel, S. 151.

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sunt animae nostrae. Nulla bestia talem habet cogitationem inveniendi ludum novum, quare nec considerat aut determinat circa ipsum quidquam.111 (Ich gedachte, ein Weisheitsspiel zu erfinden. Ich überlegte, wie dies zu geschehen habe; danach beschloss ich, es so zu machen, wie du siehst. Nachdenken, Überlegen und Beschließen sind Kräfte unserer Seele. Kein Tier kommt auf einen solchen Gedanken, ein neues Spiel zu erfinden, darum überlegt oder beschließt es auch gar nicht darüber.)

Zuerst fassen wir demnach den Gedanken des Spielerfindens, den wir sodann reflektieren, und aus dieser Reflexion und dem Gedankenfassen heraus entscheiden wir uns für eine bestimmte Umsetzung. Schon Vitruv hatte die inventio aus der cogitatio entspringen lassen.112 Cusanus hingegen unterteilt den Erfindungsprozess in drei Kräfte (virtutes), die ohne Bewegung der viva ratio, des bewegten Verstandes, nicht sein könnten: Jeder begreife, dass cogitare, considerare und determinare ein gewisses Durchlaufen, discurrere, seien, und zwar ohne jede Hilfe des Leibes.113 Die Seele bewegt sich im Nachdenken, ohne dass der Körper sich bewege. Sie bewegt sich selbst. Und wenn man weiter frage, was die Seele sei, quid sit anima, dann denke man nach und überlege.114 Es entsteht eine Bewegung, die auf die Seele selbst zurückgeht, weil man über das Denken selbst nachdenke: »Und so ist die Bewegung der Seele, welche Leben ist, eine unaufhörliche, weil kreisförmig auf sich selbst zurückgebogen.«115 Dies hatte Cusanus ja gerade demonstriert: Er hatte über sein eigenes Denken, ein Spiel zu erfinden, nachgedacht und eine Theorie dazu geformt.116 Tieren gebricht es nach Nicolaus nun schon allein an der cogitatio des 111 De ludo globi I, 31, 1–6; Übersetzung von Bredow (2000), Globusspiel, S. 33. 112 Vgl. Vitruvius: De Architectura libri decem. Edidit et annotavit Curt Fensterbusch. Darmstadt: WBG, 1964, I, 2, 2; einen Teil der Baukunst macht nach Vitruv die dispositio, d. h. die rerum apta conlocatio aus. Ihre unterschiedlichen zeichnerischen Formen entspringen cogitatio und inventio: »Cogitatio est cura studii plena et industriae vigilantiaeque effectus propositi cum voluptate. Inventio autem est quaestionum obscuram explicatio ratioque novae rei vigore mobili reperta.« (vgl. I, 2, 2 [S. 38]) Auch hier handelt es sich um die Ausfaltung geistiger (architektonischer) Entwürfe in eine materielle Zeichnung. Das Werk kennt Cusanus und zitiert es in Idiota de staticis experimentis, vgl. de Cusa, Nicolaus: Idiota (…) de staticis experimentis. Editionem post Ludovicum Baur alteram curavit Renata Steiger. (=Nicolai de Cusa Opera Omnia Band 5) Hamburg: Meiner, 1983, 162, 10–12 und 173, 3–6. 113 Vgl. De ludo globi I, 31, 6–10; vgl. auch den Hinweis Sengers in Bezug auf das Dreierschema im kritischen Apparat zu De ludo globi, S. 35 (zu 31, 3) hinsichtlich einer Verbindung zu Thomas von Aquin, Summa Theologica, IIaIIae, q.2a.1. 114 Vgl. De ludo globi I, 32, 4–5. 115 Ibid., 32, 8–9: »Et hinc motus animae, qui vita est, perpetuus est, quia circularis supra seipsum reflexus.« Übersetzung von Bredow (2000), Globusspiel, S. 35. 116 Hingewiesen sei noch auf die sicherlich nicht zufällige Verbindung des die perfekte Kreisbewegung ausmachenden Dreierschemas zur Dreifaltigkeit, vgl. etwa De ludo globi II, 82.

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Spielerfindens.117 Johannes aber macht dies skeptisch: Bauen nicht auch Tiere Nester? Und gehen sie nicht auf Jagd und werden dabei nachdenken, überlegen und beschließen? Cusanus antwortet seinem jungen Schüler, dass Tiere eben von der Natur getrieben werden und ihnen die freie Kraft fehle, welche den Menschen gegeben sei. Jeder Mensch könne bedenken, was immer er wolle, weshalb sich nicht alle dasselbe ausdenken. Tiere hingegen handelten jeweils artgemäß, mithin gesetzmäßig beim Nest- oder Netzbau. Zwar werde auch bei Menschen einiges naturgemäß gedacht, überlegt und beschlossen, weil die animalitas das erfordere, d. h. die Notwendigkeiten menschlicher Körperlichkeit. Doch in den Dingen, in denen der Geist sich selbst bewege, sind die Menschen nach Cusanus stets frei. Die Natur könne dem menschlichen Geist keine Notwendigkeit auferlegen, wohl aber der Geist der Natur: Im Guten hinsichtlich der Keuschheit wider das natürliche Verlangen, im Schlechten hinsichtlich des Selbstmords wider die Natur.118 Hatte Jacobus de Cessolis noch ausgeführt, dass Xerses nicht wie ein wildes Tier habe leben wollen, insofern ohne Tugend zu leben nicht menschlich sei, so reflektiert Cusanus nun gerade die menschliche freie Kraft zur Moralität.119 Ohne diese Freiheit zur Entscheidung gäbe es auch kein Erfinden: Wie auch in der Notwendigkeit der Natur? Im Nachdenken über die ihm eigene Fähigkeit des Spielerfindens fragt der Mensch nach den Voraussetzungen für diese Fähigkeit, geht auf das Denken selbst zurück und erkennt seine freie Kraft als distinguierendes Merkmal des Menschen, das ihn letztlich als Mikrokosmos, als ein eigenes freies Reich innerhalb der größeren Welt auszeichnet.120 Am Anfang des Dialogs hatte Cusanus Johannes kurz versprochen, dass er in ihm Samenkörner der Wissenschaft sähen werde, um zur so sehr erwünschten Selbsterkenntnis zu leiten.121 Nun kann er bei der Spekulation über den Mikrokosmos hieran anschließen: »Und es ist eine schöne Betrachtung, durch die der Mensch, sich selbst erkennend, in seinem, wenn auch kleinen, Reich alles reichlich ohne Mangel vorfindet, sich glücklich sieht, wenn er will (…).«122 Und diese erhel117 Vgl. De ludo globi I, 31, 4–6. 118 Vgl. ibid., 34–36. 119 Vgl. den letzten Satz des gesamten Werks des Jacobus in der Edition Vetters (1892), Schachzabelbuch, 825/826: »Sine virtutibus enim vitam ducere hominis non est, sed bellue.« Auch stellt er unsere tierischen Eigenschaften mit Antonius dem Großen, als dieser dem über den Verlust seiner Sehkraft lamentierenden Didymus antwortet, unseren edleren geistigen Fähigkeiten gegenüber : »Ymmo, pater, miror te hoc dolere perdidisse, quod in corpore habeas conmune cum bestiis, cum recolis te habere in mente, quod habes conmune cum angelis.« (vgl. ibid., 75/76). 120 Vgl. hierzu De ludo globi I, 40–43. 121 Vgl. ibid., 3, 2–5. 122 Ibid., 43, 21–24: »Et pulchra est speculatio, per quam homo, seipsum cognoscens, in suo regno, licet parvo, omnia abunde sine defectu reperiens, felicem se videns, si velit; (…).« Übersetzung von Bredow (2000), Globusspiel, S. 47.

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lende Selbsterkenntnis gewinnt Cusanus – das ist bemerkenswert – aus der Betrachtung der Spielerfindung. Wie also verfährt er hier genau? Zu Beginn des Dialogs hatte er sein Werk deutlich in zwei Traditionen gestellt: Diejenige didaktisch konzipierter Spiele wie der Rythmomachia und diejenige moralisch allegorisierender Auslegungen des Schachspiels. Nicht zuletzt die weite Verbreitung des Liber de moribus gaben Anlass, mit Hans Gerhard Senger einen engen Bezug zwischen dem Werk des Dominikaners Jacobus de Cessolis und De ludo globi anzunehmen. Bei beiden sind es Aristokraten, mithin Herrscher, denen der Philosoph, lockend durch spielerische Leichtigkeit, anhand eines ludus philosophische Einsichten nahe bringt. Cusanus, dem es sicherlich an der subversiven Energie seines Vorgängers mangelt, geht jedoch insofern einen Schritt weiter, als er die Tätigkeit des Spielerfindens nun selbst reflektiert.123 Zwar wird dem Ansatz des Liber de moribus und der Tradition didaktischer Spiele zunächst gefolgt, insofern philosophische Einsichten anhand eines Spiels erläutert werden. Doch bleibt De ludo globi nicht nur eine aktualisierte Version allegorisierender Spielauslegung im Gewand cusanischer Philosophie. Hatte Jacobus noch im Rahmen aristotelischer Überlegungen zu tyrannischer Spielleidenschaft das Spielen als Lockmittel des Übergangs zur Vermittlung ernster Tugenden verwendet, setzt Cusanus sich nun direkt mit gerade diesem Prozess der philosophischen Spielerfindung auseinander. Der Kardinal unternimmt die kreisförmige Theoretisierung seines Textes selbst: Was mache ich eigentlich, wenn ich ein Spiel erfinde und dabei moralische und metaphysische Grundeinsichten vermitteln will? Wie funktioniert diese Spielerfindung? Und wenn man wie Xerses ein Spiel erfindet, um nicht wie ein wildes Tier zu leben: Wie unterscheiden wir uns in der Spielerfindung dann von wilden Tieren? Wenn wir De ludo globi aus der Perspektive der Schachspielallegorie des Jacobus de Cessolis betrachten, so lässt sich feststellen, dass Cusanus die Tradition des Liber de moribus überschreitet, indem er ihr zunächst folgt, sodann im Dialog aber dasjenige vollzieht, was er vom Denken ausführt: Es geht auf sich selbst zurück. Es bewegt sich, indem es über sich nachdenkt und nach den Voraussetzungen des Denkens selbst fragt.124 Weshalb also können die Men123 Werner Beierwaltes hat diese Verfahrensweise bei Cusanus »Innovation durch Einsicht aus der Überlieferung« gennant, vgl. Beierwaltes, Werner : Nicolaus Cusanus: Innovation durch Einsicht aus der Überlieferung – paradigmatisch gezeigt an seinem Denken des Einen. In: Aertsen, Jan A. und Pickav8, Martin (Hrsg.): »Herbst des Mittelalters«? Fragen zur Bedeutung des 14. und 15. Jahrhunderts. (=Miscellanea Mediaevalia Band 31) Berlin/New York: De Gruyter, 2004, S. 351–370. 124 Der dialogische Aufbau des Textes trägt zur reflexiv kreisförmigen Struktur dieses Gedankengangs bei, denn mit dem eingebauten Gesprächspartner Johannes ist Cusanus in der Lage, einen anderen Dialogteilnehmer seine eigenen Ausführungen intratextuell thematisieren zu lassen. Auf die imitatio der Tradition folgt so die aemulatio in der selbstreflexiven

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schen Spiele erfinden? Nach Cusanus aufgrund ihrer Willensfreiheit, die sie gegenüber allen anderen Geschöpfen auszeichnet. Damit ist zugleich das Spielerfinden zu einer genuin menschlichen, aus dieser Freiheit erwachsenden Fähigkeit erklärt. Die Tradition philosophischer Spielerfindung hat nicht nur die von Cusanus angesprochene und im Dialog applizierte instrumentelle Funktion für die scientiae, sondern sie sie wird zu einer den Menschen auszeichnenden Tätigkeit. Schon bei Jacobus deutete sich diese Wertschätzung der vielfältigen Möglichkeiten der Spielerfindung an, doch bei Cusanus ist nun das Spielen selbst Ausweis des freien intellektuellen Potentials der Menschen. Mir ist nicht daran gelegen, die metaphysisch weitreichenden Implikationen dieser Argumente oder die Parallelverbindungen zu weiteren Werken des Cusanus zu diskutieren. Wichtig ist im Kontext einer Geschichte des philosophischen Umgangs mit Spielen, wie Cusanus seine Philosopheme zum Spiel ins Verhältnis setzt. Diesbezüglich lässt sich festhalten: Der Kardinal gewinnt aus dem Spiel philosophische Einsichten. Da sie Produkte menschlichen freien Denkens sind, ermöglicht eine Betrachtung von Spielen Rückschlüsse auf die Strukturen der menschlichen Seele. Der epistemische Status von Spielen steht damit der scholastischen Lektüre der aristotelischen Spielphilosophie mit einer Koinzidenz von ludus und philosophia entgegen: Auch in den ludischen Praktiken finden sich philosophische Wahrheiten. Und diese Wahrheiten haben Konsequenzen für Cusanus.

Konsequenzen der Spielerfindung: Platon und die neuen Spiele Pauline Moffitt Watts hat dafür gehalten, der Kardinal skizziere in De ludo globi eine generelle Theorie menschlicher Schöpferkraft, die Erfindung von Spielen manifestiere nur eine allgemeine kreative Fähigkeit, mit der der Mikrokosmos Mensch die ihn umgebende materielle Welt aus den unendlichen Möglichkeiten seines vom freien Willen bestimmten Geistes gestalten könne.125 Und sicherlich Besprechung des Spielerfindens. In gewisser Hinsicht ist De ludo globi daher eine Spielallegorie in der Nachfolge des Liber de moribus und didaktischer Wissenschaftsspiele mit den Mitteln des platonischen Dialogs. Marc Föcking hat in diesem Sinne darauf hingewiesen, dass das Setting dem Phaidros-Modell des sokratischen Unterrichtens eines jungen Schülers gleiche, vgl. Föcking (2002), Serio ludere, S. 12. 125 Vgl. Watts, Pauline Moffitt: Nicolaus Cusanus. A Fifteenth-Century Vision of Man. (=Studies in the History of Christian Thought Band 30) Leiden: Brill, 1991, S. 191: »Cusanus’ late conception of man finds expression in his insight that thinking is a kind of game.« Die Betrachtungen von Watts basieren stark auf der Spieltheorie Huizingas, wonach Kultur generell im Spiel entstehe, vgl. auch ibid., S. 200: »It is necessary always to remember that these various activities – making pots, paintings, weavings, forming new philosophical or theological positions – are all products of man’s free will and of his inventive capacities. They are all games of one sort or another.«

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finden sich für diese etwas weitere Interpretation Ansatzpunkte im Dialog.126 Mir scheint der Fokus der Ausführungen des Cusanus allerdings auf einer anderen Konsequenz zu liegen, die weniger mit einem freien Spiel der Erkenntnis und der Kreativität zu tun hat. Nachdem der Kardinal uns über die Spielerfindung aufgeklärt hat, wendet er sich gegen Ende des ersten Dialogs der Bedeutung seines Spiels zu. Ich habe sie zuvor benannt: Sie besteht nicht in der Präsentation menschlichen Denkens allein, sondern in der Darstellung der Lebenswege der Menschen als Leib-SeeleVerbund. Cusanus hatte erklärt, dass die Menschen sich darin üben müssen, die Leidenschaften zu beherrschen, wenn sie ihren gekrümmte Globus zur Kreismitte bringen wollen. Jeder habe an seinen individuellen Neigungen zu arbeiten, um das ewige Leben zu erreichen. Sein junger Gesprächspartner stößt nun aber eine Diskussion der Rolle der Fortuna im menschlichen Leben an. Das Thema schließt den ersten Dialog ab. Johannes beobachtet, dass der Globus oftmals entgegen der Intention der Spieler das Ziel verfehle. Es scheine demnach auch das Glück seinen Anteil zu haben, da der Globus sich etiam secundum fortuna bewege.127 Cusanus ist Aristoteles zitierend nicht ganz einverstanden: Glück könne man nennen, was neben der Intention des Handelnden herauskomme.128 Man könne es auch omnipotent nennen, was die Ordnung und Bestimmung aller Dinge in ihrem eigenen Sein bedeute.129 Letztere Art der Fortuna nun könne sich niemand widersetzen, doch im Moralischen seien die Menschen stets frei. Sie können, so führt Cusanus aus, immer wählen zwischen dem Guten und Schlechten, dem Lobens- und Tadelnswerten. Hierin seien sie, im Gegensatz zur Verfügbarkeit über äußere Güter, als eigener Mikrokosmos stets ungebunden. Allerdings lässt die Erdgebundenheit ihren Globus unstet laufen. Eindeutige Vorhersagen sind nicht möglich. Letztlich vollende den guten Willen nur Gott. Und dies sei das Geheimnis des Spiels: Die auf ihn Hoffenden verlasse Gott nicht.130 In Anbetracht der vorhergehenden Analysen ist es meiner Ansicht nach 126 Vgl. De ludo globi I, 44–45, insbesondere 45: »Habes igitur ex hac similitudine humanae artis, quomodo artem divinam creativam aliqualiter conicere poteris, licet inter creare die et facere hominis tantum intersit sicut creatorem et creaturam.« Martin Thurner hat so auch gefolgert, dass der Mensch nach De ludo globi im intellektuellen Selbstvollzug die unendliche Einheit Gottes in die differenzierte Andersheit der Welt einschränke, seine kreative Kraft also zu einem endlichen Weltentwurf nutze, vgl. Thurner (2001), Weltentwurf, S. 95– 97, der weiterhin ausführt, dass das Spiel auch diese immer neue, niemals gleiche und durchaus freudige Annährung an die Unendlichkeit versinnbildliche, vgl. ibid. S. 99–110. 127 Vgl. De ludo globi I, 55. 128 Vgl. ibid., 55, 11–12: »Fortuna potest dici id, quod praeter intentionem evenit.« Vgl. hierzu Arist. Phys. II 4–9 (195b–200b). 129 Vgl. De ludo globi I, 57. 130 Vgl. ibid., 57–59.

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angemessen, diese letzten Bemerkungen als abschließende Einschränkung unserer grenzenlosen Freiheit zu bewerten. Was Cusanus demonstriert, ist die Notwendigkeit der Ausrichtung des menschlichen Lebenswegs am christlichen Glauben. In den nicht vorhersehbaren Bahnen des Lebensspiels sei es die Hoffnung auf Gott, mit der man den Unwägbarkeiten begegnen könne. Aus einer philosophischen Analyse eines Spiels gewinnt Cusanus demnach zwar die Theorie einer freien Spielerfindung, doch sein Spiel kann nicht als ein kontingentes Spiel qualifiziert werden. Eines zeigt es ganz deutlich: Wer nicht christlich spielt, hat auf einen Spielerfolg nicht die geringste Aussicht. Insofern ist das Globusspiel die Eingrenzung der Willensfreiheit auf einen bestimmten Regelraum, der eine Freiheit zum Guten hin, also zum ewigen Leben, erst erschafft. Die spielerische Freiheit in De ludo globi bedeutet die Freiheit in der Einschränkung. Zwar kann man andere Regelsysteme wählen, aber jenseits des zu Gott führenden Spielfelds liegt nur Verderben, das mit einer Orientierung am Schöpfer und an Christus vermieden werden kann. Und selbstverständlich gilt: Diejenigen, die irgendwelchen ingenii vires oder Propheten folgen und mit ihren eigenen Gesetzen ohne Christus den Mittelpunkt zu erreichen versuchen, gelangen nie zum Zentrum des Lebens.131 Diese restriktivere Lesart von De ludo globi lässt sich unterstreichen, indem man dem Dialog eine philosophische Schrift gegenüberstellt, in der die Spielerfindung ebenso prominent diskutiert wird. Schon zuvor hatte ich darauf hingewiesen, dass Cusanus mit den durch Georg von Trapezunt rezent übersetzen Nomoi ein Vorbild für die philosophische Ausweitung des Spielbegriffs greifbar war. Unser Spielzeugdasein für die Götter führt Platon im ersten Buch seines Werks dabei folgendermaßen ein: Das Wichtigste in der Bildung sei die richtige Erziehung, die den Wunsch und die Lust erzeuge, ein vollkommener Bürger zu werden. In uns widerstreiten jedoch Unlust und Lust sowie positive als auch negative Erwartungen hinsichtlich der Zukunft, welche allesamt die vernünftige Berechnung abwäge. Als Spielzeug der Götter (zu ernstem oder unernstem Zweck, das wissen wir nicht) finden wir in uns entgegenwirkende Drähte, die uns an der Grenze zwischen Tugend und Schlechtigkeit hin und herziehen. Die einzig goldene und heilige Führung durch Vernunft aber sei das Gesetz: Als Aufgabe der Stadt und des Einzelnen gelte es daher, eben diese Führung in sich aufzunehmen.132 Im siebten Buch der Nomoi kommt Platon bei seiner Betrachtung der Erziehung nun noch einmal auf die menschlichen Spielzeuge zurück. Zunächst 131 Vgl. ibid., 51, 14–18. 132 Vgl. Plat. Nom. 643d–645a. Auch im Spiel sollen die Kinder folglich schon diejenigen Dinge lernen, die sie als Erwachsene beherrschen müssen, den didaktischen Gebrauch von Spielen etwa befürwortet der Athener nachdrücklich, vgl. ibid., 643b–643d.

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lässt er seinen Athener ausführen, dass neben den geschriebenen Gesetzen die ungeschriebenen Gesetze, die Bräuche von höchster Bedeutung seien. Sie halten den Staat zusammen, seien die Mitte zwischen den schon abgefassten und noch zu konstituierenden Gesetzen. Entsprechend ist ihr frühes Einprägen bei Kindern von eminenter Wichtigkeit. Kinder nun erfinden nach Platon aber in Gesellschaft spontan und eigenständig Spiele, da sie ab dem dritten Lebensjahr ganz von selbst ein Bedürfnis hiernach zeigten. Von der Stadt bestimmte Aufseherinnen haben seiner Empfehlung nach dafür zu sorgen, unziemliches Verhalten und Zügellosigkeit hierbei zu sanktionieren. Nach dem sechsten Lebensjahr allerdings sollten sich beide Geschlechter dann dem Lernen zuwenden, insbesondere der Gymnastik und dem Musischen. Nun aber, da die Erziehung zu konkreteren Maßnahmen fortschreitet, folgt die in unserem Zusammenhang interessanteste Passage. Der Athener behauptet, die Erfindung neuer Spiele sei unbedingt zu vermeiden, auch dürfe die Ordnung der Spiele nicht verändert werden. Denn stetige Neuerung sorge dafür, dass sich die jungen Leute etwa hinsichtlich der Haltung der Körper uneins seien. Und statt ein gemeinsames Urteil darüber zu pflegen, was anständig oder nicht anständig sei, gelte derjenige etwas, der fortwährend Neues zu erfinden wisse. Wenn sie allerdings das Neue eher als das Alte schätzten, dann werden aus Knaben auch Männer, die anders leben wollten und nach anderen Bräuchen sowie Gesetzen verlangten. Veränderung jedoch gilt Platon als das Schlimmste für eine Stadt.133 Die schon anfangs zitierte Aufforderung, dass wir unser Leben zu einer Kette der schönsten Spiele machen und allein Gott die gebührende Ernsthaftigkeit zukommen lassen sollen, ist daher reglementierend zu verstehen. Die schönsten Spiele sind für Platon bestenfalls stets die gleichen. Wenn wir diese Passagen nun in Beziehung zu De ludo globi setzen wollen, ergibt sich allerdings ein Problem. Die Übersetzung durch den Aristoteliker und entschiedenen Platon-Gegner Georg von Trapezunt, die einzige Verdolmetschung, die Cusanus zur Verfügung stand, enthält Ungenauigkeiten (oder auch böswillige Abweichungen) an einigen Stellen.134 Da es sich demnach um eine intendiert korrupte Version handeln könnte, ist ein Blick in Cusanus’ Handexemplar selbst angebracht. An den für unseren Zusammenhang relevanten Stellen enthält das Manuskript leider keine marginalen Kommentierungen, jedoch scheint mir die Übersetzung mit einigen ungelenken Verschiebungen und Vokabeln zwar nicht überall akkurat, aber im Wesentlichen verlässlich. Dies betrifft sowohl die erste Erwähnung unseres möglichen Spielzeugdaseins,135 den Hin133 Vgl. ibid., 793a–798a. 134 Vgl. Hankins, James: Plato in the Italian Renaissance. (=Columbia Studies in the Classical Tradition Band 17) Leiden/New York/Köln: Brill, 1994, S. 165–192 und S. 429–435. 135 Vgl. BL, Ms. Harley 3261, fol. 11v–12r (=Plat. Nom. 644d–645a): »Sic ergo de istis cogite-

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weis auf die Gefahr sich verändernder Spiele136 und ebenfalls diejenige Passage, in der Platon uns empfiehlt, ein Leben der schönsten Spiele zu spielen.137 Es darf daher davon ausgegangen werden, dass Cusanus hinsichtlich der skizzierten platonischen Spielphilosophie in den Nomoi einen ausreichend zuverlässigen Text besaß. Was folgt jedoch für De ludo globi hieraus? Es ist ausdrücklich nicht mein Anliegen, eine eindeutig fixierbare Beeinflussung von De ludo globi durch die Gesetze zu behaupten. Allerdings denke ich, dass es erlaubt sein wird, nun abschließend etwas hypothetischer in Bezug auf mögliche Quellen des Globusspieldialogs zu argumentieren. Denn eine prinzipielle Ähnlichkeit der Ansätze, von auf Gott gerichteten Spielen in philosophischem Kontext zu sprechen, wird man wohl nicht bestreiten können. Darüber hinaus zeigen sich andere Parallelen: Ebenso wie Platon ist Cusanus daran gelegen, seinem jungen Zuhörer die Gefahren ungerichteter Spielerfindung zu vermitteln. Wenn jemand seinen Globus wirft, ohne Jesus Christus im Blick zu haben, ist das ewige Leben für ihn schon verloren. Bei den Spielen, die wir nach Cusanus spielen sollten, gilt wie für Platons schönste Spiele, dass man die Ernsthaftigkeit Gott gegenüber stets beachten muss. Wer nach seinen eigenen Regeln lebt und nur vermeintlichen Propheten, ihrem Erfindungsgeist und ihren Vorschriften (ingenii vires et suorum prophetarum et magistrorum praecepta)138 folgt, muss vergehen. Die Freiheit zur Spielerfindung setzt Cusanus entsprechend mit moralischer Freiheit zu gutem oder schlechtem Handeln in Verbindung, denn nur ein Spiel im Glauben rettet: Die Menschen müssen ihren Mimus: ut miram quandam divinamq[ue] rem singulos nostros putemus: sive ludo sive studio. non enim id novimus a superioribus animalibus constitutam. Illud jj autem non ignoramus: q[uo]d affectus in nobis isti quasi nervi aut funes innati trahunt nos atq[ue] retrahunt: quoniam contrarie sint. ad operationes contrarias: in quibus virt[us] aut vitium est. Ratio vero unam tractationem sequendam semper neque unq[uam] relinquendam: sed alios quoq[ue] nervos ad illam retrahendos aperte dictat: eamque ratiotinationis esse conductionem auream: simul atque sacram, quae civitatis lex communis vocatur (…).« Hier ist zwar nicht von Spielzeugen die Rede, doch ob wir zum Spiel oder für den Ernst gemacht sind, ist jedenfalls nicht klar. 136 Vgl. BL, Ms. Harley 3261, fol. 79v (=Plat. Nom. 798b-c): »In quibus enim legibus educat[i] sunt: si longis ille temporibus stabilit[at]e a deo divinitus fuerint: ut nullus recordetur neq[ue] audierit aliter ipsas se habuisse, formidant omnes aliquid inde innovare. Quare oportet: ut legislator excogitet quomodo id equaliter fiet. Hunc igitur ipse modum excogitavi: Adulescentulorum ludos mutari quotidie quasi nihil ad rem pertinentes, facile omnes paciuntur. Nec intelligunt innovatione modo ludorum gaudentes pueros: viros deinde futuros. Et quoniam innovatione laetari consuerint: aliam vitam quaesituros: & sic alia studia legesq[ue] alias desideraturos nec formidaturos q[uod] maxima hinc civitatis pestis ventura sit.« 137 Vgl. BL, Ms. Harley 3261, fol. 82r (=Plat. Nom. 803c): »hominem vero ut in superioribus dictum est: dei ludo fictum: & id vere ipsius optimum esse. Hoc ergo modo consequenter q[uam] pulche[r]rimos ludos virum mulieremq[ue] omnem oportet ludere: vita[que] itaq[ue] fungi contra quam modo cogitantes.« 138 Vgl. De ludo globi I, 51.

Konsequenzen der Spielerfindung: Platon und die neuen Spiele

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krokosmos dem überlieferten Lebensweg Jesu Christi folgend bewegen und stets gewahr sein, dass sie nur ein kleiner Teil des größeren Kosmos sind. Und sollten wir es vor dem Hintergrund der böhmischen Hussitenbewegung wirklich für einen Zufall halten, dass Cusanus am Rande erwähnt, der Mikrokosmos Mensch sei Teil der größeren Welt ebenso wie Böhmen Teil des Reichs?139 Bei dem Mann, der erst zwei Jahre vor De ludo globi die islamische Expansion so ernst nahm, dass er dem Koran eine ausführliche Betrachtung und Widerlegung widmete?140 Obgleich nicht positiv beweisbar ist, dass konkret die platonischen Passagen der Schrift De ludo globi und deren besonderer Aufmerksamkeit für die Spielerfindung zugrunde liegen, scheint es mir dennoch ausgesprochen plausibel, dass Cusanus mehr im Sinn gehabt hat als die vor Gott spielende Weisheit der Proverbia.141 Seine Sorge gilt ebenso wie Platon der auf unendliche Freiheit und Neuheit zielenden Kraft der Spielerfindung, der er sein Globusspiel als die christliche Lebensweise repräsentierendes Korrektiv entgegensetzt. Diese Lesart gewinnt noch an Plausibilität, wenn die Allegorie des Spiels nicht in einer vielleicht moderneren Sichtweise als positiv besetzte Ermöglichung von Freiheit betrachtet wird, die ohne jede begrenzende Einflussnahme ist. Stattdessen lässt 139 Vgl. ibid., 43. Ohne Zweifel zielt diese Bemerkung, das hat auch Gerda von Bredow schon angemerkt (vgl. von Bredow (2000), Globusspiel, S. 153), auf den Konflikt mit Georg von Podiebrad, als Georg I. König von Böhmen. Dem Anspruch des Papstes Pius II., die sogenannten Kompaktaten (ein vertragliches Abkommen, wonach in Böhmen die Kommunion beiderlei Gestalt auch an Laien gereicht werden durfte) abschaffen zu lassen, weigerte Podiebrand sich nachzukommen, vgl. auch Plaschka, Richard: Georg von Podiebrad. In: NDB 6 (1964), S. 200–203. 140 Vgl. de Cusa, Nicolaus: Cribratio Alkorani. Edidit commentariisque illustravit Ludovicus Hagemann. (=Nicolai de Cusa Opera Omnia Band 8) Hamburg: Meiner, 1986; diese bemerkenswert intensive Auseinandersetzung mit dem Koran erkennt zwar an, dass im Koran Wahrheiten zu finden seien. Doch bleibt der Maßstab für deren Auffindung stets das Christentum. Walter A. Euler hat daher auch in Hinblick auf Cusanus’ Schriften über den Islam geschlossen: »His program could be described as inclusion instead of exclusion – inclusion and pro-Christian interpretation instead of exclusion and condemnation. (Euler, Walter A.: A Critical Survey of Cusanus’s Writings on Islam. In: Levy, Ian Christopher et al. (Hrsg.): Nicholas of Cusa and Islam. Polemic and Dialogue in the Late Middle Ages. Leiden/ Boston: Brill, 2014, S. 20–29, hierzu S. 22–23) Zugleich stellt Euler jedoch fest, dass Cusanus seine Sichtweise in diesen Schriften geändert habe: War 1453 in De pace fidei noch von Missverständnissen die Rede, betone Cusanus nun in der Cribratio die Ambivalenz des Korans zwischen pro- und antichristlichen Tendenzen (vgl. ibid., S. 29). 141 Die Charakterisierung der Weisheit als spielend in Prov. 8,30–31 findet sich auch in einem von zwei Gedichten, die auf die Globusspieldialoge in den Handschriften folgen, jedoch mit einiger Sicherheit nicht von Cusanus selbst stammen, vgl. Bormann, Karl: Nicolaus Cusanus als Poet? In: Mittellateinisches Jahrbuch, Band 20 (1985), S. 184–192; betreffende Passage des Gedichts auf S. 187, 13–14 lautet: »Luditur hic ludus, sed non pueriliter. At sic / Lusit ut orbe novo sancta sophia Deo.« Wenn wir uns daran erinnern, dass Cusanus in Bezug auf die spielende Weisheit in einer Predigt davor gewarnt hatte, dass man durch Unachtsamkeit auch falsch spielen könne, so ist diese Referenz ein zusätzliches Argument für die Interpretation von De ludo globi als restriktiv, vgl. oben Fußnote 31.

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Cusanus, Jacobus de Cessolis und Platon über das Erfinden von Spielen

sie sich im beschriebenen Kontext gesellschaftlicher Reglementierungspraktiken von Spielen aufgrund ihrer moralischen und sozialen Gefahren situieren. De ludo globi wäre demnach zwar die Anerkennung unbeschränkter menschlicher Spielerfindungskraft, doch zugleich ein Versuch ihrer Beschränkung. In einer Situation nicht unerheblicher Bedrohungen für die katholische Kirche bemüht sich Cusanus darum, seinen jungen Bayern ein eindeutiges Spielfeld zu präsentieren.

Konklusionen: Spielergebnisse Von zentraler Bedeutung für die in dieser Arbeit verfolgte Geschichte der Spielphilosophie ist, dass Nicolaus Cusanus seine Philosopheme mithilfe der Betrachtung eines Spiels gewinnt. Nicht nur verwendet er einen ludus zur philosophischen und moralischen Unterweisung eines jungen Zuhörers, vor allem führt ihn eine selbstreflexive Theoretisierung der Spielerfindung zu Grundstrukturen menschlichen Denkens. Das Globusspiel ist damit neben einem Mittel der Didaktik Ausgangspunkt philosophischer Reflexionen, die über das Spiel selbst hinausweisen. Insofern wird das Staunen erzeugende Spiel Anfang des Philosophierens, ganz im Gegensatz zur Rolle eines Rekreationsmittels, das es in der philosophischen Lebensform Alberts noch eingenommen hatte. Dabei haben wir gesehen, dass Cusanus von Beginn an seinen Dialog abgrenzt und zugleich explizit in zwei alternative Diskurslinien stellt. Zunächst distanziert er die dialogische Behandlung des Globusspiels mit dem ersten Satz von Aristoteles und seinen scholastischen Auslegern, das Spiel ist nicht nur Erholung. Gegen diese Position begründet er seine Betrachtungen mit dem Aufrufen zweier diskursiver Einordnungen von Spielen: Zum einen die Verbindung von Instrumenten und Spielen zur Wissenschaft, die, wie die Rythmomachia, etwa der Arithmetik zugehören; zweitens die Verwendung von Spielen als Allegorien, wie sie uns in Form des Liber de moribus überliefert ist. Im Gegensatz zu der von Beginn an implizit als Antifolie präsenten aristotelisch-scholastischen Spielphilosophie wird daher das Verhältnis von Philosophieren und Spielen umgedeutet: Auch im Spiel ist philosophia zu finden. Über die bloß didaktische Funktion des Globusspiels zur Vermittlung von Philosophie hinausgehend führt Cusanus sodann im Verlauf des Dialogs eine reflexive Operation auf den Text selbst aus, in der sein Spiel als Selbsterkenntnismittel genutzt wird. Die sich kreisförmig selbstbewegende Seele, im Globusspiel durch die Kugelbewegung repräsentiert, zeigt uns im Spielerfinden ihre freie Kraft. Als Ausfaltung der im Menschen enthaltenen Möglichkeiten weist das Spiel auf den Menschen selbst zurück. Zugleich ist zumindest das Globusspiel eine bestimmte Ausfaltung, nicht ein beliebiges Spiel. Bereits ganz am

Konklusionen: Spielergebnisse

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Anfang des Dialogs hatte Cusanus betont, dass jedes ehrenhafte Spiel Philosophie enthalte. Man darf daher vermuten, dass dies für die unehrenhaften Spiele eben nicht gelte, und von Alberts auf der aristotelischen eutrapelia basierenden Bemerkung, nur die tugendhaften Spiele seien für die sapientes angemessen, sind wir entsprechend nicht weit entfernt (zumal Cusanus, wie im letzten Kapitel dargelegt, mit der eutrapelia vertraut war). Dass prädikantische Bemühungen um eine christliche Eingrenzung des Spielens ebenfalls als Voraussetzungen für das Spielkonzept des Cusanus zu beachten sind, ist zuvor schon betont worden, wie auch die Bedeutung restriktiverer Spielpassagen in den Proverbia, den Nomoi und in Texten von Cusanus selbst. So zeichnet der Kardinal ein eindeutig christliches Spielfeld und weist wiederholt darauf hin, was man zu erwarten habe, wenn man irgendwelchen Propheten folge. Obgleich bei Cusanus aus der Betrachtung des Globusspiels Einsicht in die theoretisch unbegrenzte menschliche Freiheit gewonnen wird, fungiert es doch zugleich als Modell eines bestimmten wahren, d. h. auf Jesus Christus hingeordneten Lebenswegs. Was die Sprecherposition anbelangt, ist diese Spielverwendung damit diametral der Imagination des Jacobus de Cessolis vom philosophischen Spiel eines machtlosen Untertanen zur Korrektur tyrannischer Herrscher entgegengesetzt. Zwar definiert Cusanus den epistemischen Status des Spieles im Verhältnis zur aristotelischen Tradition neu. Doch wenn der Kurienkardinal als enger Vertrauter des Papstes an der durchaus spielfreudigen Kurie beiläufig an die Eingebundenheit des Böhmenkönigs in die durch das Globusspiel repräsentierte christliche Ordnung des Kosmos erinnert, bekräftigt er die geltenden Spielregeln als Repräsentant des Papsttums und aus der Position bestehender Machtverhältnisse. Dass man philosophisches Spielen allerdings entschieden kontingenter betreiben konnte, wird sich im nächsten Kapitel zeigen.

Kapitel 2: Ludisches Philosophieren: Ficino, Speroni und die italienischen Philosophiespiele

Unter einer schattigen Platane am Ufer des Ilissos eröffnete Sokrates seinem jungen Begleiter Phaidros, dass tatsächliches Wissen nur in der Rede, der Unterhaltung vermittelt werde und der Weise die Schrift nicht sonderlich ernst zu nehmen habe: »(…) um des Spielens willen wird er die Gärten der Schrift, denke ich, besäen und beschreiben (…).«1 Das Corpus Platonicum, dem lateinischen Westen erst seit Ende des 15. Jahrhunderts wieder integral verfügbar, enthält nicht wenige dieser Passagen, in denen Praktiken der Philosophie und der Sophistik als ›Spiele‹ bezeichnet werden.2 Im Gegensatz zum aristotelischen Spieldiskurs, in dem Kontemplation und ludische Praktiken innerhalb eines philosophischen Lebensmodells streng unterschieden wurden, stellen die Schriften Platons häufig ein alternatives Verhältnis beider Tätigkeiten vor. Für rinascimentale Rezipienten resultierte aus der Lektüre der neuen Texte daher einerseits die Schwierigkeit, das Verhältnis von Philosophieren und Spielen neu bestimmen zu müssen. Zugleich eröffnete sich jedoch die Möglichkeit, unter Bezugnahme auf platonische Dialoge sogar Formen ludischen Philosophierens zu konstruieren. Mit der Gegenüberstellung zweier dieser Ansätze, Spiel und Philosophie zueinander zu bringen, werde ich in diesem Kapitel versuchen, deren Eigenheiten und Unterschiede in der Neubestimmung dieses Verhältnisses herauszustellen. Nicht nur wird im Folgenden also von spielenden Philosophen, sondern vom Philosophieren als Spiel die Rede sein, und zwar im Speziellen anhand der Rezeption der spielphilosophischen Ansätze Platons. Betrachtet wird hierfür zuerst der Promoter platonischer Philosophie im 15. Jahrhundert: Marsilio Ficino. Ausgehend von einer Textstelle seines Parmenides-Kommentars aus dem Jahre 1496 soll sein Blick auf das Verhältnis von Philosophie und Spiel bei Platon 1 Plat. Phaid. 276c. Übersetzung von Kurt Hildebrandt in Platon: Phaidros oder Vom Schönen. Stuttgart: Reclam, 2006, S. 89. 2 Die zentralen diesbezüglichen Passagen im platonischen Werk sind angegeben bei Horn, Christoph: paidia. In: Horn, Christoph und Rapp, Christof (Hrsg.): Wörterbuch der antiken Philosophie. München: Beck, 2008, S. 327–328.

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Ficino, Speroni und die italienischen Philosophiespiele

herausgearbeitet werden. In einem zweiten Schritt werde ich dann vergleichend analysieren, wie Sperone Speroni 1574 mit dem nun schon etablierten kulturellen Kapital platonischer Philosophie umgeht, wenn er platonische Dialoge als Idealform spielerischen Dialogisierens präsentiert. Speroni konstruiert Philosophie im Modus des Spiels dabei als legitime und in keiner Weise wahrheitsbedürftige Freizeitbeschäftigung. Sein von Ficino grundlegend verschiedener Ansatz wird die Frage aufwerfen, was die Konzeptionalisierung der Philosophie als Spiel bei beiden Denkern ausmacht und unterscheidet. Ich werde – unter der Voraussetzung, dass wir Spielen als vielgestaltige und variierende soziale Praxis betrachten – dafür argumentieren, dass die Entkopplung philosophischen Disputierens von Wahrheitsansprüchen bei Speroni hin zu einem freien epistemologischen Spiel zentral mit dem lustvollen Imitieren von Philosophie in der italienischen Praxis von Konversationsspielen des Cinquecento zu tun hat. In einem dritten Schritt wird daher die Rolle der Philosophie in dieser Gesprächsspielkultur seit dem Erscheinen des Cortegiano Baldassare Castigliones nachgezeichnet und gezeigt, dass Speroni hierin ein Modell für seine Konzeption platonischen Philosophierens verfügbar war. Aber beginnen wir zunächst mit Ficino und einem Text, der in seiner anstrengenden Verspieltheit nicht wenige Fragen aufwirft.

Ficinos ernste Spiele mit den Sophisten Im Jahr 1496 veröffentlichte Marsilio Ficino einen Kommentar zu einem Werk Platons, welches in seinem Gelehrtenleben, glaubt man seiner eigenen Schilderung, einen herausragenden Platz einnahm: Schon 1464 hatte er seinem Förderer Cosimo de’ Medici auf dessen Totenbett zwölf Tage lang aus seinen ersten Übersetzungen der Schriften Platons vorgelesen, am letzten Tag neben der Verdolmetschung des Philebus aus seinem lateinischen Parmenides, über das eine Prinzip aller Dinge (de uno rerum omnium principio). Am Ende der zwölf Tage und der Lesung entschlief Cosimo sodann, als ob er zurückkehrte zum Genuss des zuletzt gehörten Prinzips und Guten, von diesem Schattenleben ins himmlische Licht.3 Über dreißig Jahre später und nachdem er seine Gesamtübersetzung des Corpus platonischer Schriften abgeschlossen hatte, kehrte Ficino nun mit dem Parmenides zu derjenigen Schrift zurück, die dem Florentiner Bankier am Ende seines irdischen Daseins angeblich als Vorbereitung aufs Sterben gedient hatte.4 3 Vgl. Hankins (1994), Plato, S. 267–268. 4 Der Kommentar erschien 1496 zusammen mit anderen Kommentaren zu den Dialogen Timaios, Sophistes, Philebus und Phaedrus sowie einem numerologischen Kommentar zu Buch

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Dabei hat man Schwierigkeiten, sich vorzustellen, wie Cosimo im Sterben begriffen noch etwas verstanden habe, denn eigentlich handelt es sich um einen nicht besonders zugänglichen Text. Im zweiten Teil des Dialogs führt Parmenides verwirrende dialektische Argumentationsgänge und scheint sich selbst sowie anderen platonischen Werken deutlich zu widersprechen.5 Für den ohne Zweifel bedeutendsten Förderer platonischer Philosophie des 15. Jahrhunderts ist die Interpretation dieser Schrift daher keine leichte Aufgabe – umso mehr, als er für sein Projekt von spezifischen Voraussetzungen ausging: Ficino begriff das Corpus platonischer Schriften als eine spirituelle Medizin, die seinem Florenz und dessen Eliten den Weg zu einer prisca theologia leiten könne. Diese alte Theologie war seiner Ansicht nach einigen Inspirierten schon vor der evangelischen Offenbarung zugänglich, musste jedoch interpretiert werden und fiel mitunter in Vergessenheit. Der platonischen philosophia perennis lag mithin die gleiche spirituelle Erfahrung wie dem Christentum zugrunde, ja sie vermochte selbst noch bei der Interpretation der christlichen Offenbarung zu helfen.6 Platonische Philosophie konnte bei Ficino als eine »special esoteric form of Christianity for an intellectual 8lite«7 gedacht werden. Aber mit dem Parmenides? Die verwinkelte Dialektik erinnert eher an die übersubtilen distinctiones aristotelischer Schullogik und weniger an eine leicht vermittelbare spirituelle Form tiefgründiger Wahrheiten, die Ficino für seine vielbeschäftigte Elite anstrebte.8 Wie re-etabliert man Platon nun gegenüber syllogistisch um Eindeutigkeit bemühter peripatetischer Universitätsphilosophie mit so einem Text? Ficino orientierte sich an der neuplatonischen Parmenides-Auslegung des

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VIII der Politeia als Ficinus, Marsilius: Commentaria in Platonem. Florenz: Laurentius de Alopa, 1496; diese Ausgabe werde ich im Folgenden hinzuziehen (zitiert als Commentaria), zitiere speziell den Parmenides-Kommentar aber nach der kommentierten Edition Ficino, Marsilio: Commentaries on Plato. Volume 2: Parmenides, Teil 1 und 2. Ediert und übersetzt von Maude Vanhaelen. (=The I Tatti Renaissance Library 51 und 52) Cambridge (Mass.) und London: Harvard University Press, 2012 (im Folgenden zitiert als In Parmenidem). Ich werde mich in diesem Abschnitt hauptsächlich auf die Konzeption eines philosophischen Spiels im Parmenides-Kommentar beschränken, zu weiteren Aspekten der Platon-Rezeption im 15. Jahrhundert vgl. etwa Kaiser, Christian: Leben und Lieben des ›göttlichen Platon‹ zwischen Byzanz und Italien im Quattrocento. In: Märtl, Claudia/Kaiser, Christian/Ricklin, Thomas (Hrsg.): Inter graecos latinissimus, inter latinos graecissimus. Bessarion zwischen den Kulturen. (=P& A 39) Berlin/Boston: De Gruyter, 2013, S. 391–437, sowie Ricklin, Thomas: Marsilio Ficino und Diogenes La[rtius. Von der mitunter beachtlichen Tragweite scheinbar banaler Neuverschriftlichungen. In: Leitgeb, Maria-Christine et al. (Hrsg.): Platon, Plotin und Marsilio Ficino. Wiener Studien, Beiheft 33, 2009, S. 95–119. Vgl. die Einordnung in der Einleitung Maude Vanhaelens zu In Parmenidem, 1, S. VII–VIII. Vgl. Hankins (1994), Plato, S. 278–296; für die Filiation dieser alten Theologie über persische, ägyptische und griechische Theologen, namentlich Zoroaster, Hermes Trismegistos, Orpheus, Aglaophemos, Pythagoras und kulminierend in Plato, vgl. ibid., S. 460–464. Vgl. ibid., S. 287. Vgl. ibid., S. 298–99.

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Proklus, integrierte den Text aber auch von Proklus abweichend in sein größeres Projekt der Platonauslegung. Die sprichwörtliche sokratische Unwissenheit war ihm vor allem eine Methode, Hochmut zu zerstreuen und über die Negation des Falschen zu göttlichem Wissen zu gelangen – dabei musste man nicht jedes Wort der Dialoge, wie es die spätantiken Neuplatoniker getan hatten, mit Bedeutung aufladen.9 Das Korpus platonischer Schriften insgesamt verstand der Florentiner als der Erziehung zu moralischen und theologischen Wahrheiten dienliches Ganzes, in dem Platon auf verschiedene Weisen, jeweils thematisch vermischt mit Themen wie Dialektik, Rhetorik oder Poetik, und in Anpassung an seine Gesprächsteilnehmer die gleichbleibenden Wahrheiten vermittelte.10 Sogar vermeintliche Scherze nutzte Platon dabei nur als Köder, um die dem Vergnügen zugewandten Menschen für seine Philosophie zu gewinnen: »Unser Platon scheint manchmal, während er die notwendigen Pflichten des menschlichen Geschlechts oft auf eine versteckte Art behandelt, zu scherzen und zu spielen. Doch die Spiele und Scherze Platons sind viel ernster als die ernsten Erörterungen der Stoiker.«11 Der Parmenides wird keine Ausnahme sein: Auch unter seinen widersprüchlichen dialektischen Kunststücken sind göttliche Wahrheiten zu finden. Einen Anlass, diese herauszustellen, gab ein junger Freund Ficinos, Giovanni Pico della Mirandola, der dem Parmenides wenig Göttliches abgewinnen konnte. In seiner an Angelo Poliziano gerichteten Schrift De ente et uno versuchte er 1492 eine Übereinstimmung zwischen Aristoteles und Platon aufzuzeigen.12 Der Titel ist durchaus programmatisch gewählt: Spätantike Neuplatoniker hatten dafür gehalten, dass das Eine, das Prinzip aller Dinge, sogar dem Sein vorausgehe. Das 9 Vgl. Hankins (1994), Plato, S. 322–323; zu den Unterschieden zwischen Ficino und neuplatonischen Interpreten, vor allem Proklus, vgl. Allen, Michael J.B.: The Second Ficino-Pico Controversy : Parmenidean Poetry, Eristic, and the One. In: Garfagnini, Gian Carlo (Hrsg.): Marsilio Ficino e il ritorno di Platone. Studi e documenti II. Florenz: Olschki, 1986, S. 417– 455, hierzu S. 432–437 und S. 442–455. 10 Zu Ficinos Charakterisierungen des platonischen Korpus vgl. Hankins (1994), Plato, S. 328– 341. 11 Vgl. Ficinus, Marsilius: Platonis Opera. Venedig: Gedruckt von Bern. de Choris und Sim. de Luero für Andrea Torresano, 1491 (ich verwende mit der Ausgabe von 1491 also diejenige, mit der Ficino zufriedener war als mit derjenigen von 1484, vgl. Hankins (1994), Plato, S. 319–320), fol. Ivb (Prohemium): »Interea Plato noster, dum occultis saepe modis humano generi necessarium tractat officium, interdum iocari videtur et ludere. Verum Platonici ludi atque ioci multo graviores sunt quam seria Stoicorum.« Die Stelle findet sich zitiert bei Hankins (1994), Plato, S. 337–338. 12 Vgl. della Mirandola, Giovanni Pico: De ente et uno/Über das Seiende und das Eine. Hrsg., übers. u. komm. von Paul Richard Blum et al. (=Philosophische Bibliothek 573) Hamburg: Meiner, 2006 (im Folgenden als De ente et uno). Es handelt sich um ein posthum veröffentlichtes Werk, das wohl eher als Vorstufe zu einer ausführlicheren Arbeit gelesen werden muss; zu Picos Konkordanz-Projekt, Argumentationsgang, Einordnung und Wirkung vgl. die ausführliche Einleitung S. IX–LXXIV.

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Eine verstanden sie als transzendente unterscheidungslose Einheit, die auch vor der Differenz von Sein und Nicht-Sein stehe.13 Gerade diesen Punkt fand Pico aber diskussionswürdig. Er argumentierte dafür, stattdessen das Eine und das Sein als konvertibel anzusehen – ein deutlicher Angriff auf die Platonici, auf Interpreten Platons wie Proklus, die vor allem den Parmenides benutzt hatten, um ihre Thesen vom Einen zu erhärten.14 Auch für Pico ist der Parmenides daher eine wichtige Quelle: Seiner Interpretation nach zählt er eben nicht zu den dogmatischen Dialogen Platons, enthalte also keine wesentlichen Lehrmeinungen, müsse mithin als bloße dialektische Übung verstanden werden.15 Ficinos Antwort hierauf war eindeutig: In seinem Parmenides-Kommentar bedauerte er die Verirrung eines vielversprechenden jungen Mannes und ordnete die dialektischen Spielereien des Dialogs in eine völlig andere Richtung.16 Spiel und Philosophie setzt er dabei in ein unerwartetes Verhältnis: Pythagorae Socratisque et Platonis mos erat ubique divina mysteria figuris involuscrisque obtegere, sapientiam suam contra sophistarum iactantiam modeste dissimulare, iocari serio et studiosissime ludere. Itaque in Parmenide sub ludo quodam dialectico et quasi logico, exercitaturo videlicet ingenium ad divina dogmata, passim theologica multa significat.17 (Es war des Pythagoras, Sokrates und Platon Gewohnheit, überall göttliche Geheimnisse unter Bildern und Schleiern zu verbergen, ihre Weisheit im Gegensatz zur Prahlerei der Sophisten bescheiden zu vertuschen, ernsthaft zu scherzen und eifrigst zu spielen. Daher verweist [Platon] im Parmenides in einem dialektischen und sozusagen logischen Spiel, als Übung des Verstandes hin zu göttlichen Lehren, durchgehend auf zahlreiche theologische Zusammenhänge.)

Dass der Parmenides zwar eine Übung, aber zur Erkenntnis von divina dogmata sei, lässt sich als direkte Replik auf Picos Einordnung lesen. Ficino interpretiert 13 Vgl. zur Übersicht den Artikel von Hadot, Pierre; Flasch, Kurt und Heintel, Erich: Eine (das), Einheit. In: HWdPh Band 2 (1972), 361–384, vgl. zur Problemlage für Pico auch die Hinweise in der Einleitung zu De ente et uno, S. XV–XVI. 14 Vgl. Allen (1986), Ficino-Pico, S. 424–429 und Allen, Michael J.B.: Icastes: Marsilio Ficino’s Interpretation of Plato’s Sophist. Berkeley/Los Angeles/Oxford: University of California Press, 1989, S. 39–40; vgl. auch Picos eigene Aussage in De ente et uno, S. 6: »De ente et uno duobus locis invenio Platonem disputantem, in Parmenide scilicet et Sophiste. Contendunt Academici utrobique a Platone unum supra ens poni.« 15 Vgl. ibid.: »Certe liber inter dogmaticos non est censendus quippe qui totus nihil aliud est quam dialectica quaedam exercitatio.« Zum auch kontroversen Verhältnis von Pico und Ficino vgl. Allen (1986), Ficino-Pico, S. 417–422. 16 Vgl. In Parmenidem, 1, S. 234, hierzu auch die Einleitung derselben Ausgabe, S. XX–XXV, insb. S. XXIV; zur engen Verbindung des Kommentars mit Picos Thesen generell vgl. die ausführlichere Studie von Vanhaelen, Maude: The Pico-Ficino Controversy : New Evidence in Ficino’s Commentary on Plato’s Parmenides. In: Rinascimento XLIX (2009), S. 301–339, weitere Literatur zum Parmenides-Kommentar Ficinos auf S. 302–303 Fußnote 4. 17 In Parmenidem, 1, S. 32.

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den Dialog als Hinführung zu göttlichen Geheimnissen, setzt ihn in eine althergebrachte Schultradition des Pythagoras, Sokrates und Platon.18 Er folgt damit zudem Proklus, der den Parmenides ebenfalls gegen die Ansicht verteidigt hatte, dieser sei eine nur dialektische Übung – der Dialog ist bei Ficino eine theologische Schrift, in der Platon, wie auch in anderen Dialogen, ein bestimmtes Thema wie die Dialektik mit der Theologie verbinde.19 Allerdings: Ficinos Argumentation ist hier komplexer, als nur in humanistischer Manier einem paganen Autor durch Allegorese theologische Einsichten zu unterstellen, die später erst die Evangelien eröffnet hätten. Er folgt, zumindest an dieser Stelle, auch nicht selbst der angeblich sokratischen Maxime serio ludere, wie Edgar Wind meinte.20 Denn zunächst können wir schlicht feststellen, dass es sich um einen einordnenden Kommentar handelt. Ficino geht es nicht darum, irgendwelche göttlichen Wahrheiten wie Platon selbst zu verbergen oder die Sophisten zu verwirren – er erklärt die eigentümliche Struktur des Textes, das dialektische Spiel, von dem er spricht. Dieses erwächst nach seinen Ausführungen aus einer konkreten philosophiehistorischen Situation: Pythagoras, Sokrates und Platon haben in Abgrenzung zu den Sophisten den mos ausgebildet, göttliche Mysterien zu verbergen, ernsthaft zu scherzen und eifrig zu spielen. Diese Abgrenzung ist nichts Neues, für Ficino sind unterschiedliche Grade 18 Auf die Verbindung zur negativen Theologie, die Proklus in Auseinandersetzung mit der ersten Hypothese des Parmenides entwickelt und die dem lateinischen Mittelalter zentral durch Pseudo-Dionysius Areopagiter vermittelt wird, werde ich hier nicht detaillierter eingehen, vgl. hierzu Westerkamp, Dirk: Via negativa. Sprache und Methode der negativen Theologie. München: Fink, 2006, insb. S. 14–36. 19 Vgl. In Parmenidem, 1, S. 32–34; zur Diskussion um den Übungscharakter des Parmenides bei Proklus vgl. Proklus Diadochos: Kommentar zum platonischen Parmenides. Übers., eingl. und mit Anm. versehen von Günther Zekl. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2010, 630–656. 20 Vgl. Wind, Edgar: Heidnische Mysterien der Renaissance. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1981/ 1958, S. 270, der behauptet, die spöttische Schreibweise etwa Lukians wurde »auch von den philosophischen Schulen übernommen. Serio ludere war eine sokratische Maxime von Cusanus, Ficino, Pico und Calcagnini (…).« Serio ludere kommt im Proömium zum Parmenides-Kommentar, auf das Wind an dieser Stelle verweist, allerdings nicht vor, schon eher in der zweiten Passage, die er heranzieht, aus Ficinos Kommentar zu Buch VIII der Politeia: »Nos autem una cum Platone musisque in re seria inextricabilique ludentibus satis confabulati sumus.« (vgl. hierzu Commentaria, Circa numerum nuptialem, cap. XVI) Darauf, dass Ficino öfter das platonische Scherzen in Doppeldeutigkeit imitiert habe, weist Hankins (1994), Plato, S. 343 Fußnote 212 hin. Iocari serio et studiossissime ludere könnte auch, wie Ioan Petru Culianu festgestellt hat, eine Übersetzung einer Charakterisierung sokratischen Philosophierens durch Xenophon sein, vgl. Culianu, Ioan Petru: Eros und Magie in der Renaissance. Frankfurt a. M: Insel, 2001, S. 71–72 und S. 421 Fußnote 41, bei Xenophon wird Sokrates als ernsthaft scherzend dargestellt etwa in Xenophon: Erinnerungen an Sokrates. Griechisch/Deutsch. Hrsg. v. Peter Jaerisch. München: Heimeran Verlag, 1980, I 3, 8 oder IV 1, 1.

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der Einweihung ein wesentliches Merkmal der platonischen Schule. Ganz außen stehen die Sophisten, immer glaubend, sie wüssten über alles Bescheid. Ihre Ansichten konnte man nur widerlegen und sie den jungen demütigen Männern ähnlich machen, die offen für Unterweisungen waren – und eben diese konnten dann, und das ist die dritte Stufe, Schüler Platons und Sokrates’ werden, denen sodann die höchsten göttlichen Geheimnisse eröffnet wurden.21 Es handelt sich hier demnach weniger um eine Opposition Voroffenbarung versus Nachoffenbarung, sondern primär um die Opposition des inneren Zirkels der platonischen Schule gegen die ihn umgebende Gesellschaft.22 Gegen die mit Schwindel behafteten Sophisten, so erklärt Ficino im Argumentum zu Platons Euthydemus, bespreche Sokrates unter Ironie und Verstellung göttliche Geheimnisse, simuliere sozusagen zu zögern und selbst Schwindel zu erleiden.23 Verschleierung gegen die Sophisten ist also kein ungewöhnliches Element in Ficinos PlatonAuslegung: Ist die Verschleierung aber das ernsthafte Spiel, von dem er spricht? Die Rede vom spielhaften Charakter des Dialogs ist im Parmenides selbst zunächst schon intratextuell angelegt, denn Parmenides fragt am Ende des ersten Dialogteils, von wo aus die Untersuchung ihren Gang nehmen solle: »Oder wollt ihr, da doch einmal das mühsame Spiel soll gespielt werden, dass ich von mir selbst anfange und von meiner Voraussetzung (…)?«24 In Ficinos Übersetzung: »An vultis postq[uam] negociosum ludu[m] ingressi sumus a meipso meaq[ue] suppositione in primis exordiar?«25 Im 37. Kapitel seines Parmenides-Kommentars charakterisiert Ficino dieses mühsame Spiel genauer. Er beginnt gegen Pico folgendermaßen: Sollte Platon wirklich einem Meister wie Parmenides eine kindliche Übung in Logik zuschreiben? Schon im Sophistes unterscheide Sokrates die ununterbrochene Rede von der parmenidischen interrogativen Methode, die hervorragende Argumente hervorgebracht habe.26 Dieses dialektische Frage-Antwort-Spiel ist aber eine bestimmte Art von Spiel: »Er [=Parmenides] nannte die folgende Diskussion ein ernstes und anstrengendes Spiel, insofern er unter dialektischer oder logischer Gestalt manch göttliche, aus seinen Büchern gezogene Inhalte legen wollte.«27 Außerdem habe 21 Vgl. Hankins (1994), Plato, S. 331–332. 22 Vgl. auch die Bemerkung Ficinos in In Parmenidem, I, S. 2: »(…) universam in Parmenide complexus est theologiam, quod quidem, ut inquit Proclus, caeteris forte incredibile videri poterit, familiaribus vero Platonis est certissimum.« 23 Vgl. Platonis Opera (1491), fol. 89rb : »Hic ergo sub ironia at[que] dissimulatione eiusmodi ta[n]git mysteria, se[que] simulat hesitare: [et] quasi inter sophistas vertiginosos pati vertigin[em].« 24 Plat. Parm. 137b, Übersetzung nach Friedrich Schleiermacher in Platon: Sämtliche Werke. Band 3. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2007, S. 108. 25 Platonis Opera (1491), fol. 24rb. 26 Vgl. In Parmenidem, 1, S. 156–158. 27 Ibid., S. 162: »Qui futuram disputationem ludum serium negotiosumque appelavit, quo-

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Plato im Sophistes dem Melissus, einem Schüler des Parmenides, zugeschrieben, wie ein Gott oder jemand göttliches verehrt worden zu sein. Daher könne man nicht glauben, dass Parmenides, der älter und weitaus göttlicher als Melissus gewesen sei, »(…) von Platon als sich in streitsüchtige Widerlegungen stürzend oder jugendlich leichte Logik spielend präsentiert werde.«28 Was gespielt wird, ist folglich eine dialektische Unterredung in interrogativer Methode. Es geht zunächst nicht um die sokratische Ironie als Verstellung, die vielleicht wie die Verschleierung damit einhergeht – das Spiel aber ist die Dialektik (sub ludo quodam dialectico et quasi logico).29 Ernst wird dieses Spiel erst durch die unterlegten göttlichen Wahrheiten. Dieses ernste Spiel gewinnt Kontur, wenn wir uns nochmals an Ficinos philosophiehistorische Einordnung erinnern, dass Platon gegen die Arroganz der Sophisten anstrengende Spiele gespielt habe. Es handelt sich um eine Einordnung mit langer Tradition: Schon eine Passage in Ciceros De finibus bonorum et malorum, in dem nach dem höchsten Gut unseres Lebens gefragt wird, beschreibt eine äquivalente Situation. Zu Beginn des zweiten Buches, nachdem im ersten Buch Torquatus die Lehre Epikurs beschrieben hatte, setzt Cicero an, seine Positionen zum Dargelegten zu formulieren. Doch will er nicht verfahren wie die Sophisten, die in Versammlungen dazu aufforderten, ihnen irgendeine Frage zu stellen, worauf sie irgendeinen gelehrten Vortrag hielten – dies sei ein kühnes Unterfangen (audax negotium). Dem sophistischen Hochmut gegenüber stellt er die sokratische Methode des Fragens: »Aber sowohl mit den genannten als auch mit den übrigen Sophisten hat offensichtlich, wie wir aus Platon entnehmen können, Sokrates sein Spiel getrieben.«30 Er habe nämlich erst durch Fragen die Meinungen seiner Gesprächspartner herausgelockt, um gegebenenfalls auf ihre Antworten einzugehen.31 Besteht der Unterschied zwischen Sokrates und den Sophisten entsprechend

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niam sub dialectica vel logica specie divinam quandam materiam ex suis libris acceptam subesse volebat.« Ibid.: »(…) introductum a Platone fuisse quasi contentiosis redargutionibus incumbentem logicumve levem iuveniliterque ludentem.« Hierfür spricht auch eine Aufzählung in Ficinos Vorwort zum Protagoras, in der die Ironie in einer Klimax deutlich von Scherz und Spiel unterschieden wird – Ficino erklärt, dass Sokrates selten offen gegen die Sophisten wütete: »Ergo partim ironia, partim risu, sepe ioco et ludo, sepius honesta quadam redargutione immeritam sophistis auctoritatem, conatur adimere.« (Platonis Opera (1491), fol. 79va) Zur sokratischen Ironie vgl. Knox, Dilwyn: Ironia. Medieval and Renaissance Ideas on Irony. Leiden/New York/Kopenhagen/Köln: Brill, 1989, S. 97–138, als Verstellung gegen die Sophisten u. a. bei Ficino vgl. S. 115–123. Cic. De fin. II 2: »Sed et illum, quem nominavi, et ceteros sophistas, ut e Platone intellegi potest, lusos videmus a Socrate.« Übersetzung nach Cicero: De finibus bonorum et malorum/ Über das höchste Gut und das größte Übel. Lateinisch/Deutsch. Hrsg. und übers. von Harald Merklin. Stuttgart: Reclam, 2003, S. 123. Vgl. Cic. De fin. II 2: »is enim percontando atque interrogando elicere solebat eorum opiniones, quibuscum disserebat, ut ad ea, quae ii respondissent, si quid videretur, diceret.«

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darin, dass Sokrates dialektisch fragend spielt und die Sophisten eben nicht? Dass Sokrates sich gegenüber den Sophisten verstellen konnte, ist zuvor schon angesprochen worden – Ficino spricht ihm sogar zu, er habe selbst quasi sophistische Energie entwickelt: Sokrates sei auch als Sophist bezeichnet worden, erklärt er in De amore, weil er gleichwertig beeindruckende Fähigkeiten des Überredens und Abratens besaß.32 Das Verhältnis der platonischen Philosophie zur sophistischen Kunst ist also erst einmal nicht so eindeutig, auch wenn Sokrates nach Cicero nur spielend damit zu tun haben scheint. Versuchen wir, es mit Platon näher zu bestimmen. Die Sophisten, so erklärt ein eleatischer Fremder im platonischen Sophistes, sind nicht diejenigen, welche die tatsächlich Weisen imitieren, also ein Ebenbild erzeugen. Vielmehr erschaffen sie sich verstellend ein Trugbild, das also, gleich der Malerei, nur schön zu sein scheint. Entsprechend lächerlich sei auch ihr Anspruch, über alles Bescheid zu wissen und zu allem etwas sagen zu können, was ja eher als Scherz zu verstehen sei.33 Ebenso heißt es in Platons Euthydemos, dass sie nur Spiele spielen würden, und daraus wird in Ficinos Umschreibung: Plato insignis charitate vir in Euthydemo quemadmodu[m] et sepe alibi studet a[n]i[m]os ad seria natos a vanis sophistaru[m] nugis avertere: onstende[n]s eos vel ubi de rebus gravissimis agit[ur] / ludere: spemq[ue] audie[n]tiu[m] ubiq[ue] deludere.34 (Plato, ein Mann bekannt für seine Nächstenliebe, versucht im Euthydemos, wie auch oft anderswo, die für ernsthafte Dinge geborenen Geister von den eitlen Dummheiten der Sophisten abzuwenden, indem er zeigt, dass sie bei der Verhandlung von ernsthaften Dingen spielen und die Hoffnung ihrer Zuhörer stets täuschen.)

Die Wiederholung von ludere im darauffolgenden deludere verweist hier deutlich auf die im Sophistes entwickelte Charakterisierung der Sophisten: Sie spielen ein Spiel und spielen damit vor, etwas zu sein, was sie nicht sind. Sie geben Versprechungen, die sie nicht erfüllen können. Ficino weist uns weiter darauf hin, dass Sokrates im Euthydemos sage, die ganze Schule der Sophisten sei ein bloßes Spiel der Worte. Mit witzigster Ironie beschwöre er daher selbige, nach den Spielen doch zu ernsthaften Angelegenheiten zu kommen.35 Wenn die

32 Die Stelle findet sich zitiert bei Allen (1989), Icastes, S. 26–27 Fußnote 28, vgl. Ficin, Marsil: Commentaire sur le Banquet de Platon. Ed. von Raymond Marcel. Paris: Les Belles-Lettres, 1956, S. 244: »Sophistam quoque Socratem Aristophanes comicus appellavit atque etiam sui accusatores. Quippe cui equa esset hortandi et dehortandi facultas.« 33 Vgl. Plat. Sophist. 233d–236d und 267d–268d, vgl. zu den Sophisten auch Ficinos Bemerkung in Ficin (1956), Commentaire, S. 219: »Sophistam Plato in Sophiste dialogo ambitiosum et subdolum definit disputatorem, qui captiuncularum versutiis falsum pro vero nobis ostendit cogitque eos qui secum disputant sibimet in sermonibus contradicere.« 34 Platonis Opera (1491), fol. 88va. 35 Vgl. ibid., fol. 88vb : »(…) tum socrates universus sophistaru[m] gymnasiu[m] / ait ludu[m]

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Sophisten demnach Spielen und Scherzen nachgehen, dann treibt für Ficino eben Sokrates seinerseits ernste Scherze und Spiele mit ihnen.36 Beide spielen also, allerdings grundverschieden. Die ernsten Scherze und anstrengenden Spiele des Pythagoras, Sokrates und Platon sind eben nicht leer, sie sind auf theologische Einsichten gerichtet und deshalb keine bloßen dialektischen Spielerein sophistischer Überredungskunst. Ihre spielerischen Methoden führen zu ernsthaften Dingen. Die Wendung animi ad seria nati in Ficinos Euthydemos-Paraphrase als Gegenbegriff zu den sophistischen Spielen erinnert dabei stark an die schon zitierte Wendung Ciceros aus De officiis, die auch Thomas von Aquin als Beweis unserer Ausrichtung aufs Ernste gegen ein Glück im Spielen diente. Zu diesen ernsten Dingen, die ciceronianisch unsere Natur ausmachen, können für Ficino also auch platonische dialektische Spiele als Heilmittel gegen die Sophisten-Spiele führen. Damit hinterfragt diese Charakterisierung platonischer Philosophie nicht zuletzt eine Weise des Philosophierens, die ausdrücklich als ernst verstanden werden will: den aristotelischen Ansatz. Schon im Vorspiel habe ich darauf hingewiesen, dass der Florentiner Donato Acciaiuoli den Kommentar seines byzantinischen Lehrers Argyropulos zur Nikomachischen Ethik des Aristoteles verschriftlichte und diesem ein beträchtlicher Erfolg zuteilwird. Im Kommentar zum sechsten Kapitel des zehnten Buchs, in dem Aristoteles die Frage stellt, ob das Ziel unseres Lebens im Spiel bestehe, berichtet Acciaiuoli, weshalb wir iocus et ludus nicht als unser höchstes Gut sehen sollten: »Scherz und Spiel (iocus et ludus) sind den ernsten Dingen (res seriae) weit unterlegen, doch die Glückseligkeit ist jenen nicht unterlegen, weshalb also unser Glück nicht in Scherz und Spiel besteht.«37 Unser Glück begründe sich vielmehr in einer ernsten Aktivität des besten Teils unserer Seele, eben dem rationalen, in einer operatio studiosa.38 Die Zusammensetzung von serio und iocari sowie ludere und studiosissime führt daher Begriffe zusammen, die auch noch in der Florentiner Interpretation des Argyropulos kontradiktorisch zueinander gedacht werden: Sie schließen sich eigentlich gegenseitig aus. e[ss]e verbo[rum] (…). Obsecrat deinde facetissima quada[m] ironia sophistas / ut post ludos ad seria venia[n]t (…).« 36 Michael J.B. Allen hat darauf hingewiesen, dass es im (neu)platonischen Denken auch eine Art »höhere Sophistik« gebe, insbesondere bezogen auf ein den Ficino verfügbaren griechischen Handschriften des Sophistes vorangestelltes Scholion, welches der Florentiner Proklus zuschrieb und in seine Einleitung zu dem Dialog in der 1484er Ausgabe der Werke aufnahm. Da aber die Sophisten in der zitierten Stelle des Parmenides-Kommentars zu pejorativer Abgrenzung bemüht werden, beschränke ich mich auf diese Linie; zur höheren Sophistik vgl. Allen (1989), Icastes, S. 23–31 und 83–116, der Text des Scholions auf S. 283– 284. 37 Vgl. Aristoteles (1542), Principis Ethicorum, fol. 195v :«Iocus et ludus est longe inferior rebus seriis, sed felicitas non est inferior illis ergo felicitas non consistit in ioco atque ludo.« 38 Vgl. ibid., fol. 195r–195v.

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Zu den Florentiner Peripatetikern um Argyropulos stehen Platons ernster Scherz und eifrigstes Spiel für Ficino jedoch nur scheinbar in Widerspruch. Denn ebenso wie Pico war ihm daran gelegen, eine Konkordanz zwischen Aristoteles und Platon herzustellen – natürlich aber mit einem Aristoteles, der seinem Lehrmeister deutlich untergeordnet war.39 Hatte Pico also noch behauptet, Platon würde unter einer dialektischen Übung keine besonderen Geheimnisse verbergen, so bringt Ficino nun in seinem Parmenides-Kommentar die mit göttlichen Geheimnissen unterlegte platonische Dialektik in die Nähe aristotelischer Logik. Auch Aristoteles, so führt er aus, habe theologische Sachverhalte in der Dialektik behandelt – vermutlich in Imitation seines Lehrers Platon.40 Gegen Pico argumentiert er also dafür, dass beide gerade in der Bindung der Dialektik an Theologie übereinstimmen. Ernste dialektische Spiele können entsprechend zu denselben ernsten Dingen wie bei Aristoteles führen, wenn es etwa wie bei Sokrates gilt, die Arroganz der Sophisten zu zerschlagen. Nehmen wir nun alles zusammen, ergibt sich ein komplexes Bild. Die besondere und teilweise widersprüchliche Form des Parmenides erklärt Ficino philosophiehistorisch, basierend auf einer intratextuellen Einordnung, zu einem anstrengenden Spiel. Gegen Pico betont er damit, dass der Parmenides kein leeres dialektisches Spiel sei. Zu berücksichtigen habe man, dass sich Pythagoras, Sokrates und Platon in der Auseinandersetzung mit den bedeutungslosen Spielen der Sophisten Methoden der Verschleierung bedienten und zudem ihrerseits ein Spiel spielten, das sich jedoch vom sophistischen grundlegend unterscheide. Dem im Parmenides durchexerzierten sokratischen Frage-AntwortSpiel, der von Cicero beschriebenen spielerischen interrogativen Dialektik gibt er eine wahrheitsvermittelnde Richtung: Gegen die Arroganz der Sophisten habe Platon ernsthaft gescherzt und angestrengt gespielt, stets gebunden aber an die Vermittlung theologischer Einsichten. Diese Formulierung muss mindestens für Ficinos philosophisch gebildetes Publikum paradox erscheinen, weil sie eine feste Grenze aristotelischer Spielphilosophie überschreitet. Gerade weil sie aber auf Grundlage aristotelischer Differenzierungen paradox erscheint, kann Ficino eine Auflösung bieten und seine platonischen Spiele in Zusammenhang mit einem peripatetischen Rahmenwerk setzen: Auch scheinbar sophistische Spielereien können in bestimmten Situationen zur Vermittlung ernster Angelegenheiten dienen. In zweifacher Hinsicht eröffnet sich damit eine attraktive Interpretationslinie für Ficino: Erstens war Platons Parmenides nicht leeres Dialektiktraining. Zweitens konnte man, wie Platon also zeigte, ernste theologische Wahrheiten auch spielerisch vermitteln, was dem elitären und vielbeschäftigten Rezipien39 Vgl. hierzu auch Vanhaelen (2009), Pico-Ficino Controversy, S. 308. 40 Vgl. In Parmenidem, I, S. 32–34.

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tenkreis von Ficinos Platonauslegungen näher gestanden haben dürfte als ausführliche Aristoteleskommentierungen.41 Wir können daher feststellen, dass die Begriffe ludus und iocus dem Florentiner zweimal als philosophische Analyseinstrumente dienten: Einmal philosophiehistorisch als Mittel der Unterscheidung zweier an einer Auseinandersetzung beteiligter Formen des Denkens; zweitens in einer paradoxen Formulierung als Überschreitung einer peripatetischen Differenz von ernster Philosophie und Spiel. Beide Male ist ihr Zweck, die seltsame Form des Parmenides einzuordnen und verständlicher zu machen. Das serio iocari et studiosissime ludere ist so eine spezifisch gegen Pico gerichtete Interpretation platonischer Philosophie als antisophistische Technik theologischer Wahrheitsvermittlung.42 Die Form der Philosophie ist damit bei Ficino zwar zeitlich bedingt, insofern sie einer spezifischen historischen Situation gegen die Sophisten Rechnung trägt. Die Wahrheit dahinter bleibt allerdings stets die gleiche. Von dieser im Kern gleichbleibenden spielerischen Theologie ausgehend scheint mir nun ein passender Moment, um den zweiten Interpreten platonischen Spielens ins Gespräch zu bringen. Denn das spielerische Potential sokratischer Philosophie konnte man entschieden skeptischer aktualisieren, wie Sperone Speroni in seiner Verteidigung gegen die Inquisition bewies. Die bei Ficino angelegte Nähe sokratischen Philosophierens zur Sophisterei verliert sich für Speroni in gänzlicher Unschärfe – platonisches Dialogisieren wird ein erholsames Spiel, das jeglichen Wahrheitsanspruch verliert.

