Wasser: Alltagsbedarf, Ingenieurskunst und Repräsentation zwischen Antike und Neuzeit 9783666317187, 9783525317181, 9783647317182


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Wasser: Alltagsbedarf, Ingenieurskunst und Repräsentation zwischen Antike und Neuzeit
 9783666317187, 9783525317181, 9783647317182

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Umwelt und Gesellschaft

Herausgegeben von Christof Mauch und Helmuth Trischler Band 14

Sitta von Reden / Christian Wieland (Hg.)

Wasser Alltagsbedarf, Ingenieurskunst und Repräsentation zwischen Antike und Neuzeit

Vandenhoeck & Ruprecht

®

MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen

www.fsc.org

FSC® C083411

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-7157 ISBN 978-3-525-31718-1 ISBN 978-3-647-31718-2 (E-Book) ISBN 978-3-666-31718-7 (V& R eLibrary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und des Rachel Carson Center for Environment and Society, München. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autoren. Ó 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Georg Andreas Böckler »Architectura Curiosa Nova« (1664), Tafel 50 (Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Signatur 2 M MECH 153/76:1 RARA) Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Sitta von Reden und Christian Wieland Zur Einführung: Wasser – Alltagsbedarf, Ingenieurskunst und Repräsentation zwischen Antike und Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . .

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Astrid Möller Zwischen Agonalität und Kollektiv. Wasserversorgung im archaischen Griechenland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Sitta von Reden Fließende Macht: Kanalprojekte und Brunnenbau im hellenistischen Ägypten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

Neville Morley ›The same procedure as last year‹: Wasserregelung im römischen Reich. Konkurrenz und Konflikt zwischen Ökologie und Recht . . . . . . . . . .

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Christian Wieland Das Wasser der Techniker. Frühneuzeitliche Wasserdiskurse zwischen Architektur, Ingenieurskunst und Gartenbau . . . . . . . . . . . . . . . .

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Chandra Mukerji Unpersönliche Herrschaft und der Canal du Midi . . . . . . . . . . . . . 131 Franz-Josef Brüggemeier Im Bauch der Stadt. Kanalisation und Bürgerstolz im 19. Jahrhundert . . 153

Vorwort

Dieser Band ging aus einer gleichnamigen Sektion auf dem 49. Historikertag in Mainz unter dem Titel »Ressourcen – Konflikte« im September 2012 hervor. Die Diskussionen, die sich im Anschluss an die Vorträge und unter den Referenten in den folgenden Monaten ergaben, waren so anregend, dass wir uns zur Publikation der Beiträge entschlossen haben. Die englischsprachigen Beiträge von Neville Morley und Chandra Mukerji wurden zu diesem Zweck ins Deutsche übertragen und alle Vorträge für die Publikation überarbeitet. Für die Aufnahme in die Reihe »Umwelt und Gesellschaft« des Rachel Carson Centers in München danken wir dessen Direktor Christof Mauch sowie FranzJosef Brüggemeier, visiting fellow des Rachel Carson Centers 2012–13, für die freundliche Vermittlung der Zusammenarbeit. Freiburg und Oxford im Dezember 2014 Sitta von Reden und Christian Wieland

Sitta von Reden und Christian Wieland

Zur Einführung: Wasser – Alltagsbedarf, Ingenieurskunst und Repräsentation zwischen Antike und Neuzeit Ohne Wort, ohne Wort rinnt das Wasser immerfort; andernfalls, andernfalls spräch’ es doch nichts andres als: Bier und Brot, Lieb und Treu,– und das wäre auch nicht neu. Dieses zeigt, dieses zeigt, daß das Wasser besser schweigt. Christian Morgenstern

1.

Wasser und seine Nutzung im historischen Vergleich

Mit dem vorliegenden Band wird ein doppeltes Ziel verfolgt: Zum einen soll, in einer Zuspitzung auf den Umgang mit dem Element Wasser, die Tragweite von umwelthistorischen und infrastrukturgeschichtlichen Ansätzen für die Analyse unterschiedlicher politischer und kultureller Systeme erprobt werden, von den Poleis des archaischen Griechenlands bis zu den europäischen Metropolen des späten 19. Jahrhunderts.1 Zum anderen ermöglicht die Konzentration auf das Wasser einen Vergleich zwischen verschiedenen historischen Phänomenen, und zwar nicht lediglich innerhalb der klassischen Epochengrenzen – der Antike auf der einen, der europäischen Neuzeit auf der anderen Seite –, sondern ebenso über diese kanonisierten, von der späthumanistischen bzw. aufgeklärten Historiographie als Einheit imaginierten Zeitalter hinweg. Die hier vorgenommene Gegenüberstellung von Antike und Neuzeit trägt der Tatsache Rechnung, dass 1 Zu Infrastrukturen als Thema der historischen Analyse: Dirk van Laak, Infra-Strukturgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 27, 2001, 367–393; grundsätzliche Überlegungen zu Wasserinfrastrukturen als historischen Faktoren und Einzeluntersuchungen zum Wasserbau in verschiedenen Epochen und Räumen der europäischen Geschichte: Birte Förster, Martin Bauch (Hrsg.), Wasserinfrastrukturen und Macht. Politisch-soziale Dimensionen technischer Systeme von der Antike bis zur Gegenwart. Historische Zeitschrift, Beiheft 63. München 2014.

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Sitta von Reden und Christian Wieland

sich Obrigkeiten, traditionelle Eliten und Ingenieure der Frühen und späten Neuzeit explizit auf die klassische Antike bezogen, wenn sie großangelegte Wasserbauprojekte beschrieben, planten und durchführten, und sich damit in einer gleichermaßen technischen und politischen Genealogie verorteten, in der das Mittelalter als irrelevant ausgeblendet wurde,2 während die Antike als unmittelbarer Referenzpunkt der Gegenwart fungierte. Damit verschreibt sich dieser Band also eher dem Konzept der »Erklärung vergangener Erklärungen« (Clifford Geertz) als der Vorstellung eines diachronen Überblicks über Wasserbauten zwischen Technik und Politik, wirtschaftlichem Nutzen und künstlerischer Repräsentation. Daneben kann der Vergleich mit neuzeitlichen Phänomenen für das Verständnis antiker Probleme insofern Aufschlüsse bieten, als zahlreiche Aspekte des Wasserbaus – Details seiner Planung und Durchführung, seiner Finanzierung und besonders seiner Wahrnehmung durch Bevölkerungsgruppen, die nicht den bürokratischen oder technischen Eliten zuzurechnen waren – aufgrund der dichteren Quellenüberlieferung und ausgeprägteren Schriftlichkeit in der Neuzeit für diese Epoche eindeutiger als für frühere Zeiträume nachzuvollziehen sind, wodurch sich für die Historiographie zur Antike durch Vergleiche und Analogieschlüsse neue Perspektiven ergeben können.3 Das Wasser ist nicht »an und für sich« wichtiger für das menschliche Leben als andere Bestandteile der natürlichen Umwelt, als Feuer, Luft und Erde. Zumindest existieren keine historischen Kategorien, die eine derartige Grundannahme gestatten, und alle Versuche, die in den Sozial- und Geisteswissenschaften unternommen wurden, dem Wasser kulturübergreifend Eigenschaften zuzuschreiben, die es über den anderen Elementen platzieren würden, vermögen nicht zu überzeugen.4 Dennoch lassen sich bestimmte soziale Umgangsformen mit dem Wasser, Wahrnehmungsmuster und Bedeutungszuschreibungen ausmachen, die es erlauben, ihm eine Sonderrolle hinsichtlich des Verhältnisses von 2 Einen Überblick über den Wasserbau des Mittelalters bietet: Die Wasserversorgung im Mittelalter. Geschichte der Wasserversorgung Bd. 4, hrsg. v. d. Frontinus-Gesellschaft. Mainz 1991. 3 Zum Vergleich zwischen Antike und Neuzeit – hier Spätantike und Frühe Neuzeit mit einem Fokus auf staatlichen Strukturen – vgl.: Peter Eich, Sebastian Schmidt-Hofner, Christian Wieland, Der wiederkehrende Leviathan. Zur Geschichte und Methode des Vergleichs spätantiker und frühneuzeitlicher Staatlichkeit, in: dies. (Hrsg.), Der wiederkehrende Leviathan. Staatlichkeit und Staatswerdung in Spätantike und Früher Neuzeit, Akademie-Konferenzen 4. Heidelberg 2011, 11–40. Zur Nutzung frühneuzeitlicher Aspekte des Wasserbaus für die Interpretation antiker Zusammenhänge vgl. auch den Beitrag von Sitta von Reden in diesem Band. 4 Ein Beispiel für derartige Überlegungen, die jedoch auf die sinnliche Verarbeitung und kulturelle Wahrnehmung des Wassers hinauslaufen, nicht auf seine natürlichen Qualitäten: Veronica Strang, Common Senses. Water, Sensory Experience and the Generation of Meaning, in: Journal of Material Culture 10, 2005, 92–120, v. a. 97–102.

Zur Einführung: Wasser

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Mensch und Natur und der Entwicklung von Gesellschaften zuzuweisen:5 Wasser wurde von jeher als ambivalent begriffen – es changiert zwischen den Gefahren des »zu wenig« (mit Blick auf die Trinkwasserversorgung oder die Bewässerung von Acker- und Weideland) und des »zu viel« (in Bezug auf Überflutungen und Hochwasser oder Sumpf- und Moorlandschaften), es hat gleichermaßen lebensspendendes und lebensbedrohendes Potential,6 ihm wurde in allen Kulturen eine besondere kultische und religiöse Bedeutung zugeschrieben, und es galt als bevorzugtes Medium, mit dessen Hilfe die Götter – oder Gott – mit den Menschen kommunizierten und sich ihnen strafend oder gnädig zuwandten.7 Wasser fließt »durch Landschaften und in Gesellschaften«,8 es war im gesamten vorindustriellen Zeitalter die wichtigste unbelebte Energiequelle, seine intensivierte Nutzung stellte eine wesentliche Voraussetzung für die frühe industrielle Revolution dar, und es war – trotz aller Unberechenbarkeit – dasjenige Element innerhalb der natürlichen Umwelt, das bis zum Beginn der eigentlichen Moderne am intensivsten vom Menschen genutzt und durch menschliche Eingriffe transformiert wurde. Wasser wurde in hohem Maße bürokratisiert, also zum Gegenstand von administrativen Strukturen und zum Thema juristischer Auseinandersetzungen,9 und bis ins 19. Jahrhundert war das, was man als Landschafts- oder Umweltpolitik bezeichnen könnte, mehrheitlich Wasserpolitik.10

5 Überlegungen zu den Eigenschaften des Wassers, die es zu einem Sonderfall hinsichtlich der sozialen und kulturellen Nutzung natürlicher Ressourcen machen, bei: Terje Tvedt, Richard Coopey, A ›Water Systems‹ Perspective on History, in: dies. (Hrsg.), A History of Water. Series II. Bd. 2: Rivers and Society : From Early Civilizations to Modern Times. London, New York 2010, 3–26, v. a. 3–6. S. a. die grundsätzlichen Überlegungen in den Beiträgen von Sitta von Reden und Chandra Mukerji in diesem Band. 6 Vgl. zu diesen Ambivalenzen der Wahrnehmung des Wassers und des sozialen Umgangs mit ihm auch: Joachim Radkau, Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt. München 2 2002, 107–159, v. a. 108–110. 7 Zu diesem Zusammenhang vgl. die Beiträge in: Hartmut Böhme (Hrsg.), Kulturgeschichte des Wassers. Frankfurt a. M. 1988, v. a. ders., Umriß einer Kulturgeschichte des Wassers. Eine Einleitung, 7–47. 8 Tvedt, Coopey, ›Water Systems‹, 3. 9 Ausführlich zur Wasserverwaltung und zur Rechtsprechung in Fragen des Wasserbaus im osmanischen Ägypten: Alan Mikhail, Nature and Empire in Ottoman Egypt. An Environmental History. Cambridge 2011, 38–81, v. a. 40–46, 49–58. 10 Dies gilt beispielsweise auch für die Stadtverwaltung Bostons an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert; so erklärte der Bürgermeister von Boston, John Montgomery, 1825: »The most important and valuable interests of the City – indeed its very existence – is involved in the preservation of the navigation of the Harbour.« Seth Rockman, Scraping By. Wage Labor, Slavery, and Survival in Early Baltimore. Baltimore 2009, 75–99, Zitat: 96.

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2.

Sitta von Reden und Christian Wieland

Wasser und politische Macht

Im Jahr 1957 publizierte Karl August Wittfogel, Professor für die Geschichte Chinas an der University of Washington, unter dem Titel »Oriental Despotism« eine großangelegte Studie, in der er die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Strukturen zahlreicher »östlicher« Gesellschaften von der frühgeschichtlichen Zeit bis ins 20. Jahrhundert analysierte und deren totalitären Charakter beschrieb.11 Der Schwerpunkt seiner Ausführungen lag zwar auf dem chinesischen Reich sowie dem zaristischen und kommunistischen Russland, doch er bezog zahlreiche weitere geopolitische Einheiten in die Betrachtung mit ein: Mesopotamien, Ägypten, Indien oder das präkolumbianische Mittelamerika. Damit wird einerseits deutlich, dass der Begriff »orientalisch« für Wittfogel weniger eine geographische als vielmehr eine kulturelle Kategorie darstellte, andererseits, dass er den zentralen welthistorischen Unterschied zwischen dem freien westlichen Europa (und in der Folge auch dem nördlichen Amerika) auf der einen, dem unfreien Rest der Welt auf der anderen Seite sah. Maßgeblich beeinflußt von Karl Marx und Max Weber und in Anlehnung an dessen Suche nach einer Erklärung für die Führungsrolle Europas in der modernen Welt und den Sieg des kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems im 19. und 20. Jahrhundert, führte Wittfogel die Weber’sche Dichotomie von Okzident und Orient weiter und passte sie an die ideologischen Bedürfnisse des amerikanischen Antikommunismus der 1950er und 1960er Jahre an. Insofern ließe sich die Theorie vom »oriental despotism« leicht als ein Propagandaprodukt des Kalten Krieges abtun, zwar aufschlussreich als historisches Dokument seiner Entstehungszeit, doch ohne weiteren historiographischen oder analytischen Wert, und tatsächlich zielte die Kritik an Wittfogels Thesen zu einem großen Teil auf deren ideologische Grundlagen und folglich ihr engbegrenztes Erklärungspotential ab.12 Zum anderen wurden in ethnologischen, archäologischen und historischen Studien die Aussagen Wittfogels zur ökonomischen Struktur und sozialen Stratifizierung traditioneller asiatischer Gesellschaften im Detail in Frage gestellt; anstelle von quasi-totalitären, zen11 Karl A. Wittfogel, Oriental Despotism. A Comparative Study of Total Power. New Haven, London 1957; 2. Aufl. 1963, 3. Aufl. 1981; dtsch.: Die orientalische Despotie. Eine vergleichende Untersuchung totaler Macht. Köln 1962. Zur Rezeption Wittfogels kurze Ausführungen bei: Gilberto Harris Bücher, Releyendo a Karl Wittfogel y su despotismo oriental: estudio comparativo del poder totalitario, in: Revista de estudios histûrico-juridicos 21, 1999, 375–379. 12 Eine frühe kritische Betrachtung der Theorie vom »Oriental Despotism«: Pierre-Vidal Naquet, Karl Wittfogel et le concept de mode de production asiatique, in: Annales 19, 1964, 531–549. Vgl. ferner : Radkau, Natur, 112; Neville Brown, Wittfogel and Hydraulic Despotism, in: Richard Coopey, Terje Tvedt (Hrsg.), A History of Water. Bd. 2: The Political Economy of Water. London, New York 2006, 103–116.

Zur Einführung: Wasser

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tralstaatlichen Systemen ohne nennenswerte regionale und lokale Autonomie oder kollektive kommunale bzw. ständische Vergemeinschaftungsformen, die laut Wittfogel für die von ihm untersuchten geopolitischen Räume charakteristisch waren, identifizierten sie einen hohen Grad an Selbstorganisation und Selbständigkeit von Dörfern und Städten – keine eindeutiges Machtgefälle von »oben« nach »unten«, sondern ein durch ausgeprägte Partizipationsmechanismen charakterisiertes System.13 Damit hätte sich das Konzept von der »orientalischen Zwangsherrschaft« endgültig als nutzlos oder gar irreführend entpuppt, lediglich noch von historiographie- und geistesgeschichtlichem Interesse. Dennoch bleibt ein grundlegender Aspekt der von Wittfogel entwickelten Perspektive auf politische, ökonomische und soziale Strukturen in Vormoderne und Moderne nach wie vor relevant für die gegenwärtige Geschichtsschreibung, und zwar in besonderem Maße dann, wenn sie es unternimmt, unterschiedliche gesellschaftliche Formationen synchron und diachron vergleichend zueinander in Beziehung zu setzen: Wittfogel identifizierte v. a. die chinesische Kultur als »hydraulische Gesellschaft«14, eine Begriffsbildung, mit der er die Beobachtung synthetisierte, dass in bestimmten Landschaften die Bewässerung und Hochwasserkontrolle zur Sicherstellung der landwirtschaftlichen Produktion einen derartig hohen technischen, logistischen und finanziellen Aufwand erforderten, dass sie die Entstehung von zentralisierten Systemen und ausgeprägten sozialen Hierarchien sowie einer quasi-absoluten Machtkonzentration der (monarchischen) Zentrale auf Kosten intermediärer Gewalten begünstigten. Alle Phänomene, die die asiatischen Gesellschaften charakterisierten – Politik, Sozial- und Wirtschaftsstruktur, Religion – werden aus dieser im wahrsten Sinne des Wortes »grundlegenden« Tatsache abgeleitet, bei Wittfogel durchaus im Sinne eines Automatismus, gar Determinismus.15 Im Gegensatz zum mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa entwickelten sich in China sowie im übrigen Asien keine mit den Städten oder Ständen vergleichbare Organisationen, die in der Lage waren, der zentralisierten Staatsgewalt nennenswerten Widerstand entgegenzusetzen.16 Die Fokussierung auf den Wasserbau als elementare Voraussetzung des Lebens, als wesentliches Strukturmerkmal wirtschaftlichen Wachstums und als entscheidender Faktor für die Ausdifferenzierung von politischen Strukturen bleibt ein dauerhaftes 13 Eine Zusammenfassung der von Archäologen und Ethnologen an Wittfogels Theorien geübten Kritik bei: Matthew I. J. Davies, Wittfogel’s Dilemma: Heterarchy and Ethnographic Approaches to Irrigation Management in Eastern Africa and Mesopotamia, in: World Archeology 41, 2009, 16–35. 14 Erläuterung des Begriffs: Wittfogel, Despotism, 3f., 11–14. 15 Zu den charakteristischen natürlichen Eigenschaften des Wassers: Wittfogel, Despotism, 15. 16 Wittfogel verwendete den Begriff »hydraulic society« explizit im Sinne eines Terminus, der zu Vergleichen mit der »feudal« oder »industrial society« geeignet ist; Wittfogel, Despotism, 3.

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Sitta von Reden und Christian Wieland

Verdienst von Wittfogels Forschungsansatz, ohne dass man notwendigerweise seiner Annahme folgen müsste, dass hydraulische Gesellschaften mit despotischen Systemen gleichzusetzen seien. Vielmehr konnte der Umgang mit Wasser – im Sinne der Be- und Entwässerung von Feldern, der Trinkwasserversorgung, der Anlage von Wasserstraßen durch die Schiffbarmachung von Flüssen oder den Bau von Kanälen, des Hafenbaus oder des Hochwasserschutzes – nicht nur in technischer und ästhetischer Hinsicht völlig unterschiedliche Formen annehmen,17 er zeitigte auch unterschiedliche wirtschaftliche und soziale Folgen, er beeinflusste das politische System sowie die administrative Gestaltung der Gemeinwesen in unterschiedlicher Weise, und er bzw. das ihm zugrundeliegende Element des Wassers wurde in völlig unterschiedliche kulturelle (kultische, religiöse und wissenschaftliche) Kontexte eingebettet. Dabei ist es nicht möglich, eindeutige Hierarchien und Kausalitäten zwischen den verschiedenen Bereichen auszumachen – den Wasserbau also entweder als Grundvoraussetzung oder vielmehr als Produkt von Wirtschaft und Gesellschaft, Politik und Kultur zu identifizieren; vielmehr steht er in einem kausal nicht eindeutig aufzulösenden Wechselverhältnis zu diesen Faktoren, was auch den unterschiedlichen historischen Umgang mit vergleichbaren geographischen und klimatischen Bedingungen erklärt. Hydraulik kann folglich sowohl zentralisierte und monarchische als auch städtische Systeme begünstigen (Mesopotamien und China oder die griechischen Poleis), sie kann aristokratisch oder imperial sein (wie im republikanischen oder kaiserzeitlichen Rom), sie kennt monarchische Ausdrucksformen (wie im Frankreich Ludwigs XIV.) ebenso wie republikanische (wie in den frühneuzeitlichen Niederlanden oder in Venedig). Damit eröffnet ein historischer Vergleich auf der Grundlage und in der Perspektive des Wassers und des Wasserbaus die Möglichkeit, grundlegende Muster des menschlichen Umgangs mit natürlichen Ressourcen ebenso zu identifizieren wie historische Varianten – als Gegenstand und Medium des Politischen, in der Konkurrenz zwischen verschiedenen Expertenkulturen, im Spannungsfeld zwischen Nützlichkeit und repräsentativer Verschwendung und als Objekt des Kultischen.

17 Wittfogel stellt explizit einen Zusammenhang zwischen den technischen Aspekten der Wasserversorgung und der künstlerischen Repräsentation von Herrschaft und Herrschaftsansprüchen mit den Mitteln der Architektur her : Wittfogel, Despotism, 34–42.

Zur Einführung: Wasser

3.

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Wasserbau, Wasserrecht und Herrschaft durch Wasser zwischen Antike und Neuzeit

Im Zentrum von Astrid Möllers Beitrag (»Zwischen Agonalität und Kollektiv. Wasserversorgung im archaischen Griechenland«) stehen zwei griechische Wasserbauwerke des späten 6. Jahrhunderts v. Chr. sowie die Interpretation von Abbildungen auf athenischen Wasserschöpfgefäßen aus demselben Zeitraum. Zwischen 550 und 530 v. Chr. entstand auf der Insel Samos eine in architektonischer Hinsicht außergewöhnliche Wasserleitung zur Versorgung der gleichnamigen Stadt mit Trinkwasser, der nach seinem Baumeister – und bemerkenswerterweise nicht nach einem aristokratischen Auftraggeber – benannte Eupalinos-Tunnel; dieser Aquädukt galt bereits in klassischer Zeit als mit den sieben Weltwundern vergleichbare technologische Großleistung und Ausweis der ökonomischen und politischen Vorrangstellung Samos’ innerhalb des griechischen Kulturraums. Entgegen einer traditionellen Deutung handelte es sich bei diesem Bauwerk, wie auch bei anderen im 6. Jahrhundert realisierten großdimensionierten Infrastrukturprojekten, allerdings nicht um die Tat eines einzelnen – eines Tyrannen, der mithilfe derartiger Ingenieursleistungen ein politisches Programm herrschaftlicher Repräsentation realisierte –, sondern vielmehr um eine Unternehmung, die zwar im Kontext einer durch das Prinzip ständiger Konkurrenz geprägten Aristokratie stand, die jedoch auf der Akzeptanz und Kooperation eines (gleichsam »bürgerlichen«) Kollektivs basierte und diese kollektive Identität ihrerseits intensivierte. Vergleichbare soziale und politische Zusammenhänge gelten auch für das im letzten Viertel des 6. vorchristlichen Jahrhunderts errichtete Brunnenhaus auf der Agora in Athen: Die Initiative dafür ging zwar wahrscheinlich von den aristokratischen Peisistratiden aus, diese stellten sich jedoch mit dem Brunnenhaus explizit in einen städtischen Kontext und verordneten sich nicht jenseits von ihm. Das athenische Brunnenhaus fand offenbar unmittelbar nach seiner Fertigstellung Eingang in die Vasenmalerei: Auf Hydrien finden sich Abbildungen von Frauen, die im Brunnenhaus Wasser schöpfen, eine Referenz auf soziale Aspekte der Wasserversorgung auf dem grundlegenden Gerät des privaten Wassergebrauchs und ein Hinweis auf die kontinuierliche Thematisierung von Wasser im Medium des Wassers in der europäischen Kultur. Es ist kaum möglich, diese Darstellungen als unmittelbare Abbildungen sozialer Praktiken zu interpretieren, sie verweisen vielmehr ganz grundsätzlich auf den zentralen Stellenwert des Umgangs mit dem Wasser für das städtische Leben, in politischer, gesellschaftlicher und kultischer Hinsicht. Sitta von Reden (»Fließende Macht: Kanalprojekte und Brunnenbau im hellenistischen Ägypten«) stellt den Wasserbau im hellenistischen Ägypten in den

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Sitta von Reden und Christian Wieland

Zusammenhang der politischen Kultur der ptolemäischen Monarchie und deutet ihn als ein wesentliches Moment der Integration des Landes, der Interaktion zwischen Zentrum und Peripherie, der kulturellen Beheimatung der Ptolemäer in Ägypten und der Repräsentation und kultischen Überhöhung der königlichen Dynastie. Als Illustration der grundlegenden und vielschichtigen Funktionen dieser hybriden ägyptisch-griechischen hydraulischen Technik werden drei Fälle diskutiert: Das unterägyptische Fajum-Becken wurde auf der Grundlage pharaonischer Anfänge seit der Mitte des 3. Jahrhunderts v. Chr. durch Ptolemaios II. massiv ausgebaut, durch ein ausgeklügeltes Kanalsystem zu einem Zentrum der ägyptischen Landwirtschaft transformiert, und es erlebte durch eine gezielte Ansiedlungspolitik ein dramatisches Bevölkerungswachstum. Damit wurden die in Alexandria residierenden Könige zwar einerseits zu einer unhintergehbaren Präsenz in der Region, andererseits wurden jedoch auch lokale Verantwortlichkeiten gestärkt. Als Mittler zwischen der Hauptstadt und dem Fajum-Distrikt fungierte mit dem architekton ein Träger von technischem Expertenwissen. Der ebenfalls unter Ptolemaios II. ausgebaute Pithom-Kanal, eine Verbindung zwischen dem Nil und dem Roten Meer, diente der Bewässerung von Ackerland, als Wasserstraße erfüllte er militärische Zwecke, und im Zusammenhang mit seiner Anlage wurden Landvermessungen durchgeführt. Daneben wurde er durch rituelle Fahrten des Königspaars zum Tempel sowie durch eine gezielte Nomenklatur zum Monument einer durch Naturbeherrschung und technisches Können ausgezeichneten Königsherrschaft. Die Brunnenanlage im Garten des Palastbezirks von Alexandria war in ihrem Erfindungsreichtum und ihrer auf dionysische Fülle abzielenden ästhetischen Gestaltung ein noch expliziteres Denkmal für das Selbstverständnis und die Repräsentation der Ptolemäer, die ihren monarchischen Stil bewußt als Amalgam aus traditionellen ägyptischen und griechischen Elementen modellierten. Damit konnte der Wasserbau – in all seinen zwischen ökonomischem Nutzen und höfischem Luxus changierenden Facetten – als zentrales Medium des Politischen und der Herstellung kultureller Identität dienen. Neville Morley (»›The same procedure as last year‹: Wasserregelung im römischen Reich. Konkurrenz und Konflikt zwischen Ökologie und Recht«) analysiert den Umgang der Juristen der römischen Republik und der römischen Kaiserzeit mit den Problemen, die sich durch rivalisierende Ansprüche auf die Nutzung fließender Gewässer ergaben; er interpretiert zwei unterschiedliche Quellengattungen, nämlich Inschriften aus Nordafrika und Spanien, die Entscheidungen in konkreten Streitfällen dokumentieren, und die im 6. Jahrhundert kodifizierten Digesten, in denen, ausgehend von der Spruchpraxis seit der späten Republik, das gesamte römische Privatrecht gesammelt und kategorisiert wurde. Auffällig ist, dass die Juristen die Haupteigenschaft des Wassers, nämlich seine Unberechenbarkeit, seine Nicht-Vorhersagbarkeit, seine »Fluidität« in-

Zur Einführung: Wasser

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nerhalb des Jahreslaufs und über die Jahre hinweg, als Ursache für konfligierende Besitz- und Nutzungsansprüche ignorierten; stattdessen konstruierten sie das Ideal einer konstanten Natur und bauten ihre juristischen Grundsätze, vor allem den Vorrang öffentlicher bzw. »staatlicher« Interessen vor den Bedürfnissen privater Landbesitzer, auf dieser imaginierten Realität auf (anstatt, umgekehrt, das Recht an den tatsächlich vorgefundenen natürlichen Gegebenheiten auszurichten). Aufs Ganze gesehen begünstigte das Römische Recht sowohl den Staat, dessen Rolle als Schlichter in Wasserkonflikten und als privilegierter Nutzer des Wassers von ihm festgeschrieben wurde, als auch wohlhabende Großgrundbesitzer, denen Sonderkonzessionen zu Bewässerungszwecken und für den häuslichen und »ästhetischen« Wassergebrauch zugestanden wurden. Die Naturdefinition der römischen Juristen sollte sich als höchst folgenreich für die Wahrnehmung und die Nutzung des Wassers in Europa erweisen: Bis weit in die eigentliche Moderne wurden Streitigkeiten um Wasser nach dem von ihnen entwickelten Modell entschieden, gleichermaßen im von der Rezeption des Römischen Rechts geprägten Kulturraum und in den Regionen, in denen das Common Law galt. Im Beitrag von Christian Wieland (»Das Wasser der Techniker. Frühneuzeitliche Wasserdiskurse zwischen Architektur, Ingenieurskunst und Gartenbau«) wird analysiert, wie technische Experten, die Vorläufer der modernen Wasserbauingenieure, im Europa der Frühen Neuzeit das Wasser im Verhältnis zu den übrigen Elementen bewerteten, welche Möglichkeiten der Transformation, Nutzung und Darstellung des Wassers sie für möglich, angemessen und geboten hielten und in welcher Verbindung diese normativen Vorstellungen über Natur und Technik mit politischen, sozialen und kulturellen Strukturen standen. Ingenieure waren eine Funktionselite, die erst allmählich im Laufe der Frühen Neuzeit ein eigenes professionelles »Image« entwickelte, Ingenieure mussten ihre Position innerhalb der ständischen Gesellschaft sowie im Konzert der Universitäten erst erkämpfen, und sie legten großen Wert darauf, sich einerseits von der Gruppe der Handwerker abzugrenzen und andererseits die Notwendigkeit ihres Tuns für und die Nähe ihrer Personen zur höfisch-aristokratischen Kultur zu betonen. Dabei spielte die Beherrschung des Wassers, das von zahlreichen Autoren als Inbegriff der natürlichen Umwelt beschrieben wurde, eine Schlüsselrolle innerhalb dieser sozio-kulturellen Strategie der Selbstnobilitierung. In zahlreichen europäischen Regionen bezogen Ingenieure ihre Überlegungen zum Wasser und Wasserbau explizit auf die klassische Antike, sei es die griechisch-hellenistische Naturphilosophie, sei es die römischkaiserzeitliche Architektur und Architekturtheorie. In Italien, in den meisten Territorien des Heiligen Römischen Reichs und in Frankreich verband sich diese humanistische Perspektive auf das Wasser mit dem Versprechen an die politischen Eliten, mit Hilfe eines technisch aufwendigen, großangelegten und re-

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Sitta von Reden und Christian Wieland

präsentativen Wasserbaus zur Steigerung ihrer politischen Macht beizutragen, was umgekehrt auch eine Annäherung der Experten des Wassers an die traditionelle Oberschicht implizierte. Religiöse Bezüge fanden hingegen nur ausnahmsweise Eingang in die Argumentation. Im England v. a. des 17. Jahrhunderts konnten sich solche Vorstellungen – wiewohl es sie selbstverständlich ebenfalls gab – nicht durchsetzen; stattdessen favorisierte die Mehrheit der englischen Architekten, Ingenieure und Gärtner einen wesentlich un-akademischeren und bescheideneren Umgang mit Wasser, den man sowohl der Natur für angemessen als auch für religiös geboten hielt. Diese Unterschiede innerhalb des frühneuzeitlichen Europas lassen sich mit den unterschiedlichen Adelskulturen erklären, die für das, was in technischer Hinsicht sag- und machbar war, höchst einflussreich waren. Insofern kann man für ganz Europa von einer Aristokratisierung des Wassers sprechen, die jedoch ganz unterschiedliche Ausformungen annahm. Chandra Mukerji (»Unpersönliche Herrschaft und der Canal du Midi«) interpretiert den zwischen 1663 und 1684 gegrabenen Canal du Midi im Languedoc, eine Wasserstraße, die das Mittelmeer mit dem Atlantik verband, als ausschlaggebend für die Stärkung der französischen Monarchie während der Regierung Ludwigs XIV. – nicht lediglich als ein Symbol für die Macht des Königs in der Provinz, sondern als entscheidendes, neuartiges und effektives Instrument zentralstaatlicher Macht. Das Languedoc war nicht nur geographisch weit von Paris entfernt, es war auch – als Zentrum des Protestantismus, als Hort adlig-ständischer Autonomie und als Stätte des bäuerlichen Widerstands – nur unzureichend in das Staatswesen integriert. Als der Salzsteuerpächter Pierre-Paul Riquet dem königlichen Minister Jean-Baptiste Colbert den Vorschlag unterbreitete, das Languedoc mit einem Kanal zu erschließen, erkannte dieser die Möglichkeit, mit Hilfe eines anspruchsvollen Infrastrukturprojekts die traditionellen Patronagestrukturen der Region aufzubrechen; die Voraussetzung dafür war die Entwicklung hydraulischer Methoden, die über das bis dato bekannte und praktizierte Ingenieurswesen hinausgingen. Mit einer Versuchsleitung (»rigole d’essai«) durch die Montagne Noire, bei deren Realisierung gelehrte antike und zeitgenössische sowie auf lokalem Praxiswissen basierende Wasserbautechniken zusammenflossen, erbrachten Riquet und seine Mitarbeiter den Beweis für die Durchführbarkeit ihres Plans; Ludwig XIV. und seine Regierung stellten das Bauwerk explizit in eine Genealogie, die die Bourbonenmonarchie als Erbin des römischen Imperiums auswies; für Colbert schließlich entpuppte sich der Kanal als wirkungsvolle Methode, den Staat in der Provinz zu einer ausschlaggebenden Realität zu machen, die – ausgehend von der künstlichen Wasserstraße – neue wirtschaftliche Strukturen schuf und die Lebensbedingungen aller Bewohner nachhaltig veränderte. Der Strukturwandel monarchischer Herrschaft, der gemeinhin mit dem Begriff des »Absolutismus«

Zur Einführung: Wasser

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bezeichnet wird, basierte wesentlich auf diesem Instrument unpersönlicher Herrschaft, auf der eindrucksvollen Unterordnung der Natur unter den Willen des Königs. Franz-Josef Brüggemeier (»Im Bauch der Stadt. Kanalisation und Bürgerstolz im 19. Jahrhundert«) untersucht die ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Städten Frankreichs, Englands und Deutschlands entstehenden Strukturen der Trinkwasserversorgung und Abwasserentsorgung, die er als »zivilgesellschaftliche Vorzeigeprojekte« deutet. An der Planung und Realisierung dieser mit großem technischem und finanziellem Aufwand verbundenen Bauwerke waren Ingenieure und andere Fachleute (wie Stadtplaner und Mediziner) beteiligt, die mit diesen Infrastrukturen sehr weitgehende gesellschaftspolitische Visionen verbanden; dafür, dass die neue Hydraulik tatsächlich umgesetzt wurde, war es jedoch nötig, dass neben den neuen technischen sowie den traditionellen Eliten breite Kreise des städtischen Bürgertums den Plänen der Experten zustimmten und sie sich – als ihre kollektive Angelegenheit – zu eigen machten. Die aufwändige und in ästhetischer Hinsicht hybride architektonische Gestaltung von Wasserwerken, dazu die Tatsache, dass Pumpwerke und Kanalisationen zu stolz präsentierten Touristenattraktionen der europäischen Großstädte wurden, zeigt, in welch hohem Maße die neuartige Wasserversorgung die Identifikationsmuster moderner Städte prägte. Allerdings vollzog sich auch dieser – sehr grundlegende – Wandel in den Lebensbedingungen der Menschen nicht ohne Verluste, und dieser Vorgang blieb ebenfalls nicht ohne Kritik: Abfall und Exkremente wurden nun erstmals nicht mehr als Dünger dem natürlichen Kreislauf zurückgeführt, und die fortgeschrittenen Kenntnisse über die Natur sowie die elaborierten Techniken der Naturbeherrschung führten dazu, dass den Bewohnern der Städte ihre eigene Natur so gründlich vom Leibe gehalten wurde wie niemals zuvor in der Geschichte. Als das römische Heer im Jahr 48 v. Chr. die ägyptische Residenz Alexandria belagerte, bemerkte Caesar, wie ungünstig die Trinkwasserversorgung und das Abwassersystem der Stadt für die Bevölkerungsmehrheit geregelt waren, und verglich diesen Zustand kritisch mit dem hohen Niveau der Wasserinfrastruktur Roms; damit konstatierte er nicht lediglich einen technologischen Unterschied zwischen Rom und Ägypten, sondern ein Zivilisationsgefälle, das Ausdruck eines Machtgefälles war : In der überlegenen Hydraulik der Römer manifestierte sich zugleich ihr politischer Führungsanspruch über den gesamten Mittelmeerraum. Mit diesem – für alles Nicht-Römische ungünstigen – synchronen Vergleich innerhalb der Antike setzte Caesar gewissermaßen den rhetorischen Standard, der bis ins 19. Jahrhundert Gültigkeit behalten sollte: Auch die Ingenieure und politischen Eliten des barocken Roms, Ludwig XIV. und seine Minister oder die Sozialreformer der viktorianischen Ära (wie Edwin Chadwick gegenüber Napoleon III.) beschworen die römische Antike, wenn es um die

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Bewerbung von Wasserbauprojekten ging, wobei eine an den Römern orientierte Hydraulik zugleich ein kulturelles Identifikationsmuster darstellte und Machtansprüche kommunizierte. Für die frühneuzeitlichen Techniker bedeutete die Ausrichtung an ihren römischen Vorläufern zugleich die Wiederentdeckung und Weiterentwicklung der von ihnen entwickelten Kenntnisse und Fertigkeiten sowie ein ästhetisches Programm: Wasserkunst sollte römisch sein und römisch aussehen. Dieser Aspekt verlor sich im Laufe der eigentlichen Moderne zusehends: Die Evozierung klassischer Größe wurde immer mehr zu einer Chiffre für das, was man in politischer, gesellschaftlicher und kultureller Hinsicht für wünschenswert hielt, was deutlich macht, dass es sich bei der zum Modell erhobenen Antike regelmäßig um eine imaginierte – und nicht notwendig um eine im Detail recherchierte und kopierte – Vergangenheit handelte. Wassermanagement war gleichermaßen eine Technik im engeren Sinne und eine Herrschaftstechnik, mit deren Hilfe politische Macht und Machtansprüche nach innen hergestellt und dargestellt wurden; Aristokraten in den griechischen Stadtrepubliken nutzten diese Technik im Wettstreit der Adligen untereinander, die Ptolemäer in Ägypten verwendeten sie als Medium der Bevölkerungspolitik und der Akkulturierung der – vergleichsweise jungen – Königsdynastie an ägyptische Traditionen, für Ludwig XIV. stellte sie ein wichtiges Instrument der Integration der unbotmäßigen Provinz in die französische Monarchie dar. Wasserinfrastrukturen prägten den Alltag der Bevölkerung gleichzeitig subtil und nachhaltig und wurden so zu überaus langlebigen Monumenten für ihre Auftraggeber. Die Bauwerke, die im Zusammenhang mit der Anlage von Wassertechnologien entstanden, galten zudem als Ausweis von »Vortrefflichkeit« in einer nach außen gerichteten Konkurrenz – sie waren, wie der Eupalinos-Tunnel auf Samos, bereits in der Antike so etwas wie Touristenattraktionen, fanden Eingang in die Mirabilien- und Reiseliteratur oder die politische Theorie und zogen fremde Besucher an. Ähnliches gilt auch für die »Wasserkünste« von Augsburg und Nürnberg im späten Mittelalter,18 die Wasserwerke von Crossness, Köln und Hamburg oder die Pariser Kanalisation im späten 19. Jahrhundert; Wasserbauten konnten eine wesentliche Rolle für das Selbstbewusstsein und die Identifikation von politischen Gemeinwesen spielen – vor allem von Städten. Einerseits können Wasserinfrastrukturen damit tatsächlich als Vehikel einer erfolgreichen Zentralisierung gelten, als Mittel, mit dessen Hilfe sich traditionelle politische und soziale Strukturen sowie regionale Autonomien zugunsten eines neuen, auf den Monarchen und die Hauptstadt ausgerichteten 18 Albrecht Hoffmann, Zum Stand der städtischen Wasserversorgung in Mitteleuropa vor dem Dreißigjährigen Krieg, in: Die Wasserversorgung in der Renaissancezeit. Geschichte der Wasserversorgung Bd. 5, hrsg. v. der Frontinus-Gesellschaft. Mainz 2000, 99–144, v. a. 110–113, 125–130.

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Systems aushöhlen ließen. Andererseits ging jedoch die Initiative für die Umgestaltung der Wasserver- und –entsorgung häufig von der Bevölkerung selbst aus,19 und auch die von der Zentrale angestoßenen Projekte bedurften der Durchführung, Wartung und Nutzung durch ortsansässige Fachleute und Interessenten. Das heißt, dass der Wasserbau meist zu einer verstärkten Interaktion zwischen den verschiedenen Akteuren führte, zwischen den Bewohnern einer Stadt, zwischen Städten und der Zentralregierung, zwischen Stadt und Land, doch lassen sich derartige Intensivierungen der politischen Kommunikation nicht eindeutig als Machtzuwachs für die eine, Machtverlust für die andere Seite deuten.20 Über Wasser ließ sich in verschiedenen »Diskursen« sprechen, es gab verschiedene auf das Wasser bezogene Fachsprachen, und es existierten verschiedene, nicht selten miteinander konkurrierende Gruppen von Wasserexperten: Für die gesamte Vormoderne galt, dass Wasser religiös aufgeladen war und in kultische Zusammenhänge integriert wurde; damit besaßen die »Profis des Religiösen« regelmäßig eine gewichtige Stimme in der Auseinandersetzung um die Deutungshoheit über das Wasser, und die Integration des Wassers bzw. des Wasserbaus in eine Form der Herrschaftsreligion konnte maßgeblich zur Legitimierung beitragen, wie beispielsweise für die Ptolemäer im Zusammenhang mit dem Pithom-Kanal. Andererseits jedoch war die Frage des richtigen Umgangs mit Wasser auch und gerade zwischen den nicht selten rivalisierenden Religions- oder Konfessionsgruppen heftig umstritten, so z. B. zwischen Puritanern und gemäßigten Protestanten im England der Stuarts oder zwischen Katholiken und Hugenotten in Frankreich. Der Wasserdiskurs der »Naturwissenschaftler« und Techniker konnte im Gegensatz zu religiösen Deutungen stehen, musste es aber keineswegs; für die Antike zumindest lassen sich solche Konflikte kaum belegen, sie scheinen eher für das konfessionelle Zeitalter charakteristisch21 und in der eigentlichen Moderne einer Perspektive gewichen zu sein, in der die wissenschaftliche Sicht und die Technik selbst an die Stelle des 19 Beispielsweise im frühneuzeitlichen Spanien: Jos¦ Antonio Mateos Royo, The Making of a New Landscape. Town Councils and Water in the Kingdom of Aragon during the Sixteenth Century, in: Rural History 9, 1989, 123–139. 20 Zur frühneuzeitlichen Staatlichkeit als Prozess sich intensivierender Kommunikation zwischen Zentrum und Peripherie, Regierung und Regierten, Eliten und Mehrheitsbevölkerung: Andr¦ Holenstein, Kommunikatives Handeln im Umgang mit Policeyordnungen. Die Markgrafschaft Baden im 18. Jahrhundert, in: Ronald G. Asch, Dagmar Freist (Hrsg.), Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit. Köln u. a. 2005, 191–208. 21 Vgl.: Ute Lotz-Heumann, Repräsentation von Heilwassern und –quellen in der Frühen Neuzeit: Badeorte, lutherische Wunderquellen und katholische Wallfahrten, in: Matthias Pohlig u. a. (Hrsg.), Säkularisierungen in der Frühen Neuzeit. Methodische Probleme und empirische Fallstudien. Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 41. Berlin 2008, 277–330.

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Religiösen traten, was sich in der an Kirchenbauten erinnernden Architektur von Wasserwerken des späten 19. Jahrhunderts ausdrucksstark niederschlagen sollte. Die Kategorisierungen, mit denen Juristen sich dem Phänomen des Wassers annäherten, und ihre Versuche, das per se fließende, dynamische, unvorhersagbare Element als ein immer Gleiches darzustellen, es damit dem bürokratischen System und dem Bedürfnis der Obrigkeiten nach Planbarkeit und Regelung anzupassen, reflektiert eindeutig eine Elitenperspektive, nach der die natürlichen Schwankungen im Wasservorkommen und -verlauf unerwünschte, nicht selten als »Katastrophe« apostrophierte Abweichungen von der Norm waren, während die (ländliche) Mehrheitsbevölkerung im Umgang mit diesen zwar im Detail nicht antizipierbaren, im Grundsatz jedoch alltäglichen und regelmäßigen Veränderungen meist pragmatische Strategien entwickelt hatte.22 Das von den antiken Juristen propagierte Ideal der Gleichheit und Regelmäßigkeit sollte sich jedoch als überaus folgenreich erweisen und die Ansprüche der Obrigkeiten, das Handeln der Techniker und die Erwartungen der Bevölkerung nachhaltig prägen. Das Selbstverständnis und das professionelle Tun der Ingenieure befanden sich in einem spannungsreichen Verhältnis zu den juristisch normierten Vorstellungen von »sameness« und damit – implizit oder explizit – von Natürlichkeit: Einerseits ließ sich die Wasserbautechnik problemlos in dieses Wertesystem einpassen, indem man Ingenieursleistungen als die Voraussetzung für die dauerhafte Kontrolle und Indienstnahme des Wassers propagierte, andererseits wohnte jedoch der Hydraulik ein Potential der vollkommenen Neuerung, des Übertreffens, der Schaffung eines noch nie Dagewesenen inne. Es waren gerade Großbauten, mit denen die in der Natur vorgefundenen Möglichkeiten in bis dahin ungekannter Weise erweitert und außergewöhnliche Schwierigkeiten hinsichtlich der Geländebeschaffenheit oder der verfügbaren Wassermenge und -qualität überwunden wurden, die sich als Symbole städtischer Identität oder monarchischer Macht besonders eigneten. Dabei waren es nicht lediglich die »nützlichen« Infrastrukturen – wie Aquädukte, Kanäle oder Bewässerungssysteme –, die repräsentativ überhöht und propagandistisch instrumentalisiert wurden, sondern Eliten ließen häufig Wasserbauten errichten, die keinem unmittelbaren Nutzen dienten, sondern allein auf das Divertissement der Auftraggeber ausgerichtet waren.23 Damit transportierten sie selbstverständlich 22 Zu den unterschiedlichen Natur- und »Katastrophen«-Wahrnehmungen von bürokratischen Eliten und städtischer und ländlicher Mehrheitsbevölkerung: Christian Wieland, Grenzbewußtsein? Politiker und Bevölkerung in den römisch-florentinischen Auseinandersetzungen um das Chianatal unter Papst Paul V., in: Innsbrucker Historische Studien 23/24, 2004, 379–401. Vgl. dazu auch Mikhail, Nature, 58–66. 23 Vgl. z. B.: Albert Bauer, Wasser für Schlösser und Gärten, in: Wasserversorgung in der Renaissancezeit, 145–194, v. a. 151–153.

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eine kulturelle und politische Botschaft: Die Ptolemäer realisierten in den Gärten ihres Palastbezirks in Alexandria eine ganz eigentümliche ägyptischhellenistische Mischkultur, mit der sie einerseits ihre Herkunft und Gegenwart selbstbewusst zur Schau stellten, andererseits die ihnen zur Verfügung stehenden technischen und künstlerischen Ressourcen und die Fähigkeit zur Beherrschung und Transformation der Natur demonstrierten und schließlich soziale, kulturelle und auch religiöse Exklusivität gegenüber allen anderen Bevölkerungsgruppen markierten. Die Gartenanlagen von Versailles hatten ganz ähnliche Funktionen, wobei sie zugleich als eine Art von Laboratorium für eine auf das ganze Land bezogene Politik gelten können: Wie der König mit Hilfe seiner Architekten, Ingenieure und Gartenbaumeister in der Lage war, die unmittelbare Umgebung seiner Residenz aus dem Nichts – und im Angesicht massiver Probleme, die den naturräumlichen Gegebenheiten um Versailles innewohnten – in Ordnung und Schönheit zu verwandeln, so sollte schließlich auch Frankreich insgesamt so etwas wie ein Garten des Königs werden. Insofern waren die Techniken, die für die Residenzarchitektur erprobt wurden, keineswegs exklusiv, sondern hatten regelmäßig einen auf das Gemeinwohl bezogenen Sinn; unter den Bedingungen der Vormoderne wäre es ohnehin anachronistisch, von einem scharfen Gegensatz zwischen Luxus und Nutzen, fürstlich-aristokratischer Repräsentation und dem Wohl der Mehrheitsbevölkerung auszugehen. Andererseits mussten sich die fürstlichen und aristokratischen Aktivitäten im Wasserbau tatsächlich regelmäßig mit dem von den Auftraggebern selbst erhobenen Anspruch auf die Sorge um die Untertanen versöhnen lassen, denn ansonsten ließ sich leicht der Vorwurf erheben, sie vernachlässigten zugunsten der eigenen Bequemlichkeit und des Kults um ihre Person ihre genuinen Pflichten.24 Wenn in frühneuzeitlichen Architekturtraktaten auf die Pyramiden der Pharaonen verwiesen wurde, die keinen über sie selbst hinausweisenden Sinn gehabt hätten und lediglich Symbole der Unmenschlichkeit der ägyptischen Königsherrschaft seien, wurde damit – und nicht lediglich mit Blick auf eine weit entfernte und politisch und kulturell irrelevante Vergangenheit – die Forderung an Monarchen und Obrigkeiten erhoben, Architektur- und Ingenieursleistungen immer im Kontext des Großen und Ganzen – und nicht nur ihrer selbst – zu behandeln.25 24 Beispiele für diesen argumentativen und technischen Zusammenhang aus dem Italien der Renaissance bei: Bruce L. Edelstein, ›Acqua viva e corrente‹: Private Display and Public Distribution of Fresh Water at the Neapolitan Villa of Poggioreale as a Hydraulic Model for Sixteenth-Century Medici Gardens, in: Stephen J. Campbell, Stephen J. Milner (Hrsg.), Artistic Exchange and Cultural Translation in the Italian Renaissance City. Cambridge 2004, 187–220. 25 Andreas Böckler, Architectura Curiosa Nova. Der vierdte Theil. Darinnen nach dem Leben abgezeichnet […] seynd 36. schöner Grotten/Palacien, Lusthäuser und Lustgärten […]. Nürnberg o. J., 1–2. Ein politisches Beispiel für einen derartigen Umgang mit antiken Bauvorhaben in frühneuzeitlichen Argumentationen: David Goodman, Philip II’s Patronage of

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Die – zumindest rhetorische – Ausrichtung des Wasserbaus auf das Gemeinwohl verweist auf einen letzten kulturellen Zusammenhang: Es existierte eine auf jeden Fall seit der christlichen Ära verbreitete Vorstellung, nach der die Obrigkeiten sich gegenüber ihren Untertanen insgesamt zu verhalten hatten wie Ärzte gegenüber einzelnen, als Wahrer der Gesundheit und als Verteidiger gegen eindringende Krankheiten.26 Verschmutztes Wasser galt als eine der Hauptursachen für Epidemien, und so konzentrierten sich die auf die öffentliche Gesundheit und Hygiene zielenden Tätigkeiten von Fürsten oder städtischen Magistraten häufig auf eine Neuregelung der Trinkwasserversorgung sowie die Entsorgung von Wasser und zugleich von Abfällen, und dies durchaus schon vor der Hochphase des Ausbaus der Kanalisation im späten 19. Jahrhundert.27 Gerade in dieser Hinsicht spielte die Evozierung der klassischen – und v. a. der römischen – Antike eine gewichtige Rolle für das Selbstverständnis der technischen Eliten, die mit der Realisierung eines großdimensionierten Ingenieurswesens auch Vorstellungen von einem durchgreifenden »social engineering« verbanden. Wasserpolitik war in allen hier untersuchten historischen Zusammenhängen auch Gesellschaftspolitik; doch diese Ähnlichkeiten zwischen Antike und Neuzeit sollten einen grundlegenden Unterschied zwischen traditionellen Gesellschaften und der beginnenden Moderne nicht überdecken: Sowohl im archaischen Griechenland, im Hellenismus und im römischen Reich als auch im Europa der Frühen Neuzeit konnten die eigentlichen Fachleute des Wassers – (Natur-)Wissenschaftler, Hydrauliker und Juristen – nur insofern über das Wasser und mit seiner Hilfe Herrschaft ausüben, als sie sich selbst – und damit das Wasser – den sozialen Eliten zur Verfügung stellten; diese – Aristokraten, Könige und Kaiser – blieben die wahren Herren, des Wassers Science and Engineering, in: The British Journal for the History of Science 16, 1983, 49–66, hier 59: Als der italienische Architekt Giovanni Battista Antonelli dem spanischen König Philipp II. den Vorschlag machte, sämtliche Flüsse Spaniens schiffbar zu machen und zu einem untereinander verbundenen Netzwerk zusammenzuführen, kontrastierte er dieses nützliche Vorhaben mit den antiken Weltwundern, die lediglich auf Schau, auf Demonstration und Ostentation abgezielt hätten. Vgl. a. Mikhail, Nature, 42, 47. 26 Zu diesem Thema existiert keine zusammenfassende Darstellung; vgl.: Jacob Soll, Healing the Body Politic: French Royal Doctors, History, and the Birth of a Nation 1560–1634, in: Renaissance Quarterly 55, 2002, 1259–1286. 27 Zu Wasser- und Hygienepolitik in europäischen Städten der Frühen Neuzeit sowie zur Parallelisierung von Obrigkeiten und Ärzten vgl.: Marck S. R. Jenner, Curare l’ambiente senza dottori? Igiene pubblica a Londra nella prima et— moderna, in: Storia urbana 29–112, 2006, 39–64; Renato Sansa, Le norme decorose e il lavoro sporco. L’igiene urbana in tre capitali europee: Londra, Parigi, Roma tra XVI e XVIII secolo, in: ebd., 85–112. Vgl. a. Rockman, Scraping, 78–80. Zum Verhältnis von Entwicklungen in der medizinischen Forschung und im Ingenieurswesen im frühneuzeitlichen Europa vgl.: Marjorie O’Rourke Boyle, Harvey in the Sluice: From Hydraulic Engineering to Human Physiology, in: History and Technology 24, 2008, 1–22.

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ebenso wie der Gesellschaft.28 Erst mit der voranschreitenden Neuzeit beanspruchten die Experten aufgrund ihres Expertenwissens eine Führungsrolle, die sie den durch Herkunft oder Amtsführung privilegierten Eliten gleichberechtigt an die Seite stellen oder ihnen sogar überlegen machen sollte.29 Anders ausgedrückt: In vormodernen Gesellschaften mußte der Herrscher auch Ingenieur sein; in der Moderne wurde der Ingenieur zum Herrscher.

28 Dazu die Beiträge in: Eric H. Ash, Expertise: Practical Knowledge and the Early Modern State = Osiris 25, 2010. 29 Jens Ivo Engels, Philipp Hertzog, Die Macht der Ingenieure. Zum Wandel ihres politischen Selbstverständnisse in den 1970er Jahren, in: Revue d’Allemagne et des pays de langue allemande 43, 2011, 19–38.

Astrid Möller

Zwischen Agonalität und Kollektiv. Wasserversorgung im archaischen Griechenland

Griechenland ist ein trockenes Land. Im Sommer gibt es kaum Niederschläge. Etwas mehr Regen fällt im Winter, aber keineswegs gleichmäßig in allen Regionen. Auch wenn der Feldbau in der Regel ohne künstliche Bewässerung auskommen musste, zeigen bereits älteste Funde aus minoischer Zeit,1 wie die Wasserversorgung von Siedlungen und Palästen sichergestellt wurde. Auch Entwässerungssysteme waren seit frühesten Zeiten bekannt, wie die unterirdischen Entwässerungskanäle des Kopassees in Boiotien aus mykenischer Zeit belegen.2 In diesem Beitrag werden drei Beispiele für die Wasserversorgung und deren kulturelle Bedeutung in zwei Städten während der archaischen Zeit behandelt: Samos und Athen, beide in besonders trockenen Gegenden gelegen. Das Gewicht, das die Wasserversorgung für das Leben in Griechenland hatte,3 spiegelt sich in den vielen literarischen Nachrichten über antike Wasserbauwerke. Obwohl die Bedeutung der Versorgung mit frischem Quellwasser für die Anlage einer Stadt von Homer4 bis Aristoteles5 allgemein belegt ist, sind die historio1 Larry W. Mays, Demetris Koutsoyannis, Andreas N. Angelakis, A Brief History of Urban Water Supply in Antiquity, in: Water Science & Technology : Water Supply 7, 2007, 1–12; Andreas N. Angelakis, Demetrios S. Spyridakis, A Brief History of Water Supply and Wastewater Management in Ancient Greece, in: Water Science & Technology : Water Supply 10, 2010, 618–628; Philip P. Betancourt, The Dams and Water Management Systems of Minoan Pseira. Philadelphia 2012. 2 Jost Knauss, Die Melioration des Kopaisbecken durch die Minyer im 2. Jt. v. Chr., Kopais 2: Wasserbau und Siedlungsbedingungen im Altertum, Institut für Wasserbau und Wassermengenwirtschaft und Versuchsanstalt für Wasserbau, Oskar von Miller-Institut in Obernach, Technische Universität München, Bericht Nr. 57. München 1987. 3 Torsten Mattern, Wasserversorgung und Wasserbau. Siedlungen und ihr Umland im antiken Griechenland, in: Torsten Mattern, Andreas Vött (Hrsg.), Mensch und Umwelt im Spiegel der Zeit. Aspekte geoarchäologischer Forschungen im östlichen Mittelmeergebiet. Wiesbaden 2009, 75–95, gibt einen guten Überblick über die verschiedenen Aspekte. Vgl. auch Örjan Wikander (Hrsg.), Handbook of Ancient Water Technology. Leiden 2000, bes. 3–14, 105–119, 622–625. 4 Hom. Od. IX 140–1.

