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German Pages 469 Year 1997
NILS HAVEMANN
Spanien im Kalkül der deutschen Außenpolitik von den letzten Jahren der Ära Bismarck bis zum Beginn der Wilhelminischen Weltpolitik (1883-1899)
Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte Herausgegeben im Auftrag der Preußischen Historischen Kommission, Berlin von Prof. Dr. Johannes Kunisch
Band 11
Spanien im Kalkül
der deutschen Außenpolitik von den letzten Jahren der Ära Bismarck bis zum Beginn der Wilhelminischen Weltpolitik (1883-1899)
Von
Nils Havemann
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Havemann, Nils: Spanien im Kalkül der deutschen Aussenpolitik : von den letzten Jahren der Ära Bismarck bis zum Beginn der Wilhelminischen Weltpolitik (1883 - 1899) / von Nils Havemann. - Berlin : Duncker und Humblot, 1997 (Quellen und Forschungen zur brandenburgischen und preussischen Geschichte ; Bd. 11) Zug!.: Bonn, Univ., Diss., 1996 ISBN 3-428-08913-8 NE:GT
Alle Rechte vorbehalten © 1997 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Wemer Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0943-8629 ISBN 3-428-08913-8
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Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 1995/96 von der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn als Dissertation angenommen. Die Umstände, lUlter denen das Werk entstand, waren aufgnmd der Quellenlage, der zahlreichen ForschlUlgsreisen lUld der widrigen Verhältnisse in einigen Archiven bisweilen abenteuerlich. Auf die schwierige EntstehlUlgsgeschichte zurückblickend, ist es mir ein Bedürfnis, jenen Menschen zu danken, die dazu beigetragen haben, daß die Dissertation in dieser Form erscheinen konnte. Der erste Dank gebührt Prof. Dr. Klaus Hildebrand, der die Arbeit mit großem Interesse betreute. Wahrscheinlich kann er sich selbst kaum vorstellen, wieviele lUlverzichtbare AnreglUlgen er mir in den persönlichen Gesprächen lUld im Rahmen seiner Lehrtätigeit an der Universität in Bonn gegeben hat. Wertvolle Informationen über das spanische Archivwesen lUld die Besonderheiten der spanischen Historiographie erhielt ich von Prof. Javier Rubio lUld von Prof. Luis Alvarez Gutierrez. Hervorzuheben sind Dr. Christoph Studt lUld Dr. Ulrich Lappenküper, die mit zahlreichen praktischen Hinweisen meine ForschlUlgsarbeit erleichterten. Für die ErstelllUlg des Zweitgutachtens bin ich Prof. Dr. Hans Pohl zu Dank verpflichtet. Prof. Dr. Johannes Kunisch danke ich für die Aufnahme meiner Dissertation in die Reihe "Quellen lUld ForschlUlgen zur Brandenburgischen lUld Preußischen Geschichte". Besonders erwähnen möchte ich Frau Christa Bertrand. Mit wachem Verstand lUld dem lUlbefangenen Blick eines historischen Laien las sie die Dissertation lUld sorgte mit ihrer konstruktiven Kritik dafür, daß die Arbeit verständlicher wurde. Dank spreche ich auch meinen Eltern Jürgen lUld Ingrid Havemann aus, wobei meine Mutter die FertigstelllUlg der Dissertation leider nicht mehr erleben durfte. Die größte AnerkennlUlg aber verdient Studienrätin Petra Havemann - meine Frau. Sie machte sich nicht nur die Mühe, lUlgezählte Male das Manuskript auf Fehler durchzusehen lUld von stilistischen Sünden zu befreien. Sie mußte auch die komplizierte EntwickllUlg der Arbeit mit durchstehen. Ohne ihre UnterstütZlUlg lUld ihre vielen persönlichen Opfer während der drei Jahre, in denen dieses Werk entstand, wäre das Gelingen der Dissertation kaum denkbar gewesen. Es kann daher nur ein unzureichender Dank sein, daß ihr dieses Buch gewidmet ist. Mainz im September 1996 Nils Havemann
Inhaltsverzeichnis J. Kapitel Einleitung ....... ....................... ..................................................................................... 15
2. Kapitel Monarchische SoHdarität im 19. Jahrhundert und die Bedeutung Spaniens im Mächtesystem A. Vom Wiener Kongreß bis zum Krimkrieg ............................................................ 38 B. Bismarck und das Prinzip monarchischer Solidarität ........................................... 46 C. Bismarcks Haltung zu Spanien und den übrigen romanischen Monarchien in Europa bis zum Vorabend der Reise Alfonsos XII. nach Deutschland ................ 57
3. Kapitel Spaniens beschwerHcher Weg ins Mächtekonzert: die deutsch-spanische Annäherung (1883/84) A. Bismarcks Skepsis gegenüber Spanien vor dem Hintergrund der innenpolitischen Verhältnisse auf der Iberischen Halbinsel.................................................. 1. Der Widerstand in Spanien gegen den Handelsvertrag mit dem Deutschen Reich ................................................................................................................ 2. Bismarcks Perzeption des spanischen Verfassungssystems .............................. 3. Der Aufstand von Badajoz als Signum für die innenpolitische Instabilität und militärische Schwäche Spaniens ....................................................................... B. Die Reise Alfonsos XII. nach Deutschland und das französische Störfeuer ........ C. Die Reise des deutschen Kronprinzen nach Spanien ........................................... D. Die Aussprache in den Cortes über die Reise Alfonsos XII. und die spanische Regienmgskrise von 1884 ...................................................................................
68 68 72 74 77 85 89
4. Kapitel Die deutsch-spanische Entfremdung während der deutschen KolonialpoHtik (1884/85) A. Bismarcks Stellung zur Integrität des spanischen Kolonialbesitzes .....................
96
8
Inhaltsverzeichnis
B. Die Anerkennung der spanischen Souveränität über den Suluarchipel ................ C. Der Streit um die Karolinen ................................................................................. 1. Die politischen Spannungen im Vorfeld des Streites ....................................... 2. Der Verlauf des Konfliktes ...............................................................................
104 108 108 112
5. Kapitel Bismarcks Spiel mit dem republikanischen Feuer in Südwesteuropa (1885/86) A. Die Krise des Dreikaiserbündnisses ..................................................................... B. Bismarck über die Vorzüge der Republikanisierung Südwesteuropas ................. C. Das Schüren der Angst vor der Revolution und der Beginn der Außenpolitik Morets .................................................................................................................. D. Bismarcks Taktieren gegenüber den Umtrieben Ruiz Zorrillas ............................
121 122 129 133
6. Kapitel Bismarcks unfreiwillige Zustimmung zum spanisch-italienischen Abkommen: Spaniens Eintritt in den Vorhof des Dreibundes (1886/87) A. Die Doppelkrise und der Ausbau des westlichen Bündnissystems ....................... B. Das spanisch-italienische Abkommen von 1887 .................................................. 1. Morets Ziele und der Beginn der spanisch-italienischen Verhandlungen ........ 2. Bismarcks widerwillige Befürwortung des Abkommens ..................................
140 142 142 148
7. Kapitel Die Rückkehr zur Politik der Destabilisierung Spaniens: die riskante Kooperation der alten Kolonialmacht mit dem Dreibund (1887 - 1890) A. Bismarcks Balanceakt "auf des Messers Schneide" ............................ ................. B. Spaniens gefährliche Scheinverhandlungen mit Frankreich und Morets Projekt einer internationalen Marokkokonferenz (1887) ................................................. C. Deutschland, Frankreich und die Entsendung von Kriegsschiffen zur Weltausstellung in Barcelona (1888) ............................................................................... D. Vega de Armijos Forderung nach einer Revision des Abkommens mit Italien und das Gerücht über einen französisch-spanischen Geheimvertrag (1888) ....... E. Vega de Armijos Orientierungslosigkeit: die scheinbare deutsch-spanische Rivalität in Marokko (1889) ................................................................................... F. Die bewußte Gefährdung der Monarchie in Spanien durch Bismarcks Haltung zur Revolution in Brasilien (1889) .....................................................................
156 160 168 172 180 185
Inhaltsverzeichnis
9
8. Kapitel Deutschlands Neuer Kurs: die Verlängerung des spanisch-italienischen Abkommens (1890/91) A. Die zentrale Bedeutung des Dreibundes für den Neuen Kurs und die Furcht vor der Revolution in Südwesteuropa .................................................................. 193 B. Der spanische Irrtum in der Providencia-Frage ................................................... 197 C. Die Regierung Canovas und die Verlängerung des spanisch-italienischen Abkommens ...................................................................... .... .................................... 200
9. Kapitel Im Strudel der deutschen Allianzpolitik: Spanien zwischen den Fronten in Europa (1891 - 1894) A. Die Bemühungen der Wilhelmstraße um die britische Kooperation und die Folgen des deutschen Kurswechsels für den monarchischen Zusammenhalt in Europa .................................................................................................................. B. Der Plan einer militärischen Intervention in Portugal zur Bekämpfung der Revolution in Südwesteuropa (1891) ....................................................................... 1. Berlins Bemühungen um ein Mandat ............................ ........................ ........... 2. Madrids Bemühungen um ein Mandat................................ ............................. C. Der Versuch der Instrumentalisierung Spaniens gegen den französischen Anspruch auf Tuat (1891) ......................................................................................... D. Die Regierung Canovas in der Enge: die Krise der französisch-spanischen Wirtschaftsbeziehungen und die Kündigung des deutsch-spanischen Handelsvertrages (1892) ................................................................................................... E. Die Regulierung der deutsch-spanischen Wirtschafts beziehungen und Morets Konfrontationskurs gegen Frankreich nach Zwischenfällen an der Pyrenäengrenze (1893) ....................................................................................................... F. Spaniens erneute Bemühungen um ein Mandat für eine Intervention in Portugal (1893) .................................................................................................................. G. Das Deutsche Reich und die spanisch-marokkanische Krise (1893/94) .............. 1. Die Anstrengungen der Wilhelmstraße zur Beilegung des MeliUa-Konfliktes und die unbeabsichtigte Kompromittierung der spanischen Monarchie ........... 2. Morets wachsende Verunsicherung: der Dreibund, England und die Indemnitätsfrage .........................................................................................................
205 211 211 219 224 233 244 248 252 252 261
10. Kapitel Der Wiederbelebungsversuch des englisch-französischen Gegensatzes: die gezielte Ausgrenzung Spaniens und Destabilisierung seines Kolonialbesitzes (1894/95) A. Die Verschlechterung der deutsch-britischen Beziehungen und die Anfange deutscher Weltpolitik .........................................................................................
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Inhaltsverzeichnis
B. Der Widerstand der Cortes gegen den deutsch-spanischen Handelsvertrag ......... C. Moret am Scheideweg: die Hintertreibung spanischer Kolonialinteressen in Marokko durch das Deutsche Reich. ........ .................... ........................................ D. Der vergebliche Protest Österreich-Ungams gegen die destruktive Spanienpolitik der Wilhelmstraße ......................................... .............. .......... .......................... E. Berlin und die ersten Gespräche über eine Verlängerung des spanisch-italienischen Abkommens...... .... ........................................ ....................................... ...... F. Das erwachte Interesse am spanischen Kolonialbesitz: der Gedanke an einen Raub Rio de Oros .. .............................................................................................. G. Berlins Veto gegen die Sicherung des spanischen Kolonialbesitzes in Südostasien .....................................................................................................................
273 278 287 292 302 305
11. Kapitel Im Zeichen der anvisierten Aufteilung des spanischen Kolonialbesitzes: das aussichtslose Ringen der Regierung Canovas um eine diplomatische Beistandsverpflichtung des Dreibundes (1895/96)
A. Die zerfallenden Großreiche und die Politik der freien Hand ....... ............. ........... B. Die deutsche Obstruktionspolitik gegen die Verlängerung des spanisch-italienischen Vertrages .................................................................................................... C. Das endgültige Scheitern der spanisch-italienischen Verhandlungen .................. D. Die deutsche Obstruktionspolitik gegen die Initiative Sir Drurnmond Wolffs zur Vermittlung im Kuba-Konflikt ......................................................................
313 319 325 338
12. Kapitel Der unliebsame amerikanische Konkurrent: Deutschland und der Zerfall des spanischen Kolonialreiches (1897 - 1899)
A. Das deutsche Weltmachtstreben............................................................................ B. Wilhelms 11. Bemühungen um eine antiamerikanische Front ..... ................... ........ C. Madrids Bitte um eine europäische Intervention .................. .... ..................... ....... D. Bülows Gedanke an einen päpstlichen Schiedsspruch ......................................... E. Die englische Initiative zur Abwendung des spanisch-amerikanischen Krieges ... F. Das Deutsche Reich und der spanisch-amerikanische Krieg ................................ 1. Expansion statt Eindämmung der Revolution: deutsche Ziele im spanischamerikanischen Krieg ....................................................................................... 2. Das ungeduldige Warten in Berlin auf das Ergebnis der Waffenstillstandsverhandlungen ... ........ .................... ..... .............. .............. .......... ....... ......... ...... ....... 3. Der Rivale zur See: Berlin und der englisch-spanische Konflikt um Gibraltar... 4. Die schmale Beute: der Kauf der Karolinen .....................................................
346 351 360 366 372 378 378 386 392 397
Inhaltsverzeichnis
11
5. Spaniens getäuschte Hoffuung auf das Ende seiner Isolation: Kontinentalbundgedanke und Ratifizierung des Karolinenvertrages ....... ..... ......... ............ 402
13. Kapitel Schluß betrachtung ................................................................................................... 411
Verzeichnis von Quellen und Literatur ................................................................. 421 Register ..................................................................................................................... 458
Abkürzungsverzeichnis AA a.a.O. Abt. ACD AGA AHN AHR AMAE AMAEP AMAER Anh. Anm. APN AR BA BA-MA BA-Po Bd. Bde. bearb. Beih. bes. Besitz. BHStA CD CEH Co!. CP DDF ders. dies.