Sperone Speroni: Syllogismuskämpfe und die Gärten des Dialogs Als Sperone Speroni schon 74 Jahre alt geworden war, musste er sich vor der Inquisition für ein jugendliches Werk verteidigen, dass er nach eigenem Bekunden 54 Jahre zuvor, also im Jahr 1520 verfasst hatte. In seinen Dialogi be41 Vgl. Hankins (1994), Plato, S. 272–274 und 296–300. 42 Die Verbindung von Spiel und vorchristlicher Theologie ist gegen Ende des 15. Jahrhunderts übrigens nicht nur Ficino in den Sinn gekommen: Im selben Jahr lässt Faber Stapulensis die Rythmomachia in einem Dialog, der als Anhang einer ausführlichen Arithmetik des Jordanus Nemorarius und einer musikalischen Abhandlung beigegeben ist, durch den Pythagoras-Schüler Alkmenon erklären und verleiht ihr ebenfalls theologische Relevanz. Denn in dem Dialog mit zwei Schülern erläutert Alkmenon zuletzt, dass das Spiel zur stillen Kontemplation des Göttlichen und zu einem tugendhaften Leben anrege, vgl. Faber Stapulensis (Hrsg.).: Arithmetica decem libris demonstrata (…). Paris: Joannes Higmanus und Volgangus Hopilius, 1496, der Dialog auf den fol. i6v–i8v, vgl. hierzu Borst (1986), Zahlenkamfspiel, S. 26–27 und 223 Fußnote 18, auch Moyer (2001), The Philosopher’s Game, S. 77, zur Verbindung mit Pico über eine Italienreise und die pythagoreische Linie platonischer Philosophie vgl. S. 78.

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handelte Speroni, der beim berühmten Aristoteliker Pietro Pomponazzi studiert und in Padua Philosophie unterrichtet hatte, auch amouröse Themen, wie etwa in einem Dialogo d’amore. Bei einem anonymen Denunzianten hatten diese offenbar Anstoß erregt. Als Reaktion verfasste Speroni eine Schrift, die er einigen Freunden zukommen ließ, um sie öffentlich verlesen und seinen Namen so vor weiteren Anschuldigungen verteidigen zu lassen. Seine Apologia dei dialogi, die zunächst aus zwei Büchern bestand und erst später um zwei zusätzliche erweitert wurde, entwickelt dabei eine heute vielzitierte Theorie des Dialogs, die offensiv dessen besondere philosophische Stellung aufzeigt.43 Zwei Einordnungen sind zunächst zentral: Speroni behauptet erstens, dass jeder Dialog der commedia ähnele.44 Das ist kein Dantebezug, sondern eine Referenz auf Basilius und den spätantiken Satiriker Lukian.45 Im Unterschied zu seinem dialogtheoretischen Vorgänger Carlo Sigonio, der den Dialog als spezifisch philosophische Gattung beschrieben, Cicero sowie Platon als dessen brillanteste Exponenten herausgestellt und Lukian mit seinen satirischen Themen 43 Einen Überblick zur Literatur über Speroni bietet Guthmüller, Bodo: Zur Theorie des Dialogs im späteren Cinquecento: die Apologia dei Dialogi des Sperone Speroni (1574). In: Guthmüller, Bodo und Müller, Wolfgang G. (Hrsg.): Dialog und Gesprächskultur in der Renaissance. (=Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 22) Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, 2004, S. 165–181, Literatur allgemein zu dialogtheoretischen Erörterungen der Renaissance auf S. 165 Fußnote 2, zu Speroni S. 167 Fußnote 11 und 12; ich zitiere die Apologia im Folgenden nach der Werkausgabe dalle Laste, Natal und Forcellini, Marco (Hrsg): Opere di M. Sperone Speroni degli Alvarotti tratte da’ mss. originali. Venedig: Domenico Occhi, 1740, Band 1, S. 266–425 (im Folgenden als Apologia). Der erste Teil des Dialogs wurde mit hilfreichen Anmerkungen ediert von Pozzi, Mario (Hrsg.): Trattatisti del Cinquecento. Band 1. Mailand: Ricciardi, 1978, S. 683–724, hier auch zu den 1542 erstmals gedruckten Dialogi S. 1178–1187, zur Inquisition und dem anonymen Ankläger S. 683 Anm. 1; Speronis Text ist, soweit mir bekannt, bislang meist literaturwissenschaftlich bearbeitet, weniger philosophiehistorisch eingeordnet worden. Die philosophiehistorischen Seitenblicke auch auf Speronis Dialogi beschränken sich meist auf knappe Nebenbehandlungen wie bei Cesare Vasolis Patrizi-Studie, in der vor allem die aristotelische Basis Speronis betont wird, vgl. hierzu Haberl, Christina: Di scienzia ritratto. Studien zur italienischen Dialogliteratur des Cinquecento und ihren Voraussetzungen. (=Deutsche Hochschuledition Band 115) Neuried: Ars una, 2001, S. 56–57, zu Vasoli selbst vgl. Vasoli, Cesare: Francesco Patrizi da Cherso. Rom: Bulzoni, 1989, S. 30–32. Mit der Lesart als auch offensiv schließe ich mich Guthmüller (2004), Zur Theorie, S. 168–169 an, der sich gegen die einseitige Betonung des Verteidigungscharakters der Schrift durch Jon Snyder wendet, vgl. hierzu Snyder, Jon: Writing the Scene of Speaking. Theories of Dialogue in the Late Renaissance. Stanford: Stanford University Press, 1989, zu Speroni S. 87–133, zu den Entstehungsbedingungen der Apologia S. 88–90, zu der späteren Entstehung der Bücher drei und vier vgl. Guthmüller (2004), Zur Theorie, S. 169. 44 Vgl. Apologia, S. 267. 45 Zu Basilius vgl. Saint Basile: Lettres. Band 2. Ediert und übersetzt von Yves Courtonne. Paris: Soci8t8 d’Pdition »Les Belles Lettres«, 1961, Brief CXXXV, 49–51, vor allem 50; zu Lukian vgl. Guthmüller (2004), Zur Theorie, S. 169; Lukian stellt die Nähe von Dialog und Komödie in seiner Schrift Prometheus an jemand, der ihn einen Prometheus im Schriftstellen genannt hatte her (vgl. ibid., Fußnote 18).

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zum Verunstalter dieser Dialogtradition erklärt hatte, findet bei Speroni also eine partielle Re-Lukianisierung der Dialogtheorie mit Verweis auf die commedia statt.46 Trotz der damit einhergehenden Öffnung des Dialogs auch für profanere als nur philosophische Themen stammen seine Vorbilder für gute Dialoge allerdings von einem philosophischen Autor. Speroni erklärt uns und der Inquisition, dass ähnlich der Komödie auch im Dialog verschiedene Personen auftreten und die verschiedensten Ansichten vertreten: »Und so hat der wohlgeformte Dialog, wie es derjenige Platons ist, viele und unterschiedliche Gesprächsteilnehmer, die Sitte und Leben erörtern, welche jeder von ihnen uns repräsentiert.«47 Die Idealform der von Speroni entworfenen Dialogtheorie wird, halten wir das fest, der platonische Dialog sein, verstanden als der commedia ähnlich. Aufbauend auf dieser Charakterisierung entwirft Speroni eine erste Verteidigungslinie: Die Dialektik und die Rhetorik seien zwei zum Beweisen und Überreden geeignete Künste, und insbesondere die Rhetorik wisse von ehrenvollen und unehrenhaften, den gerechten und ungerechten Dingen gleichermaßen zu handeln. Denn wie in der Medizin manchmal Gift notwendig sei, um eine Krankheit zu heilen, so bewundere man doch auch Anwälte, die gewandt einen Verbrecher verteidigten, oder den großen Isokrates, der in einer seiner Reden, um seine Kunst vorzuführen, selbst Helena lobe, deren Liebe doch zu Hass und zum Tod zahlloser Griechen und Trojaner geführt habe. Sogar Platon, dieser valentuomo, bezeichne in seinen Dialogen die Liebe als Gott und verdamme die Philosophie, die ja sein eigener Beruf gewesen sei. Dies allerdings erkläre sich aus einem seiner Briefe, in dem er behaupte, all das sei nicht seine eigene Meinung gewesen.48 Wie in der Rhetorik die Kunstfertigkeit also nicht 46 Vgl. Sigonius Mytinensis, Carolus: De dialogo liber. Venedig: Iordanus Ziletus, 1562, ausführlicher zur Verbindung Speronis mit Sigonio vgl. Müller, Gernot Michael: Zwischen Aristotelesrezeption und literarischer Praxis. Carlo Sigonios De dialogo liber und die Genese einer Poetik des literarischen Dialogs im 16. Jahrhundert. In: Hintzen, Beate und Simons, Roswitha (Hrsg.): Norm und Poesie. Zur expliziten und impliziten Poetik in der lateinischen Literatur der Frühen Neuzeit. (=Frühe Neuzeit 178) Berlin/Boston: De Gruyter, 2013, S. 7– 43, insb. S. 31–37, zu Lukian und Speroni S. 35–37. 47 Vgl. Apologia, S. 267: »cos' il dialogo ben formato, siccome H quel di Platone, ha molti e varii interlocutori, che tal ragionano, quale H il costume e la vita, che ciascun d’essi ci rappresenta.« Hier wählt Speroni einen ähnlichen ersten Ansatzpunkt wie Sigonio, vgl. Müller (2013), Zwischen Aristotelesrezeption, S. 33. 48 Vgl. Apologia, S. 268–69, zur Speronis Verteidigung über Platons Weigerung, sich auf persönliche Meinung festlegen zu lassen, vgl. insb. S. 269: »Certo non scema punto, ma lascia intieri di tai materie quei suoi dialogi scandalosi; e con sue sole due parolette queta il rumore, che ne puk nascere; scrivendo in fine di una sua lettera, che la dottrina piena di liti e contenzioni nei suoi dialogi dispensate, non era sua opinione: e non ha uomo oggid' tutta la nostra religione, n8 ha avuto infin ora, che a tale scusa non stia contento. Dunque il romore, che si suol fare delle materie e delle forme d’ogni dialogo in generale, si puk acquetar

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nach der Güte des behandelten Gegenstandes bewertet wird, so führt auch der Dialog Meinungen vor, die nicht denjenigen des Autors entsprechen. Das Argument entbindet Speroni zwar von der Verantwortung für einige zwielichtige Inhalte seiner Werke, wirft aber eine dringlichere Frage auf: Welche Funktion hat dann der Dialog überhaupt? Oder mit der soeben eingeführten MedizinMetapher gefragt: Welche Krankheiten will Speroni mit dem Gift auch amoralischer Meinungen im Dialog behandeln? Zu einigen Antworten führt die zweite zentrale Einordnung des Dialogs in ein aus der Politik zwar bekanntes, aber modifiziertes aristotelisches Konzept von Muße: Wie unser Leben aus Wachen und Schlafen bestehe, führt Speroni aus, so auch aus ozio und negozio, aus Beschäftigung und Muße. Da kontinuierliche Tätigkeit nicht möglich sei, müsse man sich erholen, wobei den Menschen am ehesten fortwährende Neuheiten gefielen. Dabei komme es vor, dass dem Redner, wie Cicero, das Philosophieren zum ozio werde, und dem Philosophen das Reden. Ja selbst Vergil wollte in seinen Mußestunden wissen, weshalb der Tag im Winter kürzer sei und es Sonnenfinsternissen gebe – der Poet interessiert sich also in seiner Freizeit für Naturphilosophie.49 Das ist eine Dynamisierung des Verhältnisses von Philosophie und Erholung, die im auf Kontemplation gerichteten aristotelischen Philosophenleben nicht zu finden ist. Auch die Philosophie kann der Entspannung dienen. Die Entstehung seiner Dialoge situiert Speroni nun im Rahmen dieses flexiblen ozio: Im Jahre 1520, seinem zugleich zwanzigsten Lebensjahr, habe er Vorlesungen für Logik und Philosophie in Padua gehalten, und dies sei sein negozio gewesen. Als Ausgleich habe er sich sodann nicht etwa Festen oder Kartenspielen hingegeben, sondern seinen ozio in den Dialogen über die Liebe gesucht. Das Thema der Liebe sei dabei erstens altersgemäß gewesen; zweitens sei das Sprechen über menschliche Affekte tatsächlich Teil der Profession des Philosophen.50 Wenn das Thema des Dialogo d’amore jedoch in den Bereich der eigentlichen Profession Speronis fiel, wird man berechtigterweise fragen dürfen, ob er als professioneller Philosoph nicht fälschlicherweise sein negozio zum ozio gemacht habe und daher die Arbeit in die Mußezeit ausdehnte. Zur eigentlichen seriösen Tätigkeit des Philosophen gibt es für Speroni allerdings einen entscheidenden facilmente (…).« Es ist der zweite Brief Platons, 314c nach Stephanus, gemeint, zu den übrigen Anspielungen vgl. Pozzi (1978), Trattatisti, S. 688. 49 Vgl. Apologia, S. 271–272, insb. S. 272: »perk aviene, che all’oratore e senatore della repubblica, siccome fu Cicerone, diventi ozio il filosofare, ed al filosofo il declamare eloquemente sia dolce gioco talora.« Vgl. zu Speronis ozio-Konzept auch Matuschek, Literarische Spieltheorien, S. 98–101; der in Arist. Pol. 1337b–1338a entwickelten Dreiteilung in Muße einerseits und Arbeit sowie Spiel andererseits folgt Speroni nicht und belässt es bei einer grundlegenden Dichotomie. 50 Vgl. Apologia, S. 272.

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formellen Unterschied: Er habe das Sujet im Modus des Dialogs behandelt, also sozusagen a giuoco, im Spiel und zur Muße.51 Denn man müsse beachten: »Verschiedenartig philosophierten die Alten, und verschiedenartig schrieben sie.«52 Zu sicherem Wissen, das man über die Natur erlangen könne, führe unter den verschiedenen Arten zu Philosophieren allein die aristotelische syllogistische Methode, die aus wahren Prinzipien schöpfe. Auch ziele Aristoteles sofort auf die »Beute«, ohne nutzlose Proömien – wie ein partigiano arrabiato ziehe er alle Wahrheit aus ihr, die eigentliche Nahrung des Intellekts. Man könne auch friedlicher sagen, er ähnele dem guten Ökonom, der nicht diletto zum Ziel habe, sondern das Heil seines Haushaltes, weswegen er die Felder gewissenhaft bestelle, bis diese gutes Getreide geben.53 Ein anderer Weg jedoch bestehe im Dialog, der zu Gärten und Weinbergen führe und nicht zu den campi contemplativi, deren Getreide uns ernähre. In diesen Gärten finde man Blumen, Kräuter, Höhlen – Dinge also, die uns erfreuen, vor allem durch Neuheit und Unterschiedlichkeit. Der Autor des Dialogs schweige daher selbst und lasse viele und unterschiedliche Personen von verschiedenen Sitten und Überlegungen auftreten.54 Auch gebe er kein abschließendes Urteil, denn so sei das Ganze »ein schönes Spiel« sowohl für den Leser als auch für den Autor.55 Man erkennt demzufolge die Oppositionslinie: Aristoteles befindet sich arbeitsam mit dem eher kriegerischen negozio, der ernsten Ökonomie des lebenswichtigen Getreides auf der einen Seite. Ihm gegenüber steht der vergnügliche platonische Dialog56, der im friedlichen ozio nur diletto verschaffen solle, im Garten der Blumen variierende, nicht lebenswichtige Dinge des Erfreuens wegen hervorbringt. Daraus ergibt sich eine klare Zweiteilung von

51 Vgl. ibid., S. 273: »se non che allora l’averne io scritto dialogizzando, puk esser segno a chi bene intende, che anzi a giuoco, che per ver dire, io nel mio ozio ne ragionassi.« 52 Vgl. ibid.: »Variamente filosofavano quegli antichi, e variamente scrivevano.« 53 Vgl. ibid. 54 Vgl. ibid., S. 274: »l’altra H il sentiero delli dialogi, per lo quale noi camminiamo anzi a’giardini ed alle vigne, che a’buoni campi contemplativi. Perk quivi in vece d’ozzo e di grano, il quale H fatto per nutricarci, son solamente con qualche nostro diletto Fior, frondi, erbe, ombre, antri, onde, aure soavi. E perciocchH di quelle cose, che noi usiamo per dilettarci, una H certo, e forse prima, la variet/ e novit/. Quindi aviene, che l’autor del dialogo messa in silenzio la sola e propria sua voce, riempie quelli varii nomi e costumi, e novi e varii ragionamenti (…).« Die Reihung ab fior ist ein Petrarca-Zitat aus Canz. CCCIII, vgl. Pozzi (1978), Trattatisti, S. 694, was die Nähe des Dialogs auch zur amourösen Thematik unterstreicht. 55 Vgl. Apologia, S. 275: »(…) ed H un bel giuoco di tutti due.« 56 Die exemplarische Funktion platonischer Dialoge hierfür betont Speroni nochmals nachdrücklich, vgl. ibid.: »Ma ritornando al dialogo (del buono parlo, quale era quel di Platone) (…).«

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ernster aristotelischer Philosophie als Arbeit an der Universität und platonischem Dialogisieren als spielerische Muße in der Freizeit.57 Speroni betrachtet seinen platonischen ozio demnach als Erholung von der Arbeit der universitären Lehrtätigkeit. Diese ist nicht nur ein in der Nikomachischen Ethik entwickeltes Ideal der von praktischen Belangen befreiten Muße philosophischer Kontemplation, sie ist eben Arbeit – und damit entsprechend der scholastischen Lektüre aristotelischer Texte durch Albert und Thomas erholungsbedürftig. Speronis argumentativer Trick besteht nun in der Einführung der Prämisse, dass man diese Erholung auch in der Philosophie finden könne. Zumindest für den angestellten Universitätsphilosophen bedeutet dies aber eine spezielle Form von Philosophie, nämlich spielerische platonische Dialoge. Deren spezielle Eigenschaften erlauben jedoch nicht, sie nach inquisitorischen Maßstäben von wahr und falsch zu bewerten. Denn diese zweite mögliche Form des Philosophierens hat, wie wir gleich sehen werden, als Imitation unterschiedlicher Meinungen für Speroni keinen wahrheitsstiftenden Charakter. Zunächst unterscheidet er zwei Arten von Dialogen: Diejenigen nach Ciceros Modell, in denen der Autor Teil des Dialogs sei, und diejenigen Platons und Lukians, in denen nicht der Autor, sondern, wie in der commedia, viele von ihm verschiedene Personen auftreten. In letzterem seien diese ritratti dal naturale, also Imitationen tatsächlicher Personen.58 Die Imitation in diesem Dialog sei »(…) eine komische Sache und Poesie ohne Verse. Sie ist also Spiel und Vergnügen, und sie ist müßiges Vergnügen.«59 Wie dem Poeten und Maler müsse es auch dem Dialogschreiber erlaubt sein, Disputationen über jedes Thema zu imitieren, und wie eben schreckliche Löwen im Bild auf einmal großen Gefallen hervorrufen, so auch falsche Meinungen im Dialog, der Schlagabtausch, die Ironie. Denn wem gefalle es nicht, wenn Sokrates die Sophisten mit ihren eigenen Sophistereien täusche?60 Der entscheidende Punkt aber ist folgender : Mit den platonischen Dialogen 57 Man könnte auch argumentieren, dass Speroni explizit von niedrigen Spielen wie Kartenspielen sich absetzend mit den platonischen Dialogen eine edlere Form der Muße konstruiert. In einem kleinen Traktat über Spiele tadelt Speroni Kartenspiele und lobt stattdessen Ballspiele, beschreibt vor allem Schach als esercizio di belli ingegni, vgl. Speroni, Sperone: Del Gioco. In: Speroni (1740), Opera, Band 5, S. 441–442. 58 Vgl. Apologia, S. 275–76; die Imitation als Ausgangspunkt geht wohl auf Arist. Poet. 1447a-b zurück, wo auch sokratische Dialoge unter mimetischer Prosa aufgeführt sind. 59 Apologia, S. 276 (Übersetzung ab cosa): »(…) la imitazion nel dialogo H cosa comica e poesia senza versi. H dunque giuoco e diletto, ed H diletto ozioso.« Zur Verbindung von Dichtung und Spiel in der Muße durch einen Pseudo-Vergilbezug bei Speroni vgl. Matuschek (1998), Literarische Spieltheorien, S. 99–101, der anmerkt, dass ludere und otium als Charakterisierung der Bukolik bei Vergil hier als poetisch-utopischer Gegenentwurf zur Realität zu verstehen sind, entsprechend auch einen Schutzraum des Dichters bezeichnen. 60 Vgl. Apologia, S. 276–79; das Vergnügen am Schrecklichen findet sich auch in Arist. Poet., 1448b (Kapitel 4).

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imitiere man nicht nur die handelnden Personen, sondern ebenso la vera e certa scienzia, die wahrheitsproduzierende Wissenschaft nach aristotelischer Methode. Entsprechend der Poetik des Aristoteles, in der die Dichtung sich durch Imitation, die Tragödie sich speziell durch Imitation u. a. der Erkenntnisfähigkeit von Personen auszeichnet,61 sei die wahre und sichere Erkenntnis der metodo Aristotelico imitata e ritratta. Wie auch in der commedia nicht wirkliche Lügner und junge Verliebte auftreten, so lasse Platon nicht wirklich Sokrates oder Alkibiades sprechen, sondern zeichne sie bloß in einer Weise, die den Streit fortlaufen lasse.62 Die dialogischen Syllogismen sind demnach Imitationen der wahren demonstrativen Syllogismen: Quella primiera cognizione, la quale H certa ed invariabile, H veramente scienzia, ed H chiamata dimostrativa; perch8 H fattura del sillogismo dimostrativo (…). questa scienzia dimostrativa H quel buon grano, che H proprio pasto dello intelletto; il qual grano se in campo alcuno si puk ricoglier, tale H nel vero l’Aristotelico. Delle altre cose non certamente sapute, parte impariamo con sillogismo dialettico; e questo genera opinione (…).63 (Diese vorderste Erkenntnis, die sowohl sicher als auch unveränderlich ist, ist tatsächlich Wissen und wird demonstrativ genannt; denn sie wird gewonnen aus dem demonstrativen Syllogismus […]. Dieses demonstrative Wissen ist das gute Getreide, das wirklich die Nahrung des Intellekts ausmacht und das man, wenn es auf irgendeinem Feld gesammelt werden kann, in Wahrheit nur auf dem aristotelischen findet. Die anderen Dinge, von denen man nicht sicher wissen kann, lernen wir teilweise mit dialektischem Syllogismus; und dieser erzeugt Meinung […].)

Teilweise lernen wir die unsicheren Dinge also durch dialektische Syllogismen, wie bei Platon, Sokrates und Xenophon; teilweise, so ergänzt Speroni weiter, durch Überzeugung aus Enthynemen und Beispielen, durch die Redekunst in ciceronianischer Manier also.64 Auf unsichere Weise imitieren die dialektischen Syllogismen der Dialoge daher die perfekten Syllogismen der wahren Wissenschaft: »Und wenn Imitieren Spielen ist, dann ist die Meinung Spiel, die man im 61 62 63 64

Vgl. Arist. Poet. 1449b–1450a. Vgl. Apologia, S. 280. Ibid. Vgl. ibid., S. 280–281; Speroni bemerkt hier knapp, dass Dialoge Meinung generieren, wenn sie nicht im Spiel gemacht sind, schreitet dann aber fort, die aus dialogischer Imitation generierte Meinung als Spiel zu bezeichnen. Auf den etwas paradoxen Zusammenhang verweist Cox, Virginia: The Renaissance Dialogue. Literary Dialogue in It’s Social and Political Contexts, Castiglione to Galileo. Cambridge: Cambridge University Press, 1992, S. 73. Ohne eine eindeutige und gezwungen kohärente Lösung für die wenig lineare Verteidigungsschrift Speronis zu konstruieren, könnte man meiner Ansicht nach geltend machen, dass hiermit der Anspruch eine wahrscheinlichen Meinung in ernsten dialektischen Syllogismen gemeint sei, nicht aber Speronis Spieldialoge – diese werden ja gerade durch ihren Spielcharakter verteidigt. Vgl. zur grundlegenden Unterscheidung zwischen dialektischen, demonstrativen und erristischen Syllogismen Arist. Top. I 1 (100a-b).

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Dialog erzeugt.«65 Dies gelte ebenso für die Rhetorik: Wegen ihrer größeren Unsicherheit sei die durch Rede herbeigeführte Überzeugung, als Bild des Bildes, als Bild der Meinung also, ebenfalls ein Spiel.66 Wenn nun aber alle speronianischen Dialoge als Imitationen schon nicht ganz ernst zu nehmen sind, so bleibt dennoch und vielleicht dringlicher die Frage bestehen, welchen Nutzen diese spielerische Imitation zwielichtiger Themen dann habe. Speroni jedenfalls bemüht sich, neben dem diletto zwei weitere Vorteile aufzuführen. Zum einen erklärt er, die Einführung dümmlicher Charaktere erzeuge zwar Vergnügen, allerdings sei deren Unwissenheit auch nützlich bei der Suche nach Wahrheit. Denn der Mensch strebe von Natur nach Wissen, werde jedoch von Denkfehlern behindert. Diese könne man auf zwei Arten beseitigen: Entweder durch Studium der aristotelischen Methode, oder aber durch den Dialog. Denn wenn in letzterem Meinungen wie Eisen auf Stein gegeneinanderschlagen, fliegen vielleicht einzelne Funken der Wahrheit, die schon für sich funkle, und erzeugen, wenn sie auf guten Zunder fallen, eine Flamme – vorausgesetzt, sie werden von verständnisvollen Lesern mit der richtigen Nahrung, dem Studium, versorgt. So neige sich der Geist vom diletto, vom Spiel der Wörter zum Verständnis, das unter dem Lachen sich verberge.67 Hätte er also sicheres Wissen von den in seinen Dialogen verhandelten Gegenständen gehabt, beteuert Speroni weiter, so hätte er aristotelisch geschrieben. Doch wählte er den Dialog. Dies sei ein Zeichen gewesen, dass er selbst nicht aus wissender, sondern aus disputierender, lernender Position geschrieben habe.68 Speroni präsentiert seine Dialoge folglich als eine Einladung zum Diskurs, den der Dialog selbst unernst als Spiel inszeniert. Denn wie die Dichtung keine 65 Apologia, S. 281: »e se imitare H giuocare, giuoco H dunque la opinione, la qual si genera nel dialogo.« 66 Vgl. ibid.: »e per la molta incertitudine la persuasion oratoria, la quale H imagine delle imagini, H giuoco anche essa (…).« Snyder hat darauf hingewiesen, dass die Imitationstheorie Bezüge zum zehnten Buch der Politeia aufweise und dem Sophistes nahe stehe, insofern die Nachahmung nicht wie in der Poetik des Aristoteles eine persönliche Konzeption eines Gegenstandes durch einen Autor sei, sondern ontologisch unterlegen ein bloß defizitäres Abbild perfekter Erkenntnis, vgl. Snyder (1989), Writing the Scene, S. 124–129; ich halte diese Lesart allerdings, ohne Snyders berechtigten Hinweis auf eine mögliche Verbindung zu bezweifeln, für zu einseitig platonisch, auch weil das abgestufte Schema verschiedener Syllogismen dem aristotelischen Organon entspricht – und auf die These, dass der Dialog bei Speroni überhaupt nicht als defizitär, sondern als angemessen für den politischen Bereich begriffen werden könnte, werde ich gleich noch einmal kommen, vgl. unten Fußnote 75. 67 Vgl. Apologia, S. 281–284. 68 Vgl. ibid., S. 284: »Io se di quello che ci si tratta, avessi avuto certa scienzia, non ne faceva dialogi; ma arei scritto ogni cosa alla maniera Aristotelica. Dunque per vero tale scrissi, quale sapeva; e fu modestia per avventura scrivendo a giuoco scriver in guisa li miei concetti, che si accorgesse il lettore, che io in tal caso non sapiente o maestro, ma disputante piF tosto e condiscepolo seco insieme volessi essere riputato.«

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Wissenschaft und der Dialog eben Dichtung sei, so sei auch der dialogista furioso, denn sein Werk sei ein Witz.69 Dieser Witz hat allerdings noch eine dritte Funktion in einem therapeutischen Nutzen, wie ihn Aristoteles in seiner Poetik auch der Tragödie zuspricht.70 Das Schreiben sei zwar eitel, und der Dialog spreche eitel, wenn er von Spiel zu Spiel irre ohne sich der Wahrheit zu nähern – sinnlos sei dies jedoch nicht.71 Immerhin entstehe bei der Betrachtung der amourösen Situationen Freude, und aus dieser Betrachtung erwachse das Verlangen, die seltsamen Effekte der Liebe besser kennenzulernen. Auch könne man die Dialoge als Spiegel der Liebenden betrachten, sozusagen als abschreckendes Beispiel, so dass man, sich selbst erkennend und nun mit den Lastern vertraut, tatsächlich Rat oder sogar eine Heilung von den amourösen Affekten aus den Dialogen ziehe.72 So können die zur Rekreation spielerisch gefertigten Abbildungen doch noch, um wieder auf die Medizin-Metapher zurückzukommen, eine kathartische heilende Wirkung entfalten. Die platonischen Dialoge als Spiel bei Speroni haben demgemäß zwar dreifachen Nutzen, vermitteln aber keinerlei Wahrheiten. Insinuiert Speroni damit gegen Ficino die Identifikation platonischer Dialoge mit den sophistischen Spielen, die keine direkten Wahrheiten vermitteln? Wie John Snyder herausgestellt hat, wendet Speroni in seiner Apologie verschiedene, durchaus nicht immer kohärente Verteidigungslinien an, um seine Dialoge von Vorwürfen freizuhalten. Die Argumentation verläuft daher eben nicht systematisch und durchaus sprunghaft.73 Einerseits gibt Speroni etwa klare Einordnungen platonischer Dialoge als Philosophie: Er hatte behauptet, dass die Alten verschiedenartig philosophierten und den Dialog zu einer dieser Formen erklärt. Auch bezeichnete er die Philosophie als die Profession Platons. Andererseits war Speroni das Dialogisieren auch imitierende poesia. So weist er mit der engen Bindung an die Philosophie und dem Aufrufen eines distinguierten Philosophen als Autor der idealsten Dialoge dem Dialog mindestens eine letztlich unbestimmte Stellung zwischen poesia und philosophia zu, da dieser, obwohl er eine Imitation wissensproduzierender Praktiken ist, an die Sicherheit aristotelischer scienzia doch nicht heranzukommen vermag. Dass die Opposition scienzia/poesia allerdings selbst nicht ganz ernst zu 69 Vgl. ibid., S. 284–85, insb. S. 285: »(…) ed H poema il dialogo, e furioso il dialogista, come il poeta: perk H scherzo la sua scrittura, perch8 dipinge, ma non incarna le cose scritte.« 70 Vgl. zur affektiven Reinigung, also der Katharsis durch die Tragödie, etwa Arist. Poet. 1449b (Kapitel 6). 71 Vgl. Apologia, S. 285: »Parla anche in vano il dialogo, mentre che egli erra di giuoco in giuoco senza appressare alla verit/; mal il vaneggiar in tal modo non H cosa empia n8 disonesta (…).« 72 Vgl. ibid., S. 286–290. 73 Vgl. Snyder (1989), Writing the Scene, S. 91–92 und S. 132–133.

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nehmen ist, macht Speroni im dritten, erst nachträglich entstandenen Buch seiner Apologie deutlich. Am Ende desselbigen entwirft er einen Dialog, der seinen Ausgang von einer in Rom abgehaltenen, angeblich sophistischen disputatio nimmt. Die abendliche Gesellschaft um den Kardinal Amulio macht sich an die Bestimmung des kontroversen Begriffs sofisteria, und neben ausführlichem Lob für die Sophistik und einer philosophiehistorischen Kontextualisierung der Sophistenbewegung kulminiert die Unterredung in der abschließenden Ausführung des Kardinals, dass eigentlich alles, ob Philosophie oder Wissenschaft, allgemein Sophisterei sei, wenn nicht der Glaube damit einhergehe.74 Das erinnert an die schon angesprochene Passage der Nomoi, die alle außer die auf Gott zielenden Handlungen zu einem Spiel erklärte, macht allerdings ebenso klar : Wenn alles sophistisches Spiel ist, dann ist der Dialog als Spiel widerstreitender Meinungen eigentlich, wie Christina Haberl herausgestellt hat, eine brillante Abbildung dieser epistemologisch uneindeutigen Situation.75 Da die Passage jedoch aus einem Dialog stammt, von dem wir ja nun wissen, dass sein epistemologischer Standpunkt fragwürdig ist, können wir abschließend nicht einmal das sicher sagen: Ist dies alles sophistisches Spiel? Der Text sträubt sich gegen eine eindeutige Einordnung, was auch einer seiner zentralen Zwecke als Verteidigungsschrift zu sein scheint.76 Erwähnenswert ist jedenfalls, dass Speroni auch Traktate mit den Titeln Contra Socrate und In Difesa dei Sofisti verfasst hat, in denen er ausführt, dass Sokrates die Sophisten zwar mit ihrem übermäßigen Wahrheitsanspruch lächerlich gemacht habe. Lobenswert sei allerdings eine Art höhere Sophistik derjenigen Rhetoriker und Dialektiker, die sich bewusst halten, dass in der Moral kein sicheres Wissen möglich sei und es auf Meinungen und Überredungskunst ankomme.77 Für diese unsichere Vielfalt wären seine Dialoge entsprechend perfektes Anschauungsmaterial. 74 Der Dialog findet sich in Apologia, S. 361–391, die abschließenden Bemerkungen des Kardinals auf S. 389–391, die Charakterisierung »Ecco adunque verificata quella parola dell’accademico, tutto il mondo H sofisteria, e questa insieme con esso lei, che’l mondo istesso H sofista (…).« (S. 391) erinnert an das schon angesprochene Scholion vor dem Sophistes, vgl. Fußnote 36 dieses Kapitels. 75 Vgl. Haberl (2001), Di scienzia, S. 55–65, insb. S. 63, die sich damit gegen die von Snyder aufgestellte These einer rein literarischen Bedeutung der Dialoge Speronis wendet; zur sophistisch-paradoxen Argumentationsweise bei Speroni in Verbindung mit manieristischen Grottesken vgl. auch Girardi, Raffaele: La societ/ del dialogo. Retorica e idiologia nella letteratura conviviale del Cinquecento. (=Biblioteca di critica e letteratura 28) Bari: Adriatica Editrice, 1989, S. 81–103, zu speronianischen Sophismen ders.: Ercole e il granchio: figure della sofistica speroniana. In: Giornale storico della letteratura italiana 167 (1990), S. 396–411. 76 Vgl. Snyder (1989), Writing the Scene, S. 92. 77 Auf die Traktate verweist Matuschek (1998), Literarische Spieltheorien, S. 92–93 Fußnote 7, vgl. Speroni (1740), Opere, Band 5, S. 418–419 und 430–432. Den Sophistes kennt Speroni natürlich auch und spielt in Apologia, S. 371 darauf an, lässt auf S. 372 den Dialogteilnehmer

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Zwischenstand: Zwei Versionen von Platon Da nun die beiden Verwendungsweisen platonischer Texte bei Ficino und Speroni zur Konstruktion ludischen Philosophierens dargestellt sind, möchte ich einen ersten Vergleich anstellen. Wiewohl Speronis Verwirrungstaktik mit den letzten beiden Teilen seiner Apologia ins Unergründliche abgleitet, liefert er dennoch insbesondere im ersten Teil einer sehr präzise Einordnung platonischer Dialoge. Demnach gewinnen sie ihre Bedeutung erst aus ihrem Verhältnis zur aristotelischen Philosophie. Diese erzeugt, mindestens hinsichtlich natürlicher Zusammenhänge, sicheres Wissen. Die sicheren Syllogismen können aber imitiert und als dialektische Syllogismen, die nicht von unbedingt wahren Voraussetzungen ausgehen, auf wahrscheinliche Inhalte angewandt werden. Im vielfältigen dialogischen Spiel der Meinungen, das der Philosoph zur Entspannung betreibt, ist die Darstellung jeder Position, ob falsch oder wahr, erlaubt. Es verschafft Vergnügen, Anreiz zum Studium und bestenfalls die Therapie von Affekten. Auch bei Ficino konnte Platon ein Doktor sein, der falsche Meinungen aus den Seelen seiner Schüler tilgte. Doch eine scherzhafte und spielerische Art des Philosophierens setzte er dabei funktionell zur Lockung attischer Jugend oder gegen die Hochnäsigkeit der Sophisten ein. Das sophistische unernste Spiel war demgegenüber insofern gegenstandslos, als es nicht mit der Vermittlung unterliegender theologischer Einsichten verbunden war – ein platonisch ernsthaftes Spiel als antisophistische Technik unterschied sich fundamental von einem derartigen bloßen Dialektikwettstreit. Die Konzeptionen der platonischen Philosophie als Spiel eröffnen zwischen ihren beiden Interpreten Ficino und Speroni demnach erhebliche Differenzen, die sich insbesondere in der offenbar unvermeidlichen Klarstellung des Verhältnisses platonischer Spiele zur aristotelischen Methode äußern: Während Ficino Aristoteles als Imitator Platons in der Verbindung theologischer Wahrheiten mit Dialektik zeichnet, sieht Speroni die dialogischen Spiele Platons als Freizeitvergnügen, die gerade die sicheren aristotelischen Syllogismen imitieren. Speroni liest Platon, zumindest im ersten Teil der Apologia, als Aristoteliker, integriert ihn über eine Einordnung seiner Dialoge als imitierendes Spiel in das System aristotelischer Logik. Dass er dabei einige Elemente platonischer Dialoge brüsk unterschlägt, hat John R. Snyder schon zu Genüge herausgearbeitet.78 Für Ficino, dessen Projekt die Re-Etablierung Platons als Alternative oder vielmehr M. Silvio Antoniano sogar eine philosophiehistorische Ausführung eines accademico di palazzo des Vatikans zitieren, der begriffsgeschichtlich einordnet: »Sofista H un nome antichissimo posto allora comunemente ai maggior savii dell’universo (…).« Dies habe sich erst mit Sokrates geändert. 78 Vgl. Snyder (1989), Writing the Scene, S. 98–99.

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als Ziel aristotelischer Propädeutik darstellte, kam eine derartige Hintansetzung Platons nicht in Frage. Die spielerischen Elemente des platonischen Parmenides erklärt er zu einer über aristotelisches Philosophieren hinausgehenden Technik, die in manchen Situationen angebracht gewesen sei, um die Vermittlung der eigentlichen Wahrheiten sicherzustellen und die Sophisten in einem dialektischen Spiel zu verwirren. Lassen sich diese Unterschiede in der Konstruktion ludischen Philosophierens nach Platon zwischen Ficinos Ansatz 1496 und Speronis Verteidigungsschrift 1574 erklären? Das hängt davon ab, was man als Erklärung gelten lässt. Setzt man voraus, dass ein sich stetig verändernder sozialer Raum bestimmte Artikulationsbedingungen für Texte erzeugt, so kann in diesem Raum nach Diskursen gesucht werden, die bei Speronis Apologia eine weniger wahrheitsbetonte Interpretation Platons erlauben als bei Ficino.79 Denn Speronis nun positive Bewertung von Imitationen der Philosophie ohne Wahrheit bedarf bei einer öffentlich verlesenen Verteidigungsschrift, so sie denn erfolgreich sein will, einer Äußerungssituation, in der diese positive Bewertung Anschlussmöglichkeiten finden kann. Sie muss auf ein Publikum treffen, dem vergnügliches Philosophieren ohne Wahrheitsanspruch nicht gänzlich abwegig erscheint. Ich möchte daher nun herausarbeiten, welche soziokulturellen Voraussetzungen eine Argumentation auf Basis ludischen Philosophierens wie in der Apologia ermöglicht haben. Die grundlegende Frage hierfür lautet: Existierte ein Modell dafür, Philosophieimitation als bloß vergnügliches Spiel und nicht mehr wie bei Ficino als leere Sophisterei zu lesen? Und spezifischer : Gibt es so etwas wie spielerische Imitationen der Philosophie als Freizeitbeschäftigung im italienischen Cinquecento? Tatsächlich existierte ein Diskurs, der erst nach Ficinos Tod begann und in dem der ludischen Vielfalt der Philosophie, dem Widerstreit mannigfaltiger Meinungen eine zentrale Rollen zukam. Es handelt sich um die Imagination einer höfischen Praxis der Konversation im Spiel, die Philosophie imitiert – sie hat ihren Beginn bei Baldassare Castigliones Cortegiano.

79 Ich begreife ›Erklärung‹ hier nicht kausal und bin nicht auf der Suche nach einer definitiven ›Ursache‹ der Apologia, insofern Speronis Schrift unter anderem mit der Rezeption aristotelischer Poetik, mit Sigonios Dialogtheorie, mit der Praxis des Dialogschreibens und der Argumentationssituation gegen die Inquisition zu tun hat. Es geht vielmehr darum festzustellen, welche veränderten Artikulationsbedingungen Speronis Argumentation ermöglichten.

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›Aristotile, cortegian vecchio‹: Castiglione, Marcolini und die spielerische Philosophie Ich möchte also zeigen, dass spielerische Imitationen der Philosophie als Konversationsspiele im ozio ein selbstverständliches Denkschema sind, das Speroni bei seinen Rezipienten voraussetzen kann. Natürlich gibt es auch eine antike Traditionslinie des Philosophierens im otium, die Speroni mit Cicero aufruft – doch wir suchen nicht eine Traditionslinie des Philosophierens, sondern des Philosophie-Spielens im otium. Wie verhalten sich also Spiel und Philosophie in der italienischen Kultur des Cinquecento zueinander? Ein Modell für seine Philosophiespiele hatte Speroni ohne Zweifel durch den 1528 im Verlag Aldus Manutius in seiner dritten Redaktion veröffentlichten Cortegiano Baldassare Castigliones.80 Das Buch vom Hofmann ist vielgedruckt und vielübersetzt ein veritabler Bestseller des 16. Jahrhunderts, es entwickelt in Form eines narrativen Dialogs das Bild eines perfekten Hofmanns.81 Allerdings nicht so eindeutig, als dass man aus ihm mühelos ein Set von Etiketten oder erlernbaren Regeln extrahieren könnte. Die verschiedenen Meinungen zu den notwendigen Charakteristika eines Höflings bleiben dialogisch mitunter unaufgelöst nebeneinander stehen. Zwar hat die venezianische Druckerindustrie mit Gabriele Giolito de’ Ferrari und seinem Angestellten Lodovico Dolce in ihren Ausgaben später versucht, klar umrissene Regellisten um den Text zu stellen, die in Inhaltsverzeichnissen, Indexen und Marginalnoten eindeutige Aussagen fixieren wollen.82 Im Cortegiano selbst allerdings wird den vorgebrachten Meinungen nicht selten widersprochen. Und das hat vor allem mit philosophischen Disputationen zu tun. Die Rahmenhandlung des Cortegiano verortet die Konversation über den perfekten Hofmann in Urbino, wo die Hofgesellschaft um die Duchessa Elisabetta Gonzaga und ihre Vertraute Emilia Pia die Mußestunden mit zahlreichen Vergnügungen, etwa mit Spielen, der Erörterung diverser Materien oder dem 80 Es handelt sich um die dritte Redaktion des zuvor schon handschriftlich kursierenden Cortegiano, die Textgeschichte wird nachgezeichnet bei Quondam, Amedeo: Questo povero cortegiano. Castiglione, il libro, la storia. (=Biblioteca del Cinquecento 100) Rom: Bulzoni, 2000, S. 29–306, eine Übersicht zu den einzelnen Schritten auf S. 293–294. Ein Faksimile der Ausgabe 1528 liegt vor als Castiglione, Baldassare: Il libro del Cortegiano. Rom: Bulzoni, 1986 (=Venedig: Aldo, 1528); ich benutze die Ausgabe Castiglione, Baldassar : Il Libro del Cortegiano. Eingeleitet von Amedeo Quondam, Anmerkungen von Nicola Longo. Mailand: Garzanti, 2011; im Folgenden zitiere ich jeweils nur kurz ohne Seiten als Cortegiano mit dem entsprechenden Buch und dem zugehörigen Kapitel. 81 Für einige Hinweise zum auch internationalen Erfolg vgl. Burke, Peter : The Fortunes of the Courtier. The European Reception of Castiglione’s Cortegiano. Cambridge: Polity Press, 1995. 82 Vgl. hierzu Hinz, Manfred: Rhetorische Strategien des Hofmannes. Studien zu den italienischen Hofmannstraktaten des 16. und 17. Jahrhunderts. Stuttgart: Metzler, 1992, S. 241–248.

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Ersinnen von Impresen verbringt.83 An einem Abend im Jahre 1506, als durch einen Besuch des Papstes und seiner Entourage die Hofgesellschaft um einige Mitglieder vergrößert ist, beschließt man, dass die Männer der Runde jeweils ein Spiel für die Gesellschaft vorzuschlagen haben, wobei den Damen zugestanden wird, aus den Vorschlägen den besten auswählen zu dürfen.84 Sieben Spiele (in der zweiten Fassung übrigens noch 13) werden vorgeschlagen, von der Erörterung der am wenigsten zu tadelnden Laster im Geliebten bis zur Frage nach der wahrscheinlichsten Ausprägung von Verrücktheit eines jeden im Falle öffentlichen Ausbruchs derselben.85 Das Rennen aber macht eine Idee Federico Fregosos: Er schlägt vor, da man sich ja unter hervorragenden Hofmännern befinde, gemeinsam diejenigen Eigenschaften zusammenzustellen, die einem perfekten Hofmann zuzukommen haben, was Emilia und Elisabetta umgehend gefällt. Interessant in unserem Zusammenhang ist aber vor allen Dingen, dass Fregoso sein Spiel als Imitation philosophischer Praxis vorstellt: (…) vorrei che ’l gioco di questa sera fusse tale, che si elegesse uno della compagnia ed a questo si desse carico di formar con parole un perfetto cortegiano, esplicando tutte le condicioni e particular qualit/, che si richieggono a chi merita questo nome; ed in quelle cose che non pareranno convenienti sia licito a ciascun contradire, come nelle scole de’ filosofi a chi tien conclusioni.86 ([…] ich möchte, dass das Spiel dieses Abends sei, dass man einen aus der Gesellschaft erwähle und diesem die Aufgabe erteile, mit Wörtern einen perfekten Hofmann zu formen und dabei alle Bedingungen und besonderen Charakteristika zu erklären, derer es bedarf, um diesen Titel zu verdienen; und in denjenigen Dingen, die nicht allen angemessen zu sein scheinen, sei es jedem gestattet zu widersprechen wie in den Schulen der Philosophen demjenigen, der disputiert.)

Es handelt sich folglich um ein philosophisches Spiel, ein Spiel, das einen bestimmten Aspekt philosophischer Praxis, nämlich die widerstreitenden Meinungen in Disputationen, als Modell für die eigene Konversation aufgreift.87 Die Praxis der Verteidigung verschiedener Thesen gegen ein Kollegium aus fortgeschritteneren Gelehrten war für rinascimentale Studierende der Philosophie selbstverständlich eine gewöhnliche Prozedur, die überdies, wie Johannes Kipf herausgearbeitet hat, schon an der Universität selbst Gegenstand satirischer

83 84 85 86 87

Vgl. Cortegiano I, 5. Vgl. ibid. I, 6. Vgl. ibid. I, 7–11, zu der Spielanzahl Hinz (1992), Strategien, S. 84. Cortegiano I, 12. Für Hans Honnacker besteht das distinguierende Merkmal dieses Vorschlags gegenüber den anderen Spielen sogar darin, ein ›philosophisches‹ Spiel zu sein, vgl. Honnacker, Hans: Der literarische Dialog des Primo Cinquecento. Inszenierungsstrategien und ›Spielraum‹. (=Saecula Spiritualia 40) Baden-Baden: Verlag Valentin Koerner, 2002, S. 52.

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Nachahmung geworden war.88 Gerade der Aspekt widerstreitender Meinungen ist es aber, der Emilia als das reizvollste Element des Spiels erscheint: Sie schlägt sogleich vor, Ludovico da Canossa als ersten den perfekten cortegiano beschreiben zu lassen, da man davon ausgehen könne, dass bei ihm viel zu widersprechen sei. Wähle man einen zur Beschreibung Fähigeren aus, so würde schnell Langeweile aufkommen.89 Diese letztliche Unbestimmtheit ist dem Spiel paradoxweise eingeschrieben: Die Hofgesellschaft definiert in einem Spiel diejenigen Regeln des Umgangs in einer Hofgesellschaft, denen sie selbst, da ja aus distinguierten Hofmännern und -damen bestehend, selbstverständlich folgt. Die Regeln des Spielens werden im Spiel selbst verhandelt. Allerdings spiegelt das Spiel so die eigenen Verhaltensnormen, die man nur definieren kann, insofern man zur Hofgesellschaft gehört. Da man dieser aber senza fatica e studio angehören muss, kann man auch nicht von außen durch das Erlernen der notwendigen Regeln Teil derselben werden, da die Zugehörigen qua Zugehörigkeit die Regeln definieren.90 Die Hofgesellschaft, so hat es Eckhard Höfner gefasst, bespricht nicht nur Spiele, sie setze sie gleichsam in Szene und bilde »die die gesellschaftliche Ordnung verbürgenden Werte und Normen ab; repräsentiert sie und führt sie damit auf und vor.«91 Die sich daraus ergebende Kontingenz scheint immer wieder auf, nicht zuletzt wegen des gewählten Modells philosophischer Disputation, das der Unterhaltung zugrunde gelegt wird und für die prinzipielle Bestreitbarkeit jeder These sorgt. Dass Castiglione auch selbst im platonischen Dialogisieren eine Mög88 Die disputatio zwischen einem eine These aufstellenden Proponenten und einem (oder mehreren) diese These zu widerlegen versuchenden Opponenten war gängige Prüfungspraxis etwa zur Promotion, vgl. Grendler (2002), Universities, S. 152–157; im deutschsprachigen Raum existierten schon seit dem 15. Jhrd. aus den Quodlibet-Disputationen hervorgegangene akademische Scherzreden als Nachahmungen, vgl. Kipf, Johannes Klaus: Ludus philosophicus. Zum medialen Status der akademischen Scherzreden des 15. und 16. Jahrhunderts. In: Gindhart, Marion und Kundert, Ursula (Hrsg.): Disputatio 1200–1800. Form, Funktion und Wirkung eines Leitmediums universitärer Wissenskultur. (=Trends in Medieval Philology 20) Berlin/New York: De Gruyter, 2010, S. 203–230. 89 Vgl. Cortegiano I, 13, wo Castiglione Emilia ausführen lässt: »Adunque, per non perder piF tempo, voi, Conte, sarete quello che aver/ questa impresa nel modo che ha detto messer Federico; non gi/ perch8 ci paia che voi siate cos' bon cortegiano, che sappiate quel che si gli convenga, ma perch8, dicendo ogni cosa al contrario, come speramo che farete, il gioco sar/ piF bello, ch8 ognun aver/ che respondervi, onde se un altro che sapesse piF di voi avesse questo carico, non si gli potrebbe contradir cosa alcuna perch8 diria la verit/, e cos' il gioco saria freddo.« 90 Vgl. hierzu Hinz (1992), Rhetorische Strategien, S. 84, zum Doppelcharakter des Spiels S. 87. 91 Höfner, Eckhard: Zum Spiel in der höfischen Kultur des Cinquecento. Aspekte einer Pragmasemiotik von giuoco in Baldassare Castigliones Il cortegiano (1528) und in Stefano Guazzos La civil conversazione (1574). In: Höfner, Eckhard und Weber, Falk Peter (Hrsg.): Politia Litteraria. Festschrift für Horst Heinze zum 75. Geburtstag. Berlin/Cambridge (Mass.): Galda und Wilch Verlag, 1998, S. 47–91, hierzu S. 51, zum Zitat S. 49.

Castiglione, Marcolini und die spielerische Philosophie

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lichkeit sah, sich als Autor zu keiner Meinung eindeutig bekennen zu müssen, können wir aus seinen Briefen lernen.92 Wenn daher philosophische Modelle der Gesprächsführung solchermaßen in die Hofgesellschaft integriert werden, so verwundert es nicht, dass gleiches auch mit den Philosophen selbst geschieht. Letztlich sei das Ziel eines Hofmanns nämlich, so lässt Castiglione Ottaviano Fregoso ausführen, Berater des Fürsten zu werden, so wie Aristoteles von Alexander und Platon vom König von Sizilien. Denn beide seien hier der cortegiania gefolgt, haben also durch die Hofmannskunst Vertrauen erlangt.93 Und auch wenn Gaspar Pallavincino Zweifel anmeldet, ob die beiden je getanzt hätten und inwiefern Verliebtheit ihnen gut zu Gesicht stünde: Die wirkungsvolle Moralphilosophie, die nicht nur in Wörtern besteht, wird hier als der Hofmannskunst bedürftig angesehen, um die Gunst des Fürsten zu gewinnen – wie Aristoteles, cortegian vecchio, bei Alexander.94 Im zweiten Buch der zweiten Redaktion des Cortegiano führte Castiglione noch entsprechend bissig aus, dass die Hofkritik, wenn sich damit einer als Philosoph profilieren wolle, ins Leere laufe: Die Philosophen würden, einmal am Hof, umgehend lobend für die Größe der Fürsten und dergleichen argumentieren.95 Sie müssen sich demnach in der Philosophie oder wenigstens bei deren Vermittlung an höfische Spielregeln halten. Deutet sich im Cortegiano also schon ein spielerischer Umgang mit Philosophie und auch mit Philosophen an, ist in Francesco Marcolinis Spielebuch Le sorti eine ludische Perspektive auf selbige schon gänzlich realisiert.96 Das ausschließlich auf Grundlage des Buches durchführbare Gesellschaftsspiel funktioniert folgendermaßen: Zunächst wird eine Liste von 50 Fragen zur Auswahl 92 Castiglione äußert sich entsprechend in einem seiner Briefe an Alfonso de Vald8s, vgl. Cox (1992), The Renaissance Dialogue, zu Castiglione S. 47–60, zum Brief S. 50 und S. 158 Endnote 15. 93 Vgl. Cortegiano IV, 47, auch IV, 5. 94 Vgl. ibid., IV, 48–49. 95 Vgl. hierzu Hinz (1992), Rhetorische Strategien, S. 95–97, der herausarbeitet, dass Aristoteles und Platon in der zweiten Redaktion des Cortegiano noch als unfähige Hofmänner gezeichnet werden; die zweite Redaktion ist kritisch ediert als Ghinassi, Ghino (Hrsg.): La seconda redazione del »Cortegiano« di Baldassare Castiglione. Florenz: Sansoni, 1968, die Philosophen-Stellen auf den S. 84–85 und S. 193–4. 96 Marcolini hat zwei Ausgaben herausgegeben, von denen die spätere eine überarbeitete Version darstellt, vgl. Marcolini, Francesco: Le Sorti di Francesco Marcolino da Forl& intitolate giardino di pensieri allo illustrissimo Signore Hercole Estense Duca di Ferrara. Venedig: Francesco Marcolini, 1540, und Marcolini, Francesco: Le ingeniose sorti composte per Francesco Marcolini da Forli. Intitulate giardino di pensieri, novamente ristampate, e in novo et belißimo ordine riformate. Venedig: Francesco Marcolini, 1550; zu den Unterschieden zwischen beiden Versionen vgl. die einleitenden Bemerkungen zur Edition des Werkes von Paolo Procaccioli in Marcolini, Francesco: Le sorti intitolate giardino d’i pensieri. [Anastatischer Wiederabdruck der Edition 1540] (=Ludica: collana di storia del gioco 7) Treviso/ Rom: Fondazione Benetton/Viella, 2007.

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gegeben, jeweils 13 für Frauen oder Männer, die restlichen 24 für beide Geschlechter. Die Fragen beziehen sich dabei hauptsächlich auf amouröse Sujets: Ist es besser, eine hübsche oder eine hässliche Frau zu heiraten? Wie viele Ehemänner wird man als Frau haben? Es geht allerdings auch indiskreter : Ist eine gewisse Hofdame mit der französischen Krankheit infiziert?97 Mit der Frage wird man zur Seite einer bestimmten Allegorie geleitet, im Falle der Frage nach der Anzahl der Männer die Penitentia (Reue), und hat zwei Karten zu ziehen. Durch nochmaliges Kartenziehen und weitere Verweise gelangt man schließlich zu den Seiten eines Philosophen, auf denen jeweils 45 Terzette gegeben sind, was natürlich suggeriert, dass sie vom Philosophen selbst stammen oder zumindest seinen Lehren naheliegen. Je nach Kombination der gezogenen Karten wird dem Spieler oder der Spielerin nun eines der Terzette zugelost, und dieses stellt letztlich die Antwort auf die Frage dar.98 Nun haben die Terzette mit den Lehren der Philosophen meist nicht viel zu tun. Sie geben kurze, manchmal die Fragen kommentierende Voraussagen und stammen von Lodovico Dolce – wir erinnern uns: Derjenige Dolce, der später für Gabriele Giolito versuchen wird, dem Cortegiano fixierte Regeln einzuschreiben.99 Als Angestellter der Buchindustrie fungiert er schon hier. Francesco Marcolini da Forl' war venezianischer Drucker und veröffentlichte gelegentlich amourös-zwielichtige Literatur, wie etwa, unter falschem Namen, die Prostituiertengespräche des Pietro Aretino.100 Seine Le sorti jedenfalls, so können wir festhalten, verbinden geschickt marktorientiert eine verbreitete Tradition der Orakelbücher mit einem höfischen Konversationsideal des Spielgesprächs über die Liebe. Die Philosophen, so scheint es, sind zunächst nur Ornament. Interessanter wird es allerdings, wenn man sich die Auswahl der Philosophen 97 Zu den Fragen vgl. Marcolini (1540), Le sorti, S. 6–7. David McTavish beschreibt das Spiel als »amusing parlour game of chance«, was es natürlich auch in eine Reihe mit dem Cortegiano stellt, vgl. McTavish, David: Giuseppe Porta Called Giuseppe Salviati. New York/ London: Garland Publishing, 1981, S. 70; auch Lucia Nadin sieht eine Funktion des Buches als »veicolo di dialogo«, vgl. Nadin, Lucia: Carte da gioco e letteratura tra Quattrocento e Ottocento. (=Morgana. Collana di studi e testi rinascimentali 2) Lucca: Maria Pacini Fazzi, 1997, S. 69. 98 Der Spielmodus wird beschrieben in Marcolini (1540), Le sorti, S. 4–5, vgl. hierzu auch Berrettini, Serena: Le »Sorti« come macchina ludica: regole e procedure. In: Procaccioli, Paolo (Hrsg.): Studi per le »Sorti«. Gioco, immagini, poesia oracolare a Venezia nel Cinquecento. (=Ludica: collana di storia del gioco 8) Treviso/Rom: Fondazione Benetton/ Viella, 2007, S. 21–38. 99 Die Terzette von Dolce sind in einer modernen Edition separat veröffentlicht als Dolce, Lodovico: Terzetti per le »Sorti«. Poesia oracolare nell’officina di Francesco Marcolini. (=Ludica: collana di storia del gioco 6) Hrsg. von Paolo Procaccioli. Treviso/Rom: Fondazione Benetton/Viella, 2006, zu Dolces Ko-Autorenschaft und den Terzetten vgl. die Einleitung Procacciolis auf den S. 9–28. 100 Vgl. Veneziani, Paolo: Francesco Marcolini. In: DBI 69 (2007), S. 773–776.

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genauer ansieht. Sokrates, Thales und Aristoteles überraschen wenig – aber wem sind spontan Stilpon, Myson und Kebes ein Begriff ? Insgesamt rufen Marcolini und Dolce 50 Philosophen auf, deren Namen allesamt in den Leben und Meinungen berühmter Philosophen des Diogenes Laertios101 als leicht verfügbarer philosophiehistorischer Nachschlagefundus auftauchen.102 Das ist für das Genre der Orakelbücher ungewöhnlich und für die Frage nach außeruniversitären Imaginationen von Philosophie bemerkenswert: Im Garten der Gedanken werden den Spielern aleatorisch antike Philosophen zugelost, deren bloße Menge, betreibt jemand nicht zufällig selbst Philosophie, den Konsumenten von Marcolinis Werk unübersichtlich und im Einzelnen auch unbekannt gewesen sein muss.103 Die griechische Philosophie wird inszeniert als vielfältige Gesell101 Vgl. Laertius, Diogenes: Leben und Meinungen berühmter Philosophen. 2 Bände. Übers. von Otto Apelt. (=Philosophische Bibliothek 53/54) Hamburg: Meiner, 2008. Einige Hinweise zur in diesem Rahmen nicht weiter verfolgten Geschichte dieses Texts in Ricklin, Thomas: Vorsokratiker im lateinischen Mittelalter II: Thales von Milet im lateinischen Diogenes Laertios von Henricus Aristippus bis zur lateinischen editio princeps (1472/1475). In: Primavesi, Oliver und Luchner, Katharina (Hrsg.): The Presocratics from the Latin Middle Ages to Hermann Diels. Stuttgart: Franz Steiner, 2011, S. 111–156, sowie Kaiser, Christian: Das Leben der anderen im Gemenge der Weisheitswege – Diogenes Laertios und der Diskurs um die philosophische Lebensform zwischen Spätantike und Früher Neuzeit. (=P& A 35) Berlin/Boston: De Gruyter, 2012. 102 Die Liste der 50 Philosophen umfasst in Reihenfolge ihrer Sektionen in der Ausgabe 1540: Thalete, Solone, Chilone, Pitaco, Biante, Periandro, Epimenide, Anacarsi, Phericide, Socrate, Aristippo, Theodoro, Stilpon, Menedemo, Platone, Speusippo, Crisippo, Eraclito, Senocrate, Arcesilao, Aristotele, Demetrio, Eraclide, Antistene, Crate, Zenone, Cleante, Pitagora, Empedocle, Eudoxo, Democrito, Protagora, Anasarco, Euriloco, Pirone, Epicuro, Mison, Anaximandro, Anaxagora, Xenophonte, Eschino, Simon, Polomone, Cebete, Cleobulo, Crono, Euclide, Clitomaco, Diogene, Momino. Auffallend ist, dass hier ausschließlich griechische Denker benannt werden: Sie alle finden sich in den Leben und Meinungen berühmter Philosophen des Diogenes Laertius, die Liste in ihrer Vielfalt erinnert an einen Catalogus Philosophorum, wie er bspw. einer lateinischen Ausgaben der Vitae von 1524 vorangestellt ist, vgl. Laertius, Diogenes: Diogenis Laertii clarissimi historici de vita et moribus philosophorum (…). Basel: Valentinus Curionus, 1524, fol. 4r–4v, eben hier sind auch fast alle Philosophen sogleich zu finden. Zur Verbindung mit Laertius vgl. Nadin (1997), Carte, S. 62–68; auch Mctavish (1981), Guiseppe Porta, S. 92, führt die einzelnen bildlichen Darstellungen in ihrem anekdotischen Gehalt fast ausnahmslos auf Laertius zurück. Nur seine Vermutung, dass »Crono does not seem to appear in Diogene’s Lives at all.« (ibid.) basiert auf der fehlenden Identifikation des Cronos mit dem Diodorus Iaßius des Catalogus, also Diodorus Kronos aus Jasaia, vgl. Laertius (2008), Leben, II, 111; das Kronos-Bild in der zweiten Ausgabe von 1550 (S. 154) entspricht dem von Laertius zitierten Epigramm des Kallimachos, wonach Momos an die Wand geschrieben habe, Kronos sei weise. Serena Berrettinis Behauptung, in den Vitae würden darüber hinaus noch Euriloco und Theodoro fehlen (vgl. Berrettini (2007), Le »sorti«, S. 38 Anm. 70) trifft nicht zu. Im genannten Catalogus wird ›Theodorei‹ im zweiten Buch an neunter Stelle genannt, Eurylochus tritt auf in IX, 68–69, seinem Bild der 1540er Ausgabe (S. 174) entsprechend. 103 Der Vergleich mit Spiritos El libro de la ventura (1482/1500), Fantis Triompho di Fortuna (1527), Danzas Libro novo della sorte (1536) und Paraboscos L’Oracolo (1552), den MarieC8cile van Hasselt angestellt hat, zeigt jedenfalls, dass dort etwa biblische Propheten

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schaft von Weisen, deren einzelne Exponenten den Ratsuchende zufällig – oder wir müssen mit Le sorti eher sagen: schicksalhaft – zugelost werden. Nicht nur lösen sich einzelne philosophische Positionen in dieser Vielheit zu einer nicht mehr distinguierten Masse von orakelnden Wahrsagern auf, auch gehen etwaige Autoritätsansprüche im relativierenden Verfahren der Zuordnung durch Kartenziehen verloren. In einem mannigfaltigen Netz aus Verweisen von Tugenden, Lastern und kontingenten Umständen ist der Weg zur vielgestaltigen Weisheit der Philosophen ein ungewisses Spiel. Ihre Ratschläge auf die größtenteils amourösen Anliegen der Spieler sind nicht mehr als vergnügliche Terzette. Lediglich die kleinen narrativen Bilder, die jede Philosophensektion begleiten, präsentieren einige die Weisen unterscheidende Merkmale. Philosophie als Masse zufällig aufscheinender divergenter Doktrinen zahlreicher Philosophen wird bei Marcolini demnach eingesetzt, um diletto zu erzeugen – die venezianische Druckerindustrie spielt mit der durch Diogenes Laertios gewonnenen Vielfalt an Philosophen in einem Konversationsspiel in der Nachfolge des Cortegiano.104 Allerdings, um den Fokus nicht zu sehr auf diese Randomisierung philosophischer Inhalte zu legen: Philosophie ist in den höfischen Spielen auch auf eine seriösere Art präsent, die einen tatsächlich belehrenden Anspruch hat.105 Die Tradition tugenddidaktischer Spielallegorien hatten wir in den vorherigen Kapiteln schon kennengelernt, auch die spielerischer Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnis wie bei der Rythmomachia, die Cusanus als ein Ansatzpunkt seines Spieldialogs diente, hatte ich mehrfach angesprochen. Bemerkenswert ist allerdings nun die nichtakademische Verbreitung ludischer Belehrung – und ich meine damit eben nicht nur die selbstverständliche Präsenz von Philosophie am Hof. Es geht mir vielmehr konkret um die Idee philosophischer Didaktikspiele. Die italienischen Ludologen des 16. Jahrhunderts begreifen nun etwa Kartenspiele jenseits der alten Verurteilung Bernhardins von Siena als wissensvermittelnd. Francesco Bernis 1526 veröffentlichter Commento del gioco della primiera kommentierte ausführlich ein Gedicht über ein Kartenspiel und stellte dabei

(Spirito), antike Gottheiten (Danza) oder Astrologen (Fanti) bevorzugt werden, vgl. van Hasselt, Marie-C8cile: 9tre/para%tre, de fausses perceptions sous l’enseigne de la v8rit8. In: Procaccioli (2007), Studi, S. 85–97, zum tabellarischen Vergleich der Werke speziell S. 92– 97; auch stellt van Hasselt im Vergleich zur Tradition die Abwendung von astrologischen Motiven fest, vgl. S. 85–86. 104 Dazu passt übrigens auch Marcolinis Druckermarke Veritas filia temporis, vgl. Marcolini (1540), Le sorti, S. 207. 105 McClure (2013), Parlour games, S. 13, unterscheidet entsprechend Sammlungen von Konversationsspielen des 16. Jhrd. grob anhand ihres intendierten Effektes, zwischen belehrender Erbauung und sozialer Kontrolle einerseits, Unterhaltung und sozialem Freiraum andererseits.

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seine tugendvermittelnden Elemente heraus.106 In selbiger Linie ist sicherlich auch der Traktat Giuoco militare di virtF von Alfonso Valdera aus Brescia zu sehen, der eine neue und tugendhaftere qualit/ und forma di carte erfand, um insbesondere die Jugend von unerlaubten Kartenspielen fernzuhalten.107 Einen Vorläufer hatte Brescia dabei im Kartenspiel giuoco della virtF des Claudio Tolomei, von dem wir etwa durch Pietro Aretino wissen, der es lobend in seinen Le carte parlanti von sprechenden Karten erwähnen lässt.108 Prominenter wird Tolomei allerdings bei Giulio Landi in Szene gesetzt: Dessen Werk Le attioni morali versuchte dialogisch die vernakulare Vermittlung aristotelischer Moralphilosophie.109 Seine Erörterungen zur Urbanit/, also der nun umbenannten eutrapelia, widmet Landi dem Spielerfinder Claudio Tolomei.110 Da aufgrund der Anstrengung in ernsthaften Dingen, durch welche die Seele ermüde und es ihr folglich an Lebensgeistern mangele, Erholung notwendig sei, benötige man zur Erhaltung des Lebens die Urbanit/ als eine Tugend der ehrenhaften Erholung.111 Niemand allerdings sei darin besser beschlagen als er, Tolomei, weshalb auch alle Fürsten sich Wettkämpfe lieferten, ihn an ihrer Seite zu haben. Dabei sei von den vielen Spielen keines vergnüglicher und zugleich ehrenhafter als das von Tolomei selbst erfundene und von ihm so getaufte giuoco 106 Vgl. hierzu ibid., S. 4. 107 Vgl. Valdera, Alfonso: Giuoco militare di virtF (…). Brescia: Vicenzo di Sabbio, 1571, fol. 4v–8v, insb. fol. 7r. 108 Vgl. Aretino, Pietro: Le carte parlanti. Hrsg. von Giovanni Casalegno und Gabriella Giaccone. Palermo: Sellerio, 1992, S. 311–312, auf die Erwähnung bei Aretino verweist McClure (2013), Parlour games, S. 209 Anm. 65, überdies auf diejenige bei Inncenzo Ringhieri (s. u. Fußnote 115). 109 Ich verwende die Ausgabe Landi, Giulio: Le attioni morali dell’illust. S.Conte Giulio Landi Piacentino nelle quali (…). Venedig: I Gioliti, 1584, erstmals erschien der erste Band seiner Schrift jedoch 1564; zu Landis Werk, das auf Faber Stapulensis’ Pariser Ethik-Einführung basiert, vgl. Bianchi, Luca: From Jacques LefHvre d’Ptaples to Giulio Landi. Uses of the Dialogue in Renaissance Aristotelianism. In: Kraye, Jill und Stone, M.W.F. (Hrsg.): Humanism and Early Modern Philosophy. (=London Studies in the History of Philosophy 1) London: Routledge, 2000, S. 41–58, bes. S. 46–50. 110 Vgl. Landi (1584), Le attioni morali, S. 396. 111 Die Urbanit/ – oder wir könnten sagen eutrapelia – wird also zunächst wieder interpretiert wie gewohnt, in der Linie scholastischer Interpretation des Aristoteles: »Ma parlando hora particolarmente della Urbanit/, k sia della virtuosa recreatione, se non si potesse giustamente darle la corona dell’honore, si puk almeno dire con verit/, & affermare, che ella sia virtF necessarissima per conservatione della vita humana; senza il cui aiuto e soccorso non potrebbe l’huomo vivere in questo mondo; che sendo costretto l’huomo d’honore a essere k per il particolare, k per il pubblico intento a’negocii: & /gli studi gravi , e d’importanza; nelle cui attentioni, e considerationi, gl’animi de gl’huomini si staccano alcuna volta, e s’indeboliscono in modo, che se non pigliassero qualche honesta ricreatione, senza dubio mancherebbono gli spiriti vitali, & agevolmente mancherebbe anco la vita, e tosto l’huomo si morebbe, che se H necessaria la ricreatione per conservatione della vita humana, dunque H anco neccessaria la virtF, che ci mostra, e ci insegna l’honestamente ricrearci: e questa H l’Urbanit/.« (Landi (1584), Le attioni morali, S. 397).

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della virtF, in dem man vera somiglianza di bella disciplina, tatsächliche Ähnlichkeit mit schöner Lehre erkennen könne.112 Obwohl ein Kartenspiel, leite es die Menschen doch von aller Habgier weg und sei wie viele andere Spiele tugendhaft: (…) anzi indirizza, e guida l’huomo dilettevolmente ricreandosi all’intelligenza di molte cose di Filosofia, di Astrologia, e di Teologia. Tali certamente devrebbono esser’i giuochi de Prencipi, e di tutte le nobili persone; perche potessero in un medesimo tempo ricrearsi, & insieme imparar cose, che ornan, & abbeliscono gl’animi loro.113 ([…] es lenkt und steuert den Menschen sogar angenehmerweise bei der Erholung zum Erlernen vieler Dinge der Philosophie, der Astrologie und der Theologie. Solcherlei sollten sicherlich die Spiele der Fürsten und aller vornehmen Personen sein; denn sie könnten sich zugleich erholen und Dinge erlernen, welche ihre Seelen schmücken und verschönern.)

Entsprechend habe auch Lampridius von Cremona, der als Erzieher des Sohnes von Fürst Federico von Mantua sich verdingte, dem kleinen Francesco mithilfe eines Kartenspiels das Alphabet beigebracht, wodurch dieser senza fastidio lesen gelernt habe.114 Das ist die Linie, in der Landi ehrenhafte Spiele sieht: Sie ist insofern eine Erweiterung der klassischen scholastisch-aristotelischen Position, als er die urbanit/ nicht nur als Tugendhaftigkeit beim Spielen begreift (die also die Ehrenhaftigkeit einer zur Erholung notwendigen Betätigung sichert), sondern in dieser Tätigkeit selbst philosophische und theologische Inhalte verhandelt wissen will, sie als Bildungsmittel versteht. Landi beschreibt Spiele nicht um körperliche Agilität herbeizuführen und reduziert sie keineswegs auf ihre in der Nachfolge Alberts angenommene Wirkung, müde Lebensgeister zu erwecken. Über ihre rekreative Funktion können sie sogar die Seelen verschönern und zum Erlernen vielerlei Dinge führen. Spiele sind hier als universales Bildungsmittel anerkannt. Will Landi also Spiele zum Vehikel der Vermittlung philosophischer Einsichten erklären, so erfindet Innocenzo Ringhieri in seiner Zusammenstellung von Konversationsspielen für Katherina de Medici, Königin von Frankreich, sogar ganze einhundert lehrreiche Spiele, die unzählige Themen berühren.115 Die Agglomeration bunter Inhalte – vom Spiel der Berge und des Neids bis zum Spiel des Gärtners – folgt dabei einem immer ähnlichen Muster : Zuerst erläutert Ringhieri die Idee des Spiels, meist verbunden mit Lobpreisungen der Frauen.116 112 113 114 115

Vgl. ibid., S. 397–398. Landi (1584), Le attioni morali, S. 398–399. Vgl. ibid., S. 399. Vgl. Ringhieri, Innocenzo: Cento giuochi liberali, et d’ingegno, novellamente da M. Innocentio Ringhieri gentilhuomo Bolognese ritrovati, & in dieci libri descritti. Bologna: Anselmo Giaccarelli, 1551, vgl. für das Folgende auch McClure (2013), Parlour games, S. 13–18. 116 Zur Rolle von Frauen in den italienischen Konversationsspielen allgemein McClure (2013),

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Darauf folgen die eigentlichen Spiele, welche etwa das Rezitieren auswendig gelernter Sätze oder schnelle Reaktion erfordern. Am Ende eines jeden Spiels stellt Ringhieri sodann noch einige thematisch passende Fragen zur Diskussion. Einerseits evoziert er damit sicherlich eine Nähe zum Decamerone Boccaccios (mit 100 Spielen in zehn Büchern), andererseits greift er durch poetische Passagen in fortwährender Verehrung der Frauen auf petrarkistische Elemente zurück.117 Darüber hinaus folgt sein grundsätzliches Modell spielerischer Konversation dem Cortegiano Castigliones: Nach der variantenreichen Spielunterhaltung werden stets Fragen zur Diskussion gestellt, die ohne definitive Antwort einen Anlass zum Gegenspiel verschiedener Meinungen geben – wie etwa im Spiel der Philosophen. Ringhieri rühmt hier selbstverständlich zunächst die Frauen, die mit ihrem Verständnis für die höchsten Dinge nicht nur große Philosophanti seien. Neben ihren von besten Überlegungen erfüllten Seelen finde sich bei ihnen eine seltene Tugend, jeden zu einem Liebhaber der Philosophie verwandeln zu können, und zwar aufgrund der äußeren Schönheit ihrer Körper, die alle niedrigen Gedanken vergessen mache.118 In den Ketten ihrer Liebe verstricken sich daher, zur nicht geringen Verwunderung anderer, viele Philosophen. Und so entwirft Ringhieri ein Spiel, in dem jede/r Teilnehmer/in die Rolle eines Philosophen übernimmt, um jeweils mit einem kurzen Satz die Frauen zu lobpreisen.119 Hippias wird in den Mund gelegt, die Frau sei ein Meer unendlicher Vergnügungen, während Pittakos behauptet, sie sei eine unbesiegbare Kolonne. Platon stellt schließlich Parlour games, passim, speziell zur Verbindung mit linguistischen Diskussionen Sanson, Helena: ›OrsF, non piF signora, […] tornate a segno‹: Women, Language Games, and Debates in Cinquecento Italy. In: The Modern Language Review 105 (2010), N. 1, S. 103–121. 117 Vgl. Novelli, Roberta Lencioni: Un trattato in forma di giuoco: i Cento giuochi liberali e d’ingegno di Innocenzo Ringhieri. In: Febbraro (1993), Passare il tempo, Band 2, S. 691–706, insb. S. 702–703. 118 Vgl. Ringhieri (1551), Cento giuochi, fol. 135r, nahe liegt hier natürlich Platons Symposion und die Rede der Philosophin Diotima in 201d–212c, die Sokrates die Natur des Eros eröffnet. Zur mittelalterlichen und rinascimentalen Querelle des femmes, in der in zahlreichen Schriften über Eigenschaften der Frauen und ihr Verhältnis zu Männern gestritten wurde, vgl. einführend Bock, Gisela: Frauen in der europäischen Geschichte. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. München: Beck, 1990, S. 13–52, zum auch scherzhaften Charakter der Lobpreisungen Mclean, Ian: The Renaissance Notion of Women. Cambridge: Cambridge University Press, 1980, S. 91, obgleich in platonischem Kontext und bezogen auf den Liebesdiskurs auch eine tatsächliche Überlegenheit der Frauen aufgrund ihrer Schönheit, die sie in höherem Maße besäßen als Männer, angenommen werden konnte, vgl. ibid., S. 24–25. Wie bei allen Bemerkungen in dieser Arbeit, die Geschlechtergeschichte betreffen, ist auch an dieser Stelle Annika Willer für zahlreiche Hinweise zu danken. 119 Insgesamt ruft er dreißig Philosophen auf: Talete, Hyparco, Parmenide, Empedocle, Democrito, Eraclito, Hyppia, Anasimandro, Cricia, Timeo, Protagora, Pitagora, Speusippo, Melisso, Zenone, Epicuro, Diogene, Epicarmo, Anassimene, Anassagora, Cleante, Ligurgo, Solone, Pitaco, Biante, Antistene, Socrate, Platone, Aristotile, Theophraste (vgl. Ringhieri (1551), Cento giuochi, fol. 135v).