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Astrid Möller

graphischen Quellen zu den Wasserbauwerken durch einen Diskurs geprägt, der das Besondere und Außergewöhnliche hervorhebt. So werden Brunnenhäuser, Zisternen und andere wasserführende Bauwerke als großartige Ausnahmeleistungen charakterisiert, die keineswegs die von Neville Morley angeführte Rhetorik der Regelmäßigkeit angesichts der Unberechenbarkeit der Wasserversorgung bestätigen können.6 Die Wasserbauwerke werden als Leistungen einer Polis oder eines Machthabers herausgestrichen und damit Tempeln, Altären und Stadtmauern gleichgestellt, ohne dass jedoch ihre Bedeutung für die so lebensnotwendige Wasserversorgung besonders betont werden würde. Neben dem Diskurs der Ausnahmeleistung ist das Bedürfnis der Quellen hervorzuheben, Verantwortung für große Leistungen einzelnen Personen zu übertragen. Die moderne Forschung übernahm gerne diese Zuschreibungen und interpretierte Bauwerke, die in den spätarchaischen Poleis entstanden, auch die zur Wasserversorgung, als Folge der Herrschaft der Tyrannen und als Phänomene ihres Repräsentationsbedürfnisses.7 Diese Vorstellung widersprach auch gar nicht der älteren Forschung zur archaischen Tyrannis, die lange durch das Bild bestimmt wurde, das Aristoteles von den griechischen Tyrannen entworfen hatte. Die Tyrannis wurde als eigene Herrschaftsform verstanden, da Aristoteles sie als entartete Monarchie kategorisierte und eine Erklärung dafür lieferte, wie der Tyrann an die Macht kommen und diese erhalten konnte.8 Gerade die großen Bauwerke wurden so zu Programmen der Machterhaltung und Beschäftigung für die Bevölkerung, damit diese von der Politik abgelenkt würde. Hieraus entwickelte sich ein Topos, der auf die »Politik« des Aristoteles zurückgeht:9 5 Aristot. pol. VII 1330b4–7. 6 S. Morleys Beitrag in diesem Band. 7 Hermann J. Kienast, Die Tyrannis inszeniert sich – Großbauen auf der Insel Samos, in: ErnstLudwig Schwandner, Klaus Rheidt (Hrsg.), Macht der Architektur – Architektur der Macht. Bauforschungskolloquium in Berlin vom 30. Oktober bis 2. November 2002 (Diskussionen zur Archäologischen Bauforschung 8). Mainz 2004, 69–78; Hans-Joachim Gehrke, Jenseits von Athen und Sparta. Das Dritte Griechenland und seine Staatenwelt. München 1986, 119. 8 Doch wies bereits Ernst Kluwe, Bemerkungen zu den Diskussionen über die drei »Parteien« in Attika zur Zeit der Machtergreifung des Peisistratos, Klio 54, 1972, 123; Ernst Kluwe, Attische Adelsgeschlechter und ihre Rolle als Auftraggeber in der bildenden Kunst der spätarchaischen und frühklassischen Zeit, in: Reimar Müller (Hrsg.), Der Mensch als Maß aller Dinge. Studien zum griechischen Menschenbild in der Zeit der Blüte und Krise der Polis. Berlin (Ost) 1976, 29–63, darauf hin, dass es sich bei der Tyrannis nur um eine »Variante der Adelsherrschaft« handelte. Frank Kolb, Die Bau-, Religions- und Kulturpolitik der Peisistratiden, in: Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 92, 1977, 99–138, hier 137–8, nahm dies auf, um zwar das Interesse der Peisistratiden an der Sicherung der Herrschaft und Mehrung ihres Prestiges zu betonen, jedoch keineswegs ein tyrannisches Reformprogramm zu erkennen, das sie zu Interessenvertretern bisher benachteiligter Bevölkerungsschichten hätte machen können. 9 Aristot. pol. 1313b19–25, Übersetzung Olof Gigon mit Ergänzungen. Vgl. Greg Anderson,

Zwischen Agonalität und Kollektiv

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»Er [der Tyrann] wird auch die Untertanen arm machen, um seine eigene Wachmannschaft besolden zu können, und damit sie dauernd ihrem Lebensunterhalt nachgehen müssen und keine Zeit zu Konspirationen haben. Ein Beispiel dafür sind die ägyptischen Pyramiden, die Weihgeschenke der Kypseliden [Tyrannen in Korinth] und der Bau des Olympions durch die Peisistratiden [Tyrannen in Athen], dann die Bauten des [Tyrannen] Polykrates in Samos; denn all dies verfolgt dasselbe Ziel, Beschäftigung und Verarmung der Untertanen.«

Doch nicht nur der Machterhalt durch Beschäftigungs- und Ausbeutungsprogramme steht hier zur Diskussion, sondern auch das Bild vom Bedürfnis des Tyrannen nach Herrschaftsrepräsentation. Setzt es doch ebenfalls die Annahme voraus, es habe sich bei der Tyrannis um eine eigene Herrschaftsform gehandelt. Die neuere Forschung zur Tyrannis geht hingegen davon aus, dass zwischen tyrannoi und Anführern oligarchischer Gruppen kein Unterschied bestand.10 Eine archaische Tyrannis stellte kein eigenes politisches System dar, sondern eine extreme Form aristokratischer oder oligarchischer Herrschaft. Sieht man sich die soziopolitischen und kulturellen Rahmenbedingungen der archaischen Poleis an, so lässt sich diese These verdeutlichen. Spätestens ab dem 8. Jh. v. Chr. erkennen wir, dass sich Griechen in stadtstaatlichen Strukturen organisierten. Die Bürger ziehen gemeinsam in den Krieg, versammeln sich zu politischen Entscheidungen, entwickeln politische Ordnungen, an denen immer größere Gruppen beteiligt sind, und fixieren ihre Normen in Form schriftlicher Gesetze, die in Stein gehauen werden. Die größte Beteiligung an politischer Mitbestimmung fällt in dieser Zeit allerdings den Aristokraten zu, einer sozialen Gruppe, die es schafft, sich durch eine herausgehobene Lebensführung vom Rest der Gesellschaft abzugrenzen. Durch reiche wirtschaftliche Ressourcen verfügen die Aristokraten über die Mittel, die es ihnen ermöglichen, weite Reisen zu unternehmen, auf denen sie Gastfreundschaften pflegen, es aber auch zu kämpferischen Auseinandersetzungen kommt, bei denen sie Beute machen. Zuhause laden sie zu aufwendigen Gastmählern ein und verheiraten ihre Töchter mit Aristokraten anderer Poleis. Untereinander messen sie sich in sportlichen Leistungen oder in kriegerischen Erfolgen, aber auch guter Ratschlag und Weisheit sind Fähigkeiten, die den einen oder anderen über seine Statusgruppe hinausheben. Gelegentlich kommt es bei diesen agonalen Auseinandersetzungen zu blutigen Bürgerkriegen, die dahingehend enden können, dass einer von ihnen so viel Macht in seiner Polis erreichen kann, dass er die gesamte politische Macht in den Händen hält, andere Aristokraten ins Exil

Before Turannoi Were Tyrants: Rethinking a Chapter of Early Greek History, in: Classical Antiquity 24, 2005, 192–193. 10 Anderson, Tyrants, 173–222.

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Astrid Möller

drängt und von seinen Gegnern als Tyrann beschimpft wird. Diese instabile Herrschaftsform ist Folge der starken Agonalität der Aristokraten. Auch die Initiative zur Errichtung verschiedener Bauwerke konnte dem Konkurrenzkampf der Aristokraten dienen. Aristokraten waren immer auf Anhänger angewiesen, die ihnen den Status zuerkannten. Diese Anhänger lassen sich in der archaischen Polis auch innerhalb der Bürgerschaft, dem demos, suchen. Um die Bürger für sich zu gewinnen und die eigene Macht zu rechtfertigen, zählten nicht nur der Erfolg im Krieg oder bei athletischen Wettkämpfen, sondern auch die Verbesserung der Infrastruktur der Polis und der Lebensbedingungen ihrer Bürger. Indem Aristokraten durch Großzügigkeit bei der Errichtung von Tempeln und profanen Bauten miteinander wetteiferten, suchten sie bei den Bürgern Anerkennung ihres Status. Dieser enge Bezug der herrschenden Aristokraten auf die restlichen Bürger ist für die archaische Polis charakteristisch. Der Bau von Brunnenbauten und zuführenden Wasserleitungen war im 6. Jh. v. Chr. ein in griechischen Poleis weitverbreitetes Phänomen.11 Über die Gründe lässt sich nur spekulieren: Handelte es sich um die Folgen eines rapiden Bevölkerungswachstums, um gestiegene Lebensstandards, um Änderungen der allgemeinen politischen Lage oder um politischen Aktivismus als Ausdruck oben beschriebener Agonalität? Jedenfalls verbreitete sich die Bemühung um eine verbesserte Wasserversorgung rasch, was sich mit dem Konzept der peer polity interaction erklären lässt.12 Der umfassende Austausch von Informationen und materiellen Gütern zwischen autonomen politischen Einheiten förderte die schnelle Verbreitung neuer Entdeckungen und Entwicklungen. Der enge Kontakt der Eliten der archaischen Zeit durch Gastfreundschaften und Mobilität dürfte die Idee, Bauwerke zur Wasserversorgung in der Stadt zu errichten, stark gefördert haben. So wurde Wasserreichtum zum Qualitätsmerkmal einer aufstrebenden Stadt. Kein Aufwand wurde gescheut, wobei Samos keine Ausnahme darstellte, 11 Neben den hier behandelten Poleis Samos und Athen sind weitere Beispiele für Brunnenbauten im 6. Jh. v. Chr. zu nennen: die Glauke-Quelle in Korinth (Franz Glaser, Antike Brunnenbauten (kre¯nai) in Griechenland. Wien 1993, 72–73 Nr. 52; Nikolaos Arvanitis, I tiranni e le acque. Infrastrutture idrauliche e potere nella Grecia del tardo archaismo. Bologna 2008, 88–90), die Kastalia-Quelle in Delphi (Glaser, Brunnenbauten, 97–98 Nr. 68) und das Brunnenhaus in Aulis (Glaser, Brunnenbauten, 16–18 Nr. 9); für alle vgl. Renate TölleKastenbein, Antike Wasserkultur. München 1990, 132–133. Das Brunnenhaus in Megara (Glaser, Brunnenbauten, 71–72 Nr. 51) datiert archäologisch ins erste Viertel des 5. Jh., der literarische Beleg durch Paus. 1,40,1; 1,41,2 verbindet die Erbauung mit dem Tyrannen Theagenes im letzten Viertel des 7. Jh. v. Chr.; vgl. Nils Hellner: Die Krene von Megara, in: Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts. Athenische Abteilung 119, 2004, 163–220; 215–216 zum Problem der Datierung; Arvanitis, tiranni, 57–76. 12 Colin Renfrew (Hrsg.), Peer Polity Interaction and Socio-Political Change. Cambridge 1986.

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sondern allenfalls einen Höhepunkt,13 und Athen steckte auch nicht lange zurück. Im Folgenden soll nun der Versuch unternommen werden, anhand dreier Beispiele aus Samos und Athen die verbesserte Wasserversorgung im 6. Jh. v. Chr. nicht als Ausdruck der Herrschaftsrepräsentation eines einzelnen Tyrannen zu deuten, sondern als Ausdruck des gestiegenen Gemeinschaftsgefühls der Polisbürger, auch wenn es in dieser Zeit naheliegt, dass einzelne Aristokraten als Auftraggeber fungierten und in einem agonalen Streben nach mehr Anerkennung die Ressource Wasser für alle Bürger leichter zugänglich machten.

1.

Der Tunnel des Eupalinos auf Samos

Im dritten Buch seiner Historien berichtet Herodot, dass die Samier von allen Hellenen drei der größten Werke geschaffen hätten. Neben einem großen und tiefen Hafen und dem größten Tempel, der von dem samischen Baumeister Rhoikos gebaut worden sein soll, hätten sie den Eupalinos-Tunnel gebaut. Herodot beschreibt ihn folgendermaßen:14 »Durch einen einhundertfünfzig Klafter (265,5 m) hohen Berg haben sie unten an der Sohle einen Stollen getrieben mit zwei Mündungen. Lang ist dieser Stollen sieben Stadien (1239 m), hoch und breit je acht Fuß (2,36 m). In seiner ganzen Länge ist ein zweiter Graben ausgehoben, zwanzig Ellen tief (8,85 m), drei Fuß breit (0,89 m),15 durch den das Wasser, in Röhren geführt, in die Stadt gelangt, hergeleitet von einer starken Quelle. Der Erbauer dieses Stollens war Eupalinos, Naustrophos’ Sohn, aus Megara.«

Die bemerkenswert genauen Maßangaben lassen auf Herodots großes Interesse und Bewunderung für dieses Bauwerk schließen. Er muss den Tunnel von Süden her besichtigt haben, da im Norden die Maße um einiges kleiner sind. Mit keinem Wort schreibt Herodot dieses Bauwerk dem Tyrannen Polykrates zu. Er spricht allgemein von Bauwerken der Samier. Diese Beschreibung steht zwar im Kontext der Geschichte von der Gastfreundschaft des Polykrates mit Amasis, dem ägyptischen Pharao, dem das Glück des Polykrates ungeheuerlich 13 Hermann J. Kienast, Die Wasserleitung des Eupalinos auf Samos. Bonn 1995 (Samos XIX), 177–8. 14 Hdt. III 60 (Übs. Walter Marg). Kommentar bei Renate Tölle-Kastenbein, Herodot und Samos. Bochum 1976, 34–35. Nach Kienast, Wasserleitung, 172–174 kannte Herodot das Bauwerk sehr genau, seine Bezeichnung als amph†stomon (mit zwei Mündungen) bezieht sich auf die Technik der Herstellung. Herodot verwendete bei diesen Maßangaben den attischen Fuß. 15 Alle Maßangaben nach Kienast, Wasserleitung, 173. Die tatsächliche Höhe des Berges beträgt 237,5 m. Der Stollen ist tatsächlich 1036 m lang, Höhe und Breite messen je 2,10 m, der zweite Graben ist 8,25 m tief und 0,80 m breit.

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vorkommt und der deswegen die Gastfreundschaft aufkündigt,16 aber auch allgemeiner im Kontext des Feldzugs der Lakedaimonier gegen Samos auf Betreiben der exilierten Samier, so dass der Zusammenhang mit Polykrates nicht so eng ist wie meist angenommen. Explizit bezeichnet erst Aristoteles in der oben bereits zitierten Stelle diese Bauwerke als ¦rga Polykr‚teia, als Werke des Polykrates.17 Die Formulierung Herodots ist deshalb bemerkenswert, weil Bauwerke und andere Gründungen und Erfindungen von griechischen Autoren gerne einem einzelnen Verursacher (protos heurete¯s – erster Erfinder)18 zugeschrieben werden. Herodot unterlässt dies trotz aller Bewunderung, was zu impliziten Annahmen19 und weitreichenden Spekulationen20 geführt hat. Denkbar wäre, da Herodot das Kollektiv der Samier als Verantwortliche benennt, eine unreflektierte Rückprojektion seiner eigenen Zeit zu vermuten, in der in Athen wie auch in Samos das Volk über große Bauvorhaben abstimmte. Diese Überlegung sollte uns zur Vorsicht mahnen, weder aus dem Verschweigen des Polykrates noch aus der Bezeichnung als Werke der Samier auf eine unmittelbare Realität zu schließen. Doch wie sollen wir uns die Verantwortung und den Beginn eines solchen Bauvorhabens in spätarchaischer Zeit vorstellen? Im 6. Jh. v. Chr. war Samos eine reiche Insel. Die landschaftlichen Grundlagen waren für den Ackerbau nicht besonders günstig, so dass früh mit der Terrassierung der Berghänge begonnen wurde und eine zunehmende Konzentration auf Wein und Olivenanbau zu beobachten ist. Diese aufwendige und investitionsintensive Produktion konnten sich nur reiche Landbesitzer leisten, die als geomûroi, was so viel heißt wie »Landinhaber«, bekannt sind. Diese aristokratische Elite hatte ein besonderes Interesse daran, ihre produzierten Überschüsse zu verkaufen. Die Samier scheinen sich daher bereits frühzeitig verstärkt der Seefahrt gewidmet zu haben, denn Herodot kennt die Geschichten des sagenhaften Kolaios, der sowohl an die libysche Küste als auch ins südliche Spanien verschlagen wurde.21 Die fortschrittlichsten Kriegs- und Frachtschiffe wurden 16 Hdt. III 43. 17 Aristot. pol. 1313b24. 18 Adolf Kleingünther, Protos heurete¯s. Untersuchungen zur Geschichte einer Fragestellung. Diss. Göttingen 1933. 19 Kienast, Tyrannis, 70, versteht Herodot zunächst so, als seien die drei Bauwerke der Tyrannis zu verdanken, dann bemerkt er aber S. 77 Anm. 34, ganz richtig, dass Herodot die Urheberschaft nicht präzisiere. 20 Graham Shipley, A History of Samos 900–188 BC. Oxford 1987, 75, nimmt an, Herodot sei durch aristokratische Quellen aus Samos beeinflusst worden und würde daher den Namen des Polykrates verschweigen. Arvanitis, tiranni, 100–127, bezeichnet Polykrates als Bauherrn. Ausgehend von der sog. Thalassokratie des Polykrates sieht er den Tunnel als Erweiterung der Möglichkeiten des Hafens (S. 125). 21 Hdt. IV 152.

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hier gebaut,22 und bald unterhielten die Samier weitläufige Handelsbeziehungen,23 die ihre Polis zu einem »mittleren Agrarstaat mit bedeutender maritimer Komponente«24 machten. Nicht lange nach 600 v. Chr. zeigten sich Tendenzen einer Desintegration der aristokratischen Elite, die es potentiellen Tyrannen ermöglichte, größere Macht zu erringen.25 Einerseits kämpften Aristokraten um Macht und Ansehen, andererseits brauchten sie aber auch die Bürger, die sich mittlerweile durch ihre militärische Leistungsfähigkeit Gehör verschaffen konnten. Im 6. Jh. v. Chr. lassen sich auf Samos mehrere, nicht nur große, sondern ganz exzeptionelle Bauprojekte nachweisen. Die älteste Säulenhalle Griechenlands, die noch archäologisch fassbar ist, datiert in das ausgehende 7. Jh. Der erste Dipteros der Architekturgeschichte, ein Tempel mit doppelter Säulenreihe, wurde noch im ersten Viertel des 6. Jh. begonnen.26 Zum ersten Mal wurde ein kolossaler Altar auf den Tempel ausgerichtet. Aufgrund der schwierigen Bodenverhältnisse musste schon bald darauf ein zweiter Dipteros auf stärkeren Fundamenten und leicht verschoben errichtet werden, für den Säulenbasen des ersten Tempels verbaut wurden.27 Er hatte einen noch größeren Grundriss von 109 x 53 Metern und eine Säulenhöhe von fast zwanzig Metern. Das stellt die maximale Größe eines Tempels im 6. Jh. dar.28 Der Architekt Theodoros wurde ein gefragter Spezialist für Fundamente in schwierigem Gelände, so dass er auch an den Fundamenten des Artemistempels in Ephesos beteiligt war. Die anderen Großprojekte verbesserten die Infrastruktur der Stadt: Stadtmauer, Hafenmole und Wasserleitung. Die Stadtmauer wird von Herodot nicht erwähnt, da sie zu seiner Zeit nicht mehr außergewöhnlich war. Es handelte sich um eine Geländemauer, einen Befestigungsring, der nach fortifikatorischen Gesichtspunkten angelegt wurde und vom existierenden Stadtgebiet unabhängig ist. Diese Mauer muss aber vor der Wasserleitung gebaut worden sein.29 Auch wenn aus anderen Orten Griechenlands unterirdische Tunnelsysteme und ihre Brunnenhäuser bekannt sind, so ist doch der Tunnel des Eupalinos auf 22 23 24 25 26

Thuk. I 13,3; Plut. Perikles 26,4. z. B. in Naukratis Hdt. II 178. Gehrke, Jenseits von Athen und Sparta, 118–120. Shipley, Samos, 49–65. Hermann J. Kienast, Der Niedergang des Tempels des Theodoros, in: Athener Mitteilungen 113, 1998, 112–113. 27 Christoph Hendrich: Die Säulenordnung des ersten Dipteros von Samos. Bonn 2007 (Samos XXV). 28 Kienast, Tyrannis, 70–2, gibt eine anschauliche Schilderung des Aufwandes, der betrieben werden musste, um einen solch großen Tempel zu bauen. 29 Hermann J. Kienast, Die Stadtmauer von Samos. Bonn 1978 (Samos XV), 102; s. auch Rune Frederiksen, Greek City Walls of the Archaic Period, 900–480 BC. Oxford 2011, 184–5. Hdt. III 54,1 (vgl. III 39,1) erwähnt eine Belagerung durch die Lakedaimonier 524 v. Chr., teichos dürfte sich hier auf die Stadtmauer beziehen; vgl. Frederiksen, Greek City Walls, 21.

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Samos etwas ganz Besonderes. Viele Fragen zu seiner Erbauung sind noch immer ungeklärt. Nach Herodots Aussage wurde er von zwei Seiten vorangetrieben. Nach modernen Messungen trafen sich beide Arbeitsgruppen in der Mitte mit nur 60 cm Abweichung. Die Abweichung von der geraden Strecke, die beide Tunnelaustritte verbindet, beträgt gerade einmal 200 Meter. Die Methode, mit der man einen Tunnel auf diese Weise von zwei Seiten bauen konnte, beschrieb mehr als 500 Jahre später Heron von Alexandria im 1. Jh. n. Chr.30 Das Instrument, das er hierfür benutzen wollte und zum ersten Mal ausführlich beschrieb, ist die Dioptra, mit deren Hilfe er eine Reihe rechtwinkliger horizontaler Beobachtungspunkte um den Berg herum bestimmte, die er zu Dreiecken verband, durch die er die Angriffswinkel von beiden Seiten des Berges her angeben konnte. Die Erfindung dieses Instruments wird im Almagest des Claudius Ptolemäus aus dem 2. Jh. n. Chr. bereits dem Hipparchos von Nikaia zugeschrieben, dem Vater der wissenschaftlichen Astronomie, der im 2. Jh. v. Chr. lebte. Es ist umstritten, ob dieses Gerät jemals in der Antike zum Einsatz kam.31 Lange wurde davon ausgegangen, dass Heron bei seiner Beschreibung den samischen Tunnel im Auge hatte, obwohl er selbst keinen spezifischen Tunnel nennt oder eine Kenntnis des samischen Tunnels verrät. Betrachtet man die handschriftliche Überlieferung der Dioptra Herons, so lässt sich nicht einfach auf Herons Kenntnis des Eupalinos-Tunnels schließen. Die Handschrift, von der sich alle anderen ableiten und die die Grundlage für Hermann Schönes Edition bildet, stammt aus dem 11./12. Jh.32 Keinesfalls lässt sich aus einer dort enthaltenen Zeichnung schließen, dass Heron bei seinen Ausführungen den Eupalinos-Tunnel vor Augen hatte.33 Bestenfalls lässt sich belegen, dass der Schreiber der Handschrift das Tunnelproblem auf Samos kannte. Ein recht freier Umgang mit dieser Handschrift zeigt sich auch darin, dass in Schönes Edition eine Umzeichnung abgedruckt ist, die die Vermessung des Berges von Osten her zeigt, während Bartel L. van der Waerden in seiner Zeichnung die Winkel an der Westseite anlegte,34 die zwar deutlich kleiner ist, aber im Gelände weniger überschaubar.35 Erst Wolfgang Kastenbein, ein professioneller Bergbauingenieur, unternahm 1958 einen Survey und kam ohne jeden Verweis auf Heron auf die Idee, dass die 30 Heron von Alexandria, Dioptra XV, ed. Schöne, Bd. 3. Leipzig 1903, 239–41. 31 A.G. Drachmann: The Mechanical Technology of Greek and Roman Antiquity. Kopenhagen 1963, 198. 32 Codex Mynas, BibliothÀque Nationale Paris, Supl. Grec. Nr. 607. 33 So jedoch Alfred Burns, The Tunnel of Eupalinos and the Tunnel Problem of Hero of Alexandria, in: Isis 62, 1971, 183. 34 Bartel L. van der Waerden: Science Awakening. Oxford 1961, 103. 35 Burns, Tunnel of Eupalinos, 179–82.

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simpelste Methode die Befestigung einer Reihe von Fluchtstangen über den Berg sei. Die Erhebung der Endpunkte des Tunnels wäre dann von einer waagerechten Basislinie rund um die Westseite des Berges erfolgt.36 In einem späteren Artikel erkannte er Herons Methode als Möglichkeit an; es sei aber nicht zu entscheiden, welcher Methode Eupalinos gefolgt sei.37 Die Frage nach der Funktion des im Tunnel ausgehobenen Grabens, eines zweiten Tunnels, in dem sich die wasserführenden Tonröhren befanden, wurde ebenfalls lange diskutiert. So vertrat einst Carl Curtius die Meinung, er könnte der Belüftung gedient haben.38 Alfred Burns argumentierte hingegen, dass sich das nötige Gefälle für die Wasserleitung nur von einem Basistunnel aus herstellen ließ, der im Übrigen fast horizontal konstruiert war.39 Dieser am Rande des Basistunnels verlaufende, eingetiefte weitere Graben hat in der Tat ein Gefälle von mehr als fünf Meter, am Nordende beginnt er fast vier Meter tiefer als der Tunnel, an dessen Südende ist er mehr als acht Meter tief. Nicht nur technisch, auch in der Ausführung, handelt es sich um eine Meisterleistung. Es ist schwer abzuschätzen, wie viele Arbeitskräfte wohl für ein solches, mindestens zehn Jahre andauerndes Unterfangen gebraucht wurden, bei dem mehr als 7000 m3 Stein gebrochen und ca. 5000 Tonröhren gebrannt und verbaut werden mussten.40 Der griechische Architekt Eupalinos muss über hervorragende geometrische und technische Kenntnisse verfügt haben, um ein solches Projekt zu einem erfolgreichen Ende zu bringen. Einfacher wäre ein abgedeckter Kanal gewesen, der das Wasser der Quelle um den Berg Kastro herum in die Stadt geführt hätte. Aber er wählte die aufwendigere Art, vielleicht nur, um seine Kenntnisse zu zeigen. Jedoch war es durch den Tunnel leichter, ein ständiges Gefälle zu schaffen, das über die Länge des Tunnels immerhin vier Meter beträgt, wie auch die ständige Wartung der Wasserleitung zu sichern. Darüber hinaus kam es sicherlich dem Sicherheitsbedürfnis entgegen, dass die Strecke, die das Wasser außerhalb der Geländemauer zu überwinden hatte, kürzer war. Neben Fragen nach der Ingenieursleistung wird auch die Datierung des Tunnels diskutiert. Da Herodot keinen genauen Anhaltspunkt für eine Datierung bildet, stützten sich viele Forscher auf Aristoteles und datierten in die Zeit des Polykrates. Der archäologische Befund legt jedoch eine frühere Datierung 36 Diese Methode favorisiert Kienast, Wasserleitung, 190. 37 Wolfgang Kastenbein: Markscheiderische Messungen im Dienste der Archäologischen Forschung, Mitteilungen aus dem Markscheidewesen 73, 1966, 26–36 (zitiert nach Burns, Tunnel of Eupalinos, 177 Anm. 21). 38 Wiedergegeben durch Augustus C. Merriam, A Greek Tunnel of the 6th Century B.C., The School of Mines Quarterly 4, 1885, 272 (nach Burns, Tunnel of Eupalinos, 175 Anm. 9). 39 Burns, Tunnel of Eupalinos, 175–176. 40 Kienast, Tyrannis, 76 zu Schätzungen der Arbeitskräfte; Kienast, Wasserleitung, 105–8.

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nahe, auch wenn es an sicheren Datierungskriterien mangelt. Kienast verbindet die Wasserleitung überzeugend mit den anderen Großbauten auf Samos, die in das zweite Viertel des 6. Jh. zu datieren sind, und kommt so auf einen Zeitraum von vor 550 bis 530 v. Chr.41 Polykrates soll von 537–522 v. Chr. die Macht auf Samos innegehabt haben.42 Der Tunnel müsste demnach bereits vor seiner Machtübernahme begonnen, wenn nicht fast fertig gewesen sein. Es werden Konkurrenten des Polykrates gewesen sein, die Anhänger unter den Bürgern für sich zu gewinnen suchten, indem sie eine verbesserte Wasserversorgung anregten und sich einen Spezialisten aus Megara holten, um diesen Plan in die Tat umzusetzen. Ein Großprojekt wie dieses erforderte umfassende Planung und professionelle Durchführung, die von Eupalinos geleistet wurde. Nur sein Werk wird unter den von Herodot genannten samischen Bauten durch die Nennung des Namens des Baumeisters besonders hervorgehoben, was seinen Namen unsterblich machte. Die Wasserleitung funktionierte übrigens ohne große Nachbesserungen, nur mit der üblichen Wartung, über mehr als 1100 Jahre.43 Auch wenn gewiss jemand die Initiative ergreifen und die nötige Finanzierung zur Verfügung stellen musste, so bedurfte es zur Durchführung eines solch gewaltigen Bauvorhaben der Unterstützung der Bürger der Polis.44 Eine so wichtige Infrastrukturmaßnahme konnte viele Bürger überzeugen, ein derartiges Bauwerk gemeinsam anzugehen und tatkräftig zu unterstützen. Im Kontext des 6. Jh. sollte man besser nicht von demokratischen Entwicklungen sprechen, doch dürfte die bürgerliche Ordnung der Polis durch diese Gemeinschaftsaufgabe gestärkt worden sein.45 Der mächtige Mann mit dem Vorschlag könnte der spätere Tyrann Polykrates gewesen sein, oder einer oder mehrere seiner Konkurrenten aus der Gruppe der geomûroi. Dass es dann aber als ein gemeinschaftliches Werk der Samier im Gedächtnis blieb, das bestätigt Herodot durch seine Worte.

41 Kienast, Wasserleitung, 181–2. 42 Loretana de Libero, Die ältere Tyrannis. Stuttgart 1996, 251–2, 259–61; Shipley, Samos, 78, datiert Polykrates nach den Bauwerken und kommt so auf eine Machtübernahme bereits in den 540er Jahren. 43 Kienast, Tyrannis, 78. 44 So auch Kienast, Tyrannis, 77. 45 Vgl. Arvanitis, tiranni, 124, der diese Infrastrukturmaßnahme jedoch eng mit der Person des Polykrates verbindet.

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2.

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Das Brunnenhaus am südöstlichen Rand der Agora in Athen

Das sog. Südostbrunnenhaus wird von Pausanias46 dem Peisistratos zugeschrieben und ist Teil eines umfassenden Systems von Pipelines, das der Wasserversorgung in Athen diente, indem es das Wasser aus den Hügeln östlich von Athen heranführte. Dieses Wasserleitungssystem wird von Renate Tölle-Kastenbein ins letzte Viertel des 6. Jh. datiert.47 Jedoch ist keineswegs gesichert, wie umfangreich das Wasserleitungsnetz bereits in spätarchaischer Zeit war. Im Gegensatz zur Wasserversorgung in Samos oder auch im hier nicht weiter behandelten Megara48 fand diese technische Großleistung der weitverzweigten Wasserleitungen in Athen keinen literarischen Niederschlag.49 Das Südostbrunnenhaus wurde durch die weiter oben vom Ilissos wegführende Hauptleitung gespeist, die dann südlich der Akropolis vorbeigeführt wurde. Die genaue Lokalisierung des peisistratidischen Brunnenhauses ist durchaus nicht unumstritten, da sich die Quellen hier widersprechen.50 Pausanias51 identifizierte bei seinem Rundgang über die Agora das Südostbrunnenhaus mit der krene (Brunnenhaus, Wasserspeier), die die Athener Enneakrounos nennen, was man mit »neun Wasserspeier« übersetzen kann, da Peisistratos sie so ausgeschmückt hätte. Er hält sie allerdings für die einzige Quelle im Stadtgebiet, was nicht stimmt, da das Brunnenhaus durch Leitungen und keine Quelle gespeist wurde. Zudem widerspricht er sich, da er selbst zwei weitere Quellen im Stadtgebiet nennt.52 Vielleicht hat Pausanias die Information über die Quelle aus Thukydides herausgelesen. Thukydides,53 der im Zuge der Umsiedlung der Bevölkerung Athens hinter die Langen Mauern auf den Synoikismos des Theseus zu sprechen kommt, erklärt, dass die alten Tempel auf der Akropolis und einem 46 Paus. I 14,1. 47 Renate Tölle-Kastenbein, Das archaische Wasserleitungsnetz für Athen. Mainz 1994, 101–3. Für neuere Forschungen zum Verlauf der Wasserleitungen s. Eustathios D. Chiotis, Water Supply and Drainage Works in the Agora of Ancient Athens, in: Angeliki Giannikouri (Hrsg.), The Agora in the Mediterranean from Homeric to Roman Times, International conference Kos 14–17 April 2011. Athen 2011, 165–179. Über neuere Forschungen zu Wasserversorgung in Athen s. Jutta Stroszeck, Cisterns of the Classical Bathhouse on the Kerameikos Road in front of the Dipylon, in: I.K. Kalavroutsiotis, A.N. Angelakis (Hrsg.), International Water Association (IWA) Regional Symposium on Water, Wastewater and Environment: Traditions and Culture, Patras (Greece), 22-24 March 2014. Patras 2014, 499507. 48 Literatur s. oben Anm. 11. 49 Tölle-Kastenbein, Wasserleitungsnetz, 3. 50 Diskussionen bei Richard E. Wycherley, Literary and Epigraphical Testimonia. Princeton 1957 (The Athenian Agora III), 140–2; Edwin J. Owens, The Enneakrounos Fountain-House, in: The Journal of Hellenic Studies 102, 1982, 222–225. 51 Paus. I 14,1. 52 Paus. I 21,4 (Asklepieion); I 28,4 (Klepsydra). 53 Thuk. II 15,5.

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Gebiet südlich davon, etwa der Gegend des Olympieions, gelegen hätten. Dort lokalisiert er auch die Enneakrounos und behauptet, die Peisistratiden hätten die einst offen sprudelnde Quelle KallirrhoÚ durch neun Wasserspeier ausgeschmückt. Folgt man Thukydides, so lag die Enneakrounos im Ilissostal,54 südlich vom Olympieion, außerhalb der späteren Stadtmauern, und wurde durch eine Quelle, nicht das Wasserleitungsnetz, gespeist. Vielleicht liegt die Lösung aber darin, unter dem Begriff Enneakrounos das gesamte Wasserleitungsnetz der Peisistratiden zu verstehen, eben als »neunfältigen Brunnen«, wie dies einst Doro Levi vorgeschlagen hatte.55 Dann würden sowohl das Brunnenhaus an der Agora wie auch die KallirrhoÚ-Quelle im Ilissos-Tal zu diesem System gehören. Zwischen 530 und 520 v. Chr. wurden in der südöstlichen Ecke der Agora mehrere Privathäuser abgerissen, um Platz für ein neues Gebäude zu schaffen. Es handelte sich dabei um ein Brunnenhaus mit drei Räumen, dessen Maße 18,20 m auf 6,80 m betragen: Von dem großen mittleren Raum konnte man in zwei kleinere Räume gelangen. Im tiefer gelegenen westlichen Raum dürfte sich ein Becken befunden haben, aus dem man das Wasser schöpfen konnte. Im höher gelegenen östlichen Raum, der durch eine Stufe vom mittleren Raum abgesetzt ist, konnte man das Wasser aus Wasserspeiern zapfen.56 Nach Tölle-Kastenbein ist die Kombination aus Schöpf- und Zapfkrene unter einem Dach ungewöhnlich.57 Das Wasser wurde durch Versorgungsleitungen aus Terrakotta herangeführt, die für einen stetigen Wasserzulauf sorgten. Überlaufrohre verhinderten das Überlaufen des Wassers und regelten den Abfluss. Das Südostbrunnenhaus lässt sich durch Keramikfunde in das letzte Viertel des 6. Jh. datieren.58 So könnten die Peisistratiden für das Brunnenhaus verantwortlich sein, ohne zugleich das gesamte Wasserleitungssystem gebaut haben zu müssen. Möglicherweise veranlassten sie das Ganze als öffentliches Projekt und finan54 So Renate Tölle-Kastenbein, Kallirrhoe und Enneakrounos, in: Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 101, 1986, 55–73; Tölle-Kastenbein, Wasserleitungsnetz, 88. Sie datiert folglich auf nach 527 v. Chr. 55 Doro Levi, Enneakrounos, in: Annuario della Scuola Archeologica di Atene e delle missioni italiane in Oriente 39–40, 1961–62, 149–71. Arvanitis, tiranni, 193–6, und Girolamo F. de Simone, Le donne alla fontana sui vasi attici a figure nere, in: Giovanna Greco, Bianca Ferrara (Hrsg.), Doni agli dei. Il sistema dei doni votivi nei santuari, Atti del seminario di Studi Neapel 21 aprile 2006. Pozzuoli 2008, 330–331, folgen Levi. 56 Homer A. Thompson, Richard E. Wycherley, The Agora of Athens. The History, Shape and Uses of an Ancient City Center. Princeton 1972 (The Athenian Agora XIV), 197–200. 57 Tölle-Kastenbein, Wasserleitungsnetz, 73. 58 Homer A. Thompson, Excavations in the Athenian Agora, in: Hesperia 22, 1953, 29–35 (Datierung zunächst Mitte 6. Jh); Homer A. Thompson, Activities in the Athenian Agora 1955, in: Hesperia 25, 1956, 49–52 (Keramik am Südostzufluss datiert früh ins letzte Viertel des 6. Jh.). Renate Tölle-Kastenbein, Bemerkungen zur absoluten Chronologie spätarchaischer und frühklassischer Denkmäler Athens, Archäologischer Anzeiger 1983, 573–584, datiert das Brunnenhaus in das letzte Jahrzehnt des 6. Jh. hinab.

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Steinplan und Rekonstruktion des Brunnenhauses am südöstlichen Rand der Agora, Ó American School of Classical Studies at Athens: Agora Excavations 2008.20.0042

zierten einen besonders hervorragenden und sichtbaren Teil, das Brunnenhaus in der Südostecke der Agora.59 Die Agora entwickelte sich in dieser Zeit zum neuen repräsentativen bürgerlichen und religiösen Zentrum Athens.60 Auch für Athen im 6. Jh. steht zu vermuten, dass aristokratische Anführer Bauwerke initiierten, die vielleicht sogar von der Bürgerschaft mitgetragen wurden, ihnen aber in jedem Fall die Anerkennung der Bürger und damit die Macht in der Polis sicherten.

59 Johannes S. Boersma, Athenian Building Policy from 510/0 to 405/4 B.C. Groningen 1970, 23, 221. 60 Vgl. Johannes S. Boersma, Peisistratos’ Building Activity Reconsidered, in: Heleen SancisiWeerdenburg (Hrsg.), Peisistratos and the Tyranny : A Reappraisal of the Evidence. Amsterdam 2000, 54; John McK. Camp II, Einführung in die Geschichte der Agora von Athen, in: John McK. Camp II, Craig A. Mauzy (Hrsg.), Die Agora von Athen. Neue Perspektiven für eine archäologische Stätte. Mainz 2009 (Sonderband Antike Welt), 11–38.

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Verbindung der Überlaufrohre der Becken, Ó American School of Classical Studies at Athens: Agora Excavations 2008.20.0044

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Brunnenhausdarstellungen auf athenischen Hydrien61

Unmittelbar nach Errichtung des Brunnenhauses auf der Agora, ab 525 v. Chr., begannen attische Vasenmaler Frauen beim Wasserholen in einem Brunnenhaus darzustellen.62 Diese Szenen finden sich zunächst ausschließlich auf Hydrien, einer Gefäßform, die typischerweise selbst zum Wasserholen bestimmt gewesen ist63 und meist mit der Welt der Frauen verbunden wird.64 Da die abgebildeten Frauen auch selbst Hydrien in der Hand halten, auf dem Kopf tragen oder mit Wasser befüllen, hat Jennifer Neils diese Vasenbilder als selbstreferentiell gedeutet, als ob der Töpfer seine Ware und ihren Nutzen für weibliche Klienten

61 Die folgenden Überlegungen verdanken viel den Gesprächen mit der Freundin und Kollegin Bettina Kreuzer, die mich auch an anderer Stelle freundschaftlich korrigiert hat. Alle verbliebenen Fehler liegen allein in meiner Verantwortung. 62 Nikolaus Himmelmann, Archaische Brunnenhausbilder, in: T. Korkut (Hrsg.), Festschrift für Fahri Is¸ik zum 60. Geburtstag. Istanbul 2004, 351 mit älterer Literatur. 63 Ann Steiner, The Alkmene Hydrias and Vase Painting in Late-Sixth-Century Athens, Hesperia 73, 2004, 455. 64 Alexandra Alexandridou, De l’eau pour les d¦funts. Les hydries — d¦cor peint en contexte fun¦raire attique de l’–ge du fer — l’¦poque archaque, Pallas 94, 2014, 17.

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gleich mit angepriesen hätte.65 Gegen diese Überlegung spricht jedoch, dass die hier zu betrachtenden Hydrien generell größer sind als die normalerweise zum Wasserholen verwendeten. Es sind nur wenige schwarzfigurige Werkstätten, die diese Vasen in großer Menge produzierten.66 Obwohl diese schwarzfigurige Serie nach Einführung der rotfigurigen Technik um 530 v. Chr. weiterhin in der alten Technik produziert wurde, sollte dies nicht unbedingt als konservativer Zug gesehen werden.67

Brunnenhausdarstellung auf einer attischen Hydria aus Vulci (Detail) London BM 1837,0609.53 (B 334), Ó Trustees of the British Museum

Die Serie mit Hydrien tragenden Frauen beginnt bereits um 540 v. Chr., als Prozessionen, jedoch ohne die Darstellung von Brunnenhauselementen. Dadurch gewinnt der Beginn der Darstellung von Brunnenhausarchitektur auf Hydrien zum Zeitpunkt der Errichtung des Brunnenhauses auf der Agora eine besondere Signifikanz, ohne dass sich jedoch in den Darstellungen selbst ein Bezug auf das real-existierende Brunnenhaus feststellen ließe.68 65 Jennifer Neils, Women in the Ancient World. London 2011, 120. 66 Monika Trümper, Gender and Space, »Public« and »Private«, in: Sharon L. James, Sheila Dillon (Hrsg.), A Companion to Women in the Ancient World. Oxford 2012, 288, kennt 71 attisch schwarzfigurige und vier rotfigurige Vasen aus der Zeit zwischen 525 bis 490 v. Chr. 67 Steiner, Alkmene Hydrias, 427–463. 68 Tölle-Kastenbein, Kallirrhoe, 66–73; Tölle-Kastenbein, Wasserleitungsnetz, 102, verwendete

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Es stellt sich folglich die Frage, ob diese Darstellungen eine alltägliche Realität abbildeten oder eine symbolisch umgesetzte kulturelle Lebenswelt, die wir mit unserer heutigen Betrachtungsweise nur schwer entschlüsseln können. Diese Serie von Hydrien zeigt Szenen, die wie aus dem Leben genommen wirken: Frauen holen Wasser am Brunnen. Normalerweise enthalten Vasenbilder nicht so viel Architektur, wodurch diese Szenen recht außergewöhnlich sind: Sie zeigen Details von Säulen, Dächern und Wasserspeiern, die aufgrund ihrer Größe öffentliche Gebäude sein dürften. Aber nicht nur ist die Architektur ein besonderes Merkmal, sondern auch das auffällige Interesse an der Darstellung von Frauen. Bereits in geometrischer Zeit wurden Frauen beim Leichenzug oder bei Reigentänzen abgebildet, aber das darstellerische Interesse galt stets der Prothesis oder der rituellen Handlung, nicht den Frauen selbst.69 Die Brunnenhausszenen haben viele Diskussionen ausgelöst, da keineswegs klar ist, welche Art von Frauen dargestellt ist. Geht man von der Annahme aus, es handle sich um Alltagsszenen, dann gerät man mit der These in Konflikt, die Athener Bürgerin habe sich im Alltag nicht in der Öffentlichkeit gezeigt.70 Es könnte sich auch um Hetären71 oder Sklavinnen72 handeln, wobei letztere in der schwarzfigurigen Vasenmalerei schwer zu identifizieren sind. Unklar bleibt auch das Alter der dargestellten Frauen. Trotz der zeitlichen Nähe zwischen der Errichtung des Brunnenhauses und dem Auftreten dieser Darstellungen ist der Bezug zwischen Vasenbildern und dem bestehenden Brunnenhaus auf der Agora nicht so einfach und direkt wie häufig vermutet. So scheinen die Brunnendarstellungen auf Vasen zu vielfältig, um eine Entsprechung als Gebäudetypen in der Realität zu haben, und auch die

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in methodisch problematischer Weise die Abbildungen auf Vasen zur Datierung und Bestimmung des realen Bauwerks. Steiner, Alkmene Hydrias, 461, sieht eine Verbindung zwischen peisistratidischem Brunnenhaus und dem Aufkommen von schwarzfigurigen Hydrien allgemein. Vgl. Susanne Pfisterer-Haas, Mädchen und Frauen am Wasser. Brunnenhaus und Louterion als Orte der Frauengemeinschaft und der möglichen Begegnung mit einem Mann, Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 117, 2002, 9–10. FranÅois Lissarrague, Frauenbilder, in : Georges Duby, Michelle Perrot (Hrsg.), Geschichte der Frauen, Antike hg. von Pauline Schmitt Pantel. Frankfurt a.M. 1997, 226, sieht im Brunnen(haus) einen öffentlichen Ort für Frauen vergleichbar dem Marktplatz für Männer. Jiri Frel, Hetaira kale — la fontaine, Rivista di Archeologia 20, 1996, 39–42; Alan Shapiro, Brief Encounters: Women and Men at the Fountain House, in: Bernhard Schmaltz, Magdalene Söldner (Hrsg.), Griechische Keramik im kulturellen Kontext, Akten des internationalen Vasen-Symposions Kiel 2001. Münster 2003, 96–98, argumentieren auf der Grundlage von Namensbeischriften. Dagegen de Simone, donne alla fontana, 318–319, und Himmelmann, Brunnenhausbilder, 353–354, die durch Namensvergleiche auch freie Athenerinnen und Ehefrauen belegen können. Lise Hannestad, Slaves and the Fountain House Theme, in: Herman A.G. Brijder (Hrsg.), Ancient Greek and Related Pottery, Proceedings of the International Vase Symposium (Amsterdam, 12–15 April 1984). Amsterdam 1984, 252–255.

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Art und Weise, wie das Wasserholen dargestellt wird, hat nichts mit der Praxis zu tun, soweit es sich in den Ruinen nachweisen lässt.73 Ohne hier die ganze Brunnenhäuserdebatte aufrollen zu können, kann man zunächst nur festhalten, dass Frauen dargestellt sind, die im Brunnenhaus Wasser holen. Auffallend ist, dass die Frauen in Gruppen auftreten und meist deutlich miteinander kommunizieren. Ihre Kleidung ist festlich, und die Bewegungen sind gemessen, was auf einen feierlichen Rahmen hindeutet.74 Berücksichtigt man zudem die Bilder auf den Schultern der Hydrien, so fällt auf, dass sehr häufig Kampfszenen, Kriegerabschiede oder Wagen mit Pferden abgebildet sind.75 Daraus hat Nikolaus Himmelmann geschlossen, dass die Brunnenhausbilder keine Zeugen des spätarchaischen Alltags seien, sondern Ausdruck einer ideologisch begründeten, sich homerisch stilisierenden Vorstellungswelt, einer Selbstdarstellung der zeitgenössischen Aristokratie und ihrer Nachahmer.76 Dennoch muss man sich fragen, wie die Szenen weiblicher Anmut in einen männlich-aristokratischen Kontext passen. Eine weniger aristokratische Interpretation schlägt vor, das Wasserholen als Metapher für unverheiratete Frauen zu verstehen, die am öffentlichen Brunnen als Chiffre für den bürgerlichen Raum der Polis mit all seinen kulturellen und religiösen Bedeutungsnuancen ihre bürgerliche Identität zeigen und als Jungfrauen auf der Schwelle zur Heirat öffentlich sichtbar sind.77 Das würde wiederum nicht erklären, warum manchmal auch Frauen mit deutlichen Alterungsspuren abgebildet sind.78 Ein ritueller Kontext könnte sich durch die frühen Szenen wasserholender Frauen bestätigen, denn bevor die Brunnenhausarchitektur hinzutritt, werden Prozessionen von Frauen mit Hydrien auf den Köpfen abgebildet.79 Seit einigen 73 Hermann J. Kienast, Briefliche Mitteilung an Himmelmann in: Himmelmann, Brunnenhausbilder, 351 Anm. 4. 74 Pfisterer-Haas, Brunnenhaus, 11–2. 75 Chiara Pilo, Donne alla fontana e hydriai. Alcune riconsiderazioni iconografiche sul rapporto tra forma e immagine, in: Ricerca e confronti 2010. Atti di giornate di studio di archeologia e storia dell’arte a 20 anni dall’istituzione del Dipartimento di Scienze Archeologiche e Storico-artistiche dell’Universit— degli Studi di Cagliari (Cagliari, 1–5 marzo 2010), ArcheoArte. Rivista elettronica di Archeologia e Arte Supplemento 2012 al numero 1 (http://archeoarte.unica.it/), 369, für ein Säulendiagramm der Verteilung der verschiedenen Themen. 76 Himmelmann, Brunnenhausbilder, 355. 77 Pfisterer-Haas, Brunnenhaus, 13; Victoria Sabetai, The poetics of maidenhood: visual constructs of womanhood in vase-painting, in: Stefan Schmidt, John H. Oakley (Hrsg.), Hermeneutik der Bilder. Beiträge zur Ikonographie und Interpretation griechischer Vasenmalerei. München 2009 (Beihefte zum CVA IV), 103–114. 78 Hydria München, Antikensammlungen 1715 der Leagros-Gruppe, ABV 366.71 (Hinweis von Bettina Kreuzer). 79 Zur Verwendung von Hydrien im Kult allgemein s. Ingrid Krauskopf, Hydria und verwandte

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Jahren gilt es in der Forschung als anerkannt, dass sich Athener Bürgerinnen bei religiösen Festen in der Öffentlichkeit bewegten und eine Art Kultbürgerschaft besaßen.80 Die häufige Darstellung von Binden und Girlanden auf diesen Vasen spräche dafür, nur leider finden sie sich nicht auf allen Vasen, und eine Verbindung zu konkreten Ritualen wie das der Hydrophoria bei den Anthesterien81 lässt sich nicht belegen. Dagegen folgt Chiara Pilo dem Gedanken Erika Diehls82 und argumentiert für eine Verbindung dieser Hydrien mit den Hydrophorien, woraus sie auf einen Bezug zum Totenkult schließt, da das Ritual der Hydrophorien dem Gedenken an die Toten der Deukalionischen Flut gewidmet war. Der Bezug zum Totenkult werde noch durch die Tatsache bestärkt, dass fast alle Exemplare dieser Reihe in etruskischen Gräbern gefunden wurden.83 Dort dienten die repräsentativen Vasen nicht dem Wasserholen, sondern der Verwendung beim Symposion und der zeremoniellen Aufstellung im Grab.84 Die neueren Interpretationen verfolgen in jedem Fall nicht mehr den Versuch, aus diesen Vasenbildern auf die sozio-historische Realität zu schließen. Man geht davon aus, dass sie keine unmittelbaren Alltagsszenen darstellen, sondern eine Kombination von idealen, wünschenswerten weiblichen Qualitäten wie Schönheit und sozialem Ansehen präsentieren, und dies an einem öffentlichen Ort, der zu Aktivitäten anregt, die gerade diese Qualitäten besonders herauszustellen helfen. Die zeremonielle und würdige Atmosphäre der Brunnenhausdarstellungen spielt auf das öffentliche Auftreten von Frauen bei Festen an, ohne sich jedoch auf konkrete Ereignisse oder Praktiken des täglichen Lebens zu beziehen, schon gar nicht auf das wirkliche Wasserholen am Brunnen. Das Brunnenhaus spielt als symbolischer Topos auf die fragwürdigen Begegnungen zwischen den Geschlechtern und das potentiell transgressive Verhalten an, das

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Gefässe zum Transport von Wasser, in: Thesaurus Cultus et Rituum Antiquorum (ThesCRA) V, 2005, 170–171. Josine Blok, Recht und Ritus in der Polis. Zu Bürgerstatus und Geschlechterverhältnissen im klassischen Athen, Historische Zeitschrift 278, 2004, 1–26; Eva Stehle, Women and religion in Greece, in: Sharon L. James, Sheila Dillon (Hrsg.), A Companion to Women in the Ancient World. Oxford 2012, 191–203. Suda, Photios, Etymologicum Magnum, Hesychius, jeweils s.v. hydrophor†a. Dort werden die Hydrophoria wortgleich als Trauerfest der Athener zu Ehren derjenigen, die durch die Deukalionische Flut umkamen, erklärt. Ludwig Deubner, Attische Feste. Darmstadt 1959, 113, verband diese Nachricht mit dem dritten Tag der Anthesterien, dem Chytrenritual, das aitiologisch auf die Deukalionische Flut zurückgeführt wird. Erika Diehl, Die Hydria. Formgeschichte und Verwendung im Kult des Altertums. Mainz 1964, 130–133. Pilo, Donne 2012, 353–369; Chiara Pilo, L’hydria tra uso pratico e valore simbolico. Il contributo della documentazione iconografica, in: Anna Calderone (Hrsg.), Cultura e religione delle acque. Atti del convengo interdisciplinare »Qui fresca l’acqua mormora…« (S. Quasimodo, Sapph. Fr. 2,5), Messina, 29–30 Marzo 2011. Rom 2012, 107. Eleni Manakidou, Athenerinnen in Schwarzfigurigen Brunnenhausszenen, Hephaistos 11–12, 1992–1993, 74–76.

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sich aus der Problematik der öffentlichen Sichtbarkeit und Zugänglichkeit von Frauen ergeben konnte.85 Der naheliegende Versuch einer symbolischen Interpretation der Bilder kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der enge zeitliche Zusammenhang zwischen dem Auftreten der Brunnenhausszenen auf Hydrien und dem Bau des Südostbrunnenhauses auffällig bleibt. Mitnichten sollte man jedoch die Vasenbilder als unmittelbare Abbildung dieser neuen Realität lesen, oder sie gar selbst als Ausdruck eines tyrannischen Bauprogramms auffassen. Die häufigen Abbildungen von Brunnenhäusern im letzten Viertel des 6. Jh. können keinesfalls als Propaganda der Peisistratiden für ihr auf der Agora errichtetes Brunnenhaus gesehen werden, zumal diese Darstellungen auch nicht gemeinsam mit der Tyrannis 511/10 v. Chr. verschwinden. Diese Bilder, besonders da die abgebildete Architektur nicht mit dem Brunnenhaus direkt zu verbinden ist, können wohl bestenfalls durch diese nützliche Einrichtung und deren große Beliebtheit bei den Bürgern angeregt worden sein.86 Stellt man sie in einen größeren Kontext von Hydrien, die bei Kulten und Symposien verwendet wurden, und von denen die Brunnenhausszenen nur einen kleinen Teil ausmachen, so sieht man, dass Wasser auf vielfache Weise dargestellt wurde. Wasser war aber nicht nur aufgrund der Lebensnotwendigkeit und seines erfrischenden und kathartischen Charakters ein beliebtes Sujet auf Wasserkrügen,87 sondern spiegelt in dieser Fülle auch die mannigfaltigen symbolischen Bedeutungen der kulturellen Verwendung von Wasser wider. Das in den Hydrien enthaltene Wasser spielte in vielen Lebenssituationen des antiken Athen eine Rolle. Beim aristokratischen Symposion wurde das Wasser sowohl zum Mischen des Weines als auch zur Reinigung der Hände nach der gemeinsamen Mahlzeit vor dem eigentlichen Symposion verwendet, und es spricht einiges dafür, dass auch Hydrien in diesem Kontext Verwendung fanden.88 Die Darstellung der festlich gekleideten Frauen rief wohl einerseits die Erinnerung an religiöse Rituale der Polis hervor, in denen Frauen für Wasser85 Trümper, Gender, 288–9; Adrian Stähli, Die Konstruktion sozialer Räume von Frauen und Männern in Bildern, in: Henriette Harich-Schwarzbauer, Thomas Späth (Hrsg.), Gender Studies in den Altertumswissenschaften: Räume und Geschlechter in der Antike. Trier 2005, 83–99; Adrian Stähli, Nackte Frauen, in: Stefan Schmidt, John H. Oakley (Hrsg.), Hermeneutik der Bilder. Beiträge zur Ikonographie und Interpretation griechischer Vasenmalerei. München 2009 (Beihefte zum CVA IV), 43–51. 86 Frank Kolb, Die Bau-, Religions- und Kulturpolitik der Peisistratiden, Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 92, 1977, 135. 87 Vgl. Manakidou, Brunnenhausszenen, 60; Stefan Schmidt, Rhetorische Bilder auf attischen Vasen. Visuelle Kommunikation im 5. Jahrhundert v. Chr. Berlin 2005, 240–246. 88 Steiner, Alkmene Hydrias, 456–457, weist darauf hin, dass Hydrien zwar nicht auf Symposionsgeschirr abgebildet werden, aber in sympotischen Kontexten gefunden wurden. Sie verbindet die schwarzfigurig bemalten Hydrien durch ihre kalos-Inschriften mit den päderastischen Aspekten des Symposions.

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spenden verantwortlich waren, andererseits an das Ritual des Brautbades,89 für das Wasser in speziellen Gefäßen von einer besonderen Quelle geholt wurde, und das Teil des rite de passage von der Jungfrau zur verheirateten Mutter darstellte. Ebenfalls im Totenkult war Wasser ein notwendiger Bestandteil der Reinigung.90 Aber keine dieser Verwendungen wird unmittelbar in den Brunnenhausszenen dargestellt. Mithin sind diese Darstellungen nur in ihrer verklärten Mischung aus Bildsprache, kulturellen Werten und sozialer Fiktion zu deuten.91 In den hier besprochenen drei Beispielen der Versorgung mit und Verwendung von Wasser in den spätarchaischen Poleis Samos und Athen ist deutlich geworden, dass Wasser nicht nur als Ressource von unmittelbarer Bedeutung für das Gemeinwesen war, sondern auch vielerlei kulturelle Bedeutungen hatte. Auf Samos schuf Eupalinos, vermutlich beauftragt durch einheimische Aristokraten und unter tätiger Mithilfe der Bürger, eine ingenieurtechnische Meisterleistung, um die Stadt ausreichend mit Wasser zu versorgen. In Athen wurde in der Zeit der Peisistratiden ein komplexes System von Wasserleitungen und einem berühmten Brunnenhaus errichtet. Diese praktische Neuerung könnte Anregung für die Darstellungen von Frauen in Brunnenhäusern auf den schwarzfigurigen Hydrien gewesen sein, doch handelt es sich keinesfalls um Genreszenen. Vielmehr dürften diese Darstellungen auf einer komplexen Verbindung von aristokratischer Selbstinszenierung, Anspielungen auf weibliche Anmut und die Problematik der Begegnung der Geschlechter wie auch Assoziationen an die rituelle Verwendung von Wasser beruhen. Durch seine kulturelle Bedeutung verband das Wasser die Bürger. Es schuf Identität und Gemeinschaftsgefühl, indem es sowohl bei religiösen Riten Verwendung fand, wie auch Bürger auf der Ebene der oikoi (Familien, Häuser) bei Reinigungsritualen während des Symposions als gelebte Gastfreundschaft und beim Hochzeitsritual vereinigte. Aber auch ganz praktisch brauchten die Bürger der Polis Wasser zum täglichen Leben. Diesem Bedürfnis kamen vermutlich einzelne mächtige Aristokraten in ihrem agonalen Streben nach Anerkennung bei Gefolgsleuten und Bürgern entgegen, indem sie Bauvorhaben zur Wasserversorgung anstießen. Die sogenannten Tyrannen setzten sich jedoch nicht einfach ein Denkmal der Herrschaftsrepräsentation, sondern agierten in einem aristokratischen Umfeld, das längst auf das Wohlwollen des Rests der Polisbürger angewiesen war, wollten sie die Polis z. B. militärisch verteidigen. Sicherlich wurden diese Bauvorhaben weiterhin von einzelnen Aristokraten an89 Steiner, Alkmene Hydrias, 456; Alexandridou, De l’eau, 30–31. 90 Alexandridou, De l’eau, 17–38. 91 Steiner, Alkmene Hydrias, 455; vgl. Claude B¦rard, Jean-Louis Durand, Entering the Imagery, in: Claude B¦rard u. a. (Hrsg.), A City of Images. Iconography and Society in Ancient Greece. Princeton 1989, 23–37.

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geregt und nicht von der Polis als Kollektiv beschlossen.92 Zur Durchführung solch gewaltiger Bauvorhaben bedurfte es allerdings der Unterstützung der Bürger der Polis,93 und ganz besonders, wenn es um die Pflege und den Erhalt der Wasserbauten ging, da deren Funktionsfähigkeit von der ständigen Wartung abhing.94 Zentrale Infrastrukturmaßnahmen wie die Wasserversorgung konnten sicherlich viele Bürger unterstützen und mithin auch denjenigen, der sie initiiert hatte. Im Kontext des 6. Jh. v. Chr. sollte man besser nicht von demokratischen Entwicklungen sprechen,95 doch dürfte die Wasserversorgung mehr und mehr zur Gemeinschaftsaufgabe geworden sein, die wiederum die bürgerliche Ordnung der Polis gestärkt haben mochte. Durch das Ringen der Aristokraten um Anerkennung und Macht in der archaischen Polis entstanden so große Wasserbauwerke im Spannungsfeld von Agonalität und Kollektiv.