EHR
eigenh. einge!. f. fasc. ff. FO
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Abkürzungsverzeichnis gesam. GP GStA GWU H. HHStA,PA HJ Hrsg. hrsg. HStA HZ JCH Jg. JMH Kap. Kt. leg. MP NA Ndr. NL
NPL
Nr. NS o.J.
0.0.
PA Pac. PRO RADH Rep. S. SdE span. TG
u.
u.a. Übers. v. VfZG vgl. Vol. ZfG zit.
gesammelt Große Politik Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Merseburg Geschichte in Wissenschaft und Unterricht Heft Haus-, Hof- und Staatsarchiv (Politisches Archiv) in Wien Historical Journal Herausgeber herausgegeben Staatsarchiv in Hamburg Historische Zeitschrift Journal of Contemporary History Jahrgang Journal ofModern History Kapitel Karton legajo Museo Provincial de Pontevedra in Pontevedra National Archives ofthe United States Nachdruck Nachlaß Neue Politische Literatur Nummer Nouvelle serie ohne Jahr ohne Ort Politisches Archiv in Bonn Pacco Public Record Office in London Real Academia de la Historia in Madrid Repertorium Seite Secci6n de Estado spanische Telegramm und unter anderem/und andere Übersetzung von/vom Viertelj ahrshefte für Zeitgeschichte vergleiche Volurnina Zeitschrift für Geschichtswissenschaft zitiert
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1. Kapitel
Einleitung Das Jahr 1898 stellte nicht nur für Europa, sondern für den ganzen Erdkreis eine Zäsur in den internationalen BeziehWlgen dar. Zwar war der Krieg der aufstrebenden Vereinigten Staaten von Amerika gegen Spanien nicht der Ausgangspunkt, sondern bereits der erste Höhepunkt des amerikanischen Imperialismus; 1 doch erst dieses Ereignis verdeutlichte den übrigen Staaten, daß eine neue Macht in die Weltpolitik eingetreten war. 2 Im Schatten dieses Aufstiegs der USA blieb ein Land als Opfer der amerikanischen Expansionspolitik zurück, das das Jahr 1898 als einen der bittersten Momente in seiner Geschichte empfand. Für Spanien war der endgültige Zusammenbruch seines einst weltumspannenden Imperiums mehr als die letzte Episode einer EntkolonialisiefW1g, die schon lange vorher begonnen hatte. 3 Dieses "desastre colonial,,4 - oder "la gran quiebra", wie es der spanische Historiker Jesus Pab6n einmal bezeichnete _5 entwickelte sich im spanischen Bewußtsein zu einem "trauma,,6, das nicht nur für einen kleinen Kreis von Intellektuellen das Motiv ihres Schaffens bildete/ sondern auch die gesamte spanische Gesellschaft in eine schwere Bewußtseinskrise stürzte Wld ihre Strukturen schwer erschütterte.8
I
2
206.
So Wehler. Aufstieg, S. 191. Vgl. Barraclough: Gleichgewicht, S. 723. Ähnlich auch Born: Reichsgründung, S.
3 So Temime/Broder/Chastagnaret: Historia, S. 173, die sich mit der Aussage, daß der Verlust Kubas nicht mehr als "un episodio particulannente doloroso de una descolonizacion comenzada mucho tiempo antes" darstellte, in der Beurteilung der Bedeutung des Ereignisses fiir den weiteren Verlauf der spanischen Geschichte ähnlich wie bereits Allendesalzar: EI 98, S. 7, von der übrigen Historiographie ein wenig abgehoben haben. 4 Tuiion de Lara: De la Restauracion, S. 53. 5 Pabon: EI 98, S. 139. 6 Simchez Jimenez: La Espafia, Bd. 2, S. 195. 7 Von der kaum noch überschaubaren Literatur über die "Generacion deI 98" seien hier lediglich erwähnt Molina: La generacion; Fox: La crisis; insbesondere die Synthese von Franzbach: Hinwendung. 8 Vgl. Sanchez Albornoz: Espafia, Bd. II, S. 679; Tuiion de Lara: Espafia, S. 35 ff.; Seco Serrano: Alfonso XIII, S. 37.
16
1. Kap.: Einleitung
Angesichts dieses als äußerst schmerzhaft empfimdenen Einschnittes, den die Katastrophe für das Land auf der Iberischen Halbinsel bedeutete, kann es kaum verwundern, daß spanische Zeitgenossen sich rasch einem Phänomen zuwandten, das sie zunächst mit einem unverkennbaren Ton der Anklage aufzuarbeiten versuchten: der Neutralität der europäischen Großmächte, die dem Griff der Vereinigten Staaten nach den überseeischen Besitzungen Spaniens tatenlos zusahen. So betonte Rafael Maria de Labra 1902 mit Blick auf die Ereignisse des Jahres 1898 die Aussichtslosigkeit des spanischen Versuches, die Kolonien gegen eine Übermacht wie die USA zu verteidigen. 9 Die Unterlegenheit war nach seiner Ansicht um so hoffnungsloser, als Spanien diesen Krieg völlig isoliert habe fUhren müssen, JO umgeben von Mächten, die "en una egoista y ternerosa serenidad" verharrt hätten. 11 Für de Labra waren der spanischamerikanische Krieg und der Verlust der letzten überseeischen Besitzungen deutliche Zeichen dafür, daß die Völkergemeinschaft nicht das Recht, sondern die Gewalt als entscheidendes Prinzip in den internationalen Beziehungen akzeptiert hatte. I2 Was die Haltung des Deutschen Reiches anbelangt, so stellte sich schon bald heraus, daß die Akten des Auswärtigen Amtes das Urteil de Labras in dieser scharf pointierten Form nicht zu bestätigen schienen. Mittlerweile gehört es zu den Gemeinplätzen der Historiographie, die antiamerikanische und prospanische Richtung der deutschen Außenpolitik im Vorfeld des spanischamerikanischen Krieges zu akzentuieren. Schon unmittelbar nach der Veröffentlichung der Akten stellte Lester Burrell Shippee fest, daß das Kaiserreich eine diplomatische Intervention zugunsten der spanischen Monarchie erwog. I3 Dabei habe sich die Reichsleitung in ihren Überlegungen zur Bildung einer antiamerikanischen Front von zwei Motiven leiten lassen: Zum einen habe sie für den Fall einer spanischen Niederlage den Ausbruch der Revolution auf der Iberischen Halbinsel befürchtet, die dem monarchischen Prinzip in Europa einen schweren Schlag versetzt hätte; zum anderen habe sie die weitreichenden politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen einer amerikanischen Machterweiterung vermeiden wollen. I4 Letztlich seien aber alle Versuche, eine Front gegen die Vereinigten Staaten herzustellen, daran gescheitert, daß keine europäische Großmacht die Neigung verspürt habe, die Initiative zu einem solchen Schritt zu ergreifen. I5 So habe in Berlin die Auffassung gesiegt, angesichts der möglichen Nachteile eines Alleinganges für die politische wie wirtschaftliche Stellung des Deutschen Reiches gegenüber den übrigen Großmächten keine Position einnehmen zu dürfen, die zu einer amerikanischen Verstimmung fUhren Vgl. de Lahra: Aspecto, S. 715. Vgl. eben da. 11 Ebenda, S. 717. 12 Vgl. ebenda. 13 Vgl. Shippee: Gennany, S. 754 f. 14 Vgl. ebenda, S. 755. 15 Vgl. ebenda, S. 756 f.
9
10
1. Kap.: EinleitWlg
17
könnte. 16 In der Sorge wn das globale Gleichgewicht habe sich das Deutsche Reich nach Ausbruch des Krieges an dem "colonial scramble" beteiligt und nach Kompensationen Ausschau gehalten; dabei sei die deutsche Haltung auch weiterhin geprägt gewesen von der Furcht vor einer Revolution in Spanien und "its probable widespread effects for the monarchical principle everywhere".17 Zunächst habe Berlin seine Bemühungen wn eine geeignete Kompensation auf die Philippinen konzentriert; als sich die USA jedoch diesem Vorhaben entgegenstellten, habe es sich mit dem Kauf der Karolineninseln, mit Spanien in einem separaten Abkommen vereinbart, begnügt.18 Eine zwar ausführlichere, aber gedanklich sich von der Interpretation Shippees kawn abhebende Darstellung der deutschen Haltung zum spanischamerikanischen Krieg präsentierte Bernhard Zirns in seiner Dissertation aus dem Jahre 1929. Auch Zirns betonte die Bemühungen der deutschen Reichsleitung wn ein Eingreifen der europäischen Staaten zugunsten Spaniens, wobei vor allem Kaiser Wilhelm 11. mit dem Ziel der ,,Erhaltung der monarchischen Staatsform in Spanien" auf eine rasche Realisierung gedrängt habe. 19 Der deutsche Kaiser sei "zwar jederzeit bereit" gewesen, "das monarchische Prinzip zu stützen",z° habe sich aber schließlich der Einsicht beugen müssen, daß die eigenen wirtschaftlichen und politischen Interessen eine deutsche Initiative verbieten würden. 21 Bis zum Ausbruch des Krieges hätten Wilhelm und der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Bernhard von Bülow, gleich mehrere Versuche unternommen, "in einem fiir Spanien günstigen Sinne" zu intervenieren;22 doch zu mehr als einem platonischen Schritt in Form einer halbherzigen Note, in der die USA zur Wahrung des Friedens angehalten wurden, habe das Deutsche Reich die europäischen Großmächte nicht motivieren können?3 Nach Kriegsbeginn habe die Wilhelmstraße auf das Gerücht hin, daß die Philippinen in die spanische Konkursmasse fallen würden, ein Kriegsschiff vor die Bucht von Manila entsandt, weil sie nicht einsehen wollte, warum ,,Deutschland, wie so oft, hinter englisch-französisch-russischen Kolonialansprüchen zurückstehen" sollte. 24 Als die USA das Recht des Siegers auf die Annexion der Philippinen selbst in Anspruch nahmen, habe die deutsche Politik ihre Bemühungen auf den Kauf der Karolinen beschränkt, "deren Besitz fiir Spanien nach dem Verluste der Philippinen keinen großen Wert mehr darstellen konnte" und die die spanische Regierung ohnehin ,,möglichst vorteilhaft zu veräußern" bestrebt gewesen
16 Vgl. ebenda, S. 763. 17 Ebenda, S. 763 f. 18 Vgl. ebenda, S. 776 f. 19 Zirns: Großmächte, S. 27 f. 20
Ebenda, S. 31.
21 Vgl. ebenda, S. 28 ff. 22
Ebenda, S. 34.