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fest, sie sei ein Beispiel der göttlichen Dinge. Reihum befragen sich so die Spieler nach diesen den Philosophen zugeordneten Sätzen, solange bis es kein Vergnügen mehr bereitet.120 Die Philosophen also verfangen sich in den Stricken weiblicher Liebe, als hinführende Inspiration zu höchsten Einsichten. Die ans Spiel anschließenden Fragen fahren auf dieser Linie fort: Diskutiert werden soll, wie manch einfache Frauen mehr gewusst haben als viele berühmte Philosophen, und selbstverständlich werden auch Diotima und Aspasia aufgerufen. Aber gefragt wird auch, wer des Namens Philosopho eigentlich würdig und inwiefern Amor ein Philosoph sei, ja ernsthafteste Philosophen erschaffe.121 Entspricht bereits die Struktur seiner Spiele zumindest dem Modell philosophischer Spiele des Cortegiano, so geht Ringhieri im Philosophenspiel also zur Imitation tatsächlich namentlich benannter Philosophen über, deren diverse Meinungen die Spielgesellschaft wechselseitig vorträgt. Die SpielerInnen als Philosophen disputieren allerdings nicht wirklich, sie loben allein in memorierten Sätzen die Qualitäten der Frauen, in deren Liebe sich die männlichen Philosophen nach Ringhieris Ansatz unweigerlich verstricken – diejenige Liebe, die sie gleichwohl zu göttlichen Einsichten führen kann. Damit sind die Philosophen in einen höfischen Liebesdiskurs als wenig differenzierte Menge frauenverehrender Weiser integriert, deren metaphernreiche Lobsätze eine vergnügliche Kette bilden. Das Imitationsspiel schließt darauf allerdings mit ernsthaften und interessanteren Fragen, die tatsächlich diskutiert werden sollen. Wenn darüber gesprochen wird, wer des Namens Philosoph würdig sei, dann findet hier im Rahmen einer ludisch-höfischen Konversationskultur eine Problematisierung des Philosophiebegriffs selbst statt. Die Liebe in Form variierender Rühmungen der Frauen führt so schließlich zu philosophischen Fragen selbst, wie auch Landi dies von den noblen Spielen gefordert hatte. Sollten nicht auch Sperone Speronis spielerische Dialoge über die Liebe zur eigentlichen Philosophie führen? Ich möchte ein letztes Beispiel spielerischer Konversationskultur auf die Bühne bringen, das Speronis Nähe zu dieser italienischen Praxis verdeutlichen wird. 1574, im Jahr der Abfassung von Speronis Apologia, veröffentlichte der Drucker Luca Bonetti ein schon in den 60er Jahren geschriebenes Buch des Sienesers Girolamo Bargagli, in dem dieser der Spielpraxis der lokalen Acca-

120 Vgl. ibid., fol. 135v–136r. 121 Vgl. ibid., fol. 136r : »Come certe semplicette Donne habbiano talhora piu sapputo, che molti commendati Philosophi. Come poterono Aspasia, & Diotima esser mastre di grandissimi Philosophi. Come Amor sia Philosopho, & faccia solennissimi Philosophi. (…) Quali siano coloro che sono degni del nome di Philosophi.« Zu Diotima siehe Fußnote 118, Aspasia bezeichnet Sokrates in Plat. Met. 235e als seine Lehrerin in Rhetorik.

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demia degli Intronati ein Denkmal setzte.122 Fast überflüssig zu erwähnen, dass auch er mit Aristoteles die Nützlichkeit des Spielens für anschließend subtileres Denken herausstellt.123 Besonders betont Bargagli jedoch die Möglichkeiten zur Verhandlung auch gesellschaftskritischer Themen im Spiel.124 Im Dialog erläutert Marcantonio Piccolomini (unter seinem Akademie-Namen il Sodo), nachdem er einige Formen antiker Spiele erörtert hatte, diese sehr freie Praxis der giuochi der Sieneser Intronati: Or considerando che cosa sia questo giuoco, secondo ch’io sentii una volta dire da un dotto Intronato sopra cik, per ischerzo filosofando, e’ pare che dire non si possa altro che una festevole azzione d’una lieta e amorosa brigata, dove sopra una piacevole od ingegnosa proposta fatta da uno, come autore e guida di tale azzione, tutti gli altri facciano o dicano alcuna cosa l’un dall’altro diversamente, e questo a fin di diletto e d’intertenimento.125 (Wenn ich jetzt dazu komme zu erörtern, was dieses Spiel sei gemäß dem, was ich einen gelehrten Intronato einmal scherzhaft philosophierend darüber sagen hörte, so scheint es, dass man es nicht anders als eine festliche Tätigkeit einer fröhlichen und liebevollen Gesellschaft nennen kann, wo einem erfreulichen oder einfallsreichen Vorschlag eines einzelnen folgend, der als Urheber und Leiter dieser Tätigkeit fungiert, alle anderen etwas voneinander verschiedenes tun oder sagen, um Vergnügen oder Unterhaltung zu erzeugen.)

An dieser Passage sind meines Erachtens mehrere Dinge bemerkenswert: Erstens wird hier eine Definition von Spielen versucht, die aus einem scherzhaften Philosophieren heraus entsteht. Bedeutet dies nun, dass das Philosophieren nicht ernst war oder der Gegenstand nicht ernst? Ich würde behaupten, dass hier ein Philosophieren um des Scherzes willen, also zum Zwecke der Erzeugung von 122 Vgl. Bargagli, Girolamo: Dialogo de’ giuochi che nelle vegghie sanesi si usano di fare. Del Materiale Intronato. Siena: Luca Bonetti, 1572; Bonetti weist in einem Vorwort darauf hin, dass Bargagli nichts mehr mit der Veröffentlichung zu tun haben wollte, vgl ibid., S. 3. Eine moderne Edition ist verfügbar als Bargagli, Girolamo: Dialogo de’ giuochi che nelle vegghie sanesi si usano di fare. Hrsg. von Patrizia D’Incalci Ermini, eingl. von Riccardo Bruscagli. (=Monografie di storia e letteratura senese 9) Siena: Accademia Senese degli Intronati, 1982, zu Dialog und Entstehungsbedingungen vgl. die vorangestellte Einleitung S. 9–39. Ich zitiere im Folgenden nach letzterer Ausgabe als Bargagli, Dialogo; zum Folgenden auch Matuschek (1998), Literarische Spieltheorien, S. 119–125. 123 Vgl. Bargagli, Dialogo, S. 56–57; am entspannendsten und erhebendsten für den Intellekt sei dabei übrigens die Unterhaltung mit Frauen, wie ja auch Platon mit Diotima philosophiert habe und dadurch zu höchstem Wissen gelangt sei – dies ähnelt Ringhieris Philosophenspiel, bei dem auch die Frauen die Philosophen zu höchstem Wissen inspirierten. 124 Vgl. hierzu Mcclure (2013), Parlour games, S. 21–28, zur Akademie und den Brüdern Bargagli auch S. 29–80. 125 Bargagli, Dialogo, S. 69; vgl. zur Spieldefinition Bargaglis auch Bruscagli, Riccardo: Les Intronati »AVeglia«: L’Acad8mie en jeu. In: AriHs und Margolin (1982), Les jeux, S. 201–212, der den Kern des Werkes in der exportierbaren Übertragung einer historischen Erfahrung einer verlorenen kulturellen Blüte in ein Manual sieht (vgl. ibid., S. 207).

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diletto gemeint ist, was auch dem Gesprächsspiel entspricht, dem wir bei der Lektüre von Bargaglis Dialog folgen. Aber gehen wir weiter : Sodo weist, das ist uns nun schon seit Valla bekannt, explizit auf den doppelten Gegenstandsbereich von Spielen hin, die in Sprechen oder Handeln bestehen können. Die unterschiedlichen spielerischen Tätigkeiten werden von einem Spielleiter präsidiert, was dem Castiglione’schen Modell entspricht. Wichtig in Bezug auf Speroni ist aber vor allem, dass »(…) das Vergnügen des Spiels in jener Vielfalt besteht, die man im Hören verschiedener und unähnlicher Einfälle zu einem gleichen Gegenstand entdeckt.«126 Bargagli lässt seinen Sodo sogar noch weiter monieren (damit schlagen wir den Bogen zurück zum Beginn dieses Abschnitts) dass eben aus Mangel dieses wesentlichen Bestandteils der Vielfalt das im Cortegiano von Bembo vorgeschlagene Spiel nicht als Spiel im eigentlichen Sinne angenommen werden könne.127 Dies bezieht sich auf die Eingangssituation des Hofmanns: In Castigliones Dialog, darauf hatte ich zuvor schon verwiesen, schlagen die Mitglieder der Hofgesellschaft anfangs verschiedene Spiele vor. Bembo will die Frage zur Diskussion stellen, ob man sich eher wünsche, dass die Ursache für die Verachtung, die man von einer geliebten Person erfährt, in eben dieser Person oder in einem selbst liege. Bargaglis Sodo enthält dieser Vorschlag allerding zu wenige Variationsmöglichkeiten, da er etwa prinzipiell nur auf zwei Antwortlinien beschränkt sei. Es ermangele ihm daher an der Vielfalt von Äußerungen der beteiligten Personen, in der »(…) die Schönheit und Substanz des Spiels besteht.«128 Wir kommen hier also zum eigentlichen Kern dessen, was Spielen ausmacht: Die Substanz des Spiels sei die Mannigfaltigkeit der Meinungen, die auch schon im Cortegiano wesentlich zum Spiel dazu gehörte. Betrachtet man die besprochenen Quellen zusammengenommen, so lassen sich meiner Ansicht nach mindestens drei diskursive Merkmale für die Verwendung von Philosophie in italienischen Konversationsspielen isolieren, die in Speronis Umfeld die positive Besetzung auch umherirrender Meinungsspiele rechtfertigen können: (1) Die lustvolle Inszenierung einer Vielfalt verschiedener Philosophen und Philosophien, wie am deutlichsten bei Marcolini ersichtlich, und eben nicht die Eindimensionalität eindeutiger Wissenschaft. (2) Die Freude an Widerspruch und Disput, die den diletto und das Wesen des Spiels ausmachen. (3) Die Philosophie als Gegenstand spielerischer Vermittlung, was letztlich eine Brücke auch zu ernsterer Beschäftigung mit Philosophie schlägt. Erinnern wir uns an Speronis Charakterisierung des platonischen Dialogs. Er 126 Bargagli, Dialogo, S. 70: »(…) ’l diletto del giuoco consiste in quella variet/ che si ritrova ne l’udire sopra uno stesso soggetto diverse e dissimili invenzioni.« 127 Vgl. ibid. 128 Ibid.: »(…) nella qual variet/ la bellezza e la sostanza del giuoco consiste.«

Konklusionen: Die spielerische Philosophie

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ähnele der commedia, hatte Speroni ausgeführt, weil viele verschiedene Sprecher auftreten, die viele verschiedene Meinungen präsentieren. Dialogisierend imitiere man nur die sicheren Syllogismen wahrer Philosophie, denn die Variabilität der Meinungen diene zunächst und primär dem diletto. Im ozio und in Imitation verfasst seien seine Dialoge, erklärte Speroni, also ein Spiel und spielerisch geschrieben. Die vielfältigen Meinungen seien, auch wenn sie an sich tadelnswert und abstoßend sind, im Zusammenspiel und Widerstreit der verschiedenen Positionen zu betrachten. Wie bei Bargaglis Sodo ist entsprechend die Vielfalt die substantielle Bedingung des Spielens, eben dasjenige, was zum eigentlichen Zweck des Spielens erst führt, nämlich der Erzeugung von diletto. Wenn Speroni also seine Philosophieimitation im Dialog als vergnügliches Spiel der Meinungen präsentiert, entspricht er einer gängigen Praxis italienischer Konversationsspiele.129 Der Anschluss an die Vermittlung tatsächlicher philosophischer Inhalte, wie die Apologia ihn ebenfalls für die platonischen Spieldialoge reklamiert, ist auch in dieser Praxis schon angelegt oder wird Spielen im italienischen höfischen Kontext zumindest unterstellt. Wenngleich Speroni dieses Meinungsspiel mit der therapeutischen Einbindung in eine aristotelische KatharsisTheorie und der Verwendung platonischer Dialoge als archetypische Philosophieimitationen noch komplexer macht: Der ludische Widerstreit der Argumente muss den Zuhörern, denen Speronis Freunde die Verteidigungsschrift vorlasen, sehr wohl bekannt gewesen sein.

Konklusionen: Die spielerische Philosophie Aristoteles, Platon, Epikur und die anderen Philosophen bevölkern ganz selbstverständlich die Spiele der Hofgesellschaften. In Castigliones archetypischem Text spielerischer Konversation sind die Philosophen allerdings nicht nur kulturelles Kapital, das eine Funktion als Marker der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe übernimmt: Es ist eine konkrete philosophische Art der Gesprächsführung selbst, die disputatio, welche von den cortegiani imitiert wird. Spieltexte in der Nachfolge des Cortegiano setzen diese »philosophische« Struktur der Unterhaltung entweder als völlig kontingente Zuweisung undurchsichtiger philosophischer Vielfalt in Szene, so wie Marcolini. Oder sie verfahren wie Ringhieri und begreifen sie als Möglichkeit philosophischer 129 Nuccio Ordine hat mit Piero Floriani im Vergleich zum Cortegiano sogar dafür gehalten, dass im Gegensatz zur Abbildung der Werte einer konkreten Umgebung wie des Hofes bei Speroni die Homogenität des Kontextes obsolet und eine plurizentrische Kultur ausgedrückt werde, vgl. Ordine, Nuccio: Teoria e situazione del dialogo nel Cinquecento italiano. In: Bigalli, Davide und Canziani, Guido (Hrsg.): Il dialogo filosofico nel ’500 europeo. Mailand: Franco Angeli, 1990, S. 13–33, hierzu S. 27.

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Ficino, Speroni und die italienischen Philosophiespiele

Zweifel im Ausgang breitgefächerter Themen, im Speziellen als Spiel vergnüglicher Philosophenmeinungen über das weibliche Geschlecht. Dass Spiele in dieser Hofkultur durchaus als Mittel begriffen wurden, Fürsten Philosophie nahezubringen, ist bei Landi deutlich geworden – in den ludischen Unterhaltungen des italienischen Cinquecento hat die vergnügliche Spielerei mit Philosophie jedenfalls einen festen Platz. So wurde in Bargaglis Dialogo schließlich scherzhaft philosophierend festgestellt, dass die wechselhafte Vielfalt sogar das Wesen gelehrter Konversationsspiele sei. Ist es also Zufall, dass die Dialoge Platons, die Ficino noch als preparatio mortis des auf dem Sterbebett liegenden Cosimo de Medici inszenierte, bei Speroni nun Idealtyp einer möglichst vielfältige Meinungen durchspielenden Philosophieimitation sind? Man kann die Frage, weshalb in der Apologia Philosophie als Freizeitspiel nicht mehr abwertend leere Sophisterei sei, durch den Verweis auf die Praktiken spielerischer Philosophie in italienischen giuochi di conversazioni beantworteten, die eine Äußerungssituation erzeugen, in der ein Verweis auf zum Vergnügen geschriebene spielerische Philosophie als Verteidigung denkbar ist.130 Speroni würde so die in den platonischen Gesprächen angelegte und schon von Ficino als ernsthaftes Spiel konzipierte Nähe von Philosophie und Spiel den Konversationsspielen entsprechend als fröhliches Freizeitvergnügen des Widerstreits von Meinungen präsentieren – ein Vergnügen, das durch die Vielfalt an Perspektiven erzeugt wird. Trotz dieser Unterschiede in den inhaltlichen Bestimmungen des Begriffs Spiel stehen Ficino und Speroni dennoch gemeinsam in Kontrast zur Kommentartradition der Nikomachischen Ethik, insofern bei beiden das Verhältnis von Philosophieren und Spielen unter Rückgriff auf Platon grundlegend neu ausgedeutet wird. Dabei ist weniger die exakte Ausformulierung eines Spielbegriffs von Bedeutung als vielmehr die Frage, was dieser Begriff für einen Effekt hat, d. h. wofür sie den Begriff Spiel einsetzen. Bei Ficino diente er dazu, gegen Pico den Parmenides zwar als dialektische Übung, aber in Abgrenzung zu den leeren Spielen der Sophisten über die paradoxe Formulierung vom ernsthaften Scherzen und anstrengenden Spielen als eine Form der Philosophie zu legitimieren, die trotz ihrer scheinbaren Aporien zu den höchsten Wahrheiten führt. Für Speroni hingegen ist der tatsächliche Philosophie imitierende platonische Dialog ein Spiel, da er dem Vergnügen dient und nicht der ernsten, Wahrheit 130 Vorausgesetzt man begreift philosophische Texte auch als Dokument ihrer Auseinandersetzung mit realen Erfahrungen, vgl. Flasch (2000), Das philosophische Denken, S. 11. Die Hofspiele sind entsprechend sicherlich nicht der exklusive Kontext, die Schrift ist multiperspektivisch zu betrachten: Die Apologia wird wegen Speronis Rezeption der KatharsisTheorie der aristotelischen Poetik möglich, wird denkbar auf Grundlage einer peripatetischen Hierarchisierung von Syllogismen und notwendig in einer Situation der Verteidigung der eigenen Werke, um nur einige Beispiele zu nennen.

Konklusionen: Die spielerische Philosophie

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gebärenden aristotelischen Philosophie. Die Charakterisierung als Spiel eröffnet die Möglichkeit der Verteidigung seiner Schriften gegen die Vorwürfe der Inquisition, da er diese als ein nicht ernst zu nehmendes Meinungsspiel entsprechend den vielfach praktizierten höfischen Konversationsspielen darstellen kann. Ficino und Speroni erklären folglich mit Spiel eine spezielle Art des Philosophierens oder Philosophie-Imitierens, für die sie situative Funktion reklamieren (bei Ficino die Verwirrung der Sophisten, bei Speroni der ozio zur Erholung) und die in einem bestimmten Verhältnis zur eigentlichen Philosophie steht: Ludisches Philosophieren eröffnet eine undurchsichtigere Seite der Philosophie, die wie bei Sokrates verwirrend gegen die Sophisten sein kann oder im Wucher vielfältiger Meinungen erhellend wie bei Speroni. Damit skizzieren beide Autoren philosophische Lebensformen, in denen Spielen nicht nur die notwendige Entspannung für die Erkenntnissuche verschafft. Zu beachten ist dabei jedoch, dass bei beiden Ansätzen mit dem Marker Spiel versucht wird, die Bewertungsmaßstäbe für zwei Texte, einmal des Parmenides, zum anderen der Dialogi, bei ihren Rezipienten zu verändern. Ficino und Speroni schreiben Texte über Texte, einen Kommentar und eine Apologie: Wo die Primärtexte den gängigen Vorstellungen eines Philosophierenden oder moralischen Maßstäben widersprechen, eröffnen beide mit der Kategorisierung als Spiel Interpretationsmöglichkeiten, die bei einer Bewertung der Texte als ernste Philosophie nicht verfügbar gewesen wären. Damit setzen sie bei ihren Rezipienten allerdings die Präsenz einer Differenzierung aus dem aristotelischen Diskurs zwischen ernster Philosophie und einem ludischen Bereich, der größere Freiheiten erlaubt, voraus – ohne diese Unterscheidung würde weder die paradoxe Formulierung Ficinos noch das Modell eines Imitationsverhältnisses zwischen ernster aristotelischer und spielerischer platonischer Philosophie bei Speroni Sinn ergeben. Indem jedoch beide den im aristotelischen Spieldiskurs angelegten ludischen Freiraum auf Grundlage platonischer Philosophie nutzen, bereichern sie die Praxis des Philosophierens um mindestens zwei spielerische Versionen. Aus der Platonrezeption in Verbindung mit flexiblen Interpretationen des aristotelischen Deutungsschemas ludischer Praktiken wird so eine Erweiterung der Philosophie und ihrer Ausdrucksmöglichkeiten, welche die Grenze zwischen Spiel und Philosophie, derer sie sich selbst bedient, zumindest in Frage stellt. Dass man aus diesem nun spielenden Philosophieren nach Platon didaktischen Gewinn ziehen konnte, erkannte bald auch Erasmus von Rotterdam in Paris.

Kapitel 3: Spielpädagogik für kleine Philosophen: Die Pariser Lusus pueriles des Erasmus, Vives und Cordier

Die Erziehung des Riesen Gargantua scheint zunächst aussichtslos. In FranÅois Rabelais’ 1534 erschienenem, gleichnamigen Roman zeugt sein verlotterter Tagesablauf jedenfalls von geringer Tugendhaftigkeit. So illustriert etwa eine imposante, mit 217 Titeln versehene Liste der von ihm gepflegten Spiele, ähnlich dem unübersichtlichen Gemenge auf Pieter Bruegels berühmtem Gemälde über Kinderspiele, seine offenkundige Maßlosigkeit. Diese Spielvielfalt erfährt jedoch bald eine bemerkenswerte pädagogische Einschränkung: Nachdem ihn der Scholastiker Thubal Holoferne einigermaßen erfolglos im parodierten formalistischen Stil der Sorbonne erzogen hat, wird Gargantuas Lebenswandel vom Humanisten Ponocrates ganz aufs Studium ausgerichtet.1 Nur zu bestimmten Zeiten darf er fortan verschiedenen Spielen der körperlichen Ertüchtigung nachgehen, die Karten nutzt man zur Reflexion auf arithmetische Zusammenhänge und bei regnerischem Wetter werden antike Brettspiele nach der gelehrten Beschreibung des Nicolaus Leonicus gespielt, wobei das Spiel betreffende Passagen klassischer Autoren und zugehörige Metaphern erörtert werden.2 Die Bezüge der Vorschriften des Ponocrates zur humanistischen Erzie-

1 Zur Liste vgl. Rabelais, FranÅois: Œuvres complHtes. Hrsg. und annot. v. Jacques Boulenger, bearb. u. komm. von Lucien Scheler. (=BibliothHque de la Pl8iade 15) Paris: Gallimard, 1985, S. 64–68 (Gargantua Kap. 22). Zu den Spielen vgl. grundlegend Psichari, Michel: Les jeux de Gargantua. In: Revue des Ptudes Rabelaisiennes VI (1908), S. 1–37, 124–181, 317–361 sowie VII (1909), S. 48–67; zum Gemälde Bruegels, heute im Kunsthistorischen Museum Wien, vgl. Hindman, Sandra: Pieter Bruegel’s Children’s Games, Folly, and Chance. In: The Art Bulletin Vol. 63 Nummer 3 (1981), S. 447–475, unterschiedliche Identifikationen der Spiele auf den S. 469–472, aktueller zum Bild in pädagogischem Kontext Orrock, Amy Louise: Play and Learning in Pieter Bruegel’s Children’s Games. PhD Thesis 2010, University of Edinburgh, online abrufbar im Edinburgh Research Archive unter URL http://hdl.handle.net/1842/5505 (zuletzt abgerufen am 10. 01. 2016), zur Verbindung mit erzieherischen Schriften vor allem von Erasmus und Vives vgl. S. 146–191, zu Rabelais siehe S. 116–145. 2 Vgl. Rabelais (1985), Œuvres, S. 68–78 (Kap. 23–24). Zur Art des Würfelspiels nach Leonicus vgl. den Dialog Samnutus, sive de ludo talario in Thomaeus, Nicolaus Leonicus: Dialogi. Venedig: Gregorius de Gregoriis, 1524, fol. 85v–90r.

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hungslehre des Juan Luis Vives sind unschwer zu erkennen.3 Allerdings werden auch sie nicht ohne Spott vorgetragen: Die übertriebene Darstellung der Humanistenpädagogik tritt zutage, wenn Gargantua selbst noch auf der Toilette Passagen aus den Werken antiker Schriftsteller – und zwar die schwierigsten – ausgelegt werden.4 Immerhin bezeugt Rabelais’ Satire aber die zeitgenössische Wahrnehmung humanistischer pädagogischer Ansätze als Kontrast zur verschulten Ausbildung der Pariser Universität in Frankreich. Die damit einhergehende Aufmerksamkeit für Spiele und deren Normierung betrachtete Rabelais offenbar als wichtiges Element dieser neuen Erziehungspraxis.5 Tatsächlich beschränkte sich humanistische Pädagogik nicht auf die beiläufige Empfehlung entspannender Spiele in Erziehungstraktaten. Nordische Humanisten der Zeit Rabelais’ wie Erasmus von Rotterdam, Juan Luis Vives oder Mathurin Cordier integrierten spielpädagogische Methoden in europaweit verbreitete Schulbücher, was als Element einer zunehmenden Systematisierung humanistischer Pädagogik Anfang des 16. Jahrhunderts betrachtet werden kann.6 In ihren Zusammenstellungen von Schülergesprächen, die für den 3 Vgl. Guerlac, Rita: VivHs and the Education of Gargantua. In: Ptudes rabelaisiennes XI (=Travaux d’Humanisme et Renaissance 139), 1974, S. 63–72. 4 Vgl. Rabelais (1985), Œuvres, S. 69 (Kap. 23): »Puis alloit Hs lieux secretz faire excr8tion des digestions naturelles. L/ son pr8cepteur r8p8toit ce que avoit est8 leu: luy exposant les pointz plus obscurs & difficiles.« 5 Sie gilt mitunter bis heute als ein hervorstechendes Merkmal humanistischer Pädagogik. Vittorinos da Feltre Ansatz etwa, in seiner als Giocosa bekannten Mantuaner Schule in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts die Lerneinheiten mit Gymnastik und Spielen abzuwechseln, gab nicht selten den Anlass, ihn als Ahnherren ganzheitlicher Erziehung zu beschreiben, der nicht nur der geistigen Ausbildung, sondern ebenso der körperlichen Ertüchtigung Aufmerksamkeit geschenkt habe, so etwa bei Müller, Gregor : Mensch und Bildung im italienischen Renaissance-Humanismus. (=Saecula Spiritualia 9) Baden-Baden: Valentin Koerner, 1984, S. 238–244, auch S. 262–265; zur Spielpädagogik für die Renaissance sehr allg. Kreuzer, Karl Josef: Zur Geschichte der pädagogischen Betrachtung des Spielens und der Spiele. In: Kreuzer, Karl Josef (Hrsg.): Handbuch der Spielpädagogik. Band 1: Pädagogische, psychologische und vergleichende Aspekte. Düsseldorf: Schwann, 1983, S. 229–280, der Maffeo Vegio als einen der Ersten sieht, welcher die Bedeutung von Spielen wahrnehme (S. 236–237). Kritischer zu innovativen Momenten praktischer Humanistenpädagogik Black, Robert: Humanism and Education in Medieval and Renaissance Italy: Tradition and Innovation in Latin Schools From the Twelfth to the Fifteenth Century. Cambridge: Cambridge University Press, 2001. Ich verwende den Begriff »Spielpädagogik« im Folgenden zur Beschreibung pädagogischer Spielstrukturierung generell, nicht jedoch in einem spezifischen modernen Sinne. 6 Zur Spielpädagogik in Erziehungstraktaten vgl. bspw. Vegerio, Pier Paolo: Ad Ubertinum de carraria de ingenuis moribus et liberalibus adulescentiae studiis liber. In: Kallendorf (2002), Humanist Educational Treatises, S. 2–91, zu körperlicher Ertüchtigung und Mußezeit bes. S. 66–89, wo Vegerio den militärischen Nutzen und die gesundheitsfördernde Wirkung körperlicher Übung betont sowie den Erholungswert verschiedenster ludi lobt. Zur Bedeutung der Schulbücher bei nordischen Humanisten wie Erasmus vgl. Grafton, Anthony und Jardin, Lisa: From Humanism to the Humanities. Education and the Liberal Arts in Fifteenthand Sixteenth-Century Europe. Cambridge (Mass.): Harvard, 1986, S. 122–149, die in der

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praktischen Lateinunterricht konzipiert waren, finden sich sorgfältig konstruierte Gespräche über und beim Spielen, das eingehende Strukturierungen nach pädagogischen Ansätzen aufweist. In Paris brachte dies in der Mitte des 16. Jahrhunderts einige Drucker auf die Idee, eben diese spielbezogenen Schülergespräche zu kompilieren und – sehr erfolgreich – unter dem Titel Lusus pueriles zu verkaufen. Der Zweck dieser Sammlungen ist vor allem Belehrung: Mittels spielerischer Lateinübung sollen Vokabeln und sittliche Verhaltensweisen vermittelt werden. Die Kompilationen geben eine kleine praktische Handreichung zur lateinischen Beredsamkeit und zum gegenseitigen Umgang im Spiel.7 Bei ihrer Lektüre fällt allerdings auf, dass das kindliche Spiel in den kompilierten Gesprächen von den verschiedenen Autoren recht unterschiedlich modelliert wird. Bei genauerer Analyse lässt sich an der Zusammenstellung der kleinen Spielgespräche sogar eine gewisse diskursive Dynamik ablesen: Basierten die Spielgespräche des Erasmus von Rotterdam noch auf einem von Quintilian inspirierten didaktischen Ansatz, dem zufolge Lerninhalte wie die Moralphilosophie am Besten im Modus des Spielens vermittelbar seien, so integrierte nach ihm Juan Luis Vives in seine Spielgespräche bereits wieder strengere Vorschriften eutrapelischer Spielregulierung, reflektierte jedoch zugleich kritisch deren praktische Effektivität. In der angesprochenen Pariser Kompilation wiederum, in der die ludischen Schülergespräche der beiden Humanisten mit Arbeiten Mathurin Cordiers zusammengebracht werden, ist die Trennung des um didaktische Elemente angereicherten Spiels vom Ernsten deutlicher akzentuiert. Die spielerische Lateinübung wird wieder allein als Ergänzung des Studiums vorgestellt. Ein von Erasmus entwickeltes dynamisches Verhältnis von Spielen und Lernen scheint so in seiner Fortführung und VerAufmerksamkeit für Schulbücher auch einen Übergang vom Humanismus als individuelle Praxis zum Humanismus in der Form eines institutionalisierten Curriculums und der damit einhergehenden Etablierung von allgemeinen Methoden der Erziehung sehen (S. 124). 7 Vgl. zu den Schülergesprächen immer noch grundlegend Bömer, Aloys: Die lateinischen Schülergespräche der Humanisten. (=Texte und Forschungen zur Geschichte der Erziehung und des Unterrichts in den Ländern deutscher Zunge I) Berlin: J. Harrwitz Nachfolger, 1897: Erster Teil: Vom Manuale scholarium bis Hegendorffinus c.1480–1520, 1899: Zweiter Teil: Von Barlandus bis Corderius 1524–1564, zu Spielen auf Lateinschulen im Speziellen Bömer, Aloys: Lernen und Leben auf den Humanistenschulen im Spiegel der lateinischen Schülerdialoge. In: Anhang z. Ndr. von Die lateinischen Schülergespräche, Amsterdam: Schippers, 1966, S. 21–28, des Weiteren Bierlaire, Franz: Le jeu / l’8cole latine et au collHge. In: Aries und Margolin (1984), Les jeux, S. 489–497, zur didaktischen Verwendungen von Spielen Mehl, Jean-Michel: Les jeux dans l’8ducation de la jeunesse m8di8vale. In: Mehl (2010), Des jeux, S. 315–324. Den Begriff ›Humanismus‹ verwende ich in aller Vorsicht im Bewusstsein der Konstruiertheit desselben und der als ›Humanisten‹ zusammengefassten Menge von Intellektuellen als einen sich dynamisch an den studia humanitatis orientierenden Denkstil einer sehr heterogenen Gruppe ›humanistischer‹ Gelehrter, vgl. Ebbersmeyer (2010), Homo agens, grundlegend hierzu S. 3–8.

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marktung zu verblassen, und die Untersuchung eben dieser in den Pariser Kompilationen dokumentierten Bewegung, die sich als Teil der erwähnten Bemühungen um Methodologisierung humanistischer Pädagogik deuten lässt, soll im Mittelpunkt des folgenden Kapitels stehen. Von der kleinen Sammlung auszugehen hat dabei vor allem den Vorteil, dass ich nicht artifiziell eine Kategorie »humanistisches Spielgespräch« konstruieren muss. Vielmehr lässt sich nachvollziehen, was aus der Perspektive der Pariser Drucker unter den zeitgenössischen pädagogischen Angeboten als eine möglichst förderliche Strukturierung kindlichen Spiels galt und welche Autoren dabei in Zusammenhang gesehen wurden – folglich konstituiere nicht ich willkürlich den diskursiven Zusammenhang, es handelt sich um eine zeitgenössische Einschätzung konzeptioneller Verbindung der im Folgenden vorgestellten Spielgespräche. Ich werde mich der kleinen Sammlung von ihrem Inhalt aus chronologisch nähern, d. h. zunächst die in die Sammlung aufgenommenen Gespräche des Erasmus, dann diejenigen Juan Luis Vives’ und zuletzt die Kompilation selbst mit den Ergänzungen des Mathurin Cordier in den Blick nehmen. Im Fokus stehen dabei die Fragen, welche Spielmodelle sie ihren jungen Lateinschülern in den Gesprächen präsentieren, mit welchen zugrundeliegenden spielpädagogischen Konzepten sich diese verbinden lassen und inwiefern Unterschiede zwischen den pädagogischen Spielkonzepten der einzelnen Autoren auszumachen sind.

Erasmus: In ludo pulchrum est arte vincere Die Colloquia familiaria des Erasmus von Rotterdam sind, allein schon ihrer Entstehungsgeschichte wegen, ein ungewöhnliches Werk. Erasmus selbst behauptete gar, sie nicht zur Veröffentlichung vorgesehen zu haben. Erstellt hatte er einen Grundstock der darin enthaltenen Gespräche eigentlich zur Unterweisung seiner jungen Pariser Schüler vor 1499 als kleine Modelle lateinischer Konversation, und sie auch an seinen damaligen Mitbewohner Augustinus Caminadus weitergegeben. Auf obskuren Wegen gelangten sie 20 Jahre später in die Hände Johann Frobens, der sie 1518 zum ersten Mal veröffentlichte. Erasmus selbst nahm sich seines Werks mit der Ausgabe 1519 notgedrungen an und erweiterte die Zusammenstellung von knappen Formulae in der im März 1522 publizierten Ausgabe erstmals um einige neue Gespräche.8 8 Zur Entstehungsgeschichte und den verschiedenen Ausgaben vgl. grundlegend Gutmann, Elsbeth: Die Colloquia Familiaria des Erasmus von Rotterdam. (=Baseler Beiträge zur Geschichtswissenschaft 111) Basel und Stuttgart: Helbing & Lichtenhahn, 1968, S. 3–128, des Weiteren Bierlaire, Franz: Prasme et ses Colloques: le livre d’une vie. (=Travaux d’Humanisme

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In dieser März-Version 1522 bei Froben tauchen nun erstmals fünf Dialoge zu Kinderspielen auf, die später Eingang in die Pariser Sammlung gefunden haben.9 Zugleich gibt Erasmus seinem Werk eine neue Zielsetzung mit der Überschrift, es heißt jetzt im Subtitel no[n] tantum ad linguam puerilem expoliendam utiles, verum etiam ad vitam instituendam – nicht nur der Verbesserung sprachlicher Fähigkeiten bei Kindern dienen seine Colloquia nun, auch für die Vorbereitung aufs Leben sollen sie nützlich sein. Das ist eine Verschiebung hin zur sittlichen Erziehung beim Lateinunterricht, eine Ausbildung der Eloquenz zusammen mit moralphilosophischer Unterweisung in der konsequenten Weiterentwicklung der zunächst nur fragmentarischen lateinischen Formeln zu tatsächlichen Modellen statthafter Interaktion.10 Für die nähere Betrachtung der Schülergespräche ist demnach die Zielsetzung des Erasmus zu beachten, sittliche Kompetenzen in der sprachlichen Ausbildung zu vermitteln und damit die humanistische Beschäftigung mit Moralphilosophie in die sprachdidaktische Praxis zu integrieren. Auch in seiner 1526 nach Angriffen durch die Pariser Theologiefakultät erschienenen Verteidigung der Colloquia, De utilitate Colloquiorum, beharrt er eindeutig auf dem Anspruch, die Jugend mit seinen Gesprächen ködern und den Lateinunterricht mit sittlicher Unterweisung legieren zu wollen.11 Dies drückt er recht unbescheiden aus: »Sokrates führte die Philosophie vom Himmel auf Erden herab, ich führte die Philosophie auch zu Spielen, Gesprächen und Trinkgesellschaften.«12 Diese

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et Renaissance 159) Genf: Librairie Droz, 1977, zu Caminadus Rolle bei der Publikation und dessen Verhältnis zu Erasmus vgl. Bierlaire, Franz: Augustinus Vincentius Caminadus. In: Bietenholz, Peter G. und Deutscher, Thomas Brian (Hrsg.): Contemporaries of Erasmus. Band 1. Toronto/Buffalo/London: University of Toronto Press, 1985, S. 250–251. Vgl. Erasmus Roterodamus, Desiderius: Familiarium colloquiorum formulae (…). Basel: Johann Froben, März 1522, auf den fol. d3r–d8v sind es folgende Gespräche: (1) De lusu, (2) Pila, (3) Ludus globorum missilium, (4) Ludus sphaerae per anulum ferreum, (5) Saltus, zu diesen Gesprächen vgl. auch Bömer (1897), Schülergespräche, S. 86–87. Zitate im Folgenden nach der Amsterdamer Ausgabe (=ASD) Erasmus Roterodamus, Desiderius: Opera Omnia. Band I/3: Colloquia. (Ed. von L.-E. Halkin, F. Bierlaire und R. Hoven) Amsterdam: NorthHolland Publishing, 1972, die Spieldialoge auf den S. 163–171. Einleitende spielhistorische Vorbemerkungen und Erläuterungen zu den Gesprächen finden sich in Erasmus, Desiderius: Collected Works of Erasmus. Band 39: Colloquies. Übers. u. annotiert von Craig R. Thompson. Toronto/Buffalo/London: University of Toronto Press, 1997, S. 74–87. Vgl. Bierlaire (1977), Prasme, S. 44–45, zum »humanistischen« Anspruch der Verbindung von Charakterformung und Sprachausbildung vgl. klassischerweise Garin, Eugenio: Educazione umanistica in Italia. Bari: Laterza, 1971, bspw. S. 11: »Allora i classici antichi, espressione quasi esemplare di umanit/, saranno educatori. Anzi sar/ educazione d’uomini proprio questa filologia (…).« Kritisch zur tatsächlichen pädagogischen Praxis Grafton und Jardin (1986), From Humanism, S. 23–28. Der Text von De utilitate colloquiorum in ASD I/3, S. 741–752, hierzu besonders S. 741–42. ASD I/3, S. 746: »Socrates philosophiam e coelo deduxit in terras, ego philosophiam etiam in lusus, confabulationes et compotationes deduxi.« Das erinnert an das Vorwort Frobens in der 1518er Ausgabe der Colloquia, in der dieser schon das Werk damit anpreist, dass

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Bezugnahme auf Sokrates erinnert nicht zuletzt an die Modi ludischen Philosophierens, die Ficino ebenfalls mit Sokrates und Platon zu konstruieren versuchte – auch bei alltäglichen und unernsten Gelegenheiten können philosophische Inhalte vermittelt werden. Und wenn sokratisches Philosophieren eine Bezugsgröße ganz konkret für die erasmischen Spielgespräche darstellt (denn im lusus der Colloquia soll ja auch Philosophie stecken), dann ist es nicht vermessen, sie auf ihre moralphilosophischen Inhalte und pädagogischen Prämissen hin zu analysieren.13 Ich will also untersuchen, welches Modell kindlicher Interaktion im Spiel diejenigen erasmischen Spielgespräche der Colloquia vorführen, die später in den Pariser Sammlungen auftauchen, und ermitteln, welche Regeln sie für das Sprechen im Kinder-Spiel konstituieren – wenn sie denn überhaupt gleichbleibenden Regeln folgen. Vergegenwärtigen wir uns also zunächst in einem knappen Überblick ihren Inhalt. In einem zweiten Schritt werde ich dann die den Gesprächen inhärenten Regeln mit spielpädagogischen Ansätzen des Erasmus in Zusammenhang setzen – was nicht bedeutet, das pädagogische Denken des Erasmus als Gesamtheit im Spiegel der Spielgespräche zu betrachten. Vielmehr soll es speziell um seine Pädagogik des Spielens gehen: Es soll gezeigt werden, dass die Spieldialoge und ihr Inhalt auf komplexeren pädagogischen Ansätzen beruhen.14 In der Ausgabe 1522 handelt es sich zunächst um fünf dezidierte Spielgespräche, eines zum Spielen allgemein, die übrigen zum Tennis, zum Weitwurf, zu einem dem Croquet ähnlichen Ballspiel und zum Springen. Daneben finden sich später in den Pariser Sammlungen kleinere Colloquia etwa zur Jagd und über

Erasmus den Kindern einige Formeln vorgeschlagen habe, »quibus orationibus in lusu, quibus in congressu, quibus in conviviis uti debeant.« (vgl. Erasmus Roterdamus, Desiderius: Familiarum colloquiorum formulae. Basel: Johann Froben, 1518, S. 2 [=ASD I/3, S. 29]). Der Text von Froben ist wiederum entnommen aus De ratione studii, vgl. Erasmus Roterodamus, Desiderius: De ratione studii. (Ediert von Jean-Claude Margolin) In: ASD I/2. Amsterdam: North-Holland Publishing, 1972, S. 79–151, der eigentliche Text auf S. 111–146, hierzu S. 126. 13 Zumal Beatus Rhenanus in seinem Vorwort zur Ausgabe 1518 die Colloquia generell der Spielerei zuordnet, wenn er ausführt, die Formeln, »quas Erasmus abhinc annos xx. aut amplius, in Augustini Caminadi, ni fallor, gratiam, qui Selandos quosdam pueros docebat, per lusum conscripsit dum Lutetiae degeret (…).« (vgl. Erasmus (1518), Formulae, S. 4 [=ASD I/3, S. 30]). Zu Erasmus als praktischer Reformer der Erziehung vgl. Sowards, J.K.: Erasmus as a Practical Educational Reformer. In: Weiland, J.S. und Frijhoff, W.Th.M. (Hrsg.): Erasmus of Rotterdam. The Man and the Scholar. Leiden et al.: Brill, 1988, S. 123–131, zur Spielpädagogik knapp S. 125–126. 14 Um Erasmus’ »spielerischen« Schreibstil geht es also nicht, er wird behandelt etwa in Matuschek (1998), Spieltheorien, S. 53–73, wie zu finden bspw. im Lob der Torheit – ich interessiere mich in diesem Kapitel allein für die Spielpädagogik.

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den Gang zur Schule.15 Die ersten fünf stellen alltägliche Schülergespräche dar, in denen die Regeln des Spielens, die Einsätze, die genauen Modalitäten des Wettkampfs wie auch die Rolle der Schiedsrichter und die angemessene Art und Weise des Spielens diskutiert werden. Nur im ersten Dialog tritt außerdem ein Schulmeister auf, dem die Schüler durch einen Emissär das Zugeständnis zur freien Spielzeit abzuringen versuchen. Cocles, Abgesandter der Schüler, argumentiert basierend auf Quintilian, mit dem der Schulmeister ihnen beigebracht habe, dass die Geisteskräfte durch moderates Spielen gestärkt werden.16 Der Schulmeister hingegen reagiert aristotelisch: Diejenigen, welche hart arbeiten, benötigen Erholung – für Schüler allerdings, die eifrig spielen und faul studieren, gelte dies nicht. Auf das Versprechen, die unerledigten Aufgaben nach dem Spiel sorgfältig in Angriff zu nehmen, erlaubt er das Spielen jedoch unter einigen Bedingungen: Die Schüler müssen zusammen spielen, dürfen nicht trinken und sollen vor Sonnenuntergang nach Hause kommen.17 Im Werfen stehen sich sodann als Repräsentanten Frankreichs und Deutschlands Bernardus und ein Schüler mit dem (im Nachhinein etwas unglücklich gewählten) Namen Adolphus gegenüber, wobei der Verlierer die jeweils andere Nation dreimal laut zu loben hat. Der unterlegene Bernardus umgeht allerdings geschickt mehrfache Lobpreisungen: »Möge Deutschland dreimal blühen!«18 Im Dialog Saltu hingegen besprechen Vincentius und Laurentius die Nachteile des Springens bei vollem Magen, die Vortrefflichkeit des Laufens, da Vergil in der Aeneis schon diesen Wettkampf vorgeschlagen habe, und die antike Anerkennung des Schwimmens als edle Übung.19 Beim Tennisspiel wird in einer aufregenden Partie festgestellt, dass der Sieg durch Können ehrenvoller sei, die fortuna letztlich jedoch überall regiere – zu gegebener Zeit müsse man außerdem dem Spielen ein Ende bereiten, was mit Terenz gefordert wird: ne quid nimis.20 Auch beim Ludus 15 Ich referiere den Inhalt den obigen Ausgaben Fußnote 9 folgend, die Gespräche Venatio und Euntes in ludum finden sich in ASD I/3 auf den S. 181–183. 16 ASD I/3, S. 164: »Cocles. Totus discipulorum tuorum grex orat ludendi veniam. Paedagogus. Nihil aliud quam luditis, etiam adsque veniam. Cocles. Scit tua prudentia vigorem ingeniorum excitari moderato lusu, quemadmodum nos docuisti ex Quintiliano.« Die Stelle bei Quint. Inst. orat. I 3, 10–12. 17 ASD I/3, S. 164: »Paedagogus. (…) Laxamento opus est iis, qui vehementer laborant. Vobis, qui segniter studetis et acriter luditis, freno magis opus est, quam laxatis habenis. (…) Ludant, sed gregatim in campis. Ne divertant ad compotationes aut alia nequiora. Mature se recipiant domum ante solis occubitum.« 18 ASD I/3, S. 168: »Bernardus. Floreat Germania ter.« 19 Zum Laufen vgl. ASD I/3, S. 170: »Laurentius. Liberalius est certare cursu. Siquidem hoc certaminis genus apud Vergilium proposuit Aeneas.« Vgl. zum Wettlauf Verg. Aen. V 290– 361, wo Aeneas Leichenspiele anlässlich des Todestags seines Vaters abhält und den Teilnehmern beim Laufen prächtige Gewinne in Aussicht gestellt werden. 20 ASD I/3, S. 165: »Hieronymus. Etiam hic valet fortuna? Nicolaus. Illa nusquam non regnat. (…) Hieronymus. (…) Sed praestat ingenue legitimeque ludere. Nicolaus. In ludo pulchrum

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sphaerae zwischen Gasparius und Erasmius stellt man zur Frage nach etwaigen erfahrungsbedingten oder materiellen Vorteilen eines Spielers fest, dass doch stets aus eigener Kraft gewonnen werden müsse. Der Verlierer jedenfalls, so beschließen die beiden, hat ein Distichon aus dem Stehgreif zu formen, das Gasparius allerdings für einen spöttischen Kommentar zum glücklichen Sieg des Erasmius nutzt: »Denn der der schlauere Taugenichts hat mich besiegt.«21 In die Pariser Kompilation aufgenommen sind des Weiteren Gespräche zur Jagd oder über einen Gang zur Schule, Euntes ad ludum.22 Sie haben nur entfernt mit den fünf Gesprächen zu eigentlichen Kinderspielen zu tun, obwohl etwa im Jagddialog das Händespiel morra diskutiert wird und die Doppelbedeutung von ludus beim Gang zur Schule natürlich anklingt. Immerhin zeigen sie aber die breitere Bedeutung, die ludus/ lusus im Sinne einer Geistesschärfe induzierenden Aktivität – denn als solche wird sie von Cocles mit Quintilian in den erasmischen Schülergesprächen vorgestellt – annehmen kann. Meines Erachtens lassen sich in der Modellierung der Gespräche mindestens drei auffallende Elemente isolieren: (1) Spiele werden als notwendiges Mittel zur Erholung eingeführt, was dem wohlbekannten aristotelischen Diskurs entspricht. Erweitert wird dies durch den alacritas-Gedanken Quintilians, der jedoch der scholastischen Auslegungstradition der Nikomachischen Ethik nicht entgegensteht. Dieses erholsame Spiel ist zunächst der Erlaubnis durch einen Schulmeister bedürftig, verläuft dann jedoch ohne Aufsichtsperson. (2) Die Schüler geben sich sodann in eigenständigen Diskussionen selbst die Regeln ihres Spielens – oder zumindest suggerieren die Gespräche das. Indem sie allerdings eine bestimmte Art vorführen, wie man über Spiele im Lateinischen zu sprechen hat, geben sie den Schülern zugleich ein Modell für ludische Konversationen. Der imaginierte freie Diskurs übers Spielen wird also gerade durch seine Realisierung in Form eines Beispiels für das freie Sprechen über Spiele normativ. Er vermittelt nicht nur sprachliche Kompetenzen, sondern auch, wie man Spielen und über Spiele sprechen soll. (3) Eine zentrale Regel dieser Gespräche besteht im Aushandeln eines Einsatzes. Beim Tennisspiel etwa hat jede Seite bei Niederlage eine kleine Summe zu bezahlen, die für ein gemeinsames Mahl aufgewendet wird. Bernardus und Adolphus hingegen vereinbaren die Verpflichtung zur Panegyrik, wobei sie feststellen, dass der Wettkampf um Geld nicht nobel sei.23 Das ist zwar wiest arte vincere. (…)« Zur Spieldauer vgl. S. 166: »Hieronymus. Iam appetit vespera, et sudatum est satis. Praestat a ludendo desistere, ne quid nimis.« Das Terenz-Zitat ne quid nimis aus Ter. Andr. 61. 21 ASD I/3, S. 170: »Gaspar. (…) Nam me qui vicit, doctior est nebulo.« 22 Die einzelnen Ausgaben variieren in der Gesprächsauswahl, vgl. unten Fußnote 85. 23 Vgl. ASD I/3, S. 167: »Bernardus. (…) Non est magnificum certare pro pecunia.«

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dersprüchlich, es bedarf aber auch keines kohärenten Inhalts. Wichtiger ist, dass keines der Schülerspiele überhaupt ohne Einsatz auskommt. Das Geld im Tennisspiel wird solidarisch für die Gemeinschaft ausgegeben, die Verlierer müssen dichten und loben. Die Einsätze dienen sittlicher und sprachlicher Erziehung, stets gibt es dabei aber Sieger und Verlierer. Grundsätzlich handelt es sich demnach um agonale Spiele, wobei eine derartige Spielausrichtung schon vielgelesene Autoritäten humanistischer Pädagogik wie Plutarch und Quintilian empfohlen hatten.24 Und gerade innerhalb dieses Wettkampfmodells ermuntert Erasmus die Kindern zur ad-fontes-Einstellung humanistischer Gelehrter. So diskutieren im Dialog Saltu Vincentius und Laurentius die Vorzüge und Nachteile des Laufens selbstverständlich mit Rückgriff auf Vergil. Das ist doppelt gewinnbringend, indem einerseits die Gespräche die Verwendung klassischer Autoren in Alltagssituationen vorführen, andererseits lateinische Vokabeln fürs Spielen im Spiel gelernt werden.25 Sowohl die leichte dialogische Didaktik des Lateinischen wie auch die exemplarische Vorführung humanistischer Interaktionskultur im Spiel lässt sich in Verbindung setzen mit einem Vorschlag Quintilians, der in seiner Ausbildung des Redners, besorgt um einen durch ein Übermaß an geistiger Arbeit entstehenden Hass auf dieselbe, für die Unterweisung von Kindern den Grundsatz empfiehlt: »Ein Spiel soll das Ganze sein.«26 In seiner Verteidigung der Colloquia formuliert Erasmus es ähnlich, nachdem er festgestellt hatte, dass sich nach Aristoteles junge Menschen wenig dazu eigenen, die Moralphilosophie zu hören – zumindest in der sehr formalen Variante: Eas arbitror satius ex hoc libello discere, quam experientia, stultorum magistra. Multis amara sunt grammatices praecepta. Aristotelis Ethice non est apta pueris. Theologia Scoti minus, ne viris quidem admodum utilis ad parandam bonam mentem, et plurimum habet momenti gustum optimarum rerum protinus inseuisse teneris animis. Et haud scio an quicquam discitur felicius, quam quod ludendo discitur.27

24 Vgl. Quint. Inst. orat. I 3, auch Plutarch: Kinderzucht. Griechisch/Deutsch. München: Heimeran, 1947, zur Notwendigkeit körperlicher Ertüchtigung über kriegerische Wettkämpfe und Erholung 11 (S. 38–43) sowie 13 (S. 42–45). 25 Vgl. das berühmte »Sed in primis ad fontes ipsos properandum, id est graecos et antiquos« des Erasmus in De ratione Studii, ASD I/2, S. 120. Der Fokus auf Vokabellektionen fürs Spielen ist schon Franz Bierlaire aufgefallen: »Plusieurs de ces dialogues sont des v8ritables leÅons de vocabulaire: vocabulaire domestique et mÞme 8questre (Herilia), vocabulaire scolaire (dialogue entre Corneille et Andr8), vocabulaire du jeu (Lusus pueriles, saltu), vocabulaire de la chasse et de la pÞche (Venatio).« (vgl. Bierlaire (1977), Prasme, S. 44). 26 Vgl. Quint. Inst. orat. I 1, 20: »lusus hic sit (…).« Übersetzung nach Quintilian: Ausbildung des Redners. Lateinisch/Deutsch. Übers. von Helmut Rahn. Darmstadt: WBG, 1988, S. 23. 27 ASD I/3, S. 741–742.

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Die Pariser Lusus pueriles des Erasmus, Vives und Cordier

([Junge Menschen] lernen diese Dinge besser aus diesem kleinen Buch, so denke ich, als durch Erfahrung, die Lehrmeisterin der Toren. Für viele Menschen sind die Regeln der Grammatik abstoßend. Die Ethik des Aristoteles ist nicht geeignet für die Jungen, die Theologie des Scotus noch weniger – die ist nicht einmal von großem Nutzen für die Verbesserung des Verstandes selbst erwachsener Männer. Aber in die jungen Geister sofort einen Geschmack für die besten Dinge einzupflanzen ist dringend notwendig. Darüber hinaus bin ich mir nicht sicher, ob irgendetwas besser gelernt wird als dasjenige, was man im Spiel lernt.)

Eine derartige Wertschätzung ludischer Aktivitäten entspricht auch einigen weiteren Bemerkungen Quintilians, mit dem Erasmus seinen Cocles die Notwendigkeit zum Spiel für Schüler zuvor begründen ließ. Spiele hielt der römische Rhetoriker generell nicht für unnütz, denn sie seien ein Zeichen aufgeweckten Geistes, ein signum alacritatis, enthüllten zudem sittliche Veranlagungen und könnten, etwa wenn Schüler sich wettstreitend Fragen aller Art stellen, den Geist schärfen.28 In seinen pädagogischen Schriften folgt Erasmus dieser positiven Bewertung des Spielens und nimmt etwa in De civilitate morum puerilium den Gedanken einer Offenbarung der Charakterneigungen durch Spiele auf.29 Auch geht er hier auf die Modi des Spielens näher ein: Freie (oder sagen wir ehrenhafte) Spiele, in lusibus liberalibus, sollen die Kinder spielen, in denen, hier ganz auf der Linie Quintilians, alacritas sich finde. Hüten solle man sich allerdings vor Frechheiten oder Betrug. Ebenso gelte es, die Entscheidungen des Schiedsrichters zu respektieren und beim Spiel mit unterlegenen Kontrahenten auch die andere Seite um der Munterkeit des Spiels willen gewinnen zu lassen.30 Diese Vorgaben stellen eine klare Verhaltenseinschränkung für die jungen Spieler dar, denen etwa der absolute Siegeswille zum Wohle des Miteinanderspielens ver28 Vgl. Quint. Inst. orat. I 3, 10–12: »nec me offenderit lusus in pueris (est et hoc signum alacritatis) (…). sunt etiam nonnulli acuendis puerorum ingeniis non inutiles lusus, cum positis invicem cuiusque generis quaestiunculis aemulantur. mores quoque se inter ludendum simplicius detegunt (…).« 29 Vgl. Erasmus Roterodamus, Desiderius: De Civilitate morum puerilium. (Ed. von Franz Bierlaire) In: ASD I/8. Amsterdam: North-Holland Publishing, 2013, S. 299–341, hierzu S. 338: »Aiunt puerorum indolem nusquam magis apparere, quam in lusu.« Die Verbindung zu Quintilian ist übrigens auch für Zeitgenossen offensichtlich, wie 1543 für Gilbertus Longolius in seiner Kommentierung dieser erasmischen Schrift, vgl. Erasmus Roterodamus, Desiderius: De civilitate morum puerilium (…). Mit Scholien von Gilbertus Longolius. Antwerpen: Michael Hillenius in Rapo, 1544, fol. d4iir : »Putat et hoc Quintilianus libro primo capite quarto (…).« 30 ASD I/8, S. 338: »In lusibus liberalibus adsit alacritas, absit peruicacia rixarum parens, absit dolus ac mendacium. Nam ab his rudimentis proficitur ad maiores iniurias. (…) Arbitris ne reclamita. Si cum imperitioribus certamen est, possisque semper vincere, nonnunquam te vinci patere, quo ludus sit alacrior.« Zu Querverbindungen dieser Empfehlungen mit den Colloquia und anderen Schriften des Erasmus vgl. die Anmerkungen von Franz Bierlaire auf S. 339. Zur Übersetzung von liberalibus durch ›ehrenhaft‹ vgl. die Kommentierung von Longolius in Erasmus (1544), De civilitate, fol. d4iir : »In lusibus liberalibus) id est, honestis.«

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boten wird. Wenn auch en d8tail etwas variiert, so erinnern diese Empfehlung doch an den seit Albertus Magnus etablierten Diskurs der moralphilosophischen Reglementierung des Spielens. Das Spielen hat auch bei Erasmus seinen Grund in der geistigen Ermunterung, nicht etwa im Geldgewinn: »Animi causa ludendum est, non lucri gratia.«31 Man spielt um des Geistes willen, nicht wegen des Geldes. Der interessantere Aspekt dieses animi causa, da hier der aristotelische Spieldiskurs verlassen wird, ist meines Erachtens die weitreichende pädagogische Nutzbarmachung der kindlichen Spielfreude. Aus Quintilian schöpfend entwickelt Erasmus auch in seiner Schrift De pueris statim ac liberaliter instituendis – von der Notwendigkeit frühzeitiger »wissenschaftlicher« Erziehung also – den Gedanken, dass der Lehrer weniger streng denn beharrlich sein müsse: »Die Beharrlichkeit verletzt nicht, wenn sie maßvoll ist, wenn sie mit Abwechslung zugleich und Ergötzlichkeit gepaart ist, kurz, wenn die Dinge so betrieben werden, dass das Gefühl der Anstrengung nicht aufkommt, sondern der Knabe meint, es sei alles nur Spiel.«32 Diese Empfehlung spricht Erasmus aus, nachdem er ausführlich dazu ermahnt hatte, mit den Studien bei Kindern möglichst früh zu beginnen.33 Hierbei kann er nicht nur auf Quintilian zurückgreifen, auch Platon hatte den Sokrates in seiner Politeia in gleicher Weise feststellen lassen, dass man am Besten in der Jugend lerne. Dem Lernen müsse man dabei eine Form geben, die es nicht als Zwang erscheinen lasse: Spielend sollten die Knaben lernen.34 Wie wir zuvor gehört haben, hat Erasmus nach eigenem Bekunden die Philosophie gleich dem Sokrates ins Spiel geführt, und so spricht er sich ebenfalls gegen alle Arten von Zwang aus: In De pueris wendet er viele Seiten für die eindringliche Ablehnung körperlicher Züchtigung auf, welche doch nur die Abneigung gegen die Wissenschaften fördere und seelisch sowie körperlich negative Folgen für die Jüngsten haben könne.35 Stattdessen müsse der Lehrer in seinen Schülern eine Liebe zu ihm erzeugen, Lob und Tadel anwenden und eben das Erlernen der Anfangsgründe der Wissenschaften leicht gestalten.36

31 ASD I/8, S. 338. 32 Erasmus Roterodamus, Desiderius: De pueris statim ac liberaliter instituendis. (Ed. von Jean-Claude Margolin) In: ASD I/2, S. 1–78, hierzu S. 70: »Non offendit assiduitas, si moderata sit, si varietate simul et iucunditate condiatur, denique si sic tradantur haec, ut absit laboris imaginatio, sed puer existimet omnia per lusum agi.« Übersetzung nach Erasmus von Rotterdam: Ausgewählte pädagogische Schriften. Besorgt von Anton J. Gail. Paderborn: Schöningh, 1963, S. 151. 33 Vgl. ASD I/2, S. 25–39. 34 Vgl. Plat. Polit. 536c–537a. 35 Vgl. ASD I/2, S. 54–65. 36 Vgl. ibid., S. 53 und S. 65 zur Liebe zum Lehrer, zu Lob und Tadel etwa auf S. 62: »Nostra

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Die Pariser Lusus pueriles des Erasmus, Vives und Cordier

Erasmus weiß von einigen geeigneten Didaktikspielen zu berichten, von in Buchstabenformen gestalteten Keksen bis zum Bogenschießen auf die Figuren des Alphabets. Weniger adäquat seien Schach- oder Würfelspiele, die ja an sich schon nicht wenig Anstrengung des Erlernens erforderten und daher die Fassungskraft der Kleinsten übersteigen würden. Wie jedoch ein Arzt nach Lukrez die bittere Medizin durch das Anbringen von Honig am Becherrand schmackhafter mache, so müsse auch der Lehrmeister verfahren.37 Dem Mangel an Kraft könne man so durch die umso höhere Ausdauer der Kinder beikommen, denn es gebe eine einfache Erklärung dafür, weshalb die Jungen den ganzen Tag beim Umherhüpfen keine Müdigkeit verspüren: Quia lusus aetati cognatus est, et lusum imaginantur, non laborem. Est autem in re quauis maxima molestiae pars imaginatio, quae mali sensum adfert interdum, etiam vbi nihil est mali. Proinde quum hanc naturae prouidentia paruulis ademerit, vt quantum deest uiribus, tantum hac parte subleuentur, praeceptoris, ut ante diximus, partes erunt, eandem multis rationibus excludere studioque lusus personam inducere.38 (Weil das Spiel der Jugend eigen ist und weil sie sich dasselbe eben als Spiel vorstellt, nicht als Arbeit. Es liegt aber bei jedem Unternehmen der Hauptteil der Schwierigkeit in der Einbildung, die das Gefühl des Unbehagens auch da hervorruft, wo gar keine Schwierigkeit vorhanden ist. Wenn demnach die Natur in ihrer Fürsorge diese Einbildung den Kleinen erspart hat, so dass dadurch, was ihnen an Kräften mangelt, aufgewogen wird, so soll es, wie gesagt, die Aufgabe des Lehrers sein, dieselbe auf jede Weise fernzuhalten und dem Studium den Anschein des Spiels zu geben.)

Das ist in vielfacher Hinsicht eine bemerkenswerte Stelle. Analysieren wir sie Schritt für Schritt: Ursache für die große Ausdauer und damit Ansatzpunkt zum Erzeugen von Lernfreude ist für Erasmus eine fehlende Einbildung, die nicht vorhandene imaginatio großer Schwierigkeiten. Diese Abwesenheit der Einbildung entsteht dadurch, dass die Kleinsten ihre Tätigkeiten als Spiele betrachten, und eben nicht als Arbeit. Spiel ist hier für Erasmus also nicht eine spezielle oder bestimmte Tätigkeit, sondern eine bestimmte Haltung zu der eigenen Tätigkeit, die sich durch Elimination der Einbildung von Beschwerlichkeit auszeichnet. Die Aufgabe des Lehrers ist entsprechend, diese Haltung möglichst aufrechtzuerhalten und dafür zu sorgen, dass auch dem Studium in ihr begegnet wird.39 virga sit liberalis admonitio, nonnunquam et obiurgatio, sed mansuetudine condita, non amarulentia.« 37 Vgl. ibid., S. 72–73, vgl. Luk. De rer. nat. 4, 10–17. 38 ASD I/2, S. 73, Übersetzung nach Erasmus (1963), Pädagogische Schriften, S. 154. 39 Vgl. auch eine weiter Stelle aus De pueris statim (…) in ASD I/2, S. 53: »Deinde blanda quaedam tradendi ratio faciet ut ludus videatur, non labor. Hic enim lenociniis quibusdam fallenda est aetas illa, quae nondum intelligere potest quantum fructus, quantum dignitatis, quantum voluptatis in posterum sint allaturae literae.«

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Die bislang erwähnten Didaktikspiele wie die Rythmomachia oder auch das Globusspiel waren noch bestimmte Spiele, um philosophische Inhalte zu vermitteln. Der Ansatz des Erasmus liegt dagegen in einer Modifikation der Haltung der Lernenden hin zu einer grob definierten Spiel-Haltung gegenüber dem Lernstoff, was nicht die Verwendung spezieller Lernspiele bedeutet. Limitiert wird die Spielauswahl lediglich durch die inhaltliche Bestimmung der SpielHaltung, die Einbildung von Schwierigkeiten vermeiden soll und daher nicht beim für Kinder schwierigeren Schachspiel eintreten kann. Erasmus verlagert die äußere pädagogische Bestimmung des Spielens durch Regeln, Zeitpunkt, oder Spielutensilien demnach zu einer psychologischen Bestimmung. Die SpielStimmung der Kinder soll genutzt werden, um Grundlagen der Sprache und der Moralphilosophie zu vermitteln. Fragt sich abschließend nur, wie die Kinder durch die Lektüre der Spielgespräche zur Strukturierung ihres Spielens nach den vorgestellten Modellen motiviert werden sollen. Doch stellt Erasmus explizit fest, dass Kinder einen Hang zum Imitieren haben und dieser didaktisch gewinnbringend sei.40 Wenn wir dementsprechend die Spielunterhaltungen auf Grundlage seiner pädagogischen Ansätze der imitatio und Spiel-imaginatio lesen, lässt sich das Konzept der Spielgespräche folgendermaßen rekonstruieren: Die Kinder werden glauben gemacht, nur zu spielen, wobei sie aber imitierend das Lateinische in ihren Alltagskonversationen verwenden.41 Die Spiele geben ihnen ein Modell des Wettkampfes, der Unterhaltung über Spiele entlang antiker Quellen und der angemessenen Verhaltensweise im Spiel. Im Kern liegt dieser Methode eine einfache Idee zugrunde, die Erasmus im Anschluss an den schon zitierten Anspruch, gleich Sokrates die Philosophie ins Spiel gebracht zu haben, als normative Forderung anfügt: »Oportet enim et ludicra Christianorum sapere philosophiam.«42 Auch die Belustigungen der Christen sollen einen philosophischen Geschmack haben, die Unterweisung hat bei Erasmus ihren Platz nicht im Ernsten – sondern im Spiel. Schon 1497, als er für seinen Schüler Johann Christian Nothoff in Paris einen Brief verfasst, preist Erasmus den eigenen Unterricht vermutlich augenzwinkernd in diesem Sinne:

40 Vgl. ASD I/2, S. 48: »Nam in hoc ipsum infantiae peculiarem quandam, ut modo dicebam, imitandi libidinem addidit, ut quicquid audierint viderintue, gestiant aemulari, gaudeantque si quid sibi videntur assequuti. Simios quosdam esse dicas. Atque hinc prima ingenii docilitatisque coniectura.« 41 Die Wichtigkeit dieses gemeinsamen Spiellernens wird in De pueris statim (…) auch deutlich, wenn Erasmus etwa ausführt: »Ad emendate vero loquendum non leve momentum habent et nutrihes et paedagogi et collusores pueri.« (ASD I/2, S. 49) Ernährerin, Erzieher und Spielgenossen haben also großen Einfluss auf die Sprachfähigkeiten der Kinder. 42 ASD I/3, S. 746.

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Die Pariser Lusus pueriles des Erasmus, Vives und Cordier

Omnia apud nos tum seria tum ludicra, ocia negocia literis condiuntur. Inter prandendum de literis garritur, coenae literariis condimentis lautae sunt. Inter deambulandum de literis nugamur, ne leviores quidem lusus nostri a literis sunt alieni; de literis confabulantes somnus opprimit; dormientium literata sunt somnia, experrecti a literis diem auspicamur. Ludere mihi videor, non studere, et tamen nunc demum studere me sentio.43 (Bei uns ist alles, ob Spiel oder Ernst, Muße oder Beschäftigung, mit Literatur gewürzt. Während des Mittagessens plaudern wir über Literatur, unsere Abendessen werden durch literarische Gewürze verfeinert. Beim Spazierengehen plappern wir über Literatur und selbst unsere unernsteren Spielereien sind der Literatur nicht fern stehend. Über Literatur sprechen wir, bis wir in Schlaf fallen; die Träume der Schlafenden sind Literatur, und geweckt von der Literatur beginnen wir den Tag. Ich glaube zu spielen, nicht zu lernen, doch jetzt erst merke ich, dass ich lerne.)

Die Erziehung hat, auch wenn diese Passage wohl scherzhaft verstanden werden muss, einen umfassenden Anspruch: Der Lernstoff ist überall und zu allen Zeiten präsent. Selbst die unernsten lusus der Kinder werden zur Unterweisung genutzt, wie auch nach Erasmus das Spielverhalten junger Schüler generell dem Unterricht dienlich sein soll. Das spielpädagogische Konzept einer Beseitigung der Beschwerlichkeit erzeugenden imaginationes zeigt vor allem schon der letzte Satz des Briefes. Dass er lerne, lässt Erasmus seinen Schüler feststellen, merke er gar nicht, weil er zu spielen glaube. Spiele sind hier, wie eigentlich vorausgesetzt von Christian, kein Gegensatz zu ernsthaften Studien. Sie sind eine imaginatio von Handlungen, die für ein bestimmtes Lebensalter, eben für die Kinder bevorzugt zum Lernen geeignet ist, weil ihre natürliche Veranlagung ohnehin eine unbeschwerte Spielhaltung fördert. Denn der kindliche Geist, weiß Erasmus, habe eine große Empfänglichkeit, und wie leicht lernt er etwas, »vor allem wenn es von gelehrten und freundlichen [Erziehern] spielerisch (per lusum) beigebracht wird.«44 Für Juan Luis Vives war damit in den erasmischen Colloquia ein Vorbild gegeben, die Beschäftigung mit Spielen in Schülergesprächen zur Vermittlung von Bildungsinhalten zu nutzen. Allerdings gab er in seinen Gesprächen der moralphilosophischen Dimension der Spielregulierung wieder mehr Gewicht, wobei er jedoch zugleich die Applikation spielpädagogischer Konzepte kritisch reflektierte. Seine Exercitationes Linguae Latinae blicken auf Pariser Spielbegeisterung mit einem valencianischen Blick – und mit dezidiert normativem Anspruch. 43 Allen, Percy Stafford (Hrsg.): Opus epistolarum Des. Erasmi Roterodami. Tomus I. Oxford: Clarendon Press, 1906, Brief 60 auf den S. 181–188, hierzu S. 184, zur Beteiligung des Erasmus vgl. Bierlaire (1977), Prasme, S. 15 Anm. 14: »Cette lettre fut 8crite avec la collaboration visible d’Prasme (…).« 44 ASD I/2, S. 78: »(…) praesertim si a doctis et comibus per lusum tradantur.«

Vives’ Spiele in Valencia und Paris

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Vives’ Spiele in Valencia und Paris Juan Luis Vives nahm 1531 in seine umfangreiche Schrift De disciplinis, nachdem er vielfältige Gründe für den Verfall der Wissenschaften erläutert hatte, auch eine Anleitung zu deren besserer Vermittlung auf, die den Titel De tradendis disciplinis trägt.45 Quintilian entsprechend gibt er dabei zu, dass Rekreation manchmal notwendig werde, um die Schüler nicht zu überfordern und keinen Hass auf die Studien zu generieren. Dabei verbindet allerdings auch er das Notwendige mit dem Nützlichen: Si Cicero civi suo honestos ac moderatos lusus praescribit, quanto magis philosopho a nobis pr[a]escribi par est: o[mn]ia fiant sub oculis senior[um] aliquot, q[ui] illis sint venerabiles. (…) Latine inter ludendum loquentur, statuta illi p[o]ena ex ratione ludi, qui patrio sermone erit vsus. Latine facile loquentur, ac proinde libentius, si omni[n]o quae ludendo sint dicenda, explicata habeant a pr[a]eceptore bonis et proprijs verbis. inuiti enim eloquimur, qu[a]e nos improprie aut inepte dicturos metuimus.46 (Wenn Cicero seinen Mitbürgern ehrenvolle und maßvolle Spiele vorschrieb, um wieviel mehr sollten sie von uns einem Philosophen vorgeschrieben werden. Doch alles sollte unter den Augen älterer Menschen stattfinden, welche den Jungen verehrungswürdig sind. […] Man lasse sie während des Spielens Latein sprechen, und wer seine Muttersprache benutzt, dem erlege man nach den Regeln des Spiels eine Strafe auf. Wenn all die zum Spielen notwendigen sprachlichen Mittel durch den Lehrer in guten und angemessenen Worten erklärt wurden, so sprechen sie ohne Mühe Latein und weitaus freiwilliger. Wir reden nämlich ungerne, wenn wir fürchten, etwas Unpassendes oder Unbrauchbares zu sagen.)

Es geht also um die Ausbildung von Philosophen, denen das Lernen durch Rekreationsphasen angenehm gehalten werden soll. Aber an diesem Punkt bleibt Vives nicht stehen: Wie Erasmus empfiehlt auch er, Spiele zur Vermittlung eigentlicher Lerninhalte zu nutzen. Hierzu müsse der Lehrer zunächst ein 45 Vgl. Vives, Ioannes Ludovicus: De disciplinis libri XX. Antwerpen: Michael Hillenius in Rapo, 1531. Eine kommentierte Teilübersetzung der Kapitel über den Verfall der Künste ist erschienen als Vives, Juan Luis: Über die Gründe des Verfalls der Künste. Lateinisch/Deutsch. Eingl., komm. und hrsg. von Emilio Hidalgo-Serna, übers. von Wilhelm Sendner. München: Fink, 1990, einleitend zu Vives Methode und Zielsetzung S. 7–86. Zur Erziehung im Kontext von De disciplinis, deren schlechter Zustand für Vives einen wesentlichen Grund für den Verfall der Künste darstellt, vgl. Del Nero, Valerio: Linguaggio e filosofia in Vives. L’organizzazione del sapere nel »De disciplinis« (1531). (=Quaderni di schede umanistiche 2) Bologna: CLUEB Bologna, 1991, S. 19–28, zu Spielen knapp S. 22. 46 Vgl. Vives (1531), De disciplinis, fol. 103r, die Cicero-Stelle vermutlich De offic. I 103–104: »ut enim pueris non omnem ludendi licentiam damus sed eam quae ab honestatis actionibus non sit aliena sic in ipso ioco aliquod probi ingenii lumen eluceat. (…) Ludendi etiam est quidam modus retinendus ut ne nimis omnia profundamus elatique voluptate in aliquam turpitudinem delabamur. Suppeditant autem et campus noster et studia venandi honesta exempla ludendi.«

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Die Pariser Lusus pueriles des Erasmus, Vives und Cordier

Spielvokabular vorführen und die Kinder mittels Strafe dazu anhalten, nicht in die Volkssprache zu verfallen. Der eigentliche Mehrwert des Spielens besteht für Vives demnach in der durch die Erklärung des Lehrers ermöglichten freien und furchtlosen lateinischen Rede.47 Spielvokabeln für das Erlernen des Lateinischen zu nutzen hatte Vives schon in seiner Schrift De ratione studii puerilis für Prinzessin Maria, die Tochter Katharinas von Aragon empfohlen. Ein Buch mit blanken Seiten müsse man kaufen, rät er dort, und selbiges in Abschnitte unterteilen: »In einem wirst Du dir Vokabeln des täglichen Gebrauchs notieren, wie diejenigen des Geistes, des Körpers, unserer Handlungen, der Spiele (…).«48 Das klingt wie eine Erziehung zum selbständigen Erwerb von Spiel-Latein: Die im obigen Zitat aus De tradendis disciplinis aufgestellte Forderung, Älteren bei den Spielen der Jugend eine regulierende Funktion durch Präsenz zukommen zu lassen, vertraut allerdings wenig auf ludische kindliche Autonomie. Sie erinnert vielmehr an die schon im Kapitel zu De ludo globi angesprochene platonische Empfehlung, das Spiel der Kinder zu überwachen und bei Devianz von den sittlichen Vorgaben der Polis zu sanktionieren. Man mag an der Umsetzbarkeit dieser ständigen Überwachung zweifeln – und auch Vives hatte die selbstständige Konstituierung von Spielgemeinschaften durch Jugendliche anscheinend im Auge. In seiner 1539 erschienenen Exercitatio Linguae Latinae, die im Stile der Colloquia knappe Schülergespräche mit Lateinvokabular für alltägliche Situationen anbietet, entwirft er einige Gespräche über die richtige Art zu spielen, die den angehenden Philosophen moralphilosophische Orientierung in ludischer Praxis geben.49 In einem kurzen Gespräch Euntes ad ludum litterarium zum Beispiel wird die Würfelspielleidenschaft eines Schülers verurteilt, der das Spielen dem 47 Einen Überblick zum Spielen bei Vives allgemein gibt Renson, Roland: Le jeu chez Juan Luis VivHs (1492–1540). In: AriHs und Margolin (1984), Les jeux, S. 469–487, zum Anfang lateinischer Unterweisung im Spiel vgl. auch Vives (1531), De disciplinis, fol. 105r : »Ex dictionario absoluto et tanquam suis omnibus partibus confecto iam et pleno decerpet magister, quae quottidiano sint vsui necessaria, vt appositas voces ijs, quae pueri velint eloqui colligat. quorum primordia erunt a levibus, quaeq[ue] aetas illa facile sustineat vtpote a lusionibus.« Vives im Kontext rinascimentalen Sprachunterrichts behandelt mit einer Textauswahl auch knapp Breva-Claramonte, Manuel: La did#ctica de las lenguas en el Renacimiento: Juan Luis Vives y Pedro Simjn Abril, con seleccijn de textos. Bilbao: Universidad de Deusto, 1994. 48 Vgl. Vives, Ioannes Ludovicus: De ratione studii puerilis epistolae duae (…). Eiusdem, Ad veram sapientiam introductio. Item Satellitium animi (…). Basel: Lasius und Platterus, 1537, S. 6: »Compones tibi librum chartae vacuae, iustae magnitudinis: quem in certos locos, ac velut nidos partieris. In uno eorum annotabis vocabula usus quotidiani, velut animi, corporis, actionum nostrarum, ludorum (…).« 49 Ich zitiere im Folgenden nach Vives, Joannes Ludovicus: Opera Omnia. 8 Bände. Hrsg. von Gregorius Majansius. Valencia: Benedictus Montfort, 1782–90 (im Folgenden als Majansius), die Gespräche Leges ludi und Ludus chartarum seu foliorum in Band 1 (1782) auf den S. 378– 391, die Gespräche Euntes ad ludum litterarium und Reditus ad domum et lusus pueriles auf den S. 287–291 und S. 292–94.