92 Greg Anderson, The Athenian Experiment: Building an Imagined Political Community in Ancient Attica, 508–490 B.C. Ann Arbor 2003, 54–55, 115–119, betont, dass in der archaischen Zeit keine Inschrift ein Bauvorhaben als Folge eines Beschlusses der Athener Bürger identifiziert. Gemeinschaftliche Beschlüsse von Polisbürgern kennt man seit dem 7. Jh. v. Chr. im Rahmen der Gesetzgebung, z. B. Dreros (Meiggs-Lewis 2; Reinhard Koerner, Inschriftliche Gesetzestexte der frühen griechischen Polis, aus dem Nachlass von Reinhard Koerner hg. von Klaus Hallof. Köln 1993, 332–228 Nr. 90). 93 So auch Kienast, Tyrannis, 77. 94 Vgl. Mattern, Wasserversorgung, 91–93. 95 Brian Lavelle, Fame, Money, and Power : The Rise of Peisistratos and »Democratic« Tyranny at Athens. Ann Arbor 2005, geht in dieser Richtung zu weit, indem er Peisistratos als Vorläufer der Politiker des 5. Jh. sieht und dem Volk die Macht zuschreibt, ihm die Herrschaft zu gewähren.

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Fließende Macht: Kanalprojekte und Brunnenbau im hellenistischen Ägypten

Jede menschliche Nutzung der Ressource Wasser erfordert Eingriffe in die Natur. Brunnen müssen ausgehoben, Kanäle geschnitten, Deiche aufgeschüttet, Leitungen gelegt, Brücken gebaut, Küsten befestigt, Häfen angelegt, Schleusen installiert und Sicherungen der Anlagen geschaffen werden. Sie erfordert außerordentliche Technologie und Logistik indem Land vermessen, Trassen geplant, Steigungen überwunden, Bauarbeiter mobilisiert, Geld aufgebracht und schließlich auch Erträge und Wasserrechte verteilt werden müssen. Einmal angelegt, schaffen Wasserbauten neue geographische Einheiten, orientieren Bewegungsrichtungen, begrenzen Territorien und verbinden Meere, Kontinente und Landschaften. So prägen sie dann auch Raumvorstellungen und schaffen soziale und wirtschaftliche Gemeinschaften, die die Anlagen gemeinsam nutzen. Die fließende Natur des Wassers erschwert es, aus ihm privates Eigentum zu machen.1 So bedarf der Bau und Erhalt von Nutzanlagen der Koordination kollektiver (staatlicher) und privater (lokaler) Interessen sowie der Planung und Verwaltung auf verschiedenen Ebenen. Nicht umsonst erhalten Wassergroßprojekte viel Aufmerksamkeit ihrer Zeitgenossen und eignen sich umgekehrt für die Selbstbeschreibung legitimer Herrschaft. In der Gestaltung dieser vielfältigen Aufgaben, aber auch ihrer Darstellung in Bild und Text, lassen sich Formen sozialer Organisation, politischer Kommunikation, Herrschaft und ihrer besonderen Zielrichtungen ablesen.

Fließende Macht In einer eindrucksvollen Studie hat die Kultursoziologin Chandra Mukerji diesen Komplex am Beispiel des Baus des Canal du Midi dargestellt.2 Der Canal du 1 Joachim Radkau, Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt. München 2000, 107. 2 Chandra Mukerji, Impossible Engineering. Technology and Territoriality on the Canal du Midi. Princeton 2009, und unten Kap. 5.

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Midi verbindet Mittelmeer und Atlantik quer durch das Languedoc im Südwesten Frankreichs. Sein Bau unter Ludwig XIV trug, so Mukerji, wesentlich zur Herausbildung der absolutistischen Herrschaft in Frankreich bei. Das Projekt galt zunächst als technisch unmöglich. An seiner höchsten Erhebung 189 m über dem Meeresspiegel gab es keine Möglichkeit, dem Kanal Wasser zuzuführen. Dass der 240 km lange Wasserweg, an dessen Bau 12000 Männer und Frauen über 14 Jahre beteiligt waren, doch gebaut wurde, gilt als die herausragende Leistung des Ingenieurs und Steuerbeamten Pierre-Paul Riquet. Aber sie war nicht das Werk eines einzelnen Menschen, argumentiert Mukerji. Die technische Leistung entsprang ganz verschiedenen technischen Wissensformen. Neben dem theoretisch-prinzipiellen Wissen, das sich Riquet aneignen konnte, sammelte sich auch Wissen aus der Lösung praktischer Probleme des Kanalbaus vor Ort. An diesem Wissen waren ganz verschiedene soziale Gruppen beteiligt; neben Militäringenieuren und Landschaftsplanern auch Bauern, die ihre hydraulischen Kenntnisse einbrachten sowie all die Bauarbeiter und Bauarbeiterinnen, die in der täglichen Arbeit mit Lösungsmöglichkeiten vertraut wurden. Auch war die Planung des Kanals nicht die eines einzelnen Kopfes, sondern ein logistischer Prozess, der Institutionen in Anspruch nahm und auch neue Steuer- und Verwaltungsverfahren hervorbrachte. Ein Kanal kann weder privat gebaut noch finanziert werden. So musste Riquet sein Projekt zunächst zu einem Interesse des Königs und seiner Verwaltung machen. Dies ergab sich keinesfalls aus eindeutigen funktionalen Vorzügen. Mukerji zeichnet einen umfassenden Prozess nach, in dem die Gestaltung des Territoriums, die Steuereinziehung zur Finanzierung des Kanals sowie das erforderliche technische Wissen monarchisch vereinnahmt wurden. Dabei entwickelte sich ein höheres Maß von Staatlichkeit, die die mächtige soziale Patronage der Stände und ihren Anspruch auf die Sorge für das Land und die Menschen ablöste. Der ambitionierte Kanalbau repräsentierte die Leistung der Monarchie aber nicht nur gegenüber innerstaatlicher, sondern auch gegenüber internationaler und hier besonders habsburgischer Konkurrenz. Er bildete neue Strukturen entpersonalisierter Macht für deren Leistungsfähigkeit nicht nur der König sondern auch der funktionierende Kanal stand. Ein wesentlicher Zusammenhalt für die Vision des Kanalprojekts, und zwar auf allen sozialen Ebenen, bildete das Vorbild der klassischen Antike.3 Es war Bestandteil Ludwigs Propaganda, Frankreich als Neues Rom in der Mitte Europas entstehen zu lassen. Rom galt als Ideal der Perfektion, aus Vitruv wurden technische Methoden und Bauanleitungen übernommen und Bauern und Bauarbeiter orientierten sich an der lebenden Tradition des Kanalbaus in Gallien. Gleichzeitig konnte Rom aber nicht als Ideal lediglich kopiert, sondern musste 3 Mukerji, Impossible Engineering, 117–154.

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die gleiche Innovationskraft demonstriert werden. Die Praxis sah häufig anders aus, und die Tatsache, dass das die angestrebten Ideale selten erreicht wurden, machte die Aneignung der Tradition zu einem Lernprozess eigener Art.

Wasser und Herrschaft Mukerjis Thesen können als Ausgangspunkt für Überlegungen zum hellenistischen Ägypten dienen. Der Rückblick scheint zunächst weit gegriffen, denn die Ökologie Ägyptens ist nicht mit der Frankreichs und das hellenistische Königtum (basileia) nicht mit frühneuzeitlichen Monarchien vergleichbar. Dennoch entwickelte sich auch hier die politische Herrschaft der Ptolemäer nach der Eroberung Alexanders wesentlich im und über den Umgang mit der Ressource Wasser.4 Dies ergab sich zunächst aus der Tatsache, dass Landwirtschaft im Niltal nur mit künstlicher Bewässerung möglich war und das Steuersystem (Land-/Erntesteuern und Kanalarbeiten) unmittelbar von dieser Ökologie betroffen war.5 Hinzu kamen Wasserwege als Transitstrecken, Trinkwasserver4 Ägypten wurde von Alexander d. Gr. 332 v. Chr. als Teil des Perserreiches, zu dem es zu diesem Zeitpunkt gehörte, erobert. Nach Alexanders Tod 323 v. Chr. übernahm der makedonische General Ptolemaios diesen Reichsteil und wurde 306 v. Chr. von seinem Heer zum König von Ägypten ausgerufen. Die Anerkennung als Pharao durch die ägyptische Priesterschaft erfolgte etwa zeitgleich. Die Herrschaft über Ägypten wurde dynastisch weitergeleitet, so dass sein Sohn Ptolemaios II. zunächst als Mitregent und dann als Alleinherrscher 282 v. Chr. die Königswürde übernahm. Es wird derzeit heftig diskutiert, inwieweit die neuen Formen von Administration und institutionalisierter Macht, die die Ptolemäer etablierten, als Staatsformation zu verstehen sind (so besonders, Joseph Manning, The Last Pharaohs. Princeton 2010). Die Wasserbauprojekte, die in diesem Aufsatz angesprochen werden, fallen in die Herrschaftszeit Ptolemaios II., der sich intensiv um die administrative, fiskalische und politische Ausgestaltung der Monarchie in Ägypten bemühte; s. zur Vertiefung Günther Hölbl, Geschichte des Ptolemäerreiches. Darmstadt 1994, 9–66; Heinz Heinen, Geschichte des Hellenismus. München 2003. 5 Die in mancher Hinsicht einflussreiche These Karl-August Wittfogels (Karl-August Wittfogel, Oriental Despotism. A Comparative Study in Total Power. New Haven 1957; s. auch Ders., Die Theorie der orientalischen Gesellschaft, in: Zeitschrift für Sozialforschung 7, 1938, 80–122) künstliche Bewässerungssysteme wie in Mesopotamien und Ägypten hätten Formen von Zentralstaatlichkeit mit geringen Eigentumsrechten an Land befördert, hat schon Karl-Wilhelm Butzer (Karl-Wilhelm Butzer , Early Hydraulic Civilization in Egypt: A Study in Cultural Ecology. Chicago 1976) mit Hinweisen auf die grundsätzlich lokale Verantwortung für Bewässerungssysteme widerlegt. Eine überzeugende Diskussion ist in Radkau, Natur und Macht, 112–114, zu finden. Die ältere Forschung hat angesichts der großen Bedeutung von Bebauungsplänen, Landvermessungen und Zensus für die ptolemäische Steuereinziehung die ptolemäische Wirtschaft als eine Planwirtschaft oder »¦conomie d¦rigiste« bezeichnet (Michail Rostovtzeff, A Social and Economic History of the Hellenistic World. 3 Bde. Oxford 1941 (dtsch. auch Darmstadt 2013); Claire Pr¦aux, L’Êconomie Royale des Lagides. Brüssel 1939). Diese Bewertung gilt heute als überholt. Einen berechtigten Angriff gegen die Zentralstaatlichkeitsthese führt in der englisch-sprachigen Forschung Manning, Last Pharaohs; in Bezug

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sorgung und Brunnenlagen, die nicht unmittelbar mit dem ökologischen System der ägyptischen Landwirtschaft zu tun hatten, aber dennoch die Bewegung, das Siedlungsverhalten, die Kommunikation und damit auch das Verhältnis der Menschen zum König unmittelbar bestimmten. Traditionelle Vorbilder – Pharaonen und Perser – spielten für den ptolemäischen Umgang mit Wasser eine ebenso wichtige Rolle wie die Konkurrenz mit zeitgenössischen politischen und kulturellen Rivalen. Technische Leistung und technisches Wissen in ganz unterschiedlichen Formen floss in Wasserbauprojekte ein: angefangen von den hydraulischen Kenntnissen, die ägyptische Experten vermitteln konnten, über die Kenntnisse der Landvermessung, die für Militär und Steuereinschätzung gleichermaßen wichtig waren, bis hin zur wissenschaftlichen Mathematik und Mechanik, die in Alexandria königlich gefördert wurde. Das Beispiel des Kanalbaus in Frankreich hilft dabei, unser recht bruchstückhaftes Bild von Wasserbauprojekten in Ägypten, nicht nur im Licht ihrer funktionalen Bedeutung, sondern auch im Kontext von Herrschaftsausübung und ihrer administrativen, territorialen und sozialen Umsetzung zu verstehen. Der Vergleich soll dabei weniger dazu dienen, historische Parallelen zu entdecken und fehlende Informationen zu ergänzen, als signifikante Unterschiede zu erkennen. Welche politischen Anliegen und kulturellen Werte wurden über Wasserbauprojekte innerhalb Ägyptens und nach außen vermittelt? Welche Rolle spielten künstliche Eingriffe in Wasserwege und Wasserversorgung in einem Land, in dem der Nil, und damit die Natur den Menschen auf besondere Weise diente? Wie positionierten sich die Fremdherrscher innerhalb eines althergebrachten auch religiös und rituell bestimmten Zusammenspiels von Mensch und Natur? Und schließlich rückt die Frage in den Mittelpunkt, was für Herrschaftsstrukturen gerade auch in der Planung, Organisation und Durchführung von Wasserprojekten deutlich werden. Wie funktionierte die für den Umgang mit Wasser entscheidende Koordination von zentraler Steuerung und lokaler Verwaltung? Die Quellenlage für diese Fragen ist sowohl schlecht als auch recht gut. Einerseits fehlen vergleichbare Briefdokumente, Pläne und Beschreibungen, auf denen Mukerji ihre Studie aufbauen konnte. Anders als die neuere Geschichte, muss sich die Alte Geschichte mit sehr bruchstückhaften Zeugnissen begnügen. Ägypten birgt jedoch einen Vorteil. Denn in dem trockenen Wüstensand haben sich tausende Originaltexte auf Papyrus erhalten, die entweder als ganze Stücke oder als Mumienkartonage erhalten geblieben sind.6 Sie enthalten – wenn auch auf die Bewässerungskontrolle, Ders., Irrigation et l’Êtat en Êgypte Antique, in: Annales ESC 57, 2002, 611–623). Auch Manning weist auf den engen Zusammenhang von Bewässerung und Landrechten auf lokaler Ebene hin. 6 Zur Geschichte von Papyrusfunden und ihren archäologischen Kontexten, s. die konzise Darstellung von H¦lÀne Cuvigny, The Finds of Papyri: the Archaeology of Papyrology, in: Roger Bagnall (Hrsg.) The Oxford Handbook of Papyrology. Oxford 2009, 30–58.

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nur in zufälliger Auswahl – tägliche Korrespondenzen, Zensus- und Steuerlisten, Verträge und Abrechnungen, die in privaten oder öffentlichen Angelegenheiten erstellt wurden. Besonders aufschlussreich sind für unseren Fall zwei Funde aus Mumiengräbern des unterägyptischen Fajum. Beide sind in die Sammlung des Ägyptologen Sir William Flinders Petrie eingegangen, der sie in zwei Grabungskampagnen 1887 und 1889 in Gurob und Ghoran nahe der modernen Stadt elLahun am südwestlichen Rand der Fajumoase freilegte und als Petrie Papyri (P. Petrie) edierte.7 Unter diesen Papyri sind auch die Korrespondenzen zweier Ingenieure (gr. architektones) erhalten, die unter Ptolemaios II. und III. zwischen 250 und 240 v. Chr. im Fajum für das Bewässerungssystem verantwortlich waren. Zusätzlich haben wir die Dokumente des Verwalters einer ca. 2750 ha großen königlichen Domäne im Fajum, die Ptolemaios II. seinem obersten Finanzmagistraten in Alexandria, Apollonius, überlassen hatte. Zwei Verwalter des Gutes, zuerst Panankestor, dann Zenon, hatte sich um den Ausbau der Bewässerungsanlagen zu kümmern, insbesondere in den Jahren um 260 v. Chr., als das Land der Domäne urbar gemacht wurde. Die Dokumente der Gutsverwaltung unter Ptolemaios II. sind als das sogenannte Zenon Archiv fast vollständig erhalten. Über drei ptolemäische Wasserbauten können wir uns über die ptolemäische Wasserpolitik annähern. Sie gehören in die Frühphase des ptolemäischen Ägypten, als die Nachfolger Alexanders eine neue Monarchie in Ägypten zu installieren versuchten. Diese Monarchie trat die Nachfolge der persischen Fremdherrschaft an, führte aber auch griechische politische, wirtschaftliche und rechtliche Institutionen nach Ägypten ein. Aus dieser Kombination entstand etwas das kein Vorbild hatte, geschweige denn auf einer schon bestehenden Herrschaftstheorie aufbaute. Alles deutet jedoch darauf hin, dass der makedonische Herrschaftsanspruch in Ägypten nicht nur militärisch durchgesetzt wurde, sondern sich neue staatliche Strukturen in der fiskalischen, politischen und wirtschaftlichen Praxis bildeten, die auf Akzeptanz und Integration aufbauten. Insbesondere musste das neue Regime die Kooperation der ägyptischen Eliten, also der lokal sehr einflussreichen Priesterschaften gewinnen, ohne die innerer Friede und erfolgreiche Ressourcenausbeutung dauerhaft nicht möglich gewesen wären. Gleichzeitig ging es den Ptolemäern um Vorherrschaft im hellenistischen Einflussgebiet, die wiederum nicht nur militärisch erkämpft werden konnte, sondern auch kulturell und symbolisch erstritten werden musste. Es war eine Phase intensiver Bemühungen, ein friedliches und steuerlich effizientes 7 Dorothy Thompson, Irrigation and Drainage in the Ptolemaic Fayyum, in: Alan Bowman, Eugene Rogan (Hrsg.) Agriculture in Egypt from Pharaonic to Modern Times. Oxford 1999, 107–123, bes. 108f.

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politisches Regime einzurichten und gleichzeitig auch militärisches und ziviles Personal in Ägypten anzusiedeln, das eine loyale Anhängerschaft der griechischen Herrschaft bildete. Hinzu kam, den Königssitz Alexandria städtebaulich, symbolisch und politisch als Zentrum der Herrschaft über Ägypten, die Außenbesitzungen und den griechisch-sprachigen Mittelmeerraum auszugestalten.8 Besonders gut dokumentiert durch die oben erwähnten Papyrusfunde sind die Kanal- und Dammbauten im Zuge der Landgewinnung in der Oase Fajum etwa 60 km südwestlich von Memphis. Hier wurde unter Ptolemaios II. durch Absenkung des Moirissees (heute Birket Qarun), die Kulturfläche von etwa 450 km2 auf 1300–1500 km2 erweitert. Die Absenkung des Sees um die wohl nötigen 40 m gelang aller Wahrscheinlichkeit nach über die Absperrung des Nilwasserzuflusses in den See einerseits und eine beschleunigte Ableitung des Seewassers andererseits.9 Es muss ein gewaltiges Projekt gewesen sein, das nicht nur eine genaue Kenntnis des Nilverlaufs, seiner Strömung und des Bar-Yusuf Kanals zwischen Nil und Fajum, der das Nilwasser in den Moirissee ableitete, erforderte, sondern auch ein komplexes hydraulisches und geomorphologisches Wissen voraussetzte. Leider haben wir nicht die geringsten Informationen über seine technische Planung. Doch wir haben einige Kenntnisse von dem logistischen Aufwand, den uns ein Arbeitsangebot aus dem Zenonarchiv vermittelt. Um allein ein Fünftel der gewonnenen Kulturfläche mit einem Kanalsystem zu versehen, mussten 1,2 km2 Erdreich beseitigt werden, wozu 15000 Leute, 5000 Schaufeln und 60000 Drachmen allein für Löhne erforderlich waren.10 Nur 10 Jahre nach seiner Neugewinnung zählte das Fajum 85000–95000 Einwohner, 8 Zur administrativen Umgestaltung Ägyptens, Heinen, Geschichte des Hellenismus, 82–90; Hans-Joachim Gehrke, Geschichte des Hellenismus. München 42008, 57–60; Manning, Last Pharaohs, 117–164; zur Rolle der Königssitze in den hellenistischen Monarchien, Gregor Weber, Die neuen Zentralen. Hauptstädte, Residenzen, Paläste und Höfe, in: ders. (Hrsg.) Kulturgeschichte des Hellenismus. Von Alexander dem Großen bis Kleopatra. Stuttgart 2007, 99–107. 9 Hdt. II, 149, 1f. der so die ursprüngliche Anlage des Sees beschreibt. Die Erklärung übernimmt Butzer, Hydraulic Civilisation, 36f.; alternative Erklärungen in Dominic Rathbone, Villages, Land and Population in Graeco-Roman Egypt, in: Proceedings of the Cambridge Philological Association 36, 1990, 111; zur Bewässerung des neugewonnen Landes, Thompson, Irrigation and Drainage. 10 Die Zahlen stammen aus einem Arbeitsangebot, das im Zenon Archiv erhalten ist (SB V 8243, 3. Jh. v. Chr.), diskutiert in Willy Clarysse, A New Fragment for a Zenon Papyrus from Athens, Proceedings of the XVIII. International Congress of Papyrology Bd. II. Athen 1988, 77–81; und Thompson, Irrigation and Drainage, 112. Zum Umfang der Landgewinnung Butzer, Early Hydraulic Civilization, 36f., Dominic Rathbone, Villages, Land and Population in Graeco-Roman Egypt, in: Proceedings of the Cambridge Philological Association 36, 1990, 111 (Ausdehnung der Siedlungsfläche von 450 auf 1200 km2); Willy Clarysse, Dorothy Thompson (Counting the People in Hellenistic Egypt, Bd. 2. Cambridge 2006, 92) nehmen eine Siedlungsfläche in der Mitte des 3. Jh. v. Chr. von 1500 km 2 an.

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wovon der größte Teil griechische und ägyptische Neusiedler waren.11 Auf den fruchtbaren Feldern und Obstgärten der Domäne des Königs wurde auch mit neuen Pflanzen und Früchte experimentiert, die unter der persönlichen Aufsicht des Königs standen und Besuchern und fremden Gesandtschaften vorgezeigt wurden (P. Cair. Zen. 59033). Noch unter späteren Ptolemäern war das Fajum einer der sehenswertesten Orte Unterägyptens. Das zweite Projekt betrifft die Instandsetzung des Pithom Kanals zwischen dem Roten Meer und dem Nil. Der Wasserweg bildete unter persischer Herrschaft eine Grenze zur arabischen Halbinsel und eine Verbindung des persischen und ägyptischen Herrschaftsbereichs. Der Kanal verlief wohl von der nördlichen Spitze des Roten Meeres über die Bitterseen und das Wadi Tumulat südlich an Tell el-Masquta (Pithom) vorbei zum östlichen Arm des Delta in Höhe der antiken Stadt Bubastis.12 Ein Kanalbau dieser Art soll schon in pharaonischer Zeit in Angriff genommen, aber aufgegeben worden sein (Hdt. II, 157). Dareios wiederholte das Projekt und Ptolemaios hub den wohl wieder verschlackten Kanal erneut aus. Diodor spricht von technischen Schwierigkeiten, nämlich der Gefahr, dass Meerwasser in den Nil abflösse, die Ptolemaios II. durch ein geniales Schleusensystem gelöst habe (s. u.). Unter den Ptolemäern, unter denen Pithom am Nordufer des Kanals zum ptolemäischen Herrschaftsgebiet gehörte, diente der Kanal wohl vor allem der Bewässerung und als Verbindungsstrecke vom Roten Meer nach Alexandria. Für das dritte Projekt müssen wir Niltal und Delta verlassen und uns in das Zentrum Alexandrias begeben. Hier, im schönsten Teil der Stadt, befanden sich der Palastbezirk der Könige und seine Gartenanlagen. In einem der Gärten soll ein technisch außergewöhnlicher Brunnen gestanden haben.13 Der Brunnen ist uns allein über ein papyrologisch überliefertes Epigramm bezeugt und gilt als das früheste Beispiel eines Nymphäums in königlich-aristokratischer Gartenarchitektur. In Alexandria hatte er eine einzigartige Bedeutung, denn die Stadt scheint über Nilkanäle, nicht über Brunnen versorgt und von diesem Bild geprägt gewesen sein (s. etwa Strab. 17.1. 7 (793)). Der Quellbrunnen im Palastgarten muss ein ästhetisches Gegenstück gebildet haben und war dabei ähnlich symbolisch aufgeladen wie das Nilwasser in der ägyptischen Mythologie. 11 Clarysse, Thompson, Counting the People, 95. 12 Zu dem Kanalprojekt s. Cristopher Tuplin, Darius’ Suez Canal and Persian Imperialism, in: Helen Sancisi- Weerdenburg, Am¦lie Kuhrt (Hrsg.) Achaemenid History VI. Leiden 1991, 237–283; Carol A. Redmont, The Wadi Tumulat and the Canal of the Pharaohs, in: Journal of Near Eastern Studies 54, 1995, 127–135; Hadwiga Schörner, Künstliche Schifffahrtskanäle in der Antike. Der sogenannte antike Suezkanal, in: Skyllas 3, 2000, 28–43; Martin Hinz, Darius und der Suezkanal, in: Archäologische Mitteilungen 8, 1975, 115–121. 13 P. Cair. Inv. 65445, V 140–145; Deena Berg, Fountains and Artistic Displays in Classical Antiquity, Diss. Texas 1994, 95ff.; Peter W. Fraser, Ptolemaic Alexandria, Bd. 1. Oxford 1992, 610f.

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Quellen waren Ursprung des Lebens, Symbole guter Herrschaft und spielten im ptolemäischen Herrscherkult eine wichtige Rolle. Hier behauptete sich griechische Kultur im Land des Nils. Die drei Wasserbauprojekte sind in der Forschung bisher nicht nebeneinander betrachtet worden. Auch hier soll nicht der Eindruck einer geschlossenen Wasserpolitik entstehen. Dennoch lassen sich einige Muster erkennen, die die Ausgestaltung der ptolemäischen Herrschaft in Mythologie und Praxis, aber auch ihre Wahrnehmung in der Literatur besser verstehen lassen. Fünf Aspekte scheinen dabei zentral: (1) Eine besondere Art des Zusammenspiels zwischen zentraler Planung und lokaler Ausführung, die ein Licht auf staatliche Praxis und ihre Institutionen wirft; (2) die Einbettung von Großprojekten in eine Tradition, die die eigene Herrschaft als bewusst hybrid und an das Land gebunden erscheinen lassen; (3) die Konkurrenzen, in die die Könige mit ägyptisch-persischen Traditionen aber auch mit Alexander dem Großen und den zeitgenössischen griechischen Rivalen eintraten; (4) die Betonung technischer Leistung, für die die Ptolemäer über die Patronage der Wissenschaften in Alexandria berühmt waren; und schließlich (5) eine für die Fremdherrschaft zentrale Auseinandersetzung mit dem Nil, der in der Antike nicht nur als ökologische Grundlage, sondern kulturelles Differenzierungsmerkmal wahrgenommen wurde. Wiederum ist in dieser Auseinandersetzung eine in mancher Hinsicht hybride kulturelle Positionierung der Ptolemäer auffällig.

Ägypten Das Ägypten, das Alexander 332/1 v. Chr. eroberte, war kein unbeschriebenes Blatt. Die Griechen gingen davon aus, dass viele Grundlagen ihrer Zivilisation und Kenntnisse von den Ägyptern ererbt waren. Der Historiker Herodot schenkte im 5. Jh. v. Chr. gerade auch den technischen Leistungen der ägyptischen Könige in Architektur, Wissenschaft, Pyramiden- und Kanalbau besondere Aufmerksamkeit und zählte sie zu den Wundern der ägyptischen Kultur.14 Zu den vielen Erfindungen, die die Griechen von den Ägyptern übernommen haben sollten, gehörte auch die Landvermessung (gr. geometria), die in Ägypten selbst auf den König Sesostris zurückzuführen sei. Nach Eroberungen in Asien und Europa habe Sesostris nämlich das ganze Land neu aufgeteilt. Da der Nil aber Land mit sich reiße und damit die gleich großen Äcker ungleich wurden, mussten sie immer wieder neu vermessen werden, um die Steuern, die auf ihnen lagen, entsprechend anzupassen. Sesostris sei es auch gewesen, der ganz 14 Helmuth Schneider, Das griechische Technikverständnis. Von den Epen Homers bis zu den Anfängen der technologischen Fachliteratur. Darmstadt 1989, 62–75.

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Ägypten mit Kanälen durchzogen habe, denn alle Städte, die nicht am Nil lagen, hätten in den Monaten zwischen den Nilschwemmen unter Wassermangel gelitten und nur salziges Wasser aus Zisternen trinken können.15 Schon hier wurde also ein enger Zusammenhang zwischen Landaufteilung, Landvermessung, Bewässerung und dem Steuersystem gespannt. Andererseits war der Nil auch Ursache für eine Kultur, die der der Griechischen genau entgegengesetzt war.16 Geographisch teilte nach Herodots Berechnungen der Nil die Welt im Süden in zwei Hälften.17 Dann auch erlaubte der Nil eine Landwirtschaft »von selbst« (automatos) ohne Arbeit und Einsatz von Technik.18 Dies markierte nicht nur eine ökologische, sondern auch anthropologische Differenz, denn die Griechen sahen ihr Menschsein (im Gegensatz zur Götterwelt) ganz grundlegend von der Notwendigkeit der Arbeit und Mühe bestimmt. Die »automatische« Landwirtschaft und die Wunder der Bauwerke rückten das Land am Nil in eine Welt, die jenseits der menschlichen angesiedelt war. Schließlich noch brachte der Nil Sitten und Gebräuche hervor, die denen anderer Völker genau entgegengesetzt waren (Hdt. II, 34,2ff.). Die Bedeutung dieser von Andersartigkeit und Wundern geprägten Welt lag für Herodot jedoch nicht mehr in einer unerreichbaren Götternähe.19 Für die aufgeklärten Griechen des 5. Jahrhunderts v. Chr. bildete das Land eine Herausforderung. In dem Versuch, die Wunder Ägyptens auf nachweisbare Könige zurückzuführen und das Land geographisch genau abzumessen und zu lokalisieren zeigt sich der Wille, dieses wundersame und übermenschliche Land mit den Mitteln 15 Hdt. II, 109, 3 (Geometrie); 108, 3 (Kanalsystem). Andere Erfindungen, die die Griechen übernahmen: Hdt. II, 49f. (Götternamen und Dionysoskult); II, 58 (Feste); II, 82 (Deutung von Vorzeichen) und II, 169 (Verachtung des Handwerks). Sesostris wird mit Senusret II (12. Dynastie) in Verbindung gebracht. Herodots Angaben gelten nicht als streng historisch aber eine Phase intensiver administrativer Veränderungen, lässt sich in dieser Zeit auch archäologisch nachweisen; Barry Kemp, Ancient Egypt. Anatomy of a Civilization. Cambridge 2 2006, 212ff. Gae Callender, The Middle Kingdom, in: Ian Shaw (Hrsg.), The Oxford History of Ancient Egypt. Oxford 2000, 148–183; hier 172–175. 16 S. z. B. Phiroze Vasunia, The Gift of the Nile, Hellenizing Egypt from Aeschylus to Alexander, Berkeley and Los Angeles 2001; Stefan Pfeifer, Ägypten und das klassische Griechenland, in: Herbert Beck u. a. (Hrsg.) Ägypten, Griechenland und Rom. Abwehr und Berührung. Frankfurt 2006, 163–171. Die Wissenschaftliche Diskussion um die Bedeutung Ägyptens für die Griechen ist umfangreich und kann hier nicht vertieft werden. 17 Vasunia, Gift of the Nile, 87–100; zur Kartographie dieser Weltordnung, s. Anne-Marie Wittke u. a., Historischer Weltatlas der antiken Welt. Der Neue Pauly, Supplement Bd. 3, Stuttgart 2007, 5 Karte B. 18 Hdt. II, 14, 3; s. Sitta von Reden, Arbeit und Zivilisation. Kriterien der Selbstdefinition im klassischen Athen, in: Münstersche Beiträge zur antiken Handelsgeschichte 11, 1992, 1–32. 19 Die dennoch zweifellos in Ägypten gesehen wurde, wie noch bei Diodor in hellenistischer Zeit durchscheint: Die Ägypter seien das erste Volk der Welt gewesen, weil allein der Nil eine lebensspendende Kraft habe und die ersten Menschen hervorbringen konnte (Diod. I, 10, 1–3).

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menschlicher, und das hieß für Herodot griechischer, Geisteskraft zu bezwingen. Diese Fähigkeit wurde zu einem umso größeren Triumph für die Griechen, als die Landvermessung, der Herodot mehrere Kapitel seines Ägyptenexkurses widmet, eine ägyptische Erfindung war. Als Ägypten 100 Jahre später von Alexander dem Großen erobert wurde, spielte die kulturelle Bedeutung dieses Landes eine nicht unwesentliche Rolle. Möglicherweise noch in klassischer Zeit, aber wahrscheinlich erst unter ptolemäischem Einfluss wurde die technisch-ökologische Besonderheit der ägyptischen Zivilisation um eine politische Dimension erweitert. Der römische Geograph Strabon widmete Ägypten wiederum besondere Aufmerksamkeit.20 Die enge Verbindung, die Strabon mit seinen fachwissenschaftlichen Vorläufern suchte, zeigt sich allein an der Tatsache, dass er wie Herodot der Frage der territorialen Einheit Ägyptens besondere Aufmerksamkeit schenkte. Dieses Problem war in noch eindringlicherer Weise von Eratosthenes, einem Geographen an der alexandrinischen Bibliothek unter Ptolemaios II. aufgegriffen worden, mit dem sich Strabon an dieser Stelle konkret auseinandersetzt. Ägypten, so Strabon und Eratosthenes, sei immer schon ein zusammenhängendes Land gewesen, das Delta und Niltal einschloss und nicht etwa nur das Delta umfasse.21 Dann aber sei dieses Land auch durch den ersten Katarakt begrenzt, oberhalb dessen das Land jährlich überschwemmt wurde. Jenseits dieses Teils sei dagegen kein sesshaftes Leben möglich. In Ägypten lebten die Menschen in einem Staat, während die Äthiopier Nomaden waren. Staatliche Einrichtungen schafften dazu die Möglichkeit technischer Verbesserungen, mit denen die natürlichen Vorteile des Nils noch übertroffen wurden. Die Äthiopier leben zumeist als Nomaden und in Armut wegen der Kargheit des Landes, der Unmäßigkeit des Klimas und der Abgelegenheit von uns. Bei den Ägyptern ist genau das Gegenteil der Fall: leben sie doch seit Anbeginn in einer politischen Ordnung und kultiviert und wohnen in einer bekannten Gegend, so dass auch von ihren Einrichtungen (gr. diataxeis) berichtet wird und man sie zudem lobt, weil man findet, dass sie den Segen des Landes durch gute Einrichtung und Fürsorge (epimeleia) richtig gebraucht haben…Die Arbeiten am Fluss sind so hervorragend, dass sie durch die Fürsorge die Natur übertreffen. Von Natur trägt das Land nämlich mehr Frucht, wenn es auch mehr bewässert wird, von Natur auch bewässert ein höherer Anstieg des Flusses mehr Land; die Fürsorge jedoch überbietet oft die Natur, wenn sie zurückbleibt, so dass auch bei kleineren Anstiegen mit Hilfe der Kanäle und der Eindämmungen ebenso viel Land bewässert wird wie bei größeren (Strab. 17.1.3; 788 A-C). 20 Eine wesentliche Rolle spielte für die Vermittlung der klassischen Geographie und ihrer Erweiterung der Geogograph Eratosthenes von Kyrene, der unter den Ptolemäern II und III Leiter der alexandrinischen Bibliothek war und auf den sich Strabon an dieser Stelle explizit bezieht. 21 Strab. 786C; vgl. Hdt. II, 15, 1ff. Strabon erwähnt hier auch den Ursprung der Landvermessung bei den Ägyptern (787C).

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Fürsorge und staatliche Einrichtungen waren nach diesen Vorstellungen Voraussetzung für ein Übertreffen der Natur.22 Diese Errungenschaft wird wiederum den ägyptischen Königen und der langen Geschichte ihrer Zivilisation zugeschrieben. Zwischen Pharaonen und Ptolemäern wird hier jedoch kein Unterschied mehr gemacht, und was für die alten Könige galt, galt in gleichem Maße auch für die Ptolemäer. Strabon schreibt im Rückblick auf eine Tradition, die die Ptolemäer erst schaffen mussten. Wie sehr sich diese Tradition nach 300 Jahren griechischer Herrschaft hybridisiert hatte, verschweigt der Geograph, oder wurde in den alexandrinischen Quellen, auf denen er aufbaute, nicht thematisiert. Die Wasserprojekte der Ptolemäer zeigen jedoch, dass sie an der Hybridisierung dieser Tradition aktiv gearbeitet hatten.

Der Ausbau des Fajum Die erste Ausbauphase des Fajum gehört in die 12. Dynastie des Mittleren Reiches. Herodot berichtet von einer künstlichen Anlage des Moirissees, der durch Zu- und Ableitung von Nilwasser über den Bar-Yusuf Kanal zunächst dem Fischfang gedient haben soll (Hdt. II, 149, 1). Eine komplett künstliche Anlage des Sees in pharaonischer Zeit scheint allerdings unwahrscheinlich, da schon in vordynastischer und neolithischer Zeit Spuren von Siedlungen im Fajum nachgewiesen sind, deren Lebensgrundlage der Fischfang war.23 Dagegen scheint eine Vergrößerung des Moirissee im Mittleren Reich wegen der deutlichen Ausweitung der Siedlungstätigkeit als gesichert. Auch zeigt das archäologisch gut dokumentierte Kahun (el-Lahun) am südöstlichen Eingang des Fajum signifikante administrative Veränderungen in diesem Zeitraum.24 Die Stadt hieß in dynastischer Zeit Hetep-Senusret, und in ihrer Nachbarschaft ist ein Tempel des Senusret (Sesostris) nachgewiesen, der wiederum nur einen guten Kilometer von seiner Pyramide entfernt war. Ebenso befand sich die Nekropole seines einzigen Sohnes Amenemhat III. im nur wenige Kilometer nördlich gelegenen Hawara. Offenbar fand unter diesen Königen eine bedeutende Umgestaltung des Fajum statt, die Siedlung, Bewässerung und Verwaltung des Gebiets maßgeblich beeinflusste. Von Amenemhat III. sind auffällig zahlreiche Aufzeichnungen der Nilstände in Kumma und Semma in Nubien bezeugt, die möglicherweise auf ein besonderes Interesse an der Überschwemmung des Flusses hinweisen. Das

22 Strabon verwendet explizit den Begriff besiegen (nikao) hier (787C 27). 23 Callender, Middle Kingdom, 172. 24 Kemp, Ancient Egypt, 149ff.

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Fajum ist die einzige Oase in Ägypten, deren Bewässerung von der Höhe der Nilschwemme abhängt.25 Besonders wesentlich ist in unserem Zusammenhang die Tatsache, dass die Griechen den Ausbau des Fajums mit den Leistungen der Pharaonen verbanden. Amenemhat III. erhielt an seiner Grabanlage als Gründer des Fajum unter Ptolemaios II. kultische Verehrung.26 Zum Zeitpunkt der griechischen Eroberung war das Fajum bewohnt, aber der hydrologische Zustand des Moirissees und der Wasserzuleitung aus dem Bar-Yusuf zu dieser Zeit sind nicht bekannt. Die Ptolemäer nannten den Distrikt (gr. nomos) um den Moirissee zunächst einfach nur »See« oder »Marschland« (limne).27 Da der Zustand auch des Kanalsystems vor den ptolemäischen Baumaßnahmen unklar ist, kann nicht eindeutig geklärt werden, wie innovativ das Projekt Ptolemaios II. war. Allerdings bestätigen Ausgrabungen und Oberflächenprospektion, dass eine systematische Ent- und Bewässerung des Kulturlands, die zu einer dramatischen Ausweitung der Siedlungstätigkeit führte, um die Mitte des 3. Jh. v. Chr. stattfand. Bautechnik und Steinmaterial zeigen darüber hinaus, dass hier typisch hellenistische Technologie zum Einsatz kam.28 Unter Ptolemaios II. wurde der Nomos nach der Schwester und Gemahlin Ptolemaios II. Arsinoe von limne in Arsinoites (Distrikt der Arsinoe) umbenannt und stellte den Ausbau in einen Zusammenhang mit den Städten, die von Ptolemaios gegründet wurden und dynastische Namen erhielten. Zusammen mit diesen Gründungen bildete der Arsinoites ein territoriales, imperiales System.29 Die Landwirtschaft des Fajum basierte auf der Grundlage halbjähriger Beckenbewässerung, die auf das Ende des 3. Jt. v. Chr. zurückgeht.30 Während der Nilüberflutung zwischen Juni und Oktober wurde das Wasser über Gräben und Kanäle (diorucha), in denen es durch Deiche (chomata) gehalten wurde, in ein 25 Callender, Middle Kingdom, 169. 26 Lexikon der Ägyptologie s.v. Amenemhat III; zu weiteren symbolischen Anknüpfungsmöglichkeiten und Konkurrenzen im griechischen Kontext, s. Anm. 54. 27 Butzer, Hydraulic Civilization, 27–37; und Dominic Rathbone, Mapping the South-West Fayyum: Sites and Texts, in: Isabella Andorlini u. a. Atti del XXII Congresso Internazionle di Papyrologia. Florenz 2001, 1113, der hier auf die Gefahr der übermäßigen Überschwemmung bei hohem Nilstand hinweist. 28 Rathbone, Mapping; Cornelia Römer, Philotheris in der Temistou Meris, in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 147, 2004, 281–395; zu Anzeichen staatlicher Unterstützung des Kanalausbaus, Rathbone, Mapping, 1112. 29 Katja Müller, Settlements of the Ptolemies. City Foundations and New Settlements in the Hellenistic World. Louvain 2006, 181–184, die allerdings auch den Mangel an Programmhaftigkeit dieses Systems betont. 30 Wolfgang Schenkel, die Einführung der künstlichen Feldbewässerung im alten Ägypten, in: Göttinger Misszellen 11, 1974, 41–48; zur Bewässerungstechnik in Oberägypten, Frank Griesshaber, Lexikographie einer Landschaft. Beiträge zur historischen Topographie Oberägyptens zwischen Theben und Gabal as-Silsila. Tübingen 2004, 5–40.

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Becken (perichoma) geleitet.31 Dort lagerte sich der mitgeführte Schlick ab, bis bei Rückgang der Flut das Wasser durch Öffnen von Toren (thurai) in Abflusskanäle geleitet und das Land ausgesät werden konnte. Ernten fanden einmal jährlich ab April statt. Becken konnten zwischen 5 und 125 ha groß sein und zusätzlich als Seen und Wasserreservoirs dienen. So konnte Beckenwasser ganzjährig auch auf andere Felder oder zur Trinkwasserversorgung abgeleitet werden. Manche Kanäle dienten allein der Entwässerung. Schließlich noch waren Kanäle ab einer gewissen Größe schiffbar und dienten als wichtige Verkehrswege für Transportgüter und Menschen.32 Die Wasserhebung, die für die Bewässerung höher gelegener Äcker, Obstgärten und Weinplantagen, aber auch für die Trinkwassergewinnung ganzjährig wichtig war, wurde durch Schöpfgeräte (Schadufs, gr. keloneia) erreicht, die ab dem 2. Jt. v. Chr. nachgewiesen sind.33 Mit einem Schaduf konnte eine Höhe von bis zu 2 Metern überwunden und unter hohem Arbeitskräfteeinsatz ein halber Hektar (zwei ägyptische Aruren) pro Tag bewässert werden. Die effizientere Saqia, ein tiergetriebenes Wasserheberad, war in ptolemäischer Zeit zwar bekannt, ihr Einsatz ist aber weder archäologisch noch papyrologisch vor der römischen Zeit nachgewiesen. Auch die archimedische Schnecke (»Schraube«), die von Archimedes am ptolemäischen Hof entwickelt wurde und eine effiziente schräge Aufwärtsbewegung des Wassers ermöglichte, scheint nicht in der ptolemäischen Landwirtschaft eingesetzt worden zu sein.34 Die Entwicklung und Verwaltung des Bewässerungssystems wurde im Fajum von Alexandria aus beaufsichtigt, jedoch in lokale Verantwortlichkeit überführt. Grundlage für den Neubau des Kanalsystems und die Urbarmachung des Kulturlandes bildeten Landparzellen zu je 10000 Aruren (ca. 2750 ha), die als die oben schon erwähnten königlichen Domänen (doreiai) vergeben wurden oder 31 Zur griechischen Terminologie und dem technischen Stand der Bewässerung im Fajum, s. Danielle Bonneau, Le r¦gime administratif de l’eau du Nil dans l’Êgypte Grecque, Romaine et Byzantine. Leiden 1993, 34ff. Bonneau geht davon aus, dass die Ptolemäer das ägyptische System übernahmen und abgesehen von fiskalischen Interessen nicht an seiner technischen Weiterentwicklung interessiert waren. 32 Römer, Philotheris, zeigt an den archäologischen Befunden um das Dorf Philoteris im südwestlichen Fajum, wie die Prosperität einer Siedlung vom Kanalsystem abhing; dörfliches Leben und Funktionsfähigkeit des Kanalsystems hingen unmittelbar miteinander zusammen. 33 Zur Diskussion der Geomorphologie der Nilebene, die Höhenausgleich der künstlichen Bewässerung für bestimmte Äcker erfordert, Griesshaber, Lexikographie, 47ff. 34 Bonneau, Le r¦gime, 93–115 lässt den signifikant effizienteren Einsatz von Wasserhebegeräten unter römischer Herrschaft offen; pointiert dagegen Dominic Rathbone, Ptolemaic to Roman Egypt: the Death of the Dirigiste State?, in: Elio Lo Cascio, Dominic Rathbone (Hgg.) Production and Public Powers in Classical Antiquity. Cambridge 2000, 44–54. Zur wissenschaftlichen Weiterentwicklung hydraulischer Geräte am alexandrinischen Hof, Renate Tölle-Kastenbein, Antike Wasserkultur. München 1999, 17 und 155ff.

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auch in Tempelbesitz sein konnten. Aus der Korrespondenz, den Abrechnungen und Verträgen des Archivs des Zenon wissen wir, wie der Ausbau des Kanal- und Dammsystems organisiert war : freie Unternehmer (ergolaboi) bewarben sich um den Auftrag und warben ihrerseits Arbeitstruppen an, die sich aus freien Arbeitern und Sklaven zusammensetzten. Die Eigentümer bzw. Verwalter der Domänen vergaben die Verträge und stellten die Arbeitsinstrumente, Material und manchmal auch die Versorgung der Arbeitstruppen. Das Vertragsgebot eines gewissen Stotoetis, einem griechisch-sprachigen Ägypter, der sich für ein Teilprojekt auf der von Zenon verwalteten Domäne bewarb, ist uns vollständig überliefert (P. Lille 1 = P. Lugd. Bat. 20, Suppl. A).35 Der umfangreiche Vertrag enthält eine genaue Landvermessung, die Unterteilung des Anbaugebiets in 40 Bewässerungsbecken, die Lage des geplanten Eingrenzungsdamms, der Querdämme und die Kosten der notwendigen Erdbewegung. Dann werden die Zahl der schon bestehenden und noch zu bauenden Kanäle und wiederum die Kosten der Erdbewegung bestimmt. Schließlich kalkulierte Stotoetis die Instandhaltungskosten und den Zahlungsmodus für die vertraglichen Leistungen. Hier zeigt sich zum einen der enge Zusammenhang zwischen der königlichen Landvergabe einerseits und einem Bewässerungssystem andererseits, das zwar in staatlichem Interesse lag, aber nicht über eine zentrale Baukommission geplant und gebaut wurde. Zum anderen zeigt sich, dass das Projekt innerhalb neuer, von ptolemäischer Seite geförderter Verfahren (Institutionen) durchgeführt wurde. Das Projekt wurde nämlich nicht etwa über staatlich requirierte Arbeitsleistung, sondern über vertragliche Arbeitsbeziehungen und monetäre Bezahlung umgesetzt. Letztere waren nur über das von den Ptolemäern nach Ägypten eingeführte Münzgeld, das dadurch gleichzeitig mobilisiert wurde, und die dafür geschaffenen rechtlichen Bestimmungen zur Abwicklung von Zahlungsverhältnissen möglich. Arbeitsverträge wie solche, die Stotoetis anstrebte, waren an Vorauszahlungen des Vertragsgebers (in diesem Fall Panankestor, dem Verwalter der Domäne des Apollonios) gebunden. Nur so konnten die Summen für die Arbeitsleistung aufgebracht werden. Das umfangreiche Fajumprojekt stabilisierte und verstetigte somit Institutionen, die als zentrale Elemente staatlicher Entwicklung unter den Ptolemäern angesehen werden können.36 Die dauerhafte Aufrechterhaltung des Bewässerungssystems – Freischaufeln verstopfter oder verschlammter Kanäle, Reparaturen an Toren, Dämmen und Begrenzungsmauern, Anlegen neuer Be- und Entwässerungskanäle in margi35 Ausführliche Auswertung und Übersetzung des Dokuments bei Thompson, Irrigation and Drainage. 36 Zum Prozess der Monetarisierung von Arbeitsverhältnissen und den damit verbundenen vertraglichen Abmachungen, Sitta von Reden, Monetization in Ptolemaic Egypt. Cambridge 2007, bes. 130–150; zur Bedeutung der Monetarisierung für die staatliche Entwicklung, Manning, Last Pharaohs, 130–138.

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nalem und vernachlässigtem Land sowie einiges mehr – war Teilbereich der lokalen Gauverwaltung. Einer der Beauftragten, Kleon, und sein Assistent und Nachfolger Theodoros treten uns in zahlreichen, in den Petrie Papyri überlieferten Korrespondenzen und Verträgen besonders deutlich vor Augen. Kleons Amtszeit erfolgte auf königliche Ernennung, und der Ingenieur war dem König auch persönlich bekannt. Manche Arbeiten wurden, wie in der Ausbauphase, an ergolaboi unterbeauftragt, andere standen direkt unter Kleons Aufsicht, der auf staatlich requirierte (aber bezahlte) Arbeitsleistung oder Gefangene zugreifen konnte.37 Auffällig ist, dass Kleon und sein Nachfolger nicht nur für technische Fragen, sondern vor allem auch die Arbeitsrekrutierung, die Finanzierung und Vergabe von Unterverträgen bis hin zum Transport der Baumaterialien, die Getreiderationen für die Arbeitskräfte und ihre Arbeitsgeräte verantwortlich waren. Umgekehrt konnten sie diese Bereiche nicht selbständig in Anspruch nehmen, sondern mussten sich ihrerseits an die lokalen Steuerverwalter, die Verantwortlichen für die Zwangsarbeit, die Verantwortlichen für die Requirierung von Transporteseln, die Verwalter der Getreidespeicher usw. wenden. Auch die Besteuerung des Kanalsystems – mehrere Steuern und Durchgangszölle sind uns bekannt – war ein getrenntes Ressort, auch wenn Einkünfte primär für die Erhaltung des Systems vorgesehen und damit für die Aufgaben des Ingenieurs zu gedacht waren. Schließlich spricht keines der Dokumente dafür, dass Magistrate wie Kleon und Theodoros für die technische Planung der Kanäle und Dämme zuständig waren.38 Dies scheint weniger an höherer Stelle entschieden, als vielmehr Teil unterbeauftragter Arbeit gewesen zu sein, wie das Beispiel des Stotoetis zeigt. Letztendlich war der architekton für den Gesamtzustand des Kanalsystems in seinem Distrikt verantwortlich und sein Posten unmittelbar von diesem Zustand abhängig. Zum Ende seiner Karriere scheint Kleon in Misskredit beim König gefallen zu sein, und seine Söhne drängten ihn inständig zur Rückkehr nach Alexandria.39 So erscheint die Verwaltung der lokalen Bewässerung, wie im Übrigen die gesamte Administration im ptolemäischen Ägypten, in ein Konglomerat lokaler Zuständigkeiten eingebunden gewesen zu sein, für deren erfolgreiche Koordinierung der Zuständige persönlich verantwortlich war. Dieses Spannungsverhältnis zwischen persönlicher Verantwortung und Abhängigkeit von anderen Ressorts, aber auch die Partikularisierung der Zu37 Naphtalie Lewis, Greeks in Ptolemaic Egypt. Oxford 1986, 37–44; s. auch P. Petrie III 43 (2) recto col. ii.; zur Bezahlung von Zwangsarbeit unter den Ptolemäern, von Reden, Monetization, 136f. 38 Dies ist insbesondere für die Bewertung der Entwicklung technischer Expertise von Bedeutung, s. etwa Serfina Cuomo, Ancient Written Sources on Engineering and Technology, in: John Peter Olesen (Hrsg.) Oxford Handbook of Engineering. Oxford 2008, 18ff. 39 P. Petrie II 9 (1) und 4 (11) für getrennte Zuständigkeiten; P. Petrie II 42 H 8 (f); P. Petrie II 13 (19) für Anzeichen des Misserfolgs und Verlust der Gunst des Königs.

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ständigkeitsbereiche schuf zum einen ein hohes Maß an dezentralisierter Verantwortung, das sich die Kenntnisse und Erfahrungen vor Ort zunutze machen konnte. Gleichzeitig aber spricht es auch für ein System, das nur zentral überprüft werden konnte und von der persönlichen Patronage des Königs abhängig war.

Der Pithom Kanal Herodot führt die erste Planung eines Kanals zwischen dem Nil und Roten Meer auf Nekos, Sohn des Psammetichos III am Anfang seiner Regierungszeit um 600 v. Chr. zurück: Er begann mit dem Bau jenes Kanals in das Rote Meer, den der Perserkönig Dareios weiterführte. Seine Länge beträgt vier Tage Fahrt; seine Breite wurde so ausgehoben, dass zwei Dreiruderer nebeneinander fahren können. Er empfängt sein Wasser vom Nil, etwas oberhalb der Stadt Bubastis, fließt an der arabischen Stadt Patumos (Pithom) vorbei und mündet ins Rote Meer. Ausgeschachtet wurde er zunächst von ägyptischer Seite, die nach Arabien weist…Von den Ägyptern, die unter König Nekos arbeiteten, kamen allerdings bei dem Bau 120000 Mann um. Mitten in der Arbeit hörte der König auf, weil ein Orakelspruch ihm abriet: was er baue, sei Vorarbeit für den Barbaren (Hdt. II, 157).

Der Kanal erlangte einige Berühmtheit bei griechischen Geographen und wurde in der Literatur mehrfach aufgegriffen. Aristoteles erwähnte ihn ein Jahrhundert später in einer erdkundlichen Schrift, folgte aber in seiner Datierung einer anderen Tradition, die den Kanal auf Sesostris zurückführte (Aristot. met. I, 15 (352b)). Diodor folgte in hellenistischer Zeit Herodot, während Strabon wusste, dass es zwei Ursprungsversionen gab (Strab. 17, 1, 25 (804C)). Einigkeit herrschte jedoch über die Tatsache, dass Dareios den Kanal fertigstellte. Ein Kanal des Dareios ist auch inschriftlich über mehrere Stelen bezeugt, die entlang der Kanaltrasse gefunden wurden.40 Die Stelen waren in vier Sprachen verfasst (aramäisch, neobabylonisch, elamisch, ägyptisch) und zeigen den herrschaftspolitischen Anspruch, der sich mit dem Kanalbau verband. Eine der besser erhaltenen Exemplare lautete: Ich bin Perser. Ich eroberte Ägypten von Persien aus. Ich gab diesen Kanal in Auftrag, dass er gebaut würde vom Nil aus, der in Ägypten fließt bis zu der See, die von Persien

40 Tuplin, Darius’ Suez Canal, 242–252. Tuplin datiert die Fertigstellung auf nicht später als 490 v. Chr.

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kommt. So wurde der Kanal gebaut, wie ich befohlen hatte, und Schiffe passierten von Ägypten nach Persien, wie es mein Vorhaben war.41

Uneinigkeit herrscht in der Überlieferung allerdings auch über die genaue Lage des alten Kanals.42 Herodot lokalisiert den Kanaleingang »oberhalb [d. h. südlich] von Bubastis«, während Diodor von einer »Pelusischen Mündung« und die Pithom Stele (s. u.) von einem Anfang »nördlich von Heliopolis [nördlich von Memphis]« spricht.43 Auch die Frage seines südlichen Verlaufs vor der Einmündung in das Rote Meer ist unklar.44 Entweder beziehen sich die Autoren auf unterschiedliche Kanalbauten, was angesichts der hohen Feuchtigkeit des Region durchaus möglich ist45, oder es gab nur einen bedeutenden Kanal, der aber periodisch verschlackte und mit abweichendem Lauf immer wieder neu ausgehoben wurde. Der Gedanke eines einzigen Kanals wurde zweifellos durch Versuche, sich auf Traditionen der Vorgänger zu berufen, gefördert. Abweichende Trassenführung konnte sich dagegen aus sich wandelnden politischen und bodenrechtliche Bedingungen ergeben. Das Gebiet zwischen dem östlichen Delta und dem Roten Meer war zu allen Zeiten umstrittenes Territorium mit sehr wechselhaftem Grenzverlauf zu den benachbarten arabischen bzw. syrischen Gebieten.46 Die Frage des Kanalverlaufs betrifft auch das Problem seiner Funktion. Herodot legt in seiner Berechnung, dass der Kanal zwei Trieren nebeneinander Platz bot, nahe, dass er vor allem militärische Zwecke erfüllte. Auch spricht Herodots Bemerkung, dass Nekos, nachdem er den Kanalbau abgebrochen haben soll, Trieren am nördlichen, also Mittelmeer, und am arabischen Meerbusen (Roten Meer) bauen musste (Hdt. II, 159,1), für diese Annahme. Allerdings erwähnt Herodot an anderer Stelle, dass der Kanal für die Umsegelung Libyens, die Nekos in Auftrag gegeben habe, gebaut wurde, und auch Skylax, der Geograph des Dareios habe ihn auf seinen Erkundungsreisen befahren (IV, 42, 1; 41 Georges Posener, La PremiÀre Domination Perse en Êgypte. Receuil d’Inscriptions Hi¦roglyphiques. Cairo 1936, 48–87, Nr. 8–10; hier Inschrift Nr. 9. 42 Tuplin, Darius’ Suez Canal, 239f. und 255. 43 Ebd., 238ff. 44 Es muss ungeklärt bleiben, ob der Kanal durch die Bitterseen oder an ihnen vorbei verlief; Tuplin, Darius’ Suez Canal, 255. 45 Aristot. met. 352 C; s. auch Georges Posener, Le Canal du Nil a la Mer Rouge, in: Chronique d’Êgypte 13, 1938, 261. Ein anderer »östlicher« Kanal wurde auch archäologisch zwischen Pelusium und Sile (Tel Abuh Sefa) identifiziert (Manfred Bietak, Tel el-Dab’a II.Wien 1975, 131–139; zur Datierung: William H. Shea, A Date for the Recently Discovered Eastern Canal of Egypt, in: Bulletin of the American Schools of Oriental Research 226, 1977, 31–38); die Pithomstele erwähnt Einkünfte aus der Nutzung von Wasserwegen vor der Stiftung des ptolemäischen Pithom Kanals. 46 So war auch die Stadt Pithom in wechselnd arabischer und ägyptischer Hand; s. oben Hdt. II, 157; Tuplin, Darius’ Suezkanal, 240; Peter Högemann, Alexander Große und Arabien. München 1985, 26–28.