23 Vgl. ebenda, S. 37 ff. 24 Ebenda, S. 99. 2 Havemann
1. Kap.: Einleitung
18
sei. 25 Bei der Beteiligung des Deutschen Reiches an der Aufteilung des spanischen Kolonialbesitzes sei "eben das oft erwähnte und oft gerügte Bestreben der deutschen Politik nach Weltgeltun§, geboren aus der Angst, nicht für voll angesehen zu werden", zutage getreten. 6 Alfred Vagts betrachtet in seiner 1935 erschienenen Darstellung über die deutsch-amerikanischen Beziehungen zwischen 1890 bis 1906 den deutschen Expansionsdrang der späten neunziger Jahre vor dem Hintergrund der sozioökonomischen Voraussetzungen. Daher interpretierte er den deutschamerikanischen Antagonismus während des spanisch-amerikanischen Konfliktes als einen vornehmlich von wirtschaftlichen Interessen bestimmten Gegensatz. 27 Dennoch führte auch Vagts die Anstrengungen des Kaiserreiches, eine anti-amerikanische Front herzustellen und den Kriegsausbruch zu verhindern, unter anderem auf das Bestreben zurück, die "Solidarität der Monarchen" gegenüber den Kräften der Revolution zu wahren. 28 Wegen der erheblichen wirtschaftlichen Nachteile, die ein solcher Schritt hätte nach sich ziehen können, aber auch mit Blick "auf die europäische Feindschafts- und Bündnislage und die von den Russen mit Vorliebe präsumierte russisch-amerikanische Vertraulichkeit,,29 habe sich das Deutsche Reich nicht getraut, die Initiative zu ergreifen. Aufgrund der im Verlauf der verschiedenen Interventionsversuche zum Vorschein gekommenen Scheu der übrigen Großmächte habe schließlich auch die deutsche Reichsleitung die ,,monarchische[n] Aufwallungen" zügeln und der Eskalation des Konfliktes tatenlos zuschauen müssen?O Unter dem Eindruck der heftig geführten Diskussion über die Antriebskräfte des Imperialismus untersuchte 1980 Dlli Kaikkonen noch einmal die deutsche Haltung zum spanisch-amerikanischen Krieg. Dabei hob auch er die Bemühungen der deutschen Reichsleitung hervor, eine "europäische Einheitsfront" gegen die Vereinigten Staaten zu bilden. 31 Neben den wirtschaftlichen Reibungsflächen zwischen Deutschland und den USA, die in seiner Studie ähnlich wie in dem Werk von Vagts einen breiten Raum einnahmen, erkannte er in den Anstrengungen der deutschen Reichsleitung zur Herstellung einer antiamerikanischen Koalition Aktionen "zur Rettung der spanischen Monarchie".32 Da England nach der Lösung des Venezuela-Grenzstreites aber zu einer angloamerikanischen Zusammenarbeit entschlossen gewesen sei, habe das deutsche Kaiserreich keine Möglichkeit zu einer wirkungsvollen Intervention gesehen; aus diesem Grund sei eine ,,'platonische' Proklamation der Großmächte" das
Ebenda, S. 112. Ebenda, S. 132. 27 Vgl. Vagts: Deutschland, S. 1257 ff. 28 Ebenda, S. 1279. 29 Ebenda, S. 1290. 30 Ebenda, S. 1299. 31 Kai/ckonen: Expansionspolitik, S. 175. 32 Ebenda, S. 84; vgl. auch S. 79 und S. 81 ff. 25
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1. Kap.: Einleitung
19
einzige greifbare Ergebnis dieser BemühWlgen geblieben. 33 Die deutsche HaltWlg während des Krieges betrachtete Kaikkonen im Zusammenhang mit dem "der Zeit eigene[n] darwinistische[n] Denken", das die deutsche ReichsleitWlg als "ideelle" BegründWlg dafur angeführt habe, sich in dem ausgebrochenen Kampf ums Dasein eigener ExpansionsbestrebWlgen nicht enthalten zu dürfen. 34 ,,Als Folge des Krieges erhielt Deutschland die Gelegenheit, seine Besitzungen im Pazifik zu mehren",35 Wld es habe aus prestigepolitischen, aber besonders auch aus sozialimperialistischen Motiven "die sich [.... ] bietenden Kompensationsmöglichkeiten geschickt" ausgenutzt?6 Die SpannWlgen zwischen Berlin Wld Washington akzentuierte auch Ragnhild Fiebig-von Hase in ihrer 1984 veröffentlichten DarstellWlg über ,,Lateinamerika als Konfliktherd der deutsch-amerikanischen BeziehWlgen" von 1890 bis 1903. Obgleich sie im Zusammenhang mit den Ereignissen von 1898 nicht im Detail auf die wiederholten Versuche zur VerhinderWlg des spanischamerikanischen Krieges einging, beschrieb sie überzeugend die stete Sorge auf amerikanischer Seite vor einer ,,möglichen europäischen Unterstützung" fur Spanien. 37 Das hohe Konfliktpotential zwischen Deutschland Wld den USA habe sich nicht nur während des Krieges in dem Gerangel um die AbtretWlg einiger Stützpunkte aus der spanischen Konkursmasse geäußert, sondern es sei auch in den ,,manifesten Sympathien des Reiches fur Spanien" zum Vorschein gekommen, die auch "die formal korrekte Neutralität des Kaiserreiches während des Krieges nicht verdeckt" habe. 38 Wenngleich Reiner Pommerin 1986 in seiner Studie über Wilhelm 11. Wld Amerika im Gegensatz zu Fiebig-von Hase den deutsch-amerikanischen Antagonismus insgesamt herWlterzuspielen versuchte 39 Wld damit heftigen Widerspruch hervorrief,40 konnte auch er die deutschen Pläne zur HerstellWlg einer anti amerikanischen Koalition nicht leugnen. Dabei habe sich vor allem im deutschen Kaiser "ein starkes Gefühl der Solidarität mit der spanischen Monarchie" geregt, weil nach AuffassWlg Wilhelms 11. der Verlust der letzten Kolonien "fur Spanien das Ende der Monarchie" bedeutet hätte. 41 Daneben sei seine HaltWlg ,,noch von der seit Caprivi beibehaltenen Anti-Amerika-Politik bestimmt" gewesen, deren VerwirklichWlg Bülow im Interesse eines Wlgestörten Aufbaus der deutschen Flotte im Rahmen der weltpolitischen Ambitionen nur mit Mühe habe Ebenda, S. 176. Ebenda. 35 Ebenda. 36 Ebenda, S. 178. 37 Fiebig-von Hase: Lateinamerika, S. 749. 38 Ebenda. 39 Vgl. Pommerin: Kaiser, S. 377 ff. 40 Vgl. Mehnert: Deutsche Weltpolitik, S. 648; Fiebig-von Hase: Rolle, S. 224 f. Zu den verschiedenen Positionen in der Forschung über die deutsch-amerikanischen Beziehungen zur Iahrhundertwende vgl. auch Schröder: Deutschland, S. 11 ff. 41 Pommerin: Kaiser, S. 73. 33 34
20
1. Kap.: Einleitung
abwenden können. 42 Obgleich die Absicht, mit einer eigenen Initiative zur Wahnmg des monarchischen Prinzips "gegen die republikanischen Übergriffe Amerikas" hervorzutreten, auf Billows Ablehnung gestoßen sei, habe der Staatssekretär im Auswärtigen Amt die Mitwirkung des Deutschen Reiches fiir den Fall in Aussicht gestellt, daß der Impuls fiir einen solchen Schritt von einer anderen Großmacht ausgehen würde. 43 Da aber "schon wegen des kommerziellen Interesses aller europäischen Staaten" ein solcher Vorstoß nicht zustande gekommen sei, hätten "echte 'Drohgebärden' gegenüber den USA" entfallen müssen. 44 Seinen "politischen Leitlinien gemäß", aus "den Konflikten anderer Staaten miteinander risikolos Profit fiir das Deutsche Reich zu ziehen",45 habe Billow in dem entbrannten Kampf um das koloniale Erbe Spaniens mitgenmgen; dabei habe sich das Deutsche Reich nach den getäuschten Hoffnungen auf eine Ehilippinische Flottenstation mit dem Kauf kleinerer Inseln im Pazifik begnügt. 6 Auf die prinzipiell wohlwollende Haltung des Deutschen Reiches gegenüber Spanien unmittelbar vor dem Krieg mit den USA verwies 1988 auch Benedikt Rüchardt in seiner Darstellung der deutsch-spanischen Beziehungen zwischen 1898 und 1931. Er sprach von der ,,Hauptsorge" Wilhelms 11., die nicht nur "dem monarchischen Zusammenhalt", sondern auch "dem Faktum galt, daß die koloniale Existenz eines Landes von einem anderen entscheidend bedroht wurde".47 Die deutsche Reichsleitung habe sich jedoch in ihren Bemühungen, den Kriegsausbruch zu verhindern und Kuba fiir Spanien zu erhalten, mäßigen müssen; denn zum einen sei die Unterstützung der übrigen europäischen Kabinette ausgeblieben, zum anderen habe fiir eine militärische Konfrontation mit den USA die unentbehrliche Gnmdlage, die Flotte, gefehlt, die bis dahin "selbst auf dem Reißbrett nur in Ansätzen" zu erkennen gewesen sei. 48 Rüchardt behauptete außerdem, daß bis zum ersten Schuß "der Gedanke deutscher Nutznießung aus einem möglichen Konflikt [... ] nicht aut1getaucht]" sei. 49 Trotz des kolonialen Begehrens habe es auch im Krieg ,,keine Anzeichen fiir praktische Ansätze zu Annexionen spanischer Besitzungen" gegeben,50 da Berlin besonders großen Wert darauf gelegt habe, "aus dem Krieg gewaltlos territorialen Nutzen zu ziehen".51 So sei der Kauf der Pazifikinseln das einzige Resultat der deutschen Bemühungen um einen Teil aus der spanischen Konkurs-
42 Ebenda, S. 74. 43 Ebenda, S. 76 f. 44
Ebenda, S. 79.
46
Vgl. ebenda, S. 92 f.
45 Ebenda, S. 81.
47 Rüchardt: Beziehungen, S. 20. 48 Ebenda, S. 20 f. 49 Ebenda, S. 20. so Ebenda, S. 30. Ebenda, S. 33.
SI
1. Kap.: Einleitung
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masse geblieben, wobei sich die Wilhelmstraße bei der Festlegung des Kaufpreises "überraschend" großzügig gezeigt habe. 52 All diese von der historischen Forschung konstatierten Anzeichen einer "fast sentimental anmutenden Solidarität,,53 mit der spanischen Monarchie sind insofern plausibel, als das Deutsche Reich nicht nur aus ideologischen, sondern auch aus realpolitischen Gründen durchaus ein konkretes Interesse daran haben konnte, den Ausbruch der Revolution in Spanien zu verhindern. Ein flüchtiger Blick auf die innenpolitische Entwicklung der großen europäischen Staaten seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts offenbart, daß der feste Zusammenhalt unter den europäischen Monarchien aus Sicht der sie tragenden Kräfte notwendiger denn je zu sein schien, um die Welle der umstürzlerischen Strömungen abzuwehren, die die Throne nach damaliger Einschätzung hinwegzuspülen drohte. Schon im April 1873 beklagte sich Bismarck, daß die Sozialisten in Deutschland "fortdauernd die Aufregung unter den Arbeitern gegen die Regierung" nährten _54 eine Entwicklung, die zur Jahrhundertwende auch Wilhelm 11. zum Kampf gegen die Sozialdemokratie aufrufen ließ. 55 In Rußland war der Zar in den siebziger Jahren über den Nihilismus und den Populismus schockiert, deren Vertreter auf den Umsturz der bestehenden Ordnung in ihrem Land hinarbeiteten;56 zwar konnten diese Bewegungen im folgenden Jahrzehnt durch restriktive Maßregeln niedergehalten werden, doch schon in den neunziger Jahren erhob in Rußland die sozialistische Bewegung ihr Haupt, die im weiteren Verlauf der russischen Geschichte unter Beweis stellte, daß sie den Nihilismus an Entschlossenheit und Tatkraft noch übertraf und zu ihm "in a continous revolutionary tradition" stand. 57 In Italien stellte sich die mazzinistische Partei seit der Gründung des Nationalstaates in Gegnerschaft zu den monarchischen Institutionen des Landes und fand sich nach den blutigen Aufständen vom Frühjahr 1898 mit der sogenannten Radikalen Linken und der Sozialistischen Partei zu einer neuen Koalition zusammen. 58 In Österreich-Ungarn waren sich die Entscheidungsträger mit Blick auf den weiter schwelenden Nationalismus in ihrem Herrschaftsbereich seit jeher bewußt, daß die Zukunft der Habsburger Monarchie ,,nur im Rahmen internationaler Solidarität zu sichern" war. 59 Allein England schien sich durch die Fähigkeit zur schrittweisen Umformung seines VerEbenda, S. 35. 53 Pommerin: Kaiser, S. 74. 54 Zitiert nach Stürmer: Reich, S. 178. Zu Bismarcks Perzeption der innenpolitischen Revolutionsgefahr vgl. u.a. auch Stürmer: Konservatismus, S. 143 ff. 55 Vgl. Gutsehe: Wilhelm II., S. 68. 56 Vgl. Craig: Geschichte Europas, S. 308. 570jJord: The Russian revolutionary movement, S. 165. Vgl. dazu auch jüngst Ortmann: Revolutionäre, passim. 58 Vgl. Craig: Geschichte Europas, S. 254 f.; Ghisalberti: Storia costituzionale, S. 249 ff. Zum Programm des Mannes, auf den sich die Mazzinistische Partei berief, vgl. auch Romeo: Mazzinis Programm, S. 15 ff. 59 Rumpier: Österreich-Ungarn, S. 144. 52
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fassWlgssystems jenem revolutionären Alpdruck weitgehend entziehen zu können,60 der die Befindlichkeit der meisten anderen europäischen Monarchien belastete. Angesichts des offensichtlich Wlaufhaltsamen Fortschritts der revolutionären BewegWlgen in Europa konnte die ErhaltWlg des monarchischen Prinzips auch in einem Land wie Spanien, das spätestens mit dem Utrechter Frieden von 1713 den Status einer europäischen Großmacht verloren hatte, von zentraler BedeutWlg werden. Der österreichische Außenminister Gustav Graf Kalnoky umschrieb den Rang, den das Königtum in Spanien beim Kampf gegen die Kräfte der BewegWlg in Europa einnahm, 1881 in einem Gespräch mit dem damaligen deutschen Botschafter in Wien, dem Prinzen Heinrich VII. Reuß, wie folgt: Es könne "für die übrigen Monarchien nicht gleichgültig sein, allmählich einen Thron nach dem andern stürzen Wld eine Gruppe von Republiken lateinischer Rasse entstehen zu sehen, denen vielleicht eine Gruppe von slawischen Republiken folgen dürfte".61 Nach dieser EinschätZWlg hätte das Ende der Monarchie in Spanien eine weitere Etappe auf dem Weg zur vollständigen Republikanisierung der romanischen Welt dargestellt; infolge der SignalwirkWlg, die die verschiedenen spanischen Umsturzversuche des 19. JahrhWlderts Wlter den Revolutionären in Europa stets erzeugt hatten,62 hätte die Ausrufung der Republik in Spanien nicht nur die innere OrdnWlg in Italien Wld damit gleichfalls den Bestand des DreibWldes gefährden, sondern auch die slawischen Nationen in Unruhe versetzen Wld die Existenz des Vielvölkerstaates in Frage stellen können. Daher verwWlderte es jüngst auch den spanischen Historiker Luis Alvarez Gutierrez in seinem Aufsatz über den ForschWlgsstand zur deutschen HaltWlg in der spanisch-amerikanischen Krise nicht, daß Berlin an die Tradition des Dreikaiserabkommens anzuknüpfen versucht habe, um der VerbreitWlg republikanischer Wld sozialistischer Ideen Einhalt zu gebieten. 63 In diesem Sinne seien sich 60 Vgl. dazu Kluxen: Geschichte Englands, S. 611 ff.