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Gang zur Schule vorzieht. Verschiedene Spiele beschreibt auch das Colloquium Reditus domum et lusus pueriles, in dem unter anderem Würfelspielen nachgegangen wird, jedoch alles innerhalb des von Aufsichtspersonen erlaubten zeitlichen Rahmens.50 Diese kleinen Unterhaltungen liegen noch nahe an den erasmischen Modellen, in zwei weiteren Gesprächen allerdings, die in die Pariser Sammlung Eingang gefunden haben, befasst Vives sich intensiver als der Rotterdamer mit sittlich-normativen Vorgaben im Spiel. Sie tragen die Titel Leges ludi und Ludus Chartarum seu foliorum. Ich will nun ebenso wie bei Erasmus die grundlegende Struktur dieser Gespräche in Verbindung mit spielpädagogischen Konzepten eruieren: Welche(s) Spielmodell(e) sieht Vives für seine jungen Lateinschüler vor?51 Beginnen wir zunächst mit dem Inhalt des ersten Dialogs, der den Titel Leges ludi trägt und in Valencia spielt. Obwohl dies Vives Geburtsstadt ist, verbrachte er den Großteil seines Lebens im Norden Europas, in Löwen, Brügge und auch in England. Studiert hatte er in den Jahren 1509–1512 an der Universität Paris.52 Für das kleine Gespräch über Spielgesetze kann er entsprechend auf seine interkulturelle Pariser Erfahrung zurückgreifen: Es treffen sich zu Valencia die Gesprächspartner Borgia, Scintilla und Canabillius, wobei Scintilla – nach längerer Abwesenheit zurückgekehrt – erklärt, er komme gerade aus der französischen Hauptstadt. Borgia schließt darauf, dass man ihn deshalb so lange nicht auf den Tennisplätzen der Stadt habe sehen können, worauf Scintilla entgegnet, er habe auch in Paris, wo die Menschen überhaupt gelehrter und wohlerzogener seien, andere Tennisplätze, andere Spiele gesehen. Die Jugend dort setze sich aus Fürsten zusammen, wohlhabenden und noblen Menschen aus ganz Europa, die sich dem Lehrer immer folgsam der Wissenschaft widmeten.53 Auf ihrem anschließenden Spaziergang durch die Stadt erörtern die drei Freunde sodann, neben der Betrachtung Valencias und seiner Viertel, die Spielmodalitäten des Tennisspiels in Frankreich und werden von Scintilla belehrt, dass die dortigen Schulmeister eben nur dieses als legitime Erholung zuließen. Ausnahmsweise zu Festtagen jedoch habe ein Lehrer, Anneus, das Kartenspiel erlaubt, für dieses und für Spiele im Allgemeinen jedoch sechs Gesetze festgeschrieben.54 Als die Gesprächsgemeinschaft forum und curia der 50 Vgl. ibid., S. 289 und 294. 51 Hier wird entsprechend nicht eine Charakterisierung der Pädagogik des Vives allgemein versucht, sondern es gilt dasselbe Prinzip wie bei Erasmus: Gezeigt werden soll, nach welchen spielpädagogischen Konzepten die Gespräche geformt sind. 52 Zur Biographie vgl. Gonz#lez y Gonz#lez, Enrique: Juan Luis Vives: Works and Days. In: Fantazzi, Charles (Hrsg.): A Companion to Juan Luis Vives. (=Brill’s Companions to the Christian Tradition 12) Leiden: Brill, 2009, S. 15–64. 53 Vgl. Majansius (1782), 1, S. 385–386. 54 Vgl. ibid., S. 386–388.

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Stadt erreicht, wo also auch die Legislative arbeitet, wird Scintilla von Borgia gebeten, diese Gesetze, denn es gäbe ja keinen besseren Ort dafür, den Freunden auszuführen. Scintilla deklariert daraufhin folgende leges ludi55 : (1) Die Zeit des Spielens: Der Mensch sei für ernsthafte Dinge erschaffen, doch wenn Geist oder Körper erschöpft sind, brauche es Erholung zur Wiederherstellung der Kräfte wie beim Schlaf oder der Aufnahme von Nahrung. (2) Die Gesellschaft der Spieler : Es solle sich um angenehme Menschen handeln, die nicht zum Streit neigen und nicht mit ihren schlechten Sitten ansteckend wirken, auch sollten sie keine andere Intention beim Spielen verfolgen als die Rekreation. (3) Das Spiel selbst: Bevorzugterweise solle es sich um ein Spiel handeln, das sowohl den Geist als auch den Körper erfrische. Lasse die Jahreszeit oder die Gesundheit dies nicht zu, so habe man in jedem Fall Spiele zu wählen, in denen nicht alles vom Glück abhänge. (4) Der Einsatz im Spiel: Um Langweile vorzubeugen, sei ein Einsatz berechtigt, allerdings nicht zu hoch, damit der Geist hierdurch nicht gestört und bei Verlust gequält werde – dies sei dann eben kein Spiel mehr. (5) Die Art und Weise des Spielens: Am Anfang rufe man sich ins Gedächtnis, dass man nur der Erfrischung wegen zum Spielen gekommen sei und das Glück sich wechselhaft gebe. Die kleinen Einsätze, um die man spiele, könne man daher ohne Gram und Flüche verlieren. Stets kollegial und freundlich solle man keine Schwüre abgeben sowie die Zuschauer als Schiedsrichter akzeptieren. Auf diese Art ergebe sich aus dem Spiel Vergnügen wie auch eine Erziehung ehrenhafter Jugend. (6) Die Länge des Spiels: Man spiele so lange, bis der Geist sich erholt habe und wieder für ernsthafte Arbeit bereit sei.56 Wolfram Nitsch hat vorgeschlagen, diese Spielgesetze als detailliertere Ausarbeitung der thomasischen Spielvorschriften aus der Summa Theologica zu interpretieren.57 Dies trifft sicherlich zu für Thomas’ Hinweise, kein schändliches Spiel zu wählen (Lex 3), auf die gravitas der Seele zu achten (Lex 5) und Zeit, Ort sowie Personen angemessen zueinander zu bringen (Lex 1, 2 und 6).58 Die Er55 Die leges ludi ibid. auf S. 389–391. 56 Renson (1984), Le jeu, S. 479–480, kommt nur auf fünf Gesetze, unterschlägt dabei aber lex 4 über den Einsatz im Spiel. 57 Vgl. Nitsch, Wolfram: Barocktheater als Spielraum: Studien zu Lope de Vega und Tirso de Molina. Tübingen: Narr, 2000, S. 60. 58 Vgl. hierzu Summa Theologica, IIa-IIae, q.168 a.2cor.: »Circa quae tamen tria videntur praecipue esse cavenda. Quorum primum et principale est quod praedicta delectatio non quaeratur in aliquibus operationibus vel verbis turpibus vel nocivis (…). Aliud autem attendendum est, ne totaliter gravitas animae resolvatur (…). Tertio autem est attendendum,

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mahnung allerdings, den Schiedsrichtern stets zu folgen, erinnert eher an die schon zitierten erasmischen Verhaltensregeln fürs Spiel.59 Im Allgemeinen scheinen die Vorgaben sehr praktisch: Wenn wir uns daran erinnern, dass Spiele ein konstantes kommunales Problem aufgrund ihres Gewaltpotentials darstellten, so liegt die Interpretation nahe, dass Vives seinen Schülern ein strukturiertes Manual zur Vermeidung von Auseinandersetzungen an die Hand gibt. Das zentrale Anliegen scheint die Regulierung der Affekte, deren Exzesse weder durch zu hohe Einsätze noch durch schlechte Gesellschaft befördert werden sollen. Für diese Lesart der Affektmäßigung gibt es einige flankierende Hinweise aus dem pädagogischen Werk des Vives: Affektmäßigung im Spiel etwa empfiehlt der Valencianer auch in seinem Satellitium animi – eine ebenfalls für Maria Tudor erstellte Schrift, worin Vives der Prinzessin in knappen Lehrsätzen, gleich dem bewachenden Gefolge (satellitium) von Königen, sozusagen eine Leibwache für die Seele mitgeben will, die auch viel sicherer schütze als die aus Furcht geborene physische Bewachung.60 Das Spiel des Theaters benutzt er dabei gleich dem Stoiker Epiktet metaphorisch für das menschliche Leben als orientierende Mahnung: Comoedia vita humana. Est enim ceu ludus quidam, in quo unusquisque agit personam suam. Danda est opera, ut moderatis affectibus transigatur, nec cruenta sit Catastrophe, aut funesta, qualis solet esse in Tragoediis: sed laeta, qualis in comoediis.61 (Das menschliche Leben sei eine Komödie. Denn das menschliche Leben ist so wie eine Art von Spiel, in dem jeder seine Rolle spielt. Man muss sich Mühe geben, es in gemäßigten Affekten zu verleben, damit nicht eine blutige oder todbringende, wie es in Tragödien zu passieren pflegt, sondern eine fröhliche Katastrophe sich ergibt, wie in den Komödien.)

Das Leben als Spiel verlangt, die Affekte zu mäßigen und es auf diese Weise, wie eben im Theater, zu einem glücklichen Ausgang zu bringen. Dass Vives diese sicut et in omnibus aliis humanis actibus, ut congruat personae et tempori et loco, et secundum alias circumstantias debite ordinetur, ut scilicet sit et tempore et homine dignus.« 59 Vgl. zu De civilitate oben Fußnote 29. 60 Vgl. Vives (1537), De ratione, S. 103–106. 61 Ibid., S. 122. Katastrophe wird hier als dramentheoretischer terminus technicus gebraucht, der schlicht den letzten Teil einer dramatischen Dichtung bezeichnet. Das Leben als Theater findet sich in dem auch formal mit seinen kleinen Lehrsätzen nahe liegenden Enchiridion des Epiktet, wo stoisch die Annahme einer jeden dem Menschen gegebenen Rolle gefordert wird, vgl. in der Übersetzung Angelo Polizianos: »Memento actorem te esse fabulae, quancunq [ue] is velit, qui docet. si breve[m], brevis: si longa[m], longae. Si mendicu[m] agere te velit, et tunc ingeniose age. si claudum, si principe[m], si privatu[m]. ad te enim pertinet, datam tibi persona[m] bene agere: eligere, ad alium.« (Epiktet: ECWEIQIDIOM EQIJTGTOU. Griech.-Lat. übers. von Angelo Poliziano. Nürnberg: Ioannes Petreius, 1529, fol. d1v, cap. XXII = Epikt. Ench. XVII).

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spielerische Vielfalt der Rollen als Bestandteil des menschlichen Wesens, ja sogar als ein die Menschen vor anderen Geschöpfen auszeichnendes Merkmal begriff, hatte er schon in seiner 1518 entstandenen Fabula de homine deutlich gemacht.62 An seinen Schüler Antonius von Bergen gerichtet entwirft er dort folgendes Narrativ : Zur Unterhaltung der Göttergesellschaft bittet Juno bei einem ihrer Feste den Jupiter, ein Theater zu erschaffen und Darsteller in ungewöhnlichen Rollen auftreten zu lassen. Dieser kommt der Bitte selbstverständlich nach. Dem Weltganzen gleichend bietet die von ihm gestaltete Bühne Raum für zahlreiche Schauspieler, doch scheint den Göttern keiner von ihnen bewundernswerter als der Mensch. Seine vielfältigen Spiele, von Pflanzendarstellungen und Tierimitation, der Darbietung unterschiedlichster menschlicher Charaktere bis hin zur Vorführung der Rolle des Jupiters selbst, begeistern die Götter. Sie nehmen den Menschen in ihre Mitte als ihr Ebenbild auf, lassen ihn neben sich den Fortgang des Theaters beobachten und weisen ihm letztlich sogar einen Platz an der Tafel ihres Banketts zu.63 Die spezifische Qualität des Menschen in Vives’ Fabula ist seine Fähigkeit zur Rollenvielfalt, in der für die beobachtenden Götter gerade seine Gottesebenbildlichkeit und schließlich auch der Grund für seine Aufnahme in die Göttergesellschaft liegt. Der Mensch kann sich demnach theoretisch in beliebig viele Richtungen konstruieren. Eine grundlegende Einschränkung der menschlichen Rollen bleibt jedoch bestehen, wie Vives in seinem Widmungsbrief an Antonius von Bergen eindeutig herausstellt: »Alles nämlich, was sich im menschlichen Leben findet außer der Tugend, ist einem Kinderspiel gleich lächerlich, und verliert sich sofort im Leeren.«64 Die Menschen müssen demnach der Lächerlichkeit ihrer Rollen tugendhaft in gemäßigten Affekten begegnen, denn aus ihren vielfältigen Kinderspielen führt nur die virtus heraus: »(…) homo ipse ludus ac fabula est.«65 Wenn wir entsprechend der schon zitierten Passage aus dem Satellitium einen Einfluss Epiktets zugrunde legen, so sind die Menschen Schauspieler, die ihre Rollen in der fabula eben nicht selbst wählen können, oder wie es in Polizianos Übersetzung des Enchiridions stoisch heißt: »Memento

62 Siehe hierzu Senger, Hans Gerhard: Homo absconditus – Erkenntnis des Menschen in der Kunst des Archimimen. Zu Juan Luis Vives’ Fabula de Homine. In: Senger (2002), Ludus sapientiae, S. 353–379, der Text der Fabula auf den S. 373–379, vgl. zudem Fern#ndezSantamar&a, J.A.: The Theater of Man: J. L. Vives on Society. In: Transactions of the American Philosophical Society, New Series, Vol. 88, No. 2 (1998), hierzu S. 1–15; vgl. auch HidalgoSernas Ausführungen zur fabula als Versinnbildlichung der stetigen Neukonstituierung von Sprache und epistemologischer Dynamik bei Vives in Vives (1990), De causis, S. 43–50. 63 Vgl. Vives, Juan Luis: Fabula de homine. In: Majansius (1783), 4, S. 3–8. 64 Ibid., S. 2: »Omnia enim quae sunt in humana vita, praeter virtutem, tamquam pueriles quidam lusus, ridicula sunt, ac subito utpote inania evanescunt; (…).« 65 Ibid., S. 3.

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actorem te esse fabulae, quancunque is velit, qui docet.«66 Nahe liegt ebenfalls Seneca, nach dessen Empfehlung es im menschlichen Leben wie in der fabula eben nicht auf die Länge, sondern auf eine gute Ausführung ankommt: »Quomodo fabula, sic vita: non quam diu, sed quam bene acta sit, refert.«67 Entsprechend gilt es auch, die Tugenden beim Kartenspiel zu wahren. In einem zweiten Dialog seiner Exercitatio führt Vives die Gefahr des Ausbrechens der Affekte und die dynamische sowie vor allem fragile Applikation seiner leges ludi vor, er trägt den Titel Ludus chartarum seu foliorum. Bei Regenwetter auf ihrer Stube beraten einige Schüler zunächst über nun angemessene Beschäftigungen: Zwar seien meditari und cogitari die vordersten Tätigkeiten des Menschen, doch wenn der Geist von dieser Intention ermüde, müsse man sich erholen, zum Beispiel mit Kartenspielen – das ist die Anwendung von Lex 1.68 Anschließend bespricht man, dass um kleine Beträge gespielt werden solle, Lex 4, und dass man gute Gesellschaft benötige, Lex 2 also.69 Das Kartenspiel hängt nicht ausschließlich vom Glück ab, was nach Lex 3 zu beachten ist, und die Art und Weise des Spielens, Lex 5, wird von den Spielern in ordentliche Bahnen gelenkt. Die Gefahr, dass das Spiel von seiner eigentlichen Funktion der Erholung abweichen könnte, ist jedoch ständig präsent. Dem Vorgehen eines Spielers etwa, mit hohen Einsätzen zu beginnen, setzt sein Mitspieler Castellus umgehend mit dem Hinweis Grenzen, dies sei kein Spiel, sondern furor: »(…) dies ist nicht Spiel, sondern Wahnsinn, wo so viel Geld eingesetzt wird (…).«70 Wie also könne man sich dabei erfreuen? Den Schwur per deum will Castellus ebenfalls nicht von seinen Mitspielern hören,71 wie auch die aufgeregte Besorgtheit ums Spiel und um den Gewinn ihm nicht behagt: »Dies ist tatsächlich nicht Spielen, sondern sich peinigen. Bedeutet sich so zu erregen wirklich, sich zu erholen und den Geist zu regenerieren? Das Spiel muss Spiel sein, nicht Beschwerde.«72 Das 66 Epictetus (1529), Enchiridion, fol. d1v (=Epikt. Ench. XVII). 67 Sen. Ep. 77, 20. 68 Vgl. Majansius (1782), 1, S. 378, wo der Schüler Castellus, nachdem er die Priorität der contemplatio herausgestellt hat, fragt: »Cast. (…) sed ubi ab intentione illa delassatus fuerit animus, quo divertet hoc dumtaxat tempore? Val. Aliis quidem aliae sunt animorum refectiones, ego vero lusu foliorum magnopere oblector ac recreor.« Vgl. die mit intentio auch begriffliche Nähe zu Thomas in der Summa Theologica, IIa-IIae, q.168 a.2cor. (dessen Ansatz natürlich wieder auf Albert zurückgeht): »Et ideo oportet remedium contra fatigationem animalem adhibere per aliquam delectationem, intermissa intentione ad insistendum studio rationis.« 69 Vgl. Majansius (1782), 1, S. 379 und 382. 70 Ibid., S. 382: »(…) non esset is lusus, sed furor, ubi tantum pecuniae veniret in periculum (…).« 71 Vgl. ibid.: »Val. Immo facies per Deum. Cast. Apage, quid tibi venit in mentem, mi Valdaura? Jusjurandum admisces rebus levissimis, quod vix gravissimis rebus adhiberi convenit?« 72 Ibid., S. 383: »Hoc vero non est ludere, sed se afflictare; hoc est refici, et recreari animum, ita concitari? Ludum oportet esse ludum, non molestiam.«

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unsichere und aufwühlende Spiel droht immer wieder auszubrechen und in den von Castellus so bezeichneten Wahnsinn umzuschlagen, so dass es letztlich auch dem Mitspieler Valdaura zu viel wird: »Machen wir, ich bitte euch, dem Spiel ein Ende. Dieses Spiel beklemmt mich, da es so unglücklich vonstattengeht.«73 Er wird allerdings von Castellus darauf hingewiesen, dass der Defekt nicht im Spiel liege, non in ludo est vitium, sondern in seinem fehlenden Können, weil er rein nach Zufall Karten spiele. Doch beschließt man, das Kartenspiel zu beenden, da auch jede Lust ihr Ende habe, und dies ist letztlich die Anwendung von Lex 6.74 In Hinblick auf die zuvor aufgeführten Spielgesetze können wir daher sagen, dass vor allem Lex 4 durch zu hohe Einsätze einerseits, andererseits Lex 3 durch eine willkürliche und glücksabhängige Spielweise, die eben affektive Aufregung verursacht, in Vives’ Kartenspielgespräch gefährdet werden. Mit der Zerbrechlichkeit der Aufrechterhaltung von Spieltugenden wird demnach vor allem die affektive Bedrohung für eine praktische Umsetzung der virtutes demonstriert. Nachdrücklich betont Vives die hieraus resultierenden Gefahren für die Jugend. Zuletzt lässt er seine Schüler noch ein Lied über Spiele rezitieren, und zwar von Vives selbst, das dieser, wie der Schüler Lupianus uns berichtet, angeblich die Mauern in Brügge entlang mit seiner Gänsestimme gesungen habe.75 Abschließend fragt er darin, was das menschliche Leben ohne Tugend sei, »außer einer läppischen und eitlen Fabel?«76 Die intertextuelle Verbindungslinie zur Fabula de homine liegt nahe, und Vives spielt schon zu Beginn des kleinen Kartenspielgesprächs darauf an. Als die zunächst fünf Schüler beratschlagen, wer beim Spiel zu viert auszusetzen habe, will Manricus sich aufgrund seines in der Regel glücklosen Spiels auf die Beobachterposition zurückziehen: »Nolo esse actor in hac fabula, sed spectator.«77 Nicht Schauspieler der fabula will er sein, sondern Zuschauer, was ihm aber von seinen Mitspielern mit Verweis auf die gerechte Behandlung eines jeden einzelnen verwehrt wird. Das Schicksal solle je nach Kartenverteilung entscheiden, wer teilzunehmen habe, nur derjenige mit dem ersten König dürfe der fabula zusehen.78 Seine Rolle kann man hier demzufolge wie bei Epiktet nicht wählen und die Wortwahl in obigem Lied, nugatrix und vana, spricht dafür, dass es bei dieser fabula nicht bloß um eine rinascimentale Zelebrierung der Menschenwürde und 73 Ibid., S. 384: »Faciamus, quaeso vos, ludendi finem: angit me hic ludus, tam infeliciter cedendo.« 74 Vgl. ibid.: »Tam. Omnium rerum est sacietas, etiam voluptatum; et ego defessus sum jam sedendo; assurgamus aliquantisper.« 75 Vgl. ibid., S. 384–385. 76 Ibid., S. 385: »Denique mortalis, sola virtute remota, / Quid nisi nugatrix et vana est fabula, vita?« 77 Ibid., S. 380. 78 Vgl. ibid.

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ihrer positiven Möglichkeiten geht. Vives’ knappes Lied beinhaltet ebenso den Hinweis, dass die Menschen in diesem vielfältigen Spiel zwar frei sind, die Tugend zu wählen und gottgleich wie in der fabula zu werden, sich aber gleichermaßen nur ihren Affekten hingeben könnten. Schon Antonius von Bergen hatte Vives in gleicher Weise ermahnt, stets der Tugend zu folgen. Das Kartenspiel im Kleinen macht er mit seinem intertextuellen Verweis so zu einem Spiegelbild des Lebensspiels: Die Gefahr des Ausbruchs der Affekte, die man, wie im Satellitium angesprochen, stets mäßigen sollte, besteht fortwährend beim Kartenspiel wie auch auf der Bühne des Lebens. Seinen Schülern verabreicht er als Gegenmittel affektmäßigende Spielgesetze, die vor allem einen friedlichen Spielausgang sicherstellen sollen.79 Die Gefahr eines ludischen Ausbruch der Affekte sowie die damit verbundene Offenlegung von Charakteranlagen berücksichtigte Vives auch schon in seinem Werk über die Vermittlung der Künste und zeigte dort ein flexibles Verständnis der erzieherischen Möglichkeiten von Spielen. Dort empfiehlt er das offenbarende Spiel sogar als pädagogische Technik: Exercebuntur lusionibus, id etiam acumen retegit, et mores naturae potissimum inter aequales et sui similes, ubi nihil finget, sed omnia exibunt naturalia. quippe concertatio omnis ingenium educit, ac ostendit, haud secus quam excalfactio herbae, aut radicis, aut fructus odorem, vel vim naturae.80 (Sie [die Kinder] sollten in Spielen geübt werden, denn dies offenbart den Scharfsinn und die natürlichen Charakteranlagen, vor allem unter Gleichaltrigen und Ähnlichen, wo nichts vorgetäuscht wird, sondern alles Angeborene herauskommt. Freilich bringt jeder Wettkampf den Charakter hervor und offenbart ihn, nicht gerade auf andere Weise als die Erwärmung von Pflanzen, Wurzeln oder Früchten den Duft oder die Kraft der Natur.)

Ein schlechter Charakter etwa kommt demnach, gleich dem Geruch beim Erwärmen von Pflanzen, durch das Spiel unbedingt hervor.81 Dieser Theorie einer automatischen, mithin zu natürlich-notwendig Prozessen analog gedachten ludischen Manifestierung charakterlicher Anlagen setzt Vives jedoch gleich anschließend die Möglichkeit spielerischer Modifizierung des Charakters entgegen: »Man lehre den Kindern im Spiel die Aufgabe zu herrschen und zu befehlen. Das Amt, wie Bias sagt, offenbart den Mann. Nicht gerade absurder79 Eine Beschäftigung mit den menschlichen Affekten ist für Vives, so erklärt er in seiner Schrift De anima et vita, die Basis aller Moralphilosophie, vgl. del Nero, Valerio: De anima et vita in the Context of Vives’s Opus. In : Fantazzi (2008), Companion, S. 277–314, hierzu S. 284–285, zu De anima et vita vgl. Majansius (1782), 3, S. 299–300: »adde, quod est de Affectibus speculatio, quae tertio libro continetur, fundamentum universae moralis disciplinae, sive privatae, sive publicae (…).« 80 Vgl. Vives (1531), De disciplinis, fol. 94r. 81 Vgl. wieder Quint. Inst. orat. I 3, 12.

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weise behaupten die Spanier, dass der Rang und das Spiel Prüfsteine des Gemüts sind.«82 Ähnlich unscharf äußert Vives sich sodann zur Determiniertheit durch die im Spiel ermittelten natürlichen Veranlagungen: Niemand solle Aufgaben übernehmen, für die er nicht geeignet sei, obgleich Veranlagungen sich ändern können und manch aussichtsloser Fall viel später Früchte getragen habe.83 Tatsächlich gesteht er in De tradendis disciplinis zu, dass längere Kartenspiele, aber auch Spiele wie Dame und Schach, den Verstand, das Urteils- und Erinnerungsvermögen trainieren können.84 Das ist eine zunächst merkwürdige Verschränkung der möglichen Charakterbildung im Spiel einerseits und des Ausschlusses eigener (Vor-)Spielmöglichkeiten durch das Spiel andererseits. Offenbar kann der Erzieher Spiele zu vielerlei Enden gebrauchen. Im Kartenspiel scheinen in Affekten die Charakteranlagen auf, sind jedoch zugleich einer Korrektur in der Orientierung an den tugendhaften Spielgesetzen zugänglich. Diese multiperspektivische Behandlung von Spielen hat zwar nicht wenig Ähnlichkeit mit dem Ansatz des Erasmus, berücksichtigt allerdings eingehender die affektiven Gefahren des Spielens. Hatte Erasmus das Spielen noch theoretisch als eine besonders dem Kindesalter entsprechende imaginatio von Beschwerdelosigkeit beschrieben, weshalb es sich didaktisch besonders für den Lehrer anbiete, so inszeniert Vives nun auch die Fragilität einer angewandten Spielpädagogik infolge affektiver Erregung. Im Gegensatz zu den schlicht aufgelisteten Spielvorschriften des Erasmus aus De civilitate zeigt er die aufgestellten Spielgesetze in actu, und damit im Zustand steter Verhandelbarkeit. Zwar ist beim Kartenspiel der Schüler Castellus die ordnende Instanz tugendhafter Verhaltensweise, doch bedrohen die Affekte fortwährend das adoleszente Kartenspiel. Und die Ermahnung, ohne Tugend verwandle sich das Leben in eine eitle Fabel, singt der krächzende Vives seinen Schülern am Ende des Gesprächs vorsichtshalber noch einmal ins Gedächtnis. Die Gefahr, das Spiel zur Tragödie werden zu lassen, ist ganz im Unterschied zu Erasmus’ fröhlichen Spielereien durchweg präsent. Weniger als eine allgemeine Spielhaltung betont Vives dabei nur spezifische Funktionen von Spielen und fügt die eutrapelische Spielregulierung in der Nachfolge des Thomas von Aquin wieder in die ludischen Interaktionen seiner jungen Schüler ein. Wie aber diese beiden durchaus differenten Ansätze in Paris kompiliert und gemeinsam verkauft werden konnten, soll nun geklärt werden. 82 Vives (1531), De disciplinis, fol. 94r : »Mandabitur ei per lusum munus regendi, ac imperandi. Magistratus, ut inquit Bias, virum ostendet. Hispani haud absurde dignitate[m] et lusum coticulas esse animorum proverbio dicunt.« 83 Vgl. ibid., fol. 94r–94v. 84 Vgl. ibid., fol. 103r : »Permittendus interdum quoq[ue] lusus folio[rum] longiusculus, qui ingeniu[m], et iudicium, et memoria[m] exercat. Que[m]admodum etia[m] latrunculorum, et acierum.«

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Die Pariser Sammler von Spieldialogen Unter dem Titel Lusus pueriles erscheinen in Paris zwischen 1543 und 1581 mindestens 13 verschiedene Ausgaben einer Kompilation von Kinderspielgesprächen. Es handelt sich um die gerade vorgestellten Dialoge der Humanisten Erasmus von Rotterdam und Juan Luis Vives, erweitert um kleinere Texte von Mathurin Cordier, einem humanistischen Pädagogen, der in Paris unter anderem Johannes Calvin unterrichtete.85 Bei einer derartigen Zusammenstellung überrascht zunächst allein der Umstand ihrer Existenz. In der Mitte des 16. Jahrhunderts hielt es offensichtlich jemand für geboten und finanziell aussichtsreich, eine Zusammenstellung von spielbezogenen Schülergesprächen berühmter Humanisten zu publizieren, und ihr anhaltender Erfolg spricht für eine bereitwillige Aufnahme beim Publikum. Das bedeutet zum einen die Konstituierung einer Gattung von Gesprächen über lusus pueriles, die bei den Autoren selbst nicht angelegt ist und von der Pariser Druckerindustrie kreiert 85 Die früheste mir auffindbare Ausgabe datiert auf 1543, s. ed.: Varii lusus pueriles ex D. Erasmo, M. Corderio et L. Vive separati in gratiam puerorum. Paris: Louis Grandin, 1543 (BibliothHque d’Amiens M8tropole, Signatur M 907/3). In jedem Fall ist der terminus post quem für die Kompilation 1538, also das Erscheinungsjahr der Gespräche von Vives. Die meisten der folgenden Ausgaben jeweils unter den Titeln »Lusus pueriles ex D. Erasmo, M. Corderio et L. Vive (…)« oder »Varii Lusus pueriles ex D. Erasmo, M. Corderio et L. Vive (…)« befinden sich – teilweise in mehreren Exemplaren – in der BibliothHque Nationale de France. In chronologischer Reihenfolge sind es folgende: 1545 in Paris bei Mattheus Davidis (BibliothHque municipale de Lyon, Signatur R8s 381964), 1549 in Paris bei Mattheus Davidis (Universiteits Bibliotheek Gent, Signatur BIB.ACC.017754/-2), 1552 in Paris bei Prigentius Calvarinus (Staatsbibliothek Bamberg, Signatur 22/L.r.r.o.268), 1553 in Paris bei Louis Grandin (Victoria and Albert Libraries [Blythe House (AAD)], Signatur 60.Z.484), 1555 in Paris bei Maurice / Porta (BNF, Signatur X-8846), 1555 in Paris bei Mattheus Davidis (BNF, Signatur RES P-R- 353), 1557 in Paris bei Mauritius / Porta Erben (Universitätsbibliothek Bern, Signatur ZB Bong IV 226: 8), 1557 in Paris bei Simon Calvarinus (Newcastle University Library [Robinson Collection], Signatur PI 879.8 ERA), 1569 in Paris bei Gabriel Buon (BNF, Signatur X-8847), 1571 in Paris bei Gabriel Buon (BNF, Signatur X-8618 (2)), 1573 in Paris bei Gabriel Buon (BibliothHque d’Amiens M8tropole, Signatur 53786 A), 1581 in Paris bei Gabriel Buon (BNF, Signatur RES P-V-542 (4)) und zuletzt als Nachzügler und Ausreißer 1625 in Remis bei Nicolaus Constant (BibliothHque municipale de Lyon, Signatur SJ X 433/267). Zollinger (1996), Spielbücher, S. 324, 328–329, 338, 340 und 348 verzeichnet sechs Ausgaben und versieht die Ausgabe 1553 mit einem Fragezeichen, sieht überdies die 1628 erschienene Paezographia von Guy Bretonneau von den Ausgaben abhängig, vgl. ibid., S. 372. Die BNFExemplare tauchen auch auf in Lindemann, Margarete: Die französischen Wörterbücher von den Anfängen bis 1600: Entstehung und typologische Beschreibung. Tübingen: Niemeyer, 1994, S. 688 und S. 706. Ich zitiere im Folgenden nach der am einfachsten über das Internetportal Gallica konsultierbaren Ausgabe von Porta 1555 (Im Folgenden als Lusus pueriles (1555)). Zu beachten ist allerdings, dass die Auswahl der Spielgespräche in den einzelnen Ausgaben auch leicht variiert: Die bei Davidis im gleichen Jahr erschienene Version etwa enthält ein zusätzliches Gespräch Alia, das zur Überschrift Euntes in ludum gehört (vgl. Lusus pueriles, Davidis 1555, S. 20–21, siehe dazu ASD I/3, S. 183–184).

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wird. Die aus ihren eigentlichen Werkkontexten zu einer Einheit zusammengefassten Spielgespräche treffen sodann auf einen aufnahmewilligen Markt. Zugleich, und das halte ich für den wichtigsten Punkt, verbinden sich mit dieser Sensibilität für Kinderspiele und der pädagogischen Strukturierung selbiger normative Ansprüche, insofern die Dialoge und die von ihnen vorgestellten Spielmodi als vorbildhaft vorgestellt werden. Diese Ansprüche basieren, wie die folgende Analyse zeigen wird, auf den beiden primären Anliegen der Sammlung, der sprachlichen sowie der moralischen Erziehung. Sehen wir uns also ihre Struktur genauer an. Da die Kompilationen Gespräche aus Werken versammeln, die dem Erlernen der lateinischen Sprache dienten, ist davon auszugehen, dass sie in erster Linie für Schüler gefertigt wurden, deren Spielfreude für Lateinübungen genutzt werden sollte. Diese These kann schon allein durch eine nähere Autopsie der Kompilationen selbst gestützt werden, denn der namenlose Typographus gibt als einleitende Bemerkung zu den Dialogen folgende Hinweise: Lusus pueriles ex bonis authoribus selectos redegimus tibi in hunc libellum, Amice lector, ut minori pretio et opera ludere possis: et tuos ipse lusus expediti sermonis gratia condire. Siquide[m] ingrati ferH sunt lusus, in quibus lude[n]te[m] animum dictio et ipsa quasi ludens non sequitur. Qua in re si quid adiume[n]ti tuis studiis attulisse intelligamus, abunde factum satis nostro labori existimabimus, et industriae nostrae vires omnes ad maiora praestanda, Deo duce, colligemus.86 (In diesem Büchlein, verehrter Leser, bringen wir Dir aus [den Werken] vortrefflicher Autoren ausgewählte Kinderspiele, damit Du zu geringerem Preis und Aufwand spielen und Deine Spiele selbst dank der beschwingten Rede würzen kannst. Denn für gewöhnlich sind diejenigen Spiele undankbar, in denen die sozusagen spielende Rede den spielenden Geist nicht begleitet. Wenn wir hierbei erkennen, dass es deinen Studien etwas Unterstützung gebracht hat, werden wir das Werk vollauf ausreichend für unsere Mühe beurteilen, und unter Gottes Führung alle Kräfte unseres Fleißes zur Verrichtung wichtigerer Dinge zusammensammeln.)

Der Drucker bietet Kinderspiele von vortrefflichen Autoren, damit man die Spiele sprachlich beschwingter vollführen könne. Ingrati, unerfreulich, undankbar und nutzlos seien diejenigen, in denen die spielende Rede nicht gefördert werde, die ludische Eloquenz also vernachlässigt. Vorgeführt wird demnach ein Modell kindlichen Spielens, dessen Wert an der das Spielen begleitenden Rede, der spielerischen lateinischen Kommunikation gemessen wird. Bei Quintilian war kindliche Spielfreude noch ein signum alacritatis, ein Zeichen für einen aufgeweckten Geist – die Pariser Druckerindustrie stellt nun Hilfe für eine Herausstellung des selbigen beim Spielen bereit.87 Die Gespräche sollen 86 Lusus pueriles (1555), S. 2. 87 Vgl. Quint. Inst. orat. I 3, 10.

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entsprechend Unterstützung für die Studien bringen, was explizit als Zweck der Sammlung gesetzt wird und ohne Zweifel auf die sprachlichen Fähigkeiten der jungen Lateinschüler bezogen ist. Das gewichtigste Indiz für die sprachliche Fokussierung ist jedoch eine den Gesprächen am Ende der Pariser Sammlung beigefügte Vokabel- und Ausdrucksliste, die von Mathurin Cordier stammt.88 Auf mehreren Seiten werden hier Spielbegriffe und idiomatische Wendungen sowohl auf Latein als auch auf Französisch gegeben, beispielsweise heißt es dort: »Rex non est in sua statione, Le roy n’est pas dans son lieu.«89 Dies gibt der Kompilation sicherlich eine praxisnahe sprachdidaktische Richtung: Als Magister und Präzeptor, d. h. Leiter einer Gruppe von Schülern im Umfeld der zahlreichen Pariser Kollegien, unterrichtete Cordier, wie erwähnt, unter anderem den jungen Calvin, wobei er, nach seinen Publikationen zu urteilen, für neue Methoden durchaus offen war.90 Nicht nur integrierte er Erasmus folgend die sittliche Erziehung in seine eigenen Schülerdialoge,91 auch sprachdidaktisch gesehen war er offenbar um Innovation bemüht: Mit seiner De corrupti sermonis emendatio, ebenfalls publiziert als Commentarius puerorum de quotidiano sermone, stand er dem berühmten Pariser Drucker Robert Estienne nahe, der das klassische Latein behutsam zu erweitern bereit war, auch was alltägliche Dinge anbelangte. Vor allem Estiennes solide lexikographischen Arbeiten versuchten, zur Vernetzung des Lateinischen mit der Volkssprache beizutragen.92 Eine ausführliche Auflistung von lateinischem Spielvokabular mit vereinzelten französischen Übersetzungen findet sich etwa in Robert Estiennes Thesaurus der lateinischen Sprache – aus dem man übrigens lernen kann, dass die Pariser Kompilationen im Titel völlig richtig Lusus, der nur zum Vergnügen verfolgt wird (wie bei Valla93), für Kinderspiele benutzen. An dieser Stelle weist das Wörterbuch selbstverständlich auf Quintilian hin und erkennt mit ihm an, dass manche Spiele den Verstand schärfen.94 Eben bei Robert Estienne erschien 1530 nun auch die Erstausgabe der 88 Vgl. Lusus pueriles (1555), S. 58–63; zu Cordier und seinen Schülergesprächen vgl. Bömer (1899), Schülergespräche 2, S. 200–226. 89 Lusus pueriles (1555), S. 63. 90 Vgl. Neuser, Wilhelm H.: Johannes Calvin. Leben und Werk in seiner Frühzeit 1509–1541. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2009, S. 33–35. 91 Vgl. hierzu Margolin, Jean-Claude: La »civilit8 puerile« selon Prasme et Mathurin Cordier. In: Margolin et al. (Hrsg.): Ragione e »civilitas«. Figure del vivere associato nella cultura del ’500 europeo. Mailand: Franco Angeli, 1986, S. 19–45, vgl. zum Erfolg Cordiers auch die unvollständige Liste seiner Werke in Pettegree, Andrew und Walsby, Malcolm: French Books III & IV: Books Published in France Before 1601 in Latin and Languages Other than French. Leiden/Boston: Brill, 2012, S. 492–495. 92 Vgl. Armstrong, Elizabeth: Robert Estienne, Royal Printer : An Historical Study of the Elder Stephanus. Cambridge: Cambridge University Press, 1954, S. 87–94. 93 Vgl. Vorspiel, S. 75–77. 94 Vgl. Stephanus, Robertus: Dictionarium seu Latinae linguae Thesaurus (…). Paris: Robertus

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Emendatio Cordiers, bestehend aus thematischen Sammlungen lateinischer Vokabeln und Wendungen nebst Varianten und französischen Übersetzungen.95 Offenbar wesentlicher Bestandteil alltäglicher Unterhaltungen eines Schülers im 16. Jahrhundert waren für Cordier die ludischen Praktiken: Ausführlich gibt er auf 19 Seiten seines Werkes lateinisches und französisches Vokabular fürs Spielen.96 Der Anhang der Kompilationen stellt schlicht eine kleinere Auswahl der Auflistung Cordiers dar, explizit basierend, wie in einer kleinen Überschrift angefügt wird, auf der Praxis an Gymnasien.97 Doch nicht nur eine Liste von Spielvokabeln wird von Cordier übernommen, auch ein kleinerer Dialog über das Tennisspiel findet Eingang in die Pariser Sammlungen. Dieser ist eigentlich, ebenso wie das gerade beschriebene Spielkapitel, in der 1530er-Ausgabe der Emendatio enthalten und gibt knappe lateinische Wendungen, durchsetzt mit Varianten, französischen Übersetzungen und Erklärungen – diese werden in den Pariser Kompilationen allerdings eliminiert. Direkt im Anschluss an den Dialog folgt in der Emendatio zudem eine knappe Ermahnung, die in den Pariser Sammlungen später den Titel De corruptis moribus fugiendis inter scholasticos erhält, eine Anleitung zur Vermeidung verdorbener Sitten.98 Eine derartige Verbindung von Lateindidaktik und sittlicher Erziehung war nicht ungewöhnlich für Cordier, selbige hat er schon in seiner Schrift Principia latine loquendi versucht, indem er einerseits Briefe Ciceros mit französischen Übersetzungen aufbereitete, andererseits dem Werk ausgewählte Lehrsätze aus Vives’ Introductio ad sapientiam und Ermahnungen zur richtigen Erziehung voranstellte.99 Bei den Pariser Kompilationen allerdings kommt diese moralphilosophische Dimension nicht sofort hinzu, die Ermahnung aus der Emendatio wird in die

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Stephanus, 1531, fol. 471v–473r, zu lusus fol. 472r : »Lusus lusus lusui, Ad voluptatem pertinet, sine ulla arte, et puerorum proprie dicitur, Esbat, passetemps, recreation. Quintil. Nihil me lusus offenderit. Et paulo post, Sunt etiam no[n]nulli acuendis ingeniis non tantum inutiles lusus.« Die Unterscheidung zwischen lusus und ludus in der Bedeutung »Schule« benutzt übrigens auch Erasmus, etwa im Gespräch Pietas puerilis, vgl. ASD I/3 S. 175: »(…) lusu quopiam honesto laxo animum cum sodalibus, donec hora revocat in ludum a lusu.« Corderius, Maturinus: De corrupti sermonis emendatio libellus (…). Paris: Robertus Stephanus, 1530. Vgl. ibid., S. 326–344. Die Vokabeln und idiomatischen Ausdrücke werden vorgestellt als Varia lusionum genera, quibus pueri in gymnasiis exerceri solent, cum formulis Latinogallicis, vgl. Lusus pueriles (1555), S. 58. Vgl. Cordier (1530), Emendatio, S. 490–511. Vgl. Cordier, Mathurin: Principia latine loquendi, scribendique: sive, selecta quaedam ex Ciceronis epistolis, ad pueros in latina lingua exercendos, adiecta interpretatione gallica, et (ubi opus esse visum est) latina declaratione. Secunda Editio. Lausanne: Ioannes Riverius, 1557, zur richtigen Erziehung fol. a5v–a8r.

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früheren Ausgaben nicht übernommen, sondern allein der Tennisdialog.100 Zwar ist sittliche Erziehung natürlich implizit enthalten, wenn die erasmischen fürs Leben vorbereitenden Colloquia und Vives Spielgesetze versammelt werden, primär allerdings wird in der Vorrede des Druckers der sprachliche Nutzen betont. Erst als die Sammlung von mehreren Druckern aufgelegt worden war, hielt es vermutlich Louis Grandin, von dem auch die mutmaßlich erste Zusammenstellung stammt, im Jahr 1553 für eine gute Idee, sie um zwei kleinere Texte zu erweitern.101 Er gibt hierfür folgende Begründung: Quod pueri, bonarum literarum amatores, a ludo ad studium redire soleant alacriores, de corruptis moribus vitandis inter scholasticos epistola[m] monitoriam, ac dialogum de puero instituendo ad honestatem addidimus, ut ipsi ingenui pueri ex illis duobus suam pueritiam, simulque adolescentiam commodius formare et componere, deinde ad alicuius rei summum gradum pervenire, possint.102 (Damit die Kinder, Liebhaber der guten Literatur, vom Spiel scharfsinniger zum Studium zurückzukehren pflegen, haben wir den mahnenden Brief über die Vermeidung verdorbener Sitten unter Gelehrten sowie den Dialog über die Erziehung der Kinder zu Ehrenhaftigkeit beigefügt, damit die edlen Kinder selbst aus diesen beiden ihre Kindheit und zugleich die Jugendzeit bequemer gestalten und bilden, ferner zur höchsten Stufe irgendeiner Sache gelangen können.)

Bei den beiden angepriesenen Texten handelt es sich also um Anleitungen zu angemessenem sittlichen Verhalten, die explizit für die Kinder selbst bestimmt sind. Neben der angesprochenen Ermahnung Cordiers nimmt Grandin Erasmus’ Monitoria paedagogica in die Sammlung auf. Erstmals in der März-Ausgabe 1522 seiner Colloquia abgedruckt (also in eben derjenigen Ausgabe, die im Titel die moralphilosophische Dimension hinzunimmt und als erste die Spielgespräche enthält), ist dieser knappe Text im Kern eine prägnante Liste von Verhaltensmaßregeln. Der Lehrer warnt seinen Schüler beispielsweise davor, in Konversationen mit ehrenwerten Menschen mit den Fingern nicht im Ohr zu graben und gut artikuliert zu sprechen.103 Es sind also basale Vorgaben, um die es geht, wie auch an der knappen Ermahnung des Mathurin Cordier ersichtlich, die mit dem Rat beginnt, dass die Schüler die Erlaubnis zu spielen nutzen mögen. 100 Vgl. etwa die Ausgabe bei Davidis (1545), S. 17–20 (siehe oben Fußnote 85). 101 Wir können hier nur ›vermutlich‹ sagen, weil möglich ist, dass eine noch nicht aufgefundene Ausgabe die Gespräche schon früher erweitert. Aber die Annahme, das erweiterte Vorwort stamme von Grandin, ist wesentlich plausibler, vgl. die folgende Fußnote. 102 Vgl. Lusus pueriles (1555), S. 2 (ohne Seitenzählung), die Vorrede ist auch hier datiert auf Lutetiae, Idib. Maii 1553, was der Ausgabe 1553 bei Grandin (s. o. Fußnote 85) entspricht, die anscheinend auch zum ersten Mal den längeren Titel trägt: Lusus pueriles ex D. Eras., M. Corderio, et L. Vive: quibus adiecimus ex ipso Corderio de corruptis moribus vitandis inter scholasticos Epistolam monitoriam; denique ex Erasmo Dialogum de puero instituendo ad honestatem. 103 Vgl. Lusus pueriles (1555), S. 55–57 und ASD I/3, S. 161–163.

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Denn keinesfalls sollten sie, während sie zu viel der Freiheit in Anspruch nehmen, auf das verzichten, was ihnen gewährt werde. Spielen diene vor allem der Entspannung des Geistes und dem Wohlbefinden des Körpers.104 Cordier fährt fort zu empfehlen, sich im Wettstreit der Eloquenz oder des Briefeschreibens zu messen, im Allgemeinen aber dem Beispiel Jesu Christi zu folgen105 – interessant allerdings, dass diese Empfehlungen von einer Aufforderung zum Spielen eingeleitet werden. Das ist sicherlich, wie zuvor erwähnt, dem eigentlichen Werkzusammenhang in Cordiers Emendatio geschuldet im direkten Anschluss an ein Tennisgespräch. Allerdings hat dieser Zusammenhang eine weitere Dimension: Der Pädagoge Cordier empfiehlt seinen Schülern, die Erlaubnis zum Spiel zu nutzen, bevor er zur sprachlichen Bildung fortschreitet. Das Spiel gewinnt hier einen vom Pädagogen nicht nur erlaubten, sondern geforderten festen Platz in der humanistischen Erziehung mit angemahntem rekreativen Nutzen. Und ebenso wie bei Erasmus und Vives, die Spiele zur Ausbildung der Eloquenz und zu sittlicher Unterweisung heranzogen, dient Cordier das Spielvokabular hierbei zur Verbesserung des Lateins seiner Schüler. Diese Arbeit an der Sprache, die alle drei Autoren verbindet, wird nun in den Pariser Kompilationen in einer bestimmten Hinsicht kanalisiert, nämlich als Arbeit an der kindlichen Sprache im Spiel. Ziel ist die Befähigung der Kinder selbst, denen die sprachlichen Mittel gegeben werden sollen, sich über das Spielen auf Latein auszutauschen. Lehrbuchwissen sollen sie dabei eben nicht wiederholen, sondern ihre Spiele mittels einer guten Sprache eigenständig würzen. Dabei basieren die im Spiel vorgeführten Verhaltens- und Interaktionsmodelle zwar auf pädagogischen Konzepten, die Modelle selbst werden in ihren eigentlichen Werkzusammenhängen jedoch nicht als gezielte Förderung ludischer Interaktion herausgestellt. Die Gespräche erfahren erst durch die Pariser Zusammenstellung eine exponierte Funktionalisierung als ein bei unterschiedlichen Autoren berücksichtigtes Vehikel sprachlicher und sittlicher Bildung, und damit als gesonderter Bereich pädagogischer Aufmerksamkeit. Die Kinder sollen sich selbst spielerisch zu guten Lateinschülern machen, aber eben im Rahmen des durch die Kompilationen Vorgegebenen.106 104 Vgl. Lusus pueriles (1555), S. 47: »Non decet scholasticos (ut alibi admonuimus) in cubiculis contra maioru[m] praecepta co[m]portare. Cur igitur (inquis) ludam? Ut animum relaxes: ut corporis exercitatione valetudini consulas. Nonne, quod ludis, indulgentia est? Quid si lusiones omnino tibi negarentur? Vive igitur contentus ista magistrorum tuorum venia: ne, du[m] licentiae nimium usurpas, id amittas quod tibi indulgetur.« 105 Vgl. ibid., S. 50–51. 106 Nebenbei in diesem Zusammenhang interessant ist, dass die Kompilatoren auf eine Heranziehung des 1529 erstmals in die Colloquia aufgenommenen Gesprächs über Würfelspielen, )stqacakisl|r sive talorum lusus, verzichten (vgl. ASD I/3, S. 620–628). War das Würfelspiel zu verrufen oder die darin verhandelte griechisch-lateinische Etymologiediskussion zu komplex für Kinder?

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Blicken wir noch einmal auf das Vorwort des Typographus zurück, so fällt ins Auge, dass der Drucker selbst in den letzten Zeilen die Lektüre der beiden zugegebenen moralphilosophischen Schriften empfiehlt, damit die pueritia und die adolescentia selbstständig geformt und gebildet werden können. Durch eine Kategorisierung unterschiedlicher Lebensalter wird dem Leser suggeriert, er selbst, seine Kinder oder seine Schüler, müssten ihren Charakter und entsprechend ihr Spielen in diesen Altersstufen gemäß der Pariser Kompilationen ausbilden. Wie Cordier in seiner der Sammlung beigegebenen Admonitio knapp erwähnt, stamme puer von purus. In diesem Lebensalter müsse man also rein, unbefleckt und enthaltsam sein. Mit adolescentes aber werde das Anwachsen der Jahre und damit zugleich das Anwachsen der Tugenden bezeichnet, wie der Sitten und der Bildung.107 Für eben diese Lebensphasen stellten die Sammlungen spezielle Spielmodelle und ein spezifisches Spiellatein bereit, in gerade diesen Phasen soll den vorgestellten Spielmodellen eine normierende Funktion zukommen, damit die Schüler wieder scharfsinniger zu den Studien zurückkehren.108 Während also Erasmus vor allem eine allgemeine spielerische Haltung zum Lernstoff betont hatte und Vives die Spielregulierung wieder deutlicher in seine Schülergespräche integrierte, stellt ihre Pariser Zusammenstellung mit den praxisnahen Arbeiten Cordiers die Strukturierung des Spielens als abgetrennter Bereich des Lebens nun explizit heraus. Dass mit den Lusus pueriles Kinderspiele als eigenständige Praxis der Kinder beschrieben, genutzt und verkauft werden 107 Vgl. Lusus pueriles (1555), S. 48, zu Lebensaltermodellen allgemeiner vgl. Fitzon, Thorsten: Zehn Jahre ein Kind. Das Kind in Lebensaltermodellen der Frühen Neuzeit. In: Berdolt, Klaus et al. (Hrsg.): Das Kind in der Renaissance. (=Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 25) Wiesbaden: Harrasowitz, 2008, S. 197–220, zum Spieltrieb in den beiden ersten Dekaden des Lebens knapp S. 206. 108 Philippe AriHs ist in seiner Studie zur Kindheit unter dem anciHn regime bekanntermaßen von einer zunehmend affirmativen Sensibilität für die Kindheit als eigenem Lebensabschnitt auf dem Weg zur Neuzeit (in Frankreich) ausgegangen. Im Besonderen, wie er ähnlich auch in Le jeu / la Renaissance argumentiert hat, betreffe dies Spiele, die nun nicht mehr von Erwachsenen und Kindern unterschiedslos gespielt werden, sondern sich zu Kinderspielen infantilisierend spezialisieren, vgl. AriHs, Philippe: L’enfant et la vie familiale sous l’Ancien R8gime. Paris: Seuil, S. 90–149, und AriHs, Philippe: Du serieux au frivole. In: AriHs und Margolin (1982), Les jeux / la Renaissance, S. 7–15, bes. S. 8–9. Die Thesen von AriHs gelten allerdings inzwischen als überholt, vgl. Orme, Nicholas: Medieval Children. New Haven: Yale University Press, 2001, bes. S. 10: »AriHs’s views were mistaken: not simply in detail but in substance. It is time to lay them at rest.« Zu Spielen S. 164–198. Kritisch über AriHs äußert sich auch Mehl, Jean-Michel: Les jeux de l’enfance au Moyen ffge. In: Mehl (2010), Des jeux, S. 295–314, bes. S. 307, der aber zugleich anerkennt, dass prinzipiell die adulte Aufmerksamkeit für Kinderspiele normative Diskurse nach sich zieht (S. 297): »(…) puisque le jeu est reconnue comme tel par l’adulte, il donne naissance dans le monde de ce dernier / un discours fait de jugements, d’appr8ciations et d’interdits et c’est l’8tude de ce discours qui permettra d’approcher les fonctions d8volues / ces jeux de l’enfance.«

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können, ist auf zwar auf die humanistischen Vorarbeiten und den durch sie ermöglichten Diskursrahmen zurückzuführen. Doch die Pariser Kompilation verwertet diese Methode einer Spieldidaktik als Ergänzung zu eigentlichen Studien, nicht als ein Überschreiten der Grenze von Philosophie und Spiel, als die Erasmus sie inszeniert hatte. Die Sammlungen konstituieren demnach auf Basis der Gespräche für den Lateinunterricht eine separate Kategorie didaktisch nutzbarer Kinderspiele, deren nachhaltiger Pariser Erfolg allerdings bemerkenswert ist und die Frage nach der Artikulationssituation für diese im Vergleich zu Erasmus wieder strengere Differenzierung von Spielen und Lernen in den Raum stellt. Denn nicht nur lässt sich dies mit den konkreteren Notwendigkeiten erzieherischer Praxis an zahlreichen Kollegien und Bildungseinrichtungen erklären, aus der etwa Cordiers Arbeiten entstanden sind. Auch kann der Erfolg mit einem auf dem Pariser Buchmarkt nachweisbaren Interesse für die erzieherische Funktionalisierung von Spielen in Zusammenhang gesetzt werden, und die Identifikation eines solchermaßen regionalen Interesses beschreibt präzise das Diskursumfeld, in dem die Pariser Kompilationen entstanden sind, für das sie gedruckt und in dem sie positiv aufgenommen wurden.109 Als Ausgangspunkt können wir wieder auf die Publikationen der Familie Estienne zurückgreifen, denn neben dem berühmten Drucker Robert Estienne, der in seinem Wörterbuch-Lemma Ludus mit Quintilian die intellektuell förderliche Wirkung von Spielen unterstrich, war auch dessen Bruder Spielen positiv zugewandt. Charles Estienne gab der 1542er Ausgabe seiner französischen Übersetzungen der Andria des Terenz einen Brief recueil de toutes les sortes de ieux, qu’avoient les anciens Gre˛cz et Romains. Et comment ilz usoyent d’iceulx bei – eine kurze Zusammenstellung also aller Spielarten der Griechen und Römer und ihres Gebrauchs.110 Die ursprünglich bei Robert Estienne erschienene zweisprachige Übersetzung der Komödie um das Mädchen von Andros war eigentlich gedacht zur nicht beschwerlichen Verbesserung der Sprachfähigkeiten der Jugend, mit grammatikalischen Erläuterungen, mit Vokabeln und idiomatischen Wendungen.111 Es wurde also auch hier versucht, sprachdidaktisch mithilfe eines 109 Zu Diskursen um Spiele im Frankreich der Frühen Neuzeit allgemein vgl. Belmas, Plisabeth: Jouer autrefois. Essai sur le jeu dans la France modern (XVIe-XVIIIe siHcle). Seyssel: Champ Vallon, 2006. 110 Estienne, Charles: PremiHre com8die de T8rence, intitul8e l’Andrie, nouvellement traduicte de latin en franÅois, en faveur des bons espritz, studieux des antiques r8cr8ations. Paris: Andr8 Roffet, 1542, vgl. zu dieser und der ihr vorangehenden Ausgabe (siehe folgende Fußnote) Lawton, Harold Walter : T8rence en France au XVIe siHcle. Paris: Jouve et Cie, 1926, S. 426–449. 111 Der vollständige Titel zeigt das Programm der Publikation schon deutlich an, vgl. P. Terentij Afri comici: Andria: omni interpretationis genere, in adolescentulorum gratiam facilior effecta. Ut ex hac comoedia, omnes deinde alias ab eodem comico conscriptas, nullo negotio

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leichteren Komödienstoffes zu arbeiten, was dem quintilianischen Ansatz des Erasmus entspricht. Aus diesem Versuch erwuchs dann 1542 die eigenständige Publikation, die sich nun – en faveur des bons espritz, studieux des antiques r8cr8ations – allein der volkssprachlichen Wiedergabe des Inhalts und einer anschließenden Erörterung antiker Spiele widmete, diesmal allerdings nicht bei Robert Estienne, sondern beim Pariser Drucker Andr8 Roffet erschienen. Die Spielzusammenstellung gehört als Anhang zu eben dieser Übersetzung.112 Zusammen mit der Andria erscheint sie allerdings noch häufiger.113 Die kurze Abhandlung erfährt also mehrere Drucke, und Charles Estienne weiß die besondere Verbindung der Franzosen zu den antiken Spielen auch gut zu begründen. Denn es gebe nur wenige Dinge, die man nicht von den Alten übernommen habe oder in Annährung imitiere: Et qu’il soit ainsi que tenions encores de leurs coustumes et usaiges, cela nous peult estre assez evident par les ieux et divers esbatz qu’ilz avoient de coustume proposer au peuple, tant pour recreation d’iceluy, comme aussi pour l’exercitation des ieuns ge[n]s, ou aux lettres, ou en faict et dexterit8 de guerre.114 (Und dass es so ist, dass wir immer noch an ihren Sitten und Bräuchen festhalten, dürfte uns ziemlich klar sein in Ansehung der Spiele und verschiedenen Vergnügungen, die sie gebräuchlicherweise dem Volk angeboten haben, gleichermaßen zu dessen Rekreation wie auch zur Übung der jungen Leute entweder in den Wissenschaften oder in kriegerischer Handlung und Geschicklichkeit.)

Nicht nur wird hier eine strukturelle Konstanz zwischen antiken und zeitgenössischen französischen Bräuchen behauptet, sondern auch der Zweck dieser Bräuche erläutert: Neben der Rekreation und der Kriegsübung, so führt Estienne aus, dienten die Spiele der Alten der wissenschaftlichen Erziehung der Jugend, die damit aux lettres geschult werden sollten. Erholung, Krieg, Bildung: Hierfür adsequantur juvenes bonarum literarum studiosi. Addita est constructionis ratio, tum vulgaris, tum etiam latina: item scholia, quae selectiorum vocabulorum vim, & bene latinarum locutionum formulas contineant: cum Ciceronis, & bonorum authorum sermone conferant: corruptam ac vitiatam loquendi consuetudinem emendent. Paris: Simom Colinaeus und Franciscus Stephanus, 1541. 112 Vgl. s.a.: Brief recueil de toutes les sortes de ieux, qu’avoient les anciens Graecz et Romains. Et comment ilz usoient d’iceulx. Paris: Andr8 Roffet, 1542 (im Folgenden als Brief recueil). Der kurze Traktat liegt in der BNF als Monographie (Signatur RES P- V- 1152), allerdings ist eindeutig, dass dieser Text eigentlich zu Roffets französischer Andria-Ausgabe von 1542 gehört, da sich Estienne im Text explizit auf seine der Andria in der 1542er Ausgabe vorangestellte Erörterung zum Theater bezieht, vgl. Biiiir : »Or d’iceulx ieux Sceniques en avons assez ampleme[n]t parl8 au commenceme[n]t de ce livre (…).« 113 Zum Beispiel 1552 als T8rence: La premiere comedie de Terence, intitulee l’Andrie. Nouvellement traduite de latin en franÅoys, en faveur des bons espritz studieux des antiques recreations. Paris: Estienne Groulleau, 1552, unter dem Titel La forme et maniere que tenoient les anciens en leurs ieux publiques (…) auf den fol. 76r–103r. 114 Brief recueil, fol. Aiiv.

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benutzte man Spiele bei den Griechen und Römern wie auch in der zeitgenössischen französischen Kultur. In der von Estienne konstruierten statischen Geschichte des Spielens ist die durch antike Herkunft geadelte Erziehungsfunktion von Spielen in jedem Falle mitgedacht. Diese Einschätzung Estiennes hat tatsächlich, neben den Sprachpraxis fördernden Spieldialogen, einen weiteren fürsprechenden Pariser Zeugen: 1554 veröffentlichte Claude de BoissiHre einen zunächst nur französischen Traktat über ein angeblich pythagoreisches Spiel, die Rythmomachie. Es ist dasselbe, auf das ich bei Nicolaus Cusanus hingewiesen hatte, das mittelalterliche Zahlenkampfspiel.115 Schon im Titel wird angekündigt, dass dieses gleichsam für die Rekreation wie auch für eine wahrhafte und rasche Angewöhnung von Nummern und Proportionen sorge. BoissiHre stellt weiterhin den militärischen Nutzen mathematischer Kenntnisse besonders heraus und behauptet, dass das Spiel unter den antiken Philosophen eingeführt worden sei, um deren Betrübnisse zu mildern und den Geist nach langen Studien zu erholen.116 Die Konstanz ludischer Praktiken wie bei Estienne will er aber nicht zugestehen: Vielmehr habe man heutzutage vergessen, dass viele Gelehrte früher Spiele gesucht und erfunden hätten.117 Auch für BoissiHre sind Spiele dementsprechend Vehikel zur Kriegsertüchtigung, Erholung und vor allem zur mathematischen Erziehung. Bei beiden Spielkonzepten ist der Bezug auf antike Spielformen zentral, die entweder als Grundlage bestehender Praktiken oder erstrebenswertes Vorbild präsentiert werden.118 Dieser Bezug auf die Tradition beinhaltet eine Anerkennung ludischer Didaktik, die den Parisern auch in der Wortbedeutung »Schule« 115 Ich zitiere nach de BoissiHre Daulphinois, Claude: Le tres excellent et ancien ieu Pythagorique, dict Rythmomachie, fort propre et tres util / la recreation des esprits vertueux, pour obtenir vraye et prompte habitude en tout nombre et proportion (…). Paris: Guillaume Cavellat, 1556, vgl. zur didaktischen Zielsetzung auch fol. 4v : »(…) mais aussi toutes gens de vertu en iceluy se recreants, pouront acquerir habituation pour prompteme[n]t pouvoir discerner de toute proportion et harmonie (…).« Zu BoissiHre im Kontext der Geschichte der Rythmomachia vgl. knapp Borst (1986), Zahlenkampfspiel, S. 24–25. 116 Vgl. BoissiHre (1556), Le tres excellent et ancien ieu, fol. 2v : »(…) est tomb8e entre mes mains une compositio[n] et disposition des nombres fort excellente, tir8e des proportions et harmonies de Pythagoras: laquelle par maniere de ieu et recreatio[n] estoit introduicte entre les anciens Philosophes, pour adoulcir leurs fascheries, et recr8er en vertu leurs esprits inquietez par lo[n]gue estude.« 117 Vgl. ibid., fol. 4r : »Plusieurs de grande doctrine et erudition, pour le soulas et allegement des esprits grevez et appesantiz par trop grands travaulx et estudes, iadis ont cherch8 et invent8 maintes belles recreations et ieux: qui auiourd’huy par la no[n]challa[n]ce d’aucuns, et iniure du temps, sont periz.« 118 Dieser Bezug findet sich auch bei Gouyn, Olivier : Le mespris et contennement de tous ieux de sort. Paris: Barthelemy Mac8, 1550, der seiner Schrift gegen das Glücksspiel eine vielschichtige, fast wittgenstein’sche Definitionsvielfalt von Spielen voranstellt, die wesentlich auf antiken Spielformen beruht, vgl. ibd., fol. 6r–10v, vgl. zu Gouyn in dieser Arbeit, S. 266– 267.

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des lateinischen ludus in vielfacher Weise in Estiennes Wörterbuch vorgeführt wird: »Ludus, wird für einen Ort verwendet, an dem jemand geübt und unterrichtet wird. So sagen wir Ludum palaestrae, ludum pilae, ludum gladiatorum, ludum musicum, ludum literarium.«119 Die Spielgespräche der Schüler mit ihren antiken Allusionen fügen sich entsprechend in ein soziales Feld kohärent ein, in dem Intellektuelle ihre Arbeiten in eine Tradition antiker Spielkultur stellen, welche selbstverständlich spielerisches Lernen umfasst. Eben in Paris begann Erasmus mit seinen Formulae, Vives ließ seine Spielgesetzgeber aus dem fernen Valencia auf die hohe Spielkultur der französischen Hauptstadt blicken und Mathurin Cordiers Spielvokabular aus Pariser Gymnasien listende Emendatio erschien bei dem mit Quintilian Spielen positiv zugewandten Pariser Drucker Robert Estienne. Für die Anwendung spieldidaktischer Methoden bietet die französische Hauptstadt ein ausgesprochen fruchtbares Umfeld. Letztlich allerdings stand, wie die gerade vorgestellten Beispiele verdeutlichen, der konkrete praktische Nutzen von Spielen für das Ernste und nicht die allgemeine Infragestellung der Differenz von Spielen und Lernen wie bei Erasmus im Vordergrund. Betont wurde die seriösere Funktion des Spiels als leicht vermittelbarer Modus des Erlernens tatsächlich wichtiger Dinge.

Konklusionen: Eine Dynamik der Didaktik des Spielens Als Johann Christian Guts Muths, Vorvater der Turnbewegung und der Spieldidaktik, 1796 seine ambitionierte pädagogische Spielsammlung herausgibt (»Ich werde (…) mich bemühen, nach und nach eine Spielbibliothek zu Stande zu bringen, wie sie noch keine Nation hat.«120), sind die Pariser Kompilationen schon längst dem Vergessen anheimgefallen. Ungeniert inszeniert er deshalb seine Publikation als erste ihrer Art: »In pädagogischer Hinsicht ist noch gar keine Sammlung von Spielen veranstaltet. Hielt man Spiele für nichtswürdige Possen, die der Zeit, der Mühe und des Papiers nicht werth sind? Schämten sich die Gelehrten sie zu beschreiben?«121 Sie schämten sich nicht. So weit verbreitet und bekannt waren die spielerischen Schülergespräche, dass auch der Magdeburger Rektor Gottschalk Schultze im Jahre 1553 im Kapitel über Spiele in der von ihm verfassten Schulordnung schreiben konnte: »Da es von vortrefflichen Männern geschriebene Dialoge über Spiele gibt, spreche nach deren Vorbild 119 Stephanus (1531), Dictionarium, fol. 471v : »Ludus, pro loco sumitur, in quo quis exercetur, doceturve. Sic dicimus Ludum palaestrae, ludum pilae, ludum gladiatorium, ludum musicum, ludum literarium.« 120 Guts Muths, Johann Christoph Friedrich: Spiele zur Übung und Erholung des Körpers und Geistes. Schnepfenthal: Im Verlage der Buchhandlung der Erziehungsanstalt, 1796, S. XI. 121 Ibid., S. VI.

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jeder Latein, ausgenommen aufgrund einer Erlaubnis.«122 Die humanistischen Spieldialoge entfalten praktische Wirkung und das Spiel wird, aus didaktischen Gründen, verbreitetes Vehikel zum Erlernen der Anfangsgründe eloquenter Latinität. Ich habe in diesem Kapitel die spielpädagogischen Ansätze nordischer humanistischer Philosophen von einer zeitgenössischen Zusammenstellung ausgehend betrachtet, die auf Basis der Arbeiten dieser Humanisten die Konstituierung eines pädagogisch förderlichen Spielmodells versucht. Indem die Drucker ein Genre der Lusus pueriles bei diesen Autoren identifizieren und zu einer Kompilation zusammenfügen, akzentuieren sie die Bedeutung des Kinderspiels in der humanistischen Pädagogik. Bemerkenswert daran ist, dass sie demnach die spielpädagogischen Arbeiten von Erasmus, Vives und Cordier (1) wahrnehmen, (2) eine Verbindung zwischen diesen Ansätzen erkennen und etablieren sowie (3) für eine Zusammenstellung der Spielgespräche einen Markt sehen. Der kontinuierliche Erfolg der Kompilationen scheint ihnen Recht zu geben. Die von ihnen versammelten Prototypen ludischer Konversation für den jungen Lateinschüler entsprechen einem Anliegen humanistischer Philosophen zur Verbindung von Eloquenz und Moralphilosophie über kreative didaktische Methoden. Die Grundstruktur hierfür entwirft Erasmus, indem er vom spätantiken Rhetoriklehrer Quintilian sowie von Platon die Idee einer möglichst frühzeitigen Förderung von Kindern in spielerischer Weise übernimmt und sie in seinen pädagogischen Schriften ausformuliert. Aus einem Anliegen möglichst früher kindlicher Förderung erwachsen schreibt diese didaktisch motivierte Kategorisierung dem Spiel bestimmte Eigenschaften ein: Am offensichtlichsten, dass es nach Erasmus als imaginatio für die Bildung des Nachwuchses besonders geeignet sei, weil es die Einbildung von Beschwerlichkeiten eliminiere. In die Pariser Kompilationen ist so beispielsweise noch ein kleines erasmisches Gespräch über einen Spaziergang aufgenommen, das eigentlich den Titel Domestica Confabulatio trägt.123 Hier erklärt Petrus einem Altersgenossen fast schon in völliger Umkehr der ciceronianischen Maxime menschlicher Geschaffenheit fürs Ernste: »Aber wir leben nicht, um zu studieren, sondern deshalb studieren wir, damit wir angenehm leben.«124 In dem Moment allerdings, in dem der Schüler diesen Sinnspruch nach seiner Lektüre der Gespräche des Erasmus

122 Vgl. Praetorius, Godescalcus: Ludi literarii magdeburgensis ordo, Leges ac Statuta. Magdeburg: Michael Lotther, 1553, fol. D3r : »Cum de lusibus scripti bonis viris extent dialogi, autoritate eorum nemo nisi latina loquatur, excepto casu veniae.« 123 Vgl. Lusus pueriles (1555), S. 15–16 und ASD I/3, S. 138–140. 124 Lusus pueriles (1555), S. 16: »P. At non ideo vivimus, ut studeamus: sed ideo studemus, ut suaviter vivamus.«

Konklusionen: Eine Dynamik der Didaktik des Spielens

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wiederholt, hat er, ohne es zu merken und vielleicht spielend, schon wieder Latein studiert. Bereits bei Juan Luis Vives ist das Spiel jedoch nicht mehr unbestritten bevorzugter Modus zur Vermittlung von Sprachkenntnissen und Moralphilosophie – vielmehr sah Vives Anlass, in einem seiner Spielgespräche eigens die affektiven Gefahren für eine moralphilosophisch sinnvolle Regulierung des Spielens herauszustellen. In den Kompilationen schließlich, die offenbar ein Pariser Interesse an leichten und spielerischen Vermittlungsweisen humanistischer Bildungsinhalte bedienen, wird kindliches Spielen wieder als abgegrenzter Bereich menschlicher Handlungen konstruiert, den es didaktisch zu strukturieren gilt. Im Gegensatz zur albertinisch-aristotelischen Traditionslinie erweitert auch dieser Ansatz die Spieltheorien sicherlich um eine dynamischere Didaktik, die eine vielfältige Spielpraxis mit Inhalten des Sprachunterrichts und der Moralphilosophie anreichert.125 Eben diese didaktische Funktionalisierung tatsächlicher Spielpraxis unterscheidet die hier behandelten Ansätze ebenso von traditionellen Didaktikspielen wie der Rythmomachia, die auf nur ein bestimmtes Spiel festgelegt sind.126 Doch bleibt nach der Umformung in eine Kompilation von der erasmischen Idee, das Studium als Spiel zu begreifen, eben letztlich nur die Strukturierung des Spielens nach Studieninhalten übrig. Der Sprachunterricht und die Moralphilosophie als Spiel werden in diesem Sinne mit ihrer Vermarktung wieder in ein diskursiv etabliertes Schema der Differenz von Spiel und Ernst/Philosophie zurückgeführt. Um hingegen einem Philosophen begegnen zu können, bei dem im Zuge 125 Natürlich hatte Aristoteles schon in seiner Politik knapp die Verwendung von imitierenden Spielen für Kinder empfohlen, vgl. Arist. Pol. VII 17 (1336a21ff.), doch scheint die applikative Rezeption dieser Passage begrenzt – in Rahmen dieser Arbeit ist jedenfalls dahingehend ein abschließendes Urteil nicht möglich. Immerhin einer der berühmtesten Verfasser aristotelisch fundierter Fürstenspiegel, Aegidius Romanus, benennt jedoch in seinem Werk De regimine principum, das auch 1556 noch in Rom gedruckt wird, im Kontext der Erziehung nur zwei Gründe, weshalb man Kinder spielen lassen sollte: Einmal da man sich erholen müsse und nicht stetig konzentrieren könne; andererseits weil der Geist nicht müßig sein dürfe und sofort zum Unerlaubten hin neige, wenn nicht ehrenvolle und erlaubte Spiele zur Verfügung stünden, vgl. Romanus, Aegidius: De regimine principum libri III. Rom: Antonius Bladus, 1556, fol. 191v–192r (II, 2, 13). Roger Friedlein hat demgegenüber allerdings auf ein Werk des Jo¼o de Barros von 1540 hingewiesen, in dem die Tugenden der Nikomachischen Ethik der portugiesischen Infantin Maria anhand eines Spiels vermittelt werden sollen. Er stellt das Werk jedoch vor allem in eine lullistische Tradition, die hier nicht näher beleuchtet werden kann, vgl. Friedlein, Roger : Le hasard dans la philosophie morale. Un jeu de plateau de Jo¼o de Barros: Di#logo sobre Preceitos Morais (1540). In: Collection »La Renaissance en ligne«, online abrufbar unter URL http://umr6576.cesr. univ-tours.fr/Publications/HasardetProvidence (zuletzt abgerufen am 20. 01. 2016). 126 Oder wie es Mehl (2010), Les jeux de l’enfance, auf S. 312 schon für das 15. Jahrhundert fasst: »Une lente r8volution en matiHre p8dagogique est alors / l’oeuvre qui prend souvent appui sur des jeux: les jeux p8dagogiques sont en train de na%tre.«

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Die Pariser Lusus pueriles des Erasmus, Vives und Cordier

seiner viel komplexeren normierenden Arbeit am Spiel die Rolle dieser Differenz nie ganz eindeutig zu bestimmen ist, müssen wir nun in eine andere Hauptstadt rinascimentalen Spielens reisen, in der dem Tennisspiel mit aristotelischen Mitteln begegnet wird: An den Hof von Ferrara.