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IV, 44, 1–2). Derartige Küstenerkundungen (periploi) dienten wiederum militärischen Zwecken, hatten aber wissenschaftliche auch machtpolitische Bedeutung, insofern sie Territorien symbolisch umschrieben.47 Besonders die Kanalinschriften des Dareios zeigen, dass Herrschaftsansprüche und die Zusammenführung zweier Territorien eine nicht unwesentliche Rolle für den Kanalbau spielten. In der Forschung wird angenommen, dass der Hauptzweck des Kanals in der Bewässerung des Agrarlandes des umliegenden Gaus lag, während seine Befahrung eher sekundär war.48 Der Kanalbau begegnet uns erneut auf einer großen Tempelinschrift, der sogenannten Pithomstele, die die Priesterschaft des Atumtempels von Tjeku (Pithom) 264 v. Chr. anlässlich eines Besuchs Ptolemaios II. errichten ließ.49 Sie enthält eine umfangreiche Huldigung des Königs und seiner Frau Arsinoe, die Erinnerungsgeschichte seiner Errichtung des Tempels für Atum, die Rückführung der Götterbilder durch den König sowie lange Listen von Geschenken und Abgaben, die der König für den Kult des Tempels zur Verfügung stellte bzw. abtrat. Insofern war die Stele die schriftliche Veröffentlichung der Beziehung zwischen König und Priester sowie der materiellen Zugeständnisse, die der König der Priesterschaft machte. Schon 280/79 v. Chr. hatte Ptolemaios die Priesterschaft besucht und dem Tempel wichtige Einnahmen abgetreten, so auch die Einnahmen von Kanälen in ihrem Gau (10).50 Fünf Jahre später erfolgte ein zweiter Besuch, und bei seinem dritten Besuch im Anschluss an den Krieg des Ptolemaios gegen Antiochos I in Syrien fand der Ausbau des Pithomkanals statt: (16) Jahr 16, Monat 1: Er, der König, grub einen Kanal wie er es wollte für seinen Vater Atum, großer Gott, der lebendig ist in Tjeku um die Götter des Sethroitischen Gaus zu beschützen. Der Anfang des Kanals ist nördlich von Onu (Heliopolis), sein Ende am See der Skorpione. Er baute einen großen Wall an seiner östlichen Seite, 100 (Cubite?) hoch – es ist wahr, nicht gelogen, um die Rebellen davon abzuhalten, den Göttern zu schaden, sollten sie auf Ägypten zu marschieren.51

47 So auch Herodot selbst in Hdt. IV, 42; und Paul J. Kosmin, The Land of the Elephant Kings. Space, Territory and the Ideology of the Seleucid Empire, Cambridge/MA 2014, 73f. 48 Posener, Le Canal du Nil, 261, verteilt diese Funktionen auf verschiedene Abschnitte des Kanals. 49 Edouard Naville, La stÀle de Pithom, in: Zeitschrift für Ägyptische Sprache 40, 1902/3, 66–75; deutsche Übersetzung in Gustav Roeder, Die ägyptische Götterweld. Zürich 1959, 114–128; neuere engl. Übersetzung in: Müller, Settlements of the Ptolemies, 192–199; zur Diskussion, Erhard Grzybek, Du calendrier mac¦donien au calendrier ptol¦maique: problÀmes de chronologie hell¦nistique. Basel 1990. 50 Darunter findet sich auch die Abtretung eines Viertels der Einnahmen aus dem Kanalverkehr durch die »südliche Wüste« in Höhe von etwas über 63 Drachmen zählen. Die Summe ist nicht groß und scheint sich nicht auf den neu angelegten Kanal zu beziehen. 51 Naville, StÀle de Pithom, 16. Engl. Übers. von Müller, Settlements of the Ptolemies, 195f.

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Der Kanalbau ging einher mit dem städtischen Ausbau der oberen Westküste des Roten Meers, an der unter Ptolemaios II. viele kleinere und größere Hafenstädte entstanden. Auch an der Mündung des Pithomkanals wurde eine Stadt namens Arisinoe gebaut. In der Forschung wird betont, dass der Kanal unter Ptolemaios erneuert wurde, um einen Durchgang für Handels- und Transportschiffe, insbesondere zum Transport von Kriegselefanten und Elfenbein aus Aitiopien zu schaffen.52 In der ritualisierten Repräsentation der lokalen Priesterschaft wird der Kanal jedoch in einen ganz anderen Zusammenhang gestellt. Mehrfach werden Kanäle als Wasserstraßen für rituelle Fahrten (5, 6) oder als Weg, auf dem die Götterbilder des Tempels zurückgeführt wurden (12), erwähnt. Elefanten erscheinen als Symbole der Macht und guten Taten des Königs, ohne aber die Funktion des Kanals für ihren Transport explizit zu machen (24). Zusammen mit dem Lob des Königs als Eroberer und Friedensbringer für das Land (2–6), stand der Kanal für Herrschaft, Frieden (durch Eroberung) und territorialen Zusammenhalt, ein Zusammenhang der schon unter Dareios im Mittelpunkt stand.53 Frieden, gesicherte Grenzen und Herrschaft waren aber auch von ökonomischem Interesse für die Priester von Atum: Der Kanal schützte das Land um Pithom und sicherte Eigentumsrechte und Bodenpachten auf das Land für den Tempel (24). Nur zusätzlich, und ohne dass es auf der Stele explizit erwähnt wird, mag der Kanal auch Durchgangszölle eingebracht haben. Auch bei Diodor, unserer ausführlichsten griechischen Quelle für den Kanalausbau unter Ptolemaios II., hallt eine vor allem herrschaftspolitische und repräsentative Bedeutung des Projekts nach. Allerdings geht es hier weniger um seinen Zweck als Abgrenzung des Territoriums und Kennzeichen militärische Eroberung, als um die technische Leistung, die der Kanalbau darstellte. Nur Ptolemaios habe es geschafft, durch einen technischen Kniff den Kanalbau zu beenden. In Ägypten herrschte nämlich die Auffassung, das Rote Meer sei höher

52 Stephen E. Sidebotham, Berenike and the Ancient Maritime Spice Route, Berkeley und Los Angeles 2011, 178–182; 39–53; Müller, Settlements of the Ptolemies, 151–156; Ulrich Wilcken, Puntfahrten in der Ptolemäerzeit, in: Zeitschrift für Ägyptische Sprache 60, 1925, 86–102 mit SB III 7169; 2. Jh. v. Chr ; Hölbl, Geschichte des Ptolemäerreiches, 54–57. Die begrenzte Schiffbarkeit des nördlichen Roten Meeres und die Tatsache, dass eine vielbefahrene Karawanenstraße in Höhe von Berenike (ebenfalls eine ptolemäische Neugründung) zum Nil führte, sprechen jedoch eher gegen diese Begründung. 53 Die Bedeutung von Kanaldurchfahrten für militärische Eroberung und imperiale Macht (einschließlich des Imports von Elefanten sowie der Rückführung der Götterbilder) erscheint auch auf der Adulis Stele, einer unter Ptolemaios III. errichteten Inschrift, die nur in einer späten griechischen Version aus Adulis (Aitiopien/Axum) überliefert ist (OGIS 54, 20 mit kurzem Kommentar in Michel Austin, The Hellenistic World from Alexander the Great to the Roman Conquest. A Selection of Ancient Sources. Cambridge 22006, Nr. 268); s. auch Glen Bowersock, The Throne of Adulis. Red Sea Wars on the Eve of Islam. Oxford 2013, 34–43.

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gelegen als der Nil. Eine Verbindung der beiden Gewässer sei daher Gefahr gelaufen, Ägypten zu versenken.54 Von dem Pelusischen Arm führt ein Kanal zum arabischen Meerbusen und das Rote Meer. Der erste, der den Bau unternahm war Nekos, Sohn des Psammetichos. Nach ihm setzte Dareios, der Perser, das Werk fort aber ließ es unvollendet; denn er wurde von gewissen Leuten belehrt, dass, wenn er die Landenge durchschneide, er Ägypten versenken würde. Denn sie wiesen darauf hin, dass das Rote Meer höher gelegen sei als Ägypten. Später vollendete der zweite Ptolemaios das Werk und baute an geeigneter Stelle eine technisch ausgeklügelte Schleuse (philothechnon diaphragma). Diese öffnete er, wann immer er hindurch fahren wollte, und schloss sie schnell hinter sich; eine höchst geglückte Konstruktion. Der Fluss, der durch den Kanal fließt, heißt Ptolemaios nach seinem Erbauer und an seiner Mündung befindet sich eine Stadt namens Arsinoe (Diod. I, 33, 11ff.).

Der Repräsentationsbau des Ptolemaios, der durch seinen Namen und die Gründung der Stadt Arsinoe an seiner Mündung als solcher gekennzeichnet war, stellt das Thema der monarchischen Naturbeherrschung in den Mittelpunkt. Er war das Gewässer des Königs, das (angeblich) nur er befuhr. Die Tatsache, dass auch die ägyptischen Könige und der Perser Dareios hier einen Kanalbau versucht hatten, spielte für seine Neuanlage eine sicherlich nicht unwesentliche Rolle. Ptolemaios griff eine Tradition auf, übertraf sie aber alle mit seiner technischen Vervollkommnung. Die Kanalanlage selbst, sicherlich aber in der Weise, wie sie erinnert wurde, war als ein Wettkampf mit anderen griechischen Leistungen zu verstehen und zu bewerten. Vor den Gefahren, den Isthmus von Korinth zu durchbrechen, waren die Griechen immer wieder gewarnt worden. Und auch der Bau der Brücke über den Hellespont, den der Perserkönig Xerxes auf seinem Zug nach Griechenland veranlasst hatte, kündigte frühzeitig an, dass sein Feldzug unglücklich enden würde. Derartige Maßnahmen konnten leicht als Hybris (Maßlosigkeit gegenüber den Göttern) angesehen wurden (Hdt. I, 174; s. auch Paus. 2,1,5). Die Gefahr, die ein Kanaldurchbruch auch bei Pithom implizierte, klingt bei Diodor noch an. Aber neue technische Möglichkeiten und eine Veränderung der Bewertung von Technik selbst, insbesondere auch vor dem Hintergrund, dass sich die Ptolemäer als Götter verehren ließen, schuf eine neue Bewertung von Kanalbauten. Als direktes Vorbild für die Schleusen des gottgleichen Ptolemaios mag die Schleuse zum Pallakopas Kanal gedient haben, die Alexander der Große am Euphrat gebaut und damit ingeniös ein zentrales hydrologisches Problem gelöst haben soll.55 54 Geomorphologisch ist diese Begründung unhaltbar, s. Michael T.S. Lewis, Surveying Instruments of Greece and Rome. Cambridge 2004, 167. Auch die Tatsache, dass der Kanal sich, wie antike Autoren selbst meinten, aus dem Nil speiste und nicht umgekehrt aus dem Roten Meer floss, spricht logisch gegen eine solche Befürchtung. 55 Arr. An. VII, 21; zur Diskussion, Peter Högemann, Alexander Große und Arabien, München

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Brunnen im Ptolemäischen Palastgarten Die Trinkwasserversorgung sowohl Alexandrias als auch der Städte und Dörfer des Niltals beruhte auf Nilwasser, das in Kanälen aus dem Fluss abgeleitet und in Zisternen gesammelt wurde. Brunnen werden in Ägypten erst unter römischer Herrschaft üblich. Schon Aristoteles hatte eine solche Trinkwasserversorgung nur als Alternative für Brunnen und Quellen angesehen, wie sie ihm in griechischen Poleis begegneten: Außerdem soll es im besten Falle in der Stadt reichlich Quellen und fließendes Wasser geben und wenn nicht, so ist (Abhilfe) gefunden, wenn man viele und große Zisternen baut, so dass den Bewohnern nie das Wasser ausgeht, wenn sie infolge von Krieg vom Hinterland abgeschnitten sind (Arist. pol.1330b3–10).

Auch das, was in ägyptischer Mythologie der Nil repräsentierte, nämlich Ursprung des Lebens und Geburtsort der Götter, tritt uns in griechisch-römischer Literatur als Quellwasser entgegen. Der kulturelle Gegensatz wurde in der alexandrinischen Poesie aufgegriffen, wo natürliche Quellen als Symbole für ländliche Idylle, Leben und Fruchtbarkeit erscheinen konnten. Als Beispiel sei der zweite Hymnos des alexandrinischen Dichters Kallimachos aufgegriffen, der hier die Kunst des kurzen Epigramms in einen Gegensatz zur Flut des mächtigen, in den Osten verlagerten Epos stellt: Der Neid flüsterte heimlich ins Ohr Apollons: »Nicht schätze ich den Sänger, der nicht einmal singt, was groß wie die See ist!« Den Neid vertrieb Apollon mit einem Fußtritt und sprach: »Des assyrischen Flusses Flut ist zwar groß, doch schleppt sie viel Erdschlamm und reichlich Unrat auf ihrem Wasser mit. Der Demeter bringen die Bienen nicht von überal her Wasser, sondern nur was rein und unbesudelt aus einer heiligen Quelle hervorsprudelt, ein winziger Schluck – das Feinste vom Feinen (Kall. hym. apol. 95–105).

Quellen waren in Alexandria nur in den Gärten des Palastbezirks zu sehen. Wir sind über die Stadt archäologisch schlecht informiert, aber in der mythisch1985, 145–149; Tom Boiy, Kris Verhoven, Arrian Anabasis VII, 21, 1–4 and the Pallukkata Chanel, in: Hermann Gasche und Michel Tanret (Hrsg.), Changing Watercourses in Babylonia. Towards a Reconstruction of the Ancient Environment in Lower Mesopotamia I, Gent und Chicago 1998, 147–158. Zur Konkurrenz gehörten möglicherweise auch der Kanal des persischen Königs Xerxes am Berg Athos (Hdt. 7, 34f.) und der diolkos am Isthmus von Korinth; s. Klaus Grewe, Tunnels and Canals, in: Olesen, Oxford Handbook of Engineering, 319–337. Ein Wettbewerb mit den Leistungen Alexanders, dessen Ingenieur Krates von Chalkis den Kopaissee in Boiotien – in Anknüpfung an die mythischen Minyer – abgeleitet und trocken gelegt haben soll (Strab. 9, 2,18) kann auch im Fall des Ausbau des Fajums gesehen werden; hier und zu weiteren Landgewinnungsprojekten, Holger Sonnabend, Mensch und Landschaft in der Antike. Lexikon der historischen Demographie. Stuttgart 2006, 1.

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poetischen Repräsentation entsteht der Palastbezirk als eine Mischung aus Realität und Imagination. Apollonios Rhodios beschreibt in den Argonautika den Palast des Aietas in Kolchis, der den Vergleich mit dem Königspalast in Alexandria zuließ.56 Gleichzeitig greift er auf die homerische Darstellung des Alkinoospalastes zurück (Hom. Od. 7, 81–135), die Apollonios in Wortwahl und Erzählstruktur imitiert.57 Bedeutsam sind die Abweichungen, die den Aietas Palast von dem des Alkinoos unterscheidet. Hier zeigt sich der alexandrinische Gegenwartsbezug in Abgrenzung zur griechischen Tradition. Bei Homer bestaunen die Gefährten zunächst den Garten, bevor sie über die Schwelle des Hauses treten. Apollonios schildert dagegen eine zeitgenössische Hallenarchitektur mit Höfen, in deren Mitte ein Garten liegt:58 Ruhig schritten sie darauf über die Schwelle. Und in ihrer Nähe sprossten gewaltig, belaubt mit grünen Blättern, Weinstöcke in die Höhe. Und die vier Quellen unter diesen, die Hephaistos gegraben hatte, flossen ständig. Und die eine sprudelte Milch hervor, die andere Wein, die dritte aber verströmte duftendes Salböl. Die vierte nun ließ Wasser hervor fließen, das sich beim Untergang der Pleiaden wohl erwärmte, umgekehrt aber bei deren Aufgang dem Eis gleich aus dem hohlen Fels empor quoll. Solch wunderbare Werke also hatte in den Hallen des Kyrtaiers Aietas der kunstreiche Hephaistos ersonnen (Apoll. Rhod. 3, 220–229).

Dionysische Fülle und technischer Erfindungsreichtum, sowie die Symbolik der nimmer ruhenden Quellen verbinden sich zu einem Gesamtkunstwerk der ptolemäischen Herrschaftsrepräsentation zwischen Mythos, Wissenschaft und Ästhetik. Eine noch greifbarere Kombination derselben Elemente tritt uns in einem papyrologisch überlieferten anonymen Epigramm entgegen, das ebenfalls einen Quellbrunnen im Garten des Königspalastes beschreibt: …freudig nimm dieses Geschenk [des ?] … entgegen. Jener, der auch ein Werk aus Stein errichtete, eine prächtige Schöpfung für seinen Palast, das den glitzernden Tropfen [..] befreit und in eine Halbkreisform speist. Der parische Marmorkranz unterstützt das ionische Gesims, und in der hohlen Wölbung glänzt der gefleckte Granit: der bildet den Grundstein der Säule. Und aus dem Gestein des Hymettos sprudelt hervor der Strom des reinen Quellwassers. Er formte Dein Bild geschmeidig in weißem Marmor und in der Mitte fügte er Arsinoe ein, die jährlich das Schicksal der 56 Wilhelm Sonne, Hellenistische Herrschaftsgärten, in: Wolfram Hoepfner, Gunnar Brands, Basileia. Die Paläste der hellenistischen Könige. Mainz 1996, 136–143. Zum Realitätsbezug alexandrinischer Dichtung, s. Susan Stephens, Seeing Double. Intercultural Poetics in Ptolemaic Alexandria. Berkeley 2003, bes. 171ff. zu Apollonius Rhodius. 57 Sonne, Hellenistische Herrschaftsgärten, 140 mit Anm. 23. 58 Hellenistische Palastgärten werden als griechische Adaption ägyptischer und persischer Vorbilder angesehen; s. Inge Nilsen, The Garden in the Hellenistic Palace, in: dies. (Hrsg.) The Royal Palace Institution in the first Millennium BC. Athen 2001; für ein weiteres Beispiel eines ptolemäischen Palastgarten in Memphis, s. Dorothy Thompson, Memphis under the Ptolemies. Princeton 1988, 18.

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Nymphen teilt. Ei, kommt zu dieser Quelle in rechter Ordnung, ihr Töchter der Quelle! (P. Cair. Inv. 65445, 140–145).

Archäologisch haben wir keinerlei Zeugnisse von dem Quellmonument. Aber sollte es tatsächlich existiert haben, muss es ein Wunderwerk gewesen sein.59 In seiner Materialität vermischte es griechische und ägyptische Elemente. Während parischer Marmor und der gelbe Sandstein des attischen Hymettos auf die Pracht athenischer Heiligtümer verwiesen, war Granit die Bausubstanz ägyptischer Tempel. In der Verbindung wechselnder Gesteinstypen war der Brunnen ein hybrides Werk, und es ist diese Hybridität die sich mit der Quellsymbolik des Epigramms verbindet. Kommentatoren weisen wohl nicht ganz zu Unrecht darauf hin, dass der Brunnen nicht aus Quell- sondern Nilwasser gespeist worden sein musste. Personifizierte Quellen, dionysische Herrschaftssymbolik und technische Fähigkeiten erschienen auch in der Prozession anlässlich des Dynastiefestes zu Ehren Ptolemaios I. nach seinem Tod.60 Unter den vielen technisch besonders phantastischen Wunderwerken des Festzuges, den Kallixeinos von Rhodos in einer Rückschau auf das Ereignis beschreibt, war auch ein vierrädriger Wagen, den 500 Männer zogen. Auf diesem Wagen war eine Höhle gefertigt, die von Efeu und Eiben überschattet war. Zwei Quellen sprudelten aus ihr hervor, eine mit Milch, die andere mit Wein. Um den bekränzten Dionysos standen Nymphen mit goldenen Kronen. Auf einem anderen Wagen saß die Statue der Quellnymphe Nysa, der Ziehmutter des Dionysos, knapp vier Meter groß, in dionysischem Gewand. Die Statue konnte automatisch aufstehen und sich setzen, nachdem sie einen Weihguss in eine goldene Schale gefüllt hatte (Athen. V, 198 F). Dass das Quellwasser der ptolemäischen Palastgärten in Verbindung mit Kult und Herrschaftsrepräsentation stand und dass diese in einem gewissen Gegensatz zu der symbolischen Bedeutung des Nils für das Leben Ägyptens stand, wird in einer sehr viel späteren Episode des Bellum Alexandrinum deutlich, in der Caesar von dem Einfall der Römer in das von schweren Thronstreitigkeiten geteilte Alexandria berichtet. Als nämlich das römische Herr 48 v. Chr. eintraf, fanden sie eine Stadt vor, die von einer Fülle verschmutzter Kanäle durchzogen war. Die Stadtbeschreibung konzentriert sich allein auf die Wasserversorgung und macht sie zum Zeichen des Verfalls eines Königssitzes, der in sichtbarem Gegensatz zur Größe Roms und seiner Zivilisation stand.61 59 Zur Diskussion, Berg, Fountains and Artistic Displays, 95 f; Fraser, Hellenistic Alexandria. Bd. 1, 610f. 60 Die Prozession ist vielfach besprochen und ihrme Bedeutungsgehalt analysiert worden; s. etwa Ellen E. Rice, The Grand Procession of Ptolemy Philadelphus, Oxford 1983; Frank W. Walbank, Two Hellenistic Processions: A Matter of Selfdefinition, in: Scripta Cassica Israelica 15, 1996, 119–130. 61 Äquädukte und Abwasserkanäle wurden in vielen anderen Texten als Symbol für die Größe

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Alexandria ist fast gänzlich ausgehöhlt von Kanälen, die zum Nil führen und mit denen Wasser in die privaten Häuser geleitet wird. Dort setzt sich nach einer Weile das Wasser in Zisternen ab und wird klar. Dann können Hausherr und Familie es nutzen. Das, was der Nil heran schwemmt, ist dagegen schlammig und trübe, so dass es viele Krankheiten verursacht. Aber die Stadtbevölkerung und die Volksmenge müssen sich damit notgedrungen zufrieden geben, denn es gibt in der ganzen Stadt keine Quelle. ([Caes.] bell. alex. 5).

Die für Römer ganz ungewöhnliche Wasserversorgung stellte sich noch obendrein als großes Hindernis für die römischen Soldaten dar, denn ihr Gegner nutzte die Situation geschickt für seine militärischen Zwecke. Mit aufwändigen Maschinen und Heberädern leitete der Alexandriner Meerwasser in die Kanäle und verwirrte damit die römischen Eindringlinge zutiefst. Denn indem er das Wasser aus den häuslichen Zisternen, aus denen sich die Soldaten bisher versorgten, salzig machte, jagte er den Soldaten Angst und Schrecken ein. Erst als Caesar riet, hinunter zum Meer zu gehen, wo sich vielfache Gelegenheit böte, Brunnen zu graben und reines Quellwasser zu genießen, entspannte sich die Situation (ibid. 6–7).62 Die kleine literarische Vignette birgt eine Vielzahl kultureller Kodierungen in sich, die für unseren Zusammenhang signifikant sind: die für Römer ganz unverständliche Wasserversorgung der ägyptischen Hauptstadt; die ebenfalls aus stadtrömischer Sicht pervertierte Sozialpolitik, die den Plebejern und der Menge, wie der lateinische Text es ausdrückt, nur verseuchtes Flusswasser gewährte; die fragwürdige Ingeniösität des alexandrinischen Feldherrn, der mit großem technischen Aufwand aus der Eigenart der Wasserversorgung eine Kriegsstrategie zu entwickeln versucht, und schließlich der Gegenzug Caesars, dessen simpler Einfall die ganze Irrationalität des alexandrinischen Versorgungssystems zutage förderte und gleichzeitig noch der ptolemäischen hydrologischen Wissenschaft einen Seitenhieb versetzte. All das zeigt, dass sich an die Wasserversorgung der Stadt eine Vielzahl von machtpolitischen Auseinandersetzungen knüpfte, die weit über die Frage ihrer Funktionalität hinausging.

und moralische Stärke Roms dargestellt, s. Nicholas Purcell, Rome and the Management of Water : Environment, Culture, Power, in: John Salmon, Graham Shipley (Hrsg.), Human Landscapes in Classical Antiquity. Environment and Culture. London 1996, 180–212; und die kurzen Bemerkungen bei Catharine Edwards, Writing Rome. Textual Approaches to the City. Cambridge 1996, 105–109. 62 Die Passage ist bisher wenig unter diesem Gesichtspunkt beachtet worden; kurz TölleKastenbein, Antike Wasserkultur, 114, die sie allerdings nur zur Kennzeichnung realer Unterscheide zwischen der römischen und ägyptischen Wasserversorgung heranzieht.

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Versuch einer Bilanz Ein enger Zusammenhang zwischen Wasserprojekten und Herrschaftsstabilisation unter den ersten Ptolemäern – hier insbesondere Ptolemaios II. – ist unverkennbar. Dabei hat uns unsere sehr bruchstückhafte Kenntnis der ptolemäischen Wasserbaupolitik nicht ganz zufällig in drei zentrale Bereiche der ptolemäischen Herrschaftspolitik geführt: die Neuschaffung von Siedlungsfläche für militärische und zivile Ansiedler im Fajum, die Markierung territorialer Ansprüche gegenüber Nachbarn sowie die Auseinandersetzung mit der indigenen Priesterschaft im Deltagebiet und die Symbolisierung Alexandrias als Zentrum der Herrschaft. In allen diesen Bereichen ließ sich eine enge Anbindung, aber auch Abgrenzung gegen vorptolemäische Traditionen erkennen. Deutlich ist jedoch, dass die Abgrenzung nicht als Widerstreit, sondern Darstellung von Eigenleistung inszeniert wurde. In Alexandria, dem wohl am meisten von der Fremdherrschaft dominierten Ort in Ägypten, war der kulturelle Gegensatz am deutlichsten, ohne aber selbst hier Rückbindungen an Ägypten zu vernachlässigen.63 Der Pithomkanal war in seiner Funktion und Bedeutung sehr vielgestaltig. Am wichtigsten scheint langfristig seine Funktion als Bewässerungskanal für den Sethroitischen Gau und die Anerkennung von Eigentumsrechten der Priesterschaften an dem Grenzland des Gaus gewesen zu sein. Signifikant ist dagegen die ganz andere symbolische Bedeutung des Kanalbaus. Er konnte als Durchfahrtsweg für Kriegsschiffe und damit als Mittel für die friedensbringende Sieghaftigkeit des Königs sowie die Ab- und Eingrenzung des von ihm beherrschten Territoriums verstanden werden. Macht und Herrschaft waren in Alexandria aber auch mit der Patronage von Wissenschaft, technischer Errungenschaft und der Bedeutung für Technik im Kriegswesen verbunden. In diesen symbolischen Machtkontext gliederte Diodor den Kanalbau ein. In seiner Darstellung standen außergewöhnliche technische Leistung, Naturbeherrschung und die Funktion des Kanals als Repräsentationsstraße im Mittelpunkt. Wie sehr sich der Herrschaftsanspruch der Ptolemäer über technische Leistungen und Wunder – insbesondere auch in Bezug auf Wasserbauten – herleitete, zeigt die Persiflage dieser Leistungen am Beispiel der technologischen Kriegsführung des Ganymed gegen die Römer. Am deutlichsten zeigten sich Formen staatlicher Entwicklung und ihre institutionelle Verstetigung im Ausbau des Fajum. Landgewinnung, Ent- und Bewässerung erfolgten auf königliche Initiative, bedurften staatlicher Institu63 Zur kulturell hybriden Gestaltung Alexandrias unter den Ptolmemäern, s. Dorothy Thompson, Alexandria. The City by the Sea, in: Soci¦t¦ Arch¦ologie d’Alexandrie (Hrsg.), Alexandrian Studies II in Honour of Mostafa el Abbadi. Alexandria 2001, 73–79.

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tionen (Geld und Arbeitsorganisation), und ihr Erfolg symbolisierte den Erfolg des neuen Regimes. Als Vorbild und Konkurrenz dienten sowohl griechische als auch ägyptische Traditionen, insbesondere die Amenemhets III., der möglicherweise deswegen im Fajum von den Griechen kultisch verehrt wurde. Gegenüber Griechen war es auch Alexander, der das Umland des Kopaissee durch Erneuerung des Kanalsystems gewonnen und damit einen gescheiterten Versuch der legendären Minyer erfolgreich zu Ende geführt haben soll.64 Vorptolemäische Strukturen wurden auch in der Logistik des Kanalbaus übernommen, insofern temporäre Landrechte an Begünstigte vergeben und innerhalb dieser Landrechte die Bewässerungsanlagen lokal geplant, finanziert und durchgeführt wurden. Staatliche Beteiligung zeigt sich an der Koordination des Projekts, der Logistik der Material-und Personalbeschaffung sowie der monarchischen Patronage des Personals, das mit dem Bau und der Aufsicht betraut war. Das Projekt mobilisierte staatliches Geld und institutionalisierte bestimmte arbeitsvertragliche Formen. Staatliche Institutionalisierungsprozesse zeigen sich auch in der Besteuerung des Bewässerungssystems, über das allein die aufwendige Instandhaltung des Systems möglich war. Diese Formen staatlicher Beteiligung verstetigten und stabilisierten das staatliche Herrschaftssystem. Nicht umsonst wurde das größte Maß staatlicher Organisation im Fajum unter den ersten Ptolemäern erzielt. Dabei ist zu betonen, dass staatliche Organisation, wie auch die Organisation des Bewässerungssystems nicht als zentralistisch im Sinne eines von Alexandria gesteuerten Verwaltungsapparat zu verstehen ist, sondern als ein Geflecht von institutionalisierten persönlichen und vertraglichen Beziehungen zwischen Vertragspartnern, dem König und seinem Personal. Die ideologische Bedeutung der ptolemäischen Wasserpolitik war gewaltig. Das Wasser des Nils und seine Erweiterung durch Kanäle, die die Könige befuhren, bestimmte die ägyptische Mythologie wie auch die Rituale der ägyptischen Tempel. Diese Mythologie wurde von den Ptolemäern nicht ignoriert, sondern übernommen und weitergeführt. Dies zeigt sich an den Ehrenbekundungen der Priesterschaft von Atum ebenso wie an der Weise, wie sich die Ptolemäer in die Mythologie selbst einschrieben. Der Nil sei, so Diodor, für die Ägypter das, was der Okeanos für die Griechen sei: aus ihm würden alle Götter geboren. Beweis dafür seien die vielen Städte am Nil, die zu Ehren dieser Götter ihre Namen trugen (Diod. I, 12, 6). Die Ptolemäer hatten die Tradition aufgenommen, den alten ägyptischen Städtenamen ihre griechische Entsprechung gegeben und Neugründungen mit dynastischen Namen versehen, womit sie die Göttlichkeit ihrer Dynastie unterstrichen. Und auch für die Griechen am Hof der Ptolemäer wurde der Nil Symbol vollendeter Herrschaft. So erscheint er in dem bukolischen Lobgedicht, das der Hofdichter Theokrit auf Ptolemaios II. ver64 S. oben Anm. 55.

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fasste, zusammen mit den menschenreichen Städten als Zeichen für die Größe und Macht des Ptolemaios: Unzählige Länder und unzählige Völker von Männern lassen die Saat reifen, gefördert vom Regen des Zeus, aber keines lässt so viel wachsen wie das flache Ägypten, wenn der Nil anschwellend die Scholle nässt und aufbricht; und keines hat so viele Städte von Sterblichen, kundig in Werken. Dreimal hundert Städte sind ihm darin erbaut, dreimal tausend und dreimal zehntausend, zweimal drei und dazu dreimal neun. Über all das ist der stolze Ptolemaios König (Theokr. 17, 76–83).65

65 Dieser Aufsatz sowie die Herausgebertätigkeiten an diesem Band wurden maßgeblich durch einen Forschungsaufenthalt am Institute for Advanced Study in Princeton/NJ gefördert. Ich danke den Mitgliedern des IAS sowie den Friends of the Institute für den Aufenthalt und seine großzügige Finanzierung.

Neville Morley

›The same procedure as last year‹: Wasserregelung im römischen Reich. Konkurrenz und Konflikt zwischen Ökologie und Recht1

Der Titel dieses Aufsatzes stammt aus einer Gesellschaftsstudie, die in Deutschland als Kurzfilm seit den sechziger Jahren außerordentlich beliebt ist. Übertragen bedeutet die Aussage von Dinner for One, dass staatliche Autoritäten Führungsgrundsätze festlegen und dann erwarten, dass diese ohne Rücksicht auf praktische Widrigkeiten ausgeführt werden. Kurz: dass alles so stattfinden soll wie letztes Jahr.2 So ist es Hauptpflicht des Staatsapparats, seiner Vertreter oder Untertanen, alles entsprechend den vorgegebenen Grundsätzen durchzuführen; Veränderungen und Probleme sind zu ignorieren oder stillschweigend zu beseitigen. In Dinner for One müssen die instabilen und störenden Faktoren – Zeit und Verfall – überwunden werden. Im Fall der römischen Wasserversorgung sind es die Unberechenbarkeiten der Umwelt und des Klimas, die ignoriert werden und die staatlichen Grundsätze über eine funktionierende Wasserversorgung in Frage stellen.

1.

Wasser, Macht und Konfliktlösung

Wasser wird zu Recht als Träger von Macht bezeichnet.3 Für Privatpersonen ist Wasser eine wichtige wirtschaftliche Ressource in Landwirtschaft, Gewerbe und Lebensversorgung. Es kann unmittelbar Lebensqualität und sozialen 1 Aus dem Englischen von Neville Morley und Sitta von Reden. 2 Rainer Stollmann, Die Lust des Lachens und die kitzligste Stelle der Bundesrepublik, in: Glossen 25, 2007, http://www2.dickinson.edu/glossen/heft25/stollmann-lachen.html, abgerufen am 6. 10. 2014; auch in: Walraud Wende (Hrsg.) Wie die Welt lacht. Würzburg 2008, 108–124. 3 Über Wasserkonflikte und Wasserrecht im Allgemeinen: Karrie Lynn Pennington, Tomas V. Cech, Introduction to Water Resources and Environmental Issues, Cambridge 2010, S. 370–96, 437–47. Über Wasser in der Antike: Lukas Thommen, Umweltgeschichte der Antike, München 2009, 106–114. Renate Tölle-Kastenbein, Antike Wasserkultur, München 1990. Peregrine Horden, Nicholas Purcell, The Corrupting Sea. A Study of Mediterranean History. Oxford 2000, 237–57.

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Status erhalten und verbessern. Auch für die Mitglieder der römischen Elite war die Herrschaft über Wasser, symbolisiert durch Springbrunnen, Fischteiche und künstliche Wasserfälle, ein wichtiger Aspekt ihrer Selbstdarstellung in Privathäusern und Villen.4 Für Gemeinden und Staaten bietet Wasser wirtschaftliche und logistische Möglichkeiten, die für staatliche Funktionen zentral sind. Es bringt aber auch politische und kulturelle Vorteile, die als symbolisches Kapital bezeichnet werden können. So kann es von großer Bedeutung für die Autorität eines Machthabers sein, wenn die Wasserversorgung der Gesundheit und Belustigung einer Stadtbevölkerung zugutekommt. Das bedeutendste Beispiel solcher Herrschaft über Wasser zu politischen Zwecken ist die Stadt Rom selbst. Sie war ein Vorbild für spätere Staaten in der Monumentalität ihrer Aquädukte, der Versorgung der Städte, der Literatur zur Wassertechnik und schließlich auch in ihren rechtlichen Regelungen, die andere Systeme maßgeblich beeinflussten.5 Aber Wasser bringt auch immer Probleme mit sich. Wasser ist nicht nur nützlich, sondern auch Träger von Konkurrenz und Konflikt. Es ist kein Zufall, dass das Wort Rivalen und verwandte Wörter in anderen europäischen Sprachen (rivals, rivali usw.) vom lateinischen Wort rivales stammt. Rivales waren Personen, die eine Wasserquelle gemeinsam nutzten oder Grundstücke nebeneinander am selben Ufer entlang besaßen. Für derartige rivales sind Konflikte und Rivalität fast unabwendbar. Man kann dasselbe auch in Bezug auf andere nützliche oder notwendige knappe Ressourcen sagen. Doch mit Wasser sind einige besondere Probleme verbunden, die aus seinen spezifischen Eigenarten resultieren.6 Zum einen ist die niederschlagsbedingte Wasserversorgung nicht nur knapp, sondern in hohem Maße unvorhersehbar. Keiner weiß genau, wann und wie viel es regnen wird. Derartige Unsicherheiten bestimmen nicht nur wasserarme und semiaride Zonen, sondern auch Gebiete mit grundsätzlich ausreichendem Niederschlag. Dabei sind nicht nur die täglich wechselnden Quell- oder Flusswassermengen, sondern vor allem auch ihr monatlicher und jährlicher Durchschnitt ein Faktor. Wenn Niederschlag zu früh oder verspätet 4 Nicholas Purcell, Town in Country and Country in Town, in: Elizabeth B. Macdougall (Hrsg.), Ancient Roman Villa Gardens, Washington DC 1987, 185–203. 5 Christer Bruun, The Water Supply of Ancient Rome. A Study of Roman Imperial Administration, Helsinki 1991. Frontinus-Gesellschaft e.V. (Hrsg.), Die Wasserversorgung antiker Städte. Geschichte der Wasserversorgung, Teil I. Wasserversorgung im antiken Rom, Mainz 1989. A. Trevor Hodge, Roman Aqueducts and Water Supply, London 1992. Über Kultur und Macht in Bezug auf Wasser, vor allem Nicholas Purcell, Rome and the Management of Water. Environment, Culture and Power, in: Graham Shipley, John Salmon (Hrsg.), Human Landscapes in Classical Antiquity. Environment and Culture. London 1996, 180–212. Über den Einfluss Frontinus, Daniel Gross, Frontinus (Sextus Iulius Frontinus), in: Brill’s New Pauly Supplement I, Volume 5. The Reception of Classical Literature. Brill Online, 2013. 6 Wilfried Brutsaert, Hydrology. An Introduction. Cambridge 2005.

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fällt, kann es zu erheblichen Veränderungen der mittelfristigen Wasserversorgung kommen. Zum anderen ist Wasser wegen seiner fließenden und wenig greifbaren Natur ein unsicherer Besitz. Gerade aus diesem Grund kann es äußerst bedrohlich sein. Die Rivalität zwischen Nachbarn ergibt sich nicht nur aus konkurrierenden Ansprüchen auf einen gerechten Anteil an der begrenzten Wasserversorgung, sondern auch aus der Vorsorge, das eigene Grundstück, im Notfall auf Kosten der Nachbarn, vor zu viel Wasser oder Überflutung zu schützen.7 Überflutungen verursachen Schäden, Erosion und Ernteausfälle in ähnlichem Maße wie Dürren. 2012 zum Beispiel erfuhr Großbritannien »die nasseste Dürre aller Zeiten«. Gesetzliche Wassernutzungsbeschränkungen begleiteten die unkontrollierten Überflutungen, so widersinnig dies klingen mag. Wasser und Wasserversorgung sind ein Teil des ökologischen Systems jeder Gesellschaft. Sie bestimmen die »Grenzen des Möglichen«, wie Fernand Braudel es formuliert hat.8 Diese Grenzen sind allerdings nicht absolut, denn sie können durch vermehrten Arbeitseinsatz, Technik und politische Maßnahmen ausgeweitet werden. Es ist zweifellos möglich, Golfplätze und Gemüseanbau in Murcia im trockenen Süden Spaniens zu betreiben. Aber derartige Projekte erfordern komplizierte und vor allem teure Techniken und sind abhängig von wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen. Auch haben sie unerwartete und unerwünschte Folgen, nicht zuletzt Konflikte in und außerhalb der Region, der sie nützen sollen.9 Im römischen Reich erlaubten die technischen Möglichkeiten noch nicht, ökologische Grenzen in ähnlicher Weise zu überwinden. Es gab weniger Energiequellen und der wirtschaftliche und soziale Kontext ihrer Ausbeutung war ein anderer. Die Möglichkeiten, Energiequellen zu erweitern oder gar neu zu gewinnen, waren erheblich begrenzt, sodass der ökologische Kontext die Wirtschaft und Gesellschaft der Antike in stärkerem Maße bedingte als in der postindustriellen Moderne. Grenzen der Verfügbarkeit spielten wiederum eine ähnlich bedeutende Rolle wie ihre Unkontrollierbarkeit.

7 Gregory S. Aldrete, Floods of the Tiber in Ancient Rome. Baltimore 2007. 8 Civilization and Capitalism, 15th-18th Century, Vol. I. The Structures of Everyday Life. The Limits of the Possible. London 1981. 9 Elisabeth Rosenthal, In Spain, Water is a New Battleground, New York Times 3/6/08 (http://www. nytimes.com/2008/06/03/world/europe/03dry.html?pagewanted=all& _r=0); David Baldock u.a., The Environmental Impacts of Irrigation in the European Union. London 2000 (http://ec. europa.eu/environment/agriculture/pdf/irrigation.pdf).

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2.

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Klima und Politik

Das Klima des Mittelmeerraums gilt als rau, heftig und kapriziös, und Ähnliches gilt für die Wasserversorgung.10 Heftige Fluten ereignen sich neben ernstzunehmenden Dürren. Der größte Anteil des jährlichen Niederschlags konzentriert sich auf ein paar heftige, örtlich begrenzte Regengüsse im Herbst und/oder im Frühling.11 Diese Bedingungen beeinflussten über Jahrhunderte hinweg die Strukturen der Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur des Mittelmeerraums und schufen – trotz ihrer Wiederholung – jedes Jahr erneut Konfliktpotential. Für den römischen Staat ergaben sich für die Wasserversorgung vor allem zwei Schwierigkeiten. Erstens konnten die Unberechenbarkeit und unvorhersehbare Knappheit dieser wichtigen Ressource staatliche Aktivitäten massiv einschränken. Angesichts der Bedeutung der römischen Wasserversorgung für die Selbstdarstellung des Staates, konnte dies seine Macht in regelmäßigen Abständen immer wieder ernsthaft bedrohen. Das galt für die Logistikkette der Getreideversorgung Roms, die vom Pegelstand des Tibers abhing, wie auch für die städtische Wasserversorgung und staatliche Wassermühlen mitsamt ihrer Symbolik, dass nämlich der römische Staat Herrscher über die Natur sei.12 In rein staatlich kontrollierten Bereichen war die Lösung der Probleme allerdings vergleichsweise einfach. Hier schützte der römische Staat seine Interessen durch Vorsorge, Kontrolle und rechtliche Maßnahmen. Die städtische Wasserversorgung war durch Aquädukte und ihre Logistik gesichert. So wurde Wasser von ländlichen Quellen zur Stadt geleitet, um sein Fließen auch in Dürrezeiten weitestgehend sicherzustellen. Gleichzeitig wurde jeder Versuch bestraft, Wasserleitungen auf ihrem Weg ohne gesetzliche Erlaubnis anzuzapfen.13 Auch wissen wir, dass die Einfuhr staatlichen Getreides und anderer Versorgungsgüter über gesetzliche Maßnahmen geschützt wurde. Über kaiserliche Edikte wurde versucht, private Aktivitäten zu verhindern, die die Getreidelieferungen behinderten, sei es in einem befahrbaren Fluss oder in einem Gewässer, das in einen schiffbaren Fluss mündete.14 Wie Cosima Möller in einer Studie über die republikanischen und kaiserzeitlichen Servituten (privatrechtliche Abmachungen zur Regelung nachbarschaftlicher Hilfeleistung) deutlich gemacht hat, 10 Horden, Purcell, Corrupting Sea, 310–28; Russell King u. a., The Mediterranean. Environment and Society, London 1997. Anthony T. Grove, Oliver Rackham, The Nature of Mediterranean Europe. New Haven 2001. 11 Annarita Mariotti u. a., The Hydrological Cycle in the Mediterranean Region and Implications for the Water Budget of the Mediterranean Sea, in: Journal of Climate 15 (2001), 1674–90. 12 Getreideversorgung: Geoffrey.R. Rickman, Problems of Transport and the Development of Ports, in: Adalberto, Giovannini (Hrsg.), Nourrir la PlÀbe. Basel 1991, 103–15. 13 Frontinus, De Aquis 65, 75, 126–9. 14 Dig. 8,12,1.

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wurden private Streitigkeiten zwischen Nachbarn zunehmend in breiteren Zusammenhängen gesehen, wie zum Beispiel die unbeabsichtigten Folgen einer Wassernutzung für die Nutzer flussabwärts. Besonders die Interessen sozial einflussreicherer Betroffener und des Staates wurden zunehmend stärker berücksichtigt.15 In Dürrezeiten oder im Sommer gab der Staat seinen eigenen Bedürfnissen höchste Priorität. Öffentlicher, d. h. vor allem städtischer Gebrauch, verdrängte dann private ländliche Anrechte.16 Unter günstigen Bedingungen oder in Jahreszeiten, wenn Wasser reichlich vorhanden war, konnte der Staat dagegen als mächtiger Patron auftreten. So konnten reiche Römer einen Teil des Leitungswassers für ihre Villen, Gärten und Grundstücke nutzen.17 In einer offensichtlich heftigen Konkurrenz zwischen Reichen und Armen um Wasser im Hinterland von Rom für Gemüse- und Fruchtanbau ebenso wie für Freizeit und Vergnügen konnten Rechte auf privilegierte Wassernutzung wichtige wirtschaftliche Vorteile bieten. Das zweite Problem für den römischen Staat war seine Rolle, Wasserkonflikte zu schlichten. Friedliche Streitschlichtung gehört zu den grundlegenden Verantwortlichkeiten eines Staates und wird durch Rechtssysteme erreicht, die Gewalt und Selbsthilfe ersetzten.18 Es existieren zwei verschiedene Zeugnisgattungen für derartige Konfliktlösungsprozesse, die offenbar auf unterschiedliche Bedingungen oder Situationen im römischen Reich reagierten. Die erste Gattung bilden Inschriften, die aus Nordafrika und Spanien bekannt sind und die sich auf gemeinsame Wasserversorgungssysteme beziehen.19 Die andere Gattung besteht aus Diskussionen römischer Juristen, die sich allgemeiner auf private Rechtsstreitigkeiten beziehen. Erstere hielten inschriftlich die Ergebnisse staatlicher Schlichtung fest. Diese wurde dann nötig, wenn bestehende Ordnungen für die 15 Cosima Möller, Die Servituten. Entwicklungsgeschichte, Funktion und Struktur der grundstückvermittelten Privatrechtsverhältnisse im römischen Recht, Göttingen 2010, 78–90, 91–105, 293–300. Aus einer weniger juristischen und stärker historischen Perspektive, Cynthia J. Bannon, Servitudes for water use in the Roman ›suburbium‹, in: Historia 50 (2001), 34–52. Cynthia J. Bannon, Gardens and Neighbors. Private Water Rights in Roman Italy, Ann Arbor 2009. 16 Mireille Corbier, De Volsinii — Sestinum. Cura aquae et ¦verg¦tisme municipal de l’eau en Italie, in: Revue des ¦tudes latines 62, 1984, 236–74. 17 Frontinus, De Aquis 78, 105, 109. 18 Roger Cotterrell, The Sociology of Law. An Introduction, Oxford 1992; Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1993; Reinhold Zippelius, Das Wesen des Rechts. München 2012. 19 Brent D. Shaw, Lamasba: an Ancient Irrigation Community, in: Antiquit¦s Africaines 18 (1982), 61–103. Brent D. Shaw, Water and society in the Ancient Maghrib, in: Antiquit¦s Africaines 20 (1984), 121–73. Anna Leone, Water Management in Late Antique Africa. Agricultural Irrigation, in: Water History 4.1 (2012), 119–33. Francisco Beltran Lloris, An irrigation Decree from Roman Spain. The Lex rivi Hiberiensis, in: Journal of Roman Studies 96, 2006, 147–97.

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gemeinsame Nutzung einer Quelle aus bestimmten Gründen zusammengebrochen waren. In manchen Fällen luden einzelne Gemeinden das Gericht eines lokalen römischen Statthalters ein, so etwa in Nordafrika. In anderen war ein Konflikt zwischen zwei Gemeinden flussauf- und abwärts aufgetreten, der Schlichtung erforderte, wie es aus Spanien überliefert ist. In beiden Fällen trat der römische Staat als unparteiischer Vermittler auf und revidierte die Wasserordnung, um den Konsens wiederherzustellen. Drei Aspekte sind hier wichtig: Erstens bezogen sich Konflikte auf allgemeine Probleme innerhalb einer oder zwischen zwei Gemeinden, nicht aber auf Konflikte zwischen Privatpersonen. Zweitens bezogen sie sich auf schon bestehende Wasserordnungen und stellten nicht neue Ordnungen her, wo bisher keine Regelungen bestanden hatten.20 Drittens wird in allen Fällen der Versuch deutlich, bestehende Ordnungen wiederherzustellen und nicht neue Regelungen oder Prinzipien gerechter Verteilung zu schaffen. Die Wasserversorgung von Afrika und Spanien setzte voraus, dass Wasser als gemeinsame Ressource verstanden wurde, auf die alle Grundbesitzer an einem Fluss- oder Kanalufer ein anteiliges Recht hatten. Das anteilige Anrecht eines Grundbesitzers auf Wassernutzung bemaß sich normalerweise an der Größe des Grundstücks. In der Regel wurden zu diesem Zweck die Größe der Rohre oder Ableitungskanäle und ein Zeitraum für die Wassernutzung festgelegt.21 Das System teilte das verfügbare Wasser in einer als gerecht empfundenen Weise unter den Mitgliedern einer Wassergemeinschaft auf. Allerdings ließ es wichtige Aspekte unberücksichtigt, wie etwa die Frage, wie viel Wasser pro Jahreszeit oder Jahr insgesamt von einem Grundbesitzer genutzt werden durfte. Neben den Inschriften aus Afrika und Spanien finden sich auch Hinweise auf Wasserversorgungsrechte in Italien. Hier fällt auf, dass, wie der Fall Ciceros in Tusculum nahelegt, der Eigentümer eine Gebühr an die Gemeindebehörde entrichten musste, um seine Wassernutzungsrechte zu erhalten.22 Vielleicht war dies das Resultat einer besonders hohen und kompetitiven Nachfrage im Hinterland Roms, die wir spätestens ab dem ersten Jahrhundert v. Chr. annehmen können. Jedenfalls finden sich keine vergleichbaren Hinweise in Nordafrika oder Spanien.23 In Italien scheint auch der Zugang zu Wasserquellen durch Vermö20 Die Inschriften beziehen sich auf leges rei suae dicta, d. h. Regeln, die für eine bestimmte Sache ausgearbeitet wurden und sich nicht auf öffentliches Recht mit allgemeiner Anwendbarkeit bezogen, s. Lloris, An irrigation decree, 164. 21 Dig. 8,1,5; 8,3,17. Bannon, Gardens and Neighbors, 82, behauptet, dass Wasser entweder über Zeitraum der Nutzung oder über Rohrmenge, nicht aber über beides reguliert war. In der Spätantike war der Anteil bisweilen nach der Art der Feldfrüchte und anderen Verwendungsformen bestimmt: Codex Justinianus 3,34,12. 22 Cic. fam. 16,18; de leg agr. 3,2,9; Front. Aq. 9. Inschriften: CIL VI: 1261, CIL XIV: 3676. 23 Finanzielle Verpflichtungen zu Reparaturarbeiten am Flussbett, auf die Lloris, Irrigation

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gensstand geregelt worden zu sein – oder konnte zumindest auf dieser Basis geregelt werden – und beruhte nicht allein auf der Größe des Grundstücks. Als Folge des wirtschaftlichen Einflusses der Stadt Rom hatten hier möglicherweise Marktprinzipien größeren Einfluss auf Verteilungsformen als andernorts. Aber auch hier sehen wir, dass sich Versorgungssysteme offenbar von unten entwickelten, d. h. auf Gewohnheitsrecht aufbauten und nicht etwa von staatlicher Seite verordnet wurden. Wenn wir uns von inschriftlichen Zeugnissen zu jenen der Rechtsquellen wenden, treten uns die Konflikte zwischen Privatpersonen entgegen. Hier scheint die Situation ganz anders gewesen zu sein. Dies liegt zunächst an der anderen Quellensituation. Anders als in späteren Epochen existieren keine römischen Gerichtsakten oder Dokumente, die Auskunft über die praktische Lösung von konkreten Rechtsstreitigkeiten geben.24 Antike Rechtsquellen sind Schriften, die das Recht interpretieren und kommentieren, aber nur indirekt auf die Rechtspraxis schließen lassen. Dies wirft die viel diskutierte Fragen nach der Bedeutung römischer Rechtsquellen für die Rekonstruktion von sozialer Praxis auf. Inwiefern bezogen sich juristische Meinungen auf eine tatsächliche soziale Wirklichkeit und in welche Zeit lässt sich diese soziale Wirklichkeit datieren? Die großen Rechtscorpora entstanden im 2. und 3. Jh. und wurden noch einmal unter Justinian im 6. Jh. als geltendes Recht verkündet. Sie griffen aber Rechtsfälle auf, die bis in die späte Republik zurückreichen. Beziehen sich also die Rechtsgrundsätze, die uns in den Digesten des 6. Jh. begegnen, auf die späte Republik, die Kaiserzeit oder sollte man sie als Recht der Spätantike im 6. Jh. ansehen? Zudem fragt sich, wie häufig und in wie weit die theoretischen Prinzipien, die von den Juristen dargestellt wurden, tatsächlich umgesetzt wurden. Wir wissen, dass römische Richter (die nicht professionelle Juristen, sondern Politiker waren) fast völlige Handlungsfreiheit hatten, Rechtsfälle selbst zu entscheiden und sich nur auf ganz wenige Grundprinzipien stützten. Inwieweit hielten sie sich an die Buchstaben des Gesetzes in ihrer täglichen Rechtspraxis? Auch wenn der Wirklichkeitsbezug von römischen Rechtsquellen etwas ungewiss bleibt, können sie aus zwei Gründen sinnvoll herangezogen werden. Erstens können wir uns eine Vorstellung davon machen, wie sich Konflikte im römischen Reich entwickelten. Dies wird an Beispielen deutlich, die die Juristen anführten, um Grenzen und Folgen bestimmter juristischer Prinzipien durchzuspielen. Zum Beispiel geht es in einem Fall um einen Mann, der seine Sklaven

decree, 170–3 eingeht und die ebenfalls nach Landgrößen gestaffelt waren, sind ein anderes Problem. 24 Über Recht als Quelle für antike Wirtschaftsgeschichte, Jean-Jacques Aubert, Boudewijn Sirks (Hrsg.), Speculum Iuris. Roman Law as a Reflection of Social and Economic Life in Antiquity. Ann Arbor 2002. David Johnston, Roman Law in Context, Cambridge 1999.

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geschickt hatte, um seinen Nachbarn an der Wasserableitung zu hindern.25 Dieser Fall bringt die hier nicht weiter zu verfolgende Problematik von Handlung und Verantwortlichkeit auf. In einem anderen Fall geht es um die Frage, welche Probleme entstehen, wenn schädliches Hochwasser von einem Grundstück in ein anderes dringt, ohne dass dies von einem der Beteiligten verursacht wurde.26 Zweitens können wir die Digesten als offizielle Zusammenfassungen von geltenden juristischen Meinungen verstehen, die die Denkmuster des römischen Staates widerspiegeln. Sie zeigen uns grundsätzlich, wie Probleme mit Wasser und der Wasserversorgung verstanden wurden. Der römische Staat rechnete mit privaten Konflikten um die Wasserversorgung und nahm wohl auch an, dass die Konflikte trotz unterschiedlicher Anlässe oft ähnlich gelagert waren. Die Verwaltung hatte gewisse Vorstellungen hinsichtlich der mutmaßlichen Ursachen der Konflikte, der Schuldfrage und ihrer gerechten und effektiven Lösung. Vielleicht waren die Denkmuster juristisch vorstrukturiert; aber darüber hinaus lassen sich auch Vorstellungen zum Einfluss von nicht menschlich verursachten Problemen der Wasserversorgung erkennen.

3.

Unvorhersehbarkeit von Niederschlag und Niederschlagsmenge

Im verbleibenden Teil dieses Beitrags möchte ich mich auf eines dieser allgemeinen Prinzipien beziehen. Es war, so könnte man behaupten, das wichtigste von allen, wenn es um die Lösung von Konflikten ging. Ein Grund dafür, dieses Prinzip in den Mittelpunkt zu stellen, ist auch, dass es eine Reihe von Fragen zu römischen Konzepten von Wasser und dessen Nutzungsbedingungen eröffnet. Auf den ersten Blick scheinen diese Konzepte der oben genannten Realität des mediterranen Klimas und der Wasserversorgung entgegen zu stehen. So lesen wir bei Ulpian in Ad Edictum (Dig. 43,13,1): Der Prätor sagt: »an einem öffentlichen Fluss und an dessen Ufer etwas zu unternehmen, oder in den Fluss und das Ufer etwas einzuführen, wodurch das Wasser einen andern Lauf annimmt, als es im vorigen Sommer gehabt hat, verbiete ich.« §1. Durch dieses Interdict hat der Prätor Maßnahmen unternommen, dass die Flüsse nicht durch unerlaubte Ableitungen ausgetrocknet werden, oder eine Veränderung des Flussbettes den Nachbarn Unrecht tue. §2. Dies betrifft öffentliche Flüsse, mögen diese schiffbar sein oder nicht. §3. Der Prätor sagt: wodurch das Wasser einen andern Lauf annimmt, als es im vorigen Sommer gehabt hat; es haftet also nicht jeder, der etwas eingeführt oder errichtet hat, sondern wer durch die Errichtung oder Einführung von etwas den 25 Dig. 8,5,18. 26 Dig. 8,3,25; 8,6,16; s. auch Hodge, Roman Aqueducts, 252.

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Lauf des Wassers verändert hat [entgegen dem], wie es im vorigen Sommer gewesen ist. Die Worte: einen andern Lauf nimmt, beziehen sich nicht auf die Masse des fließenden Wassers, sondern müssen auf dessen Richtung und die Strömung seines Laufes bezogen werden. Überhaupt kann man sagen, es hafte jemand durch dieses Interdict nur dann, wenn der Lauf des Wassers durch das, was errichtet worden ist, verändert wird, z. B. das Wasser gepresster oder eingeengter und dadurch zum Schaden der Anwohner reißender ist. Auch wenn die Anwohner durch die Handlung des Beklagten einen Schaden anderer Art empfinden, wird das Interdict zur Anwendung kommen.

In dieser Passage zeigt sich eine Vermischung zweier Probleme sowohl in Bezug auf den Verlauf als auch über die Menge des Wassers. Auch scheint das Edikt verschiedene Ziele zu verfolgen. Zum einen sollen die Aktivitäten einer Privatperson die Schifffahrt nicht behindern, was sich auf öffentliche und staatliche Interessen bezieht. Zum anderen dürfen die Interessen anderer Privatpersonen nicht geschädigt werden. Was aber am meisten interessiert ist das Prinzip, dass alles so geschehen sollte, wie im vorangegangenen Sommer. Das galt für das Recht, Wasser über das Grundstück eines anderen abzuleiten; das Recht, Vieh und andere Tiere aus einem gemeinsamen Fluss zu tränken, auch wenn dafür Wasser über das Grundstück eines anderen geleitet werden muss; und das Recht, Wasser für eine Reihe von Zwecken in der Stadt und auf dem Land abzuzapfen.27 In einem ökologischen Kontext, in dem das Klima jährlich wechselte und die Bedingungen der Wasserversorgung niemals konstant waren, scheinen solche Regelungen äußerst fragwürdig. Für die staatlichen Bedürfnisse waren derartige Schwankungen allerdings nicht wichtig: Alles, was die Schifffahrt behinderte, war verboten. Privatpersonen durften kein Wasser ableiten, sobald der Wasserstand eines Flusses zu niedrig war.28 Aber Ulpian spricht hier nicht nur von staatlichen Interessen. Im privaten Kontext war es kaum zu erwarten, dass unter normalen Umständen ein Einzelner Wasser zum Schaden anderer ableitete. Vielmehr ergab sich dies nur in Dürreperioden oder Zeiten begrenzter Wasserversorgung. Der staatliche Grundsatz war aber lediglich, dass jeder eine ihm zuerkannte Menge Wasser ableiten durfte, solange kein anderer geschädigt wurde.29 Wie sinnvoll war ein Prinzip, das Variabilität ignorierte, nur um klare Regeln zu schaffen? Wie sinnvoll ist es, den letzten Sommer als Regel dieses Jahr zu nehmen, weil der Vergleich des Sommerwassers größere Klarheit verschafft als der mit dem Winter desselben Jahres (Dig. 43, 13, 1.8.)? In Hinblick auf einen Flussverlauf mag dies ein sinnvolles Prinzip sein. Ulpian sagt, der natürliche Lauf der Flüsse lasse sich im Sommer mit größerer Bestimmtheit annehmen als im Winter, sodass der Verlauf im letzten Sommer einen rechtsgültigen Maßstab 27 Dig. 43,20. 28 Dig. 43,12. 29 Dig. 8,3,17.