61 LepsiuslMendelssohn BartholdylThimme (Hrsg.): Die Große Politik (künftig zitiert: GP), Bd. 3, Nr. 540, Reuß am 23.12.81 an Bismarck. 62 Vgl. dazu Kossok: Karl Marx, S. 5 ff. 63 Vgl. Alvarez Gutüirrez: La diplomacia alemana, S. 223. AIvarez Gutierrez gibt darin einen prägnanten und kenntnisreich geschriebenen Überblick über den Forschungsstand zur Haltung Berlins zum spanisch-amerikanischen Konflikt und betont zu Recht die Fixierung der bislang erschienenen Arbeiten auf das Verhältnis des Deutschen Reiches zu den Vereinigten Staaten. Die auf den Akten des Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes in Bonn basierenden ersten Ergebnisse seiner eigenen Forschungen stellen allerdings keine Vertiefung des Forschungsstandes dar - beschränkt sich auch AIvarez Gutierrez darauf, die deutschen Bemühungen um eine diplomatische Intervention zugunsten Spaniens seit dem Herbst 1897 zu beschreiben und sie ähnlich wie Shippee, Zirns, Kaikkonen oder Pommerin als Pläne "inspirados en las ideas de solidaridad europea y monärquica y en el temor a la existencia de connivencias secretas, tacitas 0 expresas, entre Londres y Washington" zu interpretieren (S. 217). Die vorliegende Arbeit wird unter anderem auch zeigen, daß sich die deutsche Politik während des spa-
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auch Wilhelm 11. tllld Franz Joseph von Österreich im Vorfeld des Konfliktes einig gewesen, daß dem monarchischen Prinzip in Europa durch den Ausbruch der Revolution in Spanien ein schwerer Schlag versetzt werden würde.64 Doch wie war es wirklich bestellt um die im Interesse der außen- wie innenpolitischen Sicherheit des Deutschen Reiches notwendige Solidarität mit der spanischen Monarchie? Wie sind die von der historischen Forschtlllg einhellig konstatierten Versuche zur Verhüttlllg der Revolution in Spanien mit einer deutschen Politik in Einklang zu bringen, die sich nach Ausbruch des Krieges an dem Schacher um die spanische Konkursmasse beteiligte? War dies wirklich nur die Reaktion auf die amerikanische Machtentfalttlllg? War dies nur der natürliche Ausfluß einer Angst, die, genährt durch das für die damalige Zeit typische sozial darwinistische Denken,65 das Deutsche Reich gewissermaßen dazu nötigte, im Kampf ums Dasein durch eigene Kompensationen den Untergang in die großmachtpolitische Bedeuttlllgslosigkeit abzuwenden? Trug das Deutsche Reich der allgemeinen Revolutionsgefahr in Europa wirklich noch Rechntlllg? Oder stellten die Äußeftlllgen tllld praktischen Ansätze monarchischer Solidarität nur eine Fassade dar, die die deutsche Reichsleittlllg im Interesse der Beziehtlllgen zu den übrigen Großmächten, insbesondere zu den konservativen Staaten Rußland tllld Österreich-Ungarn, aufrechterhalten wollte, um dahinter schon Jahre zuvor formulierte, sich auch über die europäische Revolutionsgefahr hinwegsetzende Ansprüche auf die spanischen BesitZtlllgen zu verbergen? In engem Zusammenhang mit diesen Fragen steht eine alte Diskussion in der Historiographie, die seit den sechziger Jahren wegen der noch näher zu erläuternden Schwierigkeiten in Spanien bei der Erschließtlllg neuer Quellen auf der Stelle tritt. Sie aufzugreifen ist in diesem Kontext tlllumgänglich. Lediglich über eine befriedigende Kläftlllg dieser AuseinandersetZtlllg kann nicht nur die eigentliche Halttlllg des Deutschen Reiches während der spanisch-amerikanischen Krise, sondern auch das Risiko erkannt werden, das die deutsche Reichsleittlllg wissentlich tlllter Vernachlässigoog der eigenen innen- wie außenpolitischen Sicherheit mit dem Eintritt in die Weltpolitik einging. Diese Kontroverse beschäftigte sich mit dem Problem der Vermeidbarkeit des spanischen Desasters, das sich zahlreichen Historikern vor allem in Anbetracht der "actitud amistosa nisch-amerikanischen Krieges gar nicht vollständig erfassen läßt, wenn man sich bei der Untersuchung nur auf die Zeit zwischen Herbst 1897, als sich die Krise um Kuba zuspitzte, und Dezember 1898, als der Friedensvertrag zwischen Madrid und Washington in Paris unterzeichnet wurde, konzentriert und dabei lediglich die Akten des Auswärtigen Amtes in Bonn heranzieht. 64 Vgl. ebenda, S. 223. 65 Vgl. dazu Jover Zamora: 1898, S. 15 f. Vgl. zu den Auswirkungen des Sozialdarwinismus auf den Imperialismus insbesondere auch Langer: The Diplomacy, S. 85 ff.; Zmarzlik: Sozial darwinismus, S. 246 ff.; Wehler: Sozialdarwinismus, S. 133 ff.; Berghahn: Flottenrüstung, S. 390; Koch: Sozialdarwinismus, passim; Kelly: The Descent, passim.
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de Austria-Hungria" und "la actitud amistosa y realista a un tiempo deI Imperio aleman,,66 stellte. Sie fragten, ob die spanischen Staatsmänner es seit der Restauration im Jahre 1875 nicht versäwnt hätten, eine geradlinige Bündnispolitik zu verfolgen, deren Ziel es hätte sein müssen, frühzeitig die monarchischen Staaten Europas, die ein konkretes Interesse an der Erhaltung des spanischen Königtwns hatten, zum diplomatischen Beistand für die im Grunde vorhersehbare Krise67 zu verpflichten. So kam Jer6nimo Becker schon 1926 in seiner auch heute noch als Standardwerk geltenden Arbeit über die spanische Außenpolitik des 19. Jahrhunderts zu dem Ergebnis, daß das Desaster die 101ische Konsequenz einer fehlenden weitsichtigen Allianzstrategie gewesen sei. 6 Über viele Jahre hinweg hätten die Regierungen nichts anderes getan, als ohne festen Kurs zwischen verschiedenen Konzepten zu schwanken, wodurch sie es verpaßt hätten, Spanien in ein europäisches Bündnissystem zu integrieren. 69 Erst als sich die Krise auf Kuba zu einer kriegerischen Auseinandersetzung mit den Vereinigten Staaten ausweitete, hätten die spanischen Staatsmänner eingesehen, daß die in den Jahren zuvor zumeist obsiegende Tendenz, sich aus Angst vor den damit verbundenen Verpflichtungen nicht einer Mächtegruppierung anschließen zu wollen, gleichbedeutend gewesen sei mit dem Verzicht auf fremde Hilfe, deren das Land 1898 dringend bedurft habe. 70 Noch im gleichen Jahrzehnt vertrat der Conde de Romanones eine ähnliche Auffassung. Er glaubte, den Hauptschuldigen dieser verfehlten Außenpolitik erkannt zu haben, und betonte, daß sich 1898 die fatalen Folgen der Isolation offenbart hätten, in die der Chef der liberal-konservativen Partei, Canovas deI Castillo, Spanien gezielt hineinmanövriert habe. 71 Nur vor dem Hintergrund seiner verfehlten Staatskunst sei es zu erklären, daß die europäischen Mächte sich im Angesicht des Krieges gegenüber der Bitte der Regierung in Madrid wn eine diplomatische Intervention zugunsten Spaniens weitgehend taub gestellt und das Land auf der Iberischen Halbinsel seinem Schicksal überlassen hätten. 72 Der Conde de Romanones, 1916 und 1918 selbst jeweils für wenige Monate als Staatsminister an der Spitze der spanischen Außenpolitik, lenkte in seiner Kritik die Aufmerksamkeit auf ein heute schon fast vergessenes Kapitel in der Geschichte des Dreibundes. Er warf Canovas vor, in den neunziger Jahren mit einer Politik gebrochen zu haben, die 1883 mit der Reise des spanischen Königs Alfonso XII. nach Deutschland ihren Anfang nahm und die 1887 der liberale Staatsminister Segismundo Moret fortführte, indem er ein Abkommen mit Itali66
Jover: 1898, S. 6.
67 Vgl. dazu auch jüngst Cayuela Fernimdez: Bahia, S. 4 f., der darauf verwies, daß
sich schon in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten das Interesse an den Geschehnissen auf Kuba unübersehbar verstärkt habe. 68 Vgl. Becker: Historia de las relaciones, Bd. 3, S. 931. 69 Vgl. ebenda. 70 Vgl. ebenda, S. 932. 71 Vgl. Conde de Romanones: Las responsabilidades, S. 30 f. 72 Vgl. ebenda, S. 31.
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en abschloß, durch das die alte Kolonialmacht in loser Form dem Dreibund beitrat. Moret sei ein eifriger Verfechter dieses Anschlusses gewesen, weil er einen negativen Einfluß französischer Intrigen auf die Stabilität der Monarchie in Spanien und auf die Stellung seines Landes in Marokko befiirchtet habe. 73 Der Conde de Romanones wußte zwar keine Antwort auf die Frage, warum diese am Dreibund orientierte Politik unter den liberal-konservativen Nachfolgern Morets keine Fortsetzung fand; er glaubte aber mit Blick auf die Ereignisse des Jahres 1898, daß die Aufgabe dieses Kurses ein verhängnisvoller Fehler gewesen sei: Wenn die Überzeugung des liberalen Staatsministers, daß sich Spanien nicht von den politischen Geschehnissen in Europa fernhalten dürfe, auch von seinen Nachfolgern in den Kabinetten des liberal-konservativen Ministerpräsidenten Canovas geteilt worden wäre, hätte die spanische Geschichte einen anderen Verlauf genommen?4 Die gleiche Auffassung vertrat 1944 auch Leonor Melendez Melendez in seinem Werk über Canovas' Außenpolitik. Es stellte insofern eine Bereicherung dar, als es auf der Basis der veröffentlichten politischen und historischen Abhandlungen des spanischen Staatsmannes zu ergründen versuchte, warum er mit der Politik Morets brach und dessen Bemühen, Spanien durch die Annäherung an den Dreibund in ein festes europäisches Bündnissystem einzugliedern, nicht sonderlich schätzte: Canovas habe die Politik Morets nicht nur deshalb mißbilligt, weil ihm eine Verstrickung seines Landes in die europäischen Angelegenheiten im Hinblick auf die immensen inneren Probleme, die die Karlistenkriege und die ungezählten Aufstände hinterlassen hatten, besonders riskant erschienen sei, sondern weil er auch eine "inclinaci6n hacia los pueblos con los que tiene mayor afinidad de raza" gehabt habe, die ihm die Hinwendung zum von Deutschland und Österreich-Ungarn dominierten Dreibund unsympathisch gemacht habe. 75 Canovas' grundSätzliche Bedenken gegen eine Allianzpolitik fiihrten nach Melendez Melendez' Auffassung schließlich dazu, daß der Chef der liberal-konservativen Partei mit einem gezielten Kurs der Bündnisabstinenz sein Land in eine prekäre außenpolitische Situation gebracht und dadurch die Katastrophe von 1898 wesentlich begünstigt habe?6 Ähnlich argumentierte 1962 auch Jose Maria Jover Zamora. Er fügte in seinem Aufsatz über die Grundzüge der spanischen Außenpolitik des 19. Jahrhunderts den von Melendez Melendez genannten Gründen fiir Canovas' Politik des sogenannten Recogimiento noch ein weiteres Motiv hinzu.?? In einer seltsam anmutenden Mischung aus nationalem Stolz und dem Gefühl rassischer Unterlegenheit, das die meisten romanischen Völker gegenüber den aufstrebenden Vgl. Conde de Romanones: Moret, S. 36 ff. Vgl. ebenda, S. 39. 75 Metendez Metendez: Canovas, S. 374 f. Zu Canovas' Geschichtsbild und insbesondere zu seinem völkischen Denken vgl. auch die anregende Studie von Ylltin Calderon: Canovas, passim. 76 Vgl. Metendez Metendez: Canovas, S. 375. 77 lover Zamora: Caracteres, Bd. II, S. 751 ff. 73
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angelsächsischen lllld gennanischen Nationen in den Jahrzehnten nach der deutschen Reichsgriindllllg beschlichen habe, sei Spanien bestrebt gewesen, sich aus allen europäischen Verwicklllllgen herauszuhalten, denen es sich als Macht zweiten Ranges nicht gewachsen gefiihlt habe. 78 Dieses Denken, so befand Jover, sei aber mit dem Status Spaniens als Kolonialmacht llllvereinbar gewesen, weil die Integrität seines verstreuten Besitzes in Afrika, im Paziftk lllld in Südostasien durch den aufkeimenden Imf.erialismus der mächtigeren Staaten inuner mehr in Frage gestellt worden sei. 9 Die logischen Folgen dieser isolationistischen Politik seien die Niederlage in dem ebenso absurden wie kostspieligen Krieg mit den USA lllld die "liquidaci6n total deI imperio ultramarino" gewesen. 80 Allerdings warnte Jover im Gegensatz zu Becker, dem Conde de Romanones lllld Melendez Melendez vor einem zu harten Urteil über die Außenpolitik der liberal-konservativen Regiefllllgen - seien doch die VoraussetZllllgen für die alte Kolonialmacht, sich aus der Isolation zu befreien lllld Einlaß in ein europäisches Bündnis zu fmden, nicht sonderlich günstig gewesen. So hätte das Jahrzehnt nach der deutschen Reichsgriindllllg die Schwierigkeiten einer an Berlin orientierten Allianzpolitik zum Vorschein gebracht, als Otto von Bismarck zwar stets zur diplomatischen UnterstütZllllg Spaniens bereit, aber an einem festen Bündnis mit dem Land auf der Iberischen Halbinsel aufgflllld dessen innerer Schwäche nur wenig interessiert gewesen sei~l Noch größere Bedenken gegen eine zu einseitige Verdammllllg der liberalkonservativen Staatskllllst trug 1963 JesUs Pab6n in seinem Aufsatz über die internationale Konstellation des Jahres 1898 vor. Er betonte, daß es viele Gründe gebe, an der Außenpolitik von Cänovas Kritik zu üben, lllld daß es ihm fernliege, sie in ihrer isolationistischen Richtllllg gutzuheißen. 82 Es dürfe aber nicht die Aussage des Herzogs von Tetuän, llllter Cänovas viele Jahre Staatsminister, ignoriert werden: Dieser hatte die Nichtverlängefllllg des 1895 ausgelaufenen Abkommens mit Italien damit gerechtfertigt, daß die Dreiblllldmächte bei aller Sympathie für die spanische Monarchie dem Wllllsch nach Aufuahme einer Klausel, die sie zu einem wirksamen diplomatischen Eingreifen zugllllsten der spanischen Souveränität auf Kuba verpflichten sollte, nicht entgegengekommen seien. 83 Pab6n hob hervor, daß sich sowohl der 1887 abgeschlossene lllld 1891 noch einmal verlängerte Vertrag mit Italien als auch der Dreiblllld in den Zielen auf eine antifranzösische Politik beschränkt hätten. 84 Das Schicksal, das Spanien im Krieg mit den Vereinigten Staaten ereilt habe, sei deshalb llllabhängig von der Entscheidllllg der liberal-konservativen Regiefllllg zu betrachten, das Vgl. ebenda, S. 780 ff. Vgl. ebenda, S. 783. 80 Ebenda, S. 784. 81 Vgl. ebenda, S. 789. Jover stützte diese These auf die Arbeit von Salom Costa: Espafia, die Jover schon Jahre vor ihrer Veröffentlichung zugänglich war. 82 Vgl. Pab6n: EI 98, S. 155 f. 83 Vgl. ebenda, S. 157. 84 Vgl. ebenda. 78 79