Kapitel 4: Aufschlag für Alfonso: Antonio Scaino mit der Naturphilosophie auf der Suche nach dem perfekten Spiel

Im Herzen Ferraras, im Castello Estense, im Obergeschoss des mächtigen Stadtschlosses der ferraresischen Herzöge ließ Alfonso II. d’Este, fünfter Duca von Ferrara, Modena und Reggio, sich zu Beginn der 1570er Jahre zwei Repräsentationssäle mit prächtigen Spielszenen bemalen. Die saletta dei giochi schmücken bis heute kegelnde Knaben und ringende Männer von beeindruckend durchtrainierter Statur. Im größeren salone dei giochi, den der Herzog für Gastmähler und Empfänge nutzte, sind neben Schlachtengetümmel ballspielende Recken von nicht minder gestählten Körpern zu bestaunen. Lässt man den Blick weiter die Decke entlang wandern, stößt man bald auf Tennisspieler, die eine dem späteren Rasentennis verwandte Form des Ballspiels praktizieren. Zwar spielen sie ohne Schläger, sind jedoch allesamt mit Unterarmschienen ausgestattet, welche die Wucht des voluminösen Balls beim Schlagen abfedern sollten. Der dargestellte und auch als pallone bezeichnete Wettstreit lässt sich einer Gruppe von Spielen zurechnen, die man in Ferrara unter dem Namen giuoco della palla subsumierte – oder zumindest tat das der erste Theoretiker des Tennisspiels, Antonio Scaino da Salk. In seinem 1555 beim berühmten Venezianer Drucker Gabriele Giolito de’ Ferrari erschienenen und Alfonso II. d’Este, damals noch Prinz und zukünftiger Herrscher von Ferrara, gewidmeten Trattato del giuoco della palla versucht der junge Philosoph, die eleganteste, die der Gesundheit und geistigen Rekreation förderlichste, ja die perfekte Form des Tennisspiels mithilfe der Musik, der Medizin, der Mathematik und der Naturphilosophie zu eruieren.1 1 Vgl. Scaino, Antonio: Trattato del giuoco della palla. Venedig: Gabriel Giolito de’ Ferrari, 1555 (im Folgenden als Trattato). Eine moderne Edition ohne Kommentar, aber mit umfangreicher Einleitung hat Giorgio Nonni besorgt, vgl. Scaino, Antonio: Trattato del giuoco della palla. Urbino: QuattroVenti, 2000 (im Folgenden als Nonni, Trattato), die Einleitung Nonnis auf den S. IX–LXIII, hilfreich zu Scainos Quellen vor allem die kleine Literaturgeschichte des Ballspiels auf den S. XLIII–LXIII. Eine knappe Auswahl von Kapiteln des Traktats wurde auch aufgenommen in die Sammlung Bascetta, Carlo (Hrsg.): Sport e giuochi. Trattati e scritti dal XV al XVIIII secolo. Mailand: Il Polifilo, 1978, S. 271–323. Da meines Erachtens die digitali-

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Antonio Scaino, geboren 1524 in Salk am Gardasee, verbrachte einige Zeit in Padua, vermutlich zum Zwecke des Studiums, bevor er an die Universität Ferraras wechselte, wo der ebenfalls aus Padua nach Ferrara gekommene Aristotelesexperte Vincenzo Maggi sein Lehrer war.2 In einem Dialog Sperone Speronis wird Scaino explizit als Cortegiano vorgestellt, und der Trattato zeigt, dass der junge Philosoph Teil der Hofgesellschaft und mit ihren Ballspielpraktiken bestens vertraut war.3 Sicherlich ist sein Werk daher nicht zuletzt eine Propagandaschrift für Alfonso und die ferraresische Spielkultur, Ausweis der subtilen Würdigung von Spielen am estensischen Hof und nebenbei die kulturpolitische Besetzung eines Felds der Ballspiele, das zumindest hinsichtlich des Florentiner Calcio mit den um Prestige konkurrierenden Medici assoziiert wurde.4 Bemerkenswert am Trattato ist jedoch nicht nur die vollzogene Demonstration hoher Spielkultur in Ferrara, vielmehr überrascht die philosophisch begründete Normierung eines Spiels in einer ungewöhnlichen Verbindung zweier sehr verschiedener Diskurse. Einerseits nämlich bietet Scaino eine höfische sierte Originalversion am leichtesten verfügbar ist, werde ich im Folgenden nach eben dieser zitieren. Die Sekundärliteratur zu Scainos Traktat ist überschaubar : Der Verbindung von Wissenschaft und Tennisspiel hat sich 2013 eine Ausgabe des wissenschaftsgeschichtlichen Journals Nuncius gewidmet, worin sich Marco Beretta in einem Aufsatz mit Scainos Bemerkungen zur Ballbewegung beschäftigte, vgl. Beretta, Marco: Training Tennis Players Through Natural Philosophy : From Scaino’s Trattato to Garsault’s Art du paumier. In: Nuncius. Journal of the Material and Visual History of Science 28 (2013), S. 19–42. Anthony Papalas hat den Trattato knapp als Teil der Ferrareser kulturellen Ideologie unter Alfonso II. diskutiert, gibt allerdings hauptsächlich eine knappe Zusammenfassung des Inhalts, vgl. Papalas, Anthony : The Trattato del giuoco della palla di Messer Antonio Scaino da Salk and the Ferrarese Cultural Ideology in the Time of Alfonso II (1559–97). In: Castelli, Patrizia (Hrsg.): Francesco Patrizi filosofo platonico nel cropuscolo del Rinascimento. Florenz: Olschki, 2002, S. 315–321. Knapp gewürdigt als Vorläufer modernerer Körpererziehung wurde Scaino auch schon 1911 von Bustico, Guido: Antonio Scaino: un precursore dell’educazione fisica nell’et/ del Rinascimento. In: Atti della I. R. accademia di scienze, lettere ed arti degli agiati in Rovereto 17 (1911), S. 277–283. Zum Kontext und mit knappen Hinweisen zum Inhalt des Werkes ebenfalls de Bondt, Cees: Royal Tennis in Renaissance Italy. Turnhout: Brepols, 2006, S. 59–68, zur ferraresischen Tenniskultur allg. S. 47–97, zu Ursprung und Geschichte des Tennisspiels vgl. Gillmeister, Heiner : Kulturgeschichte des Tennis. München: Fink, 1990. Zum Bildprogramm der Räume im Castello Estense vgl. Caporosi, Luisa: Gioco e tempo nell’ »Appartamento dello specchio« del castello estense di Ferrara. Ipotesi per il programma iconografico di Pirro Ligorio. In: Ludica 8 (2002), S. 98–113. Ich werde Tennis in diesem Kapitel zur besseren Lesbarkeit als Überbegriff für die von Scaino behandelte, dem modernen Tennisspiel ähnliche Gruppe von verschiedenen Ballspielen verwenden. Der Titel dieses Kapitels ist inspiriert von Gillmeister, Heiner : Aufschlag für Walter von der Vogelweide. Tennis seit dem Mittelalter. München: Droemer Knaur, 1986. 2 Zur Biographie vgl. knapp Nonni, Trattato, S. IX Anm. 1. 3 Vgl. Speroni, Sperone: Dialogo del giuditio di Xenofonte. In: Ders.: Dialogi. Venedig: Roberto Meietti, 1596, S. 216–261, hierzu S. 216: »Quivi un giorno di questa estate havendo seco / mangiar de’ Baroni Torquato Conte; de’ letterati, il Manutio, e lo Scaino de’ Cortegiani (…).« 4 Vgl. Bredekamp, Horst: Florentiner Fußball. Die Renaissance der Spiele. Frankfurt a. M.: Campus, 1993.

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Diskussion spielerischer Praktiken der Soziabilität, deren Thema und Kontext sie in die Tradition des Cortegiano Castigliones zu stellen scheinen. Andererseits macht er jedoch erheblichen Gebrauch von physikalischen und biologischen Schriften des Aristoteles. Um das Spiel zu seiner vollkommensten und vergnüglichsten Form zu bringen, entwickelt Scaino dabei Grundzüge einer naturphilosophischen Behandlung von Sportspielen für die Hofgesellschaft. Seine Theorie des Tennisspiels regelt eine bestehende ludische Praxis damit eben nicht nach einem exemplum wie dem Hof von Urbino, sondern wissenschaftlich objektiviert nach naturphilosophischen Methoden. Demzufolge macht er mit Aristoteles einen Bereich menschlicher Handlungen, der nach scholastischer Aristotelesauslegung jenseits der Wissenschaft Erholung verschaffen sollte, zu einer wissenschaftlichen Herausforderung selbst – wobei nicht immer zweifelsfrei zu klären sein wird, ob es sich bei seinem Traktat nun um eine vergnüglich ludische Inszenierung des Philosophierens um Spiele oder um eine tatsächlich gänzlich ernste Strukturierung des Tennisspiels nach philosophischen Maßstäben handelt. Um Scainos ungewöhnlich philosophische Betrachtungsweise von Spielen herauszuarbeiten, werde ich zuerst die grundlegende Struktur des Trattato beschreiben, einen Überblick seines Aufbaus und Inhalts geben sowie das von Scaino skizzierte grundlegende Programm der Schrift nachzeichnen. Auf dieser Basis kann sodann ein Vergleich mit anderen ludologischen Texten in Scainos Umfeld vorgenommen werden, was den Blick für die außergewöhnlichen und in diesem Sinne innovativen Momente des Trattato schärfen wird. So vorbereitet können wir dann die Herangehensweise Scainos in ausgewählten Beispielen en d8tail verfolgen. Zuerst wird herausgestellt, dass Scaino die Behandlung von Spielen methodisch analog zur Naturphilosophie, und zwar insbesondere zu den zoologischen Schriften des Aristoteles in Angriff nimmt. In einem zweiten Schritt werde ich dann verdeutlichen, dass er gleichfalls die Spielpraxis selbst zum Gegenstand naturphilosophischer Analyse macht und die Spielinstrumente sowie die Spielweisen entsprechend normiert. In einem eigenen Abschnitt ist dabei Scainos Behandlung des Spielballs besonders herauszustellen, anhand derer eine Verbindung zu seinem naturphilosophischen Lehrer Vincenzo Maggi und die ambivalente Stellung seines Traktats zwischen Universität und Hof aufgezeigt werden kann. Aber bevor wir zu den speziellen Tricks ferraresischer Tenniskunst gelangen, vergegenwärtigen wir uns zunächst nun deren Umrisse.

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Das Gerüst des Trattato del giuoco della palla Scainos Trattato ist erwachsen, wie er uns selbst berichtet, aus einem Streit um die Auslegung einer Regel bei einer Partie unter Anwesenheit Alfonsos. Nach und nach habe sich dann die Arbeit zur Klärung dieses Streitfalls zu einer Operetta ausgewachsen – und unter »Werklein« versteht Scaino immerhin 315 Seiten.5 Doch hat der Ferrareser Tennisphilosoph dem umfangreichen Traktat eine klare Gliederung verliehen: Eingeleitet von einer kurzen Dedikationsepistel an Alfonso d’Este und einer etwas längeren Ansprache an die Leser, Ai Lettori, ist der Text in drei Teile geschieden, wobei den ersten beiden Teilen nochmals zwei Proömien vorangestellt sind. Entsprechend des Werkursprungs widmet sich der erste der drei Teile der Festlegung einiger in der Praxis noch unscharfer Regeln und der Diskussion von zweifelhaften Fällen. Im zweiten Teil wird sodann eine Definition des Ballspiels gegeben, bevor Scaino in zwei Schritten Vorschriften und Empfehlungen zum Erreichen eines möglichst vollendeten Spiels erarbeitet. Zunächst werden hierbei speziellere Spielarten erörtert, zudem das Spielgerät und die Spielplätze für diese Spielformen. Der zweite Abschnitt versucht dann, konkrete Normen zu etablieren, die jungen Spielern einen Weg aufzeigen sollen, wie ein möglichst perfektes Spiel erreicht werden könne. Diskutiert wird etwa: Wie müssen die Spieler körperlich am besten disponiert sein? Welche Bewegung macht der Ball und wie reagiert man darauf mit einem adäquaten Schlag? Wodurch zeichnet sich ein perfekter Spieler aus? Ein dritter und letzter Teil bespricht die medizinischen Vorteile des Tennisspiels und einen der Gesundheit zuträglichen, angemessenen Gebrauch desselben. So empfiehlt Scaino etwa, das Übermaß zu vermeiden und die unterschiedlichen klimatischen Bedingungen der Jahreszeiten zu berücksichtigen.6 Das grundlegende Programm seiner Schrift und die dreiteilige Struktur erläutert Scaino vor allem in der Dedikationsepistel, der Ansprache an die Leser und in den zwei Proömien des ersten und zweiten Teils. Einen Hinweis auf die intertextuellen Bezüge des Trattato gibt dabei schon der erste Satz der Dedicatio. In seiner Beschreibung der Entstehung des Werkes knüpft Scaino sogleich an die Tradition des Cortegiano Castigliones an: Er habe nach und nach, aus dem Punkt die Linie, aus der Linie einen Körper geformt, von angemessenen Proportionen, obwohl vielleicht weniger ornamentiert von leichter Anmut, wie es 5 Vgl. Trattato, Dedica, fol. *iir–*iiv : »Quella Operetta Illustrißimo, et Eccellentißimo Prencipe, del giuoco della Palla, la quale, sendo io questi anni passati a studio in Ferrara, sotto la disciplina del Maggio nobilißimo Philosopho, hebbe origene da uno puntiglio avvenuto ‚ giuocando a Vostra Eccellenza, H gita dipoi crescendo in modo dalla cultura, ch io le ho potuto fare intorno in tempo di vacanze (…).« 6 Für einen Überblick des Inhalts vgl. das Kapitelverzeichnis im Trattato, fol. *viir–**iiiir, zudem die Zusammenfassung von Nonni (2000), Trattato, S. LXV–XCV.

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Raffael oder Tizian vermocht hätten. Das entspricht der Erklärung Castigliones in seiner Dedikation an Don Michel de Silva, ein Buch zu übergeben, das ein Bild des Hofes von Urbino sei, nicht gerade von der Hand Raffaels oder Michelangelos, sondern dasjenige eines unbekannten Malers, der nur die wesentlichen Linien zu zeichnen wisse.7 Unter Zuhilfenahme der Metapher der Malerei will Scaino also sein Werk ebenfalls nicht an der Meisterschaft namhafter Künstler gemessen wissen, doch gleich der Beschreibung eines vollkommenen Hofmanns in Urbino ist nicht weniger als die Perfektion des Tennisspiels das Ziel seiner Arbeit. Dabei geht er jedoch nicht dialogisierend, nicht thematisch mäandernd gleich den oftmals ambivalenten Diskussion der Castiglione’schen Hofgesellschaft vor. Stattdessen integriert er seine Arbeit am Tennisspiel von Beginn an in die Vorstellung eines linear verlaufenden Fortschritts aller Künste. Denn keineswegs wolle er vorgehen wie diejenigen, die die Fliege lobten, oder einige antike Philosophen, die mit der Bearbeitung geringer Dinge ihre eigene Exzellenz zu beweisen versuchten. Vielmehr sei ihm ein umfangreiches Thema zu kultivieren, coltare, vergönnt gewesen, das bei der Bearbeitung seine immensen Wurzeln gezeigt und sich folglich natürlicherweise ausgewachsen habe.8 Und falls der Gegenstand seines Werks jetzt noch unreif erscheine, so sei zu hoffen, dass er sich mit der Zeit und der Hilfe exzellenter Geister zur Perfektion entwickle. Jede Kunst habe nämlich zuerst eine Phase unterschiedlichen und unbestimmten Gebrauchs, ohne Gesetze und Regeln hinter sich gebracht, bevor sie von den Weisesten in eine feste Ordnung überführt worden sei, wie die Medizin oder die mathematischen Wissenschaften, die Arithmetik, die Geometrie, die Musik, die Perspektive und die Astrologie.9 Seine Arbeit am Tennisspiel verortet Scaino demnach in der 7 Vgl. Trattato, Dedica, fol. iiv : »(…) dal punto n’H derivata la linea, e da questa la superficie, da cui finalmente s’H formato un corpo (…) di assai conveniente proportione, anchorche forse meno ornato di quelle gratie leggiadre, e delicati lineamenti, co’ quali haverebbe saputo renderlo vago, e riguardevole un Titiano, opure un Rafaello da Urbino (…).« Vgl. parallel dazu Cortegiano, Dedicatio, 1: »(…) mandovi questo libro come un ritratto di pittura della corte d’Urbino, non di mano di Rafaello o Michel Angelo, ma di pittor ignobile e che solamente sappia tirare le linee principali, senza adornar la verit/ de vaghi colori o far parer per arte di prospettiva quello che non H.« 8 Vgl. Trattato, Ai Lettori, fol. iiiiv–ivr. 9 Vgl. Trattato, Ai Lettori, fol. ivr : »(…) H da sperare, che con l’aiuto di eccellenti ingegni con tempo si scoprir/ del tutto naturale, ridotto alla sua perfettione, s' come anco H di tant’altre cose avvenuto, che chi bene considera, non H arte alcuna, la quale in un cotal modo non sia stata osservata, che prima andando dispersa sotto vario, e indeterminato uso, senza leggi e regole certe, ad arbitrio d’ognuno adoperata, poi dal consentimento de’ piu savij, non sia stata ridotta a ordine fermo, da questo nome di arte acquistando. Esempio ne sia l’arte della Medicina (…). Che diren noi delle scienze Mathematice? della Aritmetica? della Geometria? della Musica? della Perspettiva? della Astrologia, e dell’ altre?« Diese Sichtweise ähnelt dem Abschluss von Albertis Traktat Della pittura: »(…) arte alcuna non H, laquale non habbia hauuto cominciamento da principii molto mendosi. Percioche dicono, che cosa alcuna non H

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fortschreitenden Entwicklung aller Künste, ja erklärt das Ballspiel selbst zu einer Kunst, deren Perfektion noch erreicht werden müsse. Wenn also die Dialektik, die Poetik, die Redekunst, die Navigation und der Häuserbau mit der Zeit und den Jahren zur Vollendung und zu Künsten gebracht worden seien, weshalb nicht ebenso das Spiel?10 Entgegen dieses Narrativs eines Progresses betont Scaino allerdings ebenso entschieden, dass er nicht auf antike Quellen zurückgreifen habe können, seine Arbeit sich mithin einem völlig neuen und bislang vernachlässigtem Thema widme. Zwar beschreibt er im Trattato das Ballspiel immer wieder als antike Erfindung, deren weise Inventoren dem giuoco in mehrfacher Hinsicht optimale Formen verliehen hätten.11 Und auch die Nobilitierung des Ballspiels durch Anschluss an antike Spielkultur betreibt er selbstredend mit einem Katalog seiner klangvollen und auch etwas weniger einschlägigen Liebhaber : Der trojanische Philosoph Lykon etwa habe das Ballspiel geschätzt und sei der Meinung gewesen, kein anderes lasse in ihm so sehr den Wunsch nach den Übungen der Weisheit aufkeimen. Ein guter Spieler sei ebenfalls der Philosoph Tisifo Calcidente, also der griechische Erfinder Ktesibios gewesen. Cäsar habe es geschätzt und sei bereit gewesen, beträchtliche Summen dafür auszugeben. Auch habe es dem Tyrannen Dionysius gefallen sowie Alexander dem Großen, dessen Spieler Aristonico Caristio die Athener so sehr begeistert habe, dass sie ihm sogar eine Statue widmeten. Den Hinweis auf Lykon entnimmt Scaino vermutlich einer kleinen Passage über Ballspiele aus Francesco Patrizis De regno et regis institutione, in der auch Dionysius und Alexander erwähnt werden.12 Die Geschichte um eine Spielerstatue allerdings stammt aus dem Deipnosophistai des Athenaios, nata in un tempo et perfetta. Ma quei, che veranno dopo me, se ve ne saranno alcuni di piu eccellente ingegno, e studio, ch’io non sono, questi perauentura l’arte de la pittura faranno, e perfetta, e compita.« (Alberti, Leon Battista: L’architettura (…) et altri diversi trattati del medesimo auttore. Monte Regale: Lionardo Torrentino, 1565, S. 331). Auch die prinzipielle Einteilung in drei Bücher lässt strukturelle Anleihen bei Alberti vermuten. 10 Vgl. Trattato, Ai lettori, fol. ivr–ivv. 11 Vgl. etwa Trattato I, Cap. IX, S. 38; I, Cap. XVII, S. 56; I, Cap. XXXVI, S. 93. 12 Vgl. zur Aufzählung Trattato, Proemio 1, S. 7, zu Lykons Ballspiel vgl. die Lebens- und Charakterbeschreibung, die Athenaios in Deipn. 12, 547d–548b von Antigonos von Karystos übernimmt, wo neben dem ausschweifenden und als unphilosophisch bewerteten Lebenswandel des Lykon nur von einer Vorliebe fürs Ballspiel die Rede ist und die Verbindung zur Weisheit unerwähnt bleibt. Auch bei Diog. Laert. Vit. Ph. IV 4, 67 wird sein Ballspielen nur knapp registriert. Bei Patrizi (1413–1492) aber findet sich folgende Stelle: »Lusit etiam pila studiose admodum ex philosophis Lycon Torade[n]sis, ad quam quidem fessus studiis sapientiae confugiebat, tanqua[m] ad placidam auram post difficilem aestum, atq[ue] calore[m], ut gratior deinde esset ad studia reditus.« (Vgl. Patricius, Franciscus: De regno et regis institutione. Paris: Aegidius Gorbinus, 1567, fol. 99v, zu Dionysius und Alexander siehe ibid.) Zu Dionysius’ Vorliebe für Ballspiele vgl. auch Cic. Tusc. disp. V 20, zu Cäsars finanziellem Aufwand fürs Ballspiel vgl. Macr. Sat. 2, 6, 5; zu Alexander und Ktesibios vgl. die folgende Fußnote.

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worin, wie Scaino uns mit explizitem Verweis auf das Werk erklärt, dem spartanischen Philosophen Timokrates schon die Anfertigung einer Schrift über das Ballspiel zugesprochen wird.13 Doch ohne diesen leider verlorenen Versuch habe er, so stellt es Scaino jedenfalls dar, ein gänzlich brach liegendes Untersuchungsfeld vorgefunden. Zur Vollendung des Buches »(…) war es mir nicht vergönnt (obwohl ich viel Sorgfalt darauf verwendet habe) ein antikes oder modernes Buch zu finden, das mir Hilfe leistete, indem es das Ballspiel auf diejenige Art und Weise erwähnt, in der ich darüber zu schreiben beabsichtige.«14 Zum einen befindet sich die Praxis des Spielens demnach in einer fortschreitenden Entwicklung, zum anderen existiert jedoch noch nicht oder nicht mehr eine Literatur über diese Praxis. Im zweiten Teil nimmt Scaino sogar eine tatsächliche Iscusazione auf, eine Entschuldigung dafür, dass er mit keinem Wort die Art und Weise des Spielens in der Antike beschrieben habe: Erstens, da man aufgrund unscharfer Überlieferung ohnehin keine genauen Angaben zum Spiel der Alten machen könne. Zweitens, weil man die Formierung einer Kunst stets von der perfektesten Form ausgehend betreiben solle, die eine Sache erreicht habe. Doch da die Künste mit den Jahren immer ausführlicher und vornehmer werden, wie wir ja auch den Weg zum Philosophieren ohne die Vorarbeiten, ohne die Bücher des Aristoteles nicht so einfach beschreiten könnten, sei eben ganz offenbar, dass das Ballspiel, in kontinuierlichem Gebrauch seit der Antike, nun diejenige Vollendung erreicht habe, die sich der menschliche Intellekt nur wünschen könne. Von diesem modernen uso also will Scaino für seine Arbeit ausgehen.15 Das entspricht dem Modell einer Geschichte der Künste, das er zu Beginn 13 Vgl. Trattato, Ai Lettori, fol. ivv ; die Verwendung des Deipnosophistai, aus dem vermutlich auch die Informationen über Alexanders Spieler und Ktesibios stammen, ist insofern bemerkenswert, als die erste lateinische Übersetzung des Textes durch Natale Conti erst 1556 erscheint, vgl. Athenaeus: Dipnosophistarum sive coenae sapientum libri XV. Übers. von Natale Conti. Venedig: Andrea Arrivabenus, 1556, die Passagen zum Ballspiel auf S. 6 (hier I, 8), zu Alexander S. 8 (hier I, 13) = Deipn. 1, 14d–15c und 19a–19b. Wenn Scaino also keinen Kontakt zum Übersetzer hatte oder eine dritte Quelle, so beherrschte er Griechisch und nutzte seine Sprachkenntnisse, um im höfisch-vernakularen Kontext mit griechischer Gelehrsamkeit zu beeindrucken. 14 Trattato, Proemio 1, S. 9: »(…) alla cui perfettione non m’H stato concesso (benche io habbia usata molta diligenza) di trovar libro antico, o moderno, ch’aiuto mi porga, facendo egli alcuna mentione del giuoco della Palla, nel modo, ch’io intendo di scriverne.« Vgl. auch die Dedicatio, fol. iiv : »(…) havendo io preso a formar lavoro non rinovato, o da forma alcuna antica, k moderna tolto, ma di nuovi, e miei proprij colori figurato.« 15 Vgl. Trattato II, Cap. II, S. 135–138; vgl. auch Proemio 1, S. 6, wo Pytho, Nausikaa, die Lyder, die Sikyonier und Lakedaimonier als mögliche Erfinder aufgeführt werden, vgl hierzu auch Athen. Deipn. 1, 14d-e, zu Pytho als Erfinder vgl. Plin. nat. hist. 7, 205, zu den Lydern vgl. Herod. Hist. I, 94.

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umrissen hatte. Bevor irgendetwas zu einer ars geformt wird, gibt es eine Phase vielfältigen und unterschiedlichen Gebrauchs, der einem kontinuierlichen Progress folgt. Scainos Arbeit betreibt nun, so können wir schlussfolgern, die Transformation des in diesem Sinne vollendeten Tennisspiels in eine veritable Kunst, gänzlich ohne Unterstützung eines modernen oder antiken Exemplums.16 Aus dieser behaupteten Nichtexistenz schon vorhandener Normen für die Behandlung des Tennisspiels erwächst ein Spielraum, methodisch ungewöhnlichere Wege zu beschreiten, den Scaino umgehend nutzt. So sei er nicht dem Aristoteles darin gefolgt, mit der Definition einer Sache zu beginnen, sondern habe sich vielmehr am Vorgehen in der Musik und an Boethius orientiert.17 Hier müsse man zuerst die Notenzeichen, deren Ordnung und Wert erläutern, also die der Musik äußerlichen Dinge, weswegen eine Definition der Musik zunächst einmal keinen Sinn ergebe. Erst nach Festlegung dieser Grundlagen könne man den essentiellen Teil der Musik behandeln und eine Definition derselben versuchen sowie die Regeln der Harmonien eruieren.18 Scaino erklärt weiter, dass der Trattato eben diese Zweiteilung imitiere. Gleich dem Fixieren der Zeichen und Formen in der Musik, welche die Stimmen und Töne festlegen, behandle der erste Teil sozusagen die Bekleidung des Spiels, d. h. die Regeln und die unterschiedlichen Arten des Sieges sowie die Klärung verbliebener zweifelhafter Fälle. Der zweite Teil allerdings demonstriere, was das Ballspiel sei, wie viele Arten des Spielens es gebe, wie man schlage und auf welchem Wege man sotto arte e con ragione spiele – dies entspreche in der Musik der Frage, was Harmonie sei, wie viele Arten es von ihr gebe und wie man sie herstelle.19 Die Suche nach der Harmonie im Spiel nun kulminiert in der Beschreibung 16 Dieser Anspruch der ars-Bildung wird auch ersichtlich, wenn Scaino im ersten Teil begründet, weshalb er zunächst mit einer Beschreibung der basalen Regeln beginne, vgl. Trattato I, Cap. II, S. 14: »Perche in tutti Principij delle arti sogliono i buoni Autori proporre alcune dichiarationi, per render piu facile la intelligenza della cosa, che trattano (…).« Die Schwierigkeit, in diesem Sinne Normen einer ars einzuführen, reflektiert Scaino auch im Proemio zum zweiten Teil, vgl. ibid., Proemio 2, S. 130: »(…) a me non H nascosto, quanto ardua e laboriosa impresa sia lo scrivere di cose da altri, non mai piu trattate, massimamente convenendomi formar regole sopra i fatti particolari, tanto vari, e in se steßi tanto discordanti.« 17 Vgl. Trattato, Ai Lettori, fol. 6r–6v. 18 Vgl. Trattato II, Cap. I, S. 131–133. Scainos Bezugnahme auf Boethius legt nahe, dass er die methodischen Vorgaben aus De institutione musica übernehmen könnte, wo allerdings, soweit ich sehe, keine deutliche Zweiteilung erkennbar ist. Möglicherweise gewann Scaino sie eher aus der Praxis: Der ferraresische Hof zeigte ein beträchtliches Interesse an Musik, Ferrara wurde in der Mitte des 16. Jahrhunderts ein Zentrum italienischer Madrigal-Produktion, vgl. grundlegend Roccatagliati, Alessandro: Ferrara. In: Finscher, Ludwig (Hrsg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. Sachteil 3. Kassel/Stuttgart et al.: Bärenreiter/Metzler, 1995, 396–411. 19 Vgl. Trattato II, Cap. I, S. 133–135.

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des perfekten Spielers, die Scaino am Ende des zweiten Teils ausformuliert. Nachdem er die unterschiedlichen Schlagarten, die sinnvollsten Strategien des Angriffs und der Verteidigung untersucht hatte, stellt er zuletzt fest, dass die Exzellenz im Spiel nicht über Bücher allein erlernt werden könne. Vielmehr erfordere sie den proprio giudizio, das eigene Urteilsvermögen, welches man aus der Verbindung der erarbeiteten Empfehlungen mit der Praxis erlangen könne. Der giudizio wiederum erwachse aus dem ingegno und der esercitazione, sozusagen aus der Begabung und der Übung.20 Wenn man also, gegeben die erforderlichen natürlichen Dispositionen, die aufgeführten Regeln und Empfehlungen in der Imitation hervorragender Spieler mit der Praxis zu verbinden versuche, könne man zur Exzellenz gelangen – die beim Ballspiel worin besteht? (…) senza alcun dubbio consiste in una certa misura e ordinata ragione di tempo, che convien servare nel giuoco, ilche H commune anchora con altre infinite operationi, che si fanno con arte, s' come si vede della Musica, nella qual H di tanto momento il produr la voce, e far il suono sotto una certa ragione, e ordinata misura (…).21 ([…] ohne jeden Zweifel besteht sie in einem gewissen Maß und geordneten Verhältnis der Zeit, dem es im Spiel zu folgen gilt, wie es auch üblich ist bei unzähligen anderen Tätigkeiten, die man kunstvoll ausübt, was man an der Musik sieht, in der es von großer Bedeutung ist, einem bestimmten Verhältnis und einem geordneten Maß nach die Stimme hervorzubringen sowie den Ton zu erzeugen.)

Dies sei ebenso der Fall beim Tanzen, beim Fechten und bei unzähligen anderen Spielen. Im Ballspiel bedeute dies, sich im richtigen Moment zu bewegen, vorzustoßen und sich zurückzuziehen, die Bewegung des Balls korrekt zu prognostizieren und die Aktionen des Gegners zeitlich adäquat einzuschätzen.22 Die so verstandene Harmonie der Bewegung und der Aktionen auf dem Platz, orientiert vor allem am Beispiel der Musik, macht demnach die Exzellenz des Spielers aus.23 Diese Harmonie, welche die exzellente Art und Weise des Spielens betrifft, darf jedoch nicht mit dem Zweck des Spiels verwechselt werden. Dessen Bestimmung stellt Scaino als erstes Kapitel sogleich an den Beginn des ersten Teils,

20 Vgl. Trattato II, Cap. LXIX–LXX, S. 277–280. Den ingegno definiert Scaino als eine der vier notwendigen natürlichen Dispositionen des guten Spielers (zusammen mit gagliardezza, destrezza und der dispositione del corpo) in II, Cap. XXIX, S. 189–190 folgendermaßen: »L’ingegno H una via, con laquale l’anima indirizza l’huomo al fare, e all’operare; laquale quanto H piu pronta, tanto H anchora migliore, e ha la sua propria stanza nel sangue, e nel spirito ignitivo, altrimente nominato il calore interno (…).« 21 Trattato II, Cap. LXVIII, S. 275. 22 Vgl. ibid. 23 Die Verbindung zu Musik und Tanz entspricht auch der Darstellung des Athenaios, wonach eine Art der bei Homer beschriebenen Tänze eben Ballspiele seien, vgl. Ath. Deipn. 1, 14d.

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denn hierbei müsse man, wie es allen würdigen und geschätzten Künsten zieme, die Natur imitieren, die eben nichts ohne große Meisterschaft einrichte: Dico adunque, che questo giuoco H stato instituito a buon fine, cio H, per conservar sani i corpi nostri, per rendere i giovani piu gagliardi, e piu robusti, lunge da loro scacciando l’otio, della virtF mortalißimo nemico, e in questo modo di piu eccellente, e di piu gagliarda natura facendosi.24 (Ich sage also, dass dieses Spiel zu einem guten Zweck eingerichtet worden ist, und zwar um unsere Körper gesund zu halten, um die Jungen kräftiger und robuster zu machen, den Müßiggang, Todfeind der Tugend, weit von ihnen zu jagen, und sich auf diese Weise zu exzellenterer und robusterer Natur zu entwickeln.)

Um die Seelen der Jungen zu entflammen, hätten die antiken Erfinder das Spiel im Bewusstsein seines großen Nutzens so gestaltet, dass niemand davon nicht begeistert sein könne. In ihm zeigen sich mehr als bei allen anderen Spielen unser valore, unser Wert, und unsere Charaktereigenschaften, da es keine Fehler erlaube. Und nichts wünschten die Jungen mehr, als Ruhm in schwierigen Dingen zu erlangen. Wie die Natur durch Vergnügen die Tiere zu nützlichen Tätigkeiten ziehe, so werden eben auch die Geister der Jugendlichen zu diesem Spiel bewegt: Die antiken Erfinder also nutzten natürliche Veranlagungen, um ein physisch gewinnbringendes Spiel zu erschaffen.25 Dieser körperliche Gewinn besteht nach Scaino nun vor allem in Bezug auf die Lebensgeister. Nachdem er im dritten Teil zunächst die Ursprünge der Medizin allgemein, die Vorzüge einer arte gymnastica und deren Ausformungen in der Antike erläutert hatte, kommt Scaino auf den Nutzen der körperlichen Übung zu sprechen. Sie mache unseren Körper solider, erhöhe unsere Körpertemperatur und lasse dadurch die großen Lebensgeister aktiver werden, außerdem steigere sie deren Geschwindigkeit. Durch die wärmere Körpertemperatur werde die Verdauung angeregt, was wiederum zu subtileren Lebensgeistern führe.26 Doch führt Scaino in seinem Werk noch andere Vorteile auf: Das Ballspiel sei geeignet für Jung und Alt, für Körper jeder Säftemischung, es brauche wenige Geräte und der Ball sei spottbillig. Auch werden die Kriegsführung, die Ordnung im Kampf sowie der Einsatz von Strategien geübt, die für den Gegner unerwarteten sind. Darüber hinaus offenbare es die Fähigkeiten des Einzelnen und insbesondere all seine intrinsischen Affekte. Theologisch betrachtet könne man sogar sagen, dass das Spielfeld nichts anderes als diese Welt sei, in deren Mitte 24 Trattato I, Cap. I, S. 11–12. 25 Vgl. ibid. I, Cap. I, S. 12–14. 26 Vgl. Trattato III, Cap. III, S. 296–297, zu Medizin und Übungen allgemeiner III, Cap. I–II, S. 287–296, etwas spezieller zu den Vorteilen des Tennisspiels, wie der Übung des ganzen Körpers und der Angemessenheit für jedes Alter, vgl. III, Cap. IX, S. 311–315, speziell zu den spiriti und der Bedeutung von körperlicher Übung für das Denken S. 312.

Das Gerüst des Trattato del giuoco della palla

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wir, allesamt Spieler, gestellt sind, eine Schnur vor uns, die uns zwinge, bei den Schlägen das rechte Maß zu halten, wie wir auch stets aufmerksam und wachsam sein müssen, damit die Schläge der Fortuna uns im Leben nicht zu einem Fehler verleiten. Ein Spiel, aus dem sogar solcherlei hohe Kontemplation erwachse, sei vonnöten in einem Staat – nicht nur um den Müßiggang zu verhindern und die Jugend auf den Krieg vorzubereiten, sondern auch zur Regeneration, damit die Menschen sich hernach mit größeren Kräften wieder den Künsten, dem Studium und den Geschäften widmen könnten.27 Kann man die Vorzüglichkeit dieses Spiels also noch bezweifeln? Die komplexe Liste nützlicher Aspekte von Spielen habe ich vor allem deswegen ausführlich referiert, um die Scaino verfügbaren, vielfältigen Zwecke des Spielens zu demonstrieren. In Ferrara kann es 1555 in medizinischen, militärischen, politischen und moralischen Zusammenhängen betrachtet werden. Seine Funktion ist in all diesen Diskursen verschieden: Einmal hilft es, um gesundheitsfördernde Übungen vergnüglicher zu gestalten, ein andermal zeigt es die verborgenen Affekte. Einmal lenkt es uns von Lastern ab, ein andermal erhält es unsere Arbeitsfähigkeit für die wichtigeren Aufgaben im Staat. Nicht zuletzt kann es in theologischer Hinsicht ein Hilfsmittel sein, um zur Kontemplation unseres irdischen Daseins zu gelangen. Scainos Blick auf Spiele ist von einer Multiperspektivität geprägt, in der die Deutungsschemata der scholastisch-aristotelischen Auslegungstradition nur eine von vielen Wahrnehmungen ludischer Praktiken sind. Doch tatsächlich löst der Traktat selbst diese Vielfalt nur bedingt ein. Die drei Teile zu Regeln, Spielweisen und medizinischen Vorschriften legen einerseits den Fokus auf die Perfektionierung des Spielens, um dessen Ziel, die Gesundheit der Spieler, optimal erreichen zu können (was übrigens nicht weit entfernt liegt von Alberts Theorie des Steigerns kognitiver Fähigkeiten durch Bewegungsspiele). Zu dieser Perfektionierung gehört bei Scaino jedoch andererseits eine Artifizierung im Sinne ästhetischer Harmonisierung der Spielpraxis, die in der Nachfolge Castiglione’scher Hofideale den diletto des Spielens zur Erfüllung seines Zwecks berücksichtigt. De facto wird das Spiel bei Scaino 27 Vgl. Trattato I, Cap. I, S. 1–6. Man bemerkt bei dieser Aufzählung wieder eine Nähe zum Cortegiano, aber auch ein weiteres Blickfeld als bei Castiglione, vgl. Cortegiano I, 22: »Sono ancor molti altri esercizi, i quali, bench8 non dependano drittamente dalle arme, pur con esse hanno molta convenienzia e tengono assai d’una strenuit/ virile; e tra questi parmi la caccia esser de’ principali, perch8 ha una certa similitudine di guerra; ed H veramente piacer da gran signori e conveniente ad uom di corte; e comprendesi che ancor tra gli antichi era in molta consuetudine. Conveniente H ancor saper nuotare, saltare, correre, gittar pietre perch8, oltre alla utilit/ che di questo si po avere alla guerra, molte volte occorre far prova di s8 in tai cose; onde s’acquista bona estimazione, massimamente nella moltitudine, con la quale bisogna pur che l’om s’accommodi. Ancor nobile esercizio e convenientissimo ad uom di corte H il gioco di palla, nel quale molto si vede la disposizion del corpo e la prestezza e discioltura d’ogni membro, e tutto quello che quasi in ogni altro esercizio si vede.«

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also in Hinblick auf nur zwei Ziele behandelt, in Bezug auf die Gesundheit und die harmonische Vergnügung. In Anbetracht des eigentlichen Zwecks der Ballspiele hat dieses Vergnügen, wie wir sehen werden, allerdings wiederum nur instrumentelle Funktion als Motivation zu vorteilhafter Körperertüchtigung. Sowohl zur Fixierung der Regeln als auch zur Etablierung der normativen Vorgaben für ein harmonisches Spiel orientiert sich Scaino dabei nicht an dem Usus der Hofgesellschaft. Vor allem greift er zurück auf naturphilosophische Theorien und verbindet damit die höfische Verfeinerung bestehender sozialer Praktiken mit aristotelischer Universitätsphilosophie. Ich will diese Verbindungen nun en d8tail an Beispielen aufzeigen, zuvor allerdings den Kontext für die Analyse ausbreiten. Eine Situierung des Trattato in seine diskursive Umgebung wird es ermöglichen, bei der kleinteiligeren Untersuchung von Scainos Werk die ungewöhnlichen Elemente seiner Spielbetrachtung deutlicher herauszustellen.

Ferrareser Ludologie und eine Geometrie des Fechtens Scaino weist seine LeserInnen mehrfach darauf hin, dass vor ihm noch niemand das Ballspiel seinen Ansprüchen genügend behandelt habe – oder zumindest habe von etwaigen Versuchen keiner die Zeiten überstanden. Das stimmt sicherlich nicht ganz, und er widerspricht sich in gewissem Sinne selbst, wenn er im ersten Proömium und im dritten, medizinischen Teil seines Trattato auf Galens De parvae pilae exercitio hinweist.28 Dort hatte der spätantike Arzt das Ballspiel als hervorragendste Art der körperlichen Übung beschrieben, die sowohl die Gesundheit des Körpers, die Harmonie der einzelnen Körperteile als auch die Tugendhaftigkeit der Seele sicherstelle.29 Dass Scaino sich bei Galens Ausführungen bediente, macht ein Vergleich der Texte deutlich: Als Vorteile des Ballspiels finden sich bei beiden die leichte Verfügbarkeit eines Balles im Gegensatz zu komplexerem Spielgerät, die Ertüchtigung sämtlicher Körperteile durch das Spiel sowie die Einübung militärischer Tugenden.30 Und Scaino war 28 Vgl. Trattato, Proemio 1, S. 1 und III, Cap. IX, S. 311. 29 Vgl. Galenus: De parvae pilae exercitio. Übersetzt von Valerio Centannio Vicentino. In: Galenus: Opera. Band 2. Venedig: Lucas Antonius Iuntas Erben, 1550, fol. 48v–49v, hierzu fol. 49r : »Exercitium igitur id potissimum commendaverim, quod bonam corporis valetudinem, ac partium concinnitatem, unaq[ue] animi virtutem praestare possit: quale illud est, quod in parva pila co[n]sistit.« 30 Vgl. ibid., fol. 48v : »(…) non enim retibus, non armis, non equis, non venatorijs canibus, sed pila sola, et quidem parva, opus est.« Zum Körper vgl. fol. 49r : »Pila ludum omnes corporis partes exercere (…).« Zum Militär ibid.: »Quod autem maximis ambo exercitijs afficere possit, ad quae militum imperatores potissimum accedere civitatis regin[ae] leges iubent, videre non est difficile.« Die entsprechenden Stellen bei Scaino zur Verfügbarkeit des Balls

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längst nicht der Erste, der mit De parvae pilae exercitio argumentierte. Als etwa Paolo Cortesi Anfang des 16. Jahrhunderts sein berühmtes Idealbild eines Kardinals verfasste, griff auch er schon auf Galens kleine Schrift zurück, um das Ballspiel als gesündeste aller Übungen herauszustellen.31 Dabei unterschied er verschiedene Spielarten und wog knapp ihren medizinischen Nutzen ab.32 Scainos Strukturierung des Ballspiels ist also, wenn auch die Ausführlichkeit und philosophische Komplexität des Trattato weder bei Galen noch bei Cortesi erreicht werden, nicht gänzlich ohne Vorgänger. Wenn wir den Fokus vom Ballspiel auf Spiele im Allgemeinen verlegen und nach der diskursiven Wahrnehmung ludischer Praktiken im direkteren Umfeld Scainos fragen, so fällt in der ferraresischen Spielgeschichte vor allem die prominente Rolle von Kartenspielen auf. Nicht nur stammt die erste uns bekannte Erwähnung der Trionfi, d. h. des später als Tarot-Karten bezeichneten Decks aus den estensischen Registern 1442 und Matteo Maria Boiardos Capitolo del giuoco del tarrocchi, in dem der Dichter eine poetische Auslegung aller 80 Karten unternimmt, aus dem Kontext des estensischen Hofes.33 Auch Francesco Marcolinis zuvor im zweiten Kapitel schon besprochenes, orakelndes Kartenspielbuch Le sorti ist Ercole II. d’Este gewidmet, dem Vater Alfonsos. Allein positiv war die Thematisierung von Kartenspielen allerdings nicht: Alberto Lollio, Poet, Intellektueller und Mitbegründer der Accademia dei Filareti in Ferrara, sah sich Mitte des 16. Jahrhunderts veranlasst, eine vermutlich nicht ganz ernst gemeinte Invettiva gegen das Tarock-Spiel zu verfassen, die 1550 bei Gabriel Giolito de’ Ferrari, also dem selben Drucker wie Scainos Trattato, verlegt wurde.34 Lollio weist zunächst auf die avaritia hin, die Habgier, welche die Menschen zum Spielen verleite, und auf die accedia, weil eben auch die Langeweile zu den Karten treibe. Hass und Betrug, die beim Spielen entstehen, hätten manch einen dazu verleitet, seine Zähne ziehen zu lassen, nur um sie aufs Spiel zu setzen, oder gar die eigenen Freunde umzubringen. Er selbst habe sich durch das Beispiel hervorragender Männer wie Augustus täuschen lassen, die Spielen um der Vertreibung ihrer Gedanken willen nachgegangen seien und damit die Last ihrer ernsteren Geschäfte mildern wollten. Doch die Inkonstanz des Spiels lasse

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und dem militärischen Nutzen im Proemio 1 auf den S. 2–3, zur Übung des ganzen Körpers in III, Cap. IX, S. 311–312. Vgl. Cortesi, Paolo: De cardinalatu. Rom: Symeon Nicolai Nardi, 1510, fol. 76v : »Sed ex omnium exercitationum genere id est salubrius Galeno visum / quod lusoria pila fiat: quodq[ue] eo possit laudari tutius / quo est commodius in utendo / aut in tuenda incolumitate sanius (…).« Vgl. ibid., fol. 76v–77v. Vgl. Baldi, Caterina: I »Tarocchi« di Boiardo nella cultura rinascimentale. In: Acme LXI, III, August-Dezember, Mailand, LED Edizioni Universitarie, 2009, S. 77–108, speziell zum Ursprung der Tarot-Karten S. 97. Zu Alberto Lollio vgl. Gallo, V.: Lollio, Alberto. In: DBI 65 (2005), S. 454–456.

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Vergnügen nicht zu: Stets befinde man sich in schmerzlicher Angst, da das Kartenglück wechselhaft sei und in den wichtigsten Momenten selbstverständlich die schlechtesten Karten zugeteilt würden.35 Lollio unternimmt folglich eine Thematisierung des Kartenspiels, die vor allem dessen psychologische Aspekte herausstellt und eine Partie tarocco als emotionale Tortur beschreibt, welche die Menschen nicht nur in höchste Anspannung versetzt, sondern gleichfalls zu Lügnern, Dieben und Mördern werden lässt. Lollios Schmähungen des Kartenspiels sind nicht ohne Replik geblieben. In einem kleinen Büchlein in der Biblioteca comunale Ariostea di Ferrara findet sich ein Kontergedicht eines gewissen Vincenzo Imperiali, der seine Bekanntschaft mit Lollio mehrfach betont.36 Wir könnten vermuten, dass Imperiali und Lollio sich im Kontext einer Akademie begegneten, müssen hierbei allerdings vorerst bei Vermutungen bleiben. Interessanter im Kontext ferraresischer Spielkultur ist zunächst die grundlegende Linie der Antwort Imperialis, die Girolamo Zorli unlängst transkribiert hat. Imperiali stellt den Angriffen Lollios, wenn auch poetisch teilweise etwas ungelenk, sehr detaillierte Gegenargumente entgegen und kommt unter anderem zu dem Schluss, dass man den tarocco nicht mit den Spielen der Gewalttätigen und Diebe in Verbindung bringen dürfe. Vielmehr sei er Fürsten und Königen angemessen und müsse das Spiel der Ehre genannt werden.37 Von Belang sind im Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht die einzelnen Argumente: Hinzuweisen ist vor allem auf den Umstand, dass im ferraresischen Kontext eine Diskussion um den Wert, die Gefahren und die Nobilität bestimmter Spiele, wenn auch vielleicht nicht mit vollem Ernst und als agonale rhetorische Übung zu verstehen, aber doch mit einigem Aufwand betrieben wurde. Der sich so bildende Diskurs formiert sich nicht zuletzt um die soziale Einordnung verschiedener Spielarten, denn die Auseinandersetzung kreist um die diskursive Deutungshoheit über das Tarockspiel und seine Angemessenheit für die höfische Gesellschaft. 35 Vgl. die Transkription in Zorli, Girolamo (Hrsg.): Invettiva di M. Alberto Lollio (…). Risposta di M. Vincenzo Imperiali all’Invettiva di M. Alberto Lollio. Transkription des Ms. CL I, 257 der Biblioteca comunale Ariostea di Ferrara. Online abrufbar auf der Seite »TreTre« unter URL http://www.tretre.it/uploads/media/LOLLIO__IMPERIALI_-_INVETTIVA_e_RISPO STA_-_FE1554.pdf (zuletzt abgerufen am 12. 01. 2016), S. 11–21, vgl. zudem den abweichenden Druck Lollio, Alberto: Invettiva contra il giuoco del tarocco. Venedig: Gabriel Giolito de’ Ferrari, 1550, hierzu auch Berger, C8cile: Les faux-semblants de »L’invective contre le jeu des tarots« d’Alberto Lollio (1550): qui s’aime bien ch.tie bien? In: Morini, AgnHs (Hrsg.): L’invective: histoire, formes, strat8gies. Saint-Etienne: Publ. de l’Univ. de SaintPtienne, 2006, S. 113–129. 36 Vgl. Zorli, Invettiva, S. 22–41. 37 Vgl. ibid., S. 29: »Ma il giuoco del Tarocco H da Signori, / Principi, Re, Baroni, et Cavalieri, / Per questo H detto il giuoco degli honori.«

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Diese ferraresische Aufmerksamkeit für Spiele und besonders für Ballspiele ist sogar im direkten Umfeld Alfonsos nachweisbar. Bartolomeo Ricci, Humanist und von Ercole ernannter Lehrer Alfonsos, beschrieb 1553/4 in einem Brief an Alfonso Calcagninio auf dessen Bitte zuerst die Regeln des Fussballvorgängers calcio, von den Römern harpastum genannt, in einem zweiten Brief sodann die Regeln des pallamaglio, einem Vorläufer des Krocket.38 Beim harpastum seien zu beachten der Ball, der Ort des Spielens, die Mitspieler und die Spielregeln, die Ricci sorgfältig auflistet und erklärt.39 Schon in diesen distinctiones zeigt sich eine Behandlung des Ballspielens, die eine eingehendere Kategorisierung der Ballspielarten vorbereitet, wie Scaino sie später umsetzen wird. Auch macht Ricci sich Gedanken über das Material der Spielgeräte und ihren Aufbau, über die man ausführlichere Passagen im Trattato finden kann.40 Überdies sind die Briefe Hinweise auf die besondere Stellung, die Ballspiele mindestens im Umfeld Alfonsos II. d’Este einnahmen. Als begeisterter Spieler zog der junge Fürst eine Partie durchaus diplomatischen Verpflichtungen vor : 1557 musste ein Gesandter des Herzogs von Mantua sich bei seinem Auftraggeber sogar dafür entschuldigen, Alfonso einen Brief nicht übergeben zu haben, weil dieser den gesamten Tag mit Ballspielen beschäftigt und folglich nicht erreichbar gewesen war.41 Wir wissen, dass Alfonso in seiner Zeit als Herrscher mindestens fünf professionelle rachetieri beschäftigte, also Tennisspieler oder -trainer. Ebenfalls unterhielt er in und um Ferrara mehrere Tennisplätze, wie auch aus den Haushaltsbüchern ersichtlich wird, dass konstant Wettausgaben für die Partien anfallen.42 In einer Umgebung also, in der die Diskussion um den Wert und den Nutzen verbreiteter Spiele von angesehenen Intellektuellen wie Lollio ohnehin geführt wird, dem zukünftigen, nachweislich ballspielliebenden Herrscher eines auf einen einzigen Potentaten hin organisierten Fürstenhofes einen Traktat über Ballspiele zu widmen, scheint ein einigermaßen naheliegender Einfall.43 Höfisches Philosophieren im Mittelalter, so hat Ruedi Imbach resümiert, zeichne sich 38 Vgl. Riccius, Bartholomaeus: Epistolarum familiarium libri VIII. Bologna: 1560, fol. 156v– 159r, der Brief zum Spiel Pallamaglio ist mit einleitenden Hinweisen ebenfalls abgedruckt in Bascetta (1978), Sport e giuochi, S. 261–269. 39 Vgl. Riccius (1560), Epistolarum, fol. 157r, es handelt sich um »pilae ratio, locus, collusores, et ludi lex«. 40 Vgl. zum Beispiel ibid., fol. 158r : »(…) pila aute[m] ex duriss[imo] ac solidiss[imo] sit ligno, ut ex corno, sorbo, olivo, caeterisq[ue] eius generis arboribus.« 41 Vgl. Coester, Christiana: Schön wie Venus, mutig wie Mars. Anna d’Este Herzogin von Guise und von Nemours (1531–1607). München: Oldenbourg, 2007, S. 49. 42 Vgl. de Bondt (2006), Royal Tennis, S. 71–74. 43 Umso mehr, da Mäzenatentum für diverse Kunstschaffende in Ferrara Tradition hatte, für ein breites Panorama der Kulturproduktion in Verbindung mit den Este vgl. Pade, Marianne et al. (Hrsg.): La corte di Ferrara e il suo mecenatismo 1441–1598. Kopenhagen: Museum Tusculanums Forlag, 1990.

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vor allem dadurch aus, Wissen für ein einzelnes Individuum zu generieren und damit thematisch auf die Interessen sowie auf die Situation des Widmungsempfängers einzugehen.44 Wir können über die Adressierung des Trattato an den zukünftigen Herrscher und dessen Enthusiasmus für das Ballspiel demnach sehr präzis folgern, dass der spezifische Kontext des ferraresischen Hofes Scaino zur Entwicklung einer in dieser Komplexität bis dahin nicht artikulierten Theorie des Ballspiels veranlasst hat.45 Allerdings kann man diese These auch dahingehend ausweiten, dass ein Text, der derartiges Wissen vorführt, in seinen Konsequenzen nicht nur Ferrara selbst, sondern zahlreiche italienische Höfe berührt. Insofern der Trattato versucht, allgemeine Normen für den in italienischen Hofgesellschaften weit verbreiteten giuoco della palla zu etablieren und damit dem Namen Alfonso d’Este eine kulturpolitische Bedeutung für das populäre Spiel einzuschreiben, wird ebenso die italienisch-höfische Spielkultur des Cinquecento als relevanter Faktor in der Entstehung dieser Tennistheorie zu gelten haben. In dieser Hinsicht darf auch die Suche nach literarischen Vorbildern nicht nur in Ferrara selbst betrieben werden, denn auf diejenigen seines direkten höfischen oder ferraresischen Umfelds lässt sich der Text ohnehin nicht reduzieren. Fassen wir noch einmal vergleichend zusammen: In Ferrara gibt es, kurz bevor Scainos Tennistraktat erscheint, poetische und rein deskriptive Beschreibungen des Spielens. Lollios Invektive zeigt eine Sensibilität für die psychologischen Aspekte des Kartenspielens, die detailliert diskutiert und deren Gefahren eingehend beschrieben werden. Riccis Briefe über Ballspiele eröffnen, Cortesis Diskussion kardinalstauglicher Spielarten ähnlich, über bloße Regeln hinausgehende Kategorisierungen bestehender ludischer Praktiken entlang von Kategorien wie Ballarten, Spieleranzahl und Spielplätzen. Doch ist eine derartige Spielbeschreibung sicherlich keine ferraresische Spezialität: Auch der uns schon bei Gargantua begegnete Rekonstruktionsversuch antiker Regeln des Würfelspiels durch Leonico Tomeo widmete sich der Fixierung von leges ludi in Anlehnung an antike Traditionen.46 Was Scaino von all diesen Spieltexten unterscheidet, ist die Verbindung spielbezogener Betrachtungen mit naturphilo44 Imbach, Ruedi: Laien in der Philosophie des Mittelalters. Hinweise und Anregungen zu einem vernachlässigten Thema. Amsterdam: B. R. Grüner, 1989, S. 89 und S. 100; es versteht sich, dass die so charakterisierten Artikulationsbedingungen eines letztlich auf eine Person hin organisierten Hofes auf ebenso strukturierte rinascimentale Höfe übertragen werden dürfen. 45 Zum Fürstenhof als sozialer Ort, der im Sinne der von Imbach entwickelten Thesen eine kausale Analyse philosophischer Leistung zulasse, vgl. Ricklin, Thomas: Alfonso X von Kastilien und L8on: Die mythologische Schöpfung des Königs als »Sabio«. In: Arcelli, Clelia (Hrsg.): I saperi nelle corti. (=Micrologus 16) Florenz: Sismel, 2008, S. 487–513, hierzu S. 487. 46 Vgl. Kapitel 3, Fußnote 2.

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sophischer Theorie. Diese Verknüpfung höfischer Praktiken mit universitärem Aristotelismus zum Gewinn verbindlicher Normen des Spielens ist in spieltheoretischer Hinsicht, soweit ich sehe, in seinem direkten Umfeld singulär. Sie hat jedoch ihr Beispiel möglicherweise in anderen Traktaten der höfischen Stilbildung. Scaino selbst wies uns bei der Vorstellung des perfekten Spielers, der die Harmonie der Bewegung zu beachten habe, darauf hin, dass selbiges auch beim Fechten und Tanzen gelte. Einer der berühmtesten rinascimentalen Traktate über die Fechtkunst erschien bereits 1553 in Rom, es handelt sich um den Trattato di scientia d’arme, con un dialogo di filosofia des Architekten und Ingenieurs Camillo Agrippa.47 Schon der Titel zeigt zweierlei: Es geht um eine scientia der Waffen, was über den Anspruch einer ars hinausgeht und die Waffenkunst in die Nähe der sicheren scientiae wie der Mathematik oder der Naturphilosophie stellt. Vorgenommen wird zudem, wie durch den Verweis auf den Dialog angekündigt, ein Anschluss an philosophische Diskussionen nach der eigentlichen Behandlung des Fechtens. Agrippa erklärt im Vorwort seines Cosimo I. de’ Medici gewidmeten Traktats zunächst, dass die Fechtkunst in der Verbindung der intelligentia mit dem uso bestehe, die theoretische Durchdringung also mit der Praxis verbunden werden müsse.48 In dem Werk, das anhand zahlreicher Abbildungen die grundlegenden Schlag und Stoßbewegungen erläutert, führt Agrippa seine LeserInnen sodann vor allem mithilfe der Geometrie in die Fechtkunst ein, ja macht diese mathematische Disziplin zur Grundlage des Fechtens, wenn er behauptet, dass »(…) letztlich diese Betätigung ausschließlich geleitet wird von Punkten, Linien, Zeit, Maß und ähnlichem (…).«49 Im Traktat sind die aufwendigen Verbildlichungen der Fechtkunst von zahlreichen alphabetisch geordneten Linien durchdrungen und strukturieren die Bewegungsabläufe entsprechend nach geometrischen Figuren. Gleichsam wird ikonographisch mit einer Abbildung von Beginn an der Anschluss an akademische Diskurse gesucht. Von zahlreichen Gelehrten umgeben sind am Anfang des Buches zwei Männer an einem Tisch sitzend dargestellt. Der eine greift nach Büchern vor und hinter sich, der andere aber hat einen Zirkel in der Hand, ein Schwert an der Hüfte und eine Armillarsphäre vor sich auf dem Tisch.50 Es handelt sich bei dem Mann mit dem Zirkel, wie ein Vergleich 47 Vgl. Agrippa, Camillo: Trattato di scientia d’arme, con un dialogo di filosofia. Rom: Antonio Blado, 1553. Zur Biographie vgl. Barni, G. L.: Camillo Agrippa. In: DBI 1 (1960), S. 503–504. Den Hinweis auf diesen Text verdanke ich Maurice Saß. 48 Vgl. Agrippa (1553), Trattato, fol. Ar–Av. 49 Vgl. ibid., fol. Aiiiv : »(…) in fine questa Professione si governa solamente co[n] punti, linee, tempi, misure, et simili, et nascono in certo modo da consideration’ mathematica, o sia pursola Geometria.« 50 Vgl. ibid., fol. 2r.

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mit dem vorangestellten Portrait des Autors zeigt, um Agrippa selbst. Der praktisch orientierte Ingenieur, so ließe sich interpretieren, überführt theoretische Gelehrsamkeit in die durch seine Instrumente symbolisierte Praxis.51 Die Verbindung mit der Mathematik erweitert der am Ende des Buches angeschlossene Dialog sodann um naturphilosophische Diskussionen, die sich von sphärischen Zeichnungen des Traktats zur Beschreibung der Planetenbewegungen emporbewegen.52 Die vernakulare Geometrisierung der Fechtbewegungen mündet damit in ein Gespräch über astronomische Zusammenhänge – neben der allein schon bemerkenswerten Verbindung einer höfischen Praxis zur Mathematik tritt nun noch die Rolle des Fechttraktats als Katalysator naturphilosophischer Betrachtungen hinzu. In Agrippas Fechttraktat ist demnach die Verbindung von Wissenschaft und höfischer Soziabilität beispielhaft vorgeführt, auch wenn naturphilosophisches Wissen nicht zur Strukturierung der Fechtkunst selbst gebraucht wird und die geometrischen Figuren die Bewegungsabläufe eher verdeutlichend erklären als normieren. Doch war Scaino hiermit zumindest ein potentielles Beispiel für die Anwendung akademischen Wissens auf Hofpraktiken gegeben. Für seine Normierung einer höfischen Praxis entlang der Vorgaben universitärer Philosophie, für die Eruierung der richtigen Spielregeln und der bestmöglichen Spielweise auf Basis aristotelischer Naturphilosophie stellt allerdings auch Agrippa kein plausibles Vorbild dar. Scainos Schrift ist umfangreicher, komplexer und vielschichtiger. Sie ist keine bloße Regelbeschreibung und gleichfalls kein mit moralischen Argumenten angereichertes Gedicht über den Wert und Nutzen von Spielen. Was der junge Mann aus Salk seinem Fürsten präsentiert, so viel dürfte durch die Konsultation vergleichbarer spielbezogener Quellen deutlich geworden sein, muss demzufolge als ein den Bedürfnissen des ferraresischen Herrschers entsprechendes, innovatives Wissen um Ballspiele betrachtet werden. In den folgenden Abschnitten möchte ich diese innovative Herangehensweise Scainos an konkreten Beispielen herausarbeiten und werde hierfür in zwei Schritten vorgehen. Zunächst werde ich zeigen, dass Scaino Argumentationsstrukturen aus den biologischen Schriften des Aristoteles imitiert und Spiele in Analogie zur philosophischen Behandlung von Lebewesen analysiert. In einem zweiten Schritt wird darlegt, wie er naturphilosophisches Wissen auf die Tennisspielpraxis selbst anwendet, wobei über die Analyse des Tennisballs auch eine Verbindung zu seinem philosophischen Lehrer Vincenzo Maggi hergestellt werden kann. 51 Vgl. ibid., fol. 1v ; zu dieser Identifizierung vgl. auch Camerota, Filippo: When the Dagger Became a Compass. The Science of Arms and Fortifications. In: Marten, Bettina et al. (Hrsg.): Festungsbau. Geometrie. Technologie. Sublimierung. Berlin: Lukas Verlag, 2012, S. 147–158, hierzu S. 148–149. 52 Vgl. Agrippa (1553), Trattato, S. LXIIII–LXX.

Zoologische Tennisphilosophie: Spiele als Lebewesen

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Zoologische Tennisphilosophie: Spiele als Lebewesen Der Trattato ist, wie dargelegt, in drei Teile unterschieden, von denen der erste eine Ausarbeitung der Regeln unternimmt, der zweite die Spielpraxis normiert und der dritte Vorschriften zum Gebrauch des Spiels für eine gesunde Lebensführung angibt. Während der dritte Teil selbstverständlich einem alten diätetischen Diskurs der sex res non naturales angehört und entsprechend der Medizin zuzuordnen ist,53 geht Scaino im ersten und zweiten Teil ungewöhnlichere Wege. Schon die Ordnung des ersten Teils zeigt eine Nähe zu universitären Praktiken der Textkommentierung, was bei einem wohl höfischen Adressatenkreis zumindest bemerkenswert erscheint. So bleiben die aufgestellten Regeln nicht undiskutiert, mitunter folgen ihnen Quistioni, wie etwa im Falle der Beschreibung des Spielfelds: Sechs anschließende Fragen widmen sich einigen aus der Spielpraxis entstehenden zweifelhaften Fällen, etwa den verschiedenen Arten des Überschreitens der Spielfeldbegrenzungen.54 Diese Erörterungen sind oftmals erstaunlich kleinteilig, wie etwa eine Quistione zur Schnur die Frage diskutiert, was passiere, wenn der Ball die Knoten berühre, mit denen die Schnur befestigt ist.55 Eine andere Frage bespricht einen Fall, in dem der Ball auf einem vorbeifahrenden Karren zur Ruhe kam und wägt ab, ob man ihn dann noch weiterspielen dürfe.56 Es sind hier vielleicht schon Zweifel angebracht, ob diese übersubtilen Imitationen universitären Disputierens ganz ernst aufgefasst werden müssen. Scaino selbst beschreibt jedenfalls seine Herangehensweise in der Klärung einer dieser Fragen als naturphilosophisch. Die Stelle verdient wegen ihres unerwarteten methodischen Anschlusses ausführlich zitiert zu werden, denn sie setzt die Behandlung der Regeln des Spiels mit der zoologischen Herangehensweise des Aristoteles gleich, die einzelnen Teile der Lebewesen teleologisch aus ihrer Rolle für den gesamten Organismus abzuleiten. Anlass ist die Frage, weshalb in einem Spiel mindestens vier Ballwechsel vorgeschrieben sind, d. h. weshalb man mindestens vier Punkte für einen Sieg benötige. Scaino will zeigen, dass man artificiosamente, der Kunst nach also, das Spiel nicht sinnvollerweise mit weniger Punkten beenden könne: E questo fark io per iscoprir meglio la eccellenza di questo artificio in quella guisa, che in cosa di molto maggior importanza i Filosofi Naturali far sogliono, quando investigando contemplano, per qual cagione la Natura habbia fatto il core ne gli animali, il 53 Zu diesem Abschnitt in Scainos Werk vgl. die knappe Einordnung bei Pennuto, Concetta: Jeu de la paume: Health of the Body and the Mind in Early Modern Medicine. In: Nuncius 28 (2013), S. 43–65, hierzu S. 58–60. 54 Vgl. Trattato I, Cap. XXVIII–XXXIV, S. 77–89. 55 Vgl. ibid. I, Cap. XXXVIII, S. 96–97. 56 Vgl. ibid. I, Cap. XXVII, S. 55–58.

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polmone, il fegato, perche ordinariamente nasca l’huomo con cinque dita nella mano, perche vada ritto (…). Dico dunque, che non essendo altro stimolo da indurre i giovani a questo tanto utile esercitio, che’l desiderio di acquistar fama dal fatto d’una s' rara, et s' difficile, e tanto singolar battaglia, dovea essere parimente la via del combattere talmente astratta et lontana da ogni sospetto del caso, o della fortuna, che l’huomo potesse esser sicuro, e certo, quando vincesse, che la vittoria fosse da lui conseguita per propria virtF, e non per altro estraordinario favore (…).57 (Und dies werde ich tun, um die Vorzüglichkeit dieser Kunst deutlicher herauszustellen, auf eine solche Art, wie es die Naturphilosophen bei Dingen von weit größerer Wichtigkeit zu tun pflegen, wenn sie forschend betrachten, aus welchem Grund die Natur den Tieren das Herz erschaffen hat, die Lunge, die Leber, weshalb der Mensch für gewöhnlich mit fünf Fingern an der Hand geboren wird, weshalb er aufrecht geht […]. Ich sage also: Da es keinen anderen Anreiz gibt, die Jungen zu dieser so nützlichen Übung zu bewegen, als das Verlangen, Ruhm aus einer so außerordentlichen, so schwierigen und so einzigartigen Schlacht zu gewinnen, so musste gleichfalls die Art und Weise des Kämpfens dermaßen abseits und entfernt von jedem Verdacht des Zufalls oder des Glücks sein, dass der Mensch sicher und gewiss sein konnte, den Sieg, wenn er gewann, durch die eigene Tugend und nicht durch außergewöhnliche Begünstigung erlangt zu haben […].)

Gehen wir diesen Ausschnitt vom Ende aus an: Scaino hatte uns schon erklärt, die antiken Erfinder hätten das Spiel solcherart geordnet, dass insbesondere die Jungen durch ein Verlangen nach Ruhm zu dieser so nützlichen Übung gezogen werden. Berichte oder Erörterungen der Alten über ihre Spielpraktiken seien nicht erhalten, wohingegen sich die Praxis des Spielens durchaus weiterentwickelt habe und zu größerer Perfektion vorangeschritten sei. Wie kann er nun aber in Ermangelung sicheren Wissens über den Spielursprung erklären, weshalb ausgerechnet vier Punkte gespielt werden sollen? Er behauptet, dies in Anlehnung an die Naturphilosophie vollbringen zu können – aber was bedeutet Naturphilosophie in diesem Fall? Offensichtlich begreift Scaino, wie die Aufzählung einzelner Teile von Lebewesen nahelegt, die biologischen Schriften des Aristoteles als methodisches Vorbild für die Erklärung der Sinnhaftigkeit von Spielregeln antiken Ursprungs. Einer der wichtigsten Kommentatoren von Aristoteles’ zoologischen Werken im 16. Jahrhundert, Agostino Nifo, unterteilte die Methode des Stagiriten dabei in mindestens zwei Schritte: Eine Schrift wie De historia animalium gebe zunächst nur eine Bestandsaufnahme, präsentiere sozusagen die Fakten, und zwar historice, nicht argumentierend. Gefragt wird daher zuerst, welche Lebewesen existieren und welche Unterschiede zwischen ihnen auszumachen sind. Die syllogistische Erörterung der Ursachen für die Unterschiede der Lebewesen besorgen nach Nifo sodann aber die Schriften De generatione animalium und De 57 Ibid. I, Cap. III, S. 20–21.

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partibus animalium, letztere über die Teile der Lebewesen und im speziellen ihrer Finalursache nach.58 Aristoteles argumentierte hier, dass die Finalursache zentral für die Frage sei, weshalb ein Lebewesen in spezifischer Weise beschaffen ist, wie auch bei den Werken der Künste: Zuerst nämlich forme der Künstler ein Bild einer Sache, dass dann nach und nach realisiert werde. Gleiches gelte für die Lebewesen, denen in der Zeugung auch schon ein formgebender Samen vom Erzeuger vorausgehe, von dem sie eine bestimmte Beschaffenheit übernehmen.59 Entsprechend müssen auch die einzelnen Teile der Lebewesen erklärt werden hinsichtlich ihrer Rolle für die finale Beschaffenheit des gesamten Organismus.60 Zuerst widmet man sich demnach den Phänomenen, wie sie sich darbieten, d. h. etwa diesem oder jenem spezifischen Lebewesen, um daraufhin die Ursachen der einzelnen Teile in Bezug auf das Lebewesen als Ganzes zu ergründen. Scaino strukturiert seine Untersuchung methodisch nach diesen Vorgaben: Festgestellt wird zunächst die Existenz eines Spiels und sein Regelwerk umschrieben.61 Um seine aktuelle Beschaffenheit zu erklären, müssen die einzelnen Teile auf die Finalursache des ganzen Spiels bezogen werden, gleich den einzelnen Teilen der Lebewesen, die der Finalursache des ganzen Lebewesens ihre Existenz verdanken und notwendige Bedingungen der Existenz des gesamten Organismus darstellen. Weshalb ist das Spiel also erfunden worden? Um die jungen Menschen zu einer nützlichen Übung zu bewegen, dies ist seine Finalursache. Wie bewegt man sie aber dazu? Indem man das Spiel zum Prüfstein ihrer Tüchtigkeit macht, denn die Jungen streben von Natur aus nach Ruhm.62 Aus dieser Teleologie des Tennisspiels lässt sich nun erklären, weshalb das Spielen von mindestens vier Ballwechseln besser als einer, zwei oder drei zum Zwecke dieses Spiels geeignet ist. Nur ein einziger Ballwechsel wäre nicht sinnvoll oder erfreulich, da hier der Verdacht eines glücklichen Punktgewinns und eine zu kurze Spieldauer im Wege stehen.63 Bei zwei Ballwechseln ist

58 Zur Biologie des Aristoteles in der Renaissance vgl. Perfetti, Stefano: Aristotle’s Zoology and It’s Renaissance Commentators, 1521–1601. (=Ancient and Medieval Philosophy I, XXVII) Löwen: Leuven University Press, 2000, zu Nifo S. 31–32 und S. 85–120, bes. S. 91–92, vgl. auch Arist. PA II 1 (646a8–12). Zur Tradition biologischer Schriften des Aristoteles in Mittelalter und Renaissance siehe Steel, Carlo et al. (Hrsg.): Aristotle’s Animals in the Middle Ages and Renaissance. (=Mediaevalia Lovaniensia, I, XXVII) Löwen: Leuven University Press, 1999. 59 Vgl. Arist. PA I 1 (640a10–640a33). 60 Vgl. Arist. PA I 5 (645b15–646a1). 61 Vgl. Trattato I, Cap. II, S. 14–20. 62 Der Rhetorik des Aristoteles zufolge sind die besonders leidenschaftlichen jungen Menschen stets ausgesprochen siegbegierig, vgl. Arist. Rhet. II 12 (1389a12ff.). 63 Auch gebe es eine zu geringe Variabilität der Situationen und ein eindrücklicher Sieg könne nicht errungen werden, wie auch ein gewisser Zustand des furore, wie Platon ihn Poeten

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möglich, dass beide Parteien einen Punkt gewinnen und das Spiel nicht zu einem Ende geführt werden könnte. Ein Limit von drei Ballwechseln wiederum würde das Spiel nach Punktgleichstand abermals in den Status eines einzigen entscheidenden Punktes zurückversetzen, was gerade schon verworfen wurde. Mindestens müssen also, um den Wert der Spieler herauszustellen, vier Punkte gespielt werden.64 Aus dieser Betrachtung leitet Scaino drei verschiedene Siegarten ab: Die vittoria semplice sei ein 4:1 oder 4:2, die exzellentere vittoria doppia hingegen ein glattes 4:0. Wenn das Spiel allerdings bei 3:3 steht, muss wieder mit zwei Punkten Abstand gewonnen werden, was die Partie theoretisch perpetuieren kann.65 Der beeindruckendste Sieg, die vittoria treplice oder rabbiosa, ist nach Scaino entsprechend ein 5:3, doch nur nachdem ein Spieler schon 0:3 zurücklag: Wegen des großen Ruhms, den der Zurückliegende hierbei gewinnen, und der außergewöhnlichen Schmach, die dem Führenden beim Verlust einer eigentlich schon entschiedenen Partie zufallen könne, agieren die Spieler aufgrund ihrer emotionalen Zustände in dieser Situation mit höchstem Einsatz, was den Zuschauern großes Vergnügen bereite.66 Ich will die Überzeugungskraft dieser Argumentation nicht diskutieren, die Methode ist mir wichtig. Scaino betrachtet das Spiel analog zu Lebewesen, wofür etwa in De partibus animalium mit dem Vergleich des Künstlers und der Natur ein Ansatzpunkt gegeben ist.67 Die Konzeption der antiken Erfinder des Spiels und ihre Wahl von mindestens vier Ballwechseln kann er so aus der Zweckmäßigkeit einer derartigen Einrichtung für die Finalursache des Spiels erklären. Auf diesen Zweck bezogen sei die Einführung dieser Siegbedingung sehr sinnvoll gewesen, »(…) um so weit als nur möglich die Jungen dazu zu bewegen, sich

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zuschreibe, erreicht werden müsse, um beeindruckende Schläge auszuführen, vgl. Trattato I, Cap. III, S. 21–23, vgl. auch Plat. Phaid. 265aff. Vgl. Trattato I, Cap. III–IV, S. 23–26. Vgl. ibid. I, Cap. V–VII 26–32. Knapp zu Scaino und der Frage nach der Zählweise auch Gillmeister (1990), Kulturgeschichte, S. 156–164. Vgl. Trattato I, Cap. VII, S. 30–32. Hier weißt Scaino auch darauf hin, dass der Führende unbedingt gewinnen wolle »(…) per fuggire, che da spettatori, come huomo da poco, non sia sprezzato, e vilipeso (…).« (I, Cap. VII, S. 30–31) Die Hofgesellschaft als Publikum, vor dem man spielt, ist also mitgedacht, und die Abläufe im Spiel sind nicht nur innerhalb dieser Gesellschaft verortet, sondern von der umgebenden Zuschauerschaft abhängig, vgl. hierzu auch Cortegiano II, 10: »Fassi ancor il gioco della palla quasi sempre in publico; ed H uno di que’ spettaculi, a cui la moltitudine apporta assai ornamento.« Auch die Perfektionierung der Kunst des Tennisspiels und der Künste und Wissenschaften überhaupt denkt Scaino in Analogie zu natürlichen Entwicklungen: »(…) s' come le cose naturali, quali sono le piante, da basso principio germogliano, sendo il caldo del seme benche picciolo, che sotto la terra giace, la principal cagione del nascimento loro, e poi bevendo dalla terra diverso liquore, con la virtF benigna de’ cieli si nudriscono, e crescono alla dovuta perfettione, cos' dell’arti, e delle scienze, H avvenuto.« (Trattato II, Cap. II, S. 137–138).

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darin zu üben und ihm nachzugehen.«68 Zusammengefügt ergebe sich ein Körper (!) von größtem Gleichklang, der den Spielern immer wieder stimolo zum Weiterspielen biete, insofern die höheren Siege aus den niedrigeren hervorgehen und stets neuen Anreiz bieten.69 Noch ein zweites Mal strukturiert Scaino die Spielbetrachtung nach zoologischer Methode, nun im zweiten Teil seines Werkes. Hier definiert er Ballspiele zunächst unspezifisch als contrasto, in dem zwei Parteien mit einem Ball um den Sieg ringen unter bestimmten Bedingung des Ortes, des Spielmaterials, der Regeln und dergleichen.70 Unter seine Definition fallen jedoch verschiedene Spielweisen, die sich nach verschiedenen Merkmalen unterscheiden: (1) Nach zwei Ballarten, dem luftgefüllten und dem wollgefüllten harten Ball, (2) dem Spiel mit offener Hand oder Faust, (3) dem Spiel ohne Instrument oder mit Schläger und Schlagbrett sowie (4) dem Spiel mit Schnur oder ohne Schnur auf offenem Feld. Insgesamt existieren demnach acht Unterscheidungsmerkmale.71 Sämtliche sich aus diesen Kombinationen ergebenden Spiele fallen nach Scaino aber erstens unter seine Definition und zweitens unter die im ersten Teil erarbeiteten Regeln, den artificio des Tennisspiels: (…) in questo tutti i giuochi della palla sono insieme conformi come se fossero un solo, a quella guisa che i filosofi dir sogliono la capra, il cavallo, il leone, lo elefante, l’uomo con tant’altri essere insieme un solo animale in quanto alla virtF del sentire, la quale in tutti parimente si ritrova.72 ([…] in diesem stimmen alle Ballspiele überein, als ob sie ein einziges wären, auf diejenige Art und Weise wie die Philosophen die Ziege, das Pferd, den Löwen, den Elefanten und den Menschen mit zahlreichen anderen Lebewesen zusammen als ein einziges Tier bezeichnen hinsichtlich der Fähigkeit zur Empfindung, welche sich in allen gleichermaßen findet.)

Ohne Zweifel hat Scaino die aristotelische Unterscheidung in vegetatives, sensitives und intellektives Seelenvermögen im Sinne, die in unterschiedlicher 68 Trattato I, Cap. IV, S. 26: »(…) a fine d’inducere piu che fosse poßibile gli animi de’giovani ad esercitarlo, e frequentarlo.« 69 Vgl. Trattato I, Cap. VIII, S. 33–36. Das Hervorgehen denkt Scaino folgendermaßen: Bei einem 2:0 Vorsprung habe ein Spieler schon die Tugend einer vittoria semplice erreicht, gewinnt er den dritten Punkt, sei nun sowohl eine semplice als auch eine doppia möglich, doch aus dieser Disposition für eine doppia gehe nun die Möglichkeit einer vittoria triplice hervor. Die Dreizahl, so fährt er in Cap. IX fort, sei dabei von den antiken Erfindern mit Bedacht gewählt worden, da sie die vornehmste, Anfang, Mitte und Ende enthaltende Zahl darstelle, wie auch Aristoteles in De caelo bestätige, weshalb man sagen könne: »(…) H degno di molta commendatione l’inventore e ordinatore dell’ordine, e delle leggi del giuoco della Palla.« (Trattato I, Cap. IX, S. 38). Vgl. hierzu auch Arist. De cael. I 1 (268a6–24). 70 Vgl. Trattato II, Cap. III, S. 139. 71 Vgl. Trattato II, Cap. V, S. 141–142. 72 Trattato II, Cap. IV, S. 140.