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bildet.30 Dies gilt aber keineswegs für die Wassermenge, bei der aus dem Fall eines einzigen Jahres keine sichere Regel abgeleitet werden kann. Man kann eine Reihe von möglichen Erklärungen für dieses scheinbar irrationale Denken finden. Sie sind in der Forschung häufig diskutiert worden und sollen im Folgenden noch einmal kurz vorgestellt werden. Keine von ihnen, so sei vorweggenommen, ist völlig überzeugend. 1. Die erste Erklärung geht von der Frage aus, inwieweit sich die Römer klimatischer Veränderungen von Jahr zu Jahr wirklich bewusst waren. Erkannten sie, dass ihr Klima rau, heftig und kapriziös war, wie Horden und Purcell es ausdrücken, oder nahmen sie Veränderungen nur als Jahrhundertkatastrophen wahr? Das Klimaverständnis der Juristen scheint, nach ihren Rechtssätzen zu urteilen, recht minimal gewesen zu sein. Sie waren sich eines hohen Überflutungsrisikos bewusst und berücksichtigten Veränderungen innerhalb eines Jahres ebenso wie die Tatsache, dass Quellen ausdorren und später wieder fließen können.31 Klar waren auch Veränderungen der jahreszeitlich bedingten Nachfrage nach Wasser, wie die Begriffe ›Sommerwasser‹ und ›tägliches Wasser‹ deutlich machen. Ulpian zog die logische Schlussfolgerung, die sich aus diesem Unterschied, ebenso wie aus der Tatsache, dass eine Quelle nur im Sommer und nicht im Winter Wasser hervorbrachte, ergab. So entwickelte er eine klare und detailliertere Begriffsbestimmung: Das eine unterscheidet sich vom andern durch den Gebrauch, und nicht durch das Recht… Sommerwasser aber ist dasjenige, dessen Gebrauch nur im Sommer von Nutzen ist, sowie man diejenigen Kleider Sommerkleider nennt, die Triften Sommertriften, und diejenigen Lager Sommerlager, deren man sich zwar zuweilen auch im Winter, meistens aber im Sommer bedient. Meiner Ansicht nach, muss man den Unterschied zwischen Sommer- und täglichem Wasser nach der Absicht des Gebrauchenden und der Beschaffenheit des Orts annehmen… Das tägliche Wasser ist also dasjenige, welches täglich geleitet werden kann, im Winter wie im Sommer, auch, wenn es eine Zeitlang nicht abgeleitet worden ist; Sommerwasser aber ist dasjenige, das zwar täglich abgeleitet werden kann, aber bloß im Sommer und nicht auch im Winter abgeleitet wird. Und dies nicht, weil es im Winter nicht zur Verfügung steht, sondern weil es nicht Sitte ist.32

Jahreszeitlich bedingter Gebrauch wurde also berücksichtigt, doch weniger wegen seiner unterschiedlichen Menge als wegen seiner unterschiedlichen Verwendungszwecke. Über das ganze Jahr hindurch wurde Wasser zum Baden, zum Speisen von Fontänen, zum Tränken von Tieren und für gewerbliche 30 Dig. 43,13,9. 31 Dig. 8,3,34–5: es geht hier um dem Problem, dass man ein Servitut anwenden muss, um es zu halten; wenn man dies nicht kann, wegen Dürre oder aus eigenem Verschulden, würde der Imperator normalerweise dem Gebot, das Servitut trotzdem zu halten, stattgeben. 32 Dig. 43,20,1,3–4.

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Zwecke genutzt. Im Sommer kam die künstliche Bewässerung hinzu. Es gab keine entsprechende Definition von ›Winterwasser‹ aus dem ganz einfachen Grund, weil es keine für diese Jahreszeit typische Verwendung gab. Obwohl sich die Juristen wechselnder Wassermengen über die Wahrnehmung wechselnder Verwendungszwecke bewusst waren, kam die Frage der Verknappung im Sommer nicht auf, weil Verwendung und Menge nicht in Beziehung gesetzt wurden. Damit wurde das Problem konkurrierender Nachfrage wegen Verknappung nicht gesehen. Außerhalb der Rechtsquellen wurde vor allem unzeitgemäßer oder verzögerter Regen thematisiert. Ein typisches Beispiel ist schon Hesiods Bemerkung, dass es »schwer für sterbliche Männer [ist], den Sinn des Zeus zu erkennen«.33 Allerdings bleibt Hesiod unspezifisch bezüglich jährlicher Unterschiede. Hesiods Bemerkung bezieht sich auf den Niederschlag im Rhythmus des landwirtschaftlichen Jahres, weniger auf die Frage der wechselnden Gesamtniederschlagsmenge von Jahr zu Jahr : Ruft der Kuckuck erstmals im Jahr »kuckuck« im Laub der Eiche und erfreut die Menschen auf der unendlichen Erde, dann lässt es Zeus vielleicht drei Tage lang regnen, nicht mehr, als dass es die Spur eines Maultiers füllt, doch auch nicht weniger. So holt der Spätpflüger den Frühpflüger wohl noch ein. Achte gut auf beides in deinem Sinn und übersieh weder den Beginn des hellen Frühlings noch rechtzeitigen Regen (Hes. erg. 485–490).

Spätere Autoren führen Wechsel und mangelnde Vorhersehbarkeit auf spezifische Gründe zurück, auch wenn diese anders als in der modernen Klimatologie hergeleitet werden. So stellt Plinius d. Ältere Regenfall als Resultat zirkulierender Feuchtigkeit in der Atmosphäre dar : Denn unsere Vorfahren verwendeten das Wort Himmel auch für das, was sie mit einem anderen Namen Luft nannten: alles, was als scheinbar leerer Raum diesen belebenden Hauch verströmt. Dieser Bereich [der Luft] befindet sich unterhalb des Mondes, und zwar, wie ich fast allgemein angenommen sehe, viel tiefer, derart, dass eine unendliche Menge der oberen Luft und eine unendliche Menge irdischer Ausdünstungen sich mischen und zu beiden Teilen her sich verbinden. Daraus entstehen Wolken, Donner und auch Blitze, daher Hagel, Reif, Regen, Stürme und Wirbelwinde, daher die meisten Plagen der Menschen und der Kampf der Naturkräfte untereinander. Die Gewalt der Gestirne drückt die irdischen, zum Himmel strebenden Teile herab und zieht zugleich die, welche nicht von selbst emporsteigen, an sich. Regen fällt herab, Nebel steigt auf, die Flüsse vertrocknen, Hagel stürzt nieder ; es dörren die Sonnenstrahlen und treiben die Erde in die Mitte der Welt von allen Seiten, dann prallen sie gebrochen zurück und führen, was sie können, mit sich fort. Die Hitze kommt von oben und steigt wieder dorthin zurück. Die Winde stürzen leer herbei und kehren mit Beute beladen wieder zurück. Das Atmen so vieler Lebewesen zieht die Luft von oben herab, allein diese strebt 33 Hes. erg. 483.

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wieder empor, und die Erde ergießt den Hauch in den gleichsam entleerten Himmel. Während sich die Natur in dieser Art hin und her bewegt, wird der Streit der Elemente, wie durch ein Triebwerk, durch die schnelle Umdrehung der Welt entfacht; und der Kampf darf nicht ruhen, sondern wälzt sich, ohne Unterbrechung fortgerissen, weiter und zeigt uns ringsum die Erde in dem gewaltigen Weltall die Ursachen der Dinge, oft durch Wolken einen zweiten Himmel darüber webend (Plin. NH II, 102–104.1).

Plinius verstand Wetter als ein System, das teils regelmäßig, wenn auch nicht völlig vorhersagbar, teils unregelmäßig ablief: »Dass es für die Stürme und den Regen zum Teil bestimmte, zum Teil zufällige oder noch unerforschte Ursachen gibt, ist offenkundig. Denn wer möchte bezweifeln, dass Sommer und Winter, und der Wechsel der Jahreszeiten überhaupt, durch den Lauf der Gestirne bedingt werden?«34 Eine Folge dieses Systems war die ständige Veränderung von Quell- und Flusswassermengen. So befand er : Im Gebiet von Casinum befindet sich ein Fluss namens Scatebra, der kalt ist und im Sommer mehr Wasser führt… Die Quelle des Po hält im Sommer um die Mittagszeit immer eine Art Ruhestunde und wird ganz trocken. Eine Quelle auf der Insel Tenedos überschwemmt immer nach der Sommersonnenwende von der dritten bis zur sechsten Nachtstunde (NH II, 228–229).

Einige Brunnen trockneten im September und nicht im Sommer aus, und in einigen kehrte das Wasser nicht vor Frühling zurück.35 Diese Bemerkungen beziehen sich natürlich auf die Variabilität innerhalb eines und nicht zwischen den Jahren, aber seine Bemerkungen zum besonderen Geschmack von Wasser während Dürrezeiten machen deutlich, dass sich Plinius auch mit derartigen Veränderungen auseinandersetzte.36 Schließlich noch lässt sich anführen, dass in der oben diskutierten spanischen Wasserordnung von einer »außergewöhnlichen Bewässerung« ([aquatio extraordin]aria, III, 15) die Rede ist, wenn man der Rekonstruktion der Stelle Glauben schenken darf. Dies könnte ein Hinweis auf Knappheitsperioden oder ungleichmäßige Wasserversorgung sein.37 Der sehr unspezifische Ausdruck gibt aber keinen Hinweis, ob ein solches Ereignis jedes Jahr (z. B. im Hochsommer), in den meisten Jahren oder lediglich gelegentlich anzunehmen war. So kann festgehalten werden, dass es ein klares Bewusstsein für die Veränderlichkeit von Niederschlag und Wasserversorgung gab, das, wenn auch nicht im jährlichen Vergleich, zu erfassen versucht wurde. Dass die Juristen diese Veränderungen als einen wichtigen Faktor für Konflikte zwischen Privatpersonen ignorierten, ist daher bemerkenswert. Nach ihrer Ansicht gab es eine re34 35 36 37

NH II, 105. NH XXXI, 42; 50–1. NH XXXI, 52. Zur Rekonstruktion, Lloris, Irrigation Decree, 183.

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gelmäßige natürliche Wasserversorgung, die sich aus Wasserreservoirs, die jedes Jahr zur gleichen Zeit die gleiche Wassermenge führten, speiste. 2. Die zweite Möglichkeit ist, dass Wasserversorgung in vielen Regionen des römischen Reiches kein wirkliches Problem darstellte und die Juristen jene Regionen, in denen Probleme auftraten, nicht in den Blick nahmen. So argumentiert Brent Shaw in seinen Aufsätzen zum nordafrikanischen Bewässerungssystem, dass Juristen sich zwar intensiv mit den Konsequenzen von Überflutung beschäftigten und Regeln diskutieren, wie überschwemmtes Land möglichst schnell und effizient entwässert werden konnte, um Schäden zu vermeiden, sich aber nicht mit der für Nordafrika wichtigeren Frage befassten, wie man Flutwasser effizient auf Feldern halten konnte.38 Auch betont Shaw die Verwunderung der römischen Feldvermesser, dass afrikanische Bauern Dämme um Äcker bauten, um Wasser zu halten. Das römische Recht, so Shaw, beschäftigte sich mit Überschwemmung und nicht mit künstlicher Bewässerung, weil die Wasserversorgung in Italien, wo Brunnen und Quellen normalerweise ganzjährig Wasser führten, für die Bewässerung ausreichte. Römisches (oder, besser italisches) Recht entwickelte sich in einem Kontext, in dem Knappheit und Konflikt selten waren. Gemeinden in anderen Gebieten, vor allem an den Südküsten des Mittelmeers behielten deswegen ihre traditionellen Wasserordnungen und Konfliktlösungsmodelle bei, weil römische Überlegungen für diese Regionen mangelhaft waren. Man könnte zudem behaupten – Shaw führt diesen Punkt nicht weiter aus – dass die umfangreichen Passagen, die sich dennoch mit wassertechnischen Rechtsfragen befassten, sich nicht auf Wasserrechte im eigentlichen Sinne bezogen, sondern Zugriffs- und Zutrittsrechte auf Grundstücke anderer behandelten. Es ging also gar nicht um Wasser und Wasserkonflikte in diesen Rechtsquellen, sondern um Land und Landrechte. Der Wasserbedarf und das Wasserangebot in verschieden Regionen Italiens ist kaum genau zu berechnen, weswegen Shaws These etwas schwer zu bewerten ist. Robert G. Thomas und Andrew Wilson haben versucht, den Bedarf für verschiedene agrarische Aktivitäten zu schätzen und die wichtigsten Wasserquellen in unmittelbarer Umgebung Roms zu bestimmen. Dabei berücksichtigen sie, dass das heutige Grundwasser deutlich niedriger ist als in römischer Zeit und es deswegen mehr Brunnen und Quellen gegeben haben muss.39 Dennoch argumentieren sie, dass die Zahl der Zisternen für den Bedarf des Gebiets nicht ausgereicht habe und es angesichts der Bevölkerungsdichte und agrarischen Nutzung des Hinterlands Roms hochentwickelter hydraulischer Infrastrukturen bedurft hätte. Trotz entwickelter Technik seien Knappheit und damit Vertei38 Shaw, Water and Society, 137–8; Möller, Servituten, 80. 39 Robert G. Thomas, Andrew Wilson, Water Supply for Roman Farms in Latium and South Etruria, in: Papers of the British School at Rome 62, 1994, 139–196.

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lungskonflikte aber nicht selten gewesen. So habe sich Cicero von einem Rechtskenner über die Wasserversorgung seiner Villa beraten lassen (Cic. Pro Balbo 45). Und auch Frontin beschäftigte sich umfassend mit Wasserkonzessionen, der Größe der Ableitungsrohre und illegaler Ableitung von Wasser aus Aquädukten, was ein weiteres Indiz für die hohe und konkurrierende Nachfrage nach Wasser in der Umgebung Roms sei (Frontin. aqu. 103,105).40 Spätestens in der frühen Kaiserzeit scheint die Wasserversorgung im Hinterland Roms verknappt und nicht immer ausreichend gewesen zu sein, und es ist genau der Zeitraum ab dem 2. Jh., in dem die meisten Juristen beginnen, ihre Grundsätze niederzuschreiben. So bleibt die These wenig überzeugend, die römischen Juristen hätten aus einer Perspektive geschrieben, wo es keine Versorgungsprobleme gab. Auch stammten nicht alle Juristen aus Italien, sodass kaum argumentiert werden kann, dass ihre Problemhorizonte nur von der italischen Situation geprägt waren. 3. Eine weitere Möglichkeit ist, dass Juristen von keinem bestimmten Umweltkontext, sondern von der inneren Logik der Rechtswissenschaft beeinflusst waren. Dieses Argument ist aus den antiken Quellen schwer abzuleiten. Eine umfassende Studie zu Wasserrechten im englischen Recht des Rechtshistorikers Joshua Getzler sei dennoch herangezogen.41 Getzler argumentiert, dass trotz steigender Konkurrenz um und Herrschaft über Wasser im Zuge einer dramatischen Zunahme von Wassermühlen am Vorabend der Industrialisierung das englische Gewohnheitsrecht zunächst keine effizienten Lösungen zur Wasserversorgung gefunden habe. Diese entwickelten sich erst in der Mitte des 19. Jh., und selbst dann speisten sich die Lösungen aus amerikanischen und römisch juristischen Vorstellungen, nicht aus genuin englischen Rechtsprinzipien. Die Erklärung für den verspäteten juristischen Zugriff auf englische Wassernutzungskonflikte findet sich zum Teil in der problematischen eigentumsrechtlichen Natur des Wassers selbst. Denn fließendes Wasser kann nicht besessen, sondern nur benutzt werden.42 Die komplizierten Verflechtungen verschiedener Interessen in Konflikten über Wasserrechte waren daher von Natur aus für richterliche Entscheidungsfindung nur schwer greifbar. Juristen versuchten, die Probleme mit traditionellen Begriffen und Rechtskategorien zu lösen, selbst wenn sie dafür nicht geeignet waren. So versuchten sie zunächst Verfahren unter dem Titel der widerrechtlichen Aneignung zu behandeln (unter der Annahme, dass der Anspruch des Klägers auf sein Land betroffen war). Oder aber sie wurden, was noch häufiger geschah, als Belästigung angesehen (was das 40 Thomas, Wilson, Water Supply, 191. 41 Joshua Getzler, A History of Water Rights at Common Law. Oxford 2004. 42 S. auch Joachim Radkau, Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt. München 2000, 107.

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Nutzungsrecht aber nicht den Eigentumstitel betraf). Umgekehrt betonten die Juristen Servituten – also Abmachungen, Wasser über das Grundstück eines anderen ableiten zu dürfen, oder ein fremdes Gut zu betreten, um einen eigenen Wasserlauf zu reinigen. Es ist vor dem Hintergrund dieser Studie verlockend, auch die römischen Rechtsdiskussionen aus der Unfähigkeit heraus zu erklären, fließendes Wasser als etwas anzusehen, das man tatsächlich besitzen kann. Aus diesem Verständnis heraus hätte sich dann die Möglichkeit ergeben, Konflikten um Wasser mit Verfahren zu begegnen, in denen eine Beschädigung von Eigentum nachgewiesen werden musste. Rein juristisch gab es aber weder im römischen noch im englischen Recht ein ›Wasserrecht‹, das Ansprüche auf eine bestimmte Wassermenge garantierte, gleichzeitig aber auch diese Ansprüche zwischen Nachbarn bei Knappheit gerecht verteilte. Es gab nur Rechte, etwas zu tun (z. B. eine Wasserleitung zu bauen oder zu reinigen, oder ein Schleusentor zu einer bestimmten Zeit zu öffnen), wenn die Wasserversorgung ausreichend war. Auch konnte die Nutzung befristet, niemals aber Eigentum an Wasser generell geregelt werden. Die juristischen Prinzipien waren also in einer Zeit und in einem Kontext entstanden, in dem Wasserkonkurrenzen oder Veränderungen von Jahr zu Jahr unerheblich waren. Die Bedingungen änderten sich – trockenere Regionen des Mittelmeerraums wurden erobert, und die Entwicklung der Stadt Rom und die Intensivierung der Landwirtschaft führten zu steigendem Wasserbedarf –, aber die Juristen blieben ihren traditionellen Vorstellungen treu. Das Wasser floss jedes Jahr gleich. Es war nicht das römische Rechtssystem, das unfähig war, Konflikte zu lösen, sondern die Juristen waren nicht in der Lage, Rechte auf Wasser als Basis für ein rechtliches Verfahren zu greifen. Auch wenn der Ankläger sich seines rechtmäßigen Anspruchs auf Wasser beraubt fühlte, musste er das Problem anders entwerfen, sodass der Richter es als rechtsgültigen Anspruch erkennen konnte. Er musste beispielsweise nachweisen, dass das Recht, Wasser abzuleiten, geschädigt worden war, oder dass ein Nachbar kein Recht auf das Wasser habe. Nur wenn kollektive oder staatliche Interessen (Schifffahrt und die städtische Versorgung) gefährdet waren, konnte die Wassernutzung selbst als ein rechtliches Problem angesehen werden. Wasser wurde als kollektiver Besitz verstanden, und aus diesem Grundsatz heraus bewertete der römische Staat die Rechte von Privatpersonen geringer als sein eigenes Nutzungsrecht. In den meisten Fällen übertrumpften rechtswissenschaftliche Prinzipien eine Wirklichkeit die ungleich komplizierter war. Wir können vermuten, dass jährliche Schwankungen von Niederschlag und Wassermenge die Juristen nicht sonderlich interessierten. Ihnen ging es allein um die Durchsetzung, Klarheit und Kontinuität der Prinzipien: same procedure as every year.

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4.

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Wasser, Recht und Geld

Das römische Recht begegnete Wasserkonflikten nur insofern, als ein Interdict erlassen wurde, das jede Handlung untersagte, bevor der Fall gelöst war.43 Das auf den ersten Blick klare Prinzip, dass Wasser nur dann abgeleitet werden dürfe, wenn dies ohne Schaden eines anderen geschehe, bot in der Praxis keine Lösung. Wenn es zu Konflikten kam, musste vermittelt und Kompromisse eingegangen werden, wie zum Beispiel eine Vereinbarung, die Wassernutzung zeitlich zu teilen. Es kann davon ausgegangen werden, dass Vermittlung und andere soziale Formen der Konfliktlösung einen wichtigen Teil der römischen Rechtsfindung ausmachten. Aber über derartige informelle Lösungen geben uns die Juristen keine Auskunft. Ihre klaren gesetzlichen Prinzipien berücksichtigten weder wechselndes Klima noch andere Knappheitsbedingungen. Sie sicherten die Bedürfnisse des Staates, und für Privatpersonen boten sie Mittel, Nachbarn zu einem Vermittlungsprozess zu nötigen. Eine Lösung für Ressourcenkonflikte boten sie nicht. An diese Feststellung lassen sich einige Fragen anschließen, die insbesondere die Neue Institutionenökonomik aufgebracht hat.44 Rechtliche Sicherungen gelten hier als ein Mittel, Transaktionskosten zu senken und damit wirtschaftliche Aktivität zu fördern oder überhaupt erst möglich zu machen. Vor allem gesicherte Eigentums- und Verfügungsrechte stimulieren Wirtschaftsaktivität, da Investitionen in Agrarwirtschaft oder Industrie von Privatpersonen nur getätigt werden, wenn Erträge und Kosten kalkulierbar sind. Auch Verkaufs- und Vertragsrecht senken Kosten, die andernfalls unübersehbar sind und Märkte unattraktiv machen. Unter dem Aspekt der Eigentumssicherung, Vertragssicherheit und Kostensenkung betrachtet war das römische Wasserrecht gänzlich ungeeignet für die Förderung wirtschaftlich kalkulierbaren Handelns. Wasser war eine wichtige Ressource für Landwirtschaft und Gewerbe sowie auch ein bisweilen knappes Luxusgut. Es war aber keine Handelsware, die Bauern und Gewerbetreibende käuflich erwerben konnten. Andererseits gab es, wie wir sahen, keine formalen Einrichtungen, die die Verteilung im Fall konkurrierender 43 Dig. 43,20,1,26. 44 Douglass C. North, Structure and Change in Economic History, New York 1981; North, Institutions, Institutional Change, and Economic Performance, Cambridge 1990; Elio Lo Cascio, The Role of the State in the Roman Economy – making use of the New Institutional Economics, in: P.F. Bang, M. Ikeguchi, H. Ziche (Hrsg.), Ancient Economies, Modern Methodologies. Archaeology, Comparative History, Models and Institutions, Bari 2006, S. 215–34; Bruce W. Frier, Dennis P. Kehoe, Law and Economic Institutions, in: Walter Scheidel, Ian Morris, Richard Saller (Hrsg.), The Cambridge Economic History of the GrecoRoman World, Cambridge 2007, S. 113–43. Skeptisch: J¦rome Maucourant, Une analyse ¦conomique de la resdistribution: est-elle possible? El¦mets de comparaison entre la ›new institutional economics‹ et l’approche substantive, in: Topoi 6 (1996), 131–58.

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Ansprüche und Bedürfnisse regelten und rechtliche Entscheidungen im Fall des Konflikts herbeiführten. Die Juristen entwickelten keine Lösungen, weil ihre Reflektionen nicht von wirtschaftlichen Überlegungen beeinflusst waren, sondern einer spezifischen Rechtslogik folgten. Sie schufen sogar noch ein zusätzliches Risiko für private Verbraucher, indem sie dem Staat zu jeder Zeit das Recht zuerkannten, mit Verweis auf städtische Interessen private Ansprüche zu unterminieren und damit Besitzrechte einschränkten. Wenn die Wasserversorgung in diesem Sinne unsicher war, wie konnte ein Bauer das Risiko eingehen, in wasserabhänginge Wirtschaftszweige wie Gemüsebau oder spezialisierte Mühlbetriebe zu investieren? Warum blieb das römische Recht so ungeeignet für wirtschaftliche Entwicklung? Die Antwort ist praktischer Natur. Erstens wurden wirtschaftliche Aktivitäten normalerweise nahe an den für sie wichtigen Ressourcen ausgeübt. Großflächigen Gemüsebau gab es im trockenen Südspanien in römischer Zeit nicht.45 Agrarwirtschaftliche Betriebe versuchten so weit wie möglich vom Markt unabhängig zu sein. Dies bedeutete zum Beispiel, dass Columella empfahl, eigene Brunnen anzulegen, ganzjährige Quellen zu besitzen oder eigene Wasserreservoirs zu bauen (Col. 1, 5, 1). Zweitens blieben traditionelle Institutionen für die Auflösung von Konflikte zwischen Nachbarn bestehen, weil sie in den meisten Fällen am besten geeignet waren, den sozialen Frieden aufrecht zu erhalten. Das formale Rechtssystem hatte wenig Bedeutung in der Welt der normalen Bauern. Dass der römische Staat in Konflikte über die Wasserversorgung in Spanien und Nordafrika eingriff, zeigt lediglich die Grenzen der informellen und traditionellen Mittel der Konfliktlösung. Man könnte sogar argumentieren, dass allein die Existenz des Staates ihn erforderlich machte. Fortan konnte man sich in Fällen, die früher informell lösbar waren, an eine höhere Macht wenden. In ähnlicher Weise könnte die steigende Bedeutung von käuflichen Lizenzen im Umkreis von Rom in Form von Mietzahlungen an die Gemeinde oder eines Ableitungsrohrs aus einem Aquädukt interpretiert werden. Sie mögen Zeichen gesteigerter Nachfrage im Umkreis Roms sein. Sie zeigen aber auch eine zunehmende Verflechtung von Geld und Macht. Man konnte Wasser nicht kaufen, aber man konnte einen Vorteil im Wettbewerb um Wasser kaufen. Der Staat maß seinen eigenen Bedürfnissen höchste Priorität bei, aber Reiche konnten davon ebenso profitieren. Die Marktwirtschaft war in Rom weit entwickelt und der Einfluss von Geld auf allen wirtschaftlichen und politischen Ebenen sehr hoch. 45 Zur ›location theory‹, s. Luuk de Ligt, Demand, Supply, Distribution: the Roman Peasantry between Town and Countryside, I: Rural monetization and peasant demand, in: Münstersche Beiträge zur antiken Handelsgeschichte 9.2, 1990, 24–56 und Luuk de Ligt, Demand, Supply, Distribution: the Roman Peasantry between Town and Countryside, II: Supply, distribution and a comparative perspective, in: Münstersche Beiträge zur antiken Handelsgeschichte 10.1, 1991, 33–77.

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Diese Entwicklung wurde nicht immer mit offenen Armen empfangen. Der Gedanke, dass eine gemeinsame Ressource privatisiert werden könnte, wurde schon damals mit Argwohn betrachtet. Plinius der Ältere beklagte, dass das Wasser der zwei schönsten Aquädukte in Rom aus »Ehrgeiz und Habgier« in die vorstädtischen Villen der Reichen abgeleitet werde.46 Auch wenn Wasser vielerorts meist ausreichend vorhanden war, blieb es doch Träger von Macht und Ursache von Konflikt, sowohl zwischen Ständen und Interessengruppen als auch zwischen Werten und Denkgewohnheiten. Das Prinzip, dass »alles so stattfinden soll wie im letzten Jahr«, bedeutete am Ende auch, dass staatliche Zwecke immer geschützt und Reiche immer reich bleiben sollten.

46 NH XXX,41.

Christian Wieland

Das Wasser der Techniker. Frühneuzeitliche Wasserdiskurse zwischen Architektur, Ingenieurskunst und Gartenbau

1.

Sprechen und Schreiben über Wasser im frühneuzeitlichen Europa

Im Europa der Frühen Neuzeit existierte eine Vielzahl von systematischen oder »professionellen« Sprechweisen über Wasser, die größtenteils unabhängig voneinander verliefen und primär ihren eigenen, genrespezifischen Regeln folgten: denen der Religion bzw. Theologie, des Rechts bzw. der Bürokratie sowie der Naturphilosophie und Naturwissenschaft bzw. Ingenieurskunst und Technik.1 Andererseits waren in der gesamten Vormoderne die unterschiedlichen Systeme nur annäherungsweise ausdifferenziert, sie überschnitten sich vielmehr regelmäßig, und die verschiedenen Fachleute verstanden sich nicht lediglich als Experten für ein eindeutig definiertes Feld, sondern beanspruchten eine gleichsam totale, nicht durch disziplinäre Grenzen eingeschränkte Deutungshoheit. Daher mussten Fachdiskurse – zumindest teilweise – mit anderen Fachdiskursen kompatibel sein, mussten Fachleute also die Fachsprachen anderer, konkurrierender Fachleute kennen und in der Lage sein, deren Argumentationsweisen in ihre eigenen Texte zu übertragen, wenn sie soziale Wirkung entfalten wollten.2 Texte zur Hydraulik waren folglich häufig zumindest auch Abhandlungen zum Wasserrecht, und sie verwiesen nicht selten auf religiöse Deutungshorizonte. Daneben waren die Wechselwirkungen zwischen Systemen

1 Zur Kulturgeschichte des Wassers vgl.: Hartmut Böhme (Hrsg.), Kulturgeschichte des Wassers. Frankfurt a. M. 1988; v. a.: ders., Umriß einer Kulturgeschichte des Wassers. Eine Einleitung, 7–47. 2 Zur Entwicklung einer Expertenkultur im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa vgl.: Eric H. Ash, Power, Knowledge, and Expertise in Elizabethan England. Baltimore 2004; ders. (Hrsg.), Expertise. Practical Knowledge and the Early Modern State. Chicago 2010. Die systemtheoretischen bzw. kultursoziologischen Grundannahmen, auf denen diese Überlegungen fußen, sind inspiriert von: Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1997; Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a. M. 2001.

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und ihrer Umwelt ausgeprägter als in der eigentlichen Moderne, und die die Umwelt bestimmenden Regeln waren sowohl eindeutiger als auch absoluter als in modernen Gesellschaften; dies galt für das Christentum in seinen verschiedenen konfessionellen Varianten, dessen Deutungshoheit sich nicht diskutieren ließ, in etwas schwächerem Maß für die wissenschaftlichen Stile von Aristotelismus-Scholastik und Humanismus und, ganz fraglos, für die Hierarchie der ständischen Gesellschaft – die gesellschaftliche Ordnung stellte auch für Studien zum Wasserbau einen Rahmen dar, den man nicht nur nicht ignorieren konnte, sondern auf den explizit und affirmativ Bezug genommen werden musste. Äußerungen über das Wasser betrafen – im Rahmen der für die Frühe Neuzeit größtenteils gültigen Naturkonzeptionen – nicht lediglich einen Aspekt der natürlichen Umwelt neben anderen und nicht einmal ein gleichwertiges der vier bzw., rechnet man den Äther hinzu, fünf Elemente; von zahlreichen Autoren als besonderes, als erstrangiges Element bezeichnet, galt das Wasser als Inbegriff all dessen, was die Natur ausmachte – sowohl als Symbol für die Natur schlechthin als auch als ihre Essenz.3 Wenn die Natur als Schöpfung verstanden wurde, dann führte ihr Studium zwangsläufig zu einer vertieften Kenntnis des Schöpfers; insofern vermittelte das Expertenwissen über Wasser autoritatives Wissen über Gott, und damit über alles, was wirklich von Bedeutung war : die Umwelt und die Stellung des Menschen in ihr und zu ihr, soziale Beziehungen und politische Grundsätze. Im frühneuzeitlichen Europa galten die Niederlande und die Republik Venedig als die Wassergemeinwesen schlechthin; ihre Existenz – in ganz grundsätzlicher, existentieller Hinsicht sowie mit Blick auf ihre politische Verfasstheit und ihre gesellschaftliche Struktur – hing von der Fähigkeit ihrer Eliten ab, die Natur, und bei dieser Natur handelte es sich primär um Wasser, fernzuhalten, ihr zerstörerisches Potential zu zähmen und zu transformieren.4 Hier entwickelten sich über die reine Technik weit hinausweisende modellhafte Wasserkulturen, die einerseits – in ihrer unmittelbaren Verbindung mit der Realität und den politischen Mythen der republikanischen Verfassung – Sonderfälle inmitten einer vom Prinzip der Erbmonarchie dominierten politischen Kultur darstellten und die andererseits in ihrer Gegensätzlichkeit die Gesamtheit dessen, was in Bezug auf Wasser und Wasserinfrastrukturen sag- und machbar war, repräsentierten. In Venedig entwickelte sich seit dem späten Mittelalter eine elabo3 Zur Lehre von den Elementen als Grundlage der vor- und frühmodernen Naturphilosophie und -wissenschaft vgl. Hartmut Böhme, Die vier Elemente – Feuer, Wasser, Erde, Luft, in: Christoph Wulf (Hrsg.), Vom Menschen. Handbuch der Historischen Anthropologie. München 1996, 17–46. 4 Salvatore Ciriacono, Building on Water : Venice, Holland and the Construction of the European Landscape in Early Modern Times. New York 2006; ders., Venice et la Hollande, pays de l’eau (XV–XVIIIe siÀcle), in: Revue historique 115, 1991, 295–320.

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rierte, theoretisch fundierte und mit hohem rhetorischen Aufwand kommunizierte »humanistische« Hydraulik, die sich nicht nur (und ggf. nicht einmal in erster Linie) in der Praxis des Wasserbaus niederschlug, sondern ebenso in einem elaborierten Schrifttum, an dessen Produktion sich auch Angehörige des Patriziats beteiligten. Tatsächlich wirkten an den Maßnahmen zum Erhalt der Lagune und zum Schutz Venedigs vor dem Adria-Hochwasser oder an den Regulierungsarbeiten der Flüsse, die in die Adria mündeten, sowohl Praktiker wie Fischer und Müller als auch akademisch geschulte Experten mit, doch die venezianischen Wasserrepräsentationen, wie sie sich in den Abhandlungen zum Wasserbau niederschlugen, favorisierten ein hydraulisches Ideal, das am technischen Vorbild der römischen Antike sowie an mit ihr verbundenen sozialen und kulturellen Modellen – und damit eben nicht an populären, durch Tradition und Praxis vermittelten Wissenskulturen – orientiert war.5 Im Vergleich mit den Zuständen im benachbarten Herzogtum Mailand und, im Laufe der Neuzeit in voranschreitendem Maße, mit den Vereinigten Niederlanden stellte sich jedoch der in Venedig praktizierte Wasserbau selbst zunehmend als rückständig dar, und es ließe sich in diesem Kontext fragen, ob es nicht gerade der hohe historische und allgemein »weltanschauliche« Anspruch an die Inszenierung des Wasserbaus war, der seine technische Weiterentwicklung und praktische Umsetzung auf lange Sicht behinderte.6 Der niederländische Gründungsmythos basierte wesentlich auf der Vorstellung, die Niederländer hätten in heroischen Kämpfen gegen eine feindliche Natur glorreiche Siege errungen und auf diese Weise nicht lediglich die Existenz ihres Landes und ihrer Bevölkerung, sondern in gleichem Maße ihre politische und religiöse Freiheit gesichert.7 Zu den wesentlichen Elementen dieses Mythos zählte die Idee, dass es sich bei dieser widrigen Natur um ein Gegebenes, ein Immer-schon-Dagewesenes handelte, gleichsam eine von Gott geschaffene Prüfung der Hartnäckigkeit, des Erfindungsreichtums und der Orthodoxie des niederländischen Volkes. Die permanente Gefährdung der Niederlande durch Überflutungen war jedoch ihrerseits das Ergebnis des ab dem 14. Jahrhundert intensiv betriebenen Torfabbaus in den Hochmooren, was zum Absinken der Geländeoberfläche und ihrer Annäherung an den Meeresspiegel geführt hatte; die Kommerzialisierung der Torfstecherei im Spätmittelalter hatte also die naturräumlichen Voraussetzungen erst produziert, auf die die Niederländer mit 5 Achim Landwehr, Die Erschaffung Venedigs. Raum, Bevölkerung, Mythos 1550–1750. Paderborn 2007; Christian Mathieu, Inselstadt Venedig. Umweltgeschichte eines Mythos in der Frühen Neuzeit. Köln u. a. 2007; Bernd Roeck, Wasser, Politik und Bürokratie. Venedig in der Frühen Neuzeit, in: Die alte Stadt 20, 1993, 207–220. 6 Ciricaono, Building. 7 Vgl. zum Folgenden: Petra van Dam, Gott schuf das Wasser, die Holländer Holland. Mythen und Fakten zum Wandel der Umwelt, 1300–1600, in: Frühneuzeit-Info 7, 2001, 7–13.

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der Entwicklung von hydraulischen Techniken und einer spezifischen Form der Vergesellschaftung reagierten. Die Entwicklung eines ausgefeilten Wasserbaus und die Formierung der Niederlande als politisches Gemeinwesen vollzogen sich gleichzeitig und in wechselseitiger Abhängigkeit von der Mitte des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts. Diese vergleichsweise prosaischen Zusammenhänge von Geographie, Technik und Politik stellten jedoch kein Hindernis für die Entwicklung eines niederländischen Selbstbildes dar, nach dem Holland und die Holländer, wie ein zweites auserwähltes Volk dazu ausersehen waren, gleichzeitig gegen die Meeresfluten und die Tyrannei der spanischen Habsburger zu kämpfen.8 Widerstand gegen das eine war zugleich Widerstand gegen das andere, und der Sieg über den politischen Feind war in gleichem Maße Ausweis der göttlichen Gnade wie der Erfolg in der Abwehr der Meeresfluten; der calvinistische Gott der Niederländer favorisierte republikanische Freiheit und den Kampf gegen den Katholizismus – vor allem in seiner spanischen Ausprägung. Bemerkenswerterweise waren jedoch die niederländische Wasserbautechnik selbst bzw. die zwischen dem 16. und 17. entstandenen Abhandlungen zum Wasserbau so gut wie vollkommen frei von jeglichen Implikationen, die über das Technische an sich hinauswiesen; wenn man den zahlreichen Traktaten zum Damm- und Deichbau, zur Anlage von Kanälen oder zur Wasserhebetechnik überhaupt eine rhetorische Qualität zuschreiben möchte, so war es das Pathos einer bis zum äußersten gesteigerten Nüchternheit: Die – naturwissenschaftlich-technische – Sache sollte allein für sich sprechen und durch sich selbst, durch ihre Umsetzbarkeit in der Praxis, durch ihren Erfolg überzeugen, und eben nicht durch religiöse, historische oder anderweitige weltanschauliche Überhöhungen.9 Es lassen sich also zwei diametral entgegengesetzte Wasserdiskurse für das frühneuzeitliche Europa identifizieren: ein südlich-humanistischer, sprachlich und kulturell höchst elaborierter, und ein nördlich-calvinistischer, demonstrativ sachlicher, die mit unterschiedlich gelagerten Techniken des Wasserbaus und überraschend vergleichbaren politischen und gesellschaftlichen Mythen korrelierten. Selbstverständlich sind nicht alle Sprechweisen über das Wasser eindeutig einer der beiden Kategorien zuzuordnen, und wie es Übergangs- und Mischformen gab, so existierten auch sprachlich-argumentative Verwendungsweisen des Wassers, die gänzlich anderen politischen Systemen angehörten, die also zur Begründung von monarchischen Strukturen herangezogen 8 Ausführlich zum politischen und konfessionellen Selbstverständnis der Niederlande im sogenannten »Goldenen Zeitalter«: Simon Schama, The Embarassment of Riches. An Interpretation of Dutch Culture in the Golden Age. London 22004, 15–50. 9 Ein Beispiel: Simon Stevinus, Wasser-Bau/ Das ist/ Eygentlicher unnd vollkommener Bericht/ von Befestigung der Stätte/ durch Spindel Schleusen […] aus dem Niederländischen übers. Frankfurt a. M. 1631.

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wurden. Mit den folgenden Überlegungen wird versucht, eine Typologie des Umgangs mit Wasser in Texten von technischen Experten zu entwerfen – von Architekten, Ingenieuren und Gärtnern –, die als Vorläufer einer modernen Hydraulik gelten können und deren in selbstdarstellerischer Absicht verfasste Abhandlungen Aufschlüsse nicht nur über Vorstellungen von Natur und Technik, sondern ebenso über die politische Kultur des vormodernen Europas zulassen.

2.

Das Wasser der Ingenieure

Die »edle Kunst der Mechanica« – zugleich ein Geschenk Gottes sowie eine vortreffliche und nützliche Erfindung, sowohl nützlich und notwendig als auch theoretisch fundiert – ist alles andere als »gemeines Handwerk«, und sie stellt die Voraussetzung dafür dar, die Natur in ihr Gegenteil zu verkehren – denn während sie an und für sich bestenfalls nutzlos und schlimmstenfalls schädlich ist, so lässt sie sich mit Hilfe der Kunst in ihr »Widerspiel«, ein höchst nützliches Ding, verwandeln. Diejenigen, die diese besondere Kunst beherrschen, bezeichnet man als »Ingenieurs«, wobei man sich eines französischen bzw. »welschen« Lehnworts bedient, abgeleitet vom lateinischen »ingenium«; Ingenieure besitzen einen »scharfen Verstand«. So Georg Andreas Böckler in der »Vorrede an den Kunstliebenden Leser« zu der 1661 erschienen Abhandlung »Theatrum Machinarum Novum. Das ist: Neu-vermehrter Schauplatz der Mechanischen Künsten«, ein Handbuch der Hydraulik und Mechanik.10 Von den Bauten Böcklers (ca. 1617–1687), der als Architekt in Straßburg, Frankfurt, Nürnberg und Ansbach tätig war, ist nichts erhalten, wie ohnehin die Kenntnisse über sein Leben äußerst spärlich sind – er ist, wenn man so will, ein Exempel für den »Tod des Autors«, insofern er selbst ganz hinter seinen zahlreichen Publikationen zur zivilen und militärischen Architektur zu verschwinden scheint.11 Dennoch offenbaren Böcklers Ausführungen zu den »mechanischen Künsten« zentrale Aspekte des Selbstverständnisses der »Ingenieure« im Europa des 17. Jahrhunderts: Zunächst, dass sich Baumeister und Techniker zu dieser Zeit selbstbewusst »Ingenieure« nannten, wobei diese Berufsbezeichnung keineswegs eindeutig war, und auch Böckler selbst bezeichnet sich auf dem Frontispiz des »Theatrum Machinarum Novum« eher additiv als analytisch als »Architect & 10 Georg Andreas Böckler, Theatrum Machinarum Novum. Das ist: Neu-vermehrter Schauplatz der Mechanischen Künsten/ Handelt von Allerhand Wasser- […] Mühlen […]. Beneben Nützlichen Wasserkünsten […] Damit das Wasser hoch zuheben/ zuleiten und fortzuführen […]. Nürnberg 1661, Vorrede [s.p.]. 11 Zur Vita Böcklers vgl.: Carl Gf. v. Clinckowstroem, »Böckler, Georg Andreas«, in: Neue Deutsche Biographie, 2, 1955, 371.

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Ingenieur«; sodann, dass es sich dabei um ein Wort – und im Kern auch eine Sache – handelte, für die italienische und französische Vorläufer existierten; überdies basierte der professionelle Stolz der Ingenieure auf einer spezifischen Kombination aus theoretischer, vor allem mathematischer, Schulung und praktischen Fertigkeiten, die Ingenieurskunst also als eine Form des Gelehrtentums, das in der Lage war, den Beweis seiner abstrakten Grundannahmen durch die Praxis zu erbringen, und sich darüber hinaus in unmittelbar nützlichen Hervorbringungen niederschlug, und als eine Form des Handwerks, das durch seine intellektuelle Fundierung gleichsam geadelt (und damit eben kein Handwerk mehr) war ; und schließlich positionierten sich Ingenieure, wie andere Leistungseliten auch, explizit in höfische Kontexte.12 Das Widmungsschreiben des »Theatrum Machinarum Novum« ist an Kurfürst Karl Ludwig von der Pfalz (1617–1680) adressiert, als dessen Baumeister Böckler sich bezeichnet. Jenseits dieser Bemerkung existieren keine Belege für ein derartiges Amt Böcklers, doch es ist bemerkenswert, dass Böckler die Baukunst nicht lediglich als unverzichtbares Instrument fürstlichen Handelns beschreibt – denn sie ist eigentlich erst die Bedingung der Möglichkeit »vätterlicher Vorsorge« –, sondern die fürstliche persona eng an die des Baumeisters heranrückt: Sollte der Fürst nicht selbst so etwas wie ein Baumeister im Großen sein – und ist der Architekt damit nicht eigentlich ein Fürst im Kleinen? Für die Ingenieure der Moderne – als eine Profession, die im späten 18. Jahrhundert entstand, deren korporatives Selbstverständnis als eine technische Elite sich im späten 19. Jahrhundert ausbildete – zählt neben ihrem fachlichen Wissen und ihrer praktischen Expertise, die in einem universitären Curriculum erworben werden, vor allem der Mythos des »Unpolitischen« zu den Kernelementen ihres sorgfältig gepflegten (und weithin akzeptierten) Selbstbildes: Unbeeinflusst von jeglichem Partikularinteresse sind sie lediglich neutrale Agenten des Machbaren, Notwendigen und Nützlichen, unpolitische Instrumente einer guten Politik und eben nicht aktive Gestalter des Politischen. Tatsächlich vermitteln die Projekte von Ingenieuren häufig sehr weitgehende und tiefgreifende politische und gesellschaftliche Programme, doch die Experten der Technik verzichten meist darauf, diese explizit zu benennen – ihr Tun erscheint so als das Resultat von (alternativlosen) Notwendigkeiten, nicht von bewussten Entscheidungen.13 Der fast schon pathetisch zu nennende Verzicht

12 Zur Entwicklung des Ingenieurswesen in der Frühen Neuzeit vgl.: H¦lÀne V¦rin, La gloire des ingenieurs. L’intelligence technique du XVIe au XVIIIe siÀcle. Paris 1993. Zum italienischen Fall: Mario Biagioli, The Social Status of Italian Mathematicians, 1450–1600, in: History of Science 28, 1989, 41–95; ders., Galilei, der Höfling. Entdeckungen und Etikette: Vom Aufstieg der neuen Wissenschaft. Frankfurt a. M. 1999. 13 Vgl. Jens-Ivo Engels, Philipp Hertzog, Politische Ingenieure? Infrastruktur-Entscheidungen

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auf jegliches Pathos prägt den Habitus der modernen Ingenieure, die mit ihrem penetranten »Kult der Nüchternheit« als ideale Verkörperungen der aufgeklärten Moderne gelten können. Insofern scheint der Ingenieur als Typus das Gegenteil des frühneuzeitlichen Höflings – wer wäre weniger geeignet, sich in einer Atmosphäre der demonstrativen Verschwendung und der nonchalanten Abwehr aller Nützlichkeitsansprüche zu behaupten? Tatsächlich war jedoch die höfische Kultur – sowohl im Sinne der ästhetischen Formen als auch der für den Fürstenhof charakteristischen Patronagestrukturen – ein wesentliches Vehikel der Ausbildung einer eigenständigen Ingenieurskunst und der Etablierung eines professionellen Ingenieurswesens. Indem die Ingenieure sich in höfischen Kontexten bewegten, waren sie gezwungen, ihre Tauglichkeit für die höfische Konversation unter Beweis zu stellen; sie mussten sich daher nicht lediglich als die Fachleute des Nützlichen in Szene setzen, als diejenigen, die »Wasser-, Wind-, Roß-, Gewicht- und Handmühlen« – so wiederum Böckler – konstruieren konnten und auf diese Weise dem Fürsten die Möglichkeit an die Hand gaben, das wirtschaftlich Notwendige für ihr Land zu tun, sondern sie mussten in mindestens ebenso großem Maße das fürstlicharistokratische Bedürfnis nach Repräsentation bedienen.

2.1

Italienische Architekten: Antike und Adel

Das Gründungsdokument der neuzeitlichen Architektur – und damit auch eines als solches zu bezeichnenden Ingenieurswesens – bilden die zwischen 1443 und 1452 entstandenen zehn Bücher »De re aedificatoria« Leon Battista Albertis (1404–1472), ein formal und sachlich eng an Vitruvs »Libri decem de architectura« angelehntes Werk, das in seiner Mischung aus Zitaten, Übernahmen und Veränderungen, ja Überschreitungen des antiken Vorbilds ein typisches Beispiel für den Renaissancehumanismus darstellt: Die Orientierung am römischen Modell – in sprachlicher und ästhetischer sowie politischer und sozialer Hinsicht – war ein zentrales Medium der Verortung sowohl der Sache als auch des Autors in den dominierenden intellektuellen und gesellschaftlichen Kontext und ermöglichte zugleich eine durch Einbettung in die Tradition sanktionierte Innovation. Alberti setzte die Standards für die Architekturtheorie und damit auch das praktische Bauwesen sowie das professionelle und soziale Selbstverständnis der Architekten für die gesamte Frühe Neuzeit (und in Teilen sogar bis weit ins 19. Jahrhundert), und er erklärte die vertiefte Kenntnis der Natur im Allgemeinen, des Wassers im Besonderen an prominenter Stelle zu den in den langen 1970er Jahren, in: Revue d’Allemagne et des Pays de langue allemande 43, 2011, 19–38.

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wesentlichen Voraussetzungen des nützlichen, dauerhaften und schönen Bauens.14 Bemerkenswert ist die unmittelbar zu Beginn dieser Ausführungen formulierte Parallelisierung von Architekten und Ingenieuren mit Ärzten, eine Metapher, die für die gesamte Neuzeit wirkmächtig bleiben sollte:15 Alberti erklärt es zu den vornehmsten Aufgaben des Architekten, Fehler – er nennt sie »vitii«, Laster, – sei es von vornherein zu vermeiden, sei es im Nachhinein zu korrigieren, und dafür sei die Kenntnis von deren Ursachen und Wesen unabdingbar : »Denn die Ärzte meinen, dass der größte Teil des Heilmittels in der Erkenntnis der Krankheit besteht.«16 Dieses spezifische, professionelle Wissen ist im Grunde nichts anderes als die Beobachtung der »leggi di natura«,17 und unter deren Bestandteilen rangiert »specialmente l’acqua«, denn – wie bereits Thales von Milet konstatierte – »das Wasser ist der Ursprung der Dinge.«18 Diese »Ursprünglichkeit« ist weniger in einem genealogischen Sinne zu verstehen – dahingehend, dass das Wasser eine Art von Urstoff darstellte, aus dem sich die anderen Stoffe gebildet hätten – , sondern vielmehr als Synonym für Unverzichtbarkeit, und es ist diese Grundannahme, auf die sich eine zentrale Metapher Albertis bezieht, die erneut auf die Gleichsetzung von Architekten mit Ärzten verweist: Wasser fließt durch die Erde wie das Blut in den Adern oder es tritt aus ihr heraus wie die Milch aus der Brust.19 Wiewohl das Wasser grundsätzlich als »unvermischt« gilt, d. h. nicht aus weiteren, kleineren Bestandteilen zusammengesetzt und zerlegbar, sondern im klassischen Sinne als »Element« – mit bestimmten unwandelbaren Eigenschaften: »semplice, freddo & humido«20 –, kann es verschiedene Wirkungen entfalten, sowohl nützen als auch schaden,21 verschiedene Qualitäten besitzen, von der höchsten Stufe des Regens bis zur niedrigsten der Sümpfe,22 und es kann, vor allem in den Städten (und dies ist der 14 Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf das zehnte und letzte Buch von Albertis Traktat, hier zitiert nach einer italienischen Übersetzung des 16. Jahrhunderts: Leon Battista Alberti, I dieci libri dell’architettura. Venedig 1546: »Il decimo libro […] ove scrivesi di ristaurare le opere gi— fatte.«, 216–248. 15 Die von Alberti vorgenommene Verbindung von Ingenieuren und Medizinern sowie die Parallelisierung von politischem Handeln mit ärztlichem Handeln, die sich vorrangig am Umgang der Obrigkeiten mit dem Wasser zeigte, wurde v. a. von französischen Baumeistern des 17. und 18. Jahrhunderts, ebenso wie von Politikern im Umfeld Ludwigs XIV. und Ludwigs XV., aufgegriffen; vgl. Gr¦gory Quenet, Versailles, une histoire naturelle, Paris 2015, 83–89. 16 Alberti, Libri, 216r : »Per che giudicano i fisici la maggior parte del rimedo consistere ne la cognitione de l’infermit—.« 17 Alberti, Libri, 216v. 18 Alberti, Libri, 219r. 19 Alberti, Libri, 221r. 20 Alberti, Libri, 225r. 21 Alberti, Libri, 219v : »La onde giovano & nuocono molto — la vita de gli huomini.« 22 Alberti, Libri, 225r.

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Gestaltungsraum, der Alberti als Architekten vorrangig interessiert), verschiedenen Arten des Gebrauchs zugeführt werden, angefangen vom Wasser als Getränk bis hin zum Wasser als Feuerlöscher.23 Um die Städte adäquat mit Wasser zu versorgen, also um die jeweils benötigte Art des Wassers in ausreichenden Mengen bereitzustellen, muss der Architekt ein Experte des Wassers sein, nicht nur hinsichtlich der Unterscheidung der verschiedenen Wasserqualitäten oder in der Kunst, Wasser ausfindig zu machen,24 sondern ebenso in der Messung seiner Quantität und Fließgeschwindigkeit sowie in der Technik, das Wasser über weite Entfernungen zu transportieren.25 Vor allem in dieser Hinsicht ist die römische Tradition ein entscheidender Referenzpunkt: Dabei stellt für Alberti die Wasserversorgung der Stadt Rom und im Imperium der Römer nicht lediglich das technische und ästhetische Modell dar, das die Architekten seiner Zeit imitieren sollen, sondern er verknüpft einen elaborierten Wasserbau unmittelbar mit politischer Größe: »Ma per mio aviso vinse Roma agevolmente ogni provinicia, per grandezza de le opere, arteficio di condurre, e copia de le condotte acque.«26 Es handelt sich bei dieser Verbindung um einen Topos, der für das Selbstbild und die Strategien der frühneuzeitlichen Architekten und Ingenieure prägend war und der keineswegs auf den Wasserbau beschränkt blieb. Auch das »zweite Gründungsdokument« der neuzeitlichen Architektur nach Alberti, Andrea Palladios (1508–1580) »Quattro libri dell’architettura« aus dem Jahr 1570,27 ist durch ausführliche und ausschließlich affirmative Bezüge auf die antike römische Architektur und Architekturtheorie gekennzeichnet, und auch Palladio stellt eine elaborierte und ästhetischen Prinzipien genügende Baukunst in einen organischen Zusammenhang mit politischer Macht, und dies in doppelter Weise: Zum einen gelten Bauwerke als sichtbarer Ausdruck dieser Macht, zum anderen wird ambitionierte Bautätigkeit als Medium interpretiert, eben diese gleichermaßen her- und darzustellen.28 Allerdings fehlen bei Palladio die ausführlichen Hinweise zur Hydraulik, die einen bedeutenden Teil von Albertis

23 24 25 26

Alberti, Libri, 224v. Alberti, Libri, 221v–223v. Alberti, Libri, 223v–224v, 228v–232v. Alberti, Libri, 219v. Verweise auf die Überlegenheit des römischen Wasserbaus finden sich auch andernorts, z. B. 236v. 27 Die aktuellste deutsche Übersetzung: Andrea Palladio, Die vier Bücher zur Architektur, übers. u. hrsg. v. Andreas Bayer/Ulrich Schütte. Zürich/München 1983. 28 Diese Zusammenhänge sind besonders konzis formuliert in dem an Emanuele Filiberto von Savoyen adressierten Widmungsschreiben zum dritten Buch, in dem bezeichnenderweise Fragen des »öffentlichen« Bauens bzw. der städtischen Infrastruktur behandelt werden: Straßen, Plätze und »Tempel« bzw. Kirchen. Palladio, Bücher, 205f.

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Werk darstellen, wenn man nicht Äußerungen zum Brückenbau unter diese Kategorie zählen möchte.29 Carlo Fontana (1634/8–1714) war einer der produktivsten Architekten im Rom des 17. Jahrhunderts, dem es dank seines unbestreitbaren künstlerischen und technischen Talents gelungen war, fast ununterbrochen in der Gunst der einander in rascher Folge abwechselnden Päpste und ihrer Dynastien zu stehen, die gewöhnlich ihren unmittelbaren Vorgängern – und das schloss deren Klienten im Regelfall mit ein – in aufrichtiger Abneigung zugetan waren. Fontana tat sich nicht lediglich als Baumeister und Bildhauer hervor, sondern er verfasste auch zahlreiche architekturtheoretische Schriften, unter diesen zwei im Jahr 1696 erschienene Abhandlungen zu Fragen des Wasserbaus, die als späte Manifestationen der den italienischen Diskurs prägenden »humanistischen« – in diesem Fall: genuin römischen – Hydraulik gelten können: den »trattato dell’acque correnti« (Traktat über fließende Gewässer) und den »discorso sopra le cause delle inondationi del Tevere« (Diskurs über die Gründe der TiberÜberschwemmungen).30 Es handelt sich um Texte, die einerseits die Funktion hatten, das spezifisch naturwissenschaftliche Wissen des Autors unter Beweis zu stellen, ihn also als Teilhaber an der zeitgenössischen akademischen Debatte in Mathematik und Physik auszuweisen,31 und die andererseits ein weiter gespanntes kulturelles und soziales Ziel verfolgten, nämlich die Aristokratisierung des Hydraulikers und seines Tuns. In der Abhandlung über die Messung der Fließgeschwindigkeit des Wassers skizziert Fontana das professionelle Proprium des Architekten und Hydraulikers als die Vermittlung zwischen Wissen und Erfahrung, Theorie und Praxis; allein der mit den praktischen Problemen des Wasserbaus vertraute Ingenieur ist in der Lage, die Fehler zu vermeiden, die den reinen »Periti« ebenso wie den reinen »Mecanici« zwangsläufig unterlaufen.32 Den Anfang des Werks bilden an Aristoteles anschließende Ausführungen zu den vier Elementen, wobei Fontana dem Wasser – nicht mehr als angemessen für einen Hydrauliker – den ersten Rang zuweist, eine Bewertung, die er unter anderem mit der Parallelisierung von Blut – für den menschlichen Körper – und Wasser – für das Ganze der Erde –, die beide durch »Venen« fließen, unterstreicht.33 Der größte Teil der Abhandlung 29 Palladio, Bücher, 217–245. 30 Carlo Fontana, Utilissimo trattato dell’acque correnti diviso in tre libri, nel quale si notificano le Misure, ed Esperienze die Esse. I Giuochi, e Scherzi, li quali per mezzo dell’Aria, e del Fuoco, vengono operati dall’Acqua […]. Rom 1696; ders., Discorso […] sopra le cause Delle inondationi del Tevere antiche, e moderne — danno della Citt— di Roma […]. Rom 1696. 31 Zu diesem Zusammenhang vgl.: Cesare F. Maffioli, Out of Galileo. The Science of Waters 1628–1718. Rotterdam 1994; ders., La via delle acque (1500–1700): appropriazione delle arti e trasformazioni delle matematiche. Florenz 2010. 32 Fontana, Trattato, Vorrede [s.p.]. 33 Fontana, Trattato, 1, 4.