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Abkommen mit Rom W1lllittelbar nach dem Ausbruch der kubanischen Krise im Februar 1895 nicht mehr zu erneuern.8S Daß Pab6ns Argumentation sich nicht durchsetzen konnte, ist kaum erstaunlich. 1962 verwiesen Helge Granfelt auf der Basis der Akten des Haus-, Hofund Staatsarchivs und 1967 Pierre Guillen mit Hilfe der Akten des Politischen Archivs in Bonn als Nebenprodukt ihrer Arbeiten über den Dreibund beziehungsweise über die deutsche Politik in Marokko einmütig darauf, daß das Scheitern der Verhandlungen zwischen Spanien und dem Dreibund über eine diplomatische Beistandsverpflichtung durch zwei Faktoren begünstigt worden sei, die zum Bild einer schwankenden und kurzsichtigen spanischen Außenpolitik paßten: zum einen durch die provokative Weigerung der Cortes in Madrid, einen Handelsvertrag mit dem Deutschen Reich zu ratifizieren, zum anderen durch die in Berlin und Rom vorherrschende Überzeugung, daß Spanien an einer Verlängerung des Abkommens mit Italien längst nicht mehr ernsthaft interessiert sei, weil es schon beschlossen habe, sich der französisch-russischen Allianz anzuschließen. 86 Zudem könnte den Ausführungen Pab6ns ein Gesichtspunkt entgegengehalten werden, auf den Wallace Richard Klinger bereits 1946 in seiner knappen, sich im wesentlichen nur auf die veröffentlichten Quellen stützenden Dissertation über die spanische Außenpolitik zwischen 1880 und 1907 hinwies: Spaniens geographische Lage hätte im Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts durchaus zu einer "source [... ] of strength" werden können. 87 Damit deutete er an, daß das Land auf der Iberischen Halbinsel zwar längst nicht mehr den Status einer Großmacht hatte, aber dennoch aufgrund seiner geographischen Lage zu einem begehrenswerten und daher auch schützenswerten Bündnispartner werden konnte. Im Rücken Frankreichs war es dem Land auf der Iberischen Halbinsel möglich, in einem europäischen Krieg mit einer auch noch so schwachen Armee einen Teil des französischen Corps an der gemeinsamen Grenze zu binden und somit von entscheidendem Gewicht in einer Zeit zu werden, in der durch die Verschärfung der Gegensätze in Europa die Staaten zweiter Ordnung ohnehin "einen über Gebühr großen Einfluß" gewannen. 88 Von dieser Warte aus betrachtet, ist es verständlich, daß die in dem Aufsatz von Pab6n sich abzeichnende Tendenz, zu einem milderen Urteil über Vgl. ebenda, S. 154 f. Vgl. Guillen: L'Allemagne, S. 302 f.; GranfeIt: Dreibund, Bd. I, S. 239 ff. 87 Klinger: Spain's Problem, S. III (Abstract). 88 Hildebrand: Europäisches Zentrum, S. 83. Insofern ist es verwunderlich, daß auch heute noch kein Anlaß dazu besteht, die Kritik von Schieder: Die mittleren Staaten, S. 587, zurückzunehmen. Er monierte, daß die mittleren Staaten im Zuge der Faszination, die von den großen Mächten auf die Historiker stets ausgegangen sei, "in der Literatur selten oder fast nie Erwähnung" gefunden hätten. Selbst gegenwärtig fehlt immer noch eine allgemein akzeptierte Begriffsbestimmung dafiir, was ein mittlerer Staat oder was ein Kleinstaat überhaupt ist. Vgl. dazu die unterschiedlichen Definitionen bei Fleiner: Kleinstaaten, S. 25 ff.; Jaquet: The Role, S. 58 f.; Feder: Spain, S. 16; Schröter: Aufstieg, S. 24. 85
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die Außenpolitik der liberal-konservativen Regienmgen zu gelangen, keine Fortsetzung erfuhr. So sprach die Historiographie auch weiterhin im Zusammenhang mit der spanischen Staatskunst in den Jahren vor dem Desaster immer wieder von "diplomatie fumbling and political myofia".89 Zwar teilten Historiker wie Juan Carlos Pereira,90 Carlos Seco Serran0 9 und Manuel Espadas Burgos92 die Skepsis, wie sie Pab6n formulierte. Sie versuchten Impulse für eine differenziertere Auseinandersetzung mit der spanischen Außenpolitik der Restaurationszeit zu geben, die sich gezielt mit der Rolle zu beschäftigen habe, die Spanien im Kalkül der europäischen Großmächte in den Jahren vor dem spanisch-amerikanischen Krieg spielte; doch es besteht auch weiterhin die Neigung,93 in der Politik des Recogimiento und dem damit verbundenen Bruch mit dem am Dreibund orientierten Kurs der liberalen Kabinette einen wesentlichen Gnmd dafür zu erblicken, daß sich die von der Forschung konstatierte Solidarität mit der spanischen Monarchie 1898 lediglich in einer schüchternen Kollektivnote an den amerikanischen Präsidenten William McKinley äußerte. 94 Die Uneinigkeit in der Beurteilung der Perspektiven, die sich Spanien bei einer kontinuierlichen, auf das Deutsche Reich und den Dreibund ausgerichteten Allianzpolitik mit Blick auf die Ereignisse des Jahres 1898 eröffuet hätten, ist vornehmlich darauf zurückzufiihren, daß die Geschichte des spanischen Assoziienmgsvertrages mit Italien und dem Dreibund nahezu unbekannt ist. 95 Auch die 89
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So Blinkhorn: Spain, S. 11. Ähnlich auch schon Maiski: Neuere Geschichte, S.
Vgl. Pereira: Introduccion, S. 142 f. Vgl. Seco Serrano: Introduccion, S. 62. 92 Vgl. Espadas Burgos/Urquijo Goitia: Historia, S. 284 ff. 93 Vgl. Trask: The War, S. 51; Torre Gomez: EI destino, S. 10 f.; Rosario de la Torre deI Rio: La crisis, S. 115; Rüchardt: Beziehungen, S. 17 f.; Martinez Carreras: La politica exterior, S. 80 und S. 83; Nunez Florencio: Militarismo, S. 285 f. 94 Zu dieser Note vgl. Pommerin: Kaiser, S. 78. 95 Der kohärenteste Beitrag zum spanisch-italienischen Abkommen ist die ältere Darstellung von Curato: La questione. Daß diese Arbeit von der Forschung kaum beachtet wurde, ist insofern nicht verständlich, als sie auf der Grundlage der Akten des italienischen Außenministeriums eine sorgfältige Schilderung der Ereignisse um diesen Vertrag bietet. Unbefriedigend bleibt diese Arbeit allerdings deshalb, weil der Autor zwar zusammentrug, was bis dahin über dieses Abkommen bekannt war, die Diskussion in der Historiographie über die Perspektiven dieses Abkommens im Zusammenhang mit den Ereignissen des Jahres 1898 aber nicht aufnahm. Curato, dessen Darstellung mit den italienisch-spanischen Verhandlungen 1886 beginnt und mit dem Scheitern der Gespräche um eine Verlängerung des Vertrages 1896 endet, steckte sich das bescheidene Ziel, "gettare un po' di luce su uno degli avvenimenti meno conosciuti dell'intricata diplomazia dei periodo bismarckiano" (Bd. I, S. 16), ohne konkrete Leitfragen zu formulieren. Zudem konzentriert sich die Arbeit vornehmlich auf die Folgen des spanischitalienischen Abkommens fiir die marokkanische Frage. Der größte Nachteil dieser Studie ist aber, daß, bedingt durch die dem Autor zur Verfiigung stehenden Quellen, die 90 91
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Frage nach der Bedeutung der alten Kolonialmacht für das Deutsche Reich von der Reise Alfonsos XII., mit der das Land auf der Iberischen Halbinsel 1883 die Annäherung an Berlin einzuleiten versuchte, bis zum spanischen Desaster und dem Kauf der Karolinen 1899 wurde auf einer quellenmäßig gesicherten Grundlage bislang nur am Rande behandelt. 96 So konstatierte erst 1985 Michael Schildenmg auf die italienische Sicht beschränkt bleibt. So mußte Curato eingestehen, daß ihm nicht nur viele Gedankengänge der spanischen Staatsmänner verborgen geblieben seien, weil er dazu in den spanischen Archiven keine aussagekräftigen Dokumente gefimden habe (vgl. Bd. 11, S. 554), sondern vor allem auch die in diesem Kontext entscheidende Haltung des Deutschen Reiches zum spanisch-italienischen Abkommen nicht zu erforschen vermochte. Curato stellte am Ende fest, daß ihm insbesondere der deutsche Standpunkt zu diesem Abkommen nach 1890 "uno dei tanti misteri della caotica ed inconseguente politica della Germania post-bismarckiana" geblieben sei (Bd. II, S. 599). Dennoch war die Arbeit Curatos für die vorliegende Dissertation von großem Wert, weil sie zum einen über die italienische Haltung zur alten Kolonialmacht zuverlässige Aussagen enthält und zum anderen über die Bestände im italienischen Außenministerium eine wichtige Orientierung bietet. 96 Die deutsche Historiographie versuchte vor dem Zweiten Weltkrieg mit zwei Studien eine Phase der Außenpolitik Bismarcks zu ergründen, in der Spanien für den deutschen Reichskanzler offenbar an Bedeutung gewann. Reemt Reemtsen verwies 1937 in seiner Dissertation über die deutsch-spanischen Beziehungen zwischen 1882 bis 1887 auf ein "enges und ernsthaftes Freundschaftsverhältnis zwischen beiden Ländern" (Reemt Reemtsen: Beziehungen, S. 17). Das habe sich 1883 nicht nur in der Reise Alfonsos XII. nach Homburg und dem Gegenbesuch des deutschen Kronprinzen, sondern auch 1887 in dem lockeren Anschluß Spaniens an den Dreibund gezeigt. Obwohl Reemtsen zahlreiche Aspekte der bilateralen Beziehungen in seiner Darstellung ansprach, mußte er letztlich aufgnmd der ihm als Basis dienenden Quellen aus den Beständen der spanischen Botschaft in Berlin nicht nur "eine gewisse Einseitigkeit" eingestehen (ebenda, S. 10), sondern auch die Dürftigkeit des von ihm gesichteten Materials erkennen. Es erlaubte ihm nicht, wesentliche Einzelheiten wie beispielsweise die Frage nach dem Inhalt der politischen Verhandlungen während der Reise des spanischen Königs nach Deutschland (vgl. ebenda, S. 42 ff.) oder den Verlauf der Verhandlungen Spaniens mit dem Dreibund zu klären (vgl. ebenda, S. 99). Zumindest auf den ersten Fragenkomplex konnte Wolfgang Windelband 1939 einstweilen befriedigende Antworten finden, als er für seine Arbeit über die Reise des Kronprinzen nach Spanien auf unveröffentlichte Quellen aus dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes zurückgriff. Er interpretierte die Reise im Zusammenhang mit der kritischen Situation des Jahres 1883, die von der wachsenden Gefahr eines Revanchekrieges gekennzeichnet gewesen sei; Bismarck habe sein "glanz- und machtvolles Werk" im ,,Ringen um die Erhaltung des Friedens" durch das Heranziehen Spaniens an Deutschland sichern wollen (Winde/band: Berlin, S. 13 ff.). Wegen der Verengung der Untersuchung, die zudem kein detailliertes Quellen- und Anmerkungsverzeichnis aufweist, auf das Jahr 1883 konnte diese Arbeit die von Windel band konstatierte "empfindliche Lücke" (ebenda, S. 15) in der Kenntnis um die Bedeutung Spaniens für die deutsche Politik nur zum Teil schließen. Nach den Arbeiten von Reemtsen und Windelband erlosch das Interesse an
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Behnen mit Unverständnis diese bedauerliche Lücke. 97 Noch 1992 mußte auch Manuel Espadas Burgos die betrübliche Feststellung machen, daß dieser gesamte Problembereich ,,no solo si~e abierto sino [... ] esta a(m pendiente de una investigacion mas sistematica". 8 Nur ein Jahr später beklagten Walther L. Bernecker und Horst Pietschmann allgemein, daß Spanien lan,re Zeit "ein Stiefkind der historischen Forschung in Deutschland" gewesen sei;9 und seit 1994 arbeitet in Anbetracht dieses von der Geschichtsschreibung sträflich vernachlässigten Feldes ein vom spanischen Ministerium für Bildung und Wissenschaft finanzierter Kreis von Historikern in den europäischen Archiven, um die Haltung des Deutschen Reiches und der übrigen Großmächte zu Spanien zumindest während des Konfliktes mit den Vereinigten Staaten in den Jahren 1897/98 genauer zu durchleuchten. 100 Die zentrale Aufgabe dieser Arbeit ist es daher, der Frage nachzugehen, ob Spaniens Isolation im Jahre 1898 wirklich auf das Fehlen einer weitsichtigen, kontinuierlichen Allianzpolitik zurückzuführen ist, wie die Historiographie bislang meinte, oder ob sie nicht vielmehr das Ergebnis einer deutschen Außenpolitik war, die entgegen den von der Forschung konstatierten Anzeichen monarchischer Solidarität nicht nur während der spanisch-amerikanischen Krise, sondern bereits unter Bismarck auf die Eindämmung der Revolution in den romanischen Staaten Südwesteuropas keinen Wert mehr legte und somit die seit der Rolle Spaniens im Kalkül der Wilhelmstraße von 1883 bis 1899. Die einzige auf deutschen Quellen basierende Arbeit, die das Thema noch einmal berührte, ist die spanische Dissertation von Schulze-Schneider: EI sistema. Sie unternahm den wenig überzeugenden Versuch, ihrer Schilderung der Pressepolitik Bismarcks von der deutschen Reichsgründung bis zu seiner Entlassung eine Darstellung der deutsch-spanischen Beziehungen hinzuzufügen. Weil Schulze-Schneider nur einen Bruchteil der Akten im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes oder auch der in Spanien zur Verfügung stehenden Quellen benutzte, entgingen ihr zwangsläufig viele bedeutende Aspekte der deutsch-spanischen Beziehungen, die bereits Reemtsen mit seinen weitaus bescheideneren Möglichkeiten anzudeuten wußte (hierzu sind vor allem Fragen zur Kolonialpolitik beider Länder, insbesondere aber auch Bismarcks Haltung zu den spanischen Republikanern zu nennen; die Autorin erkannte dies selbst und gestand ein, daß ihre Darstellung unvollständig und lückenhaft sei - vgl. ebenda, S. 645). Zudem ist Schulze-Schneiders Werk weniger eine Interpretation als eine Kompilation des von ihr gesichteten Materials. Sie führte über Seiten ungekürzt Memoranden, Zeitungsartikel und Vertragstexte (vgl. pars pro toto S. 807 - 809, 810 - 812, 815 - 818, 819 - 820, 825 - 828) mit kommentierenden Sätzen wie ,,La larga carta dirigida al Emperador Guillermo habla por si sola" (S. 807), ,,EI Conde de Solms nos ha dejado el mejor testimonio de ella" (S. 815) oder "finalmente [... ] tiene lugar el intercambio de las siguientes notas" in spanischer Übersetzung an. 97 Vgl. Behnen: Rüstung, S. 462, Anm. 12. 98 Espadas Burgos: Alemania, S. 86. 99 BerneckerlPietschmann: Geschichte Spaniens, S. 10. 100 Vgl. Alvarez Gutierrez: La diplomacia alemana, S. 201 ff.