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Kombination bei verschiedenen Lebewesen auftreten: Pflanzen kommt nur vegetatives Vermögen zu, Menschen verfügen hingegen über alle drei.73 Die Spielweisen, fährt Scaino fort, sind nun eben auch nicht acht gleich den acht Unterscheidungsmerkmalen, sondern bedürfen mehrerer Merkmalskombinationen, wie der Mensch nicht nur einen lebendigen und fühlenden Körper, sondern zudem intellektuelle Fähigkeiten besitzen müsse.74 So ergeben sich aus den unterschiedlichen Kombinationen der Merkmale beim Ballspiel insgesamt sechs Spiele, zwei mit dem luftgefüllten Ball und vier mit dem wollgefüllten.75 Die Ordnung der Spielarten und ihre Zusammensetzung beschreibt Scaino folglich nach Klassifikationsmustern aristotelischer Naturphilosophie. Für sich genommen wäre dies nur ein kleiner, nicht besonders außergewöhnlicher Verweis auf Gelehrtendiskurse, doch Scaino fährt konstant fort, das Tennisspiel mit Aristoteles zu sezieren. Im Anschluss will er nun die Ansicht beweisen, wonach das Spiel mit Schnur am vornehmsten sei, wobei die nobilit/ sich aus der Perfektion und der Exzellenz der Dinge ergebe. Für die Vollkommenheit des Schnurspiels führt er einige Gründe an: (1) Wie Aristoteles in De caelo zeige, dass die Kreisbewegung perfekter als die gerade Bewegung sei, da in jeder Hinsicht abgeschlossen, so müsse man auch bei Spielen verfahren. Denn dem giuoco della corda geht man nach Scaino auf einem Feld nach, das im Gegensatz zum offenen Feld zu jeder Seite hin mit Mauern begrenzt ist. Entsprechend dieser Abgeschlossenheit sei er auch perfekter.76 (2) Zudem halten die Philosophen dafür, dass Tiere perfekter als Pflanzen seien, weil sie sensitive Fähigkeiten besitzen, die Menschen aber perfekter als jene, da sie über den Intellekt verfügen; Gott schließlich stelle die abgeschlossene Perfektion von allem dar. Entsprechend dieser hierarchischen Ordnung des Seins habe das Spiel mit der Schnur eben auch eine Eigenschaft mehr als das Spiel auf offenem Feld, weshalb man es perfekter nennen könne. (3) Was darüber hinaus größeren artificio erfordere, sei würdiger, wie Aristoteles auch nicht die natürliche Wärme als hauptsächliche Ursache für die Ernährung der Lebewesen sehe, sondern die Seele, da diese Operation einige Meisterschaft erfordere. Gleichermaßen bedürfe auch das Spiel mit Schnur der arte und misura wie keine andere Spielweise.77 Es 73 Vgl. hierzu grundlegend Arist. De anim. II 2 (413b11ff). 74 Vgl. Trattato II, Cap. VII, S. 145–146. 75 Der luftgefüllte Ball erlaubt (1) das Spiel mit einem großen Ball und der Faust sowie (2) ein Spiel mit einem scanno. Der wollgefüllte Ball erlaubt (3) ein Spiel mit der Hand auf offenem Feld, (4) mit Schläger auf offenem Feld, (5) mit der Hand und einer Schnur und (6) mit dem Schläger und einer Schnur, vgl. Trattato II, Cap. VII, S. 146–147. 76 Vgl. Trattato II, Cap. XX, S. 180*-165 (S. 180* in meiner Ausgabe Fehldruck als S. 108*, außerdem scheint die Seitenzählung fehlerhaft), zur Kreisbewegung vgl. Arist. De cael. I 2 (268b17–20). 77 Vgl. Trattato II, Cap. XX, S. 165–168, zur Seele als Ursache der Ernährung und des Wachstums vgl. Arist. De anim. II 4 (416a9–18).

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ist ohne Mühe ersichtlich, dass die Argumentfiguren aus diesen Beweisführungen aristotelische Argumentationsstrukturen der Naturphilosophie imitieren und strukturell auf die Betrachtung des Tennisspiels übertragen. Dass Scaino den Anschluss an universitäre Naturphilosophie sucht, macht schließlich auch eine längere Passage deutlich, die an die Frage nach dem exzellentesten Spiel anschließt. Denn er wolle nicht entscheiden, lässt Scaino seinen Principe wissen, ob nun das Spiel mit Schläger oder mit der Hand vorzüglicher sei. Doch könne er von einem gelehrten Gespräch berichten, das in Padua zwischen philosophisch hochbegabten Gelehrten, einem Spanier und einem Franzosen, zu diesem Thema stattgefunden habe.78 Während des Karnevals habe sich in der dortigen Arena eine Gemeinschaft junger Gelehrter zusammengefunden, wobei Überlegungen die körperlichen Übungen betreffend angestellt wurden und man das Tennisspiel, insbesondere aber dasjenige mit Schnur am meisten gelobt habe. Der Spanier und der Franzose jedoch gerieten in eine Diskussion, ob dem Spiel mit Hand oder mit Schläger der Vorzug gegeben werden müsse. Scaino gibt ihre Standpunkte ausführlich wieder : Für die Hand spreche die größere Variabilität des Spiels wegen der größeren Bewegungsfreiheit, gegen sie und für den Schläger etwa die Nähe des Ballspiels zur Schlacht, in der ja der Faustkampf die niedrigste Form des Streitens, die Kämpfe mit Waffen allerdings am edelsten seien.79 Ohne die komplexeren Argumentationsgänge dieser Auseinandersetzung im Einzelnen in diesem Rahmen nachvollziehen zu können, ist meines Erachtens wichtig festzustellen, dass Scaino einen Diskurs über den Wert von Spielen in akademischem Umfeld inszeniert, geführt von, wie er explizit betont, philosophisch Gebildeten. Diese verbinden ihre eigene körperliche Ertüchtigung mit der theoretischen Erörterung der Vor- und Nachteile bestimmter Spielarten, und zwar nicht nur auf medizinischer Ebene, sondern auch hinsichtlich des erfreulicheren Spielmodus. Zudem unterhalten sie sich in Padua – derjenigen Universität, die im Europa der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts wie fast keine andere internationales Ansehen als Zentrum der Aristotelesauslegung und der Medizin genoss.80 Scaino stellt seine eigene Arbeit mit der Zitation der Paduaner Tennisdisputation in den Kontext dieser so berühmten Universität, schafft so78 Den Vergleich mit spanischer und französische Spielkultur stellt Scaino häufiger an, sei es hinsichtlich des Spielvokabulars oder der Spielweise, vgl. bspw. Trattato I, Cap. XXXVI, S. 93; II, Cap. VII, S. 147; II, Cap. XV, S. 159; II, Cap. XVI, S. 162. In den Trattato sind zudem Darstellungen verschiedener Tennisplätze aufgenommen, von denen ein Platz im Louvre in Paris als Idealtypus für das Spiel mit Schnur und Schläger vorgestellt wird, vgl. Trattato II, Cap. XVI, S. 161–163, die Abbildung auf den S. 164*-165*. 79 Vgl. Trattato II, Cap. XXI, S. 171–180. 80 Vgl. Grendler (2002), Universities, S. 33, der Padua »intellectual leadership« zusammen mit Bologna und einigen anderen europäischen Universitäten bescheinigt.

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zusagen den diskursiven Anschluss an Paduaner Gelehrtengespräche, zu denen, so dürfen wir schließen, auch sein eigenes Werk zählen könnte. Allerdings: Zugleich behandelt die Erzählung eine Diskussion, die während des Karnevals stattfindet und eben nicht als regulärer wissenschaftlicher Disput. Dies verleiht dem Trattato und den eingearbeiteten aristotelischen Passagen eine zumindest ambivalente Stellung. Einerseits könnte der Traktat mit seiner Strukturierung höfischer Spielpraxis aufgrund von Regelunsicherheiten als gelehrte Abhandlung über körperliche Ertüchtigung in der Art von Paduaner Gelehrtengesprächen gesehen werden. Andererseits ließe sich aber unterstellen, dass die Einarbeitung aristotelischer Motive nicht ganz ernst gemeint ist und eine karnevaleske Umformung naturphilosophischer Deutungsmuster aus dem universitären Umfeld im nun höfischen Kontext darstellt. Auf universitäre Diskurse nimmt Scaino jedenfalls schon mit dem ersten Satz seines Trattato Bezug: Das Werk, schreibt er, sei entstanden während seines Studiums der Philosophie unter Vincenzo Maggi in Ferrara. Maggi aber wechselte eben von Padua nach Ferrara, um Naturphilosophie zu unterrichten, und ist daher ein hervorragender Ansatzpunkt, um von den strukturellen naturphilosophischen Anleihen des Trattato zur inhaltlichen Anwendung aristotelischer Naturphilosophie überzugehen. An einem kleinen Beispiel kann gezeigt werden, dass Scainos Lehrer in seiner Herangehensweise durchaus für ungewöhnliche Beispiele und Analysegegenstände offen war. Seine Rolle im Kontext der ferraresischen Gelehrtenszene wird ein wenig mehr Licht auf die Frage werfen, ob es wirklich ernst zu nehmen ist, dass Scaino eine höfische Tennisphilosophie mit Zoologie und Physik anreichert.

Vincenzo Maggi und die flüchtige Luft Vincenzo Maggi hielt in Ferrara Vorlesungen zur Naturphilosophie, seit Hercole II. ihn 1543 aus Padua angeworben hatte. Auch dort hatte er bereits nach seinem Studium Lectiones über die aristotelische Naturphilosophie gehalten, war in der Accademia degli Infiammanti aktiv gewesen und in Bekanntschaft mit Bartolomeo Lombardi getreten. Basierend auf eben dessen Vorarbeiten veröffentlichte er 1549 sein bekanntestes Werk, einen Kommentar zur aristotelischen Poetik, die er im Anhang um eine auf Horaz basierende Komödientheorie unter dem Titel De ridiculis erweiterte.81 81 Vgl. Selmi, E.: Maggi, Vincenzo. In: DBI 67 (2006), S. 365–369, vgl. auch Aguzzi-Barbagli, Danilo: Maggi, Vincenzo. In: Bietenholz, Peter G. und Deutscher, Thomas B. (Hrsg.): Contemporaries of Erasmus. Band 2: F-M. Toronto/Buffalo/London: University of Toronto Press, 1986, S. 367–368; Maggi, Vincenzo und Lombardi, Bartolomeo: In Aristotelis librum de poetica communes explanationes: Madii vero in eundem librum propriae annotationes.

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Von seiner tatsächlich herausragenden Bedeutung unter den ferraresischen Gelehrten geben mehrere Quellen Auskunft. So schreibt der Student Francesco Davanzati 1546 in einem Brief, er habe sich nach Ferrara begeben, um Vincenzo Maggis Auslegung der Physik zu hören, weil sie in Padua nicht mehr angemessen erläutert werde.82 Als Alberto Lollio 1554 eine zur Concordia aufrufende Rede anlässlich der Gründung der ferraresischen Gelehrtenakademie der Filareti hält, spart auch er nicht mit Lob für den Aristotelesexperten: Er sei der Capitano der Akademie und unico instaurator della Peripatetica disciplina, einzigartiger Erneuerer der peripatetischen Lehre.83 Nicht zuletzt zeigen auch die Abrechnungen der Universität, dass Vincenzo Maggi eine herausgehobene Stellung zukam und sich seine einzigartige Kenntnis des Aristoteles auszahlte: Seit 1543 verdiente er stets 1800 Lire. Wenn wir diesen Betrag im akademischen Jahr 1553/54 mit dem Gehalt anderer Lehrender vergleichen, ist er schon unter den Philosophen ohne Konkurrenz – Robertus Sacratus, der die selbe Vorlesung gibt, erhält nur 100 Lire, mehr als das verdient keiner von ihnen. Unter den Medizinern noch am meisten erhält in diesem Jahr Antonius Brassavolum für Vorlesungen zur Praktischen Medizin, immerhin 800 Lire, und doch bezieht er als derjenige Mediziner, den Vivian Nutton zu einem der Hauptakteure des ferraresischen medizinischen Humanismus erklärte, nicht einmal die Hälfte von Maggis Verdienst.84 Gleiches gilt für die Humanisten, von denen Alexandrus Guarinus ebenfalls nur 800 Lire für Rhetorikvorlesungen verdient. Die Juristen kommen in diesem Jahr höchstens auf 550 Lire, wobei sich in den 1550er Jahren allein an dieser Fakultät Gehälter finden lassen, die mit Maggis Bezahlung konkurrieren könnten, im Jahr 1551/52 etwa erreichte Johannes Corrasius für Zivilrecht sogar

Eiusdem De ridiculis et in Horatii librum de arte poetica interpretatio. Venedig: V. Valgrisi, 1550, zu Maggis Poetik-Vorlesung, der politischen Bedeutung moralphilosophischer Poetik und Maggis Stellung in Ferrara vgl. Lupi, F. Walter: Aristotele a corte. L’insegnamento ferrarese di Vincenzo Maggi. In: Castelli, Patrizia (Hrsg.): La rinascita del sapere: libri e maestri dello studio ferrarese. Venedig: Marsilio, 1991, S. 200–209. 82 Im DBI-Artikel über Maggi wird darauf hingewiesen, Davanzati sei gewechselt, weil die Paduaner nicht mehr mit genügend Akribie erklärten, die Stelle liest sich folgendermaßen: »Ego Patavio discessi, et Ferrariam veni, ut heic manerem, propterea quod meorum studiorum rationes hoc potissimum postulare mihi videbantur. Nam quum mea interesset hoc anno libros Aristotelis peq_ t/r Vusij/r ajqjaseyr, aliquem publice docentem audire, neque eos ibi propter depravatam illius Academiae consuetudinem aliquis hoc anno interpretaturus esset; cognovissem autem Ferrariae eos Vincentium Magium virum, tum iudicio pollentem, tum doctrina satis excultum, interpretaturum esse (…).« (Bandini, Angelo Maria (Hrsg.): Cl. Italorum et Germanorum epistolae ad Petrum Victorium. Band 1. Florenz: Praesidium Facultate, 1758, S. 54–55). 83 Sansovino, Francesco (Hrsg.): Orationi volgarmente scritte da molti huomini illustri de tempi nostri. Parte prima. Venedig: Francesco Rampazetto, 1562, S. 16–19, hierzu S. 19. 84 Vgl. Nutton, Vivian: The Rise of Medical Humanism: Ferrara, 1464–1555. In: Renaissance Studies 11, 1 (1997), S. 2–19, hierzu S. 11–17.

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1825 Lire.85 Ersichtlich ist allerdings, dass Maggi in diesen Jahren bezogen auf das Gehalt an der Universität Ferrara eine exzeptionelle Position zukommt. Ebenso bescheinigen ihm die Äußerungen Lollios und Davanzatis zu seiner überlegenen Aristoteles-Expertise eine Alleinstellungskompetenz unter den peripatetischen Philosophen seiner Zeit. Dass Scaino den Namen Maggis sozusagen als Auszeichnung, als Ausweis einer hervorragenden Ausbildung sogleich an den Beginn seines Traktats setzt, gibt seinem Text nicht nur Anschluss an die ferraresische Gelehrtenszene, sondern direkte Verbindung zu einem ihrer profiliertesten Vertreter. Von den wenigen gedruckten Werken Maggis behandelt leider kein einziges die aristotelische Naturphilosophie, allerdings sind uns einige seiner Lectiones und Quaestiones handschriftlich überliefert. Sie geben Aufschluss über die Herangehensweise, die Praxis der Naturphilosophie, wie Scaino sie unter seinem Lehrer Maggi kennengelernt haben konnte.86 Aus der Überlieferung lässt sich beispielsweise schon erschließen, dass Maggi sich eingehender mit De caelo beschäftigt hat, was kosmologische Digressionen in Scainos Trattato verständlicher machen dürfte.87 Ich werde auf die umfangreiche und nicht edierte handschriftliche Überlieferung hier nicht ausführlicher eingehen – immerhin aber können wir uns ein Beispiel seiner Philosophie ansehen, in dem ein luftgefüllter Ball eine prominente Rolle spielt. In einer Handschrift der Biblioteca Ambrosiana ist uns eine Sammlung von Questiones ex libris Physicorum überliefert, also Fragen zu denjenigen Büchern, wegen deren Auslegung Francesco Davanzati 1546 nach Ferrara gekommen war.88 Vincenzo Maggi diskutiert hier unter anderem ein Problem, das sich aus dem Physik-Kommentar des Averroes ergibt und eine längere mittelalterliche Tradition hatte.89 Es ist die Frage, ob einfache Körper, das sind zunächst einmal 85 Vgl. Franceschini, Adriano (Hrsg.): Nuovi documenti relativi ai docenti dello studio di Ferrara nel sec. XVI. Ferrara: Sate, 1970, die Gehälter der akademischen Jahre von 1543–1560 (nicht vollständig) auf den S. 54–114, das Jahr 1553/54 auf den S. 89–95, zu Corrasius S. 83. Die außergewöhnliche Bezahlung könnte (aber wohl nicht allein) damit zusammenhängen, dass Maggi in Ferrara auch mit der Erziehung Alfonsos betraut war, vgl. Lupi (1991), Aristotele a corte, S. 203. 86 Darüber hinaus ist die gedruckte Antrittsrede Maggis anlässlich des Beginns seiner Lehrtätigkeit in Ferrara überliefert, vgl. Maggi, Vincenzo: De cognitionis praestantia, oratio: eo anno quo naturalem philosophiam in almo Ferrariensi gymnasio docere coepit, habita. Ferrara: Franciscus Rubeus de Valentia, 1557, die ich in diesem Rahmen nicht näher beleuchten werde. 87 Vgl. etwa Trattato II, Cap. XXXI, S. 195–197, wo Scaino eine ausführliche Beschreibung natürlicher Bewegung und des korrespondierenden Aufbaus des Universums gibt, zur Handschriftenüberlieferung vgl. den DBI-Artikel oben Fußnote 81. 88 Es handelt sich um das Ms. G 69 inf., Mailand, Biblioteca Ambrosiana, fol. 173r–186v. 89 Vgl. etwa schon den Physik-Kommentar von Oresme, Nicole: Questiones super Physicam (Books I–VII). Hrsg. von Stefano Carotti et al. (=Studien und Texte zur Geistesgeschichte des

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die Elemente Wasser, Feuer, Luft und Erde, sich von selbst qualitativ verändern können.90 Denn hinsichtlich ihrer Ortsbewegung ist dies durchaus der Fall: Die Elemente streben nach Aristoteles zu ihrem natürlichen Ort, Luft und Feuer nach oben, Wasser und Erde nach unten.91 Qualitative Veränderung bestünde nun zum Beispiel in thermischer Veränderung: Ein anschauliches Beispiel hierfür ist erwärmtes Wasser, das von selbst wieder zu erkalten scheint – doch Maggi macht das grundlegende Problem zudem mit einem vergleichenden ballspielbezogenen exemplum deutlich: Experientia aqua calefacta redit ad suam frigiditate[m]. jj hoc est p[er] formam intrinsecam, [er]g[o] simplex corpus seipsum alterat. Insuper comprimat[ur] manu pila plena vento, removeat[ur] manu, iterum rarefiet, et redibit ad suum locum, haec rarefactio fit ab aere [er]g[o] aer a se ipse rarefit.92 (Der Erfahrung nach kehrt erwärmtes Wasser zu seiner Kälte zurück. Dies geschieht wegen der intrinsischen Form, also verändert sich ein einfacher Köper selbst. Wird ein luftgefüllter Ball mit der Hand zusammengedrückt und die Hand sodann entfernt, so wird er wieder weich werden und an seinen Platz zurückkehren; diese Auflockerung geschieht wegen der Luft, folglich wird die Luft von selbst locker.)

Ein vielleicht nicht gänzlich aufgepumpter Ball, der durch zupackenden Druck an Festigkeit gewinnt, kehrt zu seiner Lockerheit zurück, weil die Luft nicht mehr gewaltsam in weniger Raum gepresst wird und wieder auseinanderstreben kann. Ohne auch nur ansatzweise die weitreichenden physikalischen Implikationen von Maggis hier beginnender Diskussion des Problems in diesem RahMittelalters 112) Leiden/Boston: Brill, 2013, II, 2, S. 174–181: »Consequenter queritur utrum aliquod elementum habeat in se principium sue alterationis. Et intelligo act›iv‹um determinatum, et hoc propter dictum Commentatoris primo commento, ubi dicit quod nullum corpus simplex alteratur ex se. Verbi gratia, si aqua calefacta, queritur utrum ex se reveratur ad frigiditatem.« Das Beispiel des Wassers verwendet auch Maggi, die Stelle bei Aristoteles Phys. II 1 (192b8–16), zum Kommentar von Averroes In II Phys., comm. 1, 48f., vgl. Aristoteles: Omnia quae extant opera (…). Band 4: De physico auditu libri octo. Venedig: Iuntas, 1550, S. 23. 90 Die Quaestio An corpus simplex sese ipse alteret im Ms. G 69 inf., Mailand, Biblioteca Ambrosiana, fol. 180v–182r. 91 Vgl. hierzu etwa Arist. De cael. IV 3ff. (310a16ff.). 92 Ms. G 69 inf., Mailand, Biblioteca Ambrosiana, fol. 180v–181r ; die Passage liegt nahe an Agostino Nifos Entwurf der grundlegenden Problemstellung zu selbiger Stelle, vgl. Nifo, Agostino: Expositio super octo Aristotelis Stagiritae libros de physico auditu (…). Venedig: Iuntas, 1552, fol. 59r : »(…) dubitatio est, quia v[idetu]r, qu[od] simplex habeat actiuum principium suae alterationis. nam aer condensatus rarefacit se ab intrinseco. (…) Ad argumentum de aere co[n]densato dici potest, qu[od] aer condensatus in propria sphaera per se, et principaliter intendit rarefactionem, qua conseruatur eius forma in materia, et per accidens movet se in loco propter illam raritatem. At aer condensatus extra sphaeram per se primo intendit facere in loco proprio, et per accidens rarefit, quatenus mouetur in loco. Quicquid sit, non est inconveniens alterare se per se in accidentibus co[miten]t[i]bus, ubi non variatur substantia, ut dictum est.«

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men aufarbeiten zu können, halte ich es dennoch für beachtenswert, dass es ein Ball ist, der die intrinsischen Qualitäten der Luft verdeutlicht. Physikalische Probleme werden entsprechend anhand eines Spielgegenstandes eingeführt und dieser wiederum in universitäre Diskussionen integriert. Wenn Antonio Scaino demnach bei einem Philosophen studierte, der einen Ball zur Entwicklung physikalischer Probleme zu nutzen vermochte, liegt der umgekehrte Ansatz nicht fern, mit naturphilosophischen Theorien nun die Eigenschaften des Balles selbst zu erklären. Tatsächlich geht der ferraresische Ballspieltheoretiker in seiner Erörterung der spezifischen Eigenschaften des luftgefüllten Balles (der übrigens auch eine besondere Verbindung zu den Este hat, insofern Paolo Cortesi in seinem De Cardinalatu Niccolk d’Este als erstem die Popularisierung dieser Ballversion zuspricht93) der Quaestio Maggis nicht unähnliche Wege. Bei einem Vergleich zwischen dem wollgefüllten und dem luftgefüllten Ball spielt auch die Luft eine besondere Rolle, durch die der Ball leicht springe und rasch fliege: E di qui H che tal palla si rompe di leggero dando cosa che sia dura e tagliente, il che alla palla soda non cos' facilmente avviene; e questo perch8 la palla da vento, piena d’aere, ch’H di natura sottilissimo e facile da disciorre, battuta contra cosa dura e tagliente, l’aere, non che porga aiuto in mantener lei nella sua forma, ma H piutosto cagione insieme con la cosa tagliente che la palla scoppi.94 (Und daher platzt dieser Ball sehr leicht bei Berührung mit harten und scharfen Gegenständen, was dem harten Ball nicht so leicht passiert. Und dies kommt daher, weil der luftgefüllte Ball, der voll mit einfach zu zerstreuender Luft von feinster Natur ist, von der Luft keine Unterstützung darin erfährt, seine Form zu halten, wenn er gegen einen harten und scharfen Gegenstand geschlagen wird; diese ist vielmehr zusammen mit dem scharfen Ding Ursache dafür, dass der Ball platzt.)

Aufgrund der Tendenz der Luft, sich zu verflüchtigen, und ihrer subtilen Verfasstheit ist beim luftgefüllten Ball besondere Vorsicht geboten. Scaino erklärt demnach ein Phänomen des Tennisspiels mit einem besonderen Augenmerk auf die physikalischen Eigenschaften der im Ball enthaltenen Luft. Sicherlich ist dies keine direkte Verbindung zu Maggi, doch es zeigt, dass mindestens die Art und 93 Vgl. Cortesi (1510), De cardinalatu, fol. 76v, vgl. zur Geschichte des luftgefüllten Balls auch Dolch, Martin: Vom Ursprung des luftgefüllten Lederballs. In: Stadion. Internationale Zeitschrift für Geschichte des Sports 7 (1981), S. 53–92, zu Cortesi S. 59. Dolch vermutet die neuzeitlichen Ursprünge des Balls in Oberitalien, vgl. ibid., S. 58–59. Vgl. zum ferraresischen Bezug auch die kleine Passage zum luftgefüllten Ball bei Matthaeus, Johannes: De rerum inventoribus aureus libellus. Paris: Nicolas de La Barre, 1520, fol. Xv : »Pila lusoria vento plena, qu[a]e et pila ventaria appellari potest, inve[n]ta est recens, quanvis veteres pueros lusisse folle legamus, sed illud (ut sentio) aliud erat. Nam pila ve[n]taria a marchione ferrariensi excogitata fuit.« 94 Trattato II, Cap. VI, S. 144.

Vincenzo Maggi und die flüchtige Luft

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Weise universitärer Diskussionen der aristotelischen Physik, so wie Scainos Lehrer sie mit Spielbällen praktizierte, ihren Niederschlag in Scainos Tennisphilosophie fand. Basierend auf diesen naturphilosophischen Einordnungen gibt Scaino noch weitere Tipps: Gute Spieler pflegen die Luftpumpe zu bewässern, mit Wein oder anderen luftigen Flüssigkeiten, damit die so verdickte Luft in der Folge leichter im Ball bleibe.95 Auch dürfe der Ball nicht zu klein sein, da sich die Luft sonst, um ihre Natur ganz zu erhalten, im Ball konzentriere und ihm großen Widerstand leiste, mithin in der Luft flattere und schwanke. Sein Durchmesser müsse daher einen römischen Fuß betragen, darüber hinaus das Ziegenleder zu seiner Herstellung weich und fettig sein, damit er sich gleichmäßig aufblähe und die Luft gut behalte. Dabei dürfe man ihn jedoch nicht zu sehr und nicht zu wenig aufblasen, um einerseits weiches Nachgeben zu vermeiden, die Schläge jedoch andererseits bei einem vollgepumpten Ball nicht unberechenbar werden zu lassen.96 Wenn auch diese Passagen sehr kleinteilige Analysen des Tennisballs vorstellen, so muss doch eingeräumt werden, dass Scainos Ausführung nicht die subtile Komplexität tatsächlich universitärer Naturphilosophie erreichen. Innerhalb des höfischen Kontextes wiederum ist die Bezugnahme auf Naturphilosophie in diesem Ausmaß jedoch bemerkenswert und lässt eher die Schlussfolgerung zu, dass es hier tatsächlich um eine ernste Strukturierung des Tennisspiels nach naturphilosophischer Methode geht: Scaino normiert exakt die Größe des Balles, um bei seinen spezifischen, von der Luft abhängigen Eigenschaften ein optimales Spiel zu ermöglichen. Und nicht nur der Ball wird auf diese Weise behandelt, auch regelt der Trattato die Größe der Tennisplätze für die unterschiedlichen Spielarten, gibt Empfehlungen zur Konstruktion der Schlaggeräte, deren Aufbau beim Zugreifen möglichst die spiriti des tennista aktivieren solle, und schlägt Bekleidungen für die größtmögliche Agilität der Spieler vor.97 Neben der Anwendung biologischer Methode zur Eruierung der Spielregeln und der gerade beschriebenen Nutzung physikalischer Erklärungen zur Perfektionierung des Spielgeräts macht Scaino das Tennisspiel noch in einer dritten Hinsicht zum Anwendungsbereich aristotelischer Naturphilosophie. Auch dem Spieler selbst will er Normen für ein möglichst gelungenes Spiel an die Hand geben. Diese Arbeit am praktischen giuoco und am tennista selbst werde ich nun in einem letzten Schritt herausarbeiten. 95 Vgl. ibid. II, Cap. VI, S. 145. 96 Vgl. ibid. II, Cap. XI, S. 151–153. 97 Zu den Spielfeldern vgl. Trattato II, Cap. XII, S. 156 und II, Cap. XV–XIX, S. 158–177*; zur Konstruktion des bracciale vgl. II, Cap. XI, S. 153–154; zur Bekleidung vgl. II, Cap. XLI, S. 218–219.

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Physikalische Tennisphilosophie: Mechanik und Bewegung Zuvor hatte ich schon erwähnt, dass Scaino die Exzellenz des Spielers als eine Harmonie der Musik entsprechend begreift, aber nicht nur der Musik, auch des Tanzes, des Fechtens und der Spiele im Allgemeinen. Im zweiten Teil seines Werks kündigt er an, nun in Imitation derjenigen, die über die Poetik, Rhetorik und Musik geschrieben hätten, Regeln und Vorschriften zu erarbeiten, die eine kunstvolle Ausübung des Spiels erlaubten. Da das Spiel allerdings in Schlägen gegen den Ball bestehe und diese wiederum in Bewegungen des Spielers sowie des Balles, könne man nicht sinnvollerweise über solche Ratschläge nachdenken, bevor nicht über die Ball- und Spielerbewegung allgemein gesprochen wurde.98 Scaino nimmt daher zunächst eine ausführliche Erörterung der natürlichen und nicht natürlichen Bewegungen in Angriff, bevor er sich der naturphilosophischen Darstellung der Ausführung des Schlags beim Tennisspiel widmet. Er beginnt zunächst mit detaillierten Unterscheidungen. Der natürlichen Bewegung nach streben die vier Elemente zu ihrem natürlichen Ort,99 dieser gegenüber stehen allerdings drei Arten der movimenti violenti, der gewaltsamen Bewegung. Erstens diejenigen zur Erhaltung des Universums, wenn sich Elemente bewegen, um ein Vakuum zu verhindern; zweitens diejenigen zur Erhaltung der Einzeldinge, wie bei Tieren und auch Menschen, wenn sie ihr Leben schützen; drittens der Fall, wenn ein Ding von einem anderen aufgrund überlegener Kraft von seinem eigenen Ort weggerissen wird.100 In letztere Kategorie gehört die Schlagbewegung beim Ballspiel, doch auch hier wendet Scaino weitere distinctiones aus der Physik an: Entweder könne man sich selbst oder ein anderes Ding mit Kraft gewaltsam bewegen. Bei der Bewegung anderer Dinge unterscheidet er dabei vier Arten: das Stoßen, das Ziehen, das Drehen und das Fahren. Das Stoßen wiederum sei zweifach unterschieden, denn einerseits könne man die gestoßene Sache dabei festhalten, wie die Pike in Richtung des Feindes, oder eben doch loslassen, wie den Ball beim Tennis.101 Diese Verzweigungen binden das Spiel in eine komplexe Bewegungskategorisierung aristotelischer Physik ein, die zugleich den Anschluss an die zoologischen Schriften herstellt. Der Mensch, fährt Scaino unter impliziter Heran98 Vgl. Trattato II, Cap. XXX, S. 194–195. 99 Vgl. Trattato II, Cap. XXXI, S. 195: »Il moto dunque naturale H quello, per cui ogni cosa posta in questo mondo, H inclinata da un certo natio, e perpetuo appetito a muover se stessa in luogo a lei consegnato per ordine della Natura, e per conservatione dell’universo.« 100 Vgl. Trattato II, Cap. XXXII, S. 197–199, vgl. zur Unterscheidung natürlicher und gewaltsamer Bewegung etwa Arist. Phys. IV 8 (215a2–215a4), zum horror vacui siehe Phys. IV 6–9 (213a12ff.), zur Selbsterhaltung De anim. II 4 (416b16ff.). 101 Vgl. Trattato II, Cap. XXXIII, S. 199–200, vgl. hierzu Arist. Phys. VII 2 (243a11–243b10).

Physikalische Tennisphilosophie: Mechanik und Bewegung

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ziehung von Aristoteles’ De progressu animalium fort, bewege sich selbst, indem ein Teil des Körpers einen anderen bewege – im Gegensatz zu Steinen, die nur von anderen Körpern bewegt werden.102 Dabei bedürfe der Mensch einer festen Umgebung, um seine Bewegungen, bei denen sich stets ein Teil des Körpers auf einen anderen abstütze, vollführen zu können. Dieser aus Ziehen und Stoßen bestehende Vorgang bedingt eine Bewegung, welche die Form eines Bogens (arco) annehme, da ja stets ein Körperteil sich von einem ruhenden abstoße.103 Dabei sei die rechte Körperhälfte nach Aristoteles wärmer und daher viel geeigneter für Bewegung.104 Diese bogenförmige Bewegung, so stellt Scaino nun mit Bezug auf die für ihn noch authentische, vermutlich aber pseudo-aristotelische Schrift Mechanik fest, laufe umso schneller ab, je größer der Umfang sei. Denn eine längere Linie vom Kreismittelpunkt ausgehend beschreibe mehr Strecke als ein kürzere, und entsprechend mehr Bewegung und höhere Geschwindigkeit erreiche sie.105 Für das Tennisspiel heißt das: Wenn wir mit dem unteren Armbereich schlagen und den Ball mit dem Handgelenk treffen, können wir ihm mehr Geschwindigkeit als bei einem Schlag mit dem Oberarm verleihen.106 Und nach dieser letzten Einordnung können wir nun endlich die naturphilosophisch in jeder Hinsicht durchleuchtete Bewegung des Spielers beim Ballschlagen zusammensetzen: (…) rappresentandosi dinanzi alla sua imaginativa la Palla, veduta sotto la forma della quantit/, e de’colori, egli dal disio d’ottener la vittoria eccitato, fermando i piede sopra la terra, e piegando la persona, e appoggiando una parte del corpo sopra l’altra, cioH la destra, sopra la sinistra, si come generalmente gli huomini sono soliti di fare, et spignendo il braccio a dietro, e il medesimo innanzi tirando, fa il colpo, in questo aiutato da gli spiriti motivi per tutto il corpo sparsi (…).107 ([…] wenn sich der Ball seiner Vorstellungskraft darbietet, wahrgenommen in Form der Quantität und Farbe, stemmt er [der Spieler], angetrieben von der Begierde, den Sieg zu erlangen, die Füße auf den Boden, beugt den Körper und stützt den einen Teil des Körpers auf den anderen, das heißt den rechten auf den linken, wie es im Allgemeinen die Menschen gewohnt sind zu tun, und den Arm nach hinten stoßend und 102 Vgl. Trattato II, Cap. XXXIIII, S. 202. 103 Vgl. Trattato II, Cap. XXXV und XXXVII, S. 203–205 und S. 208–209, vgl. zum Bewegungsablauf Arist. De prog. animal. 3ff. (704b12ff.). 104 Vgl. Trattato II, Cap. XXXVI, S. 206–208, vgl. hierzu GA IV 1 (765b1f.). 105 Vgl. Trattato II, Cap. XXXVIII, S. 209–213, vgl. hierzu Arist. Mech. 847a11–848b9, was Scaino sehr textnah wiedergibt. Aristoteles stellt hier fest, dass »schneller« unter anderem bedeute, wenn etwas eine größere Strecke als etwas anderes in gleicher Zeit zurückzulege. Zur Einordnung der Schrift vgl. [Aristotele]: Meccanica. Griech.-Ital., besorgt von Maria Fernanda Ferrini. Mailand: Bompiani, 2010, S. 9–16, vgl. zu dieser Passage des Trattato auch Beretta (2013), Training, S. 29–30. 106 Vgl. Trattato II, Cap. XXXVIII, S. 212. 107 Trattato II, Cap. XXXIX, S. 213–214.

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selbigen wieder nach vorne ziehend führt er den Schlag aus, dabei unterstützt von den Lebensgeistern der Bewegung, die über den ganzen Körper verteilt sind […].)

Diese Passage besticht vor allem aufgrund ihrer Kleinteiligkeit. Scainos naturphilosophische Erörterungen der Bewegung verbinden sich zu einer dichten Beschreibung des Schlags beim Tennisspiel, fundiert durch Argumente aus der aristotelischen Philosophie, deren Zusammenstellung eine beeindruckend vollständige Analyse der Schlagbewegung ermöglicht. Der Beginn schöpft aus Aristoteles’ kleiner Schrift De motu animalium, wonach die Bewegung der Lebewesen, die stets um eines Zweckes willen geschehe, von Überlegung und Streben ausgelöst werde, insofern bei der Vorstellung oder Wahrnehmung einer Sache, für die eine Begierde vorhanden ist (wie etwa Durst in Ansehung eines Getränks), eine Bewegung zum Begehrten hin erfolge.108 Vom Siegverlangen angetrieben, wie es nach der Rhetorik vor allem jungen Menschen eigen ist, sucht der Spieler festen Stand, denn nur so kann er nach De progressu animalium die notwendigen Bewegungen ausführen. Er schlägt, indem er Körperteile aufeinanderstützt, natürlich die rechten auf die linken, und stößt und zieht den Arm von hinten nach vorne, wie wir aus der Mechanik wissen in einer Kreisbewegung zum Ball. Nehmen wir noch die Lebensgeister hinzu, deren zentrale Bedeutung Scaino mit einem anschließenden Verweis auf Hippokrates bekräftigt, so kommt diese Erklärung völlig ohne den Menschen als Entscheidungsinstanz aus, insofern selbst der Anlass zur Bewegung auf einen äußeren Reiz in Verbindung mit vorhandenem inneren Verlangen aufgrund jugendlicher Spielbegierde zurückgeht. Der Tennisspieler wird betrachtet gleich einem von Begierde nach Nahrung angetriebenen Tier, dessen Handlungen naturphilosophisch erschöpfend erklärt und in eine lückenlose Kausalkette gebracht werden können.109 Mit der aristotelischen Physik erklärt Scaino ebenfalls die Bewegung des Tennisballs selbst110 und beginnt darauf mit der Ausarbeitung konkreter Ratschläge für die Spieler, die durchaus auf den naturphilosophischen Analysen 108 Vgl. Arist. De mot. 6 (700b15–25) und 7 (701a25–701b1). 109 Diese Analogie macht Scaino an anderer Stelle deutlich, vgl. Trattato II, Cap. XXXIIII, S. 202: »(…) l’huomo, e gli altri animali, benche da qualche sensibil appetito, o vero dalla ragione, ilche puo essere solamente nell’huomo, siano eccitati; che si come puo esser manifesto a ciascuno, il Bue visto il fieno verso quello si muove, incitato dal desiderio di mangiare, e l’huomo commosso dal desio dell’honore, si muove alle virtuose, e honorate impreße (…).« 110 Vgl. ibid. II, Cap. XL, S. 214–217, der Ball wird nach Scaino von der Luft nach vorne getrieben, der Weiterentwicklung aristotelischer Bewegungstheorie durch die Impetustheorie entsprechend, was allerdings Marco Beretta (2013), Training, S. 30–31 schon herausgestellt hat, weswegen ich hier nicht näher darauf eingehe. Zu erwähnen ist allerdings, dass diese Theorie dann auch zur Klärung der Frage angewandt wird, ob man den Ball weiter schlagen könne, wenn man ihn entweder in der Luft oder nach dem ersten Aufschlagen treffe, vgl. Trattato II, Cap. LXIII, S. 258–264.

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basieren. Für das pallone-Spiel etwa, also dasjenige mit einem großen luftgefüllten Ball, empfiehlt er, den Ball zu schlagen mit demjenigen Bereich des Arms, der sich zwischen Handgelenk und Oberarm befindet. Über dem Handgelenk bestehe zu große Verletzungsgefahr, näher am Körper könne jedoch kein weiter Schlag ausgeführt werden, da der Umfang der Bewegung, entsprechend des gerade konstituierten direktproportionalen Zusammenhangs zwischen Kreisumfang und Geschwindigkeit, zu gering sei.111 Auch für seine Empfehlungen nutzt Scaino demnach die erarbeitete physikalische Erklärung der Schlagbewegung: Die Normen des Spielens, mit denen er seine Spieler zur möglichst perfekten Harmonie führen will, erwachsen aus aristotelischer Naturphilosophie. Vom Cortegiano und seiner dialogischen Erörterung höfischer Sozialität, von oberflächlichen Empfehlungen zur Ausübung verschiedener Ballspielarten und von der nur moralischen Diskussion richtigen Verhaltens im Spielen haben wir uns damit in beträchtlichem Maße entfernt.

Konklusionen: Objektive Harmonie Eine der Arbeit Scainos ebenbürtige Behandlung des Ballspiels im 16. Jahrhundert zu finden, ist eine mindestens anspruchsvolle Aufgabe. Als Girolamo Mercuriale 1569 sein Werk De arte gymnastica veröffentlicht, sieht er in seinem idealen Gymnasium auch einen Ort für das Ballspiel vor, ein Sphaeristerium.112 Schon im Untertitel der Schrift wird angekündigt, dass mit seiner die Gymnastik restaurierenden Schrift nicht nur ein medizinisches Werk vorliege, sondern auch Kenntnisse der Antike vermittelt würden. Darüber hinaus sei es zur Aufrechterhaltung der Gesundheit von studiosi besonders geeignet.113 Mercuriale definiert die Gymnastik als eine Wissenschaft, welche sich mit der Natur und den Möglichkeiten von Übungen beschäftige, ihre unterschiedlichen Arten herausarbeite und lehre, um die Gesundheit zu erhalten oder dem Körper einen optimalen Zustand zu verschaffen und sodann zu festigen.114 Gänzlich der An111 Vgl. Trattato II, Cap. XLIIII, S. 223–225, insb. S. 225: »Ricevendosi poi in parte che sia discosto assai dal pugno, e vicina al gomito, non si puo cacciare molto lunge, perche la linea, della quale si fa la circonferenza del movimento del braccio sopra del Pallone, in questo modo H picciola, e come tale non puo far colpo grande, si come dalle cose determinate disopra si puo comprendere (…).« 112 Mercurialus, Hieronymus: Artis gymnasticae apud antiquos celeberrimae, nostris temporibus ignoratae, libri sex. Venedig: Iuntas, 1569, fol. 14r. 113 Vgl. Mercurialus (1569), Artis, Titelblatt: »Opus non modo medicis, verum etiam omnibus antiquarum rerum cognoscendarum, et valetudinis conservandae studiosis admodum utile.« 114 Vgl. ibid., fol. 5r : »(…) ita dicere poterimus Artem gymnasticam esse facultatem quandam omnium exercitationum facultates contemplantem, eorumq[ue] varietates opere ipso

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tike verpflichtet sieht er sich allerdings nicht: Bei der Verwendung medizinischer Gymnastik der Alten bestehe doch kein geringer Unterschied im gesetzten Ziel, insofern diese auch religiöse Zwecke hatte und zur Belustigung des Volkes dienen konnte.115 Dem Ballspiel, griechisch Sphaeristica, bei den Lateinern Pilae ludus, spürt Mercuriale mit einer Vielzahl antiker Quellen nach und übertrifft Scaino sicherlich an bibliographischer Recherche, bleibt in der Komplexität der Beschreibung des Ballspiels jedoch weit hinter dem Ferrareser Tennisphilosophen.116 Schon von Zeitgenossen ist Mercuriale entsprechend weitschweifige antiquarische Nutzlosigkeit vorgeworfen worden.117 Nicht zu vergleichen mit der detaillierten naturphilosophischen Analyse Scainos ist ebenfalls Giovanni Bardis Discorso sopra il giuoco del calcio fiorentino über den Florentiner Fußball, den Bardi auf antike Praktiken zurückführt und damit die Wehrhaftigkeit der jungen Florentiner, die kriegsvorbereitenden Spielen wie ihre römischen Vorfahren nachgingen, herauszustellen versucht.118

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edocentem, vel gratia bonae valetudinis conservandae, vel gratia optimi corporis habitus acquirendi, atque tuendi.« Vgl. ibid. Vgl. ibid., fol. 32r–36r und 91r–92v. Vgl. die kritische Edition Mercuriale, Girolamo: De arte gymnastica. Ediert von Concetta Pennuto, übersetzt von Vivian Nutton. Florenz: Olschki, 2008, dem ein die Schrift einordnender Text beigegeben ist von Agasse, Jean Michel: Girolamo Mercuriale – Humanism and Physical Culture in the Renaissance, S. 863–1110, zu den Quellen S. 889–935, zu zeitgenössischer Kritik und dem Vorwurf der Nutzlosigkeit S. 1097–1100; zu antiken und zeitgenössischen Quellen Mercuriales vgl. auch Arcangeli, Alessandro: A proposito delle fonti del De arte gymnastica. In: Arcangeli, Alessandro und Nutton, Vivian (Hrsg.): Girolamo Mercuriale. Medicina e cultura nell’Europa del Cinquecento. (=BibliothHque d’histoire des sciences 10) Florenz: Leo Olschki, 2008, S. 115–125, der abschließend resümiert (S. 125): »Tutto sommato, nonostante la fortuna antiquaria dell’opera e i riconoscimenti che la fanno immediatamente accogliere come opera di riferimento, il suo utilizzo pratico da parte della cultura medica del tempo risulta limitato. C’H chi la accoglie fin da subito criticamente; e, con maggior insistenza verso la met/ del Seicento, gli scrittori di igiene suggeriranno che, certo, Mercuriale ci ha insegnato quali esercizi si praticassero nell’antichit/, ma H ora il caso di occuparsi di quelli in voga ai giorni nostri.« Letztere Aussage liegt sicherlich ganz auf Scainos Linie, da auch er nicht eine bloße Restauration antiker Praktiken anstrebte – allerdings schon im Cinquecento. Vgl. Bardi, Giovanni: Discorso sopra il giuoco del calcio fiorentino. Florenz: Stamperia de’ Giunti, 1580, zur Verbindung mit griechischen und römischen Spielen vgl. S. 4–6. Bardi behauptet zwar, niemand habe vor ihm über den calcio geschrieben (vgl. S. 4), und stellt das Spiel als höchstes aller Spiele heraus: »(…) tutti gl’altri giuochi sono eleme[n]ti, e principij del calcio e lui come lor fine risguardano; e egli niuno altro giuoco risguarda: ma di tutti, come Architettonico, e general maestro si serve.« (Ibid., S. 7) Doch auch Scaino behandelte den calcio schon als einen giuoco della palla (vgl. Trattato II, Cap. LXXII, S. 282–286), der aufgrund seiner Andersartigkeit nicht unter die im zweiten Teil gegebene Definition falle (vgl. II, Cap. IIII, S. 140), zwar als nahe am Krieg stehend ein vergnügliches Spiel ausmache, aber nicht die Kunstfertigkeit der anderen Spiele erreiche (vgl. II, Cap. LXXII, S. 286). Vgl. auch Mercuriales Anmerkung über das Verhältnis von calcio und antikem harpastum in Mercurialus (1569), Artis, fol. 35v : »(…) unde et ludus qui hodie a calce nuncupatur, et si in

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Demgegenüber ist Scainos Ansatz gerade nicht eine Rekonstruktion vergangener Spielweisen oder antiker Gymnastik, die ihren Maßstab gleich Mercuriale bei nachzuahmenden Vorbildern sucht. Scaino will die aktuelle Spielform normieren. Für den jungen Philosophen sind Künste in ständigem Progress begriffen, ihre Weiterentwicklung eine gemeinschaftliche Errungenschaft generationalen Zusammenwirkens. Die Anwendung physikalischer Erkenntnisse auf einen bislang unerforschten Bereich ludischer Praxis, die sich nach Scaino seit der Antike explizit zu größerer Perfektion entwickelt habe, wird nicht zuletzt durch diese progressiv orientierte, nicht rekonstruierende Haltung unterstützt. Für seine Arbeit schafft er sich mit dem wiederholten Hinweis auf Neuheit und Beispiellosigkeit einen Freiraum der Bearbeitung: Es gilt kein maßgebliches überliefertes oder nur teilweise überliefertes System wiederherzustellen. Die Harmonisierung der Kunst des Tennisspiels ist eine Aufgabe, die man zwar unter Rückgriff auf Vorarbeiten der Alten ausführen kann, bei der man aber zugleich mithilfe dieser Vorarbeiten über die Vorgänger hinausgehen muss. Wenn wir uns an Scainos expliziten Anschluss an die Kunst der Musik erinnern, dann hat diese unorthodoxe Herangehensweise ihr musiktheoretisches Äquivalent in Schriften wie dem ebenfalls 1555 erschienenen Werk L’antica musica ridotta alla moderna prattica des Nicola Vicentino, der lange Zeit in Diensten von Ippolito II. d’Este in Ferrara stand.119 Seine experimentellen chromatischen und enharmonischen Arbeiten, für die er sogar ein eigenes Instrument erfand, basieren zwar auf eingehender Beschäftigung mit griechischen Genera. Doch werden diese selbstverständlich der modernen Praxis entsprechend bearbeitet, was die im Anschluss an antike Musik entwickelten, progressiven Ansätze mindestens einiger italienischer Musiker Mitte des Cinquecento demonstriert.120 aliquibus assimiletur harpasto, in hoc tamen ab harpasto antiquorum differre videtur, quod illud parvum erat; pila autem qua nostrates calce ludunt maior est.« Das entspricht verdächtig Scainos Ausführung im Kontext der Diskussion des calcio: »Et il giuoco di cui tratta Galeno H parso ad alcuni ch’ei sia questo del calcio, cosa assai verisimile, qualhor il detto autore non lo chiamasse determinatamente il giuoco della picciol Palla, sendo la Palla del calcio non picciola, ma fra le maggiori (…).« (Trattato II, Cap. LXXII, S. 284). 119 Vgl. Vicentino, Nicola: L’antica musica ridotta alla moderna prattica. Rom: Antonio Barre, 1555. 120 Vgl. Rempp, Frieder : Elementar- und Satzlehre von Tinctoris bis Zarlino. In: Gallo, F. Alberto et al. (Hrsg.): Italienische Musiktheorie im 16. und 17. Jahrhundert. Antikenrezeption und Satzlehre. (=Geschichte der Musiktheorie 7) Darmstadt: WBG, 1989, S. 39– 220, hierzu S. 72–78. Vicentino hat eine ähnliche Auffassung des Fortschritts der Künste oder jedenfalls der Musik wie Scaino, vgl. Vicentino (1555), L’antica musica, fol. 3r : »(…) tutte le prime inuentioni della Musica, lequali, per piccole che fusserk, parsero / gl’huomini per qualche tempo grandissime; ma dipoi ampliate da posteri, sono diuenute minime: e molti hanno riso delle fatiche de gli anteceßori, ilche non si dovrebbe, perche nissuna cosa senza principio puk venire alla perfettione sua, e le prime inuentioni sono molto da lodare, eßendo poi facil cosa lo agiugnerci.«

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Für die italienischen Hofgesellschaften, in denen tüchtige Tennisspieler wegen ihrer Schlagkraft gefeiert wurden und man Wetten gar auf einzelne Ballwechsel abschließen konnte,121 legt der Trattato mindestens ebenso progressiv eine über den Anschluss an wissenschaftliche Diskussionen objektivierte Norm der Regeln und der kunstvollen Spielweise vor.122 Diese naturphilosophische Kunstfindung entgeht der ambivalenten Willkür Castiglione’scher Hofmannsgespräche, weil sich die Hofgesellschaft die Regeln nicht selbst gibt, sondern der philosophisch instruierte Cortegiano Scaino an aristotelischer Wissenschaft orientiert die Perfektion des giuoco della palla vorantreibt. Kulturpolitisch stellt die Schrift damit eben nicht die beliebige Art und Weise des ferraresischen Tennisspiels als Norm in den Raum, sondern präsentiert die wissenschaftliche Perfektion des Ballspiels als ferraresische Errungenschaft und untrennbar verbunden mit Alfonso II., dessen Begeisterung für den giuoco della palla, neben dem konkreten Anlass der Regelfrage, die Erarbeitung des Traktats motiviert haben dürfte. Nicht minder bedeutend scheint mir jedoch, dass im weiteren Umfeld des estensischen Hofs Vincenzo Maggi als (wenn man Lollio glauben will) vermutlich prominentestes Mitglied der ferraresischen Gelehrtenszene seinem Schüler Scaino die Instrumente der aristotelischen Naturphilosophie an die Hand gibt, die eine derartige Vermischung von Zoologie und Spiel erst ermöglichen. Insofern ergibt sich die Artikulation einer Ballspieltheorie wie derjenigen des Trattato zwischen aristotelischer Naturphilosophie und höfischer Spielpraxis auch aus den spezifischen Bedingungen Scainos eigener Stellung zwischen der Universität Ferraras und dem estensischen Hof. Die Artifizierung des Ballspielens wird mit dem Trattato eine weithin sichtbare ferraresische Leistung, welche den estensischen Hof, dessen Festfreude uns auch in Form der detaillierten Anweisungen für Bankette des Koches Cristoforo di Messisbugo überliefert ist, als Ort wissenschaftlich fundierter Vergnügungen und sorgfältig geordneter Spielpraxis ausweist.123 Gleichzeitig ist das akademi121 Zum Lobpreis der Spieler Gian Antonio Napoletano und Gian Fernando Spagnuolo vgl. Trattato I, Cap. LXIX, S. 277, zu Wetten vgl. I, Cap. XII, S. 43–45. 122 Zum Vergleich zwischen Trattato und Cortegiano vgl. auch Nonni (2000), S. XIV–XV, der besonders die empirische Ausrichtung von Scainos Werk betont: »L’autore non recita, la corte non mette in scena se stessa come accade nel Libro del Cortegiano: qui il locutore vede, esamina, indaga, analizza, scruta, detta regole e principi s' in base allo studio delle auctoritates, ma soprattutto in virtF dell’osservazione diretta dei fenomeni. Se nell’opera del Castiglione la diversit/ delle posizioni era assunta dal modello dialogico, che tendeva percik a rimarcare ›mutevolezza e relativit/‹ con la mira perk di ›portare ordine e regole‹, qui le norme sono il frutto della verifica sul campo.« 123 Insofern lässt der Trattato sich vielleicht in eine Entwicklung der Körperübungen im 16. Jahrhundert stellen, deren zwei Momente er noch zugleich enthält: Die Abkehr von anstrengenderen Übungen einerseits und gleichzeitig deren zunehmende Choreographierung zu aristokratischen, sozial exkludierenden Spektakeln hin, bei denen harmonischere und elegantere Bewegungsweisen gelobt wurden, vgl. hierzu Cavallo, Sandra und

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sche kulturelle Kapital, mit dem Scaino zu punkten versucht, im sozialen Feld des Hofes natürlich anders konnotiert und in seiner mitunter übersubtilen Realisierung im Trattato auch als eine vergnügliche Form des Philosophierens zu bewerten, die nicht immer ganz ernst gemeint scheint – wofür auch der Bezug zu Karnevalsdiskussionen in Padua spricht. Die nach Aristoteles eigentlich strenge Differenz zwischen Spiel und Philosophie und das für naturphilosophische Erörterungen ungewöhnliche Sujet des Tennisspiels führen im höfischen Feld zu einer vergnüglichen Ambivalenz, in der die Grenze zwischen Spielen und Philosophieren nicht immer eindeutig zu bestimmen ist. Und doch sorgt gerade diese außeruniversitäre Möglichkeit vergnüglicher Ambivalenz am Hof für bemerkenswerte naturphilosophische Beschreibungen des praktischen Spiels wie etwa die Analyse der Spielerbewegung beim Schlagen des Balls. In diesem Kapitel habe ich vor allem die naturphilosophische Linie fokussiert,124 um den ungewöhnlichen Zugriff auf Spiele im Trattato erkennbar zu machen. Die Schrift insgesamt böte allerdings noch viel Ungewöhnliches, das im Rahmen dieses Kapitels nicht bearbeitet werden konnte. Angelegt ist solch eine Diversität ohne Zweifel schon in der Grundeinstellung seines Autors: Scaino selbst unterstreicht ja, wie gesehen, die Bedeutung fortwährender Weiterentwicklung der Praxis und die explizite Neuheit seines Ansatzes im Umgang mit dem Tennisspiel. In dieser Hinsicht hatte er einen gleichgesinnten Zeitgenossen, der die theoretische Auseinandersetzung mit Glücksspielen etwa zur selben Zeit fundamental verändern wollte: Um 1555 reiste ein flämischer Gelehrter studierend durch Italien, der einige Jahre später, 1561, seine Theorie der Spielleidenschaft in den Druck geben und als erste ihrer Art zu einem bislang gänzlich vernachlässigten Thema bewerben wird. Seine Erkundung der krankhaften und gefährlichen, der wahnsinnigen und zerstörerischen Seite des Spielens mit den Mitteln der Philosophie und der Medizin wird neue Maßstäbe setzen – sehen wir uns also Pascasius Iustus’ Theorie der Spielbegierde etwas genauer an.

Storey, Tessa: Healthy Living in the Renaissance. Oxford: Oxford University Press, 2013, S. 145–178. Zu den Banketten vgl. Chiapinni, Luciano: La corte estense alla met/ del Cinquecento: i compendi di Cristoforo di Messisbugo. Ferrara: Belriguardo, 1984. 124 Scainos Verwendung von Philosophie beschränkt sich im Übrigen nicht auf Naturphilosophie: Er überträgt beispielsweise, wenn auch in geringerem Maße, Strukturen aus der Politik des Aristoteles auf das Tennisspiel. Auf dem Platz, so führt er aus, brauche es einen capitano, der das Spiel ordne, denn wie Aristoteles erkläre, sei die Herrschaft der vielen nicht wünschenswert (vgl. Trattato II, Cap. XLII, S. 219–220, vgl. hierzu Arist. Pol. III 6ff. (1278b6ff.)) Darüber hinaus stellt Scaino sich selbst und seine Arbeit am Regelwerk des Spiels in eine Tradition »philosophischer« Gesetzgeber wie Lykurg und Solon, vgl. Trattato I, Cap. LIV, S. 126.

Kapitel 5: Pascasius Iustus gegen die Unersättlichkeit: Spiel als Wahrheit

In seiner 1853 erschienenen Encyclopädie der Spiele wusste Ludwig von Alvensleben von einem kuriosen Werk zu berichten: Ein gewisser Pascasius Iustus habe um 1560 eine Schrift herausgegeben, in der er den Hussiten Jan Zˇizˇka nachahme. Dieser hatte für seinen Todesfall verfügt, eine Trommel mit seiner Haut bespannen zu lassen, um die hussitischen Truppen auch postmortal noch in den Kampf führen zu können. Besagter Pascasius Iustus nun habe bestimmt, mit seiner Haut ein Damebrett beziehen und Würfel aus seinen Knochen fertigen zu lassen. Mit dem merkwürdigen Buch, das den Titel Alea sive de curanda ludendi in pecuniam cupiditate trage, habe er allerdings seine eigene Heilung von der Spielleidenschaft versucht – letztlich freilich erfolglos.1 Christian Gottlieb Jöcher konnte 1750 in seinem Gelehrten-Lexikon zwar nicht den Wunsch nach ludischer Weiterverwendung der irdischen Überreste bestätigen, doch berichtete auch er, Pascasius habe »überaus gern im Brete« gespielt.2 Die berühmten Männern Belgiens gewidmete Bibliotheca Belgica aus dem Jahre 1739 wies zwar unter dem Lemma Paschasius Justus den flämischen Doktor als vielgereisten Philosophen und Mediziner aus, der als exzellenter Arzt sogar einmal Wilhelm von Oranien eine aussichtslose Blutung infolge schwerer Verletzung, ceteris Medicis desperantibus, gestillt habe. Doch bescheinigte sie Pascasius ebenfalls eine aufs Glücksspiel bezogene Geisteskrankheit, animi morbus, und verwies zum Beleg unter anderem auf eine Ausgabe seiner Schrift gegen die Spielbegierde von 1642, die auch eine Vita auctoris enthalte.3 Diese von Marcus Boxhornius besorgte und dem Enkel von Pascasius gewidmete Neu1 von Alvensleben, Ludwig: Encyclopädie der Spiele (…). Leipzig: Verlag von Otto Wigand, 1853, S. 11–12. 2 Jöcher, Christian Gottlieb: Allgemeines Gelehrten-Lexicon (…). Zweiter Teil D-L. Leipzig: Johann Friedrich Gleditschens Buchhandlung, 1750, Spalte 2041. Von Zˇizˇka berichtete Aeneas Silvio Piccolomini, vgl. Piccolomini, Aeneas Silvio: Historia Bohemica. Band 1: Historischkritische Ausgabe des lateinischen Textes. Köln: Böhlau, 2005, S. 340. 3 Foppens, Johannes Franciscus: Bibliotheca Belgica, sive virorum in Belgico vita, scriptisque illustrium. Brüssel: Petrus Foppens, 1739, S. 939.

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Pascasius Iustus gegen die Unersättlichkeit: Spiel als Wahrheit

ausgabe erschien erst einundachtzig Jahre nach der Erstveröffentlichung von Pascasius’ Werk. Dennoch ist die darin enthaltene Vita, neben einigen Angaben in Alea selbst, eine unserer wichtigsten Quellen für die Biographie von Pascasius Iustus.4 In ihr wird, soweit ich sehe, zum ersten Mal behauptet, der Verfasser von Alea sei völlig an der Spielsucht zugrunde gegangen. Seine Schrift gegen die Spielleidenschaft stellt die Vita in die Nähe von nicht mehr erhaltenen Gebeten und Gelöbnissen, die Pascasius an Gott zur Heilung seiner Geisteskrankheit gerichtet habe.5 Das Narrativ eines spielkranken Mediziners, dessen Leiden sogar im Hingeben des eigenen Körpers ans Spiel kulminierte, bestimmte offensichtlich lange Zeit das Bild von Pascasius’ Schrift als verzweifelter Versuch der Autotherapie. Dass ihr beschieden wird, nicht einmal bei ihm selbst geholfen zu haben, mag 4 Die Erstausgabe erschien als Iustus, Pascasius: Alea sive de curanda in pecuniam ludendi cupiditate libri duo. Basel: Johannes Oporinus, 1561 (im Folgenden zitiert als Alea (1561)). Die von Boxhornius besorgte Ausgabe erschien als Iustus, Pascasius: Alea sive de curanda in pecuniam ludendi cupiditate. Herausgegeben von Marcus Boxhornius in Amsterdam: Ludovicus Elzevirius, 1642, die Vita Auctoris findet sich ohne Seitenzählung zwischen dem Vorwort von Boxhornius und der Dedikationsepistel auf fol. **1v ; im Folgenden wird das Buch zitiert als Alea (1642) und auf die Vita Auctoris schlicht mit Vita verwiesen. Neben den beiden schon genannten Ausgaben ist noch eine Edition bekannt: Iustus, Pascasius: Alea sive de curanda in pecuniam ludendi cupiditate. Herausgegeben von Johannes Münster. Neuburg an der Donau: Johann Karl Unckel, 1617, sie wird 1618 nochmals identisch nachgedruckt. Diesen beiden Ausgaben ist eine eindrucksvolle Sammlung überwiegend theologischer Schriften gegen das Glücksspiel beigegeben, vgl. Alea (1617), S. 83–212. Pascasius’ Werk wurde von Susan Kronegger-Roth übersetzt, eingeleitet und kommentiert, die Arbeit liegt als Dissertation vor, vgl. Kronegger-Roth, Susan: Pascasii Iusti Ecloviensis, Philosophiae et Medicinae Doctoris, Alea, sive De curanda Ludendi in Pecuniam Cupiditate Libri II (Basileae, MDLXI). Die zwei Bücher des P.quier Joostens aus Eekloo, Doktor der Philosophie und der Medizin, Über das Glücksspiel, oder die Heilung der Spielleidenschaft (Basel, 1561). Diss., Universität Salzburg, 2000 (im Folgenden als Kronegger-Roth (2000)), eine Übersicht zu den Ausgaben auf S. IX–XXI. Eine 2015 im Solivagus-Verlag erschienene Veröffentlichung dieser Dissertation war mir bis Abschluss vorliegender Arbeit nicht verfügbar. Nur die Übersetzung in einer früheren Version wurde in der Reihe des Salzburger Instituts für Spielforschung veröffentlicht als Kronegger-Roth, Susan: Die Zwei Bücher des Pascasius Iustus aus Eekloo (…). In: Bauer, Günter G. (Hrsg.): Homo ludens. Der spielende Mensch. Band 5. München/ Salzburg: Katzbichler, 1995, S. 309–407, mit einem Vorwort von Gerhard Petersmann auf den S. 303–308. Jüngst ist auch eine französische Übersetzung erschienen von Cottier, FranÅois und Darmstädter, Cathy : P.quier Joostens d’Eeklo, Docteur en Philosophie et en M8decine, Le jeu de hasard, ou comment soigner le d8sir de jouer pour de l’argent, Deux livres. Online verfügbar unter URL http://www.pum.umontreal.ca/files/prod/livres_fichiers/B-De-AleaLONGV5.pdf (Zuletzt abgerufen am 20. 01. 2016). Sie ist ergänzender Teil einer Publikation, die Pascasius’ Schrift in ihrem Verhältnis zu moderner Spielpathologie betrachtet, vgl. Cottier, Jean-FranÅois: Pascasius ou comment comprendre les addictions, suivi du Trait8 sur le jeu (1561). Sous la direction de Louise Nadeau et Marc Valleur. Montr8al: Champ Libre, 2014. 5 Vgl. Vita: »Aleam verk admodum deperiit; perieruntque preces ejus et Vota, quibus illum animi morbum ut Deus tolleret, serio et frequenter optavit: Supersunt tamen ejus de Alea, sive Curanda in pecuniam ludendi cupiditate, libri duo, longe elegantißimi, quos nunc damus.«

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erklären, weshalb Alea längst vergessen war, als Sigmund Freud Dostojewskis Spielsucht als Fortführung pubertären Masturbationsdrangs interpretierte.6 Unterschlagen wird damit allerdings auch, dass Alvensleben sich schlicht verlesen hatte und uns Pascasius selbst von seiner eigenen Spielleidenschaft nicht mit einem Wort unterrichtet. Auch die neuerliche Ausrufung von Pascasius’ Schrift in spielpathologischen Fachbüchern zu einer der ersten wissenschaftlichen Beschreibungen der Spielsucht überhaupt verdeckt in ähnlicher Weise die Komplexität seines Werkes hinter einer Rolle als Wegbereiter tatsächlich wirksamer Ansätze der Behandlung von krankhaftem Spiel.7 Wenn wir uns nicht damit begnügen, Alea dekorativ in ein philosophisches Kuriositätenkabinett zu stellen, sollten wir nicht bei dieser verschleiernden Hinordnung auf Späteres und der unsicheren Erzählung eines an der Spielsucht gescheiterten Arztes ansetzen. Beginnen wir schlicht bei den eruierbaren Fakten: Pascasius Iustus war ein Philosoph und Mediziner, der im Jahre 1560 eine Arbeit darüber abschloss, wie man übermäßige Spielbegierde als eine therapierbare Krankheit behandeln könnte. Er veröffentlicht diese Schrift in Basel bei Johannes Oporinus, einem der renommiertesten Drucker Europas in der Mitte des 16. Jahrhunderts. Dies spricht nicht gerade dafür, dass es sich um einen verzweifelten Versuch der Autotherapie handelte. Vielmehr ist es Ausweis der wissenschaftlichen und literarischen Qualität, die man Alea in Basel zusprach. Und tatsächlich ist das Werk, wie wir sehen werden, kein Hilferuf, sondern eine tiefgreifende Erkundung ludischer Verrücktheit und ihrer Heilung mit den Mitteln philosophisch-medizinischer Therapie. Wenn ich Pascasius nun folge, die dunklen Seiten des Spielens, die krankhaften und gefährlichen Affekte, die Züge des Wahnsinns im Würfeln zu ergründen, so werde ich vor allem eine bestimmte Linie seines Werks in den Blick nehmen: Die Therapie der Spielaffekte.8 Denn vor allem im Therapieansatz liegt 6 Vgl. Freud, Sigmund: Dostojewski und die Vatertötung. In: Ders.: Gesammelte Werke. Band 14. Frankfurt a. M.: Fischer, 1963, S. 399–418, insb. S. 414–418. 7 Vgl. beispielsweise Meyer, Gerhard und Bachmann, Meinolf: Spielsucht. Heidelberg: Springer Medizin Verlag, 2011, S. 8–9 und S. 91, noch eindeutiger finden sich Modernisierungsbemühungen allerdings bei Cottier (2014), Pascasius, in einem der Übersetzung vorangestellten Abschnitt Pour une histoire des addictions von Marc Valleur und Louise Nadeau auf den S. 11– 68. 8 Sicherlich bietet die komplexe Schrift des Pascasius zahlreiche medizingeschichtliche, philosophiegeschichtliche und spielgeschichtliche Ansatzpunkte, die ich entsprechend hier nicht detaillierter behandeln werde. Die Forschungsliteratur zu seinem Werk ist dennoch überschaubar. Mir sind, neben einer Erwähnung am Rande bei Arcangeli (2003), Recreation, S. 41– 45, drei eigenständige Aufsätze zu Alea bekannt, von denen der ältere eine biographische Studie darstellt, vgl. Elaut, Leon: Pascasius Iustus Turcq. Een zestiende-eeuws speelziek jonker en medicus uit Eeklo, lijfarts van de markies van Bergen op Zoom. In: Brabantia I 5 (1952), S. 194–208. Einen Vergleich von Pascasius und Cardano stellt Thierry Depaulis an, vgl. Depaulis, Thierry : Cardan et Joostens: portraits crois8s de joueurs au XVIe siHcle (Le jeu excessif /

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angesichts einer Diskurssituation, in der Spielen noch nicht selbstverständlich eine »Sucht« sein konnte, die Besonderheit von Alea: Pascasius will Spieler nicht primär moralisch als lasterhaft bewerten. Sie scheitern seiner Erklärung nach an einer rationalen Ordnung ihres Spielens vor allem aufgrund einer gewissen körperlichen Beschaffenheit, wegen derer sie für affektive Störungen veranlagt sind. Diese physisch verursachten Affekte können jedoch, wenn sie denn einmal identifiziert und korrekt eingeordnet wurden, mittels Techniken philosophischer Therapie bekämpft oder zumindest eingedämmt werden. Wenn die Medizin die schadhaften Anlagen und die daraus resultierenden Affekte demnach offen legt, so steht es in der Macht der Philosophie, Einfluss auf sie zu nehmen und Veränderungen zu bewirken. Speziell seine therapeutischen Empfehlungen jedoch weitet Pascasius am Ende des Werks vom Spiel ausgehend zu einer allgemeinen Behandlung der Affekte im menschlichen Leben aus. Damit fungiert das Glücksspiel in Alea auch als Ansatzpunkt grundlegender Hinweise zur Bewältigung affektiver Störungen. Dies hat unter anderem mit seinen wahrheitsoffenbarenden Qualitäten zu tun: Nach Pascasius zeigen sich beim Spielen notwendigerweise die wirklichen Charakteranlagen eines Menschen. Neben der Analyse der Therapie ist daher ebenfalls zu erörtern, weshalb Spiele sich in besonderem Maße für die Beobachtung menschlicher Affekte ohne jede Verstellung eignen. Erst auf dieser Grundlage kann abschließend Pascasius’ Blick auf Spiele jenseits rekreativer Funktionalisierung fundiert bewertet werden. Hierfür werde ich zunächst die grundlegenden Koordinaten von Alea klären. Dies bedeutet, sowohl Pascasius’ biographischen Hintergrund und die Paratexte seines Werkes in den Blick zu nehmen, als auch in einem zweiten Schritt die Struktur des Textes und die Filiationen der wissenschaftlichen Deutungsschemata von Alea zu skizzieren. Da die philosophische Therapie untrennbar mit der Analyse der physischen Ursachen von Spielleidenschaft verbunden ist, werde ich sodann zuerst die medizinische Diagnose der Krankheit in zwei Abschnitten beschreiben, bevor ich mich in den darauffolgenden beiden Teilen den therapeutischen Strategien ihrer Bewältigung zuwende. Pascasius’ allgemeine Bemerkungen zur Therapie schädlicher Affekte am Ende von Alea werden in einem letzten Abschnitt die Frage eröffnen, weshalb gerade das Spiel die Wahrheit über

la Renaissance). In: Ludica 15/16 (2009/2010), S. 135–142. Einzig Toon van Houdt hat sich besonders den galenischen Elementen in Pascasius’ Traktat näher gewidmet und dabei detailliertere Analysen des Textes gegeben, vgl. van Houdt, Toon (2008): Healing Words. Ancient Rhetoric and Medicine in Pascasius Justus’ Treatise Alea sive de curanda ludendi in pecuniam cupiditate (1561). Online veröffentlicht in der Reihe Res Publica Litterarum des Istituto Lucio Anneo S8neca, abrufbar unter URL http://e-archivo.uc3 m.es/bitstream/10016/2113/1/sup tradclas_18.pdf (zuletzt abgerufen am 20. 01. 2016).

Grundlegende biographische Daten und ein dedikatorisches Rätsel

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unsere Affekte offenbart. Aber vor der Wahrheit kommt die Verwirrung, und die beginnt bei Alea schon mit der Dedikationsepistel.

Grundlegende biographische Daten und ein dedikatorisches Rätsel Um die sich überlagernden Diskursschichten von Alea voneinander unterscheiden und einordnen zu können, ist es unumgänglich, die dürftigen Informationen, die wir über Pascasius’ Lebensweg besitzen, zuerst knapp zu vergegenwärtigen. Zudem hilft eine derartige Orientierung, vorschnellen Interpretationen des Traktats vorzubeugen und den intellektuellen Horizont seines Autors abzuschätzen. Biographische Details erhalten wir vor allem aus einem dem Werk vorangestellten Dedikationsbrief an Maximilian von Burgund und einem Vorwort an die Leser, außerdem aus dem kurzen biographischen Abriss, welcher der von Marcus Boxhornius besorgten Ausgabe des Traktats von 1642 beigegeben ist. Darüber hinaus hat Leon Elaut 1952 zusätzliche archivalische Quellen zum Leben des Pascasius zusammengetragen, außerdem existiert ein kleiner Artikel im Nieuw Nederlandsch Biografisch Woordenboek.9 Fassen wir diese Quellen zusammen, können wir davon ausgehen, dass Pascasius Iustus in den 1520er Jahren in Eeklo in Flandern geboren wurde, und sich ab 1542 acht Jahre in Diensten des italienischen Kardinals Giovanni Poggio in Spanien befand, der päpstlicher Gesandter beim spanischen König und Schatzmeister der Apostolischen Kammer war.10 Um 1550 wandte er sich sodann nach Italien, um dort in Rom, Padua, Bologna und zuletzt in Pavia Medizin und Philosophie zu studieren.11 1560 schickte er sich an, wieder nach Flandern zurückzukehren, was er in der Dedikationsepistel mit der Verbundenheit zu seinem Heimatland nach achtzehnjähriger Abwesenheit begründet.12 Als Zeugnis seiner Studien in der Fremde, wie er es selbst ausdrückt, veröffentlichte er 1561 den zweiteiligen Traktat Alea, sive de curanda ludendi in pecuniam cupiditate, der eine erweiterte Version einer von ihm an der Universität Bologna gehaltenen Rede darstellt. Diese sei bei der Zuhörerschaft sowohl auf Ablehnung als auch auf ermutigende Zustimmung gestoßen, habe jedenfalls einige dazu veranlasst, ihn um eine 9 Vgl. Alea (1561), S. 3–9 und 17–24, sowie die Vita; zum Artikel vgl. NNBW III, 1253, zu Elaut vgl. oben Fußnote 8. 10 Vgl, Alea (1561), S. 3, sowie die Vita; Überlegungen zum Geburtsdatum des Pascasius auch bei Elaut (1952), Pascasius, S. 197. Pascasius eröffnet die auf 31. August 1560 datierte Dedikationsepistel mit der Feststellung, er sei 18 Jahre der Heimat fern geblieben, was also 1542 als Jahr seines Aufbruchs ergäbe. Zu Poggio einige Hinweise bei Bruscoli, Francesco Guidi: Papal Banking in Renaissance Rome: Benvenuto Olivieri and Paul III, 1534–1549. Aldershot: Ashgate, 2007, S. 196. 11 Vgl. Alea (1561), S. 3. 12 Vgl. ibid.