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besteht aus der Darstellung von »Esperienze, Giuochi, e Scherzi«, die sich auf der Grundlage von physikalischem Wissen und technischer Expertise aus dem Element des Wassers herstellen lassen, mithin dem Beweis der Nutzbarkeit des hydraulischen Wissens im Sinne der Befriedigung des menschlichen Unterhaltungsbedürfnisses, während Fontana im dritten und letzten Buch des »Trattato« von seinen Bemühungen, Wasser vom Lago di Bracciano nach Rom zu befördern, berichtet.34 Damit weiß er sich primär dem Prinzip des »utile« – und nur sekundär dem des »diletto« – verpflichtet, und dieser Schwerpunktsetzung im Inhalt entspricht auch die sprachliche Form, denn Fontana macht deutlich, dass er die präzise Benennung von »materie scientifiche« mit »termini, e vocaboli proprii« nicht zugunsten eines gefälligeren Schreibstils zu opfern gewillt war.35 Auch der »Discorso« über die Gründe der Überschwemmungen des Tibers in Antike und Gegenwart ist in der Diktion Fontanas auf die »utilit— comuni« ausgerichtet,36 doch die Strategie, mit der er die Arbeit des Hydraulikers zu einem edlen oder aristokratischen Tun erklärt, ist nicht so sehr die Wissenschaftlichkeit als vielmehr die Antikisierung. Fontana konstruiert in Bezug auf den Zustand des Tibers eine Verfallsgeschichte, die ganz dem humanistischen Weltbild entspricht: Während der Fluss in der römischen Kaiserzeit sauber war und schnell und ungehindert zwischen befestigten Ufern seinen Lauf nahm, ist er seit der Invasion der Goten verschmutzt, kann wegen der vielen Hindernisse im Flussbett nur langsam fließen und überflutet daher die Stadt der Päpste regelmäßig und mit zerstörerischen Folgen. Die Gründe für diesen Niedergang liegen nicht lediglich in einem durch die Barbaren zu verantwortenden Wissensverlust, sondern ebenso daran, dass die Pflicht zur Aufsicht über den Tiber und seine Ufer sowie die Überwachung der regelmäßigen Reinigung des Flussbetts, die in der Antike an hochrangige Senatoren, die »Curatores Riparum & Alvei Tyberis« delegiert worden war, seit dem Beginn des Mittelalters von niemandem – oder doch zumindest nicht mehr von einer gesellschaftlich relevanten Gruppe – wahrgenommen wurde.37 Der kulturelle Verfall ist zwar dramatisch, doch keineswegs unaufhaltsam; es ist vielmehr an der Jetztzeit, durch die Besinnung auf die spezifisch römischen Tugenden auch die vergangene Größe Roms wieder zum Leben zu erwecken. So stellt Fontana zum einen die Päpste in die Tradition der römischen Kaiser – namentlich der unbezweifelbar »guten« Imperatoren Augustus und Trajan –, wenn sie sich ihrerseits um die Wiederherstellung eines sauberen, schnellen und ungefährlichen Tibers bemühen,38 und andererseits die Ingenieure in die Tradition der senatorischen 34 35 36 37 38

Fontana, Trattato, 177–194. Fontana, Trattato, 195. Fontana, Discorso, A2v. Fontana, Discorso, 7f. Fontana, Discorso, 7, 11, 13f.

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»patres«, wenn sie den Pontifices ihr fachliches Wissen zur Verfügung stellen.39 Die Gleichsetzung der technischen Elite der Gegenwart mit der sozialen und politischen Elite der klassischen Antike ist eine auf die kulturellen Bedingungen des barocken Roms ausgerichtete Taktik, mit deren Hilfe Ingenieure nicht nur intellektuell, sondern auch gesellschaftlich reüssieren sollten – und das mit Hilfe des Wassers. Es handelte sich bei den Ausführungen Fontanas jedoch nicht nur um eine rhetorische Strategie der Selbstnobilitierung, sondern die Entwicklung einer eigenständigen Ingenieurskunst im Rom der Renaissance und des beginnenden Barock hing tatsächlich aufs engste mit der Ausdifferenzierung der Altertumswissenschaft und Archäologie zusammen: das literarische und materielle Studium der Grundlagen des antiken Wasserbaus waren ein wesentlicher Katalysator für die Neugestaltung der römischen Wasserinfrastruktur ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts.40 Mit den sorgfältig stilisierten personae – Rollen –, Bauwerken und bautheoretischen Schriften Albertis und Palladios stand ein Modell für Architekten, Ingenieure und Gartenbaumeister bereit, das einen Umgang mit dem Wasser und eine Art und Weise seiner Wahrnehmung und des Sprechens und Schreibens darüber implizierte, die ich den »römischen« oder »humanistischen« Diskurs nennen möchte: eine Hydraulik, die zumindest rhetorisch, häufig aber auch sachlich an antiken Vorbildern orientiert war, die Teil einer elaborierten, sowohl in der Praxis bewährten als auch theoretisch fundierten Bau- und Ingenieurskunst war und die nur wenig mit den traditionellen, kleinräumigen Formen des Wasserbaus von Dorfgemeinschaften, Städten oder Klöstern gemein hatte. Es handelte sich vielmehr um eine überaus elitäre »Wasserkunst«, mit deren Hilfe vielleicht nicht die »Naturgesetze« (avant la lettre), wohl aber die alltäglichen Erfahrungen mit der Natur überwunden wurden, die auf einen großen »Eindruck« abzielte und die unmittelbar mit »Macht« – nicht nur technischer, sondern ebenso sozialer und politischer – in Verbindung gebracht wurde. Dieser Diskurs prägte zwar nicht unbedingt die Praxis der Hydraulik, wohl aber das, was innerhalb einer gebildeten Öffentlichkeit in Bezug auf das Wasser sag- und damit schließlich auch machbar war, in weiten Teilen Europas: nicht nur in Italien, sondern auch in Spanien, Frankreich und dem südlichen Reich.

39 Fontana, Discorso, 11, 13. 40 Vgl. dazu: Pamela O. Long, Hydraulic Engineering and the Study of Antiquity : Rome 1557–1570, in: Renaissance Quarterly 61, 2008, 1098–1138; Katherine Wentworth Rinne, The Waters of Rome: Aqueducts, Fountains and the Birth of the Baroque City. New Haven, London 2011.

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Deutsche Baumeister: Antike, die Götter, Gott – und Verschwendung

Als Begründer einer deutschsprachigen Architekturtheorie und insbesondere der Übertragung italienischer bzw. allgemeiner »romanischer« Modelle in den deutschen Kulturraum gilt Joseph Furttenbach (1591–1667), Ulmer Stadtbaumeister und Verfasser zahlreicher, zwischen 1628 und 1641 entstandener Abhandlungen zum Bauwesen: der »Architectura civilis«, »privata«, »navalis«, »martialis«, »universalis« und »recreationis«. An der Vorbildhaftigkeit der antiken römischen – und damit auch der gegenwärtigen italienischen – Bautätigkeit kann es für Furttenbach keinen Zweifel geben – die Italiener sind auch und gerade in dieser Hinsicht »der edlen Römer Nachkommen«41 –, und es ist einerseits bezeichnend, dass die eigentliche große Zeit der römischen Architektur für Furttenbach mit der Herrschaft des Augustus beginnt, es sich beim Bauwesen, wenn es denn tatsächlich erwähnens- und bemerkenswert sein soll, im Grunde also um eine »monarchische«, um nicht zu sagen: »absolutistische« Tätigkeit handelt, andererseits fällt auf, dass es nicht lediglich die auf ästhetisches Raffinement oder demonstrativen Konsum ausgerichteten Wasserbauten sind, die für diese Bewertung verantwortlich sind, sondern in noch höherem Maße die unsichtbaren und auf den allgemeinen Nutzen bezogenen Infrastrukturen der Wasserver- und –entsorgung: »unter den thewresten/köstlichsten structuren/sonderlich die Cloacen/Gäng unnd Gräben unter dem Boden«.42 Die Hydraulik nimmt also für Furttenbach eine zentrale Stellung innerhalb der Baukunst ein, sowohl für das »öffentliche« als auch das »private« Bauen, und im Rahmen des letzteren in sorgfältigen Abstufungen, die dem sozialen Rang oder, mehr noch, dem Stand des Auftraggebers entsprechen. Vor allem und, wenn man so will, »naturgemäß« spielt der Umgang mit Wasser eine gewichtige Rolle im Zusammenhang mit der Gartengestaltung, die primär für die Planung und Anlage eines fürstlichen oder hochadligen Palasts in Betracht kommt; der »Lust: und Thiergarten«43 ist in diesem Fall keineswegs ein Element, das man – je nach Bedarf, finanziellen Möglichkeiten oder Geschmack – hinzufügen oder weglassen könnte, sondern ein unverzichtbarer Bestandteil der fürstlichen Repräsentation, innerhalb dessen, mehr noch als im Inneren des Palastes, wesentliche Aspekte des fürstlichen Selbstverständnisses demonstriert werden können. Das Wasser taucht im Gartenbau an verschiedenen Orten, in vielfältigen Erscheinungsformen und unterschiedlichen Funktionen auf: als Graben zur Verstärkung der den Garten umgebenden Fortifikation, als Teich und Fisch41 Joseph Furttenbach, Architectura Civilis, Das ist: Eigentliche Beschreibung, wie man nach bester Form und gerechter Regel […] erbawen sol. Ulm 1628, Vorrede [s. p.]. 42 Furttenbach, Architectura Civilis, Vorrede [s.p.]. 43 Furttenbach, Architectura Civilis, 31–44.

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weiher, in dessen Mitte sich eine Insel befindet, in der Form von Quellen und Brunnen, in Wasserspielen44 und vor allem innerhalb der Grotte, in und mit der Furttenbach all das zusammenfasst, was sich in seiner Anschauung mit der Architektur im allgemeinen, der Hydraulik im Besonderen verbindet, in religiöser, historisch-mythologischer und politischer Hinsicht.45 Die nach »italienischer Manier« gebaute Grotte in der Mitte der Insel, die sich wiederum in der Mitte des Teiches befindet, stellt, als die Zierde des gesamten Gartens, ihr Hauptstück und Zentrum dar ; auch innerhalb des Grottengebäudes befinden sich ein Teich und eine Insel – eine Teich im Teich, eine Insel in der Insel, was man als inszeniertes Spiel mit dem Umstand begreifen kann, dass hier die Illusion von geordneter, zielgerichteter Natürlichkeit mit Hilfe von größter Kunstfertigkeit hergestellt worden ist. Das Maß, in dem die Natur, mit Hilfe und am Beispiel des Elements Wasser, durch die Geschicklichkeit des Architekten und die Macht seines Auftraggebers, gezähmt und transformiert wird, zeigt sich in doppelter Weise, einmal unmittelbar sinnlich, dann ästhetisch und kulturell vermittelt: Von der Decke der Grotte strömt ein künstlicher Regen herab »und so starck regnen lassen/daß wer in der terra ferma steht/anders nichts dann allein Wasser sicht/doch die Personen allda nit naß gemacht werden.«46 Das nasse Element wird so in seiner ganzen Wucht vorgeführt, wie es die Sinne überwältigt, jedoch zugleich distanziert und seines gefährlichen, ja zerstörerischen Potentials beraubt – es erscheint verwandelt in ein Schauspiel, das den Beobachter unterhält, ohne ihm unmittelbar nahe zu treten. Die Insel ist mit zahlreichen Standbildern geschmückt, einem Geigespielenden Orpheus, umgeben von wilden und gezähmten Tieren, einem Satyr, eine Hydra und einer Darstellung Neptuns sowie Allegorien der vier Kontinente. Orpheus, der Sohn des Apoll, wird von Furttenbach als die Personifikation menschlicher Kulturleistung verstanden: Die Zähmung der Tiere durch Musik entspricht in seiner Perspektive der »Bekehrung« des Menschen durch die Sittenlehre – wie der Mensch ursprünglich nicht anders war als das Wild in den Wäldern, so wurde er durch die Einführung der »Policey« erst eigentlich zum Menschen.47 Diese Bilder und ihre Deutungen haben weitreichende kulturelle, soziale und politische Implikationen: Das Wasser steht für die Natur insgesamt, 44 45 46 47

Furttenbach, Architectura Civilis, 31–35. Furttenbach, Architectura Civilis, 35–44. Furttenbach, Architectura Civilis, 40. Die Beschreibung und Deutung der Figurengruppe mit Orpheus im Zentrum: Furttenbach, Architectura Civilis, 43–45. Zusammengefasst wird die Bedeutung Orpheus’ in einem ausführlichen Lehrgedicht: »Er [Orpheus, C. W.] lebte in der alten Zeit/ Da noch die Menschen weit und breit/ Umbwandelten ohn Policey/ Wie das Gewild in Wäldern frey./ Er aber lehrte Sitten gut/ Bekehrt zu recht den wilden Muth:/ Gebraucht darzu der Music klang/ Und lehrt die Gsatz in seinem Gsang.«, ebd., 44.

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und zu ihr gehören nicht nur die unbelebten Elemente, sondern auch Pflanzen, Tiere und schließlich der Mensch – die gesamte Schöpfung; die »Wasserkunst« – die Hydraulik, das Ingenieurswesen und die Architektur – ist wesentlicher Bestandteil, ja Inbegriff von Kultur, und derjenige, der sie anzuwenden weiß, der Ingenieur, ist vielleicht nicht mit Gott, wohl aber mit den Göttern oder zumindest Halbgöttern der Antike gleichzusetzen. Die Baumeister wiederum und ihr Tun symbolisieren politisches Handeln, die sich in Gesetzgebung und »Policey« manifestierende Führung, und so legen Furttenbachs Ausführungen nahe, dass die Architekten als Fachleute für das Wasser eigentlich kleine Fürsten, die Fürsten umgekehrt Architekten im Großen sind.

Abb. 1: Joseph Furttenbach, Architectura Civilis, Das ist: Eigentliche Beschreibung, wie man nach bester Form und gerechter Regel […] erbawen sol. Ulm 1628, Grotte mit Orpheusgruppe. http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/furttenbach1628/0018 Ó Universitätsbibliothek Heidelberg

Bemerkenswert ist die Bedeutung, die Furttenbach der Grotte – als dem Höhepunkt und Zentrum des fürstlichen Gartens – explizit zuschreibt: Sie dient der »Anschauung der Allmacht Gottes.«48 Dieses religionspädagogische Ziel wird nun nicht erreicht, indem der Mensch einer »natürlichen Natur«, die ungeordnet, unberechenbar und bedrohlich ist, ausgesetzt wird, sondern vielmehr durch die Konfrontation mit einer durch höchsten technischen, ästhetischen und finanziellen Aufwand verwandelten Natur ; das heißt, die vertiefte Erkenntnis Gottes bedarf der Anleitung des Erlebens und der Sinne durch privilegierte Gehilfen, und das sind die Ingenieure, die ihrerseits die Chance zu derartigen Leistungen der Patronage und Potenz ihrer fürstlichen Auftraggeber 48 Furttenbach, Architectura Civilis, 35.

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verdanken. Die Zurschaustellung von hydraulischem Können in großem Stil innerhalb des fürstlichen Gartens ist so gleichermaßen standesspezifisches Privileg und landesväterliche Verpflichtung, und im Haus eines Bürgers oder »Privatmanns« sind derartige Inszenierungen nicht nur aus ökonomischen Gründen nicht möglich, sondern aus sozialen Gründen auch nicht gestattet. Anstatt in seinem Garten das zu realisieren, was die Architekten und die Architektur auf der Höhe ihrer Kunstfertigkeit vermögen, darf und soll der Bürger jedoch in seinem Kabinett das Wissen um die Grundlagen dieser Leistung ausstellen: Modelle von Mühlwerken, Gewinden und Zugwerken, Bücher zur »Architettura navale«, »militare« und »civile«, Globen, Sphären und Sonnenuhren oder pyrotechnische Instrumente – kurz: all das, was ihn als Liebhaber der »Arte Ingegnio« auszeichnet.49 Man kann so von einer funktionalen Aufteilung des Umgangs mit der Ingenieurskunst zwischen Bürgern und Fürsten ausgehen: Die einen präsentieren ihre theoretischen Grundlagen »in potentia«, die anderen ihr Potential »in actu«. Zwar wird auch das Haus des Privatmanns von einem Garten ergänzt, und in ihm finden sich zahlreiche Elemente des fürstlichen Gartens en miniature wieder : Obstbäume, ein »Wäldlein«, Fischteiche, Wasserspiele und sogar eine Grotte,50 bei deren Ausstattung allerdings sorgfältig auf die »Qualität« des Bauherrn zu achten ist.51 Doch neben den Unterschieden in den Dimensionen – die lediglich graduell wären – fällt eine sehr grundsätzliche Differenz zwischen der fürstlichen und der »privaten« Art, mit Wasser umzugehen, ins Auge: Furttenbach und seine Mitautoren verwenden im Rahmen der Beschreibung des bürgerlichen Bauens vergleichsweise viel Raum auf Überlegungen zur Umleitung von Wasser,52 auf die Nutzung von Regenwasser oder die Ableitung von Abwasser,53 kurz: auf Sparsamkeit.54 Das fürstliche Wasser fließt im Überfluss, ohne Rücksicht auf kleinliche ökonomische

49 Furttenbach, Architectura Civilis, 53f. 50 Zur Architektur des Bürgerhauses und seines Gartens: Orpheus Rembold/Johann Schultes, Architectura Privata. Das ist: Gründtliche Beschreibung/ Neben conterfetischer Vorstellung/ inn was Form und Manier/ ein gar Irregluar, Bürgerliches Wohnhaus […] erbawet […]. Augsburg 1641. Es handelt sich bei diesem Werk tatsächlich um die Herausgabe von Schriften, die Furttenbach selbst verfasst hatte. Ausführungen zur Anlage des Gartens: ebd., 11–15, 52–77. 51 Rembold/Schultes, Architectura Privata, 59. 52 Rembold/Schultes, Architectura Privata, 11. 53 Rembold/Schultes, Architectura Privata, 62, 66, 70f. 54 Rembold/Schultes, Architectura Privata, 77: »Nicht unbillich ereignet sich hie zugegen eine nicht geringe/ sonder wichtige Frag? wiewil man dann deß lebendigen Wassers vonnöten werde haben/ damit alle vorerzehlte Wasserspil/ und Auffsätze ihre Officien also zu verrichten vermögt seyen. Deme wird wolmeinend geantwurt/ daß man hiezugegen gar gesparsamb gegangen ist/ Sintemalen unnd wie leichtlich zu erachten/ einer gemeinen Privat Personen nit zuvil […] vergunstiget kan werden.«

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Erwägungen, ganz auf den Effekt ausgerichtet, während das bürgerliche Wasser sich immer wirtschaftlichen Zwängen unterzuordnen hat. Georg Andreas Böckler, der die erste Übertragung von Palladios »vier Büchern zur Architektur« ins Deutsche unternommen hatte (er vollendete allerdings nur die Übersetzung der ersten beiden Bücher, die postum in Nürnberg im Jahr 1698 erschien),55 kombinierte in noch stärkerem Maße und deutlich expliziter als Furttenbach antike, italienische und zeitgenössische zentraleuropäische Elemente der Architekturtheorie und fixierte damit ein für lange Zeit gültiges autoritatives hydraulisches Modell im deutschen Kulturraum: In seiner vierbändigen, zwischen 1664 und 1670 in Nürnberg gedruckten »Architectura Curiosa Nova«, die den Untertitel »Die Lustreiche Bau- und Wasser Kunst« trägt, spitzte er zum einen das Wesen der Architektur bzw. des Ingenieurswesens auf den Wasserbau zu und integrierte zudem, wie zuvor Leon Battista Alberti, im strengen Sinne naturwissenschaftliche bzw. naturphilosophische, physikalische und chemische Wissensbestände über die Eigenschaften des Wassers in sein Werk: Nach Böckler war der Hydrauliker der Architekt und Ingenieur in seiner Rein- und Hochform.56 Im ersten Buch der »Architectura Curiosa Nova« werden die theoretischen Grundlagen und damit das Programm für den Wasserbau festgelegt: in der Auseinandersetzung mit antiken Autoritäten wie Vitruv, Heron von Alexandrien, Aristoteles oder Plinius,57 in der Diskussion der Frage nach der Existenz eines Vakuums58 und des Verhältnisses der Elemente »Wasser« und »Erde«59 und vor allem in der Beschreibung der Prinzipien, nach denen das Wasser sich von sich aus bewegt oder sich durch die Anwendung von »Trieb und Wasserkunst« bewegen lässt.60 Dies ist das Leitmotiv seines vierbändigen Werks: das Problem, wie es gelingen kann, Wasser in die Höhe zu bringen, es aufsteigen zu lassen, während die alltägliche Erfahrung mit der Natur doch lehrt, dass es – von sich aus – immer fällt. Einerseits konstatiert Böckler, dass das Wasser grundsätzlich nur so hoch an einer Stelle aufsteigen kann, wie es zuvor an anderer Stelle gefallen ist – und

55 Palladio, Bücher, 431 (Nachwort). 56 Georg Andreas Böckler, Architectura Curiosa Nova. Die lustreiche Bau- und Wasser Kunst. Nürnberg 1664; Architectura Curiosa Nova. Der ander Theil. Darinnen von allerhand Auffsätzen und Wasserspielen gehandelt wird […]. Nürnberg o. J.; Architectura Curiosa Nova. Der dritte Theil. Darinnen zufinden seynd allerhand Conterfeitische Wasserbronnen […]. Nürnberg o. J.; Architectura Curiosa Nova. Der vierdte Theil. Darinnen nach dem Leben abgezeichnet […]seynd 36. schöner Grotten/Palacien, Lusthäuser und Lustgärten […]. Nürnberg o. J. 57 Böckler, Architectura I, 5, 7, 16, 19, 23. 58 Böckler, Architectura I, 4–7. 59 Böckler, Architectura I, 15–17. 60 Böckler, Architectura I, 18–30.

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Abb. 2: Georg Andreas Böckler, Architectura Curiosa Nova. Die lustreiche Bau- und Wasser Kunst. Nürnberg 1664, Frontispiz. http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/boeckler1666bd1/ 0001 Ó Universitätsbibliothek Heidelberg

die Natur lässt sich nicht betrügen –,61 andererseits berichtet er selbstbewusst von seinen eignen mechanischen Erfindungen, mit deren Hilfe das Wasser »in wunderbarliche Höhe getrieben werden mag«.62 Damit beansprucht er zunächst, nicht nur anderes, sondern eindeutig mehr geleistet zu haben als die »antiqui«: Der Bezug auf das Altertum dient bei Böckler eben nicht nur bzw. nicht mehr als Evozierung eines unhinterfragten Leitbilds oder zur Legitimierung des eigenen 61 Böckler, Architectura I, 22f. 62 Böckler, Architectura I, 29.

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Tuns, sondern er stellt einen kulturellen Zusammenhang her, innerhalb dessen Innovation denkbar ist. Sodann konstruiert Böckler eine durchaus ambivalente Perspektive auf die Natur, von der zuvor propagierte, dass sie sich weder »durch Kunst noch Gewalt« betrügen ließe, die er jedoch nun »überlistet« habe – allerdings wiederum »mit Hülff und Beystand der Natur«.63 So ist die »lustreiche Bau- und Wasser Kunst« ein komplexes Spiel mit der Natur und gegen sie, das sich zugleich innerhalb der natürlichen Grenzen bewegt und diese durchbricht. In den folgenden drei Büchern der »Architectura Curiosa Nova« wird nun vorgeführt, zu welchen Resultaten diese Transformation der Natur über sich selbst hinaus führen kann: In zahlreichen aufwendig illustrierten Kapiteln zeigt Böckler Wasserspiele, in denen das Element alle nur denkbaren Formen annimmt, nur nicht die von Wasser selbst: es erscheint als Federbusch, Sonne, Glas, Spiegel und Stern, Perlen, Halbmond oder Schnecke.64 Dieses Wasser ist nicht in irgendeiner Form »nützlich« oder ökonomisch verwertbar ; es zielt einzig auf die Unterhaltung, »Recreation« und »Belustigung« der fürstlich-adligen Gesellschaft ab,65 es bildet den Hintergrund für höfische Zeremonien wie ein Schauessen66 oder den Rahmen für Monumente der Verherrlichung der großen Taten des Herrschers und seiner Familie.67 Das auf diese Weise durch den Architekten hergestellte und dargestellte Wasser ist »anmutig«, »schön«, »lieblich« und »subtil«, kurz: es ist »vornehm«68 und damit ein Spiegel derjenigen Gesellschaft, für die es geschaffen wurde – oder doch zumindest der Art und Weise, wie sich diese Gesellschaft selbst begriff und repräsentierte. Allerdings stellt Böckler diese genuin aristokratische Wasserkunst schließlich doch noch in einen durch die Kategorie des »gemeinen Nutzens« konstituierten moralischen Zusammenhang: Die Fürsten und hohen Herrn nämlich, die sich an den mit so großem Aufwand errichteten Wasserspielen ergötzen, haben das Recht, ja in gewisser Hinsicht die Pflicht, eben dies zu tun, weil sie durch ihre Tugend dem Nutzen und Wohl des Volkes dienen; insofern handelt es sich bei den Palästen und Gärten der gegenwärtigen Monarchen eben nicht um »unnötige höchste Pracht«, wie sie von den Herrschern des Altertums, in Ägypten oder im kaiserzeitlichen Rom, zur Schau gestellt wurde – die Pyramiden der Pharaonen oder die »Domus aurea« Neros gelten für Böckler tatsächlich als steingewordene Symbole von tyrannischer Herrschaft –, sondern vielmehr um überaus nützliche Bauwerke.69 Böckler, Architectura I, 28. Böckler, Architectura II, 10–14. Böckler, Architectura III, 13. Böckler, Architectura III, 19f. Böckler, Architectura III, 23. Böckler, Architectura II, 6f., 10; Böckler, Architectura III, 8, 11, 18, 23; Böckler, Architectura IV, 5, 7. 69 Böckler, Architectura IV, 1–3. 63 64 65 66 67 68

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Damit ist die Architektur nicht lediglich ein Ausweis von politischer Größe – Bauen in großem Stil und auf hohem technischem Niveau war zu allen Zeiten und überall eng verknüpft mit politischer Macht –, sondern ebenso ein Medium der Repräsentation von guter Herrschaft. Die Argumentation Böcklers zielt einerseits darauf ab, die Bautätigkeit des Fürsten im Sinne einer politischen Ethik zu rechtfertigen, andererseits darauf, die Bautätigkeit des Architekten und Ingenieurs in einen theologischen Rahmen zu integrieren. Bemerkenswerterweise verzichtet er fast vollkommen darauf, den (bürgerlichen) Baumeister als unverzichtbaren Gehilfen des (aristokratischen) Bauherrn darzustellen und auf diese Weise zu nobilitieren, sieht man von der Widmung der »Architectura Curiosa Nova« an Kardinal Guidobaldo von Thun und Hohenstein, den Fürsterzbischof von Salzburg, als »Liebhaber und Patron der edlen Bau- und Wasserkunst« ab.70 Böckler greift deutlich höher und vergleicht den Architekten unmittelbar mit Gott: Gott baute im Schöpfungsakt die »Außenwelt«, mühelos, ohne Zuhilfenahme der Hände nur durch das Wort; der Mensch im allgemeinen, der Architekt im Besonderen, baut an der »Innenwelt«, zwar mit großem Aufwand an Zeit und Mühe, mit »Kunst«, doch ebenfalls vernünftig und entsprechend den in der Schöpfung angelegten Prinzipien. Insofern verhält sich das Tun des Baumeisters komplementär zum Tun Gottes, und indem er seine Kunstfertigkeit vor allem am Element des Wassers erprobt, Trocken und Nass seinem Willen unterwirft und die Fluten durch Rechnen und Zählen, Maße, Gewichte und Handarbeit bergauf lenkt, erweist er sich als »Mitgeselle Gottes«.71 Diese Strategie der Verortung der professionellen Rolle des Ingenieurs und seines Handelns innerhalb der ständischen Gesellschaft erinnert an die Rhetorik, die bei Furttenbach Verwendung fand, die Parallelisierung von Hydraulikern mit den Göttern der Antike, sie geht jedoch zugleich weit über dieses argumentative Muster hinaus, denn Böckler verlässt auf diese Weise ein weiteres Mal den durch den Antikenbezug markierten Rahmen, nicht nur in technischer, sondern auch in »weltanschaulicher« Hinsicht. Der Wasserdiskurs der Architekten im deutschsprachigen Raum nahm hinsichtlich seiner kulturellen – historischen und religiösen – Kontextualisierung und in Bezug auf die die »reine« Technik überschreitenden Bedeutungen, die dem Wasserbau zugeschrieben wurden, eine Mittelstellung zwischen einer deutlich nüchterneren Hydraulik im strengen Sine und einer strikt auf die Ansprüche des Hofes ausgerichteten, rhetorisch überaus elaborierten Gartenkunst ein. Allerdings verzichteten auch die deutschen Hydrauliker weder völlig auf Reflexionen über die Natur des Wassers, und zwar durchaus in einem naturphilosophischen Sinn, noch auf Anspielungen auf den Wasserbau im klassischen 70 Böckler, Architectura I, Widmung [s. p.]. 71 Böckler, Architectura I, Widmung [s. p.].

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Altertum oder die Anrufung antiker Autoritäten: So finden sich beispielsweise in Heinrich Zeisings (gest. 1613) »Theatrum Machinarum« aus dem Jahr 1610 Bemerkungen darüber, dass das Wasser essentiell für alles Leben sei,72 Hinweise auf Plinius, Vitruv, Archimedes, Strabo und Frontinus73 sowie die Bemerkung, dass die Wasserleitungen im alten Rom besonders vorbildlich gewesen seien, weil man damals nicht an einer Einrichtung, die so eindeutig dem »gemeinen Nutzen« diente, gespart habe.74 Aber diese Reminiszenzen an den humanistischen Zeitgeist haben keine Bedeutung für die Ingenieursleistung selbst, ebenso wenig für die Art und Weise, wie die Ingenieure das von ihnen aufgefundene, transportierte und in die Höhe gehoben Wasser darstellen, denn ihre Arbeit ist allein dem Prinzip der »Notdurft und Nutzbarkeit« verpflichtet,75 nicht jedoch politischen, sozialen oder religiösen Repräsentationen. Auch der 1617 erschienene »Kunstliche Abriß / allerhand Wasser- Wind- Roß- und Handt Mühlen« des Nürnberger Bürgers Ottavio von Strada zu Rosberg (1550–1607) ist, als Handbuch des Ingenieurwesens, bezeichnenderweise von einer Rhetorik geprägt, die eher auf »Nutzbarkeit« oder die Vermeidung von »grossem Gewalt und Kosten« ausgerichtet ist als auf demonstrativen Konsum.76 Strada stellt sein Tun – die Konstruktion von Wasserpumpen und ihre bildliche Darstellung – zwar ebenfalls in einen klassischen Zusammenhang, doch er tut dies, um die Verwurzelung der »Architectura« (als Bezeichnung für eine theoretisch fundierte Bautätigkeit) in der »Mathematica« zu belegen, mit Verweisen auf Pythagoras, Alkinoos, Aristipp und Archimedes.77 Es existierten also im deutschen Sprachraum zwei Typen von Wasserdiskursen oder »Hydrauliken« innerhalb des technischen Feldes, die sich an unterschiedliche Öffentlichkeiten richteten und die unterschiedliche Erscheinungsformen des Wassers propagierten: die auf ein fürstlich-aristokratisches Publikum ausgerichtete Architektur, die primär auf die römische Kaiserzeit rekurrierte und Wasserkünste zu realisieren versprach, die prachtvoll und überwältigend, unterhaltend und in jedem Sinne (technisch und finanziell) aufwendig waren, und das an städtische Eliten adressierte Ingenieurswesen, das vor allem an der klassischen und hellenistischen griechischen Antike orientiert war und auf die Produktion von nützlichem und ökonomischem Wasser abzielte. 72 Heinrich Zeising, Theatri Machinarum Ander Theil. In welchem Vielerley Künstliche Wasserkünste die Wasser durch Reder Pumpen Truck unnd Spritzwerck zu erheben zu sehen […]. Leipzig 1610, 1. 73 Zeising, Theatri Machinarum, 5f., 9, 11, 23, 65. 74 Zeising, Theatri Machinarum, 11f. 75 Zeising, Theatri Machinarum, 11. 76 Ottavio von Strada zu Rosberg, Kunstliche Abriß / allerhand Wasser- Wind Roß- und Handt Mühlen / beneben schönen und nützlichen Pompen / auch andern Machinen / damit das Wasser in Höhe zuerheben […]. Erster Theil. Frankfurt a. M. 1617, Aiiir, Vorrede [s. p.]. 77 Strada zu Rosberg, Abriß, Vorrede [s. p.].

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2.3

Deutsche und französische Gartenbauer: Altertum, Technik und Macht

Schließlich entstand im Laufe des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts mit der Gartenarchitektur eine Form der Hydraulik, die, während sie in vieler Hinsicht nach wie vor als Subspezies der Architektur galt, zunehmend zu einer eigenständigen Profession wurde. Es handelte sich bei dieser Gartenkunst einerseits um ein gesamteuropäisches, italienisch-humanistisch geprägtes Phänomen, andererseits jedoch um einen Diskurs, der sehr stark von französischen Autoren dominiert wurde.78 Eine entscheidende Figur für diese Entwicklung war der aus der Normandie stammende Hugenotte Salomon de Caus (1576–1626), der nacheinander in Brüssel, London, Heidelberg und wiederum in Frankreich tätig war.79 In seinen beiden einflussreichsten Schriften, der 1615 gleichzeitig auf Deutsch und Französisch erschienenen Abhandlung »Von Gewaltsamen Bewegungen« und der ebenfalls in beiden Sprachen publizierten Beschreibung des »Hortus Palatinus« aus dem Jahr 1620, legte Caus die Grundlagen für einen gleichermaßen theoretisch wie praktisch fundierten Gartenbau, der in erster Linie auf die Bedürfnisse der höfischen Repräsentation ausgerichtet war und der zum größten Teil auf der Fähigkeit basierte, die Landschaft mit Hilfe von Wasserspielen zu gestalten.80 In den »raisons de forces mouvantes« entwickelte Caus die theoretischen und technischen Voraussetzungen für das, was er später im »Hortus Palatinus« verwirklichte (oder von dem er doch zumindest propagierte, dass er in der Lage war, es zu verwirklichen). Zunächst diskutiert er in einem mit »Definitiones« und »Theoremata« überschriebenen Teil die Eigenschaften von Feuer, Luft, Wasser und Erde, lehnt sich also an die kanonische Elementenlehre an,81 im anschließenden Teil, »Problemata«, konzentriert er sich jedoch so gut wie ausschließlich auf Fragen des Wasserbaus, wobei er einerseits demonstriert, wie man Wasser zum Ansteigen bringen lassen kann bzw. wie es sich – entgegen seiner eigentlichen Natur – erheben lässt, andererseits verschiedene Nutzanwendungen dieses gezähmten und transformierten Wassers vorführt: als »nützliche« und »notwendige« Bohrmaschine oder Feuerspritze und als »subtile«, »artige« und »lustige« Wasseruhr, Grotte oder Orgel.82 In vieler Hinsicht ist die Abhandlung von Salomon de Caus ein Manifest der 78 Vgl. zum kunsthistorischen Zusammenhang: Stefan Schweizer, Die Erfindung der Gartenkunst. Gattungsautonomie – Diskursgeschichte – Kunstwerkanspruch. München 2013. 79 Zu Caus vgl.: Luke Morgan, Nature as Model. Salomon de Caus and Early SeventeenthCentury Landscape Design. Philadelphia, Pennsylvania 2007. 80 Salomon de Caus, Von Gewaltsamen Bewegungen. Beschreibung etlicher so wol nützlichen alls lustigen Machiner beneben Underschiedlichen abrissen etlicher Höllen oder Grotten und lust Brunnen. Frankfurt a. M. 1615; ders., Hortus Palatinus a Friderico rege Boemiae electore palatino Heidelbergiae exstructus. Frankfurt a. M. 1620. 81 Caus, Bewegungen, 1r-v–5r-v. 82 Caus, Bewegungen, 9–44.

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auf der griechischen Antike fußenden »bürgerlichen« Hydraulik der eigentlichen Wasserbauingenieure, mit ihrer Schwerpunktsetzung auf der Mathematik und den ausführlichen technischen Beschreibungen von in erster Linie »nützlichen«, für handwerkliche, landwirtschaftliche und ökonomische Zwecke verwertbaren Mühl- und Pumpwerken. Programmatisch wird diese Ausrichtung auf dem Frontispiz repräsentiert: Das Titelkupfer zeigt einen schmalen, hohen Raum, im Vordergrund sitzen, einander gegenüber, Archimedes und Heron von Alexandrien; über ihnen stehen in Wandnischen Statuen Merkurs und Vulkans, darüber verläuft ein Gesims, in dessen Mitte sich ein Globus befindet, rechts und links von ihm Putten, die die vier Elemente repräsentieren: Wasser, Luft, Erde und Feuer. Die Stirnseite des Raums nimmt ein halbgeöffnetes Fenster ein, das den Titel des Werks trägt, dahinter wird der Blick auf eine weite Landschaft gelenkt, Himmel, Meer und Land. Über dem Fensterrahmen befindet sich eine Inschrift: »Oudeir aceoletqor eisity – kein Nicht-Geometriker (oder -Mathematiker) trete hier ein« – die Mathematik ist das Fenster oder der Schlüssel zur Welt. Andererseits bezieht Caus das, was er tut und schreibt, die von ihm repräsentierte »Kunst«, konsequent auf die monarchische Kultur, sowohl im Widmungsschreiben der »Gewaltsamen Bewegungen« an Ludwig XIII. von Frankreich als auch in der Vorrede an den »günstigen Leser«: Um gut zu regieren, ein Vorbild für die Untertanen und die Furcht seiner Feinde zu sein, sollte sich ein König nicht nur mit Fachleuten umgeben, er sollte vielmehr selbst ein Fachmann sein, namentlich ein Mathematiker, denn nur auf diese Weise kann er zwischen unrealistischen Plänen, die nichts als »Spott und Schaden« bringen, und tatsächlich realisierbaren Projekten, die zu Ruhm und Nutzen dienen, unterscheiden. Ganz dem »mainstream« der Selbstdarstellung frühneuzeitlicher Architekten entsprechend, setzt Caus Größe im Bauen mit politischer Größe gleich und identifiziert einen Niedergang der »Künste« – in erster Linie der Architektur und Mathematik – in Europa nach der Zerstörung Roms durch die Goten und ihren Wiederaufschwung im Zeitalter der drei »trefflichen Helden und Potentaten« Karl V., Franz I. und Heinrich VIII.83 Den Herrschergestalten der klassischen Antike und der Renaissance entsprechen jeweils Ikonen der Wissenschafts- und Architekturgeschichte: Vitruv, Archimedes, Albrecht Dürer, Michelangelo und Raphael, allesamt »in Mathematicis und Architectura trefflich erfahren«. Indem Caus Könige und Mathematiker-Architekten konsequent unmittelbar aufeinander bezieht und Regierungshandeln und technisches Tun als parallele und komplementäre Praktiken beschreibt, erhebt er nicht nur – explizit – die Forderung, Fürsten müssten zumindest auch Techniker sein,

83 Caus, Bewegungen, Vorrede [s.p.].

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Abb. 3: Salomon de Caus, Von Gewaltsamen Bewegungen. Beschreibung etlicher so wol nützlichen alls lustigen Machiner beneben Underschiedlichen abrissen etlicher Höllen oder Grotten und lust Brunnen. Frankfurt a. M. 1615, Frontispiz. Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden

sondern er formuliert – implizit – den Anspruch, Architekten seien so etwas wie kleine Könige. Im fünf Jahre nach den »gewaltsamen Bewegungen« erschienen »Hortus Palatinus« treibt Caus diese ehrgeizige Strategie der politischen, ständischen und kulturellen Selbstnobilitierung noch einmal weiter. Caus hatte die englische Prinzessin Elisabeth, Tochter seines früheren Dienstherrn Jakobs I., nach deren Vermählung mit dem Pfälzer Kurfürsten Friedrich V. im Jahr 1613 nach Heidelberg begleitet und sollte auf dem Feld des Gartenbaus einen Beitrag zur

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Umgestaltung des kurpfälzischen Hofes zu einer Residenz leisten, die den Ansprüchen Friedrichs V. auf eine führende Rolle in der europäischen Fürstengesellschaft genügte. Die Anlage eines Parks am Heidelberger Schloss, des sogenannten »Hortus Palatinus«, wurde durch die Wahl Friedrichs V. zum böhmischen König im Jahr 1619 zunächst unterbrochen und kam aufgrund der nachfolgenden Kriegsereignisse schließlich ganz zum Erliegen, so dass man die Veröffentlichung des Berichts als eine Art von komplementärer Praxis betrachten kann: Wenn es dem Gartenbaumeister schon nicht vergönnt war, seine ehrgeizigen Pläne umzusetzen, konnte er sie doch auf diese Weise zumindest einer europäischen Öffentlichkeit mitteilen. In der Vorrede zum »Hortus Palatinus« erläutert Caus, wie groß die mit der Anlage des Heidelberger Schlossgartens verbundenen technischen Probleme und wie hoch die Kosten waren, einerseits wegen der höchst ungünstigen naturräumlichen Bedingungen in der Umgebung des kurfürstlichen Schlosses, andererseits wegen des hohen ästhetischen Anspruchs des fürstlichen Bauherrn. Doch es war offensichtlich gerade dieser hohe Aufwand, der für Caus als Ausweis der gleichermaßen politischen wie architektonischen Leistung galt: Das Außergewöhnliche, das Mühsame, das – auf den ersten Blick – Widernatürliche und das Teure des Vorhabens machten seine eigentliche Qualität aus.84 Selbstverständlich war der kurfürstliche Park mehr als nur eine Ansammlung von »Wasserkünsten«: Auf verschiedenen Ebenen befinden sich Beete, Spazierwege, ein Theater, zahlreiche kleinere Gebäude und Baumpflanzungen, doch das Wasser ist ein immer wiederkehrendes Element der Gestaltung, und es steht – wie in zahlreichen anderen Architekturund Techniktraktaten – als Symbol für Natur und ihre Beherrschung schlechthin. Dieser Anspruch des kurfürstlichen Bauherrn und seines Baumeisters wird besonders sichtbar in einer monumentalen Figurengruppe: In einer einem Triumphbogen nachgebildeten Nische befindet sich im unteren Geschoß eine auffällig klein dimensionierte Neptunstatue, das zweite Geschoß besteht aus einem Gesims, darüber befindet sich eine lateinische Inschrift, und bekrönt wird das Ensemble durch ein monumentales Standbild Friedrichs V. selbst. Die Inschrift lautet: »Friedrich, König von Böhmen, Pfalzgraf bei Rhein, Kurfürst, hat dadurch, dass er die Höhen der Berge in die Tiefen der Täler hinabgestürzt hat, den einst der Diana, jetzt dem Vortumnus geweihten Ort zurückgegeben, er hat ihn geschmückt mit Wasserleitungen, Höhlen, Standbildern, Pflanzen, Blumen und Bäumen von wunderbarer Größe, die er aus (s)einem ländlichen Garten mit einer einzigartigen Technik hinüberschaffen ließ. Das Werk hat er bis dahin durchgeführt im Jahre des Heils 1619.«85 84 Caus, Hortus, Air-v. 85 Caus, Hortus, s. p.: »Fridericus Bohemiae Rex Com. Palat. Rhen. Elect. summa montium in ima vallium praecipitando locum Dianae olim nunc Vortumno sacrum reddidit aquae-

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In der expliziten, in Worte gefassten Deutung bezieht sich die Leistung Friedrichs V. auf die gesamte Natur – Berge und Täler, Pflanzen und Wasser ; doch in der bildlichen Deutung wird dieser Akt der Manifestation von Macht durch die Transformation der Elemente auf das Wasser ausgerichtet: Friedrich V. vollendet und übertrifft all das, was sich im Meeresgott der antiken Mythologie symbolisiert. Die von Salomon de Caus formulierten Grundsätze über den Zusammenhang von politischer Macht, Gartenkunst und Hydraulik bilden im Kontext der deutschsprachigen Architektur- und Wassertheorie keine Ausnahme, ihr argumentativer Duktus – mit der Integration des Gartenbaus in die Architektur, den expliziten Antikenbezügen, der Favorisierung großer, technisch aufwendiger und teurer Projekte und dem weitgehenden Verzicht auf religiöse (christliche) Begründungen – war jedoch vor allem für eine ausgeprägt »romanische« oder besser französische Sprechweise über das Wasser stilbildend, die sich im 17. und frühen 18. Jahrhundert herausbildete. Der 1638 erschienene »Trait¦ du Iardinage« von Jacques Boyceau (ca. 1560–1633) begründete eine eigenständige französische Kultur des Schreibens über den Gartenbau, das – ähnlich wie die Architekturtraktate des italienischen und deutschsprachigen Renaissancehumanismus – zunächst auf eine »Theoretisierung« oder »Akademisierung« der Gartenkunst abzielte: Der Gärtner zeichnete sich gleichermaßen durch »grand art« und »grande pratique« aus, musste also sowohl Kenntnisse in der Architektur und Arithmetik, der Natur, der Elemente, des Klimas, der Luft und des Wassers besitzen – und damit gleichsam ein Universalgelehrter sein – als auch die Erfahrung und Fertigkeiten, dieses Wissen praktisch umzusetzen.86 Das Wissen um die Eigenschaften des Wassers und die Fähigkeit, es im Sinne der Prinzipien von »plaisir« und »utilit¦«87 zu dirigieren und zu transformieren, fungiert dabei besonders prominent unter den Eigenschaften des Gärtners, denn das Wasser ist »l’esprit plus vivant des iardins«.88 Boyceau empfiehlt für eine angemessene, ständisch signifikante Gartengestaltung nicht nur »großes Wasser« (»la plus grande eau semble la plus belle«),89 sondern auch Gewässer, die, nach dem Vorbild der »Anciens«, über weite Strecken, durch Berge hindurch und über Täler hinweg, herbeigeführt werden müssen – nicht das »nahe« Wasser ist naheliegend, sondern dasjenige, das höchst aufwendig und in diesem Aufwand sichtbar transportiert wird, denn nur solche Projekte sind in der Lage, den

86 87 88 89

ductibus cavernis statuis plantis floribus arboribus mirae magnitudininis ex suburbano horto singulari artificio translatis ornavit. Opus huc usque perduxit a. s. MDCXIX.« Jacques Boyceau, Trait¦ du iardinage ex libris Recollectorum selon les raisons de la nature et de l’art […]. Paris 1638, 1–3, 10f., 30f. Boyceau, Trait¦, 31. Boyceau, Trait¦, 75. Boyceau, Trait¦, 75.

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Stand und die Macht ihrer Auftraggeber unzweideutig zu vermitteln; »digne ouvrage de Roys, des grandes Communautez, ou puissances semblables.«90 Die Leitgedanken Boyceaus zum Zusammenhang von Natur und Architektur, Gartenkunst und Hydraulik wurden im französischen Zusammenhang bis weit ins 18. Jahrhundert immer wieder aufgegriffen und nicht mehr grundsätzlich verändert; auch in der 1685 erschienenen Abhandlung »L’architecture franÅoise« von Louis Savot (1570–1640)heißt es apodiktisch – und fast in wörtlicher Übereinstimmung mit Boyceau –: »La conduite qui se fait par des aqueducs, est la plus noble, la plus seure, & la plus commode: mais elle est d’une si grande d¦pense, principalment si la source est loin, qu’il n’apartient qu’aux Princes, ou — une Republique de l’entreprendre.«91 Wissenschaftsgeschichtlich auffällig und aufschlussreich für die Strategien der Selbstverortung und Selbstvermarktung der französischen Architekten innerhalb der ständischen Gesellschaft und der Hierarchie der Wissenschaften sind die ausführlichen Parallelisierungen zwischen den »professions« oder »sciences« der Medizin und Architektur, die Savot im ersten Kapitel seines Werks vornimmt.92 Damit greift er einerseits einen bereits bei Alberti angelegten Topos auf, in der Forderung an die Ingenieure, sich Kenntnisse über die verschiedenen Wasserarten anzueignen und dafür Sorge zu tragen, dass ihre Mitmenschen nur »gutes« – sauberes und heilendes – Wasser zu trinken bekämen, sowie das krankmachende Wasser der großen Flüsse oder stehender Gewässer möglichst fernzuhalten;93 andererseits argumentiert Savot jedoch konsequent erkenntnistheoretisch, indem er postuliert, dass allein Mediziner und Architekten eine vergleichbare Vielfalt an Wissensbeständen und praktischen Fertigkeiten beherrschen müssten, dass sowohl für die Medizin als auch die Architektur eine gründliche Schulung in der »science des causes naturelles« und der Mathematik vonnöten sei und dass niemand so gut für die Profession des Architekten geeignet sei wie ein gut ausgebildeter Mediziner.94 Mit dieser Gleichsetzung knüpft Savot an den Erfolg an, mit dem es den universitär ausgebildeten Ärzten im Laufe der Frühen Neuzeit gelang, sich vom Odium der Handarbeit zu befreien und – ggf. nicht innerhalb des Hochschulsystems, wohl aber innerhalb der Gesellschaft – den Rang von Akademikern zu beanspruchen.95 90 Boyceau, Trait¦, 79. 91 Louis Savot, L’architecture franÅoise des bastimens particuliers. Paris 1685, 189f. 92 Savot, Architecture, 1–6: »Qu’il n’y a aucune profession qui nous rende plus capable de l’Architecture, que celle de la Medecine.« 93 So bei Boyceau, Trait¦, 10f.; ähnlich auch bei: Antoine-Joseph D¦zailler d’Argenville, La th¦orie et la pratique du jardinage, ou l’on traite a fond des beaux jardins apell¦s commun¦ment jardins de propret¦ […]. Paris 1709, 192f. 94 Savot, Architecture, 2f. 95 Es könnte sich bei dieser rhetorischen Figur auch um den Versuch handeln, Architekten den Rang innerhalb des politischen Prozesses zuzuweisen, den zahlreiche Mediziner, die zu-

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Die Vorstellung, dass großartiges und beeindruckendes, die Sinne belebendes und mit hohem technischem und finanziellem Aufwand transportiertes und verwandeltes, »verschwenderisches« Wasser der monarchischen Kultur und der Würde und Macht eines Fürsten angemessenes Wasser – damit also »gutes« Wasser – sei, prägte den südeuropäisch-romanischen und vor allem den französischen Wasserdiskurs nachhaltig; erst in den 1730er Jahren setzte ein Wandel in der Beurteilung der Wasserkunst ein, der sich besonders deutlich an den Debatten um die Pumpwerke von Marly ablesen lässt, die für die Wasserversorgung des Parks von Versailles errichtet worden waren.96 Während sie zunächst als Symbol des Triumphs des Sonnenkönigs über eine widersetzliche Natur gefeiert worden waren, wurden in der Aufklärung zunehmend die dysfunktionalen Aspekte der Anlage kritisiert, ihre mangelnde Effizienz, die Tatsache, dass mit ihnen ein massiver Aufwand für Wasser»spiele« des Hofes (und eben nicht für die Wasserversorgung der Mehrheitsbevölkerung) betrieben wurde, der mit ihnen verbundene ostentative Luxus, bis schließlich im Revolutionszeitalter die Wasserwerke von Marly zum Inbegriff des grotesken Lebensstils des Sonnenkönigs schlechthin wurden. So wandelte sich fürstlicharistokratisches zu tyrannischem Wasser, und der Nutzen, der dem »divertissement« und »plaisier« des Monarchen zugeschrieben worden war, wurde zur moralisch verwerflichen Nutzlosigkeit erklärt.

2.4

Englische Wasserdiskurse: Gott, Natur und Sparsamkeit

Im England der Frühen Neuzeit wurde, vornehmlich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, im Rahmen des Schrifttums zur Architekturtheorie, Hydraulik und Gartenkunst ein Wasserdiskurs geführt, der sich nur in Nuancen von der Argumentation, die in Süd- und Westeuropa vorherrschte, unterschied – eine gleichermaßen humanistische und monarchische Rhetorik, nach der die menschliche Kunstfertigkeit in technischer Hinsicht Großes vermochte und diese Leistung in den Dienst politischer Größe zu stellen hatte. Diese Perspektive auf das Verhältnis von Natur und Technik war jedoch weder diejenige der Mehrheit der an der Debatte Beteiligten noch diejenige, die die Debatte um den angemessen Umgang mit Wasser beherrschte: Daneben behaupteten sich konkurrierende hydraulische Konzepte, eine niederländisch-calvinistische, betont gleich königliche Leibärzte und wichtige Berater waren, einnahmen. Vgl. zu diesem nur unzureichend erforschten Zusammenhang: Margaret Healy, Fictions of Disease in Early Modern England: Bodies, Plagues, and Politcis. New York 2001. 96 Zum Folgenden vgl.: Quenet, Versailles, 17–22, 53–57, 160–163; Thomas Brandstetter, ›The Most Wonderful Piece of Machinery the World Can Boast of‹: The Water-works at Marly, 1680–1830, in: History and Technology 21, 2005, 205–220, v. a. 207–211.

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rationale Mechanik und eine explizit autochthone, gleichermaßen als ur-englisch und christlich begriffene Art und Weise des Umgangs mit der Natur, die sowohl das, was in Bezug auf das Wasser sagbar, als auch das, was in dieser Hinsicht machbar war, prägte. Christopher Wren (1632–1723), der Baumeister, der der englischen Monarchie nach der Restauration ihr Gesicht geben sollte, formulierte in einem unvollendet gebliebenen Traktat über die Architektur Grundüberzeugungen, die wahrscheinlich denen der Mehrheit seiner europäischen »Kollegen« entsprachen: »Architecture has its political use; public buildings being the ornament of a country ; it establishes a nation, draws people and commerce, makes the people love their native country, which passion is the original of all great actions in a commonwealth.«97 Die konsequente Ausrichtung des Bauwesens auf die Größe der Nation (und nicht des Monarchen) sowie ihre Verknüpfung mit einem als »Nationalgefühl« zu bezeichnenden allgemeinen Nutzen deutet allerdings eine tendenziell defensive Position der englischen Architektur an, die nicht mit der gleichen Selbstverständlichkeit als eine königliche Kunst und ein Medium königlicher Politik allgemeine Anerkennung genoss wie im übrigen Europa, sondern die der expliziten Rechtfertigung bedurfte. Dass sich die englischen Architekten – oder doch zumindest Christopher Wren – nach der Zeit des Bürgerkriegs und des Commonwealth tatsächlich in einer Position sahen, in der sie eine gleichsam herkulische Grundlagen- und Aufbauarbeit zu leisten hatten, belegen Einschätzungen, die Wren an den Beginn seiner »Proposals for the Rebuilding the City of London after the great Fire« stellte: »Towards the end of King James the First’s reign, and in the beginning of his son’s, the taste in architecture made a bold step from Italy to England at once, and scarce staid a moment to visit France by the way. From the most profound ignorance in architecture, the most consummate night of knowledge, Inigo Jones started up a prodigy of art, […]. From so glorious an outset there was not an excellency that we might not have hoped to attain; Britain had a reasonable prospect to rival Italy, and foil every nation in Europe beside. But in the midst of these sanguine expectations, the fatal civil war commenced, and all the arts and sciences were immediately laid aside, as no way concerned in the quarrel. What followed was all darkness and obscurity ; […].«98

Architektur – im Sinne einer elaborierten »Kunst« – wird hier als ein italienisches Exportprodukt begriffen, dessen Erfolg in England eng mit den Konjunkturen der Stuart-Herrschaft verknüpft ist; die anti-republikanische (und wohl auch anti-puritanische) Stoßrichtung von Wrens Argumentation ist ein97 James Elmers, Memoirs of the Life and Works of Sir Christopher Wren, with a Brief View of the Progress of Architecture in England, from the Beginning of the Reign of Charles the First to the End of the Seventeenth Century ; and an Appendix of Authentic Documents. London 1823, 118. 98 Elmers, Memoirs, 66f.

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deutig, und sie entsprach ganz dem kulturellen Klima der Regierungszeit Karls II.99 Der zur gleichen Zeit gepflegte englische »Wasserdiskurs« stimmte, wie im übrigen Europa auch, mit dieser von den Architekten propagierten Selbsteinschätzung sehr weitgehend überein: In seiner 1662 erschienen »History of Imbanking and Drayning« entwickelte der royalistische Antiquar und Heraldiker William Dugdale (1605–1686) eine Perspektive auf den Wasserbau, nach der es sich dabei um eine von den Römern entwickelte Technik handelte, die sie in Großbritannien heimisch gemacht hätten, keineswegs jedoch um eine autochthone Leistung der Briten und Sachsen, die dafür entweder zu »rude and barbarous« oder aber zu »illiterate« gewesen seien.100 Wie bei Wren die »Italianisierung« der Architektur ist für Dugdale die »Romanisierung« der Hydraulik eine Strategie, diese als genuin königliche Aufgabe darzustellen, und dies durchaus im Gegensatz zu den adligen Landbesitzern, deren Partikularinteressen dem Allgemeinwohl regelmäßig im Wege gestanden hätten.101 Besonders prägnant wird diese Deutung in der Beschreibung der Auseinandersetzungen um die Trockenlegung der »Fenlands«, einer ausgedehnten Marschlandschaft im Osten Englands, unter Jakob I. und Karl I.: Indem sich die beiden ersten Stuart-Könige in England selbst zu den einzigen Unternehmern des »Drayning« erklärten, hoben sie nicht nur den Wohlstand der Region und des Landes beträchtlich, sie konnten dies auch und vor allem deshalb leisten, weil sie auf diese Weise die kostspieligen, lästigen und größtenteils ineffektiven Treffen der »Commissions of Sewers« vermieden, die traditionell für die Beaufsichtigung der hydraulischen Arbeiten in den Grafschaften zuständig waren und die wichtige Repräsentationsorgane der lokalen Eliten darstellten.102 Der zweite Marquess of Worcester, Edward Somerset (1602–1667), pries eine von ihm selbst konstruierte »most Stupendious Watercommanding Engine«, die tatsächlich alles zu leisten vermochte – die Be- und Entwässerung von Ackerland, die Reinigung von Städten, die Trinkwasserversorgung oder die Anlage von künstlichen Wasserstraßen – auf eine gleichsam hymnische Weise, die keinen Vergleich mit den elaboriertesten humanistischen Wasserrhetoriken des Kontinents scheuen musste.103 Lord Worcester beschreibt die Nutzanwendungen 99 Von einer fast identischen Ausrichtung ist auch der wichtige Architekturtraktat John Evelyns geprägt: A Parallel of the Antient Architecture with the Modern. London 1664. 100 William Dugdale, The History of Imbanking and Drayning of Divers Fenns and Marshes, Both in Forein Parts and in this Kingdom, And of the Improvements thereby […]. London 1662, 16. 101 Dugdale, History, 59–63. 102 Dugdale, History, »To the Reader« [s.p.]. 103 An exact and true Definition of the most Stupendious Watercommanding Engine, invented by the Right Honourable […] Edward Somerset, Lord Marquess of Worcester, and by his

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dieser, hätte sie sich realisieren lassen, tatsächlich »wunderbaren« Maschine, primär in ökonomischen Termini, doch die dem vergleichsweise nüchternen Text beigefügten Panegyriken auf den Erfinder, in lateinischer und englischer Sprache, rekurrieren auf alle Parameter, die im 17. Jahrhundert für ein »großes«, fürstliches und aristokratisches Wasser als notwendig galten: die politische Bedeutung der Wasserkunst, der Vergleich der Leistungen der Gegenwart mit denen der Antike und der allgemeine Nutzen einer hochentwickelten Hydraulik. »What Force or Strength can do is in his [Lord Worcesters, C. W.] reach, His long Experience, Cost and Charges teach; What Greeks, nor Romans e’re could do, this day, Our Noble Britain here hath found the way. […] Non but ignoble Minds love to detract From th’Honour due to such a noble Act: On then, that after-ages may relate Your Service done to Country, King and State.«104

Bemerkenswert im Vergleich sowohl mit den zeitgenössischen kontinentaleuropäischen als auch den englischen Ausführungen zum Wasser ist allenfalls die Bezeichnung der Hydraulik nicht lediglich als noble Tätigkeit, sondern als patriotische Pflicht eines Adligen, der sich jedoch in harmonischer Übereinstimmung mit seinem Souverän befindet. Ein letzter Beleg für die Pflege des südeuropäisch-humanistischen Wasserdiskurses im England der Restaurationszeit ist das einflussreiche Werk über die Gartenkunst von John Worlidge (1640–1700), das 1677 erstmals erschienene »Systema Horti-culturae«;105 in diesem Traktat, der sich explizit an ein adliges Publikum richtet und der ebenso explizit auf klassische antike und zeitgenössische italienische Vorbilder rekurriert,106 wird – wie in der französischen Ratgeberliteratur zum Gartenbau – die elementare Bedeutung des Wassers für die Landschaftsgestaltung unterstrichen: » […] yet cannot such a Garden ever be said to be complete, nor in its full splendour and beauty, without this Element of Water.« Oder noch einmal und in gebundener Rede: »Among your Groves and Flowers let Water flow,/ Water’s the Soul of Groves and Flowers too.«107 Dieses Wasser, das gleichermaßen nützlich und angenehm ist, wird jedoch im weiteren Verlauf der Argumentation fast ausschließlich unter dem Aspekt bewertet, in

104 105 106 107

Lordship himself presented to his most Excellent Majesty Charles the Second, our most gracious Sovereign. London o. J. [1663]. An exact and true Definition, 21f. J[ohn] W[orlidge], Systema Horti-culturae: Or, the Art of Gardening. In Three Books. […]. London 11677, 21683. Worlidge, Systema, »The Preface to the Reader«, [s.p.]. Worlidge, Systema, 42.