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1883 erkennbaren Bemühungen Spaniens um eine feste Integration in den Dreibund aussichtslos werden ließ. Es ist zu fragen: Welche Bedeutung hatte Spanien für das internationale Staatensystem des 19. Jahrhunderts und für die Wahrung des monarchischen Prinzips in Europa? Welche Intentionen und Erwartungen verknüpften das Deutsche Reich und Spanien mit der Annäherung der alten Kolonialmacht an den Dreibund? Wie stellte sich Bismarck zur Gefahr der Revolution in Spanien und in den übrigen romanischen Staaten, und zu welchen konkreten politischen Handlungen war er zur Festigung der monarchischen Institutionen in Spanien und zur Integrität des spanischen Kolonialreiches bereit? Welchem Wandel unterlag die Haltung des Deutschen Reiches gegenüber der alten Kolonialmacht nach Bismarcks Sturz? Machte es für die Wilhelmstraße eigentlich einen Unterschied, ob in Madrid ein liberales oder ein liberalkonservatives Kabinett regierte? Ist es überhaupt gerechtfertigt, von einer Diskontinuität in der Außenpolitik Spaniens während dieses Zeitraumes zu sprechen, und - wenn ja - worauf war sie zurückzufillrren? Wann begann das Deutsche Reich, sich im Hinblick auf seine eigene koloniale Ausdehnung für die spanischen Besitzungen zu interessieren, und welche Folgen hatte dieses wachsende Bedürfnis nach Expansion für das Land auf der Iberischen Halbinsel? Inwiefern kann im Zusammenhang mit der deutschen Außenpolitik noch von Solidarität mit der spanischen Monarchie gesprochen werden? Und schließlich: Welches Risiko ging die Wilhelmstraße mit ihrem Kurs gegenüber Spanien zu Beginn der Wilhelminischen Weltpolitik bewußt ein? Daß dieser Problembereich noch einer eingehenden Bearbeitung harrt, obgleich die Historiographie auf diese Forschungslücke wiederholt hingewiesen hat, ist vornehmlich auf die erheblichen Schwierigkeiten zurückzufiihren, die die für die Beantwortung des Fragenkatalogs unerläßliche Beschäftigung mit der spanischen Außenpolitik der Restaurationszeit in sich birgt. Bis in die jüngste Vergangenheit haben sich Historiker immer wieder darüber beklagt, daß die Forschung nur wenige Studien zur spanischen Diplomatiegeschichte des 19. Jahrhunderts vorgelegt hat. 101 Dieses Desiderat ist aber insofern nicht erstaunlich, als zum Teil dieselben Autoren auf das spärliche, zumeist unergiebige Quellenmaterial in den spanischen Archiven verweisen, das eine exakte Rekonstruktion der Konzepte und des jeweiligen Entscheidungsprozesses fast unmög-
IOI Vgl. Pereira: Introducci6n, S. 9 f.; Alvarez Gutierrez: La diplomacia bismarckiana, S. XXI; Rubio: Espafia, S. XII; Togores Sanchez.· Espafia, S. 674 f.; vgl. auch den Überblick bei Ochoa Brun. Historia, Bd. I, S. 30 ff.; Carden: Spanish Foreign Policy, S. 45 ff. Ohnehin ist die gesamte spanische Geschichtsschreibung sehr stark regional- und lokalgeschichtlich ausgerichtet (vgl. dazu auch BerneckerlPietschmann: Geschichte Spaniens, S. 11). Dies äußert sich auch in dem von der spanischen Historiographie gelegentlich selbst beanstandeten Mangel an brauchbaren Biographien über einzelne Persönlichkeiten der Restaurationsära - vgl. Calero Amor: Los precursores, S. 45, Anm. 37.
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1. Kap.: Einleitung
lich erscheinen läßt. 102 Javier Rubio hat sich 1989 im Anhang zu seinem Werk über Spanien im Krieg von 1870 mit der Frage auseinandergesetzt, worauf diese "escasez de fondos" zurückzuführen ist. 103 Er stieß dabei auf das generelle Desinteresse der damaligen Zeit an der Aufbewahrung der Dokumente und auf die Angewohnheit spanischer Staatsmänner, nach Regierungswechseln oder umbildungen die wichtigsten Schriftstücke aus ihrer Amtszeit verschwinden zu lassen. 104 Wie Jose Lozano Rinc6n und Enrique Romera herausstellten, erlebte das Archiv des spanischen Außenministeriums vielfache Umstrukturierungen und zahlreiche Umzüge. I05 Dies legt die Vermutung nahe, daß darunter die Tradierung der Dokumente gelitten hat. Die gewaltigen Schäden und Verluste, die der spanische Bürgerkrieg den Archiven in dem Land auf der Iberischen Halbinsel zufügte, hat Rafael Nufiez Florencio als wesentlichen Grund dafür angeführt, daß die Quellenlage zu bestimmten Themen aus der Zeit der Restauration die Geschichtsschreibung immer wieder vor schwere Aufgaben stellen werde. I06 Die Folge dieser eher trostlosen Bestandsaufnahme war, daß wissenschaftliche Arbeiten über Fragen der spanischen Außenpolitik im 19. Jahrhundert zumeist mit den wenigen veröffentlichten Akten, den steno graphischen Berichten der Cortes, theoretischen Schriften und akademischen Vorträgen der Politiker, einigen Memoiren und Zeitungen bestritten wurden, wobei die Historiker bei der Beschaffung dieses Materials noch bis heute die Schwierigkeiten eines in vielen Bereichen rückständigen Bibliothekswesens zu überwinden haben. lo7 Dennoch lassen sich in spanischen Archiven durchaus Bestände ermitteln, die einen tiefen Einblick in die Werkstatt der spanischen Außenpolitik gewähren. So stand für diese Arbeit der umfangreiche Nachlaß des Conde de Benomar in der Real Academia de la Historia (Madrid) zur Verrugung. Benomar, in den achtziger und neunziger Jahren der diplomatische Vertreter seines Landes in Berlin und Rom, zeichnete seinen Briefwechsel mit den spanischen Staatsministern in privaten Büchern - allerdings nur lückenhaft - auf und versah sie mit zahlreichen persönlichen Anmerkungen. Im Archivo Hist6rico Nacional (Madrid) befmdet sich der Nachlaß von Rasc6n de Navarra, der als spanischer Vertreter in Rom, London und Berlin in den achtziger und neunziger Jahren 102 Vgl. Rubio: Espafia, S. XXIII. Zur problematischen Quellenlage bei der Erforschung der spanischen Außenpolitik vgl. auch Pabon: EI 98, S. 192; Curato: La questione, Bd. I, S. 16 ff.; Parsons: The Origins, S. 611; Seco Serrano: Introducci6n, S. 67 f.; Offner: An unwanted war, S. 279. 103 Rubio: Espafia, S. 717. 104 Vgl. eben da. 105 Vgl. RinconlRomera lruela: Guia, S. 7 ff. 106 Vgl. Nufiez Florencio: EI terrorismo, S. 1 ff. 107 Vgl. dazu auch Simon: Bibliotheks- und Informationssysteme, S. 13 ff. Zu den Schwierigkeiten, die Forscher bei der Beschaffung spanischer Literatur zu bewältigen haben, vgl. schon andeutungsweise Hüffer: Aus 1200 Jahren, S. 85, und deutlicher jüngst auch BerneckerlPietschmann: Geschichte Spaniens, S. 11 f.