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schriftliche Version des Vortrags zu bitten.13 Nach Flandern zurückgekehrt wird er 1561–1562 in Bergen op Zoom als Mitglied der Antoniusgilde geführt, auch stand er wohl in Diensten des Marquies von Bergen op Zoom, Jans IV., sowie des Herzogs von Anjou-AlenÅon.14 Boxhornius berichtet zudem, dass Pascasius Wilhelm von Oranien, als dieser 1582 wegen eines auf ihn verübten Attentats in höchster Lebensgefahr stand, durch die Stillung einer Blutung das Leben gerettet habe.15 Ob dies wahr ist oder nicht: Pascasius’ Lebensmittelpunkt blieb nach seiner Rückkehr wohl Bergen op Zoom, wo er verheiratet war und 1580 Erzherzog Matthias, Repräsentant der antispanischen Seite im seit 1568 entbrannten niederländischen Unabhängigkeitskrieg, mit einer feierlichen Ansprache begrüßte.16 Diese antispanische Sympathiebekundung fügt sich zu einer Bemerkung in Charles de Mooijs Arbeit über Reformation und Katholizismus in Bergen op Zoom in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, wonach ein Pascasius Iustus, Leibarzt Jans IV., um 1580 in Bergen op Zoom zur reformierten Kirche konvertiert sei.17 Zu diesem Zeitpunkt hatten im Zuge des Unabhängigkeitskampfes gegen die katholischen Habsburger radikale Reformierte in vielen flämischen Städten die Macht übernommen.18 Allerdings ist nicht zu entscheiden, ob Pascasius nun wegen dieser Entwicklungen oder aus Überzeugung auf die reformierte Seite wechselte. Einer möglichen Hinneigung zum antispanischen Lager etwa, wie es die feierliche Begrüßung des Erzherzogs vermuten lässt, stehen als Kontrapunkte sympathisierende Äußerungen über Philipp II. von Spanien in der Dedikationsepistel von Alea und im Traktat selbst gegenüber.19 Möglich ist allerdings ebenfalls, dass sich antispanische Tendenzen schon in Alea andeuten, denn besonders den Spaniern bescheinigt Pascasius, wie wir sehen werden, ein zum verderblichen Glücksspiel neigendes Temperament. Die Frage nach den Spaniern führt darüber hinaus zu zwei paratextuellen Details, die ein eindeutiges Urteil über Pascasius’ Sympathien weiter erschweren: Erstens ist der Empfänger des Widmungsschreibens Maximilian von Burgund, der verschiedene hochrangige Positionen für die habsburgischen Herr13 Vgl. ibid., S. 3–4 und S. 21–22. 14 Vgl. Elaut (1952), Pascasius, S. 197; vgl. auch die Vita. 15 Vgl. Vita; eine Diskussion dieser zweifelhaften Geschichte findet sich bei Elaut (1952), Pascasius, S. 198–202. 16 Vgl. Elaut (1952), Pascasius, S. 203. 17 Vgl. de Mooij, Charles: Geloof kan Bergen verzetten. Reformatie en katholieke herleving te Bergen op Zoom 1577–1595. Hilversum: Uitgeverij Verloren, 1998, S. 261. 18 Vgl. van Gelderen, Martin: The Political Thought of the Dutch Revolt 1555–1590. Cambridge: Cambridge University Press, 1992, S. 49–50. 19 Vgl. Alea (1561), S. 5, wo er ihn prudentissimus ille optimusque Hispaniarum Rex nennt und S. 81, wo er Philipp für seine Mildtätigkeit lobt, da er nach dem Spielen seinen Gewinn wieder restituiere, ja nur deswegen zu spielen scheine, um seine Freizügigkeit beweisen zu können.

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scher bekleidete, unter anderem als Admiral der belgischen Flotte und Statthalter von Holland, Zeeland und Utrecht.20 Er widmet sein Werk also einem der höchsten Repräsentanten spanischer Fremdherrschaft, allerdings zu einem seltsamen Zeitpunkt. Als Pascasius die Dedikation 1560 verfasste, war Maximilian schon zwei Jahre tot und Wilhelm von Oranien, späterer Anführer des niederländischen Aufstands, von Philipp II. längst zu dessen Nachfolger ernannt.21 Weshalb nun sollte er aus Anlass seiner Rückkehr in die Heimat nach Jahren in der Fremde ein die eigene Bildung repräsentierendes Werk einem Verstorbenen widmen? Vielleicht wusste er nichts vom Tod seines potentiellen Gönners: Gegen Ende der Epistel wünscht er Maximilian sogar zweimal noch ein langes und glückliches Leben.22 Dass Johannes Oporinus allerdings, sein weithin berühmter Baseler Drucker, auch nichts von diesem Todesfall ahnte, scheint mehr als unwahrscheinlich. Außerdem erwähnt Pascasius Bekannte aus der Heimat, mit denen er in Italien in Kontakt stand23 – sollte er wirklich nichts von dem Ableben Maximilians erfahren haben? Mich überzeugt auch nicht die Lösung Jean-FranÅois Cottiers, der annimmt, Pascasius habe die Aussage, er sei 18 Jahre der Heimat fern geblieben, spätestens im Jahre 1558, also dem Todesjahr Maximilians getätigt.24 Die Dedikationsepistel ist auf den 31. August 1560 datiert: Wenn Pascasius sie zu diesem Zeitpunkt in Pavia auch nur redigierte, warum hätte er den Satz nicht aktualisieren und immer noch von 18 anstatt von 20 Jahren der Abwesenheit sprechen sollen? Einer der Flamen, mit denen Pascasius während seiner Abwesenheit Kontakt hatte, war Philipp Marnix, für den er ein Exemplar seines Werkes an Maximilian mit übersendet, wobei er betont, die Trennung von diesem Freund schmerze ihn besonders.25 Zum Zeitpunkt der Abfassung der Dedikationsepistel befindet sich Marnix, der eine wichtige Rolle im Unabhängigkeitskampf der Niederlande einnehmen sollte, vermutlich noch in Genf und studiert bei Johannes Calvin, dem berühmten Reformator und Theologen.26 Hier sollten wir den Kontext beachten: Seit Philipp II. seinem Vater Maximilian 1555 auf den spanischen Thron gefolgt und somit auch Herrscher über die Spanische Niederlande ge-

20 vgl. NNBW VIII, 201–205, und ADB 3, S. 618–619. 21 Vgl. NNBW VIII, 205, zu Maximilians Nachfolger siehe Rowen, Herbert H.: The Princes of Orange. The Stadholders in the Dutch Republic. Cambridge: Cambridge University Press, 1988, S. 8–31. 22 Vgl. Alea (1561), S. 8: »Vale diu felix, vir amplissime (…).« Ebenso S. 9: »Iterum: Vale!« 23 Vgl. ibid., S. 6. 24 Vgl. Cottier (2014), Pascasius, S. 71: »Si l’on considHre donc qu’il quitta les Flandres vers 20 ans, et qu’en 1558 (au plus tard, date de la mort de Maximilien / qui le livre est d8di8) il d8clare Þtre parti depuis 18 ans, Pascasius a d0 na%tre dans les ann8es 1520.« 25 Vgl. Alea (1561), S. 8–9. 26 Vgl. Alea (1561), S. 6 und S. 9; zu Philipp Marnix vgl. NNBW I, 1307, und ADB 20, S. 397.

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worden war, erregte in den Niederlanden der Zentralismus und insbesondere die Verfolgung von Reformierten zunehmend Widerstand.27 Der schon oder zumindest bald calvinistische Marnix hat Alea nun ein griechisches Widmungsgedicht vorangestellt. Mit ihm eröffnet er dem Werk vor allem eine klassische Analogie, die auch Pascasius selbst aufgreift. In impliziter Anspielung auf die Odyssee lobt Marnix das Werk des flämischen Doktors, welches die Betrügerei des Zufalls aufzeige und von der Spielbegierde rette. Dabei wählt er fast dieselben Ausdrücke, mit denen Homer die Errettung des Odysseus vor der Zauberei der Kirke durch das Kraut des Hermes erzählt.28 Dies ergänzt in gewisser Hinsicht Pascasius Bemerkung zu Beginn der Dedikationsepistel, ihn habe ein Verlangen nach der Heimat ergriffen, selbst wenn er jetzt nur wie Odysseus, keinem der seinen mehr bekannt, zurückkehren könne.29 Wie durch einen Trank der Kirke betört, sagt er auch später, werden die Spielbegierigen von Affekten erfüllt aufgrund von zu viel Glück im Spiel.30 Der nach langer Irrfahrt gleich Odysseus heimgekehrte Pascasius bringt seinen von Leidenschaften geplagten Landsleuten demnach heilsames Kraut der Vernunft von seinen Reisen, um die Verwirrungen der Spielleidenschaft aufzulösen. Doch seine Schrift, erklärt er in der Dedikation, wolle er nun selbst aufs stürmische Meer der Kritik aussenden. Folgerichtig widmet er sie dem Oberbefehlshaber der belgischen Flotte, dem, wie er in impliziter Anspielung auf Ciceros Pro lege Manilia erklärt, gleich den Feldherren Maximus, Marcellus, Scipio und Marius ein Oberbefehl übertragen worden sei auch aufgrund der ihm wohlgesonnenen fortuna.31 Die eigene fortuna aber einem spanienfreundlichen Verstorbenen mit einem Widmungsgedicht eines Reformierten oder zum reformierten Glauben tendierenden Freundes anzuvertrauen, ist mindestens eine ungewöhnliche Konstellation. Bevor wir jedoch zur Frage kommen, inwiefern dieser Konstellation ein ebenso ungewöhnlicher Inhalt entspricht, werde ich zunächst als Basis die grundsätzliche Struktur des Traktats und seine wissenschaftlichen als auch stilistischen Einflüsse beschreiben.

27 Vgl. van Gelderen (1992), The Political Thought, S. 30–40. 28 Vgl. Alea (1561), S. 16 (ohne Nummer), die Odyssee-Anspielung im letzten Vers bezogen auf Hom. Odyss. X, 286–289, den Hinweis hierauf verdanke ich Christian Kaiser. 29 Vgl. Alea (1561), S. 3. 30 Vgl. ibid., S. 64. 31 Vgl. idib., S. 4–5; vgl. Cic. Pro leg. Man. 47.

Pascasius’ philosophische Medizin und medizinischer Humanismus

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Pascasius’ philosophische Medizin und medizinischer Humanismus Bei komplexeren humanistischen Allusionen allein lässt es Pascasius nicht bewenden, während seines Italienaufenthalts hat er offenbar solide Kenntnisse der galenischen Medizin und der aristotelischen Philosophie erworben. Auf dem Titelblatt von Alea wird er entsprechend als Doktor der Philosophie und der Medizin zugleich ausgewiesen. Allerdings ordnet er sich selbst in einem Vorwort an die Leser nachdrücklich der Schule Galens zu, dessen Schriften er schon lange denen des Cicero vorziehe.32 Außerdem bekräftigt er im Traktat, dass Galen Aristoteles in der Erkenntnis der menschlichen Natur um nichts nachstehe und ihn sogar häufig an Deutlichkeit übertroffen habe.33 Dies bedeutet indes nicht, dass Pascasius allein als Mediziner zu betrachten wäre, denn Aristoteles ist nicht minder bedeutend für seine Analyse der Spielleidenschaft. Ohnehin ist die Trennlinie zwischen Medizin und Philosophie in der galenischen Schule nicht unbedingt scharf.34 Erasmus von Rotterdam hatte erst 1526 eine Schrift Galens ins Lateinische übersetzt, in welcher dieser erklärt, weshalb ein guter Arzt auch ein Philosoph sein müsse. Als Arzt habe man nicht nur den physikalischen Teil der Philosophie zu kennen. Ebenso zentral seien der logische, um etwa die Krankheiten gründlich unterscheiden zu lernen, wie auch der ethische, um Mäßigkeit zu entwickeln sowie schlechte Handlungen zu vermeiden.35 Nicht zuletzt in der diätetischen Tradition der sex res non naturales waren die affektiven Krankheiten selbstverständlicher Teil medizinisch-prophylaktischer Praxis. Auch Pascasius bezieht sich in Alea explizit auf diesen Diskurs, um herauszustellen, dass die Ärzte schon immer ein besonderes Augenmerk auf die Gedanken gerichtet hätten, da ihnen der Zusammenhang von Denken und körperlichen Zuständen bewusst gewesen sei.36 Die Beseitigung der verderblichen Spielbegierde unternimmt er unter Berufung auf diese Tradition mit explizitem Rückgriff auf stoische Philosophie.37 Obwohl für Pascasius also nach eigenem Bekunden der Mediziner Galen die wichtigste Autorität darstellt, ist dennoch die philosophische Dimension seiner Therapie und der durchweg praktizierte Rückgriff auf aristotelische Methode zu 32 Vgl. Alea (1561), S. 24. 33 Vgl. ibid., S. 43. 34 Für die enge Verbindung von Philosophie und Medizin bei Galen vgl. grundlegend Temkin, Owsei: Galenism. The Rise and Decline of a Medical Philosophy. Ithaca/London: Cornell University Press, 1973. 35 Vgl. Erasmus Roterodamus, Desiderius: Quod optimus medicus idem sit et philosophus. In: ASD I/1, S. 664–669. 36 Vgl. Alea (1561), S. 91–92. 37 Vgl. ibid., S. 98–99.

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beachten. Hierfür spricht auch die Einordnung, die Pascasius in der Dedikation an Maximilian von Burgund selbst vornimmt. Einerseits sagt er dort von seinem Werk, das es Ahijkm (ethikon) sei, also den Charakter betreffend durch die Korrektur der fehlerhaften Leidenschaften des Einzelnen.38 Und wenig später, im Brief an die Leser, bezeichnet er es als pokitijkm (politikon), denn dem Staat und der Allgemeinheit werde durch die Bekämpfung des Lasters der Spielleidenschaft ein großer Dienst erwiesen, weswegen er betont, er habe sein Vorhaben propter utilitatem communem in Angriff genommen.39 Entsprechend richtet sich seine Schrift explizit an alle Spieler aus jedweder Bevölkerungsschicht. Insbesondere hofft Pascasius aber, dass sein Büchlein an Königshöfe und in die Häuser des vermögenden Adels gelange, wo das Glücksspiel besonders heftig wüte.40 Das Werk ist demnach als Selbsthilfemanual konzipiert: Auf der Titelseite der Erstausgabe finden wir einen Werbetext, der den von übermäßiger Spielleidenschaft Geplagten empfiehlt, vorliegendes Buch zur sicheren Heilung dreimal zu lesen.41 Über die Arbeit an der Selbstwahrnehmung des Individuums, d. h. durch die Modifikation des Umgangs seiner Leser mit der eigenen Spielpraxis, will Pascasius Profit für die Gesellschaft insgesamt generieren. Dies ist vermutlich einerseits der engen Verbindung von Ethik und Politik bei Aristoteles geschuldet.42 Mit Pascasius’ therapeutischem Programm ist aber zudem eine Dimension der Machtausübung auf Basis wissenschaftlicher Diskurse der Medizin und der Philosophie gegeben. Ungleich religiös fundierten psychagogischen Ansätzen seiner Zeit unternimmt er eine durch medizinisches und philosophisches Wissen legitimierte Therapie. Die Befreiung des Subjekts vom leidenschaftlichen Spielen ist zugleich seine Orientierung an einer bestimmten rationalen Lebensform. Therapeutische Techniken zur Regierung des Selbst sollen letztlich zu einer Verhaltensänderung beim Individuum führen, das sein Spielen der ratio entsprechend zu ordnen hat.43 38 39 40 41

Vgl. ibid., S. 4. Vgl. ibid., S. 20 und 22. Vgl. ibid., S. 4. Vgl. das Titelblatt der Ausgabe Alea (1561): »Sortis amore tumes? Sunt certa piacula, quae te ter pure lecto poterunt recreare libello.« Zur Einordnung als Selbsthilfebuch vgl. auch van Houdt (2008), Healing Words, S. 14: »It is a therapy that consists of various steps, the ultimate goal being that the compulsive gambler is capable of curing himself – and of keeping himself healthy and sane without any physician’s or therapist’s help. In this sense, Pascasius’ booklet can rightly be defined as an early modern self-help book.« 42 Vgl. Arist. NE X 10 (1179a33–1181b23), wo Aristoteles von der Ethik zur Politik übergeht mit der Überlegung, dass gute Erziehung und Gewöhnung kraft vernünftiger Gesetze die Tugendhaftigkeit der Einzelnen befördern, während bloßes Reden auswirkungslos verhalle – dieses Reden aber nun ist, wie wir sehen werden, der eigentliche Ansatzpunkt von Pascasius’ Therapie. 43 Psychagogik bezeichnet ein Programm der Seelenführung, vgl. Butzer, Günter : Psychagogik

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Um nun die nach der ratio wahren Ursachen der Spielkrankheit aufzudecken, strukturiert Pascasius seinen Traktat nach medizinischer Methode in zwei Teile. Der erste Abschnitt widmet sich der Diagnose der Krankheit, der zweite ihrer Behandlung. Dabei will er sich generell an antiker Medizin orientieren: Veteres igitur Graecos, optimosque omnes medicos, quorum ego studiis mirifice delector, qui corporis morbos eandem clarissima utilissimaque methodo persecuti, primum quid sit morbus, deinde quae morbi causae, tum quae ex illis eventa (sulptylata vocant) oriantur, denique quae cognata, quae contraria, tradunt, secutus: ut eorum agendi faciendique modum omnem alibi, ita etiam hic scribendi rationem imitandam mihi esse putavi.44 (Ich folge nun den alten Griechen und allen sehr guten Ärzten, an deren Studium ich mich ganz besonders erfreue. Sie stellen die Krankheiten des Körpers nach demselben überaus einleuchtenden und nützlichen Verfahren dar : Zuerst führen sie nämlich aus, worin die Krankheit besteht, dann, welche Ursachen sie hat, schließlich, welche Auswirkungen (griech. symptomata) aus diesen Ursachen entstehen, und zuletzt, was mit ihnen verwandt, was ihnen entgegengesetzt ist. Wie ihre Handlungsweise überall, so hielt ich auch ihre Verhaltensweise im schriftlichen Bereich nachahmenswürdig.)

Die Behandlung der Affekte des Geistes und hier im speziellen einer cupiditas, der Begierde zu spielen, wird somit nach vier Schritten gleich der Behandlung des Körpers in der Medizin strukturiert. Die ersten drei Schritte entsprechen dem ersten Teil des Traktats, welcher als Diagnose die Krankheit definiert und ihre Auswirkungen und Ursachen darlegt. Der hippokratischen Maxime contraria contrariis remedia sunt folgend wird daraufhin mit der Eruierung des Verwandten und Entgegengesetzten die philosophische Therapie im zweiten Teil eingeleitet.45 Diese Parallelsetzung von körperlicher und seelischer Therapie betont Pascasius nochmals mit der Forderung, dass ebenso wie bei körperlichen auch bei geistigen Krankheiten zunächst die Ursachen erkannt werden müssten, um die entsprechende Behandlung anzuwenden.46 Pascasius’ Anschluss an methodische Diskussionen aus der Medizin geht einher mit einem Schreibstil, den wir im Kontext sich wandelnder medizinischer Praxis des 16. Jahrhunderts betrachten können. In einer Mixtur aus galenischaristotelischer Theorie, klassischen Exempla und persönlichen empirischen in der Frühen Neuzeit. In: Jaumann, Herbert (Hrsg.): Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch. Berlin/New York: De Gruyter, 2011, S. 715–746, zur religiösen Psychagogik Melanchthons über das Hervorrufen von Schrecken über die eigene Sündhaftigkeit vgl. S. 723. In Rückgriff auf Michel Foucault könnten wir bei Pascasius von einer Form wissensbasierter ludischer Gouvernementalität sprechen, vgl. hierzu grundlegend Foucault, Michel: La »gouvernementalit8«. In: Ders.: Dits et Pcrits 1954–1988. Vol. III 1976–1979. Paris: Gallimard, 1994, S. 635–657. 44 Alea (1561), S. 21; Übersetzung Kronegger-Roth (2000), S. 14. 45 Vgl. Hippokrates Nat. hom. 9. 46 Vgl. Alea (1561), S. 22.

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Beobachtungen verfasste er ein auch sprachlich anspruchsvolles Werk.47 Dies mag einerseits in der ursprünglichen Form des Textes als Rede begründet sein. Sicherlich hat es auch mit der rhetorischen Dimension des Werkes als Überredungsschrift zur Heilung krankhafter Spieler zu tun. Doch scheint Pascasius ebenso beeinflusst von den Medizinern seines italienischen Umfelds. Zumal er die Dedikationsepistel in Pavia abfasst, wo einer der profiliertesten Vertreter progressiver Medizin unterrichtete: Der Arzt, Philosoph, Mathematiker und passionierte Spieler Girolamo Cardano.48 Für diesen vielseitigen Gelehrten konnte inventio sowohl Neuerfindung als auch die Wiederentdeckung antiken Wissens bedeuten, der humanistische Rückgriff auf die Quellen hippokratischer und galenischer Medizin mit innovativer Weiterentwicklung derselben einhergehen.49 Einerseits spiegelt sich hierin ein medizinischer Humanismus, der im Bemühen einiger Mediziner um philologischen Ertrag für ihre Wissenschaft, vor allem in der Verfügbarmachung antiker medizinischer Texte auch in der Originalsprache bestand und schon 1525 zur ersten Edition der kompletten Werke Galens auf Griechisch geführt hatte. Gerade Italien entwickelte sich in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts zum Zentrum der Edition und Übersetzung galenischer Texte.50 Andererseits eröffnete das intensivere Studium der Texte auch innovative Möglichkeiten wie etwa eingehendere Kritik an den Ausführungen Galens. Infragestellungen seiner Texte beschäftigten die Mediziner mindestens seit Andrea Vesalius’ Praefatio zu seinem anatomischen Meisterstück De humani corporis fabrica libri septem, in der Vesal mehr als 200 fehlerhafte Stellen in den Werken Galens aufgelistet hatte.51 47 Zur Bedeutung medizinischer Exempla siehe den einleitenden Überblick in Gadebusch Bondio, Mariacarla und Ricklin, Thomas (Hrsg.): Exempla medicorum. Die Ärzte und ihre Beispiele. 14.–18. Jahrhundert. Florenz: Sismel, 2008, S. XI–XX, zu Pascasius’ humanistischem Schreibstil vgl. auch Cottier (2014), Pascasius, S. 76–77. 48 Vgl. Siraisi, Nancy G.: The Clock and the Mirror. Girolamo Cardano and Renaissance Medicine. Princeton: Princeton University Press, 1997, zu Cardano und seinem medizinischen Umfeld vgl. insb. S. 3–40. 49 Vgl. ibid., S. 27. 50 Vgl. Grendler (2002), Universities, zum medizinischen Curriculum allg. S. 314–352, zum medizinischen Humanismus S. 324–328, zur Publikation der Werke Galens S. 325; zur für Pascasius’ Werk wichtigen Verbindung dieses medizinischen Humanismus mit Naturphilosophie vgl. Hirai, Hiro: Medical Humanism and Natural Philosophy : Renaissance Debates on Matter, Life and the Soul. Leiden: Brill, 2011, weiterführende Literatur zum medizinischen Humanismus auf S. 3 Fußnote 5. Eine knappe Charakterisierung liefert auch Siraisi (1997), The Clock and the Mirror, S. 14: »In the medical context, humanism meant a demand for the direct study of a wider range of ancient Greek medical texts and frequent expressions of scorn for the language, translations, and forms of argument of medieval Arabo-Latin scholastic medicine.« Vgl. auch den schon zitierten Artikel von Nutton (1997), The Rise of Medical Humanism; vgl. auch van Houdt (2008), Healing Words, S. 7–8. 51 Vgl. Vesalius, Andrea: De humani corporis fabrica libri septem. Basel: Johannes Oporinus,

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Wenn Pascasius also häufig auf medizinische Fachausdrücke in griechischem Original zurückgreift und die Exemplarität der alten Griechen lobt, wird hierin auch seine Empfänglichkeit für besagten medizinischen Humanismus deutlich. Nicht jedoch werden wir von ihm Worte der Kritik an Galen gleich denjenigen Vesals vernehmen. Die Offenheit für ungewöhnliche Ansätze zeigt sich bei ihm vielmehr in der Bereitschaft, flexibel mit dem galenischen System umzugehen und es mit philosophischen Therapiemodellen zu verbinden. Ein Beispiel für ungewöhnliche Analysen des Glücksspiels hatte er dabei möglicherweise in einem Werk des Pavianer Professors Cardano: Dieser hatte vermutlich schon 1526 einen bis ins 17. Jahrhundert unveröffentlichten Traktat über Spiele verfasst, in dem er vor allem anhand mathematischer Überlegungen die individuellen Chancen beim Glücksspiel zu optimieren versuchte.52 Denn wenn auch das Spielen durchweg böse sei, so müsse es wenigstens ein Arzt wie eine der unheilbaren Krankheit behandeln. Ebenfalls die Philosophen sprächen über die Laster, erklärte Cardano, um aus diesen Betrachtungen Vorteile zu ziehen.53 Die Vorteile, die er sodann aus dem Glücksspiel zieht, scheinen allerdings weniger in der Bekämpfung des Lasters selbst, sondern vielmehr in monetärer Nutzung des Spielens zu bestehen.54 Eine direkte Verbindung zu Pascasius’ Traktat bleibt daher zweifelhaft – zwar stimmen beide darin überein, dass ein Doktor sich des Spielens annehmen müsse, doch verfolgt Alea entgegengesetzt gerade die Auflösung der Leidenschaft nach dem Spielen um Geld, nicht die Eruierung sinnvoller Spielstrategien. Ich werde den Text Cardanos, der von Ore Oystein ohnehin ausführlich diskutiert wurde, in diesem Rahmen entsprechend nicht näher beleuchten.55 Betrachten wir nun vielmehr Pascasius’ Ansatz im Detail, zuerst natürlich, wie es die alten Griechen vorschreiben, die Diagnose der Krankheit der Spielleidenschaft.

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1543, Praefatio, fol. 2v ; Vesalius wurde allerdings vorgeworfen, Galen bewusst missinterpretiert, böswillig ausgelegt und trotz allem von ihm kopiert zu haben, vgl. Nutton, Vivian: The Fortunes of Galen. In: Hankinson, R.J. (Hrsg.): The Cambridge Companion to Galen. Cambridge: Cambridge University Press, 2008, S. 355–390, hierzu S. 376–378. Vgl. Cardano, Girolamo: De alea. In: Ders.: Opera Omnia. Tomus 1. Ediert von Carolus Sponius. Lyon: J. A. Huguetan und M. A. Ravaud, 1663, S. 262–276, hierzu Oystein, Ore: Cardano. The Gambling Scholar. Princeton: Princeton University Press, 1953. Eine Verbindung zu Pascasius’ Werk ist zwar nicht unwahrscheinlich, inhaltlich meines Erachtens jedoch nicht direkt nachweisbar. Vgl. Cardano (1663), Alea, S. 263: »Quod etsi, tota Alea mala esset cum tamen ob ludentium multitudinem, quasi naturalis sit; ob id etiam velut de insanabilibus morbis a Medico tractandum fuit; (…) mos fuit Philosophorum etiam de vitiis agere, ut ex illis commoda capiantur (…).« Vgl. auch Hartung, Stefan: Kontingenz des Spiels und des Geschichtsurteils bei Girolamo Cardano. In: Hempfer und Pfeiffer (2002), Spielwelten, S. 21–46, hierzu S. 31. Zu Oystein vgl. oben Fußnote 52.

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Erste Diagnose: Wider die Spielleidenschaft als avaritia Beginnen wir mit einer knappen Einordnung von Pascasius’ Diagnose im Verhältnis zu anderen Schriften ähnlicher Thematik, denn Alea kreiert sicherlich nicht ein gänzliches neues Problemfeld. Überbordende Spielleidenschaft wieder in Grenzen zu führen war Mitte des 16. Jahrhunderts längst ein Anliegen verschiedenster Publizisten. Vor ihnen hatte schon Thomas von Aquin eine Art exzessiven Spielens gekannt und vor der Gefahr einer Todsünde gewarnt, wenn der Affekt zum Spiel die Liebe zu Gott überrage.56 Im Jahre 1557 erinnerte Eustachius Schildo, ein an der Universität Wittenberg ausgebildeter lutherischer Prediger, in einem Werk namens Spielteufel noch drastischer daran, dass Spiele eigentlich eine Erfindung des epikureischen Teufels seien, die selbiger ersonnen habe, um die Menschen zu einem Leben innerweltlicher Lüste anzuregen. Stets verbreite er damit seine Maxime post mortem nulla voluptas, um die heilsamen Effekte des unlängst erneuerten Evangeliums zu mildern.57 Gewalt gegen Mitspieler und die eigene Ehefrau seien Resultate dieser Verführung zum Spielen, ebenso wie das Überschreiten sämtlicher zehn Gebote.58 Doch gibt Schildo seiner Hoffnung Ausdruck, sein Spielteufel möge, da auch die lobenswerten Maßnahmen der weltlichen Obrigkeit nicht überall kontrolliert werden können, zur Eindämmung des Spielens beitragen.59 Nicht weniger drastisch beschrieb in Paris der ehemalige Spieler Jean Gouyn, nachdem er ausführlich verschiedenste Bedeutungen des Wortes jeu vom Gladiatorenspiel bis zum Gesprächsspiel erörtert hatte, speziell das Spielen um Geld als rage und fureur, worunter sich

56 Vgl. STh IIa–IIae, q.168, a.3cor., wo Thomas erklärt, dass der Exzess neben der falschen Spielart auch im Kontext begründet sein kann: »Alio autem modo potest esse excessus in ludo secundum defectum debitarum circumstantiarum, puta cum aliqui utuntur ludo vel temporibus vel locis indebitis, aut etiam praeter convenientiam negotii seu personae. Et hoc quidem quandoque potest esse peccatum mortale, propter vehementiam affectus ad ludum, cuius delectationem praeponit aliquis dilectioni Dei, ita quod contra praeceptum Dei vel Ecclesiae talibus ludis uti non refugiat.« 57 Vgl. Schildo, Eustachius: Spielteufel. Ein gemein Ausschreiben von der Spieler Bruederschafft und Orden / sampt iren Stifftern / guten Wercken und Ablaß. Frankfurt: Johann Eichorn, 1557, fol. Br. Für Schildos Biographie vgl. Roethe, Gustav : Schildo, Eustachius. In: ADB 31 (1890), S. 209. Der Text wurde wiederabgedruckt in Bauer, Günther G. (Hrsg.): Homo ludens. Der spielende Mensch. Band 3. München/Salzburg: Katzbichler, 1993, S. 247–278, zusammen mit einigen einleitenden Bemerkungen von Paus, Ansgar: Vorwort zum Reprint »Spielteufel«. Beobachtungen und Bemerkungen zum Text von Eustachius Schildo, S. 227–246. Die Bezeichnung »epikureischer Teufel« zielt auf Epikurs Brief an Menoikeus, worin die Lust zum Maßstab unseres Handelns erklärt und die Möglichkeit eines Lebens nach dem Tod bestritten wird, vgl. Diog. Laert. X 122–135; vgl. auch die Verbindung von Teufel und Kartenspiel bei Bernhardin von Siena im Kapitel Vorspiel. 58 Vgl. Schildo (1557), Spielteufel, fol. Er–Eiiiiv und fol. Fiiv–Hiiiv. 59 Vgl. ibid., fol. Bv und fol. Iv–Iiiiir.

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Boshaftigkeit, Schmerz, der Verlust von Zeit, Geld und Ehre verberge.60 Er selbst habe jedoch für seine ehemaligen Spielpartner einige Gedanken niedergeschrieben, aus welchen Gründen er sich nun vom Glücksspiel fernhalte. Als einige Freunde ihm versicherten, ein derartiges Werk könne von großem Nutzen für den Staat sein, entschloss sich Gouyn nach eigener Schilderung zur Veröffentlichung. In sieben Kapitel führt er den Spielern die negativen Seiten ihres Lasters vor, die verderbliche Natur von Glückspiel und die Blindheit der Spieler selbst.61 Diese Verwirrung entstehe insbesondere, wenn Faulenzer im Spiel eine bequeme Möglichkeit sähen, ohne viel Aufwand Geld zu verdienen.62 Entsprechend handle es sich bei dieser Leidenschaft um eine Art Vergnügen geleitet von Habgier.63 Eben diese Rückführung der Spielleidenschaft auf die Habgier ist es, die Pascasius als Ansatzpunkt und Kontrastfolie seiner Theorie dient. Von Beginn an betont der flämische Doktor, dass seine Therapie auf Glücksspiele um Geld ziele, wobei in keiner Weise die völlig legitimen Spiele zur bloßen Erholung diskreditiert werden sollen.64 Er kontrastiert seinen Ansatz also mit dem aristotelischen Diskurs, ohne dessen Legitimität zu bestreiten. Vielmehr soll ein zusätzliches Phänomen des Spielens für eine wissenschaftliche Bearbeitung erschlossen werden. Die Originalität seines Ansatzes stellt er dabei explizit heraus und vermutet, sein Werk könne in vielerlei Hände geraten aufgrund der Neuheit der in ihm verhandelten Materie und des Nutzens, der aus ihm zu ziehen sei.65 Denn von den zwei größten Übeln des menschlichen Lebens, wie Pascasius mit Horaz anhebt, dem allzu großen amor und der Spielleidenschaft, sei letztere noch überhaupt nicht beschrieben, obwohl sie in jedem Leben ohne Heilmittel wüte.66 Schlimmer noch, die Gelehrten behaupteten in der Nachfolge des Aristoteles sogar fälschlicherweise, dass das Glücksspielen nur aus der Habsucht entspringe.67 Nicht nur die Pariser Spieler gingen von dieser Annahme aus. Auch im italienischen Umfeld von Pascasius war die Ansicht durchaus verbreitet. Schon Girolamo Cardano wies in seinem Glücksspieltraktat auf die aristotelische

60 Vgl. Gouyn (1550), Le mespris, fol. 6r–10v. Einige Stellen zitiert Belmas (2006), Jouer autrefois, auf den Seiten 17, 30, 40, 42–43, 45 and 48. 61 Vgl. Gouyn (1550), Le mespris, fol. 3r–3v. 62 Vgl. ibid., fol. 11v–12r. 63 Vgl. ibid., fol. 10v : »(…) lequel Ieu est une ie ne sÅay bonnement quelle umbre et espece de volupt8, men8e et entiereme[n]t conduyte par une plus que desordo[n]n8e avarice (…).« 64 Vgl. Alea (1561), S. 30. 65 Vgl. ibid., S. 4. 66 Vgl. ibid., S. 17, zu Horaz vgl. Kronegger-Roth (2000), S. 108, die Hor. Epist. I 18, 21ff. als Quelle ausmacht. 67 Vgl. Alea (1561), S. 18.

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Einordnung hin.68 Vom selben Zusammenhang berichtete auch Galeazzo Florimonte, als er im Jahre 1554 einen Dialog veröffentlichte, in dem er eine angebliche Unterhaltung zwischen dem berühmten Aristoteliker Agostino Nifo und dem Fürsten von Salerno über die ersten vier Bücher der Nikomachischen Ethik wiederzugeben behauptet.69 Die beiden diskutieren dabei unter anderem eine Stelle aus dem vierten Buch der Nikomachischen Ethik, in dem der philosophus die Tugend der Freigebigkeit und die ihr korrespondierenden Laster beschreibt, die Verschwendung und den Geiz. Spieler werden von Aristoteles nicht zu den Verschwendern gezählt, welchen in der Regel nur das Geben im Sinn steht, sondern zu den Geizigen. Die Geizigen nun können entweder im Nehmen über das rechte Maß hinaus gehen und im Geben eben darunter bleiben, oder auch nur in einem von beidem fehlen. Spieler (und ebenso Räuber) zählt Aristoteles zu denjenigen Geizigen, welche speziell im Nehmen das angebrachte Maß verloren haben. Zugleich gehen sie, so der Stagirit weiter, bloß des Gewinns wegen einem schändlichen Erwerb nach und nehmen von ihren Freunden, denen sie eigentlich doch geben sollten.70 Dem Fürsten nun ist zunächst nicht ganz klar, weshalb Spieler mit Räubern, die ja völlig zurecht als avari gelten würden, zusammengebracht werden. Immerhin gebe es auch Spiele um des bloßen Zeitvertreibs willen und ohne Geldgewinn, wobei einige von diesen als besonders edel angesehen würden, wie etwa das Schachspiel.71 Nifo erklärt daraufhin, dass eben nur alle Spiele um Geld unehrenhaft und Spieler quasi versteckte Räuber seien: Denn anstatt gleich den Dieben offen den Verlust der Ehre und des Lebens zu riskieren, gingen sie ihrem unehrenhaften Gelderwerb mit Freunden in Sicherheit nach und nähmen ihren Gewinn sogar von eben diesen. Er empfiehlt daher, doch nur um kleine Summen oder gar kein Geld zu spielen.72 Denn je höher die Summe, unterstreicht Nifo, desto unehrenhafter das Spiel. Dies überzeugt den Fürsten, der sich die Regel, um kein oder wenig Geld zu spielen, einprägen will. So werde die Freude am Gewinn und die Betrübnis über den Verlust vertrieben, meint er, und das Spiel gerate folglich sehr schnell zu einer langweiligen Angelegenheit. Auch werde man dann nicht mehr Tag und Nacht durchspielen, nicht mehr Gott und die

68 Vgl. Cardano (1623), De alea, S. 264 (Cap. X). 69 Florimonte, Galeazzo: I ragionamenti di m. A. Nifo all’illustrissimo principe di Salerno sopra la filosofia morale d’Aristotile. Herausgegeben von Girolamo Rusceli. Venedig: Plinio Pietrasanta, 1554, S. 9–10. Für biographische Angaben zu Galeazzo Florimonte vgl. den Artikel von Franco Pignatti in DBI 48 (1997), S. 354–356, Florimonte hatte bei Nifo zwischen 1500 und 1506 studiert. 70 Vgl. Arist. NE IV 3 (1121a8–1122a17). 71 Vgl. Florimonte (1554), Ragionamenti, S. 88. 72 Vgl. ibid., S. 88–90.

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Heiligen lästern und überhaupt die übrigen schlechten Angewohnheiten, die mit dem Spielen verbunden sind, fallen lassen.73 Für Pascasius ist zunächst einmal schon eine derartige Verbindung von moralischer Einsicht und praktischer Applikation fragwürdig. Nach seiner Beobachtung erreichen die an Spielleidenschaft Erkrankten einen derartigen Grad an geistiger Malaise, dass sie sich selbst völlig dem Spielen hingeben: Frequentes enim sunt, qui cum biduum, aut triduum etiam, absque ulla intermissione in alea luserint: tamen interea, quantum percipere poterant, vix horam effluxisse dicerent. Immo etiam sunt, qui et ludendo cibum capiunt, et naturae necessitati dum concedunt, ne interea brevi temporis momento a ludo abstineant, ostendi sibi cartulas iubent. (…) et ipse Venetum, qui in uxorem suam luserat, vidi. Immo etiam inventus est, in quo tanta ludendi appetitio et vesana cupido ac voluta fuit, ut moriens (quasi parum fuerit, in vita lusisse) testamento religiose caverit, ut detracta cadaveri suo cute, obsibusque omnibus exemptis, ex his tesserae fierent: ex illa vero, membranisque omnibus, mensa, alveolus, fritillaque, quanta fieri posset diligentia, contegerentur (…).74 (Denn es gibt viele, die, obwohl sie zwei oder drei Tage sogar ohne jede Unterbrechung mit dem Würfel gespielt haben, dennoch behaupteten, daß für ihr Empfinden inzwischen kaum eine Stunde verflossen wäre. Ja, es gibt sogar welche, die beim Spielen ihre Nahrung zu sich nehmen und sich, während sie dem Drang der Natur nachgeben, die Karten zeigen lassen, um nicht unterdessen für einen kurzen Augenblick vom Spiel fernzubleiben! […] auch habe ich einen Venezianer gesehen, der um seine Frau gespielt hatte. Ja es fand sich sogar einer, der eine so große Begierde und wahnsinnige Lust zu spielen hatte, daß er als Sterbender (es war ihm gewissermaßen zu wenig, im Leben gespielt zu haben) in seinem Testament gewissenhaft verfügte, daß seinem Leichnam die Haut abgezogen und alle Knochen entnommen werden mögen und aus diesen Würfel verfertigt, aus jener [=der Haut] aber und allen inneren Membranen ein Spieltisch, ein Spielbrett und ein Würfelbecher mit der größtmöglichen Kunstfertigkeit bezogen werden sollten.)

Diese Spielleidenschaft nun, die Pascasius Alea nennt, sei eine gewaltsame und strenge Gebieterin (fortissima acerrimaque domina), deren despotische Herrschaft sich unter anderem in Zügellosigkeit, besorgter Furcht, der häufigen Veränderung des Teints, Schweißausbrüchen und bei vielen auch in Samenergüssen äußere.75 Obwohl viele die Größe und Kraft des Affektes erkannt sowie die unheilvollen Auswirkungen der Spielleidenschaft erfahren hätten, könnten sie dennoch, auch wenn sie es wünschen, nicht von ihr ablassen, so dass Pa-

73 Vgl. ibid., S. 90–91. 74 Alea (1561), S. 38; Übersetzung nach Kronegger-Roth (2000), S. 23–24. Eben diese Stelle hatte Alvensleben wohl falsch verstanden oder falsch ausgelegt, siehe S. 253 dieses Kapitels. 75 Vgl. Alea (1561), S. 33.

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scasius sie mit Ovid ausrufen lässt: »Ich sehe das Bessere und heiße es gut, dem Schlechteren folge ich.«76 Bloße moralische Ermahnung gleich Nifos Forderung, das Spiel um Geld schlicht zu unterlassen, verhallen bei verblendeten Glücksspielern demnach folgenlos. Wie bei Schildo und Gouyn sind Spieler für Pascasius von Spielen getäuscht und begreifen nicht deren eigentliche Natur. Für eine Therapie müssen die tatsächlichen Ursachen der Spielleidenschaft offen gelegt werden, und zu diesen zählt nach Pascasius nicht primär die Habgier. Dies sehe man schon allein daran, dass Spieler unter den Umherstehenden freimütig Geld verteilen.77 Die der Habgier eigene Seele, die schwach und gebrochen sei, vertrage zudem nicht im Geringsten die im Glücksspiel sich ergebenden Vermögenseinbußen.78 Aristoteles, so erklärt Pascasius, spreche außerdem an der betreffenden Stelle in der Nikomachischen Ethik nur von verschiedenen Arten der Habgier und nicht von der Natur des Würfelspiels. Zwar seien Spieler durchaus gierige Menschen, ausschließlich auf avaritia beruhe das Würfeln aber nicht.79 Vielmehr muss man von einem Ursachenbündel ausgehen, das Pascasius nach gut aristotelischer Methode in Zweckursache, Formursache und Wirkursache unterteilt.80 Die noch fehlende Materialursache, so dürfen wir, auch wenn Pascasius dies nicht explizit schreibt, aus einer seiner Äußerungen schließen, sind die Spiele selbst.81 Zu einer ersten Distanzierung von der Habsucht als Hauptursache führt nun die Bestimmung der causa finalis der Spielbegierde. Diese sei zwar mittelbar die Begierde nach Geld, wie es also der Habsucht entspräche. Jedoch stelle das Geld oftmals nur ein Mittel zur Erlangung anderer Zwecke dar : In jedem Lebensalter nämlich wünschen wir einen gepflegten Lebensstil, möchten gewisse Dinge besitzen und bestimmte Begierden stillen, so dass wir oftmals nur nach dem Erwerb von Geld trachten, um eine Reihe von Bedürfnissen zu befriedigen. Gerade junge Menschen wollen meistens nicht das Geld als Endzweck gleich den Habgierigen, sondern bedürfen seiner für das Ausleben ihrer Ausschweifungen und Lüste, was also den eigentlichen Endzweck der Spielleidenschaft ausmache.82 Wir spielen demnach unserer mannigfaltigen 76 Ibid., S. 36: »Video meliora proboque, deteriora sequor.« Übersetzung Kronegger-Roth (2000), S. 23, vgl. Ov. Met. 7, 20–21. 77 Vgl. Alea (1561), S. 31–32. 78 Vgl. ibid., S. 84–85. 79 Vgl. ibid., S. 19–20. 80 Vgl. Arist. Phys. II 3 (194b23–35). 81 Vgl. Alea (1561), S. 30: »(…) aleatores avidi omnem, in quo sors dominatur et pecunia ponitur, rationem et ludum tanquam effrenati motus sui materiem et instrumentum sua sponte capiunt.« 82 Vgl. ibid., S. 39–41, vgl. insb. S. 40: »Itaque duplex fere est aleae finis: medius unus et proximus, qui quidem pecunia est: ultimus alter, qui voluptates, luxum et vitae commoda respicit.«

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Begierden wegen, die monetär zu verwirklichen sind. Doch ist dies allein für Pascasius keine hinreichende Erklärung der Spielleidenschaft. Ihre Hauptursache bestehe in der causa formalis, die eine fehlerhafte Einschätzung darstelle: (…) eius inquam, eius precipuam et formalem causam esse iudico, quam Graeci 1uek§irial, nos bonam et confidentem spem vocamus. Haec enim si cum pecuniarum aviditate qualicunque in hominum animos invadat, mentemque inficiat atque occupet, tum demum compositum ex ambobus affectus, alea, non secus atque amor Cupidineus, ex cupiditate et spe nascitur, alitur ac perficitur.83 ([…] die hauptsächliche und formale Ursache dafür, sage ich, sehe ich in dem, was die Griechen euelpisia, wir gute und zuversichtliche Hoffnung nennen. Denn wenn diese [verbunden] mit einer wie auch immer gearteten Geldgier in die menschliche Seele eindringt, den Geist vergiftet und sich seiner bemächtigt, dann erst findet der aus beiden [Faktoren] zusammengesetzte Affekt, die Spielleidenschaft, einen Nährboden und vollendet sich, genauso wie [auch] die Liebesleidenschaft aus Begierde und Hoffnung geboren wird.)

Den Begriff euelpisia entnimmt Pascasius der Rhetorik des Aristoteles, wo er vor allem jungen Menschen als typische Charaktereigenschaft zugesprochen wird, da jene nur in die Zukunft blicken und noch nicht auf erlebte Vergangenheit zurückgreifen könnten. Darüber hinaus seien sie in Ermangelung schon erlebter Enttäuschungen leichtgläubig und hoffnungsvoll aufgrund ihrer hitzigen Natur, nicht unähnlich den Weinseligen.84 Eben diese Art der Hoffnung, ein leichtgläubiges Vertrauen auf die Gunst des Zufalls, muss also auch vorhanden sein, allein die Begierde nach Geld führt nach Pascasius eben noch nicht zur Spielleidenschaft. Erst die Kombination aus Begierde und Hoffnung erzeugt die Krankheit Alea. Entscheidend für eine Therapie ist nun allerdings, wie diese beiden Affekte entstehen. Pascasius nimmt an, dass jeder Affekt von sich darbietenden Gegenständen und dem Herz verursacht werde: Omnis enim affectus partim a re obiecta, partim a corde profiscitur atque ita natura comparatum est, ut pro cogitationis aestimatione et motu cor, affectionum omnium organum et subiectum, suo impulsu impetuque res omnes vel appetat vel declinet.85 (Jeder Affekt geht nämlich teils vom sich darbietenden Gegenstand, teils vom Herz aus, und es ist von Natur aus so vorgesehen, dass je nach Abschätzung und Regung des Denkens das Herz, das Organ und Subjekt aller Affekte, alle Gegenstände aus eigenem Antrieb und Drang entweder anstrebt oder ablehnt.)

Auffallend ist hierbei Pascasius’ Feststellung, das Herz erstrebe oder meide Dinge pro cogitationis aestimatione et motu, d. h. auf Grundlage des Denkens. 83 Ibid., S. 41; Übersetzung Kronegger-Roth (2000), S. 28. 84 Vgl. Arist. Rhet. II 12 (1388b31–1389b13). 85 Alea (1561), S. 39, Übersetzung Kronegger-Roth (2000), S. 25.

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Denn gerade sein angeblicher Liebling Galen hatte in einer Schrift über die Lehren des Hippokrates und Platon die Ansicht von einem Ursprung der Affekte in rationalen Urteilen, wie ihn der Stoiker Chrysippus vertreten habe, vehement abgelehnt und die platonische These eines irrationalen Seelenteils verfochten, aus dem dieselben entspringen.86 Wenn die Abschätzung und die Bewegung des Denkens bei Sinneswahrnehmungen aber die Grundlage für die Affekte auslösende Herzbewegung ausmachen, so scheint Pascasius eher einer stoischen Philosophie der Affekte das Wort zu reden.87 Zumal er die Spielleidenschaft unter anderem sieht als »ohne Vernunft oder Grund gefasste höchst schädliche, törichte und verrückte Meinung« (damnosa vehementer et stulta demensque opinio sine ulla ratione aut causa concepta).88 Dies wird auch an der Definition von Alea deutlich: Est igitur Alea, effrenata quaedam ludendi in pecuniam cupiditas, animosa credulaque spe lucri flagrans, vel, Est gravis quaedam, et diu manens animi affectio, quae vitiosa futuri ex ducta sorte boni opinione constans, effrenataquadam et exultante cupiditate ad ludendum concitatur.89 (Die Spielleidenschaft ist also eine unbeherrschte Begierde nach dem Spiel um Geld, die durch die leidenschaftliche und leichtgläubige Hoffnung auf Gewinn angeheizt wird, oder sie ist ein schlimmer und lange anhaltender Seelenzustand, der in der fehlerhaften Einbildung eines künftigen Vorteils aus dem Glücksspiel besteht und durch eine unbeherrschte und ausgelassene Begierde zum Spielen angetrieben wird.)

Der spes als opinio kommt hier eine zentrale Rolle zu: Sie ist einerseits Ursache für die cupiditas, um Geld zu spielen. Andererseits jedoch scheint die cupiditas Ursache dafür zu sein, dass die Hoffnung auf Gewinn befeuert wird.90 Diese gegenläufige Definition spiegelt möglicherweise das Verhältnis von causa finalis und causa formalis wider : Nur beide zusammen erzeugen die Spielleidenschaft. Zu der allgemeinen Gier nach Geld, mit dessen Hilfe alle Menschen ihre mannigfaltigen cupiditates befriedigen wollen, muss noch die leichtgläubige Hoffnung auf Gewinn hinzutreten – ansonsten würde Pascasius zufolge niemand 86 Vgl. Galen: On the Doctrines of Hippocrates and Plato. Band 1: Buch I–V. Ediert, ins Englische übersetzt und kommentiert von Philip De Lacy. (=CMG V 4, 1, 2) Berlin: Akademie Verlag, 2005, bspw. IV 2, S. 238 (Kühn V 365–366). 87 Zu stoischer Affektphilosophie vgl. Buddensiek, Friedemann: Stoa und Epikur : Affekte als Defekte oder als Weltbezug? In: Landweer, Hilge und Renz, Ursula (Hrsg.): Klassische Emotionstheorien. Von Platon bis Wittgenstein. Berlin/New York: De Gruyter, 2008, S. 69–93. 88 Alea (1561), S. 31; Übersetzung nach Kronegger-Roth (2000), S. 20. 89 Alea (1561), S. 30; Übersetzung Kronegger-Roth (2000), S. 20. 90 Zumal Pascasius hier beide Definitionsrichtungen durch ein vel verbindet und nicht durch ein logisch streng unterscheidendes aut. Dies spricht dafür, dass die uneindeutige Definition eher die wechselseitige Abhängigkeit von Begierde und Hoffnung für die Entstehung von Alea verdeutlichen soll.

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leichtfertig einen Verlust im Spiel riskieren.91 Doch verschwinde die Spielleidenschaft, wenn die Hoffnung aus der Seele vertrieben oder in Furcht umgewandelt werden könne. Und daher sei es notwendig, näher zu ergründen, wie diese Hoffnung zustande komme.92 Dies bedeutet nun den letzten Teil der Diagnose anzugehen, die Beschreibung der causa efficiens der Spielleidenschaft.

Physische Grundlagen: Wirkursache und Gewohnheit Zur Bestimmung besagter causa efficiens greift Pascasius nun wieder auf galenische Physiologie zurück. Körperliche Konstitutionen ergeben sich hiernach aus der Mischung der zwei Qualitätenpaare heiß und kalt sowie feucht und trocken, wobei eine ausgewogene Mischung als die gesündeste gilt.93 Den vier Kombinationen dieser Qualitäten korrespondieren vier Säfte des Körpers: das warm-feuchte Blut, der feucht-kalte Schleim, die trocken-kalte schwarze sowie die trocken-warme gelbe Galle. In der europäischen Medizin hatten sich auf dieser Grundlage Typologien entwickelt, die den unterschiedlichen Säften verschiedene Auswirkungen auf die Charakterbildung zuwiesen.94 Dieser Schritt ist auch bei Galen selbst schon vollzogen: In seiner Schrift Quod animi mores setzte er psychologische Zustände mit Mischungen genannter Qualitäten im Körper in Zusammenhang.95 Mentale Störungen wie die Melancholia führte er auf Disbalancen der Säftemischung zurück (in diesem Fall ein Übermaß an schwarzer Galle, griech. l]kar [schwarz] und wok^ [Galle]), die teilweise mit Einbildungen einhergehen. Doch auch in entgegengesetzter Richtung können Gedanken seiner Ansicht nach einen Effekt auf den Körper haben und physiologische Reaktionen auslösen. Der Zusammenhang von physischen und psychischen Vorgängen ist in Galens Medizin jedenfalls vorausgesetzt, insofern auch die drei unterschiedlichen Seelenteile, die er Platon folgend annimmt, in Leber, Herz und Gehirn verortet werden.96 91 Vgl. Alea (1561), S. 32. 92 Vgl. ibid., S. 42–43. 93 Vgl. Gill, Christopher : Die antike Tradition: Die körperliche Basis emotionaler Dispositionen. In: Landweer, Hilge und Renz, Ursula (Hrsg.): Klassische Emotionstheorien. Berlin/New York: De Gruyter, 2008, S. 95–120, hierzu S. 104–105. 94 Vgl. Klibansky, Raymond; Panowsky, Erwin und Saxl, Fritz: Saturn und Melancholie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1990, insb. S. 165–199; vgl. auch den Artikel Humoralpathologie von K. Bergdolt und G. Keil im LexMA Band 5, 211–213, sowie das Lemma Temperamentenlehre von K. Bergdolt in Band 8, 533–534. 95 Vgl. Gill (2008), Die antike Tradition, S. 106–107. 96 Vgl. Boudon-Millot, V8ronique: What Is a Mental Illness and How Can It Be Treated? Galen’s Reply as a Doctor and Philosopher, sowie Nutton, Vivian: Galen’s Madness, beide Aufsätze in: Harris, William (Hrsg.): Mental Disorders in the Classical World. Leiden/Boston: Brill, 2013, S. 129–145 und S. 119–127.

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Entlang dieser grundlegenden Linien vollführt Pascasius die Ausformulierung der causa efficiens der Spielsucht in drei Schritten. Zunächst erläutert er mit Aristoteles, dass die euelpisia von einer angeborenen, starken Hitze des Körpers herrühre, die wie der Wein die Menschen hoffnungsfroh werden lasse: »Junge Menschen sind voll guter und selbstvertrauender Hoffnung, denn sie werden nicht anders als Betrunkene von Natur aus heiß.«97 Gleich den Weinseligen leiden die von euelpisia Geplagten unter einer Art desipientia, einem Wahnsinn, der aus übermäßiger Hitze im Gehirn und schlechter Qualität der Körpersäfte erwachse.98 Auch Galen hatte in Quod animi mores den Wein als ein Beispiel dafür aufgerufen, dass physische Prozesse unsere mentalen Fähigkeiten verändern können und moderater Konsum sich positiv auswirke.99 Tatsächlich, so Pascasius weiter, verhalten sich junge Menschen wie Betrunkene, die nicht völlig berauscht sind. Doch führt er in der Folge diesen Gedanken nicht auf Galen, sondern auf eine Unterscheidung verschiedener Stufen der Trunkenheit zurück, die Aristoteles in den Problemata Physica entworfen hatte, woraus Pascasius die entsprechende Passage übernimmt.100 Wein in größeren Mengen, so erläutert Aristoteles dort, erzeuge dieselben Charakterneigungen wie bei der Melancholie, überhaupt aber führe der Weinkonsum zu allen möglichen Verhaltensweisen: Ein stiller Mensch entfaltet ungeahnte Fähigkeiten und werde zunächst redselig, doch trinkt er noch mehr, so gewinne er an Selbstbewusstsein und werde geschwätzig. Hört er noch immer nicht auf, so zeige er sich bald kühn, und weitere Becher erzeugen sodann Arroganz. Letztlich führe der Wein sogar zu Irrsinn und zum gänzlichen Verlust aller Hemmungen.101 Nach Pascasius nun haben einige Menschen den Wein allerdings gar nicht nötig: »So wie der eine im Zustand der Trunkenheit ist, so ist der andere von Natur aus.«102 Entsprechend unserer physischen Disposition seien wir für bestimmte Krankheiten leichter anfällig, und von euelpisia geplagte Menschen, wie Spielsüchtige, werden infolge einer Anlage zu hitzigem Gemüt gleich den Menschen, die zu viel Wein getrunken haben und in Rausch geraten, leicht entflammt etwa aufgrund eines Verlustes im Spiel.103 Ein wenig pointierter 97 Kronegger-Roth (2000), S. 30, Alea (1561), S. 43: »Hoc est: Iuvenes bona et confidenti sunt spe: natura enim incalescunt, non aliter atque vino poti.« Die von Pascasius davor auch auf Griechisch zitierte Passage entspricht Arist. Rhet. II 12 (1389a19–20). 98 Vgl. Alea (1561), S. 43. 99 Vgl. Galen, Quod animi mores 3 in GSM II 39, 12–18, hierzu Boudon-Millot (2013), What Is a Mental Illness, S. 136. 100 Vgl. Alea (1561), S. 44. 101 Vgl. Arist. Prob. XXX (953a10–955a40); Den mannigfaltigen Nach- und Nebenwirkungen des hitzigen Weins widmet sich übrigens auch das Problem III (871a1–876a28). 102 Kronegger-Roth (2000), S. 31, Alea (1561), S. 44: »Qualis est vinolentus hic, talis quispiam alius factus est a natura.« 103 Vgl. Alea (1561), S. 45.

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könnte man sagen, dass so disponierte Menschen eine Art natürliche Angetrunkenheit besitzen, die sich jedoch schnell in einen ausgewachsenen Rausch verwandeln kann. Je größer die Hitze, desto größer die Trunkenheit. Auf Grundlage der These von der besonderen Hitzigkeit der Spieler geht Pascasius nun einen zweiten Schritt und versucht zu ergründen, welches körperliche Temperament für die Spielbegierde besonders anfällig sei, indem er den Kontext der aristotelischen Weinpassage in die Diskussion einfließen lässt.104 Die gerade wiedergegebenen Überlegungen zur Trunkenheit stellt Aristoteles innerhalb einer Analyse der Melancholie an, in deren Zuge er besonders den außergewöhnlich begabten Menschen ein melancholisches Temperament attestiert. Denn sowohl schwarze Galle als auch Wein zeigen dem Stagirit zufolge eine besondere Wirkung auf den Geist und führen zur Entfaltung zahlreicher Charakterzüge.105 Entweder nun könne ein melancholisches Temperament vorübergehend sein, etwa durch Fehlernährung, und so zu einer kurzfristigen melancholischen Erkrankung führen, oder aber es verbleibe permanent von Natur aus. Dabei entspringen der melancholischen Verfassung die unterschiedlichsten Phänomene: Die an sich trocken-kalte schwarze Galle löse zwar in von ihr im Übermaß befallenen Menschen Furchtsamkeit aus. Wenn sie erhitzt werde, veranlasse sie allerdings dieselben Personen auch zu ausgelassener Freude oder gar zum Wahnsinn von Inspirierten wie bei Wahrsagern. Die von nicht übermäßigem Weinkonsum entfesselten außergewöhnlichen Begabungen sind den natürlichen Melancholikern demnach dauerhaft von Natur aus möglich.106 Pascasius konstatiert, dass in diesem Umstand der Grund zu sehen sei, weshalb gerade besonders begabte Menschen zu aufbrausendem Gemüt neigen. Festgestellt hätten diese Verbindung auch Vergil, Plato, Demetrius und natürlich Galen, der den Menschen von einer galligen Gemütsbeschaffenheit prudentia und dexteritas, also Klugheit und Gewandtheit zuschreibe.107 Wenn Aristoteles allerdings alle hochbegabten Männer als Melancholiker bezeichne, so spreche der Stagirit von der natürlichen, gemäßigt warmen Melancholie und eben nicht 104 Zu Pascasius’ Diskussion von Hitze und Melancholie sowie ihren auch galenischen Quellen mit De locis affectis und De natura hominis vgl. van Houdt (2008), Healing Words, S. 12–13. 105 Erklärt wird diese Besonderheit mit der Lufthaltigkeit von Wein und schwarzer Galle, vgl. auch Panowsky et al. (1990), Saturn, S. 77–78: »Diesem ›Pneuma‹ wohnt nun eine eigentümlich erregende Spannungsenergie inne, die den ganzen Organismus in einen Zustand der Begierde (eqenir) versetzt, in hohem Maße auf das Geistige zurückwirkt und sich vor allem im Geschlechtsverkehr im eigentlichen Sinn des Wortes ›Luft‹ zu machen sucht; von daher sowohl die aphroditische Wirkung des Weins als auch die sexuelle Zügellosigkeit, die (…) dem Melancholiker eignet.« 106 Vgl. Prob. XXX (wie Fußnote 101). 107 Alea (1561), S. 47, Kronegger-Roth (2000), S. 120, vermutet Galen HNH I 38 (Kühn XV, 97) als Quelle.

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von der kalt-trockenen.108 Denn es zeige sich hier eine große Bandbreite: Melancholiker in einem kalten Zustand seien ängstlich, betrübt und pessimistisch, während Melancholiker von großer Hitze furor und insania, also Rasen und Wahnsinn erfasse.109 Der beste und von diesen Extremen entfernte natürliche Zustand sei allein die gemäßigt warme und beständige Melancholie, sozusagen das Äquivalent zu moderatem Alkoholkonsum. Entwickelt sie sich jedoch zu warm und verlässt das gesunde Mittelmaß, so entstehe daraus ein großes und letztlich ungesundes Selbstvertrauen.110 Hierin ist demzufolge der Grund zu sehen, weshalb besonders begabte Menschen oftmals zu Spielbegierigen werden. Jedoch sind diese für Pascasius nicht notwendigerweise melancholisch. Da sich die euelpisia erzeugende Hitze abhängig von zahlreichen Faktoren im Körper entwickeln könne, zeige sich auch eine große Vielfalt an Würfelspielern.111 Dies bedeutet, dass die causa formalis der Spielsucht aus verschiedensten körperlichen Disposition erwachsen kann, wobei jedoch natürliche Melancholiker besonders anfällig sind. Jedenfalls ist Pascasius sich sicher, dass die der Spielleidenschaft zugrundeliegende Erwärmung typisch weinartig sei und die Vielfalt an Spielern hervorbringe: Atque ut vinum est quam maxime varium ac multiplex, ita etiam magna quadam atque ampla latitudine et differentia cum toto corpore, tum praecipue cerebo calor hic et sanguis existit. Nam illud uti ea, quae sensibus percipiuntur, concipit et res omnes aestimat, ita cordis deinde motus stimulat.112 (Und wie der Wein überaus verschiedenartig und vielschichtig ist, so zeigt sich auch die besagte Wärme und das Blut in einer sehr großen Verschiedenartigkeit, sowohl im Körper, vor allem aber im Gehirn. Denn je nachdem wie das Gehirn das, was es über die Sinne empfängt, wahrnimmt und alle Dinge beurteilt, so stimuliert es schließlich die Bewegung des Herzens.)

Diese Passage ist vor allem bedeutsam in Verbindung mit Pascasius’ vorheriger Aussage über die Affekte, die vermeintlich stoische Emotionstheorie evozierte. Hier jedoch wird die Bewertung der Sinneseindrücke, die das Gehirn vornimmt und darauf das Herz antreibt, explizit von der Hitze und dem Blut im Gehirn abhängig gemacht. Das Urteil, das im Gehirn als cogitationis aestimatio der affektiven Reaktion des Herzens vorausgeht, wird wiederum von zerebralen und thermischen physischen Voraussetzungen beeinflusst.113 108 109 110 111 112 113

Vgl. Alea (1561), S. 47–48. Vgl. ibid., S. 50–51. Vgl. ibid., S. 51–52. Vgl. ibid., S. 54–55. Alea (1561), S. 54, Übersetzung Kronegger-Roth (2000), S. 37. Zur Entstehung von den rationalen Seelenteil betreffende Krankheiten im Gehirn durch Wärme, Kälte, Trockenheit und Feuchtigkeit vgl. Galens De locis affectis III 6 (Kühn VIII 161–164), hierzu genauer Boudon-Millot (2013), What Is a Mental Illnes, S. 134.

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Auf dieser Grundlage setzt Pascasius nun zum dritten Schritt seiner Ausformulierung der causa efficiens an und erläutert, weshalb die Spielsucht eher von diesen natürlichen Anlagen denn von der Gewohnheit des Spielens herrühre. Zwei consuetudines gebe es, behauptet er, von denen die eine natürlich und angeboren, die andere jedoch erworben sei.114 Mit Galen stellt er fest, dass daher die Gewohnheiten entweder Zeichen der natürlichen Anlagen des Körpers seien, oder eben Ursache für diese Anlagen.115 So wie sich die Natur von Lebewesen etwa durch Nahrungsmangel völlig verändern könne – etwa wenn sie zur Gewöhnung an eine neue Nahrung gezwungen sind und alte Essgewohnheiten verlieren – so entstehe auch unser Denken zwar aus natürlichen Voraussetzungen, vermöge sich jedoch zu wandeln: Nam plerumque ipsa se natura prodit, eiusque inclinationem omnes fere sequimur, et sponte libenterque in ea vitae ratione, in iisque studiis, actionibusque quae cum natura nostra conveniunt, exercemur (…). Et tamen interdum adversa diu fortuna, servitus, coacta patientia, longus usus, multoque magis magistri et Philosophia, optima nature ducis imitatrix, multum adeo nonnullus immutavit, ut a naturali propensione voluntatisque inclinatione plane dimoverit (…).116 (Meistens offenbart die Natur sich nämlich selbst, wir folgen im allgemeinen alle ihrer Neigung und üben uns freiwillig und gerne in der Lebensweise und den Betätigungen, die mit unserer Natur in Einklang stehen […]. Dennoch haben mitunter lange andauerndes Unglück, Knechtschaft, erzwungenes Dulden, stete Übung und viel mehr noch die Lehrer und die Philosophie, die beste Nachahmerin der Führerin Natur, manche Menschen so sehr verändert, daß sie sie von der Neigung der Natur und des Willens völlig abgebracht haben.)

Einerseits gilt also: Die Gewohnheit zu Spielen entstehe zwar aus natürlicher Disposition, nicht aber die Disposition zu Spielen aus der Gewohnheit des Spielens.117 Ohne Veranlagung wird man nicht spielkrank, die Ausbildung der Gewohnheiten liegt in der Natur begründet. Andererseits jedoch vermeidet Pascasius die Sackgasse, in die ihn eine rein auf natürliche Determiniertheit menschlichen Verhaltens gerichtete Theorie führen würde. Obsolet wäre damit der zweite Teil seines Traktats, der die Therapie der Spielleidenschaft unternimmt. Dass die Menschen aber trotz natürlicher Veranlassung zu bestimmten Handlungsweisen noch die Möglichkeit zur Transformation ihrer Gewohnheiten über die Philosophie haben, eröffnet einen Weg zur Behandlung der Spielbegierde. 114 Vgl. Alea (1561), S. 65. 115 Vgl. ibid., S. 66: »Galenus, in alimentorum ratione dixit, consuetudinem corporis proprietas naturalis signum esse, nonunquam etiam causam.« Gemeint ist eine Stelle aus Galens De consuetudine, vgl. GSM II 20–21. 116 Alea (1561), S. 67; Übersetzung Kronegger-Roth (2000), S. 44. 117 Vgl. Alea (1561), S. 69.

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Die Menschen, erklärt er weiter, hätten überdies nach Aristoteles von allen Lebewesen die größte Fähigkeit zur Nachahmung, und so könne auch unser Geist die unterschiedlichsten Denkweisen annehmen, varios maxime mores capere.118 Dies bezeichnet der Stagirit in der Poetik als Grundlage für die Entstehung der Dichtkunst. In besonderem Maße seien Menschen der Nachahmung und des Lernens durch Nachahmung fähig, was jedermann Freude bereite.119 Sie können daher nach Pascasius zahlreiche Lebensweise annehmen. Eine verdorbene Natur könne so, gleich einem durch Pflege fruchtbaren Acker, durch gute Erziehung üppigen Ertrag einbringen.120 Hingegen erschlaffe unsere Denkkraft, die animi facultas, durch zu viel otium, während Übungen sie stärke, wie auch Hippokrates im Allgemeinen festgestellt habe, dass Übung stärker, Müßiggang jedoch schwächer mache. Dies gelte ebenso für Begierden.121 In nur dieser Hinsicht könne auch die Gewohnheit Ursache der Spielsucht genannt werden. Erstens wecke sie einen sich vielleicht noch versteckt haltenden Trieb, da niemand nach Spielen verlangen könne, ohne jemals eines gekannt zu haben. Zum anderen bewirke Gewöhnung, dass man das Unrecht einer Handlung nicht wahrnehme, obgleich Menschen eigentlich dazu neigen, ihnen unrecht erscheinende Taten zu vermeiden. Doch richten sich die Meisten in der Bewertung der Schändlichkeit einer Handlung nach ihren Mitmenschen, und in dieser Weise sorge die Gewöhnung dafür, dass Spieler die Würfel fallen lassen, ohne sich ihres unrechten Tuns bewusst zu sein.122 Damit ist die Diagnose vollständig: Die Verbindung der causa finalis eines allgemeinen Strebens nach Erfüllung von Begierden durch Geld mit der causa formalis der leichtgläubigen Hoffnung, der euelpisia, führt zu übermäßiger Spielleidenschaft. Die leichtgläubige Hoffnung wird ausgelöst von der causa efficiens der natürlichen Veranlagung zur Hitzigkeit. Diese beeinflusst die cogitatio im Gehirn, welche wiederum die vom Herzen ausgehenden Affekte verursacht. Melancholiker sind für die so entstehende übermäßige Hoffnung besonders anfällig, Auftreten der Spielbegierde und fortlaufende Praxis des Spielens werden zudem von der Gewohnheit begünstigt. Voraussetzung für die Entstehung von Alea ist jedoch stets eine körperliche Disposition. Was Pascasius demnach gegenüber den zuvor erwähnten Schriften Schildos oder Gouyns gegen die Spielleidenschaft unterscheidet, ist die Pathologisierung einer von seinen Zeitgenossen primär moralisch bewerteten Praxis. Die Ursachen für die 118 Vgl. ibid., S. 70. 119 Vgl. Arist. Poet. I 4 (1448b4–1448b12). 120 Vgl. Alea (1561), S. 70–71. Siehe hierzu auch die Bemerkung Ciceros in den Tuskulanen, dass ein Acker ohne Pflege nicht fruchtbringend sein könne: »cultura autem animi philosophia est (…).« (Cic. Tusc. disp. II 13). 121 Vgl. Alea (1561), S. 72. 122 Vgl. ibid., S. 72–74.

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Krankheit der Spielleidenschaft liegen für ihn vor allem in komplex begründeten physischen Zusammenhängen. Bleibt nur noch zu unterstreichen, dass Spielen zu geistiger Ruhelosigkeit, Pflichtvergessenheit, Armut, Blasphemie, Diebstahl und letztlich zur Verzweiflung führt, die Habgier der Spielsucht darüber hinaus deutlich entgegengesetzt ist.123 Vielmehr sei sie der Verschwendung nahe, wie zuvor schon ausgeführt und nun anhand von literarischen Beispielen berühmter spielender Kaiser illustriert: Wem sei der verschwenderische Nero, der freigiebige Augustus, der spendenfreudige Domitian sowie der zügelloseste Calligula nicht bekannt?124 Die Probleme der Spielbegierigen liegen nicht in der Habgier, sondern in unbeschwerter Hoffnung begründet. Doch die Philosophie, wie Pascasius uns nun zeigen wird, kann ihnen etwas weitaus Heilsameres als Hoffnung anbieten.

Grundlagen der Therapie: Selbsthilfetipps und zwei Heilmittel Das zweite Buch von Alea markiert einen Wechsel der Perspektive. Hatte Pascasius im ersten Buch noch unter Rückgriff auf galenische Medizin sowie in nicht geringerem Maße auf aristotelische Naturphilosophie und Anthropologie die Spielleidenschaft als Krankheit nur beschrieben, so wird nun die Heilung selbiger angestrebt. Hierzu überrascht er all jene, die sich mühevoll durch die Theorien des ersten Buches gekämpft haben, zunächst mit einer grundsätzlichen Bemerkung. Er wolle, so setzt er an, sich der Behandlung des Geistes widmen, als habe er von Medizin und den eben dargelegten Krankheitsursachen noch nie etwas gehört. Allerdings war die Lektüre des ersten Buches nicht überflüssig, die Angemessenheit dieses Vorgehens ergibt sich aus den Ergebnissen der Diagnose. Da die euelpisia durch Hitzigkeit entstehe, erläutert Pascasius, sei Abkühlung das probate Gegenmittel (denn wir erinnern uns: contraria contrariis remedia sunt). Doch könne die Spielleidenschaft nicht allein durch medizinischen Trunk oder Pillen kuriert werden, da unsere Affekte sich natürlicherweise nach der Beurteilung unseres Denkens richteten.125 Die benötigte Abkühlung erreiche man daher vor allem durch Reden und Denkanstrengung, eben so, wie auch einzelne Gedanken Errötung des Gesichts oder Zittern zur Folge haben. Sogar ein Traum könne bisweilen, was Aristoteles bemerkt habe, einen Samenerguss im Schlaf herbeiführen.126 Ein einziger Satz lasse 123 Vgl. idib., S. 74–84. 124 Vgl. idib., S. 84–88, die Beispiele entnimmt Pascasius allesamt Suetons Kaiserviten, siehe hierzu Suet. Nero 30, Aug. 71, Dom. 21, Cal. 41, die Stellen nach Kronegger-Roth (2000), S. 134–135. 125 Vgl. Alea (1561), S. 89–90. 126 In GA II 4 (739a20–35) spricht Aristoteles nächtliche Orgasmen sowohl Frauen als auch

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furchtsame Menschen oft entflammen und kühne Vorhaben in Angriff nehmen. Es sei demnach offensichtlich, dass unser Denken eine Wirkung auf unseren Körper habe und Abkühlung oder Hitze verursachen könne, da es die Hitze tragenden Lebensgeister im Körper unterschiedlich verteile.127 Solange Irrmeinungen also bestehen, dauert die affektive Störung an. Sobald allerdings die Irrmeinungen durch die Vernunft entfernt werden, verschwinde der Affekt, womit sich auch der körperliche Gesamtzustand verändere.128 Gleich dem Schutz des Körpers sei der Schutz des Geistes dabei zweifach aufzubauen: Erstens als Bewahrung der Gesundheit, was die Ausstattung des Geistes mit angemessenem Wissen bedeute;129 zweitens als Abwehr schädlicher Einflüsse, wofür man erkennen müsse, was die eigene geistige Gesundheit ausmache, so dass Übermaß und Mangel vermieden werden können.130 Die geistige Gesundheit bestehe aber im richtigen Denken: »Animi salus in recta ratione consistit.«131 Und wie die Medizin die richtige Mischung der Säfte im Körper bewahre, erklärt Pascasius mit Anklang an Cicero, so sei die Philosophie für die Aufrechterhaltung eben dieses richtigen Denkens, d. h. für die Weisheit, die sapientia, zuständig. Obgleich wir niemals einen Zustand völliger körperlicher und geistiger Gesundheit erreichen können, bleibe doch die Zielsetzung, sich dem Idealbild eines weisen Menschen zu nähern und dabei die Unwissenheit sowie die Dummheit als größte Übel soweit als möglich zu vermeiden.132 Insofern jedem Affekt eine cogitatio vorausgehe und wir Dinge affektiv erstreben, je nachdem ob wir sie für gut oder schlecht halten, sei dieses weise Denken, welches ratio (Vernunft), studium (Bemühung) und experientia (Erfahrung) als Lehrmeister habe, gegenüber dem natürlichen, von den Temperamenten und der Gewohnheit abhängigen Denken ohne Zweifel zu bevorzugen. Denn je besser das Denken, desto weniger werden wir von den verschiedensten Dingen erregt.133 Zwei Arten des Denkens gebe es folglich, die eine roh, die

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Männern zu, der Traum als Auslöser weiblicher Ejakulationen im Schlaf wird beschrieben in De hist. an. X 6 (637b25–30). Vgl. Alea (1561), S. 90–92; die Annahme, dass Denken Hitze oder Kälte zu induzieren vermag, findet man auch bei Arist. in De mot. 8 (701b35ff.). Vgl. Alea (1561), S. 93–94. Vgl. ibid., S. 95. Vgl. ibid., S. 95–96. Ibid., S. 96. Vgl. Alea (1561), S. 96–97; für die Analogie zwischen Philosophie und Medizin siehe Cic. Tusc. disp. III 6: »Est profecto animi medicina, philosophia; cuius auxilium non ut in corporis morbis petendum est foris, omnibusque opibus viribus, ut nosmet ipsi nobis medere possimus, elaborandum est.« Die Verbindung der Analyse der Affekte zu den Tusc. Disp. wird auch in der Inhaltsangabe deutlich, die dem Werk vorangestellt ist, denn ein Punkt lautet: »Quid affectus, quos perturbationes Cicero, Graeci p\hg, id est morbos animi vocant.« (Alea (1561), S. 13). Die entsprechende Stelle ist Cic. Tusc. disp. III 7. Vgl. Alea (1561), S. 100.

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andere kultiviert, was Pascasius mit einem Zitat aus Galens Ars medica untermauert.134 In entsprechender Passage unterrichtet Galen uns über die verschiedenen Temperamente und ihre Verbindungen zum menschlichen Charakter. Allerdings führt er aus, dass seine Bemerkungen über die Charaktereigenschaften auf Grundlage der Säftemischungen nicht die besten oder schlechtesten Charaktereigenschaften betreffen, »die bei Menschen durch die Philosophie in Erscheinung treten«, sondern diejenigen, »die jedem angeboren und von Natur aus gegeben sind.«135 Fassen wir zusammen: Pascasius begründet mit der Medizin, an welcher Stelle philosophische Therapie wirksam ist. Die Spielleidenschaft kann beseitigt werden, wenn der Hitze, die das Gehirn beeinflusst, durch Denken entgegengewirkt wird.136 In Angriff genommen wird eine kognitive Umstrukturierung des Individuums, die physische Effekte entfalten soll. Legt man die Irrtümer und Denkfehler eines Patienten offen und erfolgt daraufhin eine dauerhafte mentale Umgestaltung, so verändert sich auch seine körperliche Konstitution in Form seiner affektiven Reaktionen. Offenbar ist der Mensch für Pascasius in radikaler Weise ein zum Gebrauch der ratio fähiges Lebewesen. Euripides zitiert er in den ersten Absätzen des zweiten Buches nicht nur als Ornament: Die Vernunft besiegt alles.137 Alea eröffnet demnach eine komplexe Begründung der Notwendigkeit einer Ausrichtung des eigenen Denkens an der ratio. An der Vernunft und den Vorgaben des Therapeuten Pascasius orientiert muss das spielbegierige Individuum seine Gedanken neu strukturieren, weil sie fehlerhaft und falsch sind. Spieler auf ihr Fehlverhalten hinzuweisen sei dabei besonders vonnöten, »da niemand seine 134 Vgl. ibid., S. 102–103. 135 Kronegger Roth (2000), S. 67, Alea (1561), S. 102–103: »Caeterum, quaecunque de moribus, sive nunc, sive quovis alio sermone explicata sunt, ab temperamenti cognitionem, sciendum est, ea non de optimis moribus, aut vitiosis, qui ex Philosophia hominibus adveniunt, sed de insitis unicuique naturalibusque a nobis exposita fuisse.« Die entsprechende Stelle bei Galen ist Ars med. 11 (Kühn I 336–337), vgl. hierzu Kronegger-Roth (2000), S. 139. 136 Pascasius kennt allerdings zwei Arten von Affekten: Die einen haben Anteil an der Vernunft, die anderen widerstreben selbiger – erstere folgen dem Denken, letztere könne man durch den Willen eindämmen. Welcher Art die Spielbegierde allerdings genau ist, erläutert Pascasius nicht. Aufgrund des doppelten Heilmittels, das er in der Folge vorstellt, könnte man meines Erachtens schließen, dass Alea eine Mischung aus beiden darstellt, vgl. Alea (1561), S. 130–133. 137 Vgl. ibid., S. 94, vgl. hierzu Eurip. Ph. 516; tatsächlich erläutert Pascasius später, wie wir leben würden, wäre unsere Natur nicht verdorben: »In natura integra et perfecta, hoc est, mentis et corporis absoluta sanitate, nulla proculdubio confusio, nulla perturbatio esset affectuum cum ratione: sed mens nostra, quae Dei est imago, Deo tum plane simillima, rerum omnium naturam perspiceret: ac nihil nisi altum et perfectum cogitans, nil nisi verum in clarissima luce contemplans omnia convenienter vellet: nullaque contra rationem naturalis potentiae motus aut facultas esset, sed libere maxima in concordia et pace homo viveret.« (Alea (1561), S. 131).