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welchem Maße es dazu Lage ist, zum »divertissement[.], pleasure and delight« des Herrn und seiner Gesellschaft beizutragen,108 und diese Funktion erfüllt nach Worlidge einerseits künstlich herbeigeführtes, durch einen Aquädukt gelenktes Wasser wesentlich angemessener als ein »natural Current«,109 andererseits soll dieses durch Kunst gezähmte Wasser, als Monument der »Glory« seines Besitzers und im Dienst seines »Pleasure« möglichst »groß« bzw. »großartig« sein: »For little Brooks and Springs are not so good,/ Nor please so much as a more noble Flood.«110 Die bis hierher skizzierte englische Perspektive auf das Wasser, insofern sie sich in Abhandlungen zur Architektur, zum Ingenieurswesen und zum Gartenbau niederschlug, unterschied sich von den älteren und zeitgenössischen kontinentaleuropäischen Wasserdebatten nur insofern, als sie von der Überzeugung gekennzeichnet zu sein scheint, dass ein Wasserbau in großem Stil keine bzw. noch keine genuin englische Technik sei, die vielmehr aufwendig aus der Vergangenheit (der klassischen Antike) und der Fremde (aus Italien und Frankreich) importiert werden müsse. Tatsächlich existierten in England neben diesem humanistischen und royalistischen weitere konkurrierende Wasserdiskurse, die wesentlich prägender für die öffentliche Auseinandersetzung um die Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Eingriffe in die natürliche Umwelt und die Natur der politischen Herrschaft (und eben dies wurde in den verschiedenen Programmschriften im Kern verhandelt) waren. Es handelte sich bei diesen hydraulischen Konzepten einerseits um eine niederländisch geprägte, weniger calvinistische als vielmehr betont technisch-mechanistische und nüchterne Perspektive, andererseits um einen puritanischen, prononciert autochthonen Zugriff auf das Wasser. Diese unterschiedlichen Auffassungen trafen besonders im Zusammenhang mit dem »draining of the fens« aufeinander. Bezeichnenderweise war es diese innerhalb der englischen Monarchie über Jahrzehnte hoch kontrovers und mit einem Höchstmaß an öffentlicher Beteiligung diskutierte Unternehmung, die der landbesitzenden Elite als Symbol für die »absolutistischen« Tendenzen der Stuart-Könige und ihre Missachtung traditioneller Privilegien galt, was sich in einer die naturräumlichen Gegebenheiten missachtenden Megalomanie manifestierte, während sich umgekehrt für die Monarchen am zähen Widerstand der Gentry gegen ihre Pläne offenbarte, wie wenig sie auf deren politische Kooperation rechnen konnten.111 Der wichtigste Ingenieur im Dienst Jakobs I. und Karls I. war der Niederländer Cornelius Vermuyden (1595–1683); nachdem er sich zunächst als Gartenarchitekt im Park von 108 109 110 111

Worlidge, Systema, 61. Worlidge, Systema, 47; zu den Vorteilen von Kanälen im Verhältnis zu Flüssen: ebd., 47–49. Worlidge, Systema, 46. Vgl. dazu: Mark E. Kennedy, Charles I and Local Government: The Draining of the East and West Fens, in: Albion 15, 1983, 19–31.

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Windsor verdient gemacht hatte, wurde er von Karl I. damit beauftragt, einen großangelegten Plan zur Entwässerung der »Fens« zu entwerfen, den er in seinem 1642 erschienenen »Discourse touching the Drayning the Great Fennes« niederlegte.112 Vermuyden verfolgte ein ehrgeiziges hydraulisches Programm zur Produktion von ausgedehnten »winter grounds«, ganzjährig trockenen Acker- und Weideflächen, das die Umleitung von zahlreichen Flüssen und ihre Zusammenführung in einen einzigen, schiffbaren Kanal beinhaltete, ein Projekt, das der Verfasser in seinem technischen Anspruch explizit den traditionellen und kleinteiligen Verfahren seiner Widersacher entgegenstellt.113 Er scheut dabei nicht einmal die Gefahr der Beleidigung nationaler Befindlichkeiten, wenn er seine Expertise als die Übertragung von technischem Wissen und Erfahrungen, die im niederländischen Wasserbau erworben wurden, bezeichnet.114 Vermuyden verzichtete jedoch auf alles humanistische Pathos und bemüht auch nicht die Religion als Legitimation für seine ambitionierten Pläne: Es ist vielmehr die Natur selbst, die ihm die Maßstäbe für sein Handeln liefert, indem er behauptet, er plane in den Fenlands nichts anderes, als die Natur zu ihrem ursprünglichen, guten, nützlichen und damit »richtigen« Zustand – zum Urzustand – zurückzuführen: »as anciently nature brought it.«115 Die Schrift Vermuydens provozierte überaus kontroverse Reaktionen, die sich in einem kaum zu überblickenden publizistischen Schlagabtausch manifestierten, der wiederum charakteristisch für die Intensität der politischen Debatte am Vorabend des englischen Bürgerkriegs war.116 Ein anschauliches Beispiel für die Art und Weise, wie sich Landbesitzer und »Gentlemen« in einer bewusst laienhaften, gegen die Technokratie der Ingenieure gerichteten Manier als Vertreter des wahren Englands inszenierten, stellt der 1652 erschienene »The English Improver Improved« des parlamentarischen Offiziers Walter Blith (1605–1654) dar.117 Das republikanische Pathos, mit dem Blith und sein Verleger das Werk rhetorisch und ikonographisch ausschmückten, kann nicht darüber hinwegtäuschen, in welch hohem Maß der Autor die Arbeit des »Improvements« als Leistung und Verpflichtung eines quasi-monarchisch regierenden Einzelnen begreift, der allein in der Lage ist, die dem Gemeinwohl entge112 Cornelius Vermuyden, A Discourse touching the Drayning the Great Fennes […]. London 1642. 113 Vermuyden, Discourse, 2, 7. 114 Vermuyden, Discourse, 3. 115 Vermuyden, Discourse, 16f. 116 Zu den geistesgeschichtlichen Dimensionen der Auseinandersetzungen: Eric H. Ash, Amending Nature: Draining the English Fens, in: Lissa Roberts, Simon Schaffer, Peter Dear (Hrsg.), The Mindful Hand. Inquiry and Invention from the Late Renaissance to the Early Industrialisation. Amsterdam 2007, 117–143; zu Vermuyden: 130f. 117 Walter Blith, The English Improver Improved or the Survey of Husbandry Surveyed. London 1652.

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genstehenden Einzelinteressen, den Unwillen und vor allem das Unwissen der Bevölkerung zu überwinden.118 In dieser Hinsicht unterscheiden sich monarchischer und republikanischer Wasserbau also kaum voneinander; sehr viel eindeutiger zeit- und regimetypisch erscheint hingegen die unmissverständlich puritanische Färbung von Bliths Argumentation: Die Entwässerung der Fens, durch die dem Land das Gift entnommen, es nicht nur der landwirtschaftlichen Nutzung zugeführt, sondern gleichsam gereinigt wird,119 bewirkt seine Rückführung zu »perfect purenesse«,120 die Umwandlung ganz Englands zum »paradise of the world«121 und eine größere, ja eine ursprüngliche Nähe der »nation« zu Gott: »to the great Majesty, the great Husbandman, God himselfe«.122 Mit dieser Veränderung des Landes, die ja nicht als Neuentwicklung, sondern als die Wiederherstellung eines vorbildhaften Urzustandes beschrieben wird, geht eine Umerziehung des Menschen einher: der Weg von der Dunkelheit menschlicher Vorurteile zum Licht der Gotteserkenntnis, vom Nichtwissen zum Wissen, von der Untätigkeit zum Fleiß. Obwohl also das bei Blith entworfene Entwässerungsprojekt sehr viel mehr als lediglich eine sozial und kulturell desinteressierte »Gebrauchsanweisung« darstellt, sondern vielmehr Teil eines umfassenden politischen, gesellschaftlichen und religiösen Programms, sind die im engeren Sinne hydraulischen Projekte, die er in Vorschlag bringt, alles andere als radikal; der konstante Rekurs auf die göttliche Schöpfung und den allgemeinen – meist wirtschaftlich definierten – Nutzen impliziert vielmehr, dass Blith technisch eher bescheidene Pläne favorisiert wie die Vertiefung von Flussbetten, die Erhöhung von Flussufern oder die Demontage von Wassermühlen.123 Das englische Schrifttum zur Hydraulik vornehmlich des 17. Jahrhunderts lässt sich als Schlagabtausch zwischen einem kontinental- bzw. südeuropäisch geprägten, auf Größe und Eindruck abzielenden, tendenziell royalistischen oder hochadligen Diskurs und einem explizit autochthonen, sich auf traditionelle Techniken und ästhetische Ideale berufenden und im verfassungsrechtlichen Sinne aristokratischen Diskurs beschreiben. Trotz oder vielmehr gerade wegen der massiven Unterstützung einer Architektur und eines Ingenieurswesens, die bei süd- und westeuropäischen Vorbildern Anleihen machten und sich als Fortsetzung und Vollendung einer gemeineuropäischen Bautradition begriffen, durch die Dynastie der Stuarts war die Vorstellung von »gutem Wasser« bzw. angemessener Hydraulik, die sich im frühneuzeitlichen England durchsetzte, eine gänzlich andere. In Stephen Blakes 1664 erschienenem Lehrbuch des Gar118 119 120 121 122 123

Blith, Improver, A2, 43, 52. Blith, Improver, 32, 46f. Blith, Improver, A2. Blith, Improver, d3. Blith, Improver, 3. E. g. Blith, Improver, 44, 53–57.

Das Wasser der Techniker

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tenbaus, »The Compleat Gardeners Practice«, fanden diese Vorstellungen ihren gültigen Niederschlag.124 Im Vergleich mit Worlidges »Systema Horti-Culturae« wird deutlich, was diesen in vieler Hinsicht prononciert »eigensinnigen« englischen Wasserdiskurs ausmachte: Die Widmung an ein unbetiteltes Parlamentsmitglied, William Ouglander,125 und damit die Ansprache der niederadligen »Gentry« und eben nicht der hochadligen »Peerage« als derjenigen Gruppe innerhalb der Aristokratie, die in politischer, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht die eigentlich tonangebende Schicht Englands darstellte und die die Vorstellung dessen, was Adeligkeit ausmachte, wesentlich prägte; die offensive Distanz zu theoretischen Reflexionen und die gleichzeitige Betonung der Praxis als des eigentlichen und wertvollen Wegs zu Erkenntnis und Erfolg;126 die unmittelbare und sehr elaborierte Verknüpfung des Gartenbaus mit religiösen Vorstellungen – die Arbeit an der Schöpfung Gottes und das Wissen um die Gesetzmäßigkeiten der Natur werden gleichermaßen als Verpflichtung und als Praxis der Gotteserkenntnis beschrieben;127 für den Gartenbau und die Landschaftsgestaltung gilt bemerkenswerterweise nicht das Wasser als das zentrale Element, sondern vielmehr die Luft;128 und schließlich befürwortet Blake hinsichtlich des Umgangs mit Wasser im Garten, der Anlage von Gräben und der Methode, das Wasser von einem Ort zum anderen zu führen, möglichst einfache, unaufwändige Mittel.129 Nur, wenn diese Maximen berücksichtigt werden, vermag die Arbeit des Gärtners das, was ihr eigentliches Ziel ist: die Vermehrung der »nobility of this nation«.130

3.

Zusammenfassung

Die hier untersuchten Wasserdiskurse, die vornehmlich aus dem Europa des 17. Jahrhunderts stammten, wiesen sehr unterschiedliche Grade der Anpassung an den höfischen Kontext und der Orientierung am Repräsentationsbedürfnis des Hochadels und des von ihm gepflegten demonstrativen Konsums auf: In Italien, in Frankreich und im südlichen Reich existierte ein eher technische Sicht auf das Wasser, deren Träger mehrheitlich Ingenieure und Hydrauliker im 124 Stephen Blake, The Compleat Gardeneres Practice, Directing the Exact Way of Gardening. In three Parts. […]. London 1664. 125 Blake, Practice, A2r. 126 Blake, Practice, A2v. 127 Blake, Practice, A3r–v. 128 Blake, Practice, 4: »[…] earth and water are that whereof bodies are made; but air is that which giveth life and vertue to all things that are sensible and insensible.« 129 Blake, Practice, 3. 130 Blake, Practice, A3v.

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engeren Sinne waren; sie beriefen sich vor allem auf die griechische und hellenistische Naturphilosophie, und ihre Schriften richteten sich primär an ein städtisches und akademisches Publikum. Daneben entwickelten Architekten und Gärtner eine Wasserkonzeption, die auf der römischen Antike und vor allem der Kaiserzeit basierte und die sich eher an einen höfisch-aristokratischen Adressatenkreis richtete. In ihrer Perspektive war das »große« und »aufwendige« Wasser, das in gewissem Sinne unnatürliche und durch höchsten technischen Aufwand transformierte Wasser, erst »gut« – im Sinne von repräsentativ. Allein im deutschsprachigen Raum evozierten Ingenieure mythologische oder christliche Kontexte, um sich selbst und ihr Tun in einen größeren Bedeutungszusammenhang zu stellen, das heißt die romanische Wasserkultur sowie die Strategien der sozialen Positionierung ihrer Experten waren immanent, während die Versuche der Selbstnobilitierung deutscher Hydrauliker transzendente Anklänge aufwiesen. Die englische Wasserkultur hingegen war ein Medium neben vielen anderen, das Experten bemühten, um der Imagination einer ganz eigenen, unverfälschten »Englishness« Substanz zu verleihen: In ihren Augen unterschied sich die englische Hydraulik fundamental von der gemeineuropäischen Wasserbautechnik – sie war nicht antik, nicht akademisch und entsprach damit eigentlich den Gegebenheiten und Normen der Natur. Selbstverständlich gab es auch im südlichen und westlichen Europa der Frühen Neuzeit Stimmen, die die traditionellen Maßnahmen der Wasserversorgung oder des Hochwasserschutzes, wie sie – als Erfahrungswissen – von Bauern oder großen Klöstern praktiziert und überliefert worden waren, den »neuen« Techniken der Akademiker vorzogen, doch diese Art des Umgangs mit Wasser galt in Italien, Frankreich oder dem südlichen Reich in zunehmendem Maße als unzureichend. In England jedoch wurde der tradierte bzw. als solcher apostrophierte Wasserbau rhetorisch und vor allem religiös überhöht und offenbarte damit eine ganz eigene Vorstellung vom richtigen Umgang mit der als Schöpfung verstandenen Natur : Anstatt sie mit allen Kräften des Verstands, des »ingeniums« oder der Ingenieurskunst weiterzuentwickeln und damit zu vervollkommnen – sie also durch massive Veränderung gleichsam wieder paradiesisch zu machen –, musste es dem Menschen darum zu tun sein, sie möglichst so zu bewahren, wie man sie vorgefunden hatte – sie also durch Konservierung gleichsam paradiesisch zu erhalten. Damit erscheint das englische Wasser in vieler Hinsicht als weniger elitär als das der Südeuropäer ; zugleich war es jedoch in gleichem Maße aristokratisch, nur war es eben an einer deutlich anders gearteten Adelskultur ausgerichtet. Zugleich heißt das jedoch auch: Im Europa der Frühen Neuzeit strebte jedes Wasser – auf seine Weise – nach Vortrefflichkeit.

Chandra Mukerji

Unpersönliche Herrschaft und der Canal du Midi*1

Wasser ist ein weithin unterschätztes Instrument politischer Macht. Seine nützlichen Eigenschaften – die ich als aktive oder handelnde Eigenschaften bezeichnen möchte – sind so wichtig für das Leben der Menschen, dass hydraulische Infrastrukturen in der Lage sind, soziale Beziehungen zu formen und Macht zu vermitteln.2 Wasser wird verwendet, um Mühlen zu betreiben, Schiffe zu transportieren, Tiere zu tränken, Felder zu bewässern, Abfall zu beseitigen und Wäsche zu waschen. Doch Wasser ist nicht lediglich eine Notwendigkeit für die Ernährung von Lebewesen, es handelt zugleich unabhängig vom menschlichen Willen auf eine Art und Wiese, die ihrerseits soziale Möglichkeiten beeinflusst. Es fließt und überflutet, es läßt sich nicht einsperren und überschreitet Grenzen, indem es über sie hinweg und um sie herum fließt; oder es sammelt sich an tiefgelegenen Punkten, es läßt sich mit Hilfe von Brunnen anzapfen, oder es verschwindet im Sand. Die physikalischen Eigenschaften des Wassers lassen sich mit Hilfe von Technik für die Ansprüche menschlicher Gemeinschaften nutzbar machen, wodurch sie die Handlungsmöglichkeiten einzelner, ebenso wie die Macht politischer Regimes, verstärken. Aber Wasser kann auch unberechenbar sein, indem es der menschlichen Kontrolle Widerstand leistet oder sich ihr entzieht. Sowohl die dem Wasser eigenen Kräfte als auch die Schwierigkeiten, die mit seiner Kontrolle verbunden sind, sind die Gründe dafür, dass die Technik des Wasserbaus ein Instrument politischer Macht sein kann, ebenso wie ein Medium der Legitimation von unpersönlicher Herrschaft.

* Aus dem Englischen von Christian Wieland. 1 Ich danke dem CASBS und dem UCHRI für die finanzielle Unterstützung dieser Forschung. 2 Vgl. z. B.: John Lansing, Priests and Programmers. Technologies of Power in the Landscape of Bali. Princeton 1991; William Cronon, Nature’s Metropolis. Chicago and the Great West. New York 1992, Kap. 5.

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1.

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Der Canal du Midi

Die Bedeutung des Wassers für die Regierung und Verwaltung wurde im Frankreich des 17. Jahrhunderts offensichtlich, als der Staat die Konstruktion eines Kanals durch das Languedoc autorisierte – des Kanals, der schließlich als Canal du Midi bezeichnet werden sollte. Der König, Ludwig XIV., enteignete für dieses Projekt Land, das er vom örtlichen Adel beschlagnahmte, und der Kanal selbst veränderte die Lebensformen in seiner Umgebung, indem er traditionelle Machtverhältnisse auflöste. Er veränderte den Verkehr, die Produktion, die Position von Mühlen, den Transport der Post und das, was die Menschen mit ihrer Wäsche taten – er veränderte das alltägliche Leben der Menschen durch die unpersönliche Ausübung von territorialer Herrschaft. In etwa 20 Jahren, zwischen 1663 und 1684, wurde dieser schiffbare Kanal mit einer Länge von 240 Kilometern und 50 Schleusen quer durch das Languedoc gegraben, unmittelbar nördlich der Pyrenäen.3 Das Projekt erschien – im Horizont des formalen hydraulischen Wissens der Zeit – in technischer Hinsicht unmöglich, und folglich handelte es sich bei der Wasserstraße um eine Demonstration von derartig außergewöhnlichen technischen Fertigkeiten, dass der Kanal nach seiner Fertigstellung als »Weltwunder« bezeichnet wurde. Der Canal du Midi war in der Tat bemerkenswert, insofern er den Transport großer Schiffe über weite Distanzen der trockenen Landschaft der Region ermöglichte, wobei die Schiffe über Wasser glitten, das sich um Berge herum und durch Ebenen in einer Weise bewegte, in der Wasser normalerweise nicht floß. Von den Zeitgenossen wurde er oft als Canal des deux Mers bezeichnet, der zwei Meere miteinander verband, weil er die kontinentale Wasserscheide überwand und die Garonne bei Toulouse (die bis zum Atlantik schiffbar war) mit dem Mittelmeer beim neuen Hafen von B¦ziers verband. Er war ein Modell für territoriale und unpersönliche Herrschaft, die als Symbol für den König und seine Regierung stand, das sich jedoch zugleich weit entfernt von der Person des Monarchen befand. Der Canal du Midi war das ehrgeizigste und teuerste technische Projekt der Regierung Ludwigs XIV., und er wurde als Beweis für die Fähigkeit des Königs gefeiert, das antike Erbe Frankreichs wiederzubeleben und den Ruhm Galliens wiederherzustellen. Der Kanal gehörte in den kulturellen Zusammenhang des Strebens des Königs nach imperialer Herrschaft und seiner propagandistischen Bemühungen, Frankreich mit Rom gleichzusetzen. 3 Jean-Denis Bergasse (Hrsg.), Le Canal du Midi, 4 Bd.e. Cessenon 1982–1986; Chandra Mukerji, Impossible Engineering. Technology and Territoriality on the Canal du Midi. Princeton 2009; Andr¦ Maistre, Le canal des deux-mers. Canal royal du Languedoc, 1666–1810. Toulouse 1968; L. T. C. Rolt, From Sea to Sea. The Canal du Midi. London 1973.

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Eine materiale Politik war in diesem Zeitalter sinnvoll, da die Humanisten die Größe Roms mit Dingen in Verbindung brachten. Bücher und Ruinen waren materielle Überreste, die zeigten, wie gut das römische Reich logistische Macht für politische Zwecke eingesetzt hatte. Die französische Verwaltung unter dem Minister Ludwigs XIV., Jean-Baptiste Colbert, studierte diese Praktiken und bemühte sich, sie zu imitieren.4 Der Wasserbau beanspruchte einen zentralen Ort innerhalb der kulturellen Genealogie, die man zwischen dem alten Rom und dem modernen Frankreich konstruierte. Wasser war zentral für die Sicht auf Rom im 17. Jahrhundert, ebenso wie für die Politik Colberts, Technik zu verwenden, um dem Staat am Canal du Midi zur Macht zu verhelfen.5 Die Anlage eines Kanals im Languedoc war ebenso Teil eines größeren politischen Programms zur Machtsteigerung der Monarchie durch die Verwendung von Instrumenten unpersönlicher Herrschaft. Gerade im Languedoc war die Wendung zu logistischer Politik von besonderer Bedeutung, weil die Macht der nördlichen Monarchie in dieser Region während der Religionskriege empfindlich geschwächt worden war. Gehorsam gegenüber dem Monarchen war eine politische Pflicht, jedoch keineswegs ein Automatismus für rebellische Aristokraten, die regelmäßig die Befehle des Königs ignorierten oder umgingen. Es war eben dieser Ungehorsam, der Colbert anspornte, nach alternativen Wegen zu suchen, die Staatsmacht zu intensivieren, und auf materiale Methoden der territorialen Herrschaft sowie juristische Praktiken zurückzugreifen, die die Beziehung der Menschen zum Land und zum Recht entpersonalisierten.6 Das aus diesen Praktiken resultierende System ist – ironischerweise – staatlicher Absolutismus genannt worden, oder auch eine gesteigerte Form persönlicher Herrschaft. Doch der persönliche Wille Ludwigs XIV. wurde in diesem Zeitraum nur deswegen effektiver als zuvor umgesetzt, weil die Regierung die patrimoniale Ordnung mit unpersönlichen Formen der Herrschaft untergrub.7 Die 4 Ann Blair, Too Much to Know. Managing Scholarly Information before the Modern Age. New Haven 2010; Peter N. Miller, Peiresc’s Europe. Learning and Virtue in the Seventeenth Century. New Haven 2000; Ch¦rine G¦bara, Jean-Marie Michel, L’aqueduc romain de Fr¦jus. Sa description, son histoire et son environnnement. Revue arch¦ologique de Narbonnaise, supplement 33. Montpellier 2002. 5 Lesley Adkins, Roy Adkins, Handbook to Life in Ancient Rome. New York 1994; Pamela O. Long, Openness, Secrecy, Authorship. Technical Arts and the Culture of Knowledge from Antiquity to the Renaissance. Baltimore 2001. 6 Vgl. z. B. Chandra Mukerji, The Great Forest Survey of 1669–1671, in: Social Studies of Science 37, 2007, 227–253. 7 Die meisten Autoren legen ihren Schwerpunkt auf Colberts Wirtschaftspolitik und vernachlässigen seine weitergehenden Experimente in bezug auf territoriale Herrschaft. Vgl. z. B. die klassische Darstellung: Charles W. Cole, Colbert and a Century of French Mercantilism. Hamden 1964. S. auch: InÀs Murat, Colbert. Charlottesville 1984; Philippe Minard, La fortune du colbertisme. Êtat et industrie dans la France des LumiÀres. Paris 1998; Julian Dent, Crisis in Finance. Crown, Financiers, and Society in Seventeenth-Century France. New York 1983.

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Agenten des Staates vermieden soweit wie möglich die persönliche Konfrontation, gegenüber der die Gegner des Königs Widerstand leisten konnten, und nutzten rechtliche Präzedenzfälle und Infrastrukturprojekte, um eine schwache Monarchie in staatlichen Absolutismus zu verwandeln. In dieser Phase patrimonialer Politik in Frankreich zirkulierte Macht gewöhnlich in sozialen Netzwerken und wurde nicht aus der Umgestaltung der Landschaft, aus beschriebenem Papier oder Bibliotheken abgeleitet. Die Politik des Königs galt als Ausdruck des göttlichen Willens, nicht als das Produkt von Wissen über die Natur und Ausfluss irdischer Praktiken. Wie Sharon Kettering8 gezeigt hat, wurde die patrimoniale Macht in Frankreich mithilfe sozialer Netzwerke ausgeübt, die durch die Zirkulation von Informationen und Gunsterweisen stabilisiert wurden. Und wie William Beik9 argumentiert hat, besaßen Adelsfamilien einen hohen Grad an Autonomie innerhalb ihrer Regionen und wehrten erfolgreich Einschränkungen seitens des Staates und des Königs ab. Folglich war die französische Monarchie chronisch schwach, und dies wurde im Zusammenhang mit der Fronde in der Jugend Ludwigs XIV. deutlich, als mächtige Adlige und Angehörige des Bürgertums sich gegen die Regierung erhoben. Obwohl die Frondeurs schließlich besiegt werden konnten, hatte ihre Erhebung doch gezeigt, wie fragil die Natur der königlichen Macht in Frankreich war. Insofern begab Ludwig XIV. sich, als er den Thron bestieg, in eine Situation politischer Verwundbarkeit. Es war Colberts Aufgabe, dies zu ändern, was er systematisch und effektiv tat, indem er Techniken unpersönlicher Herrschaft anwandte. Jacob Soll10 hat eine Methode, die Colbert nutzte, beschrieben: die Sammlung und Analyse von historischen juristischen Dokumenten. Soll argumentiert, dass der Klerus ebenso ein Problem für Ludwig XIV. darstellte wie der Adel. Der König verfügte über keine direkten Zwangsmittel zur Unterordnung der französischen Kirche unter die Krone, so dass es an Colbert war, eine rechtliche Grundlage zu schaffen, indem er der römischen Praxis folgte, juristische Archive zu nutzen, um diejenigen, die rechtliche Macht ausübten, zu disziplinieren. Frankreich war im 17. Jahrhundert größtenteils von Klerikern verwaltet worden. Zwei lange Regentschaften während der Minderjährigkeit junger Könige, darunter Ludwig XIV., hatten dazu geführt, dass die Kardinäle Richelieu und Mazarin den französischen Staat leiteten, wodurch die Autorität der Kirche über die französische Politik gestärkt wurde – was die Kardinäle wiederum durch Gesetzte normierten. Colbert strebte danach, diese Situation zu revidieren, aller8 Sharon Kettering, Patrons, Brokers and Clients in Seventeenth-Century France. New York, Oxford 1986. 9 William Beik, Absolutism and Society in Seventeenth-century France. State Power and Provincial Aristocracy in Languedoc. Cambridge 1985. 10 Jacob Soll, The Information Master. Jean-Baptiste Colbert’s Secret State Intelligence System. Ann Arbor 2009.

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dings nicht durch eine direkte Konfrontation mit dem Klerus, sondern vielmehr, indem er ihn umging – durch eine bestimmte Form unpersönlicher Macht. Er sammelte juristische Dokumente und beauftragte einen Bibliothekar damit, sie zu untersuchen, um mithilfe von Präzedenzfällen die letztgültige Autorität der französischen Könige seit Karl dem Großen über die Politik in Frankreich zu etablieren. Bücher und Archive wurden bürokratische Waffen der politischen Kriegführung, ebenso wie die Transformation des Territoriums durch Technik. Diese Geschichte von der Schwäche der Monarchie und des Rückgriffs auf juristische Dokumente zur Unterordnung des Klerus unter den König wiederholte sich im Languedoc mit der Konstruktion des Canal du Midi und der Unterwerfung des örtlichen Adels. Die persönliche Autorität des Königs in der Region war geschwächt, doch er besaß nach wie vor das Recht, Land zu beschlagnehmen, sowie die Verpflichtung, als guter Verwalter seines Königreichs zu handeln. Zudem hatte er die Macht, ein Infrastrukturprojekt in Auftrag zu geben, das die Macht des Adels über das Land wirkungsvoll einschränkte. Wasser und Steine, ebenso wie Papiere und Bücher, waren überraschende, nichtsdestoweniger effektive Instrumente der Regierung, und sie wurden wirkungsvoll im Languedoc eingesetzt, um die Rivalen des Königs in die Schranken zu weisen. Das Languedoc war eine Region, in der Adel und Bauernschaft gleichermaßen einen bemerkenswert hohen Grad an Unabhängigkeit von der Krone besaßen. Das Languedoc war durch die Religionskriege stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Städte waren abwechselnd von Katholiken und Hugenotten erobert worden, Familien wurden entwurzelt, Bauwerke zerstört, Felder niedergebrannt und Leben vernichtet. Der König hatte es schließlich vermocht, die Aufstände der Hugenotten niederzuwerfen, wodurch jedoch eine Kluft zwischen der katholischen Monarchie und dem hugenottischen Adel entstanden war, der einen großen Teil der Region beherrschte. Auch nach dem Ende des Krieges sahen zahlreiche Mitglieder der lokalen Elite nach wie vor keinen Grund, sich einem König unterzuordnen, der für eine Religion stand, die in ihren Augen korrupt war. Eliten hatten formale Verpflichtungen gegenüber dem König, aber sie tendierten dazu, Edikte aus Paris schlicht zu ignorieren.11 Die Bauern auf der anderen Seite nutzten, wie James Scott es genannt hat, die »Waffen der Schwachen«,12 um Repräsentanten des Königs fernzuhalten, indem sie Steuerpächter töteten oder doch massiv bedrohten.13 In dieser unruhigen, gewaltbereiten und aufrührerischen Region machte ein 11 Mack P. Holt, The French Wars of Religion, 1562–1629. Cambridge, New York 2001. 12 James Scott, Weapons of the Weak. Everyday Forms of Peasant Resistance. New Haven 1985. 13 Louis de Froidour, Les Pyren¦es centrales au XVIIe siÀcle. Lettres ¦crites […] — M. de H¦ricourt […] et — M. de Medon […]. Auch 1899; Mukerji, Engineering.

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Salzsteuerpächter, Pierre-Paul Riquet, den Vorschlag, einen schiffbaren Kanal zu anzulegen, der das Mittelmeer mit der Garonne und damit dem Atlantik verbinden sollte. Es war die ideale Gelegenheit für Colbert, die regionalen sozialen Strukturen durch eine Umwandlung der dortigen Infrastruktur zu verändern. Riquet erschien ebenfalls als geeignete Person für das Projekt, denn in seiner Eigenschaft als Steuerpächter war er bereits ein Subunternehmer, der die schmutzige Arbeit für den Staat übernahm. Er hatte die gabelle oder Salzsteuer gepachtet, die am meisten verhaßte Steuer von allen, und es gelang ihm, trotz des lokalen Widerstands beeindruckende Einkünfte durch sein Steuergeschäft zu erzielen. Riquet schlug vor, einen Kanal zu bauen, der breit genug für den Transport von Kriegsschiffen sein sollte, was nicht nur – explizit – bedeutete, dass die französische Flotte sich zwischen zwei Meeren bewegen konnte, ohne die gefährliche Meerenge von Gibraltar passieren zu müssen, sondern – implizit – hieß, dass die politische Macht des Staates dauerhaft im Languedoc etabliert werden würde. Die Eliten in dieser aufrührerischen Gegend Frankreichs widersetzten sich dem Projekt, da sie befürchteten, dass dadurch ihre Stellung bedroht und ihre Kontrolle über das Land eingeschränkt werden würde. Aber das Projekt erschien dem König und Colbert ebenso attraktiv, wie es die Bewohner vor Ort abschreckte. Der Minister hatte eine Methode gefunden, mit deren Hilfe er Mechanismen des Alltags im Languedoc beenden konnte, die die Autonomie des Adels von der Zentralregierung abschirmten, indem er dem König neue Mittel an die Hand gab, seinen Willen gegenüber widerspenstigen Untertanen durchzusetzen.14 Riquet mag ein guter Steuereinnehmer gewesen sein, ein Ingenieur jedoch war er nicht. Dennoch war er in der Lage, das Projekt eines schiffbaren Kanals durch das Languedoc zu entwerfen, weil er die Region im Zusammenhang mit Steuergeschäften bereist und hier Beispiele von ausgefeilter lokaler Wasserbautechnik kennengelernt hatte. Auf den Bergen und in den Tälern des Languedoc, mit seinen nassen Sommern und trockenen Wintern, konnte Wasser im Überfluss vorhanden sein oder ganz fehlen, und so wurde es häufig an Quellen oder Flüssen aufgefangen und dorthin transportiert, wo es gebraucht wurde. Das Languedoc war gleichsam durchlöchert mit Gräben und Kanälen, die Wasser in die Städte, auf die Felder und zu Mühlen brachten. Ein schiffbarer Kanal erschien wie eine größere Version von bekannten kulturellen Formen. Das Languedoc besaß ein reiches Wissen über antike Wasserbautechniken; dies lag hauptsächlich an den römischen Badeorten, die in der Umgebung der 14 Mukerji, Canal; Michel Adg¦, L’art de l’hydraulique, in: Conseil d’architecture, d’urbanisme et de l’environment de la Haute-Garonne, canal royal de Languedoc. Le partage des eaux. Caue 1992, 202–203.

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heißen Bergquellen der Pyrenäen entstanden waren. Die Bäder gab es nicht mehr, aber das hydraulische System existierte nach wie vor und wurde in modifizierter Form von Bauersfrauen für ihre eigenen Zwecke verwendet, vor allem für das Wäschewaschen an öffentlichen Orten und in Privathäusern.15 Im Languedoc lagen zudem zahlreiche Mühlen, die entweder von eigens für Mühlgräben angelegten Kanälen angetrieben wurden oder von teilkanalisierten Flüssen, in die einfache Schleusen eingebaut worden waren, um Stromschnellen zu umgehen. In einigen Gegenden existierten zudem zahlreiche Kanäle, die Bewässerungszwecken oder aber der Wasserversorgung von Städten und Privathäusern bzw. für Wäschereien dienten. In der Region gab es zudem mehrere Ingenieursschulen, in denen das damalige begrenzte formale Wissen über Wasserbau gelehrt wurde. Eines der Mitglieder der Fakultät der Schule von Castres in der Montagne Noire, Pierre Borel, hatte sogar den Plan, die wichtigsten Wasserläufe des Languedoc mit Kanälen untereinander zu verbinden, um so ein schiffbares System für die ganze Region zu schaffen. Das Projekt scheiterte lediglich daran, dass Borel seine Stellung verlor, weil er Hugenotte war. Landbesitzer weigerten sich, ihr Land zur Verfügung zu stellen, damit ein Infrastrukturprojekt realisiert werden konnten, und Borel ging nach Paris.16 Riquet besaß selbst Land und eine Mühle in der Nähe von Castres, und er erkannte den Wert von Borels Plan zur Integration der Wassersysteme. So schlug der Steuerpächter den Bau eines schiffbaren Kanals an der Stelle vor, an der Borel ihn lediglich imaginiert hatte. Riquet wusste so wenig über Wasserbautechniken, dass er wahrscheinlich nicht einmal realisierte, wie komplex das hydraulische System war, das er vorschlug, und dass es technisch unmöglich war, wenn man das formale Ingenieurswissen seiner Zeit zugrunde legte. Er nahm lediglich an, dass Borel wusste, dass es möglich sei, und er war überzeugt von den Fertigkeiten der Arbeitskräfte vor Ort.

2.

Wasser und die Politik der unpersönlichen Herrschaft

Die Geschichte des Canal du Midi stellt ein interessantes Beispiel für den Übergang zur unpersönlichen Herrschaft und die Indienstnahme des Wassers für das politische System Frankreichs dar. Die Fertigstellung dieser Wasserstraße demonstrierte auf überzeugende Weise, dass unpersönliche Formen der 15 Chandra Mukerji, Women Engineers and the Culture of the Pyrenees, in: Pamela Smith, Benjamin Schmidt (Hrsg.), Knowledge and Its Making in Europe, 1500–1800. Chicago 2008. 16 Anne Blanchard, Michel Adg¦, Jean-Denis Bergasse, Les ing¦nieurs du roy, in: Bergasse, Canal IV, 181–194.

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Herrschaft als Gegengewicht zu patrimonialer Politik dienen konnten, indem Adligen die Kontrolle über die Region durch einen Wandel in der Hydrologie entzogen wurde. Riquet war selbst überrascht von der politischen Wirksamkeit eines infrastrukturellen Wandels, und er prahlte gegenüber Colbert damit, wieviel er für den König leistete. Mit diesem Enthusiasmus war er zwar ein Gewährsmann für die Wirksamkeit unpersönlicher Herrschaft, aber Riquet beging damit zugleich einen politischen Fehler, der seine Naivität enthüllte. Entsprechend der Grammatik patrimonialer Herrschaft war er ein Diener des Königs, der die Macht, den Kanal zu bauen, vom Monarchen ableitete, er verlieh jedoch dem König keine Macht. Zur Strafe für diese Indiskretion wurde Riquet politisch marginalisiert und von Colbert als gefährlich gebrandmarkt. Jedoch indem er bemerkte, wie sehr der Kanal das soziale Leben in seiner Umgebung veränderte, lieferte er den Beweis für die Effektivität des Wassers als eines Machtinstruments.17 Sozialhistoriker und Soziologen, vor allem diejenigen, die vom Marxismus oder von der Weltsystem-Theorie beeinflusst sind,18 haben die Bedeutung von Land für Machtverhältnisse unterstrichen, Wasser jedoch kennen die meisten sozialen Theorien nicht als ein wichtiges politisches Gut.19 Dennoch waren Wasserversorgungssysteme für Staaten von jeher ebenso notwendig wie Land.20 Zudem besitzt Wasser zahlreiche interessante Eigenschaften und läßt sich vielfältig verwenden. Weil Wasser flüssig ist, verhält es sich anders als feste Materie wie Felsen oder das Erdreich. Insofern stellt Wasser besondere Herausforderungen für die Ingenieurskunst und Technik dar, und es besitzt besonderes Potential für das soziale Leben, wie es eine wichtige Quelle für sozialen Wandel sein kann – so wie am Canal du Midi im Frankreich des 17. Jahrhunderts. Der Bau des Canal du Midi steigerte die politische Legitimität des Staates trotz des kulturell induzierten Widerstands gegen das Projekt innerhalb der Region. Die Wiederherstellung der Natur durch eine tugendhafte Regierung war religiös sanktioniert. Es war eine moralische Verpflichtung für gute Christen und tugendhafte Obrigkeiten, die Landschaft zu der Vollkommenheit zurückzuführen, die sie im Garten Eden ausgezeichnet hatte. Es galt zudem als möglich, das Land 17 Mukerji, Engineering. 18 Vgl. z. B.: Immanuel Wallerstein, The Modern World System. New York 1974; Charles Tilly, The Formation of National States in Western Europe. Princeton 1975; Michael Mann, Sources of Social Power. New York, Cambridge 1986; Patrick Carroll, Science, Culture and Modern State Formation. Berkeley 2006; Patrick Joyce, The Rule of Freedom: Liberalism and the City in Britain. London 2003; David Parker, The Making of French Absolutism. London 1983. 19 Michael Mann spricht sogar von Logistik: Mann, Power. 20 Vgl. Lansing, Priests, und Cronon, Metropolis. Zur Verbindung von auf Wasser basierender Macht und der Kontrolle des Landes: Karl Appuhn, Forest on the Sea. Environmental Expertise in Renaissance Venice. Baltimore 2009.

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friedlicher und ertragreicher zu machen, weil Adam nach dem Ebenbild Gottes geschaffen worden war, ausgestattet mit der Fähigkeit, seine Schöpfung zu verstehen.21 Die Vorstellung von guter Verwaltung und der Rückführung der Natur zu paradiesischen Urzuständen existierte in vielen Teilen Europas, und sie ist häufig als Teil einer protestantischen Kultur identifiziert worden. In Frankreich wurde allerdings eine Politik von mesnagement und guter Verwaltung mit religiöser Toleranz in Verbindung gebracht und von Katholiken und Protestanten gleichermaßen propagiert. Wenn die Theologen sich nicht darauf verständigen konnten, wie man die Bibel zu lesen hatte, konnten sie immerhin Einigkeit darüber erzielen, wie man die Erde zu beherrschen hatte. Es war eine Verpflichtung aller Nachkommen von Adam und Eva, den Schaden des Sündenfalls zu revidieren. Engländer und Niederländer griffen auf die Idee von der »guten Verwaltung« zurück, um ihre kolonialen Aktivitäten in Übersee zu rechtfertigen. Die Franzosen hingegen bezogen die mesnagement-Politik unmittelbar auf die Wiederherstellung Frankreichs nach den Zerstörungen der Religionskriege. Olivier de Serres22 argumentierte sogar, dass der König seine Rolle als Stellvertreter Gottes auf Erden unter Beweis stellte, wenn er seine ihm von Gott gegebene Intelligenz und seine moralische Energie nutzte, um die Erde zu ihrer wahren Gestalt zurückzuführen.23 Im Licht der Schriften von Serres begann Heinrich IV. damit, mit Formen einer auf das Territorium bezogenen Regierungsführung zu experimentieren, und Colbert imitierte später diesen Politikstil, indem er einen schiffbaren Kanal quer durch das Languedoc graben ließ.24 Weil es sich um einen Kanal aus Wasser handelte, prägte der Canal du Midi die Politik auf unpersönliche Weise. Er war ein Agent des Staates, den man nicht töten konnte, doch er übte einen profunden Einfluss auf das Leben in der Region aus. Man begann, die Post über den Kanal zu transportieren, er förderte den Anbau von Wein, verband die Weber mit denjenigen, die deren Arbeiten zu Endprodukten verarbeiteten, er erleichterte den Lederhandel und trug dazu bei, 21 Vgl. z. B.: Richard Drayton, Nature’s Government: Science, Imperial Britain, and the ›Improvement‹ of the World. New Haven 2000. 22 Olivier de Serres, Le th¦–tre d’agriculture et mesnage des champs. Paris 1600. 23 Chandra Mukerji, Material Practices of Domination. Christian Humanism, the Built Environment and Techniques of Western Power, in: Theory and Society 31, 2002, 1–34; dies., Dominion, Demonstration and Domination. Religious Doctrine, Territorial Politics, and French Plant Collection, in: Londa Schiebinger, Claudia Swan (Hrsg.), Colonial Botany : Science, Commerce, and Politics in the Early Modern World. Philadelphia 2005, 19–33; dies., Demonstration and Verification in Engineering, in: Lissa Robert, Simon Schaffer, Peter Dear (Hrsg.), The Mindful Hand. Inquiry and Invention from the late Renaissance to Industrialization. Chicago, Amsterdam 2007, 169–188. 24 Mukerji, Material; Pierre Pinsseau, Le Canal Henri IV ou Canal de Briare (1604–1943). Orl¦ans 1944.

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die Region insgesamt stärker politisch zu integrieren. Er unterminierte zugleich althergebrachte Formen des alltäglichen Lebens, indem er Straßen unterbrach und Felder durchschnitt, Obstgärten zerstörte und Müllern ihr Geschäft raubte. Schließlich brachte er Geld und einen freien Arbeitsmarkt in eine Region, die bis dahin von den Ständen und bäuerlichen Wirtschaftsformen dominiert worden war. Anwohner, denen diese Veränderungen nicht gefielen, waren mit einem Problem konfrontiert, denn der Kanal war ein Agent des Staates aus Wasser, nicht aus Fleisch und Blut. Sie konnten Widerstand gegen die Wasserstraße leisten, indem sie die Uferbefestigungen des Kanals dort niederrissen, wo er auf erhöhtem Terrain floss, so dass der Transport durch auf Grund gelaufene Schiffe behindert wurde. Aber das Wasser fuhr fort, unbeirrt aus jeder Öffnung an den Seiten des Kanals herauszufließen, und verursachte an tiefer gelegenen Stellen Überschwemmungen, die Städte und Ernten beschädigten, die jedoch keine Gefahr für den König oder die Staatsmacht bedeuteten. Das Wasser im Canal du Midi wurde zu einem unheimlichen Anblick und zum sichtbaren Zeichen einer übermenschlichen Macht, indem es weit entfernt von jeder Quelle floß, sich an den Flanken der Berge entlang bewegte und durch trockenes Land mäanderte. Es stand für den Staat, jedoch weit entfernt von der Person Ludwigs XIV., und es belegte die Fähigkeit des Königs, die Schöpfung selbst umzuformen und als der gute Verwalter seines Königreichs zu dienen. Wasser übte Macht aus und unterhöhlte Muster einer persönlichen Machtausübung, weil es dazu führte, dass Lebensumstände sich änderten, nicht aber, indem es unmittelbar auf die sozialen Akteure einwirkte. Es beruhte nicht auf sozialen Netzwerken oder Patronagebeziehungen, und so entzog es sich den Kontrollmechanismen, die der Adel der Region sowie der Klerus über Jahrhunderte hinweg praktiziert hatten. Diesen Eliten standen keine Waffen zur Verfügung, mit denen sich eine Wasserleitung bekämpfen ließ, die viele Kilometer lang war, die ihr eigenes Land überquerte, die sich aber zugleich weit entfernt befand. Sie hatten keine Möglichkeiten, einem König Einhalt zu gebieten, der das Recht besaß, Land für seine eigenen Zwecke zu beschlagnahmen, der zu einer guten Verwaltung verpflichtet war und der neue Steuern erheben konnte, um Verbesserungen in der Infrastruktur zu finanzieren. Unter diesen Bedingungen war Wasser eine mächtige Waffe, und es veränderte auch das Leben derjenigen grundlegend, die sich lautstark dem Willen des Königs widersetzten.

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3.

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Es braucht Wasser, damit Schiffe schwimmen

Für einen genaueren Blick darauf, wie die Kraft des Wassers für den Staat und den Canal du Midi nutzbar gemacht wurde, möchte ich mich auf das Versorgungssystem konzentrieren, mit dessen Hilfe Wasser dort gesammelt wurde, wo der Kanal die kontinentale Wasserscheide kreuzte.25 Die schiffbare Wasserstraße konnte nur dann funktionieren, wenn sie auf einem hydraulischen System basierte, mit dessen Hilfe sich Wasser in ausreichender Menge dorthin transportieren ließ, wo es gebraucht wurde, so dass Schleusen gefüllt werden konnten, mit deren Hilfe sich Schiffe erheben und senken ließen, während man zugleich die ungebärdige Tendenz des Wassers erfolgreich bekämpfte, aus seinem Bett auszubrechen oder im Boden zu versickern.26 Bereits lange, bevor Riquet sein Projekt vorschlug, war eine Vielzahl von Projekten für einen Kanal durch das Languedoc entworfen worden. Die frühesten stammten von Ingenieuren, die aus Italien nach Frankreich gekommen waren, unter ihnen Leonardo da Vinci. Als Franz I. im Jahr 1515 die Kontrolle über Mailand erlangt hatte, besuchte er die Lombardei und war überrascht von der Vielzahl an nützlichen Kanälen, die er dort vorfand. Im Jahr darauf kehrte er mit Leonardo nach Frankreich zurück und fragte ihn, ob es möglich sei, einen Kanal zu bauen, der die Garonne mit der Aude im Languedoc verband.27

Abb. 1: Das Tal des Languedoc und die Montagne Noire (Fotografie von Christian Ferrer)

Nördlich der Pyrenäen und südlich des Zentralmassivs lag ein großes Tal in west-östlicher Richtung, das – im Prinzip – als Basis eines Kanals dienen konnte, 25 Adg¦, L’art, 202–203. 26 Mukerji, Engineering. 27 Rolt, Sea, 13–16; FranÅois Gazelle, Riquet et les eaux de la Montagne Noire: L’id¦e g¦niale de l’alimentation du canal, in: Bergasse, Canal IV, 143–170.

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wenn man die Garonne im Westen und die Aude im Osten benutzte. Es war nicht ganz so flach wie die lombardische Ebene, aber es ließ sich offensichtlich für einen Kanal verwenden. Das Hauptproblem – laut Leonardo – war, eine ausreichende Wasserversorgung ausfindig zu machen.28 Die Wasserversorgung war von grundsätzlicher Bedeutung für das Projekt, da der Kanal vom Mittelmeer bis zum Atlantik reichen sollte und dabei die kontinentale Wasserscheide oder die pointe de partage des eaux, wie sie schließlich genannt werden sollte, überspannen musste. An dieser pointe de partage floß das Wasser in zwei Richtungen auf die Meere zu, und es musste durch Wasser aus einer höhergelegenen Quelle ersetzt werden. Die Frage war, woher man das Wasser bekommen sollte und wie es sich durch das Languedoc zum Kanal transportieren ließ. Riquet begriff das Problem der Wasserversorgung, und er favorisierte offensichtlich die von Borel vorgeschlagenen Lösung: Der Kanal sollte durch die Berge verlaufen. In der Zeit, in der Borel Ingenieurswesen in Castres unterrichtet hatte, hatte er eine weite Hochebene kennengelernt, die entlang der kontinentalen Wasserscheide in der Nähe von Revel verlief. Er nahm an, dass sich an dieser Stelle ein Kanal errichten ließ, wobei er Flüsse vereinigen wollte, die von dieser gebirgigen Landschaft aus in zwei Richtungen flossen: zum Atlantik und zum Mittelmeer. Dieser Plan lag nicht auf den ersten Blick nahe, denn der Kanal würde so nicht entlang dem wichtigsten west-östlichen Tal des Languedoc verlaufen, sondern stattdessen vor Toulouse in nördliche Richtung abdrehen. Doch ein Kanal in dieser Gegend konnte mit Wasser aus der nahegelegenen Montagne Noire versorgt werden. Riquet erwähnte Borel nie, noch sprach er direkt von seinen Vorschlägen, jedoch er entwickelte seine Idee für einen Kanal gemeinsam mit dem Bischof von Castres, D’Anglure de Bourlemont, und im Jahr 1662 schrieb er an Colbert und schlug ihm im Kern den Plan Borels vor.29 Der Vorschlag interessierte den Minister, doch Colbert wollte, dass eine Kommission von örtlichen Notabeln und Experten ihn auf seine Durchführbarkeit hin überprüfen sollte. Als Sprecher der Kommission berief er den Chevalier de Clerville, und Clerville seinerseits beauftragte einen Ingenieur namens Boutheroue, der den Canal de Briare in der Nähe von Paris konstruiert hatte, mit Riquet zusammenzuarbeiten, um den Plan weiterzuentwickeln. Boutheroue bestand darauf, dass der Kanal im Haupttal des Languedoc verbleiben und bis zur Garonne bei Toulouse weitergeführt werden sollte. Er ging jedoch ebenso davon aus, dass Riquet die Strecke über die

28 Rolt, Sea, 16; Gazelle, Riquet, 143–70, v. a. 147. 29 Mukerji, Engineering, 43–48; Rolt, Sea, 24–26. Pierre Borel ging, nachdem er das Languedoc verlassen hatte, nach Paris und erlangte große Bekanntheit. Er wurde als Chemiker Mitglied der Acad¦mie Royale des Sciences und schrieb über Cartesianische Wissenschaft. Vgl. Joseph Frederick Scott, The Scientific Work of Ren¦ Descartes, 1596–1650. Ann Arbor 2006, 84.

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Abb. 2: Das Gebiet um Revel und Castres (Archives du Canal du Midi, R 21, fol. 4b)

Hochebene von Revel nutzten konnte, um Wasser aus der Montagne Noire für die Versorgung des Canal du Midi heranzuführen.30 Diesem Vorschlag stimmte die Kommission zunächst zu, allerdings unter der Bedingung, dass Riquet beweisen konnte, dass die Wasserversorgung realisierbar war. Die Kommission forderte den Unternehmer auf, zunächst eine rigole d’essai bauen zu lassen, eine kleinere Versuchsversion des Wasserversorgungssystems, um zu zeigen, wieviel Wasser er aus der Montagne Noire bis zur pointe de partage beim Seuil de Naurouze heranführen konnte.31 Als die rigole einige Monate später vollendet war, wurde die Kommission nicht nur Zeuge, wie das Wasser bei Naurouze eintraf, sondern sie erhielt auch eine »Relation particuliere de la rigolle dessay«,32 einen abschließenden Bericht über das Projekt, in dem seine Konstruktion beschrieben wurde.

4.

Die Rigole d’Essai

Wenn man die »Relation patriculiere de la rigolle dessay«33 genauer analysiert, erhält man ein sehr präzises Bild von der Arbeit, über die hier berichtet wird, obwohl es sich bei diesem Text um ein bürokratisches Dokument handelt, mit 30 Mukerji, Engineering, Kap. 3. 31 ACM 2–14; Mukerji, Engineering, 56–59; Brief von Riquet an Colbert, 18. August 1665, ACM 20–21. 32 ACM 2–14. 33 ACM 2–14.

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dem den Kommissionsmitgliedern lediglich offiziell das mitgeteilt wurde, was sie bereits wussten: Riquet war in der Lage, eine ausreichende Menge Wasser an die pointe de partage bei Narouze heranzuführen. Aber die relation war nicht einfach ein Augenzeugenbericht, ein procÀs-verbal, verfasst von ranghohen Männern mit juristischer Ausbildung, die vom Erfolg des Experiments Zeugnis ablegen wollten. Es war vielmehr eine relation oder vielmehr eine Erzählung, in der dargelegt wurde, was getan worden war, warum die Arbeiten sich so lange hingezogen hatten, mit welchen Problemen man zu kämpfen hatte und wie diese Probleme gelöst worden waren. Der Text wurde von einem anonymen Experten verfaßt – ein Mann, von dem ich vermute, dass es sich bei ihm um Riquets jungen Assistenten handelte, Pierre Campnas. Campnas, der Sohn eines örtlichen fontaniers, war derjenige, der die Wasserversorgung ganz wesentlich entworfen hatte. Campnas besaß keine formale Bildung, sondern er war vielmehr ein Lehrling in dem Beruf, den er von seinem Vater erlernte. Er besaß weder die soziale Position noch den Grad an Erfahrung, die dazu geeignet waren, seinen Worten Autorität zu verleihen, aber er war belesen und hinreichend gebildet, um die technischen Probleme und die Lösungen präzise zu beschreiben, die mit diesem Unternehmen zusammenhingen. Für die Autorschaft von Campnas spricht zudem, dass er davon spricht, dass man seine Ideen in Zweifel zog, weil er noch so jung war, doch die rigole d’essai wurde ein Erfolg und zum Beweis für die Richtigkeit seiner Thesen. Die »Relation particuliere de la rigolle dessay«34 ist zugleich ein technisches Dokument, in dem detailliert die Landschaft der Montagne Noire beschrieben wird, ebenso wie sie sich veränderte, indem Wasser von hochgelegenen Quellen über die Ebene von Revel bis nach Naurouze transportiert wurde. Der Autor konzentriert sich hauptsächlich auf die materiellen Akteure wie Felsen und Wasser, wobei er erläutert, wie diese normalerweise auf dem Berg interagieren und so seine charakteristische Landschaft formten, und er legt dar, wie deren Kräfte für den Bau der rigole d’essai überwältigt oder gezügelt wurden. Die Erzählung von menschlicher Macht und Machtlosigkeit in der natürlichen Umwelt würde besonders für einen ländlichen fontanier Sinne ergeben, dessen Aufgabe es war, widerspenstiges Wasser dazu zu bringen, menschlichen Zwecken zu dienen. In der relation behindern Felsen immer wieder den Zugang; Wasser tut, was es will, und verschwindet im Sand; die Erdoberfläche verändert sich in kurzen Abständen und verursacht jeweils neue Probleme in bezug auf Bautechniken oder die Wasserdichte. Riquet und seine Arbeiter versuchen, die Beziehungen zwischen den Dingen zu verändern. Felsen werden bewegt, um das Wasser in eine neue Richtung abwärts fließen zu lassen. Wasserwege werden gewählt, damit das Wasser nicht zu schnell fließt. Alle Arbeiten werden auf Felsen, Sand 34 ACM 2–14.

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und Kies durchgeführt, aber die Parameter der Arbeit werden durch die natürlichen Eigenschaften des Wassers bestimmt. Sogar der Erfolg der Kanalbauer wird durch die Ankunft des Wassers aus der rigole d’essai beim Seuil de Naurouze bemessen. Wasser wird als Material mit agency konserviert, weil es für den Transport von Schiffen benötigt wird, ebenso wie für den Fluss durch Schleusen bis hin zum Meer. »Erfolg« bedeutet die Übertragung dieser agency, dieser handelnden Eigenschaften, auf den Staat. Wasser wird zum Instrument unpersönlicher Herrschaft. Riquet begann mit der Arbeit an der rigole d’essai im Mai 1665, doch die Arbeit machte nur langsame Fortschritte, so dass die Wasserstraße erst im Oktober fertiggestellt war. Es gab technische Hürden und zerstörerische Hochwasser, die die Arbeit behinderten. Wasser und Felsen folgten nach wie vor eher ihrer eigenen Natur, als dass sie sich dem Willen des Königs beugten. Der Wassertransport war alles andere als einfach, weil die Berglandschaft rauh war und die Quellen sowohl in großer Höhe als auch weit voneinander entfernt lagen. Zudem musste die rigole die kontinentale Wasserscheide mehrmals überqueren, so dass die Beibehaltung eines korrekten Gefälles – was eine unabdingbare Voraussetzung für den unaufhörlichen Wasserfluss war – sich als besondere Herausforderung darstellte. Außerdem war die Konstruktion einer wasserdichten Leitung auf schlechten Grund ebenfalls eine beachtliche Leistung. So war es zwar möglich, Wasser aus seinem Bachbett in der Nähe der Quelle abzuleiten, aber was man dann mit ihm anstellen sollte, blieb ein dauerhaftes Problem. Die Arbeiter trafen an einigen Stellen auf neue Quellen, oder sie stießen auf kleine unterirdische Tunnel, die das Wasser aufsogen. Es gab Felsen und steile Abhänge zwischen den hochgelegenen Flüssen des Berges und dem Hauptkanal, die man überwinden musste, ohne das Wasser der rigole in einen Wasserfall zu verwandeln, der die Flutrinne zerstörte. Die Montagne Noire und ihre Flüsse hatten über Jahrhunderte ein Gleichgewicht entwickelt und auf diese Weise eine Topographie geschaffen, die beide definierte. Nun forderten Riquet und die Kommissionsmitglieder das Wasser auf, einem neuen Kurs zu folgen, und Arbeiter versuchten, natürliche Materialien zu verwenden, um unnatürliche Effekte zu verursachen. Die Unterbrechung des althergebrachten Verhältnisses von Felsen, Erdoberfläche und Wasser in der Montagne Noire war ein Akt der Hybris. Aber es handelte sich zugleich um ein Mittel, mit dessen Hilfe logistische Macht für den Staat nutzbar gemacht wurde, indem man die Kraft des Wassers verwendete, um Sozialbeziehungen zu unterminieren, die die Eliten des Languedoc bemerkenswert unabhängig vom König gemacht hatten. In der »Relation particuliere de la rigolle dessay«35 heißt es, dass das Testsystem für die Wasserversorgung bei dem Fluss Alzau, in der Nähe eines Ortes 35 ACM 2–14.