1. Kap.: EinleitWlg
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eine intensive Wld aufschlußreiche Korrespondenz mit seinen Vorgesetzten führte. Von Wlermeßlichem Wert sind die "Colecci6n Solla" Wld "Colecci6n Vega de Annijo" im Museo de Pontevedra (Pontevedra), die zahlreiche Briefe Vega de Annijos, des Nachfolgers von Moret im Amt des Staatsministers, enthalten Wld mit deren Hilfe schon 1985 Manuel Fernandez Rodriguez das Wissen über den auch für diese Dissertation bedeutsamen Komplex der spanischen Politik in Marokko erweitern konnte. lOS Das Archivo General de la Administraci6n (Alcala de Henares) verwahrt einzelne Botschaftsbestände aus dem vergangenen JahrhWldert, in denen sich bei geduldiger Durchforstun~ zahlreiche interessante WeisWlgen aus dem Staatsministerium finden lassen. 09 Briefe spanischer Staatsmänner Wld Diplomaten, zumeist adressiert an das bourbonische Königshaus, sind im Besitz des Archivo deI Patrimonio Nacional (Madrid). Für die BehandlWlg vieler Detailfragen auf wirtschafts- Wld handelspolitischem Gebiet erwiesen sich einige Petitionen an die Cortes als äußerst hilfreich, die im Archivo deI Congreso de los Diputados (Madrid) aufgehoben werden. Und nicht zuletzt das Archivo deI Ministerio de ASWltOS Exteriores (Madrid) konserviert einen großen Schatz von wichtigen Dokumenten. Ihre Entdeckung war aufgrund der noch Wlvollständigen KatalogisierWlg Wld des Durcheinanders in den Akten allerdings häufig auf glückliche Zufälle zurückzufUhren. Obgleich all diese Bestände zusammen mit den bereits in den älteren spanischen Werken herangezogenen veröffentlichten Quellen 110 schon eine tiefere Einsicht in die Gedankengänge der verantwortlichen Politiker Spaniens gewähren, ergeben erst die· Botschaftsberichte anderer Länder ein nuancenreiches Bild. Zwar ist die HeranziehWlg solcher Dokumente, in denen Diplomaten ihre Gespräche mit spanischen Staatsmännern nachzeichneten, mit dem Risiko verbWlden, Finessen der Dissimulation Wld des "diplomatie window-dressing" zu erliegen1ll - diese Gefahr ist nur durch besondere Quellenkritik Wld durch die Fernandez Rodriguez: Espaiia. In höchstem Maße beklagenswert ist die Tatsache, daß in diesem Archiv, das ansonsten fiir die wissenschaftliche Arbeit günstige Verhältnisse bietet, vor allem die Bestände der spanischen VertretWlg in Marokko in einem zum großen Teil verheerenden Zustand sind. Obwohl sie der ForschWlg zugänglich gemacht wurden, ist ihre BenutzWlg oft Wlmöglich, weil die Dokumente bisweilen zwischen den Händen zu Staub zerfallen! 110 DarWIter sind vor allem die Rotbücher zu nennen, die in Wlregelmäßigen Abständen zu bestimmten Problemfeldern der spanischen Außenpolitik von den jeweiligen RegierWIgen der Restaurationszeit den Cortes vorgelegt wurden (vgl. dazu im einzelnen das Quellenverzeichnis). Da sie allerdings zumeist zur RechtfertigWlg der eigenen Außenpolitik dienten, ist davon auszugehen, daß eventuell kompromittierendes Material Wlterschlagen wurde. Ihr Aussagewert wird dadurch erheblich reduziert. Generell zum Quellenwert solcher ,,Farbbücher" Wld zu den damit verbWldenen AnforderWIgen bei ihrer Interpretation vgl. auch Baumgart: Das Zeitalter. Erster Teil, S. 67 ff. 111 Zu dieser Problematik vgl. auch Schmidt: Die gescheiterte Allianz, S. 7. 108
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3 Havemann
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1. Kap.: Einleitung
HeranziehlUlg möglichst vieler solcher Berichte zu reduzieren, die in Fällen, in denen ihr Aussagewert zweifelhaft erscheint, einander gegenübergestellt lUld mit dem Inhalt der vorhandenen spanischen Dokumente verglichen lUld in Einklang gebracht werden müssen; doch in der ForschlUlg ist bereits darauf hingewiesen worden, daß erst die BenutZlUlg dieser Akten es ermöglichen könnte, die Motive fiir EntscheidlUlgen im spanischen Staatsministerium genau zu beleuchten. 112 Vor diesem Hintergrillld wird es verständlich, daß dieser Arbeit auch die einschlägigen Bestände des Public Record Office (London-Kew), der Archives du Ministere des Affaires etrangeres (Paris), des Haus-, Hof- lUld Staatsarchivs (Wien), des Archivio storico diplomatico deI Ministerio degli affari esteri (Rom) lUld fiir die Zeit der spanisch-amerikanischen Krise auch der National Archives of the United States (auf Mikrofilm in der Universitäts- lUld Stadtbibliothek von Köln) zugrilllde liegen. 113 Diese Quellen ließen nicht nur zum ersten Mal eine nahezu lückenlose Rekonstruktion der Gedanken zu, die die spanischen Staatsmänner in ihrer Außenpolitik bewegten; ihr Studium hatte auch den Vorzug, zum einen die an einigen Stellen interessante Sichtweise der übrigen Großmächte zur Politik des Deutschen Reiches ergründen lUld zum anderen Motive der Wilhelmstraße in ihrem Kurs erhellen zu können, die aus den deutschen Akten nur andeutlUlg;weise hervorgehen. Die Basis fiir diese Arbeit bilden jedoch die Akten im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes in Bonn. Sein Reichtum an Dokumenten zum genannten Themenkomplex verrät schon auf den ersten Blick, daß sich die deutsche ReichsleitlUlg in den beiden letzten Jahrzehnten des 19. JahrhlUlderts mit dem Land auf der Iberischen Halbinsel weitaus intensiver beschäftigte, als die historische ForschlUlg bislang angenommen hat. Aufschlußreiche Ergebnisse über die Intentionen der Wilhelmstraße wurden auch durch die HeranziehlUlg der deutschen Kolonialakten im BlUldesarchiv in Potsdam lUld bei der Durchsicht zahlreicher Nachlässe in den BlUldesarchiven in Potsdam lUld Koblenz beziehlUlgsweise im Geheimen Staats archiv Preußischer Kulturbesitz in Merseburg zutage gefördert. Details aus den Akten des Militärarchivs in Freiburg lUld des Staatsarchivs der Freien lUld Hansestadt Hamburg vervollständigten das Bild zu 112 Vgl. Espadas Burgos: Alemania, S. 86 f. Beispielhaft für eine solche Vorgehensweise ist die ertragreiche Arbeit von Companys Monclus: Espaiia. Sie analysierte die spanische Diplomatie im Verkehr mit den Vereinigten Staaten unmittelbar vor Ausbruch des Krieges fast ausschließlich auf der Basis amerikanischer Archivbefunde. Enttäuschend hingegen, gemessen an dem Titel, die Dissertation von Garcia Sanz: Espaiia, die aufgrund der Beschränkung auf die Quellen des spanischen und italienischen Außenministeriums und die Bestände des Archivo General de la Administraci6n über eine Analyse der spanisch-italienischen Wirtschaftsbeziehungen für den genannten Zeitraum nicht hinauskommt. 1\3 Um die Lesbarkeit des Textes zu erhöhen, hat sich der Autor dazu entschlossen, vor allem bei der Interpretation der fremdsprachigen Quellen möglichst viel zu paraphrasieren. In der Regel wurden nur die für die Argumentation dieser Dissertation bedeutsamen Belege als Zitat angeführt.
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politischen, militärischen und wirtschaftlichen Aspekten im deutsch-spanischen Verhältnis. Das Studium der einschlägigen Bestände des Bayerischen Hauptstaatsarchivs in München blieb mit Ausnahme einiger Berichte der bayerischen Vertretung in Berlin unergiebig. Von unschätzbarem Wert waren dagegen die Aktenpublikationen zur auswärtigen Politik, unter denen vor allem die deutsche!! und die französische!!5 zu nennen sind, die viele Schriftstücke über die Bedeutung Spaniens für die europäischen Großmächte enthalten. Methodisch versucht die vorliegende Arbeit, unvoreingenommen das zur Verfügung stehende Quellenmaterial auszuwerten und zu beschreiben, "wie es eigentlich gewesen" iSt.!16 Dieser Vorsatz bedingt es, sich häufig auch mit innenpolitischen Entwicklungen einzelner Länder auseinandersetzen zu müssen, und zwar nicht nur in den Fällen, in denen sie Einfluß auf die äußere Politik übten, sondern - für die Problemstellung dieser Arbeit genauso aufschlußreich auch dann, wenn sie von den Entscheidungsträgern ignoriert wurden. Zudem beabsichtigt die Dissertation, die gestellten Fragen aus einer möglichst umfassenden Perspektive zu bearbeiten. Beim Studium der Quellen trat rasch zutage, daß die Haltung des Deutschen Reiches zur alten Kolonialmacht nur im Kontext des generellen außenpolitischen Kurses der Wilhelmstraße zu verstehen ist und daß auch die übrigen Großmächte die außenpolitische Richtung Spaniens keineswegs mit Gleichgültigkeit verfolgten. Um ein korrektes historisches Urteil fällen zu können, darf sich die vorliegende Studie daher nicht mit der bloßen Aufarbeitung der deutsch-spanischen Beziehungen begnügen. Für eine schlüssige Argumentation ist es notwendig, in den Kapiteln immer wieder Abschnitte über die grundsätzlichen Ziele der deutschen Außenpolitik und über die allgemeine Entwicklung des europäischen Staatensystems einzuflechten. Dabei kann die Aufgabe nicht darin bestehen, bis ins Detail zu gehen und jedes Ereignis in dem zu behandelnden Zeitraum zu erwähnen; es gilt lediglich die Linien nachzuzeichnen, die für das Verständnis der Gedankengänge und Entscheidungen des Auswärtigen Amtes in bezug auf Spanien von Bedeutung waren. Das mit dieser Vorgehensweise verbundene Risiko, vor allem in der Wissenschaft umstrittenen Problemen mit all ihren Facetten nicht gerecht zu werden, soll durch Verweise auf die in diesem Bereich stetig voranschreitende Forschung gemindert werden. Der Vorsatz, die Fragen aus einer möglichst breiten Perspektive zu beantworten, impliziert auch die Notwendigkeit, die Darstellung nicht erst mit dem Jahr 1883 beginnen zu lassen, als Alfonso XII. mit einem Besuch in Homburg die Annäherung an das Deutsche Reich und an den Dreibund einzuleiten versuchte. Zum Verständnis des Begriffs monarchischer Solidarität und zur Klärung, welche Bedeutung sie für die einzelnen Mächte in Europa hatte, ist es unumgänglich, mit einem Rückblick auf die Geschichte des europäischen Staatensystems seit dem Wiener Kongreß anzufangen (Kapitel 2). In dieser Retro114 Vgl. Anm. 62. !!5 Documents diplomatiques fran9ais (künftig zitiert: DDF). !!6 Ranke: Geschichten, S. VII.
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1. Kap.: Einleitung
spektive soll in gebotener Kürze nicht nur an Kontinuitäten, langfristige Orientierungen und Konflikte erinnert werden, die bei der Bekämpfimg der Revolution unter den europäischen Großmächten auftraten; sie beabsichtigt auch, Bismarcks grundsätzliche Haltung zur monarchischen Solidarität in Europa zu umreißen. Erst durch dieses Kapitel werden spätere Gedanken und Motive der deutschen Spanienpolitik, aber auch Reaktionen anderer Großmächte auf bestimmte Entwicklungen und Entscheidungen verständlich, die die Wilhelmstraße im Umgang mit der alten Kolonialmacht traf. Zudem lassen dieser historische Rückblick und die Ausführungen über Bismarcks Haltung zu den Monarchien Südwesteuropas bereits schemenhaft das Gewicht erkennen, das Spanien politisch und mit Rücksicht auf die Stabilität der monarchischen Ordnung vor allem in den romanischen Ländern Italien und Portugal beigemessen wurde. Das dritte Kapitel beschäftigt sich ausfiihrlich mit den Begleitumständen der Reise, die Alfonso XII. 1883 nach Deutschland fiihrte, und dem Gegenbesuch des deutschen Kronprinzen Friedrich Wilhelm in Spanien. Es soll die innenwie außenpolitischen Motive und die Schwierigkeiten erhellen, unter denen das Land auf der Iberischen Halbinsel nach einer langen Zeit des Rückzugs wieder den Anschluß an das europäische Mächtekonzert suchte. Zusanunen mit den Ausführungen über die deutsche Haltung zur Integrität des spanischen Kolonialreiches und über die Spannungen, die während Bismarcks Kolonialpolitik der Jahre 1884/85 im bilateralen Verhältnis entstanden (Kapitel 4), vermittelt es das negative Bild, das sich Bismarck von den Zuständen in Spanien machte und das ihn bereits im Herbst 1885 dazu bewog, die Revolution im romanischen Südwesteuropa mit dem Ziel zu fördern, die monarchische Solidarität unter den Dreikaisermächten zu beleben (Kapitel 5). Das sechste Kapitel wird erläutern, warum sich Bismarck trotz seiner Aversion gegen das Land auf der Iberischen Halbinsel zur Jahreswende 1886/87 bei den Verhandlungen zwischen Spanien und dem Dreibund mit den Monarchien Südwesteuropas wieder solidarisch zeigte, bald darauf aber - wie in Kapitel 7 darzulegen sein wird - erneut in subtiler Form danach strebte, den Ausbruch der Revolution in Spanien zu provozieren, um die gefürchtete russisch-französische Allianz zu vereiteln. Im siebten Kapitel sollen ebenfalls die ersten Zweifel der spanischen Regierung an der Richtigkeit einer am Dreibund orientierten Allianzpolitik hervortreten, die erst aus der destruktiven Politik des Deutschen Reiches erwuchsen und die selbst die liberalen Staatsminister Moret und Vega de Armijo in ihren Entscheidungen verunsicherten. Im achten Kapitel werden die Erwägungen beschrieben, die die Regierung des Neuen Kurses zu einer radikalen Abkehr von Bismarcks eigentümlicher Pflege der monarchischen Solidarität in Europa bewog. Bei dem Vorsatz, im fimdamentalen Interesse ihrer Dreibundpolitik das Königtum in Spanien - und dadurch auch in Italien - zu festigen und es vor der republikanischen Propaganda zu schützen, stießen die Epigonen des ersten deutschen Reichskanzlers allerdings auf Probleme, die aus der englischorientierten Richtung ihrer Außenpolitik erwuchsen. Diese Schwierigkeiten aufzuzeigen und die gravierenden
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Gefahren aufzuspüren, die für Spanien mit der auch - von Cänovas verfolgten Anlehnung an den Dreibund verbunden waren, ist die Aufgabe des neunten Kapitels. Wie sich die bereits im siebten und auch im neunten Kapitel angesprochenen Zweifel sowohl der konservativ-liberalen als auch der liberalen Staatsmänner Spaniens an dem Sinn einer auf den Dreibund ausgerichteten Allianzpolitik seit dem Frühjahr 1894 angesichts einer zunehmend undurchsichtig und aggressiv werdenden deutschen Haltung bis zur Desillusionierung steigerten, ist schließlich Inhalt des zehnten Kapitels. In seinem Mittelpunkt steht, wie die Wilhelmstraße mit Billigung Wilhelms 11. über eine gezielte Isolierung Spaniens und durch eine Förderung der französisch-spanischen Zusammenarbeit im Mittelmeer das englische Ministerium Gladstone zu einem stärkeren Engagement für den Dreibund zu bewegen versuchte. Gleichzeitig wird erkennbar, daß bereits zur Jahreswende 1894/95 - und nicht erst mit Ausbruch des spanischamerikanischen Krieges - ohne Rücksicht auf die bourbonische Monarchie in der Wilhelmstraße die Besitzergreifung spanischer Kolonien zur eigenen territorialen Ausdehnung in Übersee erwogen wurde. Angesichts solcher sich im Zuge des Freihandkonzepts häufenden Überlegungen wird im elften Kapitel deutlich, daß das Auswärtige Amt in den Jahren 1895/96 die handelspolitischen Differenzen und den unsicheren außenpolitischen Kurs der alten Kolonialmacht lediglich als Alibi anführte, um vor allem gegenüber Österreich-Ungarn die Ablehnung des spanischen Wunsches nach einer diplomatischen Beistandsverpflichtung in dem Konflikt um Kuba zu rechtfertigen. Nur vor diesem Hintergrund zeigt sich schließlich im zwölften Kapitel bei der Aufarbeitung der deutschen Haltung zum spanisch-amerikanischen Konflikt, daß die verschiedenen Interventionsversuche nicht der Integrität des spanischen Kolonialbesitzes und der Erhaltung der monarchischen Ordnungen in Südwesteuropa dienten, sondern einzig die Machtentfaltung der USA verhindern sollten, die das Deutsche Reich bei der Aufteilung der spanischen Konkursmasse als unliebsamen Konkurrenten betrachtete. Der Kauf der Karolinen erscheint somit nicht als Reaktion auf die territoriale Ausdehnung der USA und auf die damit verbundenen Veränderungen im Mächtesystem, sondern als die bescheidene Ausbeute eines bereits zur Jahreswende 1894/95 schemenhaft erkennbaren, die Republikanisierung Südwesteuropas bis zur Grenze der Donaumonarchie billigenden Bestrebens, im größeren Stil die alte Kolonialmacht zu beerben. So soll die Untersuchung am Ende gezeigt haben, daß die spanische Isolation des Jahres 1898 nicht das Ergebnis einer fehlenden Kontinuität in der spanischen Außenpolitik war, sondern aus einer destruktiven Haltung des Deutschen Reiches resultierte, das trotz wiederholter Proteste Österreich-Ungarns über die meiste Zeit bereit war, den Ausbruch der Revolution im gesamten Südwesten Europas - unter Bismarck zur Wahrung des europäischen Gleichgewichts, während der Kanzlerschaft Hohenlohes zur Verwirklichung der kolonialpolitischen Pläne - zu provozieren.