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eigenen Fehler sieht, und sich jeder selbst schmeichelt (…).«138 Diese Betonung des Selbstbetrugs bei affektivem Fehlverhalten dürfte Pascasius aus Galens Traktat von der Behandlung der Affekte bekannt gewesen sein, in dem der Gedanke einer Parrhesia des Therapeuten entwickelt wird. Galen bemerkt hier, dass die Heilung von affektiven Störungen aufgrund unserer Selbstliebe der offenen und fortwährenden Kritik eines moralisch tadellosen Gegenübers bedürfe.139 Die Rolle dieses Parrhesiasten übernimmt nun Pascasius und erklärt, dass Spieler zweifach vom richtigen Denken abweichen. Einerseits hegen sie ein dummes Selbstvertrauen und Zuversicht in Dinge, welche doch eigentlich nur vom Glück abhängen, was also der hitzigen euelpisia entspricht. Zweitens sind sie der Meinung, sich das Hab und Gut eines Anderen ohne schlechtes Gewissen aneignen zu dürfen.140 Aus der Verwirrung heraus führt nur die Beseitigung beider Störungen: Quod quo facilius consequi possint, duabus his animi pravitatibus, totidem veluti remediorum formulas opponamus: quarum alteram Stoicorum severissima disciplina et rationibus deprompta, altera etiam ex intima mediaque Philosophia sumpta est. Atque haec quidem est ista: Qua in re sors proterua dominatur, avida credulaque spe commodum proponere sibi, atque animo suscipere, maxima est stulticia: facultatem vero et bonorum suorum periculo consectari, insania. Altera: Hominem hominis incommodo suum augere commodum velle, magis est contra naturam, quam mors, quam paupertas, quam dolor, quam caeteraquae possunt aut corporis accidere, aut rebus externis.141 (Damit man dies möglichst einfach durchführen kann, möchte ich diesen zwei Verkehrtheiten der Seele gleichsam ebensoviele Richtlinien der Heilmittel gegenüber stellen, von denen die eine der strengsten philosophischen Schule der Stoiker entnommen wurde, und auch die andere ihre Wurzeln ganz tief in der Philosophie hat. Und zwar lautet die eine folgendermaßen: Es zeugt von größter Torheit, sich in einer Angelegenheit, in der der freche Zufall herrscht, in gieriger und leichtgläubiger Hoffnung einen Vorteil vorzustellen und damit zu rechnen; dabei aber noch Vermögen und 138 Kronegger-Roth (2000), S. 68, Alea (1561), S. 104.: »(…) ac nema sua vitia cernat, sibique adulator sit quisque (…).« 139 Vgl. Galen, De an. aff. dign. et cur. 3 (Kühn V 8–9) über Selbstliebe als Hindernis zur Heilung von Affekten und die Notwendigkeit eines heilenden Korrektors, der die Parrhesia ausübt, indem er den Patienten offen mit seinen Fehlern konfrontiert. Eine moderne Ausgabe, zusammengefasst mit dem Traktat über die Fehler des Geistes, liegt von P. N. Singer in englischer Übersetzung vor als Galen: Selected Works. Oxford/New York: Oxford University Press, 1997, S. 100–149, zugrunde lege ich für das Folgende auch die lateinische Version Galenus: Libellus de cognoscendis curandisque animi morbis (…). In: Galenus (1550), Opera, Band 2, fol. 50r–55v, den Hinweis auf den Text und medizinhistorisches Hintergrundwissen hierzu verdanke ich Leo Maier. 140 Vgl. Alea (1561), S. 97–98. 141 Ibid., S. 98–99; Übersetzung Kronegger-Roth (2000), S. 65.

Grundlagen der Therapie: Selbsthilfetipps und zwei Heilmittel

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Mittel zu gefährden, ist Wahnsinn. Und die andere: Daß ein Mensch zum Nachteil eines anderen seinen Vorteil vergrößern will, ist mehr gegen die Natur als Tod, Armut, Schmerz und die übrigen Schädigungen, die dem Körper oder den äußeren Werten zustoßen können.)

Beide Denkfehler werden demnach aufgelöst durch die eindringliche, an die ratio appellierende Korrektur des Therapeuten. Die Dummheit des Vertrauens auf die Fortuna und die Negation der menschlichen Gemeinschaft durch rücksichtsloses Streben nach Selbstbereicherung widersprechen der Vernunft. Sehen wir uns zunächst letzteren Heilsatz genauer an: Zur seiner Verdeutlichung greift Pascasius auf Cicero zurück und referiert über vier Seiten lang aus De officiis, wo ausführlich begründet wird, weshalb der Gewinn eines Vorteils aus dem Schaden eines anderen gegen die Natur verstoße.142 Egoistisches Streben ohne Rücksicht auf die Mitmenschen, heißt es hier, habe erhebliche Konsequenzen: »(…) dann wird notwendigerweise auch die Gemeinschaft der Menschen, die am meisten der Natur gemäß ist, gesprengt.«143 Da wir gewissermaßen alle Glieder eines einzigen Körpers seien, wie Cicero passenderweise mit einer Medizinmetapher versinnbildlicht, müsse der Nutzen von Einzelpersonen und der Allgemeinheit stets derselbe sein.144 Dies sind klassische Argumente gegen die Habgier : Auch Poggio Bracciolini griff in seiner berühmten Schrift De avaritia schon auf Cicero zurück, um als Hauptübel der Habgier die Gefährdung menschlicher Gemeinschaft zu identifizieren. Insofern der Habgierige sich nur um sich selbst kümmere und nicht den allgemeinen Nutzen im Sinn habe, sondern Vielen schade, widerspreche sein Verhalten der Natur, welche uns eigentlich die Beachtung des Allgemeinwohls vorschreibe.145 Wenn die causa finalis der Spielleidenschaft ein allgemeines Streben nach ausschweifenden Begierden ausmacht, wird mit dem eindringlichen Appell an unsere soziale Natur also der spezifisch ludische Modus dieses Wohlstandsstrebens als inakzeptabel präsentiert. Der spielerische Gewinn, stets verbunden mit dem Schaden eines anderen, widerspreche jeglichen Grundlagen menschlicher Gemeinschaft. Dass allerdings bezweifelt werden kann, ob diese Ermahnungen allein Wirksamkeit entfalten, ist auch Pascasius bewusst. Um die Lehrsätze bei den Patienten zu verfestigen, greift er noch konkreter als zuvor angedeutet zur galenischen Affekttheorie. 142 Vgl. Alea, S. 111–114, vgl. Cic. De offic. III 21–49, hierzu Kronegger-Roth (2000), S. 141–142. 143 Kronegger Roth (2000), S. 73, Alea (1561), S. 111: »(…) disrumpi necesse est eam quem maxime est secundum naturam humani generis societatem.« Dies entspricht Cic. De offic. III 21. 144 Vgl. Cic. De offic. III 22. 145 Vgl. Bracciolini, Poggio: De avaritia (Dialogus contra Avaritiam). Herausgegeben, ediert und übersetzt von Adriano Nardi. Livorno: Belforte Editore, 1994, S. 71–72, vgl. auch Cic. De offic. I 7.

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Pascasius Iustus gegen die Unersättlichkeit: Spiel als Wahrheit

In Galens Traktat zur Behandlung der Affekte wird empfohlen, sich schon am Morgen auf die Herrschaft der Vernunft über dieselben zu konzentrieren. Überhaupt müsse der Patient den ganzen Tag den Wunsch präsent halten, sich unter die Aufrechten zu zählen. In Kontrast hierzu solle er sich die seelische Hässlichkeit etwa der Zornigen vorstellen.146 Um schließlich zu verhindern, dass ein Affekt zu einer nicht mehr behandelbaren Größe anwächst, sei generell Unersättlichkeit zu vermeiden: Eben diese sei die Grundlage eines jeden Kummers, und als Liebe zu Reichtum, zu Ehre, zu Macht und zu Wettbewerb der erbärmlichste Affekt unserer Seele.147 Entsprechend rät auch Pascasius, beim Aufflammen von Gier Abstand zu nehmen und sich in Enthaltsamkeit, continentia, zu üben. Die gegebenen Heilsprüche habe man sich morgens und abends zu vergegenwärtigen. Das regelmäßige vernünftige Bedenken der rational wirksamen Gegenmittel einhergehend mit der Unterdrückung auftretender Begierde führe letztlich zu deren Beseitigung.148 Bei diesen Hinweisen deutet sich schon an, was ich von einer näheren Betrachtung des ersten Heilsatzes ausgehend nun detaillierter aufzeigen will: Alea ist für Pascasius zugleich eine Möglichkeit, Bemerkungen grundsätzlicher Natur zum Umgang mit menschlichen Begierden auf Basis stoischer und galenischer Therapie zu machen.

Erweiterung der Therapie: Die Stoa und Galen Vom ersten Heilssatz hatte Pascasius behauptet, er entstamme stoischer Philosophie. Aus Senecas Epistulae morales an den jungen Lucilius zitiert er schon gegen Ende des Vorworts an die Leser149 : dessen stoische Positionen sind ihm also präsent.150 Sehen wir, ob sich Ähnlichkeiten zeigen. Pascasius spricht radikal der ratio die Möglichkeit zur Therapie unserer Affekte zu, an ihr habe man sich auszurichten. Er betont: In ihrer Unachtsamkeit für Gewöhnliches und Angeborenes folge die philosophisch gebildete Denkweise Gott, da sie überzeugt sei, dass ihr ganzes Gut in ihr selbst liege.151 Diese quasi religiöse Huldigung der ratio liegt nicht weit entfernt von Senecas Ratschlag an Lucilius: »Nahe ist dir der Gott, mit dir ist er, in dir ist er. So sage ich, Lucilius: Ein heiliger Geist wohnt in Vgl. Galen, De an. aff. dign. et cur. 5 (Kühn V 24–27). Vgl. ibid. 9 (Kühn V 45–52). Vgl. Alea (1561), S. 121–124. Vgl. idib., S. 24: »Nunquam satis dicitur, nunquam quod discitur satis.« Dies entspricht Seneca Ep. 27, 9. 150 Zu stoischer Emotionstherapie allg. vgl. Nussbaum, Martha: The Therapy of Desire. Theory and Practice in Hellenistic Ethics. (=Martin Classical Lectures New Series Vol. 2) Princeton: Princeton University Press, 1994, S. 316–401. 151 Vgl. Alea (1561), S. 103.

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uns, unserer schlechten und guten Taten Beobachter und Wächter.«152 Folgt man sodann dem Gott in sich, so ist es gar möglich, die Begierden gänzlich auszuradieren, wie Pascasius auch energisch fordert: »Man muß nämlich alle Begierden ausrotten. Und zwar so, daß nicht einmal mehr irgendeine Wurzel in der Seele zurückbleibt.«153 Diese Art der Therapie ist nach Seneca aber die typisch stoische Methode: »Ist es besser, beherrschte Leidenschaften zu haben oder gar keine? Das hat man oft gefragt: Wir Stoiker vertreiben sie, die Peripatetiker mäßigen sie.«154 Elemente dieser stoischen Haltung lagen Pascasius auch in der schon angesprochenen galenischen Diskussion stoischer Affekttheorie im Zuge der Darstellung der Lehren Platons und Hippokrates’ vor – so zitiert Galen hierbei den Stoiker Poseidonios, der behauptet habe, dass alle Leidenschaften und das Unglück aus mangelnder Beachtung der Gottheit in uns rührten, welche der das Universum beherrschenden Gottheit entspreche. Grundlage des Glücks sei, sich nicht von den Leidenschaften leiten zu lassen.155 Die stoische Haltung zum Glück formuliert Seneca entsprechend eindeutig: »Was das Schicksal nicht gegeben hat, entreißt es nicht.«156 Daher suche der Weise die beatitudo in sich selbst, er findet sie in der sittlichen Vollkommenheit der Seele, der Erlangung von Freude durch Verachtung äußerlicher Lüste und der Gleichgültigkeit gegenüber der Fortuna.157 Gerade die Philosophie werde uns lehren, so Seneca, Gott zu folgen und das Schicksal anzunehmen.158 Und folglich betont auch Pascasius, dass nur der sorglos und zufrieden leben könne, der zufrieden mit seinem Schicksal lebt und Unersättlichkeit vermeidet.159 Angesichts dieser über das bloße Glücksspiel hinausweisenden Bemerkungen drängt sich der Verdacht auf, dass Pascasius das Spiel doch nur als Modell dienen könnte, um eine viel grundlegendere Haltung zum Schicksal und den Affekten zu demonstrieren. So schließt Alea auch mit einer allegorischen Auslegung der Geschichte von Dido und Aeneas, die diesbezügliche Verhaltensweisen bei152 Sen. Ep. 41, 2: »Prope est a te, deus, tecum est, intus est. Ita dico, Lucili: sacer intra nos spiritus sedet, malorum bonorumque nostrorum observatur et custos (…).« Die deutsche Übersetzung von Manfred Rosenbach in Seneca: Philosophische Schriften. 5 Bände. Darmstadt: WBG, 1995, Band 3, S. 325. 153 Kronegger-Roth (2000), S. 82, Alea (1561), S. 124: »Sunt igitur omnes cupiditates extirpandae: idque usque eo, ut ne radicem quidem ullam in animis relinquant amplius.« 154 Sen. Ep. 116, 1: »Utrum satius sit modicos habere affectus an nullos, saepe quaesitum est: nostri illos expellunt, Peripatetici temperant.« Übersetzung Rosenbach in Seneca (1995), Philosophische Schriften, Band 4, S. 737. 155 Vgl. Galen PHP V 6 (Kühn V 448–449). 156 Sen. Ep. 59, 18: »Quod non dedit fortuna non eripit.« 157 Vgl. Seneca, De vita beata, 4, 2–5; vgl. auch Seneca, De constantia sapientis 5, 4–5: »Sapiens autem nihil perdere potest: omnia in se reposuit, nihil fortunae credidit, bona sua in solido habet, contentus virtute, quae fortuitis non indiget ideoque nec augeri nec minui potest.« 158 Vgl. Sen. Ep. 16, 5. 159 Vgl. Alea (1561), S. 126.

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Pascasius Iustus gegen die Unersättlichkeit: Spiel als Wahrheit

spielhaft illustriert.160 An demjenigen Punkt der Erzählung, an dem der Götterbote Merkur von Aeneas verlangt, Dido zu verlassen, wird Didos Verhalten als wankelmütig-affektiv, Aeneas Entscheidung jedoch als rational, eben Gott folgend interpretiert: Maxime autem omnes amore saevo, et dominationis cupiditate, atque alea saucii, magno labefactantur dolore, magnaque veluti vento rum vi et flatu quatiuntur. Hic igitur omnes exemplo Aeneae Vergiliani, etiam adversis maxime ventis et temptastibus, quo Deus et ratio vocat, navigare debemus: neque turpiter ullis adversitatibus aut fluctibus, hoc est cupiditatibus succumbere. (…) Quae [Dido] ut impatientia amoris victa, plane voluntate atque animo foemina succumbit: ita ille [Aeneas] contra praestanti fortitudine vir, 4petai he_, id est, Deum sequitur.161 (Vorwiegend werden allerdings alle leidenschaftlich liebenden, herrschgierigen und spielsüchtigen Menschen von dem großen Schmerz wankend gemacht und wie von der enormen Gewalt eines Sturmes erschüttert. Daher müssen wir alle mit Vergils Aeneas als Vorbild, sogar bei den schlimmsten Stürmen und Unwettern, dorthin segeln, wohin Gott und die Vernunft [uns] rufen, und dürfen keine Widerwärtigkeiten oder Strömungen, das heißt, keinen Begierden, in schändlicher Weise nachgeben […]. Wie sie [=Dido], von ihrer Ungeduld in der Liebe besiegt, ihr [=der Liebe] als Frau in Willen und Seele völlig unterliegt, so folgt er dagegen, als Mann von vortrefflicher Tapferkeit, Gott, das heißt hepetai theo.)

Die Anweisung, Gott zu folgen, welche Pascasius auch nochmals mit dem letzten Satz des Buches an seine LeserInnen richtet, deutet mit großer Wahrscheinlichkeit auf eine viel breitere Diskussion der Fortuna aus der Consolatio Philosophiae des Boethius.162 Der vom Unglück geplagte spätantike Philosoph beteuert hierin nämlich der ihm erschienenen Philosophia, dass er eben diesen pythagoreischen Leitspruch – gleichfalls auf Griechisch zitiert – stets beachtet habe.163 Die Fragen des all seiner gesellschaftlichen und materiellen Vorteile, seiner Bibliothek und seiner Heimat beraubten Boethius und gleichermaßen seine Anklage gelten in der Folge der wechselhaften Laune der Fortuna: »Warum wechselt schlüpfrig das Glück uns immer die Lose? Es trifft Unschuld’ge oft die

160 Aeneas, aus Troja fliehend, strandet am Ufer der karthagischen Königin Dido, die in heftiger Liebesleidenschaft zu ihm entbrennt, obwohl sie ihrem verstorbenen Gatten Sychaeus die Treue geschworen hatte. Die beiden beginnen ein Verhältnis, doch als Aeneas, vom Götterboten Merkur zur Weiterfahrt aufgefordert, Dido verlässt und abreist, begeht diese Suizid, vgl. Verg. Aen. IV. 161 Alea (1561), S. 133–134; Übersetzung Kronegger-Roth (2000), S. 88–89. 162 Zu anderen möglichen Quellen vgl. Kronegger-Roth (2000), S. 94, etwa Sen. Ep. 16, 5 (wo der Spruch allerdings nicht auf Griechisch zitiert wird), im Kontext einer Diskussion der Fortuna und angemessener Verhaltensweisen ihr gegenüber im Spiel (siehe das folgende Zitat mit der Fußnote 165) halte ich allerdings Boethius für die naheliegendere Referenz. 163 Vgl. Boeth. Cons. Ip4, 38.

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Strafe, dem Frevler gebührend.«164 Diese allerdings gibt sich wenig einsichtig und verteidigt ihr Recht auf Willkür : Haec nostra vis est, hunc continuum ludus ludimus: rotam volubili orbe versamus, infima summis, summa infimis mutare gaudemus. Ascende, si placet, sed ea lege, ne, uti cum ludicri mei ratio poscet, descendere iniuriam putes.165 (Dies ist unsere Macht, dies ununterbrochene Spiel spielen wir, wir drehen das Rad in kreisendem Schwunge, wir freuen uns, das Tiefste mit dem Höchsten, das Höchste mit dem Tiefsten zu tauschen. Steige aufwärts, wenn es dir gefällt, aber unter der Bedingung, dass du es nicht für ein Unrecht hältst, herabzusteigen, wenn es die Regel meines Spiels fordert.)

Legen wir die boethianische Charakterisierung der Fortuna zugrunde, dann kommt in der Theorie der Spielbegierde auch eine generelle Haltung dem unvorhersehbaren Spiel des Schicksals gegenüber zum Ausdruck. Sich diesem Spiel zu unterwerfen würde bedeuten, sich gänzlich dem Zufall zu ergeben: Pascasius betont, dass dieser blind sei, ungerecht, böswillig und unsicher, und dass diese Bezeichnungen ebenso auf das Spiel zutreffen.166 Explizit verurteilt er das Würfelspiel hinsichtlich einer allgemeinen Haltung zur Fortuna: »Und für den, der sein Heil auf den Zufall setzt, ist freilich keine Sache von Bestand. Schnell schlägt für den, der sich und das Seine dem Zufall überlässt, alles von Freude und Vergnügen in Trauer und Tränen um.«167 Wie wir im Spiel unsere Affekte zähmen und eine affektive Erwartungshaltung an die Fortuna vermeiden müssen, so haben wir auch im Allgemeinen mit unseren Affekten zu verfahren. Pascasius beginnt in den letzten Abschnitten seines Werkes damit, die weitere Perspektive einer generellen Behandlung von Affekten zu eröffnen und eine Methode ihrer Ausrottung zu skizzieren. Drei Regeln stellt er auf, anhand derer sich vor allem junge Menschen all ihrer Affekte entledigen und die Reinigung ihres Denkens erzielen können. Erstens sollen sie pflichtgemäß handeln. Zweitens fordert er mit Epikur, dass sie sich Lust und Freiheit von Schmerz wünschen sollen, erreicht durch Mäßigung und sittlich einwandfreies Handeln.168 Drittens sei die unersättliche Begierde, die insatiabilis 164 Boeth. Cons. Im5, 28–30: »Nam cur tantas lubrica versat Fortuna vices? Premit insontes Debita sceleri noxia poena.« Deutsche Übersetzung nach Eberhard Gothein in Boethius: Trost der Philosophie. Zürich: Artemis Verlag, 1949, S. 63. 165 Boethius Cons. IIp2, 9–10, Übersetzung nach Gothein (1949), Trost, S. 83. 166 Vgl. Alea (1561), S. 108. 167 Kronegger-Roth (2000), S. 77, Alea (1561), S. 118 (hier wird auch deutlich, dass Pascasius unter fortuna und casus anscheinend dasselbe versteht): »Et quidem nulla illi res constans aut stabilis esse potest, qui ullum sibi in casu praesidium collocat. Cito illi, qui se suaque fortunae committit, omnia ex laeticia et voluptate ad luctum et lachrymas redeunt.« 168 Vgl. Alea (1561), S. 125–126. Die zweite Regel begründet Pascasius mit einer ziemlich einfallsreichen Gleichsetzung der Lehren von Epikur und Jesus Christus, die seinen Ek-

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Pascasius Iustus gegen die Unersättlichkeit: Spiel als Wahrheit

cupiditas zu vermeiden, denn das Schicksal müsse angenommen werden. Anstatt sich etwa um den Erwerb von stetig mehr Geld zu sorgen, solle man lieber ein tugendhaftes Leben anstreben: »Mit Reichtum ausgestattet zu sein, ist dagegen ein Geschenk des Schicksals und nicht der Tugend. Und das Schicksal macht meistens Sklaven und die schlechtesten Menschen um vieles reicher als uns.«169 Die letzte Passage ist von besonderem Interesse, denn hierbei handelt es sich um ein nicht gekennzeichnetes, leicht modifiziertes Galen-Zitat aus dessen schon erwähnter Schrift über die Affekte.170 Die Filiation der Empfehlungen des Pascasius von diesem galenischen Text verdeutlicht an gleicher Stelle auch eine weitere nicht gekennzeichnete Referenz, in der Pascasius nun von der Unersättlichkeit in griechischem Vokabular, also von der aplesia spricht. Zum besseren Vergleich stelle ich links die Version von Pascasius der lateinischen Übersetzung von Galens Traktat durch Bernardino Donato auf der rechten Seite gegenüber : Si igitur haec comperta habebimus, et in his nos ipsos assidue exercebimus, sine omni molestia vivemus. At quo pacto exercebimus? nempe si cognitum habuerimus, utrum recte sit dictum, insatiabilitatem vitium esse animi pessimum. Fundamentum enim quodam hoc est omnium cupiditatum, pecuniae, gloriae, honorum, (Wenn wir also oft Gedanken dieser Art principatus, contentionis.172 fassen und bereits sicher wissen, daß es sich bei der Unersättlichkeit um das schlimmste Laster der Seele handelt und sie den Ursprung aller Begierden nach Geld, Ruhm, Ehren, Herrschaft und Wettkampf darstellt, dann werden wir zweifellos in der Lage sein, das ganze Leben lang ohne Mühsal zu verbringen.) Si igitur huiusmodi cogitationes saepe suscipiemus, iam eplorantum habentes, a§kgrial vitium animi pessimus esse, fontemque omnium cupiditatum pecuniae, gloriae, honorum, principatus et contentionis: haud dubie omne tempus aetatis sine molestia degere poterimus.171

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lektizismus verdeutlicht: »Epicurus (…) dicit: (…) non potest iucunde nisi honeste et recte vivi. (…) Neque solum de eo docti et sapientes philosophi conveniunt, sed ipse etiam hoc Christus docuit: Iugum enim, inquit, meum suave est et onus meum leve.« Die entsprechenden Stellen sind Laertius (2008), Leben, X 140 (HL V) sowie Mt. 11,30. Kronegger-Roth (2000), S. 84, Alea (1561), S. 126: »Contra divitiis prestare, non virtutis, sed fortunae munus est: que plerumque servos, hominesque improbissimos, longe ditiores nobis facit.« Vgl. die lateinische Übersetzung in der Ausgabe Galenus (1550), Opera, Band 2, fol. 55r (cap. 9 = Kühn V 50): »Divitiis vero praestare non virtutis, sed fortunae est munus: quae et servos et liberos facit plerunque nobis qui generoli et nobiles appelamur, ditiores.« Alea (1561), S. 128–129; Übersetzung Kronegger-Roth (2000), S. 85. Galen (1550), Opera, Band 2, fol. 55r (cap. 9 = Kühn V 51).

In ludo veritas: Die Wahrheit über die Spanier im Spiel

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Wie zu erkennen ist, ähnelt die Stelle aus Alea deutlich Galens Identifikation der Unersättlichkeit als Wurzel aller schädlichen Verlangen. Was Pascasius in seiner Vorrede an die Leser nur kurz angedeutet hatte, macht er hier implizit klar : Seine Therapie der Spielleidenschaft folgt einem größeren Programm galenischer Affekttherapie.173 Grundlage seiner Betrachtung der Begierde nach Glücksspiel ist die Überzeugung, dass die Unersättlichkeit für mannigfaltige concupiscible Störungen verantwortlich sei. Wie Galen bezeichnet er die Unersättlichkeit gar als »(…) die einzige Ursache für allen Kummer, für allen Gram und aller Traurigkeit.«174 Natürlich vermengt er dieses grundsätzliche Programm in der Bearbeitung der Spielleidenschaft mit epikureischer Philosophie, aristotelischen Theorien und stoischer Affekttherapie. Doch auch Galen hatte in seiner Schrift über die Affekte beteuert, keiner Sekte jemals ausschließlich gefolgt zu sein.175 Die Ausweitung der Therapie von der Analyse einer spezifischen cupiditas, nämlich der ludendi in pecuniam cupiditas, auf die Behandlung unersättlicher cupiditates überhaupt am Ende des Werkes fügt sich daher in ein galenisches Koordinatensystem, in dem auch eklektizistisch gearbeitet werden darf. Ziel ist letztlich die Beseitigung aller Begierden, exemplarisch vorgeführt am Glücksspiel als Modell unserer unbegründeten affektiven Hoffnungen der Fortuna gegenüber. Wenn daher das Spielen als Modell fungiert, um eine galenische Affekttherapie zu präsentieren, sollten wir Pascasius’ Blick auf Spiele re-evaluieren. Meiner Ansicht nach verrät er uns selbst, weshalb Spiele eine bevorzugte Gelegenheit sind, um sich der Behandlung von affektiven Störungen zu widmen: Sie bringen die Charakteranlagen von Menschen notwendigerweise ans Licht.

In ludo veritas: Die Wahrheit über die Spanier im Spiel Fassen wir zunächst nochmals zusammen: Als bekennender Schüler Galens hat Pascasius Iustus sich die Therapie der Affekte im Allgemeinen vorgenommen. Grundsätzlich basieren auch für ihn alle affektiven Störungen auf der Unersättlichkeit. Die Begierde zu spielen ist dabei nur ein Teil aller affektiven Störungen. Sie hat ihre Grundlage, wie in der Diagnose beschrieben, im Streben nach ausschweifenden Begierden. Unersättlich wird dieses Streben durch ein Ursachenbündel, wobei als auslösende Ursachen die zur euelpisia führende 173 Insofern lässt sich Toon van Houdts Vermutung über Pascasius’ therapeutische Strategien nun bestätigen, vgl. van Houdt (2008), Healing Words, S. 15: »Although Pascasius could have found them in several ancient (especially, but not exclusively Stoic) writings, he seems to have been inspired by Galen’s work as well.« 174 Kronegger-Roth (2000), S. 84, Alea (1561), S. 127: »(…) una omnis aegritudinis, omnis moeroris atque tristiciae est causa.« 175 Vgl. Galen De an. aff. dign. et cur. 8 (Kühn V 41–42).

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Pascasius Iustus gegen die Unersättlichkeit: Spiel als Wahrheit

Hitzigkeit und unterstützend die Gewohnheit anzusehen sind. Die hieraus entstehende übermäßige Hoffnung, die moralische Bedenken ignoriert, lässt Spieler in eine affektive Abhängigkeit von Glücksspielen verfallen. Bevor das Glücksspiel jedoch als Modell einer falschen Haltung dem Schicksal gegenüber herangezogen wird, erklärt Pascasius ausführlicher, weshalb beim Würfeln die affektiven Störungen des Einzelnen erkannt werden können. Hierfür müssen wir nochmals zur Diagnose zurückkehren. Pascasius hatte behauptet, dass die Spielbegierde gleich der Trunkenheit eine hitzige Disposition verlange, und eine Verbindung zur Melancholie gezogen. Anschließend widmet er sich dem Verhältnis von Spiel und Wein noch genauer, beginnend mit einem Verweis auf Ovids Ars amatoria: Quae quidem omnia, ne tanquam per digressionem tantum a me dicta videantur, etiam illud probant verissimum esse, quod Ovid etiam dixit, ludum quale sit hominis ingenium et natura clarissime demonstrare.176 (All diese Ausführungen sind nicht etwa nur als Abweichung [vom eigentlichen Thema] aufzufassen, sondern sie beweisen, daß auch das, was Ovid gesagt hat, sehr wahr ist: Das Spiel, so wie es ist, zeigt eindeutig Anlage und Natur eines Menschen.)

Kurz zuvor hatte er über den edlen Charakter seiner Landsleute, der Belgier, gesprochen, die nicht sehr zum Spielen geeignet seien, da sie sich zu schnell erregen und von Leidenschaften zu sehr aufgewühlt werden. Die ludischen Verhaltensweisen der Belgier beweisen also die Ansicht Ovids, wonach eine besondere Eigenschaft des Spiels die Offenbarung der wahren Natur eines Menschen sei. Entsprechende Stelle in der Ars amatoria empfiehlt jungen Damen zwar grundlegende Kenntnisse verschiedener Spiele wie des Würfelns, rät aber entschieden zur Vorsicht, da lasterhafte Charakteranlagen im Spiel oft aufgedeckt würden.177 Es ist eben diese besondere Wirkung, die das Spiel für Pascasius mit dem Wein teilt: Nam quod omnes dicunt inde adeo provenire, quod simplices ac fideles homines a fallacibus et eruditis artificio simulationis, constantes a levibus, temperantes ac moderatos a libidinosis et profusis facile discernit, verum id quidem est: sed id qua ratione aut causa fiat, nemo docet. Ego vero, aleam id etiam eandem facultate qua vinum, praestare iudico.«178 (Denn was alle sagen, daß gerade dabei [=beim Spiel] das zu Tage tritt, was ehrliche und aufrichtige Menschen von Betrügern und solchen, die sich auf die Kunst der Heuchelei verlegt haben, leicht unterscheidet, beständige von unzuverlässigen, und gemäßigte und besonnene von gierigen und verschwenderischen, das ist sicherlich 176 Alea (1561), S. 57; Übersetzung Kronegger-Roth (2000), S. 38. 177 Vgl. Ov., Ars amat. III, 8, 353–384. 178 Alea (1561), S. 57; Übersetzung Kronegger-Roth (2000), S. 38.

In ludo veritas: Die Wahrheit über die Spanier im Spiel

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wahr. Aber wie und warum sich das so verhält, erklärt keiner. Ich glaube allerdings, daß das Spiel auch dies auf demselben Wege leistet wie der Wein.)

Den Wein wiederum hatte Pascasius, Aristoteles folgend, auch mit der Melancholie verglichen: Ideoque recte illam [=die Melancholie] vino, quod velut aestu vibrare ac fluctuare videtur et maxime etiam varium est, comparat. Nam et illud calore ac sui motus vehementia maxime natura hominis excitat atque explicat. Quae si per se optima est, tum vero velut afflatu percita praecipue insignis et excellens evadit.179 (Daher vergleicht er sie [=die Melancholie] richtigerweise mit Wein, der wie in einem Hitzewallen zu funkeln und zu wogen scheint, und auch sehr verschiedenartig ist. Denn durch seine Hitze und große Bewegung erregt auch er die Natur eines Menschen ganz besonders und legt sie offen. Wenn diese von sich aus die beste ist, dann stellt sie sich, wie durch ein Anhauchen erregt, als ganz besonders hervorragend und ausgezeichnet dar.)

Wein und Melancholie sorgen dafür, dass durch Hitzeaufwallung die verschiedenen Naturen der Menschen offengelegt werden. Denn der Wein passe sich an den Charakter des jeweiligen Menschen an, zitiert Pascasius den Tragiker Chaeremon, vermutlich aus dem Deipnosophistai des Athenaios. Hier allerdings ist das Zitat, welches Theophrast in einem Buch über den Eros verwendet habe, noch länger und Chaeremon fährt fort, die Wirkung des Weines mit dem Eros zu vergleichen.180 Den Amor hatte Pascasius schon am Anfang seines Buches (zusammen mit der Spielleidenschaft) als schlimmstes Übel der Menschheit bezeichnet. Beim ihm gleichenden Wein nun werden durch die entstehende Hitze die Körpersäfte zum Strömen angeregt und zeigen ihre zuvor vielleicht noch verborgenen Kräfte. Entsprechend ihrer Veranlagung werden Betrunkene folglich höchst aktiv, malen, singen oder dichten sogar.181 Ebenso verhält es sich bei den Spielern: Eadem ratione Alea, dum mirifice homines spe, metu, gaudio, dolore, maximis contrariis sensibus varie exagitat, concitat et accendit, commoto sanguine, copiosos pro natura eius spiritus suscitat: qui tum magno motu et pertubatione necessario sese indicant, naturamque et ingenium ostendunt.182 (Während [nun] das Spiel die Menschen auf eindrucksvolle Weise durch Hoffnung, Furcht, Freude, Schmerz und sehr starke, unterschiedliche Empfindungen verschiedenartig antreibt, aufstachelt und anheizt, erregt es auf dieselbe Weise [wie Wein] durch die Aufwallung des Blutes je nach seiner [=des Blutes] Natur die reichhaltigen 179 180 181 182

Alea (1561), S. 48, Übersetzung Kronegger-Roth (2000), S. 33. Vgl. Alea (1561), S. 57, sowie Athen. Deipn. XIII 14. Vgl. Alea (1561), S. 57–58. Idib., S. 58; Übersetzung Kronegger-Roth (2000), S. 39.

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Pascasius Iustus gegen die Unersättlichkeit: Spiel als Wahrheit

Spiritus, die sich dann durch die große Bewegung und Leidenschaft unvermeidlich zeigen und die Natur und Anlage [des Spielers] offenbaren.)

Durch ein Wechselbad der Affekte, und zwar mirifice, sorgt das Spiel für die hitzige Bewegung des Blutes und offenbart in der Bewegung der spiritus die natürlichen Anlagen. Denn Wärme und Kälte decken verborgene Charakterzüge auf, erklärt Pascasius, weswegen Spieler und Betrunkene auch ausgesprochen unterschiedliche Verhaltensweisen zeigen: Die einen toben und schreien im Spiel, während die anderen ihr Los still ertragen.183 Entsprechend können wir schlussfolgern, dass sowohl der Wein als auch das Spiel nach Pascasius dabei helfen, verborgene Charakteranlagen zu entdecken. Spielen führt zu Wahrheiten über Menschen, in ihm zerfallen durch die wundersame Vielfalt der aufwallenden Affekte alle Maskeraden. Diese Einschätzung begegnete uns schon in den pädagogischen Schriften von Erasmus und Vives, wo auf Grundlage Quintilians empfohlen wurde, das Spielverhalten der Kinder zu beobachten, um deren Charakteranlagen zu erkennen.184 Jedoch war diese Charakteroffenbarung nicht medizinisch begründet und nur beiläufig als gewinnbringender Effekt von Spielen genannt. Pascasius bietet demgegenüber eine zusätzliche physiologische Erklärung dieser speziellen Funktion von Spielen. Seiner Beschreibung nach ist Spielen eine Technik, um mittels der Erzeugung von Wärme und Kälte in den Körpern der Spielenden eine Offenlegung ihrer Charakteranlagen zu induzieren. Gleich dem Wein produzieren die ludischen Affekte einen physischen Effekt, der wiederum die noch verborgen liegenden affektiven Charakterstrukturen des Spielers entblößt. Und was zeigt sich nun speziell über Spielbegierige? Wie wir gesehen haben, wäre erstens zu nennen ihre aufgrund von Hitzigkeit bestehende Selbstüberschätzung, die zur Torheit einer falschen Erwartung von Begünstigung durch das Glück führt. Zweitens aber zeigt sich auch eine auf Gewohnheit 183 Vgl. Alea (1561), S. 58. 184 In Verbindung mit Wein könnte sie uns ebenso zu Platon führen, der im ersten Buch seiner Nomoi empfiehlt, den Nachwuchs der Polis bei Symposien nach Weingenuss zu beobachten, um die jeweiligen Charaktere zu erkennen, vgl. Plat. Nom. 649d–650b. Olaus Magnus, ein nach Italien emigrierter schwedischer Katholik, verband diese Praxis der alkoholischen Charakteroffenlegung in seiner 1555 erschienenen Historia de gentibus septentrionalibus, einer Beschreibung Skandinaviens und seiner Bräuche zusammen mit einer detaillierten Landkarte der nordischen Länder, tatsächlich mit Spielen. Die Skandinavier, erklärt er, ließen ihre Kinder Schachspielen, um deren Wesen zu offenbaren: »Eo enim ludo ira, amor, petulantia, avaritia, socordia, ignavia, aliaeq[ue] plure dementiae passiones, et animi motus, fortunaeque vire et proprietates demonstrari solent. (…) Sed in potu pro secretioribus cordis arcanis, et corporum vitiis detegendis, nullam existimant hac experientia voluptatem commodiorem. Nam cum biberit quis (quod et Plato de legibus attestatur) primo alacrior fit, quam prius erat; deinde quo plus biberit, eo meliore, maiori, ac fortiori spe, atque insuper potentia pro sua opinione repletur (…).« (Magnus, Olaus: Historia de gentibus septentrionalibus. Rom: Ioannes Maria de Viottis, 1555, S. 507 (cap. 8)).

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basierende Ruchlosigkeit der Gemeinschaft gegenüber, wie Pascasius eindringlich betont hatte. Die Krankheit der Spielleidenschaft ist daher neben einem Zeichen für mangelnden Vernunftgebrauch Ausweis einer defizitären Einstellung der menschlichen Gemeinschaft gegenüber. Doch ist diese soziale Ignoranz im Grunde Ausdruck einer allgemeinen Gier, eines generellen Gesellschaftszustandes, wie Pascasius schon in der Vorrede an den Leser betont: (…) cum nemo hoc tempore, corruptis depravatisque moribus, usqueadeo respuit omnes voluptates, aut eo usque ab omni pecuniarum aviditate alienus est, quin si ducta sorte quasi gratis potiri illa posse persuasum habeat, non libenter id faciat (…).185 (Denn heutzutage, bei diesen verdorbenen und verkehrten Sitten, wehrt sich kein Mensch so sehr gegen seine Gelüste oder ist dermaßen frei von jeder Geldgier, daß er es nicht gerne beim Glücksspiel versucht, wenn er davon überzeugt ist, sich dabei gratis Geld verschaffen zu können.)

Wenn daher den Patienten eine falsche Erwartung ans Glück einnimmt, sorgen auch keine anständigen Sitten für eine Einschränkung der Begierde nach Gelderwerb im Glücksspiel. Die Beschreibung menschlichen Verhaltens zum Spiel und im Spiel scheint für Pascasius demnach Teil einer umfassenderen Gesellschaftsdiagnose zu sein. Ausgelöst durch ihr Streben nach mannigfaltigen Lüsten zeigen seine Zeitgenossen in der Spielleidenschaft ihre Skrupellosigkeit und Asozialität. Falls das Spiel hier die Wahrheit eröffnet, so führt es eine sittlich korrupte Gesellschaft vor, die ihre Gier nach Ausschweifungen zu beschränken nicht fähig ist. Von daher erklärt sich, weshalb Pascasius sein Werk als ethikon, vor allem aber als politikon bezeichnete. Wenig überraschend auch, dass er in der Dedikationsepistel besonders die Häuser der Vermögenden und Adeligen im Blick hatte, deren Hallen eben beständig vom Lärm aufprallender Würfel erfüllt seien.186 Vor diesem Hintergrund geht Pascasius allerdings noch einen Schritt weiter. Ich habe zuvor darauf hingewiesen, dass der Vergleich von Wein und Spiel nach den Betrachtungen zur hitzigen Körperdisposition und zur Melancholie geführt wird. Zwischen diese beiden Teile ist allerdings eine sonderbare Zwischenpassage eingefügt, die sich der Frage widmet, welcher Menschentyp der Spielleidenschaft nun besonders zugetan sei. Es sind die Spanier, die Weinbecher gar nicht erst nötig haben: Et quidem a me observatum est, non solum post pocula, magis ad ludendum promptos atque alacres animos hominum fieri: verumetiam, fere quos vidi ad aleam procliviores omnes, tota corporis habitudine, manifesta caloris indicia commonstrasse. Atque hinc 185 Vgl. Alea (1561), S. 19; Übersetzung nach Kronegger-Roth (2000), S. 12. 186 Vgl. Alea (1561), S. 4.

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Pascasius Iustus gegen die Unersättlichkeit: Spiel als Wahrheit

esse puto, quod Hispani calidiores homines, omnium quos novi et maxime ludunt, et natura ad ludendum maxime sunt propensi.187 (Ich habe jedenfalls nicht nur beobachtet, daß Menschen nach [einigen] Bechern spielwilliger und kühner werden, sondern auch, daß fast alle, die offensichtlich eine gewisse Neigung zum Spielen haben, am ganzen Körper eindeutige Anzeichen ihrer Überhitzung aufwiesen. Und ich glaube, daß dies der Grund ist, warum die Spanier – sie besitzen von allen mir bekannten Völkern die höchste Körpertemperatur – am meisten spielen und von Natur aus am meisten zum Spielen neigen.)

Die Spanier sind demnach die größten Spieler, und weil ihre Natur der melancholischen Gemütsverfassung entspreche, seien sie gleich den dunkelhäutigen Menschen hochmütig, prahlerisch und herablassend, verfallen mithin oftmals der Krankheit der Melancholie.188 Dies sehe man besonders in Zaragoza, wo etliche dieser geistig Morbiden sich aufhielten, sich für Kaiser, Papst oder gar Tiere hielten.189 Während seiner Zeit in Spanien im Dienste des Kardinals Poggio, erzählt Pascasius an anderer Stelle, habe er oftmals Spieler gesehen, die ihre Gelübde, nicht mehr zu würfeln, nach kurzer Zeit schon brachen. Mit beträchtlichen Summen kauften sie sich hernach von ihren Versprechen frei.190 Er betont darüber hinaus ausdrücklich, dass er selbst lange Zeit in Spanien gelebt habe und eben aufgrund dieser persönlichen Erfahrungen die Spanier als die hitzigsten Spieler bezeichnen könne. In vielen spanischen Orten finde man zwar nicht mal Brot oder Wein, Karten würden jedoch verkauft. So eifrig erwarben die Spanier Spiele, dass ein Geschäftsmann, der sich ein Privileg auf den Handel mit Spielbrettern vom Kaiser hatte ausstellen lassen, binnen kürzester Zeit zum wohlhabendsten Händler im Lande geworden sei.191 Schließlich unternimmt Pascasius noch eine erstaunliche R88criture von Tacitus’ berühmter Beobachtung, die Germanen würden sogar um ihre eigene Freiheit würfeln. In Barcelona, so erzählt er, habe man einmal einem Mangel an Rudersklaven begegnen müssen. Aus öffentlichen Mitteln sei eine nicht gerade große Summe zum Glücksspiel ausgeschrieben worden, unter der Bedingung, dass von zwei Spielern jeweils einer den Gewinn behalten dürfe, der andere jedoch seine Freiheit verliere und als Rudersklave dienen müsse. So habe man innerhalb kürzester Zeit eine große Aushebung an Rudersklaven erreicht.192 Hierauf verkündet Pascasius allerdings, dass die Belgier, wie zuvor erwähnt, entsprechend ihres offenen und einfachen Wesens – bei ungestörter Entwicklung – nicht sehr zum Spielen geeignet seien. Zu schnell lassen sie sich erregen, 187 188 189 190 191 192

Ibid., S. 45–46; Übersetzung nach Kronegger-Roth (2000), S. 31. Vgl. Alea (1561), S. 49–50. Vgl. ibid., S. 50. Vgl. ibid., S. 36–37. Vgl. ibid., S. 46. Vgl. ibid., S. 55; vgl. Tac. Ger., 24, 3–4.

In ludo veritas: Die Wahrheit über die Spanier im Spiel

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zu wenig können sie ihr Inneres verbergen. Plötzliche Aufregung verwirre sie und lasse sie unfähig werden, klare Gedanken zu fassen. Ihre feuchtere Wärme und weicheren Körper erlauben es nicht, Gefühle leicht zu unterdrücken.193 Diese Offenheit im Hass sei jedoch aufrichtiger, als die eigenen Ansichten zu verbergen, was – »proh dolor!« – hier leider viele täten.194 Es bleibt unklar, welchen Ort Pascasius mit »hier« meint – Bologna vielleicht, wo er die Rede ursprünglich gehalten hatte? Pavia, wo er seine Arbeiten zu Alea abschließt? Italien im Allgemeinen? Oder doch Belgien, an dessen Publikum er sich mit der Dedikationsepistel und dem Verweis auf Verbundenheit zu seiner Heimat wendet? Unübersehbar jedenfalls ist die diametrale Charakterisierung der Spanier und Belgier. Gesetzt den Fall, dass meine Interpretation des Glücksspiels als Indikator mangelnden Vernunftgebrauchs und moralischer Verdorbenheit einigermaßen zutrifft, so erklärt uns Pascasius nicht weniger als die physisch begründete natürliche Korrumpiertheit aller Spanier mit den Mitteln galenischer Medizin, bestätigt durch eigene empirische Beobachtung.195 Dass er die Belgier dabei als ungeeignet zum Spielen aufgrund ihrer Aufrichtigkeit skizziert, verleiht der Gegenüberstellung besondere Brisanz zu einer Zeit, da von Philipp II. die Verfolgung reformierter Belgier durch die Inquisition forciert wurde. Zwar sollte man Pascasius’ antispanische Seitenhiebe nicht überbewerten, jedoch sind sie nicht allein als galenische Absurdität abzuhaken. Tatsächlich formuliert er in den Worten modernster Medizin seiner Zeit eine eben dadurch dem Anspruch nach wahre Charakterisierung der Spanier als körperlich zu affektiver Hoffnung und übermäßigem Selbstvertrauen disponiert. Im Spiel, welches die verborgenen Affekte offenlegt, zeigt sich deren wahre und ruinöse Spielernatur. Aber wie dem auch sei, evident ist, dass (Glücks-) Spiele in Pascasius’ galenischer Therapie von Affekten eine Besonderheit darin haben, die Aufdeckung verborgener Charakterstrukturen zu befördern. Dass sie in besonderem Maße dafür geeignet sind, als Ansatzpunkt zur Entwicklung genereller Strategien der Affektbewältigung zu fungieren, ist daher nur folgerichtig.

193 Vgl. Alea (1561), S. 55–56. 194 Vgl. ibid., S. 56–57. 195 Tatsächlich betrachtet Pascasius die Sitten der Völker als entspringend aus natürlicher Veranlagung, vgl. ibid., S. 68: »Neque vero ego gentium et nationum tam diversos mores atque usus a consuetudine natos puto, sed illorum omnem usum et consuetudinem a natura potius manasse existimo.«

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Pascasius Iustus gegen die Unersättlichkeit: Spiel als Wahrheit

Konklusionen: Spiel als Krankheit, Wahrheit und Therapiemodell Pascasius Iustus’ Alea ist sicherlich nicht der allein kuriose Versuch einer Selbsttherapie, als den ihn die anfangs dieses Kapitels zitierten Stimmen beschrieben. Doch bietet die Schrift ebenfalls keine schon moderne Theorie der Spielsucht in frühneuzeitlichem Gewand. Für eine tatsächlich historische Analyse ist jenseits von Fremdheit und Vereinnahmung die komplexere Struktur des Werkes zur Kenntnis zu nehmen. Ausgehend von Galens Affekttherapie erschließt Pascasius eine krankhafte Seite ludischer Praktiken, die auf einer in den aleatorischen Strukturen des Spielens begründeten, affektiven Störung der leichtgläubigen Hoffnung basiert. Da die Spielgierigen falsche Meinungen über das wechselhafte Spiel der Fortuna haben, führt die Aussicht leicht verdienten Geldes, nach dem ohnehin alle zur Befriedigung ihrer unersättlichen Ausschweifungen streben, zu einer konstant aufrecht erhaltenen Begierde nach Spielen, solange die falsche Meinung präsent bleibt. Daher wäre auch der Begriff »Sucht« verfehlt, denn er trifft nicht die Verwurzelung dieser Spieltheorie in galenisch-stoischer Affektbehandlung, die bei Pascasius auf eine Beseitigung eben aller Begierden zielt. Es ist angebrachter, die Schrift im Lichte ihrer eigenen diskursiven Zusammenhänge und nicht auf Grundlage moderner spielpathologischer Kategorien zu betrachten. Die Behandlung der Spielbegierde stellt bei Pascasius nur einen kleinen, wenn auch modellhaft nützlichen Teil eines umfassenderen philosophischen Programms dar. Gerade weil Pascasius aber seinen Beobachtungen dieses umfassendere Programm zugrunde legt, kann er Glücksspiele um Geld überhaupt als Krankheit identifizieren und nicht als Laster moralisch verdammen. Insofern ergibt sich die diskursive Transformation, die er vornimmt, indem er ein moralisches Laster pathologisiert, aus einer galenisch-stoischen Affekttheorie, die eine Beschreibung des Spielens als affektive Störung erst ermöglicht. Es fällt demzufolge nicht schwer, einen innovativen Aspekt des philosophischen Spielkonzepts in Alea zu benennen. Neben dem erholsamen Gebrauch von Spielen im aristotelischen Diskurs identifiziert Pascasius einen pathologischen Gebrauch derselben, der in physischen Ursachen begründet liegt und mittels philosophischer Therapie, hierbei fungierend als veritable medicina mentis, zu behandeln ist. In der Therapie appliziert er sodann eine Vielzahl an Techniken, um krankhafte Spieler von ihrem Fehlverhalten zu überzeugen. Dazu gehört bereits die Kategorisierung »krankhaft«, die auf autoritativen Diskursen galenischer Medizin und aristotelischer Anthropologie beruht. Auch die rhetorischen Strategien der drastischen Beispiele und der Konfrontation mit der Torheit eines Vertrauens auf das Glück müssen ohne Zweifel hierzu gezählt werden. Diese psychagogischen Techniken haben ihr Spezifikum vor allem in der Art und Weise, wie sie versuchen, Macht über das Spielverhalten des Individuums aus-

Konklusionen: Spiel als Krankheit, Wahrheit und Therapiemodell

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zuüben. Dessen Eingrenzung wird nicht durch Verbote, nicht im Rückgriff auf moralische Verdammung, sondern durch Überredungsstrategien auf Basis philosophischer und medizinischer Erkenntnisse unternommen. Übermäßiges Spielen ist hier nicht wie bei Thomas von Aquin ein moralisches Problem: Es ist eine Krankheit, die nach medizinisch-philosophischen Maßstäben behandelt werden muss. Dabei ist die spielerisch offenbarte Wahrheit über Charaktereigenschaften Ausgangspunkt einer Befreiung von affektiver Knechtschaft, nicht mehr das Spielen Kontrapunkt unserer Wahrheitssuche, wie es die Kommentatoren des Aristoteles gefordert hatten. Insofern generiert Pascasius eine spezifisch neue Haltung der Philosophie zum Spielen: Wenn die Menschen spielend ihre Defizite und Laster offenbaren, dann ist das Spiel eine prädestinierte Gelegenheit für den philosophischen Therapeuten, um mit einer Heilung der Menschen zu beginnen. Zugleich jedoch, und hier wird schließlich die Dynamik von Neubestimmung und Übernahme der aristotelischen Differenz von Philosophieren und Spielen deutlich, bleibt der Geist eines exzessiv Spielenden in Pascasius’ Sichtweise der Gegensatz eines philosophischen Geistes schlechthin: Erst durch die philosophische Therapie, die das Denken wieder an der ratio ausrichtet, können die an Alea Leidenden kuriert werden. Insofern ist es natürlich schlüssig, dass Pascasius bei seinen Ausführungen rekreative Spiele explizit ausnimmt, denn er zieht das grundlegende Verhältnis von rekreativem Spielen und ernstem Philosophieren nicht in Zweifel. Vielmehr ist seine Theorie der Krankheit Alea eine komplementäre Erweiterung des aristotelischen Diskurses und eine wissenschaftliche Antwort auf die Frage, weshalb nicht alle Menschen diesem eigentlich so vernünftigen Gebrauch von Spielen folgen.

Schluss

Zweifellos ist es angemessen, dem von der Rezeption der Nikomachischen Ethik ausgehenden aristotelischen Spieldiskurs eine zentrale Bedeutung für das philosophische Denken über Spiele zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit zuzusprechen. Allerdings kann daraus nicht geschlossen werden, dass dieser Ansatz zur philosophischen Deutung ludischer Praktiken von rinascimentalen Philosophierenden nur unkritisch reproduziert worden wäre. In vorliegender Studie wurde vielmehr die Heterogenität philosophischer Beschäftigung mit Spielen an der Wende zur Neuzeit herausgestellt. Einerseits sollte damit die hohe Komplexität philosophischer Spielreflexion schon weit vor Immanuel Kant und Friedrich Schiller verdeutlicht werden. Andererseits stand die Analyse der vielfältigen soziokulturellen Transformationen des wirkmächtigen aristotelischen Spieldiskurses im Mittelpunkt. Daher lag der Fokus auf Quellen, die ausgehend von den durch Aristoteles und seinen Interpreten konstituierten Denkschemata alternative oder komplementäre Konzepte ludischer Praktiken entwarfen. Unter Rückgriff auf diskurstheoretische und praxeologische Überlegungen sollte dabei eine Dynamik rinascimentaler Spielphilosophie dargestellt werden. Eine derartige Dynamik war an den vorgestellten Texten insofern ablesbar, als sie durchweg geprägt sind von einem ambivalenten Verhältnis zu dem verbreiteten peripatetischen Spielkonzept. Obwohl die meisten der hier behandelten Autoren dieses Konzept fortschrieben, unterminierten sie jedoch zugleich die Autorität des Aristoteles, sahen seine Konzepte als erweiterungsbedürftig an, setzten die Inhalte seiner Theorie in neue Kontexte und stellten sie alternativen philosophischen Autoritäten gegenüber. Trotz der eindrucksvollen Stabilität des aristotelischen Spieldiskurses, die anhand seiner fortdauernden Präsenz in unterschiedlichen Kontexten nachgewiesen wurde, ziehen sie seine Gültigkeit damit immer wieder in Zweifel. Insbesondere das Verhältnis von Philosophieren und Spielen, das Aristoteles und seine Interpreten als strengen Gegensatz gefasst hatten, erfährt dabei zahlreiche Transformationen. Ausgangspunkte für diese Neubestimmungen sind nicht nur die nun integral verfügbaren Dialoge Platons, in denen Philosophie und Spiel nicht selten mit-

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einander identifiziert werden, und die Marsilio Ficino, Sperone Speroni und auch Erasmus von Rotterdam zu sehr unterschiedlichen Konzepten der Philosophie im und als Spiel veranlassen. Schon vor der Wiedergewinnung des ganzen Platon existierten verschiedene alternative Ansätze. Zwar fiel die mittelalterliche Spielphilosophie nicht in den eigentlichen Untersuchungsbereich dieser Arbeit, allerdings dürfte deutlich geworden sein, dass auch sie nicht auf aristotelische Spielphilosophie zu begrenzen ist. Wenn etwa Erasmus von Rotterdam behauptet, er habe die Philosophie ins Spiel getragen ebenso wie Sokrates die Philosophie vom Himmel auf die Erde, so erweist sich dies zumindest (und abgesehen von möglicher erasmischer Ironie) bei einem Vergleich mit Jacobus de Cessolis als fragwürdig, insofern Jacobus schon rund zweihundert Jahre zuvor den chaldäischen Philosophen Xerses die Tugendlehre für einen tyrannischen Herrscher anhand eines Spiels erklären ließ. Die Inszenierung einer sokratischen Wende der Spielphilosophie verliert noch weiter an Boden, wenn man die spielerische Welterklärung in Cusanus’ De ludo globi hinzunimmt und sich daran erinnert, dass schon Thomas von Aquin die contemplatio sapientiae basierend auf einschlägigen Bibelpassagen mit einem Spiel verglich. Die Verbindung der Philosophie zum Spielen hatte daher auch ohne Platon und trotz der emsigen scholastischen Auslegung des Aristoteles einige mittelalterliche Anknüpfungspunkte. Trotzdem muss eingeräumt werden, dass die von Albertus Magnus etablierten und von Thomas von Aquin fortgeschriebenen spielphilosophischen Grundsätze, die sich mit medizinischer Diätetik und ciceronianischer Ermahnung zum Ernsten leicht kombinieren ließen, langfristig die wirkmächtigsten Deutungsschemata ludischer Praktiken waren. Im hier untersuchten Zeitraum machten sie jedenfalls den selbstverständlichen Bezugsrahmen spielphilosophischer Reflexionen aus. Eine bemerkenswerte Kombination alter und neuer Alternativen zu diesen aristotelischen Denkmustern zeigte sich im ersten Kapitel beim Globusspiel des Nicolaus Cusanus. So verband sich der Anschluss an Jacobus de Cessolis mit dem meines Erachtens sehr wahrscheinlichen Einfluss der Nomoi-Übersetzung des Georg von Trapezunt. Zudem war sicherlich die biblische spielende Weisheit, vielleicht sogar in ihrer Auslegung durch Thomas von Aquin, als Bezugspunkt präsent. Indem Cusanus Spiele nicht auf Rekreation beschränkte und mehrere alternative Deutungsschemata ludischer Praktiken zur Konstruktion eines philosophischen Spiels heranzog, kreierte er mit De ludo globi im Vergleich zu den anderen Ansätzen der letzten Kapitel einen der entschiedensten Gegenentwürfe zum aristotelischen Spieldiskurs – der als Gegenentwurf aber zugleich von der vorausgesetzten Kontrastfolie einer Differenz von Spiel und Philosophie abhängig bleibt. Das zweite Kapitel analysierte verschiedene Modi, diese Differenz als ludisches Philosophieren zu überwinden. Es wurde aufgezeigt, dass in Italien im

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Cinquecento die Pluralisierung philosophischer Autoritäten und die Vielfalt der Meinungen in philosophischen Disputationen Anlass zur Erfindung vergnüglicher Philosophiespiele bot, wofür Baldassare Castiglione die Grundlinien entwarf, indem er die Spiele der Hofgesellschaft in Urbino als Imitation einer philosophischen disputatio zeichnete. Sperone Speronis Apologie einiger amouröser Dialoge über deren Deklaration zu platonischen Spielen der vielfältigen Meinungen gewinnt nur vor dem Hintergrund dieser praktizierten Philosophiespiele eine kohärente soziale Grundlage. Dass demgegenüber Marsilio Ficino, dessen Anliegen die Etablierung Platons als seriöse Alternative zu Aristoteles war, das Spielen als Ernst und weniger das Philosophieren als Spiel verstand, ist nachvollziehbar. Immerhin ging es ihm nicht darum, einen Text mit seiner Verortung im Ludischen vor ernsten Anschuldigungen zu schützen, sondern die ludische Philosophie Platons gerade auf Augenhöhe mit dem aristotelischen Ernst zu heben. Schwierigkeiten nachhaltiger Ludifizierung ernster Bildungsinhalte zeigte im dritten Kapitel die Pariser Vermarktung eines pädagogischen Ansatzes des Erasmus von Rotterdam, der mit Sokrates die Philosophie ins Kinderspiel verlegen wollte. Aus seiner Idee, Lernen und Spielen gleich zu setzen, wurde bei französischen Druckern ein Handbuch, mit dessen Hilfe Spiele zu sittlich einwandfreiem Fremdsprachenerwerb genutzt werden konnten – womit das Spielen aber letztlich wieder zu einem strukturierten Didaktikinstrument für das Studium wurde. Die in erasmischen Spielgesprächen implizit enthaltene Moralphilosophie ad vitam instituendam wurde dabei als Anhang in Form von schlichten Ermahnungen offengelegt und von ihrer spielerischen Dimension entkoppelt. Im vierten Kapitel bewies Antonio Scainos Tennisphilosophie, dass auch höfischen Vergnügungen mit einigem philosophischen Ernst begegnet werden konnte, wenn man das Ballspiel zu einem Anwendungsbereich naturphilosophischer Theorie erklärte. Diese durch Scaino selbst in die Nähe von Karnevalsdisputationen gestellte Applikation ernster aristotelischer Philosophie auf unernstes Vergnügen ist zwar aus einem höfischen sozialen Feld erklärbar, in dem das Tennisspiel durch die Begeisterung des Fürsten erheblich an Seriosität gewann. Zugleich schien jedoch die aristotelische Differenz im Hintergrund präsent zu bleiben und für eine gewisse Ambivalenz zu sorgen, denn nicht immer konnte eindeutig entschieden werden, wie ernst es Scaino in diesem höfischen Kontext mit seiner physikalischen und zoologischen Tennisstrukturierung nun wirklich war. In jedem Falle eröffnete sein halbludisches Philosophieren Applikationsmöglichkeiten naturphilosophischer Theorien, die im universitären Kontext nicht denkbar gewesen wären. Bei Pascasius Iustus bestand im letzten Kapitel hingegen kein Zweifel daran, dass die Trennung von Philosophieren und Spielen grundsätzlich aufrecht zu

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erhalten ist. Die Spielbegierigen leiden seiner Ansicht nach nicht nur unter physischen Defiziten, die leichtgläubige Hoffnung und Vertrauen in den Zufall befördern, sondern versäumen es zudem, ihre affektiven Störungen mithilfe der ratio zumindest einzudämmen. Damit erweiterte Pascasius den Diskurs moralphilosophischer Spielregulierung mit Galen und der Stoa um eine medizinisch-philosophische, therapeutische Dimension, wonach der exzessiv Spielende unter einer physisch verursachten, heilbaren Krankheit leide. Das Gegenmittel bestand in antiludischen Maßnahmen philosophischer Affekteliminierung, die den Körper abkühlen und unbegründete Hoffnung beseitigen sollten. Die hier knapp zusammengefassten Analysen dieser ausgewählten Neukonzipierungen der Relation von Philosophieren und Spielen erlauben, die in der Einleitung aufgeworfenen Fragestellungen nun fundierter zu diskutieren. Insbesondere ist zu klären, ob philosophische Thematisierungen des Spielens tatsächlich Neuinterpretationen der Philosophie selbst ermöglichten. Sicherlich zutreffend ist dies für die Ansätze Ficinos und Speronis, bei denen die Neufassung aristotelischer Denkmuster die Philosophie jeweils um einen ludischen Modus erweiterte, aber auch für denjenigen des Nicolaus Cusanus, dessen philosophischer Gebrauch eines Spiels mindestens die Rolle der Philosophie in ihrem Verhältnis zum Spiel neu bestimmte. Ebenso eröffnete bei Erasmus von Rotterdam die Überschreitung der Grenze zwischen Philosophie und Spiel einen ludischen Modus der Vermittlung von Moralphilosophie, der von einer möglichst frühzeitigen Förderung kindlichen Lernens motiviert war. Dass Antonio Scaino das Tennisspiel als philosophisch ungewöhnlichen Untersuchungsgegenstand im Kontext des ferraresischen Hofes analysierte, gab seiner Philosophie eine im Vergleich zu universitären Diskussionen weniger strenge Form und erweiterte spielerisch mögliche Anwendungsbereiche naturphilosophischer Theorien, die nun zur praktischen Strukturierung eines Hofvergnügens genutzt werden konnten. Bei Pascasius Iustus’ Identifikation einer krankhaften Form des Spielens ermöglichte dagegen umgekehrt eine veränderte Auffassung von Philosophie die Konstruktion neuer Deutungsschemata ludischer Praktiken: Gerade weil Pascasius die aristotelische Philosophie mit der Stoa, mit galenischer Medizin und Affekttherapie verband, konnte er die übermäßige Spielbegierde als Krankheit und eben nicht allein moralphilosophisch bewerten. Man darf demnach schlussfolgern, dass der aristotelische Spieldiskurs insbesondere durch die Konstituierung eines engen und spezifischen Zusammenhangs von Spielen und Philosophieren zahlreiche Neubestimmungen herausforderte. Einerseits tat er dies als Möglichkeit zur Konstruktion alternativer spielerischer Philosophieformen, andererseits als Schwierigkeit, weil bestimmte Betrachtungsweisen ludischer Untersuchungsgegenstände durch das von ihm etablierte kontradiktorische Verhältnis von Philosophieren und Spielen ausge-

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schlossen wurden. Die in dieser Arbeit untersuchten Philosophen reagierten auf diesen Diskurs und seine Bedingungen kreativ und kritisch, auf sehr verschiedene Weisen und unter Rückgriff auf heterogene alternative Spielkonzepte. Aus diesem Befund sollte daher nicht gefolgert werden, dass es sich um eine zusammenhängende »Entwicklung« gehandelt habe oder die Entwürfe ein gemeinsames »Interesse« verbinde. Vielmehr sind sie unabhängige Indikatoren dafür, dass der aristotelische Spieldiskurs in unterschiedlichen Kontexten keine ausreichenden Antworten auf verschiedene Problemlagen zu geben vermochte. Ebenso zeigen sie umgekehrt, dass alternative Philosophien die Perspektiven auf ludische Praktiken am Beginn der Neuzeit verändern konnten, die aristotelischen Deutungsmuster mithin infrage stellten. Von einem Zusammenhang auszugehen verbietet sich auch deshalb, weil in vorliegender Arbeit kein Anspruch auf eine vollständige Darstellung rinascimentaler Spielphilosophie erhoben wurde. Ohne Zweifel fehlen etwa philosophische Ansätze, die mit den aristotelischen Deutungsschemata überhaupt nicht in Verbindung stehen. Allerdings würde ich von den Resultaten dieser Studie ausgehend heuristisch die Vermutung wagen, dass derer nicht allzu viele existierten – und dies nicht nur wegen der grundlegenden Bedeutung aristotelischer Philosophie in der universitären Ausbildung. Auch die Äquivalenz der aristotelischen Bestimmungen mit denen des Cicero, mit einer christlichen Tradition der Rekreationsnotwendigkeit und mit dem medizinischen diätetischen Diskurs dürfte die Anschlussfähigkeit und Zirkulation aristotelischer Deutungsschemata in so vielerlei Kontexten befördert haben, dass die Existenz sozial akzeptierter Praxisformen des philosophischen Sprechens über Spiele ohne ihre Berücksichtigung im Untersuchungszeitraum unwahrscheinlich erscheint. Insofern kann für diesen Zeitraum meines Erachtens auch nicht von einer philosophischen Diskussion über den Begriff Spiel gesprochen werden, wenn wir unter Diskussion einen Wettstreit explizit unterschiedlicher und sich konkurrierend aufeinander beziehender Konzepte vom Spielen verstehen. Vielmehr festzustellen sind punktuelle und partielle Transformationen eines aristotelischen Denkschemas, das sich in seiner pragmatischen Anwendung etwa in der Didaktik oder beim höfischen Tennisspiel wandelt und verzweigt, dessen Verbindungen mit unterschiedlichen Diskursen der Bewertung von Spielen neue epistemische Räume eröffnen. Diese auseinanderstrebenden Prozesse scheinen nicht auf eine generelle Entwicklung reduzierbar, einziger Zusammenhang (oder langfristiger Effekt) ist vielleicht eine sukzessive Erosion aristotelischer Selbstverständlichkeit im Ludischen. Sicherlich richtig ist indes die allgemeinere Beobachtung, dass das Spielen mindestens seit Beginn der Rezeption der Nikomachischen Ethik als notwendige, aber grundlegend verschiedene Gegenpraxis des Philosophierens in der nachantiken europäischen Philosophiegeschichte präsent ist. Sowohl Ficinos ludi-

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sche Form ernster Philosophie, Cusanus Koinzidenz von ludus und philosophia als auch Pascasius Iustus’ Therapie eines nicht philosophisch-rationalen und deshalb dem Spielen zugewandten Geistes basieren auf dieser aristotelischen Differenz. Und um einen Philosophen hinzuzunehmen, der in der Forschung, wie in der Einleitung dargelegt, als einer der ersten Exponenten einer modernen Spielphilosophie gilt: Immanuel Kants Rede vom »freien Spiel der Erkenntniskräfte« scheint ebenfalls noch Spuren dieser Unterscheidung zu enthalten, insofern die Erkenntniskräfte bei diesem Spiel »kein bestimmter Begriff (…) auf eine besondere Erkenntnißregel einschränkt.«1 Auch Pomponazzis zu Beginn dieser Arbeit zitierte Äußerung über die Philosophie als unsicheres Spiel ist ohne diesen Hintergrund nicht verständlich, oder zumindest wird ihre Bedeutung ohne ihre Kontrastfolie, der Funktion von ludus als ein Anderes der Vernunft im aristotelischen Diskurs, nicht in voller Schärfe erkennbar. Pomponazzi präsentiert seinen Studenten das Spielen gerade nicht als Unterbrechung der beschwerlichen Intention des Studiums, als Gegengewicht zur contemplatio: Der Praxis des Philosophierens selbst wirft er vor, nichts als ein Spiel zu sein. Dieses Überschreiten einer aristotelischen Grenze, bei dem das Andere der Philosophie mit der Philosophie selbst identifiziert wird, bedeutet eine Herabstufung der Philosophie, die ihrem Anspruch auf Differenz vom bloßen Spiel ohne jeden Erkenntniswert nicht gerecht werden kann. Es bleibt dann allerdings fraglich, welche Konsequenzen für eine Praxis des Philosophierens hieraus zu ziehen wären und welche Funktionen dieses philosophische Spielen unter Umständen haben könnte. Auch ließe sich weiter danach forschen, welche Strategien die Philosophierenden zwischen Pascasius Iustus und Immanuel Kant entwickelt haben, dieser von Pomponazzi artikulierten Unsicherheit über das Verhältnis von Spielen und Philosophieren zu begegnen (falls sie überhaupt ähnliche Zweifel hegten). Wenn sich nach einer Einordnung seines Zitats allerdings nur neue Fragen ergeben, hat Pomponazzi vielleicht sogar recht. Vielleicht liegt in diesem Umstand aber auch ein Vorzug der Betrachtung vergangener Philosophien: Sie können beständig Fragen an ihre Nachkommen stellen. Allein ihr Alter rechtfertigt nicht ihr Vergessen. Wir können die Toten ernst nehmen oder nicht, unsere eigene Begrenztheit führen sie uns in jedem Falle vor: Worin der Gegensatz zwischen den Begriffen Ernst (dessen Geschichte in der Philosophiehistoriographie übrigens, soweit ich sehe, ebenfalls nicht besonders gut ausgeleuchtet ist) und Spiel besteht (und ob er überhaupt besteht), haben wir jedenfalls noch immer nicht herausgefunden. Angesichts der vielfältigen Bestimmungen der Wörter Spiel, ludus, paidia, gioco, play und jeu allein bei den in dieser Arbeit behandelten Philosophen scheint mir die Hoffnung auf das Auffinden einer fixierbaren Bedeutung wenig berechtigt. 1 Kant, KU § 9 (AA V, S. 217).

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Was Spiel als Begriff ausmacht, ist vielleicht eine Spannung, die er zum Ernsten erzeugt und die fortwährend dazu auffordern kann, das Verhältnis der beiden Bereiche klarer zu fassen. Seine Funktion wäre dann nicht, bestimmte Handlungen zu denotieren, die Funktion wäre die Grenzziehung selbst, die Einführung einer Dichotomie zwischen Ernst und Spiel im Diskurs, durch die Unliebsames vom Seriösen ausgeschlossen, das vermeintlich Ernste aber auch grundlegend in Frage gestellt werden kann. Ciceros Auffassung, wir seien zu ernsthaften Dingen geboren, wäre in diesem Sinne leer, insofern dieser Ernst inhaltlich fortwährend neu konstituiert werden muss. So betrachtet würde der Begriff Spiel dazu dienen, eben keine endgültigen Definitionen zuzulassen. Falls seine besondere Qualität also darin liegt, nicht abschließend bestimmbar zu sein, so wäre er dennoch ganz entgegen Pomponazzis Lamento einer jener produktiven Begriffe, derer wir in der Philosophie dringend bedürfen, um nicht in Eindeutigkeit zu verstummen: Er lässt das Sprechen weitergehen.2

2 Vgl. Rorty, Richard: Philosophy as a Transitional Genre. In: Ders.: Philosophy as Cultural Politics. Philosophical Papers. Cambridge/New York: Cambridge University Press, 2007, S. 89– 104, und Suits, Bernard: The Grasshopper. Games, Life, and Utopia. (Third Edition) Peterborough: Broadview Press, 2014, S. 189: »Skepticus: You know, Grasshopper, as well as I do, that people who are seriously engaged in the pursuit of knowledge value that pursuit at least as much as they do the knowledge which is its goal. Indeed, it is a common place that once a scientist or philosopher after great effort solves a major problem he is very let down, and far from rejoicing in the possession of his solution or discovery, he cannot wait to be engaged once more in the quest. Success is something to shoot at, not to live with.«

Verwendete Abbreviaturen

Aufgelistet werden sämtliche in dieser Arbeit verwendeten und in den Fußnoten nicht explizit eingeführten Abkürzungen. Die jeweils herangezogenen Ausgaben sind in der nachfolgenden Bibliographie nachzuschlagen. ADB Ambr. De off. Arist. De anim. Arist. De cael. Arist. De mot. Arist. De prog. animal. Arist. GA Arist. Mech. Arist. Met. Arist. NE Arist. PA Arist. Phys. Arist. Poet. Arist. Pol. Arist. Prob. Arist. Rhet. Arist. Top. Ath. Deipn. Boeth. Cons. Chrys. In Matt. Cic. De fin. Cic. De offic. Cic. Pro leg. Man. Cic. Tusc. disp. DBI Epikt. Ench. Eurip. Ph. Galen, Ars med.

Allgemeine Deutsche Biographie Ambrosius, De officiis ministrorum Aristoteles, De anima Aristoteles, De caelo Aristoteles, De motu animalium Aristoteles, De progressu animalium Aristoteles, De generatione animalium Aristoteles, Mechanik Aristoteles, Metaphysik Aristoteles, Nikomachische Ethik Aristoteles, De partibus animalium Aristoteles, Physik Aristoteles, Poetik Aristoteles, Politik Aristoteles, Problemata physica Aristoteles, Rhetorik Aristoteles, Topik Athenaios, Deipnosophistai Boethius, Consolatio philosophiae Johannes Chrysostomos, Homiliae in Matthaeum Cicero, De finibus bonorum et malorum Cicero, De officiis Cicero, Pro lege Manilia / De imperio Cn. Pompei ad Quirites oratio Cicero, Tusculanae disputationes Dizionario biografico degli italiani Epiktet, Enchiridion (Handbüchlein der Moral) Euripides, Die Phönikerinnen Galen, Ars medica

308 Galen, De an. aff. dign. et cur. Galen, De san. tuen. Galen, HNH Galen, PHP GSM Herod. Hist. Hipp. nat. hom. Hom. Odyss. Hor. Epist. HWdPh Kant, KU Kühn LexMa Luk. De rer. nat. Macr. Sat. MPG MPL NDB NNBW Ov. Ars amat. Ov. Met. Plat. Men. Plat. Nom. Plat. Parm. Plat. Phaid. Plat. Polit. Plat. Sophist. Plat. Theait. Plat. Tim. Plin. Nat. hist. Pius Com. Quint. Inst. orat. Sen. Ep. Tac. Ger. TRE Ter. Andr. Verg. Aen. Vit. De arch.

Verwendete Abbreviaturen

Galen, De propriorum animi cuiuslibet affectuum dignotione et curatione Galen, De sanitate tuenda Galen, In Hippocratem de natura hominis commentarius Galen, De placitis Hippocratis et Platonis Galeni Scripta Minora Herodot, Historien Hippokrates, De natura hominis Homer, Odyssee Horaz, Epistulae Historisches Wörterbuch der Philosophie Kant, Kritik der Urteilskraft Galen, Opera Omnia, ed. von C. G. Kühn Lexikon des Mittelalters Lukrez, De rerum natura Macrobius, Saturnalia Migne Patrologia Graeca Migne Patrologia Latina Neue Deutsche Biographie Nieuw Nederlandsch Biografisch Woordenboek Ovid, Ars amatoria Ovid, Metamorphosen Platon, Menexenos Platon, Nomoi Platon, Parmenides Platon, Phaidros Platon, Politeia Platon, Sophistes Platon, Theaitetos Platon, Timaios Plinius, Naturalis historia Pius II., Commentarii rerum memorabilium que temporibus suis contigerunt Quintilian, Institutio oratoria Seneca, Epistulae morales ad Lucilium Tacitus, Germania Theologische Realenzyklopädie Terenz, Andria Vergil, Aeneis Vitruv, De architectura

Bibliographie

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