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Abb. 3: Angezapfte Wasserläufe an der Montagne Noire, Karte von FranÅois Andr¦ossy, 1665 (Archives du Canal du Midi 2–14, »Relation particuliere de la rigolle dessay«)

namens Calz, seinen Ausgang nahm. An diesem entfernten Punkt, hoch auf den Bergen, entsprang das Wasser in einer regelmäßigen und starken Strömung. Diese Stelle war derart unwegsam gelegen, dass man sie nicht einmal zu Pferde erreichen konnte. Die Protokolle der Arbeiten zeigen, dass Riquet Arbeiter aus der Gegend für diese Aufgabe beschäftigte,36 die offensichtlich diesen Teil des Berges zu Fuß bestiegen. In Calz befanden sich große Felsformationen, die eine tiefe, mit sandigem Grund gefüllte Schlucht bildeten. Es gab keine eindeutige Möglichkeit, so argumentierte der Rechtfertigungstext, ohne Wasserverlust einen Weg durch die Felsen oder die Schlucht zu bahnen. Daher bauten die Arbeiter eine hölzerne Rinne, die vermutlich denjenigen ähnelte, die für Mühlen verwendet wurden, um das Wasser über die Felsen und durch die Schlucht zu transportieren.37 Weil Riquet möglicherweise beschlossen hatte, die ganze rigole auf diese Weise bauen zu lassen, schrieb er an den entsetzten Colbert zu ungefähr dieser Zeit und bat ihn um die Erlaubnis, große Mengen an Bauholz zu erwerben.38 Aber bevor der Minister ablehnen konnte, schrieb der Unternehmer ihm, er habe eine andere Möglichkeit entdeckt, die Arbeiten fortzusetzen. Vielleicht begannen die Arbeiter damit, die Felsen zu sprengen. Das Rechtfertigungsdokument erwähnt an einer späteren Stelle, dass die Pulvervorräte zur Neige gingen, so dass es naheliegt, dass man Schießpulver verwendete, um die Felsen aus dem Weg zu

36 Michel Adg¦, Les premiers ¦tats du barrage de Saint-Ferr¦ol, in: Les cahiers d’histoire de Revel 7, 2001, http://www.lauragais-patrimoine.fr/PATRIMOINE/BARRAGE-ST-FE/BAR RAGE-ST-FE.html. 37 ACM 2–14, 1–2. 38 Brief von Riquet an Colbert, 3. September 1665, ACM 20–19.

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räumen.39 Was selten in den Bergen war, waren Stellen, wo sich das Erdreich leicht ausgraben ließ und wo ein Graben das Wasser von selbst halten würde. Das Wasser in den Bergen gehorchte nach wie vor eher den Gesetzen der Schwerkraft als dem Willen des Königs. Wenn der Bau der rigole ein Versuch war, das Wasser den Interessen der Menschen unterzuordnen, indem man es mit der Hilfe von Technik lenkte, dann schien das menschliche Handeln nun zu unterliegen und die Regierung ihre logistischen Grenzen erreicht zu haben. Während die Arbeiter das Material verwendeten, das in den Bergen vorhanden war, verloren sie die flüchtige Flüssigkeit, anstatt sie in das Haupttal des Languedoc zu befördern. Sowohl der Kies als auch der Sand waren nicht in der Lage, das Wasser zu halten, und es kehrte zu den Flüssen zurück, wo es fließen wollte. Sand war leichter zu graben, und mit Sand ließ sich ein schön gestalteter Graben herstellen, der mit Pfahlwerk verstärkt werden konnte, aber häufig stürzten die Wände der rigolle wie Zuckerwürfel in den Fluten zusammen, sobald das Wasser zu fließen begann. Sand erschien häufig wie eine Flüssigkeit, ebenso wie das Wasser, das er doch festhalten sollte. Felsen machten es schwer, das Terrain zu überqueren und zu den Quellen zu gelangen, und sie behinderten den Bau der rigole. Dort, wo große Felsblöcke lagen oder sich Steilhänge befanden, gab es keine Möglichkeit, sie zu entfernen. Man konnte zwar Wege durch sie hindurch bahnen, indem man sie mit der Hilfe von Schießpulver sprengte, aber das war eine harte, langsame und teure Angelegenheit. Allerdings zahlte der Granit eine Dividende, denn er lieferte starkes, wasserdichtes Material für die Wasserleitungen. Manchmal nutzten die Arbeiter natürliche Flussbetten als Teil der rigole, führten zusätzliches Wasser aus Bergquellen heran und leiteten es später dort wieder ab, wo die Bedingungen weniger ungünstig waren. Man probierte unterschiedliche Techniken aus, denn die Probleme waren vielfältig und die Neigung musste präzise bleiben, unabhängig davon, welches Terrain überquert werden musste. Die rigole d’essai war ein Kampf mit dem festen Material der Berge, aber die Parameter für seine Gestalt wurden durch die Ansprüche des Wassers bestimmt. Nicht alle technischen Probleme, die sich in Verbindung mit der rigole d’essai ergaben, ließen sich lösen. Die Struktur war provisorisch und blieb undicht. Die rigoles, die später gebaut wurden, hielten das Wasser besser, weil man sie an zahlreichen Stellen mit einer Lage von gestampftem Lehm abdichtete. Dennoch stützten Pfahlwerke aus Holz, gesprengte Felsen und steile Böschungen die experimentelle Struktur hinreichend sicher ab, so dass große Wassermengen aus der Montagne Noire über die Ebene von Revel bis zum Seuil de Naurouze gebracht werden konnten.

39 ACM 2–14, 11.

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Nur an einer Stelle in der »Relation particuliere de la rigolle dessay«40 werden Arbeiter für die mangelhafte Qualität ihrer Bemühungen kritisiert. Wenn der Berg und seine Materialien die Probleme schufen, die sich beim Auffangen des Wassers von den hochgelegenen Quellen ergaben, schufen nachlässige Aufseher die Probleme, die mit der Streckenführung durch die Ebene von Revel in Zusammenhang standen. Auf dieser Ebene musste der Atlantik die atlantischpazifische Wasserscheide überqueren, aber wenn es dem vorgeschriebenen Weg folgte, floß das Wasser nicht entlang der rigole. Mehrheitlich werden in diesem Bericht menschliche Akteure beschrieben, die sich gegen die ungebärdigen Kräfte der Natur durchsetzen, doch an diesem Punkt, an dem die menschliche Intelligenz ganz besonders nötig war, versagte sie. Letztlich aber setzte sich der gesunde Menschenverstand durch, indem die rigole durch Mühlbäche geführt wurde, die ebenfalls diese Wasserscheide überquerten. Nachdem die rigole die Ebene von Revel verlassen hatte, verlief sie in einem langen Tal mit gutem Erdreich, das leicht zu graben war, seine Form behielt und keine signifikanten Mengen an Wasser verlor. Besondere Sorgfalt für ein regelmäßiges Gefälle blieb von ausschlaggebender Bedeutung, da das Wasser allein aufgrund der Schwerkraft bis zum Kanal an der kontinentalen Wasserscheide fließen musste. Die Hügel waren sanft, aber im Tal gab es Geländewellen, die umgangen werden mussten. An einigen Stellen wurde die rigole mit Bermen aus Stein, Holz und Schmutz angehoben, so dass sie ihre Neigung beibehielt und oberhalb des Niveaus des Sieul de Naurouze verblieb. Auf ihrem Weg nahm die rigole Wasser von weiteren Quellen auf, so dass etwas von dem Wasser, das auf dem Berg verlorengegangen war, wieder ersetzt wurde. Auch bei Naurouze gab es Quellen, die dem Wasser, das in dem Kanalreservoir gesammelt worden war, weiteres hinzufügten. So führte die rigole d’essai, als sie Naurouze erreichte, eine beeindruckende Wassermenge; sie war ein menschengemachter Fluss, der aus den Bergen geleitet worden war, in Flüsse hinein- und wieder aus ihnen herausgeflossen war, und der über die Ebenen geführt wurde, um Nahrung für den Canal du Midi bereitzustellen. Das zu Testzwecken errichtete Versorgungssystem sorgte für einen berechenbaren Wasserzufluss in den Canal du Midi, den man sogar als ausreichend für den Transport von Schiffen während trockener Sommer im Languedoc erachtete. Man ging davon aus, dass ungefähr ein Drittel des Wassers auf dem Weg verlorenging, aber in einer permanenten rigole ließe sich dies größtenteils vermeiden. Diese Annahme stellte sich als Übertreibung heraus, und im Sommer musste der Kanal daher zeitweise aufgrund von Wassermangel geschlossen werden. Dennoch war die rigole d’essai ein großer Erfolg, und diese Beurteilung

40 ACM 2–14.

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Abb. 4: Montagne Noire, Karte von FranÅois Andr¦ossy, 1665, Ausschnitt (Archives du Canal du Midi 2–14, »Relation particuliere de la rigolle dessay«)

machte es für Riquet möglich, einen Vertrag für den Bau des Canal du Midi zu erhalten. Die »Relation« endet mit einigen Glückwünschen und lobenden Bemerkungen zu Riquets Erfolg. Der Bericht betont, dass niemand sich der Komplexität des Vorhabens bewußt gewesen war, dass der Plan jedoch korrekt war und sich als durchführbar herausgestellt hatte. Der Autor unterstreicht, dass dieses Resultat ihn rechtfertigte, indem es zeigte, dass sein Vorschlag ehrlich war und auf echtem Wissen basierte. Es zeigt ihn als einen Mann von Ehre, nicht lediglich von Fähigkeiten. Campnas argumentiert, er habe keinen Vorschlag gemacht, der sich nicht hätte verwirklichen lassen. Die Schlußbemerkungen sind eine Bestätigung von Handlungsmöglichkeiten, die die Fähigkeiten des Autors, die rigole zu realisieren, mit der Macht des menschlichen Verstandes, Herrschaft über die Natur auszuüben, in Verbindung bringen. Campnas, wenn er denn der Autor ist, spricht in einer Sprache über

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logistische Macht, die der Politik von der guten Verwaltung entlehnt ist. Das Wasser aus den Bergen zu zwingen und es nach Naurouze zu führen, war ein Akt menschlicher Beherrschung, und seine Verwendung zum Bau einer friedlichen Wasserstraße war ein Akt der Wiedergeburt, durch die Anwendung des menschlichen Verstandes, der Adam von Gott verliehen worden war. Die Ausübung von logistischer Macht war in diesem Kontext nicht lediglich eine Methode, Menschen durch die Kontrolle von Dingen zu kontrollieren, sondern ein moralischer Akt. Die Nachfahren Adams und Evas sollten die wilde Natur zähmen, indem sie die Schöpfung weise nutzten. Der Verfasser verteidigt seine moralische Integrität und seine persönliche Ehre, indem er zeigt, wie die Leistung Riquets die Wasserversorgung zu einem Erfolg machte. Riquet und seine Mitarbeiter konnten nur deshalb logistische Macht im Dienst des Königs ausüben, weil sie die Eigenschaften natürlicher Dinge wie Wasser und Felsen erkannten, indem sie das in den Bergen vorhandene Material nutzten, um die handelnden Eigenschaften des Wassers zu kontrollieren, und sie zu einem schiffbaren Kanal transformierten, der zwei Meere miteinander verband. Dies war ein Akt guter Verwaltung. Der Bericht war notwendig, um gegenüber der Kommission zu dokumentieren, wie das System gebaut worden war, aber er war kein Maßstab für seinen Erfolg. Der Erfolg maß sich an der Menge des Wassers, das nach Naurouze floss, an der Materialität. Jeder, der sah, wie das Wasser an diesem Paß jenseits der kontinentalen Wasserscheide eintraf, verstand, dass Riquets Plan realisierbar war. Der detaillierte Bericht über die harte Arbeit und die mit ihr verbundenen technischen Schwierigkeiten bewies nur das heldenhafte Engagement Riquets und seiner Männer, das Wasser der Montagne Noire Ludwig XIV. dienstbar zu machen.

5.

Schluss

Der Bau einer effektiven hydraulischen Infrastruktur war ein Mittel, eine neue Art von Macht geltend zu machen und zu legitimieren – logistische Macht. Frankreichs schwacher Staat, der für lange Zeit nicht in der Lage gewesen war, die Bewohner der Peripherie dem König zu unterstellen, veränderte nun das Leben im Languedoc auf nachdrückliche und dauerhafte Weise. Das Wassersystem zeigte die Wirkungen einer auf das Territorium bezogenen Herrschaftsweise, die Verwendung von natürlichen Kräften zur Durchsetzung des Willens des Königs. Eben die Eigenschaften, die es so schwierig machten, das Wasser in der Montaigne Noire aufzufangen und zum Canal du Midi zu leiten, machten wiederum den Canal du Midi zu einer mächtigen Größe in der Region.

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Nachdem das Wasser einmal begonnen hatte, durch den Kanal zu fließen, war es schwierig, es wieder zum Stoppen zu bringen. Der Bau des Canal du Midi war also eine Praxis von unpersönlicher Herrschaft, die das Leben in der Region veränderte, indem Macht von adligen Amtsträgern und Landbesitzern auf die Agenten des Staates übertragen wurde. An den Flüssen gelegene Mühlen verloren Aufträge an diejenigen, die am Kanal errichtet wurden. Straßen, die von Adligen betrieben wurden, wurden für Transportzwecke durch die Wasserstraße des Königs ersetzt. Die Post kam per Schiff auf dem Kanal; Frauen wuschen Wäsche in ihm; und Kaufleute handelten mit Textilien, Leder und Wein. All dies trug zur Verflechtung der lokalen Eliten mit der Staatsverwaltung bei, die sie zuvor ignoriert hatten. Das Auseinanderbrechen von Felsen in den Bergen und das Abdichten von sandigen Wasserstraßen mit Lehm übertrug dem Staat eine neue Kompetenz in der Formung des sozialen Lebens, die überraschend neu und wirkungsvoll war. Nun war die Monarchie im Norden nicht mehr weit entfernt, sondern im Languedoc eine unerbittliche Gegenwart. Der Canal du Midi realisierte eine neue Art von Staatsmacht: entindividualisiert, unheimlich und respekteinflößend – eine Technik unpersönlicher Herrschaft.41 Er war das Ergebnis von logistischer Macht, Sozialbeziehungen durch Materialität zu beeinflussen, und er stellte eine unpersönliche Instantiierung dessen, was der Staat tun konnte, dar. Die Menschen im Languedoc verstanden wohl, dass der Bau des Kanals der Wille des Königs war, aber sie waren ebenso Zeugen der körperlichen Arbeit und des Wissens über die Natur, die dafür verantwortlich waren, dass der Kanal funktionierte. Und sie waren diejenigen, deren Leben sich veränderte, als Adlige zu Grundherren wurden und Land entlang des Kanals verpachteten, das Pächter mit Weinbergen bepflanzten, um Wein für Exportzwecke zu produzieren, und neue Städte sich entwickelten, die vom intensivierten Handel profitierten. Die Bewohner dieser kleinen und großen Städte entlang des Kanals waren diejenigen, die ihre Wäsche im Wasser des Kanals wuschen und Arbeit in den neu entstandenen Betrieben fanden, wodurch die bäuerliche Wirtschaft durch ein Geldsystem ersetzt wurde. Muster des alltäglichen Lebens veränderten sich,42 ohne dass irgendjemand den Menschen erzählt hätte, was sie tun sollten. Logistische Macht wirkte stumm, jenseits von sozialem Druck, und erschien in diesem Sinne unpolitisch, obwohl sie die Ursache sozialen Wandels war. Die Geschichtsschreibung zur Regierung Ludwigs XIV., eng verbunden mit der Vorstellung von staatlichem Absolutismus, konzentriert sich traditionell auf

41 Mukerji, Engineering, v. a. Kap. 7. 42 Carroll, Science; Joyce, Freedom; Parker, Absolutism.

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die Person des Königs und das Leben in Versailles.43 Aber Ludwig XIV. vergrößerte seine Macht im Languedoc durch die Ausübung einer groß dimensionierten Verwaltung, die die Legitimität der Monarchie im Norden zu untermauern schien. Ebenso schien er in der Lage, die historische Bestimmung Frankreichs zu erfüllen, indem er den Ruhm Galliens wiederherstellte. Die Franzosen waren eindeutig in der Lage, die Art von beeindruckender Ingenieursleistung zu verwirklichen, die Rom so mächtig gemacht hatte. Dabei handelte es sich hierbei nicht um die einzige Ingenieursleistung, die in dieser Zeit so stark beworben wurde. Dazu kamen die massiven Festungen Vaubans und die neuen Hafenstädte entlang der Atlantikküste. Frankreich veränderte sich, und so musste sich auch das Leben der Franzosen verändern. Durch eine Art von Technik des Staates selbst wurde das Leben französisch und auf diese Weise dem Herrschaftsbereich des Königs angepaßt. In diesem Sinne ist die Machtsteigerung des französischen Staates im 17. Jahrhundert eine Geschichte von unpersönlicher Herrschaft, nicht von persönlicher Herrschaft. Der Staat ließ Ludwig XIV. absolut mächtig erscheinen, weil er Kräfte ausübte, die man nicht zur Gänze verstehen konnte. Er übte Macht über den Wald, den Bau von Festungen, das Archivwesen, die Sammlung von Büchern und die Buchhaltung aus. In allen diesen Fällen war Politik entpersonalisiert, indem die handelnden Eigenschaften der Dinge politisch nutzbar gemacht wurden. Bäume, Steine, Wasser, Stoffe und Tinte waren die geheimen Kräfte der von Colbert entwickelten Verwaltung, und sie waren die unpersönlichen Instrumente, die er nutzte, um den Willen des Königs absolut erscheinen zu lassen.44

43 Jean-Marie ApostolidÀs, Le roi-machine: spectacle et politique au temps de Louis XIV. Paris 1981; Jean Pierre N¦raudau, L’olympe du Roi Soleil. Paris 1986; Norbert Elias, The Court Society. New York 1998; Chandra Mukerji, Territorial Ambitions and the Gardens of Versailles. Cambridge 1997. 44 Anne Blanchard, Les ing¦nieurs du roy de Louis XIV — Louis XVI. Montpellier 1979; Michel Bartoli, Louis de Froidour (1626?-1685). Notre h¦ritage forestier. Paris 2011; vgl. dazu: Appuhn, Forest.

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Im Bauch der Stadt. Kanalisation und Bürgerstolz im 19. Jahrhundert

Um 1850 herrschte in Europa – so die Britannica Review – eine Wassermanie, »which we can only compare to the recent railroad mania«.1 Diese Manie betraf die Versorgung mit Trinkwasser sowie den Bau von Kanalisationen und erfasste Intellektuelle, Techniker, Politiker und selbst Monarchen wie Napoleon Bonaparte. Sie könne, so eine aktuelle Studie, nur durch deren »Überzeugung erklärt werden, dass diese Technologien zu einem höheren Lebensstandard und besserer öffentlicher Gesundheit führten«.2 Für diese Annahme gab es gute Gründe, denn europaweit herrschten in den rasch wachsenden Städten erschreckende Zustände. Auf den Gassen, Straßen und Plätzen häuften sich Stallmist, Exkremente von Menschen und Tieren und anderer Unrat, der in Flüsse und Seen gelangte und diese massiv verschmutzte. Krankheiten waren häufig, sogar Seuchen traten auf, darunter mehrfach die Cholera, die jeweils Hunderte, wenn nicht Tausende Opfer forderte.3 Diese Verhältnisse waren seit langem bekannt, selbst die besseren Schichten litten darunter. Ärzte und zahlreiche Kommissionen wiesen immer wieder auf die bestehenden Mängel hin, die fraglos zu den Bemühungen beitrugen, besseres Trinkwasser zu erhalten und leistungsfähige Kanalisationen zu errichten. Doch die Bedeutung dieser Mängel kann leicht überbewertet werden, denn sie bestanden schon seit langer Zeit, teils seit Jahrzehnten, ohne dass etwas passierte. Zu erklären ist deshalb, warum jetzt, d. h. nach 1850, so viel geschah und warum 1 Revue Britannique, 1850/1, 284, zit. nach Jean-Pierre Goubert, The Conquest of Water : The Advent of Health in the Industrial Age. Princeton 1989, 118. 2 Goubert, Water, 118: »This mania on the part of intellectuals, technicians, and politicians for water and sewage systems can be explained by their conviction that these technologies would bring a higher standard of living and better public health«. 3 Anthony S. Wohl, Endangered Lives: Public Health in Victorian Britain, Cambridge, Mass. 1983; Sabine Barles, La ville d¦l¦tÀre: M¦decins et ing¦nieurs dans l’espace urbain (XVIIIe–XIXe siÀcles), Seyssel 1999; David S. Barnes, The Great Stink of Paris and the Nineteenth-Century Struggle against Filth and Ferms. Baltimore 2006; Clare Clark, The Great Stink, London / New York 2005; John von Simson, Kanalisation und Städtehygiene im 19. Jahrhundert. Düsseldorf 1983.

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Zeitgenossen eine Manie feststellten. Das gilt umso mehr, als seit langem Zusammenhänge zwischen Verunreinigung und Krankheiten vermutet wurden, dafür aber zahllose, einander oft widersprechende Erklärungen bestanden. Der Erreger der Cholera etwa wurde erst 1883 entdeckt.4 Entsprechend bestand unter denjenigen, die neue Maßnahmen forderten, Uneinigkeit darüber, welche konkret ergriffen werden sollten. Mussten kostspielige Kanalisationen errichtet werden, um die verschmutzten Abwässer zu beseitigen; genügten vielleicht Verbesserungen der bestehenden Verfahren oder war es nicht viel wichtiger, für sauberes Trinkwasser zu sorgen? Anders formuliert: der Bau der Kanalisationen erfolgte nicht lediglich, weil die Probleme so groß, das Wissen so eindeutig und die Lösungsvorschläge so überzeugend waren, dass sie deren Errichtung geradezu erzwangen, sondern hierzu trugen vielmehr zahlreiche Faktoren bei, die aus ganz unterschiedlichen Zusammenhängen stammten, wie der folgende Beitrag zeigen soll.

Rom – oder London? Eine mögliche Erklärung ist die Orientierung an der Antike, die bekanntlich im 19. Jahrhundert eine große Rolle spielte. Als der englische Sozialreformer Edwin Chadwick versuchte, Napoleon Bonaparte als Verbündeten zu gewinnen, um etwas gegen die katastrophalen Abwasserverhältnisse in Paris zu tun, soll er ihm gesagt haben: »Sire, they say that Augustus found Rome a city of brick, and left it a city of marble. If your Majesty, finding Paris fair above, will leave it sweet below, you will more than rival the first Emperor of Rome«.5 Dieses Argument war geschickt vorgetragen, da Napoleon sich oftmals an römischen Vorbildern orientierte. Und auch aus einem anderen Grund ist das Zitat interessant. Es verweist auf die These, dass ein tatkräftiger Herrscher erforderlich war, um die katastrophalen Abwasserverhältnisse in Paris zu beheben. Diese wurden schon lange vor dem Gespräch zwischen Napoleon und Chadwick beklagt, doch nichts passierte. Musste deshalb ein diktatorischer Herrscher einschreiten, um endlich Abhilfe zu schaffen? Chadwick zumindest mag dies geglaubt haben – was nicht überrascht, denn er selbst war eine überaus autoritäre Persönlichkeit mit einem ausgeprägten Sendungsbewusstsein. Dieses half ihm, in den britischen Debatten über die öffentliche Gesundheit eine führende Rolle zu erlangen, führte aber auch zu seinem Scheitern. Denn er machte sich

4 Christopher Hamlin, Cholera: the Biography. Oxford 2009. 5 Zit. nach Benjamin Ward Richardson, The Health of Nations: A Review of the Works of Edwin Chadwick, with a Biographical Dissertation, London 1965, LXVII.

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durch sein autoritäres Auftreten so unbeliebt, dass er schließlich seinen Einfluss verlor und an den Rand gedrängt wurde.6 Für Paris hingegen muss die große Bedeutung eines autoritären Monarchen – Bonaparte – betont werden, der die Stadt radikal umbauen ließ und offensichtlich ein zweites Rom schaffen wollte. Dabei spielte das Vorbild der römischen Kaiser und ihrer Metropole eine Rolle, nicht hingegen die römischen Kanalisationen und Aquädukte. Im Gegenteil: Als Haussmann entsprechende Überlegungen entwickelte, stieß er auf heftigen Widerstand und nicht geringen Spott.7 Dazu waren die Verhältnisse in Paris zu unterschiedlich und vor allem Technik und Wissenschaften zu weit fortgeschritten. Außerdem gab es ein anderes Vorbild, das wichtiger war als das antike Rom, nämlich London, die Hauptstadt des Britischen Empire. Das gilt nicht für die Themse, die als Abwasserkanal diente und heftige Kritik hervorrief. Doch davon abgesehen beeindruckte diese Stadt ihre Besucher, unter ihnen Fontane, der nach einem Besuch 1852 schrieb: »Eines aber haben Londons Straßen und Häuser vor uns voraus, das ist ihre äußere Sauberkeit. Jedes Londoner Haus hat bis in seine zweite und dritte Etage hinauf den unschätzbaren Vorteil eines nie mangelnden Wasserstromes, der ihm, nach Gefallen, aus Dutzenden von Rohren entgegenströmt. Alles schmutzige Wasser fließt sofort wieder ab und ergießt sich in eine tief unter jedem Staudamm gelegene Kloake, deren Hauptkanäle mit der Themse in Verbindung stehen«.8

Nicht nur Fontane zeigte sich beeindruckt. London war die Hauptstadt einer damals unbestrittenen Weltmacht, übertraf Paris an Größe bei weitem und verkörperte die moderne, durch Wissenschaft und Technik geprägte, Zivilisation.9 Schon diese knappen Bemerkungen führen zu einem widersprüchlichen Befund. Während in Paris offensichtlich ein starker Herrscher wie Napoleon erforderlich war, um die Errichtung einer modernen Kanalisation zu verwirklichen, hat sich in London ein vergleichbares Auftreten – von Chadwick – als schädlich erwiesen. Noch vielschichtiger wird das Bild, wenn wir zusätzlich die zahlreichen anderen europäischen Städte betrachten, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ebenfalls Kanalisationen bauten. Deren Umsetzung, Bau6 Christopher Hamlin, Public Health and Social Justice in the Age of Chadwick: Britain, 1800–1854. Cambridge 1998; Wohl, Lives, passim. 7 Jeanne Gaillard, Paris, la ville, 1852–1870: l’urbanisme parisien — l’heure d’Haussman[n], Paris 1977; David P. Jordan, Transforming Paris: the Life and Labors of Baron Haussmann. New York 1995. 8 Zit. nach Marianne Rodenstein, »Mehr Licht, mehr Luft«: Gesundheitskonzepte im Städtebau seit 1750. Frankfurt/M. 1988, 96. 9 David L. Pike, Metropolis on the Styx: the Underworlds of Modern Urban Culture, 1800–2001, Ithaca 2007.

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weise und Technik wiesen erhebliche Unterschiede auf, doch sie besaßen auch ein zentrales gemeinsames Merkmal: Ihr Bau verursachte enorme Kosten, die allein schon die Frage aufwerfen, weshalb die Bereitschaft dazu bestand.10 Warum entstanden all diese kostspieligen Projekte? Wer setzte sich dafür ein?

Zivilgesellschaft Chadwicks energisches Auftreten besaß eine gewisse Berechtigung, denn die Themse nahm riesige Abwassermengen auf, die erhebliche Probleme verursachten. Hier stanken die Verhältnisse im wörtlichen Sinne zum Himmel, besonders im Jahr 1858. In diesem Jahr war das neue Parlamentsgebäude fertig gestellt worden, doch die Abgeordneten konnten dort nicht arbeiten. Die Themse verursachte einen unerträglichen Gestank, der den Aufenthalt im Parlament nahezu unmöglich machte. Zusätzlich drohte eine Gefährdung der Gesundheit, so dass sogar eine Verlegung des Parlaments erörtert wurde.11 Doch parallel dazu fanden seit Jahren Debatten um den Neubau der Kanalisation statt. Diese kamen nur langsam voran, nicht nur wegen der enormen Kosten. Hinzu kam, dass keine zentrale Behörde oder für ganz London zuständige Stadtregierung existierte. Vielmehr war eine Vielzahl von Institutionen und kleinen politischen Einheiten zuständig und musste sich auf ein gemeinsames Vorgehen verständigen. Derartige Formen breiter Mitsprache können raschen Entscheidungen im Wege stehen, worüber Technokraten immer wieder klagen. Sie können aber auch enorme Kräfte mobilisieren, wenn die Beteiligten schließlich einen Konsens erreichen. Das zeigte sich in London, wo nach langen Auseinandersetzungen 1855 die ›Metropolitan Board of Works‹ entstand, die erste umfassende Kommunalverwaltung dieser Stadt. Diese Behörde musste auch nach der Gründung manchen Widerstand überwinden und vor allem die erforderlichen Mittel für ihre kostspieligen Projekte sichern. Doch die Anlaufschwierigkeiten konnte sie bald überwinden und die neue Kanalisation realisieren, die nicht nur dazu diente, die Stadt von stinkenden Abwässern zu befreien. Der Bau der Kanalisation war vielmehr Bestandteil einer breiteren Debatte über eine Modernisierung der Stadt, die unter dem Schlagwort der Verbesserung (improvement) ausgetragen wurde, der 10 Christopher Hamlin, Muddling in Bumbledom: On the Enormity of Large Sanitary Improvements in Four British Towns, 1855–85, in: Victorian Studies, 1988, 55–83; John C. Brown, Public Reform for Private Gain? The Case of Investments in Sanitary Infrastructure: Germany, 1880–1887, in: Urban Studies 26.1,1989, 2–12. 11 Stephen Halliday, The Great Stink of London: Sir Joseph Bazalgette and the Cleansing of the Victorian Capital. Stroud 1999, Wohl, Lives.

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zentrale Begriff »for modernity in London during this period.«12 Dadurch gelang es, nicht nur Techniker und Fachleute anzusprechen, sondern die Zustimmung der bürgerlichen Steuerzahler und auch innerhalb der traditionellen Eliten zu erlangen, die hierin ein gemeinsames städtisches Projekt sahen. Diese breite Unterstützung fanden Kanalisationen auch in anderen europäischen Städten, vor allem in Großbritannien und Deutschland. Am treffendsten lassen sie sich als zivilgesellschaftliche Vorzeigeprojekte bezeichnen. Das lag schon daran, dass die Steuerzahler der jeweiligen Kommunen die hohen Kosten zu tragen hatten und ihnen deshalb zustimmen mussten. Nun fällt es schwer, den Begriff ›Zivilgesellschaft‹ eindeutig zu fassen. Während der großen Kanalisationsprojekte war diese in den einzelnen Städten noch wenig entwickelt und bestand zudem aus einer Vielzahl von mehr oder minder gut organisierten Gruppierungen, die oft eine lange Tradition aufwiesen. Entsprechend lange dauerte es, Konsens über aufwändige und teure Vorhaben zu erzielen und sie zu realisieren, nicht nur wegen der Kosten. Hinzu kamen Interessensunterschiede; die Sorge um bestehende Privilegien; die Bemühungen neuer Gruppen und Experten, sich zu etablieren, und andere Faktoren, die es erheblich erschwerten, die erforderlichen Beschlüsse zu fassen. In der Regel zogen sich die Entscheidungen über viele Jahre hin und erforderten in Großbritannien sogar eigene Parlamentsbeschlüsse. Diese regelten detailliert konkrete lokale Angelegenheiten und etablierten parallel dazu neue Verfahren und Institutionen, um die Verkrustungen zu überwinden, die bestehende lokale Traditionen und Strukturen verursachten. Anders ausgedrückt: Entscheidend für die große Mehrheit der Projekte waren nicht autoritäre Personen wie Napoleon und Chadwick oder zentrale, durchsetzungsfähige Institutionen. Größere Bedeutung besaßen Gruppierungen und Elemente der Zivilgesellschaft, die vorwiegend lokal verankert waren und die Kanalisationen als Ausdruck ihres städtisch-bürgerlichen Selbstbewusstseins unterstützten. Selbst hier hat Napoleon allerdings – zumindest indirekt – eine gewisse Bedeutung besessen, auch in England. Als deutlich wurde, wie beeindruckend der Umbau von Paris ausfiel, entstand ein Druck gleichzuziehen, der es einfacher machte, die erforderlichen Summen zu mobilisieren und traditionelle Zuständigkeiten zu überwinden.

12 Lynda Nead, Victorian Babylon: People, Streets and Images in Nineteenth-Century London. New Haven 2000, 5.

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Technik / Wissenschaft Eine besonders wirksame Möglichkeit, die eigene Bedeutung nachzuweisen und den reklamierten Führungsanspruch zu untermauern, bestand für weite Teile des 19. Jahrhunderts (und besteht vielfach bis heute) darin, technische Meisterwerke zu errichten und diese öffentlich darzustellen. Ein gutes Beispiel dafür sind die Pumpwerke Abbey Mills und Crossness, nicht nur wegen ihrer beeindruckenden Ästhetik. (Abb. 1)

Abb. 1: Abbey Mills Pumpwerk London, 1868. Aus: Halliday, The Great Stink, S. 100

Das Werk in Crossness besaß auch vier der damals wohl weltweit größten Pumpen, von denen allein der Ausleger 47 Tonnen wog und die Schwungscheibe sogar 52 Tonnen. Entsprechend aufwändig fiel die Eröffnungsfeier aus, an der die königliche Familie und wichtige Vertreter das Adels sowie der Kirche teilnahmen. Die Maschinen selbst wurden nach Mitgliedern der königlichen Familie benannt und hießen Prince Consort, Victoria, Edward Albert und Alexandra (Abb. 2). Die königliche Familie mag für die Maschinen ihren Namen zur Verfügung gestellt haben, den tatsächlichen Ruhm aber ernteten die zuständigen Ingenieure und Techniker. Diese waren nicht nur für die Bauten und Maschinen zuständig, sondern waren von Beginn an in diese Großprojekte involviert. Sie entwarfen erste Planungen, halfen, sie in den Kommunen durchzusetzen, leiteten ihre Realisierung und können geradezu als Symbolfiguren dieser Epoche gelten. Das

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Abb. 2: Crossness Pumpwerk London, um 1865. Aus: Halliday, The Great Stink, S. 99

gilt für William Lindley, der in Hamburg und zahlreichen anderen europäischen Städten Systeme zur Wasserversorgung und Kanalisationen entwarf und realisierte; James Hobrecht in Berlin; Joseph Bazalgette und Charles Driver in London und selbst für Haussmann in Paris, der zwar als Jurist ausgebildet war, tatsächlich aber als Stadtplaner und Organisator von Großprojekten arbeitete. An Selbstbewusstsein mangelte es diesen Personen nicht. Im Gegenteil, als Ingenieure waren sie von sich überzeugt, erfreuten sich höchster Wertschätzung und galten geradezu als Visionäre.13 Zugleich ist es zutreffender, nicht nur von Ingenieuren zu sprechen, sondern allgemeiner von Technokraten bzw. technischen Experten, zu denen auch Me13 Tristam Hunt, Building Jerusalem: the Rise and Fall of the Victorian City. London 2004,195; Simson, Kanalisation; Barnes, Stink; Thomas Bauer, Im Bauch der Stadt. Kanalisation und Hygiene in Frankfurt am Main 16.–19. Jahrhundert. Frankfurt/M. 1998; Richard Evans, Tod in Hamburg. Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholera-Jahren 1830–1910. Reinbek 1990.

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diziner, Stadtplaner, Geologen und zahlreiche andere gehörten. Deren Expertise war erforderlich, um den Großprojekten eine wissenschaftliche Basis zu geben, sie gegenüber der Öffentlichkeit und nicht zuletzt gegenüber den Steuerzahlern zu begründen und sie schließlich zu realisieren. Dabei spielte es eine große Rolle, dass sie als Experten jenseits der Politik standen, als effizient galten und sich zur Lösung von Problemen anboten, die ansonsten im Widerstreit der Interessen gefangen blieben. Anders ausgedrückt: der Bau der Kanalisationen ist ein gutes Beispiel für die große Bedeutung von Wissenschaft und Technik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Diese Anlagen verkörperten geradezu die Fortschritte der modernen Zivilisation – so August Bebel, der in seinen Erinnerungen das Berlin der 1860er Jahre beschrieb: »Mit den hygienischen Zuständen war es übel bestellt. Eine Kanalisation war noch nicht vorhanden. In den Rinnsteinen, die längs der Bürgersteige hinliefen, sammelten sich die Abwässer der Häuser und verbreiteten an warmen Tagen mephitische Gerüche. Bedürfnisanstalten auf den Straßen oder Plätzen gab es nicht, Fremde und namentlich Frauen gerieten in Verzweiflung, bedurften sie einer solchen. … Berlin als Großstadt ist wirklich erst nach dem Jahr 1870 aus dem Zustand der Barbarei in den der Zivilisation getreten«.14

Repräsentation und Wahrnehmung Wenn wir unter Repräsentation sowohl die Bemühungen verstehen, sich darzustellen, wie auch die jeweiligen Wahrnehmungen, überrascht es nicht, dass es bei den Kanalisationen eine unüberschaubare Zahl und Vielfalt an Repräsentationen, Wahrnehmungen und Deutungen gab und gibt. Im Einzelnen sind sie allerdings schwer zu fassen. Wollte Napoleon sich tatsächlich wie ein römischer Herrscher präsentieren – wie das eingangs genannte Zitat nahe legt? Oder wollte er nicht vielmehr – wie die Befürworter der Kanalisationen in London, Hamburg und anderen Städten – als Förderer von Wissenschaft und Technik gesehen werden? Für Letzteres spricht zumindest die Architektur der Kanalisationen, die als hochkomplexe, vielgestaltige technische Artefakte beeindrucken. Dazu zählten die Dimensionen der unterirdischen Kanäle ebenso wie die enormen Pumpen, die die Wassermassen beförderten, und schließlich die Bauten, in denen sie standen. Deren Ästhetik war weit entfernt von einer bloßen Funktionalität, sondern wies überbordende, teils geradezu phantastisch erscheinende Ornamente auf – etwa im Abbey Mills Pumpwerk, das im byzantinischen Stil gestaltet war und als ›Kathedrale des Abwassers‹ bezeichnet wurde. (Abb. 3) 14 August Bebel, Aus meinem Leben. Stuttgart 1910, 149f.

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Abb. 3: Abbey Mills, Innenansicht. Aus: Halliday, The Great Stink, S. 101

Diese Gestaltung entsprach dem damals vorherrschenden Stil, der hochviktorianischen Gotik. Sie war gekennzeichnet durch einen postmodern anmutenden Mix von Materialien, Formen und Mauerwerk, so dass von einer »aesthetic permissiveness« gesprochen wird. Für John Ruskin, den tonangebenden Kunstkritiker der viktorianischen Ära, musste Architektur so unfunktional wie eben möglich sein. Er plädierte für Merkmale und Verzierungen, die nicht erforderlich waren, denn gerade sie unterschieden Architektur von bloßer Konstruktion.15 Das Bauhaus lag in weiter Ferne – und diese Argumente lassen verstehen, dass diese Richtung in Großbritannien lange Zeit nur sehr geringe Bedeutung erlangte. Ähnlich prächtig sah das Pumpwerk in Crossness aus, bei dem zentrale technische Vorrichtungen als wichtige Merkmale der Repräsentation dienten. Ein Förderer dieses Pumpwerks war Prinz Albert, der sich auch in anderen Zusammenhängen als technikbegeistert erwies – vor allem als Initiator der Great Exhibition von 1851 mit dem Crystal Palace. Die Eröffnung von Crossness im Jahr 1865 hingegen erlebte er nicht mehr. Diese nahm der Prinz of Wales vor, begleitet von Vertretern des Adels und der hohen Geistlichkeit. (Abb. 4) Dabei wurden die Räume durch tausende farbiger Lampen erleuchtet. Nichts im Pumpwerk – so die Illustrated London News – erinnerte an die Funktion, für

15 Marvin Trachtenberg, Architecture, from Prehistory to Post-Modernism: the Western Tradition, New York 1986, 458f.

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Abb. 4: Eröffnung von Crossness durch den Prinz von Wales, der die Pumpen startete, April 1865. Aus: Halliday, The Great Stink, S. 97

die es errichtet war. Zu sehen war lediglich »ein großer, geräumiger und breiter Tunnel mit exzellentem Mauerwerk«.16 Die Architektur dieser unterirdischen Tunnel und Kanäle beeindruckte so sehr, dass sie rasch zu Attraktionen wurden, besonders in Paris, beginnend mit der großen Ausstellung von 1867. Der erste Würdenträger, der sie besichtigte, war der König von Portugal. Kurz darauf hieß es: »Diejenigen, die schon alles gesehen haben, sagen, dass die Kanalisation vielleicht der schönste Anblick in der ganzen Welt ist«.17 Dieses Urteil fiel wohl zu enthusiastisch aus, doch Besuche der Kanalisation gehörten in den kommenden Jahrzehnten in Paris zu den großen Attraktionen und wurden aufwändig inszeniert. Zu den Sehenswürdig16 Illustrated London News, 15. 4. 1865: The Prince of Wales at the Metropolitan Drainage Works, 342. 17 Louis Veuillot, Les Odeurs de Paris. Paris 1867, VI.

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keiten, die Besucher aus der Provinz und Ausländer vor allem sehen wollten, so 1870 die Illustrated London News, »gehören die gigantischen Abwasserkanäle unter der Stadt«.18 Sie versprachen ein Eintauchen in die Unterwelt, »das rational genug war, um sicher zu sein, aber auch so ursprünglich (organic), dass es schaudern ließ«.19 (Abb. 5)

Abb. 5: Besichtigung der Kanalisation von Paris, um 1890. Aus: Patrick Saletta, A la d¦couverte des souterrains de Paris, Antony, Sides 1990, S. 297

Auch die Hamburger waren auf ihre Kanalisation so stolz, dass sie diese 1888 dem Kronprinz auf einer Bootsfahrt zeigten (Abb. 6), ebenso kurz danach die Stadtväter von Köln. Da zur Einweihung der dortigen Kanalisation im Jahre 1890 Kaiser Wilhelm II. eingeladen war, ließen sie eigens einen dreiseitigen und etwa 4,60 Meter hohen Raum mit zwei Kronleuchtern zu je sechs Kerzen schmücken. Danach verfiel dieser Raum, doch seit 2000 bieten die Stadtwerke Führungen an und veranstalten in ihm sogar Konzerte – eine Erinnerung an die Ausstrahlungskraft, die Kanalisationen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts besaßen.20

18 Illustrated London News, 29. 1. 1870: The Sewers of Paris, S. 129; Donald Reid, Paris sewers and sewermen: realities and representations. Cambridge Mass. 1991, 39. 19 Pike, Metropolis, S. 241f.; Fred Radford, ›Cloacal Obsession‹: Hugo, Joyce, and the Sewer Museum of Paris, in: Mattoid 48, 1994, 66–85. 20 Julius Faulwasser, Der große Brand und der Wiederaufbau von Hamburg. Hamburg 1892,

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Abb. 6: Der deutsche Kronprinz bei einer Besichtigung in der Hamburger Kanalisation, 1877. Aus: Thomas Kluge/ Engelbert Schramm, Wassernöte. Umwelt- und Sozialgeschichte des Trinkwassers, Aachen 1986, S. 55

Die Bedeutung und Attraktion der Kanalisationen erschöpft sich nicht in ihrer technisch beeindruckenden Qualität. Sie verkörperten auch die Eroberung eines Raums, der bisher unzugänglich war. Vielleicht ist es zutreffender von Wiedereroberung zu sprechen, wenn wir an Victor Hugo denken. In seinen Romanen schilderte er die alten Abwässerkanäle als Orte des Verbrechens und Zuflucht von Verbrechern. Sie waren für ihn ein kulturelles Symbol des moralischen Zerfalls und der politischen Unordnung von Paris und Frankreich vor der Revolution von 1848. In seinem Roman ›Les Miserables‹ heißt es: »Die Kloake ist im alten Paris der Sammelplatz aller zwecklosen Mühen und Versuche. Die Volkswirtschaft sieht in ihr Abfall, die Soziologie einen Rückstand. Die Kloake ist das Gewissen der Stadt. Alles läuft hier zusammen und ist konfrontiert mit allem. An diesem fahlen Ort gibt es Finsternis, doch keine Geheimnisse mehr. Jedes Ding zeigt seine wahre oder zumindest endgültige Form. Für den Kehrichthaufen spricht, dass er nicht lügt. … Alle Unreinheit der Zivilisation, einmal außer Betrieb, fällt in diese Grube der Wahrheit, in die unaufhaltsam alles hinab gleitet, sie wird von ihr verschlungen, aber auch zur Schau gestellt. Dieses Durcheinander ist ein Bekenntnis. Da, wo kein falscher Schein, kein Verstecken mehr möglich ist, zieht der Unrat sein Hemd aus ¢ völlige Entblößung, Zusammenbruch der Illusionen und des Wahns, nur noch das, was

S. 84ff.; Simson, Kanalisation; Evans, Tod (wie Anm. 13); zu Köln: http://www.untergrundmalwerkstatt.de/kronleuchtersaal.html (aufgerufen am 4. 5. 2014).

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ist, erscheint unheilvoll als das, was endet. … Alles, was sich aufputzt, wird besudelt. Der letzte Schleier ist zerrissen. Eine Kloake ist eine Zynikerin. Sie sagt alles.«21

Ob Hugo hier eine verbreitete Sicht der Kanalisationen ausdrückte, ist schwer zu sagen. Genau genommen ist diese Frage wenig sinnvoll, denn Hugo hat weniger eine verbreitete Wahrnehmung formuliert, als diese vielmehr hervorgebracht. Seine Bücher wurden populäre Bestseller und haben fast schon ein eigenes Genre geschaffen: die dramatische, anscheinend auf Tatsachen basierende Darstellung, eine Mischung von Sozialreportage, Roman und Gruselgeschichte. Als literarisches Genre war diese Mischung erfolgreich und fand zahllose Nachfolger – wie schon 1862 der Brite John Hollingshead feststellte. Er sah darin ein zentrales Merkmal der französischen Literatur, die diesem Thema geradezu ihre Existenz verdanke, und urteilte in seinem Buch ›Underground London‹: »Take away the catacombs of Paris – the closed, magnified, mysterious catacombs – and the keystone of a mass of French fiction falls to the ground«.22 Seine Darstellung der Kanalisation in London fiel allerdings nicht weniger dramatisch aus. Er sprach von Kinderleichen, die in den Kanalisationen zu finden seien, und erwähnte die ›wilden Stämme‹ von London, die dort existierten und die er als ›city Arabs‹ bezeichnete. Diese Formulierung macht hellhörig und verlangt nach weiteren Informationen. Doch auch intensive Nachforschungen ergaben keine Hinweise darauf, was Hollingshead mit diesen Formulierungen meinte, ob sie ein damaliges Phänomen bezeichneten oder ob sie seiner literarischen Phantasie entsprangen. Einen ähnlich faszinierenden Aspekt der Kanalisationen des 19. Jahrhunderts behandelte Walter Benjamin. In seinen Schriften zur Fotografie setzte Benjamin sich mit Gaspard-F¦lix Tournachon auseinander, ein Fotograf, der unter dem Namen Nadar bekannt wurde. Dieser fertigte 1861 und in den folgenden Jahren zahlreiche Fotos von den Katakomben und der Kanalisation an, was allein schon bemerkenswert ist. Noch bemerkenswerter ist die Tatsache, dass er der erste Fotograf war, der dazu künstliches Licht einsetzte. Für Benjamin war dies das erste Mal, dass die Kamera dazu diente, Entdeckungen zu machen, die das menschliche Auge selbst nicht wahrnehmen konnte. Sie stellten das erste Bild der Begegnung von Mensch und Maschine dar, und besaßen schon dadurch eine Aura, die bis heute fasziniert.23 (Abb. 7)

21 Victor Hugo, Die Elenden [1862]. Düsseldorf 1998, 1406f. 22 John Hollingshead, Underground London. London 1862, 2. 23 Walter Benjamin, Kleine Geschichte der Photographie, in Rolf Tiedemann/ Hermann Schweppenhäuser (Hrsg.), Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. 2,1. Frankfurt/M. 1977, 368–85; ders.: Y (Die Photographie), in: ebd., Bd. 5,2, 824–46, hier : 832; Reid, Sewers, 44.

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Abb. 7: F¦lix Nadar : Kanalisation von Paris, rue du Chateau d’eau, 1864–65. Angesichts der langen Belichtungszeit benutzte Nadar für seine Bilder Modelle, die er entsprechend ankleidete. Aus: Heilbrun, FranÅoise (Hg.), Nadar : Les ann¦es cr¦atrices [1854–1860, exposition au mus¦e d’Orsay du 7 juin au 11 septembre 1994], Paris 1994, S. 93

Natur Jüngere Veröffentlichungen sehen den Bau von Kanalisationen als Realisierung eines zentralen Welt- und Kulturmodells, das mit der Industrialisierung entstanden und durch die Gegenüberstellung von Stadt und Land, von maschineller Produktion und Abfall und generell von Natur und Gesellschaft gekennzeichnet

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sei.24 Diese Gegenüberstellung diene – so Ulrich Beck – »dem Doppelzweck …, die Natur zu beherrschen und zu ignorieren«. Natur werde unterworfen und vernutzt.25 Diese Auffassung ist sehr verbreitet, und auf den ersten Blick spricht einiges dafür, dass die Industriegesellschaft von dem Bemühen geprägt ist, die Natur zu beherrschen und sie zugleich zu ignorieren. Tatsächlich jedoch ist diese Aussage problematisch, wie das Beispiel der Kanalisationen zeigt. Den daran Beteiligten war klar, dass sie große Projekte planten, die enorme Risiken bargen und weithin Neuland betraten. Die zuständigen Ingenieure haben deshalb – vor allem bei den ersten Vorhaben in London und Paris – jahrelange Studien betrieben, um die Natur bzw. die Teile davon, mit denen sie es zu tun hatten, erst einmal zu verstehen. Der Ingenieur müsse, so 1852/53 Robert Rawlinson, der für den Bau der Kanalisation in London zuständig war, »Diener der Natur werden. Und nachdem er die physischen Merkmale des Ortes studiert und sie so weit es eben geht genutzt hat, kann er seine Ziele leichter erreichen, als wenn er dem natürlichen Gang der Dinge Gewalt antut«.26 Dazu untersuchten seine Kollegen das Gefälle und die Beschaffenheit der Böden, erstellten neue und zuverlässige Karten; debattierten über die zu verwendenden Baumaterialien und nutzten auf vielfache Weise die damals zur Verfügung stehenden Mittel und Kenntnisse von Wissenschaft und Technik. Sie wollten die Natur nicht beherrschen oder gar ignorieren, sondern mussten sie verstehen, um ihre Vorhaben überhaupt umsetzen zu können. Dabei ging es nicht um eine abstrakte oder unberührte Natur – eine Vorstellung, die oftmals mitschwingt, wenn von deren vermeintlicher Beherrschung gesprochen wird. Vielmehr war die Natur, die Chadwick, Haussmann und andere Reformer vorfanden, städtisch geprägt, durch Menschen – oft seit Jahrhunderten – massiv verändert und zeigte sich in unterschiedlichsten Formen. Eine davon waren die Misthaufen, Senkgruben, Kloaken und verschmutzten Flüsse mit ihrem oft unerträglichen Gestank. Gegen diese Ausprägungen der Natur wollten sie vorgehen und stattdessen größere Reinlichkeit, frischere Luft und hygienischere Zustände schaffen. Das ist ihnen weitgehend gelungen, wenngleich oftmals auf Kosten der flussabwärts gelegenen Orte. Denn die Abwässer wurden zwar in den Kanalisationen gesammelt und aus den Städten entfernt, aber meist ohne ernsthafte Klärung weiter unten eingeleitet, wo sie erhebliche Belästigungen verursachten. Dabei traten diese nicht überraschend auf, sondern galten als das kleinere und zudem unvermeidliche Übel, um die Situation in den Städten zu verbessern. 24 Susanne Hauser, »Reinlichkeit, Ordnung und Schönheit« – zur Diskussion über Kanalisation im 19. Jahrhundert, in: Die alte Stadt, 4, 1992, 292–312, hier 294. 25 Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/M. 1986, 9. 26 Zit. nach Konstantinos Chatzis, La pluie, le m¦tro et l’ing¦nieur. Contribution — l’histoire de l’assainissement et des transports urbains, XIXe–XXe siÀcles. Paris 2000, 61.

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Ob sie allerdings wirklich unvermeidlich waren, war schon damals umstritten. Zum einen beschwerten sich diejenigen, die diese Belästigungen zu ertragen hatten; doch sie konnten sich lange Zeit kaum Gehör verschaffen. Zum anderen fand eine jahrelange und erbitterte Diskussion darüber statt, ob nicht mit der Ableitung der Abwässer ein unverzichtbarer Dünger verloren gehe. Immer schon dienten die Exkremente von Tieren und Menschen und andere organische Stoffe dazu, Felder zu düngen. Diese Gewohnheit bestand auch in den rasch wachsenden Städten fort, wo unterschiedlichste Verfahren bestanden und zahlreiche Personen damit beschäftigt waren, die diversen Fäkalien und Stoffe zu sammeln und sie auf den Feldern auszubringen. Allerdings stießen diese Verfahren mit dem raschen Wachstum der Städte zunehmend an Grenzen, schon durch die schiere Menge der Überreste. Dennoch hielten bis in das 20. Jahrhundert hinein die Forderungen, sie als Dünger zu nutzen, und zahlreiche Personen lehnten die Kanalisationen ab, die dieser Praxis ein Ende setzten. Denn Kanalisationen sollten alle Exkremente aufnehmen, auch die verwertbaren, und sie ohne weitere Vorkehrungen in Flüsse leiten, so dass sie nicht mehr als Dünger genutzt werden konnten.27 Einer der daran Beteiligten war Justus von Liebig, zur Mitte des 19. Jahrhundert der vielleicht berühmteste Chemiker Europas. Wer, so Liebig, die menschlichen Dünger nicht mehr den Feldern zuführe, betreibe Raubbau. Das hätten schon das römische und andere große Reiche getan und seien daran untergegangen. England stehe dasselbe Schicksal bevor, Missernten drohten. Dann würden Hunderttausende auf den Straßen sterben, und wenn ein Krieg hinzukomme, würden »die Mütter wie im Dreißigjährigen Krieg die Leiber der erschlagenen Feinde nach Hause schleppen, um mit ihrem Fleisch den Hunger ihrer Kinder zu stillen«. Man werde die Leichen der an Krankheiten gestorbenen Tiere »aus der Erde graben, um mit dem Aas die Agonie zu verlängern«. Dies seien, so Liebig, keine unbestimmten Weissagungen oder »Gebilde einer kranken Phantasie«, sondern Ergebnisse der Wissenschaft: »Nicht das Ob, sondern das Wann ist unbestimmt«.28 Liebig ist bekannt dafür, dass er ein begabter Selbstdarsteller war und zu Übertreibungen neigte. Doch auch andere machten sich große Sorgen, und tatsächlich bedeutete die Einführung der Kanalisationen eine markante Zäsur. Ein seit Urzeiten bestehender, natürlicher Kreislauf zerbrach. Mehr noch: Wohl 27 Nicholas Goddard, »A mine of wealth«? The Victorians and the Agricultural Value of Sewage, in: Journal of Historical Geography, 22/3, 1996, 274–90; Jürgen Büschenfeld, Flüsse und Kloaken. Umweltfragen im Zeitalter der Industrialisierung (1870–1918). Stuttgart 1997; Halliday, Stink, Kap. 5; Reid, Sewers, 54ff. 28 Justus von Liebig, Einleitung in die Naturgesetze des Feldbaus, gesonderte Abhandlung. in ders., Die Chemie in ihrer Anwendung auf Agricultur und Physiologie, 2 Teile. Braunschweig 1862, Teil 1, 125f.

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zum ersten Male können wir davon sprechen, dass Abfall systematisch erzeugt wurde. Stoffe, die nicht mehr benötigt wurden, gab es schon vorher. Sie bedeuteten allerdings eine Ausnahme, da vorindustrielle Gesellschaften durch Knappheit geprägt waren und fast alle Überreste noch nutzen konnten. Entsprechend war ihnen der Begriff ›Abfall‹ in unserer heutigen Bedeutung fremd.29 Jetzt hingegen fielen Abfälle in riesigen Mengen an, entstanden nicht zufällig. Eigentlich konnten sie noch genutzt werden, worauf Zeitgenossen nachdrücklich verwiesen. Und in den verschiedenen Ländern untersuchten zahllose Kommissionen, ob und wie menschliche und tierische Exkremente weiterhin als Dünger genutzt werden konnten. In kleineren Orten geschah dies bis in das zwanzigste Jahrhundert, indem etwa Tonnensysteme dazu dienten, die Exkremente zu sammeln und abzuführen.30 Doch in den größeren Städten waren die Kosten zu hoch, und Kommission nach Kommission stellte fest, dass diese Bemühungen ökonomisch keinen Sinn ergaben. Fäkalien mochten sich prinzipiell weiterhin als Dünger eignen, doch es bedeutete einen zu großen Aufwand an Personen, technischen Vorrichtungen und Geld, um sie zu sammeln und auf die Felder zu bringen. Der Begriff der Knappheit hatte sich verschoben. Fortan betraf er nicht in erster Linie natürliche Ressourcen. Knapp und damit teuer konnten vielmehr auch Arbeitskräfte oder Maschinen sein. In jedem einzelnen Fall kam es deshalb darauf an, eine Abwägung zu treffen, die allerdings nicht nur von den neuen Kriterien einer technischen, kapitalistischen Rationalität geprägt war. Chadwick und viele seiner Mitstreiter, die sich dafür einsetzten, weiterhin Exkremente zu sammeln, wollten dadurch auch ein organisches Gleichgewicht zwischen Stadt und Land erhalten und die soziale Harmonie fördern.31 Vereinzelt lässt sich bei Ihnen auch ein »quasi-mythischer Glaube an die Kraft menschlichen Düngers« feststellen, der dazu beitrug, dass die Debatten teilweise so erbittert verliefen.32

Zusammenfassung Kanalisationen gehörten zu den politischen, technischen und auch zivilisatorischen Großprojekten des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die von Beginn an zahlreiche Formen von Präsentation und Wahrnehmung hervorbrachte. Dazu 29 Ludolf Kuchenbuch, Abfall. Eine Stichwortgeschichte, in Hans-Georg Soeffner (Hrsg.), Kultur und Alltag, Göttingen 1988, 155–70. 30 Franz-Josef Brüggemeier, Schranken der Natur. Umwelt, Gesellschaft, Experimente 1750 bis heute. Essen 2014,114ff. 31 Reid, Sewers, 56. 32 David L. Pike, Subterranean Cities: The World between Paris and London 1800–1945. Ithaca 2005, 234.

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gehörten Bezüge auf die Antike, wie sie im 19. Jahrhundert üblich waren. Diese Bezüge besaßen jedoch vor allem symbolische Bedeutung und boten keine konkrete Orientierung oder gar Handlungsanweisung – selbst wenn Personen wie Liebig dafür plädierten. Vielmehr handelte es sich bei den Kanalisationen vor allem um Projekte der Zivilgesellschaft, die Ausdruck bürgerlichen Stolzes und Selbstbewusstseins waren. Dieses Bewusstsein beruhte nicht zuletzt darauf, dass Kanalisationen modernste Entwicklungen in Wissenschaft und Technik verkörperten. In besonders markanter Form verbanden sie bürgerlichen Stolz, selbstbewusste Wissenschaft und moderne Technik und können in dieser Kombination als ›typische‹ Projekte des ausgehenden 19. Jahrhunderts gesehen werden. Schließlich markierten sie einen Bruch mit traditionellen ›natürlichen‹ Kreisläufen und produzierten Abfall, der bis dahin in dieser Menge und Qualität nicht existierte. Es ist jedoch wenig hilfreich, hier von einem Sieg über oder einer Ignorierung der Natur zu sprechen. Stattdessen sind sie Ausdruck eines komplexen Wechselspiels von Mensch und Natur, bei dem die zeitgenössischen Debatten durch kritische Reflexivität ebenso gekennzeichnet waren wie durch Überschätzung der eigenen Möglichkeiten und im Ergebnis sowohl gewünschte wie auch unerwünschte Folgen zeitigten.