2. Kapitel
Monarchische Solidarität im 19. Jahrhundert und die Bedeutung Spaniens im Mächtesystem A. Vom Wiener Kongreß bis zum Krimkrieg Als sich im Herbst 1814 Abordnungen fast aller europäischen Mächte in Wien zusammenfanden, wn über die Zukunft ihres Kontinents zu beraten, standen die meisten von ihnen noch unter dem Eindruck jener epochalen Revolution in Frankreich, die Europa mit Krieg überzogen hatte. Das am 9. Juni 1815 nach zähen Verhandlungen von den Delegationen unterzeichnete Dokwnent sah daher nicht nur die Wiederherstellung der Ordnung auf dem Prinzip des Gleichgewichts vor, sondern versuchte auch die Staaten auf den Grundsatz der Legitimität zu verpflichten. Der Ausdruck Legitimität, so hob Henry A. Kissinger in seinem Opus magnwn über die Kongreßdiplomatie nach den Befreiungskriegen hervor, dürfe in diesem Zusammenhang nicht mit Gerechtigkeit verwechselt werden, sondern bedeute konkret, "daß alle Großmächte im großen und ganzen eine bestimmte internationale Ordnung respektieren, zumindest in einem Ausmaß, daß kein Staat mit dieser Ordnung so unzufrieden ist, daß er [... ] seiner Unzufriedenheit durch eine revolutionäre Außenpolitik Ausdruck verleiht".' Wenngleich das Legitimitätsprinzip als eine tragende Säule des Wiener Systems Ausdruck der Einigkeit unter den Großmächten war, daß sie gemeinsam gegen jeden Versuch der Revolutionierung des Staatensystems vorgehen würden, entstanden schon bald Differenzen in der Frage, ob die Staatengemeinschaft auch gegen revolutionäre Erhebungen 2 in einzelnen europäischen Ländern einzuschreiten habe. Diese Meinungsverschiedenheiten deuteten sich bereits in der Reaktion auf die Gründung der Heiligen Allianz an, die nur wenige Monate nach Beendigung des Wiener Kongresses zwischen Zar Alexander 1., dem österreichischen Kaiser Franz 1. und dem preußischen König Wilhelm IIl. abgeschlossen wurde. In einem religiösen Anflug und unter dem Einfluß romantisch-mystischer Geister wie der Baronin Krüdener und dem Philosophen Jung-Stilling versuchten sie, in ihr den festen Zusammenhalt unter den MonarKissinger: Gleichgewicht, S. 7 f. Zur Definition und Problematik des Revolutionsbegriffes vgl. insbesondere Griewank: Revolutionsbegriff, passim; Bouvier: Französische Revolution, S. 11 ff.; Schulz: Wandel, S. 189 ff.; Goldstone: Revolution, S. 8. In der vorliegenden Studie wird der Begriff Revolution im einfachen Sinne als eine Umwälzung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse eines Landes verstanden. I
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A. Vom Wiener Kongreß bis zum Krimkrieg
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ehen zu beschwören. Der britische Außenminister Castlereagh verhöhnte diese Allianz als ein "Stück sublimen Mystizismus und Unsinns", und der österreichisehe Außenminister Metternich bezeichnete dieses Bündnis als ein lauttönendes Nichts".3 Dennoch sollte sie in den folgenden Jahrzehnten in der kritischen Öffentlichkeit Europas zum "Inbegriff der Reaktion" werden.4 Im November 1815 schlossen sich Rußland, England, Österreich und Preußen zur Quadrupelallianz zusammen. Ihr gelang es zwar nicht, dauerhafte Institutionen zur internationalen Friedenserhaltung zu schaffen. Doch die ,,repos du Monde",s die sie drei Jahre später auf der Aachener Konferenz verkündete, schien den nationalen und liberalen Kräften unter den Völkern keinen Raum zur Entfaltung zu geben. Die Aachener Deklaration erweckte den Eindruck, als ob alle europäischen Großmächte Metternichs Auffassung teilten, daß jede Revolution nicht nur das europäische Gleichgewicht stören, sondern auch ein gefährliches Symbol im Kampf der umstürzlerischen Tendenzen gegen die konservative Werteordnung darstellen könnte - eine Ansicht, die bei Metternich wesentlich aus der Furcht vor den Rückwirkungen einer Erhebung in Europa auf die innere Stabilität des Vielvölkerstaates erwuchs.6
Erst die revolutionäre Welle, die 1820 wie ein Lauffeuer in unmittelbarer Aufeinanderfolge vor allem das romanische Südeuropa - Spanien, Portugal, das bourbonische Neapel-Sizilien und Piemont-Sardinien - erfaßte, förderte die unterschiedlichen Auffassungen unter den Großmächten hinsichtlich des Problems zutage, wie in Zukunft den ,,zwillingsströmungen des Nationalismus und des Liberalismus,,7 zu begegnen sei. Nachdem Simon Bolivar 1819 auf dem Kongreß von Angostura Groß-Kolumbien proklamiert hatte, übertrugen sich im Januar 1820 die Schwierigkeiten, die Spanien bei der Ausübung der Herrschaft über seine Kolonien in Südamerika hatte, auch auf das Mutterland. In Cadiz brach eine Revolte unter den Truppen aus, die gegen die Aufständischen in den südamerikanischen Besitzungen eingesetzt werden sollten, und Oberst Rafael de Riego de Nufiez verkündete gegen den Willen des spanischen Königs Ferdinand
3 Zitiert nach Langewiesche. Europa, S. 11. Zur Heiligen Allianz vgl. unter anderem Eich: Rußland, S. 292 ff., und jüngst Doering-ManteujJel: Deutsche Frage, S. 7 f. und S. 77 f. 4 Langewiesche: Europa, S. 11. Vgl. dazu insbesondere die Ausfiihrungen von Gollwitzer: Geschichte, Bd. I, S. 347 ff.; ders.: Ideologische Blockbildung, S. 313 ff.; Verosta: Kollektivaktionen, S. 14. 5 Zitiert nach Schieder: Vom Deutschen Bund, S. 38. 6 Vgl. Bertier de Sauvigny: Staatsmann, S. 359 f.; Kissinger: Gleichgewicht, S. 232 ff. Zu Mettemichs Furcht vor der Revolution vgl. auch Seward: Mettemich, S. 103 f. und S. 110, der allerdings im Gegensatz zu älteren Werken betonte, daß dieser Staatsmann ,,never static, never an apostle of reaction" gewesen sei (S. XVII). Zu den "modemen" Eigenschaften des österreichischen Staatsmannes vgl. auch Kraus: Politisches Gleichgewicht, S. 99 f. 7 Kissinger: Gleichgewicht, S. 269.
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2. Kap.: Monarchische Solidarität im 19. Jahrhundert
VII. die liberale Verfassung von 1812. 8 Der damalige russische Botschafter in Madrid, Tatischew, prophezeite, daß die revolutionären Ereignisse in Spanien auch in den anderen romanischen Staaten ein Beben auslösen würden _9 eine Vorhersage, die sich unmittelbar darauf bewahrheitete. Noch im gleichen Jahr stellten zwei Leutnants des neapolitanischen Heeres, ermutigt durch die Erfolge Riegos in Madrid, östlich von Neapel das Banner der nationalliberalen Revolte auf, und auch in Lissabon empörte sich eine freiheitliche Bewegung gegen die monarchischen Institutionen. Während sich die drei Ostmächte auf der Konferenz in Troppau 1820 auf ein Protokoll einigten, in dem sie sich verpflichteten, Staaten, die eine durch Aufruhr bewirkte Regierungsänderung erlitten haben, nötigenfalls auch mit Waffengewalt in den Schoß der großen Allianz zurückzufiihren, erklärte Castlereagh, daß er die Intervention als starren Grundsatz einer antirevolutionären Großmachtpolitik nicht billige und daß ein solches Prinzip im Widerspruch zu den Grundgesetzen Großbritanniens stehe. lo Metternich fürchtete eine große internationale Verschwörung von Revolutionären,11 und aus Sicht der autokratischen Ostmächte hatte "eine Revolution eine symbolische Bedeutung als Ausfluß universaler Prinzipien"; Castlereagh hingegen erblickte in ihr "lediglich die praktische Seite mit der Frage, ob sie eine physische Bedrohung darstelle oder nicht".12 Was die Ereignisse in Spanien anbelangte, so stand Österreich allerdings vor einem Dilemma. Sowohl Metternich als auch sein Vertrauter Friedrich Gentz waren sich auf der einen Seite der gefährlichen Signalwirkung bewußt, die von der Revolution in Spanien ausgegangen war, und glaubten, daß die Stabilität in Italien in hohem Maße von der Gestaltung der Verhältnisse auf der Iberischen Halbinsel abhänge;\3 auf der anderen Seite war für sie die Aussicht, daß Frankreich, nach ihrer Auffassung selbst kaum gefestigt, infolge eines Feldzuges zur Wiederherstellung der restaurativen Ordnung in Spanien gleichfalls wieder Opfer eines Umsturzes werden könnte, ebenso besorgniserregend wie die Vorstellung von einem Marsch russischer Interventionstruppen quer durch Europa. 14 Trotz dieser schweren Bedenken bewahrte die monarchische Interessengemeinschaft ihre Handlungsfahigkeit gegen die Kräfte der Bewegung. Der auf der Konferenz in Verona im November 1822 gefaßte Beschluß, Frankreich mit einer militärischen Aktion in Spanien zu beauftragen, hatte nicht nur für das Land auf der Iberischen Halbinsel, sondern für das gesamte europäische StaaVgl. Carr: Spain, S. 129 ff. Vgl. Palmer: Glanz, S. 62. 10 Vgl. dazu auch Debidour: Histoire, Bd. I, S. 145 ff.; Bertier de Sauvigny: Metternich et la France, Bd. II, S. 388 ff.; Schieder: Vom Deutschen Bund, S. 38 f.; Baumgart: Vom europäischen Konzert, S. 12; Langewiesche: Europa, S. 12; Doering-ManteujJel: Vom Wiener Kongreß, S. 48. 11 Vgl. Palmer: Glanz, S. 65. 12 Kissinger: Gleichgewicht, S. 288. 13 V gl. Bertier de Sauvigny: Staatsmann, S. 402; Dorn: Gentz, S. 328 f. und S. 332. 14 Vgl. Bertier de Sauvigny: Staatsmann, S. 393 f.; Dorn: Gentz, S. 440; Seward: Mettemich, S. 132. 8
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A. Vom Wiener Kongreß bis zwn Krimkrieg
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tensystem weitreichende Konsequenzen: Während ,,'Hunderttausend Söhne Ludwigs des Heiligen,,,15 Spanien durchzogen, Ferdinand in all seine Machtbefugnisse wiedereinsetzten und es dadurch erst ermöglichten, daß der spanische König alle liberalen Gesetze abschaffen und grausames Gericht über die Aufständischen halten konnte, trieb die Entscheidung von Verona Großbritannien zum offenen Bruch mit der Allianz. 16 Frankreich unterwarf sich höchst bereitwillig dem Mandat, obgleich es dem auf der Konferenz von Troppau beschlossenen Interventionsprinzip nicht zugestimmt hatte - glaubte es doch, durch den Feldzug seinen Einfluß auf den Nachbarn jenseits der Pyrenäen dauerhaft festigen zu können. Dies war ebenso wie der englische Widerwille gegen die militärische Aktion, durch die Frankreich in die Lage versetzt werden konnte, sich mittelbar im Süden des amerikanischen Kontinents festzusetzen und die englische Seeherrschaft und das Handelsmonopol in Frage zu stellen, ein deutliches Zeichen dafiir, daß die Übung monarchischer Solidarität zu einem machtpolitischen Kalkül unter den europäischen Großmächten geworden war, bei dem sorgfältig Vor- und Nachteile fiir die nationalen Belange abgewogen wurden. 17 Daher stellte es nur auf den ersten Blick ein Paradoxon dar, daß auch im Vorkämpfer der Reaktion, dem russischen Kaiser Nikolaus 1., beim Widerstreit zwischen legitimistischen Prinzipien und machtpolitischen Interessen letztere die Oberhand behalten konnten. So verband sich Rußland 1826 mit dem antiinterventionistischen England, um die nationale Erhebung der Griechen gegen die Pforte zu unterstützen und um dadurch über die Zukunft der Meerengen mitentscheiden zu können. Metternich, der die griechische Bewegung vor dem Hintergrund seiner antirevolutionären Erhaltungspolitik betrachtete, wurde isoliert; das "existentielle Interesse des multinationalen Österreich an der Unterdrükkung nationaler Bewegungen" wurde nicht berü